Leseprobe - Verlag Ferdinand Schöningh

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Leseprobe - Verlag Ferdinand Schöningh
DIE VIELEN GESICHTER DES KONSUMS
LWL-INSTITUT FÜR WESTFÄLISCHE REGIONALGESCHICHTE
LANDSCHAFTSVERBAND WESTFALEN-LIPPE
MÜNSTER
FORSCHUNGEN ZUR REGIONALGESCHICHTE
Band 79
Herausgegeben von Bernd Walter
Die vielen Gesichter des Konsums
Westfalen, Deutschland und die USA
1850-2000
herausgegeben von
Michael Prinz
FERDINAND SCHÖNINGH
Redaktion:
Michael Prinz
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
Abbildung auf dem Umschlag:
Michael Prinz
Umschlaggestaltung:
INNOVA GmbH, 33178 Borchen
© 2016 Ferdinand Schöningh, Paderborn
(Verlag Ferdinand Schöningh GmbH, Jühenplatz 1, D-33098 Paderborn)
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sind urheberrechtlich geschützt.
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vorherige schriftliche Zustimmung des Verlages nicht zulässig.
Printed in Germany. Herstellung: Druckerei Kettler, Bönen
ISBN 978-3-506-78415-5
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
7
Michael Prinz
Am Ende Münster? Einsichten und offene Fragen
der neueren Konsumgeschichtsschreibung 9
I. Das Ende relativer Rückständigkeit
Heidrun Homburg
Wahrnehmungen der Konsummoderne und die deutsche Konsumlandschaft
im 18. und 19. Jahrhundert
43
Ira Spieker
Waren | Werte.
Konsumgewohnheiten und Kreditverflechtungen
im ländlichen Milieu um 1900
61
II. Die Zwischenkriegszeit
Karl Ditt
Vom Luxus zum Standard? Die Verbreitung von Konsumgütern der Zweiten
Industriellen Revolution in England und Deutschland im frühen 20. Jahrhundert 81
Michael Prinz
Weimars doppelte Zukunft: Konsum, wirtschaftlicher Erwartungshorizont
und das Problem der Kontinuität 1914-1950
119
5
III. Die Rolle der Vereinigten Staaten von Amerika
Lydia Langer
Transnationaler Wissenstransfer und die Einführung der Selbstbedienung
im bundesdeutschen Einzelhandel der 1950er und 1960er Jahre
139
Claudius Torp
Die breite Front der Erzieher. Antialkoholpolitik zwischen Anspruch und
Wirklichkeit in der Weimarer Republik
163
Thomas Welskopp
Halbleer oder halbvoll? Alkoholwirtschaft, Alkoholkonsum und Konsumkultur
in den Vereinigten Staaten und im Deutschen Reich in der Zwischenkriegszeit:
Biergeschichte(n)
183
IV. Varianten der Konsumgesellschaft?
Zum Verhältnis von Tradition und Kommerz an lokalen Beispielen
Sabine Kienitz
Einkaufserlebnis Wochenmarkt. Historisch-ethnographische Perspektiven
auf eine konstruierte Tradition
211
Jan Logemann
Down and Out Downtown? Transatlantische Unterschiede in der Entwicklung
urbaner Einkaufsräume 1945-2010
231
Bernd Neuhoff
Die Fußgängerzone in einer westfälischen Mittelstadt:
Lippstadt und seine Lange Straße. Eine kritische Bilanz
251
Marcus Termeer
Konsum als Sinn des Urbanen (?) –
am Beispiel Münsters seit dem ausgehenden 20. Jahrhundert
267
Abkürzungen
291
Autorinnen und Autoren
293
6
Vorwort
Die vorliegende Veröffentlichung geht zurück auf eine Tagung des LWL-Instituts für
westfälische Regionalgeschichte, die unter dem Titel „Die vielen Gesichter des Konsums 1850-2000“ vom 29. bis 30. November 2013 in Münster stattfand. Die Themen
der Tagung und des vorliegenden Bandes wurden so gewählt, dass sich bei vielen thematischen Leerstellen chronologische Anschlüsse ergeben und wichtige Aspekte der
Konsumgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts in der Region Westfalen, in Deutschland
und den USA behandelt werden. Besonderer Wert wurde darauf gelegt, Schnittflächen
zwischen allgemeiner- und Konsumgeschichtsschreibung im 19. und 20. Jahrhundert
ins Visier zu nehmen. Die anders als noch vor einem Jahrzehnt deutlich fortgeschrittene konsumhistorische Forschung liefert zunehmend Einsichten, die dem besseren Verständnis der sozialen und politischen Zeitgeschichte insgesamt dienen können.
Es ist kein Zufall, dass eine Reihe von Beiträgen ausführlich die Entwicklung in
den USA thematisiert. Dabei geht es weniger um einen formalen Vergleich als um die
Frage nach tieferliegenden Ursachen der Entwicklung, galt die Konsumgesellschaft
doch lange Zeit primär als ein US-amerikanischer Import.
Der Fluchtpunkt des Bandes liegt in der Gegenwart bzw. den letzten Jahrzehnten
des 20. Jahrhunderts. Im eigenen Selbstverständnis haben sich Deutsche und Europäer als Konsumbürger immer mehr vom amerikanischen Vorbild emanzipiert. Die
Speerspitze dieses Anspruchs bildet die Selbstvermarktung europäischer Städte, und
zwar keineswegs nur der Metropolen, sondern auch vieler Mittelstädte. Die westfälische Provinzhauptstadt Münster ist dafür ein überregional viel beachtetes Beispiel.
Selbstbewusst wird inzwischen vielerorts der Anspruch erhoben, aus Erbe und Fortschritt eine qualitativ überlegene Fusion des Konsums entwickelt zu haben. Wieweit
trägt dieser Anspruch? Wie sind die Zutaten dieser Fusion beschaffen? Vor allem:
Was bleibt von der Idee sozialer Demokratisierung und Integration, der Offenheit für
Jedermann und der Nachhaltigkeit im Medium des Konsums, den modernes Stadtmarketing hierzulande den eigenen Bürgern und den umworbenen Fremden vollmundig
verspricht?
Der Dank des Herausgebers gilt neben Beiträgerinnen und Beiträgern zu diesem
Band in besonderer Weise auch den Kommentatoren Heinz-Gerhard Haupt und
­Hannes Siegrist sowie den studentischen Mitarbeitern Sebastian Frolik, Tano Gerke,
Marina Kramm, Magnus Tintrup gen. Suntrup, Anna-Lena Többen, die die Korrekturarbeiten engagiert übernommen und die Tagungsorganisation ganz zu ihrer Sache
gemacht haben. Dies ist auch der Ort, um den westfälischen Städten und Gemeinden
Dank zu sagen, dass sie in Gestalt des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe für die
großzügige Finanzierung des Vorhabens Sorge trugen.
Münster, im März 2015
Michael Prinz
7
Michael Prinz
Am Ende Münster?
Einsichten und offene Fragen der neueren Konsumgeschichtsschreibung
Die Idee zu diesem Band verdankt sich einem vormittäglichen Spaziergang durch
das Zentrum einer Kleinstadt im Nordwesten der USA, den der Herausgeber vor einigen Jahren während einer Konferenzpause unternahm. Ein wenig gedankenverloren schlenderte ich damals auf dem Bürgersteig vorbei an den Schaufensterscheiben
einiger Läden, an Banken und einem Schulgebäude. Die Aktivität, überhaupt die
ganze Szenerie, schienen für mitteleuropäische Verhältnisse der Rede nicht wert. So
jedenfalls kam es mir vor, nicht jedoch der lokalen Polizei. Sonst wäre dem einzigen Fußgänger weit und breit wohl kaum um elf Uhr morgens ein Streifenwagen im
Schritttempo gefolgt. Offenbar interessierte ihn, welchen Laden sich der einsame Spaziergänger für einen Überfall ausgesucht hatte.1
Ähnliche Erfahrungsberichte existieren in vielen Varianten und für diverse Schauplätze in den USA. Die Reise- und Übersetzungsforen im Internet sind voll amüsanter
und durchaus lehrreicher Berichte und Debatten zu diesem Thema. Derartige Diskussionen enden regelmäßig mit der Behauptung grundlegender kultureller Unterschiede
zwischen Europäern und Amerikanern im Umgang mit dem Konsum und mit dem
Rekurs auf Topoi der traditionsreichen Amerikanisierungsdebatte.2
Erfahrungen wie die gerade geschilderten macht ein Historiker naheliegenderweise nicht nur als Tourist, sondern auch aus der Perspektive seines Metiers, und das
heißt konkret, er kehrt mit seinen Beobachtungen und Fragen an den Schreibtisch
zurück. In diesem Fall gibt die Lektüre konsumhistorischer Untersuchungen aus der
letzten Dekade allerdings eher Anlass, Primärerfahrungen wie die oben geschilderten, so suggestiv sie auch wirken, kritisch zu hinterfragen. Die Annahme vermeintlich kategorischer, in Stein gemeißelter Unterschiede in der Konsumwelt zwischen
Deutschland und den USA hat in der Forschung kaum noch Verfechter. Der Konsum
wird hierzulande nicht nur intensiver denn je erforscht, er erscheint inzwischen auch
als überaus wichtiger, ja selbstverständlicher Bestandteil der Lebenswirklichkeit akZum Hintergrund dieses auch in den USA vieldiskutierten Phänomens Lizabeth Cohen, From Town Center
to Shopping Center: The Reconfiguration of Community Marketplaces in Postwar America, in: American
Historical Review 101, 4 (1996), S. 1050-1081.
2 Vgl. zuletzt als Zusammenfassung: Mary Nolan, Americanization? Europeanization? Globalization? The
German Economy since 1945 Helmut Schmidt Prize Lecture, GHI Washington, October 24, 2013; URL:
http://ghi-dc.org/files/publications/bulletin/bu054/bu54_049.pdf, besucht am 20.4.2015. Grundlegend
Mary Nolan, The Transatlantic Century. Europe and America, 1890-2010, Cambridge 2012. Zur Begriffs­
klärung immer noch am besten Volker Berghahn, Conceptualizing the American Impact on Germany. West
German society and the problem of Americanization. Beitrag zur Konferenz The American Impact on
Western Europe. Americanization and Westernization in Transatlantic Perspective. Conference at the German Historical Institute, Washington, D.C., March-25-27, 1999, im Netz unter der Adresse www.ghi-dc.
org/conpotweb/westernpapers/berghahn.pdf, besucht am 20.04.2015.
1 9
tueller und vergangener Generationen von Europäern.3 Dass so vergleichsweise wenig von den Korrekturvorschlägen der neueren konsumhistorischen Forschung in die
breitere Öffentlichkeit durchgedrungen ist, dürfte auch psychologische Gründe haben
wie die tiefe Verwurzelung von Vorurteilen und die erstaunliche Beharrungskraft eines lange Zeit konsum- und kommerzkritischen nationalen Selbstbildes. Es hat aber
sicher auch damit zu tun, dass sich die Konsumgeschichtsschreibung lange Zeit als
Teildisziplin verstanden und in vielen Fällen zunächst an ihrem eigenen eng gefassten
Problemhaushalt abgearbeitet hat.4 Wenn sie im Wettbewerb um Ressourcen und Aufmerksamkeit beim breiten Publikum bestehen will, spricht viel dafür, daran etwas zu
ändern. Mittlerweile erlauben die Befunde neben konsumhistorischen Synthesen auch
Fragen, ob und was sich aus der Erforschung der Konsumgeschichte für die Deutung
Die Geschichte der Konsumgesellschaft in Deutschland ist gegenüber anderen Gegenstandsbereichen
erst im Verlauf der 1990er Jahre, dafür dann allerdings umso gründlicher in den Fokus von Soziologen,
Geographen und Historikern gerückt. Auch wenn der Nachholbedarf groß ist, scheint es doch verfehlt,
weiterhin ein Underdog-Image zu pflegen; vgl. etwa Günter Wiswede, Konsumsoziologie – Eine vergessene Disziplin, in: Doris Rosenkranz/Norbert F. Schneider (Hg.), Konsum. Soziologische, ökonomische
und psychologische Perspektiven, Opladen 2000, S. 23-72. Wichtige Überblicksdarstellungen bzw. als
Überblick angelegte Sammelbände sind Hannes Sigrist u.a. (Hg.), Europäische Konsumgeschichte. Zur
Gesellschafts- und Kulturgeschichte des Konsums (18. bis 20. Jahrhundert), Frankfurt a.M. 1997 (zusammen mit Hartmut Kaelble und Jürgen Kocka); Arne Andersen, Der Traum vom guten Leben, Frankfurt
a.M. 1999; Heinz-Gerhard Haupt, Konsum und Handel. Europa im 19. und 20. Jahrhundert, Göttingen
2004; Heinz-Gerhard Haupt/Claudius Torp (Hg.), Die Konsumgesellschaft in Deutschland 1890-1990. Ein
Handbuch, Frankfurt a.M. 2009; Wolfgang König, Geschichte der Konsumgesellschaft, Stuttgart 2000;
ders., Kleine Geschichte der Konsumgesellschaft. Konsum als Lebensform der Moderne, Stuttgart 2008;
ders., Wolfgang König, Volkswagen, Volksempfänger, Volksgemeinschaft. ‘Volksprodukte’ im Dritten
Reich: Vom Scheitern einer nationalsozialistischen Konsumgesellschaft, Paderborn 2004; Michael Prinz
(Hg.), Der lange Weg in den Überfluss Anfänge und Entwicklung der Konsumgesellschaft seit der Vormoderne, Paderborn 2003; Christian Kleinschmidt, Konsumgesellschaft, Stuttgart 2008; Hartmut Berghoff/Uwe Spiekermann (Hg.), Decoding Modern Consumer Societies, New York 2012, darin besonders
den Beitrag von Heinz-Gerhard Haupt, Consumption History in Europe. An overview of recent trends,
S. 17-35; Frank Trentmann (Hg.), The Oxford Handbook of the History of Consumption, Oxford 2012.
Besonders anregend der Artikel von Heinz-Gerhard Haupt/ Paul Nolte, Markt. Konsum und Kommerz,
in: C. Mauch/K. Patel (Hg.), Wettlauf um die Moderne. Die USA und Deutschland 1890 bis heute, Bonn
2008, S. 187-224. Als prägnante Zusammenfassung auch Manuel Schramm, Konsumgeschichte, Version:
2.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 22.10.2012, URL: http://docupedia. de/zg/Konsumgeschichte_Version_2.0_Manuel_Schramm?oldid=106317, besucht am 12.4.2015. Beispiele für konsumsoziologische Studien aus den letzten Jahren sind u.a. Kai-Uwe Hellmann/Dominik Schrage (Hg.), Konsum der Werbung. Zur
Produktion und Rezeption von Sinn in der kommerziellen Kultur, Wiesbaden 2004; ders./Guido Zurstiege
(Hg.), Räume des Konsums. Über den Funktionswandel von Räumlichkeit im Zeitalter des Konsumismus,
Wiesbaden 2007; Birgit Blättel-Mink/Kai-Uwe Hellmann (Hg.), Prosumer Revisited. Zur Aktualität einer
Debatte, Wiesbaden 2009; ders., Fetische des Konsums. Studien zur Soziologie der Marke, Wiesbaden
2011; ders., Der Konsum der Gesellschaft. Studien zur Soziologie des Konsums, Wiesbaden 2013; Jens
Hälterlein, Die R
egierung des Konsums, Wiesbaden 2015.
Beispiele aus konsumgeographischer Sicht sind Ulrich Ermann, Geographien der Vermarktung und des
Konsums, in: Heiko Schmid/Karsten Gäbler (Hg.), Perspektiven sozialwissenschaftlicher Konsumforschung, Stuttgart 2013, S.173-194.; ders., Geographien moralischen Konsums: Konstruierte Konsumenten
zwischen Schnäppchenjagd und fairem Handel, in: Berichte zur deutschen Landeskunde 80, 2 (2003),
S. 197-220.
4 Vgl. auch Haupt, History.
3 10
deutscher Geschichte insgesamt, für umstrittene Probleme der Periodisierung, für das
Bild ganzer Epochen und nicht zuletzt für die mit vielen anderen Aspekten deutscher
Geschichte im 20. Jahrhundert so eng verknüpfte Amerikanisierungsdebatte lernen
lässt. Um einige wichtige Schnittflächen von Konsum- und allgemeiner Geschichte
soll es im Folgenden gehen. Zu den Schnittflächen gehören
1. die Vorverlegung des Durchbruchs der Konsumgesellschaft aus den 1950er Jahren auf die Zeit um die Jahrhundertwende.5
2. die Kritik an der Einstufung der Zwischenkriegszeit, also der Jahre zwischen
1914 und 1945, als weitgehende „Auszeit“ konsumgesellschaftlichen Wandels.6
3. Die Relativierung der sogenannten Amerikanisierungsthese, der zufolge die
USA das gesamte 20. Jahrhundert über unumstrittenes Vorbild und ausschlaggebende Kraft hinter der Durchsetzung der Konsumgesellschaft in der westlichen
Welt waren. In ihrer ursprünglichen Form ließ die Amerikanisierungsthese die
Entwicklung gerade in Deutschland als späten und stark fremdbestimmten Vorgang erscheinen.7
4. die zunehmend selbstbewusste Einstufung des deutschen bzw. des west-europäischen Musters als vorbildliche Verbindung von Tradition, Nachhaltigkeit und
Konsummoderne. Als international beachtetes Manifest dieser Sichtweise kann
u.a. die vieldiskutierte Streitschrift des französischen Ökonomen Michel Albert
„Kapitalismus contra Kapitalismus“ von Anfang der 1990er Jahre gelten.8
1. Periodisierungsfragen
a) Das englische Vorbild
Die Rückdatierung des Durchbruchs der Konsumgesellschaft auf die Zeit vor bzw. um
1900 wirft viele Anschlussfragen auf. Wenn es zutrifft, dass die Konsumgesellschaft
hierzulande erheblich früher als bislang angenommen zu einer sich selbst reproduzie5 6 7 8 Dafür
steht vor allem die Monographie von Udo Spiekermann, Basis der Konsumgesellschaft. Entstehung
und Entwicklung des modernen Kleinhandels in Deutschland 1850-1914, München 1999; vgl. auch Hendrik K. Fischer, Konsum im Kaiserreich. Eine statistisch-analytische Untersuchung privater Haushalte im
wilhelminischen Deutschland (Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte, Beiheft 15), Berlin 2011; Julia Laura
Rischbieter, Mikro-Ökonomie der Globalisierung. Kaffee, Kaufleute und Konsumenten im Kaiserreich
1870-1914, Köln 2011; Vera Hierholzer, Nahrung nach Norm. Regulierung von Nahrungsmittelqualität in
der Industrialisierung 1871-1914, Göttingen 2010; wichtig auch Kaspar Maase/Wolfgang Kaschuba (Hg.),
Schund Schönheit. Populäre Kultur um 1900, Köln 2001; Christoph Nonn, Die Entdeckung des Konsumenten im Kaiserreich, in: Haupt/Torp (Hg.), Konsumgesellschaft, S. 221-231.
Für
diese Position steht vor allem Claudius Torp, Konsum und Politik in der Weimarer Republik, Göttingen
2011.
Vgl.
Victoria de Grazia, Irresistible Empire. America’s Advance through 20th-Century Europe, Cambridge
Mass. 2005; jetzt auch auf Deutsch dies., Das unwiderstehliche Imperium. Amerikas Siegeszug im Europa
des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 2010. Kritisch dazu der og. Text von Haupt/Nolte, Markt. Zu methodischen
Fragen John Brewer/Frank Trentmann (Hg.), Consuming Cultures, Global Perspectives. Historical Trajectories, Transnational Exchanges, Oxford/New York, 2006, S. 19-69.
Michel
Albert, Kapitalismus contra Kapitalismus, Frankfurt a.M. 1992.
11
renden Formation wurde, dann gibt es offenkundig Platz für andere Vorbilder, insbesondere aus dem europäischen Raum. Welche Vorbilder waren das? Ab wann wurden
sie wirksam? Wie und wer nahm sie mit welchen Konsequenzen wahr?
An diesem Punkt setzt der zeitlich weit, nämlich bis ins späte 18. Jahrhundert ausgreifende Beitrag von Heidrun Homburg an.9 Er verbindet die eindrucksvollen Befunde englischer Historiker, die im England der Hannoveraner Könige den Durchbruchsort der Konsummoderne ausgemacht haben, mit den Ergebnissen der neueren
deutschen Forschung.10 Die zeitgenössischen Reiseberichte, die Homburg erstmals
auswertet, illustrieren in farbigen Details die überragende Stellung, die das frühmoderne England als Pionierland des Konsums bei deutschen Eliten einnahm. Homburgs
Untersuchung belegt allerdings auch, dass das Wissen um die Möglichkeit einer Entwicklung längst nicht gleichbedeutend mit der Chance zur Durchsetzung war. Viele
der durch Englandbesuche angestoßenen Initiativen scheiterten auf einem Boden, der
dafür offensichtlich noch nicht vorbereitet war.11 Das änderte sich in einem weiteren
Sinne erst seit den 1890er Jahren.
b) Das Dorf und sein Laden
Wie verträgt sich die geschilderte Zurückdatierung der Konsumgesellschaft mit der
bekannten Tatsache, dass das Deutsche Reich um 1900 an vielen Stellen noch Züge einer ländlich-dörflichen Gesellschaft aufwies? Wie muss man sich das Eindringen der
Konsumgesellschaft in das provinzielle Deutschland, seine Regionen, Städte und Gemeinden, seine ländlichen Haushalte vorstellen? Kam es überhaupt zu einem solchen
Eindringen oder herrschten vielleicht schroffe Disparitäten vor, wie sie als typisch für
Länder der Dritten Welt galten? Anzunehmen ist, dass bei der Bedarfsweckung und
der Versorgung des Publikums mit knappen Geldmitteln bzw. Kleinkredit der wichtigste Part auf dem Land nicht Medien, sondern lokalen Händlern zufiel.12
Vgl.
die Langversion des Beitrags Heidrun Homburg, German Landscapes of Consumption, 1750-1850.
Perspectives of German and Foreign Travellers, in: Jan Hein Furnée/Clé Lesger (Hg.), The Landscape of
Consumption. Shopping Streets and Shopping Cultures in Western Europe, c. 1600-1900, Basingstoke
2014, S.125-156.
10 Vgl. Neil McKendrick, Introduction, in: ders./John Brewer/John H. Plumb, The Birth of a Consumer
Society. The Commercialization of Eighteenth‑century England, London 1982, S.1-6; eine Kurzfassung
des Arguments in deutscher Sprache ist Neil McKendrick, Der Ursprung der Konsumgesellschaft. Luxus,
Neid und soziale Nachahmung in der englischen Literatur des 18. Jahrhunderts, in: Siegrist u.a. (Hg.),
Konsumgeschichte, S. 75‑107. Wichtige Beiträge, teils bestätigend, teils kritisch zu dieser These sind:
T.H. Breen, „Baubles of Britain“: The American and Consumer Revolutions of the Eighteenth Century;
in: Past & Present 119 (May 1988), S. 73-104; Ben Fine/Ellen Leopold, Consumerism and the Industrial
Revolution; in: Social History 5, 15 (1990), S. 151-179; Carole Shammas, The pre-industrial consumer in
England and America, Oxford 1990; Cary Carson/Ronald Hoffman/Peter J. Albert (Hg.), Of Consuming
Interests: The Style of Life in the Eighteenth Century, Charlottesville 1994; Margrit Schulte-Beerbühl,
Die Konsummöglichkeiten und Konsumbedürfnisse der englischen Unterschichten im 18. Jahrhundert,
in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 82 (1995), S. 1-28.
11 Vgl. Homburg, Wahrnehmungen, S. 53ff.
12 Zur Geschichte des Kleinkredits als Überblick Jan Logemann (Hg.), The Development of Consumer Credit in Global Perspective: Business, Regulation, and Culture, New York 2012; Für das 20. Jahrhundert Jan
9 12
Der Beitrag von Ira Spieker, der diesen Fragen nachgeht, fußt auf der monographischen Studie eines quellenmäßig außergewöhnlich gut dokumentierten Einzelhandelsgeschäftes in einem gerade einmal tausend Seelen zählenden westfälischen Dorf.13
Atteln im Paderborner Land und „sein Laden“ erinnern im Grad ihrer Entlegenheit
von Ferne an den klassischen Einsamkeitsort moderner Weltliteratur, das tropische
Macondo, seinen Jahrmarkt und die periodischen Besuche der als Innovationsvermittler dienenden Zigeuner.14 Umso überraschender wirkt der Befund Ira Spiekers, die
zeigen kann, dass die vielgestaltigen Versuchungen des Konsums um 1890 selbst an
dieser entlegenen Stelle präsent waren. Die Ligaturen stifteten beflissene Vertreter
und ihre großformatigen Musterbücher, Besuche des unternehmerischen Ladenbesitzers und seiner Familienmitglieder auf Messen im In- und Ausland, der mehrtägige,
überregional populäre Liborimarkt im benachbarten Paderborn und die Tatsache, dass
die Eisenbahn und ihre Bahnhöfe, selbst wenn sie einen weiten Bogen um den Ort
schlugen, mit dem Pferdewagen in vertretbarer Zeit erreichbar waren.
2. Die Zwischenkriegszeit
a) Langlebige Konsumgüter und Energiekonsum
Unbestritten in der Forschung ist, dass das Deutsche Reich seinem Lehrmeister in
Sachen Fabrikindustrialisierung England seit den 1870er Jahren mit Riesenschritten
gefolgt war und bereits bei Ausbruch des Weltkriegs in wichtigen Bereichen wie den
„wissenschaftlichen Industrien“ aufgeschlossen hatte. Weitgehend offen ist demgegenüber die Frage, wann deutsche Konsumenten den Vorsprung ihrer Vettern und Kusinen von der Insel aufholten und in vergleichbarer Weise von den Segnungen modernen Konsumierens profitierten. Der Beitrag von Karl Ditt arbeitet Unterschiede und
Ähnlichkeiten bei der Bereitstellung und Nutzung langlebiger Konsumgüter in beiden
Gesellschaften vom Ende des 19. Jahrhunderts bis an die Schwelle des Zweiten Weltkriegs heraus. Dabei ergibt sich ein facettenreiches Bild mit einer gleichwohl eindeutigen Botschaft. Auf fast allen untersuchten Feldern – dem Autobesitz, der Verbreitung
13 14 Logemann, Different Paths to Mass Consumption: Consumer Credit in the United States and West Germany during the 1950s and ‘60s, in: Journal of Social History 41 (2008), S. 525-559. Anregend: Lendol
Calder, Financing the American Dream: A Cultural History of Consumer Credit, Princeton 2009; Louis
Hyman, Debtor Nation: The History of America in Red Ink, Princeton 2011; Paul Johnson, Saving and
Spending: The Working-class Economy in Britain 1870-1939, Oxford 1985; zur Praxis der Kreditvergabe
Michael Prinz, Brot und Dividende. Konsumvereine in England und Deutschland vor 1914, Göttingen
1996, S. 201, 359; Sean O’Connell, Speculations on working class debt: credit and paternalism in France,
Germany and the UK in: Entreprises et histoire 59, 2 (2010), S.80-91. Zur Geschichte des Kleinkredits in
der Vormoderne exemplarisch Hans-Jörg Gilomen, Der Kleinkredit in spätmittelalterlichen Städten. Basel
und Zürich im Vergleich, in: Städtische Wirtschaft im Mittelalter. Festschrift für Franz Irsigler zum 70.
Geburtstag, hg. von Rudolf Holbach/Michel Pauly, Köln 2011, S. 109-148; Craig Muldrew, The Economy
of Obligation: The Culture of Credit and Social Relations in Early Modern England, Basingstoke 1998.
Ira Spieker, Das Dorf und sein Laden. Warenangebot, Konsumgewohnheiten und soziale Beziehungen um
die Jahrhundertwende, Münster 2000.
Vgl.
Gabriel García Márquez, Hundert Jahre Einsamkeit, Frankfurt a.M. 2004.
13
von Haushaltsgeräten wie Elektro- und Gasöfen, Kühlschränken usf., – erscheinen
englische Konsumenten erheblich besser situiert. Vorsprünge der deutschen Seite finden sich allein bei Gütern mit noch sehr geringer Verbreitung, bei denen sich die sonst
prägenden nationalen Muster noch nicht durchgesetzt hatten.
Bei der Erklärung dieses Befundes wird man in der Hauptsache von Kaufkraftunterschieden zwischen beiden Gesellschaften ausgehen müssen. Insbesondere die englischen Ober- und Mittelschichten, die im Wesentlichen als Käufer dieser Produkte
in Frage kamen, disponierten auch in den 1930er Jahren noch über deutlich größere
Anteile „freier“ Kaufkraft als das deutsche Bürgertum. Mit anderen Worten, den Vorsprung, den England seit dem späten 18. Jahrhundert errungen und ausgebaut hatte,
verteidigte das Land zumindest bis zur Jahrhundertmitte. Weitergehende Schlüsse
etwa auf die demokratisierende Wirkung dezentraler Energiebereitstellung sind daraus
allerdings nicht zu ziehen. In beiden Gesellschaften wurde von Ausnahmen abgesehen
der Rahmen einer „bürgerlichen Konsumgesellschaft“ (Ditt) noch nicht überschritten.
Auch war der deutsche Rückstand nicht so groß, dass er etwa das Interesse an wechselseitigem Lernen abgetötet hätte. So orientierten sich grundlegende Reformen in
England schon vor dem Ersten Weltkrieg immer wieder an Lösungen, die die deutsche
Seite entwickelt hatte.
b) Erwartungshorizonte und das Problem der Kontinuität
Trat die Konsumgesellschaft in Deutschland in der Zwischenkriegszeit für drei Jahrzehnte annähernd auf der Stelle, da die freiwerdenden Ressourcen in erster Linie nicht
von individuellen Konsumenten, sondern in kriegerischen Auseinandersetzungen, einem „dreißigjährigen Krieg“ (Hobsbawm), verbraucht wurden? Die damit aufgeworfene Frage, ob es sich bei der Zwischenkriegszeit um eine krisenverursachte „Auszeit“
von Langzeittrends handelt, ist in dieser Form eine Zuspitzung, die das Grundproblem
markieren soll. Dass in vielen Bereichen jene Dynamik fehlte, die das späte Kaiserreich kennzeichnete, ist ebenso offensichtlich, wie die Tatsache, dass sich in wichtigen
Bereichen Trends fortsetzten und neue etablierten.15
Viele Aussagen in neueren Veröffentlichungen rücken gleichwohl weniger reale
Güter und ihre Verwendung als vielmehr die Rolle konsumbezogener Erwartungen
in den Vordergrund.16 Die Gründe dafür liegen auf der Hand. Die Zwischenkriegszeit
15 16 Der Fortschritt lässt sich am Autobesitz illustrieren: Zwischen dem Ausbruch des Ersten und dem des
Zweiten Weltkriegs stieg die Zahl der PKWs von rd. 24.000 auf knapp anderthalb Millionen. Vgl. Ditt,
Luxus, S. 81ff.; zu den PKW-Zahlen ebd., S. 85ff. Zur Autogeschichte in Deutschland Christoph Maria
Merki, Der holprige Siegeszug des Automobils 1895-1930. Zur Motorisierung des Straßenverkehrs in
Frankreich, Deutschland und der Schweiz, Wien 2002. Speziell für Deutschland Gerhard Horras, Die
Entwicklung des deutschen Automobilmarktes bis 1914, München 1982; Heidrun Edelmann, Vom Luxusgut zum Gebrauchsgegenstand. Die Geschichte der Verbreitung von Personenkraftwagen in Deutschland,
Frankfurt a.M. 1989; Angelika Zatsch, Staatsmacht und Motorisierung am Morgen des Industriezeitalters,
Konstanz 1993; Reiner Flik, Von Ford lernen? Automobilbau und Motorisierung in Deutschland bis 1933,
Köln 2001; Dietmar Fack, Automobil, Verkehr und Erziehung: Motorisierung und Sozialisation zwischen
Beschleunigung und Anpassung 1885-1945, Berlin 2013.
Torp,
Konsum, S. 269; vgl. auch Hartmut Berghoff, Rezension zu: König, Wolfgang: Volkswagen, Volks
14
war von Krisen und Katastrophen solchen Ausmaßes geprägt, dass das bereits erreichte Konsumniveau mehrfach einbrach. Erwartungen fungierten in dieser Konstellation als mentale Anker für Wiedererholungsprozesse, von denen es mehrere, zum Teil
sehr spektakuläre gab. Wo die Forschung ihr Augenmerk auf Erwartungen lenkt, dient
dies vor allem dem Zweck, das allen Widrigkeiten zum Trotz erfolgte Voranschreiten
konsumgesellschaftlicher Entwicklung zwischen 1914 und 1945 zu unterstreichen.
Auf diese Weise werden die als „gute alte Zeit“ erinnerte Hochkonjunktur des späten Kaiserreichs und die Boomjahre nach 1945 mit dem dramatischen Auf und Ab
der Zwischenkriegszeit verknüpft. Erwartungen, so die Annahme, sicherten die konsumgesellschaftliche Kontinuität über die sonst so scharf markierten Epochengrenzen
hinweg. Als vermittelnde Mechanismen werden in der Literatur u.a. betont: der Vorbildcharakter von Verbesserungen im Bürgertum für die breite Masse der Unter- und
unteren Mittelschichten, ausländische Vorbilder und technische Innovationen, die zu
degressiven Kosten führten und die Nachfrage vergrößerten.17
Der Beitrag von Michael Prinz setzt hinter diese Form unilinearer Kontinuitätskonstruktion ein Fragezeichen. Ausgangspunkt ist die Überlegung, dass konsumbezogene
Vorstellungen und Hoffnungen grundsätzlich in die wirtschaftlichen Zukunftsvorstellungen der Zeitgenossen eingebunden bleiben. Diese Vorstellungen umreißen für die
Zeitgenossen den Möglichkeitshorizont aller materiellen Aspirationen. Sie sorgen für
die Unterscheidung zwischen dem, was legitim,18 plausibel, auf Armeslänge greifbar und dem, was als unverbindlich bzw. lediglich die Phantasie ansprechende „Zukunftsmusik“ erscheint. In der gesamten Zwischenkriegszeit, so das Argument, konkurrierten hochoptimistische und zutiefst pessimistische Zukunftserwartungen um die
Deutungshoheit, und zwar mit wechselndem Erfolg.19 Die Spuren dieses Konfliktes
reichten bis in die frühen 1950er Jahre. In den Zweifeln an einem raschen Wiederaufbau, in verbreiteten Präferenzen für „krisenfeste“ Lebensformen in Anknüpfung
an Debatten der 1920er Jahre, der Hochschätzung von Selbstversorgung auf einem
Stück Land oder durch Einkauf im genossenschaftlichen Verbund lebte etwas von den
schweren Krisen und Katastrophen der Zwischenkriegszeit fort.
Hinter dem Hinweis auf eine nicht realisierte, ursprünglich aber als realistisch eingeschätzte Entwicklungsoption steht das Plädoyer für eine Historisierung der Untersuchungsperspektive. Bei allem nachvollziehbaren Bemühen um den Nachweis von
Vorläufern und Epochen überspannender Kontinuität bei der Entfaltung einer mo-
17 18 19 empfänger, Volksgemeinschaft. „Volksprodukte” im Dritten Reich: Vom Scheitern einer nationalsozialistischen Konsumgesellschaft. Paderborn 2004, in: H-Soz-Kult, 4.11.2004, http:// www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-4176, besucht am 20.4.2015.
Torp,
Konsum, u.a. S. 83ff.
Die
Frage nach der Legitimität materieller Aspirationen verweist auf eine weitere wichtige Dimension.
Die ältere Forschung zum späten Kaiserreich und zur Weimarer Republik hat eindringlich auf das Fortleben ‚ständischer‘ Vorstellungen in der deutschen Gesellschaft dieser Epoche verwiesen. Diesen Hinweisen
wird in neueren Studien kaum noch nachgegangen, vgl. als Beispiel Hans Speier, Die Angestellten vor
dem Nationalsozialismus. Ein Beitrag zum Verständnis der deutschen Sozialstruktur 1918-1933, Göttingen 1977.
Vgl.
Michael Prinz, Der Sozialstaat hinter dem Haus. Wirtschaftliche Zukunftserwartungen, Selbstversorgung und regionale Vorbilder: Westfalen und Südwestdeutschland 1920-1960, Paderborn 2012.
15
dernen Konsumgesellschaft hierzulande spricht viel dafür, nicht jene Kontingenz zu
übersehen, die gerade den Abläufen in der jüngeren deutschen Geschichte tatsächlich
innewohnte.
3. Die Rolle der Vereinigten Staaten von Amerika
a) Die Revolution des Handels
Wer von Konsum spricht, tut sich schwer, von den USA zu schweigen – wie auch
umgekehrt. Der Aufstieg der modernen Konsumgesellschaft und die Idee einer Amerikanisierung Westeuropas sind bis heute im öffentlichen Bewusstsein fest miteinander
verknüpft. Demgegenüber hat die Forschung in den letzten Jahren von allzu einfach
gestrickten Kolonialisierungs- und Übertragungsvorstellungen Abschied genommen.
Die eine Formel, die den Einfluss der USA prägnant beschreibt, gibt es offenkundig
nicht. Vor diesem Hintergrund liegt es nahe, zentralen Entwicklungen monographisch
nachzugehen. Dies ist das Vorhaben, welches sich Lydia Langer vorgenommen hat.
Mit der Ausbreitung der Selbstbedienungsidee in Europa behandelt Langer eine konsumgesellschaftliche Schlüsseldimension, in der die USA Europa zeitweise weit enteilt waren.
Schon in den 1920er Jahren, als sich Experten erstmals explizit mit der Möglichkeit des Übergangs zu einer Gesellschaft des Massenkonsums beschäftigten, galt es
als ausgemacht, dass wesentliche Hindernisse auf diesem Weg in der Verfassung des
Handels lagen.20 Die knappe Diagnose lautete: ohne Massenabsatz keine Massenproduktion. Als Lösung des Problems kristallisierten sich in den folgenden Jahrzehnten
der großflächige Supermarkt mit seinem breit gefächerten Angebot an schnell umgeschlagenen Waren des täglichen Bedarfs und vor allem das Prinzip der Selbstbedienung heraus. Die großen Läden sollten Transaktionskosten senken und den Flaschenhals, der den investitionswilligen Produzenten den Weg zum modernen Verbraucher
versperrte, entscheidend weiten. Die Rezeption dieser Innovationen in Deutschland
20 Lydia Langer, Revolution im Einzelhandel: Die Einführung der Selbstbedienung in Lebensmittelgeschäften der Bundesrepublik Deutschland (1949-1973), Köln 2013; vgl auch dieselbe mit Ralph Jessen
(Hg.), Transformations of Retailing in Europe after 1945, Farnham 2012; de Grazia, Empire, S.376ff.;
Karl Ditt, Rationalisierung im Einzelhandel: Die Einführung und Entwicklung der Selbstbedienung in
der Bundesrepublik Deutschland 1949-2000, in: Michael Prinz (Hg.), Der lange Weg in den Überfluß.
Anfänge und Entwicklung der Konsumgesellschaft seit der Vormoderne, Paderborn 2003, S. 315-356;
Sybille Brändli, Der Supermarkt im Kopf. Konsumkultur und Wohlstand in der Schweiz nach 1945, Wien
2000; Jan Logemann, Beyond Self-Service: The Limits of “Americanization” in Post-war West-German
Retailing in Comparative Perspective?, in: Lydia Nembach (Hg.), Transformation of Retailing in Europe
after 1945, London 2012, S. 87-100; Thomas Welskopp, Startrampe für die Gesellschaft des Massenkonsums: Verbreitung und Entwicklung der Selbstbedienung in Europa nach 1945, in: Christina Benninghaus/Sven Oliver Müller/Jörg Requate/Charlotte Tacke (Hg.), Unterwegs in Europa. Beiträge zu einer
vergleichenden Sozial- und Kulturgeschichte. Festschrift für Heinz-Gerhard Haupt, Frankfurt a.M. 2008,
S. 247-267; Espen Ekberg, Consumer Co-operatives and the Transformation of Modern Food Retailing:
A Comparative Study of the Norwegian and British Consumer Co-operatives, 1950-2002, Oslo, 2008.
16
galt lange Zeit als zentraler Aspekt einer konsumbezogenen „Amerikanisierung“ nach
dem Zweiten Weltkrieg. Was von diesen Annahmen hält einer kritischen Überprüfung
stand, was bedarf der Korrektur?
Langer bestätigt noch einmal ausdrücklich die Annahme, dass die moderne Selbstbedienung in Deutschland vor 1945 praktisch keine Tradition besaß. Versuche, dieses
Prinzip einzuführen, die der Bochumer Kaufmann Herbert Eklöh in Osnabrück als
einsamer Rufer in der Wüste während der späten 1930er Jahren unternahm, blieben
isoliert und über den lokalen Rahmen hinaus wirkungslos. In den USA war die Umstellung auf dieses Verkaufsprinzip in den 1930er Jahren demgegenüber bereits in
vollem Gang. Bei Kriegsende betrug der Vorsprung der USA nach Langers Schätzung
rund zwei Jahrzehnte.
In diesem Sachverhalt spiegeln sich langfristige Unterschiede zugunsten der USA
im Umfang der verfügbaren Kaufkraft, dem Zeitpunkt des Übergangs zur Massenproduktion langlebiger Konsumgüter, der Größe des Marktes u.v.a.m. Auch die eklatanten
politischen Unterschiede zwischen beiden Ländern in den 1930er Jahren fielen schwer
ins Gewicht. Eine Dynamisierung der Wünsche im Alltag des Einkaufens, wie sie die
Selbstbedienung folgerichtig nach sich zog, vertrug sich nicht mit dem in Deutschland
so entschlossen verfolgten Primat der Rüstung. Die Organisation der Warenverteilung
im Krieg begünstigte kleine Läden. Auf diese Weise profitierte das Regime bei der
potenziell konfliktträchtigen Verteilung knapper Güter von den lange etablierten, in
der Regel vertrauensvollen Beziehungen zwischen Kunden und Inhabern.
Bis zu diesem Punkt bekräftigen die Thesen Langers die traditionelle Interpretation: das Fehlen substanzieller konsumgesellschaftlicher Trends im Dritten Reich, die
Bedeutung des Epochenjahres 1945 für den Beginn von Aufholprozessen, die bald folgenden Bemühungen um eine konsumpolitische Missionierung seitens der USA usf.
Die Einwände gegen die Amerikanisierungsthese ergeben sich nicht aus übersehenen
Fortschritten auf der deutschen Seite, sondern eher aus dem Maß an Rückständigkeit
vieler Länder Westeuropas und einem anders gearteten konsumkulturellen Kontext.
Der Durchbruch setzte erst relativ spät, mehr als ein Jahrzehnt nach Kriegsende ein.
Wichtige Hilfestellung kam zu diesem Zeitpunkt nicht mehr nur von amerikanischer Seite, sondern zunehmend auch von anderen westeuropäischen Nationen, die in
diesem Punkt weiter als Westdeutschland entwickelt waren. Dabei spielten für Europa
typische Massenorganisationen einfacher Konsumenten, die Konsumgenossenschaften, eine wichtige Rolle. Vor allem der skandinavische Zweig trieb die Selbstbedienung voran. So stand die Einführung dieses Verkaufsprinzips in Europa anders als
in den USA zunächst nicht im Kontext einer sich früh abzeichnenden Wohlstandsgesellschaft, sondern des Bemühens um eine Versorgung breiter Schichten ärmerer
Konsumenten mit Grundnahrungsmitteln. In der Summe bietet sich zur Beschreibung
dieser Sachverhalte eher der Begriff der „Westernisierung“ als der der Amerikanisierung an.21
21 Als
Überblick am besten Anselm Doering-Manteuffel, Amerikanisierung und Westernisierung, Version:
1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 18.1.2011, URL: http://docupedia.de/zg/Amerikanisierung_und_
Westernisierung?oldid=97372, besucht am 30.4.2015. Zuletzt Mauch/Patel (Hg.), Wettlauf.
17
b) Die USA als Regulierungsmodell
In der Konsumgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts scheinen die Rollen klar verteilt: Die Vereinigten Staaten von Amerika stehen im öffentlichen Bewusstsein für
nahezu grenzenlose Liberalität im Umgang mit – häufig kreditfinanziertem – Konsum.
Nirgendwo, lautet ein verbreitetes Urteil, ist die Bereitschaft größer, sich den Versuchungen des Konsums mit Haut und Haar auszuliefern. Demgegenüber beschreiben
Deutsche ihr Land gerne als Ort des rechten Maßes. Wo Selbstdisziplin und Einsicht
der Konsumbürger einmal nicht ausreichen, um Exzessen zu wehren, vertrauen Deutsche darauf, dass ein benevolenter Staat und seine Verwaltung beherzt eingreifen.
Wie fragwürdig diese pauschalen Annahmen sind, zeigt sich an wenigen Stellen so
deutlich wie im Umgang mit der Droge Alkohol, deren zerstörerisches Potential beiden – Europäern wie Amerikanern – nach einer zeitweise unaufhaltsam erscheinenden
Verbreitung im 19. Jahrhundert vor Augen stand.
Der Höhepunkt der Debatte und des Kampfes um eine Regulierung lagen, wie die
komplementären Beiträge von Cornelius Torp und Thomas Welskopp in diesem Band
zeigen, in beiden Gesellschaften in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg. Damals
schienen die Chancen für einen erfolgreichen Eingriff groß wie nie.22 Ein starker Anreiz ergab sich daraus, dass der Konsum einzelner Alkoholika seit der Jahrhundertwende erstmals zurückgegangen war. Zu diesem Zeitpunkt geriet die Schädlichkeit
des lange tolerierten „normalen“ Alkoholgenusses in den Fokus. In der Summe ergab
sich ein neues Ziel: der weitgehende Alkoholverzicht überhaupt.
Speziell im deutschen Fall blieben Knappheit und daher abgeleitete Askesegebote
nach dem verlorenen Krieg ein zentrales Thema. Vor dem Hintergrund der Reparationsforderungen und des schleppenden Wiederaufbaus verstand sich Deutschland als
langfristig „verarmte Nation.“ Die Überzeugung, dass sich dieses Selbstbild kaum mit
öffentlich zur Schau gestellten Genüssen vertrug, bildete vor allem in der Inflationszeit
den Boden für eine ätzende Konsumkritik. „Unter das Verdikt des verschwenderischen
Luxus‘“, schreibt Claudius Torp in seinem Beitrag, fielen „nicht nur der Alkohol, sondern mit Zigarren, Zigaretten, Tabak, Tee, Schokolade und Butter weitere Waren, die
als Symbole des bescheidenen wilhelminischen Massenwohlstands gelten können.“23
Obwohl die Voraussetzungen für eine massive Einschränkung des Alkoholgenusses besser denn je waren – die SPD, die vor dem Krieg eine strenge Regulierung
des Alkoholkonsums noch als bürgerliches Palliativmittel abgelehnt hatte, bekannte
sich nun entschieden zu solchen Forderungen; Frauenorganisationen spielten nach
1918 eine stärkere Rolle als zuvor –, scheiterten die Bemühungen, den Gesetzgeber
in Deutschland zu einem nachhaltigen gesundheitspolitischen Eingriff zu bewegen.
Unübersehbar verloren die Alkoholgegner in der zweiten Hälfte der 1920er und den
22 23 Vgl.
Thomas Welskopp, Amerikas große Ernüchterung. Eine Kulturgeschichte der Prohibition, Paderborn
2010; Torp, Front der Erzieher, S. 168; Uwe Spiekermann, Biermarkt und Bierkonsum im 19. und 20.
Jahrhundert, in: Archiv und Wirtschaft 40 (2007), S. 153-158; Heinrich Tappe, Auf dem Weg zur modernen Alkoholkultur. Alkoholproduktion, Trinkverhalten und Temperenzbewegung in Deutschland vom
frühen 19. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg, Stuttgart 1994.
Torp,
Front, S. 167.
19
frühen 1930er Jahren an Unterstützung. Die Folge war, dass reichlicher, mitunter
auch exzessiver Alkoholgenuss, eingewurzelt in einer weit ausgefächerten regionalen
Festkultur,24 hierzulande ein zentraler Bestandteil des nationalen Selbstbildes blieb.
Alkohol galt weiterhin als unverzichtbarer Katalysator eines kollektiv erstrebten Seelenzustandes, bierseliger deutscher „Gemütlichkeit“.25
Ganz anders die amerikanische Seite, wie der Beitrag von Thomas Welskopp mit vielen sprechenden Details illustriert. Jenseits des Atlantiks nahm eine einflussreiche Koalition den Kampf gegen die „Seuche“ Alkohol mit unerbittlicher Härte und Konsequenz
auf. Dazu gehörte auch, wie Welskopp schreibt, die Bereitschaft, „Kapitalvernichtung
von beträchtlichem Ausmaß“ zu betreiben.26 Die unter Weimarer Publizisten wohlfeile
Behauptung, die gesellschaftliche Entwicklung in den USA werde in letzter Instanz vom
allesbeherrschenden „Big Business“ gesteuert, vertrug sich schlecht mit den substantiellen Einbußen der großen Bierkonzerne, die unter dem rigorosen Prohibitionsregime nur
mühsam und am äußersten Rande der Legalität über die Runden kamen.
Im innerdeutschen Streit spielte das amerikanische Vorbild eine ambivalente Rolle, die den einlinigen Interpretationen der USA als dämonischem Konsumverführer
scharf kontrastierte. Zunächst lieferten die Vereinigten Staaten der deutschen Antialkoholbewegung in der Zwischenkriegszeit bewährte Regulierungsmodelle wie die „local option“ bzw. das sogenannte „Gemeindebestimmungsrecht“.27 Darunter verstand
man eine in den USA schon im 19. Jahrhundert entwickelte Praxis, bei der männliche
und weibliche Einwohner einer Gemeinde direkt über die Vergabe von Schankkonzessionen entschieden. Dieses Modell war bewusst mit dem Ziel entwickelt worden,
Einschränkungen des Alkoholgenusses mehrheitsfähig zu machen und trug wesentlich
dazu bei, der Antialkoholbewegung in Deutschland Kohärenz zu verleihen und Erfolgschancen zu eröffnen.
Den zweiten noch wichtigeren Orientierungspunkt lieferte die Prohibitionsgesetzgebung selbst. Im politischen Diskurs der Weimarer Republik fungierte sie gerade
nicht als Vor-, sondern als Schreckbild. Anspielungen auf die “Prohibition“ und den
damit assoziativ fest verbundenen Aufstieg der Gangstersyndikate in nordamerikanischen Städten dienten Regulierungsgegnern als Totschlagsargument, um weitergehende Regulierungsvorschläge zu desavouieren. Aus der Vogelperspektive eines ganzen
Jahrhunderts betrachtet, erscheint die Prohibitionsdebatte nur als eines von vielen Beispielen für eine stark unterbelichtete Seite des nordamerikanisch-westeuropäischen
Verhältnisses, in dessen Rahmen die USA etwa beim Verbraucherschutz, antikommerzieller Reformagenden häufig entschlossen vorangingen und die Europäer, wenn
überhaupt, dann nur widerwillig folgten.28
24 25 26 27 28 Siehe u.a. Richard Bauer/Fritz Fenzl (Hg.), 175 Jahre Oktoberfest 1810-1985, München 1985; Hans Dollinger, Ein Prosit der Gemütlichkeit. Früher hat’s noch Spaß gemacht, München 1974; Franz Dröge/Thomas Krämer-Badoni, Die Kneipe. Zur Soziologie einer Kulturform, Frankfurt a.M. 1987.
Brigitta Schmidt-Lauber, Gemütlichkeit. Eine kulturwissenschaftliche Annäherung, Frankfurt a.M. 2003;
Hermann Bausinger, Typisch deutsch: Wie deutsch sind die Deutschen?, München 2000.
Welskopp,
Alkoholwirtschaft, S. 185.
Vgl.
Torp, Front, S. 174.
Vgl.
Tom McCarthy, Auto Mania. Cars, Consumers, and the Environment, New Haven 2007, S. 115ff.;
Dietmar Klenke, Das automobile Zeitalter. Die umwelthistorische Problematik des Individualverkehrs im
20
4. Varianten der Konsumgesellschaft?
Zum Verhältnis von Tradition und Kommerz an lokalen Beispielen
Als der französische Ökonom Michel Albert Anfang der neunziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts seine seitdem vieldiskutierte Streitschrift „Kapitalismus contra
Kapitalismus“ veröffentlichte,29 ging er davon aus, dass es nicht etwa nur eine, sondern mindestens zwei Hauptvarianten des modernen Kapitalismus gäbe: ein neoliberales, marktradikales, ausschließlich am Shareholder-Value orientiertes angloamerikanisches Modell und den durch Deutschland, Frankreich und andere Anrainerstaaten
des Rheins vertretenen „Rheinischen Kapitalismus“. Während ersterer seine tiefreichenden Wurzeln im kurzfristigen Denken des „Nur-Konsumenten“ besitze, sei der
Rheinische Kapitalismus durch den Willen gekennzeichnet, den Auswüchsen des
Kommerzes zu wehren, wirksame Regulative einzusetzen und an bewährten überlieferten Ordnungen im weitesten Sinn festzuhalten.
Man könnte angesichts der Verschiebungen in den Schwerpunkten wirtschafts- und
gesellschaftspolitischer Debatten, die seitdem stattgefunden haben, über Alberts polemischen Deutungsentwurf hinweggehen, wenn es nicht Indizien dafür gäbe, dass
er langfristige Veränderungen im Selbstbild der Europäer und gerade auch der Deutschen als Konsumenten zum Ausdruck bringt. Anzeichen dafür finden sich keineswegs nur im politischen Feuilleton der großen Tageszeitungen, sondern inzwischen
auch in der Selbstdarstellung vieler Städte und Regionen. In der auf eine kaufkräftige
Kundschaft gerichteten lokalen Imagepflege ist die Behauptung, für eine attraktive
Fusion von Tradition und Konsumbedürfnissen zu stehen, ein mittlerweile viel verwendeter Topos.
a) Inszenierte Kontinuität
Der erste Beitrag dieses Abschnitts von Sabine Kienitz behandelt mit den großen
Hamburger Wochenmärkten nicht nur die traditions-, sondern auch die symbolreichste Form innerstädtischen Handels. Zu den Hauptgründen für das trotz vieler Marktschließungen in den letzten Jahren anhaltend hohe Prestige des Wochenmarktes gehört
sein Ruf, durch den Direktverkehr zwischen Produzent und Konsumenten Frische der
Ware, Ehrlichkeit der Transaktion und Authentizität der Atmosphäre zu garantieren.30
Der Markt präsentiert sich als eine summarische, geschichtlich bewährte Antwort auf
die wesentlichen Gravamina des Konsumenten von der Vormoderne bis in unsere Zeit.
Er steht für Handel, so wie er sein sollte.
29 30 deutsch-amerikanischen Vergleich, in: Günter Bayerl u.a. (Hg.), Umweltgeschichte. Methoden, Themen,
Potentiale. Tagung des Hamburger Arbeitskreises für Umweltgeschichte, Münster 1996, S. 267-281.
Michel Albert, Kapitalismus contra Kapitalismus, Frankfurt a.M. 1992. Vgl. auch Volker Berghahn/Sigurt Vitols (Hg.), Gibt es einen deutschen Kapitalismus? Tradition und globale Perspektiven der sozialen
Marktwirtschaft, Frankfurt a.M. 2006.
Vgl.
Ann-Katrin Kusch/Markus Langsenkamp, Die Rolle des Einzelhandels für die Stadtentwicklung: Die
Bedeutung der Wochenmärkte und die Auswirkungen des Online-Handels, Münster 2014.
21
In ihrem Beitrag stellt Sabine Kienitz Erfolg und Anziehungskraft der von ihr betrachteten Hamburger Märkte nicht in Frage. Dass es sich der Popularität nach um einige
der erfolgreichsten Marktveranstaltungen in der Bundesrepublik handelt, bleibt unbestritten. Die Kritik richtet sich vielmehr gegen das in der Außendarstellung – den Broschüren des Stadtmarketing, den Reiseführern usf. – an zentraler Stelle verwendete
Kontinuitätsargument. Kienitz argumentiert, dass es die so oft unterstellte geradlinige
Erfolgsgeschichte des Marktes von der Gegenwart in die Vergangenheit und zurück
vielerorts nicht gebe. Jene vermeintlich gute alte Zeit, auf die sich das Marktbild beziehe, habe so in direkter Linie nicht bestanden. Vielerorts verfiel der traditionelle
Wochenmarkt zeitweise dem Verdikt, rückständig, vulgär, hygienisch fragwürdig, ja
abschreckend zu sein.31
Auch in sozialer Hinsicht verkörperte der Wochenmarkt über lange Zeit hinweg
keinen integrativen Ort. Eher schon bildete er eine Gelegenheit, an der sich die Geister
und die Klassen schieden. Jener Markt für Jedermann, auf den Verbraucher und Touristen heute treffen, sei das Ergebnis starker Veränderungen. Er setze den Übergang
zum Massenkonsum voraus und die Adaption wesentlicher Züge seines Gegenbildes,
des Ladengeschäftes. Anschaulich demonstriert Kienitz diese Adaption an der Professionalisierung des Verkaufspersonals auf Hamburger Märkten, das vermeintlich
authentisches Lokalkolorit in Habitus und Sprachform perfekt inszeniert. Im Hinblick
auf das hohe Maß an Diskontinuität in Form und Funktion der untersuchten Märkte
liegt es nahe, von einer „historischen Erfindung“ aus dem Geiste postmodernen Konsums zu sprechen.32 Die Verfasserin lenkt damit zugleich den Blick auf die Definitionsmacht kommerzieller Interessen.
Die volle Bedeutung dieser Bemühungen wird deutlich, wenn man zwei weitere
Fakten hinzunimmt. Das eine ist die seit langem schwelende Krise des Wochenmarktes in der Bundesrepublik.33 In immer mehr Gemeinden findet allen beschworenen
Qualitäten zum Trotz ein Wochenmarkt nicht mehr statt. Überlegungen diesen Trend
zu stoppen und umzukehren, orientieren sich an Beispielen wie den Hamburger Märkten, ihrer Professionalität und dem von ihnen verkörperten neuen Serviceideal.34 Der
31 32 33 34 Zu Forderungen nach Abschaffung des Wochenmarktes in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vgl.
Spiekermann, Basis, S.172, bes. 186ff.
Eric Hobsbawm/Terence Ranger, The Invention of Tradition, Cambridge 1992; Jonathan Friedman, The
Past in the Future: History and the Politics of Identity. American Anthropologist 94, 4 (1992), S. 837-859.
Vgl.
den Artikel Die Tradition der Wochenmärkte droht auszusterben, in: Westdeutsche Allgemeine Zeitung WAZ, Ausgabe vom 13.4.2011, im Internet unter der Adresse http://www.derwesten.de /staedte/hagen/die-tradition-der-wochenmaerkte-droht-auszusterben-id4541916.html.; Wochenmärkte. Erst bleiben
die Kunden weg, dann die Anbieter, in: FAZ 3.11.2009; im Netz unter: http://www.faz.net/ aktuell/rheinmain/frankfurt/wochenmaerkte-erst-bleiben-die-kunden-weg-dann-die-anbieter-1884525.html, besucht am
21.4.2015.
Die Vorschläge gehen etwa dahin, Kinderbetreuung zur Entlastung einkaufender Eltern auf dem Markt
anzubieten. Andere Marktbeschicker fordern, die bestehenden Marktordnungen zu lockern, die Öffnungszeiten zu erweitern und mehr gastronomische Leistungen, darunter vor allem den Ausschank von Alkohol
zuzulassen. Vgl. Kusch, Rolle, S. 27; siehe auch Birthe Linden, Der Wochenmarkt auf dem Domplatz
in Münster. Kunden- und Beschickerstrukturen, -verhalten und -meinungen, in: Peter Schnell/Kathrin
Kusch, Tages- und kurzzeittouristische Untersuchungen in der Hellweg-Region, dem nördlichen Münsterland und in der Stadt Münster, Münster 2007, S.71-143.
22
virtuose Umgang mit Traditionen ist letztlich eine Form der Verpackung vergleichsweise hochpreisiger, zumindest überdurchschnittlich teurer Güter, die offenkundig
auch hierzulande auf Aufmerksamkeit und Nachfrage trifft.
Die zweite Entwicklung in diesem Zusammenhang ist der bemerkenswerte Aufstieg sogenannter Bauernmärkte („Farmers‘ Markets“) in vielen Städten der USA,
Metropolen wie New York eingeschlossen.35 Was diese nordamerikanischen Märkte
vom traditionellen Marktgeschehen in Europa unterscheidet, ist die strikte Serviceorientierung und die Unbefangenheit, mit der ein vielfältiges Angebot mit dem Kern
– der Lebensmittelversorgung – kombiniert werden.36 Anders ausgedrückt, auch an
diesem vermeintlich europaexklusiven Punkt stößt man bei genauerem Hinsehen auf
transatlantische Annäherungstendenzen und wechselseitiges Lernen.
b) „Landscapes of consumption“
1. Eines der Schreckbilder, auf das sich die Reaktionen europäischer Konsumenten und Politiker beziehen und dem man mit großer Zuverlässigkeit dort begegnet,
wo sich Deutsche über Besuchserfahrungen in den USA austauschen, trägt die Überschrift „Landscape of consumption.“37 Gemeint ist damit eine Umkrempelung der
amerikanischen Siedlungsstruktur und der dazu gehörigen Lebensweise nach dem
Zweiten Weltkrieg in einer Art, dass die Bedürfnisse des Bürgers als Käufer oberste Priorität erhielten. Dieser Entwicklung schreibt die Literatur weitreichende Folgen
zu: den Verfall vieler Stadtzentren („Downtown“), angezeigt durch hohe Kriminalitätsraten, die Privatisierung öffentlichen Raumes in Gestalt der an der Peripherie gelegenen Shopping-Malls, die ursprünglich als Ergänzung bzw. Ersatz des Zentrums gedacht waren, nun aber dazu dienen, nicht-kommerzielle Aktivitäten und unerwünschte
soziale Gruppen im Shoppingbereich durch Wachpersonal auszufiltern, eine extreme
35 36 37 Die Zahl der sog. Farmers‘ Markets erhöhte sich in den USA von 1.755 im Jahre 1994 auf 4.385 in 2006,
5.274 in 2009, 8.144 in 2013. In New York City allein operierten 2013 107 sogenannte Bauernmärkte.
Zahlen nach http://en.wikipedia.org/wiki/Farmers%27_market, besucht am 1.4.2015
Beispiele sind Oldtimer-Shows, Jazz-Konzerte auf Farmers‘ Markets, für mehr Beispiele vgl. http://www.
farmersmarketla.com/history, besucht am 21.4.2015.
Lizabeth Cohen, A Consumers’ Republic: The Politics of Mass Consumption in Postwar. America, New
York 2003; William Severini Kowinski, The Malling of America: An Inside Look at the Great Consumer
Paradise, New York 1985. Zum Hintergrund in Gestalt der Suburbanisierung Kenneth T. Jackson, Crabgrass Frontier: The Suburbanization of the United States, New York 1985; zur Rezeption dieser Entwicklungen vgl. die engagierte und aufschlussreiche Diskussion über das „Spazierengehen in den USA“ unter
deutschen und amerikanischen Nutzern der Übersetzungsplattform „Leo“. Verfügbar unter http://dict.leo.
org/forum/viewGeneraldiscussion. php? idThread=516600&idForum=18&lp=ende&lang=en; besucht
am 20.3.2013. Vgl. im Übrigen die einschlägigen Arbeiten von Jan Logemann, Consumption and Space:
Inner-City Pedestrian Malls and the Consequences of Changing Consumer Geographies, in: Hartmut
Berghoff/Uwe Spiekermann (Hg.), Decoding Modern Consumer Societies, New York 2012, S. 149-170;
ders., Einkaufsparadies und „Gute Stube”: Fußgängerzonen in Westdeutschen Innenstädten der 1950er
bis 1970er Jahre?, in: Adelheid v. Saldern (Hg.), Stadt und Kommunikation in bundesrepublikanischen
Umbruchszeiten, Stuttgart 2006, S. 103-122. Zuletzt Jan Hein Furnée/Clé Lesger (Hg.) The Landscape of
Consumption. Shopping Streets and Cultures in Western Europe, 1600-1900, Basingstoke 2014.
23
Autozentriertheit als Kernstück eines energieverschwenderischen ‚dezentralen‘ Lebensstils usf.38
Der vergleichend angelegte Beitrag von Jan Logemann in diesem Band bestätigt viele
dieser Befunde. Nordamerikanische Städte zerfaserten nach dem Zweiten Weltkrieg
zusehends, als staatliche Hausbauprogramme den Zug in die Vororte beschleunigten.
Versuche, dieser Entwicklung durch Übernahme europäischer Lösungen zu steuern,
zeitigten nur eng begrenzte Erfolge. Deutlich anders verlief die Entwicklung jenseits
des Atlantiks. Unter dem Strich, so Jan Logemanns Fazit, „haben deutsche Innenstädte
ihre Zentralfunktion relativ besser behaupten können.“39
Die Erklärung ist nicht in einem einzelnen Sachverhalt zu suchen. Dank der geringeren Bevölkerungsdichte stieß die Suburbanisierung in den USA auf weniger Hindernisse. Auch boten die Steuerungs- und Planungsinstrumente der Verwaltung gerade in
Deutschland sehr viele und vor allem auch weiter reichende Eingriffsmöglichkeiten.40
Der öffentliche Personennahverkehr war traditionell stärker ausgebaut und behauptete
sich im Großen und Ganzen. Selbst als der Autoverkehr in Europa vordrang, blieben
Fußgänger und Radfahrer prominentere Figuren mit ausgeprägten lokalen und regionalen Schwerpunkten wie dem Münsterland,41 an denen sich im Zeichen ökologisch
motivierter Planungen seit den 1980er Jahren wieder anknüpfen ließ. Demgegenüber,
so Logemann, verschwanden in den USA vielerorts Lösungen, die nicht mehr auf das
Auto setzten, vollständig aus dem gedanklichen Möglichkeitshorizont. Darin deutet
sich an, dass neben den „harten“ auch „weichere“, kulturbedingte bzw. zur Kultur
geronnene Faktoren wirksam waren. Zu ihnen gehört an vorderster Stelle die symbolische Bedeutung des räumlichen Zentrums für die Identifikation der Stadt. „In die Stadt
gehen“, meint, woran Heidrun Homburg in ihrem Beitrag erinnert, auch heute noch
beides: Einkaufen und die Stadt im engsten Sinne aufsuchen. Aus der Formulierung
spricht eine gewachsene Dignität des Zentralraumes im Bewusstsein der Einwohner,
die bei den meisten nordamerikanischen Städten keine Entsprechung hat.42
38 39 40 41 42 Vgl.
insbesondere Cohen, Town Center.
Logemann, Down and Out Downtown, S. 247.
Ein vorzüglicher Überblick über das rechtliche Instrumentarium der Gemeinden ist Jens Ehrmann, Die
belebte Innenstadt als Rechtsproblem. Zum rechtlichen Instrumentarium zur Erhaltung funktionsfähiger
städtischer Zentren, Stuttgart 2007.
Zur Geschichte des Radverkehrs in Münster Uwe Grandke, Kommunale Verkehrspolitik in Münster 1918
bis 1939, Münster 1998 S. 299ff. Ein deutsch-niederländischer Vergleich ist Anne-Katrin Ebert, Radelnde
Nationen. Die Geschichte des Fahrrads in Deutschland und den Niederlanden bis 1940, Frankfurt a.M.
2010, vgl. den ausgezeichneten Artikel Das Fahrrad und die Niederlande, im Netz unter: https://www.
uni-muenster.de/NiederlandeNet/nl-wissen/freizeit/vertiefung/fahrrad/index.html, besucht am 30.4.2015;
John Pucher/Ralph Buehler, Making cycling irresistible: Lessons from the Netherlands, Denmark and
Germany, in: Transport Reviews 4, 28 (2008), S. 495–528; Rodney Tolley (Hg.), The Greening of Urban
Transport: Planning for Walking and Cycling in Western Cities, London 1990.
Als
pointierte Zusammenfassung Friedrich Lenger, Urbanisierung als Suburbanisierung. Grundzüge der
nordamerikanischen Entwicklung im 20. Jahrhundert, in: Friedrich Lenger/Klaus Tenfelde (Hg.), Die europäische Stadt im 20. Jahrhundert. Wahrnehmung - Entwicklung - Erosion, Köln 2006, S.437-475; ders.,
Stadt-Geschichten: Deutschland, Europa und die USA seit 1800, Frankfurt a.M. 2009 sowie ders., Die
Zukunft der europäischen Stadt, Text verfügbar im Netz unter http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/index.asp?type=diskussionen&id=772&view=pdf&pn=forum, besucht am 4.4.2013.
24
c) Fünfzig
Jahre Einkaufszone in Lippstadt –
Erfahrungen in einer westfälischen Mittelstadt
Die einschlägige europäische Literatur, aber auch amerikanische Autoren und Praktiker suggerieren in ihren Texten nicht selten, dass europäische Verwaltungen und
P­olitiker dem mächtigen Kommerzialisierungsdruck besonders erfolgreich, weil an
strategischen Stellen widerstanden hätten. Im Fall deutscher Innenstädte schreibt man
dies einer ingeniösen Hybridkonstruktion, den Fußgängerzonen, zu. Autofreie Einkaufsstraßen – die ersten entstanden schon in den 1950er Jahren – hätten entscheidend
dazu beigetragen, das historische Zentrum zukunftsfest zu machen. Ist dem so?43
Die Besonderheit des Beitrags zu Lippstadt und seiner Fußgängerzone in diesem
Band liegt nicht nur darin, dass das Augenmerk auf die wenig bekannte mittelstädtische Ebene gelenkt wird, sondern auch, dass der Autor Bernd Neuhoff die Perspektive des Wissenschaftlers mit der des Praktikers, des Architekten und des kommunalpolitisch engagierten Bürgers verbindet.44 Neuhoffs Fazit aus der Nahsicht auf die
Fußgängerzone in Lippstadt fällt ausgesprochen kritisch aus. Die Zone stelle kein
wirksames Instrument dar, um die Funktionsvielfalt der alten Stadt zu erhalten, sondern sei ein auf wenige Dimensionen beschränktes, in der Hauptsache kommerziell ausgerichtetes Projekt. Als solches erzwinge es erhebliche Anpassungsleistungen
von seiner städtebaulichen Umgebung, etwa um PKWs leichten Zugang zu ermöglichen und Parkflächen zur Verfügung zu stellen. Man dürfe eben, so Neuhoff, nicht
übersehen, dass auf kommunaler Ebene das Ideal der autogerechten Stadt an vielen
Stellen subkutan – nicht nur bei der Straßenführung, sondern etwa auch bei den Geschwindigkeitsregelungen usf. – weiterwirke und den Rahmen für die Nutzung der
Fußgängerzone abgebe. Doch auch diese selbst habe negative Wirkungen, in dem sie
gewachsene Straßenzüge zerschneide und in Sackgassen verwandle. Problematisch
sei weiterhin, ein Punkt auf den auch Jan Logemann in seinem Beitrag hinweist, dass
nicht etwa nur die Funktionsvielfalt des zentralen Quartiers – Wohnen, Leben, Arbeiten – zurückgehe, auch die Angebotsvielfalt für die Konsumenten schrumpfe durch
die immer stärkere Position von Filialgeschäften im Zentrum fortlaufend. Das zwinge
die Verbraucher zu Einkaufsstrategien, die die „grüne Wiese“ einbänden und ohne
Auto nicht funktionierten. Die Feinde Monofunktion und Verödung in Gestalt großer
Einkaufscenter verharrten gewissermaßen nicht vor den Toren, sondern befänden sich
43 44 Hierzu hat vor allem Rolf Monheim gearbeitet. Vgl. ders., Fußgängerbereiche und Fußgängerverkehr in
Stadtzentren in der Bundesrepublik Deutschland, Bonn 1980; ders., Einflüsse von Leitbildern und Lebensstilen auf die Entwicklung der Innenstadt als Einkaufs- und Erlebnisraum, in: Jahrbuch der Geographischen Gesellschaft Bern 60 (1997), S. 171-197; ders., Fußgängerbereiche – in die Jahre gekommen?,
in: Stadt und Raum 26, 2 (2005), S. 86-89; ders., Von der Fußgängerstraße zur Fußgängerstadt. Grundlagen, Ziele und Konzeptionen einer dynamischen Stadtentwicklung, in: P. Peters (Hg.), Fußgängerstadt,
München 1977, S. 11-34.
Bernd Neuhoff war zum Zeitpunkt der Tagung zugleich Vorsitzender des Stadtentwicklungsausschusses
der Stadt Lippstadt. Vgl. ausführlich ders., Die Fußgängerzone. Ihre Entstehung und ihr Einfluß auf die
Stadtentwicklung. Dargestellt am Beispiel Lippstadts, einer mittelalterlichen Stadt in Westfalen, Kassel
1991.
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bereits innerhalb der Mauern. Als besonders aggressiv und erfolgreich bezeichnet Logemann das Geschäftsmodell der Textildiscounter („Textilisierung“).
Zu den wenigen effektiven Möglichkeiten, einer Stereotypisierung des Zentrums
und der Monopolstellung von Verwertungsinteressen bei der Innenstadtgestaltung entgegenzuwirken, gehört nach Bernd Neuhoffs Auffassung ein entschlossenes Festhalten an der alten, quer zu Vereinheitlichungsbedürfnissen liegenden Parzellenstruktur.
Dies zum entscheidenden Zeitpunkt, nämlich beim Wiederaufbau konsequent getan
zu haben, erkläre den aus der Perspektive vieler westfälischer Gemeinden als beispielhaft empfundenen Weg Münsters nach 1945.
d) „
Mit Geschichte in die Zukunft“?45
Münster, der Prinzipalmarkt und der Rheinische Kapitalismus
Und in der Tat wirkt der Weg von der als altbacken belächelten Provinzhauptstadt der
frühen 1950er Jahre, die die Zeichen der Moderne vermeintlich nicht erkennen wollte, zu einer international als besonders lebenswert prämierten Vorzeigestadt des 21.
Jahrhunderts beeindruckend. Münster gehört zu den deutschen Mittelstädten, die in
den letzten Jahrzehnten sowohl, was das „Image“ angeht, als auch in wirtschaftlicher
Hinsicht eine bemerkenswerte Karriere durchlaufen haben. Der Erfolg der alten Provinzhauptstadt spiegelt sich in einer langen Reihe nationaler und internationaler Auszeichnungen.46 Den vorläufigen Gipfel einer Politik zielstrebig angesteuerter Imagegewinne erklomm Münster 2004 mit der Auszeichnung als „lebenswerteste Stadt der
Welt“ durch eine Unterorganisation der Vereinten Nationen im kanadischen Niagara.47
Das ökonomische Gegenstück zu den Prämierungen bilden Passantenzählungen aus
dem Jahre 2010, die zu belegen scheinen, dass die Münsteraner Innenstadt zu diesem
Zeitpunkt die höchste gemessene Besucherfrequenz aller deutschen Fußgängerzonen
aufwies.48 Zu den genannten Preisen kamen u.a. noch mehrfache Auszeichnungen in
ökologischer Hinsicht als fahrradfreundlichste Stadt der Bundesrepublik, ein Bereich,
in dem Münster seit Jahrzehnten in einem Dauerwettbewerb mit Freiburg i.Br. steht.
Die Frage liegt nahe, wie weit die Leuchtturmfunktion Münsters objektiv betrachtet tatsächlich reicht, insbesondere dann, wenn man den Blick nicht nur auf die Zentrumsinsel, sondern die Stadt insgesamt richtet. So beschränkt Marcus Termeer seine
45 46 47 48 Die Formulierung entstammt dem Titel des Referates, mit dem der Münsteraner Oberbürgermeister
Tillmann die Stadt 2004 erfolgreich auf einem internationalen Wettbewerb in Kanada präsentierte, vgl.
„Münster als lebenswerteste Stadt der Welt ausgezeichnet. Seit zehn Jahren lebenswert“, in: Westfälische
Nachrichten, 18.10.2014, im Netz unter http://www.wn.de/Muenster/1760022-Muenster-als-lebenswerteste-Stadt-der-Welt-ausgezeichnet-Seit-zehn-Jahren-lebenswert, besucht am 20.4.2015.
Vgl.
die vollständige Liste auf der Seite http://www.muenster.de/stadt/tourismus/sehenswert_ ausgezeichnet.html, besucht am 2.5.2015.
Vgl.
den Artikel Internationaler Städtepreis: Münster zur lebenswertesten Stadt der Welt gewählt, in: „Der
Spiegel“, 19.10.2004, im „Spiegel“-Archiv online verfügbar unter http://www.spiegel.de/ panorama/internationaler-staedtepreis-muenster-zur-lebenswertesten-stadt-der-welt-gewaehlt-a-323901.html, besucht
am 1.5.2015. Bewertungskriterien waren u.a. Umwelt und Landschaft, Bürgerbeteiligung, Bewahrung des
historischen Erbes, nachhaltige Zukunftsplanung.
Termeer,
Konsum als Sinn, S. 277.
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Abb. 2: Münster 2015. Fahrräder sind in der westfälischen Metropole omnipräsent (Foto: Michael Prinz).
Analyse der Münsteraner Verhältnisse nicht nur auf verkehrspolitische Aspekte, sondern konfrontiert Anspruch und Wirklichkeit in umfassender Weise.
Einer in der Stadt omnipräsenten Saga zufolge hat Münsters Erfolg seine Wurzeln
in weitsichtigen weichenstellenden baupolitischen Entscheidungen nach 1945, allen
voran der in der Nachkriegszeit umstrittenen und von zeitgenössischen Beobachtern
kritisierten Entscheidung, den für das alte Zentrum stehenden Prinzipalmarkt mit seinen Arkaden und kleinteiligen Strukturen zu erhalten.49
Im Verlauf der Jahrzehnte ist es Münster gelungen, Gewicht und Ausstrahlung seines historischen Stadtkerns mit mehreren anliegenden Fußgängerzonen abzusichern
und auf hohem Niveau zu halten. Mittlerweile steht der Erfolg städtebaulich auf mehreren Beinen. So hat es immer wieder selbstbewusst vorgenommene, ästhetisch gelungene Ergänzungen der überlieferten Bausubstanz mit modernen Elementen gegeben
– aufwändigen Ladenpassagen etwa, der Umwandlung des ehemaligen Industriehafens in ein eigenes, gut angenommenes Amüsierviertel wie auch zuletzt dem 2014
neueröffneten Museum für Kunst und Kultur am Domplatz.
49 Vgl.
Joachim Petsch, Wiederaufbau oder Neuaufbau? Zur Geschichte der Denkmalpflege in der Nachkriegszeit, in: Edeltraud Klueting (Hg.), Der Wiederaufbau nach dem 2. Weltkrieg und die Probleme des
Denkmalschutzes, Münster 1990, S. 9-13; Roswitha Rosinski, Der Umgang mit der Geschichte beim
Wiederaufbau des Prinzipalmarkts in Münster/Westf. nach dem 2. Weltkrieg, Bonn 1987, S. 11,19, 23, 63,
65, 99, sowie Marcus Termeer, Münster als Marke. Die ‚lebenswerteste Stadt der Welt‘, die Ökonomie der
Symbole und ihre Vorgeschichte, Münster 2010, S.204ff.
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In Summa präsentiert sich Münster dem Besucher als Beleg dafür, welche Ernte sich
dort einfahren lässt, wo es in der Vergangenheit gelang, der Durchsetzung der modernen Konsumgesellschaft einen festen in Traditionen wurzelnden Rahmen zu geben.
Die Stadtentwicklungspolitik, welche der westfälische Vorort seit mehr als einem halben Jahrhundert realisiert, erinnert an Vorstellungen, wie sie der Freiburger Ordoliberalismus für den Wiederaufbau nach 1945 insgesamt entwarf. Markt und Wettbewerb
sollten im Kontext eines festen, durch Interventionen abgesicherten Ordnungsrahmens veranstaltet werden.
Marcus Termeer setzt, wie angedeutet, in seinem Beitrag hinter die selbstbewusste Präsentation der Münsteraner Bürgerschaft und des städtischen Marketings gleich
mehrere Fragezeichen. Am Anfang steht der Hinweis auf den unter Experten schon
lange unstrittigen Sachverhalt, dass von einer originalgetreuen Rekonstruktion des
Prinzipalmarktes nicht die Rede sein kann. Tatsächlich verkörpert die Fassadengestaltung eher einer Mischung aus Bauhaus und Barock.
Termeers zentrale These lautet jedoch, dass der so stark betonte Traditionsbezug
auch im Falle Münsters kein wirkliches Gegengewicht zur Macht des Konsums darstelle. Der Leuchtturm Prinzipalmarkt verdecke die Tatsache, dass die Stadt in toto
nach den in den letzten Jahren neu definierten Spielregeln modernen Konsums funktioniere. Münster verkörpere in besonders ausgeprägter Weise eine neue Stufe konsumgesellschaftlicher Entwicklung. Diese neue „postfordistische“ Stufe – die zeitliche
Zäsur lokalisiert Marcus Termeer in den 1980er Jahren – sei dadurch charakterisiert,
dass der Konsum seinen angestammten Ort als einer von vielen Bewegern der Moderne verlassen habe und den bisherigen Ordnungsrahmen „Stadt“ ganz der Logik des
Konsumierens und diesbezüglicher Erwartungen unterwerfe. Termeer illustriert dies
u.a. anhand der Anstrengungen, Konsum zum Spitzenplatz in der öffentlichen Werteskala zu verhelfen. Dazu passen die fortgesetzten Auseinandersetzungen in der Presse
um Ladenöffnungen und die Vermehrung der Zahl verkaufsoffener Sonntage. Selbst
an einem Bischofsitz beanspruchen kirchliche Fasten- und Askesegebote im öffentlichen Diskurs nahezu keine Geltung mehr. Der Blick auf den Jahreskalender belegt die
fortgeschrittene Festivalisierung des Alltags. Ein Sonntag ohne Fest, so der Eindruck,
erscheint den Verantwortlichen mittlerweile als ein verlorenes Wochenende.
Als treibende Kraft hinter der Zurückdrängung nicht-konsumbezogener Werte
wirkt im Hintergrund die mittlerweile professionell agierende Einrichtung des Stadtmarketings, die – ohne auch nur einen Moment innezuhalten – den Bürger auf den
Konsumenten reduziert und ihn auffordert, seiner ersten Bürgerpflicht, sprich: dem
Geldausgeben, nachzukommen.50 Inzwischen, so Termeer, beschäftige das Stadtmarketing mehr Personal als die städtische Wohnungsverwaltung.
50 Als
Beleg für normative Umdefinitionen beim Streit um verkaufsoffene Sonntage vgl. die Äußerungen des
Einzelhandelsverbandes Westfalen/Münsterland. Dessen Sprecher apostrophierte die Position der Ge­
werkschaft Verdi und der Kirchen gegen weitere verkaufsoffene Sonntag als „‘weltfremd‘. Der verkaufsof­
fene Sonntag sei ein Stück der Freizeitkultur und nicht vom Profitstreben des Handels geprägt“. Zit. aus
dem Artikel: Stadträte und Einzelhändler streiten: Ringen um den verkaufsoffenen Sonntag – Ruhr-Nachrichten, 5.3.2010, im Internet abrufbar unter http://www.ruhrnachrichten.de/nachrichten/vermischtes/
aktuelles_berichte/Ringen-um-den-verkaufsoffenen-Sonntag;art29854,837117#plx236123717, besucht am
28.4.2015.
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