Tagungsdokumentation - f-bb Forschungsinstitut Betriebliche Bildung

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Tagungsdokumentation - f-bb Forschungsinstitut Betriebliche Bildung
Dokumentation der TrialNet-Tagung
„Inklusion im Mittelstand –
Neue Chancen für junge Menschen mit Behinderung und Benachteiligung“
15. Oktober 2014, Handelskammer Hamburg
Moderation: Jörn Strahler-Pohl, NDR
Inklusion in der beruflichen Bildung war das
Thema der vom Forschungsinstitut Betriebliche
Bildung (f-bb) in Kooperation mit der Bundesarbeitsgemeinschaft der Berufsbildungswerke (BAG
BBW), der Handelskammer Hamburg und dem
Hamburger Institut für Berufliche Bildung (HIBB)
veranstalteten Fachtagung. Es diskutierten etwa
240 Vertreter aus Unternehmen, Einrichtungen
der beruflichen Rehabilitation, der Bildungsverwaltung, von Berufsschulen und Bildungsdienstleistern, Kostenträgern, Kommunen, zuständigen
Stellen und Universitäten. Im Mittelpunkt stand
die Frage, wie Inklusion von Jugendlichen mit
Teilhabeeinschränkungen bzw. Behinderungen im
Dualen System der beruflichen Erstausbildung
gelingen kann und welche Leistungen und Angebote dabei von den Einrichtungen mit rehabilitationsspezifischer
Kompetenz und Erfahrung sowie von zuständigen Stellen erbracht werden und künftig werden müssen.
In ihrem Grußwort sagte die Zweite Bürgermeisterin der Freien und Hansestadt Hamburg, Frau Dr. Dorothee Stapelfeldt, Hamburg habe sich das
ehrgeizige Ziel gesetzt, niemanden auf dem Weg zu Ausbildung und Beruf
zurück zu lassen und allen jungen Menschen Angebote zu machen, damit sie
den Schritt von der Schule ins Berufsleben erfolgreich bewältigen können.
Gelingende Inklusion in der Berufsorientierung und Berufsausbildung sei gerade für Menschen mit Handicap von existenzieller Bedeutung. Auf einen uneingeschränkten Zugang zu einer Ausbildung haben alle Menschen einen Anspruch, unabhängig von ihrer Herkunft, ihrem Geschlecht, ihrem religiösen
Bekenntnis oder ihren geistigen oder körperlichen Fähigkeiten. Dieser Anspruch ist in der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung verankert, die seit nunmehr fünf Jahren in Deutschland Rechtskraft hat.
Doch die auf dem Papier beseitigten Barrieren bestünden oft noch in den
Köpfen fort. Aber es gäbe bereits eine Reihe von vielversprechenden Ansätzen
und Projekten, wie Inklusion gelingen könne, so zum Beispiel das vom Bun-
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desministerium für Arbeit und Soziales geförderte Projekt TrialNet, das Bestandteil des Nationalen Aktionsplans
der Bundesregierung zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention ist, und das im Hamburger Institut
für berufliche Bildung gestartete ESF-Projekt „dual und inklusiv“. Beide Projekte werden auf der Fachtagung
vorgestellt und zeigen neue Wege auf. Sie können Antworten liefern auf die Fragen danach, welche Veränderungen die Inklusion didaktisch, institutionell und organisatorisch erfordert.
Fritz Horst Melsheimer, der Präses der Handelskammer Hamburg, betonte in seinem Grußwort, dass die Wirtschaft von der Inklusion profitieren
könne. Er verwies auf die hoheitliche Aufgabe der Berufsausbildung, die den
Industrie- und Handelskammern übertragen worden sei, aber auch auf die
Bedeutung der Inklusion als Chance, die Potenziale aller Menschen zu erschließen. Gerade hier in Hamburg seien der Senat, die Wirtschaft und die
Institutionen nachhaltig darum bemüht, dass kein Jugendlicher verloren geht.
Inklusion sei nicht nur eine sozialpolitische Aufgabe, sondern auch betriebswirtschaftlich sinnvoll und volkswirtschaftlich unbedingt notwendig. Anders
sein und anders denken können bedeute oft auch, Innovation und Neues zu
wagen. Zahlreiche Beispiele würden zeigen, dass Menschen mit Behinderung
besonders motiviert seien und beweisen wollten, was in ihnen steckt. Inklusion müsse nicht nur in den Kindertagesstätten und der schulischen Bildung,
sondern auch in der beruflichen Bildung realisiert werden. Die Handelskammer Hamburg und die ausbildenden Betriebe haben sich dazu entschieden,
behinderte Jugendliche nicht überwiegend in den Fachpraktiker-Berufen, sondern in anerkannten Ausbildungsberufen auszubilden und behinderungsspezifische Sonderformen nur dort zu Hilfe zu nehmen, wo dies nicht
gelingt.
Inklusive Berufsausbildung – was heißt das und wo stehen wir?
Prof. Dr. Eckart Severing, der Geschäftsführer des f-bb
resümierte in seinem Vortrag, dass die Verwirklichung der
Inklusion in den Schulen schon wesentlich besser umgesetzt sei als in der beruflichen Bildung, bei der immer noch
Jugendliche mit und ohne Behinderung separiert würden.
50.000 Förderschülern, die jedes Jahr die Schulen verlassen,
stehen nur 3.500 behinderte Jugendliche gegenüber, die
einen betrieblichen Ausbildungsplatz gefunden haben. Die
weit überwiegende Zahl der Jugendlichen mit Förderbedarf
mündet in Berufsfördermaßnahmen oder außerbetriebliche
Sondermaßnahmen und dabei oft in behinderungsspezifische Fachpraktiker-Ausbildungen. Die Ursachen dafür, dass Inklusion in der Berufsausbildung nur langsam vorankommt, sieht Prof. Severing in „mentalen Barrieren“ und in den hohen Leistungsanforderungen, die in der
Vergangenheit entstanden. Jugendliche mit Behinderung wurden qua institutioneller Differenzierung in Sondereinrichtungen ausgegliedert, begründet mit dem Ideal der späteren Integration, das aber selten eingelöst wird.
Zur Praxis der Separation gehöre das Ideal der Integration gleichsam „wie die Beichte zur Sünde“, so Prof. Severing. Die Berufsausbildung hat sich damit von Sonderfällen entlastet und muss sich nicht mehr auf die wachsende Heterogenität der Jugendlichen einlassen. Diese Heterogenität zu bewältigen wird nun zur Aufgabe, wenn
nachkommende Jahrgänge demografisch weniger stark besetzt sind und zugleich immer mehr potentielle Bewer-
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ber um eine Ausbildung an die Hochschulen verloren gehen. Das der Inklusion gewidmete Modellprojekt TrialNet verfolgte deshalb drei ehrgeizige Ziele: Erstens sollten mehr Betriebe für eine Ausbildung mit Behinderten
gewonnen werden, und es sollten die Bedingungen erhoben werden, unter denen sie sich für eine Ausbildung
von behinderten Menschen stärker öffnen. 400 Jugendliche wurden in TrialNet in 13 Berufen ausgebildet, und es
konnten 264 Betriebe für die Ausbildung oder einer Mitwirkung daran gewonnen werden, von denen zwei Drittel vorher nicht mit der Ausbildung von besonders förderbedürftigen jungen Menschen befasst waren. Das Projekt liefert somit verlässliche Daten, so zeigt sich beispielsweise, dass Jugendliche eine umso höhere Chance haben, an der zweiten Schwelle, beim Übergang ins Berufsleben erfolgreich zu sein, je länger sie ihre Ausbildung im
Betrieb absolviert haben. Zweitens war es ein Projektanliegen, das Prinzip „Alles oder Nichts“ in Bezug auf den
Ausbildungsabschluss zu vermeiden. Bislang werden in den Berufsbildungswerken 50 % der Jugendlichen in den
gesondert geregelten Berufen ausgebildet, obwohl sie laut Berufsbildungsgesetz die Ausnahme bleiben sollten. Es
sei einem demokratischen Bildungssystem nicht würdig, bereits an der Eingangsschwelle zu sortieren, wem man
einen regulären Berufsabschluss zutraut und wem nicht. Vielmehr sollte, wie sonst im Bildungssystem üblich,
jeder alles versuchen können, am Ende wäre dann festzustellen, wie weit der Einzelne kommt. Durch die Unterteilung in Ausbildungsabschnitte, die jeweils mit Kompetenzprüfungen abgeschlossen werden, kann der Weg bis
zum Ausbildungserfolg in kleineren Schritten gegangen werden, wodurch die Jugendlichen Erfolgserlebnisse
erfahren und auch dann über auf dem Arbeitsmarkt verwertbare Zertifikate verfügen, wenn sie die Ausbildung
nicht erfolgreich abschließen. In Bayern und Rheinland-Pfalz werden diese einzelnen Ausbildungsabschnitte
bereits durch die einzelne Kammern zertifiziert. Die zuständigen Stellen in den anderen Bundesländern sollten
diesem Beispiel folgen. Als drittes Projektziel nannte Prof. Severing die Durchlässigkeit zwischen den verschiedenen Einrichtungen, so dass Jugendliche, denen ein höherer Förderbedarf attestiert war, auch in Einrichtungen
wechseln können, in denen die Förderung niedriger ist, wenn sich herausstellt, dass sie dafür geeignet sind, und
umgekehrt Jugendliche, die mehr Förderung benötigen, in eine besondere Einrichtung wechseln. Letzteres ist
noch am Wenigsten gelungen, aber das Projekt lieferte dazu eine wichtige Erkenntnis. Zwar sei die in Deutschland mit viel Aufwand aufgebaute Sonderwelt für viele behinderte Jugendliche notwendig, aber nicht für alle. Die
in den besonderen Einrichtungen aufgebaute hohe Kompetenz müsse in den Betrieben genutzt werden, um dort
mit reha-spezifischer Unterstützung auszubilden, dafür müssten geeignete Strukturen und Assistenzsysteme geschaffen werden. Es muss ein Optionsmodell realisiert werden, bei dem jeder junge Mensch, der das will und
kann, im allgemeinen Ausbildungsmarkt ausgebildet wird und dafür Assistenzsysteme zur Verfügung stehen, die
von den bisherigen Sondereinrichtungen erbracht werden, und für diejenigen Jugendlichen, die das nicht schaffen, muss eine Struktur aufrechterhalten werden, in der sie gesondert gefördert werden.
Fachgespräch 1: Inklusion und Wirtschaft
Philipp Hennerkes, Leiter Public Affairs der EDEKA AG, berichtete, dass bei EDEKA Menschen mit Behinderung prinzipiell
die gleichen Chancen haben wie Menschen ohne Behinderung. Bei
der Rekrutierung wird darauf geachtet, wo die jeweiligen Stärken
des Bewerbers liegen und demnach entschieden, wo er am besten
eingesetzt werden kann. Anschubfinanzierungen seien in diesem
Zusammenhang hilfreich, jedoch spielt für Hennerkes die Praktikabilität eine wichtigere Rolle. So sind Assistenzsysteme ein entscheidender Faktor, um zusätzlichen Arbeitsaufwand für den Ar-
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beitgeber zu ersparen. Alles Akademische und Bürokratische seien Hindernisse für den selbstständigen Kaufmann, der sich 50 und mehr Stunden in der Woche um seinen Markt kümmern muss.
Die Gestaltung einer positiveren Haltung zur Inklusion ist laut Raimund
Becker, dem Vorstand der Bundesagentur für Arbeit, ein relevanter Ansatzpunkt. Potentiellen Arbeitgebern fehlt es häufig an Wissen darüber, welche Hilfen sie bei der Ausbildung behinderter Jugendlicher bekommen können. Das Projekt TrialNet setze hier an der richtigen Stelle an. Für die Bundesagentur ist wichtig, dass Inklusion als spannendes und fröhliches Thema mit
vielen Chancen und positiven Aspekten angenommen wird. Hierbei zählt der
Beitrag jedes Einzelnen, denn wenn alle Gesetze zu Inklusion positiv gelebt
werden würden, gäbe es kaum noch Probleme. Im Wesentlichen kommt es
also darauf an, engagierte Mitstreiter bezüglich des Themas Inklusion zu gewinnen. Der Fokus muss von den Risiken auf die Chancen verlegt werden.
Insbesondere sei es von Bedeutung, inklusives Lernen bereits ab dem Kindergarten zu fördern und sich von einer rein integrativen Ausbildung hin zur
kooperativen Ausbildung zu bewegen, bei der junge Menschen an die betriebliche Realität herangeführt werden. Wer in der Ausbildung bereits im Betrieb
ist, für den ist anschließend die Chance der Übernahme höher. Auch sei die Veränderung des Bewusstseins
durch eine Kampagne vonnöten, die Stereotype und Vorbehalte bei den Arbeitgebern abbauen könne.
Ingrid Körner, Senatskoordinatorin für die Gleichstellung von Menschen
mit Behinderung, skizzierte in ihrem Statement das Projekt „Hamburger
Budget für Arbeit“, welches Arbeitgeber, die Menschen mit Behinderung einstellen, direkt unterstützt. Im Mittelpunkt stehen hier Personen, deren Beschäftigungsort eine Werkstatt für behinderte Menschen ist. Viele dieser Personen haben sowohl die Fähigkeiten als auch die Motivation, am ersten Arbeitsmarkt zu
arbeiten. Die Idee des Projekts ist es deshalb, die Zahl der Personen mit Behinderung auf dem ersten Arbeitsmarkt zu erhöhen. Dazu bedarf es Unterstützungsleistungen wie beispielsweise einer Eingliederungshilfe oder einer Arbeitsassistenz. Nach Aussage von Frau Körner bekommen Arbeitgeber bis zu 70% der Lohnkosten erstattet bzw. als Zuschuss, wenn sie eine Person mit
Behinderung einstellen. Als aktuellen Erfolg im Raum Hamburg nannte sie, dass im Jahr 2013 84 Personen aus
einer Werkstatt auf den ersten Arbeitsmarkt wechseln konnten.
Richard Fischels, Unterabteilungsleiter beim Bundesarbeitsministerium, betonte die Wichtigkeit der Frage, wie Menschen mit Behinderung auf den ersten
Arbeitsmarkt gelangen können, denn immerhin gehe es um 280.000 Menschen, die
in Werkstätten für behinderte Menschen untergebracht seien. Dennoch müsse es
aber weiterhin die Werkstätten für Menschen mit Behinderung geben. Fraglich sei
aber, ob alle, die sich jetzt dort befinden, in den Werkstätten sein müssten. Getan
werden müsste etwas bei den Zugängen, bei den beruflichen Orientierungsverfahren, um alternative Wege aufzuzeigen. Die geplante Reform der Eingliederungshilfe sieht vor, sie aus dem Fürsorgesystem herauszulösen und als eigenständiges
soziales Anspruchssystem zu etablieren, denn Fürsorge passe nicht mehr zum
modernen Gedanken der Teilhabe. Es sei ein teilhabeorientiertes Recht zu entwickeln, das personenzentriert angelegt ist und mehr Selbstbestimmung gewährleistet. Dieses Bundesteilhabegesetz tangiert viele Interessen und muss im Konsens auch mit den Bundesländern
ausgestaltet werden. Mit einer Aufstockung der vorhandenen Mittel dürfe aber dabei nicht gerechnet werden. Mit
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Blick auf den gesamten Bereich der Teilhabe am Arbeitsleben stellte Richard Fischels die Haltung der handelnden Akteure in den Mittelpunkt: Inklusion als gestaltungsmächtige Idee müsse „in die Köpfe der Menschen“.
Auszubildende stellen sich vor
Prisca Geiselhart & Madeleine Haubner, BBW
Ravensburg. Frau Geiselhart absolvierte im BBW
die Ausbildung zur Bürokauffrau, die gemäß dem
TrialNet-Modell in einzelnen Modulen erfolgte und
mit Kompetenzfeststellungen zu jedem Ausbildungsabschnitt begleitet wurde. Am Wichtigsten für ihre
eigene Entwicklung beurteilte sie jedoch vor allem die
Zuwendung und das Engagement ihrer Ausbilder
beim Berufsbildungswerk und bei der McCormick
Solar GmbH in Bad Saulgau, bei der sie ein ganzes
Jahr ihrer Ausbildung in der betrieblichen Realität
absolvieren konnte. Für ihre Betreuerin vom BBW
Ravensburg, Frau Haubner, waren deshalb auch der Austausch und die Zusammenarbeit mit den Betrieben die
erfolgsentscheidenden Faktoren.
Tobias Jahn & Kerstin Fennen, BBW Hannover. Herr
Jahn absolviert einen Teil seiner Logistik-Ausbildung bei
der Firma Heil & Sohn GmbH & Co. KG, einem Autoteile-Zulieferer. Er freut sich über die Anerkennung, die
er dort erfährt. Frau Fennen schilderte den Ablauf der
sogenannten verzahnten Ausbildung, bei der die Auszubildenden zunächst im Berufsbildungswerk sind und dort
die Grundlagen ihres Ausbildungsberufs erwerben. Danach setzen sie ihre Ausbildung in Betrieben fort und
lernen spezifische Anforderungen der Arbeitswelt kennen, unter anderem den höheren zeitlichen Druck und ein
höheres Arbeitsvolumen.
Husein Elezovic & Michael Klindworth, BBW
Hamburg. Herr Elezovic erlernt den Beruf der
Fachkraft im Gastgewerbe. Teile seiner Ausbildung
lernt er in der Kantine von „Der Spiegel“ in Hamburg. Dort kann er alle Stationen eines regulären
Restaurant-Betriebes kennenlernen, denn die Spiegel-Kantine bietet einen kompletten Service mit
Bedienung und frischer Zubereitung aller Speisen.
Sein Ausbilder, Herr Klindworth, unterstützt und
begleitet ihn dabei. Er ist begeistert über die bewährte Zusammenarbeit mit vielen Hamburger Betrieben.
Er macht immer wieder die Erfahrung, dass in den
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Betrieben die Stärken der Auszubildenden geschätzt werden und ihre Beeinträchtigungen in den Hintergrund
treten. Alle weiteren notwendigen Unterstützungsleistungen des Berufsbildungswerks werden auch in den betrieblichen Ausbildungsabschnitten durchgeführt und in die Wochenplanung integriert.
Fachgespräch 2: Ausbildung in Kooperation mit Betrieben – Inklusion gelingt
Prof. Dr. Wolfgang Seyd, emeritierter Professor der Universität Hamburg und
Mitglied des Projektbeirats von TrialNet, beklagte den Mangel an belastbaren Zahlen
über den Verbleib von Förderschülern und behinderten jungen Menschen. Er verwies darauf, dass Arbeitgeber vom behinderten Mitarbeiter oder Auszubildenden das
Gleiche verlangten wie von allen anderen Arbeitnehmern. Die Vorstellung, dass
Behinderte weniger leisteten, sei irreführend. Die Vorab-Einstufung durch die Arbeitsagentur in solche Auszubildenden, die eine normale Ausbildung schaffen, und
andere, die sie nicht schaffen und deshalb in Fachpraktiker-Berufe einmünden sollen, sei in vielen Fällen unzutreffend. Ottmar Waterloo, der Leiter Produktmanagement Rehabilitation der Beruflichen Fortbildungszentren der Bayerischen
Wirtschaft (bfz), benannte als Problem Jugendlicher mit Beeinträchtigung bei der
Suche nach einer dualen Ausbildung deren Selbstbild, das durch
eine schulische Sonderkarriere geprägt worden sei; sie wagten es
nicht, direkt auf Betriebe zuzugehen. Die Unterstützung, die die
Berufspädagogen des bfz sowohl für die Jugendlichen als auch für
die Betriebe leisten, würde zur Lösung einer Reihe von Problemen
beitragen. Die in TrialNet verwendeten Ausbildungsbausteine
würden insbesondere von kleinen und mittleren Unternehmen als
hilfreich, weil als strukturierendes Element wahrgenommen, und
sie würden auch von den Auszubildenden selbst geschätzt als
Feedback darüber, wo sie stehen. Ein wesentlicher Erfolg von TrialNet sei, dass man nun ein Stück weit weg von
der „Null-oder-Eins-Welt“ gekommen wäre, und dass Behinderung zur Nebensache werde, wenn Unternehmen
beraten und unterstützt werden. Dr. Lutz Galiläer, Projektleiter
des Forschungsinstituts Berufliche Bildung (f-bb), berichtete
von neuen Instrumenten, die im Projekt TrialNet entwickelt und
erprobt wurden, um die Ausbildung der Zielgruppe flexibler und
betriebsnäher zu gestalten. Dazu gehören Ausbildungsbausteine,
Kompetenzfeststellungen und deren Zertifizierung, über deren
Leistung und Beschaffenheit das Projekt Erkenntnisse gewinnen
konnte. Wichtig waren auch die gewonnenen Erkenntnisse darüber, wie Betriebe angesprochen werden können und was sie
brauchen, um eine Ausbildung behinderter Jugendlicher leisten
zu können. Von den beteiligten Betrieben waren mehr als 60 % neu akquiriert. 16 % der in TrialNet ausgebildeten Jugendlichen haben die Ausbildung vorzeitig beendet, damit deutlich weniger als in der gesamten dualen
Ausbildung (24 %). TrialNet hat einen Beitrag dazu geleistet, dass Inklusion da angekommen ist, wo diese Idee
hingehört, nämlich bei den zuständigen Stellen, bei den Betrieben und in der Fachöffentlichkeit.
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Für Michael Breitsameter, den Vorsitzenden der Bundesarbeitsgemeinschaft der Berufsbildungswerke (BAG
BBW), war es eine wichtige Erfahrung des Projekts, zu erkennen, für welchen Jugendlichen mit seiner jeweils individuellen
Teilhabeeinschränkung welcher Lernort der geeignete ist. Es
gäbe nicht eine Lösung, sondern die existierende Heterogenität der Jugendlichen mit Teilhabeeinschränkungen erfordere
ganz verschiedene, oftmals sehr individuelle Lösungen für den
einzelnen jungen Menschen. Die bereits in der „Verzahnten
Ausbildung“ (VAmB) begonnene Auslagerung von Teilen der
Ausbildung in Betriebe wurde in TrialNet erfolgreich fortgesetzt. Dafür sind Ausbildungsbausteine hilfreich, um
dem Betrieb verbindlich mitzuteilen, welche Inhalte aus dem Ausbildungsrahmenplan vermittelt werden sollen.
In den Betrieben müssen zukünftig Assistenzsysteme etabliert werden, damit dort die Ausbildung behinderter
Jugendlicher gelingt. Skeptisch sieht Herr Breitsamter weiterhin die Zertifizierung von Teilleistungen; seiner
Einschätzung nach wäre es ausreichend, wenn die Berufsbildungswerke selbst den Stand der Kompetenzen erheben und bestätigen. TrialNet habe aus seiner Sicht bewirkt, dass die in der Reha-Welt Tätigen mehr kooperieren und gemeinsam an Lösungsstrategien arbeiten.
Forum 1: Inklusion im Mittelstand – Erfahrungen und Perspektiven
Moderation: Prof. Dr. Mathilde Niehaus, Universität zu Köln
Inklusion ist auch zu einem
wichtigen Thema für die Wirtschaft geworden. Während
große Unternehmen die Themen Behinderung und Diversity
in ihren Corporate Social
Responsibility-Programmen
schon bearbeiten, stellt sich die
Frage, wie kleine und mittelständische Unternehmen für
Inklusion gewonnen werden
können. Die in einigen Regionen und Branchen bereits spürbaren Schwierigkeiten bei der
Sicherung des Fachkräftebedarfs bieten dafür aktuell einen
geeigneten Ansatzpunkt.
Inputs:

Philipp Hennerkes, EDEKA AG

Joyce Müller-Harms, Nordmetall e.V.
Praxisbeispiele:

Petia Stolpe, FAW Bielefeld und P. Klapper, JBB – Jugendgästehaus und Bildungszentrum Bielefeld

Madeleine Haubner, BBW Ravensburg und Thomas Hoyer, dwp eG Ravensburg
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
Michael Klindworth, BBW Hamburg und Sven Krüger, DER SPIEGEL
Dieses Forum begann mit einer Bestandsaufnahme darüber, inwieweit die Herausforderung und Chance Inklusion
bereits im Mittelstand präsent ist und welche Ansätze es gibt. Philipp Hennerkes erläuterte die Ausbildungssituation bei der EDEKA AG und die Herausforderungen, welche die demografische Entwicklung dabei mit sich
bringt. Er wies zunächst auf eine Besonderheit der EDEKA AG hin, dass diese nämlich im Kern aus über 4.000
selbständigen Kaufleuten besteht, die u. a. auf dem Gebiet des Personalmanagements autonom und bezogen auf
die örtlichen Bedingungen agieren. Die Zahl der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ist in den letzten Jahren kontinuierlich gewachsen. Auszubildende zu finden wird aber zunehmend schwerer: Die sinkende Zahl der Schulabgänger, der Trend zum Studium und das Image des Einzelhandels spielen dabei eine Rolle. Neben der Ausbildung in Teilzeit und von älteren Auszubildenden („Seniorenausbildung“) sowie von Jugendlichen aus EULändern mit hoher Jugendarbeitslosigkeit ist auch die Beschäftigung und Ausbildung von Menschen mit Handicap ein Weg der EDEKA AG zur Nachwuchsgewinnung in demografisch schwieriger werdenden Zeiten. Die
Märkte kooperieren dabei mit Einrichtungen der Beruflichen Rehabilitation (z. B. BBW) oder Bildungsdienstleistern. Die Erfahrungen mit der Zielgruppe sind überwiegend positiv. Die Jugendlichen sind sehr loyal und identifizieren sich stark mit dem Ausbildungsbetrieb und dem Kollegenteam. Ihr Engagement und ihre Einsatzbereitschaft können Einschränkungen z. B. bei den kognitiven Leistungen in der Regel mehr als ausgleichen. Im Umgang mit Kunden und Kollegen erfahren junge Menschen nach oft schwieriger Schulkarriere erstmalig wieder
echte Erfolgserlebnisse. Da es in den Märkten keine „geschützten Räume gibt“, müssen sich die Jugendlichen
täglich neu bewähren – für die meisten ist das eine Herausforderung, an der sie wachsen. Gegenüber ihren Mitgliedern argumentiert die Unternehmensleitung nutzerbezogen: Darzustellen sei eine echte Win-Win-Situation
für den Kandidaten und das Unternehmen. Der Unternehmer gewinnt einen fleißigen, loyalen und kompetenten
Mitarbeiter und bietet einen (sicheren) Arbeits- oder Ausbildungsplatz. Damit Inklusion auch in den mitteständischen EDEKA-Märken ankommen und gelebt werden kann, bedarf es weiterer Rahmenbedingungen:
•
•
Unterstützende Netzwerke auf lokaler Ebene: Die Verantwortlichen in den Märkten müssen durch unterstützende Begleitung im Umfeld unbürokratisch unterstützt werden.
Bekenntnisse von oben, der Unternehmensleitung, helfen nur bedingt: Die Bereitschaft zum Engagement muss vor allem bei den Verantwortlichen vor Ort geweckt werden. Dort wird sowohl über das
„ob“ als auch das „wie“ der Ausbildung von Jugendlichen mit besonderem Förderbedarf entschieden.
Joyce Müller-Harms vom Arbeitgeberverband NORDMETALL, einem Zusammenschluss von 250 Unternehmen der Metall- und Elektroindustrie aus den nördlichen Bundesländern, differenzierte in ihrem Beitrag
zwischen Inklusion als sozialem Leitziel und Inklusion als Forderung nach dem Zugang zu Ausbildung und Beschäftigung. Während die Idee der umfassenden sozialen Teilhabe, u. a. verwirklicht durch individualisierte Förderung, uneingeschränkt zu begrüßen sei, stelle sich bei der Öffnung des Mittelstands für Inklusion immer auch
die Frage nach dem Passungsverhältnis. D. h. nach dem Verhältnis zwischen den Wünschen, Neigungen, Fähigkeiten des Individuums auf der einen Seite und den Anforderungen der Tätigkeiten und des Betriebs auf der
anderen Seite. Gegenwärtig sei Inklusion kein „Kernthema“ für den Mittelstand der Metall- und Elektroindustrie, nicht zuletzt wohl auch, weil der Bewerbermangel bisher in der Branche abhängig von Region und Größe des
Unternehmens in unterschiedlicher Intensität spürbar ist. Gleichwohl gibt es Aktivitäten des Verbandes, die auf
förderbedürftige Jugendliche abzielen, z. B. das Projekt „NordChance“. Dabei geht es um Öffnung der Ausbildung für schwächere Jugendliche, die über eine bis zu fünf Monate dauernde Orientierung und daran anschließende Einstiegsqualifizierung Zugang zu betrieblicher Ausbildung erhalten sowie vor und während der Ausbildung begleitet werden. Wie das Thema Inklusion bei mittelständischen Betrieben ankommt, hängt auch vom
Erfolg solcher Vorhaben mit ihren guten Beispielen ab.
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Über Fälle gelungener Ausbildung von jungen Menschen mit Behinderung in bzw. zusammen mit mittelständischen Betrieben aus dem Projekt TrialNet und aus Hamburg ging es bei den Praxisbeispielen. Madeleine Haubner vom BBW Ravensburg und Thomas Hoyer, dwp eG Ravensburg, berichteten von ihren guten Kooperationserfahrungen. Bei der Firma "dritte welt partner" setzen immer wieder Jugendliche aus dem BBW für
mehrere Monate ihre Ausbildung fort, und von Fall zu Fall werden diese nach der Abschluss der Ausbildung
auch von der Firma anschließend übernommen. Wichtig sei dabei, dass das Team sensibilisiert ist und die Jugendlichen Gelegenheit bekommen, in den betrieblichen Alltag und den Kollegenkreis hineinzuwachsen. Petia
Stolpe, FAW Bielefeld, und Pascal Klapper, JBB - Jugendgästehaus und Bildungszentrum Bielefeld
gGmbH arbeiten schon länger im Rahmen der kooperativen Ausbildungsform zusammen, d. h. die Jugendlichen der FAW sind von Anfang bis zu drei Tage in der Woche im JBB. Das Beispiel zeigte, wie wichtig das persönliche Engagement von betrieblichen Ausbildern ist. Herrn Klapper verfolgt konsequent das Ziel, auch
schwierigere Jugendliche nicht nur zum Abschluss zu führen, sondern sie vor allem zu „richtigen“ Köchen zu
formen. Während Sven Krüger, DER SPIEGEL (Kantine), von ähnlichen Erfahrungen und Vorsätzen geprägt
ist, erläuterte Michael Klindworth, BBW Hamburg, die Ansprüche und Erwartungen von Firmen, die Teile
der Ausbildung von Jugendlichen aus dem BBW Hamburg übernehmen. Es gebe Hemmschwellen zu überwinden und soziales Engagement spiele sicher eine Rolle, allerdings wünschen sich Betriebe häufig einfach Mitarbeiter, die engagiert sind. Wenn Reha-Einrichtungen mit ihren Jugendlichen daraufhin arbeiteten, dieses Bedürfnis
zu bedienen, komme Inklusion voran.
Forum 2: Gemeinsam stark – Kooperationen zwischen Einrichtungen der beruflichen Rehabilitation, Betrieben und Berufsschulen
Moderation: Rainer Lentz (BAG BBW) & Gerlinde Dubb (BBW Abensberg)
Auch wenn der Inklusionsgedanke auf eine Ausbildung im
Regelsystem abzielt, können
nicht alle Jugendlichen mit
Behinderung in Betrieben
ausgebildet werden. Ein Lösungsansatz besteht in der
Kooperation von Betrieben
mit Reha-Einrichtungen, bei
Praktika und längeren Phasen
der fachpraktischen Ausbildung sowie in einer engen
Vernetzung mit dem Lernort
Berufsschule. In diesem Forum wurden positive Beispiele
dieser Zusammenarbeit präsentiert und mit Experten diskutiert, welcher Entwicklungsbedarf besteht und welche Rahmenbedingungen zu
verbessern sind.
Inputs:

Marlies Tröder / Harald Sturm, Hamburger Institut für Berufliche Bildung (HIBB)

Lothar Baumüller, BAW Mittelfranken

Gerlinde Dubb, BBW Abensberg
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Praxisbeispiele:

Praxisbeispiel Bildungsträger-Betrieb:
Evelin Jahner, bfz Ravensburg / P. Schwärzler und Marion Stehmer, Bäckerei Mayer, Allgäu

Praxisbeispiele BBW-Betrieb:
Kerstin Fennen, BBW Hannover / Sebastian Hahn, LYRECO Deutschland GmbH
Frau Unsinn, Veganz Hamburg
Vorgestellt wurden zwei Praxisbeispiele aus dem Projekt TrialNet und eines aus Hamburg. Evelin Jahner vom
bfz Ravensburg berichtete von einer Auszubildenden, die ihre Ausbildung zur Verkäuferin dank intensiver
Unterstützung durch den Bildungsträger bei der Bäckerei Mayer in Ravensburg absolvieren konnte und erfolgreich abschloss. Sie wurde anschließend vom Betrieb in eine Anstellung übernommen. Ihre Ausbilderin, Marion
Stehmer, die die Bäckerei-Filiale in Ravensburg leitet, war anfangs sehr skeptisch, ob die Auszubildende die
Ausbildung durchhalten und die Prüfung bestehen würde. Die IHK-Prüfung schaffte sie nur, weil das bfz mit
der IHK Weingarten einen besonderen Nachteilsausgleich für das Mädchen aushandeln konnte. Es wurde ein
gesonderter Prüfungsausschuss für beeinträchtigte Jugendliche gebildet. Dalida Khemici, eine Lehrerin des bfz
Ravensburg und zugleich Prüfungsausschussmitglied, hatte an der Prüfung mitgewirkt. Sie erklärte, dass benachteiligte Jugendliche oft mit einer Standard-Prüfungssituation überfordert sind und deshalb nicht in der Lage,
ihr vorhandenes Wissen zu aktivieren. Erforderlich seien bei Benachteiligten andere Fragetechniken und mehr
Geduld bei den Antworten, dann seien Prüfungsergebnisse möglich, die teilweise sogar über denen der nicht
beeinträchtigten Jugendlichen lägen.
Aus Hannover berichtete Kerstin Fennen, die im dortigen Berufsbildungswerk als Berufspädagogin für die
Ausbildung in den Logistik-Berufen zuständig ist, von der Kooperation mit der Firma A.-W. Heil & Sohn
GmbH & Co. KG in Hannover. Dort hatte ein Auszubildender des Berufsbildungswerkes die Möglichkeit, einen
größeren Anteil seiner Ausbildung nicht wie sonst üblich nur im Berufsbildungswerk, sondern direkt im Betrieb
zu absolvieren. Eine Besonderheit bildete die Kooperation des BBW Hannover mit der Firma Lyreco. Dabei
ging es nach Einschätzung von Frau Fennen nicht nur um das Kennenlernen der Praxis, sondern es handelte
sich bei diesem Praxiseinsatz in hohem Maße auch um eine sozialpädagogische Intervention. Der Jugendliche
erwarb im Betrieb, relativ „geschützt“ in einem kleinen Team, wichtige Sozialkompetenzen und entwickelte das
erforderliche Selbstbewusstsein, um letztlich eine Festanstellung bei der Firma erhalten zu können.
Gerlinde Dubb vom Berufsbildungswerk Abensberg legte in ihrem Vortrag dar, warum diese Kooperation
für die Auszubildenden so wichtig ist: Sie lernen in einem realen Arbeitsumfeld an modernsten Anlagen und mit
Quantitäten, wie sie in aller Regel im Berufsbildungswerk nicht simuliert werden können. Deshalb kooperiert das
Berufsbildungswerk Abensberg im Projekt TrialNet mit Audi in Ingolstadt und mit der Firma Ceva Logistics, wo
regelmäßig mehrere Auszubildende des BBW unter Realbedingungen arbeiten und lernen.
Lothar Baumüller, der Leiter des BAW Mittelfranken, verwies auf die besondere Sozialisationsfunktion der
Betriebe, die bei lernbehinderten Jugendlichen eine nachhaltige Wirkung zeige: „Ein angemessenes Sozialverhalten entscheidet mehr über den Erfolg der Integration als kognitive Leistungen.“, so Herr Baumüller.
Das dritte Bespiel einer inklusiven Ausbildung betraf die erfolgreiche Kooperation zwischen dem Berufsbildungswerk Hamburg und dem Unternehmen „Veganz“. Die Inhaberin des Handelsunternehmens für vegane
Produkte, Frau Unsinn, bot einer jungen Auszubildenden des BBW Hamburg, die selbst vegan lebt, erst ein
zwölfmonatiges Praktikum, das dann in eine reguläre Ausbildung überführt werden konnte.
Marlies Tröder und Harald Sturm, beide vom Hamburger Institut für Berufliche Bildung, berichteten
vom neuen Modellprojekt „dual & inklusiv“, das als ein vom Europäischen Sozialfonds gefördertes Projekt auf
den drei Ebenen „Berufliche Orientierung“, „Berufsvorbereitung“ und „Ausbildung/Qualifizierung“ ansetzt, um
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modellhaft für Hamburg die Inklusion beeinträchtigter Jugendlicher bei der Ausbildung im Dualen System zu
erproben.
Forum 3: Mit Erfolg zum Berufsabschluss – Ausbildungsbausteine, Kompetenzfeststellungen,
Nachteilsausgleich
Moderation: Dr. Matthias Kohl (f-bb)
Jugendliche, die ihre Ausbildung ab- oder
länger unterbrechen, nicht unversorgt zu
lassen, ist ein wichtiges Ziel sowohl im
Hinblick auf Inklusion wie auf die Sicherung des Fachkräftenachwuchses. Gleiches gilt für die Forderung nach einfacheren Möglichkeiten des Zugangs zu betrieblicher Ausbildung für benachteiligte
und behinderte Jugendliche. Neue Instrumente wie Ausbildungsbausteine und
handlungsorientierte Verfahren der Feststellung von Lernergebnissen – idealerweise auf der Basis des DQR – bieten
dafür Lösungen. Im Forum wurde diskutiert, welche Möglichkeiten es gibt, behinderten und benachteiligten Jugendlichen den oft steinigen Weg zum
beruflichen Abschluss zu erleichtern und dabei auf individuelle Besonderheiten einzugehen. Im Mittelpunkt
standen dabei die Fragen, wie erworbene Kompetenzen zertifiziert, anerkannt und ggf. auch angerechnet werden
können, welche Erfahrungen es mit dem gesetzlich verankerten Nachteilsausgleich gibt und welche Herausforderungen die verschiedenen Lernorte sowie die zuständigen Stellen dabei jeweils zu bewältigen haben.
Inputs/Gesprächsrunde:

Dr. Josef Amann, IHK für München und Oberbayern

Margot Baur, ADD Rheinland-Pfalz

Armin Grams, Handelskammer Hamburg
Praxisbeispiele:

Gabriele Backes, BBW Bitburg

Susan Schneider, bfz München
 Beatrix Jost, Prüfungsteilnehmerin Handelskammer Hamburg
Zum Einstieg in das Forum berichteten Dr. Josef Amann, Leiter des Bereichs Berufsbildung der IHK für
München und Oberbayern und Susan Schneider, Seminarleiterin der Beruflichen Fortbildungszentren der
Bayerischen Wirtschaft (bfz) München, über ihre Kooperation bei der Umsetzung der Kompetenzfeststellungen im Rahmen des Projekts TrialNet und bewerteten die gesammelten Erfahrungen. Herr Amann beschrieb
zunächst, welche Qualitätsstandards an Kompetenzfeststellungen zur Zertifizierung von Ausbildungsbausteinen
angelegt werden und verdeutlichte die Aufgabenteilung zwischen bfz und IHK : Während bfz zusammen mit
den betrieblichen Ausbildern für die Konzipierung der komplexen Arbeitsaufgaben und die Durchführung der
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Kompetenzfeststellungen zuständig war, übernahm die Kammer Aufgaben der Qualitätssicherung (Prüfung der
entwickelten komplexen Aufgaben) und zertifizierte die Ergebnisse der Kompetenzfeststellung. Frau Schneider
erläuterte anschließend am Beispiel einer Teilqualifizierung im Berufsbild Bürokaufmann/-frau Vorgehensweise
und Herausforderungen bei der Entwicklung einer komplexen Arbeitsaufgabe für die Kompetenzfeststellung.
Beide zogen anschließend ein positives Fazit: Sowohl für behinderte Jugendliche als auch für Betriebe bieten
einheitliche Teilqualifikationen mit qualitätsgesicherten Kompetenzfeststellungen und Zertifikaten einen Mehrwert, vor allem in den Fällen, in denen ein Bestehen der IHK-Abschlussprüfung unsicher bzw. unwahrscheinlich
ist.
Im Anschluss an diesen Part beschrieb Margot Baur von der Aufsichts- und Dienstleistungsdirektion
(ADD) Rheinland-Pfalz als zuständiger Stelle für die Berufe der Hauswirtschaft mit Gabriele Backes vom
Europäischen Berufsbildungswerk Bitburg, wie im Rahmen des Projekt TrialNet hauswirtschaftliche Berufe
in Teilqualifikationen untergliedert und unter Einbezug des Deutschen Qualifikationsrahmens (DQR) lernergebnisorientierte Prüfungsaufgaben entwickelt und entsprechende Kompetenzen mit Verweis auf die jeweiligen
Niveaustufen des DQR zertifiziert wurden. Im Rahmen der anschließenden Diskussion stellte Frau Baur außerdem die Chancen von Teilqualifikationen in Bezug auf die Anrechnung von Vorerfahrungen, die Förderung der
Durchlässigkeit und die europaweite Verwertbarkeit heraus.
Welche Möglichkeiten der gesetzlich verankerte Nachteilsausgleich bietet, um behinderten Jugendlichen den Weg
zum Berufsabschluss zu erleichtern, erläuterte anschließend Armin Grams, Geschäftsführer der Handelskammer Hamburg. Er umriss den gesetzlichen Rahmen und verdeutlichte dessen Potenziale zur Anpassung der
Kammerprüfungen an die jeweiligen individuellen Erfordernisse. Im Gegensatz zu exklusiven "Behindertenregelungen" nach § 66 Berufsbildungsgesetz habe sich die Handelskammer Hamburg beim Thema Inklusion für den
Weg des Nachteilsausgleiches entschieden. Frau Beatrix Jost, eine stark sehbehinderte Mitarbeiterin der netbank AG, berichtete anschließend, wie der Nachteilsausgleich bei ihren Ausbildungs- und Fortbildungsprüfungen umgesetzt wurde.
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Podiumsdiskussion: Inklusion und Wirtschaft – Eine Zwischenbilanz nach fünf Jahren UNKonvention
Christina Ramb, Abteilungsleiterin Arbeitsmarkt der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände wies darauf hin, dass eine kompetente Begleitung für Unternehmen notwendig ist, um Jugendliche mit
Behinderung auszubilden, und weiterer Druck auf die Betriebe durch Erhöhung der Ausgleichsabgabe oder der
Beschäftigungsquote sei auf jeden Fall kontraproduktiv. Der Bewusstseinswandel in der Wirtschaft, dass Behinderung nicht mit Leistungsminderung gleichzusetzen ist, ist entscheidend. Die Ansicht, dass Behinderung Leistungsminderung bedeutet, ist der falsche Ansatzpunkt. Das Projekt „Inklusion gelingt“ soll hier noch mehr Aufklärungsarbeit leisten. Unterstützte Beschäftigung, Nachbetreuung und feste Ansprechpartner nennt Frau Ramb
als relevante Leistungen für Unternehmen im Hinblick auf das Gelingen von Inklusion.
Als bisherigen Erfolg bezüglich Inklusion berichtete Rainer Schulz, Geschäftsführer des Hamburger Instituts
für berufliche Bildung, dass Menschen mit Behinderung mittlerweile nicht stärker ausgegrenzt werden als andere. Noch nicht verwirklicht sieht er jedoch die Ausrichtung der Inklusionsdebatte auf Berufsbildung, in der die
Struktur noch nicht auf Inklusion angelegt sei. Die Hinführung zur Ausbildung, die Ausbildung selbst und der
Übergang in die Beschäftigung müssen wie bei Jugendlichen ohne Beeinträchtigung angelegt sein. Denn wenn
behinderte Jugendliche betrieblich ausgebildet werden, ist es später leichter für sie, auf dem Arbeitsmarkt zurechtzukommen. Schulz verwies auf das Projekt TrialNet, das hier richtig ansetzt und ein wichtiger Baustein ist.
Prof. Dr. Eckart Severing, der Geschäftsführer des Forschungsinstituts Betriebliche Bildung (f-bb), machte auf die Schwierigkeiten der individuellen Förderung aufgrund der Sozialgesetzbücher aufmerksam, denn das
System der Förderung beruht bislang auf Institutionalisierung, mit der institutionelle Interessen einhergehen, die
schwierig zu handhaben sind. Bisher wird über Jugendliche mit Behinderung gesprochen, als sei das eine feststehende Größe. Inzwischen haben aber die unspezifischen Behinderungsarten, insbesondere im Förderbereich
Lernen oder soziale und emotionale Entwicklung zugenommen, und es stellt sich die Frage, was daran überhaupt
„Behinderung“ ist. Es braucht mehr Flexibilität im Regelsystem der dualen Ausbildung, um mit der Heterogenität der Jugendlichen mit unterschiedlichen Lerngeschwindigkeiten und unterschiedlichen Begabungen zurechtzukommen. Prof. Severing wendet sich gegen eine Vorsortierung in solche, denen man eine Berufsausbildung
zutraut und andere, die in einer Sonderwelt ausgegliedert werden, aus der sie sehr schwer wieder zurück finden.
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Dennoch braucht es rehabilitationsspezifische Kenntnisse, die den Betrieben mit Assistenzsystemen bereitgestellt werden, wofür ganz besonders die Berufsbildungswerke mit ihrem Know-how geeignet sind.
Raimund Becker von der Bundesagentur für Arbeit betonte die Relevanz einer individuellen Klärung, von
welcher Behinderung eine Person betroffen ist und wo Einschränkungen bzw. Stärken und Talente vorliegen.
Den Rehaberatern obliegt die anspruchsvolle Aufgabe, eine Anamnese durchzuführen und eine Diagnose darüber vorzunehmen, mit welcher Unterstützung eine Ausbildung gelingen kann. Ohne diese Entscheidungen geht
es nicht – aber mögliche Ungenauigkeiten und Fehler können im Laufe des Rehaprozesses nachjustiert werden.
Eine tatsächliche inklusive Gesellschaft liegt nach Richard Nürnberger, Geschäftsführer der Fortbildungsakademie der Wirtschaft (FAW), nur dann vor, wenn es keine Etiketten mehr gibt und stattdessen der Einzelfall betrachtet wird und für jeden eine individuelle und intelligente Lösung gesucht wird. Das Denken in Förderkategorien hilft dem Betrieb nicht, er braucht eine einsetzbare Arbeitskraft, und es ist die Aufgabe der Rehabilitationsträger, dafür die geeignete Unterstützung bereitzustellen.
Nach Michael Breitsameter, dem Vorsitzenden der Bundesarbeitsgemeinschaft der Berufsbildungswerke
gehört es zu deren Aufgaben, die Unterstützungsangebote noch mehr mit Betrieben zu verzahnen. Jeder Fünfte,
der zum Berufsbildungswerk kommt, hat bereits eine Ausbildung abgebrochen. Den Unternehmen müssen die
Vorteile und nicht die Defizite von Personen mit Behinderung verdeutlicht werden. Dazu bedarf es einer guten
Kommunikation mit den Betrieben dahingehend, welcher Unterstützungsbedarf nötig ist. Aus den Bedarfen des
Unternehmens sowie den Kompetenzen des Jugendlichen gilt es dann, konkrete Maßnahmen abzuleiten. Damit
verändert sich zukünftig teilweise die Aufgabe der Berufsbildungswerke, sie müssen ihre Kompetenzen in die
Ausbildung in den Betrieben einbringen.
Gerd Labusch von der Gewerkschaft Verdi und Mitglied im Ausschuss für Fragen behinderter Menschen des
Bundesinstituts für Berufsbildung, betont die Notwendigkeit des Perspektivenwechsels weg vom defizitorientierten und hin zur stärkenorientierten Assessment. Weiterhin sei ein Wandel weg von der Wissensorientierung
und hin zur Betrachtung der beruflichen Handlungskompetenz erforderlich. Auch für Gerd Labusch ist es unerlässlich, für behinderte Menschen in erster Linie eine Vollausbildung zu gewährleisten, und nur wenn diese an
Grenzen stößt, sind andere Maßnahmen in Betracht zu ziehen, wie beispielsweise die Fachpraktikerberufe. Auch
in der betrieblichen Ausbildung muss man sich mehr mit Methodik und Didaktik beschäftigen.
Nur dann kann eine Vollausbildung für behinderte Menschen gewährleistet werden. Die Zertifizierung von einzelnen Bausteinen der Ausbildung ist nach Gerd Labusch wenig zielführend. Er sieht hier das Problem, dass auf
einer Teilqualifizierung kaum aufgebaut werden kann und diese auch unter dem Aspekt der tariflichen Einordnung von derart Qualifizierten problematisch sei.
Prof. Dr. Severing entgegnet dem und verweist auf die Relevanz der Ausbildungsbausteine dahingehend, dass
Personen, die die Ausbildung nicht schaffen, dann immerhin Teilleistungen erworben haben, die von Arbeitgebern eingeschätzt und eingeordnet werden können. Der Geschäftsführer des f-bb beschloss die Diskussion mit
dem Fazit, dass das System der beruflichen Bildung so gestaltet werden muss, dass es Heterogenität verträgt.
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Ausblick: Inklusive Berufsbildung 2025
Dr. Matthias Kohl, f-bb
Zum Abschluss der Veranstaltung wagte Dr. Matthias Kohl, Themensprecher
Arbeitsmarktpolitik und betriebliche Innovation im Forschungsinstitut Betriebliche Bildung, einen Ausblick auf die Berufsausbildung der Zukunft. Er beschrieb
die Vision eines inklusiven Berufsbildungssystems, das grundsätzlich allen Menschen unabhängig von individuellen Beeinträchtigungen und Benachteiligungen
einen gleichberechtigten und selbstbestimmten Zugang zu beruflicher Bildung im
Regelsystem dualer Ausbildung und mit dem Ziel eines vollwertigen Abschlusses
ermöglicht und eine individuelle Förderung ermöglicht. Ausbildung wäre dann so
strukturiert, dass mittels Kompetenzfeststellungen auch Teilleistungen sichtbar
gemacht und zertifiziert werden können, sodass auch diejenigen Jugendlichen, die
eine komplette Ausbildung nicht bzw. nicht en bloc bewältigen können, am Arbeitsmarkt und im Bildungssystem verwertbare und anerkannte Qualifikationen
bescheinigt bekommen.
Anschließend ordnete Dr. Kohl die Leistungen und Ergebnisse des Projekts TrialNet auf dem Weg zu dieser
Vision ein, machte aber auch deutlich, welche nächsten Schritte erforderlich sind: Notwendig ist einerseits eine
weitere Flexibilisierung der Ausbildungsgänge – diese sind zeitlich, curricular und didaktisch so zu gestalten, dass
eine individuelle Förderung bis zum Leistungsoptimum mit so viel Betriebsnähe wie möglich gewährleistet werden kann. Dies beinhaltet auch, dass Maßnahmen der Berufsvorbereitung und Sonderberufe nach § 66 BBiG
bzw. § 42 m HwO auf einheitlich definierten Bausteinen anerkannter Ausbildungsberufe basieren.
Zentrale Grundvoraussetzung für eine inklusive Berufsausbildung ist aber bei allen Aktivitäten in Sondereinrichtungen, auf didaktisch-curricularer und fördersystematischer Ebene, dass sich Unternehmen noch stärker als
bisher für das Thema Ausbildung behinderter Jugendlicher öffnen. Hierzu gibt es bereits eine Reihe ermutigender Signale und auch entsprechende Initiativen, es gilt aber auch weiterhin, auf eine Stärkung der Bereitschaft
und Fähigkeit von Betrieben zur Ausbildung behinderter Jugendlichen einzuwirken. Hierzu benötigen diese Betriebe zum einen systematische und möglichst unkomplizierte Unterstützungsangebote und -strukturen, zum
anderen bedarf es nicht zuletzt auch eines gesamtgesellschaftlichen Bewusstseinswandels.
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