Julian Voloj: Ȇber die Bedeutung von Heimat, Worten und
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Julian Voloj: Ȇber die Bedeutung von Heimat, Worten und
JULIAN VOLOJ Über die Bedeutung von Heimat, Worten und Erinnerung Die Erinnerung ist ein zentraler Wert im Judentum. Die Aufforderung „ זחורZachor“ („Gedenke!“, „Erinnere dich!“) finden wir oftmals im Zusammenhang mit der Amalek Episode während des Auszugs aus Ägypten im Buche Exodus. Die damals vertriebenen Juden werden als Hebräer bezeichnet. Das Wort Hebräer „( איבריIwri“) ist etymologisch im Zusammenhang zu sehen mit „leawor“ „( לאבורüberqueren“, „passieren“) und „awar“ אבר („Vergangenheit“), somit ist ein Hebräer ein Passant beziehungsweise ein Vorüberschreitender, der sich seiner Vergangenheit bewußt ist. Spätestens mit der Zerstörung des zweiten Tempels im Jahre 70 der christlichen Zeitrechnung beginnt dieses Vorüberschreiten, für das man das griechische Wort für Zerstreuung, „Diaspora“, verwendet. Mit der großen Diaspora wird die gemeinsame Erinnerung an biblische Zeiten und historische Ereignisse zum wichtigsten Bindeglied zwischen Juden der verschiedenen Gemeinden in aller Welt. Ohne zu übertreiben, kann man davon sprechen, daß ein universelles jüdisches Gedächtnis entstand, in das historische Ereignisse wie etwa die Kreuzzüge oder die Vertreibung von der iberischen Halbinsel integriert wurden. Im Zuge der Aufklärung und seit den Anfängen der Emanzipation ließ die Kraft der Religion als Bindeglied der jüdischen Gemeinschaft nach und die historische Betrachtung wurde mehr und mehr Legitimation und Manifestation der jüdischen Identität. Durch die historische Erinnerung und Identifikation mit der jüdischen Geschichte wurde auch Menschen ohne Zugehörigkeitsgefühl zum jüdischen Glauben die Möglichkeit einer Verbindung zur jüdischen Gemeinschaft und Tradition geboten. Die Kenntnis der eigenen Geschichte ist auch für mich ein wichtiger Bestandteil der eigenen Identität als Jude in Deutschland. Die Geschichte der Juden in Deutschland ist älter als der Begriff „Deutschland“ selbst. Der älteste urkundliche Beleg über jüdisches Leben im geographischen Raum des heutigen Deutschlands geht bis in die Römerzeit zurück. Es handelt sich um ein Edikt des Kaisers Konstantin, das bereits im Jahre 321 der christlichen Zeitrechnung eine jüdische Ansiedlung in Köln erwähnt. Seit der Karolingerzeit gilt eine kontinuierliche Ansiedlung von Juden im deutschsprachigen Raum als erwiesen. Obwohl das Wort „deutsch“ in seiner Etymologie die Bedeutung „zum Volke gehörend“ trägt, waren Juden lange Zeit kein Teil des deutschen Volkes. Die Annahme des Christentums als Staatsreligion und vor allem das Erstarken der mittelalterlichen Kirche bedeutete für die in Deutschland lebenden Juden eine Abstufung zu Personen minderen Rechts. Grundsätzlich war ihnen Landerwerb untersagt, ihren Unterhalt durften sie nur in einem eng begrenzten Tätigkeitsfeld verdienen. Trotz bedeutender kultureller Zentren in Mainz, Worms, Speyer und in Köln folgte einer räumlichen Beschränkung immer mehr die gesellschaftliche Isolierung. Auf dem 4. Laterankonzil von 1215 wurde sogar eine besondere Kleiderordnung für Juden beschlossen. Die Pogrome während der Rindfleisch-Unruhen, die Armleder- und vor allem die Pestpogrome als grausamste Massaker seit den Kreuzzügen, unterstrichen auf brutalste Weise die isolierte gesellschaftliche Stellung der Juden in der Zeit. Männer der Kirche wie beispielsweise Konrad von Würzburg, Bertold von Regensburg, Hans Folz, Johannes Reuchlin, aber auch Martin Luther mit seiner Schrift „Von den Juden und ihren Lügen“ aus dem Jahr 1543, erwiesen sich als geistige Brandstifter, die eine wirkliche Integration der jüdischen Bevölkerung immer wieder verhinderten. Zur Akzeptanz kam es nur unter der Voraussetzung der Assimilation, gleichbedeutend der Aufgabe der eigenen Identität, konkret der Religion. „Ich weiß nicht, was soll es bedeuten, / Daß ich so traurig bin“ Die beiden Verse aus Heinrich Heines „Lorelei“ gehören ohne Zweifel zu den bekanntesten Zeilen der deutschen Literatur. Ihr Autor, über den Nietzsche einmal sagte, man fühle bei ihm „den Herzschlag des deutschen Volkes“, zählt zu den tragischsten Figuren seiner Zeit. Trotz seiner Taufe im Jahre 1825 blieb der Dichter Heine ein ironisch, sentimentaler Bekenner seines Judentums. Die Konversion zum christlichen Glauben bedeutete für ihn nicht die Abkehr vom Judentum, sondern – wie er es selbst formulierte – ein „Entréebillet zur europäischen Kultur“. Heines geographische Heimat war Deutschland, seine kulturelle Heimat die deutsche Muttersprache. Im Hebräischen steht das Wort „Heimat“ „( מולדתMoledet“) in etymologischen Zusammenhang mit den Worten „Geburt“ „( מולדMolad“) und „Kindheit“ „( ילדותJaldut“). Dieser Etymologie folgend, kann man interpretieren, daß „Heimat“ der Ort ist, an dem man geboren wird und an dem man seine Kindheit verbringt. Mit der vollen rechtlichen Gleichstellung in Preußen und Norddeutschland im Jahre 1869 und der Übernahme des Gesetzes im Deutschen Reich 1871 konnte es endlich zu einem gleichberechtigten Dialog zwischen Juden und Christen kommen. Die Akkulturation sorgte, im Gegensatz zu der Assimilation, zu dem, was wir als deutsch-jüdische Symbiose bezeichnen. Gleichzeitig sorgte sie aber auch für eine Spaltung innerhalb der jüdischen Gemeinschaft. Sah die Orthodoxie, die sich gegen jegliche liturgische und rituelle Veränderung aussprach, die Emanzipation lediglich als juristische Angelegenheit an, so definierte die Reformbewegung ihr Judentum als Konfessionszugehörigkeit. Theodor W. Adorno, Leo Baeck, Walter Benjamin, Ernst Bloch, Martin Buber, Paul Celan, Paul Dessau, Albert Einstein, Lion Feuchtwanger, Sigmund Freud, Erich Fromm, Else Lasker-Schüler, Franz Kafka, Sigfried Kracauer, Felix Nußbaum, Nelly Sachs, Gerhard „Gerschom“ Scholem, Kurt Weill, Stefan Zweig, sie alle sind Teil dieser Symbiose gewesen, die mit dem Nationalsozialismus ihr trauriges Ende fand. Wie eng die aschkenasich-jüdische Kultur mit der deutschen verbunden ist zeigt sich auch in ihrer dominierenden Sprache, die ebenfalls in der Schoah ermordet wurde. Das Jiddische, die Sprache des ermordeten osteuropäischen Judentums, wurde von seinen Sprechern selbst als „Mameloschn“ bezeichnet. Das Wort „Mameloschn“ setzt sich zusammen aus den Lexemen „Mame“, einer Variante des Wortes „Mama“, und „loschn“, einer Abwandlung des hebräischen Wortes für Sprache, „laschon“. Die „Mameloschn“, das Jiddische, war also für diese Menschen die „Muttersprache“, im Gegensatz zur „laschon kodesch“, der heiligen Sprache, wie man im Jiddischen das Hebräische bezeichnete. Durch den Gebrauch ihrer Muttersprache, einem mit slawischen und hebräischen Elementen angereicherten Mittelhochdeutsch, waren die Nachfahren der im Mittelalter aus dem deutschsprachigen Raum vertriebenen Juden Träger der deutschen Kultur im slawischsprachigen Umfeld, auch wenn sie sich selbst nicht als solche sahen. Interessanterweise findet sich auch noch im modernen Jiddisch des 20. Jahrhunderts der Ausdruk „s’tajtscht?“ („Was heißt das?“), der kontrahiert wird aus „Was heißt das auf Deutsch?“. Trotzdem war Deutschland nicht die Heimat dieser Menschen, Litauen und Polen waren es. Im Ersten Weltkrieg starben etwa 120.000 jüdische Soldaten für ihr deutsches Vaterland, darunter auch Teile meiner Familie. Anfang 1933 lebten in Deutschland rund eine halbe Million Juden, was einem Prozentsatz von etwa 0,8% der deutschen Gesamtbevölkerung entsprach. 90% der Juden, die Anfang 1942 noch in Deutschland lebten, wurden im Rahmen der Politik der „Endlösung“ ermordet. Dasselbe Vaterland, für das man im Ersten Weltkrieg starb, ermordete über sechs Millionen Glaubensgenossen in ganz Europa. Nach der Schoah schien Europa und ganz speziell Deutschland für Juden unbewohnbar zu sein. Nicht selten waren für viele „Displaced Persons“ gesundheitliche oder sprachliche Gründe ausschlaggebend, nach 1945 in Deutschland zu bleiben. Für viele war das Leben im Land der Täter eine ungeliebte Existenz voller Zwiespalt. Die Botschaft, in diesem Land keine Wurzeln zu schlagen, wurde an die Kinder weitergetragen, und eine Orientierung an den Staat Israel wurde ein prägendes Element der jüdischen Erziehung nach der Schoah. Der jüdische Gelehrte Jehuda Halevi formulierte diese Zionssehnsucht lange vor der Staatsgründung einmal mit den Worten „Ich bin im Westen, doch mein Herz ist im Osten“. Von Seiten Israels fand die jüdische Diaspora Deutschlands zunächst nicht die gleiche Berücksichtigung wie andere jüdische Gemeinden und auch die Aufnahme in jüdische Weltgremien wurde ihr zunächst untersagt. Mit den Jahren entstand eine Art „Normalität“, für die nicht zuletzt die Immigration von Juden aus der ehemaligen Sowjetunion ein Beweis ist. Mittlerweile ist bereits die zweite Nachkriegsgeneration in diesem Land herangewachsen. Auch ich gehöre, mehr als ein Vierteljahrhundert nach der Befreiung von Auschwitz geboren, dieser Generation an, die dabei ist, ihr eigenes Selbstverständnis zu entwickeln. Über 70% der heute etwa 70.000 in Deutschland lebenden Juden haben osteuropäische Wurzeln, so daß es heutzutage nicht möglich ist, von deutschen Juden zu reden, vielmehr definiert sich ein Großteil als Juden in Deutschland. Selbst ich habe Probleme, mich als deutscher Jude oder jüdischer Deutscher zu definieren, obwohl meine Familie seit mehreren Jahrhunderten im deutschsprachigen Raum lebte und meine Großeltern, die Ende der 50er Jahre nach Deutschland zurückkehrten, dies konnten. Die persönliche Diskrepanz im Bezug auf die eigene Geschichte ist zwischen mir und meinen nichtjüdischen Freunden unübersehbar. Daß ich als Jude in Deutschland einen Sonderstatus einnehme, ist mir seit frühester Kindheit bewußt. Als ich in den Kindergarten sollte, weigerte man sich zunächst, mich aufzunehmen, da ich keiner christlichen Glaubensgemeinschaft angehörte. In der Grundschule nahm ich zusammen mit einem türkischen Jungen als einziger nicht am Religionsunterricht teil, wofür ich von meinen Mitschülern verspottet wurde. Als Kind habe ich nie verstanden, warum ich anders sein sollte. Auch heute noch, verstehe ich nicht, warum mich Menschen als „anders“ empfinden. In den letzten Jahren ist besonders in Deutschland von nichtjüdischer Seite ein Interesse an der jüdischen Kultur entstanden. Viele Bücher zu jüdischen Themen werden publiziert, die fast ausschließlich von Nichtjuden gelesen werden, was sich schon am Umfang der Veröffentlichungen zeigt. Theologen beschäftigen sich intensiv mit dem Judentum, Klezmerbands ohne einen einzigen jüdischen Musiker in ihren Reihen, haben Hochkonjunktur. Ohne Frage, ein großes Interesse an der jüdischen Kultur ist vorhanden, jedoch steht dem gegenüber ein gelebtes Judentum, das an Lebendigkeit nicht einmal im Ansatz dem entspricht, was vor dem Nationalsozialismus in Deutschland vorhanden war. Ein Wissensdefizit gegenüber der eigenen Geschichte und Kultur ist unübersehbar, und so verwundert es auch nicht, daß beispielsweise jüdische Studentenverbände in Deutschland in erster Linie kulturelle und soziale Aktivitäten veranstalten. Das eigene Judentum wird als eine kulturelle, nicht unbedingt religiöse Angelegenheit verstanden. Wie soll bei so einer Voraussetzung ein christlich-jüdischer Dialog aussehen? Es verwundert nicht, daß gerade bei Jugendlichen das Interesse an Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit relativ gering ist. Die Religion spielt für viele nur eine untergeordnete Rolle. Da heutzutage kaum noch Juden in Deutschland leben, besteht gerade von christlicher Seite ein großes Interesse an einem Dialog. Dem gegenüber bedeutet ein Leben als Jude in Deutschland oftmals ein Leben auf dem Präsentationsteller. Im alltäglichen Dialog begegnen jüdische Jugendliche latenten Vorurteilen oder einer Zwangsidentifikation mit Israel oder der Schoah, obwohl sie weder als Repräsentanten Israels noch als Vertreter der in der Schoah ermordeten Menschen angesehen werden wollen, sondern als Individuen mit ihren eigenen Problemen, die sich nicht selten von den Problemen der zweiten Generation anderer Immigranten unterscheiden. Zweifellos ist dies in inszenierten Dialogsituationen oft nicht möglich und der Dialog daher häufig bereits im Vorfeld zum Scheitern verurteilt. Ein wahrer Dialog kann nur entstehen, wenn individuell auf den Dialogpartner eingegangen wird, man ihm zuhört und versucht, ihn zu verstehen. Deutschland ist für viele jüdische Jugendliche zu einer Heimat geworden, in der sie geboren wurden und ihre Kindheit verbrachten. Die Kenntnis der eigenen Geschichte ist ein wichtiger Bestandteil der oft traditionell gelebten jüdischen Kultur. Versteht man dieses Selbstverständnis, versteht man auch seinen jüdischen Dialogpartner. Von einer Normalität sind wir jedoch noch weit entfernt. veröffentlicht in: Der Dialog zwischen Juden und Christen, Versuche des Gesprächs nach Auschwitz, herausgegeben von HANS ERLER – ANSGAR KOSCHEL, Frankfurt/Main – New York 1999, S. 98-103.