MEW Band 1 - WordPress.com

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K A R L MARX • F R I E D R I C H E N G E L S
WERKE • B A N D I
I N S T I T U T FÜR MARXISMUS-LENINISMUS BEIM ZK DER SED
KARL MARX
FRIEDRICH ENGELS
WERKE
0
DIETZ VERLAG BERLIN
1981
KARL MARX
FRIEDRICH ENGELS
BAND 1
DIETZ VERLAG
1981
BERLIN
Die deutsche Ausgabe
der Werke von Marx und Engels
fußt auf der vom Institut für Marxismus-Leninismus
beim Z K der K P d S U
besorgten zweiten russischen Ausgabe.
Die Texte werden
nach den Handschriften
bzw. nach den zu Lebzeiten von Marx und Engeis
erfolgten Veröffentlichungen wiedergegeben.
©
Dietz Verlag Berlin 1956
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Vorwort
Die Herausgabe der Werke von Karl Marx und Friedrich Engels, die auf
Beschluß des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands
erfolgt, ist ein Ereignis von großer politischer und wissenschaftlicher Bedeutung. Damit wird die bisher umfassendste Ausgabe des literarischen Erbes der
Begründer des wissenschaftlichen Kommunismus in deutscher Sprache vorgelegt. Aufbau, Gliederung und Kommentierung der deutschen Ausgabe fußen
auf der zweiten russischen Ausgabe der Werke von Karl Marx und Friedrich
Engels, besorgt vom Institut für Marxismus-Leninismus beim Zentralkomitee der Kommunistischen Partei der Sowjetunion.
Die Ausgabe umfaßt 39 Bände in 41 Büchern und wird durch Ergänzungsbände komplettiert. Die Bände 1 bis 22 enthalten die Werke und Artikel von
1839 bis 1895. In den Bänden 23 bis 26 wird das Hauptwerk von Karl Marx,
„Das Kapital", einschließlich des unvollendeten Manuskripts „Theorien
über den Mehrwert" (Vierter Band des „Kapitals") wiedergegeben. Die Bände
27 bis 39 bieten den Briefwechsel zwischen Marx und Engels sowie ihre an
andere Personen gerichteten Briefe von 1842 bis 1895.
Der erste Band der Werke von Karl Marx und Friedrich Engels umfaßt
eine Auswahl von Schriften, die von den Begründern des wissenschaftlichen
Kommunismus vor Beginn ihrer schöpferischen Zusammenarbeit in den Jahren 1839 bis 1844 verfaßt wurden und wichtige Etappen ihrer politischen und
weltanschaulichen Entwicklung, ihren selbständigen Weg vom Idealismus
zum Materialismus, vom revolutionären Demokratismus zum Kommunismus
widerspiegeln. Die im Band 1 nicht enthaltenen Schriften aus dieser frühen
Periode befinden sich in zwei Ergänzungsbänden zur vorliegenden Ausgabe.
Der Band 1 besteht aus zwei Abteilungen: die erste enthält Schriften von
Marx aus der Zeit von 1842 bis Juli 1844, die zweite Arbeiten von Engels, die
im Zeitraum von 1839 bis März 1844 entstanden sind.
Nachdem Marx 1841 mit der Abhandlung „Differenz der demokritischen
und epikureischen Naturphilosophie" promoviert hatte, wandte er sich der
politischen Publizistik zu. Die Tätigkeit als Redakteur an der „Rheinischen
Zeitung" wurde für die Herausbildung und Erstwicklung seiner revolutionärdemokratischen Ansichten sehr bedeutungsvoll; sie beeinflußte wesentlich
sein weiteres theoretisches Schaffen sowie die Ausprägung seiner Weltanschauung und bereitete seinen Ubergang zum Materialismus und Kommunismus vor. Im politischen Tageskampf überprüfte Marx seine philosophischen
Ansichten, entwickelte und begründete er sie an Hand der konkreten gesellschaftlichen Verhältnisse. Er orientierte sich auf die grundlegenden Fragen
seiner Zeit, auf die Auseinandersetzung mit den historisch überlebten politischen Zuständen in Preußen. Dabei kam Marx erstmals mit sozialen und ökonomischen Fragen in Berührung: Er beschäftigte sich mit der Lage und den
Interessen der besitzlosen Massen sowie mit der Armut und dem Ruin der
Moselbauern, untersuchte den Zusammenhang zwischen Eigentum an Grund
und Boden sowie politischer Interessenvertretung und nahm erstmals zu den
Ideen des französischen utopischen Sozialismus und Kommunismus Stellung.
In seiner ersten publizistischen Arbeit „Bemerkungen über die neueste
preußische Zensurinstruktion", die den vorliegenden Band eröffnet, gab Marx
eine grundsätzliche Charakteristik der preußischen Zensurgesetzgebung und
begründete die Notwendigkeit der Pressefreiheit. Wenn er dabei feststellte, die
„eigentliche Radikalkur der Zensur wäre ihre Abschaffung; denn das Institut ist
schlecht, und die Institutionen sind mächtiger als die Menschen" (siehe vorl.
Band, S. 27), so lagen darin Konsequenzen, die den preußischen Staat überhaupt betrafen. In dem Artikel „Debatten über Preßfreiheit und Publikation
der Landständischen Verhandlungen" forderte Marx ebenfalls uneingeschränkte Pressefreiheit. Sie war für ihn Verwirklichung der Freiheit des Menschen und zugleich notwendige Voraussetzung zur Veränderung der realen
Wirklichkeit.
In diesem Zusammenhang kritisierte Marx auch zum erstenmal die Religion unter politischen Aspekten und verlieh damit seinem atheistischen Standpunkt neue Züge. Er verurteilte die gesetzlich sanktionierte Unterdrückung
der Religionskritik durch die preußische Zensur und verlangte, daß der Staat
sich nicht auf dem Glauben, sondern auf die Vernunft gründen müsse. In dem
Beitrag „Der leitende Artikel in Nr. 179 der .Kölnischen Zeitung'" setzte sich
Marx gleichfalls mit der reaktionären feudalen Staatsdoktrin auseinander. Er
stellte fest, daß die Religion die natürliche Grundlage jedes Staates sei, und
hielt ihr die Entwicklung der bürgerlichen Staatstheorie von Montesquieu bis
Hegel entgegen.
In der Polemik mit der „Kölnischen Zeitung" legte Marx auch seine Gedanken über die historische Aufgabe der Philosophie dar und begründete ihr
Auftreten in der Tagespresse als ein notwendiges Erfordernis der Zeit. Er
ging davon aus, daß die Philosophie die gesetzmäßig notwendig gewordene
gesellschaftliche Veränderung geistig vorwegnimmt, „die geistige Quintessenz
ihrer Zeit ist" (siehe vorl. Band, S.97) und deshalb in einen Gegensatz zur
realen Wirklichkeit gerät. Hat die Entwicklung dieses Widerspruchs eine bestimmte Stufe erreicht, müsse die Philosophie notwendig mit der Wirklichkeit in Wechselwirkung treten, zur Philosophie der Gegenwart werden und die
reale Wirklichkeit verändern. Eine solche Zeit grundlegender Umgestaltungen
der Gesellschaft war nach Marx' Auffassung herangereift.
In den Artikeln über die Verhandlungen des sechsten Rheinischen Landtags untersuchte Marx das Wesen der feudalistischen Ständevertretungen
und stieß dabei auf wichtige Fragen der sozialen Gliederung der Gesellschaft.
Die Analyse der Debatten des Preußischen Provinziallandtags förderte seine
Erkenntnis, daß die Zugehörigkeit zum Stand unmittelbar die politische
Haltung und Gesinnung beeinflußte. Diese Durchleuchtung des Zusammenhangs zwischen sozialer Stellung und politischer Interessenvertretung gewann
für seine revolutionär-demokratische Entwicklung besondere Bedeutung.
Mit den Beiträgen „Debatten über das Holzdiebstahlsgesetz" und „Rechtfertigung des ft-Korrespondenten von der Mosel" wandte sich Marx unmittelbar der Eigentumsfrage und der Lage der besitzlosen Masse zu. Er erkannte, daß die Privateigentümer von Grund und Boden den Staat und seine
Rechtsprechung ihren materiellen Bedürfnissen unterordneten. Wie Marx
später Engels gegenüber des öfteren betonte, sei er „grade durch seine Beschäftigung mit dem Holzdiebstahlsgesetz und mit der Lage der Moselbauern
von der bloßen Politik auf ökonomische Verhältnisse verwiesen worden und
so zum Sozialismus gekommen" (siehe Band 39 unserer Ausgabe, S. 466).
Marx ergriff offen Partei für die „arme politisch und sozial besitzlose Menge"
(siehe vorl. Band, S. 115), verteidigte ihre politische Forderung, gleichberechtigte Staatsbürger zu werden, und anerkannte ihre materielle Forderung, am
Reichtum der Bourgeoisie teilnehmen zu wollen. Er kam zu wesentlichen Erkenntnissen über die soziale Gliederung der Gesellschaft und den Zusammenhang von Eigentum und politischer Interessenvertretung und begann, sich
mit dem französischen Sozialismus und Kommunismus auseinanderzusetzen.
Dies zeigt sich unter anderem darin, daß gerade aus dieser Zeit mit dem Artikel
„Der Kommunismus und die Augsburger . Allgemeine Zeitung'" seine erste
Stellungnahme zum Kommunismus vorliegt.
Marx reagierte in diesem Beitrag zurückhaltend auf den französischen
Sozialismus und Kommunismus. Ausschlaggebend dafür waren die utopischen Züge dieser Lehren und die praktischen Ergebnisse der Versuche,
kommunistische Kolonien zu errichten. Jedoch wandte sich Marx entschieden
dagegen, den Kommunismus als bloße Phantasterei abtun zu wollen, sondern
erklärte vielmehr, daß derselbe eingehendes Studium und gründliche theoretische Beschäftigung erfordere. Jahre später schrieb Marx darüber: „Andererseits hatte zu jener Zeit, wo der gute Wille .weiterzugehen' Sachkenntnis
vielfach aufwog, ein schwach philosophisch gefärbtes Echo des französischen
Sozialismus und Kommunismus sich in der .Rheinischen Zeitung' hörbar gemacht. Ich erklärte mich gegen diese Stümperei, gestand aber zugleich in
einer Kontroverse mit der Allgemeinen Augsburger Zeitung' rundheraus,
daß meine bisherigen Studien mir nicht erlaubten, irgendein Urteil über den
Inhalt der französischen Richtungen selbst zu wagen." (Siehe Band 13
unserer Ausgabe, S.8.)
Einige Beiträge von Marx in der „Rheinischen Zeitung" beschäftigten sich
mit dem Charakter der Revision der preußischen Gesetzgebung unter Friedrich Wilhelm IV. und deren ideologischen Grundlagen, von denen eine der
bedeutendsten die historische Rechtsschule war. In dem Artikel „Das philosophische Manifest der historischen Rechtsschule" enthüllte Marx, daß die
Vertreter dieser Schule mit der Revision der bestehenden Gesetzgebung
historisch überlebte Zustände restaurieren wollten. Sein Aufsatz „Der Ehescheidungsgesetzentwurf" wandte sich gegen den Versuch, die Dogmen der
protestantischen Kirche unmittelbar zur Grundlage der Gesetzgebung zu
machen. Marx forderte, daß „das Gesetz der bewußte Ausdruck des Volkswillens" sein, „also mit ihm und durch ihn geschaffen" werden muß (siehe
vorl. Band, S.150).
Anfang 1843 begann ein neuer Abschnitt des Kampfes von Marx gegen
die preußische Regierung, die zu schärferen Maßnahmen gegen die oppositionelle Presse überging. Die erste einschneidende Repressalie war das Verbot
der „Leipziger Allgemeinen Zeitung". Zu diesem Ereignis nahm Marx sofort
in einer ganzen Serie polemischer Artikel Stellung und verurteilte entschieden
dieses Verbot. Er war der erste Publizist, der die eigentlichen Gründe und
Absichten der Regierung entlarvte und nachwies, daß dies ein Angriff auf die
gesamte fortschrittliche Presse war.
Daraufhin erließ die preußische Regierung am 20. Januar das schon lange
geplante Verbot der „Rheinischen Zeitung" mit Wirkung vom I.April 1843.
Wegen der nun einsetzenden rigorosen Zensur, aber auch wegen der Meinungsverschiedenheiten zwischen ihm und den Geranten des Blattes hinsichtlich möglicher Zugeständnisse schied Marx mit der „Erklärung" vom
17. März schon einige Tage vor dem Erscheinen der letzten Nummer aus der
Redaktion der Zeitung aus. Damit endete ein bedeutungsvoller Abschnitt in
Marx' politischer und philosophischer Entwicklung.
Bereits in den nachfolgenden Monaten vollzog Marx den endgültigen
Ubergang zum Materialismus und Kommunismus, formulierte er die Erkenntnis von der historischen Rolle des Proletariats. Eine wichtige Etappe in
diesem Übergangsprozeß bildet sein unvollendet gebliebenes Manuskript
„Zur Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie", an dem er während des
Aufenthaltes in Kreuznach von Mai bis Oktober 1843 arbeitete. Ausgehend
von den reichen Erfahrungen, die er als Redakteur der „Rheinischen Zeitung"
gesammelt hatte, stellte sich Marx die Aufgabe, die idealistische Gesellschaftsund Staatskonzeption Hegels kritisch zu überprüfen und die wahren Triebkräfte des gesellschaftlichen Fortschritts, die Mittel und Wege einer revolutionären Veränderung der Welt zu erkennen. Eine wertvolle Hilfe für seine
Kritik an Hegels Idealismus waren die Schriften des materialistischen Philosophen Ludwig Feuerbach. Über die Ergebnisse, zu denen Marx durch die
umfassende Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie gelangte, schrieb er
später: „Meine Untersuchung mündete in dem Ergebnis, daß Rechtsverhältnisse wie Staatsformen weder aus sich selbst zu begreifen sind noch aus der
sogenannten allgemeinen Entwicklung des menschlichen Geistes, sondern
vielmehr in den materiellen Lebensverhältnissen wurzeln, deren Gesamtheit
Hegel, nach dem Vorgang der Engländer und Franzosen des 18. Jahrhunderts,
unter dem Namen .bürgerliche Gesellschaft' zusammenfaßt, daß aber die
Anatomie der bürgerlichen Gesellschaft in der politischen Ökonomie zu
suchen sei." (Siehe Band 13 unserer Ausgabe, S.8.)
Da es ihm in Deutschland nicht möglich war, seine politischen und philosophischen Auffassungen frei und offen zu vertreten, ging Marx Ende
Oktober 1843 nach Paris, wo er gemeinsam mit Arnold Rüge die Herausgabe
der „Deutsch-Französischen Jahrbücher" vorbereitete. In Paris, einem Zentrum der Wissenschaft und Kultur, der politischen und revolutionären Bewegung, böten sich Marx ausgezeichnete Möglichkeiten, die Klassenwidersprüche und -kollisionen, die die bürgerliche Welt erschütterten, zu studieren.
Hier knüpfte er auch die ersten Verbindungen zu führenden Vertretern der
französischen und deutschen Arbeiterbewegung. Marx' Beiträge für das erste
und einzige Heft der „Deutsch-Französischen Jahrbücher", das Ende Februar 1844 erschien, widerspiegelte deutlich den vollzogenen Übergang vom
philosophischen Idealismus zum Materialismus, vom revolutionären Demokratismüs zum Kommunismus.
In den Briefen, die das erste Heft einleiteten, umriß Marx das Programm
der Zeitschrift. Er sah ihre Aufgabe in der „rücksichtslosen Kritik alles Bestehenden" (siehe vorl. Band, S.344) und wandte sich gegen den Dogmatismus, der der früheren Philosophie sowie dem utopischen Sozialismus und
Kommunismus eigen war, gegen die Proklamierung fertiger Systeme, die
angeblich ein für allemal Gültigkeit besitzen sollten. Marx lehnte alle vom
Leben, vom praktischen Kampf der Massen losgelöste spekulative Theorie
ab und forderte, die theoretische Kritik der alten Gesellschaft mit der Praxis,
mit der Politik, mit dem wirklichen Kampf (siehe ebenda, S. 345) zu verbinden.
In dem Artikel „Zur Judenfrage" wies Marx die Haltlosig keit der Ansichten Bruno Bauers nach, der den Weg zur Befreiung der in Deutschland
politisch rechtlosen Juden in der Emanzipation der Juden von der Religion
sah. Ausgehend von dem konkreten Problem der Judenbefreiung entwickelte
Marx grundlegende Gedanken über das allgemeine Problem der Befreiung
der Menschheit von dem auf ihr lastenden sozialen und politischen Joch.
Dabei unterschied er zwischen „politischer Emanzipation", worunter er die
Verkündung bürgerlich-demokratischer Freiheiten als Ergebnis einer bürgerlichen Revolution verstand, und „menschlicher Emanzipation", die Befreiung des Menschen von den Gebrechen der bürgerlichen Gesellschaft, die
Aufhebung jeglicher sozialer und politischer Ungleichheit und Unterdrückung. Hier formulierte Marx also bereits im Ansatz die Idee von dem
grundlegenden Unterschied zwischen der bürgerlichen und der sozialistischen
Revolution.
Die Antwort auf die Frage, wer die menschliche Emanzipation verwirklichen solle, welche gesellschaftliche Kraft den sozialen Fortschritt verkörpere, gab Marx in seinem Aufsatz „Zur Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie. Einleitung". Hier stellte Marx zum erstenmal das Proletariat als
die gesellschaftliche Klasse dar, die die allgemein menschliche Emanzipation
vollbringen wird. Diese Erkenntnis von der welthistorischen Rolle der
Arbeiterklasse, die kapitalistische Klassengesellschaft zu überwinden und
eine neue, die sozialistische Ordnung zu errichten, war von größter Tragweite. Sie bildete den Ausgangspunkt für die Entwicklung des Sozialismus
von einer Utopie zur Wissenschaft. Von der Arbeit an war der Werdegang
der Marxschen Weltanschauung zugleich der Werdegang des wissenschaftlichen Kommunismus, der revolutionären Weltanschauung des Proletariats.
In diesem Beitrag begründete Marx auch die grundlegende These von
der hervorragenden Rolle einer fortschrittlichen Theorie als geistige Waffe
im Kampf der Massen und von den Massen als der materiellen Kraft, die
imstande ist, die Gesellschaft umzugestalten. „Wie die Philosophie im Prole-
tariat ihre materiellen, so findet das Proletariat in der Philosophie seine
geistigen Waffen" (siehe vorl. Band, S.391). Lenin urteilte über Marx' Artikel
in den „Deutsch-Französischen Jahrbüchern": „In seinen in dieser Zeitschrift veröffentlichten Aufsätzen tritt Marx bereits als Revolutionär auf,
der die .rücksichtslose Kritik alles Bestehenden' und im besonderen die
.Kritik der Waffen' verkündet, der an die Massen und an das Proletariat
appelliert." (W.I.Lenin: Karl Marx. In: Werke, Band21, S.35.)
Der letzte größere Aufsatz, den Marx vor dem Beginn seiner Freundschaft mit Engels veröffentlichte, war die im August 1844 im Pariser „Vorwärts!" erschienene Arbeit „Kritische Randglossen zu dem Artikel ,Der
König von Preußen und die Sozialreform. Von einem Preußen'". Darin setzte
er sich mit Ruges Behauptung auseinander, daß der schlesische Weberaufstand ein sinn- und fruchtloser Aufruhr ohne „politische Seele" gewesen
sei, und hob die große Bedeutung dieser Erhebung hervor. Marx sah darin
einen Ausdruck für das gewachsene Klassenbewußtsein der deutschen Arbeiter, für das erwachende Verständnis ihres grundlegenden Gegensatzes zur
Gesellschaft des Privateigentums, für die gewaltigen revolutionären Potenzen,
die in der Arbeiterklasse schlummerten. Er konkretisierte dabei einige Aspekte
der historischen Mission der Arbeiterklasse und entwickelte die These weiter,
daß der Übergang zur neuen Gesellschaft nicht möglich ist ohne revolutionäre
Aktionen der Massen, des Proletariats und ohne Revolution. In der Revolution sind ihre politische Seite - der Sturz der herrschenden Macht - und ihre
soziale Seite - die Zerstörung der alten gesellschaftlichen Verhältnisse - untrennbar miteinander verbunden und voneinander abhängig. Marx kam also
hier schon bis an die Schwelle der Erkenntnis, daß das Proletariat die politische Macht erobern muß.
Die in den vorliegenden Band aufgenommenen Schriften von Friedrich
Engels zeigen, wie dieser bis zum Beginn seiner Freundschaft mit Marx selbständig den Weg vom Idealismus zum Materialismus, vom revolutionären
Demokratismus zum Kommunismus fand.
Bereits während seiner kaufmännischen Ausbildung in Bremen von 1838
bis 1841 betätigte sich Engels auf dem Gebiet der politischen und sozialkritischen Publizistik. Hier entstanden seine „Briefe aus dem Wuppertal",
in denen der Achtzehnjährige entschieden gegen den scheinheiligen pietistischen Geist, der alle Bereiche des Lebens in seiner Heimatstadt durchdrang,
gegen den von den Pietisten verbreiteten Obskurantismus, Fanatismus und
Mystizismus auftrat. Zugleich kritisierte Engels mit großer Sachkenntnis und
Schärfe die sozialen Zustände im Wuppertal, schilderte die schwere Notlage
der Proletarier und prangerte deren skrupellose Ausbeutung durch die Fabrikanten und Kaufleute an.
Als sich Engels 1841/1842 in Berlin aufhielt, schloß er sich den Junghegelianern an und nahm lebhaften Anteil an ihren philosophischen Auseinandersetzungen. Dabei vereinigten sich bei ihm die radikalen philosophischen Ideen des Junghegelianismus mit einer revolutionär-demokratischen
Haltung zu sozialpolitischen Fragen. Zugleich ging Engels in dieser Zeit,
wesentlich beeinflußt durch das Studium der Werke Ludwig Feuerbachs,
die ersten Schritte zum Materialismus.
In seinem Aufsatz „Alexander Jung, Vorlesungen über die moderne
Literatur der Deutschen" kritisierte Engels die Vertreter des Jungen Deutschland, weil sie sich in einem rein literarischen Milieu bewegten und vom politischen Leben und von den fortschrittlichen philosophischen Gedanken abgekapselt hatten: „Solche unglückliche Amphibien und Achselträger sind
nicht brauchbar für den Kampf, den nun einmal entschiedne Leute entzündet und nur Charaktere hindurchführen können." (Siehe vorl. Band,
S. 445.) Er trat für einen höheren Ideengehalt in der Literatur ein und wandte
sich mit Bestimmtheit gegen den Liberalismus und dessen Ideologie der
„goldenen Mitte", die gegensätzliche Richtungen zu versöhnen suchte. In
dem Artikel „Friedrich Wilhelm IV., König von Preußen" trat Engels gegen
das herrschende feudalabsolutistische System und die reaktionäre Idee von
einem „christlich-deutschen Staat" mittelalterlicher Prägung auf, der von
Friedrich Wilhelm IV. angestrebt wurde. Sein heißes Bestreben, am politischen Kampf gegen die reaktionären Zustände in Deutschland teilzunehmen,
führte ihn im weiteren zur Abkehr von dem Kreis der „Freien" um die
Brüder Bauer, die dem realen Leben und der praktischen revolutionären
Tätigkeit fremd gegenüberstanden.
Ende 1842 ging Engels nach England und lernte dort das Mutterland des
Kapitalismus, das moderne Proletariat und seine erste selbständige politische
Massenbewegung, den Chartismus, kennen. Hier entwickelte er sich zum
proletarischen Revolutionär und Kommunisten. Die Bedeutung des Aufenthalts in England für die Entwicklung seiner Anschauungen schätzte Engels
später folgendermaßen ein: „Ich war in Manchester mit der Nase darauf gestoßen worden, daß die ökonomischen Tatsachen, die in der bisherigen Geschichtsschreibung gar keine oder nur eine verachtete Rolle spielen, wenigstens in der modernen Welt eine entscheidende geschichtliche Macht sind;
daß sie die Grundlage bilden für die Entstehung der heutigen Klassengegensätze; daß diese Klassengegensätze in den Ländern, wo sie vermöge der
großen Industrie sich voll entwickelt haben, also namentlich in England,
wieder die Grundlage der politischen Parteibildung, der Parteikämpfe und
damit der gesamten politischen Geschichte sind." (Siehe Band 21 unserer
Ausgabe, S. 211.)
Der vorliegende Band enthält eine Reihe Arbeiten, die Engels während
seines Aufenthalts in England verfaßte. In den Artikeln „Englische Ansicht
über die innern Krisen", „Die innern Krisen", „Stellung der politischen
Partei", „Lage der arbeitenden Klasse in England" und „Die Korngesetze",
die in der „Rheinischen Zeitung" veröffentlicht wurden, standen wichtige
Fragen der wirtschaftlichen Entwicklung und der sozialen Struktur Englands
im Mittelpunkt. Engels analysierte die Spaltung der Gesellschaft in drei
Hauptklassen - in die Landaristokratie, die Bourgeoisie und das Proletariat - ,
kennzeichnete den Widerspruch zwischen Bourgeoisie und Proletariat als den
Grundwiderspruch der kapitalistischen Gesellschaft und die Auseinandersetzungen zwischen den politischen Parteien als Klassenkampf. Bei seiner
Untersuchung der Lage der englischen Arbeiter und ihrer Rolle im öffentlichen Leben gelangte er zu der Schlußfolgerung, daß das Proletariat jene
fortschrittliche gesellschaftliche Kraft darstellt, die eine soziale Umwälzung
in England vollziehen wird. Mit tiefer Anteilnahme schilderte Engels den
Kampf der englischen Arbeiter, die Tätigkeit der Chartisten und Sozialisten
in England und beleuchtete auch den Befreiungskampf des irischen Volkes
gegen nationale und koloniale Unterdrückung.
Seine engen Verbindungen zu den Chartisten und den englischen Sozialisten, die Anhänger der Ideen Robert Owens waren, ermöglichten es Engels,
in den für die Zeitschrift „Schweizerischer Republikaner" verfaßten „Briefen
aus London" die Rolle dieser Bewegungen im gesellschaftlichen Leben Englands gründlich darzustellen. Er verwies auf die „reißenden Fortschritte"
des Chartismus, der „seine Stärke in den working men, den Proletariern, hat"
(siehe vorl. Band, S. 468), und hob den wachsenden Einfluß der National
Charter Association auf die Arbeitermassen hervor. Er schätzte auch die vielfältige Tätigkeit der Sozialisten zur Bildung der arbeitenden Klassen in England hoch ein, besonders die Verbreitung der philosophischen Ideen der
französischen Aufklärung des 18. Jahrhunderts.
1843 begann Engels auch in den Presseorganen der Chartisten und der
Owenisten mitzuwirken. Er stellte sich dabei die Aufgabe, sie näher mit der
sozialistischen und kommunistischen Bewegung auf dem europäischen Kontinent bekannt zu machen. Diesem Zweck dienten die Artikel „Fortschritte
der Sozialreform auf dem Kontinent" und „Bewegungen auf dem Kontinent",
die in „The New Moral World" veröffentlicht wurden. Engels charakterisierte
darin die Entwicklung der kommunistischen Ideen in Frankreich, in der
1
Marx/Engels, Werke, Bd. 1
Schweiz und in Deutschland, wobei er nicht nur über die positiven Seiten
der verschiedenen Schulen des utopischen Sozialismus und Kommunismus
schrieb, sondern auch auf die Mängel hinwies, die die Kurzlebigkeit vieler
dieser Richtungen bedingten. Eine der grundlegenden Schlußfolgerungen
aus1 diesen Untersuchungen lautete: „So sind die drei großen zivilisierten
Länder Europas, England, Frankreich und Deutschland, alle zu dem Schluß
gekommen, daß eine durchgreifende Revolution: der sozialen Verhältnisse
auf der Grundlage des Gemeineigentums jetzt zu einer dringenden und unvermeidlichen Notwendigkeit geworden ist. [ . . . ] es kann keinen stärkeren
Beweis als diesen geben, daß der Kommunismus nicht bloß die Konsequenz
aus der besonderen Lage der englischen oder einer beliebigen anderen Nation
ist, sondern eine notwendige Folgerung, die aus den Voraussetzungen, wie sie
in den allgemeinen Bedingungen der modernen Zivilisation gegeben sind,
Unvermeidlich gezogen werden muß." (Siehe vorl. Band, S.480.)
In diesen Artikeln zeigt sich bereits deutlich Engels' Übergang vom revolutionären Demokraten zum Kommunisten, der mit seinen Beiträgen für die
„Deutsch-Französischen Jahrbücher" seinen Abschluß findet. Seine Aufsätze in dieser Zeitschrift zeugen auch davon, daß er sich nunmehr endgültig
von idealistischen Anschauungen befreit und auf konsequent materialistische
Positionen gestellt hatte.
In seiner Arbeit „Umrisse zu einer Kritik der Nationalökonomie" untersuchte Engels „vom sozialistischen Standpunkt aus die grundlegenden Erscheinungen der modernen Wirtschaftsordnung" (W.I.Lenin: Friedrich
Engels. In: Werke, Band 2, S. 10). Es war der erste Versuch, die bürgerliche
politische Ökonomie von einem dialektischen und materialistischen Standpunkt, vom Standpunkt der Arbeiterklasse aus zu kritisieren. Engels entdeckte in der Entwicklung der inneren Widersprüche des kapitalistischen
Privateigentums, in der sich daraus unvermeidlich ergebenden Zuspitzung
der sozialen Antagonismen der bürgerlichen Welt die entscheidende Ursache
der künftigen sozialen Revolution, die berufen ist, dieses System zu beseitigen
Und eine neue, gerechte Gesellschaftsordnung zu errichten. Er erklärte die
historische Notwendigkeit und geschichtliche Beschränktheit des Privateigentums und wies den realen Weg zu seiner Überwindung.
Die Kritik am Kapitalismus als System ging in Engels* Schrift einher mit
der Kritik an den Wortführern und Apologeten dieses Systems, an den Vertretern der verschiedenen Richtungen der bürgerlichen politischen Ökonomie.
Obwohl Engels zu jener Zeit noch nicht bis zum Wesen der wichtigsten
ökonomischen Theorien vorgedrungen war, gelang es ihm, deren bürgerliche
Beschränktheit überzeugend nachzuweisen. Vor allem prangerte er die
menschenfeindliche Bevölkerungstheorie von Malthus als „infame, niederträchtige Doktrin",, als „scheußliche Blasphemie gegen die Natur und
Menschheit" an und wies nach, daß die „überzählige Bevölkerung" nicht
durch Naturgesetze, sondern durch den unbändigen Bereicherungsdrang
der Bourgeoisie bedingt ist. (Siehe vorl. Band, S. 518.)
Marx zeigte größtes Interesse für die „Umrisse zu einer Kritik, der
Nationalökonomie" und bezeichnete sie als eine „geniale Skizze zur Kritik
der ökonomischen Kategorien" (siehe Band 13 unserer Ausgabe, S.10). Diese
Arbeit veranlaßte ihn, sich in Paris noch intensiver dem Studium der politischen Ökonomie zuzuwenden.
In der Rezension „Die Lage Englands. ,Past and Present' by Thomas
Carlyle" kritisierte Engels aus materialistischer Sicht Carlyles religiöse Ansichten und seinen „Heroenkult". Er trat entschieden gegen den subjektiven
Idealismus, den Skeptizismus und die Leugnung der Fähigkeit der menschlichen Vernunft auf, die grundlegenden Widersprüche des gesellschaftlichen
Lebens zu erkennen und zu überwinden. Dem historischen Prozeß, stellte
Engels fest, liege nicht die eine oder andere Abstraktion zugrunde, sondern
die konkrete Tätigkeit der Menschen, ihr harter, aber erfolgreicher Kampf
mit der Natur. Carlyles Haltung zur Arbeiterklasse als einer leidenden Masse
und zur Bourgeoisie als den natürlichen Gebietern über die Masse stellte
Engels seine Auffassung von der historischen Mission des Proletariats gegenüber: „nur die Arbeiter, die Parias Englands, die Armen sind wirklich
respektabel [...]. Von ihnen geht die Rettung Englands aus, in ihnen liegt
noch bildsamer Stoff; sie haben keine Bildung, aber auch keine Vorurteile, sie
haben noch Kraft aufzuwenden für eine große nationale Tat - sie haben noch
eine Zukunft." (Siehe vorl. Band, S.526.)
Zwei weitere für die „Deutsch-Französischen Jahrbücher" bestimmte
Artikel - „Die Lage Englands. I. Das achtzehnte Jahrhundert" und „Die
Lage Englands. II. Die englische Konstitution" - konnten infolge der Einstellung derselben erst von August bis Oktober 1844 in der Pariser Zeitung
„Vorwärts!" veröffentlicht werden. In diesen Arbeiten analysierte Engels die
industrielle Revolution in England sowie die tiefgehenden sozialen und politischen Veränderungen in ihrem Gefolge. Gleichzeitig unterzog er das politische System Englands einer scharfen Kritik, entlarvte die Heuchelei der englischen Verfassung und deckte den Klassencharakter und die Begrenztheit
der bürgerlichen Demokratie auf. Diese Beiträge zeigen, daß Engels bereits
die Eigentumsverhältnisse als die Grundlage des Staates betrachtete, seinen
Zusammenhang mit der Wirtschaftsordnung, seine Funktion im Klassenkampf
sowie seine gewaltige ideologische und politische Rolle recht deutlich erkannte.
Als Engels Ende August 1844 auf seiner Rückreise von England nach
Deutschland in Paris mit Marx zusammentraf, konnten beide die völlige
Übereinstimmung ihrer Anschauungen in allen Fragen der Theorie und
Praxis feststellen und schlössen ihren unzertrennlichen Freundschaftsbund.
Sie stellten sich die Aufgabe, die neue, revolutionäre Weltanschauung gemeinsam weiter auszuarbeiten, sie unter der fortschrittlichen Intelligenz und
in der Arbeiterklasse zu verbreiten und zugleich dieser Ausbreitung der
materialistischen und kommunistischen Anschauungen im Wege stehende
irrige Ansichten zu widerlegen.
*
Die 13. Auflage des Bandes I wurde vollständig überarbeitet; Inhalt und
Struktur des Bandes wurden jedoch beibehalten. Eine Ausnahme bildet der
in den bisherigen Auflagen enthaltene Beitrag „Luther als Schiedsrichter
zwischen Strauß und Feuerbach", der nicht mehr aufgenommen wurde, da
er - wie neuere Forschungen ergaben - nicht von Marx, sondern von Feuerbach selbst stammt. Eine Seitenverschiebung im Textteil wurde jedoch vermieden, um Verweise auf Texte dieses Bandes in der wissenschaftlichen
Literatur und in Registern benutzbar zu erhalten.
Der Textwiedergabe wurde die Ausgabe letzter Hand zugrunde gelegt.
Daraus ergab sich, daß einigen Beiträgen von Marx für die „Rheinische
Zeitung", die bisher nach derselben wiedergegeben wurden, nunmehr der von
Marx überarbeitete Text für die „Gesammelten Aufsätze", die 1850 von
Hermann Becker herausgegeben wurden, zugrunde Zu legen war. Die jeweilige Textgrundlage ist am Schluß jeder Arbeit vermerkt. Das Marxsche
Manuskript „Zur Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie" wird in der
überlieferten Form veröffentlicht. Vollständig in anderen Sprachen geschriebene Arbeiten werden in deutscher Übersetzung wiedergegeben. In die
Texte eingestreute fremdsprachige Wörter und Zitate blieben dagegen in der
Originalfassung und sind in Fußnoten übersetzt. Längere Zitate werden zur
leichteren Übersicht in kleinerem Druck gebracht.
Rechtschreibung und Zeichensetzung sind, soweit vertretbar, modernisiert. Der Lautstand und die Silbenzahl in den deutschsprachigen Texten
wurden nicht verändert. Allgemein übliche Abkürzungen wurden beibehalten, alle anderen abgekürzten Wörter ausgeschrieben, wobei die Ergänzung
von Namen, Zeitungstiteln und solchen abgekürzten Wörtern, die nicht mit
völliger Sicherheit erfolgen kann, durch eckige Klammern deutlich gemacht
wird. Alle Wörter in eckigen Klammern stammen von der Redaktion. Offensichtliche Schreib- und Druckfehler wurden korrigiert; in Zweifelsfällen ist
in Fußnoten die Schreibweise der Textgrundlage angegeben. Pseudonyme
sowie Bei- und Spitznamen sind entweder durch Fußnoten oder durch Verweise im Personenverzeichnis entschlüsselt.
Die Fußnoten von Marx und Engels sind durch Sternchen gekennzeichnet, Fußnoten der Redaktion durch eine durchgehende Linie vom Text abgetrennt und durch Ziffern kenntlich gemacht.
Zur Erläuterung der Texte sind dem Band Anmerkungen beigefügt, auf
die im Text durch hochgestellte Ziffern in eckigen Klammern hingewiesen
wird. Ferner enthält der Band ein Literaturverzeichnis, Daten aus dem Leben
und der Tätigkeit von Karl Marx und Friedrich Engels sowie ein Personenverzeichnis und ein Verzeichnis literarischer und mythologischer Namen.
Institut für Marxismus-Leninismus
beim ZK der SED
KARL MARX
1842-1844
Karl Marx
Bemerkungen
über die neueste preußische Zensurinstruktion111
Von einem Rheinländer
Wir gehören nicht zu den Malkontenten, die schon vor der Erscheinung
des neuen preußischen Zensuredikts ausrufen: Timeo Danaos et dona
ferentes.C2] Vielmehr da in der neuen Instruktion die Prüfung schon erlassener
Gesetze, sollte sie auch nicht im Sinne der Regierung ausfallen, gebilligt
wird, so machen wir sogleich einen Anfang mit ihr selbst. Die Zensur ist die
offizielle Kritik', ihre Nonnen sind kritische Nonnen, die also am wenigsten
der Kritik, mit der sie sich in ein Feld stellen, entzogen werden dürfen.
Die im Eingang der Instruktion ausgesprochene allgemeine Tendenz wird
gewiß jeder nur billigen können:
„ U m schon jetzt die Presse von unstatthaften, nicht in der allerhöchsten Absicht
liegenden Beschränkungen zu befreien, haben Seine Majestät der König 1 durch eine an
das königliche Staatsministerium am 10. d . M . erlassene höchste Ordre jeden ungebührlichen Zwang der schriftstellerischen Tätigkeit ausdrücklich zu mißbilligen und, unter
Anerkennung des Werts und des Bedürfnisses einer freimütigen und anständigen
Publizität, uns zu ermächtigen geruht, die Zensoren zur angemessenen Beachtung des
Art.2 des Zensuredikts vom 18.Oktober 1819 von neuem anzuweisen." 181
Gewiß! ist die Zensur einmal eine Notwendigkeit, so ist die freimütige,
die liberale Zensur noch notwendiger.
Was sogleich ein gewisses Befremden erregen dürfte, ist das Datum des
angeführten Gesetzes; es ist datiert vom 18. Oktober 1819t4:i. Wie? ist es etwa
ein Gesetz, welches die Zeitumstände zu derogieren zwangen? Es scheint
nicht; denn die Zensoren werden nur „von neuem" zur Beachtung desselben
angewiesen. Also bis 1842 war das Gesetz vorhanden, aber es ist nicht befolgt worden, denn „um schon jetzt" die Presse von unstatthaften, nicht in
der allerhöchsten Absicht liegenden Beschränkungen zu befreien, wird es ins
Gedächtnis gerufen.
1
Friedrich Wilhelm IV.
Die Presse - eine unmittelbare Konsequenz dieses Eingangs - unterlag
bis jetzt trotz dem Gesetze unstatthaften Beschränkungen.
Spricht dies nun gegen das Gesetz oder gegen die Zensoren ?
Das letztere dürfen wir kaum behaupten. Zweiundzwanzig Jahre durch
geschahen illegale Handlungen von einer Behörde, welche das höchste Interesse der Staatsbürger, ihren Geist, unter Tutel hat, von einer Behörde, die,
noch mehr als die römischen Zensoren, nicht nur das Betragen einzelner
Bürger, sondern sogar das Betragen des öffentlichen Geistes reguliert. Sollte
in dem wohleingerichteten, auf seine Administration stolzen preußischen
Staate solch gewissenloses Benehmen der höchsten Staatsdiener, eine so konsequente Illoyalität möglich sein? oder hat der Staat in fortwährender Verblendung die untüchtigsten Individuen zu den schwierigsten Stellen gewählt?
oder hat endlich der Untertan des preußischen Staates keine Möglichkeit,
gegen ungesetzmäßiges Verfahren zu reklamieren? Sind alle preußischen
Schriftsteller so ungebildet und unklug, mit den Gesetzen, die ihre Existenz
betreffen, nicht bekannt zu seih, oder sind sie zu feig, die Anwendung derselben zu verlangen?
Werfen wir die Schuld auf die Zensoren, so ist nicht nur ihre eigne Ehre,
sondern die Ehre des preußischen Staats, der preußischen Schriftsteller
kompromittiert.
Es wäre ferner durch das mehr als zwanzigjährige gesetzlose Benehmen
der Zensoren trotz den Gesetzen das argumentum ad hominem1 geliefert,
daß die Presse andrer Garantien bedarf als solcher allgemeiner Verfügungen
für solche unverantwortliche Individuen; es wäre der Beweis geliefert, daß
im Wesen der Zensur ein Grundmangel liegt, dem kein Gesetz abhelfen
kann.
Waren aber die Zensoren tüchtig, und taugte das Gesetz nicht, warum es
von neuem zur Abhülfe der Übel aufrufen, die es veranlaßt hat?
Oder sollen etwa die objektiven Fehler einer Institution den Individuen zur
Last gelegt werden, um ohne Verbesserung des Wesens den Schein einer
Verbesserung zu erschleichen? Es ist die Art des Scheinliberalismus, der sich
Konzessionen abnötigen läßt, die Personen hinzuopfern, die Werkzeuge, und
die Sache, die Institution festzuhalten. Die Aufmerksamkeit eines oberflächlichen Publikums wird dadurch abgelenkt.
Die sachliche Erbitterung wird zur persönlichen. Mit einem Personenwechsel glaubt man den Wechsel der Sache zu haben. Von der Zensur ab
richtet sich der Blick auf einzelne Zensoren, und jene kleinen Schriftsteller
1
der überzeugende Beweis
des befohlenen Fortschrittes handhaben minutiöse Kühnheiten gegen die ungnädig Behandelten als ebenso viele Huldigungen gegen das Gouvernement.
Noch eine andre Schwierigkeit hemmt unsre Schritte.
Einige Zeitungskorrespondenteri halten die Zensurinstruktion für das
neue Zensuredikt selbst. Sie haben geirrt; aber ihr Irrtum ist verzeihlich.
Das Zensuredikt vom 18; Oktober 1819 sollte nur provisorisch bis zum Jahre
1824 dauern, und - es wäre bis auf den heutigen Tag provisorisches Gesetz
geblieben, wenn wir nicht aus der vorliegenden Instruktion erführen, daß es
nie in Anwendung gekommen ist.
Auch das Edikt von 1819 war eine interimistische Maßregel, nur daß hier
der Erwartung die bestimmte Sphäre von fünf Jahren angewiesen war, während sie in der neuen Instruktion beliebigen Spielraum hat, nur daß der
Gegenstand der damaligen Erwartung Gesetze der Preßfreiheit, der der jetzigen
Gesetze der Zensur sind.
Andre Zeitungskorrespondenten betrachten die Zensurinstruktion als
eine Wiederauffrischung des alten Zensuredikts. Ihr Irrtum wird durch die
Instruktion selbst widerlegt werden.
Wir betrachten die Zensurinstruktion als den antizipierten Geist des mutmaßlichen Zensurgesetzes. Wir schließen uns darin strenge dem Geist des
Zensuredikts von 1819 an, worin Landesgesetze und Verordnungen als gleichbedeutend für die Presse hingestellt werden. (Siehe das angeführte Edikt
Art. XVI, Nr.2.)
Kehren wir zur Instruktion zurück.
„Nach diesem Gesetz", nämlich dem Art. 2, „soll die Zensur keine ernsthafte und
bescheidene Untersuchung der Wahrheit hindern, noch den Schriftstellern ungebührlichen Zwang auflegen, noch ,den freien Verkehr des Buchhandels hemmen."
Die Untersuchung der Wahrheit, die von der Zensur nicht gehindert
Werden soll, ist näher qualifiziert als eine ernsthafte und bescheidene. Beide
Bestimmungen weisen die Untersuchung nicht auf ihren Inhalt, sondern
vielmehr auf etwas, das außer ihrem Inhalt liegt. Sie ziehen von vornherein
die Untersuchung von der Wahrheit ab und schreiben ihr Aufmerksamkeiten
gegen einen unbekannten Dritten vor. Die Untersuchung, die ihre Augen
beständig nach diesem durch das Gesetz mit einer gerechten Irritabilität begabten Dritten richtet, wird sie nicht die Wahrheit aus dem Gesicht verlieren? Ist es nicht die erste Pflicht des Wahrheitsforschers, direkt auf die
Wahrheit loszugehen, ohne rechts oder links zu sehen? Vergesse ich nicht
die Sache zu sagen, wenn ich noch weniger vergessen darf, sie in der vorgeschriebenen Form zu sagen?
Die Wahrheit ist so wenig bescheiden als das Licht, und gegen wen sollte
sie es sein? Gegen sich selbst? Verum index sui et falsi.C5:l Also gegen die Unwahrheit?
Bildet die Bescheidenheit den Charakter der Untersuchung, so ist sie eher
ein Kennzeichen der Scheu vor der Wahrheit als vor der Unwahrheit. Sie ist
ein niederschlagendes Mittel auf jedem Schritt, den ich vorwärts tue. Sie
ist eine der Untersuchung vorgeschriebene Angst, das Resultat zu finden, ein
Präservativmittel vor der Wahrheit.
Ferner: die Wahrheit ist allgemein, sie gehört nicht mir, sie gehört allen,
sie hat mich, ich habe sie nicht. Mein Eigentum ist die Form, sie ist meine
geistige Individualität. Le style c'est l'homme.1 Und wie! Das Gesetz gestattet, daß ich schreiben soll, nur soll ich einen andern als meinen Stil
schreiben! Ich darf das Gesicht meines Geistes zeigen, aber ich muß es vorher in vorgeschriebene Falten legen! Welcher Mann von Ehre wird nicht erröten über diese Zumutung und nicht lieber sein Haupt unter der Toga verbergen? Wenigstens läßt die Toga einen Jupiterkopf ahnen. Die vorgeschriebenen Falten heißen nichts als: bonne mineä mauvais jeu2.
Ihr bewundert die entzückende Mannigfaltigkeit, den unerschöpflichen
Reichtum der Natur. Ihr verlangt nicht, daß die Rose duften soll wie das
Veilchen, aber das Allerreichste, der Geist soll nur auf eine Art existieren
dürfen? Ich bin humoristisch, aber das Gesetz gebietet, ernsthaft zu schreiben. Ich bin keck, aber das Gesetz befiehlt, daß mein Stil bescheiden sei.
Grau in grau ist die einzige, die berechtigte Farbe der Freiheit. Jeder Tautropfen, in den die Sonne scheint, glitzert in unerschöpflichem Farbenspiel,
aber die geistige Sonne, in wie vielen Individuen, an welchen Gegenständen
sie auch sich breche, soll nur eine, nur die offizielle Farbe erzeugen dürfen!
Die wesentliche Form des Geistes ist Heiterkeit, Licht, und ihr macht den
Schatten zu seiner einzigen entsprechenden Erscheinung; nur schwarz gekleidet soll er gehen, und doch gibt es unter den Blumen keine schwarze. Das
Wesen des Geistes ist die Wahrheit immer selbst, und was macht ihr zu seinem
Wesen? Die Bescheidenheit. Nur der Lump ist bescheiden, sagt Goethe*-®3, und
zu solchem Lumpen wollt ihr den Geist machen? Oder soll die Bescheidenheit jene Bescheidenheit des Genies sein, wovon Schiller1-7-1 spricht, so verwandelt zuerst alle eure Staatsbürger und vor allem eure Zensoren in Genies.
Dann aber besteht die Bescheidenheit des Genies zwar nicht darin, worin die
Sprache der Bildung besteht, keinen Akzent und keinen Dialekt, wohl aber
den Akzent der Sache und den Dialekt ihres Wesens zu sprechen. Sie besteht
darin, Bescheidenheit und Unbescheidenheit zu vergessen und die Sache
1
Am Stil erkennt man den Menschen. -
2
gute Miene zum bösen Spiel
herauszuscheiden. Die allgemeine Bescheidenheit des Geistes ist die Vernunft, jene universelle Liberalität, die sich zu jeder Natur nach ihrem wesentlichen Charakter verhält.
Soll ferner die Ernsthaftigkeit nicht zu jener Definition des Tristram
ShandyC8] passen, wonach sie ein heuchlerisches Benehmen des Körpers ist,
um die Mängel der Seele zu verdecken, sondern den sachlichen Ernst bedeuten, so hebt sich die ganze Vorschrift auf. Denn das Lächerliche behandle
ich ernsthaft, wenn ich es lächerlich behandle, und die ernsthafteste Unbescheidenheit des Geistes ist, gegen die Unbescheidenheit bescheiden zu
sein.
Ernsthaft und bescheiden! welche schwankenden, relativen Begriffe! Wo
hört der Ernst auf, wo fängt der Scherz an? wo hört die Bescheidenheit auf,
wo fängt die Unbescheidenheit an? Wir sind auf die Temperamente des
Zensors angewiesen. Es wäre ebenso unrecht, dem Zensor das Temperament,
als dem Schriftsteller den Stil vorzuschreiben. Wollt ihr konsequent sein in
eurer ästhetischen Kritik, so verbietet auch, allzu ernsthaft und allzu bescheiden die Wahrheit zu untersuchen, denn die allzu große Ernsthaftigkeit
ist das Allerlächerlichste, und die allzu große Bescheidenheit ist die bitterste
Ironie.
Endlich wird von einer völlig verkehrten und abstrakten Ansicht der
Wahrheit selbst ausgegangen. Alle Objekte der schriftstellerischen Tätigkeit
werden unter der einen allgemeinen Vorstellung „Wahrheit" subsumiert.
Sehen wir nun selbst vom Subjektiven ab, nämlich davon, daß ein und derselbe Gegenstand in den verschiedenen Individuen sich verschieden bricht
und seine verschiedenen Seiten in ebenso viele verschiedene geistige Charaktere umsetzt; soll denn der Charakter des Gegenstandes gar keinen, auch nicht
den geringsten Einfluß auf die Untersuchung ausüben? Zur Wahrheit gehört
nicht nur das Resultat, sondern auch der Weg. Die Untersuchung der Wahrheit muß selbst wahr sein, die wahre Untersuchung ist die entfaltete Wahrheit, deren auseinandergestreute Glieder sich im Resultat zusammenfassen.
Und die Art der Untersuchung sollte nicht nach dem Gegenstand sich verändern? Wenn der Gegenstand lacht, soll sie ernst aussehen, wenn der Gegenstand unbequem ist, soll sie bescheiden sein, Ihr verletzt also das Recht des
Objekts, wie ihr das Recht des Subjekts verletzt. Ihr faßt die Wahrheit
abstrakt und macht den Geist zum Untersuchungsrichter, der sie trocken
protokolliert.
Oder bedarf es dieser metaphysischen Quälerei nicht? ist die Wahrheit
einfach so zu verstehen, daß Wahrheit sei, was die Regierung anordnet, und
daß die Untersuchung als ein überflüssiger, zudringlicher, aber der Etikette
liieren nicht ganz abzuweisender Dritter hinzukomme? Es scheint fast so.
Denn von vornherein wird die Untersuchung im Gegensatz gegen die Wahrheit gefaßt und erscheint daher in der verdächtigen offiziellen Begleitung der
Ernsthaftigkeit und Bescheidenheit, die allerdings dem Laien dem Priester
gegenüber geziemen. Der Regierungsverstand ist die einzige Staatsvernunft.
Dem andern Verstand und seinem Geschwätz sind zwar unter gewissen Zeitumständen Konzessionen zu machen, zugleich aber trete er mit dem Bewußtsein der Konzession und der eigentlichen Rechtlosigkeit auf, bescheiden
und gebeugt, ernsthaft und langweilig. Wenn Voltaire sagt: „tous les genres
sont bons, exceptö le genre ennuyeux"C9], so wird hier das ennuyante Genre
zum exklusiven, wie schon die Hinweisung auf „die Verhandlungen der
Rheinischen Landstände" zur Genüge beweist. Warum nicht lieber den
guten: alten deutschen Kurialstil? Frei sollt ihr schreiben, aber jedes Wort
sei zugleich öin Knicks: vor der liberalen Zensur, die eure ebenso ernsten als
bescheidenen Vota passieren läßt. Das Bewußtsein der Devotion verliert ja
nicht!
Der gesetzliche^ Ton liegt nicht auf der Wahrheit, sondern auf der Bescheidenheit und Ernsthaftigkeit. Also alles erregt Bedenken, die Ernsthaftigkeit, die Bescheidenheit und vor allem die Wahrheit, unter deren
unbestimmter Weite eine sehr bestimmte, sehr zweifelhafte Wahrheit verborgenscheint.
„Die Zensur", heißt es weiter in der Instruktion, „soll also keineswegs in einem
engherzigen, über dieses Gesetz hinausgehenden Sinn gehandhabt werden."
Unter diesem Gesetz ist zunächst der Art. 2 des Edikts von 1819 gemeint,
allein später verweist die Instruktion auf den „Geist" des Zensuredikts überhaupt. Beide Bestimmungen sind leicht zu vereinen. Der Art. 2 ist der konzentrierte Geist des Zensuredikts, dessen weitere Gliederung und Spezifikation
sich in den andern Artikeln findet. Wir glauben den zitierten Geist nicht
besser charakterisieren zu können als durch folgende Äußerungen desselben:
Art.VII. „Die der Akademie der Wissenschaften und den Universitäten bisher verliehene Zensurfreiheit wird auf fünf fahre hiermit suspendiert."
§ TO. „Der gegenwärtige einstweilige Beschluß soll, vom heutigen Tage an, fünf Jahre
in Wirksamkeit bleiben. Vor Ablauf dieser Zeit soll am Bundestage gründlich untersucht werden, auf welche Weise die im 18. Artikel der Bundesakte in Anregung gebrachten gleichförmigen Verfügungen über die Preßfreiheit in Erfüllung zu setzen sein möchten, und demnächst ein Definitivbeschluß über die rechtmäßigen Grenzen der Preßfreiheit in Deutschland erfolgen."
Ein Gesetz, welches die Preßfreiheit, wo sie noch existierte, suspendiert,
und wo sie zur Existenz gebracht werden sollte, durch die Zensur überflüssig
macht, kann nicht gerade ein der Presse günstiges genannt werden. Auch
gesteht § 10 geradezu, daß anstatt der im 18. Artikel der Bundesakte1-10-1 in
Anregung gebrachten und vielleicht einmal in Erfüllung zu setzenden Preßfreiheit provisorisch ein Zensurgesetz gegeben werde. Dies quid pro quo 1 verrät zum wenigsten, daß der Charakter der Zeit Beschränkungen der Presse
gebot, daß das Edikt dem Mißtrauen gegen die Presse seinen Ursprung verdankt. Diese Verstimmung wird sogar entschuldigt, indem sie als provisorisch, als nur für fünf Jahre geltend - leider hat sie 22 Jahre gewährt bezeichnet wird.
Schon die nächste Zeile der Instruktion zeigt uns, wie sie in den Widerspruch gerät, der einerseits die Zensur in keinem über das Edikt hinausgehenden Sinn gehandhabt wissen will und ihr zu gleicher Zeit dies Hinausgehen vorschreibt:
„Der Zensor kann eine freimütige Besprechung auch der innern Angelegenheiten
sehr wohl gestatten."
Der Zensor ^ann, er muß nicht, es ist keine Notwendigkeit, allein schon
dieser vorsichtige Liberalismus geht nicht nur über den Geist, sondern über
die bestimmten Forderungen des Zensuredikts sehr bestimmt hinaus. Das
alte Zensuredikt, und zwar der in der Instruktion zitierte Art. 2, gestattet
nicht nur keine freimütige Besprechung der preußischen, sondern nicht einmal der chinesischen Angelegenheiten.
„Hieher", nämlich zu den Verletzungen der Sicherheit des preußischen Staats und
der deutschen Bundesstaaten, wird kommentiert, „gehören alle Versuche, in irgendeinem Lande bestehende Parteien, welche am Umsturz der Verfassung arbeiten, in
einem günstigen Lichte darzustellen."
Ist auf diese Weise eine freimütige Besprechung der chinesischen oder
türkischen Landesangelegenheiten gestattet? Und wenn schon so entlegene
Beziehungen die irritable Sicherheit des deutschen Bundes gefährden, wie
nicht jedes mißbilligende. Wort überinnere Angelegenheiten?
Geht auf diese Weise die Instruktion nach der liberalen Seite hin über
den Geist des Art. 2 des Zensuredikts hinaus - ein Hinausgehen, dessen
Inhalt sich später ergeben wird, das aber formell schon insofern verdächtig
ist, als es sich zur Konsequenz des Art. 2 macht, von dem in der Instruktion
weislich nur die erste Hälfte zitiert, der Zensor aber zugleich auf den Artikel
1
Dieser Mißgriff
selbst angewiesen wird
so geht sie ebensosehr nach der illiberalen Seite hin
über das Zensuredikt hinaus und fügt neue Preßbeschränkungen zu den alten
hinzu.
In dem oben zitierten Art. 2 des Zensuredikts heißt es:
„Ihr Zweck" (der Zensur) „ist, demjenigen zu steuern, was den allgemeinen Grundsätzen der Religion, o h n e R ü c k s i c h t auf die Meinungen und Lehren einzelner Religionsparteien und im Staate geduldeter Sekten, zuwider ist."
Im Jahr 1819 herrschte noch der Rationalismus, welcher unter der Religion im allgemeinen die sogenannte Vernunftreligion verstand. Dieser rationalistische Standpunkt ist auch der Standpunkt des Zensuredikts, welches
allerdings so inkonsequent ist, sich auf den irreligiösen Standpunkt zu stellen,
während es die Religion zu schützen bezweckt. Es widerspricht nämlich
schon den allgemeinen Grundsätzen der Religion, ihre allgemeinen Grundsätze von ihrem positiven Inhalt und von ihrer Bestimmtheit zu trennen,
denn jede Religion glaubt sich von den andern besondern eingebildeten
Religionen eben durch ihr besonderes Wesen zu unterscheiden und eben
durch ihre Bestimmtheit die wahre Religion zu sein. Die neue Zensurinstruktion läßt in der Zitation des Art. 2 den beschränkenden Nachsatz aus, durch
welchen die einzelnen Religionsparteien und Sekten von der Inviolabilität
ausgeschlossen wurden, aber sie bleibt nicht hierbei stehen, sie liefert den
folgenden Kommentar:
„Alles, was wider die christliche Religion im allgemeinen oder wider einen bestimmten Lehrbegriff auf eine frivole, feindselige Art gerichtet ist, darf nicht geduldet
werden."
Das alte Zensuredikt erwähnt mit keinem Wort der christlichen Religion,
im Gegenteil, es unterscheidet die Religion von allen einzelnen Religionsparteien und Sekten. Die neue Zensurinstruktion verwandelt nicht nur Religion in christliche Religion, sondern fügt noch den bestimmten Lehrbegriff
hinzu. Köstliche Ausgeburt unsrer christlich gewordnen Wissenschaft! Wer
will noch leugnen, daß sie der Presse neue Fesseln geschmiedet hat? Die
Religion soll weder im allgemeinen noch im besondern angegriffen werden. Oder
glaubt ihr etwa, die Worte „frivol, feindselig" machten die neuen Ketten zu
Rosenketten? Wie geschickt geschrieben, frivol, feindseligl Das Adjektivum
frivol richtet sich an die Ehrbarkeit des Bürgers, es ist das exoterische Wort
an die Welt, aber das Adjektivum feindselig wird dem Zensor ins Ohr geflüstert, es ist die gesetzliche Interpretation der Frivolität. Wir werden in
dieser Instruktion noch mehrere Beispiele von diesem feinen Takte finden,
der ein subjektives, das Blut ins Gesicht treibendes Wort an das Publikum
und ein objektives, das Blut dem Schriftsteller aus dem Gesicht treibendes
Wort an den Zensor richtet.- Auf diese Weise kann man lettres de cachet*-11-1
in Musik setzen.
Und in welchen merkwürdigen Widerspruch verfängt sich die Zensurinstruktion! Nur der halbe Angriff, der sich an einzelnen Seiten der Erscheinung hält, ohne tief und ernst genug zu sein, um das Wesen der Sache
zu treffen, ist frivol, eben die Wendung gegen ein nur Besonderes als solches
ist frivol. Ist also der Angriff auf die christliche Religion ,im allgemeinen
verboten, so ist nur der frivole Angriff auf sie gestattet. Umgekehrt ist der
Angriff auf die allgemeinen Grundsätze der Religion, auf ihr Wesen, auf das
Besondere, insofern es Erscheinung des Wesens ist, ein feindseliger Angriff.
Die Religion kann nur auf eine feindselige oder frivole Weise angegriffen werden, ein Drittes gibt es nicht. Diese Inkonsequenz, in welche sich die Instruktion verfängt, ist allerdings nur ein Schein, denn sie ruht in dem Scheine;
als sollte überhaupt noch irgendein Angriff auf die Religion gestattet sein;
aber es bedarf nur eines unbefangenen Blickes, um diesen Schein als Schein
zu erkennen. Die Religion soll weder auf eine feindselige noch auf eine frivole
Weise, weder im allgemeinen noch im besondern, also gar nicht angegriffen
werden.
Doch wenn die Instruktion in offnem Widerspruch gegen das Zensuredikt von 1819 die philosophische Presse in neue Fesseln schlägt, so sollte , sie
wenigstens so konsequent sein, die religiöse Presse aus den alten Fesseln zu
befreien, in die jenes rationalistische Edikt sie geschlagen hat. Es macht
nämlich auch zum Zweck der Zensur:
„dem fanatischen Herüberziehen von religiösen Glaubenssätzen in' die Politik und
der dadurchentstehenden Begriffsverwirrung entgegenzutreten".
Die neue Instruktion ist zwar so klug, dieser Bestimmung in ihrem Kommentar nicht zu erwähnen, aber sie nimmt dieselbe nichtsdestoweniger in die
Zitation des Art. 2 auf: Was heißt fanatisches Herüberziehen von religiösen
Glaubenssätzen in die Politik? Es heißt, die religiösen Glaubenssätze ihrer
spezifischen Natur nach den Staat bestimmen lassen, es heißt,: das besondere
Wesen der Religion zum Maß des Staats machen. Das alte Zensuredikt konnte
mit Recht dieser Begriffsverwirrung entgegentreten, denn es gibt die besondere Religion, den bestimmten Inhalt derselben der Kritik anheim. Doch
das alte Edikt stützte sich auf den seichten, oberflächlichen, von euch selbst
verachteten Rationalismus. Ihr aber, die ihr den Staat auch im einzelnen auf
den Glauben und das Christentum stützt, die ihr einen christlichen Staat wollt,
wie könnt ihr noch der Zensur dieser Begriffsverwirrung vorzubeugen anempfehlen?
2 Marx/Engels, Werke. Bd. 1
Die Konfusion des politischen und christlich-religiösen Prinzips ist ja die
offizielle Konfession geworden. Diese Konfusion wollen wir mit einem Wort
klarmachen. Bloß von der christlichen als der anerkannten Religion zu reden,
so habt ihr in eurem Staate Katholiken und Protestanten. Beide machen
gleiche Ansprüche an den Staat, wie sie gleiche Pflichten gegen ihn haben. Sie
sehen ab von ihren religiösen Differenzen und verlangen auf gleiche Weise,
daß der Staat die Verwirklichung der politischen und rechtlichen Vernunft
sei. Ihr aber wollt einen christlichen Staat. Ist euer Staat nur latherischchristlich, so wird er dem Katholiken zu einer Kirche, der er nicht angehört,
die er als ketzerisch verwerfen muß, deren innerstes Wesen ihm widerspricht.
Umgekehrt verhält es sich ebenso, oder macht ihr den allgemeinen Geist des
Christentums zum besondern Geist eures Staates, so entscheidet ihr doch aus
eurer protestantischen Bildung heraus, was der allgemeine Geist des Christentums sei. Ihr bestimmt, was christlicher Staat sei, obgleich euch die letzte
Zeit gelehrt hat, daß einzelne Regierungsbeamte die Grenzen zwischen Religion und Welt, zwischen Staat und Kirche nicht ziehen können. Nicht
Zensoren, sondern Diplomaten hatten über diese Begriffsverwirrung nicht zu
entscheiden, sondern zu unterhandeln.1121 Endlich stellt ihr euch auf den
ketzerischen Standpunkt, wenn ihr das bestimmte Dogma als unwesentlich
verwerft. Nennt ihr euren Staat allgemein christlich, so bekennt ihr mit einer
diplomatischen Wendung, daß er unchristlich sei. Also verbietet entweder,
die Religion überhaupt in die Politik zu ziehen - aber das wollt ihr nicht,
denn ihr wollt den Staat nicht auf freie Vernunft, sondern auf den Glauben
stützen, die Religion gilt euch als die allgemeine Sanktion des Positiven - , oder
erlaubt auch das fanatische Herüberziehen der Religion in die Politik. Laßt
sie auf ihre Weise politisieren, aber das wollt ihr wieder nicht: die Religion
soll die Weltlichkeit stützen, ohne daß sich die Weltlichkeit der Religion
unterwirft. Zieht ihr die Religion einmal in die Politik, so ist es eine untrügliche, ja eine irreligiöse Anmaßung, weltlich bestimmen zu wollen, wie die
Religion innerhalb der Politik aufzutreten habe. Wer sich mit der Religion
verbünden will aus Religiosität, muß ihr in allen Fragen die entscheidende
Stimme einräumen, oder versteht ihr vielleicht unter Religion den Kultus
eurer eignen Unumschränktheit und Regierungsweisheit ?
Noch auf andre Weise gerät die Rechtgläubigkeit der neuen Zensurinstruktion in Konflikt mit dem Rationalismus des alten Zensuredikts. Dieses subsumiert unter den Zweck der Zensur auch die Unterdrückung dessen, „was
die Moral und guten Sitten beleidigt". Die Instruktion führt diesen Passus
als Zitat aus dem Art. 2 an. Allein, wenn ihr Kommentar in bezug auf die
Religion Zusätze machte, so enthält er Weglassungen in bezug auf die Moral.
Aus der Beleidigung der Moral und der guten Sitten wird eine Verletzung
von „Zucht und Sitte und äußrer Anständigkeit". Man sieht: die Moral als
Moral, als Prinzip einer Welt, die eignen Gesetzen gehorcht, verschwindet,
und an die Stelle des Wesens treten äußerliche Erscheinungen, die polizeiliehe Ehrbarkeit, der konventionelle Anstand. Ehre, dem Ehre gebührt, hier
erkennen wir wahre Konsequenz.: Der spezifisch christliche Gesetzgeber
kann die Moral als in sich selbst geheiligte unabhängige Sphäre nicht anerkennen, denn ihr inneres allgemeines Wesen vindiziert er der Religion. Die
unabhängige Moral beleidigt die allgemeinen Grundsätze der Religion, und
die besondern Begriffe der Religion sind der Moral zuwider. Die Moral erkennt nur ihre eigne allgemeine und vernünftige Religion und die Religion
nur ihre besondre positive Moral. Die Zensur wird also nach dieser Instruktion die intellektuellen Heroen der Moral, wie etwa Kant, Fichte, Spinoza,
als irreligiös, als die Zucht, die Sitte, die äußre Anständigkeit verletzend,
verwerfen müssen. Alle diese Moralisten gehen von einem prinzipiellen
Widerspruch zwischen Moral und Religion aus, denn die Moral ruhe auf der
Autonomie, die Religion auf der Heteronomie des menschlichen Geistes. Von
diesen unerwünschten Neuerungen der Zensur - einerseits der Erschlaffung
ihres moralischen, andrerseits der rigurösen Schärfung ihres religiösen Gewissens - wenden wir uns zu dem Erfreulicheren, zu den Konzessionen.
Es „folgt insbesondere, daß Schriften, in denen die Staatsverwaltung im ganzen
oder in einzelnen Zweigen gewürdigt, erlassene öder noch zu erlassende Gesetze nach
ihrem innern Werte geprüft, Fehler und Mißgriffe aufgedeckt, Verbesserungen angedeutet oder in Vorschlag gebracht werden, um deswillen, weil sie in einem andern
Sinne als dem der Regierung geschrieben, nicht zu verwerfen sind, wenn nur ihre
Fassung anständig und ihre Tendenz wohlmeinend ist".
Bescheidenheit und Ernsthaftigkeit der Untersuchung. Diese Forderung
teilt die neue Instruktion mit dem Zensuredikt, allein ihr genügt die anständige Fassung ebensowenig wie die Wahrheit des Inhalts. Die T e n d e n z wird
ihr zum Hauptkriterium, ja sie ist ihr durchgehender Gedanke, während in
dem Edikt selbst nicht einmal das Wort Tendenz zu finden ist. Worin sie
bestehe, sagt auch die neue Instruktion nicht; wie wichtig ihr aber die Tendenz sei, möge noch folgender Auszug beweisen:
„Es ist dabei eine unerläßliche Voraussetzung, daß die Tendenz der gegen die Maßregeln der Regierung ausgesprochenen Erinnerungen nicht gehässig und böswillig,
sondern wohlmeinend sei, und es muß Von dem Zensor der gute Wille und die Einsicht verlangt werden, daß er zu unterscheiden wisse, wo das eine und das andre der
Fall ist. Mit Rücksicht hierauf haben die Zensoren ihre Aufmerksamkeit auch besonders auf die Form und den T o n der Sprache der Druckschriften zu richten und, inso-
fern durch Leidenschaftlichkeit, Heftigkeit und Anmaßung ihre Tendenz sich als eine
verderbliche darstellt, deren Druck nicht zu gestatten."
Der Schriftsteller ist also dem furchtbarsten Terrorismus, der Jurisdiktion
des Verdachts anheimgefallen. Tendenzgesetze, Gesetze, die keine objektiven
Normen geben, sind Gesetze des Terrörismus, wie sie die Not des Staats
unter Robespierre und die Verdorbenheit des Staats unter den römischen
Kaisern erfunden hat. Gesetze, die nicht die Handlung als solche, sondern die
Gesinnung des Handelnden zu ihren Hauptkriterien machen, sind nichts als
positive Sanktionen der Gesetzlosigkeit. Lieber wie jener Zar von Rußland1
jedem den Bart durch offizielle Kosaken abscheren lassen, als die Meinung,
in der ich den Bart trage, zum Kriterium des Scherens machen.
Nur insofern ich mich äußere, in die Sphäre des Wirklichen trete, trete
ich in die Sphäre des Gesetzgebers. Für das Gesetz bin ich gar nicht vorhanden; gar kein Objekt desselben, außer in meiner Tat. Sie ist das einzige,
woran mich das Gesetz zu halten hat; denn sie ist das einzige, wofür ich ein
Recht! der Existenz verlange, ein Recht der Wirklichkeit, wodurch ich also
auch dem wirklichen Recht anheimfalle. Allein das Tendenzgesetz bestraft
nicht allein das, was ich tue, sondern das, was ich außer der Tat meine. Es ist
also'ein Insult auf die Ehre des Staatsbürgers, ein Vexiergesetz gegen meine
Existenz.
Ich kann mich drehen und wenden, wie ich will, es kommt auf den Tatbestand nicht an. Meine Existenz ist verdächtig, mein innerstes Wesen,
meine Individualität wird als eine schlechte betrachtet, und für diese Meinung
werde ich bestraft. Das Gesetz straft mich nicht für das Unrecht, was ich
tue, sondern für das Unrecht, was ich nicht tue. Ich werde eigentlich dafür
gestraft, daß meine Handlung nicht gesetzwidrig ist, denn nur dadurch
zwinge ich den milden, wohlmeinenden Richter, an meine schlechte Gesinnung, die so klug ist, nicht ans Tageslicht zu treten, sich zu halten.
Das Gesinnungsgesetz ist kein Gesetz des Staates für die Staatsbürger, sondern das Gesetz einer Partei gegen eine andre Partei. Das Tendenzgesetz hebt
die Gleichheit der Staatsbürger vor dem Gesetze auf. Es ist ein Gesetz der
Scheidung, nicht der Einung, und alle Gesetze der Scheidung sind reaktionär. Es ist kein Gesetz, sondern ein Privilegium. Der eine darf tun, was
der andre nicht tun darf, nicht, weil diesem etwa eine objektive Eigenschaft
fehlte, wie dem Kind zum Kontrahieren von Verträgen, nein, weil seine
gute Meinung, seine Gesinnung verdächtig ist. Der sittliche Staat unterstellt
in seinen Gliedern die Gesinnung des Staats, sollten sie auch in Opposition
1
Peter I.
gegen ein Staatsorgan, gegen die Regierung treten; aber die Gesellschaft, in
der ein Organ sich alleiniger, exklusiver Besitzer der Staatsvernunft und
Staatssittlichkeit dünkt, eine Regierung, die sich in prinzipiellen Gegensatz
gegen das Volk setzt und daher ihre staatswidrige Gesinnung für die allgemeine,
für die normale Gesinnung hält, das üble Gewissen der Faktiori erfindet
Tendenzgesetze, Gesetze der Rache, gegen eine Gesinnung, die nur in den
Regierungsgliedern selbst ihren Sitz hat. Gesinnungsgesetze basieren auf
der Gesinnungslosigkeit, auf der unsittlichen, materiellen Ansicht vom
Staat. Sie sind ein indiskreter Schrei des bösen Gewissens. Und wie ist ein
Gesetz der Art zu exekutieren? Durch ein Mittel, empörender als das Gesetz
selbst, durch Spione, oder durch vorherige Übereinkunft, ganze literarische
Richtungen für verdächtig zu halten, wobei allerdings wieder auszukundschaften bleibt, welcher Richtung ein Individuum angehöre. Wie im Tendenzgesetz die gesetzliche Form dem Inhalt widerspricht, wie die Regierung,
die es gibt, gegen das eifert, was sie selbst ist, gegen die staatswidrige Gesinnung, so bildet sie auch im besondern gleichsam die verkehrte Welt zu
ihren Gesetzen, denn sie mißt mit doppeltem Maß. Nach der einen Seite ist
Recht, was das Unrecht der andern Seite ist. Ihre Gesetze schon sind das
Gegenteil von dem, was sie zum Gesetz machen.
In dieser Dialektik verfängt sich auch die neue Zensurinstruktion. Sie ist
der Widerspruch, alles das auszuüben und den Zensoren zur Pflicht zu machen, was sie an der Presse als staatswidrig verdammt.
So verbietet die Instruktion den Schriftstellern, die Gesinnung einzelner
oder ganzer Klassen zu verdächtigen, und in einem Atem gebietet sie dem
Zensor, alle Staatsbürger in verdächtige und unverdächtige einzuteilen, in
wohlmeinende und übelmeinende. Die der Presse entzogene Kritik wird zur
täglichen Pflicht des Regierungskritikers; allein bei dieser Umkehrung hat
es nicht einmal sein Bewenden. Innerhalb der Presse erschien das Staatswidrige seinem Gehalte nach als ein Besonderes, nach der Seite seiner Form
war es allgemein, d. h. dem allgemeinen Urteil preisgegeben.
Allein nun dreht sich die Sache um. Das Besondere erscheint jetzt in bezug
auf seinen Inhalt als das Berechtigte, das Staatswidrige als Meinung des
Staats, als Staatsrecht, in bezug auf seine Form als Besonderes, unzugänglich
dem allgemeinen Licht, aus dem freien Tag der Öffentlichkeit in die Aktenstube des Regierungskritikers verbannt. So will die Instruktion die Religion
beschützen, aber sie verletzt den allgemeinsten Grundsatz aller Religionen,
die Heiligkeit und Unverletzlichkeit der subjektiven Gesinnung. Sie macht
den Zensor an Gottes Statt zum Richter des Herzens. So untersagt sie beleidigende Äußerungen und ehrenkränkende Urteile über einzelne Personen,
aber sie setzt euch jeden Tag dem ehrenkränkenden und beleidigenden Urteil
desZensors aus. So will die Instruktiondievon den übelwollenden oder schlecht
unterrichteten Individuen herrührenden Klatschereien unterdrücken, und
sie zwingt den Zensor, sich auf solche Klatschereien, auf das Spionieren
durch schlecht unterrichtete und übelwollende Individuen zu verlassen und
zu verlegen, indem sie das Urteil aus der Sphäre des objektiven Gehalts in
die Sphäre der subjektiven Meinung und Willkür herabzieht. So soll die
Absicht des Staats nicht verdächtigt werden, aber die Instruktion geht vom
Verdacht gegen den Staat aus. So soll unter gutem Schein keine schlechte
Gesinnung verborgen werden, aber die Instruktion selbst ruht auf einem
falschen Schein. So soll das Nationalgefühl erhöht werden, und auf eine die
Nationen erniedrigende Ansicht wird basiert. Man verlangt gesetzmäßiges
Betragen und Achtung vor dem Gesetze, aber zugleich sollen wir Institutionen ehren, die uns gesetzlos machen und die Willkür an die Stelle des
Rechts setzen. Wir sollen das Prinzip der Persönlichkeit so sehr anerkennen,
daß wir trotz dem mangelhaften Institut der Zensur dem Zensor vertrauen,
und ihr verletzt das Prinzip der Persönlichkeit so sehr, daß ihr sie nicht nach
den Handlungen, sondern nach der Meinung von der Meinung ihrer Handlungen richten laßt. Ihr fordert Bescheidenheit, und ihr geht von der enormen
Unbescheidenheit aus, einzelne Staatsdiener zum Herzensspäher, zum Allwissenden, zum Philosophen, Theologen, Politiker, zum delphischen Apollo
zu ernennen. Ihr macht uns einerseits die Anerkennung der Unbescheidenheit zur Pflicht und verbietet uns andrerseits die Unbescheidenheit. Die
eigentliche Unbescheidenheit besteht darin, die Vollendung der Gattung
besondern Individuen zuzuschreiben. Der Zensor ist ein besonderes Individuum, aber die Presse ergänzt sich zur Gattung. Uns befehlt ihr Vertrauen,
und dem Mißtrauen leiht ihr gesetzliche Kraft. Ihr traut euren Staatsinstitutionen so viel zu, daß sie den schwachen Sterblichen, den Beamten, zum Heiligen und ihm das Unmögliche möglich machen werden. Aber ihr mißtraut
eurem Staatsorganismus so sehr, daß ihr die isolierte Meinung eines Privatmanns fürchtet; denn ihr behandelt die Presse als einen Privatmann. Von den
Beamten unterstellt ihr, daß sie ganz unpersönlich, ohne Groll, Leidenschaft,
Borniertheit und menschliche Schwäche verfahren werden. Aber das Unpersönliche, die Ideen, verdächtigt ihr, voller persönlicher Ränke und subjektiver Niederträchtigkeit zu sein. Die Instruktion verlangt unbegrenztes
Vertrauen auf den Stand der Beamteten, und sie geht von unbegrenztem
Mißtrauen gegen den Stand der Nichtbeamteten aus. Warum sollen wir
nicht Gleiches mit Gleichem vergelten? Warum soll uns nicht eben dieser
Stand das Verdächtige sein? Ebenso der Charakter. Und von vornherein
muß der Unbefangene dem Charakter des öffentlichen Kritikers mehr Achtung zollen als dem Charakter des geheimen.
Was überhaupt schlecht ist, bleibt schlecht, welches Individuum der
Träger dieser Schlechtigkeit sei, ob ein Privatkritiker oder ein von der Regierung angestellter, nur daß im letztern Fall die Schlechtigkeit autorisiert
und als eine Notwendigkeit von oben betrachtet wird, um das Gute von
unten zu verwirklichen.
Die Zensur der Tendenz und die Tendenz der Zensur sind ein Geschenk der
neuen liberalen Instruktion. Niemand wird uns verdenken, wenn wir mit einem
gewissen Mißtrauen zu ihren weitern Bestimmungen uns hinwenden.
„Beleidigende Äußerungen und ehrenkränkende Urteile über einzelne Personen
sind nicht zum Druck geeignet."
Nicht zum Druck geeignet! Statt dieser Milde wäre zu wünschen, daß das
beleidigende und ehrenkränkende Urteil objektive Bestimmungen erhalten
hätte.
„Dasselbe gilt von der Verdächtigung der Gesinnung einzelner oder" (inhaltsschweres Oder) „ganzer Klassen, vom Gebrauch von Parteinamen und dergleichen Persönlichkeiten."
Also auch die Rubrizierung unter Kategorien, der Angriff auf ganze
Klassen, der Gebrauch von Parteinamen - und der Mensch muß allem wie
Adam einen Namen geben, damit es für ihn vorhanden sei - , Parteinamen
sind notwendige Kategorien für die politische Presse,
„Weil jede Krankheit zuvörderst, wie Doktor Sassafras meint,
Um glücklich sie kurieren zu können,
Benamset werden muß."1-13-1
Dies alles gehört zu den Persönlichkeiten. Wie soll man es nun anfangen?
Die Person des einzelnen darf man nicht angreifen, die Klasse, das Allgemeine,
die moralische Person ebensowenig. Der Staat will - und da hat er recht keine Injurien dulden, keine Persönlichkeiten; aber durch ein leichtes „oder"
wird das Allgemeine auch unter die Persönlichkeiten subsumiert. Durch das
„oder" kommt das Allgemeine in die Mitte, und durch ein kleines „und"
erfahren wir schließlich, daß nur von Persönlichkeiten die Rede gewesen. Als
eine ganz spielende Konsequenz aber ergibt sich, daß alle Kontrolle der Beamten wie solcher Institutionen, die als eine Klasse von Individuen existieren,
der Presse untersagt wird.
„Wird die Zensur nach diesen Andeutungen in dem Geiste des Zensuredikts vom
18. Oktober 1819 ausgeübt, so wird einer anständigen und freimütigen Publizität hinreichender Spielraum gewährt, und es ist zu erwarten, daß dadurch eine größere Teilnahme an vaterländischen Interessen erweckt und so das Nationalgefühl erhöht werden wird."
Daß nach diesen Andeutungen der anständigen, im Sinne der Zensur
anständigen, Publizität ein mehr als hinreichender Spielraum gewährt sei auch das Wort Spielraum ist glücklich gewählt, denn der Raum ist für eine
spielende, an Luftsprüngen sich genügende Presse berechnet - , gestehen wir
zu; ob für eine freimütige Publizität, und wo ihr der freie Mut sitzen soll, überlassen wir dem Scharfblick des Lesers. Was die Erwartungen der Instruktion
betrifft, so mag allerdings das Nationalgefühl in der Weise erhöht werden,
wie die zugesandte Schnur das Gefühl der türkischen Nationalität erhöht; ob
aber gerade die ebenso bescheidene als ernsthafte Presse Teilnahme an den
vaterländischen Interessen erwecken wird, überlassen wir ihr selbst; eine
magere Presse ist nicht mit China aufzufüttern. Allein vielleicht haben wir die
angeführte Periode zu ernsthaft begriffen. Vielleicht treffen wir besser den
Sinn, wenn wir sie als bloßen Haken in der Rosenkette betrachten. Vielleicht
hält dieser liberale Haken eine Perle von sehr zweideutigem Wert. Sehen wir
zu. Auf den Zusammenhang kommt alles an. Die Erhöhung des Nationalgefühls und die Erwecküng der Teilnahme an vaterländischen Interessen, die
in dem angeführten obligaten Passus als Erwartung ausgesprochen werden,
verwandeln sich unter der Hand in einen Befehl, in dessen Munde ein neuer
Preßzwang unsrer armen schwindsüchtigen Tagesblätter liegt.
„Auf diesem Weg darf man hoffen, daß auch die politische Literatur und die
Tagespresse ihre Bestimmung besser erkennen, mit dem Gewinn eines reichern
Stoffes auch einen würdigern T o n sich aneignen und es künftig verschmähen werden,
durch Mitteilung gehaltloser, aus fremden Zeitungen entlehnter, von übelwollenden
oder schlecht unterrichteten Korrespondenten herrührender Tagesneuigkeiten, durch
Klatschereien und Persönlichkeiten auf die Neugierde ihrer Leser zu spekulieren eine Richtung, gegen welche einzuschreiten die Zensur den unzweifelhaften Beruf
hat."
Auf dem angegebenen Weg wird gehofft, daß die politische Literatur und
Tagespresse ihre Bestimmung besser erkennen werden etc. Allein die
bessere Erkenntnis läßt sich nicht anbefehlen; auch ist sie eine erst noch zu
erwartende Frucht, und Hoffnung ist Hoffnung. Die Instruktion aber ist viel
zu praktisch, um sich mit Hoffnungen und frommen Wünschen zu begnügen.
Während der Presse die Hoffnung ihrer künftigen Besserung als neues Soulagement gewährt wird, wird ihr zugleich von der gütigen Instruktion ein gegenwärtiges Recht genommen. Sie verliert, was sie noch hat, die Hoffnung ihrer
Besserung. Es geht ihr wie dem armen Sancho Pansa, dem sein Hofarzt alle
Speise vor seinen Augen entzog, damit kein verdorbener Magen ihn zur Erfüllung der vom Herzog auferlegten Pflichten untüchtig mache.114-1
Zugleich dürfen wir die Gelegenheit nicht vorbeigehen lassen, den preußischen Schriftsteller zur Aneignung dieser Art von anständigem Stil aufzufordern. Im Vordersatz heißt es: „Auf diesem Wege darf man hoffen, daß."
Von diesem daßwird eine ganze Reihe von Bestimmungen regiert, also, daß
die politische; Literatur und die Tagespresse ihre Bestimmung besser erkennen, daß sie einen würdigem Ton, etc. etc., daß sie Mitteilungen gehaltloser, au9 fremden Zeitungen entlehnter Korrespondenzen etc. verschmähen
werden. Alle diese Bestimmungen stehen noch unter dem Regiment der Hoffnung; aber der Schluß, der sich durch einen Gedankenstrich an das Vorhergehende anschließt: „eine Richtung, gegen welche einzuschreiten die Zensur
den unzweifelhaften Beruf hat", überhebt den Zensor der langweiligen Aufgabe, die gehoffte Besserung der Tagespresse abzuwarten, und ermächtigt ihn
vielmehr, daß Mißfällige ohne weiteres wegzustreichen. An die Stelle der
innern Kur istdie Amputation getreten.
„Damit diesem Ziele nähergetreten werde, ist es aber erforderlich, daß bei G e nehmigung neuer Zeitschriften und neuer Redakteure mit großer Vorsicht verfahren
werde, damit die Tagespresse nur völlig unbescholtenen Männern anvertraut werde,
deren wissenschaftliche Befähigung, Stellung und Charakter für den Ernst ihrer Bestrebungen und für die Loyalität ihrer Denkungsart Bürgschaft leisten."
Ehe wir auf das einzelne eingehen, zuvor eine allgemeine Bemerkung. Die
Genehmigung neuer Redakteure, also überhaupt der künftigen Redakteure,
ist ganz der „großen Vorsicht", versteht sich der Staatsbehörden, der Zensur
anheimgestellt, während das alte Zensuredikt wenigstens unter gewissen
Garantien die Wahl des Redakteurs dem Belieben des Unternehmers überließ:
„Art. 9. Die Oberzensurbehörde ist berechtigt, dem Unternehmer einer Zeitung zuerklären, daß der angegebene Redakteur nicht von der Art sei, das nötige Z u trauen einzuflößen, in welchem Falle der Unternehmer verpflichtet ist, entweder
einen andern Redakteur anzunehmen oder, wenn er den ernannten beibehalten will, für
ihn eine von unsern oben erwähnten Staatsministerien auf den Vorschlag gedachter
Oberzensurbehörde zu bestimmende Kaution zu leisten."
In der neuen Zensurinstruktion spricht sich eine ganz andere Tiefe, man
kann sagen Romantik des Geistes aus. Während das alte Zensuredikt äußerliche, prosaische, daher gesetzlich bestimmbare Kautionen verlangt, unter
deren Garantie auch der mißliebige Redakteur zuzulassen sei, nimmt dagegen
die Instruktion dem Unternehmer einer Zeitschrift jeden Eigenwillen und verweist die vorbeugende Klugheit der Regierung, die große Vorsicht und den
geistigen Tiefsinn der Behörden auf innere, subjektive, äußerlich unbestimmbare Qualitäten. Wenn aber die Unbestimmtheit, die zartsinnige Innerlichkeit
und die subjektive Überschwenglichkeit der Romantik in das rein Äußerliche
umschlägt, nur in dem Sinn, daß die äußerliche Zufälligkeit nicht mehr in ihrer
prosaischen Bestimmtheit und Begrenzung, sondern in einer wunderbaren
Glorie, in einer eingebildeten Tiefe und Herrlichkeit erscheint, so wird auch
die Instruktion diesem romantischen Schicksal schwerlich entgehen können.
Die Redakteure der Tagespresse, unter welche Kategorie die ganze Journalistik fällt, sollen völlig unbescholtene Männer sein. Als Garantie dieser
völligen Unbescholtenheit wird zunächst die „wissenschaftliche Befähigung"
angegeben. Nicht der leiseste Zweifel steigt auf, ob der Zensor die wissenschaftliche Befähigung besitzen kann, über wissenschaftliche Befähigung jeder
Art ein Urteil zu besitzen. Lebt in Preußen eine solche Schar der Regierung
bekannter Universalgenies - jede Stadt hat wenigstens einen Zensor warum
treten diese enzyklopädistischen Köpfe nicht als Schriftsteller auf? Besser als
durch die Zensur könnte den Verwirrungen der Presse ein Ende gemacht
werden, wenn diese Beamten, übermächtig durch ihre Anzahl, mächtiger
durch ihre Wissenschaft und ihr Genie, auf einmal sich erhöben und mit
ihrem Gewicht jene elenden Schriftsteller erdrückten, die nur in einem Genre,
aber selbst in diesem einen Genre ohne offiziell erprobte Befähigung agieren.
Warum schweigen diese gewiegten Männer, die wie die römischen Gänse
durch ihr Geschnatter das Kapitol retten könnten? Es sind Männer von zu
großer Zurückhaltung. Das wissenschaftliche Publikum kennt sie nicht, aber
die Regierung kennt sie.
Und wenn jene Männer schon Männer sind, wie sie kein Staat zu finden
wußte, denn nie hat ein Staat ganze Klassen gekannt, die nur von Universalgenies und Polyhistoren eingenommen werden können, um wieviel genialer
müssen noch die Wähler dieser Männer sein! Welche geheime Wissenschaft
müssen sie besitzen, um Beamten, die in der Republik der Wissenschaft unbekannt sind, ein Attest über ihre universalwissenschaftliche Befähigung ausstellen zu können! Je höher wir steigen in dieser Bürokratie der Intelligenz,
um so wundervollere Köpfe begegnen uns. Ein Staat, der solche Säulen einer
vollendeten Presse besitzt, lohnt es dem der Mühe, handelt der zweckmäßig,
diese Männer zu Wächtern einer mangelhaften Presse zu machen, das Vollendete zum Mittel für das Unvollendete herabzusetzen?
So viele dieser Zensoren ihr anstellt, so viele Chancen der Besserung entzieht ihr dem Reich der Presse. Ihr entzieht eurem Heer die Gesunden, um sie
zu Ärzten der Ungesunden zu machen.
Stampft nur auf den Boden wie Pompejus, und aus jedem Regierungsgebäude wird eine geharnischte Pallas Athene hervorspringen. Vor der offiziellen Presse wird die seichte Tagespresse in ihr Nichts zerfallen. Die Existenz
des Lichts reicht hin, die Finsternis zu.widerlegen. Laßt euer Licht leuchten,
und stellt es nicht unter den Scheffel. Statt einer mangelhaften Zensur, deren
Vollgültigkeit euch selbst problematisch dünkt, gebt uns eine vollendete
Presse, die ihr nur zu befehlen habt, deren Vorbild der chinesische Staat schon
seit Jahrhunderten liefert.
Doch die wissenschaftliche Befähigung zur einzigen, zur notwendigen Bedingung für die Schriftsteller der Tagespresse machen, ist das nicht eine Bestimmung des Geistes, keine Begünstigung des Privilegiums, keine konventionelle Forderung, ist das nicht eine Bedingung der Sache, keine Bedingung
der Person?
Leider unterbricht die Zensurinstruktion unsre Panegyrik. Neben der
Bürgschaft der wissenschaftlichen Befähigung findet sich die der Stellung und
des Charakters. Stellung und Charakter!
Der Charakter, der so unmittelbar der Stellung folgt, scheint beinahe ein
bloßer Ausfluß derselben zu sein. Die Stellung laßt uns vor allem ins Auge
fassen. Sie steht so eingeengt zwischen der wissenschaftlichen Befähigung und
dem Charakter, daß man beinahe versucht wird, an ihrem guten Gewissen zu
zweifeln.
Die allgemeine Forderung der wissenschaftlichen Befähigung, wie liberall
Die besondere Forderung der Stellung, wie illiberall Die wissenschaftliche
Befähigung und die Stellung zusammen, wie Scheinliberale. Da wissenschaftliche Befähigung und Charakter sehr unbestimmt, die Stellung dagegen sehr
bestimmt ist, warum sollten wir nicht schließen, daß das Unbestimmte nach
notwendigem logischen Gesetze sich an das Bestimmte anlehnen und an ihm
Halt und Inhalt erhalten werde? Wäre es also ein großer Fehlschluß des
Zensors, wenn er die Instruktion so auslegte, die äußere Form der wissenschaftlichen Befähigung und des Charakters, in der Welt aufzutreten, sei die
Stellung, um so mehr, da sein eigner Stand ihm diese Ansicht als Staatsansicht verbürgt? Ohne diese Auslegung bleibt es wenigstens völlig unbegreiflich, warum wissenschaftliche Befähigung und Charakter nicht hinreichende Bürgschaften des Schriftstellers sind, warum die Stellung das notwendige Dritte ist. Käme der Zensor nun gar in Konflikt, fänden sich diese
Bürgschaften selten oder nie zusammen, wohin soll seine Wahl fallen, da einmal gewählt werden, da doch irgendwer Zeitungen und Journale redigieren
muß? Die wissenschaftliche Befähigung und der Charakter ohne Stellung
können dem Zensor ihrer Unbestimmtheit wegen problematisch sein, wie es
überhaupt seine gerechte Verwunderung erregen muß, daß solche Qualitäten
getrennt von der Stellung existieren. Darf dagegen der Zensor den Charakter,
die Wissenschaft bezweifeln, wo die Stellung vorhanden ist? Er traute in
diesem Fall dem Staat weniger Urteil zu als sich selbst, während er in dem
entgegengesetzten dem Schriftsteller mehr als dem Staat zutraute. Sollte ein
Zensor so taktlos, so übelmeinend sein? Es steht gewiß nicht zu erwarten und
wird gewiß nicht erwartet. Die Stellung, weil sie im Zweifelsfall das entscheidende Kriterium ist, ist überhaupt das absolut Entscheidende.
Wie also früher die Instruktion durch ihre Rechtgläubigkeit mit dem Zensuredikt in Konflikt gerät, so jetzt durch ihre Romantik, die immer zugleich
Tendenzpoesie ist. Aus der Geldkaution, die eine prosaische, eigentliche Bürgschaft ist, wird eine ideelle, und diese ideelle verwandelt sich in die ganz reelle
und individuelle Stellung, die eine magisch fingierte Bedeutung erhält. Ebenso verwandelt sich die Bedeutung der Bürgschaft. Nicht mehr der Unternehmer wählt einen Redakteur, für den er der Behörde bürgt, sondern die
Behörde wählt ihm einen Redakteur, für den sie sich bei sich selbst verbürgt.
Das alte Edikt erwartet die Arbeiten des Redakteurs, für welche die Geldkaution des Unternehmers einsteht. Die Instruktion hält sich nicht an die
Arbeit, sondern an die Person des Redakteurs. Sie verlangt eine bestimmte
persönliche Individualität, die ihr das Geld des Unternehmens verschaffen soll.
Die neue Instruktion ist ebenso äußerlich als das alte Edikt; aber statt daß
dieses das prosaisch Bestimmte seiner Natur gemäß ausspricht und begrenzt,
leiht sie der äußersten Zufälligkeit einen imaginären Geist und spricht das
bloß Individuelle mit dem Pathos der Allgemeinheit aus.
Wenn aber die romantische Instruktion in bezug auf den Redakteur der
äußerlichsten Bestimmtheit den Ton der gemütvollsten Unbestimmtheit gibt,
so gibt sie in bezug auf den Zensor der vagsten Unbestimmtheit den Ton der
gesetzlichen Bestimmtheit.
„Mit gleicher Vorsicht muß bei Ernennung der Zensoren verfahren werden, damit
das Zensoramt nur Männern von erprobter Gesinnung und Fähigkeit übertragen
werde, die dem ehrenvollen Vertrauen, welches dasselbe voraussetzt, vollständig entsprechen; Männern, welche, wohldenkend und scharfsichtig zugleich, die Form von
dem Wesen der Sache zu sondern verstehen und mit sicherm Takt sich über Bedenken
hinwegzusetzen wissen, wo Sinn und Tendenz einer Schrift an sich diese Bedenken
nicht rechtfertigen."
An die Stelle der Stellung und des Charakters beim Schriftsteller tritt hier
die erprobte Gesinnung, da die Stellung von selbst gegeben ist. Bedeutender
ist dies, wenn bei dem Schriftsteller wissenschaftliche Befähigung, bei dem
Zensor Fähigkeit ohne weitere Bestimmung gefordert wird. Das alte, die
Politik ausgenommen, rationalistisch gesinnte Edikt erfordert in Art. 3
„Wissenschaftlichgebildete" und sogar „ a u f g e k l ä r t e " Zensoren. Beide Prädikate fallen in der Instruktion fort, und an die Stelle der Befähigung des
Schriftstellers, die eine bestimmte, ausgebildete, zur Wirklichkeit gewordene
Fähigkeit bedeutet, tritt bei dem Zensor die Anlage der Befähigung, die Fähigkeit überhaupt. Also die Anlage der Fähigkeit soll die wirkliche Befähigung
zensieren, wie sehr auch der Natur der Sache nach offenbar das Verhältnis
umzukehren ist. Nur im Vorbeigehen bemerken wir endlich, daß die Fähigkeit des Zensors dem sachlichen Inhalt nach nicht näher bestimmt ist, wodurch
ihr Charakter allerdings zweideutig wird.
Das Zensoramt soll ferner Männern übertragen werden, „die dem ehrenvollen Vertrauen, welches dasselbe erfordert, Vollkommen entsprechen". Diese
pleonastische Scheinbestimmung, Männer zu einem Amt zu wählen, denen
man vertraut, daß sie dem ehrenvollen Vertrauen, welches ihnen geschenkt
wird, vollständig entsprechen (werden?), ein allerdings sehr vollständiges Vertrauen - ist nicht weiter zu erörtern.
E n d l i c h sollen die Z e n s o r e n M ä n n e r sein,
„welche, wohldenkend und scharfsichtig zugleich, die Form von dem Wesen der Sache
zu sondern verstehen und mit sichern Takte sich über Bedenken hinwegzusetzen wissen,
w o Sinn und Tendenz einer Schrift an sich diese Bedenken nicht rechtfertigen".
Mehr oben dagegen schreibt die Instruktion vor:
„Mit Rücksicht hierauf" (nämlich die Untersuchung der Tendenz) „haben die
Zensoren ihre Aufmerksamkeit auch besonders auf die Form und den Ton der Sprache
der Druckschriften zu richten und, insofern durch Leidenschaftlichkeit, Heftigkeit und
Anmaßung ihre Tendenz sich als eine verderbliche darstellt, deren Druck nicht zu
gestatten."
Einmal also soll der Zensor die Tendenz aus der Form, das andere Mal die
Form aus der Tendenz beurteilen. War vorhin schon der Inhalt ganz verschwunden als Kriterium des Zensierens, so verschwindet jetzt auch die
Form. Wenn nur dieTendenz gut ist, so hat es mit den Verstößen derFormnichts
auf sich. Mag die Schrift auch nicht gerade sehr ernsthaft und bescheiden
gehalten sein, mag sie heftig, leidenschaftlich, anmaßend scheinen, wer wird
sich durch die rauhe Außenseite schrecken lassen? Man muß das Formelle
vom Wesen zu unterscheiden wissen. Jener Schein der Bestimmungen mußte
aufgehoben, die Instruktion mußte mit einem vollkommenen Widerspruch gegen
sich selbst enden; denn alles, woraus die Tendenz erkannt werden soll, empfängt vielmehr erst seine Qualifizierung aus der Tendenz und muß vielmehr
aus der Tendenz erkannt werden. Die Heftigkeit des Patrioten ist heiliger
Eifer, seine Leidenschaftlichkeit ist die Reizbarkeit des Liebenden, seine
Anmaßung eine hingebende Teilnahme, die zu maßlos ist, um mäßig zu sein.
Alle objektiven Normen sind weggefallen, die persönliche Beziehung ist das
Letzte, und der Takt des Zensors darf eine Bürgschaft genannt werden. Was
kann also der Zensor verletzen? Den Takt. Und Taktlosigkeit ist kein Ver-
brechen. Was ist auf Seite des Schriftstellers bedroht? Die Existenz. Welcher
Staat hat je die Existenz ganzer Klassen vom Takt einzelner Beamten abhängig gemacht?
Noch einmal, alle objektiven Normen sind weggefallen; von Seite des Schriftstellers ist die Tendenz der letzte Inhalt, der verlangt und vorgeschrieben
wird, die formlose Meinung als Objekt, die Tendenz als Subjekt, als Meinung
von der Meinung, ist der Takt und die einzige Bestimmung des Zensors.
Wenn aber die Willkür des Zensors •- und die Berechtigung der bloßen
Meinung ist die Berechtigung der Willkür - eine Konsequenz ist, die unter
dem Schein sachlicher Bestimmungen verbrämt war, so spricht die Instruktion dagegen mit vollem Bewußtsein die Willkür des Oberpräsidiums aus;
diesem wird ohne weiteres Vertrauen geschenkt, und dieses dem Oberpräsidenten geschenkte Vertrauen ist die letzte Garantie der Presse. So ist das Wesen
der Zensur überhaupt in der hochmütigen Einbildung des Polizeistaates auf
seine Beamten gegründet. Selbst das Einfachste wird dem Verstand und dem
guten Willen des Publikums nicht zugetraut; aber selbst das Unmögliche soll
den Beamten möglich sein.
Dieser Grundmangel geht durch alle unsere Institutionen hindurch. So
z.B. sind im Kriminalverfahren Richter, Ankläger und Verteidiger in
einer Person vereinigt. Diese Vereinigung widerspricht allen Gesetzen der
Psychologie. Aber der Beamte ist über die psychologischen Gesetze erhaben,
wie das Publikum unter denselben steht. Doch ein mangelhaftes Staatsprinzip kann man entschuldigen; aber unverzeihlich wird es, wenn es nicht
ehrlich genug ist, um konsequent zu sein. Die Verantwortlichkeit der Beamten
müßte so unverhältnismäßig über der des Publikums stehen wie die Beamten
über dem Publikum, und gerade hier, wo die Konsequenz allein das Prinzip
rechtfertigen, es innerhalb seiner Sphäre zum rechtlichen machen könnte,
wird es aufgegeben, und gerade hier wird das entgegengesetzte angewandt.
Auch der Zensor ist Ankläger, Verteidiger und Richter in einer Person;
dem Zensor ist die Verwaltung des Geistes anvertraut; der Zensor ist unverantwortlich.
Die Zensur könnte nur einen provisorisch loyalen Charakter erhalten,
wenn sie den ordentlichen Gerichten unterworfen würde, was allerdings
unmöglich ist, solange es keine objektiven Zensurgesetze gibt. Aber das allerschlechteste Mittel ist, die Zensur wieder vor Zensur zu stellen, etwa vor einen
Oberpräsidenten oder ein Oberzensurkollegium.
Alles, was von dem Verhältnis der Presse zur Zensur, gilt wieder vom
Verhältnis der Zensur zur Oberzensur und vom Verhältnis des Schriftstellers
zum Oberzensor, obgleich ein Mittelglied eingeschoben ist. Es ist dasselbe
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von
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Ijtrmantt
1,
ftfdur.
$t?t.
Titelseite der 1851 von Hermann Becker herausgegebenen
„Gesammelten Aufsätze von Karl Marx", H e f t 1
Verhältnis, auf eine höhere Staffel gestellt, der merkwürdige Irrtum, die Sache'
zu lassen und ihr ein anderes Wesen durch andere Personen geben zu wollen.
Wollte der Zwangsstaat loyal sein, so höbe er sich auf. Jeder Punkt erforderte
denselben Zwang und denselben Gegendruck. Die Oberzensur müßte wieder
zensiert werden. Um diesem tödlichen Kreis zu entgehen, entschließt man
sich, illoyal zu sein, die Gesetzlosigkeit beginne nun in der dritten oder 99ten
Schichte. Weil dies Bewußtsein dem Beamtenstaat unklar vorschwebt, sucht
er wenigstens die Sphäre der Gesetzlosigkeit so hoch zu stellen, daß sie den
Blicken entschwindet, und glaubt dann, sie sei verschwunden.
Die eigentliche Radikalkur der Zensur wäre ihre Abschaffung; denn das
Institut ist schlecht, und die Institutionen sind mächtiger als die Menschen.
Doch, unsre Ansicht mag richtig sein oder nicht. Jedenfalls gewinnen die
preußischen Schriftsteller durch die neue Instruktion, entweder an reeller Freiheit, oder an ideeller, an B e w u ß t s e i n .
Rara temporum felicitas, ubi quae velis sentire et quae
sentias dicere licet.1-153
Geschrieben Anfang Februar
bis 10. Februar 1842.
Nach: Karl Marx, „Gesammelte Aufsätze",
herausgegeben von Hermann Becker,
1. Heft, Köln 1851.
Karl Marx
Die Verhandlungen des 6. rheinischen Landtags"01
Von einem Rheinländer
Erster Artikel
Debatten über Preßfreiheit und Publikation
der Landständischen Verhandlungen tl?:i
Zum Erstaunen des ganzen schreibenden und lesenden Deutschlands
publizierte die „Preußische Staats-Zeitung" an einem schönen Berliner
Frühlingsmorgen ihre Selbstbekenntnisse^. Allerdings wählte sie eine vornehme, diplomatische, nicht eben kurzweilige Form der Beichte. Sie gab sich
den Schein, ihren Schwestern den Spiegel der Erkenntnis vorhalten zu wollen;
sie sprach mystischerweise nur von andern preußischen Zeitungen, während
sie eigentlich von der preußischen Zeitung par excellence, von sich selbst
redete.
Diese Tatsache läßt mancherlei Erklärung zu. Cäsar sprach von sich
als einer dritten Person. Warum sollte die „Preußische Staats-Zeitung" nicht
von dritten Personen als sich selbst sprechen? Kinder, die von sich selbst sprechen, pflegen sich nicht „Ich", sondern „Georg" etc. zu nennen. Warum
sollte die „Preußische Staats-Zeitung" für ihr „Ich" die „Vossische",
„Spenersche" oder irgendeinen andern Heiligennamen nicht gebrauchen
dürfen?
Die neue Zensurinstruktion[;3:, war erschienen. Unsere Zeitungen glaubten
das Aussehen und die Konventionsbildung der Freiheit adoptieren zu müssen.
Auch die „Preußische Staats-Zeitung" war gezwungen zu erwachen und
irgendeinen liberalen - wenigstens selbständigen - Einfall zu haben.
Die erste notwendige Bedingung der Freiheit ist aber Selbsterkenntnis,
und Selbsterkenntnis ist eine Unmöglichkeit ohne Selbstbekenntnis.
Man halte es daher fest, daß die „Preußische Staats-Zeitung" Selbstbekenntnisse geschrieben hat; man vergesse nie, daß wir hier das erste Erwachen des
halboffiziellen Preßkindes zum Selbstbewußtsein erblicken, und alle Rätsel
werden sich lösen. Man wird sich überzeugen, daß die „Preußische StaatsZeitung" „manches große Wort gelassen ausspricht"119-1, und nur unschlüssig
bleiben, ob man mehr die Gelassenheit der Größe oder die Größe der Gelassenheit bewundern soll.
Kaum war die Zensurinstruktion erschienen, kaum hatte sich die „StaatsZeitung" von diesem Schlage erholt, als sie in die Frage ausbricht: „Was hat
euch preußischen Zeitungen die größere Zensurfreiheit genützt?"
Offenbar will sie sagen: Was haben mir die vielen Jahre strikter Zensurobservanz genützt? Was ist aus mir, trotz sorgfältigster und allseitigster Beaufsichtigung und Bevormundung, geworden? Und was soll nun gar jetzt aus
mir werden? Das Gehen habe ich nicht gelernt, und ein schaulustiges Publikum erwartet Entrechats von der Lendenlahmen! So wirds euch auch sein,
meine Schwestern! Laßt uns dem preußischen Volk unsre Schwächen bekennen, doch laßt uns diplomatisch in unserm Bekenntnis sein. Wir sagen ihm
nicht gradezu, daß wir uninteressant sind. Wir sagen ihm, daß, wenn die
preußischen Zeitungen uninteressant für das preußische Volk, der preußische
Staat uninteressant für die Zeitungen ist.
Die kühne Frage der „Staats-Zeitung", die noch kühnere Antwort sind
bloße Präludien ihres Erwachens, traumartige Andeutungen des Textes, den
sie durchführen wird. Sie erwacht zum Bewußtsein, sie spricht ihren Geist
aus. Lauscht dem Epimenides!
Es ist bekannt, daß die erste theoretische Tätigkeit des Verstandes, der
noch halb zwischen Sinnlichkeit und Denken schwankt, das Zählen ist. Das
Zählen ist der erste freie theoretische Verstandesakt des Kindes. Laßt uns
zählen, ruft die „Preußische Staats-Zeitung" ihren Schwestern zu. Die
Statistik ist die erste politische Wissenschaft! Ich kenne den Kopf eines
Menschen, wenn ich weiß, wieviel Haare er produziert.
Was du willst, daß dir geschehe, das tue andern. Und wie könnte man
uns selbst und gar mich, die „Preußische Staats-Zeitung", besser würdigen
als statistisch! Nicht nur, daß ich so oft erscheine wie irgendeine französische
oder englische Zeitung, so wird die Statistik nachweisen, daß ich weniger
gelesen werde als irgendeine Zeitung der zivilisierten Welt. Zieht die Beamten ab, die sich halb mißliebig für mich interessieren müssen, rechnet die
öffentlichen Lokale ab, denen ein halboffizielles Organ nicht fehlen darf, wer
liest mich, ich frage, wer? Berechnet, was ich koste; berechnet, was ich einnehme, und ihr werdet gestehen, daß es kein einträgliches Amt ist, große
Worte gelassen auszusprechen. Seht ihr, wie schlagend die Statistik ist, wie
das Zählen weitläufigere geistige Operationen überflüssig macht! Also zählt!
Zahlentabellen instruieren das Publikum, ohne seinen Affekt zu erregen.
Und die „Staats-Zeitung'' stellt sich mit ihrer statistischen Wichtigkeit
nicht nur dem Chinesen, nicht nur dem Weltstatisten Pythagoras zur
Seite! sie zeigt, daß sie von dem großen Naturphilosophen jüngster Zeit1
affiziert ist, der die Unterschiede der Tiere etc. einst in Zahlenreihen darstellen wollte.
So ist die „Preußische Staats-Zeitung" nicht ohne moderne philosophische Grundlagen, wenn sie auch ganz positiv scheint.
Die „Staats-Zeitung" ist allseitig. Sie bleibt nicht bei der Zahl, der Zeitgroße stehen. Sie treibt ihre Anerkennung des quantitativen Prinzips weiter,
sie spricht auch die Berechtigung der Raumgröße aus. Der Raum ist das erste,
dessen Größe dem Kind imponiert. Es ist die erste Größe der Welt, die das
Kind erfährt. Es hält daher einen großgewachsenen Mann für einen großen
Mann, und die kindliche „Staats-Zeitung" erzählt uns, daß dicke Bücher
unverhältnismäßig besser sind wie dünne, und nun gar wie einzelne Blätter,
Zeitungen, die täglich nur einen Drückbogen liefern!
Ihr Deutschen könnt euch nun einmal nur umständlich aussprechen!
Schreibt recht weitläufige Bücher über Staatseinrichtung, recht grundgelehrte Bücher, die niemand liest als der Herr Verfasser und der Herr Rezensent, aber bedenkt, daß eure Zeitungen keine Bücher sind. Bedenkt, wieviel
Bogen auf ein gründliches Werk von drei Bänden gehen! Sucht also den Geist
des Tages und der Zeit nicht in den Zeitungen, die euch statistische Tabellen
liefern wollen, sondern sucht ihn in den Büchern, deren Raumgröße schon
für ihre Gründlichkeit bürgt.
Bedenkt, ihr guten Kinder, daß es sich hier um „gelehrte" Dinge handelt,
geht in die Schule der dicken Bücher, und ihr werdet uns Zeitungen schon
liebgewinnen wegen unsres luftigen Formats, wegen unsrer weltmännischen Leichtigkeit, die wahrhaft erquickend sind nach den dicken Büchern.
Allerdings! Allerdings! Unsere Zeit hat nicht mehr jenen realen Sinn für
Größe, den wir am Mittelalter bewundern. Seht unsre winzigen pietistischen
Traktätlein, seht unsre philosophischen Systeme in kleinem Oktav, und nun
wendet euren Blick auf die 20 Riesenfolianten des Duns Scotus. Ihr braucht
die Bücher nicht zu lesen; schon ihr abenteuerlicher Anblick rührt euer Herz,
schlägt eure Sinne, wie etwa ein gotisches Gebäude. Diese naturwüchsigen
Riesenwerke wirken materiell auf den Geist; er fühlt sich erdrückt unter der
Masse, und das Gefühl der Gedrücktheit ist der Anfang der Ehrfurcht. Ihr
habt die Bücher nicht, sie haben euch. Ihr seid ein Akzidens zu ihnen, und so,
1
Lorenz Oken
meint die „Preußische Staats-Zeitung", solle das Volk ein Akzidens zu seiner
politischen Literatur sein.
So ist die „Staats-Zeitung" nicht ohne historische, der gediegenen Zeit des
Mittelalters angehörige Grundlagen, wenn sie auch ganz modern redet.
Ist aber das theoretische Denken des Kindes quantitativ: so ist sein Urteil
wie sein praktisches Denken zunächst praktisch-sinnlich. Die sinnliche Beschaffenheit ist das erste Band, das es mit der Welt verknüpft. Die praktischen
Sinne, vorzugsweise Nase und Mund, sind die ersten Organe, mit denen es
die Welt beurteilt. Die kindliche „Preußische Staats-Zeitung" beurteilt daher
den Wert der Zeitungen, so ihren eignen Wert, mit der Nase. Wenn ein
griechischer Denker die trocknen Seelen für die besten hält1203, so hält die
„Staats-Zeitung" die „wohlriechenden" Zeitungen für die „guten" Zeitungen.
Sie weiß nicht genug den „literarischen Parfüm" der Allgemeinen Augsburger und des „Journal des Debats" anzupreisen. Lobenswerte, seltene
Naivität! Großer, allergrößter Pompejus!
Nachdem die „Staats-Zeitung" uns so durch einzelne, dankenswerte
Äußerungen tiefe Blicke in ihren Seelenzustand erlaubt hat, faßt sie schließlich ihre Staatsansicht in eine große Reflexion zusammen, deren Pointe die
große Entdeckung ist:
„daß in Preußen die Staatsverwaltung und der ganze Organismus des Staats getrennt seien vom politischen Geist, daher weder für Volk noch für Zeitungen politisches Interesse haben könnten".
Nach der Ansicht der „Preußischen Staats-Zeitung" hätte also die Staatsverwaltung in Preußen nicht den politischen Geist, oder der politische Geist
hätte die Staatsverwaltung nicht. Undelikate „Staats-Zeitung", zu behaupten,
was der ärgste Gegner nicht schlimmer wenden könnte, zu behaupten, daß
das wirkliche Staatsleben ohne politischen Geist sei und daß der politische
Geist nicht im wirklichen Staate lebe!
Doch wir dürfen den kindlich-sinnlichen Standpunkt der „Preußischen
Staats-Zeitung" nicht vergessen. Sie erzählt uns, daß man bei Eisenbahnen
bloß an Eisen und Bahnen, bei Handelsverträgen bloß an Zucker und Kaffee,
bei Lederfabriken bloß an Leder zu denken habe. Allerdings, das Kind bleibt
bei der sinnlichen Wahrnehmung stehn, es sieht bloß das Einzelne, und die
unsichtbaren Nervenfäden, die dieses Besondere mit dem Allgemeinen verknüpfen, die, wie überall, so im Staat, die materiellen Teile zu beseelten
Gliedern des geistigen Ganzen machen, sind für das Kind nicht vorhanden.
Das Kind glaubt, die Sonne drehe sich um die Erde; das Allgemeine drehe
sich um das Einzelne. Das Kind glaubt daher nicht an den Geist, aber es glaubt
an Gespenster.
So hält die „Preußische Staats-Zeitung" den politischen Geist für ein
französisches Gespenst; und sie denkt das Gespenst zu beschwören, wenn
sie ihm Leder, Zucker, Bajonette und Zahlen an den Kopf wirft.
Doch, wird unser Leser einfallen, wir wollten über die „rheinischen Landtagsverhandlungen" debattieren, und statt dessen führt man uns den „unschuldigen Engel",das greisenhafte Preßkind, die „Preußische Staats-Zeitung"
vor und repetiert die altklugen Wiegenlieder, mit denen sie sich und ihre
Schwestern in gedeihlichen Winterschlaf wieder und wieder einzulullen
sucht.
Aber sagt nicht Schiller:
„Und was kein Verstand der Verständigen sieht,
Das übet in Einfalt ein kindlich Gemüt."121-1
Die „Preußische Staats-Zeitung" hat uns „in aller Einfalt" daran erinnert,
daß wir in Preußen so gut wie in England Landstände besitzen, deren Verhandlungen die Tagespresse ja debattieren dürfe, wenn sie könne; denn die
„Staats-Zeitung" in großem klassischen Selbstbewußtsein vermeint, es fehle
den preußischen Zeitungen nicht an dem Dürfen, sondern am Können. Das
letztere gestehen wir ihr vorzugsweise als Privilegium zu, indem wir uns zugleich, ohne weitere Explikation über ihre Potenz, die Freiheit nehmen, den
Einfall, den sie in aller Einfalt hatte, zu verwirklichen.
Die Veröffentlichung der landständischen Verhandlungen wird erst eine
Wahrheit, wenn dieselben als „öffentliche Tatsachen" behandelt, d.h.
Gegenstand der Presse werden. Der letzte rheinische Landtag liegt uns am
nächsten.
Wir beginnen mit seinen „Dehatten über Preßfreiheit" und müssen vorläufig bemerken, daß, während in dieser Frage unsere eigene positive Ansicht
zuweilen als Mitspieler auftritt, wir in den spätem Artikeln mehr als historische Zuschauer den Gang der Verhandlungen begleiten und darstellen
werden.
Die Natur der Verhandlungen selbst bedingt diesen Unterschied der Darstellung. In allen übrigen Debatten finden wir nämlich die verschiedenen
Meinungen der Landstände auf gleichem Niveau. In der Preßfrage dagegen
haben die Gegner der freien Presse manches voraus. Abgesehen von den
Stichworten und Gemeinplätzen, die in der Atmosphäre liegen, finden wir
bei diesen Gegnern einen pathologischen Affekt, eine leidenschaftliche Eingenommenheit, die ihnen eine wirkliche, nicht imaginäre Stellung zur Presse
gibt, deren Verteidiger auf diesem Landtag im ganzen kein wirkliches Verhältnis zu ihrem Schützling haben. Sie haben die Freiheit der Presse nie als
Bedürfnis kennengelernt. Sie ist ihnen eine Sache des Kopfes, an der das Herz
keinen Teil hat. Sie ist ihnen eine „exotische" Pflanze, mit der sie durch
bloße „Liebhaberei" in Konnex stehen. Es geschieht daher, daß ein zu allgemeines vages Räsonnement den besondern „guten" Gründen der Gegner
entgegengestellt wird, und der bornierteste Einfall hält sich für bedeutend, solang ihm seine Existenz nicht genommeii ist.
Goethe sagt einmal, dem Maler glückten nur solche weiblichen Schönheiten, deren Typus er wenigstens in irgendeinem lebendigen Individuum
geliebt habe.1223 Auch die Preßfreiheit ist eine Schönheit - wenn auch
grade keine weibliche
die man geliebt haben muß, um sie verteidigen zu
können. Was ich wahrhaft liebe, dessen Existenz empfinde ich als eine notwendige, als eine, deren ich bedürftig bin, ohne die mein Wesen nicht erfülltes, nicht befriedigtes, nicht vollständiges Dasein haben kann. Jene Verteidiger der Preßfreiheit scheinen vollständig da zu sein, ohne daß die Preßfreiheit da wäre.
Die liberale Opposition zeigt uns den Höhestand einer politischen Versammlung, wie die Opposition überhaupt den Höhestand einer Gesellschaft.
Eine Zeit, in welcher es philosophische Kühnheit ist, an Gespenstern zu
zweifeln, in welcher es Paradoxie ist, sich gegen Hexenprozesse aufzulehnen,
eine solche Zeit ist die legitime Zeit der Gespenster und Hexenprozesse. Ein
Land, welches, wie das alte Athen, Speichellecker, Parasiten, Schmeichler als
Ausnahmen von der Volks Vernunft, als Volksnarren traktiert, ist das Land
der Unabhängigkeit und Selbständigkeit. Ein Volk, welches, wie alle Völker
der besten Zeit, das Recht, die Wahrheit zu denken und auszusprechen, den
Hofnarren vindiziert, kann nur ein Volk der Abhängigkeit und Selbstlosigkeit sein. Eine Ständeversammlung, in welcher die Opposition versichert,
daß die Willensfreiheit zum Wesen des Menschen gehöre, ist wenigstens nicht
die Ständeversammlung der Willensfreiheit. Die Ausnahme zeigt uns die
Regel. Die liberale Opposition zeigt uns, was liberale Position, wieweit die
Freiheit Mensch geworden ist.
Wenn wir daher bemerkt haben, daß die landständischen Verteidiger der
Preßfreiheit sich keineswegs auf der Höhe ihres Gegenstandes bewegen, so
gilt dies noch mehr von dem ganzen Landtag überhaupt.
Und dennoch nehmen wir die Darstellung der landständischen Verhandlungen an diesem Punkte auf, nicht nur aus besonderm Interesse für die
Preßfreiheit, sondern ebensowohl aus allgemeinem Interesse für den Landtag.
Wir finden nämlich den spezifisch ständischen Geist nirgends klarer, entschiedener und voller ausgeprägt als in den Debatten über die Presse. Vor-
zugsweise gilt dies von der Opposition gegen die Preßfreiheit, wie überhaupt in
der Opposition gegen eine allgemeine Freiheit der Geist der bestimmten
Sphäre, das individuelle Interesse des besondern Standes, die natürliche Einseitigkeit des Charakters sich am schroffsten und rücksichtslosesten herauswenden und gleichsam ihre Zähne zeigen.
Die Debatten bringen uns eine Polemik des Fürstenstandes gegen die freie
Presse, eine Polemik des Ritterstandes, eine Polemik des Standes der Städte,
so daß nicht das Individuum, sondern der Stand polemisiert. Welcher Spiegel
könnte also den innern Charakter des Landtags treuer zurückgeben als die
Preßdebatten?
Wir beginnen mit den Opponenten gegen die freie Presse, und zwar wie billig,
mit einem Redner aus dem Fürstenstand1.
Auf den ersten Teil seines rednerischen Vortrags, nämlich: „daß Preßfreiheit und Zensur beides Übel seien etc.", gehen wir nicht sachlich ein,
da dieses Thema von einem andern Redner gründlicher durchgeführt wird;
nur die eigene Argumentation des Redners dürfen wir nicht übergehen.
„Die Zensur" sei „ein geringeres Übel als der Unfug der Presse". „Diese Überzeugung befestigte sich nach und nach so in anserm Deutschland" (es fragt sich, welcher
Teil von Deutschland das ist), „daß auch von Bundes wegen Gesetze darüber erlassen
wurden, welche Preußen mitgab und sich ihnen mit unterwarf." [23:I
Der Landtag verhandelt über die Befreiung der Presse von ihren Banden.
Diese Bande selbst, ruft der Redner, die Ketten, an denen die Presse liegt,
beweisen, daß sie nicht zu freier Bewegung bestimmt ist. Ihre gefesselte
Existenz zeugt gegen ihr Wesen. Die Gesetze gegen die Preßfreiheit widerlegen die Preßfreiheit.
Ein diplomatisches Argument gegen alle Reform, welches am entschiedensten die klassische Theorie einer gewissen Partei1241 ausspricht! Jede Freiheitsschranke ist ein faktischer, ein unumstößlicher Beweis, daß bei den
Machthabern die Überzeugung einmal vorhanden war, man müsse die Freiheit beschränken, und diese Überzeugung dient dann als Regulativ für die
spätem Überzeugungen.
Man hatte einmal befohlen, daß die Sonne sich um die Erde bewege.
War Galilei widerlegt?
So hatte sich auch in unserm Deutschland die Reichsüberzeugung, welche
die einzelnen Fürsten teilten, gesetzlich gebildet, daß die Leibeigenschaft
eine Eigenschaft gewisser menschlicher Leiber sei, daß die Wahrheit am
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Reinhard zu Solms-Laubach
evidentesten durch chirurgische Operationen, wir meinen die Folter, ermittelt werde, daß die Flammen der Hölle dem Ketzer schon durch die
Flammen der Erde zu demonstrieren seien.
War die gesetzliche Leibeigenschaft nicht ein faktischer Beweis gegen die
rationelle Grille, daß der menschliche Leib kein Objekt der Behandlung und
des Besitzes sei? Widerlegte die naturwüchsige Folter nicht die hohle Theorie,
daß man mit Aderlässen nicht die Wahrheit herauszapft, daß die Spannung
des Rückens auf der Marterleiter nicht rückhaltlos macht, daß Krämpfe keine
Bekenntnisse sind?
So, meint der Redner, widerlegt das Faktum der Zensur die Preßfreiheit,
was seine faktische Richtigkeit hat, was eine Wahrheit von solcher Faktizität
ist, daß die Topographie ihre Größe abmessen kann, indem sie bei gewissen
Schlagbäumen aufhört, faktisch und wahr zu sein.
„Weder in Rede noch in Schrift", werden wir weiter belehrt, „weder in unserer
Rheinprovinz noch im ganzen Deutschland erscheine die wahre und edlere geistige
Entwicklung gefesselt."
Der edle Wahrheitsschmelz unserer Presse sei eine Gabe der Zensur.
Wir kehren zunächst die frühere Argumentation des Redners gegen ihn
selbst; wir geben ihm statt eines rationalen Grundes eine Verordnung. In der
neuesten preußischen Zensurinstruktion wird offiziell bekanntgemacht, daß
die Presse bisher übergroßen Beschränkungen unterlegen, daß sie wahren
nationalen Gehalt erst zu erringen habe. Redner sieht, daß die Überzeugungen
in unserm Deutschland wandelbar sind.
Aber welch unlogisches Paradoxon, die Zensur als Grund unserer bessern
Presse zu betrachten!
Der größte Redner der französischen Revolution, dessen voix toujours
tonnante1 noch in unsere Zeit herübertönt, der Löwe, den man selbst brüllen
hören mußte, um ihm mit dem Volke zuzurufeni „Gut gebrüllt, Löwe!" t25:i ,
Miraheau, hat sich in Gefängnissen gebildet. Sind deswegen Gefängnisse die
Hochschulen der Beredsamkeit?
Es ist ein wahrhaft fürstliches Vorurteil, wenn trotz aller geistigen Mautsysteme der deutsche Geist ein Großhändler geworden ist, zu meinen, die
Zollsperren und Kordons hätten ihn zum Großhändler gemacht. Die geistige
Entwicklung Deutschlands ist nicht durch, sondern trotz der Zensur vor sich
gegangen. Wenn die Presse innerhalb der Zensur verkümmert und verelendet,
so führt man dies als Argument gegen die freie Presse an, obgleich es nur
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stets donnernde Stimme
gegen die unfreie zeugt. Wenn die Presse trotz der Zensur ihr charaktervolles
Wesen bewährt, so führt man dies für die Zensur an, obgleich es nur für den
Geist und nicht für die Fessel spricht.
Übrigens hat es mit der „wahren edlern Entwicklung" seine Bewandtnis.
In der Zeit der strikten Zensurobservanz von 1819-1830 (später wurde
die Zensur, wenn auch nicht in „unserm Deutschland", so doch in einem
großen Teile Deutschlands von den Zeitverhältnissen und seltsamen Überzeugungen, die sich gebildet hatten, zensiert) erlebte unsere Literatur ihre
„Abendblattszeit", die man mit demselben Recht „wahr und edel" und geistig
und entwicklungsreich nennen kann, als sich der Redakteur der Abendzeitung", ein geborner „Winkler", humoristischerweise „Hell" benamste, obgleich wir ihm nicht einmal die Helligkeit der Sümpfe um Mitternacht nachrühmen dürfen. Dieser „Krähwinkler" mit der Firma „Hell" ist der Prototyp
der damaligen Literatur, und jene Fastenzeit wird die Nachwelt überzeugen,
daß, wenn wenige Heilige 40 Tage ohne Speise aushalten konnten, ganz
Deutschland, welches nicht einmal heilig war, über zwanzig Jahre ohne alle
geistige Konsumtion und Produktion zu leben verstand. Die Presse war
niederträchtig geworden, und man schwankt nür, ob der Mängel an Verstand
den Mangel an Charakter, ob die Formlosigkeit die Inhaltslosigkeit übertraf,
oder ob umgekehrt. Für Deutschland würde die Kritik das Höchste erreichen,
wenn sie beweisen könnte, daß jene Periode nie existiert hat. Das einzige
Literaturgebiet, in welchem damals noch lebendiger Geist pulsierte, das
philosophische, hörte auf, deutsch zu sprechen, weil die deutsche Sprache aufgehört hatte, die Sprache des Gedankens zu sein. Der Geist sprach in unverständlichen, mysteriösen Worten, weil die verständlichen Worte nicht mehr
verständig sein durften.
Was nun gar das Beispiel der rheinischen Literatur betrifft - und allerdings
liegt dies Beispiel einem rheinischen Landstand ziemlich nahe —, so könnte
man mit der Diogeneslaterne alle fünf Regierungsbezirke durchwandern, und
nirgends würde man „diesem Menschen" begegnen. Wir halten dies nicht
für einen Mangel der Rheinprovinz, sondern vielmehr für einen Beweis ihres
praktisch-politischen Sinnes. Die Rheinprovinz kann eine „freie Presse"
zeugen; aber zu einer „unfreien" fehlt es ihr an Gewandtheit und an Illusionen.
Die eben erst abgelaufene Literaturperiode, die wir als „die Literaturperiode der strikten Zensur" bezeichnen können, ist also der evidente, der
geschichtliche Beweis, daß die Zensur allerdings die Entwicklung des deutschen Geistes auf eine heillose, unverantwortliche Art beeinträchtigt hat und
daß sie also keineswegs, wie dem Redner dünkte, zum magister bonarum
artium1 bestimmt ist. Oder verstand man etwa unter der „edlern wahren
Presse" eine Presse, die ihre Ketten mit Anstand trägt?
Wenn sich der Redner „erlaubt, an ein bekanntes Sprichwort vom kleinen
Finger und der ganzen Hand" zu erinnern, so nehmen wir uns die Gegenerlaubnis zu fragen, ob es der Würde einer Regierung nicht am meisten gezieme, dem Geist ihres Volkes nicht nur errie ganze Hand, sondern beide
Hände ganz zu geben?
Unser Redner hat, wie wir gesehen, die Frage über das Verhältnis von
Zensur und geistiger Entwicklung auf nachlässig Vornehme, diplomatisch
nüchterne Weise beseitigt. Noch entschiedener repräsentiert er die negative
Seite seines Standes in seinem Angriff auf die historische Gestaltung der Preßfreiheit,
Was die Existenz der Preßfreiheit bei andern Völkern betreffe, so
könne
„England keinen Maßstab abgeben, da dort schon seit Jahrhunderten auf historischem Wege sich Verhältnisse ausgebildet hätten, die in'keinem andern Lande durch
Anwendung von Theorien hervorgerufen werden könnten, sondern in Englands eigentümlicher Lage ihre Begründung gefunden hätten". „In Holland habe Freiheit der
Presse nicht vor erdrückender Nationalschuld bewahren können und größtenteils zur
Herbeiführung einer Revolution mitgewirkt, die den Abfall der Hälfte dieses Landes zur
Folge gehabt habe." 1261
Frankreich übergehen wir, lim später darauf zurückzukommen.
„In der Schweiz endlich, sollte man dort wohl ein durch Freiheit def Presse beglücktes Eldorado finden können? Gedenke man nicht mit Ekel der rohen, in dortigen
Blättern verhandelten Parteistreitigkeiten, in welchen die Namen der Parteien, im richtigen Gefühl ihrer geringen menschlichen Würde, sich nach Teilen des tierischen
Körpers in Horn- und Klauenmänner sonderten und durch platte Schmähreden sich bei
allen Nachbarn verächtlich machten!"
Die englische Presse spricht nicht für die Preßfreiheit überhaupt, weil sie
auf historischen Grundlagen beruht. Die Presse in England hat nur Verdienst,
weil sie historisch ist, nicht als Presse überhaupt, denn sie hätte sich ohne
historische Grundlagen machen müssen. Die Historie hat hier das Verdienst und nicht die Presse. Als wenn die Presse nicht auch zur Historie
gehörte, als wenn die englische Presse nicht unter Heinrich VIII., Maria
der Katholischen, Elisabeth und Jakob harte, oft barbarische Kämpfe bestanden hätte, um dem englischen Volke seine historischen Grundlagen zu
erringen! ;
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Lehrer der schönen Künste
Und spräche es nicht im Gegenteil für die Preßfreiheit, wenn die englische
Presse bei größter Ungebundenheit nicht destruierend auf die historischen
Grundlagen wirkte? Allein der Redner ist nicht konsequent.
Die englische Presse beweist nicht für die Presse überhaupt, weil sie
englisch ist. Die holländische Presse spricht gegen die Presse überhaupt, obschon sie nur holländisch ist. Das eine Mal werden alle Vorzüge der Presse
den historischen Grundlagen, das andere Mal alle Mängel der historischen
Grundlagen der Presse vindiziert, Das eine Mal soll die Presse nicht auch
ihren Anteil an der historischen Vollkommenheit, das andere Mal soll die
Historie nicht auch ihren Anteil an den Mängeln der Presse haben. Wie die
Presse in England mit dessen Historie und eigentümlicher Lage verwachsen
ist, so in Holland und in der Schweiz.
Soll die Presse historische Grundlagen abspiegeln, aufheben oder entwickeln? Jedes macht ihr der Redner zum Vorwurf.
Er tadelt die holländische Presse, weil sie historisch ist. Sie hätte die Historie
verhindern, sie hätte Holland vor erdrückender Nationalschuld bewahren
müssen! Welche unhistorische Forderung! Die holländische Presse konnte
das Zeitalter Ludwig des XIV. nicht verhindern; die holländische Presse
konnte nicht verhindern, daß die englische Märine unter Cromwell sich zur
ersten europäischen heraufschwang; sie konnte keinen Ozean zaubern, der
Holland von der peinlichen Rolle erlöst hätte, der Schauplatz der kriegführenden Kontinentalmächte zu sein; sie konnte ebensowenig, wie alle Zensuren in
Deutschland zusammen, Napoleons Machtgebote annullieren.
Hat aber die freie Presse jemals Natiorialschulden erhöht? Als unter
Orleans dem Regenten1 ganz Frankreich in Law'sche Finanzrasereienca73 sich
verlor, wer trat dieser phantastischen Sturm- und Drangperiode der Geldspekulation gegenüber als einige Satiriker, die allerdings keine Bankbilletts,
sondern Bastillebilletts bezogen!
Das Verlangen, die Presse solle vor Nationalschuld bewahren, was dahin
weiter ausgeführt werden kann, daß sie auch den einzelnen Individuen ihre
Schulden bezahlen solle, erinnert an jenen Literaten, der stets auf seinen Arzt
grollte, weil dieser ihm zwar die Krankheiten seines Leibes wegkurierte, nicht
aber die Druckfehler seiner Schriften. Die Preßfreiheit verspricht sowenig wie der Arzt, einen Menschen oder ein Volk vollkommen zu machen.
Sie ist selbst keine Vollkommenheit. Es ist triviale Manier, das Gute damit
zu schmähen, daß es ein bestimmtes Gut und nicht alles Gute auf einmal, daß
es dieses und kein anderes Gute sei. Allerdings, wenn die Preßfreiheit alles in
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Philippe II.
allem wäre, so machte sie alle übrigen Funktionen eines Volks und das Volk
selbst überflüssig.
Redner wirft der holländischen Presse die belgische Revolution vor.
Kein Mensch von einiger geschichtlicher Bildung wird leugnen, daß die
Trennung Belgiens und Hollands ungleich historischer war als ihre Vereinigung.
Die Presse in Holland habe die belgische Revolution bewirkt. Welche
Presse? Die reformatorische oder die reaktionäre? Eine Frage, die wir auch
in Frankreich aufwerfen können, und wenn Redner etwa die klerikalischbelgische Presse tadelt, die zugleich demokratisch war, so tadle er ebenso die
klerikalische Presse in Frankreich, die zugleich absolutistisch war. Beide
haben zum Umsturz ihrer Regierungen mitgewirkt. In Frankreich hat nicht
die Preßfreiheit, sondern die Zensur revolutioniert.
Aber abgesehen hiervon, die belgische Revolution erschien zuerst als
geistige Revolution, als Revolution der Presse. Weiter hat die Behauptung
keinen Sinn, daß die Presse die belgische Revolution gemacht habe. Ist das
nun zu tadeln? Soll die Revolution gleich materiell auftreten? Schlagen statt
sprechen? Die Regierung kann eine geistige Revolution materialisieren;
eine materielle Revolution muß erst die Regierung vergeistigen.
Die belgische Revolution ist ein Produkt des belgischen Geistes. Also hat
auch die Presse, die freieste Weise, in welcher heutzutag der Geist erscheint,
ihren Anteil an der belgischen Revolution. Die belgische Presse wäre nicht
die belgische Presse, wenn sie der Revolution ferngestanden, aber ebensowohl
wäre die belgische Revolution keine belgische, wenn sie nicht zugleich
Revolution der Presse gewesen. Die Revolution eines Volkes ist total;
d.h., jede Sphäre revoltiert auf ihre Weise; warum nicht auch die Presse als
Presse?
Redner tadelt an der belgischen Presse also nicht die Presse, er tadelt
Belgien. Und hier finden wir den Springpunkt seiner historischen Ansicht von
der Preßfreiheit. Der volkstümliche Charakter der freien Presse - und bekanntlich malt selbst der Künstler keine großen historischen Tableaux mit Wasserfarben - , die historische Individualität der freien Presse, die sie zur eigentümlichen Presse ihres eigentümlichen Volksgeistes macht, widerstreben dem
Redner aus dem Fürstenstande, er stellt vielmehr die Forderung an die
Pressen der verschiedenen Nationen, die Pressen seiner Ansicht, die Pressen
der haute vol£e zu sein und statt um die geistigen Weltkörper, die Nationen,
um einzelne Individuen zu kreisen. Unverhüllt tritt diese Forderung in der
Beurteilung der Schweizerpresse hervor!
Vorläufig erlauben wir uns eine Frage. Warum besann sich der Redner
nicht, daß die Schweizerpresse der Voltaireschen Aufklärung in Albrecht
v. Haller entgegentrat? Warum gedenkt er nicht, daß, wenn die Schweiz
auch gerade kein Eldorado, doch den Propheten des künftigen Fürsteneldorado gezeugt hat, ebenfalls einen Herrn v. Haller, der in seiner „Restauration der Staatswissenschaften" das Fundament; zu der „edlern wahren"
Presse, zu dem „Berliner politischen Wochenblatt" gelegt hat? An ihren
Früchten sollt ihr sie erkennen.1283 Und welcher Boden in der Welt hätte
der Schweiz eine Frucht von dieser vollsaftigen Legitimität entgegenzuhalten?
Redner verübelt es der Schweizerpresse, daß sie die „tierischen Parteinamen" der „Horn- und Klauenmänner" aufgenommen, kurz, daß sie
schweizerischspricht und zu Schweizern, die mit Ochsen und Kühen in gewisser patriarchalischer Eintracht leben. Die Presse dieses Landes ist die Presse
dieses Landes. Weiter ist darüber nichts zu sagen, Zugleich aber führt eben die
freie Presse über die Beschränktheit des Landespartikularismus hinaus, wie
ebenfalls die Schweizerpresse beweist.
Über die tierischen Parteinamen insbesondere bemerken wir, daß die
Religion selbst das Tierische als Symbol des Geistigen würdigt. Unser Redner
wird jedenfalls die indische Presse verwerfen, die in religiöser Begeisterung die
Kuh Sabala und den Affen Hanumän feierte. Er wird der indischen Presse
die indische Religion, wie der Schweizerpresse den Schweizercharakter, vorwerfen; aber es gibt eine Presse, die er schwerlich der Zensur unterwerfen
will, wir meinen die heilige Presse, die Bibel; und teilt diese nicht die ganze
Menschheit in die beiden großen Parteien der Böcke und Schafe?C2fl:' Charakterisiert Gott selbst sein Verhältnis zu den Häusern Juda und Israel nicht folgendermaßen : „Ich bin dem Hause Juda eine Motte und dem Hause Israel eine
Made"?1301 Oder, was uns Weltlichen näher liegt, gibt es nicht eine fürstliche
Literatur, welche die ganze Anthropologie in Zoologie verwandelt, wir meinen
die heraldische Literatur? Die bringt noch andere Kuriosa als Horn- und
Klauenmänner.
Was hat also der Redner an der Preßfreiheit getadelt? Daß die Mängel
eines Volkes zugleich die Mängel seiner Presse sind, daß sie die rücksichtslose
Sprache, die offenbare Gestalt des historischen Volksgeistes ist. Hat er bewiesen, daß der deutsche Volksgeist von diesem großen Naturprivilegium ausgeschlossen ist? Er hat gezeigt, daß jedes Volk seinen Geist in seiner Presse
ausspricht. Soll dem philosophisch gebildeten Geist der Deutschen nicht zukommen, was nach des Redners eigner Versicherung bei den im Tierischen
gebundenen Schweizern sich findet?
Meint endlich der Redner, daß die nationalen Mängel der freien Presse
nicht ebensogut Nationalmängel der Zensoren sind ? Sind die Zensoren eximiert
von der historischen Gesamtheit, unberührt vom Geist einer Zeit? Leider
mag es der Fall sein, aber welcher gesunde Mensch wird in der Presse nicht
lieber die Sünden der Nation Und der Zeit, als in der Zensur die Sünden
gegen Nation und Zeit entschuldigen?
Wir haben im Eingange bemerkt, daß in den verschiedenen Rednern ihr
besonderer Stand gegen die Preßfreiheit polemisiert. Der Redner aus dem
Fürstenstande stellte zunächst diplomatische Gründe auf. Er bewies das Unrecht der Preßfreiheit aus den fürstlichen Überzeugungen, die in ZensurGesetzen sich deutlich genug ausgesprochen hätten. Er meinte, die edlere,
wahre Entwicklung des deutschen Geistes sei durch die Hemmungen von
oben gemacht worden. Er polemisierte endlich gegen die Völker und verwarf
mit edler Scheu die Preßfreiheit als die undelikate, indiskrete, auf sich selbst
gerichtete Sprache eines Volkes.
Der Redner aus dem Ritterstande1, zu dem wir jetzt kommen, polemisiert
nicht gegen die Völker, sondern gegen die Menschen. Er bestreitet in der
Preßfreiheit die menschliche Freiheit, im Preßgesetz das Gesetz. Bevor er auf die
eigentliche Frage über Preßfreiheit eingeht, nimmt er die Frage über unverkürzte und tägliche Publikation der Landtagsdebatten auf. Wir folgen ihm,
Schritt vor Schritt.
„ D e m ersten der Anträge auf Veröffentlichung unserer Verhandlungen sei genügt."
„In die Hände des Landtags sei es gelegt, von der erteilten Erlaubnis einen weisen
Gebrauch zumachen."
Eben das ist das punctum quaestionis2. Die Provinz glaubt, daß der Landtag erst in ihre Hände gelegt ist, sobald die Veröffentlichung der Debatten
nicht mehr der Willkür seiner Weisheit überlassen, sondern eine gesetzliche
Notwendigkeit geworden ist. Wir müßten die neue Konzession als einen
neuen Rückschritt bezeichnen, wenn sie so zu interpretieren, daß die Publikation der Willkür der Landstande anheimfällt.
Privilegien der Landstände sind keine Rechte der Provinz. Vielmehr hören
die Rechte der Provinz grade da auf, wo sie zu Privilegien der Landstände
werden. So hatten die Stände des Mittelalters alle Rechte des Landes in sich
absorbiert und wendeten sie als Vorrechte gegen das Land.
Der Staatsbürger will das Recht nicht als Privilegium wissen. Kann er
für ein Recht halten, neue Privilegien zu alten Privilegien hinzuzufügen?
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Maximilian von Loe -
2
der fragliche Punkt
Die Rechte des Landtags sind auf diese Weise nicht mehr Rechte der
Provinz, sondern Rechte wider die Provinz, und der Landtag selbst wäre das
der Provinz am meisten entgegenstehende Unrecht mit der mystischen Bedeutung, für ihr größtes Recht gelten zu sollen.
Wie sehr nun der Redner aus dem Ritterstande dieser mittelaltrigen Auffassung des Landtags verfallen ist, wie rückhaltlos er das Privilegium des
Landstandes gegen das Recht des Landes verficht, wird der Verfolg seiner
Rede beweisen.
„Die Ausdehnung dieser Erlaubnis" (der Publikation der Debatten) „könne nur
aus der innern Überzeugung, nicht aber aus den äußern Einwirkungen hervorgehen."
Eine überraschende Wendung! Die Einwirkung der Provinz auf ihren
Landtag wird als ein Außeres bezeichnet, dem die Überzeugung der Landstände als zartsinnige Innerlichkeit gegenübersteht, deren höchstirritable Natur
der Provinz zuruft: „Noli me tangere!" t31] Um so denkwürdiger ist diese
elegische Floskel von der „inneren Überzeugung" gegenüber dem rauhen,
äußerlichen, unberechtigten Nordwind der „öffentlichen Überzeugung", als
der Antrag gerade darauf geht, die „innere Überzeugung" der Landstände
äußerlich zu machen. Allerdings finden wir auch hier Inkonsequenz. Wo es
dem Redner füglicher scheint, in den kirchlichen Kontroversen, provoziert er
auf die Provinz.
„Wir", fährt der Redner fort, „würden sie" (die Publikation) „eintreten lassen, da,
wo wir es für zweckmäßig erachten, und sie beschränken, da, wo uns eine Ausdehnung
zwecklos oder gar Wohl schädlich erschiene."
Wir werden tun, was wir wollen. Sic volo, sie jubeo, stat pro ratione
voluntas.*-32-1 Es ist vollständige Herrschersprache, die allerdings im Munde
eines modernen Standesherrn einen rührenden Beischmack hat.
Wer sind „wir"7 Die Landstände. Die Veröffentlichung der Debatten ist
für die Provinz und nicht für die Stände, aber Redner belehrt uns des Bessern.
Auch die Publikation der Verhandlungen ist ein Privilegium der Landstände,
die das Recht haben, wenn sie es passend finden, ihrer Weisheit das vielstimmige Echo des Preßbengels zu geben.
Der Redner kennt nur die Provinz der Landstände, nicht die Landstände
der Provinz. Die Landstände haben eine Provinz, worauf das Privilegium
ihrer Tätigkeit sich erstreckt, aber die Provinz hat keine Landstände, durch
welche sie selbst tätig wäre. Allerdings hat die Provinz das Recht, unter vorgeschriebenen Bedingungen, sich diese Götter zu machen, aber gleich nach
der Schöpfung muß sie, wie der Fetischdiener, vergessen, daß es Götter ihres
Händewerks sind.
Es ist dabei unter anderm nicht abzusehen, warum eine Monarchie ohne
Landtag nicht mehr wert ist als eine Monarchie mit Landtag, denn ist der
Landtag nicht die Repräsentation des Provinzialwillens, so hegen wir zur
öffentlichen Intelligenz der Regierung mehr Vertrauen als zur Privatintelligenz von Grund und Boden.
Wir haben hier das sonderbare, vielleicht im Wesen der Landtage gegründete Schauspiel, daß die Provinz nicht sowohl durch als mit ihren Stellvertretern zu kämpfen hat. Nach dem Redner hält der Landtag nicht die allgemeinen Rechte der Prövinz für seine einzigen Privilegien, denn in diesem
Fall wäre die tägliche unverkürzte Publikation der Landtagsverhändlungen
ein neues Recht des Landtags, weil des Landes, sondern vielmehr soll das Land
die Vorrechte der Landstände für seine einzigen Rechte halten; warum nicht
auch die Vorrechte irgendeiner Beamtenklasse und des Adels oder der Priester!
Ja, unser Redner spricht unverhohlen aus, daß die Vorrechte der Landstände in dem Maße abnehmen, als die Rechte der Provinz zunehmen.
„Ebenso wünschenswert es ihm erscheine, daß hier in der Versammlung Freiheit
der Diskussion stattfände und ein ängstliches Abwägen der Worte vermieden würde,
ebenso notwendig erscheine es ihm zur Erhaltung dieser Freiheit des Wortes und dieser
Unbefangenheit der Rede, daß unsere Worte zur Zeit nur noch von denjenigen beurteilt
würden, für die sie bestimmt seien."
Eben weil die Freiheit der Diskussion, schließt der Redner, in unserer Versammlung wünschenswert ist - und welche Freiheiten wären uns nicht wünschenswert, wo es sich von uns handelt - , eben darum ist die Freiheit der
Diskussion in der Provinz höchst unwünschenswert. Weil es wünschenswert
ist, daß wir unbefangen sprechen, ist es noch wünschenswerter, die Provinz in
der Gefangenschaft des Geheimnisses zu erhalten. Unsere Worte sind nicht
für die Provinz bestimmt.
Man muß den Takt anerkennen, womit der Redner herausgefühlt hat,
daß der Landtag durch die unverkürzte Publikation seiner Debatten aus
einem Vorrecht der Landstände ein Recht der Provinz würde, daß er, unmittelbar Gegenstand des öffentlichen Geistes geworden, sich entschließen
müßte, eine Vergegenständlichung des öffentlichen Geistes zu sein, daß er,
in das Licht des allgemeinen Bewußtseins gestellt, sein besondres Wesen
gegen das allgemeine aufzugeben hätte.
Wenn aber der ritterliche Redner persönliche Privilegien, individuelle,
dem Volke und der Regierung gegenüberstehende Freiheiten für die allgemeinen Rechte versieht und damit unstreitig den exklusiven Geist seines
Standes treffend ausgesprochen hat, so interpretiert er dagegen den Geist der
Provinz aufs allerverkehrteste, wenn er nun ebenfalls ihre allgemeinen Forderungen in persönliche Gelüste umwandelt.
4 Marx/Engels, Werke, Bd. 1
So scheint der Redner eine persönlich-lüsterne Neugier der Provinz auf
unsere Worte (sc. der landständischen Persönlichkeiten) zu unterstellen.
Wir versichern ihm, daß die Provinz keineswegs neugierig ist auf „die
Worte" der Landstände als einzelner Personen, und nur „solche" Worte
können sie mit Recht „ihre" Worte nennen. Vielmehr verlangt die Provinz,
daß die Worte der Landstände sich verwandeln sollen in die öffentlich vernehmbare Stimme des Landes.
Es handelt sich davon, ob die Provinz ein Bewußtsein über ihre Vertretung
haben soll oder nicht! Soll zu dem Mysterium der Regierung das neue
Mysterium der Vertretung hinzukommen? Auch in der Regierung ist das
Volk vertreten. Die neue Vertretung desselben durch die Stände ist also rein
sinnlos, wenn nicht eben darin ihr spezifischer Charakter besteht, daß hier
nicht für die Provinz gehandelt wird, sondern daß sie vielmehr selbst handelt;
daß sie hier nicht repräsentiert wird, sondern vielmehr sich selbst repräsentiert. Eine Repräsentation, die dem Bewußtsein ihrer Kommittenten entzogen
ist, ist keine. Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß. Es ist der sinnlose
Widerspruch, daß die Funktion des Staats, die vorzugsweise die Selbsttätigkeit der einzelnen Provinzen darstellt, sogar ihrem formellen Mitwirken, dem
Mitwissen entzogen ist, der sinnlose Widerspruch, daß meine Selbsttätigkeit
die mir unbewußte Tat eines andern sein soll.
Eine Publikation der Landtagsverhandlungen aber, die der Willkür der
Landstände anheimgefallen ist, ist schlechter als gar keine, denn wenn der
Landtag mir gibt, nicht was er ist, sondern was er für mich scheinen will, so
nehme ich ihn als das, als was er sich gibt, als Schein, und es ist schlimm,
wenn der Schein gesetzliche Existenz hat.
Ja selbst die tägliche unverkürzte Veröffentlichung durch den Druck, heißt
sie mit Recht unverkürzt und öffentlich? Ist es keine Verkürzung, die Schrift
dem Wort, Schemata den Personen, die papieme Aktion der wirklichen Aktion
zu substituieren? Oder besteht die Öffentlichkeit nur darin, daß die wirkliche
Sache dem Publikum referiert, und nicht vielmehr darin, daß sie dem wirk'
liehen Publikum referiert wird, d. h. nicht dem imaginären lesenden, sondern
dem lebendigen, gegenwärtigen Publikum?
Nichts ist widersprechender, als daß die höchste öffentliche Aktion der
Provinz geheim sei, daß die Gerichtstüre zu Privatprozessen der Provinz
offensteht und daß sie in ihrem eignen Prozesse vor der Tür stehenbleiben
muß.
Die unverkürzte Publikation der Landtagsverhandlungen kann daher in
ihrem wahren konsequenten Sinn nichts anders sein als die volle Öffentlichkeit des Landtags.
Unser Redner geht im Gegenteil dahin fort, den Landtag als eine Art
Estaminet zu betrachten.
„Auf eine langjährige Bekanntschaft sei bei den meisten von uns das gute persönliche
Einvernehmen gegründet, in welchem wir uns trotz der verschiedensten Ansichten über
die Sachen befänden, ein Verhältnis, welches sich auf die neu Eintretenden vererbe."
„Grade dadurch seien wir am meisten imstande, den Wert unsrer Worte zu würdigen, und würde dies um so unbefangener geschehen, je weniger wir äußern Einflüssen eine Einwirkung gestatteten, die nur alsdann von Nutzen sein dürften, wenn sie
uns in der Gestalt eines wohlmeinenden Rates zur Seite treten, nicht aber in der Gestalt
eines absprechenden Urteils, eines Lobes und Tadels, auf unsere Persönlichkeit durch
die Öffentlichkeit einzuwirken suchen."
Der Herr Redner spricht zum Gemüt.
Wir sind so familiär zusammen, wir parlieren so ungeniert, wir wägen so
genau den Wert unsrer respektiven Worte, sollten wir unsre so patriarchalische, so vornehme, so bequeme Stellung durch das Urteil der Provinz alterieren lassen, die unsern Worten vielleicht weniger Wert beimißt?
Da sei Gott für. Der Landtag verträgt den Tag nicht. In der Nacht des
Privatlebens ist uns heimlicher zumute. Wenn die ganze Provinz das Vertrauen hat, ihre Rechte einzelnen Individuen anzuvertrauen, so versteht es
sich von selbst, daß diese einzelnen Individuen so herablassend sind, das
Vertrauen der Provinz zu akzeptieren, aber es wäre wirkliche Überspanntheit,
zu verlangen, sie sollten nun Gleiches mit Gleichem vergelten und vertrauensvoll sich selbst, ihre Leistungen, ihre Persönlichkeiten, dem Urteil der Provinz hingeben, die ihnen erst ein Urteil von Konsequenz gegeben hat. Jedenfalls ist es wichtiger, daß die Persönlichkeit der Landstände nicht durch die
Provinz, als daß das Interesse der Provinz nicht durch die Persönlichkeit der
Landstände gefährdet werde.
Wir wollen auch billig sein, auch huldvollst. Wir, und wir sind eine Art
Regierung, wir erlauben zwar kein absprechendes Urteil, zwar kein Lob, zwar
keinen Tadel, wir erlauben der Öffentlichkeit keinen Einfluß auf unsre persona
sacrosancta1, aber wir gestatten wohlmeinenden Rat, nicht in dem abstrakten
Sinn, daß er es für das Land wohlmeine, sondern in dem voller tönenden,
daß er eine passionierte Zärtlichkeit für die landständischen Personen, eine
besondere Meinung von ihrer Vorzüglichkeit besitze.
Zwar könnte man meinen, wenn die Öffentlichkeit unserm guten Einvernehmen, so müsse unser gutes Einvernehmen der Öffentlichkeit schädlich
sein. Allein diese Sophistik vergißt, daß der Landtag der Tag der Landstände
1
geheiligte Person
und nicht der Tag der Provinz ist. Und wer vermöchte dem schlagendsten
aller Argumente zu widerstehen? Wenn die Provinz verfassungsmäßig Stände
ernennt, um ihre allgemeine Intelligenz zu repräsentieren, so hat sie sich selbst
eben damit alles eignen Urteils und Verstandes völlig begeben, die nun einzig
in den Auserwählten inkorporiert sind. Wie Sagen gehen, daß große Erfinder getötet oder, was keine Sage ist, lebendig auf Festungen vergraben
wurden, sobald sie ihr Geheimnis dem Machthaber mitgeteilt, so stürzt sich
die politische Vernunft der Provinz jedesmal ins eigne Schwert, sobald sie
die große Erfindung der Landstände gemacht hat, allerdings um als Phönix
für die folgenden Wahlen neu zu erstehen.
Nach diesen gemütvoll zudringlichen Schilderungen der Gefahren, die
den landständischen Persönlichkeiten durch die Publikation der Verhandlungen von außen, d. h. von der Provinz drohen, schließt der Redner diese
Diatribe mit dem leitenden Gedanken, den wir bisher verfolgt haben.
„Die parlamentarische Freiheit", ein sehr wohlklingendes Wort, „befinde sich in
ihrer ersten Entwicklungsperiode. Sie müsse unter Schutz und Pflege diejenige innere
Kraft und Selbständigkeit gewinnen, die durchaus notwendig wären, bevor sie äußeren
Stürmen ohne Nachteil preisgegeben werden könnte."
Wieder der alte fatale Gegensatz des Landtags als des Innern und der
Provinz als des Äußern.
Wir waren allerdings schon lange der Meinung, daß die parlamentarische
Freiheit erst im Anfang ihres Anfanges steht, und selbst vorliegende Rede hat
uns von neuem überzeugt, daß die primitiae studiorum in den politicis1 noch
immer nicht absolviert sind. Keineswegs aber meinen wir damit - und die
vorliegende Rede bestätigt wiederum unsere Meinung - , daß dem Landtag
noch längere Frist zu geben sei, sich selbständig zu verknöchern, gegen die
Provinz. Vielleicht versteht der Redner unter parlamentarischer Freiheit die
Freiheit der alten französischen Parlamente. Nach seinem eignen Geständnis
herrscht eine langjährige Bekanntschaft unter den Landständen, ihr Geist
geht schon als epidemisches Erbe auf die homines novi2 über, und noch
immer nicht Zeit zur Öffentlichkeit? Der 12. Landtag kann dieselbe Antwort
geben wie der 6., nur mit der dezidierteren Wendung, daß er zu selbständig sei,
um sich das vornehme Privilegium des geheimen Verfahrens entreißen zu lassen.
Allerdings die Entwicklung der parlamentarischen Freiheit im altfranzösischen Sinn, die Selbständigkeit gegen die öffentliche Meinung, die Stagnation des Kastengeistes entwickelt sich durch Isolierung am gründlichsten,
aber vor eben dieser Entwicklung kann man nicht zeitig genug warnen. Eine
1
Anfangsgründe der Wissenschaften in den politischen Dingen -
2
neuen Menschen
wahrhaft politische Versammlung gedeiht nur unter dem großen Protektorat
des öffentlichen Geistes, wie das Lebendige nur unter dem Protektorat der
freien Luft. Bloß „exotische" Pflanzen, Pflanzen, die in ein fremdes Klima
versetzt sind, bedürfen Schutz und Pflege des Treibhauses. Betrachtet der
Redner den Landtag als eine „exotische" Pflanze im freien heitern Klima der
Rheinprovinz?
Wenn unser Redner aus dem Ritterstande mit fast komischem Ernst, mit
fast melancholischer Würde und beinah religiösem Pathos das Postulat von
der hohen Weisheit der Landstände, wie von ihrer mittelaltrigen Freiheit und
Selbständigkeit entwickelt hat, so wird der Unkundige verwundert sein, ihn
in der Frage über Preßfreiheit von der hohen Weisheit des Landtags auf die
durchgängige Unweisheit des Menschengeschlechts, von der oben erst empfohlenen Selbständigkeit und Freiheit privilegierter Stände auf die prinzipielle
Unfreiheit und Unselbständigkeit der menschlichen Natur herabsinken zu sehen.
Wir sind nicht verwundert, einer der heutzutag zahlreichen Gestalten des
christlich ritterlichen, modern feudalen, kurz des romantischen Prinzips zu
begegnen.
Diese Herren, weil sie die Freiheit nicht als natürliche Gabe dem allgemeinen Sonnenlicht der Vernunft, sondern als übernatürliches Geschenk
einer besonders günstigen Konstellation der Sterne verdanken wollen, weil
sie die Freiheit als nur individuelle Eigenschaft gewisser Personen und Stände
betrachten, sind konsequenterweise genötigt, die allgemeine Vernunft und
die allgemeine Freiheit unter die schlechten Gesinnungen und Hirngespinste
„logisch geordneter Systeme" zu subsumieren. Um die besondern Freiheiten
des Privilegiums zu retten, proskribieren sie die allgemeine Freiheit der
menschlichen Natur. Weil aber die böse Brut des neunzehnten Jahrhunderts
und das eigne von diesem Jahrhundert infizierte Bewußtsein der modernen
Ritter nicht begreiflich finden können, was an sich unbegreiflich, weil begrifflos ist, wie nämlich innere, wesentliche, allgemeine Bestimmungen durch
äußere, zufällige, besondere Kuriosa mit gewissen menschlichen Individuen
verknüpft sein sollten, ohne mit dem Wesen des Menschen, mit der Vernunft
überhaupt verknüpft, also allen Individuen gemein zu sein, so nehmen sie
notwendigerweise ihre Zuflucht zum Wunderbaren und Mystischen. Weil
ferner die wirkliche Stellung dieser Herren im modernen Staat keineswegs
dem Begriff entspricht, den sie von ihrer Stellung haben, weil sie in einer
Welt leben, die jenseits der wirklichen liegt, weil also die Einbildungskraft ihr
Kopf und ihr Herz ist, so greifen sie, in der Praxis unbefriedigt, notwendig
zur Theorie, aber zur Theorie des Jenseits, zur Religion, die jedoch in ihren
Händen eine polemische, von politischen Tendenzen geschwängerte Bitter-
keit empfängt und mehr oder weniger bewußt nur der Heiligenmantel für
sehr weltliche, aber zugleich sehr phantastische Wünsche wird.
So werden wir bei unserm Redner finden, daß er praktischen Forderungen
eine mystisch religiöse Theorie der Einbildung, daß er wirklichen Theorien
eine kleinlich-kluge, pragmatisch-pfiffige, aus der oberflächlichsten Praxis geschöpfte Erfahrungsweisheit, daß er dem menschlich Verständigen übermenschliche Heiligkeiten und dem wirklichen Heiligtum der Ideen die Willkür und den Unglauben niedriger Gesichtspunkte entgegenstellt. Aus der
mehr vornehmen, mehr nonchalanten und daher nüchternen Sprache des
Redners aus dem Fürstenstand wird jetzt pathetische Geschraubtheit und
phantastisch-überschwengliche Salbung, die früher vor dem reinen Pathos
des Privilegiums noch mehr zurücktraten.
„Je weniger in Abrede gestellt werden könne, daß die Presse heutzutage eine politische Macht sei, um so irriger erscheine ihm die ebenfalls so vielfach verbreitete A n sicht, daß aas dem Kampfe zwischen der guten und bösen Presse Wahrheit und Licht hervorgehen werde und sich eine größere und wirksamere Verbreitung derselben erwarten lasse. Der Mensch sei im Einzelnen wie in Masse stets derselbe. Er sei seiner Natur
nach unvollkommen und unmündig und bedürfe der Erziehung, solange seine Entwicklung daure, die erst mit dem Tode aufhöre. Die Kunst des Erziehens bestehe aber nicht
im Bestrafen unerlaubter Handlungen, sondern in der Förderung guter und in dem
Fernhalten böser Eindrücke. Von jener menschlichen Unvollkpmmenheit sei abeir unzertrennlich, daß der Sirenengesang des Bösen auf die Massen mächtig wirke und, wenn
nicht als ein absolutes, jedenfalls als ein schwer zu besiegendes Hindernis der einfachen
und nüchternen Stimme der Wahrheit entgegentrete. Während die schlechte Presse
nur zu den Leidenschaften der Menschen rede, während ihr kein Mittel zu schlecht
sei, wo es darauf ankomme, durch Aufregung der Leidenschaften ihren Zweck z u er-
reichen, der da ist möglichste Verbreitung schlechter Grundsätze und möglichste Förderung
schlechter Gesinnungen, während ihr alle Vorteile jener gefährlichsten aller Offensiven
zur Seite stehen, für die es objektiv keine Schranken des Rechts und subjektiv keine
Gesetze der Sittlichkeit, ja nicht einmal der äußeren Ehre gebe, sei die gute Presse
stets nur auf die Defensive beschränkt. Ihre Wirkungen können größtenteils nur abwehrend, zurückhaltend und festigend sein, ohne sich bedeutender Fortschritte auf das
feindliche Gebiet rühmen zu können. Glück genug, wenn nicht äußere Hindernisse
jenes noch erschweren."
Wir haben diese Stelle ganz ausgezogen, um ihren etwaigen pathetischen
Eindruck auf den Leser nicht zu schwächen.
Der Redner hat sich ä la hauteur des principes1 gestellt. Um die Preßfreiheit zu bekämpfen, muß man die permanente Unmündigkeit des Menschengeschlechts verteidigen. Es ist eine ganz tautologische Behauptung, daß,
1
auf die Höhe der Prinzipien
wenn die Unfreiheit das Wesen des Menschen, die Freiheit seinem Wesen
widerspricht. Böse Skeptiker könnten so waghalsig sein, dem Redner nicht
auf sein Wort zu glauben.
Wenn die Unmündigkeit des Menschengeschlechts der mystische Grund
gegen die Preßfreiheit ist, so ist jedenfalls die Zensur ein höchst verständiges
Mittel gegen die Mündigkeit des Menschengeschlechts.
Was sich entwickelt, ist unvollkommen. Die Entwicklung endet erst mit
dem Tode. Also bestünde die wahre Konsequenz darin, den Menschen totzuschlagen, um ihn aus diesem Zustand der Unvollkommenheit zu erlösen.
So schließt wenigstens der Redner, um die Preßfreiheit totzuschlagen. Die
wahre Erziehung besteht ihm darin, den Menschen sein ganzes Leben durch
in der Wiege eingewickelt zu halten, denn sobald der Mensch gehen lernt,
lernt er auch fallen, und nur durch Fallen lernt er gehen. Aber wenn wir
alle Wickelkinder bleiben, wer soll uns einwickeln? Wenn wir alle in der
Wiege liegen, wer soll uns wiegen? Wenn wir alle Gefangene sind, wer soll
Gefangenwärter sein?
Der Mensch ist seiner Natur nach unvollkommen, im Einzelnen wie in
Masse. De principiis non est disputandum.1 Also zugegeben! Was folgt
daraus? Die Räsonnements unseres Redners sind unvollkommen, die Regierungen sind unvollkommen, die Landtage sind unvollkommen, die Preßfreiheit ist unvollkommen, jede Sphäre der menschlichen Existenz ist unvollkommen. Soll also eine dieser Sphären wegen dieser Unvollkommenheit
nicht existieren, so hat keine das Recht zu existieren, so hat der Mensch
überhaupt nicht das Recht der Existenz.
Die prinzipielle Unvollkommenheit des Menschen vorausgesetzt, nun
gut, so wissen wir von vornherein bei allen menschlichen Institutionen, daß
sie unvollkommen sind; das ist nicht weiter zu berühren, das spricht nicht
für, spricht nicht gegen sie, das ist nicht ihr spezifischer Charakter, das ist
nicht ihr Unterscheidungsmerkmal.
Warum soll gerade die freie Presse unter allen diesen Unvollkommenheiten vollkommen sein? Warum verlangt ein unvollkommener Landstand
eine vollkommene Presse?
Das Unvollkommene bedarf der Erziehung. Ist die Erziehung nicht auch
menschlich, daher unvollkommen? Bedarf die Erziehung nicht auch der Erziehung?
Wenn nun alles Menschliche seiner Existenz nach unvollkommen ist,
sollen wir deswegen alles durcheinanderwerfen, alles gleich hoch achten,
1
Über Grundsätze läßt sich nicht streiten.
Gutes und Schlechtes, Wahrheit und Lüge? Die wahre Konsequenz kann
nur darin bestehen, wie ich bei der Betrachtung eines Gemäldes den Standpunkt verlasse, der mir nur Farbenkleckse, aber keine Farben, wüst durcheinanderlaufende Linien, aber keine Zeichnung gibt, so den Standpunkt zu
verlassen, der mir die Welt und die menschlichen Verhältnisse nur in ihrem
äußerlichsten Schein zeigt, ihn als unfähig zu erkennen, den Wert der Dinge
zu beurteilen, denn wie könnte mich ein Standpunkt zum Urteil, zum
Unterscheiden befähigen, der über das ganze Universum nur den einen
platten Einfall hat, daß alles in seiner Existenz unvollkommen ist? Dieser
Standpunkt selbst ist das Unvollkommenste unter den Unvollkommenheiten, die er rings um sich sieht. Wir müssen also das Maß des Wesens der
innern Idee an die Existenz der Dinge legen und uns um so weniger durch
die Instanzen einer einseitigen und trivialen Erfahrung irren lassen, als dieser
zufolge ja alle Erfahrung wegfällt, alles Urteil aufgehoben ist, alle Kühe
schwarz sind.
Von dem Standpunkte der Idee aus versteht es sich von selbst, daß die
Preßfreiheit eine ganz andere Berechtigung hat als die Zensur, indem sie
selbst eine Gestalt der Idee, der Freiheit, ein positiv Gutes ist, während die
Zensur eine Gestalt der Unfreiheit, die Polemik einer Weltanschauung des
Scheins gegen die Weltanschauung des Wesens, eine nur negative Natur ist.
Nein! Nein! Nein! ruft unser Redner dazwischen. Ich tadle nicht die Erscheinung, ich tadle das Wesen. Die Freiheit ist das Verruchte an der Preßfreiheit. Die Freiheit gibt die Möglichkeit des Bösen. Also ist die Freiheit
böse.
Böse Freiheit!
„Er hat sie erstochen im dunklen Hain,
Und den Leib versenket im tiefen Rhein!"1-33-1
Aber:
.
n
• ,
„Diesmal muli ich zu dir reden,
Herr und Meister, hör' mich ruhig!"
Existiert etwa im Lande der Zensur nicht die Preßfreiheit? Die Presse überhaupt ist eine Verwirklichung der menschlichen Freiheit. Wo es also Presse
gibt, gibt es Preßfreiheit.
Im Lande der Zensur hat zwar der Staat keine Preßfreiheit, aber ein
Staatsglied hat sie, die Regierung. Abgesehen davon, daß die offiziellen
Regierungsschriften vollkommene Preßfreiheit haben, übt nicht der Zensor
täglich eine unbedingte Preßfreiheit aus, wenn auch nicht direkt, so indirekt?
Die Schriftsteller sind gleichsam seine Sekretäre. Wo der Sekretär nicht
die Meinung des Prinzipals ausdrückt, streicht dieser das Machwerk. Die
Zensur schreibt also die Presse.
Die Querstriche des Zensors sind für die Presse dasselbe, was die graden
Linien - die KuasC34:i - der Chinesen für das Denken sind. Die Kuas des
Zensors sind die Kategorien der Literatur, und bekanntlich sind die Kategorien die typischen Seelen des weiteren Inhalts.
Die Freiheit ist so sehr das Wesen der Menschen, daß sogar ihre Gegner
sie realisieren, indem sie ihre Realität bekämpfen; daß sie als kostbarsten
Schmuck sich aneignen wollen, was sie als Schmuck der menschlichen Natur
verwarfen.
Kein Mensch bekämpft die Freiheit; er bekämpft höchstens die Freiheit
der andern. Jede Art der Freiheit hat daher immer existiert, nur einmal als
besonderes Vorrecht, das andre Mal als allgemeines Recht.
Die Frage hat jetzt erst einen konsequenten Sinn erhalten. Es fragt sich
nicht, ob die Preßfreiheit existieren solle, denn sie existiert immer. Es fragt
sich, ob die Preßfreiheit das Privilegium einzelner Menschen oder ob sie das
Privilegium des menschlichen Geistes ist? Es fragt sich, ob das Unrecht der
einen Seite sein soll, was das Recht der andern ist? Es fragt sich, ob die
„Freiheit des Geistes" mehr Recht hat als „die Freiheiten gegen den Geist"?
Wenn aber die „freie Presse" und die „Preßfreiheit" als Verwirklichung
der „allgemeinen Freiheit" zu verwerfen sind, so sind es Zensur und zensierte
Presse noch mehr als Verwirklichung einer bksondern Freiheit, denn wie kann
die Art gut sein, wenn die Gattung schlecht ist? Wenn der Redner konsequent
wäre, so müßte er nicht die freie Presse, sondern die Presse verwerfen. Nach
ihm wäre sie erst dann gut, wenn sie kein Produkt der Freiheit, d.h. kein
menschliches Produkt wäre. Zur Presse überhaupt wären also entweder nur
die TVere oder die Göffer berechtigt.
Oder sollen wir etwa - der Redner wagt nicht, es auszusprechen-göttliche
Inspiration in der Regierung und in ihm selbst unterstellen?
Wenn eine Privatperson sich göttlicher Inspiration rühmt, so gibt es in
unseren Gesellschaften nur einen Redner, der sie amtlich widerlegt: den
Irrenarzt*
Die englische Geschichte hat aber wohl zur Genüge dargetan, wie die Behauptung der göttlichen Inspiration von oben die Gegenbehauptung der
göttlichen Inspiration von unten erzeugt, und Karl der Erste stieg aufs
Schafott aus göttlicher Inspiration von unten.
* Als Kuriösum bemerken wir, daß der Redner, dem hier der Irrenarzt entgegengehalten wird, sich einige Jähre später im Irrenhause befand.
Unser Redner aus dem Ritterstande geht zwar dahin fort, wie wir später
hören werden, Zensur und Preßfreiheit, zensierte Presse und freie Presse als
zwei Übel zu schildern, aber er kömmt nicht dazu, die Presse überhaupt als
das Übel zu bekennen.
Im Gegenteil! Er teilt die ganze Presse in die „gute" und in die „schlechte"
Presse ein.
Von der schlechten Presse wird uns das Unglaubliche erzählt, daß die
Schlechtigkeit und die möglichste Verbreitung der Schlechtigkeit ihr Zweck
sei. Wir übergehen, daß Redner unsrer Leichtgläubigkeit zuviel zutraut,
wenn er verlangt, wir sollten auf sein Wort an eine Schlechtigkeit von Profession
glauben. Wir erinnern ihn nur an das Axiom, daß alles Menschliche unvollkommen ist. Wird daher nicht auch die schlechte Presse unvollkommen
schlecht, also gut, und die gute Presse unvollkommen gut, also schlecht sein?
Aber der Redner zeigt uns die Kehrseite. Er behauptet, daß die schlechte
Presse besser als die gute sei, denn die schlechte befinde sich stets in der
Offensive, die gute in der Defensive. Nun hat er uns aber selbst gesagt, daß
die Entwicklung des Menschen erst mit dem Tode endet. Er hat allerdings
nicht viel damit gesagt, er hat nichts damit gesagt, als daß das Leben mit dem
Tode endet. Wenn aber das Leben des Menschen Entwicklung ist und die
gute Presse stets in der Defensive ist, „sich nur abwehrend, zurückhaltend
und festigend" verhält, opponiert sie damit nicht kontinuierlich gegen die
Entwicklung, also gegen das Leben? Entweder ist also diese gute defensive
Presse schlecht, oder die Entwicklung ist das Schlechte, wodurch denn auch
die vorherige Behauptung des Redners, daß der Zweck der „schlechten
Presse möglichste Verbreitung schlechter Grundsätze und möglichste Förderung schlechter Gesinnungen" sei, ihre mystische Unglaublichkeit in der
rationalen Interpretation verliert; die möglichste Verbreitung von Grundsätzen und die möglichste Förderung der Gesinnung sei das Schlechte an der
schlechten Presse.
Das Verhältnis der guten und schlechten Presse wird noch sonderbarer,
wenn uns Redner versichert, daß die gute Presse ohnmächtig und die schlechte
allmächtig sei; denn die erstere sei ohne Wirkung auf das Volk, während die
letztere unwiderstehlich wirke. Die gute Presse und die ohnmächtige Presse
sind dem Redner identisch. Will er nun behaupten, daß das Gute ohnmächtig
oder daß das Ohnmächtige gut sei?
Er stellt dem Sirenengesang der schlechten Presse die nüchterne Stimme
der guten gegenüber. Mit nüchterner Stimme läßt sich doch wohl am besten
und effektvollsten singen. Der Redner scheint nur die sinnliche Hitze der
Leidenschaft, aber nicht die heiße Leidenschaft der Wahrheit, nicht den
siegesgewissen Enthusiasmus der Vernunft, nicht das unwiderstehliche Pathos der sittlichen Mächte kennengelernt zu haben.
Unter die Gesinnungen der schlechten Presse subsumiert er „den Stolz,
der keine Autorität in Kirche und Staat anerkennt", den „Neid", der die Abschaffung der Aristokratie predigt, und anderes, worauf wir später eingehen
werden. Einstweilen begnügen wir uns mit der Frage, woher der Redner dies
Isolierte als das Gute weiß? Wenn die allgemeinen Mächte des Lebens
schlecht sind, und wir haben gehört, daß das Schlechte das Allmächtige, das
auf die Massen Wirkende ist, was und wer ist noch berechtigt, sich für gut
auszugeben? Es ist dies die hochmütige Behauptung: Meine Individualität
ist das Gute, die paar Existenzen, die meiner Individualität zusagen, sind das
Gute, und die böse schlechte Presse will das nicht anerkennen. Die schlechte
Presse!
Hat der Redner gleich im Beginn den Angriff auf die Preßfreiheit in einen
Angriff auf die Freiheit verwandelt, so verwandelt er ihn hier in einen Angriff auf das Gute. Seine Furcht vor dem Schlechten zeigt sich als eine Furcht
vor dem Guten. Er fundiert die Zensur also auf eine Anerkennung des
Schlechten und eine Verkennung des Guten, oder verachte ich etwa einen
Menschen nicht, dem ich vorher sage, daß sein Gegner im Kampfe siegen
muß, weil er selbst zwar ein sehr nüchterner Gesell und ein sehr guter Nachbar, aber ein sehr schlechter Held sei, weil er zwar geweihte Waffen trage,
aber sie nicht zu führen wisse, weil zwar ich und er, wir beide, von seiner
Vollkommenheit vollkommen überzeugt seien, aber die Welt nie diese Überzeugung teilen werde, weil es zwar gut um seine Meinung, aber elend um
seine Energie stehe?
Sosehr nun die Distinktionen des Redners von guter und schlechter
Presse alle Widerlegung überflüssig gemacht haben, indem sie sich in ihren
eigenen Widersprüchen verschlingen, so dürfen wir doch die Hauptsache
nicht außer acht lassen, daß der Redner die Frage ganz falsch gestellt hat
und das zum Grund macht, was er begründen sollte.
Wenn man von zwei Arten der Presse sprechen will, so müssen diese
Unterschiede aus dem Wesen der Presse selbst, nicht aus Rücksichten, die
außerhalb ihrer liegen, genommen sein. Zensierte Presse oder freie Presse,
eine von beiden muß die gute oder die schlechte Presse sein. Eben darüber
wird ja debattiert, ob die zensierte oder die freie Presse gut oder schlecht sind,
d. h., ob es dem Wesen der Presse entspricht, eine freie öder unfreie Existenz
zu haben. Die schlechte Presse zur Widerlegung der freien Presse machen, ist
behaupten, daß die freie Presse schlecht und die zensierte gut sei, was eben
zu beweisen war.
Niedrige Gesinnungen, persönliche Schikanen, Infamien teilt die zensierte
Presse mit der freien Presse. Das bildet also nicht ihren Gattungsunterschied,
daß sie einzelne Produkte von dieser oder jener Art erzeugen; auch im
Sumpfe wachsen Blumen. Es handelt sich hier um das Wesen, um den
inneren Charakter, der zensierte Presse und freie Presse scheidet.
Die freie Presse, die schlecht ist, entspricht dem Charakter ihres Wesens
nicht. Die zensierte Presse mit ihrer Heuchelei, ihrer Charakterlosigkeit,
ihrer Eunuchensprache, ihrem hündischen Schwanzwedeln verwirklicht nur
die inneren Bedingungen ihres Wesens.
Die zensierte Presse bleibt schlecht, auch wenn sie gute Produkte erzeugt,
denn diese Produkte sind nur gut, insofern sie die freie Presse innerhalb der
zensierten darstellen, und insofern es nicht zu ihrem Charakter gehört, Produkte der zensierten Presse zu sein. Die freie Presse bleibt gut, auch wenn sie
schlechte Produkte erzeugt, denn diese Produkte sind Apostate von der Natur
der freien Presse. Ein Kastrat bleibt ein schlechter Mensch, wenn er auch
eine gute Stimme hat. Die Natur bleibt gut, wenn sie auch Mißgeburten hervorbringt.
Das Wesen der freien Presse ist das charaktervolle, vernünftige, sittliche
Wesen der Freiheit. Der Charakter der zensierten Presse ist das charakterlose
Unwesen der Unfreiheit, sie ist ein zivilisiertes Ungeheuer, eine parfümierte
Mißgeburt.
Oder bedarf es noch des Beweises, daß die Preßfreiheit dem Wesen der
Presse entspricht und die Zensur ihm widerspricht? Versteht es sich nicht
von selbst, daß die äußere Schranke eines geistigen Lebens nicht zum inneren
Charakter dieses Lebens gehört, daß sie dieses Leben verneint und nicht bejaht?
Um die Zensur wirklich zu rechtfertigen, hätte der Redner beweisen
müssen, daß die Zensur zum Wesen der Preßfreiheit gehört; statt dessen beweist er, daß die Freiheit nicht zum Wesen des Menschen gehört. Er verwirft die ganze Gattung, um eine gute Art zu erhalten, denn die Freiheit ist
doch wohl das Gattungswesen des ganzen geistigen Daseins, also auch der
Presse? Um die Möglichkeit des Bösen aufzuheben, hebt er die Möglichkeit
des Guten auf und verwirklicht das Schlechte, denn menschlich > gut kann
nur sein, was eine Verwirklichung der Freiheit ist.
Wir werden also die zensierte Presse so lang für die schlechte Presse
halten, als uns nicht bewiesen wird, daß die Zensur aus dem Wesen der Preßfreiheit selbst hervorgeht.
Aber selbst angenommen, die Zensur sei mit der Natur der Presse zusammen geboren, obgleich kein Tier, viel weniger ein geistiges Wesen, mit
Ketten auf die Welt kommt, was folgte daraus? Daß auch die Preßfreiheit,
wie sie von offizieller Seite existiert, daß auch die Zensur der Zensur bedürfte.
Und wer soll die Regierungspresse zensieren außer der Volkspresse?
Zwar meint ein anderer Redner1, das Übel der Zensur werde dadurch aufgehoben, daß es. verdreifacht wird, daß die Zensur unter Provinzialzensur
und die Provinzialzensur wieder unter Berliner Zensur gestellt und daß die
Preßfreiheit einseitig und die Zensur vielseitig gemacht würde. So viel Umschweife, um zu leben! Wer soll die Berliner Zensur zensieren? Also zu
tmserm Redner zurück.
Gleich im Anfange hatte er uns dahin belehrt, daß aus dem Kampf zwischen guter und böser Presse kein Licht hervorgehen werde, aber, können
wir jetzt fragen, will er nicht den nutzlosen Kampf permanent machen? Ist
nach ihm selbst der Kampf zwischen Zensur und Presse nicht ein Kampf
zwischen guter und schlechter Presse?
Die Zensur hebt den Kampf nicht auf, sie macht ihn einseitig, sie macht
aus einem offenen Kampf einen versteckten, sie macht aus einem Kampf
der Prinzipien einen Kampf des gewaltlosen Prinzips mit der prinziplosen
Gewalt. Die wahre, im Wesen der Preßfreiheit selbst gegründete Zensur ist
die Kritik; sie ist das Gericht, das sie aus sich selbst erzeugt. Die Zensur ist
die Kritik als Monopol der Regierung; aber verliert die Kritik nicht ihren
rationalen Charakter, wenn sie nicht offen, sondern geheim, wenn sie nicht
theoretisch, sondern praktisch, wenn sie nicht über den Parteien, sondern
selbst eine Partei, wenn sie nicht mit dem scharfen Messer des Verstandes
agiert, sondern mit der stumpfen Schere der Willkür, wenn sie die Kritik
nur ausüben, nicht ertragen will, wenn sie sich verleugnet, indem sie sich
gibt, wenn sie endlich so unkritisch ist, ein Individuum für die Universalweisheit, Machtsprüche für Vernunftsprüche, Tintenflecke für Sonnenflecke, die krummen Striche des Zensors für mathematische Konstruktionen
und Schläge für schlagende Argumente zu versehen?
Im Verlauf der Darstellung haben wir gezeigt, wie die phantastische,
salbungsvolle, weichherzige Mystik des Redners in die Hartherzigkeit einer
kleinlich-pfiffigen Verstandespragmatik und in die Borniertheit eines ideenlosen Erfahrungskalkül umschlägt. In seinem Räsonnement über das Verhältnis von Zensurgesetz und Preßgesetz, Präventiv- und Repressivmaßregeln
überhebt er uns dieser Mühe, indem er selbst zur bewußten Anwendung seiner
Mystik fortgeht.
„Präventiv- oder Repressivmaßregeln, Zensur oder Preßgesetz, das sei es, worum es
sich allein handle, wobei es jedoch nicht unzweckmäßig wäre, die Gefahren etwas näher
1
Carl Friedrich von Loe
ins Auge zu fassen, welche auf der einen oder auf der anderen Seite beseitigt werden
müßten. Während die Zensur dem Übel vorbeugen wolle, wolle das Preßgesetz die
Wiederholung durch Strafe verhüten. Unvollkommen, wie jede menschliche Einrichtung,
würden beide bleiben; welche am wenigsten, das sei hier die Frage. Da es sich um rein
geistige Dinge handele, so würde eine Aufgabe, und zwar die wichtigste bei beiden, nie
zu lösen sein. Es sei die, eine Form zu finden, welche die Absicht des Gesetzgebers so
klar und bestimmt ausdrücke, daß Recht und Unrecht scharf getrennt und jede Willkür beseitigt erscheine. Was ist aber Willkür anderes als Handeln nach individueller
Auffassung? Und wie sind die Wirkungen individueller Auffassungen zu beseitigen,
da wo es sich um rein geistige Dinge handelt? Eine Richtschnur zu finden, so scharf gezeichnet, daß sie die Notwendigkeit in sich trage, sie in jedem einzelnen Falle im Sinne
des Gesetzgebers anwenden zu müssen, das sei der Stein der Weisen, der bis dahin nicht
gefunden wurde und auch schwerlich zu finden sein dürfte; und somit sei die Willkür,
wenn man das Handeln nach individueller Auffassung hierunter verstehe, von Zensur
wie von Preßgesetz unzertrennlich. Wir hätten also beide in ihrer notwendigen U n vollkommenheit und in deren Folgen zu betrachten. Wenn die Zensur manches Gute
unterdrücken werde, so werde das Preßgesetz vieles Böse zu verhindern nicht imstande sein. Doch die Wahrheit lasse sich auf die Dauer nicht unterdrücken. Je mehr
Hindernisse ihr in den Weg gelegt würden, um desto kühner verfolge sie ihr Ziel, um
desto geläuterter erreiche sie dasselbe. Aber das böse Wort gleiche dem griechischen
Feuer1353, unaufhaltbar, nachdem es das Wurfgeschoß verlassen, unberechenbar in
seinen Wirkungen, weil ihm nichts heilig und unauslöschlich, weil es in dem Munde
wie in dem Herzen der Menschen Nahrung und Fortpflanzung fände."
Der Redner ist nicht glücklich in seinen Vergleichen. Eine poetische
Exaltation überfällt ihn, sobald er die Allmacht des Bösen schildert. Schon
einmal hörten wir dem Sirenengesang des Bösen die Stimme des Guten machtlos, weil nüchtern, entgegenschallen. Nun wird das Böse gar zum griechischen
Feuer, während der Redner für die Wahrheit gar keinen Vergleich hat, und
fassen wir für ihn seine „nüchternen" Worte in einen Vergleich, so wäre die
Wahrheit zum höchsten der Kieselstein, der um so lichtere Funken sprüht, je
mehr man ihn schlägt. Ein schönes Argument für die Sklavenhändler, aus
dem Neger die Menschheit herauszupeitschen, eine treffliche Maxime für den
Gesetzgeber, Repressivgesetze gegen die Wahrheit zu geben, damit sie desto
kühner ihr Ziel verfolge. Der Redner scheint erst Respekt vor der Wahrheit
zu haben, sobald sie naturwüchsig wird und sich handgreiflich demonstriert.
Je mehr Dämme ihr der Wahrheit entgegenwerft, eine um so tüchtigere
Wahrheit erhaltet ihr! Immer zugedämmt!
Doch lassen wir die Sirenen singen!
Die mystische „Unvollkommenheitstheorie" des Redners hat endlich ihre
irdischen Früchte getragen; sie hat ihre Mondsteine uns an den Kopf geworfen; betrachten wir die Mondsteine!
Alles ist unvollkommen. Zensur ist unvollkommen, Preßgesetz ist unvollkommen. Ihr Wesen ist damit erkannt. Uber das Recht ihrer Idee ist
nichts weiter zu sagen, uns bleibt nichts übrig, als vom Standpunkt der allerniedrigsten Empirie aus einen Wahrscheinlichkeitskalkül anzustellen, auf
welcher Seite die meisten Gefahren sind. Es ist ein rein zeitlicher Unterschied,
ob Maßregeln dem Übel selbst durch die Zensur oder der Wiederholung des
Übels durch das Preßgesetz vorbeugen.
Man sieht, wie der Redner durch die hohle Phrase von der „menschlichen
Unvollkommenheit" den wesentlichen, inneren, charakteristischen Unterschied von Zensur und Preßgesetz zu umgehen und die Kontroverse aus
einer Prinzipienfrage in die Jahrmarktsfrage umzuwandeln weiß, ob mehr
blaue Nasen bei dem Zensur- oder bei dem Preßgesetz davonzutragen
sind?
Wenn aber Preßgesetz und Zensurgesetz entgegengestellt werden, so
handelt es sich zunächst nicht um ihre Konsequenzen, sondern um ihren
Grund, nicht um ihre individuelle Anwendung, sondern um ihr allgemeines
Recht. Montesquieu lehrt schon, daß die Despotie in der Anwendung bequemer sei als die Gesetzlichkeit06-1, und Machiavelli behauptet, daß das
Schlechte für die Fürsten von besseren Konsequenzen sei als das Gute[37].
Wenn wir daher nicht das alte jesuitische Sprüchlein bewahrheiten wollen, daß
der gute Zweck - und selbst die Güte des Zwecks bezweifeln wir - schlechte
Mittel heiligt, so haben wir vor allem zu untersuchen, ob die Zensur ihrem
Wesen nach ein gutes Mittel sei.
Der Redner hat recht, wenn er das Zensurgesetz eine Präventivmaßregel
nannte, sie ist eine Vorsichtsmaßregel der Polizei gegen die Freiheit, aber er
hat unrecht, wenn er das Preßgesetz eine Repressivmaßregel nennt. Sie ist
die Regel der Freiheit selbst, die sich zum Maß ihrer Ausnahmen macht. Die
Zensurmaßregel ist kein Gesetz. Das Preßgesetz ist keine Maßregel.
Im Preßgesetz straft die Freiheit. Im Zensurgesetz wird die Freiheit bestraft. Das Zensurgesetz ist ein Verdachtsgesetz gegen die Freiheit. Das
Preßgesetz ist ein Vertrauensvotum, das die Freiheit sich selbst gibt. Das
Preßgesetz bestraft den Mißbrauch der Freiheit. Das Zensurgesetz bestraft
die Freiheit als einen Mißbrauch. Es behandelt die Freiheit als eine Verbrecherin, oder gilt es nicht in jeder Sphäre für Ehrenstrafe, unter polizeilicher Aufsicht zu stehen? Das Zensurgesetz hat nur die Form eines Gesetzes.
Das Preßgesetz ist ein wirkliches Gesetz.
Das Preßgesetz ist wirkliches Gesetz, weil es positives Dasein der Freiheit
ist. Es betrachtet die Freiheit als den normalen Zustand der Presse, die
Presse als ein Dasein der Freiheit und tritt daher erst in Konflikt mit dem
Preßvergehen als einer Ausnahme, die ihre eigne Regel bekämpft und sich
daher aufhebt. Die Preßfreiheit setzt sich als Preßgesetz durch, gegen die
Attentate auf sich selbst, d.h. gegen die Preßvergehen. Das Preßgesetz erklärt die Freiheit für die Natur des Verbrechers. Was er also gegen die Freiheit getan, hat er gegen sich selbst getan, und diese Selbstverletzung erscheint ihm als Strafe, die ihm eine Anerkennung seiner Freiheit ist.
Weit entfernt also, daß das Preßgesetz eine Repressivmaßregel gegen die
Preßfreiheit wäre, ein bloßes Mittel, um vor der Wiederholung des Verbrechens durch die Strafe abzuschrecken, so müßte vielmehr der Mangel einer
Preßgesetzgebung als die Ausschließung der Preßfreiheit aus der Sphäre der
rechtlichen Freiheit betrachtet werden, denn die rechtlich anerkannte Freiheit existiert im Staate als Gesetz. Gesetze sind keine Repressivmaßregeln
gegen die Freiheit, so wenig wie das Gesetz der Schwere eine Repressivmaßregel gegen die Bewegung ist, weil es zwar als Gravitationsgesetz die ewigen
Bewegungen der Weltkörper treibt, aber als Gesetz des Falls mich erschlägt,
wenn ich es verletze und in der Luft tanzen will. Die Gesetze sind vielmehr
die positiven, lichten, allgemeinen Normen, in denen die Freiheit ein
unpersönliches, theoretisches, von der Willkür des Einzelnen unabhängiges Dasein gewonnen hat. Ein Gesetzbuch ist die Freiheitsbibel eines
Volkes.
Das Preßgesetz ist also die gesetzliche Anerkennung der Preßfreiheit. Es ist
Recht, weil es positives Dasein der Freiheit ist. Es muß daher vorhanden sein,
und wenn es nie zur Anwendung kommt, wie in Nordamerika, während die
Zensur, so wenig wie die Sklaverei, jemals gesetzlich werden kann, und wenn
sie tausendmal als Gesetz vorhanden wäre..
Es gibt keine aktuellen Präventivgesetze. Das Gesetz präveniert nur als
Gebot. Tätiges Gesetz wird es erst, sobald es übertreten wird, denn wahres
Gesetz ist es nur, wenn in ihm das bewußtlose Naturgesetz der Freiheit
bewußtes Staatsgesetz geworden ist. Wo das Gesetz wirkliches Gesetz,
d.h. Dasein der Freiheit ist, ist es das wirkliche Freiheitsdasein des Menschen. Die Gesetze können also den Handlungen des Menschen nicht prävenieren, denn sie sind ja die innren Lebensgesetze seines Handelns selbst,
die bewußten Spiegelbilder seines Lebens. Das Gesetz tritt also vor dem
Leben des Menschen als einem Leben der Freiheit zurück, und erst, wenn
seine wirkliche Handlung gezeigt hat, daß er aufgehört, dem Naturgesetz der
Freiheit zu gehorchen, zwingt es ihn als Staatsgesetz, frei zu sein, wie die
physischen Gesetze nur dann erst als ein Fremdes gegenübertreten, wenn
mein Leben aufgehört hat, das Leben dieser Gesetze zu sein, wenn es
erkrankt ist. Ein Präventivgesetz ist also ein sinnloser Widerspruch.
Das Präventivgesetz hat daher kein Maß in sich, keine vernünftige Regel,
denn die vernünftige Regel kann nur aus der Natur der Sache, hier der
Freiheit, genommen sein. Es ist maßlos, denn wenn die Prävention der Freiheit sich durchsetzen will, so muß sie so groß sein wie ihr Gegenstand, d. h.
unbeschränkt. Das Präventivgesetz ist also der Widerspruch einer vmbeschränkten Beschränkung, und wo es aufhört, ist nicht durch die Notwendigkeit, sondern durch den Zufall der Willkür die Grenze gesetzt, wie die Zensur
täglich ad oculos demonstriert.
Der menschliche Leib ist von Natur sterblich. Krankheiten können daher
nicht ausbleiben. Warum wird der Mensch erst dem Arzte unterworfen,
wenn er erkrankt, und nicht, wenn er gesund ist? Weil nicht nur die Krankheit, weil schon der Arzt ein Übel ist. Durch eine ärztliche Kuratel wäre das
Leben als ein Übel und der menschliche Leib als Objekt der Behandlung für
Medizinalkollegien anerkannt. Ist der Tod nicht wünschenswerter als ein
Leben, das bloße Präventivmaßregel gegen den Tod? Gehört freie Bewegung
nicht auch zum Leben? Was ist jede Krankheit als in seiner Freiheit gehemmtes Leben? Ein perpetuierlicher Arzt wäre eine Krankheit, an der man
nicht einmal die Aussicht hätte, zu sterben, sondern zu leben. Mag das Leben
sterben; der Tod darf nicht leben.1 Die Zensur geht davon aus, die Krankheit
als den normalen Zustand, oder den normalen Zustand, die Freiheit, als eine
Krankheit zu betrachten. Sie versichert der Presse beständig, daß sie krank
sei, und mag diese die besten Proben ihrer gesunden Leibeskonstitution
geben, sie muß sich behandeln lassen. Aber die Zensur ist nicht einmal ein
literater Arzt, der je nach der Krankheit verschiedene innere Mittel anwendet.
Sie ist ein Chirurg vom Lande, der nur ein mechanisches Universalmittel für
alles kennt, die Schere. Und sie ist nicht einmal ein Chirurg, der meine Gesundheit bezweckt, sie ist ein chirurgischer Ästhetiker, der alles für überflüssig an meinem Körper hält, was ihm nicht gefällt, und abrasiert, was ihn
widrig affiziert; sie ist ein Quacksalber, der den Ausschlag zurücktreibt, um
ihn nicht zu sehen, ohne Sorge, ob er sich nun auf die edleren inneren Teile
wirft.
Ihr haltet es für Unrecht, Vögel einzufangen. Ist der Käfig nicht eine
Präventivmaßregel gegen Raubvögel, Kugeln und Stürme? Ihr haltet es für
barbarisch, Nachtigallen zu blenden, und euch dünkt keine Barbarei, mit
spitzen Zensurfedern der Presse die Augen auszustechen? Ihr haltet es für
1 In der „Rheinischen Zeitung" folgt noch der Satz: Hat der Geist nicht mehr Recht als der
Körper? Allerdings hat man dies oft dahin interpretiert, daß den Geistern von freier Motion die
körperliche Motion sogar schädlich und daher zu entziehen sei.
5 Marx/Engels, Werke, Bd. 1
despotisch, einem freien Menschen wider Willen die Haare zu schneiden,
und die Zensur schneidet den geistigen Individuen täglich ins Fleisch, und
nur herzlose Körper, Körper ohne Reaktion, devote Körper, läßt sie als gesunde passieren!
Wir haben gezeigt, wie das Preßgesetz ein Recht und das Zensurgesetz
ein Unrecht ist. Die Zensur gesteht aber selbst, daß sie kein Selbstzweck,
daß sie nichts an und für sich Gutes sei, daß sie also auf dem Prinzip beruht:
„Der Zweck heiligt die Mittel." Aber ein Zweck, der unheiliger Mittel bedarf, ist kein heiliger Zweck, und könnte nicht auch die Presse den Grundsatz
adoptieren und pochen: „Der Zweck heiligt die Mittel"?
Das Zensurgesetz ist also kein Gesetz, sondern eine Polizeimaßregel, aber
sie ist selbst eine schlechte Polizeimaßregel, denn sie erreicht nicht, was sie will,
und sie will nicht, was sie erreicht.
Will das Zensurgesetz der Freiheit als einem Mißliebigen pravenieren, so
erfolgt gerade das Gegenteil. Im Lande der Zensur ist jede verbotene, d.h.
ohne Zensur gedruckte Schrift eine Begebenheit. Sie gilt als Märtyrer, und
kein Märtyrer ohne Heiligenschein und ohne Gläubige. Sie gilt als Ausnahme,
und wenn die Freiheit nie aufhören kann, dem Menschen wert zu sein, um
so mehr die Ausnahme von der allgemeinen Unfreiheit. Jedes Mysterium
besticht. Wo die öffentliche Meinung sich selbst ein Mysterium ist, ist sie
von vornherein bestochen durch jede Schrift, die formell die mystischen
Schranken durchbricht. Die Zensur macht jede verbotene Schrift, sei sie
schlecht oder gut, zu einer außerordentlichen Schrift, während die Preßfreiheit jeder Schrift das materiell Imposante raubt.
Meint es aber die Zensur ehrlich, so will sie die Willkür verhüten und
macht die Willkür zum Gesetz. Sie kann keiner Gefahr vorbeugen, die größer
wäre als sie selbst. Die Lebensgefahr für jedes Wesen besteht darin, sich selbst
zu verlieren. Die Unfreiheit ist daher die eigentliche Todesgefahr für den Menschen. Einstweilen, von den sittlichen Konsequenzen abgesehen, so bedenkt,
daß ihr die Vorzüge der freien Presse nicht genießen könnt, ohne ihre Unbequemlichkeiten zu tolerieren. Ihr könnt die Rose nicht pflücken ohne ihre
Dornen! Und was verliert ihr an der freien Presse?
Die freie Presse ist das überall offene Auge des Volksgeistes, das verkörperte Vertrauen eines Volkes zu sich selbst, das sprechende Band, das den
Einzelnen mit dem Staat und der Welt verknüpft, die inkorporierte Kultur,
welche die materiellen Kämpfe zu geistigen Kämpfen verklärt und ihre rohe
stoffliche Gestalt idealisiert. Sie ist die rücksichtslose Beichte eines Volkes
vor sich selbst, und bekanntlich ist die Kraft des Bekenntnisses erlösend. Sie
ist der geistige Spiegel, in dem ein Volk sich erblickt, und Selbstbeschauung
ist die erste Bedingung der Weisheit. Sie ist der Staatsgeist, der sich in
jede Hütte kolportieren läßt, wohlfeiler als materielles Gas. Sie ist allseitig,
allgegenwärtig, allwissend. Sie ist die ideale Welt, die stets aus der wirklichen quillt und, ein immer reicherer Geist, neu beseelend in sie zurückströmt.
Der Verlauf der Darstellung hat gezeigt, daß Zensur und Preßgesetz verschieden sind, wie Willkür und Freiheit, wie formelles Gesetz und wirkliches
Gesetz. Was aber vom Wesen gilt, gilt auch von der Erscheinung. Was vom
Recht beider gilt, das gilt von ihrer Anwendung. So verschieden Preßgesetz
und Zensurgesetz, so verschieden ist die Stellung des Richters zur Presse und
die Stellung des Zensors.
Unser Redner allerdings, dessen Augen zum Himmel gerichtet sind, sieht
tief unter sich die Erde als einen verächtlichen Staubhügel, und so weiß er
von allen Blumen nichts zu sagen, als daß sie bestaubt sind. So sieht er auch
hier nur zwei Maßregeln, die in ihrer Anwendung gleich willkürlich sind, denn
Willkür sei Handeln nach individueller Auffassung, individuelle Auffassung
sei von geistigen Dingen nicht zu trennen etc. etc. Wenn die Auffassung
geistiger Dinge individuell ist, welches Recht hat eine geistige Ansicht vor
der andern, die Meinung des Zensors vor der Meinung des Schriftstellers?
Aber wir verstehen den Redner. Er macht den denkwürdigen Umweg, Zensur
und Preßgesetz beide in ihrer Anwendung als rechtlos zu schildern, um das
Recht der Zensur zu beweisen, denn da er alles Weltliche als unvollkommen
weiß, so bleibt ihm nur die eine Frage, ob die Willkür auf Seite des Volkes
oder auf Seite der Regierung stehen soll.
Seine Mystik schlägt in die Libertinage um, Gesetz und Willkiir axA eine
Stufe zu stellen und nur formellen Unterschied zu sehen, wo es sich um sittliche und rechtliche Gegensätze handelt, denn er polemisiert nicht gegen das
Preßgesetz, er polemisiert gegen das Gesetz. Oder gibt es irgendein Gesetz,
das die Notwendigkeit in sich trägt, daß es in jedem einzelnen Fall im Sinne
des Gesetzgebers angewendet werden muß und jede Willkür absolut ausgeschlossen ist? Es gehört eine unglaubliche Kühnheit dazu, eine solche
sinnlose Aufgabe den Stein der Weisen zu nennen, da nur die extremste Unwissenheit sie stellen kann. Das Gesetz ist allgemein. Der Fall, der nach dem
Gesetze bestimmt werden soll, ist einzeln. Das Einzelne unter das Allgemeine
zu subsumieren, dazu gehört ein Urteil. Das Urteil ist problematisch. Auch
der Richter gehört zum Gesetz. Wenn die Gesetze sich selbst anwendeten,
dann wären die Gerichte überflüssig.
Aber alles Menschliche ist unvollkommen! Also: Edite, bibite!C38] Warum
verlangt ihr Richter, da.Richter Menschen sind? Warum verlangt ihr Gesetze,
da Gesetze nur von Menschen exekutiert werden können und alle menschliche Exekution unvollkommen ist? Uberlaßt euch doch dem guten Willen
der Vorgesetzten! Die rheinische Justiz ist unvollkommen wie die türkische!
Also: Edite, bibite!
Welch ein Unterschied zwischen einem Richter und einem Zensor!
Der Zensor hat kein Gesetz als seinen Vorgesetzten. Der Richter hat
keinen Vorgesetzten als das Gesetz. Aber der Richter hat die Pflicht, das
Gesetz für die Anwendung des einzelnen Falles zu interpretieren, wie er es
nach gewissenhafter Prüfung versteht; der Zensor hat die Pflicht, das Gesetz
zu verstehen, wie es ihm für den einzelnen Fall offiziell interpretiert wird. Der
unabhängige Richter gehört weder mir noch der Regierung. Der abhängige
Zensor ist selbst Regierungsglied. Bei dem Richter tritt höchstens die IJnzuverlässigkeit einer einzelnen Vernunft, bei dem Zensor die Unzuverlässigkeit eines einzelnen Charakters ein. Vor den Richter wird ein bestimmtes
Preßvergehen, vor den Zensor wird der Geist der Presse gestellt. Der Richter
beurteilt meine Tat nach einem bestimmten Gesetz; der Zensor bestraft
nicht allein die Verbrechen, er macht sie auch. Wenn ich vor Gericht gestellt
werde, so klagt man mich der Übertretung eines vorhandenen Gesetzes an,
und wo ein Gesetz verletzt werden soll, muß es doch vorhanden sein. Wo
kein Preßgesetz vorhanden ist, kann kein Gesetz von der Presse verletzt
werden. Die Zensur klagt mich nicht der Verletzung eines vorhandenen Gesetzes an. Sie verurteilt meine Meinung, weil sie nicht die Meinung des Zensors und seiner Vorgesetzten ist. Meine offene Tat, die sich der Welt und
ihrem Urteil, dem Staat und seinem Gesetz preisgeben will, wird gerichtet
von einer versteckten, nur negativen Macht, die sich nicht als Gesetz zu
konstituieren weiß, die das Licht des Tages scheut, die an keine allgemeinen
Prinzipien gebunden ist.
Ein Zensurgesetz ist eine Unmöglichkeit, weil es nicht Vergehen, sondern
Meinungen strafen will, weil es nichts anderes sein kann als der formulierte
Zensor, weil kein Staat den Mut hat, in gesetzlichen allgemeinen Bestimmungen auszusprechen, was er durch das Organ des Zensors faktisch ausüben kann. Darum wird auch die Handhabung der Zensur nicht den Gerichten, sondern der Polizei überwiesen.
Selbst wenn die Zensur faktisch dasselbe wäre als die Justiz, so bleibt
dies erstens ein Faktum, ohne eine Notwendigkeit zu sein. Dann aber
gehört zur Freiheit nicht nur was, sondern ebensosehr, wie ich lebe, nicht
nur, daß ich das Freie tue, sondern auch, daß ich es frei tue. Was unterschiede sonst den Baumeister vom Biber, wenn nicht, daß der Biber
ein Baumeister mit einem Fell, und der Baumeister ein Biber ohne Fell
wäre?
Unser Redner kömmt zum Überfluß noch einmal auf die Wirkungen der
Preßfreiheit in den Ländern, wo sie wirklich existiert, zurück. Da wir dies
Thema schon weitläufig abgesungen, so berühren wir hier nur noch die
französische Presse. Abgesehen davon, daß die Mängel der französischen
Presse die Mängel der französischen Nation sind, so finden wir das Übel
nicht, wo der Redner es sucht. Die französische Presse ist nicht zu frei; sie
ist nicht frei genug. Sie unterliegt zwar keiner geistigen Zensur, aber sie
unterliegt einer materiellen Zensur, den hohen Geldkautionen. Sie wirkt
daher materiell, eben weil sie aus ihrer wahren Sphäre in die Sphäre der
großen Handelsspekulationen hineingezogen wird. Zudem gehören zu
großen Handelsspekulationen große Städte. Die französische Presse konzentriert sich daher auf wenige Punkte, und wenn die materielle Kraft, auf
wenig Punkte konzentriert, dämonisch wirkt, wie nicht die geistige?
Wenn ihr aber durchaus die Preßfreiheit nicht nach ihrer Idee, sondern
nach ihrer historischen Existenz beurteilen wollt, warum sucht ihr sie nicht
da auf, wo sie historisch existiert? Die Naturforscher suchen durch Experimente ein Naturphänomen in seinen reinsten Bedingungen darzustellen.
Ihr bedürft keiner Experimente. Ihr findet das Naturphänomen der Preßfreiheit in Nordamerika in seinen reinsten, naturgemäßesten Formen. Wenn
aber Nordamerika große historische Gründlagen der Preßfreiheit hat, so hat
Deutschland noch größere. Die Literatur und die damit verwachsene geistige
Bildung eines Volkes sind doch wohl nicht nur die direkten historischen
Grundlagen der Presse, sondern ihre Historie selbst. Und welches Volk in
der Welt kann sich dieser unmittelbarsten historischen Grundlagen der Preßfreiheit rühmen, wie das deutsche Volk?
Aber, fällt unser Redner wieder ein, aber wehe um Deutschlands Moralität, wenn seine Presse frei würde, denn die Preßfreiheit bewirkt
„eine innere Demoralisation, die den Glauben an eine höhere Bestimmung des Menschen und mit ihr die Grundlage wahrer Zivilisation zu untergraben suche".
Demoralisierend wirkt die zensierte Presse. Das potenzierte Laster, die
Heuchelei, ist unzertrennlich von ihr, und aus diesem ihrem Grundlaster
fließen alle ihre anderen Gebrechen, denen sogar die Anlage zur Tugend
fehlt, ihre, selbst ästhetisch betrachtet, ekelhaften Laster der Passivität. Die
Regierung hört nur ihre eigene Stimme, sie weiß, daß sie nur ihre eigene
Stimme hört, und fixiert sich dennoch in der Täuschung, die Volksstimme zu
hören, und verlangt ebenso vom Volke, daß es sich diese Täuschung fixiere.
Das Volk seinerseits versinkt daher teils in politischen Aberglauben, teils in
politischen Unglauben, oder, ganz vom Staatsleben abgewendet, wird es
Privatpöbel.
Indem die Presse jeden Tag von den Schöpfungen des Regierungswillens
rühmt, was Gott selbst erst am sechsten Tag von seiner eigenen Schöpfung
sagte: „Und siehe da, es war alles gut"1393, indem aber notwendig ein Tag dem
andern widerspricht, so lügt die Presse beständig und muß sogar das Bewußtsein der Lüge verleugnen und die Scham von sich abtun.
Indem das Volk freie Schriften als gesetzlos betrachten muß, so gewöhnt
es sich, das Gesetzlose als frei, die Freiheit als gesetzlos und das Gesetzliche
als das Unfreie zu betrachten. So tötet die Zensur den Staatsgeist.
Unser Redner aber fürchtet von der Preßfreiheit für die „Privaten"'. Er
bedenkt nicht, daß die Zensur ein beständiges Attentat auf die Rechte von
Privatpersonen und noch mehr auf Ideen ist. Er gerät in Pathos über gefährdete Persönlichkeiten, und wir sollten nicht in Pathos geraten über das
gefährdete Allgemeine?
Wir können unsere Ansicht und seine nicht schärfer scheiden, als wenn
wir seinen Definitionen der „schlechten Gesinnungen" unsere entgegensetzen.
Schlechte Gesinnung sei „der Stolz, der keine Autorität in Kirche und
Staat anerkennt". Und wir sollten es für keine schlechte Gesinnung halten,
die Autorität der Vernunft und des Gesetzes nicht anzuerkennen? „Es sei der
Neid, welcher die Abschaffung alles dessen predigt, was der Pöbel Aristokratie nennt", und wir sagen, es ist der Neid, welcher die ewige Aristokratie
der menschlichen Natur, die Freiheit, abschaffen will, eine Aristokratie, die
selbst der Pöbel nicht bezweifeln kann.
„Es sei die hämische Schadenfreude, die sich an Persönlichkeiten, gleichviel, o b
Lüge oder Wahrheit, ergötze und die Öffentlichkeit gebieterisch fordere, damit kein
Skandal des Privatlebens verschleiert bleibe."
Es ist die hämische Schadenfreude, die Klatschereien und Persönlichkeiten aus dem großen Leben der Völker herausreißt, die Vernunft der Geschichte mißkennt und nur den Skandal der Geschichte dem Publikum predigt, die überhaupt unfähig, das Wesen einer Sache zu beurteilen, sich an
einzelne Seiten der Erscheinung, an Persönlichkeiten hängt und gebieterisch
das Mysterium verlangt, damit jeder Schandfleck des öffentlichen Lebens
verschleiert bleibe.
„Es sei die Unlauterkeit des Herzens und der Phantasie, welche durch schlüpfrige
Bilder gekitzelt sei."
Es ist die Unlauterkeit des Herzens und der Phantasie, welche durch
schlüpfrige Bilder über die Allmacht des Bösen und die Ohnmacht des
Guten sich kitzelt, es ist die Phantasie, deren Stolz die Sünde ist, es ist das
unlautre Herz, das seinen weltlichen Hochmut in mystischen Bildern versteckt. „Es sei die Verzweiflung an dem eignen Heil, welche die Stimme des
Gewissens durch das Leugnen Gottes übertäuben will." Es ist die Verzweiflung am eignen Heil, welche die persönlichen Schwächen zu Schwächen der Menschheit macht, um sie vom eigenen Gewissen abzuwälzen, es
ist die Verzweiflung am Heil der Menschheit, welche ihr verwehrt, den eingebornen Naturgesetzen zu folgen, und die Unmündigkeit als notwendig
predigt, es ist die Heuchelei, die einen Gott vorschützt, ohne an seine Wirklichkeit, an die Allmacht des Guten, zu glauben, es ist die Selbstsucht, der
ihr Privatheil höher ist als das Heil des Ganzen.
Diese Leute zweifeln an der Menschheit überhaupt und kanonisieren
einzelne Menschen. Sie entwerfen ein abschreckendes Bild von der menschlichen Natur und verlangen in einem, daß wir vor dem Heiligenbild einzelner
Privilegierten niederfallen. Wir wissen, daß der einzelne Mensch schwach ist,
aber wir wissen zugleich, daß das Ganze stark ist.
Schließlich erinnert der Redner an die Worte, die aus den Zweigen des
Baumes der Erkenntnis erschallten über den Genuß, dessen Früchte wir
heute wie damals verhandeln:
„Mitnichten werdet ihr sterben, wenn ihr davon esset, eure Augen werden aufgetan werden, ihr werdet sein wie die Götter, erkennend das Gute und Böse."1-39-1
Obgleich wir nun zweifeln, daß der Redner vom Baume der Erkenntnis
gegessen hat, daß wir (die rheinischen Landstände) damals mit dem Teufel
verhandelten, wovon wenigstens die Genesis nichts erzählt, so fügen wir uns
dennoch der Ansicht des Redners und erinnern ihn nur, daß der Teufel uns
damals nicht belogen hat, denn Gott selbst spricht: „Adam ist worden wie
unsereiner, erkennend das Gute und Böse."C39:i Den Epilog zu dieser Rede lassen wir billig des Redners eigene Worte
sprechen: „Schreiben und Reden seien mechanische Fertigkeiten."m]
So sehr unser Leser ermüdet sein mag von diesen „mechanischen Fertigkeiten", wir müssen, der Vollständigkeit wegen, nach dem Fürstenstand
und dem Ritterstand auch den Stand der Städte sich expektorieren lassen
gegen die Preßfreiheit. Wir haben die Opposition des Bourgeois, nicht des
Citoyen, vor uns.
Der Redner aus dem Städtestand1 glaubt sich an Siey£s anzuschließen mit
der bürgerlichen Bemerkung:
1
Johann Schuchard
„Die Preßfreiheit sei eine schöne Sache, solange schlechte Menschen sich nicht hineinmischten." „Dagegen sei bis jetzt kein probates Mittel gefunden" etc. etc.
Der Standpunkt, der die Preßfreiheit eine Sache nennt, ist schon seiner
Naivität halber zu loben. Man kann diesem Redner überhaupt alles vorwerfen, nur nicht Mangel an Nüchternheit oder Überfluß an Phantasie.
Also die Preßfreiheit sei eine schöne Sache, auch so etwas, was die süße
Gewohnheit des Daseins verschönert, eine angenehme, eine brave Sache?
Aber da gibt es auch schlechte Menschen, die die Sprache zum Lügen, den
Kopf zu Ränken, die Hände zum Stehlen, die Füße zum Desertieren mißbrauchen. Schöne Sache ums Sprechen und Denken, um Hände und Füße,
gute Sprache, angenehmes Denken, tüchtige Hände, allervorzüglichste Füße,
wenns nur keine schlechten Menschen gäbe, die sie mißbrauchen! Noch ist
kein Mittelchen dagegen ausfindig gemacht.
„Die Sympathien für Konstitution und Preßfreiheit müßten notwendig geschwächt
werden, wenn man sähe, wie damit verbunden wären ewig wandelbare Zustände in
jenem Lande" (sc.Frankreich) „und eine beängstigende Ungewißheit der Zukunft."
Als zuerst die weltkundige Entdeckung gemacht ward, daß die Erde ein
mobile perpetuum sei, da griff wohl mancher ruhige Deutsche an seine
Schlafmütze und seufzte über die ewig wandelbaren Zustände des Mutterlandes, und eine beängstigende Ungewißheit der Zukunft verleidete ihm ein
Haus, das sich jeden Augenblick auf den Kopf stellt.
Die Preßfreiheit macht so wenig die „wandelbaren Zustände", als das
Fernglas der Astronomen die rastlose Bewegung des Weltsystems macht.
Böse Astronomie! Was war das für schöne Zeit, als die Erde noch, wie ein
ehrbarer bürgerlicher Mann, in der Mitte der Welt saß, ruhig ihre irdene
Pfeife schmauchte und nicht einmal ihr Licht sich selber anzustecken
brauchte, da Sonne, Mond und Sterne als ebensoviele devote Nachtlampen
und „schöne Sachen" um sie hertanzten.
„Wer nie, was er gebaut, zerstört, der steht stät
Auf dieser ird'schen Welt, die selbst nicht stät steht" 1411 ,
sagt Hariri, der kein geborner Franzose, sondern ein Araber ist.
Ganz bestimmt spricht sich nun der Stand des Redners in dem Einfall aus:
„Der wahre redliche Patriot vermöge die Regung in sich nicht zu unterdrücken,
Konstitution und Preßfreiheit seien nicht für das Wohl des Volkes, sondern für die
Befriedigung des Ehrgeizes Einzelner und die Herrschaft der Parteien."
Es ist bekannt, daß eine gewisse Psychologie das Große aus kleinen Ursachen erklärt und in der richtigen Ahnung, daß alles, wofür der Mensch
kämpft, Sache seines Interesses ist, zu der unrichtigen Meinung fortgeht, es
gebe nur „kleine" Interessen, hur die Interessen stereotyper Selbstsucht. Es
ist ferner bekannt, daß diese Art Psychologie und Menschenkunde besonders
in Städten sich vorfindet, wo es dann noch überdem für das Zeichen eines
schlauen Kopfes gilt, die Welt zu durchschauen und hinter den Wolkenzügen
von Ideen und Tatsachen ganz kleine, neidische, intrigante Mannequins, die
das Ganze am Fädchen aufziehen, sitzen zu sehen. Allein es ist ebenfalls1-423 bekannt, daß, wenn man zu tief ins Glas guckt, man sich an seinen eigenen Kopf
stößt, und so ist denn die Menschenkunde und Weltkenntnis dieser klugen
Leute zunächst ein mystifizierter Stoß an den eigenen Kopf.
Auch Halbheit und Unentschiedenheit bezeichnet den Stand des Redners.
„Sein Unabhängigkeitsgefühl spreche für die Preßfreiheit" (sc. im Sinne des A n tragstellers), „er müsse aber der Vernunft und Erfahrung Gehör geben."
Hätte der Redner schließlich gesagt, daß zwar seine Vernunft für die
Preßfreiheit, aber sein Abhängigkeitsgefühl dagegen spreche, so wäre seine
Rede ein vollkommenes Genrebild der städtischen Reaktion.
„Wer eine Zung' hat und spricht nicht,
Wer eine Kling' hat und ficht nicht.
Was ist der wohl, wenn ein Wicht nicht?
Wir kommen zu den Verteidigern der Preßfreiheit und beginnen mit dem
Hauptantrage. Das Allgemeinere, was treffend und gut in den Eingangsworten
des Antrags gesagt ist, übergehen wir, um gleich den eigentümlichen charakteristischen Standpunkt dieses Vortrags hervorzuheben.
Antragsteller1 will, daß das Gewerbe der Preßfreiheit von der allgemeinen
Freiheit der Gewerbe nicht ausgeschlossen sei, wie es noch immer der Fall ist
und wobei der innerliche Widerspruch als klassische Inkonsequenz erscheint.
„Die Arbeiten von Armen und Beinen sind frei, diejenigen des Kopfes werden bevormundet. Von größeren Köpfen ohne Zweifel? Gott bewahre, darauf kommt es bei
den Zensoren nicht an. Wem Gott ein Amt gibt, dem gibt er auch Verstand!"
Es frappiert zunächst, die Preßfreiheit unter die Gewerbefreiheit subsumiert zu sehen. Allein wir können die Ansicht des Redners nicht geradezu
verwerfen, Rembrandt malte die Mutter Gottes als niederländische Bäuerin,
warum sollte unser Redner die Freiheit nicht unter einer Gestalt malen, die
ihm vertraut und geläufig ist?
1
Heinrich Merkens
Ebensowenig können wir dem Räsonnement des Redners eine relative
Wahrheit absprechen. Wenn man die Presse selbst nur als Gewerbe betrachtet,
gebührt ihr, dem Kopfgewerbe, eine größere Freiheit als dem Gewerbe von
Arm und Bein. Die Emanzipation von Arm und Bein wird erst menschlich
bedeutsam durch die Emanzipation des Kopfes, denn bekanntlich werden
Arme und Beine erst menschliche Arme und Beine durch den Kopf, dem sie
dienen.
So originell daher die Betrachtungsweise des Redners auf den ersten Anblick erscheinen mag, so müssen wir ihr doch einen unbedingten Vorzug vor
dem haltungslosen, nebelnden und schwebelnden Räsonnement jener deutschen Liberalen zuschreiben, welche die Freiheit zu ehren meinen, wenn sie
dieselbe in den Sternenhimmel der Einbildung, statt auf den soliden Boden
der Wirklichkeit versetzen. Diesen Räsoneurs der Einbildung, diesen sentimentalen Enthusiasten, die jede Berührung ihres Ideals mit der gemeinen
Wirklichkeit als Profanation scheuen, verdanken wir Deutsche zum Teil, daß
die Freiheit bis jetzt eine Einbildung und eine Sentimentalität geblieben ist.
Die Deutschen sind überhaupt zu Sentiments und Überschwenglichkeiten geneigt, sie haben ein tendre für die Musik der blauen Luft. Es ist also
erfreulich, wenn ihnen die große Frage der Idee von einem derben, reellen,
aus der nächsten Umgebung entlehnten Standpunkt demonstriert wird. Die
Deutschen sind von Natur devotest, alleruntertänigst, ehrfurchtsvollst. Aus
lauter Respekt vor den Ideen verwirklichen sie dieselben nicht. Sie weihen
ihnen einen Kultus der Anbetung, aber sie kultivieren dieselben nicht. Der
Weg des Redners scheint also geeignet, den Deutschen mit seinen Ideen zu
familiarisieren, ihm zu zeigen, daß er es hier nicht mit Unnahbarem, sondern
mit seinen nächsten Interessen zu tun hat, die Sprache der Götter in die
Sprache der Menschen zu übersetzen.
Es ist bekannt, daß die Griechen in den ägyptischen, lybischen, sogar
den skythischen Göttern ihren Apollo, ihre Athene, ihren Zeus wiederzuerkennen glaubten und das Eigentümliche der fremden Kulte als Nebensache
übersahen. So ist es auch kein Vergehen, wenn der Deutsche die ihm unbekannte Göttin der Preßfreiheit für eine seiner bekannten Göttinnen ansieht
und nach diesen sie Gewerbefreiheit oder Freiheit des Eigentums benennt.
Eben weil wir aber den Standpunkt des Redners anzuerkennen und zu
würdigen wissen, unterwerfen wir ihn einer um so schärferen Kritik..
„Es könne sich wohl gedacht werden: Fortdauer von Zunftwesen neben der Preßfreiheit, weil das Kopfgewerbe eine höhere Potenzierung, eine Gleichstellung mit den
alten sieben freien Künsten, in Anspruch nehmen könne; aber Fortdauer der Unfreiheit der Presse neben der Gewerbefreiheit sei eine Sünde wider den heiligen Geist."
Gewiß! Die untergeordnete Form der Freiheit ist von selbst für rechtlos erklärt, wenn die höhere unberechtigt ist. Das Recht des einzelnen Bürgers ist eine Torheit, wenn das Recht des Staates nicht anerkannt ist. Wenn
die Freiheit überhaupt berechtigt ist, so versteht sich von selbst, daß eine
Gestalt der Freiheit um so berechtigter ist, ein je großartigeres und entwickelteres Dasein die Freiheit in ihr gewonnen hat. Wenn der Polyp berechtigt ist, weil in ihm das Leben der Natur dunkelfühlend tappt, wie nicht
der Löwe, in dem es stürmt und brüllt?
So richtig nun aber der Schluß ist, die höhere Gestalt des Rechts durch
das Recht einer niedrigeren Gestalt für bewiesen zu erachten, so verkehrt ist
die Anwendung, welche die niedere Sphäre zum Maß der höheren macht und
ihre innerhalb der eigenen Begrenzung vernünftigen Gesetze ins Komische
verdreht, und [zwar] dadurch, daß sie ihnen die Prätension unterschiebt,
nicht Gesetze ihrer Sphäre, sondern einer übergeordneten zu sein. Es ist
dasselbe, als wollte ich einen Riesen nötigen, im Hause des Pygmäen zu
wohnen.
Gewerbefreiheit, Freiheit des Eigentums, des Gewissens, der Presse, der
Gerichte sind alle Arten einer und derselben Gattung, der Freiheit ohne
Familiennamen. Allein wie gänzlich irrig ist es nun, über der Einheit den Unterschied zu vergessen und gar eine bestimmte Art zum Maß, zur Norm, zur
Sphäre der andern Arten zu machen? Es ist die Intoleranz einer Art der
Freiheit, welche die anderen nur ertragen will, wenn sie von sich selbst abfallen und sich für ihre Vasallen erklären.
Die Gewerbefreiheit ist eben die Gewerbefreiheit und keine andere
Freiheit, weil in ihr die Natur des Gewerbes sich ungestört seiner inneren
Lebensregel gemäß gestaltet; die Gerichtsfreiheit ist die Gerichtsfreiheit,
wenn die Gerichte den eigenen eingeborenen Gesetzen des Rechts, nicht
denen einer andern Sphäre, etwa der Religion, Folge leisten. Jede bestimmte
Sphäre der Freiheit ist die Freiheit einer bestimmten Sphäre, wie jede bestimmte Weise des Lebens die Lebensweise einer bestimmten Natur ist. Wie
verkehrt wäre nicht die Forderung, der Löwe solle sich nach den Lebensgesetzen des Polypen einrichten? Wie falsch würde ich den Zusammenhang
und die Einheit des körperlichen Organismus fassen, wenn ich schlösse: weil
Arme und Beine nach ihrer Weise tätig sind, müssen Aug' und Ohr, diese
Organe, die den Menschen von seiner Individualität losreißen und ihn zum
Spiegel und zum Echo des Universums machen, ein noch größeres Recht
der Tätigkeit haben, also eine potenzierte Arm- und Beintätigkeit sein?
Wie in dem Weltsystem jeder einzelne Planet sich nur um die Sonne
bewegt, indem er sich um sich selbst bewegt, so kreiset in dem System der
Freiheit jede ihrer Welten nur um die Zentralsonne der Freiheit, indem sie
um sich selbst kreiset. Die Preßfreiheit zu einer Klasse der Gewerbefreiheit
machen, ist sie verteidigen, indem man sie vor der Verteidigung tötschlägt;
denn, hebe ich die Freiheit eines Charakters nicht auf, wenn ich verlange, er
solle in der Weise eines anderen Charakters frei sein? Deine Freiheit ist nicht
meine Freiheit, ruft die Presse dem Gewerbe zu. Wie du den Gesetzen deiner
Sphäre, so will ich den Gesetzen meiner Sphäre gehorchen. In deiner Weise
frei zu sein, ist mir identisch mit der Unfreiheit, wie der Tischler sich
schwerlich erbaut fühlen würde, wenn er Freiheit seines Gewerbes verlangte,
und man gäbe ihm als Äquivalent die Freiheit des Philosophen.
Wir wollen den Gedanken des Redners hackt aussprechen. Was ist Freiheit? Antwort: Die Gewerbefreiheit, wie etwa ein Student auf die Frage: Was
ist Freiheit? antworten würde: Die Freinacht.
Mit demselben Rechte wie die Preßfreiheit könnte man jede Art der Freiheit unter die Gewerbefreiheit subsumieren. Der Richter treibt das Gewerbe
des Rechts, der Prediger das Gewerbe der Religion, der Familienvater das
Gewerbe der Kinderzucht; aber habe ich damit das Wesen der rechtlichen,
der religiösen, der sittlichen Freiheit ausgesprochen?
Man könnte die Sache auch umkehren und die Gewerbefreiheit eme Ander Preßfreiheit nennen. Arbeiten die Gewerbe bloß mit Hand und Bein und
nicht auch mit dem Kopf? Ist die Sprache des Worts die einzige Sprache
des Gedankens? Spricht der Mechaniker nicht in der Dampfmaschine sehr
vernehmlich zu meinem Ohr, der Bettfabrikant nicht deutlich zu meinem
Rücken, der Koch nicht verständlich zu meinem Magen? Ist es kein Widerspruch, daß alle diese Arten der Preßfreiheit gestattet sind, nur die eine nicht,
die vermittelst der Druckerschwärze zu meinem Geiste spricht?
Um die Freiheit einer Sphäre zu verteidigen und selbst zu begreifen, muß
ich sie in ihrem wesentlichen Charakter, nicht in äußerlichen Beziehungen
fassen. Ist aber die Presse ihrem Charakter treu, handelt sie dem Adel ihrer
Natur gemäß, ist die Presse frei, die sich zum Gewerbe herabwürdigt? Der
Schriftsteller muß allerdings erwerben, um existieren und schreiben zu
können, aber er muß keineswegs existieren und schreiben, um zu erwerben.
Wenn Beranger singt:
Je ne vis, que pour faire des chansons,
Si vous m'otez ma place Monseigneur,
Je ferai des chansons pour vivre, 1
1
Ich lebe nur, um Lieder zu machen.
Wenn Sie mir meinen Platz nehmen, o Herr,
werde ich Lieder machen, um zu leben,
so liegt in dieser Drohung das ironische Geständnis, daß der Dichter aus
seiner Sphäre herabfällt, sobald ihm die Poesie zum Mittel wird.
Der Schriftsteller betrachtet keineswegs seine Arbeiten als Mittel. Sie
sind Selbstzwecke, sie sind so wenig Mittel für ihn selbst und für andere, daß
er ihrer Existenz seine Existenz aufopfert, wenn's not tut, und in anderer
Weise, wie der Prediger der Religion zum Prinzip macht: „Gott mehr gehorchen, denn den Menschen'[43;l, unter welchen Menschen er selbst mit seinen
menschlichen Bedürfnissen und Wünschen eingeschlossen ist. Dagegen
sollte mir ein Schneider kommen, bei dem ich einen Pariser Frack bestellt,
und er brächte mir eine römische Toga, weil sie angemessener sei dem ewigen
Gesetz des Schönen!
Die erste Freiheit der Presse besteht darin, kein Gewerbe zu sein. Dem Schriftsteller, der sie zum materiellen Mittel herabsetzt, gebührt als Strafe dieser
inneren Unfreiheit die äußere, die Zensur, oder vielmehr ist schon seine
Existenz seine Strafe.
Allerdings existiert die Presse auch als Gewerbe, aber dann ist sie keine
Angelegenheit der Schriftsteller, sondern der Buchdrucker und Buchhändler. Es handelt sich hier aber nicht um die Gewerbefreiheit der Buchdrucker und Buchhändler, sondern um die Preßfreiheit,
Unser Redner bleibt wirklich keineswegs dabei stehen, das Recht der
Preßfreiheit durch die Gewerbefreiheit als erwiesen zu erachten, er verlangt,
daß die Preßfreiheit statt ihren eigenen Gesetzen den Gesetzen der Gewerbefreiheit sich unterwerfe. Er polemisiert sogar gegen den Referenten des Ausschusses1, der eine höhere Ansicht von der Preßfreiheit geltend macht, und
verfällt in Forderungen, die nur humoristisch wirken können, denn der
Humor ist gleich da, sobald die Gesetze einer niedrigeren Sphäre auf eine
höhere angewandt werden, wie es umgekehrt komisch affiziert, wenn Kinder
pathetisch werden.
„Er rede von befugten und unbefugten Autoren. Dies verstehe er dahin, daß er die
Ausübung eines verliehenen Rechtes immerhin auch in der Gewerbefreiheit an irgendeine Bedingung knüpfe, die nach der Maßgabe des Faches leichter oder schwerer zu
erfüllen sei. Die Maurer-, Zimmer- und Baumeister hätten verständigerweise Bedingungen zu erfüllen, wovon die meisten anderen Gewerbe befreit seien." „Sein Antrag
gehe auf ein Recht im Besondern, nicht im Allgemeinen."
Zunächst, wer soll die Befugnis erteilen? Kant hätte Fichten nicht die Befugnis des Philosophen, Ptolemäus dem Kopemikus nicht die Befugnis des
Astronomen, Bernhard von Clairvaux dem Luther nicht die Befugnis des
1
Josef zu Salm-Reifferscheid-Dyck
Theologen erteilt. Jeder Gelehrte zählt seinen Kritiker zu den „unbefugten
Autoren". Oder sollen Ungelehrte entscheiden, wer ein befugter Gelehrter
sei? Offenbar müßte man das Urteil den unbefugten Autoren überlassen,
denn die Befugten können nicht Richter in eigener Sache sein. Oder soll die
Befugnis an einen Stand geknüpft sein! Der Schuster Jakob Böhme war ein
großer Philosoph. Manche Philosophen von Ruf sind nur große Schuster.
Wenn übrigens von befugten und unbefugten Autoren gesprochen wird,
so darf man sich konsequenterweise nicht dabei beruhigen, die Personen zu
unterscheiden, man muß das Gewerbe der Presse wieder in verschiedene Gewerbe teilen, man muß auf die verschiedenen Sphären der schriftstellerischen
Tätigkeit verschiedene Gewerbescheine ausstellen, oder soll der befugte
Schriftsteller über alles schreiben können? Von vornherein ist der Schuster
befugter, über das Leder zu schreiben, als der Jurist. Der Taglöhner ist ebenso
befugt darüber zu schreiben, ob an Feiertagen zu arbeiten sei oder nicht, als der
Theologe. Knüpfen wir also die Befugnis an besondere sachliche Bedingungen,
so wird jeder Staatsbürger befugter und unbefugter Schriftsteller zugleich
sein, befugt in den Angelegenheiten seines Berufs, unbefugt in allem übrigen.
Abgesehen davon, daß die Welt der Presse auf diese Weise statt allgemeines
Band des Volkes, das wahre Mittel der Scheidung würde, daß der Unterschied der Stände so geistig fixiert und die Literaturgeschichte zur Naturgeschichte der besondern geistigen Tierrassen herabsänke; abgesehen von
den Grenzstreitigkeiten und Kollisionen, die nicht zu entscheiden und nicht
zu vermeiden; abgesehen davon, daß der Presse die Geistlosigkeit und Borniertheit zum Gesetz gemacht wäre, denn geistig und frei betrachte ich das
Besondere nur im Zusammenhang mit dem Ganzen, also nicht in seiner
Scheidung von ihm - von diesem allem abgesehen, da das Lesen gerade so
wichtig ist als das Schreiben, so müßte es auch befugte und unbefugte Leser
geben, eine Konsequenz, die in Ägypten gezogen wurde, wo die Priester, die
befugten Autoren, in einem die einzig befugten Leser waren. Und es ist sehr
zweckmäßig, daß den befugten Autoren auch allein die Befugnis gestattet
werde, ihre eigenen Schriften zu kaufen und zu lesen.
Welche Inkonsequenz! Herrscht einmal Privilegium, gut, so hat die Regierung vollkommenes Recht zu behaupten, sie sei der einzig befugte Autor
über ihr eigenes Tun und Lassen, denn haltet ihr euch außer eurem besondern Stand für befugt, als Staatsbürger über das Allgemeinste, über den
Staat zu schreiben, sollten nicht die andern Sterblichen, die ihr ausschließen
wollt, als Menschen befugt sein, über etwas sehr Partikuläres, über eure
Befugnis und eure Schriften zu urteilen?
Es entstände der komische Widerspruch, daß der befugte Autor ohne Zensur
über den Staat, aber der unbefugte nur mit Zensur über den befugten Autor
schreiben dürfte.
Die Preßfreiheit wird dadurch sicher nicht errungen, daß ihr die Schar
der offiziellen Schriftsteller aus euren Reihen rekrutiert. Die befugten
Autoren wären die offiziellen Autoren, der Kampf zwischen Zensur und Preßfreiheit hätte sich in den Kampf der befugten und unbefugten Schriftsteller verwandelt.
Mit Recht trägt daher ein Glied des vierten Standes1 darauf an:
»daß, wenn noch irgendein Preßzwang bestehen solle, derselbe für alle Parteien gleich
sei, d.h., daß in dieser Beziehung keiner Klasse der Staatsbürger mehr Rechte als der
andern zugestanden würden".
Die Zensur unterwirft uns alle, wie in der Despotie alle gleich sind, wenn
auch nicht an Wert, so an Unwert; jene Art Preßfreiheit will die Oligokratie
in den Geist einführen. Die Zensur erklärt einen Schriftsteller höchstens für
unbequem, für unpassend in die Grenzen ihres Reichs. Jene Preßfreiheit
geht zu der Anmaßung fort, die Weltgeschichte zu antizipieren, der Stimme
des Volkes vorzugreifen, welche bisher allein geurteilt hat, welcher Schriftsteller „befugt" und welcher „unbefugt" sei. Wenn Solon einen Menschen
erst nach Ablauf seines Lebens, nach seinem Tode zu beurteilen sich vermaßr44],
so vermißt sichdiese Ansicht, einenSchriftsteller vor seiner Geburt zu beurteilen.
Die Presse ist die allgemeinste Weise der Individuen, ihr geistiges Dasein
mitzuteilen. Sie kennt kein Ansehen der Person, sondern nur das Ansehen
der Intelligenz. Wollt ihr die geistige Mitteilungsfähigkeit an besondere
äußerliche Merkmale amtlich festbannen? Was ich nicht für andere sein
kann, das bin ich nicht für mich und kann ich nicht für mich sein. Darf ich
nicht für andere als Geist da sein, so darf ich nicht für mich als Geist da sein,
und wollt ihr einzelnen Menschen das Privilegium geben, Geister zu sein?
So gut, wie jeder schreiben und lesen lernt, muß jeder schreiben und lesen
dürfen.
Und für wen soll die Einteilung der Schriftsteller in „befugte" und „unbefugte" sein? Offenbar nicht für die wahrhaft Befugten, denn diese werden
sich ohnehin geltend machen. Also für „Unbefugte", die durch ein äußeres
Privilegium sich schützen und imponieren wollen?
Dabei macht dieses Palliativ nicht einmal das Preßgesetz entbehrlich,
denn wie ein Redner des Bauernstandes2 bemerkt:
„Kann nicht auch der Privilegierte seine Befugnis überschreiten und straffällig
werden? So wäre also auf alle Fälle ein Preßgesetz notwendig, wobei man auf dieselben
Beschwernisse wie bei einem allgemeinen Preßgesetz stoßen würde."
1
Johann Carl Anton Cetto — 2 Franz Aldenhoven
Wenn der Deutsche auf seine Geschichte zurückblickt, so findet er einen
Hauptgrund seiner langsamen politischen Entwicklung, wie der elenden
Literatur vor Lessing, in den „befugten Schriftstellern". Die Gelehrten von
Fach, von Zunft, von Privilegium, die Doktoren Und sonstigen Ohren, die
charakterlosen Universitätsschriftsteller des siebzehnten und achtzehnten
Jahrhunderts mit ihren steifen Zöpfen und ihrer vornehmen Pedanterie und
ihren winzig-mikrologischen Dissertationen, sie haben sich zwischen das
Volk und den Geist, zwischen das Leben und die Wissenschaft, zwischen die
Freiheit und den Menschen gestellt. Die unbefugten Schriftsteller haben
unsere Literatur gemacht. Gottsched und Lessing, da wählt zwischen einem
„befugten" und einem „unbefugten" Autor!
Wir lieben überhaupt die „Freiheit" nicht, die nur im Plural gelten will.
England ist ein Beweis in historischer Lebensgröße, wie gefährlich der beschränkte Horizont der „Freiheiten" für „die Freiheit" ist.
„Ce mot des libertes",
sagt Voltaire, „des Privileges,
suppose l'assujettissement. D e s
libertes sont des exemptions de la servitude generale."1
Wenn unser Redner ferner anonyme und Pseudonyme Schriftsteller von der
Preßfreiheit ausschließen und der Zensur unterwerfen will, so bemerken wir,
daß der Name in der Presse nicht zur Sache gehört, daß aber, wo Preßgesetz
herrscht, der Verleger, also durch ihn auch der anonyme und Pseudonyme
Schriftsteller, den Gerichten unterworfen ist. Zudem vergaß Adam, als er alle
Tiere des Paradieses benannte, den deutschen Zeitungskorrespondenten
Namen zu geben, und namenlos werden sie bleiben in seculum seculorum2.
Hat der Antragsteller die Personen zu beschränken gesucht, die Subjekte
der Presse, so wollen andere Landstände den sachlichen Stoff der Presse, den
Kreis ihres Wirkens und Daseins beschränken, und es entsteht ein geistloses
Markten und Feilschen, wieviel Freiheit die Preßfreiheit haben solle.
Ein Landstand3 will die Presse auf die Besprechung der materiellen, geistigen und kirchlichen Verhältnisse der Rheinprovinz beschränken; ein anderer will „Gemeindeblätter", deren Namen ihren beschränkten Inhalt aussagt; ein dritter4 will gar, daß man in jeder Provinz nur in einem einzigen Blatte
freimütig sein dürfe!!!
Alle diese Versuche erinnern an jenen Turnlehrer, der als die beste Methode des Springunterrichts vorschlug, den Schüler an eine große Grübe zu
bringen und ihm nun durch einzelne Zwirnfäden anzuzeigen, wie weit er
1 „Dieses Gerede über Freiheiten", sagt Voltaire, „Privilegien setzt Unterwerfung voraus.
Freiheiten sind Ausnahmen von der allgemeinen Sklaverei." — 2 in alle Ewigkeit - 3 Hermarn
Joseph Dietz - 4 Anton Wilhelm Hüffer
über die Grube springen dürfe. Versteht sich, der Schüler sollte sich erst im
Springen üben und durfte den ersten Tag nicht über die ganze Grube wegsetzen, aber von Zeit zu Zeit sollte der Zwirnfaden weitergerückt werden.
Leider fiel der Schüler bei der ersten Lektion in die Grube, und bisher ist
er in der Grube liegengeblieben. Der Lehrer war ein Deutscher, und der
Schüler nannte sich: „Freiheit".
Dem durchgehenden normalen Typus nach unterscheiden sich die Verteidiger der Preßfreiheit auf dem sechsten rheinischen Landtag also nicht
durch den Gehalt, sondern durch die Richtung von ihren Gegnern. In diesen
bekämpft, in jenen verteidigt die Beschränktheit des besondern Standes die
Presse. Die einen wollen das Privilegium auf Seiten der Regierung allein, die
andern wollen es verteilen unter mehre Individuen; die einen wollen die
ganze, die anderen die halbe Zensur, die einen drei Achtel Preßfreiheit, die
andern gar keine. Gott beschütze mich vor meinen Freunden!
Gänzlich divergierend aber von dem allgemeinen Geiste des Landtags sind
die Reden des Referenten und einiger Mitglieder aus dem Bauernstande.
Referent bemerkt unter anderm:
„Es tritt in dem Leben der Völker, sowie in dem der einzelnen Menschen, der
Fall ein, wo die Fesseln einer zu langen Vormundschaft unerträglich werden, wo nach
Selbständigkeit gestrebt wird und wo ein jeder seine Handlungen selbst verantworten
will. Alsdann hat die Zensur ausgelebt; da, wo sie noch fortbesteht, wird sie als ein
gehässiger Zwang betrachtet, der zu schreiben verbietet, was öffentlich gesagt wird."
Schreibe, wie du sprichst, und sprich, wie du schreibst, lehren uns
schon die Elementarlehrer. Später heißt es: Sprich, was dir vorgeschrieben
ist, und schreibe, was du nachsprichst.
„So oft das unaufhaltsame Fortschreiten der Zeit ein neues, wichtiges Interesse
entwickelt oder ein neues Bedürfnis herausstellt, für welche die bestehende Gesetzgebung keine hinreichenden Bestimmungen enthält, müssen neue Gesetze
diesen
neuen Zustand der Gesellschaft regulieren. Ein solcher Fall tritt vollkommen hier
ein."
Das ist die wahrhaft geschichtliche Ansicht gegenüber der imaginären,
welche die Vernunft der Geschichte erschlägt, um hinterher ihren Knochen
den historischen Reliquiendienst zu erweisen.
„Die Aufgabe" (eines Preßkodex) „mag allerdings nicht ganz leicht zu lösen sein;
der erste Versuch, der gemacht werden wird, mag vielleicht sehr unvollkommen bleiben! Dem Gesetzgeber aber, der sich zuerst damit befassen wird, werden alle Staaten
Dank schuldig sein, und unter einem Könige, wie der unsrige, ist viril* icht der preußischen Regierung die Ehre beschieden, den übrigen Ländern auf diesem Wege, der
allein zum Ziele führen kann, voranzugehen."
6 Marx/Engels
Werke, Bd. 1
Wie isoliert diese männlich würdige, entschiedene Ansicht auf dem Landtage stand, das hat unsere ganze Darstellung bewiesen, das bemerkt der
Vorsitzende1 zum Überfluß selbst dem Referenten, das spricht endlich ein
Mitglied des Bauernstandes2 in unmutigem, aber trefflichem Vortrage aus:
„Man umkreise die vorliegende Frage, ulie die Katze den warmen Brei." „Der menschliche Geist müsse sich nach seinen ihm inwohnenden Gesetzen frei entwickeln und das
Errungene mitteilen dürfen, sonst würde aus einem klaren belebenden Strom ein verpestender Sumpf. Wenn ein Volk sich für Preßfreiheit eigne, so sei dieses sicher das
ruhige, gemütliche Deutsche, welches wohl eher noch einer Aufstachelung aus seinem
Phlegma bedürfe als der geistigen Zwangsjacke der Zensur. Seine Gedanken und G e fühle seinen Mitmenschen nicht unbehindert mitteilen zu dürfen, habe viel Ähnlichkeit mit dem nordamerikanischen Absperrungssystem der Sträflinge146-', welches in
seiner vollen Schroffheit häufig zum Wahnsinn führe. Wer nicht tadeln dürfe, von dem
habe auch das Lob keinen Wert; ähnlich in seiner Ausdruckslosigkeit sei ein chinesischesJGemälde, dem der Schatten mangle. Möchten wir uns doch nicht diesem erschlafften Volke beigesellt finden!"
Werfen wir nun einen Blick auf die Preßdebatten im ganzen zurück,
können wir nicht Herr werden über den öden und unbehaglichen Eindruck,
den eine Versammlung von Vertretern der Rheinprovinz hervorbringt, die
nur zwischen der absichtlichen Verstocktheit des Privilegiums und der
natürlichen Ohnmacht eines halben Liberalismus hin- und herschwanken,
müssen wir vor allem den fast durchgehenden Mangel an allgemeinen und
weiten Gesichtspunkten mißfällig bemerken, wie jene nachlässige Oberflächlichkeit, welche die Angelegenheit der freien Presse debattiert und beseitigt:
so fragen wir uns noch einmal, ob die Presse den Landständen zu fern lag,
zu wenig reelle Berührung mit ihnen hatte, als daß sie die Preßfreiheit mit
dem gründlichen und ernsten Interesse des Bedürfnisses hätten verteidigen
können?
Die Preßfreiheit reichte ihre Bittschrift den Ständen mit der feinsten
captatio benevolentiae3 ein.
Gleich im Beginn des Landtags entstand nämlich eine Debatte, worin
der Vorsitzende bemerkt, daß der Druck der Lcuidtagsverhandlungen, so sehr,
wie aller übrigen Schriften, der Zensur unterworfen sei, daß er aber hier die
Stelle des Zensors vertrete,11463
Fiel in diesem einen Punkte die Sache der Preßfreiheit nicht zusammen mit
der Freiheit des Landtages? Diese Kollision ist um so interessanter, als dem
Landtag hier an seiner eigenen Person der Beweis statuiert wurde, wie mit
1
zu Solms-Hohensolms-Lich -
2
Johann Heinrich vom Baur -
3
Jagd nach Wohlwollen
dem Mangel der Preßfreiheit alle andern Freiheiten illusorisch werden.
Jede Gestalt der Freiheit bedingt die andere, wie ein Glied des Körpers das
andere. So oft eine bestimmte Freiheit in Frage gestellt ist, ist die Freiheit in
Frage gestellt. So oft eine Gestalt der Freiheit verworfen ist, ist die Freiheit
verworfen und kann überhaupt nur mehr ein Scheinleben führen, indem es
nachher reiner Zufall ist, an welchem Gegenstand die Unfreiheit als die
herrschende Macht sich betätigt. Die Unfreiheit ist die Regel und die Freiheit eine Ausnahme des Zufalls und der Willkür. Nichts ist daher verkehrter
als, wenn es sich um ein besonderes Dasein der Freiheit handelt, zu meinen,
dieses sei eine besondere Frage. Es ist die allgemeine Frage innerhalb einer
besonderen Sphäre. Freiheit bleibt Freiheit, drücke sie sich nun in der
Druckerschwärze, oder in Grund und Boden, oder im Gewissen, oder in
einer politischen Versammlung aus; aber der loyale Freund der Freiheit,
dessen Ehrgefühl schon verletzt würde, wenn er abstimmen sollte: Sein oder
Nichtsein der Freiheit? Dieser Freund wird stutzig vor dem eigentümlichen
Material, in welchem die Freiheit erscheint, er verkennt in der Art die Gattung, er vergißt über der Presse die Freiheit, er glaubt ein fremdes Wesen zu
beurteilen und verurteilt sein eigenes Wesen. So hat der sechste rheinische
Landtag sich selbst verurteilt, indem er der Preßfreiheit das Urteil sprach.
Die hochweisen Büromänner von Praxis, welche im stillen und mit Unrecht von sich denken, was Penises laut und mit Recht von sich rühmte:
„ I c h bin ein M a n n , der sich in der Kenntnis der Staatsbedürfnisse wie in der
Kunst, sie zu entwickeln, mit jedem messen kann"1-47-1,
diese Erbpächter der politischen Intelligenz werden die Achseln zucken und
mit orakelnder Vornehmheit bemerken, daß die Verteidiger der Preßfreiheit
leere Spreu dreschen, denn eine milde Zensur sei besser als eine herbe Preßfreiheit. Wir erwidern ihnen, was die Spartaner Sperthias und Bulis dem
persischen Satrapen Hydarnes:
„Hydarnes, dein Rat für uns ist nicht von beiden Seiten gleich abgewogen. D e n n
das Eine, worüber du rätst, hast du versucht; das Andere blieb dir unversucht. N ä m lich was Knecht sein heißt, das kennst d u ; die Freiheit aber hast d u noch nie versucht,
ob sie süß ist oder nicht. D e n n hättest du sie versucht, du würdest uns raten, nicht nur
mit Lanzen für sie zu fechten, sondern auch mit Beilen."1-48-1
Geschrieben zwischen d e m
2 6 . M ä r z und 26. April 1842.
N a c h : K a i l Marx, „Gesammelte Aufsätze",
herausgegeben von Hermann Becker,
I . H e f t , K ö l n 1851, und „Rheinische Zeitung" Nr. 139
vorn 19. Mai 1842.
Karl Marx
Das philosophische Manifest
der historischen Rechtsschule"91
[„Rheinische Zeitung" Nr.221 vom 9. August 1842]
Die vulgäre Ansicht betrachtet die historische Schule als Reaktion gegen
den frivolen Geist des achtzehnten Jahrhunderts. Die Verbreitung dieser Ansicht steht in umgekehrtem Verhältnis zu ihrer Wahrheit. Das achtzehnte
Jahrhundert hat vielmehr nur ein Produkt erzeugt, dessen wesentlicher
Charakter die Frivolität ist, und dies einzig frivole Produkt ist die historische
Schule.
Die historische Schule hat das Quellenstudium zu ihrem Schibboleth gemacht, sie hat ihre Quellenliebhaberei bis zu dem Extrem gesteigert, daß sie
dem Schiffer einmutet, nicht auf dem Strome, sondern auf seiner Quelle zu
fahren, sie wird es billig finden, daß wir auf ihre Quellen zurückgehen, auf
Hugos Naturrecht. Ihre Philosophie geht ihrer Entwickelung voraus, man wird
daher in ihrer Entwickelung selbst vergeblich nach Philosophie suchen.
Eine gangbare Fiktion des achtzehnten Jahrhunderts betrachtete den
Naturzustand als den wahren Zustand der menschlichen Natur. Man wollte
mit leiblichen Augen die Idee des Menschen sehen und schuf Naturmenschen, Papagenos, deren Naivität sich bis auf ihre befiederte Haut erstreckt. In den letzten Dezennien des achtzehnten Jahrhunderts ahnte man
Urweisheit bei Naturvölkern, und von allen Enden hörten wir Vogelsteller
die Sangweisen der Irokesen, Indianer usw. nachzwitschern, mit der Meinung,
durch diese Künste die Vögel selbst in die Falle zu locken. Allen diesen Exzentritäten lag der richtige Gedanke zugrunde, daß die rohen Zustände naive
niederländische Gemälde der wahren Zustände sind.
Der Naturmensch der historischen Schule, den noch keine romantische
Kultur beleckt, ist Hugo. Sein „Lehrbuch des Natürrechts"C501 ist das alte
Testament der historischen Schule. Herders Ansicht, daß die Naturmenschen
Poeten und die heiligen Bücher der Naturvölker poetische Bücher sind, steht
uns nicht im Wege, obgleich Hugo die allertrivialste, allernüchtemste Prosa
spricht, denn wie jedes Jahrhundert seine eigentümliche Natur besitzt, so
zeugt es seine eigentümlichen Naturmenschen. Wenn Hugo daher nicht
dichtet, so fingiert er doch, und die Fiktion ist die Poesie der Prosa, die der
prosaischen Natur des achtzehnten Jahrhunderts entspricht.
Indem wir aber Herrn Hugo als Ältervater und Schöpfer der historischen
Schule bezeichnen, handeln wir in ihrem eigenen Sinne, wie das Festprogramm
des berühmtesten historischen Juristen zu Hugos Jubiläum beweist1513.
Indem wir Herrn Hugo als ein Kind des achtzehnten Jahrhunderts begreifen, verfahren wir sogar im Geist des Herrn Hugo, wie er selbst bezeugt,
indem er sich für einen Schüler Kants und sein Naturrecht für einen Sprößling der kantischen Philosophie ausgibt. Wir nehmen sein Manifest an diesem
Punkte auf.
Hugo mißdeutet den Meister Kant dahin, daß, weil wir das Wahre nicht
wissen können, wir konsequenterweise das Unwahre, wenn es nur existiert,
für vollgültig passieren lassen. Hugo ist ein Skeptiker gegen das notwendige
Wesen der Dinge, um ein Hoffmann gegen ihre zufällige Erscheinung zu sein.
Er sucht daher keineswegs zu beweisen, daß das Positive vernünftig sei; er
sucht zu beweisen, daß das Positive nicht vernünftig sei. Aus allen Weltgegenden schleppt er mit selbstgefälliger Industrie Gründe herbei, um zur Evidenz
zu steigern, daß keine vernünftige Notwendigkeit die positiven Institutionen, z.B. Eigentum, Staatsverfassung, Ehe etc. beseelt, daß sie sogar der
Vernunft widersprechen, daß sich höchstens dafür und dagegen schwatzen
lasse. Man darf diese Methode keineswegs seiner zufälligen Individualität
vorwerfen; es ist vielmehr die Methode seines Prinzips, es ist die offenherzige,
die naive, die rücksichtslose Methode der historischen Schule. Wenn das Positive gelten soll, weil es positiv ist, so muß ich beweisen, daß das Positive nicht
gilt, weil es vernünftig ist, und wie könnte ich dies evidenter als durch den
Nachweis, daß das Unvernünftige positiv und das Positive nicht vernünftig
ist? Daß das Positive nicht durch die Vernunft, sondern trotz der Vernunft
existiert? Wäre die Vernunft der Maßstab des Positiven, so wäre das Positive
nicht der Maßstab der Vernunft. „Ist dies schon Tollheit, hat es doch Methode!"1523 Hugo entheiligt daher alles, was dem rechtlichen, dem sittlichen,
dem politischen Menschen heilig ist, aber er zerschlägt diese Heiligen nur, um
ihnen den historischen Reliquiendienst erweisen 2u können, er schändet sie vor
den Augen der Vernunft, um sie hinterher zu Ehren zu bringen vor den Augen
der Historie, zugleich aber auch, um die historischen Augen zu Ehren zu bringen.
Wie das Prinzip, so ist die Argumentation Hugos positiv, d.h. unkritisch. Er kennt keine Unterschiede. Jede Existenz gilt ihm für eme Autorität,
jede Autorität gilt ihm für einen Grund. So werden denn zu einem Para-
graphen zitiert Moses und Voltaire, Richardson und Homer, Montaigne und
Ammon, Rousseaus „Contrat social" und Augustinus' „De civitate Dei". Gleich
nivellierend wird mit den Völkern verfahren. Der Siamite, der es für ewige
Naturordnung hält, daß sein König einem Schwätzer den Mund zunähen
und einem unbeholfenen Redner ihn bis an die Ohren aufschneiden läßt, ist
nach Hugo so positiv als der Engländer, der es zu den politischen Paradoxien
zählt, daß sein König eigenmächtig eine Auflage von einem Pfennig ausschreiben werde. Der schamlose Cond, der nackt umherläuft und sich höchstens mit Schlamm bedeckt, ist so positiv als der Franzose, der sich nicht nur
kleidet, sondern elegant kleidet. Der Deutsche, der seine Tochter als das
Kleinod der Familie erzieht, ist nicht positiver als der Rashute, der sie tötet,
um sich der Nahrungssorge für sie zu überheben.1-53-1 Mit einem Worte: der
Hautausschlag ist so positiv als die Haut.
An einem Ort ist das positiv, am andern jenes, eins ist so unvernünftig
als das andere, unterwirf dich dem, was in deinen vier Pfählen positiv ist.
Hugo ist also vollendeter Skeptiker. Die Skepsis des achtzehnten Jahrhunderts gegen die Vernunft des Bestehenden erscheint bei ihm als Skepsis
gegen das Bestehen der Vernunft. Er adoptiert die Aufklärung, er sieht in dem
Positiven nichts Vernünftiges mehr, aber nur, um in dem Vernünftigen nichts
Positives mehr sehen zu dürfen. Er meint, man habe den Schein der Vernunft
an dem Positiven ausgeblasen, um das Positive ohne den Schein der Vernunft
anzuerkennen; er meint, man habe die falschen Blumen an den Ketten zerpflückt, um echte Ketten ohne Blumen zu tragen.
Hugo verhält sich zu den übrigen Aufklärern des achtzehnten Jahrhunderts, wie sich etwa die Auflösung des französischen Staats am liederlichen
Hofe des Regenten1 zur Auflösung des französischen Staats in der Nationalversammlung verhält. Auf beiden Seiten Auflösung! Dort erscheint sie als
liederliche Frivolität, welche die hohle Ideenlosigkeit der bestehenden Zustände begreift und verspottet, aber nur, um, aller vernünftigen und sittlichen Bande quitt, ihr Spiel mit den faulen Trümmern zu treiben und vom
Spiel derselben getrieben und aufgelöst zu werden. Es ist die Verfaulung
der damaligen Welt, die sich selbst genießt. In der Nationalversammlung dagegen erscheint die Auflösung als Loslösung des neuen Geistes von alten Formen,
die nicht mehr wert und nicht mehr fähig waren, ihn zu fassen. Es ist das
Selbstgefühl des neuen Lebens, welches das Zertrümmerte zertrümmert, das
Verworfene verwirft. Ist daher Kants Philosophie mit Recht als die deutsche
Theorie der französischen Revolution zu betrachten, so Hugos Naturrecht
1
Philippe II.
als die deutsche Theorie des französischen ancien regime. Wir finden bei ihm
die ganze Frivolität jener Roues wieder, die gemeine Skepsis, welche, frech
gegen Ideen, allerdevotest gegen Handgreiflichkeiten, erst ihre Klugheit
empfindet, wenn sie den Geist des Positiven erlegt hat, um nun das rein
Positive als Residuum zu besitzen und in diesen tierischen Zuständen behaglich zu sein. Selbst wenn Hugo die Schwere der Gründe abwägt, so wird
er mit unfehlbar sicherem Instinkt das Vernünftige und Sittliche an den Institutionen bedenklich für die Vernunft finden. Nur das Tierische erscheint
seiner Vernunft als das Unbedenkliche. Doch hören wir unsern Aufklärer vom
Standpunkt des ancien regime! Man muß Hugos Ansichten von Hugo
hören. Zu allen seinen Kombinationen gehört ein: <xutö<; eq'q1.
Introduktion
„Das einzige juristische Unterscheidungsmerkmal des Menschen ist seine tierische
Natur."
Das Kapitel von der Freiheit
„Selbst dies ist eine Einschränkung der Freiheit" (sc. des vernünftigen Wesens), „daß
es nicht nach Beliehen aufhören kann, ein vernünftiges Wesen zu sein, d.h. ein Wesen,
das vernünftig handeln kann und soll."
„Die Unfreiheit ändert an der tierischen und vernünftigen Natur des Unfreien und
anderer Menschen nichts. Die Gewissenspflichten bleiben alle. Die Sklaverei ist nicht nur
physisch möglich, sondern auch, sie ist nach der Vernunft möglich, und bei jeder Forschung, die uns das Gegenteil lehrt, muß irgendein Mißverständnis mit unterlaufen.
Peremptorisch rechtlich ist sie freilich nicht, d.h., sie folgt nicht aus der tierischen
Natur, nicht aus der vernünftigen und nicht aus der bürgerlichen. Daß sie aber so gut
provisorisches Recht sein kann als irgend etwas von den Gegnern Zugegebenes, ergibt
die Vergleichung mit dem Privatrechte und mit dem öffentlichen Rechte." Beweis: „In
Ansehung der tierischen Natur ist der offenbar mehr vor Mangel gesichert, welcher
einem Reichen gehört, der etwas mit ihm verliert und seine N o t gewahr wird, als der
Arme, welchen seine Mitbürger benutzen, solange etwas an ihm zu benutzen ist etc."
„Das Recht, servi zu mißhandeln und zu verstümmeln, ist nicht wesentlich, und wenn es
auch stattfindet, so ist es nicht viel schlimmer als das, was sich die Armen gefallen lassen,
und was den Körper betrifft, nicht so schlimm als der Krieg, von welchem servi als
solche überall frei sein müssen. Die Schönheit sogar findet sich eher bei einer zirkassisehen Sklavin als bei einem Bettlermädchen." (Hört den Alten!)
1
er selbst hat es gesagt
„Für die vernünftige Natur hat die servitus vor der Armut den Vorzug, daß viel
eher der Eigentümer an den Unterricht eines servus, der Fähigkeiten zeigt, selbst aus
wohlverstandener Wirtschaft, etwas wenden wird, als dies bei einem Bettlerkinde der
Fall ist. In einer Verfassung bleibt grade der servus mit sehr vielen Arten des Druckes
verschont. Ist der Sklave unglücklicher als der Kriegsgefangene, den seine Bedeckung
weiter gar nichts angeht, als daß sie eine Zeitlang für ihn verantwortlich ist, unglücklicher als der Baugefangene, über welchen die Regierung einen Aufseher gesetzt hat."
„ O b die Sklaverei an sich da Fortpflanzung vorteilhaft oder nachteilig sei, darüber
streitet man noch."
Das Kapitel von der Ehe
„Die Ehe ist schon oft bei der philosophischen Betrachtung des positiven Rechts für
viel wesentlicher und der Vernunft viel gemäßer angesehen worden, als sie bei einer
ganz freien Prüfung erscheint."
Zwar die Befriedigung des Geschlechtstriebs in der Ehe konveniert Herrn
Hugo. Er leitet sogar eine heilsame Moral aus diesem Faktum:
„Hieraus, wie aus unzähligen anderen Verhältnissen hätte man sehn sollen, daß es
nicht immer unsittlich sei, den Körper eines Menschen als ein Mittel zu einem Zweck, zu
behandeln, wie man, und auch wohl Kant selbst, diesen Ausdruck falsch verstanden hat."
Aber die Heiligung des Geschlechtstriebes durch die Ausschließlichkeit,
die Bändigung des Triebs durch die Gesetze, die sittliche Schönheit, die das
Naturgebot zu einem Moment geistiger Verbindung idealisiert - das geistige
Wesen der Ehe - , das eben ist dem Herrn Hugo das Bedenkliche an der Ehe.
Doch ehe wir weiter seine frivole Schamlosigkeit verfolgen, hören wir einen
Augenblick dem historischen Deutschen gegenüber den französischen Philosophen.
„C'est en renonfant pour un seul hommeä cette reserve myst£rieuse, dont la regle
divine est imprimee dans son coeur, que la femme se voue ä cet homme, pour lequel
eile suspend, dans un abandon momentane, cette pudeur, qui ne la quitte jamais; pour
lequel seul eile ecarte des voiles qui sont d ailleurs son asile et sa parure. D e lä cette
confiance intime dans son epoux, resultat d une relation exclusive, qui ne peut exister
qu'entre eile et lui, sans qu'aussitot eile se sente fletrie; de la dans cet epoux la reconnaissance pour un sacrifice et ce melange de desir et de respect pour un etre qui, meme
en partageant ses plaisirs, ne semble encore que lui ceder; de lä tout ce qu'il y a de
regulier dans notre ordre social."115*1
1 „Dadurch, daß sie einem einzigen Manne zuliebe auf diese geheimnisvolle Zurückhaltung
verzichtet, deren göttliches Gesetz sie im Herzen trägt, gelobt sie sich diesem Manne an, dem
zuliebe sie diese Schamhaftigkeit, die sie niemals verläßt, in einem Augenblick der Hingabe
aufgibt; für den allein sie die Schleier lüftet, die sonst ihre Zuflucht und ihr Schmuck sind. Da-
Also der liberale philosophische Franzose Benjamin Constant! Und nun
hören wir den servilen, historischen Deutschen:
„Viel bedenklicher ist schon die zweite Beziehung, daß außer der Ehe die Befriedigung dieses Triebes nicht erlaubt ist! Die tierische Natur ist dieser Einschränkung zuwider. Die vernünftige Natur ist es noch mehr, weil" . . . man r a t e ! . . . „weil ein Mensch
beinahe allwissend sein müßte, um vorauszusehen, welchen Erfolg es haben werde, weil
es also Gott versuchen heißt, wenn man sich verpflichtet, einen der heftigsten Naturtriebe nur dann zu befriedigen, wenn es mit einer bestimmten andern Person geschehen kann!" „Das seiner Natur nach freie Gefühl des Schönen soll gebunden und,
was von ihm abhängt, soll völlig davon losgerissen werden."
Seht ihr, in welche Schule unsere Jungdeutschen gegangen sindC55]!
„Gegen die bürgerliche Natur stößt diese Einrichtung insofern an, als . . . endlich
die Polizei eine fast kaum zu lösende Aufgabe übernimmt!"
Ungeschickte Philosophie, keine solche Aufmerksamkeiten gegen diePolizei
zu handhaben!
„Alles, was in der Folge von den näheren Bestimmungen des Eherechts vorkommen wird, lehrt uns, daß die Ehe, man mag dabei Grundsätze annehmen, welche man
will, eine sehr unvollkommene Einrichtung bleibt."
„Diese Einschränkung des Geschlechtstriebes auf die Ehe hat aber auch ihre wichtigen Vorteile, indem - dadurch gewöhnlich ansteckende Krankheiten vermieden werden.
Der Regierung erspart die Ehe gar viel Weitläufigkeit. Endlich tritt dann noch die
überall so wichtige Betrachtung ein, daß hierin das Privatrechtliche nun schon einmal das
einzig Gewöhnliche ist." „Fichte sagt: Die unverheiratete Person ist nur zur Hälfte ein
Mensch. Da tut es mir" (sc. Hugo) „aber ordentlich leid, einen solchen schönen Ausspruch, wodurch ja auch ich über Christus, Fenelon, Kant, Hume zu stehen käme, für
eine ungeheure Übertreibung erklären zu müssen."
„Was die M o n o - oder Polygamie betrifft, so kommt es dabei offenbar auf die
tierische Natur des Menschen an!!"
Das Kapitel von der Erziehung
Wir erfahren sogleich:
„daß die Erziehungskunst gegen die darauf" (sc. Erziehung in der Familie) „sich
beziehenden juristischen Verhältnisse nicht weniger einzuwenden hat als die Kunst
zu lieben gegen die Ehe".
her das innige Vertrauen zu ihrem Manne, Ergebnis einer ausschließlichen Beziehung, die nur
zwischen ihr und ihm bestehen kann, ohne daß sie sich alsbald geschändet fühlt; daher die
Dankbarkeit dieses Mannes für ein Opfer und die Mischung von Verlangen und Scheu vor
einem Wesen, das, auch wenn es seine Lust teilt, ihn doch nur gewähren zu lassen scheint; daher
alles, was es Gesittetes in unserer sozialen Ordnung gibt."
„Die Schwierigkeit, daß man nur in einem solchen Verhältnis erziehen darf, ist
zwar hier lange nicht so bedenklich, wie bei der Befriedigung des Geschlechtstriebes,
auch um deswillen, weil es erlaubt ist, die Erziehung vertragsweise einem Dritten zu
überlassen, also, wer einen so großen Trieb fühlte, sehr leicht dazu kommen könnte,
ihn zu befriedigen, nur freilich nicht gerade an der bestimmten Person, die er sich
wünschte. Indes ist auch schon dies der Vernunft zuwider, daß jemand, dem gewiß
nie ein Kind anvertraut werden würde, kraft eines solchen Verhältnisses erziehen und
andere von der Erziehung ausschließen darf. Endlich tritt dann auch hier ein Zwang
ein, teils insofern dem Erziehenden im positiven Recht gar oft nicht erlaubt wird,
dieses Verhältnis aufzugeben, teils insofern der zu Erziehende genötigt ist, sich grade
von diesem erziehen zu lassen. Die Wirklichkeit dieses Verhältnisses beruht meistens auf dem bloßen Zufall der Geburt, welche auf den Vater durch die Ehe bezogen
sein muß. Diese Entstehungsart ist offenbar nicht sehr vernünftig, auch um deswillen,
weil hier gewöhnlich eine Vorliebe eintritt, welche allein schon einer guten Erziehung
im Wege steht, und daß sie dann doch nicht durchaus notwendig ist, sieht man daraus,
weil ja auch Kinder erzogen werden, deren Eltern bereits gestorben sind."
Das Kapitel vom Privatrecht
§ 107 werden wir belehrt, daß die „Notwendigkeit des Privatrechts überhaupt eine vermeinte sei".
Das Kapitel vom Staatsrecht
„Es ist eine heilige Gewissenspflicht, der Obrigkeit zu gehorchen, welche die Gewalt
in Händen hat." „Was die Verteilung der Regierungsgewalt betrifft, so ist zwar feine
einzelne Verfassung peremptorisch rechtlich; aber provisorisch rechtlich ist jede, die
Regierungsgewalt sei verteilt, wie sie wolle."
Hat Hugo nicht bewiesen, daß der Mensch auch die letzte Fessel der
Freiheit abwerfen kann, nämlich die, ein vernünftiges Wesen zu sein?
Diese wenigen Exzerpte aus dem philosophischen Manifest der historischen
Schule reichen hin, glauben wir, um ein historisches Urteil über diese Schule
an die Stelle unhistorischer Einbildungen, unbestimmter Gemütsträume
und absichtlicher Fiktionen zu setzen; sie reichen hin, um zu entscheiden,
ob Hugos Nachfolger den Beruf haben, die Gesetzgeber unserer Zeit zu sein116®-1.
Allerdings ist dieser rohe Stammbaum der historischen Schule im Laufe
der Zeit und der Kultur von dem Rauchwerke der Mystik in Nebel gehüllt,
von der Romantik phantastisch ausgeschnitzelt, von der Spekulation inokuliert worden, und die vielen gelehrten Früchte hat man vom Baume ge-
schüttelt, getrocknet und prahlerisch in der großen Vorratskammer deutscher
Gelehrsamkeit aufgespeichert; allein es gehört wahrlich nur wenig Kritik.
dazu, um hinter all den wohlriechenden modernen Phrasen die schmutzigen
alten Einfälle unseres Aufklärers des ancien regime und hinter all der überschwenglichen Salbung seine liederliche Trivialität wiederzuerkennen.
Wenn Hugo sagt: „Das Tierische ist das juristische Unterscheidungsmerkmal des Menschen", also: das Recht ist tierisches Recht, so sagen die gebildeten Modernen für das rohe, offenherzige „tierisch" etwa „organisches"
Recht, denn wem fällt beim Organismus auch gleich der tierische Organismus
ein? Wenn Hugo sagt, daß in der Ehe und den andern sittlich-rechtlichen
Institutionen £eme Vernunft ist, so sagen die modernen Herren, diese Institutionen seien zwar keine Bildungen der menschlichen Vernunft, aber Abbilder
einer höhern „positiven" Vernunft, und so durch alle übrigen Artikel. Nur
ein Resultat sprechen alle gleich roh aus: Das Recht der willkürlichen Gewalt.
Hallers, Stahls, Leos und der Gleichgesinnten juristische und historische
Theorien sind nur als codices rescriptf57:1 des hugonischen Naturrechts zu betrachten, die nach einigen Operationen der kritischen Scheidekunst den alten
Urtext wieder leserlich hervortreten lassen, wie wir bei gelegener Zeit weiter
dartun wollen.
Um so vergeblicher bleiben alle Verschönerungskünste, als wir das alte
Manifest noch besitzen, das, wenn auch nicht verständig, doch immerhin sehr
verständlich ist.
Geschrieben Ende Juli bis
etwa 6. August 1842.
„Das Kapitel von der Ehe"
nach der Handschrift.
Karl Marx
Der leitende Artikel
in Nr. 179 der „Kölnischen Zeitung"1583
[„Rheinische Zeitung" Nr. 191 vom 10.Juli 1842]
*** Wir hatten bisher in der „Kölnischen Zeitung" wenn auch nicht das
„Blatt der rheinischen Intelligenz", so doch das rheinische „Intelligenzblatt" verehrt. Wir betrachteten vorzugsweise ihre „leitenden politischen Artikel" als ein
ebenso weises wie gewähltes Mittel, dem Leser die Politik zu verleiden, damit er desto sehnsüchtiger in das lebensfrische, industriewogende und oft
schöngeistig pikante Reich der Anzeigen hinübersetze, damit es auch hier
heiße: per aspera ad astra1, durch die Politik zu den Austern. Allein das
schöne Ebenmaß, welches die „Kölnische Zeitung" bisher zwischen der
Politik und den Anzeigen zu halten wußte, ist in letzter Zeit durch eine Art
von Anzeigen gestört worden, welche man die „Anzeigen der politischen
Industrie" nennen kann. In der ersten Unsicherheit, wo diese neue Gattung
zu plazieren, geschah es, daß sich eine Anzeige in einen leitenden Artikel
und der leitende Artikel in eine Anzeige verwandelte, und zwar in eine
Anzeige, die man in der Sprache der politischen Welt eine „Denunziation" nennt, die aber, wenn sie bezahlt wird, eine „Anzeige" schlechthin heißt.
Man pflegt im Norden vor den magern Mahlzeiten exquisite Spirituosa
den Gästen verabfolgen zu lassen. Wir befolgen bei unserm nordischen Gaste
um so lieber diese Sitte, den Spiritus vor der Mahlzeit zu geben, als wir in
der Mahlzeit selbst, in dem sehr „leidenden" Artikel in Nr. 179 der „Kölnischen Zeitung" keinen Spiritus finden. Wir tischen daher zuerst eine
Szene aus Lucians Göttergesprächen auf, die wir nach einer „gemeinverständlichen" Übersetzung™ mitteilen, da unter unsern Lesern wenigstens
einer sich befinden wird, der kein Hellene ist.
1
auf rauhen Pfaden zu den Sternen
Lucians Göttergespräche
XXIV.
Hermes' Klagen
Hermes. Maja
Hermes. Gibt es wohl, liebe Mutter, im ganzen Himmel einen geplagteren Gott als
mich?
Maja. Sage doch nicht so etwas, mein Sohn!
Hermes. Warum soll ich es nicht sagen? Ich, der ich eine Menge von Geschäften
zu besorgen habe, immer allein arbeiten, mich zu so vielen Knechtsdiensten herumzerren lassen muß? Morgens mit dem Frühesten muß ich aufstehen und den Speisesaal auskehren, die Polster im Ratszimmer zurechte legen, und wenn alles an Ort und
Stelle ist, bei Jupitern aufwarten und den ganzen Tag mit seinen Botschaften auf und
ab den Kurier machen. Kaum zurückgekehrt und mit Staube noch bedeckt, muß ich
die Ambrosia auftragen. Und was noch das ärgste ist, ich bin der einzige, dem man
auch des Nachts keine Ruhe läßt; denn da muß ich dem Pluto die Seelen der Verstorbenen zuführen und beim Totengerichte Aufwärterdienste tun, denn es ist nicht genug
an den Arbeiten des Tages, daß ich den Turnübungen anzuwohnen, den Herold in den
Volksversammlungen zu machen, den Volksrednern beim Einstudieren ihrer Vorträge
zu helfen habe; nein, ich muß, in so viele Geschäfte zerstückelt, auch noch das gesamte
Totenwesen besorgen.
Seit seiner Vertreibung aus dem Olymp besorgt Hermes aus alter Gewohnheit noch immer „Knechtsdienste" und das gesamte Totenwesen.
I'' Ob Hermes selbst oder sein Sohn, der Ziegengott Pan, den leidenden Artikel Nr. 179 geschrieben, mag der Leser entscheiden, nachdem er sich erinnert, daß der griechische Hermes der Gott der Beredsamkeit und der
Logik war.
„Philosophische und religiöse Ansichten durch die Zeitungen zu verbreiten oder
in den Zeitungen zu bekämpfen, scheint uns gleich unzulässig."
Wie der Alte so plauderte, merkte ich wohl, daß es bei ihm auf eine langweilige Litanei von Orakelsprüchen abgesehen sei, aber, beschwichtigte ich
die Ungeduld, sollte ich dem einsichtsvollen Manne nicht glauben, der so
unbefangen ist, in seinem eigenen Hause seine Meinung mit aller Freimütigkeit zu sagen, und ich las weiter. Doch, o Wunder, dieser Artikel, dem zwar
keine einzige philosophische Ansicht vorzuwerfen ist, hat wenigstens die
Tendenz, philosophische Ansichten zu bekämpfen und religiöse Ansichten
zu verbreiten.
Was soll uns ein Artikel, der das Recht seiner eigenen Existenz bestreitet,
der seine Inkompetenzerklärung sich selbst vorausschickt. Der redselige
Verfasser wird uns antworten. Er erklärt, wie seine breitspurigen Artikel zu
lesen sind. Er beschränkt sich darauf, Bruchstücke zu geben, deren „Aneinanderreihung und Verbindung" er „dem Scharfsinn der Leser" überläßt die schicklichste Methode für jene Art von Anzeigen, deren Betrieb er
sich zugelegt. Wir wollen „aneinanderreihen und verbinden", und es ist
nicht unsere Schuld, wenn aus dem Rosenkranz kein Kranz von Rosenperlen wird.
Der Verfasser erklärt sich dahin:
„Eine Partei, die sich dieser Mittel bedient" (nämlich philosophische und religiöse
Ansichten in Zeitungen zu verbreiten und zu bekämpfen), „zeigt dadurch, unserer
Meinung nach, daß sie es nicht ehrlich meint und daß ihr weniger an der Belehrung
und Aufklärung des Volkes als an der Erreichung anderer äußerer Zwecke gelegen
ist."
Bei dieser seiner Meinung kann der Artikel nichts anderes als die Erreichung äußerer Zwecke beabsichtigen. Diese „äußern Zwecke" werden sich
nicht verschweigen.
Der Staat, heißt es, hat nicht allein das Recht, sondern auch die Pflicht,
den „unberufenen Schwätzern das Handwerk zu legen". Der Verfasser
spricht von den Gegnern seiner Ansicht; denn längst ist er dahin mit sich selbst
übereingekommen, ein berufener Schwätzer zu sein.
Es handelt sich also von einer neuen Verschärfung der Zensur in religiösen Angelegenheiten, von einer neuen Polizeimaßregel gegen die kaum
aufatmende Presse.
„Unserer Meinung nach kann man dem Staate, statt übertriebener Strenge, eher
eine zu weit getriebene Nachsicht zum Vorwurf machen."
Doch der leitende Artikel besinnt sich. Es ist gefährlich, dem Staate Vorwürfe zu machen; er adressiert sich daher an die Behörden, seine Anklage
gegen die Preßfreiheit verwandelt sich in eine Anklage gegen die Zensoren;
er klagt die Zensoren an, zu „wenig Zensur" anzuwenden.
„Auch darin ist bisher, zwar nicht vom Staate, aber von einzelnen Behörden eine
tadelnswerte Nachsicht bewiesen worden, daß man der neuern philosophischen Schule
gestattet hat, sich in öffentlichen Blättern und in andern, für einen nicht bloß wissenschaftlichen Leserkreis bestimmten Druckschriften die unwürdigsten Ausfälle auf das
Christentum zu erlauben."
Wiederum bleibt der Verfasser stehen, und wiederum besinnt er sich; er
hat vor weniger als acht Tagen in der Zensurfreiheit zu wenig Preßfreiheit
gefunden160-'; er findet jetzt in dem Zensorenzwang zu wenig Zensürzwang.
Das muß wieder gutgemacht werden.
„Solange noch eine Zensur besteht, ist es ihre dringendste Pflicht, so ekelerregende
Auswüchse eines knabenhaften Übermutes auszuschneiden, wie sie in den letzten
Tagen wiederholt unser Auge beleidigt haben."
Blöde Augen! Blöde Augen! Und das „blödeste Auge wird von einer
Wendung beleidigt werden, die nur auf die Fassungskraft der großen Menge"
berechnet sein kann.
Wenn schon die erleichterte Zensur ekelerregende Auswüchse aufkommen läßt, wie erst die Preßfreiheit? Wenn unsere Augen zu schwach sind,
den „Übermut" der zensierten, wie würden sie stark genug sein, den „Mut"
der freien Presse zu ertragen?
„Solange die Zensur besteht, ist es ihre dringendste Pflicht." Und sobald
sie nicht mehr besteht? Die Phrase muß so interpretiert werden: Es ist die
dringendste Pflicht der Zensur, so lange als möglich zu bestehen.
Und wiederum besinnt sich der Verfasser:
„Es ist nicht unseres Amtes, als öffentlicher Ankläger aufzutreten, und wir unterlassen deshalb jede nähere Bezeichnung."
Es ist eine Himmelsgüte in diesem Menschen! Er unterläßt die nähere
„Bezeichnung", und nur aus ganz nahen, ganz distinkten Zeichen könnte er
beweisen und zeigen, was denn seine Ansicht will; er läßt nur vage, halblaute, verdächtigende Worte fallen; es ist nicht seines Amtes, öffentlicher Ankläger, es ist seines Amtes, versteckter Ankläger zu sein.
Zum letzten Male besinnt sich der unglückliche Mann, daß es seines
Amtes ist, liberale Leadingartikel zu schreiben, daß er einen „loyalen Preßfreiheitsfreund" vorstellen solle; er wirft sich also in die letzte Position:
„Wir durften es nicht unterlassen, gegen ein Verfahren zu protestieren, welches,
wenn es nicht eine Folge zufälliger Vernachlässigung ist, keinen andern Zweck haben
kann, als die freiere Bewegung der Presse in der öffentlichen Meinung zu kompromittieren, um den Gegnern, die auf dem geraden Wege ihr Ziel zu verfehlen fürchten, g e wonnenes Spiel zu geben."
Die Zensur, lehrt dieser ebenso kühne als scharfsinnige Verteidiger der
Preßfreiheit, wenn sie nicht der englische Leoparde mit der Inschrift ist:
„I sleep, wake me not!" 1 hat dieses „heillose" Verfahren eingeschlagen, um
die freiere Bewegung der Presse in der öffentlichen Meinung zu kompromittieren.
1
„Ich schlafe, wecke mich nicht!" .
Braucht eine Bewegung der Presse noch kompromittiert zu werden, welche
die Zensur auf „zufällige Vernachlässigungen" aufmerksam macht, welche ihr
Renommee in der öffentlichen Meinung von dem „Federmesser des Zensors"
erwartet?
„Frei" kann diese Bewegung insofern genannt werden, als man die
Lizenz der Schamlosigkeit auch zuweilen „frei" nennt, und ist es nicht die
Schamlosigkeit des Unverstandes und der Heuchelei, sich für einen Verteidiger der freiem Bewegung der Presse auszugeben, wenn man zugleich
doziert, die Presse falle den Augenblick in die Gosse, wo nicht zwei Gensdarmen ihr unter die Arme greifen.
Und wozu bedürfen wir der Zensur, wozu dieses leitenden Artikels, wenn
die philosophische Presse sich selbst in der öffentlichen Meinung kompromittiert? Allerdings will der Verfasser keineswegs „die Freiheit der wissenschaftlichen Forschung" beschränken.
„ In unsern Tagen ist der wissenschaftlichen Forschung mit Recht der weiteste, unbeschränkteste Spielraum gestattet."
Welchen Begriff unser Mann aber von der wissenschaftlichen Forschung
hat, mag folgende Äußerung beweisen:
„Es ist dabei scharf zu unterscheiden, was die Freiheit der wissenschaftlichen Forschung erfordert, durch welche das Christentum selbst nur gewinnen kann, und was
über die Grenzen der wissenschaftlichen Forschung hinaus liegt."
Wer soll über die Grenzen der wissenschaftlichen Forschung entscheiden, wenn nicht die wissenschaftliche Forschung selbst! Nach dem leitenden
Artikel sollen die Grenzen der Wissenschaft vorgeschrieben werden. Der
leitende Artikel kennt also eine „offizielle Vernunft", welche nicht von der
wissenschaftlichen Forschung lernt, sondern sie belehrt, welche, eine gelehrte Vorsehung, die Größe jedes Haares mißt, das einen wissenschaftlichen
Bart in einen Weltbart verwandeln könnte. Der leitende Artikel glaubt an die
wissenschaftliche Inspiration der Zensur.
Ehe wir diese „albernen" Explikationen des leitenden Artikels über die
„wissenschaftliche Forschung" weiter verfolgen, kosten wir einen Augenblick von der „Religionsphilosophie" des Herrn H[ermes], von seiner „eigenen
Wissenschaft"!
„Die Religion ist die Grundlage des Staates, wie die notwendigste Bedingung
jeder nicht bloß auf die Erreichung irgendeines äußerlichen Zweckes gerichteten gesellschaftlichen Vereinigung."
Beweis: „In ihrer rohesten Form als kindischer Fetischismus erhebt sie den M e n schen doch einigermaßen über die sinnlichen Begierden, die ihn, wenn er sich von den-
selben ausschließlich beherrschen läßt, zum Tiere erniedrigen und zu der Erfüllung
jedes höhern Zweckes unfähig machen."
Der leitende Artikel nennt den Fetischismus die „roheste Form" der Religion. Er gibt also zu, was auch ohne seinen Konsens bei allen Männern der
„wissenschaftlichen Forschung" feststeht, daß die „Tierreligion" eine höhere
religiöse Form als der Fetischismus ist, und erniedrigt die Tierreligion den
Menschen nicht unter das Tier, macht sie das Tier nicht zum Gott des
Menschen?
Und nun gar der „Fetischismus"! Eine wahre Pfennigsmagazingelehrsamkeit! Der Fetischismus ist so weit entfernt, den Menschen über die Begierde
zu erheben, daß er vielmehr „die Religion der sinnlichen Begierde' ist. Die
Phantasie der Begierde gaukelt dem Fetischdiener vor, daß ein „lebloses
Ding" seinen natürlichen Charakter aufgeben werde, um das Jawort seiner
Gelüste zu sein. Die rohe Begierde des Fetischdieners zerschlägt daher den
Fetisch, wenn er aufhört, ihr untertänigster Diener zu sein.
»Bei jenen Nationen, welche eine höhere geschichtliche Bedeutung erlangt haben,
fällt die Blüte ihres Volkslebens mit der höchsten Ausbildung ihres religiösen Sinnes,
der Verfall ihrer Größe und ihrer Macht mit dem Verfalle ihrer religiösen Bildung
zusammen."
Wenn man die Behauptung des Verfassers geradezu umkehrt, erhält man
die Wahrheit; er hat die Geschichte auf den Kopf gestellt. Griechenland und
Rom sind doch wohl die Länder der höchsten „geschichtlichen Bildung" unter
den Völkern der alten Welt. Griechenlands höchste innere Blüte fällt in die
Zeit des Perikles, seine höchste äußere in die Zeit Alexanders. Zur Zeit des
Perikles hatten Sophisten, Sokrates, welchen man die inkorporierte Philosophie nennen kann, Kunst und Rhetorik die Religion verdrängt. Die Zeit
des Alexander war die Zeit des Aristoteles, der die Ewigkeit des „individuellen" Geistes und den Gott der positiven Religionen verwarf. Und nun
gar Rom! Leset den Cicero! Epikureische, stoische oder skeptische Philosophie waren die Religionen der Römer von Bildung, als Rom den Höhepunktseiner Laufbahn erreicht hatte.1-61-1 Wenn mit dem Untergang der alten
Staaten die Religionen der alten Staaten verschwinden, so bedarf das keiner
weitern Explikation, denn die „wahre Religion" der Alten war der Kultus
„ihrer Nationalität", ihres „Staates". Nicht der Untergang der alten Religionen stürzte die alten Staaten, sondern der Untergang der alten Staaten
stürzte die alten Religionen. Und solche Unwissenheit, wie die des leitenden
Artikels, proklamiert sich zum „Gesetzgeber der wissenschaftlichen Forschung" und schreibt der Philosophie „Dekrete".
7 Maxx/Engeis, Welke, Bd. 1
. D i e ganze alte Welt mußte deshalb zusammenbrechen, weil mit den Fortschritten
in ihrer wissenschaftlichen Ausbildung, welche die Völker machten, notwendig auch
die Aufdeckung der Irrtümer verbunden war, auf denen ihre religiösen Ansichten b e ruhten."
Also die ganze alte Welt ging nach dem leitenden Artikel unter, weil die
wissenschaftliche Forschung die Irrtümer der alten Religionen aufdeckte.
Wäre die alte Welt nicht untergegangen, wenn die Forschung die Irrtümer
der Religionen verschwiegen hätte, wenn Lucretius' und Lucians Schriften
von dem Verfasser des leitenden Artikels den römischen Behörden zum Ausschneiden empfohlen worden wären?
Übrigens erlauben wir uns, die Gelehrsamkeit des Herrn H. mit einer
Notiz zu vermehren.
[„Rheinische Zeitung" Nr. 193 vom 12. Juli 1842]
*** Eben als der Untergang der alten Welt herannahte, tat sich die Alexandrinische Schule auf, welche mit Gewalt „die ewige Wahrheit" der griechischen
Mythologie und ihre durchgängige Übereinstimmung „mit den Ergebnissen
der wissenschaftlichen Forschung" zu beweisen sich bemühte1623. Auch der
Kaiser Julian gehörte noch zu dieser Richtung163-1, die den neu hereinbrechenden Zeitgeist glaubte verschwinden zu machen, wenn sie sich die Augen zuhielt, um ihn nicht zu sehen. Allein bei H's Resultat stehengeblieben!
In den alten Religionen war „die schwache Ahnung des Göttlichen von der
dichtesten Nacht des Irrtums verhüllt" und konnte deshalb den wissenschaftlichen Forschungen nicht widerstehen. Im Christentum verhält es sich
umgekehrt, wird jede Denkmaschine urteilen. Allerdings sagt H.:
„Die höchsten Ergebnisse der wissenschaftlichen Forschung haben bisher nur
dazu gedient, die Wahrheiten der christlichen Religion zu bestätigen."
Abgesehen davon, daß von allen Philosophien der Vergangenheit ohne
Ausnahme jede des Abfalls von der christlichen Religion durch die Theologen
bezichtigt wurde, selbst die des frommen Malebranche und des inspirierten
Jakob Böhme, daß Leibniz als „Löwenix" (Glaubenichts) von den braunschweigischen Bauern und als Atheist von dem Engländer Clarke und den
übrigen Anhängern Newtons angeklagt wurde; abgesehen davon, daß das
Christentum, wie der tüchtigste und konsequenteste Teil der protestantischen Theologen behauptet, mit der Vernunft nicht übereinstimmen kann,
weil die „weltliche" Vernunft und die „geistliche" sich widersprechen, was
Tertullian klassisch so ausdrückt: „verum est, quia absurdum est"1643; hiervon
abgesehen, wie soll man die Übereinstimmung der wissenschaftlichen For-
schung mit der Religion beweisen, wenn nicht, indem man die wissenschaftliche Forschung zwingt, dadurch in die Religion aufzugehen, daß man sie
ihren eigenen Gang fortgehen läßt. Ein anderer Zwang ist wenigstens kein
Beweis.
Allerdings, wenn ihr von vornherein nur das als wissenschaftliche Forschung anerkennt, was eure Ansicht ist, so habt ihr leicht prophezeien; aber
welchen Vorzug hat eure Behauptung denn vor der des indischen Brahminen,
der die Heiligkeit der VedasC651 beweist, indem er allein sich das Recht vorbehält, sie zu lesen!
Ja, sagt H., „wissenschaftliche Forschung". Aber jede Forschung,
die dem Christentum widerspricht, bleibt „auf halbem Wege stehen" oder
„schlägt einen falschen Weg" ein. Kann man sich das Argumentieren bequemer machen?
Die wissenschaftliche Forschung, sobald sie sich „den Inhalt des Gefundenen klargemacht", wird nie den Wahrheiten des Christentums widerstreiten, aber zugleich muß der Staat dafür sorgen, daß dieses „Klarmachen" unmöglich sei, denn die Forschung darf sich nie an die Fassungskraft der großen Menge wenden, d.h. nie sich selbst populär und klar
werden. Selbst wenn sie in allen Zeitungen der Monarchie von unwissenschaftlichen Forschern angegriffen wird, muß sie bescheiden sein und
schweigen.
Das Christentum schließt die Möglichkeit „jedes neuen Verfalls" aus,
aber die Polizei muß wachen, daß die philosophierenden Zeitungsschreiber
es nicht zum Verfall bringen, sie muß mit der äußersten Strenge wachen.
Der Irrtum wird im Kampfe mit der Wahrheit von selbst als solcher erkannt
werden, ohne daß es einer Unterdrückung durch äußere Gewalt bedürfte;
aber der Staat muß diesen Kampf der Wahrheit erleichtern, indem er den
Verfechtern des „Irrtums" zwar nicht die innere Freiheit nimmt, die er ihnen
nicht nehmen kann, aber wohl die Möglichkeit dieser Freiheit, die Möglichkeit der Existenz.
Das Christentum ist seines Sieges gewiß, aber es ist nach H. seines Siegs
nicht so gewiß, um die Hülfe der Polizei zu verschmähen.
Wenn von vornherein alles Irrtum ist und als Irrtum behandelt werden
muß, was eurem Glauben widerspricht, was unterscheidet eure Prätension
von der Prätension des Muhammedaners, von der Prätension jeder andern
Religion? Soll die Philosophie für jedes Land, nach dem Sprichworte „ländlich, sittlich", andere Grundsätze annehmen, um den Grundwahrheiten des
Dogmas nicht zu widerstreiten; soll sie in dem einen Lande glauben, daß
3 X 1 = 1, in dem andern, daß die Weiber keine Seelen haben, im dritten,
daß im Himmel Bier getrunken wird? Gibt es keine allgemein menschliche
Natur, wie es eine allgemeine Natur der Pflanzen und Gestirne gibt? Die
Philosophie fragt, was wahr, nicht was gültig, sie fragt, was für alle Menschen
wahr, nicht was für einzelne wahr ist; ihre metaphysischen Wahrheiten
kennen nicht die Grenzen der politischen Geographie; ihre politischen Wahrheiten wissen zu gut, wo die „Grenzen" anfangen, um den illusorischen
Horizont der besondem Welt- und Volksanschauung mit dem wahren Horizont des menschlichen Geistes zu verwechseln. H. ist unter allen Verteidigern
des Christentums der schwächste.
Die lange Existenz des Christentums ist sein einziger Beweis für das
Christentum. Existiert nicht auch die Philosophie von Thaies bis heutzutage,
und zwar nach H. gerade jetzt mit größern Ansprüchen und größerer Meinung von ihrer Wichtigkeit als jemals?
Wie beweist nun H. endlich, daß der Staat ein „christlicher" Staat sei,
daß er, statt eine freie Vereinigung sittlicher Menschen, eine Vereinigung
von Gläubigen, statt der Verwirklichung der Freiheit die Verwirklichung
des Dogmas bezweckt. „Unsere europäischen Staaten haben sämtlich das
Christentum zur Grundlage."
Auch der französische Staat? Es heißt in der Charte1-663, Artikel 3, nicht:
„jeder Christ" oder „nur der Christ", sondern: „tous les Francais sont
£galement admissibles aux emplois civiles et militaires"1.
Auch im preußischen Landrechtf673 II.Teil, XIII.Titel etc. heißt es:
„Die vorzüglichste Pflicht des Oberhauptes im Staate ist, sowohl die äußere als die
innere Ruhe und Sicherheit zu erhalten und einen jeden bei dem Seinigen gegen G e walt und Störung zu schützen."
Nach § 1 vereinigt aber das Staatsoberhaupt in sich alle „Pflichten und
Rechte des Staates". Es heißt nicht, die vorzüglichste Pflicht des Staates sei
die Unterdrückung ketzerischer Irrtümer und die Seligkeit der andern Welt.
Wenn aber wirklich einige europäische Staaten auf dem Christentum beruhen, entsprechen diese Staaten ihrem Begriff, ist schon die „pure Existenz"
eines Zustandes das Recht dieses Zustandes?
Nach der Ansicht unseres H- allerdings, denn er erinnert die Anhänger
des jungen Hegeltums:
„daß nach den Gesetzen, die in dem größten Teil des Staates in Kraft sind, eine
Ehe ohne kirchliche Weihe als Konkubinat angesehen und als solches polizeilich b e straft wird".
1
„alle Franzosen haben gleichermaßen Zugang zu den Zivil- und Militärämtern"
Also wenn die „Ehe ohne kirchliche Weihe" am Rhein nach dem Code
Napoleon1-681 für „eine Ehe" und an der Spree nach dem preußischen Landrecht für ein „Konkubinat" angesehen wird, so soll die „polizeiliche" Strafe
ein Argument für „Philosophen" sein, daß hier Recht, was dort Unrecht ist,
daß nicht der Code, sondern das Landrecht den wissenschaftlichen und sittlichen, den vernünftigen Begriff von der Ehe hat. Diese „Philosophie der
polizeilichen Strafen" mag sonstwo überzeugen, sie überzeugt nicht in
Preußen. Wie wenig übrigens das preußische Landrecht die Tendenz der
„heiligen" Ehen hat, sagt § 12, Teil II, Titel 1.
„Doch verliert eine Ehe, welche nach den Landesgesetzen erlaubt ist, dadurch,
daß die Dispensation der geistlichen Obern nicht nachgesucht oder versagt worden,
nichts von ihrer bürgerlichen Gültigkeit."
Auch hier wird die Ehe teilweise von den „geistlichen Obern" emanzipiert
und ihre „bürgerliche" Gültigkeit von ihrer „kirchlichen" unterschieden.
Daß unser großer christlicher Staatsphilosoph keine „hohe" Ansicht vom
Staate hat, versteht sich von selbst.
„ D a unsere Staaten nicht bloß Rechtsgenossenschaften, sondern zugleich wahre Erziehungsanstalten sind, die ihre Pflege nur über einen weiteren Kreis ausbreiten als die
Anstalten, die zur Erziehung der Jugend bestimmt sind" etc. „die gesamte öffentliche
Erziehung" beruhe „auf der Grundlage des Christentums".
Die Erziehung unserer Schuljugend basiert ebensosehr auf den alten
Klassikern und den Wissenschaften überhaupt als auf dem Katechismus.
Der Staat unterscheidet sich nach H. von einer Kleinkinderbewahranstalt
nicht durch den Gehalt, sondern durch die Größe, er dehnt seine „Pflege"
weiter aus.
Die wahre „öffentliche" Erziehung des Staates ist aber vielmehr das
vernünftige und öffentliche Dasein des Staates, selbst der Staat erzieht seine
Glieder, indem er sie zu Staatsgliedern macht, indem er die Zwecke des
Einzelnen in allgemeine Zwecke, den rohen Trieb in sittliche Neigung, die
natürliche Unabhängigkeit in geistige Freiheit verwandelt, indem der Einzelne sich im Leben des Ganzen und das Ganze sich in der Gesinnung des
Einzelnen genießt.
Der leitende Artikel dagegen macht den Staat nicht zu einem Verein
freier Menschen, die sich wechselseitig erziehen, sondern zu einem Haufen
Erwachsener, welche die Bestimmung haben, von oben erzogen zu werden
und aus der „engen" Schulstube in die „weitere" Schulstube einzutreten.
Diese Erziehungs- und Bevormundungstheorie wird hier von einem
Freunde der Preßfreiheit vorgebracht, der aus Liebe zu dieser Schönen die
„Vernachlässigungen der Zensur" notiert, der die „Fassungskraft der großen
Menge" gehörigen Orts zu schildern weiß - (vielleicht erscheint die Fassungskraft der großen Menge neuerdings der „Kölnischen Zeitung" so prekär, weil
die Menge verlernt hat, die Vorzüge der „unphilosophischen Zeitung" zu
fassen?) - , der den Gelehrten anrät, eine Ansicht für die Bühne und eine
andere Ansicht für die Kulissen zu haben!
Wie der leitende Artikel seine „untersetzte" Staatsansicht, mag er uns
jetzt seine niedrige Ansicht „vom Christentum" dokumentieren.
„Alle Zeitungsartikel der Welt werden eine Bevölkerung, die sich im ganzen wohl
und glücklich fühlt, niemals überreden, daß sie sich in einem unseligen Zustand befände."
Und wie! Das materielle Gefühl des Wohls und Glücks ist stichhaltiger gegen Zeitungsartikel als die beseligende und alles besiegende Zuversicht des Glaubens! H. singt nicht: „Eine feste Burg ist unser Gott". Das
wahrhaft gläubige Gemüt der „großen Menge" sollte eher den Rostflecken
des Zweifels ausgesetzt sein als die raffinierte Weltbildung der „kleinen
Menge"!
,
„Selbst von Aufreizungen zum Aufruhr" fürchtet H. „in einem wohlgeordneten Staate" weniger als in einer „wohlgeordneten Kirche", die noch
überdem der „Geist Gottes" in alle Wahrheit leite. Ein schöner Gläubiger,
und nun erst der Grund! Die politischen Artikel seien nämlich der Menge
verständlich, und die philosophischen Artikel seien ihr unverständlich!
Stellt man endlich den Wink des leitenden Artikels: „die halben Maßregeln, die man in der letzten Zeit gegen das junge Hegeltum ergriffen, haben
die gewöhnlichen Folgen halber Maßregeln gehabt", mit dem biedern Wunsch
zusammen, daß die letzten Unternehmungen der Hegelinge „ohne allzu
nachteilige Folgen" für sie vorübergehen mögen, so begreift man die Worte
Cornwalls im „Lear":
„Der kann nicht schmeicheln, der! - ein ehrlicher
Und grader Sinn; er muß die Wahrheit sagen.
Will man es sich gefallen lassen, gut; W o nicht, so ist er grade. - Diese Art
Von Schelmen kenn ich, die in diese Gradheit
Mehr Arglist hüllen, mehr verschmitzte Zwecke
Als zwanzig alberne, gebückte Schranzen
Mit ihrer breiten Dienstbeflissenheit. " B 9 : i
Wir würden die Leser der „Rheinischen Zeitung" zu beleidigen glauben,
wenn wir sie mit dem mehr komischen als ernsten Schauspiel befriedigt
wähnten, einen ci-devant1 Liberalen, einen „jungen Mann von ehedem"" 01
in die gebührenden Schranken zurückgewiesen zu sehen; wir wollen einige
wenige Worte über „die Sache selbst" sagen. Solange wir mit der Polemik
gegen den leidenden Artikel beschäftigt waren, wäre es Unrecht gewesen,
ihn in dem Geschäft der Selbstvernichtung zu unterbrechen.
[„Rheinische Zeitung" Nr. 195 vom 14. Juli 18421
Zunächst wird die Frage gestellt: „Soll die Philosophie die religiösen Anliegenheiten auch in Zeitungsartikeln besprechen?"
Man kann diese Frage nur beantworten, indem man sie kritisiert.
Die Philosophie, vor allem die deutsche Philosophie, hat einen Hang zur
Einsamkeit, zur systematischen Abschließung, zur leidenschaftslosen Selbstbeschauung, die sie dem schlagfertigen, tageslauten, nur in der Mitteilung
sich genießenden Charakter der Zeitungen von vornherein entfremdet gegenüberstellt. Die Philosophie, in ihrer systematischen Entwicklung begriffen,
ist unpopulär, ihr geheimes Weben in sich selbst erscheint dem profanen
Auge als ein ebenso überspanntes wie unpraktisches Treiben; sie gilt für
einen Professor der Zauberkünste, dessen Beschwörungen feierlich klingen,
weil man sie nicht versteht.
Die Philosophie hat, ihrem Charakter gemäß, nie den ersten Schritt dazu
getan, das asketische Priestergewand mit der leichten Konventionstracht der
Zeitungen zu vertauschen. Allein die Philosophen wachsen nicht wie Pilze
aus der Erde, sie sind die Früchte ihrer Zeit, ihres Volkes, dessen subtilste,
kostbarste und unsichtbarste Säfte in den philosophischen Ideen roulieren.
Derselbe Geist baut die philosophischen Systeme in dem Hirn der Philosophen, der die Eisenbahnen mit den Händen der Gewerke baut. Die Philosophie steht nicht außer der Welt, so wenig das Gehirn außer dem Menschen
steht, weil es nicht im Magen liegt; aber freilich die Philosophie steht früher
mit dem Hirn in der Welt, ehe sie mit den Füßen sich auf den Boden stellt,
während manche andere menschliche Sphären längst mit den Füßen in der
Erde wurzeln und mit den Händen die Früchte der Welt abpflücken, ehe sie
ahnen, daß auch der „Kopf" von dieser Welt oder diese Welt die Welt des
Kopfes sei.
Weil jede wahre Philosophie die geistige Quintessenz ihrer Zeit ist, muß
die Zeit kommen, wo die Philosophie nicht nur innerlich durch ihren Gehalt,
sondern auch äußerlich durch ihre Erscheinung mit der wirklichen Welt
ihrer Zeit in Berührung und Wechselwirkung tritt. Die Philosophie hört
1
ehemaligen
dann auf, ein bestimmtes System gegen andere bestimmte Systeme zu sein,
sie wird die Philosophie überhaupt gegen die Welt, sie wird die Philosophie
der gegenwärtigen Welt. Die Formalien, welche konstatieren, daß die Philosophie diese Bedeutung erreicht, daß sie die lebendige Seele der Kultur, daß
die Philosophie weltlich und die Welt philosophisch wird, waren in allen
Zeiten dieselben; man kann jedes Historienbuch nachschlagen, und man
wird mit stereotyper Treue die einfachsten Ritualien wiederholt finden,
welche ihre Einführung in die Salons und in die Pfarrerstuben, in die Redaktionszimmer der Zeitungen und in die Antichambres der Höfe, in den Haß
und in die Liebe der Zeitgenossen unverkennbar bezeichnen. Die Philosophie
wird in die Welt eingeführt von dem Geschrei ihrer Feinde, welche die innere
Ansteckung durch den wilden Notruf gegen die Feuersbrunst der Ideen verraten. Dieses Geschrei ihrer Feinde hat für die Philosophie dieselbe Bedeutung, welche der erste Schrei eines Kindes für das ängstlich lauschende
Ohr der Mutter hat, es ist der Lebensschrei ihrer Ideen, welche die hieroglyphische regelrechte Hülse des Systems gesprengt und sich in Weltbürger
entpuppt haben. Die Korybanten und Kabyren, welche mit lautem Lärm der
Welt die Geburt des Zeuskindes eintrommeln'713, wenden sich zunächst gegen
die religiöse Partie der Philosophen, teils weil der inquisitorische Instinkt an
dieser sentimentalen Seite des Publikums am sichersten zu halten weiß, teils
weil das Publikum, zu welchem auch die Gegner der Philosophie gehören, nur
mit seinen idealen Fühlhörnern die ideale Sphäre der Philosophie tangieren
kann, und der einzige Kreis der Ideen, an dessen Wert das Publikum beinahe
soviel glaubt wie an die Systeme der materiellen Bedürfnisse, ist der Kreis
der religiösen Ideen, endlich weil die Religion nicht gegen ein bestimmtes
System der Philosophie, sondern gegen die Philosophie überhaupt der bestimmten Systeme polemisiert.
Die wahre Philosophie der Gegenwart unterscheidet sich nicht durch
dieses Schicksal von den wahren Philosophien der Vergangenheit. Dies
Schicksal ist vielmehr ein Beweis, den die Geschichte ihrer Wahrheit schuldig
war.
Und seit sechs Jahren haben die deutschen Zeitungen gegen die religiöse
Partie der Philosophie getrommelt, verleumdet, entstellt, verballhornt. Die
Allgemeine Augsburger sang die Bravourarien, fast jede Ouvertüre spielte
das Thema, die Philosophie verdiene nicht, von der weisen Dame besprochen
zu werden, sie sei eine Windbeutelei der Jugend, ein Modeartikel blasierter
Koterien, aber, aber trotz all dem konnte man nicht von ihr los, und immer
von neuem wurde getrommelt, denn die Augsburger spielt nur ein Instrument in ihren antiphilosophischen Katzenkonzerten, die eintönige Pauke.
Alle deutschen Blätter, von dem „Berliner politischen Wochenblatt" und dem
„Hamburger Correspondenten" bis zu den Winkelzeitungen, bis zur „Kölnischen Zeitung" herab, hallten wider von Hegel und Schelling, Feuerbach und
Bauer, „Deutschen Jahrbüchern" etc. - Endlich wurde das Publikum begierig, den Leviathan selbst zu sehen, um so begieriger, als halboffizielle
Artikel drohten, der Philosophie von den Kanzleistuben her ihr legitimes
Schema vorschreiben zu wollen, und gerade das war der Moment, wo die
Philosophie in Zeitungen auftrat. Die Philosophie hatte lange geschwiegen
zu der selbstgefälligen Oberflächlichkeit, die in einigen abgestandenen
Zeitungsphrasen die langjährigen Studien des Genies, die mühsamen Früchte
einer aufopfernden Einsamkeit, die Resultate jener unsichtbaren, aber langsam aufreibenden Kämpfe der Kontemplation wie Seifenblasen wegzuhauchen prahlten; die Philosophie hatte sogar protestiert gegen die Zeitungen,
als ein unpassendes Terrain, aber endlich mußte die Philosophie ihr Schweigen
brechen, sie wurde Zeitungskorrespondent, und - eine unerhörte Diversion da auf einmal fällt es den redseligen Zeitungslieferanten ein, daß die Philosophie kein Futter für das Zeitungspublikum sei, da durften sie es nicht unterlassen, die Regierungen darauf aufmerksam zu machen, daß es nicht ehrlich
sei, daß nicht zur Aufklärung des Publikums, sondern zur Erreichung äußerer
Zwecke philosophische und religiöse Fragen in das Gebiet der Zeitungen
gezogen werden.
Was könnte die Philosophie von der Religion, was von sich selbst Schlimmeres sagen, was euer Zeitungsgeschrei nicht schon längst schlimmer und
frivoler ihr imputiert hätte? Sie braucht nur zu wiederholen, was ihr unphilosophischen Kapuziner in tausend und abermal tausend Kontroversreden
von ihr gepredigt, und sie hat das Schlimmste gesagt.
Aber die Philosophie spricht anders über religiöse und philosophische
Gegenstände, wie ihr darüber gesprochen habt. Ihr sprecht ohne Studium,
sie spricht mit Studium, ihr wendet euch an den Affekt, sie wendet sich an
den Verstand, ihr flucht, sie lehrt, ihr versprechet Himmel und Welt, sie verspricht nichts als Wahrheit, ihr fordert den Glauben an euren Glauben, sie
fordert nicht den Glauben an ihre Resultate, sie fordert die Prüfung des
Zweifels; ihr schreckt, sie beruhigt. Und wahrlich, die Philosophie ist weltklug genug, zu wissen, daß ihre Resultate nicht schmeicheln, weder der
Genußsucht und dem Egoismus der himmlischen noch der irdischen Welt;
das Publikum, das aber die Wahrheit, die Erkenntnis ihrer selbst wegen liebt,
dessen Urteilskraft und Sittlichkeit wird sich wohl mit der Urteilskraft und
Sittlichkeit unwissender, serviler, inkonsequenter und besoldeter Skribenten
messen können.
Allerdings mag dieser oder jener aus Miserabilität des Verstandes und der
Gesinnung die Philosophie mißdeuten, aber glaubt ihr Protestanten nicht,
daß die Katholiken das Christentum mißdeuten, werft ihr nicht der christlichen Religion die schmählichen Zeiten des 8. und 9. Jahrhunderts vor oder
die Bartholomäusnacht oder die Inquisition? Daß zum großen Teil der Haß
der protestantischen Theologie gegen die Philosophen aus der Toleranz der
Philosophie gegen die besondere Konfession als besondere entspringt, zeigen
evidente Beweise. Man hat dem Feuerbach, dem Strauß mehr vorgeworfen,
daß sie die katholischen Dogmen für christliche hielten, als daß sie die Dogmen des Christentums für keine Dogmen der Vernunft erklärten.
Wenn aber einzelne Individuen die moderne Philosophie nicht verdauen
und an philosophischer Indigestion sterben, so beweist das nicht mehr gegen
die Philosophie, als es gegen die Mechanik beweist, wenn hie und da ein
Dampfkessel einzelne Passagiere in die Luft sprengt.
Die Frage, ob philosophische und religiöse Anliegenheiten in den Zeitungen zu besprechen, löst sich in ihre eigene Ideenlosigkeit auf.
Wenn solche Fragen schon als Zeitungsfragen das Publikum interessieren,
sind sie Fragen derZeit geworden, dann fragt es sich nicht, ob sie besprochen,
dann fragt es sich, wo und wie sie besprochen werden sollen, ob im Innern
der Familien und der Hotels, der Schulen und der Kirche, aber nicht von der
Presse, von den Gegnern der Philosophie, aber nicht von den Philosophen, ob
in der trüben Sprache der Privatmeinung, aber nicht in der läuternden Sprache
des öffentlichen Verstandes, dann fragt es sich, ob in das Bereich der Presse
gehört, was in der Wirklichkeit lebt, dann handelt es sich nicht mehr von
einem besondern Inhalt der Presse, dann handelt es sich um die allgemeine
Frage, ob die Presse wirkliche Presse, d.h. freie Presse sein soll?
Die zweite Frage scheiden wir gänzlich von der ersten: „Ist die Politik
philosophisch von den Zeitungen zu behandeln in einem sogenannten christlichen Staat?"
Wenn die Religion zu einer politischen Qualität wird, zu einem Gegenstand der Politik, so scheint fast keiner Erwähnung zu bedürfen, daß die
Zeitungen politische Gegenstände nicht nur besprechen dürfen, sondern auch
müssen. Es scheint von vornherein die Weisheit der Welt, die Philosophie,
mehr Recht zu haben, sich um das Reich dieser Welt, um den Staat zu bekümmern, als die Weisheit jener Welt, die Religion. Es fragt sich hier nicht,
ob über den Staat philosophiert, es fragt sich, ob gut oder schlecht, philosophisch oder unphilosophisch, ob mit Vorurteilen oder ohne Vorurteile, ob
mit Bewußtsein oder ohne Bewußtsein, ob mit Konsequenz oder ohne Konsequenz, ob ganz rational oder halb rational über den Staat philosophiert
werden soll. Wenn ihr die Religion zur Theorie des Staatsrechts macht, so
macht ihr die Religion selbst zu einer Art Philosophie.
Hat nicht vor allem das Christentum Staat und Kirche gesondert?
Leset den heiligen Augustinus „De civitate Dei", studiert die Kirchenväter und den Geist des Christentums, und dann kommt wieder und sagt uns,
ob der Staat oder die Kirche der „christliche Staat" ist! Oder straft nicht jeder
Augenblick eures praktischen Lebens eure Theorie Lügen? Haltet ihr es für
Unrecht, die Gerichte in Anspruch zu nehmen, wenn ihr übervorteilt werdet?
Aber der Apostel schreibt, daß es Unrecht sei.C72;l Haltet ihr euren rechten
Backen dar, wenn man euch auf den linken schlägtC73:, oder macht ihr nicht
einen Prozeß wegen Realinjurien anhängig? Aber das Evangelium verbietet
es. Verlangt ihr vernünftiges Recht auf dieser Welt, murrt ihr nicht über die
kleinste Erhöhung einer Abgabe, geratet ihr nicht außer euch über die geringste Verletzung der persönlichen Freiheit? Aber es ist euch gesagt, daß
dieser Zeit Leiden der künftigen Herrlichkeit nicht wert sei, daß die Passivität
des Ertragens und die Seligkeit in der Hoffnung die Kardinaltugenden sind.
Handelt der größte Teil euerer Prozesse und der größte Teil der Zivilgesetze nicht vom Besitz? Aber es ist euch gesagt, daß eure Schätze nicht von
dieser Welt sind.C74] Oder beruft ihr euch darauf, das dem Kaiser zu geben,
was des Kaisers, und Gott, was Gottes, so haltet nicht nur den goldenen
Mammon, sondern wenigstens ebensosehr die freie Vernunft für den Kaiser
dieser Welt, und die „Aktion der freien Vernunft" nennen wir Philosophieren.
Als in der Heiligen Allianz zuerst ein quasi religiöser Staatenbund geknüpft und die Religion europäisches Staatenwappen werden sollte, da
weigerte sich mit tiefem Sinn und richtigster Konsequenz der Papst, diesem
Heiligenbunde beizutreten, denn das allgemeine christliche Band der Völker
sei die Kirche und nicht die Diplomatie, nicht der weltliche Staatenbund.1-75-1
Der wahrhaft religiöse Staat ist der theokratische Staat; der Fürst solcher
Staaten muß entweder, wie im jüdischen der Gott der Religion, der Jehova
selbst sein oder, wie in Tibet der Stellvertreter des Gottes, der Dalai Lama
oder endlich, wie Görres in seiner letzten Schrift richtig von den christlichen
Staaten verlangt, sie müssen sich sämtlich einer Kirche unterwerfen, die eine
„unfehlbare Kirche" ist, denn wenn wie im Protestantismus kein oberstes
Haupt der Kirche existiert, so ist die Herrschaft der Religion nichts anderes
als die Religion der Herrschaft, der Kultus des Regierungswillens.
Sobald ein Staat mehrere gleichberechtigte Konfessionen einschließt,
kann er nicht mehr religiöser Staat sein, ohne eine Verletzung der besondern
Religionskonfessionen zu sein, eine Kirche, die jeden Anhänger einer andern
Konfession als Ketzer verdammt, die jedes Stück Brot von dem Glauben
abhängig, die das Dogma zum Band zwischen den einzelnen Individuen und
der staatsbürgerlichen Existenz macht. Fragt die katholischen Bewohner des
„armen, grünen Erin"[76:l, fragt die Hugenotten vor der Französischen Revolution, nicht an die Religion haben sie appelliert, denn ihre Religion war nicht
die Staatsreligion, an die „Rechte der Menschheit" haben sie appelliert, und
die Philosophie interpretiert die Rechte der Menschheit, sie verlangt, daß der
Staat der Staat der menschlichen Natur sei.
Aber, sagt der halbe, der bornierte, der ebenso ungläubige als theologische
Rationalismus, der allgemeine christliche Geist, abgesehen von dem Unterschiede der Konfessionen, soll Staatsgeist sein! Es ist die größte Irreligiosität,
es ist der Übermut des weltlichen Verstandes, den allgemeinen Geist der
Religion von der positiven Religion zu trennen; diese Trennung der Religion
von ihren Dogmen und Institutionen ist dasselbe, als behauptete man, der
allgemeine Geist des Rechts solle im Staat herrschen, abgesehen von den
bestimmten Gesetzen und von den positiven Institutionen des Rechts.
Wenn ihr euch überhebt, so hoch über der Religion zu stehn, daß ihr berechtigt seid, den allgemeinen Geist derselben von ihren positiven Bestimmungen zu scheiden, was habt ihr den Philosophen vorzuwerfen, wenn sie
diese Scheidung ganz und nicht halb vollziehen, wenn sie den allgemeinen
Geist der Religion nicht christlichen, sondern menschlichen Geist nennen?
Die Christen wohnen in Staaten von verschiedenen Verfassungen, die
einen in einer Republik, die andern in einer absoluten, die dritten in einer
konstitutionellen Monarchie. Das Christentum entscheidet nicht über die
Güte der Verfassungen, denn es kennt keinen Unterschied der Verfassungen,
es lehrt, wie die Religion lehren muß: Seid Untertan der Obrigkeit, denn jede
Obrigkeit ist von Gott.1-"3 Also nicht aus dem Christentum, aus der eigenen
Natur, aus dem eigenen Wesen des Staates müßt ihr das Recht der Staatsverfassungen entscheiden, nicht aus der Natur der christlichen, sondern aus
der Natur der menschlichen Gesellschaft.
Der byzantinische Staat war der eigentliche religiöse Staat, denn die
Dogmen waren hier Staatsfragen, aber der byzantinische Staat war der
schlechteste Staat. Die Staaten des ancien regime waren die allerchristlichsten Staaten, aber nichtsdestoweniger waren sie Staaten des „Hofwillens".
Es gibt ein Dilemma, dem der „gesunde" Menschenverstand nicht widerstehen kann.
Entweder entspricht der christliche Staat dem Begriff des Staates, eine
Verwirklichung der vernünftigen Freiheit zu sein, und dann ist nichts erforderlich, als ein vernünftiger Staat zu sein, um ein christlicher Staat zu
sein, dann genügt es, den Staat aus der Vernunft der menschlichen Verhält-
nisse zu entwickeln, ein Werk, was die Philosophie vollbringt. Oder der Staat
der vernünftigen Freiheit läßt sich nicht aus dem Christentum entwickeln,
dann werdet ihr selbst gestehen, daß diese Entwicklung nicht in der Tendenz
des Christentums liegt, da es keinen schlechten Staat wolle, und ein Staat,
der nicht die Verwirklichung der vernünftigen Freiheit ist, ist ein schlechter
Staat.
Ihr mögt das Dilemma beantworten, wie ihr wollt, und werdet gestehen
müssen, daß der Staat nicht aus der Religion, sondern aus der Vernunft der
Freiheit zu konstruieren ist. Nur die krasseste Ignoranz kann die Behauptung
stellen, diese Theorie, die Verselbständigung des Staatsbegriffs, sei ein
Tageseinfall der neuesten Philosophen.
Die Philosophie hat nichts in der Politik getan, was nicht die Physik, die
Mathematik, die Medizin, jede Wissenschaft innerhalb ihrer Sphäre getan
hat. Baco von Verulam erklärte die theologische Physik für eine gottgeweihte
Jungfrau, die unfruchtbar sei, er emanzipierte die Physik von der Theologie
und - sie wurde fruchtbar. So wenig ihr den Arzt fragt, ob er gläubig sei, so
wenig habt ihr den Politiker zu fragen. Gleich vor und nach der Zeit der
großen Entdeckung des Kopernikus vom wahren Sonnensystem wurde zugleich das Gravitationsgesetz des Staats entdeckt, man fand seine Schwere in
ihm selbst, und wie die verschiedenen europäischen Regierungen dieses
Resultat mit der ersten Oberflächlichkeit der Praxis in dem System des
Staatengleichgewichts anzuwenden suchten, so begannen früher Machiavelli,
Campanella, später Hobbes, Spinoza, Hugo Grotius bis zu Rousseau, Fichte,
Hegel herab den Staat aus menschlichen Augen zu betrachten und seine
Naturgesetze aus der Vernunft und der Erfahrung zu entwickeln, nicht aus
der Theologie, so wenig als Kopernikus sich daran stieß, daß Josua der Sonne
zu Gibeon und dem Mond im Tale Ajalon stillezustehen geheißen.™ Die
neueste Philosophie hat nur eine Arbeit weitergeführt, die schon Heraklit und
Aristoteles begonnen haben. Ihr polemisiert also nicht gegen die Vernunft der
neuesten Philosophie, ihr polemisiert gegen die stets neue Philosophie der
Vernunft. Allerdings, die Unwissenheit, die vielleicht gestern oder vorgestern
in der „Rheinischen" oder „Königsberger Zeitung" zum erstenmal die uralten Staatsideen auffand, diese Unwissenheit hält die Ideen der Geschichte
für übernächtige Einfälle einzelner Individuen, weil sie ihr neu und über
Nacht gekommen sind; sie vergißt, daß sie selbst die alte Rolle des Doktors
der Sorbonne übernimmt, der den Montesquieu öffentlich anzuklagen für
seine Pflicht hielt, weil Montesquieu so frivol war, die politische statt der
Tugend der Kirche für die höchste Staatsqualität zu erklären; sie vergißt, daß
sie die Rolle des Joachim Lange übernimmt, der den Wolff denunzierte,•79:,,
weil seine Lehre von der Prädestination die Desertion der Soldaten und damit
die Lockerung der militärischen Disziplin und endlich die Auflösung des
Staats herbeiführen werde; sie vergißt endlich, daß das preußische Landrecht
aus der Philosophenschule eben „dieses Wolfes" und der französische Code
Napoleon nicht aus dem Alten Testament, sondern aus der Ideenschule der
Voltaire, Rousseau, Condorcet, Mirabeau, Montesquieu und aus der Französischen Revolution hervorgegangen ist. Die Unwissenheit ist ein Dämon, wir
fürchten, sie wird noch manche Trauerspiele aufführen; mit Recht haben die
größten griechischen Dichter sie in den furchtbaren Dramen der Königshäuser von Mykene und Theben als das tragische Geschick dargestellt.
Wenn aber die früheren philosophischen Staatsrechtslehrer aus den Trieben, sei es des Ehrgeizes, sei es der Geselligkeit, oder zwar aus der Vernunft,
aber nicht aus der Vernunft der Gesellschaft, sondern aus der Vernunft des
Individuums den Staat konstruierten: so die ideellere und gründlichere Ansicht der neuesten Philosophie aus der Idee des Ganzen. Sie betrachtet den
Staat als den großen Organismus, in welchem die rechtliche, sittliche und
politische Freiheit ihre Verwirklichung zu erhalten hat und der einzelne
Staatsbürger in den Staatsgesetzen nur den Naturgesetzen seiner eigenen
Vernunft, der menschlichen Vernunft gehorcht. Sapienti sat.1
Zum Schlüsse wenden wir uns noch einmal mit einem philosophischen
Abschiedsworte an die „Kölnische Zeitung". Es war vernünftig von ihr, einen
Liberalen „von ehedem" sich anzueignen. Man kann auf die bequemste Art
liberal und reaktionär zugleich sein, wenn man nur stets so geschickt ist, sich
an die Liberalen der jüngsten Vergangenheit zu adressieren, die kein anderes
Dilemma kennen als das des Vidocq „Gefangener oder Gefangenwärter".
Es war noch vernünftiger, daß der Liberale der jüngsten Vergangenheit die
Liberalen der Gegenwart bekämpfte. Ohne Parteien keine Entwicklung, ohne
Scheidung kein Fortschritt. Wir hoffen, daß mit dem leitenden Artikel in
Nr. 179 für die „Kölnische Zeitung" eine neue Ära begonnen hat, die Ära des
Charakters.
Geschrieben zwischen dem
28. Juni und 3. Juli 1842.
1
Dem Eingeweihten genügt das.
Karl Marx
Der Kommunismus
und die Augsburger „AllgemeineZeitung*,[80]
[„Rheinische Zeitung" Nr. 289 vom 16.0ktober 1842]
Köln, 15. Oktober. Die Nr. 284 der Augsburger Zeitung ist so ungeschickt, in der „Rheinischen Zeitung" eine preußische Kommunistin zu entdecken, zwar keine wirkliche Kommunistin, aber doch immer eine Person, die
mit dem Kommunismus phantastisch kokettiert und platonisch liebäugelt.
Ob diese unartige Phantasterei der Augsburgerin uneigennützig, ob diese
müßige Gaukelei ihrer aufgeregten Einbildungskraft mit Spekulationen und
diplomatischen Geschäften zusammenhängt, mag der Leser entscheiden nachdem wir das angebliche corpus delicti vorgeführt haben.
Die „Rheinische Zeitung", erzählt man, habe einen kommunistischen Aufsatz über die Berliner FamilienhäuserB1] in ihr Feuilleton aufgenommen und
mit folgender Bemerkung begleitet: Diese Mitteilungen „dürften für die Geschichte dieser wichtigen Zeitfrage nicht ohne Interesse sein"; folgt daher nach der
Augsburger Logik, daß die „Rheinische Zeitung' „dergleichen ungewaschenes
Zeug empfehlend auf getischt". Also wenn ich z.B. sage: „folgende Mitteilungen
des .Mefistofeles'1-82-1 über den innern Haushalt der Augsburger Zeitung dürften nicht ohne Interesse für die Geschichte dieser wichtigtuenden Dame sein",
so empfehle ich die schmutzigen „Zeuge", aus denen die Augsburgerin ihre
bunte Garderobe zusammenschneidet? Oder sollten wir den Kommunismus
schon deshalb für keine wichtige Zeitfrage halten, weil er keine courfähige
Zeitfrage ist, weil er schmutzige Wäsche trägt und nicht nach Rosenwasser
duftet?
Allein mit Recht grollt die Augsburgerin unserm Mißverstand. Die
Wichtigkeit des Kommunismus besteht nicht darin, daß er eine Zeitfrage von
höchstem Ernst für Frankreich und England bildet. Der Kommunismus besitzt die europäische Wichtigkeit, von der Augsburger Zeitung zu einer Phrase
benutzt worden zu sein. Einer ihrer Pariser Korrespondenten, ein Konvertit,
der die Geschichte behandelt wie ein Konditor die Botanik, hat jüngst einmal
den Einfall gehabt: die Monarchie müsse die sozialistisch-kommunistischen
Ideen in ihrer Weise sich anzueignen suchen. Versteht ihr nun den Unmut
der Augsburgerin, die uns nie verzeihen wird, daß wir den Kommunismus in
seiner ungewaschenen Nacktheit dem Publikum bloßgestellt; versteht ihr die
verbissene Ironie, die uns zuruft: so empfehlt ihr den Kommunismus, der
schon einmal die glückliche Eleganz besaß, eine Phrase der Augsburger
Zeitung zu bilden!
Der zweite Vorwurf, der die „Rheinische Zeitung" trifft, ist der Schluß
eines Referats aus Straßburg über die bei dem dortigen Kongreß gehaltenen
kommunistischen Reden, denn die beiden Stiefschwestern hatten sich in die
Beute so geteilt, daß der Rheinländerin die Verhandlungen und der Bayerin die
Mahlzeiten der Straßburger Gelehrten zufielen. Die inkriminierte Stelle
lautet wörtlich also:
„Es ist heute mit dem Mittelstande so wie mit dem Adel im Jahre 1789; damals
nahm der Mittelstand die Privilegien des Adels in Anspruch und erhielt sie, heute ver-
langt der Stand, der nichts besitzt, teilzunehmen am Reichtume der Mittelklassen, die jet
am Ruder sind. Der Mittelstand hat sich nun heute gegen eine Überrumpelung besser
vorgesehen als der Adel im Jahre 89, und es steht zu erwarten, daß das Problem auf
friedlichem Wege wird gelöst werden."1-83-1
Daß Sieyes' Prophezeiung eingetroffen und daß der tiers etat1 alles geworden ist und alles sein will; Bülow-Cummerow, das ehemalige „Berliner
politische Wochenblatt", Dr. Kosegarten, sämtliche feudalistische Schriftsteller bekennen es mit wehmütigster Entrüstung. Daß der Stand, der heute
nichts besitzt, am Reichtum der Mittelklassen teilzunehmen verlangt, das ist
ein Faktum, welches ohne das Straßburger Reden und trotz dem Augsburger
Schweigen in Manchester, Paris und Lyon auf den Straßen jedem sichtbar
umherläuft. Glaubt etwa die Augsburgerin, ihr Unwillen und ihr Schweigen
widerlegten die Tatsachen der Zeit? Die Augsburgerin ist impertinent im
Fliehen. Sie reißt aus vor verfänglichen Zeiterscheinungen und glaubt, der
Staub, den sie beim Ausreißen hinter sich aufwirbelt, sowie die ängstlichen
Schmähworte, welche sie auf der Flucht zwischen den Zähnen hinmurmelt,
blendeten und verwirrten die unbequeme Zeiterscheinung wie den bequemen
Leser.
Oder grollt die Augsburgerin der Erwartung unseres Korrespondenten,
die unleugbare Kollision werde sich „auf friedlichem Wege" lösen? Oder
wirft sie uns vor, daß wir nicht sofort ein probates Rezept verschrieben und
einen sonnenklaren Bericht über die unmaßgebliche Lösung des Problems
dem überraschten Leser in die Tasche spielten? Wir besitzen nicht die Kunst,
1
dritte Stand
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Erste Seite der „Rheinischen Zeitung" Nr. 289 vom 16. Oktober 1842 mit dem
Beginn des Artikels „ D e r Kommunismus und die Augsburger .Allgemeine Zeitung"'
von Karl Marx
„
mit einer Phrase Probleme zu bändigen, an deren Bezwingung zwei Völker
arbeiten.
Aber liebste, beste Augsburgerin, Sie gehen uns bei Gelegenheit des Kommunismus zu verstehen, daß Deutschland jetzt arm ist an unabhängigen
Existenzen, daß neun Zehntel der gebildeteren Jugend den Staat anbetteln
um Brot für ihre Zukunft, daß unsere Ströme vernachlässigt, daß die Schifffahrt darniederliegt, daß unsern ehemals blühenden Handelsstädten der alte
Flor fehlt, daß die freien Institutionen erst auf langsamem Wege in Preußen
erstrebt werden, daß der Überfluß unserer Bevölkerung hülflos umherirrt, um
in fremden Nationalitäten als Deutsche unterzugehen, und für alle diese
Probleme kein einziges Rezept, kein Versuch, „klarer über die Mittel zur Ausführung" der großen Tat zu werden, die uns von all diesen Sünden erlösen
soll! Oder erwarten Sie keine friedliche Lösung? Fast scheint ein anderer
Artikel derselben Nummer, von Karlsruhe datiert, dahin zu deuten, wo selbst
in bezug aüf den Zollverein die verfängliche Frage an Preußen gerichtet wird:
„Glaubt man, eine solche Krisis würde vorübergehen wie eine Rauferei um das
Tabakrauchen im TiergartenP" Der Grund, den Sie für Ihren Unglauben
debütieren, ist ein kommunistischer. „Nun lasse man eine Krisis über die Industrie losbrechen, lasse Millionen an Kapital verlorengehen, Tausende von Arbeitern brotlos werden."1811 Wie ungelegen kam unsere „friedliche Erwartung", da
Sie einmal beschlossen hatten, eine blutige Krisis losbrechen zu lassen, weshalb wohl in Ihrem Artikel Großbritannien auf den demagogischen Arzt
Dr. M'Douall, der nach Amerika ausgewandert, weil „mit diesem königschän
Geschlecht doch nichts anzufangen sei"lBh\ nach Ihrer eigenen Logik empfehlend
nachgewiesen wird.
Eh* wir uns von Ihnen trennen, möchten wir Sie noch vorübergehend auf
Ihre eigene Weisheit aufmerksam machen, da es bei Ihrer Methode der
Phrasen nicht wohl zu umgehen ist, harmloserweise hie und da einen Gedanken zwar nicht zu haben, aber ebendeshalb auszusprechen. Sie finden, daß die
Polemik des Herrn Hennequin aus Paris gegen die Parzellierung des Grundbesitzes denselben mit den Autonomen1863 in eine überraschende Harmonie
bringt! Die Überraschung, sagt Aristoteles, ist der Anfang des Philosophierens.[873 Sie haben beim Anfang geendet. Würde Ihnen sonst die überraschende Tatsache entgangen sein, daß kommunistische Grundsätze in
Deutschland nicht von den Liberalen, sondern von Ihren reaktionären Freunden verbreitet werden?
Wer spricht von Handwerkerkorporationen? Die Reaktionäre. Der Handwerkerstand soll einen Staat im Staat bilden. Finden Sie es auffallend, daß
solche Gedanken, modern ausgedrückt, also lauten: „Der Staat soll sich in
8 Marx/Engels, Werke, Bd. I
den Handwerkerstand verwandeln"? Wenn dem Handwerker sein Stand der
Staat sein soll, wenn aber der moderne Handwerker, wie jeder moderne
Mensch, den Staat nur als die all seinen Mitbürgern gemeinsame Sphäre versteht und verstehen kann, wie wollen Sie anders beide Gedanken synthesieren
als in einen Handwerkerstaat ?
Wer polemisiert gegen die Parzellierung des Grundbesitzes ? Die Reaktionäre. Man ist in einer ganz kurz erschienenen feudalistischen Schrift (Kösegarten über Parzellierung) so weit gegangen, das Privateigentum ein Vorrecht
zu nennen.®8-1 Das ist Fouriers Grundsatz. Sobald man über die Grundsätze
einig ist, läßt sich nicht über die Konsequenzen und die Anwendung streiten?
Die „Rheinische Zeitung", die den kommunistischen Ideen in ihrer
jetzigen Gestalt nicht einmal theoretische Wirklichkeit zugestehen, also noch
weniger ihre praktische Verwirklichung wünschen oder auch nur für möglich
halten kann, wird diese Ideen einer gründlichen Kritik unterwerfen. Daß
aber Schriften, wie die von Leroux, Considerant und vor allen das scharfsinnige Werk ProudhonsC89:l, nicht durch oberflächliche Einfälle des Augenblicks, sondern nur nach lang anhaltenden und tief eingehenden Studien
kritisiert werden können, würde die Augsburgerin einsehen, wenn sie mehr
verlangte und mehr vermöchte als Glacephrasen. Um so ernster haben wir
solche theoretischen Arbeiten zu nehmen, als wir nicht mit der Augsburger
übereinstimmen, welche die „Wirklichkeit" der kommunistischen Gedanken
nicht bei Plato, sondern bei ihrem obskuren Bekannten®01 findet, der nicht
ohne Verdienst in einigen Richtungen wissenschaftlicher Forschung sein
ganzes ihm damals zur Verfügung stehendes Vermögen hingab und seinen
Verbündeten Teller und Stiefel nach dem Willen des Vaters Enfantin putzte.
Wir haben die feste Überzeugung, daß nicht der praktische Versuch, sondern
die theoretische Ausführung der kommunistischen Ideen die eigentliche Gefahr
bildet, denn auf praktische Versuche, und seien es Versuche in Masse, kann
man durch Kanonen antworten, sobald sie gefährlich werden, aber Ideen, die
unsere Intelligenz besiegt, die unsere Gesinnung erobert, an die der Verstand
unser Gewissen geschmiedet hat, das sind Ketten, denen man sich nicht entreißt, ohne sein Herz zu zerreißen, das sind Dämonen, welche der Mensch
nur besiegen kann, indem er sich ihnen unterwirft. Doch die Augsburger
Zeitung hat die Gewissensangst, welche eine Rebellion der subjektiven Wünsche des Menschen gegen die objektiven Einsichten seines eigenen Verstandes
hervorruft, wohl nie kennengelernt, da sie weder eigenen Verstand noch eigene
Einsichten noch auch ein eigenes Gewissen besitzt.
Karl Marx
Verhandlungen des 6. rheinischen Landtags
V o n einem Rheinländer
Dritter Artikel*
Debatten über das Holzdiebstahlsgesetz 1913
[„Rheinische Zeitung" Nr.298 vom 25.0ktober 1842]
fc^Wir haben bisher zwei große Haupt- und Staatsaktionen des Landtags
geschildert, seine Wirren in bezug auf die Preßfreiheit1 und seine Unfreiheit
in bezug auf die Wirren®23. Wir spielen jetzt auf ebener Erde. Bevor wir zu
der eigentlich irdischen Frage in ihrer Lebensgröße, zu der Frage über Parzellierung des Grundbesitzes übergehen, geben wir unserm Leser einige
Genrebilder, in denen der Geist und, wir möchten mehr noch sagen, das
physische Naturell des Landtages sich mannigfach abspiegeln wird.
Zwar verdiente das Holzdiebstahlsgesetz wie das Gesetz über Jagd-, Forstund Feldfrevel nicht nur in bezug auf den Landtag, sondern ebensosehr in
bezug auf sich selbst besprochen zu werden. Allein der Gesetzentwurf liegt
uns nicht vor. Unser Material133'1 beschränkt sich auf einige halb angedeutete
Zusätze des Landtags und seines Ausschusses zu Gesetzen, die nur als Paragraphennummern figurieren. Die landständischen Verhandlungen selbst sind
so durchaus kümmerlich, so zusammenhanglos und apokryphisch mitgeteilt,
daß die Mitteilung einer Mystifikation ähnlich sieht. Dürfen wir aus dem vorhandenen Torso urteilen, so hat der Landtag mit dieser passiven Stille unserer
Provinz einen ehrerbietigen Akt zustellen wollen.
Eine für die vorliegenden Debatten charakteristische Tatsache springt
sofort in die Augen. Der Landtag tritt als ergänzender Gesetzgeber an die Seite
des Staatsgesetzgebers. Es wird vom höchsten Interesse sein, an einem Beispiele die legislativen Qualitäten des Landtags zu entwickeln. Der Leser wird
* Wir bedauern, daß wir unsern Lesern den zuleiten Artikel nicht haben mitteilen
können. Die Red. der „Rh. Ztg."
von diesem Gesichtspunkte aus verzeihen, wenn wir Geduld und Ausdauer
in Anspruch nehmen, zwei Tugenden, die bei Bearbeitung unseres sterilen
Gegenstandes unausgesetzt zu üben waren. Wir stellen in den Debatten des
Landtags über das Diebstahlsgesetz unmittelbar die Debatten des Landtags
über seinen Beruf zur Gesetzgebung dar.
Gleich im Beginn der Debatte opponiert ein Stadtdeputierter1 gegen die
Überschrift des Gesetzes, wodurch die Kategorie „Diebstahl" auf einfache
Holzfrevel ausgedehnt wird.
E i n Deputierter der Ritterschaft 2 erwidert:
„daß eben, weil man es nicht für einen Diebstahl halte, Holz zu entwenden, dies so
häufig geschehe".
Nach dieser Analogie müßte derselbe Gesetzgeber schließen: weil man
eine Ohrfeige für keinen Totschlag hält, darum sind die Ohrfeigen so häufig.
Man dekretiere also, daß eine Ohrfeige ein Totschlag ist.
Ein anderer Deputierter der Ritterschaft3 findet es
„noch bedenklicher, das Wort .Diebstahl' nicht auszusprechen, weil die Leute, denen
die Diskussion über dieses Wort bekannt würde, leicht zu dem Glauben veranlaßt werden könnten, als werde die Eritwendung von Holz auch von dem Landtage nicht dafür
gehalten".
Der Landtag soll entscheiden, ob er einen Holzfrevel für einen Diebstahl
hält; aber wenn der Landtag einen Holzfrevel nicht für einen Diebstahl
erklärte, körinten die Leute glauben, der Landtag hielte wirklich einen Holzfrevel nicht für einen Diebstahl. Es ist also am besten, diese verfängliche
Kontroversfrage auf sich beruhen zu lassen. Es handelt sich von einem Euphemismus, und man muß Euphemismen vermeiden. Der Waldeigentümer läßt
den Gesetzgeber nicht zu Wort kommen, denn die Wände haben Ohren.
Derselbe Deputierte geht noch weiter. Er betrachtet diese ganze Untersuchung über den Ausdruck „Diebstahl" als „eine bedenkliche Beschäftigung
der Plenarversammlung mit Redaktionsoerbesserungen".
Nach diesen einleuchtenden Demonstrationen votierte der Landtag die
Überschrift.
Von dem eben empfohlenen Standpunkte aus, der die Verwandlung eines
Staatsbürgers in einen Dieb für pure Redaktionsnachlässigkeit versieht und
alle Opposition dagegen als grammatischen Purismus zurückweist, versteht es
sich von selbst, daß auch das Entwenden von Raff holz oder Auflesen von
trocknem Holz unter die Rubrik Diebstahl subsumiert und ebenso bestraft
wird wie die Entwendung von stehendem grünen Holz.
1
Joseph Friedrich Brust -
2
Eduard Bergh von Trips -
3
Maximilian von Loe
Der obenerwähnte Deputierte der Städte bemerkt zwar:,
„Da sich die Strafe bis zu langem Gefängnis steigern könne, so führe eine solche
Strenge Leute, die sonst noch auf gutem Wege wären, gerade auf den Weg des Verbrechens. Das geschehe auch dadurch, daß sie im Gefängnis mit Gewohnheitsdieben
zusammenkämen; er halte daher dafür, daß man das Sammeln oder Entwenden von
trockenem Raffholz bloß mit einer einfachen Polizeistrafe belegen solle."
Aber ein anderer Stadtdeputierter1 widerlegt ihn durch die tiefsinnige
Anführung,
„daß in den Waldungen seiner Gegend häufig junge Bäume zuerst bloß angehauen und,
wenn sie dadurch verdorben, später als Raffholz behandelt würden".
Man kann unmöglich auf elegantere und zugleich einfachere Weise das
Recht der Menschen vor dem Recht der jungen Bäume niederfallen lassen.
Auf der einen Seite nach Annahme des Paragraphen steht die Notwendigkeit,
daß eine Masse Menschen ohne verbrecherische Gesinnung von dem grünen
Baum der Sittlichkeit abgehauen und als Raffholz der Hölle des Verbrechens,
der Infamie und des Elendes zugeschleudert werden. Auf der andern Seite
nach Verwerfung des Paragraphen steht die Möglichkeit der Mißhandlung
einiger jungen Bäume, und es bedarf kaum der Anführung 1 die hölzernen
Götzen siegen, und die Menschenopfer fallen!
Die hochnotpeinliche Halsgerichtsordnung1-933 subsumiert unter dem Holzdiebstahl nur das Entwenden gehauenen Holzes und das diebische Holzhauen.
Ja, unser Landtag wird es nicht glauben:
„ W o aber jemandt bei Tag essendt Früchte nem, und damit durch wegtragen derselben nit großen geuerlichen schaden thett, der ist nach gelegenhayt der personen
und der sach bürgerlich" (also nicht kriminell) „zu straffen."
Die hochnotpeinliche Halsgerichtsordnung des 16. Jahrhunderts fordert
uns auf, sie vor dem Tadel übertriebener Humanität gegen einen rheinischen
Landtag des 19. Jahrhunderts in Schutz zu nehmen, und wir folgen dieser
Aufforderung.
Sammeln von Reiffholz und der kombinierteste Holzdiebstahl! Eine Bestimmung ist beiden gemein. Das Aneignen fremden Holzes. Also ist beides
Diebstahl. Darauf resümiert sich die übersichtige Logik, die soeben Gesetze*
gab.
Wir machen daher zunächst auf den Unterschied aufmerksam, und wenn
man zugeben muß, daß der Tatbestand dem Wesen nach verschieden, so wird
man kaum behaupten dürfen, daß er dem Gesetz nach derselbe sei.
. Um grünes Holz sich anzueignen, muß man es gewaltsam von seinem
organischen Zusammenhang trennen. Wie dies ein offenes Attentat auf den
Baum, so ist es durch denselben ein offenes Attentat auf den Eigentümer des
Baumes.
Wird ferner gefälltes Holz einem Dritten entwendet, so ist das gefällte
Holz ein Produkt des Eigentümers. Gefälltes Holz ist schon formiertes Holz.
An die Stelle des natürlichen Zusammenhanges mit dem Eigentum ist der
künstliche Zusammenhang getreten. Wer also gefälltes Holz entwendet, entwendet Eigentum.
Beim Raffholz dagegen wird nichts vom Eigentum getrennt. Das vom
Eigentum getrennte wird vom Eigentum getrennt. Der Holzdieb erläßt ein
eigenmächtiges Urteil gegen das Eigentum. Der Raffholzsammler vollzieht
nur ein Urteil, was die Natur des Eigentums selbst gefällt hat, denn ihr besitzt doch nur den Baum, aber der Baum besitzt jene Reiser nicht mehr.
Sammeln von Raffholz und Holzdiebstahl sind also wesentlich verschiedene Sachen. Der Gegenstand ist verschieden, die Handlung in bezug auf den
Gegenstand ist nicht minder verschieden, die Gesinnung muß also auch verschieden sein, denn welches objektive Maß sollten wir an die Gesinnung
legen, wenn nicht den Inhalt der Handlung und die Form der Handlung?
Und diesem wesentlichen Unterschiede zum Trotz nennt ihr beides Diebstahl
und bestraft beides als Diebstahl. Ja, ihr bestraft das Raffholzsammeln strenger als den Holzdiebstahl, denn ihr bestraft es schon, indem ihr es für einen
Diebstahl erklärt, eine Strafe, die ihr offenbar über den Holzdiebstahl selbst
nicht verhängt. Ihr hättet ihn denn Holzmord nennen und als Mord bestrafen
müssen. Das Gesetz ist nicht von der allgemeinen Verpflichtung entbunden,
die Wahrheit zu sagen. Es hat sie doppelt, denn es ist der allgemeine und
authentische Sprecher über die rechtliche Natur der Dinge. Die rechtliche
Natur der Dinge kann sich daher nicht nach dem Gesetz, sondern das Gesetz
muß sich nach der rechtlichen Natur der Dinge richten. Wenn das Gesetz
aber eine Handlung, die kaum ein Holzfrevel ist, einen Holzdiebstahl nennt,
so lügt das Gesetz, und der Arme wird einer gesetzlichen Lüge geopfert.
„II y a deux genres de corruption", sagt Montesquieu, „l'un lorsque le peuple
n'observe point les loix; l'autre lorsqu'il est corrompu par les loix: mal incurable parce
qu'il est dans le remede meme." 1 C M 1
So wenig es euch gelingen wird, den Glauben zu erzwingen: hier ist ein
Verbrechen, wo kein Verbrechen ist, so sehr wird es euch gelingen, das Verbrechen selbst in eine rechtliche Tat zu verwandeln. Ihr habt die Grenzen
1 „Es gibt zwei Arten von Verderbtheit", sagt Montesquieu, „die eine, wenn das Volk die
Gesetze nicht befolgt, die andere, wenn es durch die Gesetze verderbt ist; dieses Übel ist unheilbar, weil es im Heilmittel selbst steckt."
verwischt, aber ihr irrt, wenn ihr glaubt, sie seien nur in euerm Interesse verwischt. Das Volk sieht die Strafe, aber es sieht nicht das Verbrechen, und weil
es die Strafe sieht, wo kein Verbrechen ist, wird es schon darum kein Verbrechen sehen, wo die Strafe ist. Indem ihr die Kategorie des Diebstahls da
anwendet, wo sie nicht angewendet werden darf, habt ihr sie auch da beschönigt, wo sie angewendet werden muß.
Und hebt sich diese brutale Ansicht, die nur eine gemeinschaftliche Bestimmung in verschiedenen Handlungen festhält und von der Verschiedenheit abstrahiert, nicht selber auf? wenn jede Verletzung des Eigentums ohne
Unterschied, ohne nähere Bestimmung Diebstahl ist, wäre nicht alles Privateigentum Diebstahl? schließe ich nicht durch mein Privateigentum jeden
Dritten von diesem Eigentum aus? verletze ich also nicht sein Eigentumsrecht? wenn ihr den Unterschied wesentlich verschiedener Arten desselben
Verbrechens verneint, so verneint ihr das Verbrechen als einen Unterschied
Dom Recht, so hebt ihr das Recht selbst auf, denn jedes Verbrechen hat eine
Seite mit dem Recht selbst gemein. Es ist daher ein ebenso historisches als
vernünftiges Faktum, daß die unterschiedslose Härte allen Erfolg der Strafe
aufhebt, denn sie hat die Strafe als einen Erfolg des Rechts aufgehoben.
Doch worüber streiten wir? Der Landtag verwirft zwar den Unterschied
zwischen Raffholzsammeln, Holzfrevel und Holzdiebstahl. Er verwirft den
Unterschied der Handlung als bestimmend für die Handlung, sobald es sich
um das Interesse des Forstfrevlers, aber er erkennt ihn an, sobald es sich um
das Interesse des Waldeigentümers handelt.
S o schlägt der A u s s c h u ß zusätzlich
vor,
„als erschwerende Umstände zu bezeichnen, wenn grünes Holz mittels Schneideinstrumenten abgehauen oder abgeschnitten und wenn statt der Axt die Säge gebraucht
wird".
Der Landtag approbiert diese Unterscheidung. Derselbe Scharfsinn, der
so gewissenhaft ist, in seinem Interesse eine Axt von einer Säge, ist so gewissenlos, Raffholz Von grünem Holz nicht im fremden Interesse zu unterscheiden. Der Unterschied ist bedeutsam als erschwerender, aber er ist ohne
alle Bedeutung als mildernder Umstand, obgleich ein erschwerender Umstand nicht möglich ist, sobald die mildernden Umstände unmöglich sind.
Dieselbe Logik wiederholt sich noch mehrmal im Verlauf der Debatte.
Bei § 65 wünscht ein Abgeordneter der Städte1,
„daß auch der Wert des entwendeten Holzes als Maßstab zur Bestimmung der Strafe
angewandt werden möge", „was vom Referenten als unpraktisch bestritten wird".
Derselbe Deputierte der Städte bemerkt zu § 66:
„überhaupt werde im ganzen Gesetz eine Wertangabe, wodurch die Strafe erhöht oder
ermäßigt werde, vermißt".
Die Wichtigkeit des Werts zur Bestimmung der Strafe bei Eigentumsverletzungen ergibt sich von selbst.
Wenn der Begriff des Verbrechens die Strafe, so verlangt die Wirklichkeit
des Verbrechens ein Maß der Strafe. Das wirkliche Verbrechen ist begrenzt.
Die Strafe wird schon begrenzt sein müssen, um wirklich, sie wird nach einem
Rechtsprinzip begrenzt sein müssen, um gerecht zu sein. Die Aufgabe besteht
darin, die Strafe zur wirklichen Konsequenz des Verbrechens zu machen.
Sie muß dem Verbrecher als die notwendige Wirkung seiner eigenen Tat,
daher als seine eigene Tat erscheinen. Die Grenze seiner Strafe muß also die
Grenze seiner Tat sein. Der bestimmte Inhalt, der verletzt ist, ist die Grenze
des bestimmten Verbrechens. Das Maß dieses Inhalts ist also das Maß des
Verbrechens. Dieses Maß des Eigentums ist sein Wert. Wenn die Persönlichkeit in jeder Grenze immer ganz, so ist das Eigentum immer nur in einer
Grenze vorhanden, die nicht nur bestimmbar, sondern bestimmt, nicht nur
meßbar, sondern gemessen ist. Der Wert ist das bürgerliche Dasein des
Eigentums, das logische Wort, in welchem es erst soziale Verständlichkeit
und Mitteilbarkeit erreicht. Es versteht sich, daß diese objektive, durch die
Natur des Gegenstandes selbst gegebene Bestimmung ebenso eine objektive
und wesentliche Bestimmung der Strafe bilden muß. Kann die Gesetzgebung
hier, wo es sich um Zahlen handelt, nur äußerlich verfahren, Um sich nicht in
eine Endlosigkeit des Bestimmens zu verlaufen, so muß sie wenigstens
regulieren. Es kommt nicht darauf an, daß die Unterschiede erschöpft,' aber
es kommt darauf an, daß sie gemacht werden. Dem Landtag aber kam es
überhaupt nicht darauf an, seine vornehme Aufmerksamkeit solchen Kleinigkeiten zu widmen.
Glaubt ihr nun aber etwa schließen zu dürfen, der Landtag habe den Wert
bei Bestimmung der Strafe vollständig ausgeschlossen? Unbesonnener, unpraktischer Schluß! Der Waldeigentümer - wir werden dies später weitläufiger vornehmen - läßt sich nicht nur den einfachen allgemeinen Wert vom
Dieb ersetzen; er stattet den Wert sogar mit individuellem Charakter aus und
gründet auf diese poetische Individualität die Forderung besondern Schadenersatzes. Wir verstehen jetzt, was der Referent unter praktisch versteht. Der
praktische Waldeigentümer räsoniert also: Diese Gesetzesbestimmung ist
gut, soweit sie mir nützt, denn mein Nutzen ist das Gute. Diese Gesetzesbestimmung ist überflüssig, sie ist schädlich, sie ist unpraktisch, soweit sie aus
purer theoretischer Rechtsgrille auch auf den Angeklagten angewandt werden
soll. Da der Angeklagte mir schädlich ist, so versteht es sich von selbst* daß
mir alles schädlich ist, was ihn nicht zu größerm Schaden kommen läßt. Das
ist praktische Weisheit.
Wir unpraktischen Menschen aber nehmen für die arme politisch und
sozial besitzlose Menge in Anspruch, was das gelehrte und gelehrige Bediententum der sogenannten Historiker als den wahren Stein der Weisen erfunden hat, um jede unlautere Anmaßung in lauteres Rechtsgold zu verwandeln. Wir vindizieren der Armut das Gewohnheitsrecht, und zwar ein Gewohnheitsrecht, welches nicht lokal, ein Gewohnheitsrecht, welches das Gewohnheitsrecht der Armut in allen Ländern ist. Wir gehen noch weiter und
behaupten, daß das Gewohnheitsrecht seiner Natur nach nur das Recht dieser
untersten besitzlosen und elementarischen Masse sein kann.
Unter den sogenannten Gewohnheiten der Privilegierten versteht man
Gewohnheiten wider das Recht. Das Datum ihrer Geburt fällt in die Periode,
worin die Geschichte der Menschheit einen Teil der Naturgeschichte bildet
und, die ägyptische Sage bewahrheitend, sämtliche Götter sich in Tiergestalten verbergen. Die Menschheit erscheint in bestimmte Tierrassen zerfallen, deren Zusammenhang nicht die Gleichheit, sondern die Ungleichheit
ist, eine Ungleichheit, welche die Gesetze fixieren. Der Weltzustand der
Unfreiheit verlangt Rechte der Unfreiheit, denn, während das menschliche
Recht das Dasein der Freiheit, ist dies tierische Recht das Dasein der Unfreiheit. Der Feudalismus im weitesten Sinne ist das geistige Tierreich, die Welt
der geschiedenen Menschheit im Gegensatz zur Welt der sich unterscheidenden Menschheit, deren Ungleichheit nichts anders ist als die Farbenbrechung
der Gleichheit. In den Ländern des naiven Feudalismus, in den Ländern des
Kastenwesens, wo im wahren /Sinne des Worts die, Menschheit verschubkastet und die edlen, frei ineinander überfließenden Glieder des großen
Heiligen, des heiligen Humanus zersägt, zerkeilt, gewaltsam auseinandergerissen sind, finden wir daher auch die Anbetung des Tiers, die Tierreligion
in ursprünglicher Gestalt, denn dem Menschen gilt immer für sein höchstes
Wesen, was sein wahres Wesen ist. Die einzige Gleichheit, die im wirklichen
Leben der Tiere hervortritt, ist die Gleichheit eines Tieres mit den andern
Tieren seiner bestimmten Art, die Gleichheit der bestimmten Art mit sich
selbst, aber nicht die Gleichheit der Gattung. Die Tiergattung selbst erscheint
nur in dem feindseligen Verhalten der verschiedenen Tierarten, die ihre besonderen unterschiedenen Eigenschaften gegeneinander geltend machen. Im
Magen des Raubtieres hat die Natur die Wahlstätte der Einigung, die Feueresse der innigsten Verschmelzung, das Organ des Zusammenhangs der verschiedenen Tierarten bereitet. Ebenso zehrt im Feudalismus die eine Rasse
an der ändern bis zu der Rasse herab, welche, ein Polyp, an die Erdscholle
gewachsen, nur die vielen Arme besitzt, um den obern Rassen die Früchte
der Erde zu pflücken, während sie selbst Staub zehrt, denn wenn im natürlichen Tierreich die Drohnen von den Arbeitsbienen, so werden im geistigen
die Arbeitsbienen von den Drohnen getötet, und eben durch die Arbeit. Wenn
die Privilegierten vom gesetzlichen Recht an ihre Gewohnheitsrechte appellieren,
so verlangen sie statt des menschlichen Inhaltes die tierische Gestalt des
Rechts, welche jetzt zur bloßen Tiermaske entwirklicht ist.
[„Rheinische Zeitung" Nr.300 vom 27. Oktober 1842]
Die vornehmen Gewohnheitsrechte sträuben sich durch ihren Inhalt
wider die Form des allgemeinen Gesetzes. Sie können nicht in Gesetze geformt werden, weil sie Formationen der Gesetzlosigkeit sind. Indem diese
Gewohnheitsrechte durch ihren Inhalt der Form des Gesetzes, der Allgemeinheit und Notwendigkeit widerstreben, beweisen sie eben dadurch, daß sie
Gewohnheitsunrechte und nicht im Gegensatz gegen das Gesetz geltend zu
machen, sondern als Gegensatz gegen dasselbe zu abrogieren und selbst nach
Gelegenheit zu bestrafen sind, denn keiner hört auf, unrechtlich zu handeln,
weil diese Handlungsweise seine Gewohnheit ist, wie man den räuberischen
Sohn eines Räubers nicht mit seinen Familien-Idiosynkrasien entschuldigt.
Handelt ein Mensch mit Absicht wider das Recht, so strafe man seine Absicht, wenn aus Gewohnheit, so strafe man seine Gewohnheit als eine
schlechte Gewohnheit. Das vernünftige Gewohnheitsrecht ist in der Zeit allgemeiner Gesetze nichts anders als die Gewohnheit des gesetzlichen Rechts,
denn das Recht hat nicht aufgehört, Gewohnheit zu sein, weil es sich als
Gesetz konstituiert hat, aber es hat aufgehört, nur Gewohnheit zu sein. Dem
Rechtlichen wird es zu seiner eigenen Gewohnheit, gegen den Unrechtlichen
wird es durchgesetzt, obgleich es nicht seine Gewohnheit ist. Das Recht hängt
nicht mehr von dem Zufall ab, ob die Gewohnheit vernünftig, sondern die
Gewohnheit wird vernünftig, weil das Recht gesetzlich, weil die Gewohnheit
zur Staatsgewohnheit geworden ist.
Das Gewohnheitsrecht als eine aparte Domäne neben dem gesetzlichen
Recht ist daher nur da vernünftig, wo das Recht neben und außer dem Gesetz
existiert, wo die Gewohnheit die Antizipation eines gesetzlichen Rechts ist.
Von Gewohnheitsrechten der privilegierten Stände kann daher gar nicht gesprochen werden. Sie haben im Gesetz nicht nur die Anerkennung ihres vernünftigen Rechts, sondern oft sogar die Anerkennung ihrer unvernünftigen
Anmaßungen gefunden. Sie haben kein Recht, gegen das Gesetz zu antizipieren, denn das Gesetz hat alle möglichen Konsequenzen ihres Rechts anti-
zipiert. Sie werden daher auch nur verlangt als Domänen für die menus
plaisirs1, damit derselbe Inhalt, der im Gesetz nach seinen vernünftigen
Grenzen behandelt ist, in der Gewohnheit einen Spielraum für die Grillen
und Anmaßungen wider seine vernünftigen Grenzen finde.
Wenn aber diese vornehmen Gewohnheitsrechte Gewohnheiten wider
den Begriff des vernünftigen Rechts, so sind die Gewohnheitsrechte der
Armut Rechte wider die Gewohnheit des positiven Rechts. Ihr Inhalt
sträubt sich nicht gegen die gesetzliche Form, er sträubt sich vielmehr gegen
seine eigene Formlosigkeit. Die Form des Gesetzes steht ihm nicht gegenüber,
sondern er hat sie noch nicht erreicht. Eis bedarf nur weniger Reflexionen, um
einzusehen, wie einseitig die aufgeklärten Gesetzgebungen die Gewohnheitsrechte der Armut, als deren ergiebigste Quelle man die verschiedenen germanischen RechteC95] betrachten kann, behandelt haben und behandeln mußten.
Die liberalsten Gesetzgebungen haben sich in priüatrechtlicher Hinsicht
darauf beschränkt, die Rechte, welche sie vorfanden, zu formulieren und ins
Allgemeine zu erheben. Wo sie keine Rechte vorfanden, gaben sie keine. Die
partikularen Gewohnheiten schafften sie ab, aber sie vergaßen dabei, daß,
wenn das Unrecht der Stände in der Form willkürlicher Anmaßung, das
Recht der Standeslosen in der Form zufälliger Konzessionen erschien. Ihr
Verfahren war richtig gegen die, welche Gewohnheiten außer dem Recht,
aber es war unrichtig gegen die, welche Gewohnheiten ohne das Recht hatten.
Wie sie die willkürlichen Anmaßungen, soweit ein vernünftiger Rechtsinhalt
in ihnen zu finden, in gesetzliche Ansprüche, so hätten sie auch die zufälligen
Konzessionen in notwendige verwandeln müssen. Wir können an einem Beispiel, an den Klöstern, dies klarmachen. Man hat die Klöster aufgehoben,
man hat ihr Eigentum säkularisiert, und man hat recht daran getan. Man hat
aber die zufällige Unterstützung, welche die Armen in den Klöstern fanden,
keineswegs in eine andere positive Besitzquelle verwandelt. Indem man das
Klostereigentum zum Privateigentum machte und etwa die Klöster entschädigte, hat man nicht die Armen entschädigt, die von den Klöstern lebten.
Man hat ihnen vielmehr eine neue Grenze gezogen und sie von einem alten
Recht abgeschnitten. Dies fand bei allen Verwandlungen der Vorrechte in
Rechte statt. Eine positive Seite dieser Mißbräuche, welche insofern auch ein
Mißbrauch war, als sie das Recht der einen Seite zu einem Zufall machte, hat
man nicht so entfernt, daß man den Zufall in eine Notwendigkeit umschuf,
sondern so, daß man von ihm abstrahierte.
Die Einseitigkeit dieser Gesetzgebungen war eine notwendige, denn alle
Gewohnheitsrechte der Armen basierten darauf, daß gewisses Eigentum einen
schwankenden Charakter trug, der es nicht entschieden zum Privateigentum,
aber auch nicht entschieden zum Gemeineigentum stempelte, eine Mischung
von Privatrecht und öffentlichem Recht, wie sie uns in allen Institutionen des
Mittelalters begegnet. Das Organ, mit welchem die Gesetzgebungen solche
zweideutigen Gestaltungen auffaßten, war der Verstand, und der Verstand
ist nicht nur einseitig, sondern es ist sein wesentliches Geschäft, die Welt einseitig zu machen, eine große und bewunderungswürdige Arbeit, denn nur die
Einseitigkeit formiert und reißt das Besondere aus dem unorganischen Schleim
des Ganzen. Der Charakter der Dinge ist ein Produkt des Verstandes. Jedes
Ding muß sich isolieren und isoliert werden, um etwas zu sein. Indem der
Verstand jeden Inhalt der Welt in eine feste Bestimmtheit bannt und das
flüssige Wesen gleichsam versteinert, bringt er die Mannigfaltigkeit der Welt
hervor, denn die Welt wäre nicht vielseitig ohne die vielen Einseitigkeiten.
Der Verstand hob also die zwitterhaften, schwankenden Formationen des
Eigentums auf, indem er die vorhandenen Kategorien des abstrakten Privatrechts, deren Schema sich im römischen Recht vorfand, anwandte. Um so
mehr glaubte der gesetzgebende Verstand berechtigt zu sein, die Verpflichtungen dieses schwankenden Eigentums gegen die ärmere Klasse aufzuheben,
als er auch seine staatlichen Privilegien aufhob; allein er vergaß, daß, selbst
rein privatrechtlich betrachtet, hier ein doppeltes Privatrecht vorlag, ein
Privatrecht des Besitzers und ein Privatrecht des Nichtbesitzers, abgesehen
davon, daß keine Gesetzgebung die staatsrechtlichen Privilegien des Eigentums abgeschafft, sondern sie nur ihres abenteuerlichen Charakters entkleidet
und ihnen einen bürgerlichen Charakter erteilt hat. Wenn aber jede mittelalterliche Gestalt des Rechts, also auch das Eigentum, von allen Seiten zwitterartigen, dualistischen, zwiespaltigen Wesens war und der Verstand seinen
Grundsatz der Einheit gegen diesen Widerspruch der Bestimmung mit Recht
geltend machte, so übersah er, daß es Gegenstände des Eigentums gibt, die
ihrer Natur nach nie den Charakter des vorherbestimmten Privateigentums
erlangen können, die durch ihr elementarisches Wesen und ihr zufälliges
Dasein dem Okkupationsrecht anheimfallen, also dem Okkupationsrecht der
Klasse anheimfallen, welche eben durch das Okkupationsrecht von allem
andern Eigentum ausgeschlossen ist, welche in der bürgerlichen Gesellschaft
dieselbe Stellung einnimmt wie jene Gegenstände in der Natur.
Man wird finden, daß die Gewohnheiten, welche Gewohnheiten der ganzen armen Klasse sind, mit sicherm Instinkt das Eigentum an seiner unentschiedenen Seite zu fassen wissen, man wird nicht nur finden, daß diese Klasse
den Trieb fühlt, ein natürliches Bedürfnis, sondern ebensosehr, daß sie das
Bedürfnis fühlt, einen rechtlichen Trieb zu befriedigen. Das Raffholz dient
uns als Beispiel. Es: steht so wenig in einem organischen Zusammenhang mit
dem lebendigen Baum, als die abgestreifte Haut mit der Schlange. Die Natur
selbst stellt in den dürren, vom organischen Leben getrennten, geknickten
Reisern und Zweigen im Gegensatz zu den festwurzelnden, vollsaftigen, organisch Luft, Licht, Wasser und Erde zu eigener Gestalt und individuellem
Leben sich assimilierenden Bäumen und Stämmen gleichsam den Gegensatz
der Armut und des Reichtums dar. Es ist eine physische Vorstellung von
Armut und Reichtum. Die menschliche Armut fühlt diese Verwandtschaft
und leitet aus diesem Verwandtschaftsgefühl ihr Eigentumsrecht ab, und
wenn sie daher den physisch-organischen Reichtum dem prämeditierenden
Eigentümer, so vindiziert sie die physische Armut dem Bedürfnis und seinem
Zufall. Sie empfindet in diesem Treiben der elementarischen Mächte eine
befreundete Macht, die humaner ist als die menschliche. An die Stelle der
zufälligen Willkür der Privilegierten ist der Zufall der Elemente getreten, die
von dem Privateigentum abreißen, was es nicht mehr von sich abläßt. So
wenig den Reichen Almosen, die auf die Straße geworfen werden, gebühren,
so wenig diese Almosen der Natur. Aber auch in ihrer Tätigkeit findet die
Armut schon ihr Recht. Im Sammeln stellt sich die elementarische Klasse der
menschlichen Gesellschaft ordnend denProdukten der elementarischen Naturmacht gegenüber. Ähnlich verhält es sich mit Produkten, die in wildem Wachstum ein ganz zufälliges Akzidens des Besitzes und schon wegen ihrer Unbedeutendheit keinen Gegenstand für die Tätigkeit des eigentlichen Eigentümers bilden; ähnlich verhält es sich mit dem Nachlesen, Nachernten und
dergleichen Gewohnheitsrechten.
Es lebt also in diesen Gewohnheiten der armen Klasse ein instinktmäßiger
Rechtssinn, ihre Wurzel ist positiv und legitim, und die Form des Gewohnheitsrechts ist hier um so naturgemäßer, als das Dasein der armen Klasse selbst bisher
eine bloße Gewohnheit der bürgerlichen Gesellschaft ist, die in dem Kreis
der bewußten Staatsgliederung noch keine angemessene Stelle gefunden hat.
Die vorliegende Debatte bietet sogleich ein Beispiel, wie man diese Gewohnheitsrechte behandelt, ein Beispiel, worin die Methode und der Geist
des ganzen Verfahrens erschöpft ist.
Ein Deputierter der Städte1 opponiert gegen die Bestimmung, wodurch
auch das Sammeln von Waldbeeren und Preiselbeeren als Diebstahl behandelt
wird. Er spricht Vorzugsweise für die Kinder armer Leute, welche jene
Früchte sammeln, um damit für ihre Eltern eine Kleinigkeit zu verdienen,
welches seit unvordenklichen Zeiten von den Eigentümern gestattet und wodurch für die Kleinen ein Gewohnheitsrecht entstand. Dies Faktum wird widerlegt durch die Notiz eines andern Abgeordneten1: „in seiner Gegend seien
diese Früchte schon Handelsartikel und würden faßweise nach Holland geschickt".
Man hat es wirklich schon an einem Ort so weit gebracht, aus einem Gewohnheitsrecht der Armen ein Monopol der Reichen zu machen. Der erschöpfende Beweis ist geliefert, daß man ein Gemeingut monopolisieren
kann; es folgt daher von selbst, daß man es monopolisieren muß. Die Natur
des Gegenstandes verlangt das Monopol, weil das Interesse des Privateigentums es erfunden hat. Der moderne Einfall einiger geldfuchsenden Handelskrämer wird unwiderleglich, sobald er Abfälle dem urteutonischen Interesse
von Grund und Boden liefert.
Der weise Gesetzgeber wird das Verbrechen verhindern, um es nicht bestrafen zu müssen, aber er wird es nicht dadurch verhindern, daß er die
Sphäre des Rechts verhindert, sondern dadurch, daß er jedem Rechtstrieb
sein negatives Wesen raubt, indem er ihr eine positive Sphäre der Handlung
einräumt. Er wird sich nicht darauf beschränken, den Teilnehmern einer
Klasse die Unmöglichkeit wegzuräumen, einer höheren berechtigten Sphäre
anzugehören, sondern er wird ihre eigene Klasse zu einer realen Möglichkeit
von Rechten erheben, aber wenn der Staat hierzu nicht human, nicht reich
und nicht großsinnig genug ist, so ist es wenigstens seine unbedingte Pflicht,
nicht in ein Verbrechen zu verwandeln, was erst Umstände zu einem Vergehen
machen. Er muß mit der höchsten Milde als eine soziale Unordnung korrigieren, was er nur mit dem höchsten Unrecht als ein antisoziales Verbrechen
bestrafen darf. Er bekämpft sonst den sozialen Trieb, indem er die unsoziale
Form desselben zu bekämpfen meint. Mit einem Worte, wenn man volkstümliche Gewohnheitsrechte unterdrückt, so kann deren Ausübung nur als
einfache Polizeikontravention behandelt, aber nimmer als ein Verbrechen bestraft werden. Die Polizeistrafe ist der Ausweg gegen eine Tat, welche Umstände zu einer äußern Unordnung stempeln, ohne daß sie eine Verletzung
der ewigen Rechtsordnung wäre. Die Strafe darf nicht mehr Abscheu einflößen als das Vergehen, die Schmach des Verbrechens darf sich nicht verwandeln in die Schmach des Gesetzes; der Boden des Staats ist unterminiert,
wenn das Unglück zu einem Verbrechen oder das Verbrechen zu einem
Unglück wird. Weit entfernt von diesem Gesichtspunkt, beobachtet der
Landtag nicht einmal die ersten Regeln der Gesetzgebung.
Die kleine, hölzerne, geistlose und selbstsüchtige Seele des Interesses
sieht nur einen Punkt, den Punkt, wo sie verletzt wird, gleich dem rohen
Menschen, der etwa einen Vorübergehenden für die infamste, verworfenste
Kreatur unter der Sonne hält, weil diese Kreatur ihm auf seine Hühneraugen
getreten hat. Er macht seine Hühneraugen zu den Augen, mit denen er sieht
und urteilt; er macht den einen Punkt, in welchem ihn der Vorübergehende
tangiert, zu dem einzigen Punkt, worin das Wesen dieses Menschen die Welt
tangiert. Nun kann ein Mensch aber doch wohl mir auf die Hühneraugen
treten, ohne deswegen aufzuhören, ein ehrlicher, ja ein ausgezeichneter
Mensch zu sein. So wenig ihr nun die Menschen mit euern Hühneraugen, so
wenig müßt ihr sie mit den Augen eures Privatinteresses beurteilen. Das
Privatinteresse macht die eine Sphäre, worin ein Mensch feindlich mit ihm zuzusammentrifft, zur Lebenssphäre dieses Menschen. Es macht das Gesetz zum
Rattenfänger, der das Ungeziefer vertilgen will, denn er ist kein Naturforscher
und sieht deshalb in den Ratten nur Ungeziefer; aber der Staat muß in einem
Holzfrevler mehr sehen als den Frevler am Holz, mehr als den Holzfeind.
Hängt nicht jeder seiner Bürger durch tausend Lebensnerven mit ihm zusammen, und darf er alle diese Nerven zerschneiden, weil jener Bürger selbst
einen Nerv eigenmächtig zerschnitten hat? Der Staat wird also auch in einem
Holzfrevler einen Menschen sehen, ein lebendiges Glied, in dem sein Herzblut rollt, einen Soldaten, der das Vaterland verteidigen, einen Zeugen, dessen
Stimme vor Gericht gelten, ein Gemeindemitglied, das öffentliche Funktionen
bekleiden soll, einen Familienvater, dessen Dasein geheiligt, vor allem einen
Staatsbürger, und der Staat wird nicht leichtsinnig eins seiner Glieder von all
diesen Bestimmungen ausschließen, denn der Staat amputiert sich selbst, sooft er aus einem Bürger einen Verbrecher macht. Vor allem aber wird es der
sittliche Gesetzgeber als die ernsteste, schmerzlichste und gefährlichste Arbeit
betrachten, eine bisher unbescholtene Handlung unter die Sphäre der verbrecherischen Handlungen zu subsumieren.
Das Interesse aber ist praktisch, und nichts praktischer auf der Welt, als
daß ich meinen Feind niederstoße! „Wer haßt ein Ding und brächt' es nicht
gern um!" lehrt schon Shylock.I9M Der wahre Gesetzgeber darf nichts fürchten
als das Unrecht, aber das gesetzgebende Interesse kennt nur die Furcht vor
den Konsequenzen des Rechts, die Furcht vor den Bösewichten, gegen die es
Gesetze gibt. Die Grausamkeit ist der Charakter der Gesetze, welche die Feigheit diktiert, denn die Feigheit vermag nur energisch zu sein, indem sie grausam ist. Das Privatinteresse ist aber immer feig, denn sein Herz, seine Seele
ist ein äußerlicher Gegenstand, der immer entrissen und beschädigt werden
kann, und wer zitterte nicht vor der Gefahr, Herz und Seele zu verlieren?
Wie sollte der eigennützige Gesetzgeber menschlich sein, da das Unmensch-
liehe, ein fremdes materielles Wesen, sein höchstes Wesen ist? „Quand il a
peur, il est terrible"1, sagt der „National" von Guizot. Diese Devise kann
man über alle Gesetzgebungen des Eigennutzes, also der Feigheit schreiben.
Wenn die Samojeden ein Tier töten, beteuern sie demselben, ehe sie ihm
das Fell abziehen, aufs ernstlichste, daß bloß die Russen dies Übel verursachen,
daß ein russisches Messer es zerlege Und daß also an den Russen allein Rache
zu üben sei. Man kann das Gesetz in ein russisches Messer verwandeln, auch
wenn man kein Samojede zu sein die Prätension hat. Sehen wir zu!
Bei § 4 schlug der Ausschuß vor:
„Bei einer weitern Entfernung als zwei Meilen bestimmt der denunzierende Schutzbeamte dm Wert räch dem bestehenden Lokalpreise."
Hiegegen protestierte ein Deputierter der Städte2:
„Der Vorschlag, die Taxe des entwendeten Holzes durch den Förster, welcher die
Anzeige mache, festsetzen zu lassen, wäre sehr bedenklich. Allerdings stehe diesem
anzeigenden Beamten fides3 zu. Aber doch nur in bezug auf das Faktum, keineswegs in
bezug auf den Wert. Dieser solle nach einer von den Lokalbehörden proponierten und
von dem Landrät festzusetzenden Taxe bestimmt werden. Es werde nun zwar vorgeschlagen, daß der § 14, wonach der Waldeigentümer die Strafe beziehen solle, nicht
angenommen werde" etc. „Würde man den § 14 beibehalten, dann sei die vorliegende
Bestimmung doppelt gefährlich. Denn der in den Diensten des Waldeigentümers
stehende und von ihm bezahlte Förster müsse wohl, das liege in der Natur der Verhältnisse, den Wert des entwendeten Holzes so hoch als möglich stellen."
Der Landtag genehmigte den Vorschlag des Ausschusses.
Wir finden hier Konstituierung der Patrimonialgerichtsbarkeit1-97-1. Der
Patrimonialschutzbediente ist zugleich partieller Urteilssprecher. Die Wertbestimmung bildet einen Teil des Urteils. Das Urteil ist also schon teilweise
im denunzierenden Protokoll antizipiert. Der denunzierende Schutzbeamte
sitzt im Richterkollegium, er ist der Experte, an dessen Urteil das Gericht gebunden, er vollzieht eine Funktion, von der er die übrigen Richter ausschließt.
Es ist töricht, gegen das inquisitorische Verfahren zu opponieren, wenn es
sogar Patrimonialgendarmen und Denunzianten gibt, die zugleich richten.
Wie wenig, abgesehen von dieser Grundverletzung unserer Institutionen,
der denunzierende Schutzbeamte die objektive Fähigkeit besitzt, zugleich
Taxator des entwendeten Holzes zu sein, ergibt sich von selbst, wenn wir seine
Qualitäten betrachten.
Als Schutzbeamter ist er der personifizierte Schutzgenius des Holzes.
Der Schutz, nun gar der persönliche, der leibliche Schutz, erfordert ein
1
„Wenn er Angst hat, ist er schrecklich" -
2
Joseph Friedrich Brust -
3
Vertrauen
effektvolles, tatkräftiges Liebesverhältnis des Waldhüters zu seinem Schützling, ein Verhältnis, in welchem er gleichsam mit dem Holze verwächst. Es
muß ihm alles, es muß ihm von absolutem Werte sein. Der Taxator dagegen
verhält sich mit skeptischem Mißtrauen zum entwendeten Hölze, er mißt es
mit scharfem prosaischem Auge an einem profanen Maß und sagt euch auf
Heller und Pfennig, wieviel dran sei. Ein Beschützer und ein Schätzer sind so
verschiedene Dinge als ein Mineraloge und ein Mineralienhändler. Der
Schutzbeamte kann den Wert des entwendeten Holzes nicht schätzen, denn
in jedem Protokoll, worin er den Wert des Gestohlenen taxiert, taxiert er
seinen eigenen Wert, weil den Wert seiner eigenen Tätigkeit, und glaubt ihr, er
werde den Wert seines Gegenstandes nicht ebensogut beschützen als dessen
Substanz?
Die Tätigkeiten, die man einem Menschen überträgt, dessen Amtspflicht
die Brutalität ist, widersprechen sich nicht nur in bezug auf den Gegenstand
des Schutzes, sie widersprechen sich ebensosehr in bezug auf die Personen.
Als Schutzbeamter des Holzes soll der Waldhüter das Interesse des Privateigentümers, aber als Taxator soll er ebensosehr das Interesse des Forstfrevlers gegen die extravaganten Forderungen des Privateigentümers beschützen. Während er vielleicht eben mit der Faust im Interesse des Waldes,
soll er gleich darauf mit dem Kopf im Interesse des Waldfeindes operieren.
Das verkörperte Interesse des Waldeigentümers, soll er eine Garantie gegen
das Interesse des Waldeigentümers sein.
Der Schutzbeamte ist ferner Denunziant. Das Protokoll ist eine Denunziation. Der Wert des Gegenstandes wird also zum Gegenstand der Denunziation; er verliert seinen richterlichen Anstand, und die Funktion des Richters wird auf das Tiefste herabgewürdigt, indem sie sich einen Augenblick
von der Funktion des Denunzianten nicht mehr unterscheidet.
Endlich steht dieser denunzierende Schutzbeamte, der weder als Denunziant noch als Schutzbeamter zum Experten geeignet ist, in Sold und Dienst
des Waldeigentümers. Mit demselben Rechte konnte man dem Waldeigentümer selbst auf einen Eid die Taxation überlassen, da er tatsächlich in
seinem Schutzbedienten nur die Gestalt einer dritten Person angenommen hat.
Statt aber diese Stellung des denunzierenden Schutzbeamten auch nur
bedenklich zu finden, findet der Landtag im Gegenteil die einzige Bestimmung bedenklich, die noch den letzten Schein des Staats innerhalb der Waldherrlichkeit bildet, die lebenslängliche Anstellung des denunzierenden Schutzbeamten. Gegen diese Bestimmung erhebt sich der heftigste Widerspruch,
und kaum scheint der Sturm beschwichtigt zu werden durch die Erklärung
des Referenten:
9 Marx/Engels, Werke, Bd. I
„daß schon frühere Landtage die Verzichtleistung auf lebenslängliche Anstellung bevorwortet hätten, daß die Staatsregierung aber sich nur dagegen erklärt und die lebenslängliche Anstellung als einen Schutz für die Untertanen angesehen habe".
Der Landtag hat also schon früher mit der Regierung um Verzichtleistung
auf den Schutz ihrer Untertanen gemarktet, und der Landtag ist beim
Markten geblieben. Prüfen wir die ebenso großherzigen als unwiderleglichen Gründe, welche gegen die lebenslängliche Anstellung geltend gemacht
werden.
Ein Abgeordneter der Landgemeinden1
„findet in der Bedingung der Glaubwürdigkeit durch lebenslängliche Anstellung die
kleinen Waldbesitzer sehr gefährdet, und ein anderer2 besteht darauf, daß der Schutz
gleich wirksam für kleine wie für große Waldeigentümer sein müsse".
Ein Mitglied des Fürstenstandes3 bemerkt,
„daß die lebenslänglichen Anstellungen bei Privaten sehr unrätlich seien und in Frankreich gar nicht erforderlich, um den Protokollen der Schutzbeamten Glauben zu verschaffen, daß aber notwendig etwas geschehen müsse, um dem überhandnehmen der
Frevel zu steuern".
Ein Abgeordneter der Städte*:
„allen Anzeigen von gehörig angestellten und beeidigten Forstbeamten müsse Glauben
beigemessen werden. Die Anstellung auf Lebenszeit sei vielen Gemeinden und insbesondere den Eigentümern von kleinen Parzellen sozusagen unmöglich. Durch die
Verfügung, daß nur jene Forstbeamten, welche auf Lebenszeit angestellt sind, fides
haben sollen, würde diesen Waldbesitzern aller Forstschutz entzogen. In einem großen
Teile der Provinz hätten die Gemeinden und Privatbesitzer den Feldhütern auch die
Hut ihrer Waldungen übertragen und übertragen müssen, weil ihr Waldeigentum nicht
groß genug sei, um eigene Förster dafür anzustellen. Es würde nun sonderbar sein,
wenn diese Feldhüter, welche auch auf die Waldhut vereidet seien, keinen vollen Glauben haben sollten, wenn sie eine Holzentwendung konstatierten, während sie fides
genössen, wenn sie Anzeigen über entdeckte Holzfrevel machten."
[„Rheinische Zeitung" Nr.303 vom 30. Oktober 1842]
*** Also hat Stadt und Land und Fürstentum gesprochen. Statt die Differenz zwischen den Rechten des Holzfrevlers und den Prätensionen des
Waldeigentümers auszugleichen, findet man sie nicht groß genug. Man
sucht nicht den Schutz des Waldeigentümers und des Holzfrevlers, man sucht
den Schutz des großen und des kleinen Waldeigentümers auf ein Maß zu
setzen. Hier soll die minutiöseste Gleichheit Gesetz sein, während dort die
1 Franz Aldenhoven Friedrich Brust
2
Gisbert Lensing -
3
Josef zu Salm-Reifferscheid-Dyck -
4
Joseph
Ungleichheit Axiom ist. Warum verlangt der kleine Waldeigentümer denselben
Schutz wie der große? Weil beide Waldeigentümer. Sind nicht beide, der
Waldeigentümer und der Forstfrevler, Staatsbürger? Wenn ein kleiner und
ein großer Waldeigentümer, haben nicht noch mehr ein kleiner und ein
großer Staatsbürger dasselbe Recht auf den Schutz des Staates?
Wenn das Mitglied des Fürstenstandes sich auf Frankreich bezieht - das
Interesse kennt keine politischen Antipathien - , so vergißt es nur hinzuzufügen, daß in Frankreich der Schutzbeamte das Faktum, aber nicht den Wert
denunziert. Ebenso vergißt der ehrenwerte Sprecher der Städte, daß der
Feldhüter hier unzulässig ist, weil es sich nicht nur um das Konstatieren
einer Holzentwendung, sondern ebensosehr um die Taxation des Holzwertes handelt.
. Worauf beschränkt sich der Kern des ganzen Räsonnements, das wir
eben gehört? Der kleine Waldeigentümer habe nicht die Mittel, einen lebenslänglichen Schutzbeamten zu stellen. Was folgt aus diesem Räsonnement?
Daß der kleine Waldeigentümer nicht dazu berufen ist. Was schließt der
kleine Waldeigentümer? Daß er berufen ist, einen taxierenden Schutzbeamten auf Kündigung anzustellen. Seine Mittellosigkeit gilt ihm als Titel
eines Privilegiums.
Der kleine Waldeigentümer hat auch nicht die Mittel, ein unabhängiges
Richterkollegium zu unterhalten. Also verzichte Staat und Angeklagter auf
ein unabhängiges Richterköllegium und lasse den Hausknecht des kleinen
Waldeigentumers, oder wenn er keinen Hausknecht hat, lasse seine Magd,
oder wenn er keine Magd hat, lasse ihn selbst zu Gericht sitzen. Hat der
Angeklagte nicht dasselbe Recht auf die exekutive Gewalt als ein Staatsorgan wie auf die richterliche? Warum also nicht auch das Gericht nach den
Mitteln des kleinen Waldeigentümers einrichten?
Kann das Verhältnis des Staats und des Angeklagten alterieft werden
durch die dürftige Ökonomie des Privatmannes, des Waldeigentümers? Der
Staat hat ein Recht gegen den Angeklagten, weil er diesem Individuum als
Staat gegenübertritt. Unmittelbar folgt daher für ihn die Pflicht, als Staat
und in der Weise des Staate sich zu dem Verbrecher zu verhalten. Der Staat
hat nicht nur die Mittel, auf eine Weise zu agieren, die ebenso seiner Vernunft, seiner Allgemeinheit und Würde wie dem Recht, dem Leben und
Eigentum des inkriminierten Bürgers angemessen ist; es ist seine unbedingte
Pflicht, diese Mittel zu haben und anzuwenden. Vom Waldeigentümer, dessen
Wald nicht der Staat und dessen Seele nicht die Staatsseele ist, wird dies
niemand verlangen. - Was folgert man? Daß, weil das Privateigentum nicht
die Mittel hat, sich auf den Staatsstandpunkt zu erheben, der Staat die
Verpflichtung hat, zu den Vernunft- und rechtswidrigen Mitteln des Privateigentums herabzusteigen.
Diese Anmaßung des Privatinteresses, dessen dürftige Seele nie von
einem Staatsgedanken erleuchtet und durchzuckt worden, ist eine ernste
und gründliche Lektion für den Staat. Wenn der Staat sich auch nur an
einem Punkte so weit herabläßt, statt in seiner eigenen Weise in der Weise des
Privateigentums tätig zu sein, so folgt unmittelbar, daß er sich in der Form
seiner Mittel den Schranken des Privateigentums akkommodieren muß. Das
Privatinteresse ist schlau genug, diese Konsequenz dahin zu steigern, daß
es sich in seiner beschränktesten und dürftigsten Gestalt zur Schranke und
zur Regel der Staatsaktion macht, woraus, abgesehen von der vollendeten
Erniedrigung des Staats, umgekehrt folgt, daß die Vernunft- und rechtswidrigsten Mittel gegen den Angeklagten in Bewegung gesetzt werden, denn
die höchste Rücksicht auf das Interesse des beschränkten Privateigentums
schlägt notwendig in eine maßlose Rücksichtslosigkeit gegen das Interesse
des Angeklagten um. Wenn es sich hier aber klar herausstellt, daß das Privatinteresse den Staat zu den Mitteln des Privatinteresses, wie sollte nicht
folgen, daß eine Vertretung der Privatinteressen, der Stände, den Staat zu den Gedanken des Privatinteresses degradieren will und muß? Jeder moderne Staat,
entspreche er noch so wenig seinem Begriff, wird bei dem ersten praktischen
Versuch solcher gesetzgebenden Gewalt gezwungen sein, auszurufen: Deine
Wege sind nicht meine Wege, und deine Gedanken sind nicht meine Gedanken!
Wie gänzlich unhaltbar die mietweise Pachtung des denunzierenden
Schutzbeamten sei, das können wir nicht evidenter beweisen als durch einen
Grund, der gegen die lebenslängliche Anstellung, wir können nicht sagen
entschlüpft, denn er wird verlesen. Ein Mitglied aus dem Stand der Städte1
verlas nämlich folgende Bemerkung:
„Die auf Lebenszeit angestellten Waldwärter für Gemeinden stehen und können
auch nicht unter der strengen Kontrolle stehen wie die Königlichen Beamten. Jeder
Sporn zur treuen Pflichterfüllung wird durch die lebenslängliche Anstellung gelähmt.
Erfüllt der Waldhüter auch nur zur Hälfte seine Pflicht und hütet er sich, daß ihm
keine wirklichen Vergehen zur Last gelegt werden können, so wird er immer soviel
Fürsprache finden, daß der Antrag nach § 56 auf dessen Entlassung vergeblich sein
wird. Die Beteiligten werden es unter solchen Umständen auch nicht einmal wagen,
den Antrag zu stellen."
Wir erinnern, wie man dem denunzierenden Schutzbeamten volles Vertrauen dekretierte, als es sich darum handelte, ihm die Taxation zu überlassen.
Wir erinnern, daß der § 4 ein Vertrauensvotum für den Schutzbeamten War.
Zum ersten Male erfahren wir, daß der denunzierende Schutzbeamte
einer Kontrolle und einer strengen Kontrolle bedarf. Zum ersten Male erscheint er nicht nur als ein Mensch, sondern als ein Pferd, indem Sporen und
Brot die einzigen Irritamente seines Gewissens sind und seine Pflichtmuskeln durch eine lebenslängliche Anstellung nicht nur abgespannt, sondern vollständig gelähmt werden. Man sieht, der Eigennutz besitzt zweierlei
Maß und Gewicht, womit er die Menschen wägt und mißt, zweierlei Weltanschauungen, zweierlei Brillen, von denen die eine schwarz und die andere
bunt färbt. Wo es gilt, andere Menschen seinen Werkzeugen preiszugeben
und zweideutige Mittel zu beschönigen, da setzt der Eigennutz die buntfärbende Brille auf, die ihm seine Werkzeuge und seine Mittel in phantastischer Glorie zeigt, da gaukelt er sich und andere in die unpraktischen und
lieblichen Schwärmereien einer zarten und vertrauensvollen Seele ein. Jede
Falte seines Gesichts ist lächelnde Bonhommie. Er drückt seinem Gegner
die Hand wünd, aber er drückt sie aus Vertrauen wund. Doch plötzlich gilt
es den eigenen Vorteil, es gilt hinter den Kulissen, wo die Illusionen der
Bühne verschwinden, die Brauchbarkeit der Werkzeuge und der Mittel bedächtig zu prüfen. Ein rigoristischer Menschenkenner, setzt er behutsam und
mißtrauisch die weltkluge, schwarzfärbende Brille, die Brille der Praxis auf.
Gleich einem geübten Pferdemäkler unterwirft er die Menschen einer langen,
nichts übersehenden Okularinspektion, und sie erscheinen ihm so klein, so
erbärmlich und so schmutzig, wie der Eigennutz selbst ist.
Wir wollen nicht mit der Weltanschauung des Eigennutzes rechten, aber
wir wollen sie zwingen, konsequent zu sein. Wir wollen nicht, daß sie sich
selbst die Weltklugheit vorbehält und den andern die Phantasien überläßt.
Wir halten den sophistischen Geist des Privatinteresses einen Augenblick an
seinen eigenen Konsequenzen fest.
Wenn der denunzierende Schutzbeamte der Mensch eurer Schilderung
ist, ein Mensch, dem die lebenslängliche Anstellung, weit entfernt Unabhängigkeitsgefühl, Sicherheit und Würde in der Erfüllung seiner Pflicht zu
geben, vielmehr jeden Sporn zur Pflichterfüllung raubt, was sollen wir nun
gar für den Angeklagten von der Unparteilichkeit dieses Menschen erwarten, sobald er der unbedingte Knecht eurer Willkür ist? Wenn nur die
Sporen diesen Menschen zur Pflicht treiben und wenn ihr die Sporenträger
seid, was müssen wir dem Angeklagten prophezeien, der kein Sporenträger
ist? Wenn selbst ihr nicht die hinreichend strenge Kontrolle gegen diesen
Mann ausüben könnt, wie soll ihn nun gar der Staat oder die verfolgte
Partei kontrollieren? Gilt bei einer revokabeln Anstellung nicht vielmehr,
was ihr von einer lebenslänglichen behauptet: „erfüllt der Schutzbeamte
nur zur Hälfte seine Pflicht, so wird er immer so viel Fürsprache finden, daß
der Antrag nach § 56 auf dessen Entlassung vergeblich sein wird"? werdet
ihr nicht alle so viel Fürsprecher für ihn sein, solange er die eine Hälfte seiner
Pflicht erfüllt, die Wahrung eures Interesses?
Die Wandlung des naiven überquellenden Vertrauens zum Waldhüter
in keifendes, mäkelndes Mißtrauen entdeckt uns die Pointe. Nicht dem Forsthüter, euch selbst habt ihr das riesenhafte Vertrauen geschenkt, woran Staat
und Holzfrevler als an ein Dogma glauben sollen.
Nicht die amtliche Stellung, nicht der Eid, nicht das Gewissen des Forsthüters sollen die Garantien des Angeklagten gegen euch, nein, euer Rechtssinn, euere Humanität, euere Interesselosigkeit, euere Mäßigung sollen die
Garantien des Angeklagten gegen den Forsthüter sein. Euere Kontrolle ist
seine letzte und seine einzige Garantie. In nebelhafter Vorstellung von euerer
persönlichen Vorzüglichkeit, in poetischer Selbstentzückung bietet ihr dem
Beteiligten euere Individualitäten als Schutzmittel gegen eure Gesetze. Ich
gestehe, daß ich diese romanhafte Vorstellung von Waldeigentümern nicht
teile. Ich glaube überhaupt nicht, daß Personen Garantien gegen Gesetze,
ich glaube vielmehr, daß Gesetze Garantien gegen Personen sein müssen.
Und wird die verwegenste Phantasie sich einbilden können, Männer, welche
in dem erhabenen Geschäft der Legislation keinen Augenblick von der beklemmten, praktisch niedrigen Stimmung des Eigennutzes zur theoretischen
Höhe allgemeiner und objektiver Gesichtspunkte sich zu erheben vermögen,
Männer, welche schon vor dem Gedanken künftiger Nachteile beben und
nach Stuhl und Tisch greifen, um ihr Interesse zu decken, dieselben Männer
würden im Antlitz der wirklichen Gefahr Philosophen sein? Aber keiner,
auch nicht der vorzüglichste Gesetzgeber, darf seine Person höher stellen
als sein Gesetz. Niemand ist befugt, sich selbst Vertrauensvota zu dekretieren, die von Konsequenzen für dritte sind.
Ob ihr aber auch nur verlangen durftet, man solle euch besonderes Vertrauen schenken, mögen folgende Tatsachen erzählen.
„ § 8 7 " , äußert ein Abgeordneter der Städte 1 , „müsse er opponieren, denn die Bestimmungen desselben würden weitläufige, zu nichts führende Untersuchungen veranlassen, wodurch persönliche Freiheit und jene des Verkehrs gestört würden. Man
möge doch nicht von vorneherein jeden für einen Verbrecher halten und nicht gleich
eine böse Tat präsumieren, bis man einen Beweis dafür habe, daß eine solche auch
geübt worden sei."
Ein anderer Abgeordneter der Städte2 sagt, der Paragraph müsse gestrichen werden. Das Vexatorische desselben: „da jedermann nachweisen
1
Joseph Friedrich Brust -
2
Johann Heinrich vom Baur
müsse, woher ihm das Holz geworden", demnach jedermann als des Stehlens
und Bergens verdächtig erscheine, greife rauh und verletzend in das bürgerliche Leben ein. Der Paragraph ward angenommen.
Wahrlich, ihr mutet der menschlichen Inkonsequenz zuviel zu, wenn sie
zu ihrem Schaden das Mißtrauen und zu eurem Nutzen das Vertrauen als
Maxime proklamieren, wenn ihr Vertrauen und ihr Mißtrauen aus den Augen
eueres Privatinteresses sehen und mit dem Herzen eueres Privatinteresses
empfinden soll.
Es wird noch ein Grund gegen die lebenslängliche Anstellung beigebracht, ein Grund, der selbst mit sich darüber uneinig ist, ob die Verächtlichkeit oder die Lächerlichkeit ihn mehr auszeichnet.
„Auch darf der freie Wille der Privaten nicht auf solche Weise so sehr beschränkt
werden, weshalb nur Anstellungen auf Widerruf gestattet sein sollten."
Gewiß ist es ebehso erfreuliche als unerwartete Nachricht, daß der
Mensch einen freien Willen besitze, der nicht auf jede Weise zu beschränken
sei. Die Orakel, die wir bisher hörten, glichen dem Uroräkel zu Dodonat98].
Das Holz teilte sie aus. Der freie Wille besaß keine ständische Qualität. Wie
sollen wir nun dies plötzliche rebellische Auftreten der Ideologie, denn
in bezug auf die Ideen haben wir nur Nachfolger Napoleons vor uns, verstehen?,fl9J
Der Wille des Waldeigentümers verlangt die Freiheit, mit dem Holzfrevler nach Bequemlichkeit und auf die ihm zusagendste und wenigst kostspielige Art umspringen zu dürfen. Dieser Wille will, daß der Staat ihm
den Bösewicht auf Diskretion überlasse. Er verlangt plein pouvoir. Er bekämpft nicht die Einschränkung des freien Willens, er bekämpft die Weise
dieser Einschränkung, die so sehr einschränkt, daß sie nicht nur den Holzfrevler, sondern auch den Holzbesitzer trifft. Will dieser freie Wille nicht
viele Freiheiten? Ist es nicht ein sehr, ein vorzüglich freier Wille? Und ist es
nicht unerhört, daß man im 19. Jahrhundert den freien Willen jener Privaten,
die publike Gesetze geben, „auf solche Weise so sehr" einzuschränken wagt?
Es ist unerhört.
Auch der hartnäckige Reformer, der freie Wille, muß in die Gefolgschaft der guten Gründe treten, deren Zugführer die Sophistik des Interesses
ist. Nur muß dieser freie Wille Lebensart besitzen, er muß ein vorsichtiger,
ein loyaler freier Wille sein, ein freier Wille, der sich so einzurichten weiß,
daß seine Sphäre mit der Sphäre der Willkür jener privilegierten Privaten
zusammenfällt. Nur einmal wird der freie Wille zitiert, und dieses eine Mal
erscheint er in der Gestalt eines untersetzten Privaten, der Holzblöcke auf
den Geist des vernünftigen Willens schleudert. Was sollte dieser Geist auch
da, wo der Wille als Galeerensklave an die Ruderbank der kleinsten und
engherzigsten Interessen geschmiedet ist.
Der Höhepunkt dieses ganzen Räsonnements faßt sich zusammen in
folgender Bemerkung, welche das fragliche Verhältnis auf den Kopf stellt:
„Mögen immerhin die königlichen Forst- und Jagdbeamten auf Lebenslang angestellt werden, bei Gemeinden und Privaten findet dies das größte Bedenken."
Als wenn nicht das einzige Bedenken darin bestände, daß hier statt der
Staatsdiener Privatbediente agieren! Als wenn die lebenslängliche Anstellung
nicht eben gegen den bedenklichen Privaten gerichtet wäre! Rien n'est plus
terrible que la logique dans l'absurdite, d.h., nichts ist schrecklicher als die
Logik des Eigennutzes.
Diese Logik, die den Bedienten des Waldeigentümers in eine Staatsautorität, Verwandelt die Staatsautoritäten in Bediente des Waldeigentümers. Die
Staatsgliederung, die Bestimmung der einzelnen administrativen Behörden,
alles muß außer Rand und Band treten, damit alles zum Mittel des Waldeigentümers herabsinke und sein Interesse als die bestimmende Seele des
ganzen Mechanismus erscheine. Alle Organe des Staates werden Ohren,
Augen, Arme, Beine, womit das Interesse des Waldeigentümers hört, späht,
schätzt, schützt, greift und läuft.
Zu § 62 schlägt der Ausschuß als Schlußsatz die Forderung einer Bescheinigung der Unbeibringlichkeit durch den Steuerboten, Bürgermeister,
zwei Gemeindevorsteher, vom Wohnsitz des Frevlers ausgestellt, vor. Ein
Deputierter der Landgemeinden1 findet die Verwendung des Steuerboten im
Widerspruch mit der bestehenden Gesetzgebung. Es versteht sich, daß
dieser Widerspruch nicht berücksichtigt wurde.
Bei § 20 hatte der Ausschuß vorgeschlagen:
„ In der Rheinprovinz solle dem berechtigten Waldeigentümer die Befugnis zustehen, der Ortsbehörde die Sträflinge in der Art zur Ableistung der schuldigen Arbeit
zu überweisen, daß deren Arbeitstage auf die Kommunalweg-Handdienste, zu welchen
der Waldeigentümer in der Gemeinde verpflichtet ist, angerechnet respektive in Abzug
gebracht werden."
Es wurde dagegen eingewandt,
„daß die Bürgermeister nicht zu Exekutoren für einzelne Gemeindeglieder gebraucht
und die Arbeiten der Sträflinge nicht als Kompensation für Dienste angenommen
werden könnten, welche durch bezahlte Taglöhner oder Dienstleute verrichtet werden
müßten".
Der Referent bemerkt:
„wenn es auch eine Last für die Herren Bürgermeister sei, die unwilligen und aufgereizten Forststräflinge zur Arbeit anzuhalten, so liege es aber in den Funktionen
dieser Beamten, ungehorsame und böswillige Administrierte zur Pflicht zurückzuführen, und sei es nicht eine schöne Handlung, den Sträfling vom Abwege auf den
rechten Weg zurückzuführen. Wer habe auf dem Lande dazu mehr Mittel in Händen
als die Herren Bürgermeister1"
U n d es hatte sich Reineke ängstlich und traurig gebärdet,
Daß er manchen gutmütigen Mann zum Mitleid bewegte,
Lampe, der Hase, besonders war sehr bekümmert.1-100-1
Der Landtag akzeptierte den Vorschlag.
[„Rheinische Zeitung" Nr.305 vom 1. November 1842]
Der guteHerrBürgermeister soll eineLast übernehmen und eine schöne
Handlung vollziehen, damit der Herr Waldeigentümer seine Pflicht gegen
die Gemeinde ohne Unkosten abtragen kann. Mit demselben Rechte könnte
der Waldeigentümer den Bürgermeister als Oberküchenmeister oder als
Oberkellner in Anspruch nehmen. Ist es nicht eine schöne Handlung, wenn
der Bürgermeister Küche und Keller seiner Administrierten instand hält?
Der verurteilte Verbrecher ist kein Administrierter des Bürgermeisters, er
ist ein Administrierter des Gefängnisaufsehers. Verliert der Bürgermeister
nicht eben Mittel und Würde seiner Stellung, wenn man ihn aus einem Vorstand der Gemeinde zum Exekutor einzelner Gemeindeglieder, wenn man
ihn aus einem Bürgermeister zu einem Zuchtmeister macht? Werden nicht
die andern freien Gemeindeglieder verletzt, wenn ihre ehrliche Arbeit im
Dienste des Allgemeinen zur Strafarbeit im Dienste einzelner Individuen
herabsinkt?
Doch es ist überflüssig, diese Sophistereien aufzudecken. Der Herr Referent möge so gütig sein, uns selbst zu sagen, wie weltkluge Leute humane
Phrasen beurteilen. Er läßt den Waldbesitzer folgendermaßen den humanisierenden i4c^eriesj"teer haranguieren:
„Wenn einem Gutsbesitzer die Fruchtähre abgeschnitten werde, so würde der
Dieb sagen: ,ich habe kein Brot, darum nehme ich einige Ähren von dem großen
Stück, was Sie besitzen', so wie der Holzdieb sagt: ,ich habe kein Holz zu brennen,
darum stehle ich Holz'. Den Gutsbesitzer schütze der Artikel 444 des Kriminalködex c i 0 1 j , der eine Strafe von zwei bis fünf Jahren Gefängnis gegen das Abschneiden
der Ähre ausspreche; so einen mächtigen Schutz habe der Waldeigentümer nicht.
In diesem letzten neidisch-schielenden Ausruf des Waldeigentümers
liegt ein ganzes Glaubensbekenntnis. Ackerbesitzer, warum gerierst du dich
so großmütig, wenn es sich um mein Interesse handelt? Weil für dein In-
teresse schon gesorgt ist. Also keine Illusionen! Die Großmut kostet entweder nichts, oder sie bringt etwas ein. Also Ackerbesitzer, du blendest den
Waldbesitzer nicht! Also Waldbesitzer, blende den Bürgermeister nicht!
Dies eine Intermezzo würde beweisen, wie wenig Sinn „schöne Handlungen" in unserer Debatte haben können, bewiese nicht die ganze Debatte,
daß sittliche und humane Gründe hier nur als Phrasen ihr Unterkommen
finden. Aber das Interesse ist selbst geizig mit Phrasen. Es erfindet sie erst,
wenn's nottut, wenn es von erklecklichen Folgen ist. Dann wird es beredt,
das Blut rollt ihm schneller, es kommt nun sogar auf schöne Handlungen, die
ihm einbringen und andern kosten, auf schmeichlerische Worte, auf zutunliche Süßigkeiten nicht an, und das alles, das alles wird nur exploitiert, um
den Holzfrevel zu einer kulantem Münze des Waldeigentümers zu stempeln,
um ihn zu einem ergiebigen Hojzfrevler zu machen, um das Kapital, denn
der Holzfrevler ist dem Waldeigentümer zu einem Kapital geworden, bequemer anlegen zu können. Eis handelt sich nicht darum, den Bürgermeister
zum Besten des Holzfrevlers, es handelt sich darum, ihn zum Besten des
Waldeigentümers zu mißbrauchen. Welch ein merkwürdiges Geschick,
welch eine überraschende Tatsache, daß die seltenen Intervallen, in denen
ein problematisches Gut für den Frevler auch nur erwähnt, ein apodiktisches Gut dem Herrn Waldeigentümer versichert wird!
Noch ein Beispiel dieser humanen Inzidentpunkte!
Referent: „Das französische Gesetz kenne die Verwandlung der Gefängnisstrafe in
Forstarbeit nicht, er halte diese für eine weise und wohltätige, denn der Aufenthalt
im Gefängnis führe nicht immer zur Besserung und sehr oft zum Schlechterwerden."
Früher, als man Unschuldige zu Verbrechern machte, als ein Deputierter1
in bezug auf die Sammler von Raffholz bemerkte, man bringe sie durch die
Gefängnisse mit Gewohnheitsdieben zusammen, da waren die Gefängnisse
gut. Plötzlich haben sich die Verbesserungsanstalten metamorphosiert in
Verschlechterungsanstalten, denn in diesem Moment ist es zuträglich für
das Interesse des Waldeigentümers, daß die Gefängnisse verschlechtem.
Unter der Verbesserung der Verbrecher versteht man eine Verbesserung der
Prozente, wejche die Verbrecher dem Waldeigentümer abzuwerfen den hochherzigen Beruf haben.
Das Interesse hat kein Gedächtnis, denn es denkt nur an sich. Das eine,
worauf es ihm ankommt, sich selbst, vergißt es nicht. Auf Widersprüche aber
kommt es ihm nicht an, denn mit sich selbst gerät es nicht in Widersprüche.
Eis ist ein beständiger Improvisator, denn es hat kein System, aber es hat
Auskunftsmittel.
Während die humanen und rechtlichen Gründe nichts tun als
Ce qu'au bal nous autres sots humains,
Nous appelons faire tapisserie1,
sind die Auskunftsmittel die tätigsten Agenten im räsonierenden Mechanismus des Interesses. Wir bemerken unter diesen Auskunftsmitteln zwei, die
beständig in dieser Debatte wiederkehren und die Hauptkategorien bilden,
die „guten Motive" und die „nachteiligen Folgen". Wir sehen bald den Referenten des Ausschusses, bald ein anderes Landtagsmitglied jede zweideutige
Bestimmung mit dem Schild gewiegter, weiser und guter Motive vor den
Pfeilen des Widerspruchs decken. Wir sehen jede Konsequenz rechtlicher
Gesichtspunkte durch die Hinweisung auf die nachteiligen oder bedenklichen
Folgen abgelehnt. Untersuchen wir einen Augenblick diese geräumigen
Auskunftsmittel, diese Auskunftsmittel par excellence, diese Auskunftsmittel für alles und noch einiges andere.
Das Interesse weiß das Recht durch die Perspektive auf die nachteiligen
Folgen, durch seine Wirkungen in der Außenwelt anzuschwärzen; es weiß
das Unrecht durch gute Motive, also durch Zunickgehen in die Innerlichkeit
seiner Gedankenwelt weißzuwaschen. Das Recht hat schlechte Folgen in der
Außenwelt unter den bösen Menschen, das Unrecht hat gute Motive in der
Bnist des braven Mannes, der es dekretiert; beide aber, die guten Motive
und die nachteiligen Folgen, teilen die Eigentümlichkeit, daß sie die Sache
nicht in Beziehung auf sich selbst, daß sie das Recht nicht als einen selbständigen Gegenstand behandeln, sondern vom Recht ab entweder auf die Welt
hinaus oder auf den eigenen Kopf hineinweisen, daß sie also hinter dem
Rücken des Rechts manöverieren.
Was sind nachteilige Folgen? Daß man hierunter keine nachteiligen
Folgen für den Staat, das Gesetz, den Angeschuldigten zu verstehen hat, das
beweist unsere ganze Darstellung. Daß man ferner unter den nachteiligen
Folgen keine. nachteiligen Folgen für die bürgerliche Sicherheit begreift,
wollen wir in wenigen Zügen zur Evidenz steigern.
' Wir haben schon von Landtagsmitgliedern selbst gehört, wie die Bestimmung, „daß jeder nachweisen muß, woher er sein Holz hat", rauh und
verletzend in das bürgerliche Leben eingreife und jeden Bürger vexatorischen Schikanen preisgebe. Eine andere Bestimmung erklärt jeden für
einen Dieb, in dessen Gewahrsam sich gestohlenes Holz findet, obgleich ein
Deputierter2 erklärt:
1 Was wir einfältigen Menschen auf einem Ball Mauerblümchen spielen nennen Heinrich vom Baur
2
Johann
„dies könne manchem rechtlichen Manne gefährlich werden. In seiner Nähe sei jemandem gestohlenes Holz in den Hof geworfen und der Unschuldige zur Strafe gezogen worden."
Der §66 verurteilt jeden Bürger, der einen Besen kauft, welcher kein
monopolisierter Besen ist, zu einer Zuchthausstrafe von vier Wochen bis
zwei Jahren, wozu ein Stadtabgeordneter die Randglosse macht:
„Dieser Paragraph drohe den Bewohnern der Kreise Elberfeld, Lennep und S o lingen samt und sonders Zuchthausstrafe."
Endlich hat man die Aufsicht und Handhabung der Jagd- und Forstpolizei dem Militär sowohl zu einem Recht als zu einer Pflicht gemacht, obgleich der Artikel 9 der Kriminalordnung nur Beamte kennt, welche unter
der Aufsicht der Staatsprokuratoren stehen, also unmittelbar von diesen verfolgt werden können, was bei dem Militär nicht der Fall ist. Man bedroht
damit wie die Unabhängigkeit der Gerichte, so die Freiheit und Sicherheit
der Bürger.
Weit entfernt also, daß von nachteiligen Folgen für die bürgerliche
Sicherheit die Rede wäre, wird die bürgerliche Sicherheit selbst als ein
Umstand Von nachteiligen Folgen behandelt.
Was sind also nachteilige Folgen? Nachteilig ist, was dem Interesse des
Waldeigentümers nachteilig ist. Wenn also die Folgen des Rechts keine Erfolge seines Interesses sind, so sind es nachteilige Folgen. Und hier ist das
Interesse scharfsinnig. Sah es vorhin nicht, was die natürlichen Augen
zeigen, so sieht es jetzt sogar, was sich nur dem Mikroskop entdeckt. Die
ganze Welt ist ihm ein Dorn im Auge, eine Welt von Gefahren, eben weil
sie nicht die Welt eines, sondern die Welt vieler Interessen ist. Das Privatinteresse betrachtet sich als den Endzweck der Welt. Realisiert also das
Recht diesen Endzweck nicht, so ist es ein zweckwidriges Recht. Ein dem
Privatinteresse nachteiliges Recht ist also ein Recht von nachteiligen Folgen.
Sollten die guten Motive besser sein als die nachteiligen Folgen?
Das Interesse denkt nicht, es rechnet. Die Motive sind seine Zahlen. Das
Motiv ist ein Beweggrund, die Rechtsgründe aufzuheben, und wer zweifelt,
daß das Privatinteresse hierzu viele Beweggründe haben wird? Die Güte des
Motivs besteht in der zufälligen Geschmeidigkeit, womit es den objektiven
Tatbestand zu entrücken und sich und andere in die Täuschung einzuwiegen
weiß, nicht die gute Sache sei zu denken, sondern bei einer schlechten
Sache genüge der gute Gedanke.
Unsern Faden wieder aufnehmend, bringen wir zunächst ein Seitenstück
zu den dem Herrn Bürgermeister empfohlenen schönen Handlungen.
„ § 3 4 wurde vom Ausschuß eine veränderte Fassung in folgenderWeise vorgeschlagen: Wird das Erscheinen des protokollierenden Schutzbeamten von dem
Beschuldigten veranlaßt, so hat derselbe die desfallsigen Kosten vordersamst bei dem
Forstgerichte zu deponieren."
Der Staat und das Gericht sollen nichts unentgeltlich im Interesse des
Beschuldigten tun. Sie sollen sich vordersamst bezahlen lassen, wodurch
offenbar vordersamst die Konfrontation des denunzierenden Schutzbeamten
und des Angeschuldigten erschwert wird.
Eine schöne Handlung! Nur eine einzige schöne Handlung! Ein Königreich für eine schöne Handlung! Aber die einzige schöne Handlung, die in
Vorschlag gebracht wird, soll der Herr Bürgermeister zum Besten des Herrn
Waldeigentümers vollziehen. Der Bürgermeister ist der Repräsentant der
schönen Handlungen, ihr menschgewordener Ausdruck, und man hat die
Reihe der schönen Handlungen mit der Last, die man dem Bürgermeister
aufzuerlegen die wehmütige Aufopferung besaß, erschöpft und für immer
geschlossen.
Wenn der Herr Bürgermeister im Dienst des Staates und zum sittlichen
Besten des Verbrechers mehr tun soll als seine Pflicht, sollten die Herrn
Waldeigentümer zu demselben Guten nicht weniger fordern, als ihr Interesse ist?
Man könnte die Antwort auf diese Frage schon in dem bisher behandelten
Teil der Debatten niedergelegt glauben, aber man irrt. Wir kommen zu den
Straßestimmungen.
„Ein Deputierter der Ritterschaft 1 hielt den Waldeigentümer immer noch nicht für
hinlänglich entschädigt, wenn ihm selbst die Strafgelder außer der Erstattung des einfachen Werts zufielen, die häufig nicht einziehbar sein würden."
E n Abgeordneter der Städte2 bemerkt:
„ D i e Bestimmungen dieses Paragraphen (§ 15) könnten zu den bedenklichsten
Folgen führen. Der Waldeigentümer erhalte auf diese Weise dreifache Entschädigung,
nämlich den Wert, vier-, sechs- oder achtfache Strafe und noch besöndern Schadenersatz, welcher oft ganz arbiträr ermittelt und mehr das Resultat einer Fiktion als der
Wirklichkeit sein werde. Jedenfalls scheine ihm angeordnet werden zu müssen, daß
die fragliche besondere Entschädigung gleich am Forstgericht vorgefordert und im
Forsturteil zugesprochen werden müsse. Daß der Beweis des Schadens besonders geliefert und nicht lediglich auf das Protokoll gegründet werden könne, liege in der Natur
der Sache."
Es wurde hiegegen durch den Herrn Referenten und ein anderes Mitglied3
erläutert, wie der hier angeführte Mehrwert sich in verschiedenen von ihnen
bezeichneten Fällen ergeben könne. Der Paragraph ward angenommen.
1
Eduard Bergh von Trips -
2
Joseph Friedrich Brust -
3
Carl Friedrich von Loe
Das Verbrechen wird zu einer Lotterie, in welcher der Waldeigentümer,
wenn das Glück will, sogar noch Gewinste ziehen kann. Es kann sich ein
Mehrwert ergeben, aber es kann auch der Waldeigentümer, der schön den
einfachen Wert erhält, durch die vier-, sechs- oder achtfache Strafe ein
Geschäft machen. Erhält er aber außer dem einfachen Wert noch besonderri Schadenersatz, so ist die vier-, sechs- oder achtfache Strafe jedenfalls
reiner Gewinn. Glaubt ein Mitglied des Ritterstandes, die zufallenden Strafgelder seien keine hinreichenden Garantien, weil sie häufig nicht einziehbar
sein würden, so werden sie dadurch doch keinenfalls einziehbar, daß außer
ihnen noch Wert und Schadenersatz einzuziehen sind. Wir werden übrigens
sehen, wie man dieser Nichteinziehbarkeit ihren Stachel zu rauben weiß.
Konnte der Waldeigentümer sein Holz besser assekurieren, als es hier
geschehen ist, wo man das Verbrechen in eine Rente verwandelt hat? Ein
geschickter Feldherr, verwandelt er den Angriff auf sich in eine unfehlbare
Gelegenheit siegreichen Gewinnes, denn sogar der Mehrwert des Holzes, die
ökonomische Schwärmerei, verwandelt sich durch den Diebstahl in eine
Substanz. Dem Waldeigentümer muß nicht allein seih Holz, sondern! auch
sein Holzgeschäft garantiert werden, während die bequeme Huldigung, die
er seinem Geschäftsführer, dem Staat, darbringt, darin besteht, daß er ihn
nicht bezahlt. Es ist ein exemplarischer Einfall, die Strafe des Verbrechens
aus einem Siege des Rechts gegen die Attentate auf das Recht in einen Sieg
des Eigennutzes gegen die Attentate auf den Eigennutz zu verwandeln.
Wir machen unsere Leser aber vorzugsweise auf die Bestimmung des
§ 14 aufmerksam, eine Bestimmung, wobei man sich der Gewohnheit entschlagen muß, die leges barbarorum195-1 für Gesetze, der Barbaren zu halten.
Die Strafe nämlich als solche, die Wiederherstellung des Rechts, wohl zu
unterscheiden von der Erstattung des Wertes und dem Schadenersatze, der
Wiederherstellung des Privateigentums, wird aus einer öffentlichen Strafe zu
einer Privatkomposition, die Strafgelder fließen nicht in die Staatskasse, sondern in die Privatkasse des Waldeigentümers.
Ein Abgeordneter der Städte meint zwar: „Dies widerstreite der Würde
des Staats und den Prinzipien einer guten Strafrechtspflege", aber ein Deputierter der Ritterschaft1 appelliert an das Rechts- und Billigkeitsgefühl der
Versammlung zum Schutz des Interesses des Waldeigentümers, also an ein
apartes Rechts- und Billigkeitsgefühl.
Die barbarischen Völker lassen dem Beschädigten für ein bestimmtes
Verbrechen eine bestimmte Komposition (Sühngeld) zahlen. Der Begriff
der öffentlichen Strafe kam erst im Gegensatz zu dieser Ansicht auf, die im
Verbrechen nur eine Verletzung des Individuums erblickt, aber das Volk
und die Theorie müssen noch erfunden werden, welche dem Individuum die
Privat- und die Staatsstrafe zu vindizieren die Gefälligkeit besitzen.
Ein vollständiges qui pro quo 1 muß die Landstände verführt haben. Der
gesetzgebende Waldeigentümer verwechselte einen Augenblick die Personen,
sich als Gesetzgeber und sich als Waldeigentümer. Das eine Mal ließ er sich
als Waldeigentümer das Holz, und das andere Mal ließ er sich als Gesetzgeber die verbrecherische Gesinnung des Diebs bezahlen, wobei es sich ganz
zufällig traf, daß der Waldeigentümer beide Male bezahlt wurde. Wir stehen
also nicht mehr bei dem einfachen droit des seigneurs2. Wir sind durch die
Epoche des öffentlichen Rechts zur Epoche des verdoppelten, des potenzierten Patrimonialrechts gelangt. Die Patrimonialeigentümer benutzen den
Fortschritt der Zeit, der die Widerlegung ihrer Forderung ist, um sowohl die
Privatstrafe der barbarischen Weltanschauung als auch die öffentliche Strafe
der modernen Weltanschauung zu usurpieren.
Durch die Erstattung des Werts und noch gar eines besondern Schadenersatzes existiert kein Verhältnis mehr zwischen dem Holzdieb und dem
Waldeigentümer, denn die Holzverletzung ist vollständig aufgehoben. Beide,
Dieb und Eigentümer, sind in die Integrität ihres frühern Zustandes zurückgetreten. Der Waldeigentümer ist bei dem Holzdiebstahl nur soweit affiziert,
als das Holz, aber nicht soweit, als das Recht verletzt ist. Nur die sinnliche
Seite des Verbrechers trifft ihn, aber das verbrecherische Wesen der Handlung ist nicht die Attacke auf das materielle Holz, sondern die Attacke auf
die Staatsader des Holzes, auf das Eigentumsrecht als solches, die Verwirklichung der unrechtlichen Gesinnung. Hat der Waldeigentümer Privatansprüche auf die rechtliche Gesinnung des Diebes, und was sollte die Vervielfachung der Strafe bei Wiederholungsfällen anders sein als eine Strafe der
verbrecherischen Gesinnung? Oder kann der Waldeigentümer Privatforderungen haben, wo er keine Privatansprüche hat? War der Waldeigentümer vor dem Holzdiebstahle der Staat? Nein, aber er wird es nach dem
Holzdiebstahl. Das Holz besitzt die merkwürdige Eigenschaft, sobald es gestohlen wird, seinem Besitzer Staatsqualitäten zu erwerben, die er früher
nicht besaß. Der Waldeigentümer kann doch nur zurückerhalten, was ihm
genommen wurde. Wird ihm der Staat zurückgegeben, und er wird ihm
zurückgegeben, wenn er außer dem Privatrecht das Staatsrecht auf den Frevler
erhält, so muß ihm auch der Staat geraubt werden, so muß der Staat sein
Privateigentum gewesen sein. Der Holzdieb trug also, ein zweiter Christopherus, in den gestohlenen Blöcken den Staat selbst auf seinem Rücken.
Die öffentliche Strafe ist die Ausgleichung des Verbrechens mit der
Staatsvernunft, sie ist daher ein Recht des Staates, aber sie ist ein Recht des
Staates, welches er sowenig an Privatleute zedieren, als ein Individuum dem
andern sein Gewissen abtreten kann. Jedes Recht des Staats gegen den Verbrecher ist zugleich ein Staatsrecht des Verbrechers. Sein Verhältnis zum
Staat kann durch kein Unterschieben von Mit[tel]gliedem in ein Verhältnis
zu Privaten verwandelt werden. Wollte man dem Staat selbst das Aufgeben
seiner Rechte, den Selbstmord, gestatten, so wäre doch immerhin das Aufgeben seiner Pflichten nicht nur eine Nachlässigkeit, sondern ein Verbrechen.
Der Waldeigentümer kann also ebensowenig durch den Staat ein Privatrecht auf die öffentliche Strafe erhalten, als er an und für sich irgendein denkbares Recht darauf besitzt. Wenn ich aber die verbrecherische Tat eines
Dritten in Ermangelung rechtlicher Ansprüche zu einer selbständigen Erwerbsquelle mir gestalte, werde ich dadurch nicht sein Mitschuldiger? Oder
bin ich weniger sein Mitschuldiger, weil ihm die Strafe und mir der Genuß
des Verbrechens zufällt? Die Schuld wird nicht gemildert, wenn ein Privatmann seine Qualität als Gesetzgeber dazu mißbraucht, sich selber Staatsrechte durch das Verbrechen Dritter zu arrogieren. Der Unterschleif öffentlicher Staatsgelder ist ein Staatsverbrechen, und sind die Strafgelder keine
öffentlichen Staatsgelder?
Der Holzdieb hat dem Waldeigentümer Holz entwendet, aber der Waldeigentümer hat den Holzdieb dazu benutzt, den Staat selbst zu entwenden.
Wie wörtlich wahr dies ist, beweist § 19, wo man nicht dabei stehenbleibt,
die Geldstrafe, sondern auch Leib und lieben des Angeklagten in Anspruch zu
nehmen. Nach § 19 wird der Forstfrevler durch eine für den Waldeigentümer zu leistende Forstarbeit ganz in dessen Hände gegeben, was nach
einem Deputierten der Städte1
„zu großen Inkonvenienzen führen könne. Er wolle nur auf die Gefährlichkeit dieser
Vollziehungsweise bei Personen des andern Geschlechts aufmerksam machen."
Ein Deputierter der Ritterschaft2 gibt die ewig denkwürdige Erwiderung:
„daß es zwar ebenso notwendig als zweckmäßig sei, bei der Diskussion eines Gesetzentwurfes vorab die Prinzipien desselben zu erörtern und festzustellen, daß aber, wenn
dies einmal geschehen, darauf nicht wieder bei Erörterung jedes einzelnen Paragraphen
zurückgegangen werden könne",
worauf der Paragraph ohne Widerspruch angenommen wurde.
1
Joseph Friedrich Brust -
2
Maximilian von Loe
Seid so geschickt, von schlechten Prinzipien auszugehen, und ihr erhaltet einen unfehlbaren Rechtstitel auf die schlechten Konsequenzen. Ihr
könntet zwar meinen, die Nichtigkeit des Prinzips offenbare sich in der Abnormität seiner Konsequenzen, aber wenn ihr Weltbildung besitzt, so werdet
ihr einsehen, daß der Kluge bis auf die letzte Konsequenz ausschöpft, was
er einmal durchgesetzt hat. Es wundert uns nur, daß der Waldeigentümer
nicht auch seinen Ofen mit den Walddieben heizen darf. Da die Frage sich
nicht um das Recht, sondern um die Prinzipien dreht, von denen der Landtag
auszugehen beliebt, so stände dieser Konsequenz auch nicht ein Sandkorn
im Wege,
In direktem Widerspruch mit dem eben aufgestellten Dogma belehrt uns
ein kurzer Rückblick, wie nötig es gewesen wäre, bei jedem Paragraphen
von neuem die Prinzipien zu diskutieren, wie man durch die Votierung
scheinbar zusammenhangloser und in gehöriger Distanz voneinander gehaltener Paragraphen eine Bestimmung nach der andern erschlichen hat und
nach Erschleichung der ersten in der folgenden nun auch den Schein der
Bedingung fallenließ, unter der die erste allein annehmbar war.
[„Rheinische Zeitung" Nr. 307 vom 3. November 1842]
Als es sich bei § 4 davon handelte, dem denunzierenden Schutzbeamten die Schätzung zu überlassen, bemerkte ein Stadtverordneter:
„Würde der Vorschlag nicht beliebt werden, das Strafgeld in die Staatskasse
fließen zu lassen, so sei die vorliegende Bestimmung doppelt gefährlich."
Und es ist klar, daß der Forstbeamte nicht dasselbe Motiv zur Überschätzung hat, wenn er für den Staat, als wenn er für seinen Brotherrn
taxiert. Man war so geläufig, diesen Punkt nicht zu erörtern, man ließ den
Schein bestehen, als könne § 14, der die Strafgelder dem Waldeigentümer zuspricht, verworfen werden. Man hat den § 4 durchgesetzt. Nach der Votierung von zehn Paragraphen kommt man endlich auf § 14, durch welchen der
§ 4 einen veränderten und gefährlichen Sinn erhält. Dieser Zusammenhang
wird gar nicht berührt, der § 14 wird angenommen, und die Strafgelder werden der Privatkasse des Waldeigentümers zugewiesen. Der Hauptgrund, ja
der einzige Grund, der hierfür angeführt wird, ist das Interesse des Waldeigentümers, das durch die Erstattung des einfachen Werts nicht hinlänglich
gedeckt sei. Aber im § 15 vergißt man wieder, daß man die Strafgelder dem
Waldeigentümer votiert hat, und dekretiert ihm außer dem einfachen Wert
noch besondern Schadenersatz, weil ein Mehrwert denkbar, als wenn er nicht
schon durch die zufließenden Strafgelder ein Mehr erhalten. Man hat sogar
10 Marx/Engels, Werke, Bd. I
noch bemerkt, daß die Strafgelder nicht immer einziehbar wären. Man stellte
sich also, als wolle man nur in bezug auf das Geld an die Staatsstelle treten,
aber im § 19 wirft man die Maske weg und vindiziert sich nicht nur das Geld,
sondern den Verbrecher selbst, nicht nur den Beutel des Menschen, sondern
den Menschen.
An dieser Stelle tritt die Methode der Subreption scharf und unumwunden
hervor, ja in selbstbewußter Klarheit, denn sie steht nicht mehr an, sich als
Prinzip zu proklamieren.
Der einfache Wert und der Schadenersatz geben dem Waldeigentümer
offenbar nur eine Privatforderung gegen den Holzfrevler, zu deren Realisation
ihm die Zivilgerichte offenstehen. Kann der Holzfrevler nicht zahlen, so b e findet sich der Waldeigentümer in der Lage jedes Privatmannes, der einen
zahlungsunfähigen Schuldner hat und dadurch bekanntlich kein Recht auf
Zwangsarbeit, Dienstleistung, mit einem Wort temporelle Leibeigenschaft des
Schuldners erhält. Was gibt also dem Waldeigentümer diesen Anspruch? Die
Strafgelder. Indem der Waldeigentümer sich die Strafgelder vindizierte, hat
er, wie wir gesehen, außer seinem Privatrecht sich ein Staatsrecht an den Holzfrevler vindiziert und sich selbst an die Stelle des Staats gesetzt. Aber indem
der Waldeigentümer sich die Strafgelder zusprach, verheimlichte er klugerweise, daß er sich die Strafe selbst zugesprochen hat. Er zeigte damals auf die
Strafgelder als auf einfache Gelder, er zeigt jetzt auf sie als Strafe hin, er bekennt jetzt triumphierend, daß er durch die Strafgelder das öffentliche Recht
in sein Privateigentum verwandelt hat. Statt vor dieser ebenso verbrecherischen als empörenden Konsequenz zurückzubeben, nimmt man die Konsequenz in Anspruch, eben weil sie eine Konsequenz ist. Behauptet der gesunde
Menschenverstand, es widerstreite unserm, es widerstreite allem Recht, einen
Staatsbürger dem andern als temporellen Leibeigenen auszuliefern und zu
überweisen, so erklärt man achselzuckend, die Prinzipien seien erörtert, obgleich weder Prinzip noch Erörterung stattfand. Auf diese Weise erschleicht
der Waldeigentümer durch die Strafgelder die Person des Holzfrevlers. Der
§ 19 offenbart erst den Doppelsinn des § 14.
So sieht man, der § 4 hätte durch den § 14, der § 14 hätte durch den § 15,
der § 15 hätte durch den § 19, der § 19 hätte schlechtweg unmöglich sein und
das ganze Strafprinzip unmöglich machen müssen, eben weil in ihm die ganze
Verworfenheit dieses Prinzips erscheint.
Man kann das divide et impera nicht geschickter handhaben. Bei dem
vorhergehenden Paragraphen denkt man nicht an den nachfolgenden, und
bei dem nachfolgenden Paragraphen vergißt man den vorhergehenden. Der
eine ist schon diskutiert, und der andere ist noch nicht diskutiert, so daß beide
durch die entgegengesetzten Gründe über alle Diskussion erhaben sind. Das
anerkannte Prinzip aber ist „das Rechts- und Billigkeitsgefühl zum Schutz
des Interesses des Waldeigentümers", welches direkt entgegensteht dem
Rechts- und Billigkeitsgefühl zum Schutz des Interesses des Lebenseigentümers, des Freiheitseigentümers, des Menschheitseigentümers, des Staatseigentümers, des Eigentümers von nichts als sich selbst.
Doch wir sind einmal so weit. - Der Waldeigentümer erhalte an die Stelle
des Holzblockes einen ehemaligen Menschen.
Shyhck.
Porcia.
Höchst weiser Richter! - Spruch war's - macht euch fertig.
Wart* noch ein wenig; eins ist noch zu merken.
Der Schein hier gibt dir nicht ein Tröpfchen Blut,
Die Worte sind ausdrücklich, ein Pfund Fleisch,
N i m m denn den Schein und nimm du dein Pfund Fleisch;
Allein vergießest du, indem du's schneidest,
Nur einen Tropfen Christenblut, so fällt
Dein Hab und Gut, nach dem Gesetz Venedigs
D e m Staat Venedigs heim.
Graciano.
0 weiser Richter! - merk Jud! ein weiser Richter.
Shylock.
Ist das Gesetz?
Porcia.
D u sollst die Akte sehen.11021
Und ihr sollt die Akte sehen!
Worauf begründet ihr euern Anspruch an die Leibeigenschaft des Holzfrevlers? Auf die Strafgelder. Wir haben gezeigt, daß ihr kein Recht an die
Strafgelder habt. Wir sehen hievon ab. Was ist euer Grundprinzip? Daß das
Interesse des Waldeigentümers, gehe auch die Welt des Rechts und der Freiheit darüber zugrunde, gesichert werde. Es steht euch unerschütterlich fest,
daß euer Holzschaden auf irgendeine Weise durch den Holzfrevler zu kompensieren ist. Diese feste Holzunterlage eures Räsonnements ist so morsch,
daß ein einziger Windzug der gesunden Vernunft sie in tausend Trümmer
auseinanderstreut.
Der Staat kann und muß sagen: ich garantiere das Recht gegen alle Zufälle. Das Recht allein ist in mir unsterblich, und darum beweise ich euch die
Sterblichkeit des Verbrechens, indem ich es aufhebe. Aber der Staat kann
und darf nicht sagen: ein Privatinteresse, eine bestimmte Existenz des Eigentums, eine Waldhut, ein Baum, ein Holzsplitter, und gegen den Staat ist der
größte Baum kaum ein Holzsplitter, ist gegen alle Zufälle garantiert, ist unsterblich. Der Staat kann nicht an gegen die Natur der Dinge, er kann das
Endliche nicht gegen die Bedingungen des Endlichen, nicht gegen den Zufall
stichfest machen. Sowenig euer Eigentum Vor dem Verbrechen von dem
Staat gegen jeden Zufall garantiert werden konnte, sowenig kann das Verbrechen diese unsichere Natur eures Eigentums ins Gegenteil verkehren.
Allerdings wird der Staat euer Privatinteresse sichern, soweit es durch vernünftige Gesetze und vernünftige Präventivmaßregeln gesichert werden kann,
aber der Staat kann euerer Privatforderung an den Verbrecher kein anderes
Recht zugestehen als das Recht der Privatforderungen, den Schutz der Zivilgerichtsbarkeit. Könnt ihr euch auf diesem Wege wegen der Mittellosigkeit
des Verbrechers keine Kompensation verschaffen, so folgt weiter nichts, als
daß jeder rechtliche Weg zu dieser Kompensation aufgehört hat. Die Welt
fällt deswegen nicht aus ihren Angeln, der Staat verläßt deswegen nicht die
Sonnenbahn der Gerechtigkeit, und ihr habt die Vergänglichkeit alles Irdischen erfahren, eine Erfahrung, die euerer gediegenen Religiosität kaum als
pikante Neuigkeit oder wunderlicher als Stürme, Feuersbrunst und Fieber
erscheinen wird. Wollte der Staat aber den Verbrecher zu eurem temporellen
Leibeigenen machen, so opferte er die Unsterblichkeit des Rechts eurem endlichen, Privatinteresse. Er bewiese also dem Verbrecher die Sterblichkeit des
Rechts, dessen Unsterblichkeit er ihm in der Strafe beweisen muß.
Als Antwerpen zu König Philipps Zeiten die Spanier durch Überschwemmung seines Gebiets leicht hätte abhalten können, gab es die Metzgerzunft
nicht zu, weil sie fette Ochsen auf der Weide hatte.1-103-1 Ihr verlangt, daß der
Staat sein geistiges Gebiet aufgebe, damit euer Holzblock gerächt werde.
Es sind noch einige Nebenbestimmungen des § 16 zu referieren. Ein Abgeordneter der Städte1 bemerkt:
„Nach der bisherigen Gesetzgebung würden acht Tage Gefängnis einer Geldstrafe
von fünf Talern gleichgerechnet. Es sei kein genügender Grund vorhanden, hiervon
abzugehen." (Nämlich statt der acht Tage vierzehn Tage zu °stzen.)
Zu demselben Paragraphen hatte der Ausschuß folgenden Zusatz vorgeschlagen:
„daß in keinem Falle die Gefängnisstrafe weniger als 24 Stunden währen solle".
Als man bemerkte, daß dies Minimum zu stark sei, führte dagegen ein
Mitglied aus dem Stande der Ritterschaft2 an,
„daß das französische Forstgesetz ein geringeres Strafmaß als drei Tage nicht enthalte".
Derselbe Atemzug, der gegen die Bestimmung des französischen Gesetzes
fünf Taler statt mit acht mit vierzehn Tagen Gefängnis kompensiert, sträubt
sich aus Devotion gegen das französische Gesetz, drei Tage in 24 Stunden zu
verwandeln.
1
Joseph Friedrich Brust -
2
Cornelius Leonard Joseph Wergifosse
D e r o b e n e r w ä h n t e Stadtdeputierte b e m e r k t f e r n e r :
„wenigstens würde es sehr hart sein, bei Holzentwendungen, die doch immer nicht als
ein schwer zu bestrafendes Verbrechen angesehen werden können, für eine Geldbuße
von fünf Talern vierzehn Tage Gefängnis eintreten zu lassen. Das werde dazu führen,
daß der Bemittelte, welcher sich mit Geld loskauft, nur einfach, der Arme aber doppelt
bestraft werde."
Ein Abgeordneter der Ritterschaft1 erwähnt, daß in der Umgebung von
Cleve viele Forstfrevel verübt würden, bloß um Aufnahme in das Arresthaus
und die Gefangenenkost zu erhalten. Beweist dieser Abgeordnete der Ritterschaft nicht eben, was er widerlegen will, daß reine Notwehr gegen Hunger
und Obdachlosigkeit die Leute zum Holzfreveln treibt? Ist diese entsetzliche
Not ein aggravierender Umstand?
Der obenerwähnte Stadtdeputierte:
„ D i e schon gerügte Schmälerung der Kost müsse er zu hart und besonders bei
Strafarbeiten für ganz unausführbar halten."
Von mehreren Seiten wird gerügt, daß die Schmälerung der Kost bis zu
Wasser und Brot zu hart sei. Ein Deputierter der Landgemeinde2 bemerkte:
daß im Regierungsbezirk Trier die Schmälerung der Kost bereits eingeführt
sei und sich als sehr wirksam erwiesen habe.
Warum will der ehrenwerte Redner in Brot und Wasser grade die Ursache
der guten Wirkung zu Trier finden, warum nicht etwa in der Verstärkung des
religiösen Sinnes, von dem der Landtag so viel und so rührend zu sprechen
wußte? Wer hätte damals geahnt, daß Wasser und Brot die wahren Gnadenmittel! In gewissen Debatten glaubte man das englische Heiligenparlament1-104-1 hergestellt - und jetzt? Statt Gebet und Vertrauen und Gesang,
Wasser und Brot, Gefängnis und Forstarbeit! Wie freigebig paradierte man
mit Worten, um den Rheinländern einen Stuhl im Himmel zu verschaffen,
wie freigebig ist man wieder mit Worten, um eine ganze Klasse von Rheinländern bei Wasser und Brot zur Forstarbeit zu peitschen, ein Einfall, den
sich ein holländischer Plantagenbesitzer kaum gegen seine Neger erlauben
wird. Was beweist das alles? Daß es leicht ist, heilig zu sein, wenn man nicht
menschlich sein will. So wird man den Passus verstehen:
„Die Bestimmung des § 23 fand ein Landtagsmitglied3 unmenschlich; sie wurde
nichtsdestoweniger angenommen."
Außer der Unmenschlichkeit wird von diesem Paragraphen nichts berichtet.
Unsere ganze Darstellung hat gezeigt, wie der Landtag die exekutive Gewalt, die administrativen Behörden, das Dasein des Angeklagten, die Staatsidee, das Verbrechen selbst und die Strafe zu materiellen Mitteln des Privat1
von Rynsch -
3
Peter Maria Benedikt Bender -
3
Johann Heinrich vom Baur
interesses herabwürdigt. Man wird es konsequent finden, daß auch das richterliche Urteil als bloßes Mittel und die Rechtskräftigkeit des Urteils als überflüssige Weitläufigkeit behandelt wird.
In § 6 wünscht der Ausschuß das Wort „rechtskräftig" zu streichen, da
durch Aufnahme desselben bei Kontumazialerkenntnissen den Holzdieben
ein Mittel an die Hand gegeben würde, sich der verschärften Strafe für
Wiederholungsfälle zu entziehen; es wird aber dagegen durch mehrere Abgeordnete protestiert und bemerkt, man müsse sich der vom Ausschuß vorgeschlagenen Beseitigung des Ausdrucks: „rechtskräftig Urteil" in dem § 6
des Entwurfs widersetzen. Diese Bezeichnung der Urteile sei gewiß nicht
ohne juristische Erwägung an dieser Stelle sowie im Paragraphen aufgenommen. Allerdings würde die Absicht der strengern Bestrafung der Rezidive
dann leichter und häufiger erfüllt werden, wenn jede erste richterliche Sentenz
hinreichte, um die Anwendung der schärfern Strafe zu begründen. Es sei aber
zu bedenken, ob man in dieser Art den von dem Referenten hervorgehobenen
Interessen der Forsthut ein wesentliches Rechtsprinzip opfern wolle. Man könne
damit sich nicht einverstanden erklären, daß mit Verletzung eines unbestreitbaren Grundsatzes des Rechtsverfahrens einem Urteile, welches noch keinen
gesetzlichen Bestand habe, eine solche Wirkung beigelegt werde. Ein anderer
Abgeordneter der Städte trug ebenfalls auf Verwerfung des Amendements
vom Ausschusse an. Dasselbe verstoße gegen die Bestimmungen des Strafrechts, wonach nie eine Verschärfung der Strafe eintreten könne, bis die erste
Strafe durch rechtskräftiges Urteil festgestellt sei.
Der Referent erwidert:
„das Ganze sei ein exzeptionelles Gesetz und also auch eine exzeptionelle Bestimmung wie
die vorgeschlagene darin zulässig". „Vorschlag des Ausschusses zur Streichung von
rechtskräftig genehmigt.
Das Urteil ist bloß vorhanden, um die Rezidive zu konstatieren. Die gerichtlichen Formen erscheinen der begehrlichen Unruhe des Privatinteresses
als beschwerliche und überflüssige Hindernisse einer pedantischen Rechtsetikette. Der Prozeß ist nur ein sicheres Geleit, das man dem Gegner zum
Gefängnis gibt, eine bloße Vorbereitung zur Exekution, und wo er mehr sein
will, wird er zum Schweigen gebracht. Die Angst des Eigennutzes späht,
berechnet, kombiniert aufs akkurateste, wie der Gegner das Rechtsterrain,
das man als ein notwendiges Übel gegen ihn betreten muß, für sich ausbeuten
könne, und man kommt ihm zuvor durch die umsichtigsten Gegenmanöver.
Man stößt auf das Recht selbst als Hindernis bei der ungezügelten Geltendmachung seines Privatinteresses, und man behandelt das Recht als ein Hindernis. Man marktet, man feilscht mit ihm, man handelt ihm hie und da einen
Grundsatz ab, man beschwichtigt es durch die flehendste Hinweisung auf das
Recht des Interesses, man klopft ihm auf die Schultern, man flüstert ihm ins
Ohr, das seien Ausnahmen und keine Regel ohne Ausnahme, man sucht das
Recht gleichsam durch den Terrorismus und die Akkuratesse, die man ihm
gegen den Feind gestattet, zu entschädigen für die schlüpfrige Gewissensweitheit, mit der man es als Garantie des Angeklagten und als selbständigen
Gegenstand behandelt. Das Interesse des Rechts darf sprechen, insoweit es
das Recht des Interesses ist, aber es muß schweigen, sobald es mit diesem
Heiligen kollidiert.
Der Waldeigentümer, der selbst gestraft hat, ist so konsequent, auch selbst
zu richten, denn er richtet offenbar, indem er ein Urteil ohne rechtskräftige
Geltung für rechtskräftig erklärt. Welch eine törichte, unpraktische Illusion
ist überhaupt ein parteiloser Richter, wenn der Gesetzgeber parteiisch ist?
Was soll ein uneigennütziges Urteil, wenn das Gesetz eigennützig ist? Der
Richter kann den Eigennutz des Gesetzes nur puritanisch formulieren, nur
rücksichtslos anwenden. Die Parteilosigkeit ist dann die Form, sie ist nicht
der Inhalt des Urteils. Den Inhalt hat das Gesetz antizipiert. Wenn der
Prozeß nichts als eine gehaltlose Form ist, so hat solche formale Lappalie
keinen selbständigen Wert. Nach dieser Ansicht würde chinesisches Recht
französisches Recht, wenn man es in die französische Prozedur einzwängte,
aber das materielle Recht hat seine notwendige, eingeborne Prozeßform, und so
notwendig im chinesischen Recht der Stock, so notwendig zu dem Inhalt der
hochnotpeinlichen Halsgerichtsordnung die Tortur als Prozeßform gehört, so
notwendig gehört züm öffentlichen freien Prozeß ein seiner Natur nach öffentlicher, durch die Freiheit und nicht durch das Privatinteresse diktierter Gehalt.
Der Prozeß und das Recht sind so wenig gleichgültig gegeneinander, als etwa
die Formen der Pflanzen und Tiere gleichgültig sind gegen das Fleisch und
das Blut der Tiere. Es muß ein Geist sein, der den Prozeß und der die Gesetze
beseelt, denn der Prozeß ist nur die Lebensart des Gesetzes, also die Erscheinung seines innern Lebens.
Die Seeräuber von Tidong brechen den Gefangenen, um sich ihrer zu versichern, Arme und Beine. Um sich der Forstfrevler zu versichern, hat der
Landtag dem Rechte nicht nur Arme und Beine gebrochen, sondern sogar
das Herz durchbohrt. Wir erachten hiergegen sein Verdienst um die Wiedereinführung unseres Prozesses in einigen Kategorien als eine wahre Nullität;
wir müssen im Gegenteil die Offenherzigkeit und Konsequenz anerkennen,
die dem unfreien Gehalt eine unfreie Form gibt. Bringt man materiell das
Privatinteresse, welches das Licht der Öffentlichkeit nicht erträgt, in unser
Recht hinein, so gebe man ihm auch seine angemessene Form, heimliches
Verfahren, damit wenigstens keine gefährlichen, selbstgefälligen Illusionen
erweckt und genährt werden. Wir halten es für die Pflicht aller Rheinländer
und vorzugsweise der rheinischen Juristen, in diesem Augenblicke ihre
Hauptaufmerksamkeit dem Rechtsgehalt zu widmen, damit uns nicht zuletzt
die leere Maske zurückbleibt. Die Form hat keinen Wert, wenn sie nicht die
Form des Inhalts ist.
Der eben besprochene Vorschlag des Ausschusses und das billigende
Votum des Landtags sind der Blütenpunkt der ganzen Debatte, denn die
Kollision zwischen dem Interesse der Forsthut und den Rechtsprinzipien, den
durch unser eigenes Gesetz sanktionierten Rechtsprinzipien, tritt hier in das
Bewußtsein des Landtags selbst. Der Landtag hat darüber abgestimmt, ob
die Rechtsprinzipien dem Interesse der Forsthut zu opfern seien oder das
Interesse der Forsthut den Rechtsprinzipien, und das Interesse hat das Recht
überstimmt. Man hat sogar eingesehen, daß das ganze Gesetz eine Exzeption
vom Gesetz und deshalb gefolgert, daß jede exzeptionelle Bestimmung darin
zulässig sei. Man beschränkte sich darauf, Konsequenzen zu ziehen, die der
Gesetzgeber versäumt hat. Überall, wo der Gesetzgeber vergaß, daß es sich
um eine Exzeption vom Gesetz und nicht von einem Gesetz handelt; wo er
den rechtlichen Standpunkt geltend macht, da tritt die Tätigkeit unseres
Landtags mit sicherem Takt berichtigend und ergänzend hinzu und läßt das
Privatinteresse dem Recht Gesetze geben, wo das Recht dem Privatinteresse
Gesetze gab.
Der Landtag hat also Vollkommen seine Bestimmung erfüllt. Er hat, wozu er
berufen ist, ein bestimmtes5on</ennferesse vertreten und als letzten Endzweck
behandelt. Daß er dabei das Recht mit Füßen trat, ist eine einfache Konsequenz seiner Aufgabe, denn das Interesse ist seiner Natur nach blinder, maßloser, einseitiger, mit einem Worte gesetzloser Naturinstinkt, und kann das
Gesetzlose Gesetze geben? Das Privatinteresse wird so wenig zum Gesetzgeben befähigt dadurch, daß man es auf den Thron des Gesetzgebers setzt,
als ein Stummer, dem man ein Sprachrohr von enormer Länge in die Hand
gibt, zum Sprechen befähigt wird.
Wir sind nur mit Widerstreben dieser langweiligen und geistlosen Debatte
gefolgt, aber wir hielten es für unsere Pflicht, an einem Beispiel zu zeigen, was
von einer Ständeversammlung der Sonderinteressen, würde sie einmal ernstlich
zur Gesetzgebung berufen, zu erwarten sei.
Wir wiederholen noch einmal, unsere Landstände haben ihre Bestimmung als Landstände erfüllt, aber wir sind weit entfernt, sie damit rechtfertigen zu wollen. Der Rheinländer mußte in ihnen über den Landstand, der
Mensch mußte über den Waldeigentümer siegen. Es ist ihnen selbst gesetz-
lieh nicht nur die Vertretung der Sonderinteressen, sondern auch die Vertretung des Interesses der Provinz überwiesen, und so widersprechend beide
Aufgaben sind, in einem Kollisionsfalle durfte man keinen Augenblick anstehen, die Vertretung des Sonderinteresses der Vertretung der Provinz aufzuopfern. Der Sinn für Recht und Gesetz ist der bedeutsamste Provinzialismus
der Rheinländer; aber es versteht sich von selbst, daß das Sonderinteresse,
wie kein Vaterland, so keine Provinz, wie nicht den allgemeinen, so nicht den
heimischen Geist kennt. In direktem Widerspruch zu der Behauptung jener
Schriftsteller der Einbildung, welche ideale Romantik, unergründliche Gemütstiefe und fruchtbarste Quelle individueller und eigentümlicher Gestaltungen der Sittlichkeit in einer Vertretung der Sonderinteressen zu finden
belieben, hebt eine solche alle natürlichen und geistigen Unterschiede auf,
indem sie an ihrer Stelle die unsittliche, unverständige und gemütlose Abstraktion einer bestimmten Materie und eines bestimmten, ihr sklavisch unterworfenen Bewußtseins auf den Thron erhebt.
Holz bleibt Holz in Sibirien wie in Frankreich; Waldeigentümer bleibt
Waldeigentümer in Kamtschatka wie in der Rheinprovinz. Wenn also Holz
und Holzbesitzer als solche Gesetze geben, so werden sich diese Gesetze
durch nichts unterscheiden als den geographischen Punkt, wo, und die
Sprache, worin sie gegeben sind. Dieser verworfene Materialismus, diese Sünde
gegen den heiligen Geist der Völker und der Menschheit ist eine unmittelbare
Konsequenz jener Lehre, welche die „Preußische Staats-Zeitung" dem Gesetzgeber predigt, bei einem Holzgesetz nur an Holz und Wald zu denken und die
einzelne materielle Aufgabe nicht politisch, d. h. nicht im Zusammenhang mit
der ganzen Staatsvernunft und Staatssittlichkeit zu lösen.
Die Wilden von Kuba hielten das Gold für den Fetisch der Spanier. Sie
feierten ihm ein Fest und sangen um ihn und warfen es dann ins Meer. Die
Wilden von Kuba, wenn sie der Sitzung der rheinischen Landstände beigewohnt, würden sie nicht das Holz für den Fetisch der Rheinländer gehalten
haben? Aber eine folgende Sitzung hätte sie belehrt, daß man mit dem
Fetischismus den Tierdienst verbindet, und die Wilden von Kuba hätten die
Hasen ins Meer geworfen, um die Menschen zu retten.
Geschrieben im Oktober 1842.
Karl
Marx
Der Ehescheidungsgesetzentwurf1105 3
[„Rheinische Zeitung" Nr. 353 vom 19. Dezember 18421
** Köln, 18. Dezember. Die „Rheinische Zeitung" hat in bezug auf den
Ehescheidungsgesetzentwurf eine gänzlich isolierte Stellung eingenommen, deren
Unhaltbarkeit ihr bis jetzt von keiner Seite nachgewiesen worden ist. Die
„Rheinische Zeitung" stimmt mit dem Entwürfe überein, soweit sie die bisherige preußische Ehegesetzgebung für unsittlich, die bisherige Unzahl und
Frivolität der Scheidungsgründe für unzulässig, die bisherige Prozedur nicht
der Würde des Gegenstandes angemessen findet, was übrigens von dem ganzen altpreußischen Gerichtsverfahren gelte. Dagegen machte die „Rheinische
Zeitung" gegen den neuen Entwurf folgende Haupteinwendungen: 1. Daß
an die Stelle einer Reform eine bloße Revision getreten, also das preußische
Landrecht[673 als Fundamentalgesetz beibehalten worden, wodurch eine große
Halbheit und Unsicherheit entstanden sei; 2. daß die Ehe nicht als sittliche,
sondern als religiöse und kirchliche Institution von der Gesetzgebung behandelt, also das weltliche Wesen der Ehe verkannt worden sei; 3. daß die
Prozedur sehr mangelhaft und eine äußerliche Komposition widersprechender Elemente sei; 4. daß einerseits polizeiliche, dem Begriff der Ehe widersprechende Härten, andererseits eine zu große Nachgiebigkeit gegen die sogenannten Billigkeitsgründe nicht zu verkennen seien; 5. daß die ganze Fassung
des Entwurfes an logischer Konsequenz, Präzision, Klarheit und durchgreifenden Gesichtspunkten viel zu wünschen übriglasse.
Soweit die Gegner des Entwurfes einen dieser Mängel rügen, stimmen wir
daher mit ihnen überein, können dagegen ihre unbedingte Apologie des
früheren Systems keineswegs billigen. Wir wiederholen noch einmal unsern
früher ausgesprochenen Satz: „Wenn die Gesetzgebung die Sittlichkeit nicht
verordnen, so kann sie noch weniger die Unsittlichkeit als zu Recht gültig
anerkennen."1 Fragen wir, worauf das Räsonnement dieser Gegner (die nicht
1 Karl Marx: „Zum Ehescheidungsgesetzentwurf, Kritik der Kritik" (siehe Ergänzungsband, Teil 1, unserer Ausgabe, S.390)
Gegner der kirchlichen Auffassung und der andern angegebenen Mängel
sind) fußt, so sprechen sie uns beständig von dem Unglücke der wider ihren
Willen gebundenen Ehegatten. Sie stellen sich auf einen eudämonistischen
Standpunkt, sie denken nur an die zwei Individuen, sie vergessen die Familie,
sie vergessen, daß beinahe jede Ehescheidung eine Familienscheidung ist und,
selbst rein juristisch betrachtet, die Kinder und ihr Vermögen nicht von dem
willkürlichen Belieben und seinen Einfällen abhängig gemacht werden können. Wäre die Ehe nicht die Basis der Familie, so wäre sie ebensowenig
Gegenstand der Gesetzgebung, als es etwa die Freundschaft ist. Jene berücksichtigen also nur den individuellen Willen oder richtiger die Willkür der
Ehegatten, aber sie berücksichtigen nicht den Willen der Ehe, die sitdiche
Substanz dieses Verhältnisses. Der Gesetzgeber aber hat sich wie ein Naturforscher zu betrachten. Er macht die Gesetze nicht, er erfindet sie nicht, er
formuliert sie nur, er spricht die innern Gesetze geistiger Verhältnisse in bewußten positiven Gesetzen aus. Wie man es nun als die maßloseste Willkür
dem Gesetzgeber vorwerfen müßte, sobald er an die Stelle des Wesens der
Sache seine Einfälle treten ließe, so hat doch wohl der Gesetzgeber nicht
minder das Recht, es als die maßloseste Willkür zu betrachten, wenn Privatpersonen ihre Kapricen gegen das Wesen der Sache durchsetzen wollen. Niemand wird gezwungen, eine Ehe zu schließen; aber jeder muß gezwungen
werden, sobald er eine Ehe schließt, sich zum Gehorsam gegen die Gesetze
der Ehe zu entschließen. Wer eine Ehe schließt, der macht, der erfindet die
Ehe nicht, so wenig als ein Schwimmer die Natur und die Gesetze des
Wassers und der Schwere erfindet. Die Ehe kann sich daher nicht seiner
Willkür, sondern seine Willkür muß sich der Ehe fügen. Wer willkürlich die
Ehe bricht, der behauptet, die Willkür, das Gesetzlose ist das Gesetz der Ehe,
denn kein Vernünftiger wird die Anmaßung besitzen, seine Handlungen
für privilegierte Handlungen, für Handlungen zu halten, die ihm allein zustehen, wird sie vielmehr für gesetzmäßige, allen zustehende Handlungen ausgeben. Wogegen opponiert ihr aber? Gegen Gesetzgebungen der Willkür, aber
ihr werdet doch nicht in demselben Momente die Willkür zum Gesetze machen
wollen, wo ihr den Gesetzgeber der Willkür anklagt.
Hegel sagt: An sich, dem Begriffe nach, sei die Ehe untrennbar, aber nur
an sich, d.h. nur ihrem Begriffe nach.1106-1 Es ist damit nichts Eigentümliches
über die Ehe gesagt. Alle sittlichen Verhältnisse sind ihrem Begriff nach
unauflöslich, wie man sich leicht überzeugen kann, wenn man ihre Wahrheit
voraussetzt. Ein wahrer Staat, eine wahre Ehe, eine wahre Freundschaft sind
unauflöslich, aber kein Staat, keine Ehe, keine Freundschaft entsprechen
durchaus ihrem Begriff, und wie die wirkliche Freundschaft sogar in der
Familie, wie der wirkliche Staat in der Weltgeschichte, so ist die wirkliche
Ehe im Staate auflösbar. Keine sittliche Existenz entspricht oder muß wenigstens nicht ihrem Wesen entsprechen. Wie nun in der Natur von selbst die
Auflösung und der Tod da erscheint, wo ein Dasein seiner Bestimmung
durchaus nicht mehr entspricht, wie die Weltgeschichte entscheidet, ob ein
Staat so sehr mit der Idee des Staates zerfallen ist, daß er nicht weiterzubestehen verdient, so entscheidet der Staat, unter welchen Bedingungen
eine existierende Ehe aufgehört hat, eine Ehe zu sein. Die Ehescheidung ist
nichts als die Erklärung: diese Ehe ist eine gestorbene Ehe, deren Existenz nur
Schein und Trug ist. Es versteht sich von selbst, daß weder die Willkür des
Gesetzgebers noch die Willkür der Privatpersonen, sondern nur das Wesen
der Sache entscheiden kann, ob eine Ehe gestorben ist oder nicht, denn eine
Todeserklärung hängt bekanntermaßen vom Tatbestand und nicht von den
Wünschen der beteiligten Parteien ab. Wenn ihr aber bei dem physischen Tod
prägnante unverkennbare Beweise verlangt, sollte nicht der Gesetzgeber nur
nach den untrüglichsten Symptomen einen sittlichen Tod konstatieren dürfen,
da das Leben der sittlichen Verhältnisse zu konservieren nicht nur sein Recht,
sondern auch seine Pflicht, die Pflicht seiner Selbsterhaltung ist!
Die Sicherheit, daß die Bedingungen, unter denen die Existenz eines sittlichen Verhältnisses seinem Wesen nicht mehr entspricht, treu, dem Stande
der Wissenschaft und der allgemeinen Einsicht angemessen, ohne vorgefaßte
Meinungen konstatiert werden, wird allerdings nur dann vorhanden sein,
wenn das Gesetz der bewußte Ausdruck des Volkswillens, also mit ihm und
durch ihn geschaffen ist. Über die Erleichterung oder Erschwerung der Ehescheidung fügen wir noch ein Wort hinzu: Haltet ihr einen Naturkörper für
gesund, für fest, für wahrhaft organisiert, wenn jeder äußere Anstoß, jede
Verletzung ihn aufheben wird? Würdet ihr euch nicht für beleidigt halten,
wenn man als Axiom aufstellte, eure Freundschaft könne den kleinsten Zufällen nicht widerstehen und müsse vor jeder Grille sich auflösen? Der Gesetzgeber kann aber hinsichtlich der Ehe nur bestimmen, wann sie aufgelöst werden darf, also ihrem Wesen nach aufgelöst ist. Die richterliche Auflösung kann
nur eine Protokollierung der innern Auflösung sein. Der Gesichtspunkt des
Gesetzgebers ist der Gesichtspunkt der Notwendigkeit. Der Gesetzgeber ehrt
also die Ehe, erkennt ihr tiefes sittliches Wesen an, wenn er sie für mächtig
genug hält, viele Kollisionen bestehen zu können, ohne sich selber einzubüßen. Die Weichheit gegen die Wünsche der Individuen würde in eine Härte
gegen das Wesen der Individuen, gegen ihre sittliche Vernunft, die sich in
sittlichen Verhältnissen verkörpert, umschlagen.
Schließlich können wir es nur eine Übereilung nennen, wenn die Länder
der strengen Ehescheidung, zu denen das Rheinland stolz ist sich zu zählen, von
manchen Seiten der Heuchelei beschuldigt werden. Nur ein Gesichtskreis, der
über die ihn umgebende Sittenverderbnis nicht hinausreicht, kann dergleichen
Anschuldigungen wagen, die man z.B. in der Rheinprovinz lächerlich findet
und höchstens als einen Beweis hinnimmt, wie selbst die Vorstellung sittlicher
Verhältnisse verlorengehen und jede sittliche Tatsache als ein Märchen und
eine Lüge verstanden werden kann; was die unmittelbare Konsequenz solcher
Gesetze ist, welche nicht die Hochachtung vor dem Menschen diktiert hat,
ein Fehler, der dadurch nicht aufgehoben wird, daß man von der materiellen
Verachtung zu der ideellen Verachtung übergeht und statt der bewußten
Unterwerfung unter sittlich-natürliche Mächte einen bewußtlosen Gehorsam
gegen eine übersittliche und übernatürliche Autorität verlangt.
Karl Marx
[Das Verbot
der „Leipziger Allgemeinen Zeitung"]
Das Verbot der „Leipziger Allgemeinen Zeitung"
für den preußischen Staat 11071
[„Rheinische Zeitung" Nr.I vom I.Januar 1843]
* Köln, 3I.Dezember. Die deutsche Presse beginnt das neue Jahr unter
scheinbar trüben Auspizien. Das soeben erfolgte Verbot der „Leipziger Allgemeinen Zeitung" für die preußischen Staaten widerlegt wohl schlagend genug
alle selbstgefälligen Träume der Leichtgläubigen von den großen Konzessionen der Zukunft. Da die „Leipziger Allgemeine Zeitung", die unter sächsischer Zensur erscheint, wegen ihrer Besprechung der preußischen Angelegenheiten verboten wird, so wird damit zugleich die Hoffnung einer zensurfreien
Besprechung unserer innern Angelegenheiten verboten. Das ist eine faktische
Konsequenz, die niemand ableugnen wird.
Die Hauptvorwürfe, die gegen die „Leipziger Allgemeine Zeitung" verlautbarten, waren ungefähr folgende:
„Sie bringe Gerücht auf Gerücht, und hinterher erweise sich mindestens die Hälfte
als falsch. Zudem halte sie sich nicht an die Tatsachen, sondern spähe nach den Triebfedern; und wie falsch ihr Urteil hier oftmals auch sei, immer spreche sie dasselbe mit
dem Pathos der Unfehlbarkeit und oft mit der gehässigsten Leidenschaft aus. Ihr
Treiben sei unstät, .indiskret', .unfertig', mit einem Worte ein schlechtes Treiben."
Angenommen, diese Anschuldigungen seien sämtlich begründet, sind es
Anschuldigungen gegen den willkürlichen Charakter der „Leipziger Allgemeinen Zeitung", oder sind es nicht vielmehr Anschuldigungen gegen den
notwendigen Charakter der eben erst entstehenden jungen Volkspresse"> Handelt
es sich nur um die Existenz einer gewissen Art von Presse, oder handelt es sich
um die Nichtexistenz der wirklichen Presse, d. h. der Volkspresse?
Die französische, die englische, jede Presse hat in derselben Art und
Weise begonnen wie die deutsche Presse, und jede dieser Pressen hat dieselben
Vorwürfe verdient und erhalten. Die Presse ist nichts und soll nichts sein als
das laute, freilich „oft leidenschaftliche und im Ausdruck übertreibende und
fehlgreifende tägliche Denken und Fühlen eines wirklich als Volk denkenden
Volkes". Daher ist sie wie das Leben, immer werdend, nie fertig. Sie steht im
Volke und fühlt all sein Hoffen und sein Fürchten, sein Lieben und sein
Hassen, seine Freuden und seine Leiden ehrlich mit. Was sie hoffend und
fürchtend erlauscht, verkündet sie laut und urteilt darüber heftig, leidenschaftlich, einseitig, wie ihr Gemüt und Gedanken eben im Augenblicke bewegt sind.
Das Irrige in Tatsachen und Urteilen, was sie heute brachte, wird sie morgen
widerlegen. Sie ist die eigentliche „naturwüchsige" Politik, die ihre Gegner
ja sonst zu lieben pflegen.
Die Vorwürfe, die in den letzten Tagen in einem Atem der jungen „Presse"
gemacht wurden, hoben sich wechselseitig auf. Seht, sagte man, welche feste,
gehaltene, bestimmte Politik haben englische und französische Blätter. Sie
basieren auf dem wirklichen Leben, ihre Ansicht ist die Ansicht einer Vorhandenen fertigen Macht, sie doktrinieren das Volk nicht, sie sind die wirklichen Doktrinen des Volkes und seiner Parteien. Ihr aber sprecht nicht die
Gedanken, die Interessen des Volkes aus, ihr macht sie erst oder schiebt sie
ihm vielmehr unter. Ihr schafft den Parteigeist. Ihr seid nicht seine Schöpfungen. So wird es der Presse zum Vorwurf gemacht, bald, daß keine politischen Parteien bestehen, bald, daß sie diesem Mangel abhelfen und politische
Parteien schaffen will. Aber es versteht sich von selbst. Wo die Presse jung
ist, ist der Volksgeist jung, und das tägliche laute politische Denken eines eben
erst erwachenden Volksgeistes wird unfertiger, formloser, übereilter sein als
das eines Volksgeistes, der in politischen Kämpfen groß und stark und selbstgewiß geworden ist. Vor allem das Volk, dessen politischer Sinn erst erwacht, fragt weniger nach der faktischen Richtigkeit dieser oder jener Begebenheit als nach ihrer sittlichen Seele, mit welcher sie wirkt; Tatsache oder
Fabel, sie bleibt eine Verkörperung der Gedanken, Befürchtungen, Hoffnungen des Volks, ein Wahres Märchen. Das Volk sieht dies, sein Wesen, in
dem Wesen seiner Presse abgespiegelt, und wo es dies nicht sähe, würde es sie
als ein Unwesentliches keiner Teilnahme würdigen, denn ein Volk läßt sich
nicht betrügen. Mag sich daher die junge Presse täglich kompromittieren,
mögen schlechte Leidenschaften in sie eindringen, das Volk erblickt in ihr
seinen eigenen Zustand und weiß, daß trotz allem Gift, was die Bosheit oder
der Unverstand herbeischleppt, ihr Wesen immer wahr und rein bleibt und
das Gift in ihrem immer bewegten, immer vollen Strome zur Wahrheit und
zur heilsamen Arznei wird. Es weiß, daß seinePresse seine Sünden trägt, sich
für es erniedrigt und zu seinem Ruhme, auf Vornehmigkeit, Süffisance und
Unwiderleglichkeit verzichtend, die Rose des sittlichen Geistes innerhalb der
Dornen der Gegenwart darstellt.
Wir müssen also die Vorwürfe, die man der „Leipziger Allgemeinen
Zeitung" gemacht hat, als Vorwürfe gegen die junge Volkspresse, also gegen
die wirkliche Presse betrachten, denn es versteht sich von selbst, daß die
Presse nicht wirklich werden kann, ohne ihre notwendigen, in ihrem Wesen
begründeten Entwicklungsstadien durchzumachen. Wir müssen aber die Verwerfung der Volkspresse für eine Verwerfung des politischen Volksgeistes
erklären. Und dennoch haben wir im Beginn unseres Artikels die Auspizien
der deutschen Presse als scheinbar trübe bezeichnet. Und so ist es, denn der
Kampf gegen ein Dasein ist die erste Form seiner Anerkennung, seiner Wirklichkeit und seiner Macht. Und nur der Kampf kann sowohl die Regierung
als das Volk, als die Presse selbst von der wirklichen und notwendigen Berechtigung der Presse überzeugen. Nur er kann zeigen, ob sie eine Konzession
oder eine Notwendigkeit, eine Illusion oder eine Wahrheit ist.
Die „Kölnische Zeitung" und das Verbot
der „Leipziger Allgemeinen Zeitung" cl08:l
{„Rheinische Zeitung" Nr. 4 vom 4. Januar 1843]
* Köln, 3. Januar. Die „Kölnische Zeitung" brachte in ihrer Nummer vom
3I.Dezember einen „Leipzig, 27." bezeichneten Korrespondenzartikel, der
beinahe frohlockend das Verbot der „Leipziger Allgemeinen Zeitung" mitteilte, während die Kabinettsordre, welche das Verbot jener Zeitung dekretiert und in der gestern hier eingetroffenen „Staatszeitung" enthalten ist, vom
28. Dezember datiert. Das Rätsel löst sich einfach durch die Bemerkung, daß
am 31. Dezember die Nachricht von dem Verbote der „Leipziger Allgemeinen
Zeitung" bei hiesiger Post eintraf und die „Kölnische Zeitung" es angemessen
fand, nicht nur eine Korrespondenz, sondern auch einen Korrespondenten zu
schreiben und ihrer eigenen Stimme die gute Stadt Leipzig zum Domizil anzuweisen. Die „merkantile" Phantasie der „Kölnischen Zeitung" war so „gewandt", die Begriffe zu verwechseln. Sie erblickte die Residenz der „Kölnischen Zeitung" in Leipzig, weil die Residenz der „Leipziger Zeitung" in Köln
eine Unmöglichkeit geworden. Sollte die Redaktion der „Kölnischen Zeitung"
auch bei kälterem Nachdenken das Spiel ihrer Phantasie als eine trockene
Wahrheit der Tatsache verteidigen wollen, so würden wir uns genötigt sehen,
In bezug auf die mystische Korrespondenz aus Leipzig noch eine Tatsache
mitzuteilen, die
»alle Schranken des Anstandes überschreitet und auch bei uns jedem Gemäßigten
und Besonnenen als eine unbegreifliche Indiskretion'
erscheinen wird.
Was das Verbot der „Leipziger Allgemeinen Zeitung" selbst betrifft, so
haben wir unsere Ansicht ausgesprochen. Wir haben nicht die an der „Leipziger Allgemeinen Zeitung" gerügten Mängel als aus der Luft gegriffen bestritten, aber wir haben behauptet, daß es Mängel sind, welche aus dem Wesen
der Volkspresse selbst hervorgehen, also in ihrem Entwickelungsgang geduldet
Werden müssen, wenn man ihren Entwickelungsgang überhaupt dulden will.
Die „Leipziger Allgemeine Zeitung" ist nicht die ganze deutsche Volkspresse, aber sie ist ein notwendiger integrierender Teil derselben. Die verschiedenen Elemente, welche die Natur der Volkspresse bilden, müssen bei
naturgemäßer Entwickelung derselben zunächst jedes für sich seine eigentümliche Ausbildung finden. Der ganze Körper der Volkspresse wird also in
verschiedene Zeitungen von verschiedenen, sich wechselweis ergänzenden
Charakteren zerfallen, und wenn z.B. in der einen die politische Wissenschaft, wird in der andern die politische Praxis, wenn in der einen der neue
Gedanke, wird in der andern die neue Tatsache das vorwiegende Interesse
bilden. Nur dadurch, daß die Elemente der Volkspresse ihre ungehinderte,
selbständige und einseitige Entwickelung erhalten und sich in verschiedene
Organe verselbständigen, kann die „gute" Volkspresse gebildet werden, d.h.
die Volkspresse, die alle wahren Momente des Volksgeistes harmonisch in sich
vereinigt, so daß in jeder Zeitung der wirkliche sittliche Geist ebenso ganz
gegenwärtig ist wie in jedem Blatt der Rose ihr Duft und ihre Seele. Aber
damit die Presse ihre Bestimmung erreiche, ist es vor allem notwendig, ihr
keine Bestimmung von außen vorzuschreiben und ihr jene Anerkennung zu
gewähren, die man selbst der Pflanze zu gewähren gewohnt ist, die Anerkennung ihrer innern Gesetze, denen sie nicht nach Willkür sich entziehen
darf und kann.
D i e gute u n d die schlechte Presse
[„Rheinische Zeitung" Nr. 6 vom 6. Januar 1843]
* Köln, 5. Januar. Wir haben schon manches in abstracto über den Unterschied der „guten" und der „schlechten" Presse hören müssen. Veranschaulichen wir einmal den Unterschied an einem Beispiel!
Die „Elberfelder Zeitung" vom 5. Januar bezeichnet sich selbst in einem
II Mars/Engels, Werte, Bd. I
von Elberfeld datierten Artikel als „gute Presse". Die „Elberfelder Zeitung"
vom 5. Januar bringt folgende Notiz:
„Berlin, 3 I.Dez. Das Verbot der,Leipziger Allgemeinen Zeitung' hat hier im ganzen
einen geringen Eindruck gemacht."
Dagegen berichtet die „Düsseldorfer Zeitung" übereinstimmend mit der
„Rheinischen Zeitung":
„Berlin, I.Jan. Das unbedingte Verbot der .Leipziger Allgemeinen Zeitung' erregt
hier die größte Sensation, da die Berliner dieselbe sehr gerne lasen etc."
Welche Presse, die „gute" oder die „schlechte" Presse, ist nun die „wahre"
Presse! Welche spricht die Wirklichkeit, und welche spricht die gewünschte
Wirklichkeit aus! Welche stellt die öffentliche Meinung dar, und welche
entstellt die öffentliche Meinung! Welche verdient also das Staatsvertrauen ?
Mit der Erklärung der „Kölnischen Zeitung" sind wir wenig zufriedengestellt. Sie beschränkt sich in ihrer Replik, auf unsere Bemerkung über ihre
„beinahe frohlockende" Ankündigung des Verbots der „Leipziger Allgemeinen Zeitung" nicht nur auf den statistischen Teil, sondern auf einen
Druckfehler. Die „Kölnische Zeitung" wird wohl selbst wissen, daß in dem
Passus: „das Rätsel löst sich einfach durch die Bemerkung, daß am 31. Dezember die Nachricht von dem Verbote der ,Leipziger Allgemeinen Zeitung*
bei hiesiger Post eintraf" - stehen mußte und nur durch einen Druckfehler
nicht steht: am 30. Dezember. Am 30. Dezember mittags erhielt nämlich, was
wir nötigenfalls beweisen können, die „Rheinische", also wohl auch die
„Kölnische" Zeitung diese Nachricht von der hiesigen Post.
Replik auf den Angriff eines „gemäßigten" Blattes
[„Rheinische Zeitung" Nr. 8 vom 8. Januar 1843]
* Köln, 7. Januar. Ein gemäßigtes rheinisches Blatt, wie die „Allgemeine
Augsburger Zeitung" in ihrer diplomatischen Sprache sagt1109-1, d. h. ein Blatt
von mäßigen Kräften, sehr mäßigem Charakter und allermäßigstem Verstand,
hat unsere Behauptung: „Die .Leipziger Allgemeine Zeitung' ist ein notwendiger integrierender Teil der deutschen Volkspresse"1, in die Behauptung umgestellt, die Lüge sei ein notwendiger Teil der Presse.0103 Wir wollen
keinen großen Anstoß daran nehmen, daß dieses mäßige Blatt einen einzelnen Satz aus unserm Räsonnement herausreißt und die im quästionierten
Artikel wie in einem früheren gegebene Auseinandersetzung seiner hohen und
ehrenvollen Berücksichtigung nicht wert erachtet hat. So wenig wir an jemanden die Anforderung stellen, aus seiner eigenen Haut herauszuspringen, so
wenig dürfen wir verlangen, ein Individuum oder eine Partei solle über ihre
geistige Haut, über die Schranken ihres Verstandeshorizontes einen salto mortale wagen, am wenigsten einePartei, der ihre Beschränktheit für Heiligkeit gilt.
Wir erörtern also nicht, was jene Bewohnerin des intellektuellen Mittelreiches
tun mußte, um uns zu widerlegen, wir erörtern nur ihre wirklichen Taten.
Zunächst werden die alten Sünden der „Leipziger Allgemeinen Zeitung"
aufgezählt, ihr Verhalten zu den hannoverschen Angelegenheitencm:l, ihre
Parteipolemik gegen den Katholizismus (hinc illae lacrimae ! cll2:l würde unsere
Freundin dasselbe Verhalten, nur nach entgegengesetzter Richtung hin, zu
den Todsünden der Münchner „Politischen Blätter" zählen ?) cll3:l , ihre
Klatschereien etc. etc. Es fällt uns hierbei ein Apercu aus den „Wespen" von
Alphons Karr ein. Herr Guizot, heißt es, schildert den Herrn Thiers, und
Herr Thiers schildert den Herrn Guizot als Landesverräter, und leider haben
beide recht. Wenn sämtliche deutschen Zeitungen alten Stils sich ihre Vergangenheit vorwerfen wollten, so könnte sich der Prozeß nur um die formelle
Frage bewegen, ob sie gesündigt haben durch das, was sie taten, oder durch
das, was sie nicht taten. Wir würden unserer Freundin gern den harmlosen
Vorzug vor der „Leipziger Allgemeinen Zeitung" einräumen, nicht nur keine
schlechte, sondern gar keine Existenz gewesen zu sein.
Indes unser inkriminierter Artikel sprach nicht von dem vergangenen,
sondern von dem gegenwärtigen Charakter der „Leipziger Allgemeinen Zeitung", obgleich wir, wie sich von selbst versteht, gegen ein Verbot der „Elberfelder Zeitung", des „Hamburger Correspondenten" und der zu Koblenz
erscheinenden „Rhein- und Mosel-Zeitung" nicht minder ernstgemeinte Einwendungen zu machen hätten, denn der Rechtszustand wird durch den moralischen Charakter oder gar die politischen und religiösen Meinungen der,
Individuen nicht alteriert. Der rechtlose Zustand der Presse ist vielmehr über
allen Zweifel erhaben, sobald man ihre Existenz von ihrer Gesinnung abhängig
macht. Bis jetzt gibt es nämlich noch keinen Kodex der Gesinnung und keinen
Gerichtshof der Gesinnung.
Der letzten Phase der „Leipziger Allgemeinen Zeitung" wirft nun das
„gemäßigte" Blatt die falschen Tatsachen, Entstellungen, Lügen vor und
beschuldigt uns daher mit ehrlicher Entrüstung, die Lüge für ein notwendiges
Element der Volkspresse zu halten. Und wenn wir diese fürchterliche Folgerung gelten ließen, wenn wir behaupteten, die Läge sei ein notwendiges
Element der Volkspresse, namentlich der deutschen Volkspresse? Wir meinen
nicht die Lüge der Gesinnung, die geistige Lüge, wir meinen die Lüge der Tat'
\
sache, die körperliche Lüge! Steiniget! Steiniget! würde unsere christliche
Freundin rufen. Steiniget! Steiniget! würde der Chorus einfallen. Aber übereilen wir uns nicht, nehmen wir die Welt, wie sie ist, seien wir keine Ideologen,
und wir geben unserer Freundin das Zeugnis, kein Ideologe zu sein. Das
„gemäßigte" Blatt werfe auf seine eigenen Spalten einen prüfenden Blick, und
berichtet es nicht, wie die „Preußische Staats-Zeitung", wie alle deutschen,
wie alle Zeitungen der Welt, täglich Lügen aus Paris, Klatschereien über
bevorstehende Ministerialwechsel in Frankreich, von irgendeinem Pariser
Blatt ausgeheckte Falsa, die der nächste Tag, die nächste Stunde widerlegt!
Und hält die „Rhein- und Mosel-Zeitung" die faktische Lüge für ein notwendiges Element in den Rubriken England, Frankreich, Spanien, Türkei,
aber für ein verdammliches, todeswürdiges Verbrechen in der Rubrik Deutschland oder Preußen? Woher dies doppelte Maß und Gewicht? Woher diese
doppelte Ansicht von Wahrheit? Warum darf dasselbe Blatt auf der einen
Kolumne die frivole Sorglosigkeit eines Neuigkeitsboten, warum muß es auf
der andern Kolumne die trockene Unwiderleglichkeit eines Amtsblattes zur
Schau tragen? Offenbar, weil es für deutsche Zeitungen eine französische,
englische, türkische, spanische Zeit, aber keine deutsche Zeit, sondern nur
eine deutsche Zeitlosigkeit geben soll. Sind aber nicht vielmehr die Blätter zu
loben und voii Staats wegen zu loben, welche die Aufmerksamkeit, das fieberhafte Interesse, die dramatische Spannung, die alles Werdende, die vor allem
die werdende Zeitgeschichte begleiten, dem Ausland entreißen und dem Vaterland erobern! Nehmt selbst an, sie erregten Unzufriedenheit, Verstimmung!
So erregen sie doch deutsche Unzufriedenheit, deutsche Verstimmung, so haben
sie dem Staate immer noch die abgewandten Gemüter zurückgeschenkt, wenn
auch zunächst aufgeregte, verstimmte Gemüter! Und sie haben nicht nur
Unzufriedenheit und Verstimmung, sie haben Befürchtungen und Hoffnungen, sie haben Freud und Leid, sie haben vor allem eine wirkliche Teilnahme am Staat erregt, sie haben den Staat zu einer Herzens-, zu einer Hausangelegenheit seiner Glieder, sie haben statt Petersburg, London, Paris: Berlin,
Dresden, Hannover etc. zu den Hauptstädten auf der Landkarte des politischen deutschen Geistes gemacht, eine Tat, die ruhmwürdiger ist als die
Verlegung der Welthauptstadt von Rom nach Byzanz.
Wenn aber die deutschen und preußischen Zeitungen, die sich das Ziel
stellten, Deutschland und Preußen zum Hauptinteresse der Deutschen und
Preußen zu machen, das mysteriöse priesterliche Wesen des Staates in ein
lichtes, allen zugängliches und gehöriges Laienwesen, den Staat in das Fleisch
und Blut der Staatsbürger zu verwandeln, wenn sie an faktischer Wahrheit
den französischen und englischen Zeitungen nachstehen, wenn sie oft un-
geschickt und märchenhaft sich benehmen, so bedenkt, daß der Deutsche
seinen Staat nur vom Hörensagen kennt, daß verschlossene Türen Verne Brillen
sind, daß ein geheimes Staatswesen kein öffentliches Staatswesen ist, so macht
nicht zu einem Fehler der Zeitungen, was nur ein Fehler des Staats ist, ein
Fehler, den eben diese Zeitungen zu korrigieren suchen.
Wir wiederholen also nochmals: „Die ,Leipziger Allgemeine Zeitung' ist ein
notwendiger integrierender Teil der deutschen Volkspresse." Sie hat vorzugsweise
das unmittelbare Interesse an der politischen Tatsache, wir haben vorzugsweise das Interesse an dem politischen Gedanken befriedigt, wobei es sich von
selbst versteht, daß weder die Tatsache den Gedanken noch der Gedanke die
Tatsache ausschließt, aber es handelt sich hier um den vorherrschenden
Charakter, um das Unterscheidungsmerkmal.
Replik auf
die Denunziation 61T16S
55
benachbarten" Blattes
[„Rheinische Zeitung" Nr. 10 vom 10. Januar 1843]
* Köln, 9. Januar. Es wäre wider alle Ordnung gewesen, wenn die „gute"
Presse jetzt nicht von allen Seiten her ihre Rittersporen an uns zu verdienen
suchte, an ihrer Spitze die Prophetin Hulda aus Augsburg, der wir nächstens
auf ihre abermalige Herausforderung1-114-1 zum Tanz aufspielen werden. Heute
haben wir es mit Unserer invaliden Nachbarin zu tun, mit der höchst ehrenwerten „Kölnischen Zeitung"! Töujours perdrix!1
Zunächst: „Etwas Vorläufiges" oder ein „Vorläufiges Etwas", ein Denkzettel, den wir ihrer heutigen Denunziation1115:1 zur Verständigung vorausschicken wollen, ein allerliebstes Histörchen von der Art und Weise, wie die
„Kölnische Zeitung" sich „Achtung" bei der Regierung zu verschaffen sucht,
die „wahre Freiheit" im Gegensatz zur „Willkür" geltend macht und sich
von innen „Schranken" zu setzen weiß. Der geneigte Leser wird sich erinnern, wie in Nr. 4 der „Rheinischen Zeitung" die „Kölnische Zeitung"
geradezu beschuldigt ward, ihre Korrespondenz aus Leipzig, welche beinahe
frohlockend das vielfach besprochene Verbot ankündigte, selbst fabriziert zu
haben, wie ihr zugleich von einer ernstlichen Verteidigung der Echtheit jenes
Dokuments wohlmeinend abgeraten ward unter der bestimmten Androhung,
daß wir widrigenfalls „in bezug auf die mystische Korrespondenz aus Leipzig"
noch eine unangenehme Tatsache veröffentlichen müßten.2 Der gütige Leser
wird sich der zahmen, ausweichenden Replik der „Kölnischen Zeitung" vom
5. Januar erinnern, unserer berichtigenden Duplik in Nr. 6 3 und der „leidenden
1
Immer dasselbe! -
2
siehe vorl. Band, S. 154/155 -
3
siehe vorl. Band, S. 156
Stille", welche die „Kölnische Zeitung" hierauf zu beobachten für gut fand. Die
fragliche Tatsache ist diese: Die „Kölnische Zeitung" fand das Verbot der
„Leipziger Allgemeinen Zeitung" durch eine Mitteilung gerechtfertigt, die
„alle Schranken des Anstandes überschreitet und auch bei uns jedem Gemäßigten
und Besonnenen als eine unbegreifliche Indiskretion erscheinen muß".
Es war hiermit offenbar die Publikation des Herweghschen Briefes016'1
gemeint. Man konnte vielleicht diese Ansicht der „Kölnischen Zeitung" teilen,
wenn die „Kölnische Zeitung" nur nicht selbst wenige Tage vorher den
Herweghschen Brief dem Publikum hätte mitteilen wollen und nur „von außen"
auf „Schranken" gestoßen wäre, die ihre gute Absicht vereitelten.
Wir wollen damit keineswegs der „Kölnischen Zeitung" ein illoyales
Gelüste vorwerfen, aber wir müssen dem Publikum anheimstellen, ob es eine
begreifliche Diskretion ist, ob es nicht alle Grenzen des Anstandes und der
öffentlichen Moral verletzen heißt, wenn man dieselbe Tat seinem Nächsten
als todeswürdiges Verbrechen vorwirft, die man eben im Begriffe stand, selbst
auszuführen, die nur ein äußeres Hindernis nicht zur eigenen Tat werden ließ.
Man wird es nach dieser Aufklärung verständlich finden, wenn das böse
Gewissen der „Kölnischen Zeitung" uns heute mit einer Denunziation antwortet. Sie sagt:
„Es wird dort" (in der „Rheinischen Zeitung") „behauptet, daß der ungewöhnlich
scharfe, fast schneidende, jedenfalls unangenehme T o n , den die Presse gegen Preußen
annehme, feinen andern Grund habe als den, sich dadurch der Regierung bemerklich
zu machen und sie wecken zu wollen. Denn das Volk sei über die vorhandenen Staatsformen schon weit hinaus, diese litten an eigentümlicher Hohlheit; das Volk wie die
Presse hätten fem Vertrauen zu diesen Institutionen und noch weniger zu einer Entwickelung Von innen heraus."
Die „Kölnische Zeitung" begleitet diese Worte mit folgendem Ausruf:
„ M u ß man nicht staunen, daß neben solchen Äußerungen noch immer Klagen über
mangelhafte Preßfreiheit erschallen? Kann man mehr verlangen als die Freiheit, der
Regierung ins Gesicht zu sagen, daß alle Staatsinstitutionen Plunder seien, nicht einmal
gut, den Ubergang zu etwas Besserem zu bilden."
Zunächst müssen wir uns über die Art und Weise des Zitierens verständigen. Der Verfasser des quästionierten Artikels1-117-1 wirft sich die Frage
auf, woher der scharfe Ton der Presse gerade in bezug auf Preußen komme?
Er antwortet: „Ich glaube, den Grund hauptsächlich in folgendem finden zu
müssen." Er behauptet nicht, was ihm die „Kölnische Zeitung" unterschiebt,
daß kein anderer Grund vorhanden sei, er gibt seine Ansicht vielmehr nur als
seinen Glauben, als seine individuelle Meinung. Der Verfasser räumt ferner
ein, was die „Kölnische Zeitung" verschweigt, daß „der Aufschwung von
1840 sich zum Teil in die Staatsformen hineingeworfen, ihnen Fülle und
Leben zu geben versucht" habe. Dennoch fühle man, „daß der Volksgeist
eigentlich an ihnen vorbeigehe, sie kaum streift und fast auch als Durchgang
zu einer weitern Entwickelung noch nicht zu erkennen oder doch nicht zu
achten versteht". Der Verfasser fährt fort: „Ob dieselben ein Recht haben
oder nicht, lassen wir dahingestellt sein: genug, das Volk sowie die Presse
haben kein volles Vertrauen zu den Institutionen, noch weniger zu der Möglichkeit einer Entwickelung aus ihnen heraus und Von unten herauf." Die „Kölnische Zeitung" verwandelt „kein volles Vertrauen" in fern Vertrauen und
läßt von dem letzten Teile des angeführten Satzes die Worte aus: „und von
unten herauf", wodurch der Sinn wesentlich modifiziert wird.
Die Presse, fährt unser Verfasser fort, wandte sich daher beständig
an die Regierung, weil es „sich noch um die Formen selbst zu handeln schien,
innerhalb deren der berechtigte sittliche Willen, die heißen Wünsche, die
Bedürfnisse des Volkes eine freie, offene, gewichtige Sprache der Regierung gegenüber führen könnten". Fassen wir nun diese Stellen zusammen,
behauptet der quästionierte Artikel, was die „Kölnische Zeitung" ihn „der
Regierung ins Gesicht" sagen läßt: „daß alle Staatsinstitutionen Plunder
seien, nicht einmal gut, den Übergang zu einem Besseren zu bilden"?
Handelt es sich hier um alle Staatsinstitutionen? Es handelt sich nur um
die Staatsformen, in denen sich „der Volkswille" „frei, offen und gewichtig"
aussprechen könne. Und welches waren bis vor kurzem diese Staatsformen?
Offenbar nur die Provinzialständ£m. Hat das Volk den Provinzialständen besonderes Vertrauen geschenkt? Hat es eine große volkstümliche Entwickelung
aus ihnen heraus erwartet? Hat der loyale Bülow-Cummerow sie für einen
wahren Ausdruck des Volkswillens gehalten?0183 Aber nicht nur das Volk und
die Presse, die Regierung hat anerkannt, daß Staatsformen selbst noch fehlten,
oder hätte sie ohne diese Anerkennung auch nur Anlaß gehabt, eine neue
Staatsform, die „Ausschüsse"1119-1 zu schaffen? Daß aber auch die Ausschüsse
in ihrer jetzigen Gestalt nicht ausreichten, das haben nicht nur wir behauptet1,
das ist in der „Kölnischen Zeitung" von einem Ausschußmitglied behauptet
worden[120].
Die fernere Behauptung, daß die Staatsformen eben noch als Formen dem
Inhalt gegenüberstehen und der Volksgeist sich nicht in ihnen als seinen
1 Karl Marx: „Die Beilage zu Nr. 335 und 336 der Augsburger .Allgemeinen Zeitung' über
die ständischen Ausschüsse in Preußen" (siehe Ergänzungsband, Teil 1, unserer Ausgabe,
S.405-419)
eigenen Formen „heimisch" fühle, sie nicht als die Formen seines eignen
Lebens wisse, diese Behauptung wiederholt nur, was von vielen preußischen
und auswärtigen Zeitungen, am meisten aber von konservativen Schriftstellern,
ausgesprochen wurde, nämlich, daß die Bürokratie noch zu mächtig sei, daß
weniger der ganze Staat als ein Teil des Staates, die „Regierung", ein eigentliches Staatsleben führe. Inwiefern die jetzigen Staatsformen geeignet seien,
teils sich selbst mit lebendigem Inhalt zu füllen, teils die ergänzenden Staatsformen sich anzureihen, die Beantwortung dieser Frage mußte die „Kölnische
Zeitung" da suchen, wo wir die Provinzialstände und Provinzialausschüsse in
bezug auf unsere ganze Staatsorganisation betrachten, und sie hätte dort die
sogar ihrer Weisheit verständliche Auskunft gefunden. „Wir verlangen nicht,
daß man bei der Volksvertretung von den wirklich vorhandenenUnterschieden
abstrahiere, wir verlangen vielmehr, daß man an die wirklichen, durch die
innere Konstruktion des Staats geschaffenen und bedingten Unterschiede anknüpft." „Wir Verlangen nur konsequente und allseitige Durchbildung der preußischen Fundamentalinstitutionen, wir verlangen, daß man nicht plötzlich das
wirkliche und organische Staatsleben verlasse, um in unwirkliche, mechanische, untergeordnete, unstaatliche Lebenssphären zurückzusinken." („Rheinische Zeitung", Jahrgang 1842, Nr.345.) 1 Und was läßt uns die ehrenwerte
„Kölnische Zeitung" sagen? - „daß alle Staatsinstitutionen Plunder seien,
nicht einmal gut, den Übergang zu etwas Besserem zu bilden!" Es scheint
beinahe, als glaube die „Kölnische Zeitung" den Mangel an eigner Kühnheit
dadurch ersetzen zu können, daß sie andern die frechen Ausgeburten ihrer
feigen, aber mutwillig vagierenden Phantasie unterschiebt.
Die Denunziation der „Kölnischen"
und die Polemik der „Rhein- und Mosel-Zeitung"
[„Rheinische Zeitung" Nr. 13 vom 13. Januar 1843]
* Köbi, 1 I.Januar.
„Votre front ä raes yeux montre peu d'allegresse!
Serait-ce ma presence, Eraste, qui vous blesse?
Qu'est-ce donc? qu'avez-vous? et sur quels deplaisirs,
Lorsque vous me voyez, poussez-vous des s o u p i r s ? " t m l
1 Karl Marx: „Die Beilage zu Nr. 335 und 336 der Augsburger .Allgemeinen Zeitung'
über die ständischen Ausschüsse in Preußen" (siehe Ergänzungsband, Teil 1, unserer Ausgabe, S.405-419)
Diese Worte zunächst der benachbarten „Kölnerin."! Die „Kölnische
Zeitung" verbreitet sich nicht über ihre „angebliche Denunziation", sie läßt
diesen Hauptpunkt fallen und beschwert sich nur, daß man die „Redaktion"
bei dieser Gelegenheit nicht eben auf die angenehmste Weise in den Kampf
verwickelt habe.1122'1 Allein, beste Nachbarin, wenn ein Korrespondent der
„Kölnischen Zeitung" eine unserer Berliner Korrespondenzen mit der „Rheinischen Zeitung" identifiziert1-115-1, warum sollte die „Rheinische Zeitung" die
erwidernde Rhein-Korrespondenz der „Kölnischen Zeitung" nicht mit der
„Kölnischen Zeitung" identifizieren dürfen1117-1? Nun ad vocem: Tatsache:
„Sie" (die „RheinischeZeitung") „wirft uns keine Tatsache, sondern eine Absicht
vor'."
Wir werfen der „Kölnischen Zeitung" nicht nur eine Absicht, sondern
eine Tatsache dieser Absicht vor. Eine Tatsache, die Aufnahme des Herweghschen Briefes, wurde der „Kölnischen Zeitung" durch äußere Zufälle in eine
Absicht verwandelt, obgleich sich ihre Absicht schon in eine Tatsache verwandelt hatte. Jede vereitelte Tatsache sinkt zur bloßen Absicht zurück, gehört sie darum weniger vor die Gerichte? Jedenfalls wäre es eine sonderbare
Tugend, welche die Rechtfertigung ihrer Taten in dem Zufall fände, der diese
Taten vereitelte, sie zu keiner Tat, sondern zur bloßen Absicht der Tat werden
ließ. Aber unsere loyale Nachbarin wirft die Frage auf, zwar nicht an die
„Rheinische Zeitung", die bei ihr in dem mißlichen Verdacht steht, von ihrer
„Redlichkeit und Gewissenhaftigkeit" nicht so leicht um eine Antwort „in
Verlegenheit" gelassen zu werden, sondern an
„jenen geringen Teil des Publikums, der etwa noch nicht ganz im klaren darüber ist,
welchen Glauben die Verdächtigungen" (soll wohl heißen: die Verteidigungen gegen V e r dächtigungen) „dieses Blattes verdienen",
aber, fragt sie, woher weiß die „Rheinische Zeitung",
„daß wir mit dieser Absicht" (sc. der Mitteilung des Herweghschen Briefes) „nicht
auch die andere" (signo haud probato)* „Absicht verbanden, die Zurechtweisung
hinzuzufügen, die der kindische Mutwillen des Verfassers verdient hatte"?
Aber woher weiß die „Kölnische Zeitung", welche Absicht die Veröffentlichung der „Leipziger Allgemeinen Zeitung" hatte? Warum nicht etwa die
harmlose Absicht, eine Neuigkeit zuerst mitzuteilen? Warum nicht etwa die
loyale Absicht, jenen Brief einfach vor den Richterstuhl der öffentlichen
Meinung zu stellen? Wir wollen unserer Nachbarin eine Anekdote erzählen.
In Rom ist der Druck des Korans verboten. Ein verschmitzter Italiener wußte
sich zu helfen. Er gab eine Widerlegung des Korans heraus, d.h. ein Buch,
* Durch keinen Beweis konstatiert
welches auf dem Titelblatt sich „Widerlegung des Korans" benennt, aber
hinter dem Titelblatt ein einfacher Abdruck des Korans ist. Und haben nicht
alle Ketzer diese Finte zu spielen gewußt? Ist nicht Vanini verbrannt worden,
obgleich er in seinem Theatrum mundi1-1233, bei Verkündigung des Atheismus,
sorgfältig und prunkend alle Gegengründe wider denselben geltend macht.
Hat nicht selbst Voltaire in seiner „Bible enfin expliquee" im Text den Unglauben und in den Noten den Glauben gelehrt, und hat man an die purifizierende Kraft dieser Noten geglaubt?
„Aber", schließt unsere ehrenwerte Nachbarin, „war, wenn wir diese Absicht
hatten, unsere Aufnahme des ohnedies allgemein bekannten Schreibens mit der ursprünglichen Veröffentlichung in gleiche Reihe zu stellen?"
Aber, beste Nachbarin, auch die „Leipziger Allgemeine Zeitung" veröffentlichte nur ein Schreiben, was in vielen Abschriften zirkulierte. „Fürwahr, Mylord, ihr seid zu tadelsüchtig."1-1243
In dem päpstlichen Enzyklikum ex cathedra vom 15. August 1832, Maria
Himmelfahrt, steht zu lesen:
„Wahnsinn (deliramentum) ist es, zu behaupten, jedem Menschen sei Gewissensfreiheit zuzugestehen; nicht genug zu verabscheuen ist Preßfreiheit."1,251
Diese Sentenz trägt uns von Köln nach Koblenz zu dem „mäßigen" Blatt,
zu der „Rhein- und Mosel-Zeitung", deren Wehgeschrei gegen unser Verfechten der Preßfreiheit nach jenem Zitat verständlich und gerechtfertigt sein
wird, so sonderbar es hiernach auch lauten müßte, wollte sie etwa sich selbst
„zu den sehr eifrigen Freunden der Presse"1-1103 zählen. Aus den „mäßigen"
Spalten des Blattes springen heut zwar nicht zwei Löwen, wohl aber ein
Löwenfell und eine Löwenkutte heraus, denen wir die gebührende naturhistorische Aufmerksamkeit widmen wollen. Nr. 1 expektoriert sich unter
anderm dahin:
„Der Kampf ist von ihrer Seite" (der „Rheinischen Zeitung") „ein so loyaler, daß
sie uns gleich von vornherein die Zusicherung erteilt, sogar gegen ein Verbot der
.Rhein- und Mosel-Zeitung* würde sie sich um des ihr so sehr am Herzen liegenden
,Rechtszustandes' willen aufmachen, eine Zusicherung, welche ebenso schmeichelhaft
als beruhigend für uns wäre, wenn nur nicht zufällig in demselben Atem eine Schmähung gegen die bekanntermaßen längst wirklich bei uns verbotenen .Münchener historisch-politischen Blätter' dem Ritter für jede gekränkte Preßfreiheit entschlüpfte." [) 26:1
Sonderbar, daß in demselben Moment, wo die faktische Zeitungslüge mit
einem Verdikt belegt wird, faktisch gelogen wird! Die Stelle, auf welche angespielt wird, lautet wörtlich: „Zunächst werden die alten Sünden der .Leipziger Allgemeinen Zeitung' aufgezählt, ihr Verhalten zu den hannoverschen
Angelegenheiten, ihre Parteipolemik gegen den Katholizismus (hinc illae
lacrimae!); würde unsere Freundin dasselbe Verhalten, nur nach entgegengesetzter Richtung hin, zu den Todsünden der Münchener .Politischen
Blätter* zählen?"1 In diesen Zeilen wird von den Münchener „Politischen
Blättern" eine „Parteipolemik" gegen den Protestantismus ausgesagt. Haben
wir damit ihr Verbot gerechtfertigt? Konnten wir es dadurch rechtfertigen
wollen, daß wir „dasselbe Verfahren", welches wir bei der „Leipziger Allgemeinen Zeitung" als keine Ursache zu einem Verbot darstellen, „nur nach
entgegengesetzter Richtung hin" in den Münchener „Politischen Blättern"
wiederfinden? Im Gegenteil! Wir fragten das Gewissen der „Rhein- und
Mosel-Zeitung", ob ihr dasselbe Verfahren auf der einen Seite ein Verbot
rechtfertige und auf der andern ein Verbot nicht rechtfertige! Wir fragten sie
also, ob sie das Verfahren selbst oder ob sie nicht vielmehr nur die Richtung
des Verfahrens mit einem Verdikt belege? Und die „Rhein- und MoselZeitung" hat unsere Frage beantwortet, sie hat dahin geantwortet, daß sie
nicht, wie wir, die religiöse Parteipolemik, sondern nur die Parteipolemik verdammt, die so verwegen ist, protestantisch zu sein. Wenn wir in demselben
Moment, wo wir die „Leipziger Allgemeine Zeitung" gegen „das eben erfolgte"
Verbot in Schutz nahmen, ihrer Parteipolemik gegen den Katholizismus mit
der „Rhein- und Mosel-Zeitung" erwähnten, durften wir die Parteipolemik
der „längst verbotenen" Münchener „Politischen Blätter" nicht ohne die
„Rhein- und Mosel-Zeitung" erwähnen? Nr. I war also so gütig, die „geringe
Öffentlichkeit des Staats", die „Unfertigkeit" eines „täglichen", lauten und
ungewohnten „politischen Denkens", den Charakter der „werdenden Zeitgeschichte", lauter Gründe, womit wir die faktische Zeitungslüge entschuldigten, mit einem neuen Grund zu vermehren, mit der faktischen Verstandesschwäche eines großen Teils der deutschen Presse. Die „Rhein- und MoselZeitung" hat an sich selbst den Beweis geliefert, wie ein unwahres Denken
notwendig und unabsichtlich unwahre Tatsachen, also Entstellungen und
Lügen produziert.
Wir kommen zu Nr. 2, zu der Löwen^uffe1127-1, denn die weitern Gründe
von Nr. 1 machen hier weitläufiger den Prozeß ihrer Verwickelung durch. Die
Löwenkutte unterrichtet zunächst das Publikum über ihre wenig interessanten
Gemütszustände. - Sie habe einen „Zornerguß" erwartet. Nun brächten wir
eine „anscheinend leicht hingeworfene, Vornehme Abfertigung". Ihrem Danke
für diese „unerwartete Schonung" mischt sich der ärgerliche Zweifel bei,
„ob jene unerwartete Schonung in der Tat als ein Zug der Milde oder vielmehr als eine
Folge der geistigen Unbehaglichkeit und Ermattung anzusehen".
Wir wollen unserm frommen Herrn nicht auseinandersetzen, wie geistliche Behaglichkeit wohl einen Grund zu geistiger Unbehaglichkeit abgeben
könnte, wir wollen gleich zu dem „Inhalt der fraglichen Erwiderung" übergehen. Der fromme Herr gesteht, „leider nicht verhehlen zu können", daß
seinem „allermäßigstem Verstände" die „Rheinische Zeitung" „ihre Verlegenheit nur hinter leeren Wortfechtereien zu verbergen suche", und um
keinen Augenblick den Schein einer „geheuchelten" Demut oder Bescheidenheit aufkommen zu lassen, belegt der fromme Herr seinen „allermäßigsten"
Verstand sogleich mit den schlagendsten, unwiderleglichsten Proben. Er beginnt wie folgt:
„,Die alten Sünden der „Leipziger] Allgemeinen] Zfeitung]", ihr Verhalten zu
den hannoverschen Angelegenheiten, ihre Parteipolemik gegen den Katholizismus, ihre
Klatschereien etc.", nun ja, die können nicht geleugnet werden; aber - meint unsere
vortreffliche Schülerin des großen Philosophen Hegel - diese Vergehen sind vollkommen
dadurch entschuldigt, daß auch andere Blätter dergleichen sich haben zuschulden kommen lassen - (gerade wie ja auch ein Spitzbube vor Gericht sich nicht glänzender rechtfertigen kann, als indem er sich auf die schlechten Streiche seiner zahlreichen, noch frei
in der Welt umherspazierenden Kameraden beruft)."
Wo haben wir gesagt, „die alten Sünden der .Leipziger Allgemeinen
Zeitung' seien vollkommen dadurch entschuldigt, daß auch andere Blätter sich
dergleichen haben zuschulden kommen lassen"? Wo haben wir diese alten
Sünden auch nur zu „entschuldigen" versucht? Unser wirkliches Räsonnement, welches sehr wohl zu unterscheiden ist von dem Widerschein unsers
Räsonnements in dem Spiegel des „allermäßigsten Verstandes", unser wirkliches Räsonnement lautete also: Zunächst zählt die „Rhein- und MoselZeitung" die „alten Sünden" der „Leipziger Allgemeinen Zeitung" auf. Wir
spezifizieren darauf diese Sünden und fahren dann fort: „Wenn sämtliche
deutsche Zeitungen alten Stils sich ihre Vergangenheit vorwerfen wollten, so
könnte sich der Prozeß nur um die formelle Frage bewegen, ob sie gesündigt
haben durch das, was sie taten, oder durch das, was sie nicht taten. Wir würden unserer Freundin", der „Rhein- und Mosel-Zeitung", „gern den harmlosen Vorzug vor der .Leipziger Allgemeinen Zeitung' einräumen, nicht nur
keine schlechte, sondern gar keine Existenz gewesen zu sein."1
Wir sagen also nicht, daß auch andre Blätter, wir sagen, daß sämtliche
deutsche Zeitungen älteren Stils, worunter wir ausdrücklich die „Rhein- und
Mosel-Zeitung" begreifen, nicht sich miteinander Vollständig entschuldigen,
sondern sich mit Recht dieselben Vorwürfe machen können. Nur könne die
„Rhein- und Mosel-Zeitung" den zweideutigen Vorzug in Anspruch nehmen,
durch das gesündigt zu haben, was sie nicht tat, also ihre Unterlassungssünden
den Begehungssünden der „Leipziger Allgemeinen Zeitung" gegenüberstellen.
Wir können der „Rhein- und Mosel-Zeitung" ihre passive Schlechtigkeit an
einem frischen Beispiel erklären. Sie kühlt jetzt an der toten „Leipziger Allgemeinen Zeitung" ihr fanatisches Gelüste, während sie die „Leipziger Allgemeine Zeitung" bei Lebzeiten exzerpierte, statt sie zu widerlegen. Das
Gleichnis, womit der „allermäßigste Verstand" unser Räsonnement sich zu
verdeutlichen strebt, bedarf einer kleinen, aber wesentlichen Korrektur. Er
hätte nicht von einem Spitzbuben sprechen müssen, der sich vor Gericht mit
den andern frei umherlaufenden Spitzbuben entschuldigt. Er hätte von zwei
Spitzbuben sprechen müssen, von denen der eine, der sich nicht gebessert
hat und nicht eingesperrt wird, über den andern triumphiert, der eingesperrt
wird, obgleich er sich gebessert hat.
„Zudem", fährt der „allermäßigste Verstand" fort, „zudem ,wird der Rechtszüstarid
durch den moralischen Charakter oder gar die politischen und religiösen Meinungen
der Individuen nicht alteriert', und hat folglich selbst ein absolut schlechtes Blatt eben
dadurch, daß es lediglich eine schlechte Existenz ist, auch ein Recht, eine solche schlechte
Existenz zu sein (gerade wie allem übrigen Schlechten auf Erden, eben wegen seiner
schlechten Existenz, auch das Recht zu existieren nicht bestritten werden kann)."
Es scheint, der fromme Herr will uns überzeugen, daß er nicht nur nicht
bei keinem „großen", sondern auch nicht einmal bei einem „kleinen" Philosophen in die Schule gegangen ist.
' Der Passus, dem unser Freund so wunderlich verzerrte und verworrene
Züge andichtet, lautete, ehe er in dem Medium des „allermäßigsten Verstandes" sich gebrochen hatte, also:
„Indes unser inkriminierter Artikel sprach nicht von dem Vergangenen,
sondern von dem gegenwärtigen Charakter der .Leipziger Allgemeinen Zeitung', obgleich wir, wie sich von selbst versteht, gegen ein Verbot etc. etc.
der zu Koblenz erscheinenden .Rhein- und Mosel-Zeitung* nicht minder
ernstgemeinte Einwendungen zu machen hätten, denn der Rechtszustand
wird durch den moralischen Charakter oder gar die politischen und religiösen
Meinungen der Individuen nicht alteriert. Der rechtlose Zustand der Presse
ist vielmehr über allen Zweifel erhaben, sobald man ihre Existenz von ihrer
Gesinnung abhängig macht. Bis jetzt gibt es nämlich noch keinen Kodex der
Gesinnung und keinen Gerichtshof der Gesinnung."1
Wir behaupten also nichts, als daß ein Mensch nicht eingesperrt oder
seines Eigentums oder irgendeines andern juristischen Rechtes verlustig gehen
könne wegen seines moralischen Charakters, wegen seiner politischen und
religiösen Meinungen, welche letztere Behauptung unseren religiösen Freund
besonders zu alterieren scheint. Wir wollen den Rechtszustand einer schlechten Existenz ungefährdet wissen, nicht weil sie schlecht ist, sondern insoweit
ihre Schlechtigkeit in der Gesinnung, für die es feinen Gerichtshof und keinen
Kodex gibt, steckenbleibt. Wir stellen also die Existenz der schlechten Gesinnung, für die es keinen Gerichtshof gibt, der Existenz der schlechten Handlungen entgegen, die, wenn sie ungesetzmäßig sind, ihren Gerichtshof und ihre
strafenden Gesetze finden. Wir behaupten also, daß eine schlechte Existenz,
obschon schlecht, wenn nur nicht ungesetzmäßig, ein Recht zu existieren habe.
Wir behaupten nicht, was unser Scheinecho zurückhallt, daß einer schlechten
Existenz, eben weil sie „lediglich eine schlechte Existenz" sei, „das Recht
zu existieren nicht bestritten werden könne". Vielmehr wird sich unser ehrwürdiger Gönner überzeugt haben, daß wir ihm und der „Rhein- und MoselZeitung" das Recht, eine schlechte Existenz zu sein, bestreiten und sie daher
möglichst zu guten Existenzen umwandeln wollen, ohne uns deswegen zu
einem Angriff auf den „Rechtszustand" der „Rhein- und Mosel-Zeitung" und
ihres Schildknappen berechtigt zu halten. Noch eine Probe von dem „Verstandesmaß" unseres frommen Eiferers:
„Wenn aber das Organ ,des politischen Gedankens' so weit geht, zu behaupten,
daß solche Blätter wie die ,Leipz. Allg. Zeitung' (und ganz vorzüglich sie, die .Rheinische', wie sich von selbst versteht), .vielmehr zu loben und von Staats wegen zu loben'
seien, weil sie auch angenommen, daß sie Unzufriedenheit und Verstimmung erregten,
doch deutsche Unzufriedenheit und deutsche Verstimmung erregten, so können wir doch
nicht umhin, unsern Zweifel an diesem seltsamen .Verdienst um das deutsche Vaterland' auszusprechen."
Die angezogne Stelle lautet im Original also: „Sind aber nicht vielmehr
die Blätter zu loben und von Staats wegen zu loben, welche die Aufmerksamkeit, das fieberhafte Interesse, die dramatische Spannung, die alles Werdende,
die vor allem die werdende Zeitgeschichte begleiten, dem Ausland entreißen
und dem Vaterland erobern! Nehmt selbst an, sie erregten Unzufriedenheit,
Verstimmung! So erregen sie doch deutsche Unzufriedenheit, deutsche Verstimmung, so haben sie dem Staat immer noch die abgewandten Gemüter
zurückgeschenkt, wenn auch zunächst aufgeregte, verstimmte Gemüter! Und
sie haben nicht nur Unzufriedenheit und Verstimmung etc., sie haben vor
allem eine wirkliche Teilnahme am Staate erregt, sie haben den Staat zu einer
Herzens-, zu einer Hausangelegenheit etc. gemacht."1
Unser Ehrwürdiger läßt also die verbindenden Mittelglieder aus. Es ist,
als wenn wir ihm sagten: Bester Mann! Sein Sie uns dankbar, wir klären
Ihren Verstand auf, und wenn wir Sie auch ein wenig ärgern, so ist es doch
immer Ihr Verstand, der dabei gewinnt, und unser Freund antwortete: Wie!
ich soll Ihnen dankbar sein, weil Sie mich ärgern! Nach diesen Proben des
„allermäßigsten Verstandes" wird man die unmäßige Phantasie unseres Verfassers, die uns schon kphortenweise „sengend und brennend die deutschen
Gauen durchziehen" läßt, auch ohne tiefere psychologische Studien erklärlich finden. Zum Schlüsse wirft unser Freund die Maske weg. „Ulrich v.
Hutten und seine Genossen", unter denen bekanntlich auch Luther zählt,
werden der Löwenkutte in der „Rhein- und Mosel-Zeitung" ihren ohnmächtigen Ärger verzeihen. Wir können nur über eine Übertreibung erröten, die
uns so großen Männern anreiht, und wollen, weil ein Dienst des andern wert
ist, unseren Freund mit dem Hauptpastor Goeze zusammenstellen. Wir rufen
ihm also mit Lessing zu:
„ U n d sonach meine ritterliche Absage nur kurz. Schreiben Sie, Herr Pastor, und
lassen Sie schreiben, soviel das Zeug halten will; ich schreibe auch. Wenn ich Ihnen
in dem geringsten Ding Recht lasse, wo Sie nicht recht haben: dann kann ich die
Feder nicht mehr rühren." C128]
D i e „Rhein- u n d Mosel-Zeitung"
[„Rheinische Zeitung" Nr. 16 vom 16. Januar 1843]
* Köln, 15.Januar. Der Nr. 1 der „Rhein- und Mosel-Zeitung" vom
11. Januar, dem wir als Vprreiter des Löwenartikels eine flüchtige Aufmerksamkeit vor einigen Tagen gewidmet haben1, sucht heute an einem Beispiel
nachzuweisen, wie wenig
„die in ihrer Dialektik Überschlagende" (die „Rheinische Zeitung") „einen einfachen,
klar ausgesprochenen Satz klar aufzufassen"C129:l
vermöge. Er, Nr. 1, habe nämlich gar nicht gesagt, daß die „Rheinische
Zeitung" das Verbot der Münchener „Politischen Blätter" zu rechtfertigen
gesucht,
„wohl aber, daß sie in demselben Moment, worin sie zur Verfechterin unbedingter
Preßfreiheit sich aufwirft, keinen Anstand nimmt, ein wirklich verbotenes Blatt zu
schmähen, daher die Ritterlichkeit, womit sie selbst gegen ein Verbot der ,Rhein- und
Mosel-Zeitung' in die Schranken treten zu wollen versichert, nicht eben weit her zu
sein scheine".
Der Vorreiter Nr. 1 übersieht, daß zwei Gründe seine Unruhe über unser
ritterliches Betragen bei einem etwaigen Verbot der „Rhein- und MoselZeitung" verursachen konnten und daß auf beide Gründe geantwortet wurde.
Der gute Vorreiter, mußten wir denken, traut entweder unserer Versicherung
nicht, weil er in der angeblichen Schmähung auf die Münchener „Politischen
Blätter" eine versteckte Rechtfertigung ihres Verbots sieht. Wir konnten
einen solchen Gedankengang bei dem guten Vorreiter um so mehr voraussetzen, als der gemeine Mann die eigentümliche Schlauheit besitzt, aus solchen, wie ihm scheint, unbewußt „entschlüpften" Äußerungen die wahre
Meinung herausdeuten zu wollen. Für diesen Fall beruhigen wir den guten
Vorreiter dadurch, daß wir ihm nachweisen, wie unmöglich ein Zusammenhang
zwischen unserer Äußerung über die Münchener „Politischen Blätter" und
einer Rechtfertigung ihres Verbots vorhanden sein könne.
Oder Nr. 1, war die zweite Möglichkeit, findet es überhaupt bedenklich
und unritterlich, daß wir einem wirklich verbotenen Blatt, wie den Münchener
„Politischen Blättern", Parteipolemik gegen den Protestantismus vorwerfen?
Er erblickt hierin eine Schmähung. Und für diesen Fall stellten wir an den
guten Vorreiter die Frage: „Wenn wir in demselben Momente, wo wir die
.Leipziger Allgemeine Zeitung' gegen das ,eben erfolgte Verbot' in Schutz
nahmen, ihrer Parteipolemik gegen den Katholizismus mit der .Rhein- und
Mosel-Zeitung' erwähnen, durften wir die Parteipolemik der ,längst verbotenen' Münchener .Politischen Blätter' nicht ohne die .Rhein- und MoselZeitung' erwähnen?"1 Das hieß: Wir schmähen die „Leipziger Allgemeine
Zeitung" nicht, indem wir ihrer antikatholischen Parteipolemik mit dem
Konsens der „Rhein- und Mosel-Zeitung" erwähnen. Wird unsere Behauptung von der katholischen Parteipolemik der Münchener „Politischen Blätter"
zur Schmähung werden, weil sie so unglücklich ist, nicht den Konsens der
„Rhein- und Mosel-Zeitung" zu besitzen?
Weiter hat Nr. 1 doch nichts getan, als unsere Behauptung eine Schmähung genannt, und seit wann haben wir uns verpflichtet, dem Nr. 1 aufs
Wort zu glauben? Wir sagten: Die Münchener „Politischen Blätter" sind ein
katholisches Parteiblatt und in dieser Rücksicht eine umgekehrte „Leipziger
Allgemeine Zeitung". Der Vorreiter in der „Rhein- und Mosel-Zeitung" sagt:
Sie sind kein Parteiblatt und keine umgekehrte „Leipziger Allgemeine Zeitung". Sie seien keine
„gleiche Niederlage von Unwahrheiten, dummen Klatschereien und Verhöhnungen
gegen nichtkatholische Bekenntnisse".
Wir sind weder theologische Klopffechter der einen noch der andern
Seite, aber man lese nur die psychologische, klatschhaft-gemeine Schilderung Luthers in den Münchener „Politischen Blättern""-1303, man lese nur, was
die „Rhein- und Mosel-Zeitung" von „Hutten und seinen Genossen" sagt, um
zu entscheiden, ob das „gemäßigste" Blatt den Standpunkt einnimmt, von
dem es entscheiden könnte, was religiöse Parteipolemik sei und was nicht.
Schließlich verspricht uns der gute Vorreiter eine „nähere Charakterisierung der .Rheinischen Zeitung' " . a a u Nous verrons.1 Die kleine Partei zwischen München und Koblenz fand schon einmal, daß der „politische" Sinn
der Rheinländer entweder für gewisse unstaatliche Bestrebungen ausgebeutet
oder als ein „Ärgernis" unterdrückt werden müsse. Sollte sie in der schnellen
Verbreitung der „Rheinischen Zeitung" durch die Rheinprovinz ihre gänzliche Bedeutungslosigkeit konstatiert sehen, ohne sich zu ärgern? Ist der
jetzige Moment ungünstig zum Ärgern? Wir finden das alles passabel gut
überlegt und bedauern nur, daß jene Partei in Ermangelung eines bedeutenderen Organs mit dem guten Vorreiter und seinem unscheinbaren „gemäßigten" Blatte vorliebnehmen muß. Man mag aus diesem Organ auf die Macht
der Partei schließen.
1
Wir werden sehen.
12 Mars/Engels, Werke, Bd. 1
Karl Marx
Rechtfertigung
des ff-Korrespondenten von der Mosel11321
[„Rheinische Zeitung" Nr. 15 vom 15. Januar 1843]
f f Von der Mosel, im Januar. Die Nr. 346 und Nr. 348 der „Rheinischen
Zeitung" enthalten zwei Artikel von mir033-1-, wovon der eine die Holznot an
der Mosel, der andere die besondere Teilnahme der Mosellaner an der königlichen Kabinettsordre vom 24. Dezember 1841[31 und der durch sie bewirkten freieren Bewegung der Presse betrifft. Der letzte Artikel ist in grobe und,
wenn man will, rohe Farben getaucht. Wer unmittelbar und häufig die rücksichtslose Stimme der Not in der umgebenden Bevölkerung vernimmt, der
verliert leicht den ästhetischen Takt, welcher in den feinsten und bescheidensten Bildern zu sprechen weiß, der hält es vielleicht sogar für seine
politische Pflicht, auf einen Augenblick öffentlich jene populäre Sprache der
Not zu führen, welche er in seiner Heimat zu verlernen keine Gelegenheit
fand. Handelt es sich nun aber darum, die Wahrheit solcher Worte zu beweisen, so kann wohl schwerlich der Beweis bis auf den Wortlaut gemeint
sein, denn in dieser Rücksicht würde jedes Resümee unwahr sein, und es
wäre überhaupt unmöglich, den Sinn einer Rede wiederzugeben, ohne die
Rede selbst zu wiederholen. Wurde also z. B. behauptet: „Man hielt den
Notschrei der Winzer für freches Gekreisch", so wird billigerweise nur verlangt werden können, daß eine ungefähr richtige Gleichung gezogen sei,
d.h., daß ein Gegenstand nachgewiesen werde, der die resümierende Bezeichnung „freches Gekreisch" einigermaßen aufwiegt und zu einer nicht
unpassenden Bezeichnung macht. Ist diese Probe geliefert, so kann es sich
nicht mehr um die Wahrheit, sondern nur mehr um die sprachliche Präzision
handeln, und schwerlich möchte ein mehr als problematisches Urteil über
die verschwindend feinen Nuancen des sprachlichen Ausdrucks gefällt werden können. -
Zu vorstehenden Bemerkungen veranlassen mich zwei Reskripte des
Herrn Oberpräsidenten von Schaper in Nr. 352 der „Rheinischen Zeitung",
de dato: „Koblenz, 15. Dezember", worin mir in bezug auf meine beiden
oben angeführten Artikel mehre Fragen auferlegt werden. Die verspätete
Erscheinung meiner Antwort ist zunächst durch den Inhalt dieser Fragen
selbst veranlaßt, indem ein Zeitungskorrespondent nach bestem Gewissen die
ihm zu Ohren kommende Volksstimme mitteilt, keineswegs aber auf ihre erschöpfende und motivierte Darstellung im Detail, in den Veranlassungen und
den Quellen derselben vorbereitet sein muß. Abgesehen von dem Zeitverlust,
von den vielen Mitteln, die eine solche Arbeit erfordert, kann sich der Korrespondent einer Zeitung nur als ein kleines Glied eines vielverzweigten
Körpers betrachten, an dem er sich eine Funktion frei auserwählt, und wenn
etwa der eine mehr den unmittelbaren von der Volksmeinung empfangenen
Eindruck eines Notzustandes schildert, wird der andere, der Historiker ist,
dessen Geschichte, der Gemütsmensch die Not selbst, der Staatsökonom die
Mittel, sie aufzuheben, besprechen, welche eine Frage wieder von verschiedenen Seiten bald mehr lokal, bald mehr im Verhältnis zum Staatsganzen etc.
gelöst werden kann.
So wird bei lebendiger Preßbewegung die ganze Wahrheit in die Erscheinung treten, denn wenn das Ganze zuerst auch nur als ein bald absichtlich,
bald zufällig nebeneinander laufendes Hervorheben der verschiedenen einzelnen Gesichtspunkte zum Vorschein kommt, so hat endlich diese Arbeit
der Presse selbst einem ihrer Glieder das Material bereitet, aus dem er nun
das eine Ganze schaffen wird. So setzt sich die Presse nach und nach durch
die Teilung der Arbeit in den Besitz der ganzen Wahrheit, nicht indem einer
alles, sondern indem viele weniges tun.
Ein anderer Grund der Verspätung meiner Antwort liegt darin, daß die
Redaktion der „Rheinischen Zeitung" nach dem ersten Bericht, den ich ihr
einsandte, noch mehrere ergänzende Aufschlüsse, ebenso nach einem zweiten
und dritten Berichte noch Zusätze und diesen Schlußbericht begehrte, endlich teils mich selbst um Mitteilung meiner Quellen ersuchte, teils sich bis
dahin die Publikation meiner Einsendungen vorbehielt, wo sie selbst auf
anderem Wege die Bestätigung meiner Angaben erlangt habe.*
Meine Antwort erscheint ferner anonym. Ich folge darin der Uberzeugung,
daß zum Wesen der Zeitungspresse Anonymität gehört, die eine Zeitung
* Indem wir die obigen Angaben bestätigen, bemerken wir zugleich, daß die verschiedenen sich wechselseitig interpretierenden Briefe eine Zusammenstellung von
unserer Seite nötig machten. Die Red. d. „Rh. Ztg."
aus einem Sammelplatz vieler individueller Meinungen zu dem Organ
eines Geistes macht. Der Name schlösse einen Artikel so fest von dem andern
ab, wie der Körper die Personen voneinander abschließt, höbe also seine
Bestimmung, nur ein ergänzendes Glied zu sein, völlig auf. Endlich macht
die Anonymität nicht nur den Sprecher selbst, sondern auch das Publikum
unbefangener und freier, indem es nicht auf den Mann sieht, welcher spricht,
sondern auf die Sache, die er spricht, indem es von der empirischen Person
ungestört die geistige Persönlichkeit allein zum Maß seines Urteils macht.
Wie ich aber meinen Namen verschweige, so werde ich in allen Detailangaben Beamten und Gemeinden nur dann nennen, wenn gedruckte, im
Buchhandel befindliche Dokumente angezogen werden oder wenn die Nennung des Namens ganz harmlos ist. Die Presse muß die Zustände, aber sie
darf meiner Überzeugung nach nicht die Personen denunzieren, es sei denn,
daß einem öffentlichen Übel nicht anders zu steuern wäre oder daß die
Publizität schon das ganze Staatsleben beherrscht und also der deutsche
Begriff der Denunziation verschwunden ist.
Am Schlüsse dieser einleitenden Bemerkungen glaube ich die gerechte
Hoffnung aussprechen zu dürfen: daß der Herr Oberpräsident nach Durchlesung meiner ganzen Darstellung sich von der Reinheit meiner Absicht
überzeugen und selbst die möglichen Irrtümer aus einer falschen Ansicht,
nicht aber aus böswilliger Gesinnung erklären wird. Meine Darstellung selbst
muß beweisen, ob ich die harte Anschuldigung der Verleumdung, wie des
Zwecks, Unzufriedenheit und Mißvergnügen zu erregen, selbst für den jetzt
wirklich eintretenden Fall einer fortgesetzten Anonymität, verdient habe,
Anschuldigungen, die um so schmerzlicher sein müssen, als sie von einem in
der Rheinprovinz vorzugsweise hochverehrten und geliebten Manne ausgehen.
Zur leichtern Übersicht habe ich meine Antwort in folgende Rubriken
geteilt:
A. Die Frage in bezug auf die Holzverteilung.
B. Das Verhältnis der Moselgegend zu der Kabinettsordre vom 24.Dezember
1841 und der durch dieselbe bewirkten freieren Bewegung der Presse.
C. Die Krebsschäden der Moselgegend.
D. Die Vampire der Moselgegend.
E. Vorschläge zur Abhülfe.
A.
Die Frage in bezug auf die Holzverteilung
In meinem Artikel „Von der Mosel, 12.Dezember", Nr.348 der „Rheinischen Zeitung", führe ich folgenden Umstand an:
„Die aus mehreren tausend Seelen bestehende Gemeinde, der ich angehöre, besitzt als
Eigentümerin die schönsten Waldungen, aber ich weiß mich nicht zu erinnern, daß die
Gemeindeglieder einen unmittelbaren Genuß aus ihrem Eigentum durch Holzpartizipationen gezogen hätten."
Der Herr Oberpräsident bemerkt hiezu:
„Ein solches, mit den gesetzlichen Bestimmungen nicht im Einklang stehendes Verfahren würde sich nur durch ganz besondere Umstände motivieren lassen"
und verlangt zugleich, zur Prüfung des Tatbestandes, die Nennung des
Namens der Gemeinde.
Ich bekenne freimütig: Einerseits glaube ich, daß ein mit den Gesetzen
nicht im Einklang, also im Widerspruch stehendes Verfahren sich kaum durch
Umstände motivieren lassen, sondern stets ungesetzlich bleiben dürfte; andererseits kann ich das von mir geschilderte Verfahren nicht ungesetzlich
finden.
Die infolge des Gesetzes vom 24. Dezember 1816 und der Allerhöchsten
Kabinettsordre vom 18. August 1835 erlassene, in der Beilage zum „AmtsBlatt" Nr.62 der königlichen Regierung zu Koblenz publizierte „Instruktion
(de dato: Koblenz, den 31 .August 1839) über die Verwaltung der Gemeindeund Institutenwaldungen in den Regierungsbezirken Koblenz und Trier"
bestimmt im § 37 wörtlich folgendes:
„ In Beziehung auf die Verwertung des in den Waldungen aufkommenden Materials
gilt es als Regel, daß soviel veräußert werden muß, als zur Deckung der Waldkosten
(Steuern und Verwaltungsausgaben) erforderlich ist."
„Im übrigen hängt es von den Beschlüssen der Gemeinden ab, ob das Material
zur Deckung anderweitiger Gemeindebedürfnisse meistbietend veräußert werden soll
oder ob es unter die Gemeindeglieder ganz oder teilweise, unentgeltlich oder gegen
bestimmte Taxe zu verteilen sei. Indessen gilt als Regel, daß das Brenn- und Geschirrholz in natura verteilt, das Bauholz aber, soweit es nicht zu Gemeindebauten oder zur
Unterstützung einzelner Mitglieder bei Brandschäden usw. zu verwenden, meistbietend verkauft werde."
Diese von einem Vorgänger1 des Herrn Oberpräsidenten derRheinprovinz
erlassene Instruktion scheint mir zu beweisen, daß die Verteilung des Brennholzes unter die Gemeindeglieder von dem Gesetze weder geboten noch
verboten, sondern lediglich eine Frage der Zweckmäßigkeit ist, wie ich denn
auch in dem quästionierten Artikel nur die Zweckmäßigkeit des Verfahrens
besprochen habe. Hiernach möchte der Grund, aus welchem der Herr Oberpräsident den Namen der Gemeinde zu wissen verlangte, wegfallen, da es
sich nicht mehr um die Untersuchung einer Gemeindeverwaltung, sondern
nur um Modifikation einer Instruktion handeln wird. Ich nehme aber keinen
Anstand, die Redaktion der „Rheinischen Zeitung" zur Namhaftmachung der
Gemeinde, in der mir keine Holzverteilung erinnerlich ist, auf besonderes Verlangen des Herrn Oberpräsidenten, zu ermächtigen, indem der Gemeindevorstand dadurch nicht denunziert, das Wohl der Gemeinde aber nur gefördert werden kann.
[„Rheinische Zeitung" Nr. 17 vom 17. Januar 1843]
B.
Das Verhältnis der Moselgegend zurKabinettsordre vom 24. Dezember1841
und der durch dieselbe bewirkten freieren Bewegung der Presse
Der Herr Oberpräsident bemerkt in bezug auf meinen Artikel „Bernkastel, vom 10. Dezember in Nr. 346 der .Rheinischen Zeitung'", worin ich
die Behauptung aufstelle, daß der Mosellaner die durch die Allerhöchste
Kabinettsordre vom 24. Dezember vorigen Jahres der Presse zuteil gewordene
größere Freiheit seiner besonders bedrängten Lage wegen vor allen enthusiastisch begrüßt habe, folgendes:
„Soll dieser Artikel einen Sinn haben, so muß es dem Mosellaner seither versagt
gewesen sein, seinen Notstand, die Ursachen desselben sowie die Mittel zu seiner A b hülfe öffentlich freimütig zu besprechen. Ich bezweifele, daß dem so ist. Denn bei dem
Bestreben der Behörden, dem anerkannten Notstande der Weinbauern Abhülfe zu
verschaffen, hat ihnen nichts erwünschter kommen können als die möglichst offene
und freimütige Besprechung der dort herrschenden Zustände." „Der Herr Verfasser
des obigen Artikels würde mich daher sehr verpflichten, wenn er die Fälle speziell
nachzuweisen die Güte haben wollte, wo auch vor dem Erscheinen der Allerhöchsten
Kabinettsordre vom 24. Dezember vorigen Jahres eine freimütige öffentliche Besprechung des Notstandes der Moselbewohner von der Behörde verhindert worden ist."
1
Ernst von Bodelschwingh
Weiter unten bemerkt der Herr Oberpräsident:
„Daß übrigens, wie der eingangs gedachte Artikel sagt, das Nötgeschrei der Winzer
höheren Orts lange Zeit für freches Gekreisch gehalten sei, glaube ich zwar schon von
vornherein für eine Unwahrheit erklären zu können."
Meine Antwort auf diese Frage wird folgenden Gang nehmen. Ich werde
zu beweisen suchen:
1. daß zunächst, gänzlich abgesehen von den Befugnissen der Presse vor
der Allerhöchsten Kabinettsordre vom 24. Dezember 1841, aus der eigentümlichen Natur des Notzustandes an der Mosel das Bedürfnis einer freien
Presse notwendig hervorgeht;
2. daß, selbst wenn keine speziellen Verhinderungen der „freimütigen und
öffentlichen Besprechung" vor dem Erscheinen der beregten Kabinettsordre
stattgefunden haben, meine Behauptung nichts von ihrer Richtigkeit einbüßt und die vorzugsweise Teilnahme der Mosellaner an der Allerhöchsten
Kabinettsordre und der durch sie bewirkten freieren Bewegung der Presse
gleich verständlich bleibt;
3. daß wirklich spezielle Umstände eine „freimütige und öffentliche" Besprechung verhinderten.
Innerhalb des ganzen Zusammenhangs wird sich dann ergeben, inwiefern
meine Behauptung: „Der desolate Zustand der Winzer war höheren Orts lange
Zeit in Zweifel gezogen und ihr Notgeschrei für freches Gekreisch gehalten
worden", eine Wahrheit oder eine Unwahrheit ist.
ad 1. Bei der Untersuchung staatlicher Zustände ist man allzu leicht versucht, die sachliche Natur der Verhältnisse zu übersehen und alles aus dem
Willen der handelnden Personen zu erklären. Es gibt aber Verhältnisse, welche
sowohl die Handlungen der Privatleute als der einzelnen Behörden bestimmen
und so unabhängig von ihnen sind als die Methode des Atemholens. Stellt
man sich von vornherein auf diesen sachlichen Standpunkt, so wird man
den guten oder den bösen Willen weder auf der einen noch auf der andern
Seite ausnahmsweise voraussetzen, sondern Verhältnisse wirken sehen, wo
auf den ersten Anblick hur Personen zu wirken scheinen. Sobald nachgewiesen
ist, daß eine Sache durch die Verhältnisse notwendig gemacht wird, wird es
nicht mehr schwierig sein, auszumitteln, unter welchen äußern Umständen
sie nun wirklich ins Leben treten mußte und unter welchen sie nicht ins
Leben treten konnte, obgleich ihr Bedürfnis schon vorhanden war. Man
wird dies ungefähr mit derselben Sicherheit bestimmen können, mit welcher
der Chemiker bestimmt, unter welchen äußern Umständen verwandte
Körperstoffe eine Verbindung eingehen müssen. Wir glauben daher durch
den Beweis: daß aus der Eigentümlichkeit des Notzustandes an der Mosel
die Notwendigkeit einer freien Presse folgt, unserer Darstellung eine Basis
zu geben, die über alles Persönliche hinausragt.
Der Notzustand der Moselgegend kann nicht als ein einfacher Zustand
betrachtet werden. Man wird mindestens immer zwei Seiten unterscheiden
müssen, den Privatzustand und den Staatszustand, denn so wenig die Moselgegend außerhalb des Staats, so wenig liegt ihr Notzustand außer der Staatsverwaltung. Die Beziehung beider Seiten aufeinander bildet erst den wirkliehen Zustand der Moselgegend. Um nun die Art und Weise dieser Beziehung zu ermitteln, teilen wir ein authentisches und aktenmäßiges Gespräch
zwischen den wechselseitigen Organen der beiden Seiten mit.
In dem vierten Hefte der „Mitteilungen des Vereins zur Förderung der
Weihkultur an der Mosel und Saar zu Trier" findet sich eine Verhandlung
zwischen dem Finanzministerium, der Regierung zu Trier und der Direktion des angegebenen Vereins.1134-1 Der Verein hatte in einer „Vorstellung"
an das Finanzministerium u. a. auch eine Berechnung des Ertrages der Weinberge aufgestellt. Die Regierung zu Trier beauftragte mit der Begutachtung
des auch ihr zugegangenen Schreibens den Vorsteher des trierischen Katasterbüros, Steuerinspektor v.Zuccalmaglio, der hierzu, wie die Regierung selbst
in einem Schreiben sagt, um so geeigneter schien, als er „zur Zeit der Ermittelung der Katastralerträge der Weinberge an der Mosel tätigen Anteil
genommen". Wir stellen nun einfach das amtliche Gutachten des Herrn
v. Zuccalmaglio und die Replik der Direktion des Vereins zur Förderung der
Weinkultur in ihren schlagendsten Stellen sich gegenüber.
Der amtliche Berichterstatter:
Der in der Eingabe aufgestellten Berechnung des Bruttoertrags eines
Morgen Weinberges während der letzten zehn Jahre von 1829-1838 aus den
zu der dritten H^emsfeuerklasse gehörenden Gemeinden liegt:
1. die Kreszenz auf einem Morgen,
2. der Preis, wofür ein Fuder Wein im Herbste verkauft worden, zugrunde.
Die Berechnung entbehre aber aller als genau nachgewiesenen Prämissen,
denn:
„Ohne amtliche Einwirkung und Kontrolle ist es weder einem einzelnen noch auch
einem Verein möglich, zuverlässige Nachrichten auf dem Privatwege über den Weingewinn aller einzelnen Eigentümer während einem Zeitraum in einer großen Anzahl
von Gemeinden zu erlangen, weil es gerade im Interesse vieler Eigentümer liegen kann,
hierin die Wahrheit möglichst zu verheimlichen."
Die Replik der Vereinsdirektion:
„Daß das Katasterbüro das Katastralverfahren nach Kräften in Schutz nimmt,
befremdet uns nicht: dennoch aber bleibt das nun folgende Räsonnement schwer
begreiflich" etc.
„Der Herr Katastervorsteher sucht mit Ziffern darzutun, daß die Katastralerträge
überall die richtigen sind: sagt auch, daß die von uns angenommene zehnjährige Periode
hier nichts beweisen könne etc. etc." „Auf Ziffern lassen wir uns nicht ein, indem, wie
er am Eingange seiner Bemerkungen sehr weislich vorausschickt, uns dazu die amtlichen Mitteilungen fehlen; wir halten es auch nicht nötig, da seine ganze auf Amtlichkeit
gestützte Rechnung und sein Räsonnement gegen die von uns aufgestellten Tatsachen
nichts beweisen können." „Wenn wir sogar zugestehn, daß die Katastralerträge im
Augenblicke ihrer Ermittelung ganz richtig, daß sie sogar zu niedrig gewesen, so kann
uns mit Erfolg nicht in Abrede gestellt werden, daß sie bei der gegenwärtigen jammervollen Umgestaltung der Dinge als Basis nicht mehr dienen können."
Der amtliche Berichterstatter:
„Es zeigt sich demnach nirgend ein Faktum, das zu der Annahme berechtigt, daß
die Katastralerträge der in der letzten Zeit abgeschätzten Weinberge zu hoch seien,
wohl aber ließe sich leicht nachweisen, daß die in früherer Zeit abgeschätzten Weinberge der Land- und Stadtkreise Trier und des Kreises Saarburg sowohl an und für
sich als gegen die übrigen Kulturen zu gering stehen."
Die Replik der Vereinsdirektion:
„Der um Hülfe Flehende fühlt sich schmerzlich berührt, wenn ihm auf seine gegründete Klage erwidert wird, daß bei einer Ermittelung die Katastererträge eher höher
als niedriger gestellt werden dürften."
„Übrigens", bemerkt die Replik, „hat auch der Herr Berichterstatter bei allem A b sprechen unserer Angabe bei der Einnahme fast nichts widerlegen oder anders stellen
können, daher nur gesucht, bei der Ausgabe andere Resultate herbeizuführen."
j
Wir wollen nun hinsichtlich der Ausgabeberechnung einige der schlagendsten Kontrpversen zwischen dem Herrn Berichterstatter und der Direktion
des Vereins gegenüberstellen.
Der amtliche Berichterstatter:
„ad Position 8 muß besonders bemerkt werden, daß das Ausbrechen der üblichen
Lotten oder das sogenannte Geitzen eine Operation ist, die nur von wenigen Weingutsbesitzern in neuerer Zeit eingeführt worden, nirgend aber, weder an der Mosel noch
an der Saar, als zu der landesüblichen Bauart gehörig angesehen werden kann."
Die Replik der Vereinsdirektion:
„Das Ausbrechen und Rühren, meinte der Herr Katastervorsteher, sei erst in neuerer
Zeit von wenigen Gutsbesitzern eingeführt worden" etc. Dem ist jedoch nicht so. „Der
Winzer habe erkannt, daß, will man nicht ganz untersinken, man nichts unversucht
lassen darf, was die Qualität des Weines einigermaßen heben kann. Diesen Geist soll
man zum Gedeihen des Landes sorgsam heben, statt ihn zu unterdrücken."
„Und wem würde es einfallen, die Kulturkosten der Kartoffeln deshalb herunterzusetzen, weil es Ackersleute gibt, welche dieselben ihrem Schicksale und der Güte
Gottes überlassen."
Der amtliche Berichterstatter:
„Die bei Position 14 aufgeführten Kosten für das Faß können hier gar nicht in
Ansatz kommen, da, wie schon bemerkt worden, in den aufgeführten Weinpreisen die
Kosten für das Gebinde oder das Faß nicht einbegriffen sind. Wird nun beim Verkaufe des Weines das Faß mit verkauft, wie Regel ist, so wird auch dem Weinpreise der Kostenpreis hierfür noch zugesetzt, wodurch die Fässer wieder vergütet
werden."
Die Replik der Vereinsdirektion:
„ W o Wein verkauft wird, geht das Faß mit fort, ohne daß von dessen Vergütung
auch nur im entferntesten die Rede wäre oder auch nur sein könnte. Die wenigen
Fälle, wo Wirte hiesiger Stadt ohne Faß kaufen, können auf das Ganze nicht in
Anschlag kommen." „Es ist nicht mit dem Weine wie mit andern Waren, die bis zum
Verkaufe im Magazine liegen, dann aber auf Kosten des Empfängers verpackt und
versendet werden, da also der Weinkauf das Faß stillschweigend nach sich zieht, so
ist es einleuchtend, daß dessen Preis zu den Produktionskosten mit angerechnet werden muß."
Der amtliche Berichterstatter:
„Wird die in der Anlage angegebene Kreszenz nach den amtlichen Nachweisungen
hierüber berichtigt, dagegen die Kostenberechnung sogar in allen Teilen als richtig
angenommen und nur aus derselben die Grund- und Mosisteuer und die Kosten für
das Faß oder die Positionen 13, 14 und 17 weggelassen, so ergibt sich folgendes:
Der Brutto-Ertrag beträgt
53 Taler 21 Silbergroschen 6 Pfennig
Die Kosten ohne 13, 14 und 17
39 Taler
Mithin Reinertrag
5 Silbergroschen 0 Pfennig
14 Taler 16 Silbergroschen 6 Pfennig."
Die Replik der Vereinsdirektion:
„Die Rechnung als solche ist richtig, nicht aber so das Resultat. Wir haben nicht
mit unterstellten, sondern mit solchen Zahlen gerechnet, die wirkliche Beträge repräsentieren, und gefunden, daß, wenn man von 53 Talern wirklicher Auslage 48 Taler
wirklicher und alleiniger Einnahme abzieht, 5 Taler Zubuße bleiben."
Der amtliche Berichterstatter:
„ Ist aber nun dennoch nicht zu verkennen, daß der Notstand an der Mosel gegen
die Periode vor dem Entstehen des Zollverbandes bedeutend zugenommen, daß sogar
teilweise eine wirkliche Verarmung zu befürchten steht, so ist der Grund hievon - lediglich in dem frühern, zu hohen Ertrage derselben zu suchen."
„Durch das an der Mosel und Saar bestehende frühere Quasi-Monopol im Weinhandel und die schnell aufeinander gefolgten günstigen Weinjahre 1819, 1822, 1825,
1826, 1827, 1828 hatte sich dort ein nie gekannter Luxus gebildet. Die großen Summen
Geldes in den Händen des Winzers verleiteten ihn zum Ankauf von Weinbergen zu
ungeheuren Preisen, zur Anlage von neuen Weinbergen mit übermäßigen Kosten in
Distrikten, die sich zum Weinbau nicht mehr eigneten. Jeder wollte Eigentümer werden, und so wurden Schulden kontrahiert, die früher von einem guten Jahre leicht
gedeckt werden konnten, die aber jetzt bei den eingetretenen nachteiligen Konjunkturen den in die Hände der Wucherer gefallenen Winzer notwendig ganz zu Boden
drücken müssen."
„Eine Folge wird sein, daß die Weinkultur sich auf die bessern Lagen beschränken
und wieder, wie früher, mehr in die Hände von reichen Gutsbesitzern übergehen wird,
wozu sie auch wegen den damit verbundenen großen Vorlagen sich hauptsächlich eignet, die leichter imstande sind, nachteilige Jahre zu überstehen, und dennoch Mittel
genug haben, die Kultur zu verbessern und ein Produkt zu erzielen, welches mit dem
aus den nun geöffneten Zollvereinsländern die Konkurrenz bestehen kann. Allerdings
wird dies nicht ohne große Kalamitäten bei der ärmeren Winzerklasse, die aber auch wohl
größtenteils in der vorhergegangenen günstigen Zeit Eigentümer geworden sind, in den
ersten Jahren geschehen können; indessen bleibt dabei immer zu berücksichtigen, daß
der frühere Zustand ein unnatürlicher war, der sich jetzt an dem Unvorsichtigen rächt.
Der Staat... wird sich lediglich darauf beschränken können, durch dazu geeignete Mittel
der gegenwärtigen Bevölkerung den Übergang möglichst zu erleichtern."
Die Replik der Vereinsdirektion:
„Wahrlich, wer die Armut an der Mosel erst befürchtet, hat sie, die in ihrer gräßlichsten Gestalt unter der moralisch guten, unermüdet regsamen Bevölkerung dieses
Landesteils bereits ganz eingebürgert ist und täglich mehr und mehr um sich greift,
noch nicht gesehen, und daß man hier nicht sage, wie es der Herr Katastervorsteher
tut, es sei die eigene Schuld des Verarmten; nein, der vorsichtige wie der nichtachtende,
der fleißige wie der gleichgültige, der bemittelte wie der unbemittelte Winzer, alle
liegen mehr oder weniger darnieder, und wenn es einmal dahin gekommen ist, daß
selbst die vermögenden, fleißigen und sparsamen Winzer sagen müssen, wir können
uns nicht mehr nähren, dann muß doch wohl die Ursache außer ihnen gesucht
werden."
„Wahr ist es, daß die Winzer in den günstigen Zeiten zu höhern Preisen als sonsten
Güter angeschafft und - darauf rechnend, daß ihre Mittel, wie selbe sich ihnen zeigten,
zureichen würden, alles nach und nach zu berichtigen - Schulden kontrahiert hatten;
allein wie man dieses, was als Beweis der Tätigkeit und Gewerbsamkeit dieser Leute
dient, Luxus nennen und sagen kann, daß der gegenwärtige Zustand der Winzer davon
herrühre, daß der frühere ein unnatürlicher gewesen, der sich jetzt an den Unvorsichtigen räche, bleibt unbegreiflich."
„Der Herr Katastervorsteher stellt auf, daß, durch die ungewöhnlich günstigen
Zeiten verlockt, die Leute, welche nach ihm früher nicht einmal Eigentümer gewesen!!
die Masse der Weinberge unverhältnismäßig vermehrt hätten und daß jetzt nur in der
Verminderung der Weinberge Heil zu suchen sei."
„Allein wie unbedeutend ist die Zahl derjenigen Weinberge, die zum Anbaue von
Frucht und Gemüse verordnet werden könnten, gegen die Masse derer, die außer dem
Weine nur Hecken und Gesträuche hervorbringen können! und soll die gewiß höchst
achtbare, wegen dem Weinbaue auf eine so verhältnismäßig kleine Bodenfläche zusammengedrängte Bevölkerung, die dem Unglücke so männlich entgegenkämpfte, nicht
einmal des Versuchs wert sein, ob ihre Existenz durch Erleichterungen nicht gefristet
werden könne, bis günstigere Verhältnisse es ihr möglich machen, sich wieder zu erheben und dem Staate wieder zu werden, was sie ihm früher waren; nämlich eine
Quelle des Einkommens, wie nicht leicht eine zweite auf gleicher Bodenfläche, ohne
Zurechnung von Städten, zu treffen sein wird."
Der amtliche Berichterstatter :
„Daß aber diese Not der armem Winzer nun auch von den reichern Gutsbesitzern
benutzt wird, um durch grelle Darstellung des frühern glücklichen Zustandes im
Gegensatz mit dem jetzigen weniger günstigen, aber doch noch immer lohnenden, sich
alle möglichen Erleichterungen und Vorteile zu verschaffen, ist wohl sehr begreiflich."
[„Rheinische Zeitung" Nr. 18 vom 18. Januar 1843]
Die Replik der Vereinsdirektion:
„Wir sind unserer Ehre und unserm innern Bewußtsein schuldig, uns gegen die
Anschuldigung zu verwahren, daß wir die Not der ärmern Winzer benutzen, um uns
durch grelle Darstellungen alle möglichen Vorteile und Erleichterungen zu verschaffen."
„Nein, wir beteuren es, und das wird, so hoffen wir, zu unserer Rechtfertigung
genügen, daß jede selbstsüchtige Absicht uns fremd war und daß wir bei dem ganzen
Schritte nichts vor Augen hatten, als durch eine offene und wahre Darstellung der Verhältnisse der armen Winzer den Staat auf das aufmerksam zu machen, was bei weiterm
Umsichgreifen für ihn selbst gefährlich werden muß! Wer die Umgestaltung kennt,
welche die gegenwärtige traurige Lage der Winzer in ihren häuslichen und industriellen
Beziehungen, selbst hinsichtlich der Moralität, in progressivem Fortschritte schon bis
jetzt hervorgebracht hatte, dem muß, denkt er an ein Fortbestehen oder gar Zunehmen
solcher Not, vor der Zukunft grauen."
Zunächst wird man zugeben müssen, daß die Regierung nicht entschieden
sein, sondern schwanken mußte zwischen der Ansicht ihres Berichterstatters
und der gegnerischen Ansicht der Weinbautreibenden. Bedenkt man ferner,
daß das Referat des Herrn v. Zuccalmaglio vom 12. Dezember 1839 und die
Antwort des Vereins vom 15. Juli 1840 datiert, so folgt, daß bis zu dieser Zeit
die Ansicht des Herrn Berichterstatters, wenn auch nicht die einzige, doch
immer die herrschende Ansicht des Regierungskollegiums gewesen sein muß.
Wenigstens tritt sie noch im Jahr 1839 als Regierungsgutachten, also gleichsam als Resümee der Regierungsansicht dem Memoire des Vereins gegenüber, denn bei einer konsequenten Regierung darf man wohl ihre letzte Ansicht als die Summe ihrer frühern Ansichten und Erfahrungen betrachten.
In dem Bericht wird nun nicht nur der Notzustand nicht als allgemeiner
einerkannt, sondern auch dem anerkannten Notstand soll nicht abgeholfen
werden, denn es heißt:
„Der Staat wird sich nur lediglich darauf beschränken können, durch dazu geeignete
Mittel der gegenwärtigen Bevölkerung den Übergang möglichst zu erleichtern."
Unter dem Übergang ist unter diesen Umständen aber der allmähliche
Untergang zu verstehen. Der Untergang der ärmeren Winzer wird gleichsam
als ein Naturereignis betrachtet, wobei der Mensch im voraus resigniert und
nur das Unausbleibliche zu mildern sucht. „Allerdings", heißt es, „wird dies
nicht ohne große Kalamitäten abgehen." Der Verein wirft daher auch die
Frage auf, ob der Moselwinzer nicht einmal „eines Versuches" wert sei?
Hätte die Regierung eine entschieden gegnerische Ansicht gehabt, so würde
sie den Bericht von vornherein modifiziert haben, da er eine so wichtige
Sache, wie die Aufgabe und den Entschluß des Staats in dieser Angelegenheit,
bestimmt angibt. Man sieht hieraus, daß der Notstand der Winzer anerkannt
sein konnte, ohne daß das Bestreben vorhanden war, ihm abzuhelfen.
Wir führen nun noch ein Beispiel davon an, wie den Behörden über den
Moselzustand referiert ward. Im Jahre 1838 bereiste ein hochgesteller administrativer Beamter die Moselgegend. In einer zu Piesport gehaltenen Konferenz mit zwei Landräten frug er einen derselben, wie es mit den Vermögensverhältnissen der Winzer aussehe, und erhielt zur Antwort:
„Die Winzer lebten zu luxuriös, und schon deshalb könnten ihre Sachen nicht
schlecht stehen."
Dennoch war der Luxus schon zu einer Sage früherer Tage geworden.
Wie wenig diese mit dem Regierungsreferate übereinstimmende Ansicht allgemein aufgegeben ist, darauf machen wir nur beiläufig aufmerksam. Wir erinnern an die Stimme, welche sich in der Beilage I des „Frankfurter Journals"
Nr. 349 (1842) aus Koblenz vernehmen ließ und von dem angeblichen Notstande der Weinbauern an der Mosel spricht.
Ebenso spiegelt sich höhern Orts die eben vernommene amtliche Ansicht
als ein Bezweifeln „der desolaten" Zustände und der allgemeinen Wirkungen
der Not, also auch ihrer allgemeinen Ursachen, wider. Die angezogenen Mitteilungen des Vereins enthalten u.a. folgende Erwiderungen des Finanzministeriums auf verschiedene Eingaben:
„Wenngleich, wie die marktgängigen Weinpreise ergeben, die Besitzer der in die
erste und zweite Steuerklasse eingeschätzten Weinberge an der Mosel und Saar heim
Veranlassung zur Unzufriedenheit haben, so wird doch nicht verkannt, daß die Weinbauern, deren Erzeugnis von minder guter Art ist, sich nicht in einem gleich günstigen
Verhältnisse befinden."
So heißt es in einer Antwort auf ein Gesuch um Steuererlaß für 1838:
„Auf Ihre hierher gerichtete Vorstellung vom 10. Oktober vorigen Jahres wird Ihnen
eröffnet, daß auf den in Antrag gebrachten allgemeinen Erlaß der ganzen Weinsteuer
für 1838 nicht eingegangen werden kann, da Sie selbst keineswegs zu derjenigen Klasse
gehören, welche der meisten Berücksichtigung bedarf und deren Notstand etc. in ganz
andern als den steuerlichen Verhältnissen zu suchen ist."
Wie wir in dieser ganzen Darstellung nur auf Faktisches zu bauen wünschen und uns bestreben, soviel an uns, nur Tatsachen in eine allgemeine
Form zu erheben, so werden wir zunächst den Dialog zwischen dem trierischen Verein zur Förderung der Weinkultur und dem Berichterstatter der
Regierung in seine allgemeinen Grundgedanken übersetzen.
Die Regierung muß einen Beamten zur Begutachtung des Memoires ernennen. Sie ernennt natürlich einen möglichst sachkundigen Beamten, am
liebsten also einen Beamten, der an der Regulierung der Moselverhältnisse
selbst Anteil nahm. Dieser Beamte ist nicht abgeneigt, in der fraglichen Beschwerdeschrift Angriffe auf seine amtliche Einsicht und sein früheres amtliches Wirken zu entdecken. Er ist sich seiner gewissenhaften Pflichterfüllung
und der offiziellen Detailkenntnisse, die ihm zu Gebote stehen, bewußt; er
findet plötzlich eine entgegengesetzte Ansicht, und was ist natürlicher, als
daß er Partei gegen die Bittsteller ergreift, daß ihre Absichten, die doch immer
mit Privatinteressen zusammenhängen können, ihm verdächtig erscheinen,
daß er sie also verdächtigt. Statt ihre Darstellung zu benutzen, sucht er sie
zu widerlegen. Es kömmt hinzu, daß der augenscheinlich arme Winzer weder
Zeit noch Bildung zur Schilderung seiner Zustände besitzt, daß also der arme
Winzer nicht sprechen kann, während der Weinbautreibende, der sprechen
kann, nicht augenscheinlich arm ist, also ohne Grund zu sprechen scheint.
Wenn aber selbst der gebildete Weinbautreibende auf den Mangel an amtlicher Einsicht verwiesen wird, wie sollte der ungebildete Winzer vor dieser
amtlichen Einsicht bestehen können!
Die Privaten ihrerseits, die das wirkliche Elend an andern in seiner vollen
Ausbildung erblickt haben, die es an sich selbst heranschleichen sehen und
überdem sich bewußt sind, daß das Privatinteresse, was sie beschützen,
ebensosehr Staatsinteresse ist und als Staatsinteresse von ihnen bevorwortet
wurde, fühlen notwendig nicht nur ihre eigene Ehre verletzt, sondern glauben
auch die Wirklichkeit von einem einseitig und willkürlich zurechtgemachten
Standpunkte aus entstellt. Sie opponieren also gegen die sich überhebende
Amtlichkeit, sie weisen die Widersprüche zwischen der wirklichen Gestalt
der Welt und jener Gestalt auf, die sie in den Büros annimmt, sie stellen den
offiziellen Belegen die praktischen Belege gegenüber, sie können endlich
nicht umhin, in der gänzlichen Verkennung ihrer überzeugungssicheren und
faktisch klaren Sachentwickelung eine selbstsüchtige Absicht zu vermuten,
etwa die Absicht, den Beamtenverstand gegen die Bürgerintelligenz geltend
zu machen. Der Private schließt also ebenfalls, daß der sachkundige, mit
seinen Verhältnissen in Berührung getretene Beamte sie nicht vorurteilsfrei
darstellen werde, eben weil sie teilweise sein Werk sind, während der vorurteilsfreie Beamte, der die hinlängliche Unparteilichkeit zur Begutachtung
besäße, nicht sachkundig sei. Wenn aber der Beamte dem Privaten vorwirft,
daß er seine Privatangelegenheit zu einem Staatsinteresse hinaufschraube, so
wirft der Private dem Beamten vor, daß er das Staatsinteresse zu seiner
Privatangelegenheit herunterschraube, zu einem Interesse, von dem alle andern als Laien ausgeschlossen seien, so daß selbst die sonnenklarste Wirklichkeit gegen die in den Akten, also amtlich, also staatlich vorliegende Wirklichkeit und die auf sie fußende Intelligenz ihm als illusorisch, so daß nur der
Wirkungskreis der Behörde ihm als Staat, dagegen die außer diesem Wirkungskreis der Behörde liegende Welt als Staatsgegenstand erscheine, der aller
staatlichen Gesinnung und Einsicht bar sei. Wenn endlich der Beamte bei
einem notorischen Mißstand das meiste auf die Privaten schiebt, die ihren
Zustand selbst verschuldet hätten, dagegen die Vortrefflichkeit der Verwaltungsmaximen und Institutionen, die selbst amtliche Schöpfungen sind, nicht antasten läßt, auch von ihnen nichts aufgeben will, so verlangt umgekehrt der
Private, der sich seines Fleißes, seiner Sparsamkeit, seines harten Kampfes
mit der Natur und den sozialen Verhältnissen bewußt ist, daß der Beamte,
der allein staatsschöpferische Macht besitze, nun auch seine Not wegschaffe
und, wenn er alles gut zu machen behaupte, nun auch beweise, daß er die
bösen Zustände durch seine Operationen gutmachen könne oder zum wenigsten Einrichtungen, die für eine Zeit passend waren, als Unpassend für eine
gänzlich verwandelte Zeit erkenne.
Derselbe Gesichtspunkt des höhern amtlichen Wissens und derselbe
Gegensatz der Verwaltung und ihres Gegenstandes wiederholt sich innerhalb der Beamtenwelt selbst, und wie wir sehen, daß das Katasterbüro bei
Begutachtung der Moselgegend hauptsächlich die Unfehlbarkeit des Katasters geltend macht, wie das Finanzministerium behauptet, das Übel liege
„in ganz andern" als den „steuerlichen" Ursachen, so wird die Verwaltung
überhaupt nicht in sich, sondern außer sich den Grund der Not finden. Der
einzelne, dem Winzer zunächst stehende Beamte sieht nicht absichtlich, sondern notwendig die Zustände besser oder anders an, als sie sind. Er glaubt, die
Frage, ob sich seine Gegend wohl befinde, sei die Frage, ob er sie wohl verwalte. Ob die Verwaltungsmaximen und Institutionen überhaupt gut sind,
ist eine Frage, die außerhalb seiner Sphäre liegt, denn darüber kann nur von
hohem Stellen geurteilt werden, wo ein weiteres und tieferes Wissen über
die amtliche Natur der Dinge, d.h. über ihren Zusammenhang mit dem
ganzen Staate, herrscht. Daß er selbst gut verwaltet, davon kann er die gewissenhafteste Überzeugung haben. So wird er einerseits den Zustand nicht
so ganz desolat finden, und andererseits, wenn er ihn desolat findet, wird er
den Grund außerhalb der Verwaltung suchen, teils in der Natur, die vom
Menschen unabhängig, teils im Privatleben, das von der Verwaltung unabhängig, teils in Zufällen, die von niemand abhängig.
Die höhere kollegialische Behörde nun muß offenbar ihren Beamten
höheres Vertrauen schenken als den Verwalteten, von welchen die gleiche,
amtliche Einsicht nicht zu präsumieren ist. Eine kollegialische Behörde hat
überdem ihre Überlieferungen. Sie hat also auch in bezug auf die Moselgegend ihre einmal feststehenden Grundsätze, sie besitzt in dem Kataster
die amtliche Gestalt des Landes, sie hat amtliche Festsetzungen über Einnahmen und Ausgaben, sie hat überall neben der reellen Wirklichkeit eine
bürokratische Wirklichkeit, die ihre Autorität behält, so sehr die Zeit wechseln
mag. Es kömmt hinzu, daß die beiden Umstände, das Gesetz der Beamtenhierarchie und der Grundsatz von einem doppelten Staatsbürgertum, dem
aktiven, wissenden Staatsbürgertum der Verwaltung und dem passiven, unbewußten der Verwalteten, sich wechselseitig ergänzen. Nach der Maxime,
wonach der Staat sein bewußtes und tätiges Dasein in der Verwaltung besitzt,
wird jede Regierung den Zustand einer Gegend, soweit es sich um die Staatsseite handelt, für das Werk ihres Vorgängers halten. Nach dem Gesetz der
Hierarchie wird dieser Vorgänger meistens schon eine höhere Stellung, oft
die unmittelbar höhere Stellung, einnehmen. Endlich hat jede Regierung
einerseits das wirkliche Staatsbewußtsein, daß der Staat Gesetze hat, die er
trotz aller Privatinteressen durchsetzen muß; andererseits hat sie als einzelne
Verwaltungsbehörde nicht die Institutionen und Gesetze zu machen, sondern sie anzuwenden. Sie kann daher nicht die Verwaltung selbst, sondern
nur den Gegenstand der Verwaltung zu reformieren suchen. Sie kann ihre
Gesetze nicht nach der Moselgegend einrichten, sie kann nur innerhalb ihrer
feststehenden Verwaltungsgesetze das Wohl der Moselgegend zu befördern
suchen. Je eifriger und redlicher daher eine Regierung strebt, innerhalb der
einmal angenommenen und sie selbst beherrschenden Verwaltungsmaximen
und Einrichtungen einen auffallenden, gar eine ganze Landstrecke umfassenden Notstand zu heben, je hartnäckiger das Übel widersteht und trotz der
guten Verwaltung zunimmt, um so inniger, aufrichtiger, entschiedener wird
ihre Überzeugung, daß dies ein inkurabler Notzustand sei, an dem die Verwaltung, d. h. der Staat, nichts ändern könne, der vielmehr eine Veränderung
von seiten der Verwalteten nötig mache.
Wenn aber die untern Verwaltungsbehörden der höherstehenden amtlichen Einsicht vertrauen, daß die Maximen der Verwaltung gut sind und
selbst für ihre pflichtgetreue Ausführung im einzelnen einstehen, so stehen
sich die höheren Verwaltungsbehörden für die Richtigkeit der allgemeinen
Maximen und trauen ihren untergeordneten Gliedern die richtige amtliche
Beurteilung des einzelnen zu, von der sie übrigens überdem amtliche offizielle Belege haben.
So kann eine Regierung bei dem besten Willen zu dem von dem Regierungsreferenten zu Trier über die Moselgegend ausgesprochenen Grundsatz
kommen:
„Der Staat wird sich nur lediglich darauf beschränken können, durch dazu geeignete
Mittel der gegenwärtigen Bevölkerung den Übergang zu erleichtern."'
Betrachten wir nun einige der bekanntgewordenen Mittel, welche die
Regierung zur Milderung des Notstandes der Mosel anwandte, so wird sich
unser Räsonnement wenigstens durch die offen daliegende Verwaltungsgeschichte bestätigt finden, und nach der geheimen Geschichte können wir
natürlich unser Urteil nicht formulieren. Wir zählen zu diesen Mitteln: die
Steuererlasse in schlechten Weinjahren, den Rat, zu einer andern Kulturart,
etwa dem Seidenbau, überzugehen, und endlich die Motion, die Parzellierung
des Grundbesitzes zu beschränken. Das erste Mittel soll offenbar nur erleichtern, nicht abhelfen. Es ist ein momentanes Mittel, in welchem der Staat
eine Ausnahme von seiner Regel macht, und eine Ausnahme, die nicht kostspielig ist. Es ist auch nicht der konstante Notstand, es ist ebenfalls eine ausnahmsweise Erscheinung desselben, die erleichtert wird; es ist nicht die
chronische Krankheit, an die man sich gewöhnt hat, es ist eine akute Krankheit, von der man überrascht wird.
Mit den beiden andern Mitteln tritt die Verwaltung aus ihrem eigenen
Kreise heraus. Die positive Tätigkeit, die sie nun entwickelt* besteht darin,
daß sie teils den Mosellaner belehrt, wie er sich selbst helfen könne, teils ihm
eine Beschränkung und Entsagung eines bisherigen Rechts vorschlägt. Hier
wird also der oben entwickelte Gedankengang verwirklicht. Die Verwaltung,
die den Notstand der Mosel inkurabel und in Umständen, die außerhalb ihrer
13 Marx/Engels, Werke. Bd. I
Maximen und ihrer Tätigkeit liegen, begründet gefunden hat, stellt an den
Mosellaner den Rat, seinen Zustand so einzurichten, daß er in die jetzigen
Verwaltungsinstitutionen hineinpasse und innerhalb derselben erträglich
existieren könne. Der Winzer selbst fühlt sich durch dergleichen Vorschläge,
wenn sie auch nur gerüchtweise zu ihm dringen, schmerzlich berührt. Er
wird es mit Dank anerkennen, wenn die Regierung Experimente auf eigene
Kosten anstellt; aber er fühlt, daß die Anweisung, an sich selbst Experimente
vorzunehmen, eine Resignation der Regierung ist, durch eigene Tätigkeit zu
helfen. Er begehrt Hülfe und nicht Rat. So sehr er dem amtlichen Wissen in
der ihm angehörigen Sphäre vertraut und sich vertrauungsvoll an dasselbe
wendet, ebensosehr traut er in seiner Sphäre sich selbst die nötige Einsicht
zu. Eine Beschränkung der Parzellierung des Grundbesitzes aber widerstreitet
seinem angeerbten Rechtsbewußtsein; er erblickt darin den Vorschlag, seiner
physischen Armut noch die rechtliche Armut hinzuzufügen, denn in jeder
Verletzung der gesetzlichen Gleichheit erblickt er einen Notzustand des
Rechts. Er fühlt es bald bewußter, bald unbewußter, daß die Verwaltung des
Landes und nicht das Land der Verwaltung wegen da ist, daß aber das Verhältnis umgekehrt wird, sobald das Land seine Sitten, Rechte, die Art seiner
Arbeit und seines Eigentums umwandeln soll, um in die Verwaltung zu
passen. Der Mosellaner verlangt also, daß, wenn er die ihm durch die Natur
und die Sitte angewiesene Arbeit vollbringt, der Staat ihm die Atmosphäre
verschaffe, in welcher er wachsen, gedeihen, leben kann. Dergleichen negative
Erfindungen prallen daher erfolglos an der Wirklichkeit nicht nur der Zustände, sondern auch des bürgerlichen Bewußtseins ab.
[„Rheinische Zeitung" Nr.]9 vom ]9. Januar 1843]
Welches ist also die Beziehung der Verwaltung zum Notzustand der Mosel?
Der Notzustand der Mosel ist zugleich ein Notzustand der Verwaltung. Der
konstante Notstand eines Staatsteiles (und ein Notstand, der, seit länger
als.einem Dezennium fast unbemerkt eintretend, erst allmählich, dann unaufhaltsam zum Kulminationspunkt sich entwickelt und in immer bedrohlicherem Wachstum begriffen ist, kann wohl konstant genannt werden), ein
solcher konstanter Notstand ist ein Widerspruch der Wirklichkeit mit den
Verwaltungsmaximen, wie ja andererseits nicht nur das Volk, sondern auch
die Regierung den Wohlstand einer Landesgegend als eine faktische Bestätigung der Verwaltung betrachtet. Die Verwaltung aber kann ihrem bürokratischen Wesen nach die Gründe der Not nicht in der verwalteten Gegend,
sondern nur in der natürlichen und privatbürgerlichen Gegend, die außer der
verwalteten Gegend liegt, erblicken» Die Verwaltungsbehörden können bei
dem besten Willen, bei der eifrigsten Humanität und der stärksten Intelligenz
mehr als augenblickliche und vorübergehende Kollisionen, eine konstante
Kollision zwischen der Wirklichkeit und den Verwaltungsmaximen nicht
lösen, denn weder liegt es in der Aufgabe ihrer Stellung, noch vermag der
beste Wille ein wesentliches Verhältnis oder Verhängnis, wenn man will, zu
durchbrechen. Dies wesentliche Verhältnis ist das bürokratische, sowohl innerhalb des Verwaltungskörpers selbst als in seinen Bezügen zu dem verwalteten
Körper.
Andrerseits kann ebensowenig der weinbauende Private verkennen, daß
sein Votum absichtlich oder unabsichtlich durch das Privatinteresse getrübt
sein, also die Wahrheit desselben nicht unbedingt präsumiert werden kann.
Er wird auch einsehen,- daß es viele leidende Privatinteressen im Staat gibt,
zu deren Hebung allgemeine Verwaltungsmaximen nicht verlassen oder
modifiziert werden können. Wird ferner der allgemeine Charakter eines Notstandes behauptet, wird behauptet, der Wohlstand sei in der Weise und dem
Umfang gefährdet, daß das Privatleiden zum Staatsleiden und seine Wegräumung zu einer Pflicht des Staates gegen sich selbst werde, so scheint diese
Behauptung der Verwalteten der Verwaltung gegenüber unpassend zu sein,
da die Verwaltung wohl am besten beurteilen wird, inwiefern das Staatswohl
gefährdet und von ihr eine tiefere Einsicht in das Verhältnis des Ganzen und
seiner Teile präsumiert werden muß als von diesen Teilen selbst. Es kömmt
hinzu, daß der einzelne und selbst viele einzelne ihre Stimme nicht für die
Volksstimme ausgeben können; vielmehr ihre Darstellung immer den Charakter der privaten Beschwerdeschrift beibehalten wird. Wäre endlich selbst
die Überzeugung der beschwerdeführenden Privaten die Überzeugung der
ganzen Moselgegend, so nimmt die Moselgegend selbst, als ein einzelner
Verwaltungsteil und als einzelner Landesteil, ihrer eigenen Provinz wie dem
Staate gegenüber die Stellung eines Privatmannes ein, dessen Überzeugungen
und Wünsche erst an der allgemeinen Überzeugung und dem allgemeinen
Wunsche zu messen sind.
Die Verwaltung und die Verwalteten bedürfen zur Lösung der Schwierige
keit also gleichmäßig eines dritten Elements, welches politisch ist, ohne amtlich zu sein, also nicht von bürokratischen Voraussetzungen ausgeht, welches
ebenso bürgerlich ist, ohne unmittelbar in die Privatinteressen und ihre Notdurft verwickelt zu sein. Dieses ergänzende Element von staatsbürgerlichem
Kopf und von bürgerlichem Herzen ist die freie Presse. Im Bereich der Presse
können die Verwaltung und die Verwalteten gleichmäßig ihre Grundsätze
und Forderungen kritisieren, aber nicht mehr innerhalb eines Subordina-
tionsverhältnisses, sondern in gleicher staatsbürgerlicher Geltung, nicht mehr
als Personen, sondern als intellektuelle Mächte, als Verstandesgründe. Die
„freie Presse", wie sie das Produkt der öffentlichen Meinung ist, so produziert sie auch die öffentliche Meinung und vermag allein ein besonderes
Interesse zum allgemeinen Interesse, vermag allein den Notstand der Moselgegend zum Gegenstand der allgemeinen Aufmerksamkeit und der allgemeinen Sympathie des Vaterlandes zu machen, vermag allein die Not
schon dadurch zu mildern, daß sie die Empfindung der Not unter alle
verteilt.
Die Presse verhält sich als Intelligenz zu den Volkszuständen, aber sie
verhält sich ebensosehr zu ihnen als Gemüt; ihre Sprache ist daher nicht nur
die kluge Sprache der Beurteilung, die über den Verhältnissen schwebt, sondern zugleich die affektvolle Sprache der Verhältnisse selbst, eine Sprache,
die in amtlichen Berichten weder gefordert werden kann noch darf. Die freie
Presse endlich trägt die Volksnot in ihrer eigenen, durch keine bürokratischen Medien durchgegangenen Gestalt an die Stufen des Thrones zu
einer Macht, vor welcher der Unterschied von Verwaltung und Verwalteten
verschwindet und es nur mehr gleich nah und gleich fem stehende Staatsbürger gibt.
Wenn also die freie Presse durch den eigentümlichen Notstand der
Mosel notwendig gemacht ward, wenn sie hier heftiges, weil wirkliches Bedürfnis war, so scheint es, daß keine ausnahmsweise Preßhindernisse dazu
gehörten, um dies Bedürfnis hervorzubringen, sondern daß vielmehr eine
ausnahmsweise Preßfreiheit dazu gehört hätte, um das vorhandene Bedürfnis zu befriedigen.
ad. 2. Die Presse über die Moselangelegenheiten ist jedenfalls nur ein
Teil der preußischen politischen Presse. Um daher ihren Zustand vor der
oft beregten Kabinettsordre zu ermitteln, wird es nötig sein, einen
raschen Blick auf den Zustand der gesamten preußischen Presse vor dem
Jahre 1841 zu werfen. Wir lassen einen Mann von anerkannt loyaler Gesinnung
sprechen:
„Still und ruhig", heißt es in „Preußen und Frankreich" von David Hansemann,
zweite Auflage, Leipzig 1834, p.272, „still und ruhig entwickeln sich die allgemeinen
Ideen und die Dinge um so unbemerkter in Preußen, als die Zensur keine gründliche
Erörterung der den Staat betreffenden politischen und selbst staatswirtschaftlich
Fragen in preußischen Tagesschriften gestattet, wenn die Abfassung auch noch so
anständig und gemessen ist; unter einer gründlichen Erörterung kann nur eine solche
verstanden werden, wo die Gründe und die Gegengründe vorgetragen werden dürfen;
gründlich kann fast keine staatswirtschaftliche Frage erörtert werden, wenn nich
auch die Beziehungen derselben auf innere und äußere Politik untersucht werden,
denn nur bei wenigen, vielleicht bei keiner einzigen staatswirtschaftlichen Frage finden diese Beziehungen nicht statt. O b diese Ausübung der Zensur zweckmäßig
sei, ob die Zensur überhaupt anders als auf solche Weise nach dem Zustande der
Regierung in Preußen ausgeübt werden könne, darauf kommt es hier nicht an; genug,
so ist's."
Bedenkt man ferner, daß schon der § 2 des Zensuredikts vom 19. Dezember 1788cl353 lautet:
„Die Absicht der Zensur aber ist keineswegs, eine anständige, ernsthafte und bescheidene Untersuchung der Wahrheit zu hindern oder sonst den Schriftstellern irgend'
einen unnützen und lästigen Zwang aufzuerlegen";
findet man im Art.2 des Zensuredikts vom 18.0ktober 18191:43 die Worte
wieder:
„Die Zensur wird keine ernsthafte und bescheidene Untersuchung der Wahrheit
hindern noch den Schriftstellern ungebührlichen Zwang auferlegen";
vergleicht man hiermit die Eingangsworte der Zensurinstruktion vom 24. Dezember 1841C3]:
„ U m schon jetzt die Presse von unstatthaften, nicht in der Allerhöchsten Absicht
liegenden Beschränkungen zu befreien, haben Seine Majestät der König 1 durch eine
an das königliche Staatsministerium erlassene Allerhöchste Kabinettsordre jeden ungebührlichen Zwang der schriftstellerischen Tätigkeit ausdrücklich zu mißbilligen und
uns zu ermächtigen geruht, die Zensoren zur angemessenen Beachtung des Art. 2 des
Zensuredikts vom 18.Oktober 1819 von neuem anzuweisen";
erinnert man sich endlich der folgenden Worte:
„Der Zensor kann eine freimütige Besprechung auch der innern Angelegenheiten sehr
wohl gestatten. - Die unverkennbare Schwierigkeit, hiefür die richtigen Grenzen aufzufinden, darf von dem Streben, der Wahren Absicht des Gesetzes zu genügen, nicht
abschrecken noch zu jener Ängstlichkeit verleiten, wie sie nur zu oft schon zu Mißdeutungen über die Absicht des Gouvernements Veranlassung gegeben hat";
so scheint nach allen diesen offiziellen Äußerungen die Frage: warum bei
dem Wunsche von selten der Behörden, die Moselzustände möglichst freimütig und öffentlich besprochen zu hören, Zensurhindemisse stattgefunden?
sich vielmehr in die allgemeinere Frage zu verwandeln, warum trotz der „Absicht des Gesetzes", der „Absicht des Gouvernements" und endlich der „Allerhöchsten Absicht" die Presse eingestandenermaßen noch im Jahre 1841 „von
1
Friedrich Wilhelm IV.
unstatthaften Beschränkungen" zu befreien und die Zensur im Jahre 1841 an
den Art.2 des Edikts von 1819 zu erinnern war! In bezug auf die Moselgegend
namentlich würde jene Frage sich dahin formulieren, nicht, welche speziellen
Preßhindernisse stattgefunden, sondern vielmehr, welche speziellen Preßbegünstigungen diese teilweise Besprechung der innern Zustände zu einer möglichst freimütigen und öffentlichen Besprechung ausnahmsweise begeistet hätten?
Über den innern Gehalt und den Charakter der politischen Literatur und
Tagespresse vor der beregten Kabinettsordre verständigen am klarsten wohl
folgende Worte der Zensurinstruktion:
„Auf diesem Wege darf man hoffen, daß auch die politische Literatur und die Tagespresse ihre Bestimmung besser erkennen, einen würdigeren T o n sich aneignen und es
künftig verschmähen werden, durch Mitteilungen gehaltloser, aus fremden Zeitungen
entlehnter Korrespondenzen etc. etc. auf die Neugierde ihrer Leser zu spekulieren ...
Es ist zu erwarten, daß dadurch eine größere Teilnahme an vaterländischen Interessen
erweckt und so das Nationalgefühl erhöht wird."
Es scheint sich hienach zu ergeben, daß, wenn durchaus keine speziellen
Maßregeln eine freimütige und öffentliche Besprechung der Moselzustände
verhinderten, der allgemeine Zustand der preußischen Presse selbst ein unbesiegbares Hindernis sowohl der Freimütigkeit als der Öffentlichkeit sein
mußte. Fassen wir die angezogenen Stellen der Zensurinstruktion zusammen,
so besagt sie, daß: die Zensur überaus ängstlich und eine äußere Schranke
einer freien Presse war, daß hiemit Hand in Hand die innere Beschränktheit
der Presse ging, die den Mut und selbst das Streben aufgegeben hatte, sich
über den Horizont der Neuigkeit zu erheben, daß endlich im Volke selbst die
Teilnahme an vaterländischen Interessen und das Nationalgefühl verlorengegangen waren, also gerade die Elemente, welche nicht nur die schöpferischen Mächte einer freimütigen und öffentlichen Presse, sondern auch die
Bedingungen sind, innerhalb deren allein eine freimütige und öffentliche
Presse wirken und volkstümliche Anerkennung finden kann, eine Anerkennung, welche die Lebensatmosphäre der Presse bildet, ohne welche sie
rettungslos hinsiecht.
Wenn also Maßregeln der Behörden eine unfreie Presse schaffen können,
so liegt es dagegen außerhalb der Macht der Behörden, bei der Unfreiheit des
allgemeinen Preßzustandes speziellen Fragen eine möglichst freimütige und
öffentliche Besprechung zu sichern, indem selbst freimütige Worte, welche
über einzelne Gegenstände etwa die Spalten der Zeitungen füllten, keine
allgemeine Teilnahme hervorzurufen, sich also keine wahrhafte Öffentlichkeit zu verschaffen wüßten.
Es kömmt hinzu, was Hansemann richtig bemerkt, daß vielleicht bei
keiner einzigen staatswirtschaftlichen Frage die Beziehungen auf innere und
äußere Politik nicht stattfinden. Die Möglichkeit einer freimütigen und öffentlichen Besprechung der Moselzustände setzt also die Möglichkeit einer freimütigen und öffentlichen Besprechung der ganzen „innern und äußern
Politik" voraus. Diese darzubieten, lag so wenig in der Macht einzelner
Verwaltungsbehörden, daß vielmehr nur der unmittelbar und entschieden
ausgesprochene Wille des Königs selbst hier bestimmend und nachhaltig
eingreifen konnte.
Wenn die öffentliche Besprechung nicht freimütig war, war die freimütige Besprechung nicht öffentlich. Sie beschränkte sich auf dunkle Lokalblätter, deren Gesichtskreis natürlich über den Kreis ihrer Verbreitung nicht
hinausging und nach dem vorherigen nicht hinausgehen konnte. Zur Charakteristik solcher Lokalbesprechungen geben wir einige Exzerpte aus verschiedenen Jahrgängen des Bernkasteler „Gemeinnützigen Wochenblatts".
In dem Jahrgang 1835 heißt es:
„ Im Herbste 1833 machte eine auswärtige Person in Erden 5 Ohm1136-1 Wein. U m das
Fuder voll zu machen, kaufte sie 2 Ohmen dazu für den Preis von 30 Tlr. Das Faß
kostete 9 Tlr., Moststeuer 7 Tlr. 5 Sgr., Einherbsten 4 Tlr., Kellermiete 1 Tlr. 3 Sgr.,
Kieferlohn 16 Sgr.; folglich, ungerechnet die Baukosten, eine reine Ausgabe von
51 Tlr. 24 Sgr. A m 10, Mai wurde das Faß Wein verkauft zu 41 Tlr. N o c h ist zu bemerken, daß dieser Wein gut ist und nicht aus Notdurft verkauft worden, auch in keine
wucherische Hände gefallen ist." (p.87.) „ A m 21. November wurden auf'm Markt zu
Bernkastel
s/40hm
1835 Wein zu 14 Sgr. vierzehn Silbergroschen versteigert und
am 27. ejusdem 4 Ohm samt Fuderfaß zu 11 Tlr., wobei noch zu bemerken ist, daß
am verflossenen Michelstag das Fuderfaß zu 11 Tlr. eingekauft wurde." (p.267 ibid.)
Unter dem 12, April 1836 eine ähnliche Anzeige.
Noch mögen hier einige Auszüge aus dem Jahrgange 1837 stehen:
„ A m 1. d . M . ward in Kinheim in öffentlicher Versteigerung vor Notar ein junger
vierjähriger Wingert von zirka 200 Stöcken, gehörig aufgepfählt, mit gewöhnlichem
Zahlungsausstand der Stock zu IVa Pfennig überlassen. Im Jahre 1828 kostete derselbe
Stock dort 5 Sgr." (p.47.) „Eine Witwe zu Graach ließ ihren Herbst um die Hälfte des
Ertrages eintuen, und für ihren Anteil wurde ihr eine Ohm Wein zuteil, welche sie
gegen 2 Pfund Butter, 2 Pfund Brot und 1/aPf und Zwiebeln veräußerte." (In Nr. 47 ibid.)
„ A m 20. d . M . wurden hier zwangsweise versteigert: 8 Fuder 36er Wein von Graach
und Bernkastel, teilweise aus den besten Lagen, und 1 Fuder 35er Wein von Graach.
Es wurden 135 Taler 15 Sgr. im ganzen erlöst (Faß mit), demnach kostet ein Fuder ins
andere zirka 15 Taler. Das Faß mag allein 10-12 Taler gekostet haben. Was bleibt nun
dem armen Winzer für seine Baukosten übrig? Ist es denn nicht möglich, daß dieser
schrecklichen Not abgeholfen wird?!! (Eingesandt)" (Nr.4, p.30.)
Man findet hier also nur einfache Erzählung von Tatsachen, die, manchmal von einem elegischen kurzen Nachwort begleitet, eben durch ihre ungeschminkte Einfachheit erschüttern mögen, schwerlich aber den Charakter
einer freimütigen und öffentlichen Besprechung der Moselzustände auch
nur ansprechen dürften.
Wenn nun ein einzelner und gar der zahlreiche Teil einer Bevölkerung
von einem auffallenden und erschreckenden Unglücke betroffen werden,
und niemand bespricht das Unglück, niemand behandelt es als eine denkund sprechwürdige Erscheinung, so müssen sie schließen, entweder daß die
andern nicht sprechen dürfen oder daß sie nicht sprechen wollen, weil sie die
der Sache beigelegte Wichtigkeit für illusorisch halten. Die Anerkennung
seines Unglücks, diese geistige Beteiligung an demselben, ist aber selbst
dem ungebildetsten Winzer ein Bedürfnis, schlösse er auch nur, daß, wo
alle denken, viele sprechen, bald auch einige handeln werden. Wäre es wirklich erlaubt gewesen, frei und offen die Moselzustände zu diskutieren, so
geschah es doch nicht, und es ist klar, daß das Volk nur an das Wirkliche
glaubt, nicht an die freimütige Presse, die existieren kann, sondern an die
freimütige Presse, die wirklich existiert. Hatte der Mosellaner also vor Erscheinen der Allerhöchsten Kabinettsordre zwar seine Not empfunden, zwar
sie bezweiflen gehört, nur nichts von einer öffentlichen und freimütigen
Presse vernommen, sah er dagegen nach Erscheinen dieser Kabinettsordre
diese Presse gleichsam aus dem Nichts hervorspringen, so scheint sein
Schluß, daß die königliche Kabinettsordre die einzige Ursache dieser Preßbewegung, an welcher der Mosellaner nach den früher ausgeführten Gründen einen vorzugsweisen, weil unmittelbar durch wirkliches Bedürfnis bedingten Anteil nahm, wenigstens ein sehr volkstümlicher Schluß gewesen
zu sein. Endlich scheint es, daß auch, abgesehen von der Volkstümlichkeit
dieser Meinung, eine kritische Prüfung zu demselben Resultate gelangen wird.
Die Eingangsworte der Zensurinstruktion vom 24. Dezember 1841, daß
„Seine Majestät der König jeden
ungebührlichen Zwang der
schriftstellerischen
Tätigkeit ausdrücklich zu mißbilligen und unter Anerkennung des Werts und des Bedür
nisses einer freimütigen und anständigen Publizität . . . geruht etc.",
diese Eingangsworte versichern der Presse eine besondere königliche Anerkennung, also eine Staatsbedeutung. Daß ein königliches Wort so bedeutend
zu wirken vermag und von dem Mosellaner selbst als ein Wort von magischer
Kraft, als ein Universalmittel gegen alle seine Leiden begrüßt wurde, das
scheint nur von der echt royalistischen Gesinnung der Mosellaner und ihrer
nicht abgemessenen, sondern überströmenden Dankbarkeit zeugen zu
können.
[„Rheinische Zeitung" Nr. 20 vom 20. Januar 1843]
ad 3. Wir haben zu zeigen gesucht, daß das Bedürfiiis einer freien Presse
aus der Eigentümlichkeit der Moselzustände notwendig hervorging. Wir haben
ferner gezeigt, wie die Verwirklichung dieses Bedürfnisses vor dem Erscheinen der Allerhöchsten Kabinettsordre, wenn auch nicht durch spezielle
Preßerschwerungen, schon durch den allgemeinen Zustand der preußischen
Tagespresse verhindert worden wäre. Wir werden endlich zeigen, daß wirklich spezielle Umstände einer freimütigen und öffentlichen Besprechung der
Moselzustände feindlich entgegentraten. Auch hier müssen wir zunächst
den leitenden Gesichtspunkt unserer Darstellung hervorheben und die
Macht der allgemeinen Verhältnisse in dem Willen der handelnden Persönlichkeiten wiedererkennen. Wir dürfen in den speziellen Umständen, welche
eine freimütige und öffentliche Besprechung der Moselzustände verhinderten, nichts erblicken als die tatsächliche Verkörperung und augenfällige
Erscheinung der oben entwickelten allgemeinen Verhältnisse, nämlich der
eigentümlichen Lage der Verwaltung zu der Moselgegend, des allgemeinen
Zustandes der Tagespresse und der öffentlichen Meinung, endlich des
herrschenden politischen Geistes und seines Systems. Waren diese Verhältnisse, wie es denn scheint, die allgemeinen, unsichtbaren und zwingenden
Mächte jener Zeit, so wird es kaum der Andeutung bedürfen, daß sie auch
als solche wirken, in Tatsachen ausschlagen und als einzelne, dem Schein
nach willkürliche Handlungen sich äußern mußten. Wer diesen sachlichen
Standpunkt aufgibt, verfängt sich einseitig in bittere Empfindungen gegen
Persönlichkeiten, in welchen die Härte der Zeitverhältnisse ihm gegenübertrat.
Man wird zu den speziellen Preßhindernissen nicht nur einzelne Zensurschwierigkeiten, sondern ebensosehr alle speziellen Umstände zählen müssen,
welche die Zensur überflüssig machten, weil sie einen Gegenstand der Zensur
nicht einmal versuchsweise aufkommen ließen. Wo die Zensur in auffallende,
anhaltende und harte Kollisionen mit der Presse gerät, da kann man mit
ziemlicher Sicherheit schließen, daß die Presse schon an Lebendigkeit,
Charakter und Selbstgewißheit gewonnen hat, denn nur eine wahrnehmbare
Aktion erzeugt eine wahrnehmbare Reaktion. Wo dagegen die Zensur nicht
da ist, weil die Presse nicht da ist, obgleich das Bedürfnis einer freien, also
zensurfähigen Presse vorhanden, da muß man die Vorzensur in Umständen
suchen, welche den Gedanken schon in seinen anspruchsloseren Formen
zurückgeschreckt haben.
Es kann nicht unser Zweck sein, eine vollständige Darstellung dieser
speziellen Umstände auch nur annähernd zu geben; das hieße die Zeit-
geschichte seit 1830, soweit sie die Moselgegend berührt, schildern wollen. Wir
glauben unsere Aufgabe gelöst zu haben, wenn wir nachweisen, daß das
freimütige und öffentliche Wort in allen Formen, in der Form der mündlichen Rede, in der Form der Schrift, in der Form des Drucks, sowohl des
noch nicht zensierten als auch des schon zensierten Drucks, mit speziellen
Hindernissen in Konflikt geriet.
Die Verstimmung und die Mutlosigkeit, welche ohnehin jene moralische
Kraft, die zur öffentlichen und freimütigen Besprechung gehört, bei einer
notleidenden Bevölkerung brechen, wurden namentlich genährt durch die
auf vielfache Denunziationen notwendig gewordenen gerichtlichen Verurteilungen „wegen Beleidigung eines Beamten im Dienste oder in bezug auf seinen
Dienst".
Eine derartige Prozedur lebt noch im frischen Andenken vieler Moselwinzer. Ein wegen seiner Gutmütigkeit besonders beliebter Bürger1 äußerte
in scherzhafter Weise zu der Magd eines Landrats2, welcher abends zuvor in
fröhlicher Gesellschaft bei Gelegenheit der Feier des Königsgeburtstages
fleißig dem Becher zugesprochen hatte: „Euer Herr war gestern abend etwas
bespitzt." Er ward wegen dieser unschuldigen Äußerung öffentlich vor das
Zuchtpolizeigericht zu Trier gestellt, jedoch, wie sich von selbst versteht,
freigesprochen.
Wir haben gerade dieses Beispiel gewählt, weil sich eine einfache Reflexion notwendig an dasselbe anknüpft. Die Landräte sind die Zensoren in
ihren respektiven Kreisstädten. Die landrätliche Verwaltung wird aber mit
Einbegriff der ihr untergeordneten amtlichen Sphären vornehmster, weil
nächster Gegenstand der Lokalpresse sein. Wenn es nun überhaupt schwer
ist, in eigner Sache zu richten, so müssen Vorfälle der oben erwähnten Art,
welche eine krankhaft reizbare Vorstellung von der Unantastbarkeit der
amtlichen Stellung dokumentieren, schon die bloße Existenz der landrätlichenZensur zu einem hinreichenden Grund für die Nichtexistenz einer freimütigen Lokalpresse machen.
Sehen wir also die unbefangene und anspruchslose mündliche Rede den
Weg zum Zuchtpolizeigericht bereiten, so hat die schriftliche Form des freien
Worts, die Petition, welche noch weit von der Öffentlichkeit der Presse entfernt ist, denselben zuchtpolizeilichen Erfolg. Wie dort die Unantastbarkeit
der amtlichen Stellung, tritt hier die Unantastbarkeit der Landesgesetze der
freimütigen Sprache entgegen.
Durch eine „Kabinettsordre" vom 3. Juli 1836cl37], worin es unter anderm
1
Johann Oberhoven -
2
Constantin Friedrich von Gaertner
heißt, der König1 sende seinen Sohn2 in die Rheinprovinz, um von deren Zuständen Kenntnis zu nehmen, fühlten sich einige Landleute aus dem Regierungsbezirke Trier veranlaßt, ihren „Landtagsabgeordneten3" zu ersuchen,
ihnen eine Bittschrift für den Kronprinzen anzufertigen. Sie gaben zugleich
die einzelnen Beschwerdepunkte an. Der Landtagsabgeordnete, um die
Wichtigkeit der Petition durch eine größere Anzahl von Petitionären zu erhöhen, schickte einen Boten in die Umgegend und veranlaßte dadurch die
Unterschriften von 160 Bauern. Die Petition lautete folgendermaßen:
„ D a wir unterschriebenen Einwohner des K r e i s e s . . . , Regierungsbezirk Trier,
unterrichtet, daß unser guter König zu uns Seine Königliche Hoheit den Kronprinzen
sendet, um unsere Lage zu beherzigen und um Seiner Königlichen Hoheit die Mühe
zu ersparen, die Klagen vieler einzelnen anzuhören, beauftragen wir hiermit unseren
Landtagsabgeordneten, H e r r n . . , , Seiner Königlichen Hoheit, des besten Königs
Sohn, dem Kronprinzen von Preußen, untertänigst anzutragen, daß:
1. Wenn wir unsere überflüssigen Produkte, besonders an Vieh und Wein, nicht
absetzen können, uns Unmöglich ist, die in allen Verhältnissen zu hohen Steuern zu
bezahlen, weswegen eine bedeutende Verminderung derselben gewünscht wird, da wir
sonst Hab* und Gut den Steuerboten belassen, wie Anlage beweiset (enthält einen
Zahlungsbefehl eines Steuerboten von R. 1-25 Sgr. 5 d.).
2. Daß Seine Königliche Hoheit nicht von unserer Lage urteilen möge, nach den
Demonstrationen von unzähligen, gar zu hoch besoldeten Angestellten, Pensionierten,
Diätaren, Zivil und Militär, Rentner und Gewerbetreibenden, welche in den Städten
in einem Luxus von unseren so im Preise gefallenen Produkten wohlfeil leben, was
hingegen in der armen Hütte des verschuldeten Landmannes nicht gefunden wird und
für ihn ein empörender Kontrast ist. W o früher 27 angestellt mit 29000 Talern, jetzt
63 Beamte ohne Pensionierte mit 105000 Talern besoldet.
3. Daß unsere Kommunalbeamten direkt durch die Gemeinen, wie früher, gewählt
werden mögen.
4. Daß die Zollanmeldungsbüros nicht stundenlang während des Tages geschlossen, sondern jede Stunde offenbleiben, damit der Landmann, der einige Minuten unverschuldet sich verspätet, nicht fünf bis sechs Stunden, ja die ganze Nacht auf der
Straße erkalten oder am Tage verbrennen muß, da doch der Beamte stets für das Volk
bereit sein soll und muß.
5. Daß, was zufolge § 12 des Gesetzes vom 28. April 1828, erneuert durch .Amtsblatt der Königlichen Regierung' vom 22. August letzthin unter Strafe verboten worden,
2 Fuß vom Grabenrande zu ackern, bei durchführenden Straßen gehoben und den
Eigentümern erlaubt werde, ihr sämtliches Land bis an den Chausseegraben pflügen
zu können, damit dasselbe nicht von den Wegewärtern den Eigentümern geraubt werde."
Euer Königlichen Hoheit ergebenste Untertanen.
(Folgen nun die Unterschriften.)
1
Friedrich Wilhelm III. -
2
Friedrich Wilhelm IV. -
3
Nikolaus Valdenaire
Diese Petition, die der Landtagsabgeordnete dem Kronprinzen überreichen wollte, wurde von andrer Seite in Empfang genommen mit dem ausdrücklichen Versprechen, sie Seiner Königlichen Hoheit übergeben zu
wollen. Nie erfolgte eine Antwort, wohl aber wurde gegen den Landtagsabgeordneten, als den Urheber einer Petition, worin „frecher, imehrbietiger
Tadel gegen die Landesgesetze" ausgesprochen sei, von Seiten der Gerichte
eine Verfolgung eingeleitet. Infolge dieser Klage wurde der Landtagsabgeordnete in Trier zu sechsmonatlicher Gefängnisstrafe und in die Kosten
verurteilt, diese Strafe aber vom Appellhofe dahin modifiziert, daß nur der
Kostenpunkt des fraglichen Urteils belassen werde, und zwar, weil das Benehmen des Inkriminierten nicht ganz frei von Unbesonnenheit gewesen sei
und er somit zu dem Prozesse Veranlassung gegeben habe. Der Inhalt der
Petition selbst wird dagegen keineswegs für strafbar erkannt.
Wenn man erwägt, daß die fragliche Petition teils durch den Zweck der
kronprinzlichen Reise, teils durch die Stellung des Inkriminierten als Landtagsabgeordneten in der ganzen Umgebung zu einem besonders wichtigen
und entscheidenden Ereignis sich steigern und die öffentliche Aufmerksamkeit in hohem Grade erregen mußte, so möchten ihre Konsequenzen eine
öffentliche und freimütige Besprechung der Moselzustände nicht eben provoziert noch hierauf bezügliche Wünsche der Behörden wahrscheinlich gemacht haben.
Wir kommen nun zum eigentlichen Preßhindernis, zur Zensurverweigerung, welche nach obigen Andeutungen in dem Grade zu den Seltenheiten
gehören mußte, als der Versuch einer zensurfähigen Besprechung der Moselzustände zu den Seltenheiten gehörte.
Einem Schöffenratsprotokoll, worin nebst einigen barocken auch einige
freimütige Worte sich befinden, wurde von der landrätlichen Zensur die
Druckerlaubnis verweigert. Die Beratung fand im Schöffenrat statt, das
Ratsprotokoll aber war von dem Bürgermeister1 abgefaßt. Seine Eingangsworte lauten:
„Meine Herren! Das Land an der Mosel zwischen Trier und Koblenz, zwischen der
Eifel und dem Hundsrücken ist äußerlich ganz arm, weil dasselbe vom Weinbau allein
lebt und diesem durch die Handelsverträge mit Deutschland der Todesstoß gegeben ist;
das gedachte Land ist aber auch geistig arm etc."
Daß endlich eine öffentliche und freimütige Besprechung, wenn sie alle
angegebenen Hindernisse überwunden und ausnahmsweise in die Zeitungsspalten gelangt war, als eine Ausnahme behandelt und hinterher annihiliert
1
Jacob Schwan
wurde, möge ebenfalls eine Tatsache bezeugen. Ein vor mehren Jahren von
dem Professor der Kameralwisserischaften Kaufmann zu Bonn „über den Notstand der Winzer an der Mosel etc." in der „Rhein- und Mosel-Zeitung"
abgedruckter Aufsatz wurde, nachdem er während drei Monaten in verschiedenen öffentlichen Blättern kursiert hatte, von der Königlichen Regierung Verboten, welches Verbot noch jetzt faktisch fortbesteht.
Hiermit glaube ich nun die Frage über das Verhältnis der Moselgegend
zur Kabinettsordre vom 10. Dezember, der auf sie gegründeten ZensurInstruktion vom 24, Dezember und der seitherigen freieren Preßbewegung
genügend beantwortet zu haben. Es bleibt noch übrig, meine Behauptung:
„Der desolate Zustand der Winzer war höheren Orts lange in Zweifel gezogen und ihr Notgeschrei für freches Gekreisch gehalten worden", zu
motivieren. Man wird den quästionierten Satz in zwei Teile auflösen können:
„Der desolate Zustand der Winzer war höhern Orts lange in Zweifel gezogen
worden" und: „Ihr Notgeschrei war für freches Gekreisch gehalten worden."
Der erste Satz, glaube ich, wird keines Beweises mehr bedürfen. Der
zweite Satz: „Ihr Notgeschrei war für freches Gekreisch gehalten worden",
kann nicht geradezu, wie es der Herr Oberpräsident tut, aus dem ersten
Satze interpretiert werden: „Ihr Notgeschrei war höhern Orts für freches
Gekreisch gehalten worden." Indessen auch diese Interpolation kann gelten,
sofern „höhern Orts" und „amtlichen Orts" für gleichbedeutend genommen
werden.
Daß von einem „Notgeschrei" der Winzer nicht nur figürlich, sondern im
eigentlichen Sinne des Wortes gesprochen werden konnte, wird sich aus den
bisherigen Mitteilungen ergeben haben. Daß diesem Notgeschrei einerseits
sein Mangel an Berechtigung vorgeworfen, die Schilderung der Not selbst
als eine grelle, aus selbstsüchtigen schlechten Motiven entsprungene Übertreibung betrachtet, andererseits die Klage und die Bitte dieser Not als
„frecher, unehrbietiger Tadel gegen die Landesgesetze" verstanden wurde,
diese Prämissen haben ein Regierungsreferat und ein Kriminalverfahren bewiesen. Daß ferner ein übertreibendes, die Sachverhältnisse verkennendes,
von schlechten Motiven outriertes, frechen Tadel gegen die Landesgesetze
involvierendes Schreien identisch mit „Gekreisch", und zwar „frechem Gekreisch", ist, dürfte wenigstens keine fernliegende oder unredlich gesuchte
Behauptung sein. Daß also schließlich an die Stelle der einen Seite die
andere gesetzt werden konnte, scheint sich einfach als logische Konsequenz
zu ergeben.
Geschrieben Ende Dezember 1842 bis Mitte Januar 1843.
Karl Marx
Erklärung11383
[„Rheinische Zeitung" Nr. 77 vom 18. März 1843]
Unterzeichneter erklärt, daß er der jetzigen Zensurverhältnisse wegen aus
der Redaktion der „Rheinischen Zeitung" mit dem heutigen Tage ausgetreten ist.
Köln, den 17. März 1843
Dr. Marx
Karl Marx
Zur Kritik
der Hegeischen Rechtsphilosophie
Geschrieben März bis August 1843.
Nach der Handschrift.
[Kritik des Hegeischen Staatsrechts
(§§261-313)]
„ § 2 6 1 . Gegen die Sphären des Privatrechts und Privatwohls, der Familie und der
bürgerlichen Gesellschaft, ist der Staat e i n e r s e i t s eine äußerliche Notwendigkeit und
ihre höhere Macht, deren Natur ihre Gesetze sowie ihre Interessen untergeordnet und
davon abhängig sind; aber a n d e r e r s e i t s ist er ihr immanenter Zweck und hat seine
Stärke in der Einheit seines allgemeinen Endzwecks und des besonderen Interesses
der Individuen, darin, daß sie insofern Pflichten gegen ihn haben, als sie zugleich Rechte
haben ( § 155)."
Der vorige Paragraph belehrt uns dahin, daß die konkrete Freiheit in der
Identität (sein sollenden, zwieschlächtigen) des Systems des Sonderinteresses
(der Familie und der bürgerlichen Gesellschaft) mit dem System des allgemeinen Interesses (des Staates) bestehe. Das Verhältnis dieser Sphären
soll nun näher bestimmt werden.
Einerseits der Staat gegen die Sphäre der Familie und der bürgerlichen
Gesellschaft eine „äußerliche Notwendigkeit", eine Macht, wovon ihm
„Gesetze" und „Interessen" „untergeordnet und abhängig" sind. Daß der
Staat gegen die Familie und bürgerliche Gesellschaft eine „äußerliche Notwendigkeit" ist, lag schon teils in der Kategorie des „Übergangs", teils in ihrem
bewußten Verhältnis zum Staat. Die „Unterordnung" unter den Staat entspricht noch vollständig diesem Verhältnis der »äußerlichen Notwendigkeit".
Was Hegel aber unter der „Abhängigkeit" versteht, zeigt folgender Satz der
Anmerkung zu diesem Paragraphen:
„daß den Gedanken der A b h ä n g i g k e i t insbesondere auch der privatrechtlichen
Gesetze von dem bestimmten Charakter des Staats, und die philosophische Ansicht, den
Teil nur in seiner Beziehung auf das Ganze zu betrachten, — vornehmlich Montesquieu ins Auge gefaßt" etc.
Hegel spricht also hier von der innern Abhängigkeit oder der . wesentlichen Bestimmung des Privatrechts etc. vom Staate; zugleich aber subsumiert er diese Abhängigkeit unter das Verhältnis der „äußerlichen Not14 Marx/Engels, Werke, Bd. I
wendigkeit" und stellt sie der andern Beziehung, worin sich Familie und
bürgerliche Gesellschaft zum Staate als ihrem „immanenten Zweck" verhalten, als die andere Seite entgegen.
Unter der „äußerlichen Notwendigkeit" kann nur verstanden werden,
daß „Gesetze" und „Interessen" der Familie und der Gesellschaft den
„Gesetzen" und „Interessen" des Staats im Kollisionsfall weichen müssen,
ihm untergeordnet sind, ihre Existenz von der seinigen abhängig ist oder auch
sein Wille und seine Gesetze ihrem „Willen" und ihren „Gesetzen" als eine
Notwendigkeit erscheint!
Allein Hegel spricht hier nicht von empirischen Kollisionen; er spricht
vom Verhältnis der „Sphären des Privatrechts und Privatwohls, der Familie
und der bürgerlichen Gesellschaft" zum Staat; es handelt sich vom wesentlichen Verhältnis dieser Sphären selbst. Nicht nur ihre „Interessen", auch
ihre „Gesetze", ihre „wesentlichen Bestimmungen" sind vom Staat „abhängig" und ihm „untergeordnet". Er verhält sich als „höhere Macht" zu
ihren „Gesetzen und Interessen". Ihr „Interesse" und „Gesetz" verhalten
sich als sein „Untergeordneter". Sie leben in der „Abhängigkeit" von ihm.
Eben weil „Unterordnung" und „Abhängigkeit" äußere, das selbständige
Wesen einengende und ihm zuwiderlaufende Verhältnisse sind, ist das Verhältnis der „Familie" und der „bürgerlichen Gesellschaft" zum Staate das
der „äußerlichen Notwendigkeit", einer Notwendigkeit, die gegen das innere
Wesen der Sache angeht. Dies selbst, daß „die privatrechtlichen Gesetze
von dem bestimmten Charakter des Staats" abhängen, nach ihm sich modifizieren, wird daher unter das Verhältnis der „äußerlichen Notwendigkeit"
subsumiert, eben weil „bürgerliche Gesellschaft und Familie" in ihrer
wahren, d. i. in ihrer selbständigen und vollständigen Entwicklung dem Staat
als besondere „Sphären" vorausgesetzt sind. „Unterordnung" und „Abhängigkeit" sind die Ausdrücke für eine „äußerliche", erzwungene, scheinbare
Identität, als deren logischen Ausdruck Hegel richtig die „äußerliche Notwendigkeit" gebraucht. In der „Unterordnung" und „Abhängigkeit" hat
Hegel die eine Seite der zwiespältigen Identität weiterentwickelt, und zwar
die Seite der Entfremdung innerhalb der Einheit,
„aber andererseits ist er ihr immanenter Zweck und hat seine Stärke in der Einheit
seines a l l g e m e i n e n Endzwecks und des b e s o n d e r e n Interesses der Individuen,
darin, daß sie insofern Pflichten gegen ihn haben, als sie zugleich Rechte haben".
Hegel stellt hier eine ungelöste Antinomie auf. Einerseits äußerliche Notwendigkeit, andrerseits immanenter Zweck. Die Einheit des allgemeinen
Endzwecks des Staats und des besonderen Interesses der Individuen soll darin
bestehn, daß ihre Pflichten gegen den Staat und ihre Rechte an denselben
identisch sind (also z.B. die Pflicht, das Eigentum zu respektieren, mit dem
Recht auf Eigentum zusammenfiele).
Diese Identität wird in der Anmerkung also expliziert:
„Da die Pflicht zunächst das Verhalten gegen etwas für mich Substantielles, an und
für sich Allgemeines ist, das Recht dagegen das Dasein überhaupt dieses Substantiellen
ist, damit die Seite seiner Besonderheit und meiner besondern Freiheit ist, so erscheint
beides auf denformellen Stufen an verschiedene Seiten oder Personen verteilt. Der Staat
als Sittliches, als Durchdringung des Substantiellen und des Besonderen, enthält, daß
meine Verbindlichkeit gegen das Substantielle zugleich das Dasein meiner besonderen
Freiheit, d.i. in ihm Pflicht und Recht in einer and derselben Beziehung Vereinigt sind."
„ § 262. Die wirkliche Idee, der Geist, der sich selbst in die zwei ideellen Sphären
seines Begriffs, die Familie und die bürgerliche Gesellschaft, als in seine E n d l i c h keit scheidet, um aus ihrer Idealität f ü r s i c h u n e n d l i c h e r wirklicher Geist zu
sein, teilt somit diesen Sphären das Material dieser seiner endlichen Wirklichkeit, die
Individuen als die Menge zu, so daß diese Zuteilung am Einzelnen durch die Umstände,
die Willkür und eigene Wahl seiner Bestimmung vermittelt erscheint."
Übersetzen wir diesen Satz in Prosa, so folgt:
Die Art und Weise, wie der Staat sich mit der Familie und der bürgerlichen Gesellschaft vermittelt, sind „die Umstände, die Willkür und die
eigene Wahl der Bestimmung". Die Staatsvernunft hat also mit der Zerteilung des Staatsmaterials an Familie und bürgerliche Gesellschaft nichts
zu tun. Der Staat geht auf eine unbewußte und willkürliche Weise aus ihnen
hervor. Familie und bürgerliche Gesellschaft erscheinen als der dunkle
Naturgrund, woraus das Staatslicht sich entzündet. Unter dem Staatsmaterial sind die Geschäfte des Staats, Familie und bürgerliche Gesellschaft
verstanden, insofern sie Teile des Staats bilden, am Staat als solchen teilnehmen.
In doppelter Hinsicht ist diese Entwicklung merkwürdig.
1. Familie und bürgerliche Gesellschaft werden als Begriffssphären des
Staats gefaßt, und zwar als die Sphären semerEndlichkeit, als seine Endlichkeit. Der Staat ist es, der sich in sie scheidet, der sie Voraussetzt, und zwar
tut er dieses, „um aus ihrer Idealität für sich unendlicher wirklicher Geist zu
sein". „Er scheidet sich, um." Er, „teilt somit diesen Sphäreln das Material
seiner Wirklichkeit zu, so daß diese Zuteilung etc. vermittelt erscheint",Die
sogenannte „wirkliche Idee" (der Geist als unendlicher, wirklicher) wird so
dargestellt, als ob sie nach einem bestimmten Prinzip und zu bestimmter Absicht handle. Sie scheidet sich in endliche Sphären, sie tut dies, „um in sich
zurückzukehren, für sich zu sein", und sie tut dies zwar so, daß das grade
ist, wie es wirklich ist.
An dieser Stelle erscheint der logische, pantheistische Mystizismus sehr klär.
Das wirkliche Verhältnis ist: „daß die Zuteilung des Staatsmaterials am
Einzelnen durch die Umstände, die Willkür und die eigene Wahl seiner Bestimmung vermittelt ist". Diese Tatsache, dies wirkliche Verhältnis wird von
der Spekulation als Erscheinung, als Phänomen ausgesprochen. Diese Umstände, diese Willkür, diese Wahl der Bestimmung, diese wirkliche Vermittlung sind bloß die Erscheinung einer Vermittlung, welche die wirkliche Idee
mit sich selbst vornimmt und welche hinter der Gardine vorgeht. Die Wirklichkeit wird nicht als sie selbst, sondern als eine andere Wirklichkeit ausgesprochen. Die gewöhnliche Empirie hat nicht ihren eigenen Geist, sondern
einen fremden zum Gesetz, wogegen die wirkliche Idee nicht eine aus ihr
selbst entwickelte Wirklichkeit, sondern die gewöhnliche Empirie zum Dasein hat.
Die Idee wird versubjektiviert, und das wirkliche Verhältnis von Familie
und bürgerlicher Gesellschaft zum Staat wird als ihre innere imaginäre Tätigkeit gefaßt. Familie und bürgerliche Gesellschaft sind die Voraussetzungen
des Staats; sie sind die eigentlich Tätigen; aber in der Spekulation wird es
umgekehrt. Wenn aber die Idee versubjektiviert wird, werden hier die wirklichen Subjekte, bürgerliche Gesellschaft, Familie, „Umstände, Willkür etc."
zu unwirklichen, anderes bedeutenden, objektiven Momenten der Idee.
Die Zuteilung des Staatsmaterials „am Einzelnen durch die Umstände,
die Willkür und die eigene Wahl seiner Bestimmung" werden nicht als das
Wahrhafte, das Notwendige, das an und für sich Berechtigte schlechthin
ausgesprochen; sie werden nicht als solche für das Vernünftige ausgegeben;
aber sie werden es doch wieder andrerseits, nur so, daß sie für eine scheinbare
Vermittlung ausgegeben, daß sie gelassen werden, wie sie sind, zugleich aber
die Bedeutung einer Bestimmung der Idee erhalten, eines Resultats, eines
Produkts der Idee. Der Unterschied ruht nicht im Inhalt, sondern in der
Betrachtungsweise oder in der Sprechweise. Es ist eine doppelte Geschichte,
eine esoterische und eine exoterische. Der Inhalt liegt im exoterischen Teil.
Das Interesse des esoterischen ist immer das, die Geschichte des logischen
Begriffs im Staat wiederzufinden. An der exoterischen Seite aber ist es, daß
die eigentliche Entwicklung vor sich geht.
Rationell hießen die Sätze von Hegel nur:
Die Familie und die bürgerliche Gesellschaft sind Staatsteile. Das Staatsmaterial ist unter sie verteilt „durch die Umstände, die Willkür und die eigne
Wahl der Bestimmung". Die Staatsbürger sind Familienglieder und Glieder
der bürgerlichen Gesellschaft.
„Die wirkliche Idee, der Geist, der sich selbst in die zwei ideellen Sphären
seines Begriffs, die Familie und die bürgerliche Gesellschaft, als in seine
Endlichkeit scheidet" - also die Teilung des Staats in Familie und bürgerliche Gesellschaft ist ideell, d.h. notwendig, gehört zum Wesen des Staats;
Familie und bürgerliche Gesellschaft sind wirkliche Staatsteile, wirkliche
geistige Existenzen des Willens, sie sind Daseinsweisen des Staates; Familie
und bürgerliche Gesellschaft machen sich selbst zum Staat. Sie sind das
Treibende. Nach Hegel sind sie dagegen getan von der wirklichen Idee; es ist
nicht ihr eigner Lebenslauf, der sie zum Staat vereint, sondern es ist der
Lebenslauf der Idee, die sie von sich diszemiert hat; und zwar sind sie
Endlichkeit dieser Idee; sie verdanken ihr Dasein einem anderen Geist als
dem ihrigen; sie sind von einem Dritten gesetzte Bestimmungen, keine
Selbstbestimmungen; deswegen werden sie auch als „Endlichkeit", als die
eigene Endlichkeit der „wirklichen Idee" bestimmt. Der Zweck ihres Daseins ist nicht dies Dasein selbst, sondern die Idee scheidet diese Voraussetzungen von sich ab, „um aus ihrer Idealität für sich unendlicher wirklicher Geist zu sein", d.h., der politische Staat kann nicht sein ohne die
natürliche Basis der Familie und die künstliche Basis der bürgerlichen Gesellschaft; sie sind für ihn eine conditio sine qua non1; die Bedingung wird
aber als das Bedingte, das Bestimmende wird als das Bestimmte, das Produzierende wird als das Produkt seines Produkts gesetzt; die wirkliche Idee erniedrigt sich nur in die „Endlichkeit" der Familie und der bürgerlichen Gesellschaft, um durch ihre Aufhebung seine Unendlichkeit zu genießen und
hervorzubringen; sie „teilt somit" (um seinen Zweck zu erreichen) „diesen
Sphären das Material dieser seiner endlichen Wirklichkeit" (dieser? welcher?
diese Sphären sind ja seine „endliche Wirklichkeit", sein „Material") „die
Individuen als die Menge zu" (das Material des Staats sind hier „die Individuen, die Menge", „aus ihnen besteht der Staat", dieses sein Bestehn wird
hier als eine Tat der Idee, als eine „Verteilung", die sie mit ihrem eigenen
Material vornimmt, ausgesprochen; das Faktum ist, daß der Staat aus der
Menge, wie sie als Fämilienglieder und Glieder der bürgerlichen Gesellschaft existiere, hervorgehe; die Spekulation spricht dies Faktum als Tat der
Idee aus, nicht als die Idee der Menge, sondern als Tat einer subjektiven,
von dem Faktum selbst unterschiedenen Idee), „so daß diese Zuteilung am
Einzelnen" (früher war nur von der Zuteilung der Einzelnen an die Sphären
der Familie und der bürgerlichen Gesellschaft die Rede) „durch die Umstände, die Willkür etc. vermittelt erscheint". Es wird also die empirische
Wirklichkeit aufgenommen, wie sie ist; sie wird auch als vernünftig ausgesprochen, aber sie ist nicht vernünftig wegen ihrer eigenen Vernunft,
1
unerläßliche Bedingung
sondern weil die empirische Tatsache in ihrer empirischen Existenz eine
andre Bedeutung hat als sich selbst. Die Tatsache, von der ausgegangen wird,
wird nicht als solche, sondern als mystisches Resultat gefaßt. Das Wirkliche
wird zum Phänomen, aber die Idee hat keinen andren Inhalt als dieses
Phänomen. Auch hat die Idee keinen andren Zweck als den logischen: „für
sich unendlicher wirklicher Geist zu sein". In diesem Paragraphen ist das
ganze Mysterium der Rechtsphilosophie niedergelegt und der Hegeischen
Philosophie überhaupt.
„ § 263. In diesen Sphären, in denen seine Momente, dieEinzelnheit und Besonderheit, ihre u n m i t t e l b a r e und r e f l e k t i e r t e Realität haben, ist der Geist als ihre
in sie scheinende objektive Allgemeinheit, als die Macht des Vernünftigen in der Notwendigkeit [(§ 184)], nämlich als die im Vorherigen betrachteten Institutionen."
„ § 2 6 4 . Die Individuen der Menge, da sie s e l b s t geistige Naturen und damit das
gedoppelte Moment, nämlichdas Extrem der für sich wissenden undwollendenEmze/nheit und das Extrem der das Substantielle wissenden und wollenden Allgemeinheit in
sich enthalten und daher zu dem Rechte dieser beiden Seiten nur gelangen, insofern
sie sowohl als Privat- wie als substantielle Personen wirklich sind; - erreichen in jenen
Sphären teils unmittelbar das Erstere teils das Andere so, daß sie in den Institutionen,
als dem an sich seienden Allgemeinen ihrer besonderen Interessen, ihr wesentliches
Selbstbewußtsein haben, teils daß sie ihnen ein auf einen allgemeinen Zweck gerichtetes Geschäft und Tätigkeit in der Korporation gewähren."
„ § 265. Diese Institutionen machen die Verfassung, d. i. die entwickelte und verwirklichte Vernünftigkeit, im besonderen aus und sind darum die feste Basis des Staats
sowie des Zutrauens und der Gesinnung der Individuen für denselben und die Grundsäulen der öffentlichen Freiheit, da in ihnen die besondere Freiheit realisiert und vernünftig, damit in ihnen selbst an sich die Vereinigung der Freiheit und Notwendigkeit
vorhanden ist."
„ § 2 6 6 . A l l e i n der Geist ist nicht nur als diese
(welche?) „Notwendigkeit,
sondern als die Idealität derselben und als ihr Inneres sich objektiv und wirklich; so
ist diese substantielle Allgemeinheit sich selbst Gegenstand und Zweck und jene Notwendigkeit hierdurch sich ebensosehr in Gestalt der Freiheit."
Der Ubergang der Familie und der bürgerlichen Gesellschaft in den
politischen Staat ist also der, daß der Geist jener Sphären, der an sich der
Staatsgeist ist, sich nun auch als solcher zu sich verhält und als ihr Inneres
sich wirklich ist. Der Übergang wird also nicht aus dem besondern Wesen der
Familie etc. und dem besondern Wesen des Staats, sondern aus dem all~
gemeinen Verhältnis von Notwendigkeit und Freiheit hergeleitet. Es ist ganz
derselbe Übergang, der in der Logik aus der Sphäre des Wesens in die
Sphäre des Begriffs bewerkstelligt wird. Derselbe Übergang wird in der
Naturphilosophie aus der unorganischen Natur in das Leben gemacht. Es
sind immer dieselben Kategorien, die bald die Seele für diese, bald für jene
Sphäre hergeben. Es kommt nur darauf an, für die einzelnen konkreten Bestimmungen die entsprechenden abstrakten aufzufinden.
„ § 2 6 7 . Die Notwendigkeit in der Idealität ist die Entwickelung der Idee innerhalb
ihrer selbst; sie ist als subjektive Substantialität die p o l i t i s c h e Gesinnung, als objektive in Unterscheidung von jener der Organismus des Staats, der eigentlich politische
Staat und seine Verfassung."
Subjekt ist hier „die Notwendigkeit in der Idealität", die „Idee innerhalb ihrer selbst", Prädikat - die politische Gesinnung und die politische Verfassung. Heißt zu deutsch: Die politische Gesinnung ist die subjektive, die
politische Verfassung ist die objektive Substanz des Staats. Die logische Entwicklung von Familie und bürgerlicher Gesellschaft zum Staat ist also
reiner Schein, denn es ist nicht entwickelt, wie die Familiengesinnung, die
bürgerliche Gesinnung, die Institution der Familie und die sozialen Institutionen als solche sich zur politischen Gesinnung und politischen Verfassung
verhalten und mit ihnen zusammenhängen.
Der Übergang, daß der Geist „nicht nur als diese Notwendigkeit und als
ein Reich der Erscheinung" ist, sondern als „die Idealität derselben", als die
Seele dieses Reichs für sich wirklich ist und eine besondere Existenz hat, ist
gar kein Übergang, denn die Seele der Familie existiert für sich als Liebe etc.
Die reine Idealität einer wirklichen Sphäre könnte aber nur als Wissenschaft
existieren.
Wichtig ist, daß Hegel überall die Idee zum Subjekt macht und das
eigentliche, wirkliche Subjekt, wie die „politische Gesinnung", zum Prädikat. Die Entwicklung geht aber immer auf Seite des Prädikats vor.
§268 enthält eine schöne Exposition über die politische Gesinnung, den
Patriotismus, die mit der logischen Entwicklung nichts gemein hat, nur daß
Hegel sie „nur" als „Resultat der im Staate bestehenden Institutionen, als in
welchen die Vernünftigkeit wirklich vorhanden ist", bestimmt, während umgekehrt diese Institutionen ebensosehr eine Vergegenständlichung der politischen Gesinnung sind. Cf. die Anmerkung zu diesem Paragraphen.
„ § 269. Ihren besonders bestimmten Inhalt nimmt die Gesinnung aus den verschiedenen Seiten des O r g a n i s m u s des Staats. Dieser Organismus ist die Entwickelung
der Idee zu ihren Unterschieden und zu deren objektiven Wirklichkeit. Diese unterschiedenen Seiten sind so die Verschiedenen Gewalten und deren Geschäfte und Wirksamkeiten, wodurch das A l l g e m e i n e sich fortwährend, und zwar indem sie durch
die Natur des Begriffes bestimmt sind, auf notwendigerweise hervorbringt und, indem
es ebenso seiner Produktion vorausgesetzt ist, sich erhält; - dieser Organismus ist
die politische Verfassung."
Die politische Verfassung ist der Organismus des Staats, oder der Organismus des Staats ist die politische Verfassung. Daß die unterschiedenen
Seiten eines Organismus in einem notwendigen, aus der Natur des Organismus hervorgehenden Zusammenhang stehn, ist - reine Tautologie. Daß,
wenn die politische Verfassung als Organismus bestimmt ist, die verschiedenen Seiten der Verfassung, die verschiedenen Gewalten, sich als organische
Bestimmungen verhalten und in einem vernünftigen Verhältnis zueinander
stehn, ist ebenfalls - Tautologie. Es ist ein großer Fortschritt, den politischen Staat als Organismus, daher die Verschiedenheit der Gewalten nicht
mehr als organische, sondern als lebendige und vernünftige Unterscheidung zu betrachten. Wie stellt Hegel aber diesen Fund dar?
1. „Dieser Organismus ist die Entwicklung der Idee zu ihren Unterschieden und zu deren objektiven Wirklichkeit.' Es heißt nicht: Dieser Organismus des Staats ist seine Entwicklung zu Unterschieden und zu deren
objektiven Wirklichkeit. Der eigentliche Gedanke ist: Die Entwicklung des
Staats oder der politischen Verfassung zu Unterschieden und deren Wirklichkeit ist eine organische. Die Voraussetzung, das Subjekt sind die wirklichen
Unterschiede oder die verschiednen Seiten der politischen Verfassung. Das
Prädikat ist ihre Bestimmung als organisch. Statt dessen wird die Idee zum
Subjekt gemacht, die Unterschiede und deren Wirklichkeit als ihre Entwicklung, ihr Resultat gefaßt, während umgekehrt aus den wirklichen Unterschieden die Idee entwickelt werden muß. Das Organische ist grade die Idee
der Unterschiede, ihre ideelle Bestimmung. Es wird hier aber von der Idee als
einem Subjekt gesprochen, die sich zu ihren Unterschieden entwickelt. Außer
dieser Umkehrung von Subjekt und Prädikat wird der Schein hervorgebracht,
als sei hier von einer andern Idee als dem Organismus die Rede. Es wird von
der abstrakten Idee ausgegangen, deren Entwicklung im Staat politische Verfassung ist. Es handelt sich also nicht von der politischen Idee, sondern von der
abstrakten Idee im politischen Element. Dadurch, daß ich sage; „dieser
Organismus (sc. des Staats, die politische Verfassung) ist die Entwicklung
der Idee zu ihren Unterschieden etc.", weiß ich noch gar nichts von der
spezifischen Idee der politischen Verfassung; derselbe Satz kann mit derselben
Wahrheit von dem tierischen Organismus als von dem politischen ausgesagt
werden. Wodurch unterscheidet sich also der tierische Organismus vom politischen? Aus dieser allgemeinen Bestimmung geht es . nicht hervor. Eine
Erklärung, die aber nicht die differentia specifica1 gibt, ist keine Erklärung. Das
einzige Interesse ist, „die Idee" schlechthin, die „logische Idee" in jedem
1
besondere Unterscheidung
Element, sei es des Staates, sei es der Natur, wiederzufinden, und die wirklichen Subjekte, wie hier die „politische Verfassung", werden zu ihren bloßen
Namen, so daß nur der Schein eines wirklichen Erkennens vorhanden ist. Sie
sind und bleiben unbegriffene, weil nicht in ihrem spezifischen Wesen begriffene Bestimmungen.
„Diese unterschiedenen Seiten sind so die verschiedenen Gewalien und
deren Geschäfte und Wirksamkeit." Durch das Wörtchen „so" wird der
Schein einer Konsequenz, einer Ableitung und Entwicklung hervorgebracht.
Man muß vielmehr fragen „Wieso?", „daß die verschiedenen Seiten des
Organismus des Staats" die „verschiedenen Gewalten" sind und „deren Geschäfte und Wirksamkeit", ist eine empirische Tatsache, daß sie Glieder eines
„Organismus" sind, ist das philosophische „Prädikat".
Wir machen hier auf eine stilistische Eigentümlichkeit Hegels aufmerksam, die sich oft wiederholt und Welche ein Produkt des Mystizismus ist. Der
ganze Paragraph lautet:
„Ihren besonders bestimmten Inhalt
1. „Ihren besonders bestimmten In-
nimmt die Gesinnung aus den v e r -
halt nimmt die Gesinnung aus d e n v e r -
s c h i e d e n e n S e i t e n des O r g a n i s m u s
schiedenen
des Staats. D i e s e r Organismus istdieEnt-
Seiten
des
Organismus
des Staats." „Diese unterschiedenen Sei-
wickelüng der Idee zu ihren Unterschie-
ten s i n d . . . die verschiedenenGewalten und
den und zu deren objektiven Wirklich-
deren Geschäfte und Wirksamkeiten."
keit. D i e s e
unterschiedenen
Sei-
t e n sind s o die verschiedenen Gewalten
und
deren
Geschäfte
keiten, wodurch
und
Wirksam-
das Allgemeine sich
fortwährend, und zwar indem sie durch
die Natur des Begriffes bestimmt sind, auf
notwendige Weise hervorbringt und, indem
es ebenso seiner Produktion vorausgesetzt
ist, sich erhält', - dieser Organismus ist
die politische Verfassung."
2. „Ihren besonders bestimmten Inhalt nimmt die Gesinnung aus den verschiedenen Seiten des O r g a n i s m u s des
Staats. D i e s e r Organismus ist die Entwickelung der Idee zu ihren Unterschieden und zu deren objektiven Wirklichk e i t . . . wodurch das Allgemeine sich fortwährend, und zwar indem sie durch die
Natur des Begriffes bestimmt sind, auf notWendige Weise hervorbringt und, indem es
ebenso seiner Produktion vorausgesetzt
ist, sich erhält. -
Dieser
Organis-
m u s ist die politische Verfassung."
Man sieht, Hegel knüpft an zwei Subjekte, an die „verschiedenen Seiten
des Organismus" und an den „Organismus", die weiteren Bestimmungen an.
Im dritten Satz werden die „unterschiedenen Seiten" als die „verschiedenen
Gewalten" bestimmt. Durch das zwischengeschobene Wort „so" wird der
Schein hervorgebracht, als seien diese „verschiedenen Gewalten" aus
dem Zwischensatz über den Organismus als die Entwicklung der Idee abgeleitet.
Es wird dann fortgesprochen über die „verschiedenen Gewalten". Die
Bestimmung, daß das Allgemeine sich fortwährend „hervorbringt" und sich
dadurch erhält, ist nichts Neues, denn es liegt schon in ihrer Bestimmung als
„Seiten des Organismus", als „organische" Seiten. Oder vielmehr diese Bestimmung der „verschiedenen Gewalten" ist nichts als eine Umschreibung
davon, daß der Organismus ist „die Entwicklung der Idee zu ihren Unterschieden etc.".
Die Sätze: Dieser Organismus ist „die Entwicklung der Idee zu ihren
Unterschieden und zu deren objektiven Wirklichkeit" oder zu Unterschieden,
wodurch „das Allgemeine" (das Allgemeine ist hier dasselbe wie die Idee)
„sich fortwährend, und zwar indem sie durch die Natur des Begriffes bestimmt
sind, erhält, auf notwendige Weise hervorbringt und, indem es ebenso seiner
Produktion vorausgesetzt ist, sich erhält", sind identisch. Der letztere ist bloß
eine nähere Explikation über „die Entwicklung der Idee zu ihren Unterschieden". Hegel ist dadurch noch keinen Schritt über den allgemeinen Begriff „der Idee" und höchstens des „Organismüs" überhaupt (denn eigentlich handelt es sich nur von dieser bestimmten Idee) hinausgekommen.
Wodurch wird er also zum Schlußsatz berechtigt: „Dieser Organismus ist die
politische Verfassung"? Warum nicht: „Dieser Organismus ist das Sonnensystem"? Weil er „die verschiedenen Seiten des Staats" später als die „verschiedenen Gewalten" bestimmt hat. Der Satz, daß „die verschiedenen Seiten
des Staats die verschiedenen Gewalten sind", ist eine empirische Wahrheit
und kann für keine philosophische Entdeckung ausgegeben werden, ist auch
auf keine Weise als Resultat einer früheren Entwicklung hervorgegangen.
Dadurch, daß aber der Organismus als die „Entwicklung der Idee" bestimmt,
von den Unterschieden der Idee gesprochen, dann das Konkretum der „verschiedenen Gewalten" eingeschoben wird, kommt der Schein herein, als sei
ein bestimmter Inhalt entwickelt worden. An den Satz: „Ihren besonders bestimmten Inhalt nimmt die Gesinnung aus den verschiedenen Seiten des
Organismus des Staats", dürfte Hegel nicht anknüpfen: „dieser Organismus",
sondern „der Organismus ist die Entwicklung der Idee etc.". Wenigstens gilt
das, was er sagt, von jedem Organismus, und es ist kein Prädikat vorhanden,
wodurch das Subjekt „dieser" gerechtfertigt würde. Das eigentliche Resultat,
wo er hin will, ist zur Bestimmung des Organismus als der politischen Verfassung. Es ist aber keine Brücke geschlagen, Wodurch man aus der allgemeinen
Idee des Organismus zu der bestimmten Idee des Staatsorganismus oder der politischen Verfassung käme, und es wird in Ewigkeit keine solche Brücke ge-
schlagen werden können. In dem Anfangssatz wird gesprochen von „den verschiedenen Seiten des Staatsorganismus", die später als „die verschiedenen
Gewalten" bestimmt werden. Es wird also bloß gesagt: „Die verschiedenen
Gewalten des Staatsorganismus" oder „der Staatsorganismus der Verschiedenen
Gewalten" ist - die „politische Verfassung" des Staats. Nicht aus dem „Organismus" „der Idee", ihren „Unterschieden" etc., sondern aus dem vorausgesetzten Begriff „verschiedene Gewalten", „Sfaafsorganismus" ist die Brücke
zur „politischen Verfassung" geschlagen.
Der Wahrheit nach hat Hegel nichts getan, als die „politische Verfassung"
in die allgemeine abstrakte Idee des „Organismus" aufgelöst, aber dem Schein
und seiner eignen Meinung nach hat er aus der „allgemeinen Idee" das Bestimmte entwickelt. Er hat zu einem Produkt, einem Prädikat der Idee gemacht, was ihr Subjekt ist. Er entwickelt sein Denken nicht aus dem Gegenstand, sondern den Gegenstand nach einem mit sich fertig und in der abstrakten Sphäre der Logik mit sich fertig gewordnen Denken. Es handelt sich nicht
darum, die bestimmte Idee der politischen Verfassung zu entwickeln, sondern
es handelt sich darum, der politischen Verfassung ein Verhältnis zur abstrakten Idee zu geben, sie als ein Glied ihrer Lebensgeschichte (der Idee) zu
rangieren, eine offenbare Mystifikation.
Eine andre Bestimmung ist, daß die „verschiedenen Gewalten" „durch
die Natur des Begriffs bestimmt sind" und darum das Allgemeine sie „auf
notwendige Weise hervorbringt". Die verschiedenen Gewalten sind also nicht
durch ihre „eigne Natur" bestimmt, sondern durch eine fremde. Ebenso ist
die Notwendigkeit nicht aus ihrem eignen Wesen geschöpft, noch weniger
kritisch bewiesen. Ihr Schicksal ist vielmehr prädestiniert durch die „Natur
des Begriffs", versiegelt in der Santa Casa[140:l (der Logik) heiligen Registern.
Die Seele der Gegenstände, hier des Staats, ist fertig, prädestiniert vor
ihrem Körper, der eigentlich nur Schein ist. Der „Begriff" ist der Sohn
in der „Idee", dem Gott Vater, das agens, das determinierende, unterscheidende Prinzip. „Idee" und „Begriff" sind hier verselbständigte Abstraktionen.
„ § 270. Daß der Zweck des Staates das allgemeine Interesse als solches und darin
als ihrer Substanz die Erhaltung der besonderen Interessen ist, ist 1. seine abstrafte
Wirklichkeit oder Substantialität; aber sie ist 2. seine Notwendigkeit, als sie sich in die
Begriffsunterschiede seiner Wirksamkeit dirimiert 1 , welche durch jene Substantialität
ebenso wirkliche feste Bestimmungen, G e w a l t e n sind; 3. eben diese Substantialität
ist aber der als durch die Form derBildung hindurchgegangne sich wissende und wollende
'•scheidet
Geist. Der Staat weiß daher, was er will, und weiß es in seiner Allgemeinheit, als Gedachtes; er wirkt und handelt deswegen nach gewußten Zwecken, gekannten Grundsätzen und nach Gesetzen, die es nicht nur an sich, sondern fürs Bewußtsein sind; und
ebenso, insofern seine Handlungen sich auf vorhandene Umstände und Verhältnisse
beziehen, nach der bestimmten Kenntnis derselben."
(Die Anmerkung zu diesem Paragraphen über das Verhältnis von Staat
und Kirche später.)
Die Anwendung dieser logischen Kategorien verdient ein ganz spezielles
Eingehen.
„Daß der Z w e c k des Staates das a l l g e m e i n e
I n t e r e s s e als solches und
darin als ihrer Substanz die Erhaltung der besonderen Interessen ist, ist I. seine abstrafte Wirklichkeit oder Substantialität."
Daß das allgemeine Interesse als solches und als Bestehn der besondern
Interessen Staatszweck ist, ist - seine Wirklichkeit, sein Bestehn, abstrakt
definiert. Der Staat ist nicht wirklich ohne diesen Zweck. Es ist dies das
wesentliche Objekt seines Wollens, aber zugleich nur eine ganz allgemeine
Bestimmung dieses Objekts. Dieser Zweck als Sein ist das Element des
Bestehns für den Staat.
„Aber sie" (die abstrakte Wirklichkeit, Substantialität) „ist 2 . seine Notwendigkeit, als sie sich in die BegriÜsunterschiede seiner Wirksamkeit dirimiert, welche durch
jene Substantialität ebenso wirkliche feste Bestimmungen, Gewalten sind."
Sie (die abstrakte Wirklichkeit, die Substantialität) ist seine (des Staats)
Notwendigkeit, als seine Wirklichkeit sich in unterschiedene Wirksamkeiten teilt,
deren Unterschied ein vernünftig bestimmter, die dabei feste Bestimmungen
sind. Die abstrakte Wirklichkeit des Staats, die Substantialität desselben ist
Notwendigkeit, insofern der reine Staatszweck und das reine Bestehn des
Ganzen nur in dem Bestehn der unterschiedenen Staatsgewalten realisiert ist.
Versteht sich: die erste Bestimmung seiner Wirklichkeit war abstrakt; der
Staat kann nicht als einfache Wirklichkeit, er muß als Wirksamkeit, als eine
unterschiedne Wirksamkeit betrachtet werden.
„Seine abstrakte Wirklichkeit oder Substantialität ist seine Notwendigkeit, als sie
sich in die Begriffsunterschiede seiner Wirksamkeit dirimiert, welche durch jene
S u b s t a n t i a l i t ä t ebenso wirkliche feste Bestimmungen, Gewalten sind."
Das Substantialitätsverhältnis ist Notwendigkeitsverhältnis; d. h., die Substanz erscheint geteilt in selbständige, aber wesentlich bestimmte Wirklichkeiten oder Wirksamkeiten. Diese Abstraktionen werde ich auf jede Wirklichkeit anwenden können. Insofern ich den Staat zuerst unter dem Schema der
„abstrakten", werde ich ihn nachher unter dem Schema der „konkreten
Wirklichkeit", der „Notwendigkeit", des erfüllten Unterschieds betrachten
müssen.
3. „Ehen diese Substantialität ist aber der als durch die Form derBildung hindurch'
gegangene sich wissende und wollende Geist. Der Staat weiß daher, was er will, und
weiß es in seiner Allgemeinheit, als Gedachtes; er wirkt und handelt deswegen nach gewußten Zwecken, gekannten Grundsätzen und nach Gesetzen, die es nicht nur an sich,
sondern fürs Bewußtsein sind; und ebenso, insofern seine Handlungen sich auf vorhandene Umstände und Verhältnisse beziehen, nach der bestimmten Kenntnis derselben."
Übersetzen wir nun diesen ganzen Paragraphen zu deutsch. Also:
1. Der sich wissende und wollende Geist ist die Substanz des Staates (der
gebildete, selbstbewußte Geist ist das Subjekt und das Fundament, ist die Selbständigkeit des Staats).
2. Das allgemeine Interesse und in ihm die Erhaltung der besondern Interessen
ist der allgemeine Zweck und Inhalt dieses Geistes, die seiende Substanz des
Staats, die Staatsnatur des sich wissenden und wollenden Geistes.
3. Die Verwirklichung dieses abstrakten Inhalts erreicht der sich wissende
und wollende Geist, der selbstbewußte, gebildete Geist nur als eine unterschiedene Wirksamkeit, als das Dasein Verschiedener Gewalten, als eine gegliederte'Macht.
Über die Hegeische Darstellung ist zu bemerken:
a) Zu Subjekten werden gemacht: die abstrakte Wirklichkeit, die Notwendigkeit (oder der substantielle Unterschied), die Substantialität; also die
abstraktlogischen Kategorien. Zwar werden die „abstreikte Wirklichkeit" und
„Notwendigkeit", als „seine", des Staats, Wirklichkeit und Notwendigkeit bezeichnet, allein 1. ist „sie", „die abstrakte Wirklichkeit" oder „Substantialität", seine Notwendigkeit. 2. Sie ist es, „die sich in die Begriflsunterschiede
seiner Wirksamkeit dirimiert". Die „Begriffsunterschiede" sind „durch jene
Substantialität ebenso wirkliche feste" Bestimmungen, Gewalten. 3. wird die
„Substantialität" nicht mehr als eine abstrakte Bestimmung des Staiats, als
„seine" Substantialität genommen; sie wird als solche zum Subjekt gemacht,
denn es heißt schließlich: „eben diese Substantialität ist aber der durch die
Form der Bildung hindurchgegangene, sich wissende und wollende Geist".
b) Eis wird auch schließlich nicht gesagt: „der gebildete etc. Geist ist die
Substantialität", sondern umgekehrt: „die Substantialität ist der gebildete etc.
Geist". Der Geist wird also zum Prädikat seines Prädikates.
c) Die Substantialität, nachdem sie 1. als der allgemeine Staatszweck,
dann 2. als die unterschiedenen Gewalten bestiiiimt war, wird 3. als der gebildete, sich wissende und wollende, wirkliche Geist bestimmt. Der wahre
Ausgangspunkt, der sich wissende und wollende Geist, ohne welchen der
„Staatszweck" und die „Staatsgewalten" haltungslose Einbildungen, essenzlose, sogar unmögliche Existenzen wären, erscheint nur als das letzte Prädikat
der Substantialität, die vorher schon als allgemeiner Zweck und als die verschiedenen Staatsgewalten bestimmt war. Wäre von dem wirklichen Geist ausgegangen worden, so war der „allgemeine Zweck" sein Inhalt, die verschiedenen Gewalten seine Weise, sich zu verwirklichen, sein reelles oder materielles
Dasein, deren Bestimmtheit eben aus der Natur seines Zweckes zu entwickeln
gewesen wäre. Weil aber von der „Idee" oder der „Substanz" als dem Subjekt,
dem wirklichen Wesen ausgegangen wird, so erscheint das wirkliche Subjekt
nur als letztes Prädikat des abstrakten Prädikates.
Der „Staatszweck" und die „Staatsgewalten" werden mystifiziert, indem
sie als „Daseinsweisen" der „Substanz" dargestellt und getrennt ihrem wirklichen Dasein, dem „sich wissenden und wollenden Geist, dem gebildeten
Geist" erscheinen.
d) Der konkrete Inhalt, die wirkliche Bestimmung, erscheint als formell;
die ganz abstrakte Formbestimmung erscheint als der konkrete Inhalt. Das
Wesen der staatlichen Bestimmungen ist nicht, daß sie staatliche Bestimmungen, sondern daß sie in ihrer abstraktesten Gestalt als logisch-metaphysische Bestimmungen betrachtet werden können. Nicht die Rechtsphilosophie, sondern die Logik ist das wahre Interesse. Nicht daß das Denken sich
in politischen Bestimmungen verkörpert, sondern daß die Vorhandenen politischen Bestimmungen in abstrakte Gedanken verflüchtigt werden, ist die
philosophische Arbeit. Nicht die Logik der Sache, sondern die Sache der
Logik ist das philosophische Moment. Die Logik dient nicht zum Beweis des
Staats, sondern der Staat dient zum Beweis der Logik.
1. Das allgemeine Interesse und darin die Erhaltung der besonderen Interessen als Staatszweck',
2. die verschiedenen Gewalten als Verwirklichung dieses Staatszwecks ;
3. der gebildete, selbstbewußte, wollende und handelnde Geist als das
Subjekt des Zwecks und seiner Verwirklichung.
Diese konkreten Bestimmungen sind äußerlich aufgenommen, hors
d'cEUvres; ihr philosophischerSinn ist, daß der Staat in ihnen den logischen
Sinn hat:
1. als abstrakte Wirklichkeit oder Substantialität;
2. daß das Substantialitätsverhältnis in das Verhältnis der Notwendigkeit,
der substantiellen Wirklichkeit übergeht;
3. daß die substantielle Wirklichkeit in Wahrheit Begriff, Subjektivität ist.
Mit Auslassung der konkreten Bestimmungen, welche ebensogut für eine
andere Sphäre, z.B. die Physik, mit andern konkreten Bestimmungen vertauscht werden können, also unwesentlich sind, haben wir ein Kapitel der
Logik vor uns.
Die Substanz muß „sich in Begriffsunterschiede dirimieren, welche durch
jene Substantialität ebenso wirkliche, feste Bestimmungen sind". Dieser Satz das Wesen gehört der Logik und ist vor der Rechtsphilosophie fertig. Daß
diese Begriffsunterschiede hier Unterschiede „seiner" (des Staats) „Wirksamkeit" und die „festen Bestimmungen" „Staatsgewalten" sind, diese Parenthese gehört der Rechtsphilosophie, der politischen Empirie. So ist die ganze
Rechtsphilosophie nur Parenthese zur Logik. Die Parenthese ist, wie sich von
selbst versteht, nur hors d'ceuvre der eigentlichen Entwicklung. Cf. zum Beispiel p. 347:
„Die Notwendigkeit besteht darin, daß das Ganze in die Begriffsunterschiede
dirimiert sei und daß dieses Dirimierte eine feste und aushaltende Bestimmtheit abgebe,
die nicht totfest ist, sondern in der Auflösung sich immer erzeugt."
Cf. auch die Logik.
„§271.
Die politische Verfassung ist fürs erste: die Organisation des Staates und
der Prozeß seines organischen Lebens in Beziehung auf sich selbst, in welcher er seine
Momente innerhalb seiner selbst unterscheidet und sie zum Bestehen entfaltet.
Zweitens ist er als eine Individualität ausschließendes Eins, welches sich damit zu
Anderen verhält, seine Unterscheidung also nach Außen kehrt und nach dieser Bestimmung seine bestehenden Unterschiede innerhalb seiner selbst in ihrer Idealität
setzt."
„Zusatz: Der innerliche Staat als solcher ist die Z i v i l g e w a l t , die Richtung
nach außen die M i l i t ä r g e w a l t , die aber im Staate eine bestimmte Seite in ihm
selbst ist."
I. Innere Verfassung für sich
„ § 272. Die Verfassung ist vernünftig, insofern der Staat seine Wirksamkeit nach
der Natur des Begriffs in sich unterscheidet und bestimmt, und zwar so, daß jede dieser
Gewalten selbst in sich die Totalität dadurch ist, daß sie die anderen Momente in sich
wirksam hat und enthält, und daß sie, weil sie den Unterschied des Begriffs ausdrücken, schlechthin in seiner Idealität bleiben und nür ein individuelles Ganzes ausmachen."
Die Verfassung ist also vernünftig, insofern seine Momente in die abstrakt
logischen aufgelöst werden können. Der Staat hat seine Wirksamkeit nicht
nach seiner spezifischen Natur zu unterscheiden und zu bestimmen, sondern
nach der Natur des Begriffs, welcher das mystifizierte Mobile des abstrakten
Gedankens ist. Die Vernunft der Verfassung ist also die abstrakte Logik und
nicht der Staatsbegriff. Statt des Begriffs der Verfassung erhalten wir die Verfassung des Begriffs. Der Gedanke richtet sich nicht nach der Natur des Staats,
sondern der Staat nach einem fertigen Gedanken.
„ § 2 7 3 . Der politische Staat dirimiert sich somit" (wieso?) „in die substantiellen
Unterschiede;
a) die Gewalt, das Allgemeine zu bestimmen und festzusetzen, die gesetzgebende
Gewalt;
b) der Subsumtion der besonderen Sphären und einzelnen Fälle unter das Allgemeine - die Regierimgsgewalt;
c) der S u b j e k t i v i t ä t als der letzten Willensentscheidung, die fürstliche Gewalt -,
in der die unterschiedenen Gewalten zur individuellen Einheit zusammengefaßt sind,
die also die Spitze und der Anfang des Ganzen - , der institutionellen Monarchie, ist."
Wir werden auf diese Einteilung zurückkommen, nachdem wir ihre Ausführung im besonderen geprüft.
„ § 274. Da der G e i s t nur als das w i r k l i c h ist, als was er sich weiß, und der Staat
als Geist eines Volkes zugleich das alle seine Verhältnisse durchdringende Gesetz, die
Sitte und das Bewußtsein seiner Individuen ist, so hängt die Verfassung eines bestimmten Volkes überhaupt von der W e i s e u n d B i l d u n g d e s
Selbstbewußtseins
d e s s e l b e n a b ; in diesem liegt seine subjektive Freiheit und damit die W i r k l i c h k e i t d e r V e r f a s s u n g . . . Jedes Volk hat deswegen die Verfassung, die ihm angemessen ist und für dasselbe gehört."
Aus Hegels Räsonnement folgt nur, daß der Staat, worin „Weise und
Bildung des Selbstbewußtseins" und „Verfassung" sich widersprechen, kein
wahrer Staat ist. Daß die Verfassung, welche das Produkt eines vergangnen
Bewußtseins war, zur drückenden Fessel für ein fortgeschrittnes werden kann
etc. etc., sind wohl Trivialitäten. Es würde vielmehr nur die Forderung einer
Verfassung folgern, die in sich selbst die Bestimmung und das Prinzip hat,
mit dem Bewußtsein fortzuschreiten; fortzuschreiten mit dem wirklichen
Menschen, was erst möglich ist, sobald der „Mensch" zum Prinzip der Verfassung geworden ist. Hegel hier Sophist.
*a) Die fürstliche Gewalt
§ 275. Die fürstliche Gewalt enthält selbst die drei Momente der Totalität in sich,
die Allgemeinheit der Verfassung und der Gesetze, die Beratung als Beziehung des
Besondern auf das Allgemeine und das Moment der letzten Entscheidung als der Selbsthestimmüng, in welche alles Übrige zurückgeht und wovon es den Anfang der Wirklichkeit nimmt. Dieses absolute Selbstbestimmen macht das u n t e r s c h e i d e n d e P r i n z i p
der fürstlichen Gewalt als solcher aus, welches zuerst zu entwickeln ist."
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Der Anfang dieses Paragraphen heißt zunächst nichts als: „die Allgemeinheit der Verfassung und der Gesetze" sind - die fürstliche Gewalt; die Beratung
oder die Beziehung des Besondern auf das Allgemeine ist - die fürstliche
Gewalt. Die fürstliche Gewalt steht nicht außerhalb der Allgemeinheit der
Verfassung und der Gesetze, sobald unter der fürstlichen Gewalt die des
Monarchen (konstitutionellen) verstanden ist.
Was Hegel aber eigentlich will, ist nichts als daß die „Allgemeinheit der
Verfassung und der Gesetze" - die fürstliche Gewalt, die Souveränität des
Staats ist. Es ist dann unrecht, die fürstliche Gewalt zum Subjekt zu machen
und, da unter fürstlicher Gewalt auch die Gewalt des Fürsten verstanden
werden kann, den Schein hervorzubringen, als sei er Herr dieses Moments;
das Subjekt desselben. Doch wenden wir uns zunächst zu dem, was Hegel als
„das unterscheidende Prinzip der fürstlichen Gewalt als solcher" ausgibt, so ist
es: „das Moment der letzten Entscheidung, als der Selbstbestimmung, in welche
alles Übrige zurückgeht und wovon es den Anfang der Wirklichkeit nimmt",
dieses: „absolute Selbstbestimmen".
Hegel sagt hier nichts als: der wirkliche, d.h. individuelle Wille ist die
fürstliche Gewalt. So heißt es § 12:
„Daß der Wille sich . . . die Form der Einzelnheit gibt, ist er beschließend, und
nur als beschließender Wille ist er w i r k l i c h e r Wille."
Insofern dies Moment der „letzten Entscheidung" oder der „absoluten
Selbstbestimmung" getrennt ist von der „Allgemeinheit" des Inhalts und
der Besonderheit der Beratung, ist es der wirkliche Wille als Willkür. Oder:
„Die Willkür ist die fürstliche Gewalt", oder: „Die fürstliche Gewalt ist
die Willkür".
„ § 276. Die Grundbestimmung des politischen Staats ist die substantielle Einheit
als Idealität seiner Momente, in welcher:
a ) die besonderen Gewalten und Geschäfte desselben ebenso aufgelöst als erhalten
und nur so erhalten sind, als sie keine unabhängige, sondern allein eine solche und so
weitgehende Berechtigung haben, als in d e r I d e e d e s G a n z e n bestimmt ist, v o n
s e i n e r M a c h t ausgehen und flüssige Glieder desselben als ihres einfachen Selbsts
sind."
Zusatz: „Mit dieser Idealität der Momente ist es wie mit dem Leben im organischen
Körper."
Versteht sich: Hegel spricht nur von der Idee „der besondern Gewalten
und Geschäfte" ... Sie sollen nur eine so weit gehende Berechtigung haben,
als in der Idee des Ganzen bestimmt ist; sie sollen nur „von seiner Macht ausgehen". Daß dies so sein soll, liegt in der Idee des Organismus. Es wäre aber
eben zu entwickeln gewesen, wie dies zu bewerkstelligen ist. Denn im Staat
muß bewußte Vernunft herrschen; die substantielle bloß innere und darum bloß
äußere Notwendigkeit, die zufällige [.. .j 1 der „Gewalten und Geschäfte"
kann nicht für das Vernünftige ausgegeben werden.
„§277. ß) Die besonderen Geschäfte und Wirksamkeiten des Staats sind als die
wesentlichen Momente desselben ihm eigen und an die Individuen, durch welche sie
gehandhabt und betätigt werden, nicht nach deren unmittelbaren Persönlichkeit,
sondern nur nach ihren allgemeinen und objektiven Qualitäten geknüpft und daher mit
der besonderen Persönlichkeit als solcher äußerlicher- und zufälligerweise verbunden.
Die Staatsgeschäfte und Gewalten können daher nicht Privateigentum sein."
Es versteht sich von selbst, daß, wenn besondere Geschäfte und Wirksamkeiten als Geschäfte und Wirksamkeit des Staats, als Staatsgeschäfte und
Staatsgewalt bezeichnet werden, sie nicht Privateigentum, sondern Staatseigentum sind. Das ist eine Tautologie.
Die Geschäfte und Wirksamkeiten des Staats sind an Individuen geknüpft (der Staat ist nur wirksam durch Individuen), aber nicht an das Individuum als physisches, sondern als staatliches, an die Staatsqualität des Individuums. Es ist daher lächerlich, wenn Hegel sagt, sie seien „mit der besonderen Persönlichkeit als solcher äußerlicher- und zufälligerweise verbunden".
Sie sind vielmehr durch ein vinculum substantiale2, durch eine wesentliche
Qualität desselben, mit ihm verbunden. Sie sind die natürliche Aktion seiner
wesentlichen Qualität. Es kömmt dieser Unsinn dadurch herein, daß Hegel
die Staatsgeschäfte und Wirksamkeiten abstrakt für sich und im Gegensatz
dazu die besondere Individualität faßt; aber er vergißt, daß die besondere
Individualität eine menschliche und die Staatsgeschäfte und Wirksamkeiten
menschliche Funktionen sind; er vergißt, daß das Wesen der „besonderen
Persönlichkeit" nicht ihr Bart, ihr Blut, ihre abstrakte Physis, sondern ihre
soziale Qualität ist, und daß die Staatsgeschäfte etc. nichts als Daseins- und
Wirkungsweisen der sozialen Qualitäten des Menschen sind. Es versteht sich
also, daß die Individuen, insofern sie die Träger der Staatsgeschäfte und
Gewalten sind, ihrer sozialen und nicht ihrer privaten Qualität nach betrachtet
werden.
„ § 278. Diese beiden Bestimmungen, daß die besonderen Geschäfte und Gewalten
des Staats weder für sich noch in dem besonderen Willen von Individuen selbständig
und fest sind, sondern in der E i n h e i t d e s S t a a t s als ihrem e i n f a c h e n S e l b s t
ihre letzte Wurzel haben, macht die Souveränität des Staats aus."
1
Undeutliches Wort, etwa: Verschränkung, Verschlingung -
2
eine wesentliche Verbindung
„Der Despotismus bezeichnet überhaupt den Zustand der Gesetzlosigkeit, wo dter
besondere Wille als solcher, es sei nun eines Monarchen oder eines Volks, als G e setz oder vielmehr statt des Gesetzes gilt, da hingegen die Souveränität gerade im gesetzlichen, konstitutionellen Zustande das Moment der Idealität der besondern Sphären
und Geschäfte ausmacht, daß nämlich eine solche Sphäre nicht ein Unabhängiges, in
ihren Zwecken und Wirkungsweisen Selbständiges und sich nur in sich Vertiefendes,
sondern in diesen Zwecken und Wirkungsweisen vom Zwecke des Ganzen (den man im
allgemeinen mit einem unbestimmteren Ausdrucke das Wohl des Staats genannt hat)
bestimmt und abhängig sei. Diese Idealität kömmt auf die gedoppelte Weise zur Erscheinung.- \rn friedlichen Zustandegehen die besonderen Sphären und Geschäfteden
Gang der Befriedigung ihrer besonderen Geschäfte fort, und es ist teils nur die Weise
der bewußtlösen Notwendigkeit der Sache, nach welcher ihre Selbstsucht in den Beitrag
zur gegenseitigen Erhaltung und zur Erhaltung des Ganzen umschlägt, teils aber ist
es die direkte Einwirkung von oben, wodurch sie sowohl zu dem Zwecke des Ganzen fortdauernd zurückgeführt und darnach beschränkt als angehalten werden, zu dieser Erhaltung direkte Leistungen zu machen; - im Zustande der Not aber, es sei innerer oder
äußerlicher, ist es die Souveränität, in deren einfachen Begriff der dort in seinen Besonderheiten bestehende Organismus zusammengeht und welcher die Rettung des
Staats mit Aufopferung dieses sonst Berechtigten anvertraut ist, w o denn jener I d e a l i s m u s i u seiner e i g e n t ü m l i c h e n Wirklichkeit komnit."
Dieser Idealismus ist also nicht entwickelt zu einem gewußten, vernünftigen System, Er erscheint im friedlichen Zustande entweder nur als ein äußerlicher Zwang, der der herrschenden Macht; dem Privatleben durch „direkte
Einwirkung von oben" angetan wird, oder als blindes ungewußtes Resultat
der Selbstsucht. Seine „eigentümliche Wirklichkeit" hat dieser Idealismus
nur im „Kriegs- oder Notzustand" des Staats, so daß sich hier sein Wesen
als „Kriegs- und Notzustand" des wirklichen bestehenden Staats ausspricht,
während sein „friedlicher" Zustand eben der Krieg und die Not der Selbstsucht ist.
'
Die Souveränität, der Idealismus des Staats, existiert daher nur als innere
Notwendigkeit: als Idee.Auch damit ist Hegel zufrieden, denn es handelt sich
nur um die Idee. Die Souveränität existiert also einerseits nur als bewußtlose, blinde Substanz. Wir werden sogleich ihre andere Wirklichkeit kennenlernen.
„ § 2 7 9 . D i e Souveränität, zunächst
I. „DieSouveränität, zunächstnurder
nur der allgemeine Gedanke dieser Ideali-
allgemeine Gedanke dieser Idealität, exi-
tät, existiert nur als die ihrer selbst gewisse
stiert nuf als die ihrer s e l b s t g e w i s s e
Subjektivität und als die abstrakte, insö-
Subjektivität. Die Subjektivität
fern grundlose Selbstbestimmung des Willens, in welcher das Letzte der Entschei-
ihrer Wahrheit
nur
ist
in
als Subjekt; die
P e r s ö n l i c h k e i t nur als Person. Iii der
dung liegt. Es ist dies das Individuelle des
Staats als solches, der selbst nur darin
Einer ist. Die Subjektivität aber ist in
ihrer Wahrheit nur als Subjekt, die Persönlichkeit nur als Person, und in der zur
reellen Vernünftigkeit gediehenen Verfassung hat jedes der drei Momente des
Begriffes seine für sich wirkliche ausgesonderte Gestaltung. Dies absolut entscheidende Moment des Ganzen ist daher
nicht die Individualität überhaupt, sondern Ein Individuum, der Monarch."
zur reellen Vernünftigkeit gediehenen
Verfassung hat jedes der drei Momente
des Begriffs für sich wirkliche ausgesonderte Gestaltung."
2. Die Souveränität „existiert nur
als die abstrakte, insoferngrundloseSeZisibestimmung des Willens, in welcher das
Letzte der Entscheidung liegt. Es ist dies
das Individuelle des Staats als solches, der
selbst darin nur Einer ist (und in der
zur reellenVernünftigkeitgediehenenVerfassung hat jedes der drei Momente des
Begriffes seine für sich wirkliche ausgesonderte Gestaltung). Dies absolut entscheidende Moment des Ganzen ist d a h e r nicht die Individualität überhaupt,
sondern Ein Individuum, der Monarch."
Der erste Satz heißt nichts, als daß der allgemeine Gedanke dieser
Idealität, dessen traurige Existenz wir eben gesehn haben, das selbstbewußte Werk der Subjekte sein und als solches für sie und in ihnen existieren müßte.
Wäre Hegel von den wirklichen Subjekten als den Basen des Staats ausgegangen, so hätte er nicht nötig, auf eine mystische Weise den Staat sich
versubjektivieren zu lassen. „Die Subjektivität", sagt Hegel, „aber ist in
ihrer Wahrheit nur als Subjekt, die Persönlichkeit nur als Person." Auch dies
ist eine Mystifikation. Die Subjektivität ist eine Bestimmung des Subjekts,
die Persönlichkeit eine Bestimmung der Person. Statt sie nun als Prädikate
ihrer Subjekte zu fassen, verselbständigt Hegel die Prädikate und läßt sie
hinterher auf eine mystische Weise in ihre Subjekte sich verwandeln.
Die Existenz der Prädikate ist das Subjekt: also das Subjekt die Existenz
der Subjektivität etc. Hegel verselbständigt die Prädikate, die Objekte, aber
er verselbständigt sie getrennt von ihrer wirklichen Selbständigkeit, ihrem
Subjekt. Nachher erscheint dann das wirkliche Subjekt als Resultat, während
vom wirklichen Subjekt auszugehn und seine Objektivation zu betrachten
ist. Zum wirklichen Subjekt wird daher die mystische Substanz, und das
reelle Subjekt erscheint als ein andres, als ein Moment der mystischen Substanz. Eben weil Hegel von den Prädikaten der allgemeinen Bestimmung statt
von dem reellen Ens (Ü7io>tei(j.evov, Subjekt) ausgeht und doch ein Träger
dieser Bestimmung da sein muß, wird die mystische Idee dieser Träger. Es ist
dies der Dualismus, daß Hegel das Allgemeine nicht als das wirkliche Wesen
des Wirklich-Endlichen, d. i. Existierenden, Bestimmten betrachtet oder das
wirkliche Ens nicht als das wahre Subjekt des Unendlichen.
So wird hier die Souveränität, das Wesen des Staats, zuerst als ein selbständiges Wesen betrachtet, vergegenständlicht. Dann, versteht sich, muß
dies Objektive wieder Subjekt werden. Dies Subjekt erscheint aber dann als
eine Selbstverkörperung der Souveränität, während die Souveränität nichts
anders ist als der vergegenständlichte Geist der Staatssubjekte.
Abgesehn von diesem Grundmangel der Entwicklung, betrachten wir
diesen ersten Satz des Paragraphen. Wie er daliegt, so heißt er nichts als: die
Souveränität, der Idealismus des Staats als Person, als „Subjekt" existiert,
versteht sich, als viele Personen, viele Subjekte, da keine einzelne Person die
Sphäre der Persönlichkeit, kein einzelnes Subjekt die Sphäre der Subjektivität
in sich absorbiert. Was sollte das auch für ein Staatsidealismus sein, der, statt
als das wirkliche Selbstbewußtsein der Staatsbürger, als die gemeinsame Seele
des Staats, eine Person, ein Subjekt wäre. Mehr hat Hegel auch nicht an diesem
Satz entwickelt. Aber betrachten wir nun den mit diesem Satz verschränkten
zweiten Satz. Es ist Hegel darum zu tun, den Monarchen als den wirklichen
„Gottmenschen", als die wirkliche Verkörperung der Idee darzustellen.
„Die Souveränität... existiert nur . . . als die abstrakte, insofern grundlose Selbst'
bestimmung des Willens, in welcher das Letzte der Entscheidung liegt. Es ist dies das
I n d i v i d u e l l e des Staats als solches, der selbst nur darin Einer ist . . . in der zur
reellen Vernünftigkeit gediehenen Verfassung hat jedes der drei Momente des Begriffes
seine für sich wirkliche ausgesonderte Gestaltung. Dies absolut entscheidende Moment
des Ganzen ist d a h e r nicht die Individualität überhaupt, sondern Ein Individuum,
der Monarch."
Wir haben vorher schon auf den Satz aufmerksam gemacht. Das Moment
des Beschließens, der willkürlichen, weil bestimmten Entscheidung ist die
fürstliche Gewalt des Willens überhaupt. Die Idee der fürstlichen Gewalt, wie
sie Hegel entwickelt, ist nichts anders als die Idee des Willkürlichen, der Ent'
scheidung des Willens.
Während Hegel aber eben die Souveränität als den Idealismus des Staats,
als die wirkliche Bestimmung der Teile durch die Idee des Ganzen auffaßt,
macht er sie jetzt zur „abstrakten, insofern grundlosen Selbstbestimmung des
Willens, in welcher das Letzte der Entscheidung ist. Es ist dies das Individuelle
des Staats als solches." Vorhin war von der Subjektivität, jetzt ist von der
Individualität die Rede. Der Staat als souveräner muß Einer, Ein Individuum
sein, Individualität besitzen. Der Staat ist „nicht nur" darin, in dieser Individualität Einer; die Individualität ist nur das natürliche Moment seiner Einheit; die Naturbestimmung des Staats. „Dies absolut entscheidende Moment
ist daher nicht die Individualität überhaupt, sondern Ein Individuum, der
Monarch." Woher? Weil „jedes der drei Momente des Begriffes in der zur
reellen Vernünftigkeit gediehenen Verfassung seine für sich wirkliche, ausgesonderte Gestaltung" hat. Ein Moment des Begriffes ist die „Einzelnheit",
allein dies ist noch nicht Ein Individuum. Und was sollte das auch für eine
Verfassung sein, wo die Allgemeinheit, die Besonderheit, die Einzelnheit»
jede „seine für sich wirkliche, ausgesonderte Gestaltung" hätte? Da es sich
überhaupt von keinem Abstraktum, sondern vom Staat, von der Gesellschaft
handelt, so kann man selbst die Klassifikation Hegels annehmen. Was folgte
daraus? Der Staatsbürger als das Allgemeine bestimmend ist Gesetzgeber,
als das Einzelne entscheidend, als u>irklich wollend, ist Fürst; was sollte1 das
heißen: Die Individualität des Staatswillens ist „ein Individuum", ein besonderes, von allen unterschiedenes Individuum? Auch die Allgemeinheit, die
Gesetzgebung hat eine „für sich wirkliche, ausgesonderte Gestaltung".
Könnte man daher schließen: „Die Gesetzgebung sind diese besonderen
Individuen."
Der gemeine Mann-'
2. Der Monarch hat die souveräne
Gewajt, die Souveränität.
3. Die Souveränität tut, was sie will.
Hegel:
2. Die Souveränität des Staats ist d e r
Monarch.
3. Die Souveränität ist „die abstrakte,
insofern grundlose Se/SsfSesfimmuni» dös
Willens, ih welcher das Letzte der Entscheidung liegt".
Alle Attribute des konstitutionellen Monarchen im jetzigen Europa mächt
Hegel zu absoluten Selbstbestimmungen des Willens. Er sagt nicht: Der Wille
des Monarchen ist die letzte Entscheidung, sondern: Die letzte Entscheidung
des Willens ist - der Monarch. Der erste Satz ist empirisch. Der zweite verdreht die empirische Tatsache in ein metaphysisches Axiom.
Hegel verschränkt die beiden Subjekte, die Souveränität „als die ihrer
selbst gewisse Subjektivität" und die Souveränität „als die grundlose Selbstbestimmung des Willens, als den individuellen Willen" durcheinander, um die
„Idee" als fön Individüüm'f herauszukonstruieren.
Es Versteht sich, daß die selbstgeWisse Subjektivität auch wirklich wollen,
auch als Einheit, als Individuum wollen muß. Wer hat aber auch je bezweifelt,
daß der Staat durch Individuen handelt? Wollte Hegel entwickeln: Der Staat
muß ein Individuum als Repräsentanten Seiner individuellen Einheit haben,
so brachte er den Monarchen nicht heraus. Wir halten als positives Resultat
dieses Paragraphen nur fest:
Der Monarch ist im Staate das Moment des individuellen Willens, der
grundlosen Selbstbestimmung, der Willkür.
Die Anmerkung Hegels zu diesem Paragraphen ist so merkwürdig, daß
wir sie näher beleuchten müssen.
„ Die immanente Entwickelung einer Wissenschaft, die Ableitung ihres ganzen Inhalts
aus dem einfachen Begriffe . . . zeigt das Eigentümliche, daß der eine und derselbe Begriff, hier der W i l l e , der anfangs, weil es der Anfang ist, abstrakt ist, sich erhält, aber
seine Bestimmungen, und zwar ebenso nur durch sich selbst, verdichtet und auf diese
Weise einen konkreten Inhalt gewinnt. S o ist es das Grundmoment der zuerst im
unmittelbaren Rechte abstrakten Persönlichkeit, welches sich durch seine verschiedenen
Formen von Subjektivität fortgebildet hat und hier im absoluten Rechte, dem Staate,
der vollkommen konkreten Objektivität des Willens, die Persönlichkeit des Staats ist,
seine Gewißheit seiner selbst - dieses Letzte, was alle Besonderheiten in dem einfachen
Selbst aufhebt, das Abwägen der Gründe und Gegengründe, zwischen denen sich
immer herüber und hinüber schwanken läßt, abbricht und sie durch das: Ich will,
beschließt, und alle Handlung und Wirklichkeit anfängt."
Zunächst ist es nicht die „Eigentümlichkeit der Wissenschaft", daß der
Fundamentalbegriff der Sache immer wiederkehrt.
Dann hat aber auch kein Fortschritt stattgefunden. Die abstrakte Personlichkeit war das Subjekt des abstrakten Rechts; sie hat sich nicht verändert;
sie ist wieder als abstrakte Persönlichkeit die Persönlichkeit des Stapts. Hegel
hätte sich nicht darüber verwundern sollen, daß die wirkliche Person - und die
Personen machen den Staat - überall als sein Wesen wiederkehrt. Er hätte
sich über das Gegenteil wundern müssen, noch mehr aber darüber, daß die
Person,als Staatsperson;in derselben dürftigen Abstraktion wiederkehrt wie
die Person des Privatrechts.
Hegel definiert hier den Monarchen als „die Persönlichkeit des Staats,
seine Gewißheit seiner selbst". Der Monarch ist die „personifizierte Souveränität", die ,,menschgewordene Souveränität", das leibliche Staatsbewußtsein, wodurch also alle andern von dieser Souveränität und von der Persönlichkeit und vom Staatsbewußtsein ausgeschlossen sind. Zugleich weiß aber
Hegel dieser „Souverainete Personne"1 keinen andern Inhalt zu geben als das
„Ich will", das Moment der Willkür im Willen. Die „Staatsvernunft" und
das „Staatsbewußtsein" ist eine, „einzige" empirische Person mit Ausschluß
aller anderen, aber diese personifizierte Vernunft hat keinen anderen Inhalt
als die Abstraktion des „Ich will". L'Etat c'est moi.2
„Die Persönlichkeit und die Subjektivität überhaupt hat aber f e r n e r , als unendliches sich auf sich Beziehendes, schlechthin nur Wahrheit, und zwar seine nächste
1
„personifizierten Souveränität" -
2
Der Staat bin ich.
unmittelbare Wahrheit als Person, für sich seiendes Subjekt, und das für sich Seiende
ist ebenso schlechthin Eines."
Es versteht sich von selbst, da Persönlichkeit und Subjektivität nur Prädikate der Person und des Subjekts sind, so existieren sie nur als Person und
Subjekt, und zwar ist die Person Eins. Aber, mußte Hegel fortfahren, das
Eins hat schlechthin nur Wahrheit als viele Eins. Das Prädikat, das Wesen
erschöpft die Sphären seiner Existenz nie in einem Eins, sondern in den vielen
Eins.
Statt dessen schließt Hegel:
„Die Persönlichkeit des Staates ist nur als eine Person, der Monarch, wirklich."
Also weil die Subjektivität nur als Subjekt und das Subjekt nur als Eins,
ist die Persönlichkeit des Staats nur als eine Person wirklich. Ein schöner
Schluß. Hegel könnte ebensogut schließen: Weil der einzelne Mensch ein
Eins ist, ist die Menschengattung nur ein einziger Mensch.
„Persönlichkeit drückt den Begriff als solchen aus, die Person enthält z u g l e i c h
die Wirklichkeit desselben, und der Begriff ist nur mit dieser Bestimmung Idee,
Wahrheit."
Die Persönlichkeit ist allerdings nur eine Abstraktion ohne die Person, aber
die Person ist nur die wirkliche Idee der Persönlichkeit in ihrem Gattungsdasein, als die Personen.
„Eine sogenannte moralische Person, Gesellschaft, Gemeinde, Familie, so konkret
sie in sich ist, hat die Persönlichkeit nur als Moment, abstrakt in ihr; sie ist darin nicht
zur Wahrheit ihrer Existenz gekommen, der Staat aber ist eben diese Totalität, in
welcher die Momente des Begriffs zur Wirklichkeit nach ihrer eigentümlichen Wahrheit gelangen."
Es herrscht eine große Konfusion in diesem Satz. Die moralische Person,
Gesellschaft etc. wird abstrakt genannt, also eben die Gattungsgestaltungeri,
in welchen die wirkliche Person ihren wirklichen Inhalt zum Dasein bringt,
sich verobjektiviert und die Abstraktion der „Person quand meme1" aufgibt.
Statt diese Verwirklichung der Person als das Konkreteste anzuerkennen, soll
der Staat den Vorzug haben, daß „das Moment des Begriffs", die „Einzelnheit" zu einem mystischen „Dasein" gelangt. Das Vernünftige besteht nicht
darin, daß die Vernunft der wirklichen Person, sondern darin, daß die M o mente des abstrakten Begriffs zur Wirklichkeit gelangen.
„Der Begriff des Monarchen ist deswegen der schwerste Begriff für das Räsonnement, d. h. für die reflektierende Verstandesbetrachtung, weil es in den vereinzelten
1
als solcher
Bestimmungen stehenbleibt und darum dann auch nur Gründe, endliche Gesichtspunkte und das Ableiten aus Gründen kennt. So
stellt es dann die Würde des
Monarchen als etwas nicht nur der Form, sondern ihrer Bestimmung nach Abgeleitetes
dar; vielmehr ist sein Begriff, nicht ein Abgeleitetes, sondern das schlechthin aus sich
Anfangende zu sein. A m nächsten" (freilich!) „trifft daher hiermit die Vorstellung zu,
das Recht des Monarchen als auf göttliche Autorität gegründet zu betrachten, denn
darin ist das Unbedingte desselben enthalten."
„Schlechthin aus sich anfangend" ist in gewissem Sinn jedes notwendige
Dasein; in dieser Hinsicht die Laus des Monarchen so gut als der Monarch.
Hegel hatte damit also nicht Besondres über den Monarchen gesagt. Soll aber
etwas von allen übrigen Objekten der Wissenschaft und der Rechtsphilosophie spezifisch Verschiedenes vom Monarchen gelten, so ist das eine wirkliche Narrheit; bloß insofern richtig, als die „eine Person-Idee" allerdings
etwas nur aus der Imagination und nicht aus dem Verstände Abzuleitendes ist.
„Volkssouveränität kann in dem Sinn gesagt werden, daß ein Volk überhaupt nach
Außen ein Selbständiges sei und einen eigenen Staat ausmache" etc.
Das ist eine Trivialität. Wenn der Fürst die „wirkliche Staatssouveränität" ist, so müßte auch nach außen „der Fürst" für einen „selbständigen
Staat" gelten können, auch ohne das Volk. Ist er aber souverän, insofern er
die Volkseinheit repräsentiert, so ist er also selbst nur Repräsentant, Symbol
der Volkssouveränität. Die Volkssouveränität ist nicht durch ihn, sondern
umgekehrt er durch sie.
„Man kann so auch von der Souveränität nach Innen sagen, daß sie im Volke residiere, wenn man nur überhaupt vom Ganzen spricht, ganz so wie vorhin (§ 277, 278)
gezeigt ist, daß dem Staate Souveränität zukomme."
Als wäre nicht das Volk der wirkliche Staat. Der Staat ist ein Abstraktum.
Das Volk allein ist das Konkretum. Und es ist merkwürdig, daß Hegel, der
ohne Bedenken dem Abstraktum, nur mit Bedenken und Klauseln dem
Konkretum eine lebendige Qualität wie die der Souveränität beilegt.
„Aber Volkssouveränität, als im Gegensatze gegen die im Monarchen existierende
Souveränität genommen, ist der gewöhnliche Sinn, in welchem man in neueren Zeiten
von Volkssouveränität zu sprechen angefangen hat - , in diesem Gegensatze gehört die
Volkssouveränität zu den verworrenen Gedanken, denen die uiüste Vorstellung des
Volkes zugrunde liegt."
•
Die „verworrenen Gedanken" und die „wüste Vorstellung" befindet sich
hier allein auf der Seite Hegels. Allerdings: wenn die Souveränität im Monarchen existiert, so ist es eine Narrheit, von einer gegensätzlichen Souveränität
im Volke zu sprechen; denn es liegt im Begriff der Souveränität, daß sie keine
doppelte und gar entgegengesetzte Existenz haben kann. Aber:
1. ist grade die Frage: Ist die Souveränität, die im Monarchen absorbiert
ist, nicht eine Illusion? Souveränität des Monarchen öder des Volkes, das ist
die question;
2. kann auch von einer Souveränität des Volkes im Gegensatz gegen die im
Monarchen existierende Souveränität gesprochen werden. Aber dann handelt
es sich nicht um eine und dieselbe Souveränität, die auf zwei Seiten entstanden,
sondern es handelt sich um zwei ganz entgegengesetzte Begriffe der Souveränität,
Von denen die eine eine solche ist, die in einem Monarchen, die andre eine
solche, die nur in einem Volke zur Existenz kommen kann. Ebenso wie es
sich fragt: Ist Gott der Souverän, oder ist der Mensch der Souverän? Eine
von beiden ist eine Unwahrheit, wenn auch eine existierende Unwahrheit.
„Das Volk, ohne seinen Monarchen und die e b e n d a m i t notwendig und unmittelbarzusammenhängende Gegliederung des Ganzen genommen, ist die formlose Masse, die
kein Staat mehr ist und der ferne der Bestimmungen, die nur in dem in sich geformten
Ganzen vorhanden sind, - Souveränität, Regierung, Gerichte, Obrigkeit, Stände und
was es sei, mehr zukommt. Damit, daß solche auf eine Organisation, das Staatsleben,
sich beziehende Momente in einem Volke hervortreten, hört es auf, dies unbestimmte
Abstraktum zu sein, das in der blöß allgemeinen Vorstellung Volk heißt."
Dies Ganze eine Tautologie. Wenn ein Volk einen Monarchen und eine
mit ihm notwendig und unmittelbar zusammenhängende Gliederung hat,
d.h., wenn es als Monarchie gegliedert ist, so ist es allerdings, aus dieser
Gliederung herausgenommen, eine formlose Masse und bloß allgemeine Vorstellung.
„Wird unter der Volkssouveränität die Form der Republik, und zwar bestimmter
der Demokratie verstanden, so kann gegen die entwickelte Idee nicht mehr von
solcher Vorstellung die Rede sein.*"
Das ist allerdings richtig, wenn man nur eine „solche Vorstellung" und
keine „entwickelte Idee" von der Demokratie hat.
Die Demokratie ist die Wahrheit der Monarchie, die Monarchie ist nicht
die Wahrheit der Demokratie. Die Monarchie ist notwendig Demokratie als
Inkonsequenz gegen sich selbst, das monarchische Moment ist keine Inkonsequenz in der Demokratie. Die Monarchie kann nicht, die Demokratie kann
aus sich selbst begriffe« werden. In der Demokratie erlangt keines der M o mente eine andere Bedeutung, als ihm zukommt. Jedes ist wirklich nur M o ment des ganzen Demos. In der Monarchie bestimmt ein Teil den Charakter
des Ganzen. Die ganze Verfassung muß sieh nach dem festen Punkt modifizieren. Die Demokratie ist die Verfassungsgattung. Die Monarchie ist eihe
Art, und zwar eine schlechte Art. Die Demokratie ist Inhalt und Form. Die
Monarchie soll mir Form sein, aber sie verfälscht den Inhalt.
In der Monarchie ist das Ganze, das Volk, unter eine seiner Daseinsweisen,
die politische Verfassung, subsumiert; in der Demokratie erscheint die Verfassung selbst nur als eine Bestimmung, und zwar Selbstbestimmung des Volks.
In der Monarchie haben wir das Volk der Verfassung; in der Demokratie die
Verfassung des Volks. Die Demokratie ist das aufgelöste Rätsel aller Verfassungen. Hier ist die Verfassung nicht nur an sich, dem Wesen nach;
sondern der Existenz, der Wirklichkeit nach in ihren wirklichen Grund, den
wirklichen Menschen, das wirkliche Volk, stets zurückgeführt und als sein
eignes Werk gesetzt. Die Verfassung erscheint als das, was sie ist, freies
Produkt des Menschen; man könnte sagen, daß dies in gewisser Beziehung
auch von der konstitutionellen Monarchie gelte, allein der spezifische Unterschied der Demokratie ist, daß hier die Verfassung überhaupt nur ein Daseinsmoment des Volkes, daß nicht die politische Verfassung für sich den Staat
bildet.
Hegel geht vom Staat aus und macht den Menschen zum versubjektivierten Staat; die Demokratie geht vom Menschen aus und macht den Staat zum
verobjektivierten Menschen. Wie die Religion nicht den Menschen, sondern
wie der Mensch die Religion schafft, so schafft nicht die Verfassung das Volk,
sondern das Volk die Verfassung. Die Demokratie verhält sich in gewisser
Hinsicht zu allen übrigen Staatsformen, wie das Christentum sich zu allen
übrigen Religionen verhält. Das Christentum ist die Religion x.ar' k^oyjjv1,
das Wesen der Religion, der deifizierte Mensch als eine besondre Religion. So
ist die Demokratie das Wesen aller Staatsverfassung, der sozialisierte Mensch,
als eine besondre Staatsverfassung; sie verhält sich zu den übrigen Verfassungen, wie die Gattung sich zu ihren Arten verhält, nur daß hier die Gattung
selbst als Existenz, darum gegenüber den dem Wesen nicht entsprechenden
Existenzen selbst als eine besondre Art erscheint. Die Demokratie verhält sich
zu allen übrigen Staatsformen als ihrem alten Testament. Der Mensch ist
nicht des Gesetzes, sondern das Gesetz ist des Menschen wegen da, es ist
menschliches Dasein, während in den andern der Mensch das gesetzliche Dasein
ist. Das ist die Grunddifferenz der Demokratie.
Alle übrigen Staatsbildungen sind eine gewisse, bestimmte, besondere
Staatsform. In der Demokratie ist das formelle Prinzip zugleich das materielle
Prinzip. Sie ist daher erst die wahre Einheit des Allgemeinen und Besondem. In der Monarchie z.B., in der Republik' als einer nur besondern
•'vorzugsweise
Staatsform, hat der politische Mensch sein besonderes Dasein neben dem
unpolitischen, dem Privatmenschen. Das Eigentum, der Vertrag, die Ehe,
die bürgerliche Gesellschaft erscheinen hier (wie dies Hegel für diese abstrakten Staatsformen ganz richtig entwickelt, nur daß er die Idee des Staats zu
entwickeln meint) als besondre Daseinsweisen neben dem politischen Staat,
als der Inhalt, zu dem sich der politische Staat als die organisierende Form
verhält, eigentlich nur als der bestimmende, beschränkende, bald bejahende,
bald verneinende, in sich selbst inhaltslose Verstand. In der Demokratie ist
der politische Staat, so wie er sich neben diesen Inhalt stellt und von ihm
unterscheidet, selbst nur ein besondrer Inhalt, wie eine besondre Daseinsform
des Volkes. In der Monarchie z.B. hat dies Besondre, die politische Verfassung, die Bedeutung des alles Besondern beherrschenden und bestimmenden Allgemeinen. In der Demokratie ist der Staat als Besondres nur Besondres, als Allgemeines das wirkliche Allgemeine, d.h. keine Bestimmtheit
im Unterschied zu dem andern Inhalt. Die neueren Franzosen haben dies
so aufgefaßt, daß in der wahren Demokratie der politische Staat untergehe.
Dies ist insofern richtig, als er qua politischer Staat, als Verfassung, nicht
mehr für das Ganze gilt.
In allen von der Demokratie unterschiednen Staaten ist der Staat, das
Gesetz, die Verfassung das Herrschende, ohne daß er wirklich herrschte,
d. h. den Inhalt der übrigen nicht politischen Sphären materiell durchdringe.
In der Demokratie ist die Verfassung, das Gesetz, der Staat selbst nur eine
Selbstbestimmung des Volks und ein bestimmter Inhalt desselben, soweit er
politische Verfassung ist.
Es versteht sich übrigens von selbst, daß alle Staatsformen zu ihrer Wahrheit die Demokratie haben und daher eben, soweit sie nicht die Demokratie
sind, unwahr sind.
In den alten Staaten bildet der politische Staat den Staatsinhalt mit Ausschließung der andern Sphären; der moderne Staat ist eine Akkommodation
zwischen dem politischen und dem unpolitischen Staat.
In der Demokratie hat der abstrakte Staat aufgehört, das herrschende
Moment zu sein. Der Streit zwischen Monarchie und Republik ist selbst noch
ein Streit innerhalb des abstrakten Staats. Die politische Republik ist die
Demokratie innerhalb der abstrakten Staatsform. Die abstrakte Staatsform
der Demokratie ist daher die Republik; sie hört hier aber auf, die nur politische
Verfassung zu sein.
Das Eigentum etc., kurz der ganze Inhalt des Rechts und des Staats, ist
mit wenigen Modifikationen in Nordamerika dasselbe wie in Preußen. Dort
ist also die Republik eine bloße Staatsform wie hier die Monarchie. Der Inhalt
des Staats liegt außerhalb dieser Verfassungen. Hegel hat daher recht, wenn
er sagt: Der politische Staat ist die Verfassung, d.h., der materielle Staat ist
nicht politisch. Es findet hier nur eine äußere Identität, eine Wechselbestimmung statt. Von den verschiedenen Momenten des Volkslebens war es
am schwersten, den politischen Staat, die Verfassung, herauszubilden. Sie
entwickelte sich als die allgemeine Vernunft gegenüber den andern Sphären,
als ein Jenseitiges derselben. Die geschichtliche Aufgabe bestand dann in
ihrer Revindikation, aber die besondern Sphären haben dabei nicht das Bewußtsein, daß ihr privates Wesen mit dem jenseitigen Wesen der Verfassung
oder des politischen Staates fällt und daß sein jenseitiges Dasein nichts andres
als der Affirmativ ihrer eignen Entfremdung ist. Die politische Verfassung war
bisher die religiöse Sphäre, die Religion des Volkslebens, der Himmel seiner
Allgemeinheit gegenüber dem irdischen Dasein seiner Wirklichkeit. Die politische Sphäre war die einzige Staatssphäre im Staat, die einzige Sphäre, worin
der Inhalt wie die Form Gattungsinhalt, das wahrhaft Allgemeine war, aber
zugleich so, daß, weil diese Sphäre den andern gegenüberstand, auch ihr
Inhalt zu einem formellen und besondern wurde. Das politische Leben im
modernen Sinn ist der Scholastizismus des Volkslebens. Die Monarchie ist der
vollendete Ausdruck dieser Entfremdung. Die Republik ist die Negation derselben innerhalb ihrer eignen Sphäre. Es versteht sich, daß da erst die politische Verfassung als solche ausgebildet ist, wo die Privatsphären eine selbständige Existenz erlangt haben. Wo Handel und Grundeigentum unfrei, noch
nicht verselbständigt sind, ist es auch noch nicht die politische Verfassung.
Das Mittelalter war die Demokratie der Unfreiheit.
Die Abstraktion des Staats als solchen gehört erst der modernen Zeit, weil
die Abstraktion des Privatlebens erst der modernen Zeit gehört. Die Abstraktion des politischen Staats ist ein modernes Produkt.
Im Mittelalter gab es Leibeigene, Feudal gut, Gewerbekorporation,
Gelehrtenkorporation etc., d.h., im Mittelalter ist Eigentum, Handel, Sozietät, Mensch politisch; der materielle Inhalt des Staates ist durch seine
Form gesetzt; jede Privatsphäre hat einen politischen Charakter oder ist eine
politische Sphäre, oder die Politik ist auch der Charakter der Privatsphären.
Im Mittelalter ist die politische Verfassung die Verfassung des Privateigentums, aber nur, weil die Verfassung des Privateigentums politische Verfassung
ist. Im Mittelalter ist Volksleben und Staatsleben identisch. Der Mensch ist
das wirkliche Prinzip des Staats, aber der unfreie Mensch. Er ist also die
Demokratie der Unfreiheit, die durchgeführte Entfremdung. Der abstrakte
reflektierte Gegensatz gehört erst der modernen Welt. Das Mittelalter ist der
wirkliche, die moderne Zeit ist abstrakter Dualismus.
„Auf der vorhin bemerkten Stufe, auf welcher die Einteilung der Verfassungen
in Demokratie,, Aristokratie und Monarchie gemacht worden ist, dem Standpunkte
der noch in s i c h b l e i b e n d e n s u b s t a n t i e l l e n E i n h e i t , d i e n o c h n i c h t z u
ihrer unendlichen U n t e r s c h e i d u n g
und Vertiefung
in sich
gekommen
ist, tritt das Moment der letzten sich selbst bestimmenden Willensentscheidung nicht
als immanentes organisches Moment des Staates für sich in eigentümliche Wirklichkeit
heraus."
In der unmittelbaren Monarchie, Demokratie, Aristokratie gibt es noch
keine politische Verfassung im Unterschied zu dem wirklichen, materiellen
Staat oder dem übrigen Inhalt des Volkslebens. Der politische Staat erscheint
noch nicht als dieForm des materiellen Staates. Entweder ist, wie in Griechenland, die res publica1 die wirkliche Privatartgelegenheit, der wirkliche Inhalt
der Bürger, und der Privatmensch ist Sklave; der politische Staat als politischer ist der wahre einzige Inhalt ihres Lebens und Wollens; oder, wie in
der asiatischen Despotie, der politische Staat ist nichts als die Privatwillkür
eines einzelnen Individuums, oder der politische Staat, wie der materielle, ist
Sklave. Der Unterschied des modernen Staats von diesen Staaten der substantiellen Einheit zwischen Volk und Staat besteht nicht darin, daß die verschiedenen Momente der Verfassung zu besonderer Wirklichkeit ausgebildet
sind, wie Hegel will, sondern darin, daß die Verfassung selbst zu einer besondern Wirklichkeit neben dem wirklichen Volksleben ausgebildet ist, daß
der politische Staat zur Verfassung des übrigen Staats geworden ist.
„ § 2 8 0 . Dieses letzte Selbst des Staatswillens ist in dieser seiner Abstraktion einfach und daher unmittelbar Einzelnheit; in seinem Begriffe selbst liegt hiermit die B e stimmung der Natürlichkeit; der Monarch ist daher wesentlich als dieses Individuum,
abstrahiert von allem anderen Inhalte, und dieses Individuum auf unmittelbare natürliche Weise, durch die natürliche Gehurt, zur Würde des Monarchen bestimmt."
Wir haben schon gehört, daß die Subjektivität Subjekt und das Subjekt
notwendig empirisches Individuum, Eins ist. Wir erfahren jetzt, daß im Begriff der unmittelbaren Einzelnheit die Bestimmung der Natürlichkeit, der
Leiblichkeit liegt. Hegel hat nichts bewiesen, als was von selbst spricht, daß
die Subjektivität nur als leibliches Individuum existiert, und, versteht sich,
zum leiblichen Individuum gehört die natürliche Geburt.
Hegel meint, bewiesen zu haben, daß die Staatssubjektivität, die Souveränität, der Monarch „wesentlich" ist „als dieses Individuum, abstrahiert von
allem andern Inhalte, und dieses Individuum, auf unmittelbare natürliche
Weise, durch die natürliche Geburt, zur Würde des Monarchen bestimmt".
1
das Gemeinwesen
Die Souveränität, die monarchische Würde, würde also geboren. Der Leib
des Monarchen bestimmte seine Würde. Auf der höchsten Spitze des Staats
entschiede also statt der Vernunft die bloße Physis. Die Geburt bestimmte die
Qualität des Monarchen, wie sie die Qualität des Viehs bestimmt.
Hegel hat bewiesen, daß der Monarch geboren werden muß, woran niemand zweifelt, aber er hat nicht bewiesen, daß die Geburt zum Monarchen
macht.
Die Geburt des Menschen zum Monarchen läßt sich ebensowenig zu
einer metaphysischen Wahrheit machen wie die unbefleckte Empfängnis der
Mutter Maria. So gut sich aber die letztere Vorstellung, dies Faktum des Bewußtseins, so gut läßt sich jenes Faktum der Empirie aus der menschlichen
Illusion und den Verhältnissen begreifen.
In der Anmerkung, die wir näher betrachten, überläßt sich Hegel dem
Vergnügen, das Unvernünftige als absolut vernünftig demonstriert zu haben.
„Dieser Übergang vom Begriff der reinen Selbstbestimmung in die Unmittelbarkeit des Seins und damit in die Natürlichkeit ist rein spekulativer Natur, seine Erkenntnis gehört daher der logischen Philosophie an."
Allerdings ist das rein spekulativ, nicht daß aus der reinen Selbstbestimmung, einer Abstraktion, in die reine Natürlichkeit (den Zufall der Geburt),
in das andere Extrem übergesprungen wird, car les extremes'se touchent1.
Das Spekulative besteht darin, daß dies ein „Übergang des Begriffs" genannt
und der vollkommne Widerspruch als Identität, die höchste Inkonsequenz
für Konsequenz ausgegeben wird.
Als positives Bekenntnis Hegels kann angesehn werden, daß mit dem
erblichen Monarchen an die Stelle der sich selbst bestimmenden Vernunft
die abstrakte Naturbestimmtheit nicht als das, was sie ist, als NaturbeStimmtheit, sondern als höchste Bestimmung des Staats tritt, daß dies der positive
Punkt ist, wo die Monarchie den Schein nicht mehr retten kann, die Organisation des vernünftigen Willens zu sein.
„Es ist übrigens im G a n z e n d e r s e l b e " ( ? ) „Übergang, welcher als die N a t u r
d e s W i l l e n s ü b e r h a u p t bekannt und der Prozeß ist, einen Inhalt aus der Subjektivität (als vorgestellten Zweck) in das Dasein zu übersetzen. Aber die e i g e n t ü m l i c h e Form der Idee und des Überganges, der hier betrachtet wird, ist das unmittelbare Umschlagen der r e i n e n S e l b s t b e s t i m m u n g d e s W i l l e n s (des e i n f a c h e n B e g r i f f e s s e l b s t ) in ein Dieses und natürliches Dasein, ohne die Vermittelung durch einen besondern Inhalt (einen Zweck im Handeln)."
Hegel sagt, daß das Umschlagen der Souveränität des Staats (einer Selbst1
denn Gegensätze ziehen sich an
16 Marx/Engels, Wtrks, Bd. I
bestimmung des Willens) in den Körper des gebornen Monarchen (in das
Dasein) im Ganzen der Übergang des Inhalts überhaupt ist, den der Wille
macht, um einen gedachten Zweck zu Verwirklichen, ins Dasein zu übersetzen
Aber Hegel sagt: im Ganzen. Der eigentümliche Unterschied, den er angibt, ist
so eigentümlich, alle Analogie aufzuheben und die Magie an die Stelle der
„Natur des Willens überhaupt" zu setzen.
Erstens ist das Umschlagen des vorgestellten Zwecks in das Dasein hier
unmittelbar, magisch. Zweitens ist hier das Subjekt: die reine Selbstbestimmung
des Willens, der einfache Begriff selbst; es ist das Wesen des Willens, was als
mystisches Subjekt bestimmt; es ist kein wirkliches, individuelles, bewußtes
Wollen, es ist die Abstraktion des Willens, die in ein natürliches Dasein umschlägt, die reine Idee, die sich als ein Individuum verkörpert.
Drittens, wie die Verwirklichung des Wollens in natürliches Dasein unmittelbar, d.h. ohne Mittel, geschieht, die sonst der Wille bedarf, um sich zu
vergegenständlichen, so fehlt sogar ein besondrer, d. i. bestimmter Zweck, es
findet nicht statt „die Vermittlung durch einen besondern Inhalt, einen Zweck
im Handeln", versteht sich, denn es ist kein handelndes Subjekt vorhanden,
und die Abstraktion, die reine Idee des Willens, um zu handeln, inuß sie
mystisch handeln. Ein Zweck, der kein besondrer ist, ist kein Zweck, wie ein
Handeln ohne: Zweck ein zweckloses, sinnloses Handeln ist. Die ganze Vergleichung mit dem teleologischen Akt des Willens gesteht sich also zu guter
Letzt selbst als eine Mystifikation ein. Ein inhaltsloseis Handeln der Idee.
Das Mittel ist der absolute Wille und das Wort des Philosophen, der besondre Zweck ist wieder der Zweck des philosophierenden Subjekts, den
erblichen Monarchen aus der reinen Idee zu konstruieren. Die Verwirklichung
des Zwecks ist die einfache Versicherung Hegels.
„Im sogenannten onlologischen Beweise vom Dasein Gottes ist es dasselbe U m schlagen des absoluten Begriffes in das Sein" (dieselbe Mystifikation), „was die Tiefe
der Idee in der neuern Zeit ausgemacht hat, was aber in der neuesten Zeit für das
Unbegreifliche" (mit Recht) „ausgegeben worden ist."
.; »Aber indem die Vorstellung des Monarchen ais dem gewöhnlichen" (sc. dem verständigen) „Bewußtsein ganz anheimfallend angesehen wird, so bleibt hier um so mehr
der Verstand bei seiner Trennung und den daraus fließenden Ergebnissen seiner
räsonierenden Gescheutheit stehen und leugnet dann, daß das Moment der letzten Entscheidung im Staate an und für , sich (d. i. im Vernunftbegriff) mit der unmittelbaren
Natürlichkeit verbunden sei."
\
Man leugnet, daß die letzte Entscheidung geboren werde, und Hegel behauptet; daß der Monarch die geborene letzte Entscheidung sei; aber wer
hat je gezweifelt, daß die letzte Entscheidung irrt Staate an wirkliche leib-
liehe Individuen geknüpft sei, also „mit der unmittelbaren Natürlichkeit verbunden sei"?
„ § 2 8 1 . Beide Momente in ihrer ungetrennten Einheit, das letzte grundlose Selbst
des Willens und die damit ebenso grundlose Existenz, als der Natur anheimgestellte
Bestimmung - diese Idee des von der Willkür Unbewegten macht die Majestät des
Monarchen aus. In dieser Einheit liegt die wirkliche Einheit des Staats, welche nur
durch diese ihre innere und äußere Unmittelbarkeit der Möglichkeit, in die Sphäre der
Besonderheit, deren Willkür, Zwecke und Ansichten herabgezogen zu werden, dem
Kampf der Faktionen gegen Faktionen um den Thron und der Schwächung und Zertrümmerung der Staatsgewalt entnommen ist."
Die beiden Momente sind: der Zufall des Willens, die Willkür, und der
Zufall der Natur, die Geburt, also Seine Majestät der Zufall. Der Zufall ist also
die wirkliche Einheit des Staats.
Inwiefern eine „innere und äußere Unmittelbarkeit" der Kollision etc.
entnommen sein soll, ist von Hegel eine unbegreifliche Behauptung, da grade
sie das Preisgegebne ist.
Was Hegel vom Wahlreich behauptet, gilt in noch höherem Grade vom
erblichen Monarchen:
„ D i e Verfassung wird nämlich in einem Wahlreich durch die Natur des Verhältnisses, daß in ihm der partikuläre Wille zum letzten Entscheidenden gemacht ist,
zu einer Wahl-Kapitulation" etc. etc. „zu einer Ergebung der Staatsgewalt auf die
Diskretion des partikulären Willens, woraus die Verwandlung der besonderen S t a a t s g e w a l t e n in P r i v a t e i g e n t u m " etc. „hervorgeht."
„ § 282. Aus der Souveränität des Monarchen fließt das Begnadigungsrecht der Verbrecher, denn ihr nur kommt die Verwirklichung der Macht des Geistes zu, das G e schehene ungeschehen zu machen und im Vergeben und Vergessen das Verbrechen zu
vernichten."
Das Begnadigungsrecht ist das Recht der Gnade. Die Gnade ist der höchste
Ausdruck der zufälligen Willkür. die Hegel sinnvoll zum eigentlichen Attribut
des Monarchen macht. Hegel bestimmt im Zusatz selbst als ihren Ursprung
„die grundlose Entscheidung".
„ § 2 8 3 . Das zweite in der Fürstengewalt Enthaltene ist das Moment derBesonderheit
oder des bestimmten Inhalts und der Subsumtion desselben unter das Allgemeine. Insofern es eine besondere Existenz erhält, sind es oberste beratende Stellen und Individuen, die den Inhalt der vorkommenden Staatsangelegenheiten oder der aus vorhandenen Bedürfnissen nötig werdenden gesetzlichen Bestimmungen, mit ihren objektiven
Seiten, den Entscheidungsgründen, darauf sich beziehenden Gesetzen, Umständen usf.
zur Entscheidung vor den M o n a r c h e n bringen. Die Erwählung der Individuen zu diesem Geschäfte wie deren Entfernung fällt, da sie es mit der unmittelbaren Person des;
Monarchen zu tun haben, in seine u n b e s c h r ä n k t e W i l l k ü r / '
„ § 284. Insofern das Objektive der Entscheidung, die Kenntnis des Inhalts und der
Umstände, die gesetzlichen und andere Bestimmungsgründe, allein der Verantwortung,
d.i. des Beweises der Objektivität fähig ist und daher einer von dem persönlichen
Willen des Monarchen als solchem unterschiedenen Beratung zukommen kann, sind
diese beratenden Stellen oder Individuen allein der V e r a n t w o r t u n g unterworfen,
die eigentümliche Majestät des Monarchen, als die letzte entscheidende Subjektivität,
ist aber über alle Verantwortlichkeit für die Regierungshandlungen erhoben."
Hegel beschreibt hier ganz empirisch die Ministergewalt, wie sie in konstitutionellen Staaten meistens bestimmt ist. Das einzige, was die Philosophie
hinzutut, ist, daß sie dieses „empirische Faktum" zur Existenz, zum Prädikat
des „Momentes der Besonderheit in der fürstlichen Gewalt" macht.
(Die Minister repräsentieren die vernünftige objektive Seite des souveränen Willens. Ihnen kommt daher auch die Ehre der Verantwortung zu,
während der Monarch mit der eigentümlichen Imagination der „Majestät"
abgefunden wird.) Das spekulative Moment ist also sehr dürftig. Dagegen
beruht die Entwicklung im besondern auf ganz empirischen, und zwar sehr
abstrakten, sehr schlechten empirischen Gründen.
So ist z.B. die Wahl der Minister in „die unbeschränkte Willkür" des
Monarchen gestellt, „da sie es mit der unmittelbaren Person des Monarchen zu tun haben", d.h. da sie Minister sind. Ebenso kann die „unbeschränkte Wahl" des Kammerdieners des Monarchen aus der absoluten Idee
entwickelt werden.
Besser ist schon der Grund für die Verantwortlichkeit der Minister, „insofern das Objektive der Entscheidung, die Kenntnis des Inhalts und der
Umstände, die gesetzlichen und anderen Bestimmüngsgriinde allein der
Verantwortung, d. i. des Beweises der Objektivität, fähig ist". Versteht sich,
„die letzte entscheidende Subjektivität", die reine Subjektivität, die reine
Willkür ist nicht objektiv, also auch keines Beweises der Objektivität, also
keiner Verantwortung fähig, sobald ein Individuum die geheiligte, sanktionierte
Existenz der Willkür ist. Hegels Beweis ist schlagend, Wenn man von den
konstitutionellen Voraussetzungen ausgeht, aber Hegel hat diese Voraussetzungen damit nicht bewiesen, daß er sie in ihrer Grundvorstellung analysiert. In dieser Verwechslung liegt die ganze Unkritik der Hegeischen Rechtsphilosophie.
„ § 2 8 5 . Das dritte Moment der fürstlichen Gewalt betrifft das an und für sich
Allgemeine, welches in subjektiver Rücksicht in dem Gewissen des Monarchen, in
objektiver Rücksicht im Ganzen der Verfassung und in den Gesetzen besteht; die
fürstliche Gewalt s e t z t insofern die anderen Momente v o r a u s , w i e j e d e s v o n
d i e s e n sie v o r a u s s e t z t . "
„ § 286. Die objektive Garantie der fürstlichen Gewalt, der rechtlichen Sukzession
nach der Erblichkeit des Thrones usf. liegt darin, daß, wie diese Sphäre ihre von den
anderen durch die Vernunft bestimmten Momenten a u s g e s c h i e d e n e Wirklichkeit
hat, ebenso die anderen für sich die eigentümlichen Rechte und Pflichten ihrer Bestimmung haben; jedes Glied, indem es sich für sich erhält, erhält im vernünftigen Organismus eben damit die anderen in ihrer Eigentümlichkeit."
Hegel sieht nicht, daß er mit diesem dritten Moment, dem „an und für
sich Allgemeinen", die beiden ersten in die Luft sprengt oder umgekehrt. „Die
fürstliche Gewalt setzt insofern die anderen Momente voraus, wie jedes von
diesen sie voraussetzt." Wird dieses Setzen nicht mystisch, sondern realiter
genommen, so ist die fürstliche Gewalt nicht durch die Geburt, sondern
durch die andern Momente gesetzt, also nicht erblich, sondern fließend, d.h.
eine Bestimmung des Staats, die abwechselnd an Staatsindividuen nach dem
Organismus der andern Momente verteilt wird. In einem vernünftigen
Organismus kann nicht der Kopf von Eisen und der Körper von Fleisch sein.
Damit die Glieder sich erhalten, müssen sie ebenbürtig, von einem Fleisch und
Blut sein. Aber der erbliche Monarch ist nicht ebenbürtig, er ist aus anderm
Stoff. Der Prosa des rationalistischen Willens der andern Staatsglieder tritt
hier die Magie der Natur gegenüber. Zudem, Glieder können sich nur insofern wechselseitig erhalten, als der ganze Organismus flüssig und jedes derselben in dieser Flüssigkeit aufgehoben, also keines, wie hier der Staatskopf,
„unbewegt", „inalterabel" ist. Hegel hebt durch diese Bestimmung also die
„geborene Souveränität" auf.
Zweitens die Unverantwortlichkeit. Wenn der Fürst das „Ganze der Verfassung", die „Gesetze", verletzt, hört seine Unverantwortlichkeit, weil sein
verfassungsmäßiges Dasein, auf; aber eben diese Gesetze, diese Verfassung,
machen ihn unverantwortlich. Sie widersprechen also sich selbst, und diese
eine Klausel hebt Gesetz und Verfassung auf. Die Verfassung der konstitutionellen Monarchie ist die Unverantwortlichkeit.
Begnügt sich Hegel aber damit, „daß, wie diese Sphäre ihre von den
anderen durch die Vernunft bestimmten Momenten ausgeschiedene Wirklichkeit, ebenso die anderen für sich die eigentümlichen Rechte und Pflichten
ihrer Bestimmung haben", so müßte er die Verfassung des Mittelalters eine
Organisation nennen; so hat er bloß mehr eine Masse besonderer Sph ären,
die in dem Zusammenhang einer äußern Notwendigkeit zusammenstehn, und
allerdings paßt auch nur hierhin ein leiblicher Monarch. In einem Staate, worin
jede Bestimmung für sich existiert, muß auch die Souveränität des Staa ts als
ein besondres Individuum befestigt sein.
Resume über Hegels Entwicklung der
fürstlichen Gewalt oder der Idee der
Staatssouveränität.
§ 279. Anmerkung S. 367 heißt es:
„Volkssouoeränität kann in dem Sinn gesagt werden, daß ein Volk überhaupt nach
Außen ein Selbständiges sei und einen eigenen Staat ausmache, wie das Volk von G r o ß britannien, aber das Volk von England oder Schottland, Irland oder von Venedig,
Genua, Ceylon usf. kein souveränes Volk mehr sei, seitdem sie aufgehört haben, e i g e n e
F ü r s t e n oder oberste Regierungen für sich zu haben."
Die Volkssouveränität ist also hier die Nationalität, die Souveränität des
Fürsten ist die Nationalität, oder das Prinzip des Fürstentums istdie Nationalität, die für sich und ausschließlich die Souveränität eines Volkes bildet.
Ein Volk, dessen Souveränität nur in der Nationalität besteht, hat einen
Monarchen. Die verschiedne Nationalität der Völker kann sich nicht besser
befestigen und ausdrücken als durch verschiedne Monarchen. Die Kluft, die
zwischen einem absoluten Individuum und dem andern, ist zwischen diesen
Nationalitäten.
Die Griechen (und Römer) waren national, weil und insofern sie das
souveräne Volk waren. Die Germanen sind souverän, weil und insofern sie
national sind.
„Eine sogenannte moralische Person", heißt es ferner in derselben Anmerkung,
„Gesellschaft, Gemeinde, Familie, so konkret sie in sich ist, hat die Persönlichkeit nur
als Moment, a b s t r a k t in ihr; sie ist darin nicht zur W a h r h e i t i h r e r E x i s t e n z
gekommen, der Staat aber ist eben diese Totalität, in welcher die Momente des Begriffs
zur Wirklichkeit nach ihrer e i g e n t ü m l i c h e n Wahrheit gelangen."
Die moralische Person, Gesellschaft, Familie etc. hat die Persönlichkeit
nur abstrakt in ihr; dagegen im Monarchen hat die Person den Staat in sich.
In Wahrheit hat die abstrakte Person erst in der moralischen Person, Gesellschaft, Familie etc. ihre Persönlichkeit zu einer wahren Existenz gebracht.
Aber Hegel faßt Gesellschaft, Familie etc., überhaupt die moralische Person,
nicht als die Verwirklichung der wirklichen, empirischen Person, sondern als
wirkliche Person, die aber das Moment der Persönlichkeit erst abstrakt in ihr
hat. Daher kommt bei ihm auch nicht die wirkliche Person zum Staat, sondern
der Staat muß erst zur wirklichen Person kommen. Statt daß daher der Staat
als die höchste Wirklichkeit der Person, als die höchste soziale Wirklichkeit
des Menschen, wird ein einzelner empirischer Mensch, wird die empirische
Person als die höchste Wirklichkeit des Staats hervorgebracht. Diese Verkehrung des Subjektiven in das Objektive und des Objektiven in das S u b jektive (die daher rührt, daß Hegel die Lebensgeschichte der abstrakten Sub-
stanz, der Idee, schreiben will, daß also die menschliche Tätigkeit etc. als
Tätigkeit und Resultat eines andern erscheinen muß, daß Hegel das Wesen
des Menschen für sich, als eine imaginäreEinzelnheit, statt in seiner wirklicken,
menschlichen Existenz wirken lassen will) hat notwendig das Resultat, daß
unkritischerweise eine empirische Existenz als die wirkliehe Wahrheit der Idee
genommen wird; denn es handelt sich nicht davon, die empirische Existenz
zu ihrer Wahrheit, sondern die Wahrheit zu einer empirischen Existenz zu
bringen, und da wird denn die zunächstliegende als ein reales Moment der
Idee entwickelt. (Über dieses notwendige Umschlagen von Empirie in Spekulation und von Spekulation in Empirie später mehr.)
Auf diese Weise wird denn auch der Eindruck des Mystischen und Tiefen
hervorgebracht. Es ist sehr vulgär, daß der Mensch geboren worden ist;
und daß dies durch die physische Geburt gesetzte Dasein zum sozialen
Menschen etc. wird bis zum Staatsbürger herauf; der Mensch wird durch
seine Geburt alles, was er wird. Aber es ist sehr tief, es ist frappant, daß die
Staatsidee unmittelbar geboren wird, in der Geburt des Fürsten sich selbst
zum empirischen Dasein herausgeboren hat. Es ist auf diese Weise kein Inhalt gewonnen, sondern nur die Form des alten Inhalts verändert. Er hat eine
philosophische Form erhalten, ein philosophisches Attest.
Eine andere Konsequenz dieser mystischen Spekulation ist, daß ein besondres empirisches Dasein, ein einzelnes empirisches Dasein im Unterschied
von den andern als das Dasein der Idee gefaßt wird. Es macht wieder einen
tiefen mystischen Eindruck, ein besondres empirisches Dasein von der Idee
gesetzt zu sehen und so auf allen Stufen einer Menschwerdung Gottes zu
begegnen.
Würden z.B. bei der Entwicklung von Familie, bürgerlicher Gesellschaft, Staat etc. diese sozialen Existentialweisen des Menschen als Verwirklichung, Verobjektivierung seines Wesens betrachtet, so erscheinen
Familie etc. als einem Subjekt inhärente Qualitäten. Der Mensch bleibt immer
das Wesen aller dieser Wesen, aber diese Wesen erscheinen auch als seine
wirkliche Allgemeinheit, daher auch als das Gemeinsame. Sind dagegen Familie,
bürgerliche Gesellschaft, Staat etc. Bestimmungen der Idee, der.Substanz als
Subjekt, so müssen sie eine empirische Wirklichkeit erhalten, und die Menschenmässe, in der sich die Idee der bürgerlichen Gesellschaft entwickelt, ist
Bürger, die andere Staatsbürger. Da es eigentlich nur um eine Allegorie, nur
darum zu tun ist, irgendeiner empirischen Existenz die Bedeutung der verwirklichten Idee beizulegen, so versteht es sich, daß diese Gefäße ihre Bestimmung
erfüllt haben, sobald sie in einer bestimmten Inkorporation eines Leberismomentes der Idee geworden sind. Das Allgemeine erscheint daher überall
als ein Bestimmtes, Besonderes, wie das Einzelne nirgends zu seiner wahren
Allgemeinheit kommt.
Am tiefsten, spekulativsten erscheint es daher notwendig, wenn die abstraktesten, noch durchaus zu keiner wahren sozialen Verwirklichung gereiften Bestimmungen, die Naturbasen des Staats, wie die Geburt (beim
Fürsten) oder das Privateigentum (im Majorat) als die höchsten, unmittelbar
Mensch gewordenen Ideen erscheinen.
Und es versteht sich von selbst. Der wahre Weg wird auf den Kopf gestellt. Das Einfachste ist das Verwickeltste und das Verwickeltste das Einfachste. Was Ausgang sein sollte, wird zum mystischen Resultat, und was
rationelles Resultat sein sollte, wird zum mystischen Ausgangspunkt.
Wenn aber der Fürst die abstrakte Person ist, die den Staat in sich hat, so
heißt das überhaupt nichts, als daß das Wesen des Staats die abstrakte, die
Privatperson ist. Bloß in seiner Blüte spricht er sein Geheimnis aus. Der Fürst
ist die einzige Privatperson, in der sich das Verhältnis der Privatperson überhaupt zum Staat verwirklicht.
Die Erblichkeit des Fürsten ergibt sich aus seinem Begriff. Er soll die
spezifisch von der ganzen Gattung, von allen andern Personen unterschiedene
Person sein. Welches ist nun der letzte feste Unterschied einer Person von
allen andern? Der Leib. Die höchste Funktion des Leibes ist die Geschlechtstätigkfiit. Der höchste konstitutionelle Akt des Königs ist daher seine Geschlechtstätigkeit, denn durch diese macht er einen König und setzt seinen
Leib fort. Der Leib seines Sohnes ist die Reproduktion seines eigenen Leibes,
die Schöpfung eines königlichen Leibes.
„b) Die Regierungsgewalt
§287.
Von
der E n t s c h e i d u n g
ist die A u s f ü h r u n g
und A n w e n d u n g
der fürstlichen Entscheidungen, überhaupt das Fortführen und Im-Stande-Erhalten
des bereits Entschiedenen, der vorhandenen Gesetze, Einrichtungen, Anstalten für
gemeinschaftliche Zwecke und dergleichen unterschieden. Dies Geschäft der Subsumtion begreift die Regierungsgewalt in sich, worunter ebenso die richterlichen
u n d polizeilichen Gewalten begriffen sind, welche unmittelbarer auf das Besondere
der bürgerlichen Gesellschaft Beziehung haben und das allgemeine Interesse in diesen
Zwecken geltend machen."
Die gewöhnliche Erklärung der Regierungsgewalt. Als Hegel eigentümlich
kann nur angegeben werden, daß er Regierungsgewalt, polizeiliche Gewalt und
richterliche Gewalt koordiniert, während sonst administrative und richterliche
Gewalt als Gegensätze behandelt werden.
„ § 288. Die gemeinschaftlichen besonderen Interessen, die in die bürgerliche G e sellschaft fallen u n d a u ß e r dem an u n d f ü r s i c h s e i e n d e n A l l g e m e i n e n d e s
S t a a t s s e l b s t l i e g e n ( § 2 5 6 ) , haben ihre Verwaltung in den
Korporationen
( § 2 5 1 ) der Gemeinden und sonstiger Gewerbe und Stände und deren Obrigkeiten,
Vorsteher, Verwalter und dergleichen. Insofern diese Angelegenheiten, die sie besorgen,
einerseits das Privateigentum und Interesse dieser besondern Sphären sind und nach
dieser Seite ihre Autorität mit auf dem Zutrauen ihrer Standesgenossen und Bürgerschaften beruht, andererseits diese Kreise den höheren Interessen des Staats untergeordnet sein müssen, wird sich für die Besetzung dieser Stellen im allgemeinen
eine Mischung von gemeiner Wahl dieser Interessenten und von einer höheren Bestätigung und Bestimmung ergeben."
Einfache Beschreibung des empirischen Zustandes in einigen Ländern.
„ § 289. Die Festhaltung des allgemeinen Staatsinteresses und des Gesetzlichen in
diesen besonderen Rechten und die Zurückführung derselben auf jenes erfordert eine
Besorgung durch A b g e o r d n e t e der Regierungsgewalt, die e x e k u t i v e n Staatsbeamten und die höheren beratenden, insofern kollegialisch konstituierten Behörden,
welche in den obersten, den Monarchen berührenden Spitzen zusammenlaufen."
Hegel hat die Regierungsgewalt nicht entwickelt. Aber selbst dies unterstellt, so hat er nicht bewiesen, daß sie mehr als eine Funktion, eine Bestimmung
des Staatsbürgers überhaupt ist, er hat sie als eine besondere, separierte Gewalt
nur dadurch deduziert, daß er die „besonderen Interessen der bürgerlichen
Gesellschaft" als solche betrachtet, die „außer dem an und für sich seienden
Allgemeinen des Staats liegen".
»Wie die b ü r g e r l i c h e
ellen Privatinteresses
desselben
gegen
die
Gesellschaft
der
Kampfplatz
des i n d i v i d u -
A l l e r g e g e n A l l e i s t , so h a t h i e r d e r
gemeinschaftlichen
heiten und dieser zusammen
besonderen
Konflikt
Angelegen-
mit jenem gegen die höheren Gesichtspunkte
und Anordnungen des Staats seinen Sitz. Der Korporationsgeist, der sich in der
Berechtigung der besondern Sphären erzeugt, schlägt in sich selbst zugleich in den
Geist des Staats um, indem er an dem Staate das Mittel der Erhaltung der besonderen
Zwecke hat. Dies ist das G e h e i m n i s des Patriotismus der Bürger nach dieser Seite,
daß sie den Staat als ihre Substanz wissen, w e i l er ihre besondern Sphären, deren
Berechtigung und Autorität wie deren Wohlfahrt erhält. In dem Korporationsgeist,
da er die Eintourzdung des Besonderen in das Allgemeine unmittelbar enthält, ist insofern
die Tiefe und die Stärke des Staates, die er in der Gesinnung hat."
Merkwürdig
1. wegen der Definition der bürgerlichen Gesellschaft als des bellum
omnium contra omnes1;
1
Krieges aller gegen alle
2. weil der Privategoismus als das „Geheimnis des Patriotismus der Bürger"
verraten wird und als die „Tiefe und Stärke des Staats in der Gesinnung";
3. weil der „Bürger", der Mann des besonderen Interesses im Gegensatz
zum Allgemeinen, das Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft als „fixes
Individuüm" betrachtet wird, wogegen ebenso der Staat in „fixen Individuen"
den „Bürgern" gegenübertritt.
Hegel, sollte man meinen, mußte die „bürgerliche Gesellschaft" wie die
„Familie" als Bestimmung jedes Staatsindividuums, also auch die späteren
„Staatsqualitäten" ebenso als Bestimmung des Staatsindividuums überhaupt
bestimmen. Aber es ist nicht dasselbe Individuum, welches eine neue Bestimmung seines sozialen Wesens entwickelt. Es ist das Wesen des Willens,
welches seine Bestimmungen angeblich aus sich selbst entwickelt. Die bestehenden verschiedenen und getrennten, empirischen Existenzen des Staates
werden als unmittelbare Verkörperungen einer dieser Bestimmungen betrachtet.
Wie das Allgemeine als solches verselbständigt wird, wird es unmittelbar
mit der empirischen Existenz konfundiert, wird das Beschränkte unkritischerweise sofort für den Ausdruck der Idee genommen.
Mit sich selbst gerät Hegel hier nur insofern in Widerspruch, als er den
„Familienmenschen" nicht gleichmäßig wie den Bürger als eine fixe, von den
übrigen Qualitäten ausgeschlossene Rasse betrachtet.
»§290. In dem G e s c h ä f t e d e r R e g i e r u n g findet sich gleichfalls die Teilung
der Arbeit ein. Die Organisation der Behörden hat insofern die formelle, aber
schwierige Aufgabe, daß von unten, wo das bürgerliche Leben konkret ist, dasselbe
auf konkrete Weise regiert werde, daß dies Geschäft aber in seine abstrakte Zweige
geteilt sei, die von eigentümlichen Behörden als unterschiedenen Mittelpunkten behandelt werden, deren Wirksamkeit nach unten sowie in der obersten Regierungsgewalt in
eine konkrete Übersicht wieder zusammenlaufe."
Der Zusatz hierzu später zu betrachten.
„§291. Die Regierungsgeschäfte sind objektiver, für sich ihrer Substanz nach bereits
entschiedener Natur (§ 287) und durch Individuen zu vollführen und zu verwirklichen.
Zwischen beiden liegt keine unmittelbare n a t ü r l i c h e Verknüpfung; die Individuen
sind daher nicht durch die natürliche Persönlichkeit und die Geburt dazu bestimmt. Für
ihre Bestimmung zu demselben ist das objektive Moment die Erkenntnis und der Erweis ihrer Befähigung - , ein Erweis, der dem Staate sein Bedürfnis und als die einzige
Bedingung zugleich jedem Bürger die M ö g l i c h k e i t , sich dem allgemeinen Stande
zu widmen, sichert."
„ § 2 9 2 . Die subjektive Seite, daß dieses Individuum aus Mehreren, deren es, da
hier das Objektive nicht (wie z. B. bei der Kunst) in Genialität liegt,"notwendig
unbestimmt Mehrere gibt, unter denen der Vorzug nichts absolut Bestimmbares ist,
zu einer Stelle gewählt und ernannt und zur Führung des öffentlichen Geschäftes bevollmächtigt wird, diese Verknüpfung des Individuums und des Amtes, als zweier für
sich gegeneinander immer zufälligen Seiten, kommt der fürstlichen als der entscheidenden und souveränen Staatsgewalt zu."
•.-.<•
„ § 2 9 3 . Die besonderen Staatsgeschäfte, welche die M o n a r c h i e den Behörden
übergibt, machen einen Teil der objektiven Seite der dem Monarchen innewohnenden
Souveränität aus; ihr bestimmter Unterschied ist ebenso durch die Natur der Sache gegeben; und wie die Tätigkeit der Behörden eine Pflichterfüllung, so ist ihr Geschäft
auch ein der Zufälligkeit entnommenes Recht."
Nur aufzumerken auf die „objektive Seite der dem Monarchen innewohnenden Souveränität".
„ § 294. Das Individuum, das durch den souveränen Akt (§ 292) einem amtlichen
Berufe verknüpft ist, ist auf seine Pflichterfüllung, das Substantielle seines Verhältnisses, als Bedingung dieser Verknüpfung angewiesen, in welcher es als Folge dieses
substantiellen Verhältnisses das Vermögen und die gesicherte Befriedigung seiner Besonderheit (§ 264) und Befreiung seiner äußern Lage und Amtstätigkeit von sonstiger
subjektiver Abhängigkeit und Einfluß findet."
:
„ D e r Staatsdienst", heißt es in der Anmerkung, „fordert die Aufopferung selb-
ständiger und beliebiger Befriedigung subjektiver Zwecke und gibt eben damit das
Recht, sie in der pflichtmäßigen Leistung, aber nur in ihr zu finden. Hierin liegt nach
dieser Seite die Verknüpfung des allgemeinen und besonderen Interesses, welche den
Begriff und die innere Festigkeit des Staats ausmacht (§ 260)." „Durch die gesicherte
Befriedigung des besonderen Bedürfnisses ist die äußere N o t gehoben, welche die
Mittel dazu auf Kosten der Amtstätigkeit und Pflicht zu suchen veranlassen kann. In
der allgemeinen Staatsgewalt finden die mit seinen Geschäften Beauftragten Schutz
gegen die andere subjektive Seite, gegen die Privatleidenschaften der Regierten, deren
Privatinteresse usf. durch das Geltendmächen des Allgemeinen dagegen beleidigt wird."
„ § 2 9 5 . Die Sicherung des Staats und der Regierten gegen den Mißbrauch der
Gewalt von Seiten derBehörden und ihrer Beamten liegt einerseits unmittelbar in ihrer
Hierarchie und Verantwortlichkeit, andererseits in der Berechtigung der Gemeinden,
Korporationen, als wodurch die Einmischung subjektiver Willkür in die den Beamten
anvertraute Gewalt für sich gehemmt und die in das einzelne Benehmen nicht reichende
Kontrolle yon Oben, von Unten ergänzt wird."
„ § 296. Daß aber die Leidenschaftlosigkeit, Rechtlichkeit und Milde des Benehmens Sitte werde, hängt teils mit der direkten sittlichen und Gedankenbildung zusammen, welche dem, was die Erlernung der sogenannten Wissenschaften der Gegenstände dieser Sphären, die erforderliche Geschäftseinübung, die wirkliche Arbeit usf.
von Mechanismus und dergleichen in sich hat, das geistige Gleichgewicht hält; teils
ist die Größe des Staats ein Hauptmoment, wodurch sowohl das Gewicht von Familienund anderen Privatverbindungen geschwächt, als auch Rache, Haß und andere solche
Leidenschaften ohnmächtiger und damit stumpfer werden; in der Beschäftigung tnitden
[in dem] großen Staate vorhandenen großen Interessen gehen für sich diese subjek-
tiven Seiten unter und erzeugt sich die Gewohnheit allgemeiner Interessen, Ansichten
und Geschäfte."
„§297. Die Mitglieder der Regierung und die Staatsbeamten machen den Hauptteil
des Mittelstandes aus, in welchen die gebildete Intelligenz und das rechtliche Bewußtsein der Masse eines Volkes fällt. Daß er nicht die isolierte Stellung einer Aristokratie
nehme und Bildung und Geschicklichkeit nicht zu einem Mittel der Willkür und einer
Herrenschaft werde, wird durch die I n s t i t u t i o n e n d e r S o u v e r ä n i t ä t von oben
herab und der K o r p o r a t i o n s r e c h t e von unten herauf bewirkt."
„Zusatz. In dem Mittelstande, zu dem die Staatsbeamten gehören, ist das Bewußtsein des Staates und die hervorstechendste Bildung. Deswegen macht er auch die Grundsäule desselben in Beziehung auf Rechtlichkeit und Intelligenz aus." „Daß dieser
Mittelstand gebildet werde, ist ein Hauptinteresse des Staates, aber dies kann nur in
einer Organisation, wie die ist, welche wir gesehen haben, geschehen, nämlich durch
die Berechtigung besonderer Kreise, die relativ unabhängig sind, und durch eine
B e a m t e n w e l t , deren Willkür sich an solchen Berechtigten bricht. Das Handeln nach
allgemeinem Rechte und die Gewohnheit dieses Handelns ist eine Folge des Gegensatzes, den die für sieh selbständigen Kreise bilden."
Was Hegel über die „Regierungsgewalt" sagt, verdient nicht den Namen
einer philosophischen Entwicklung. Die meisten Paragraphen könnten wörtlich im preußischen Landrecht[67:l stehn, und doch ist die eigentliche Administration der schwierigste Punkt der Entwicklung.
Da Hegel die „polizeiliche" und die „richterliche" Gewalt schon der
Sphäre der bürgerlichen Gesellschaft vindiziert hat, so ist die Regierungsgewalt
nichts anderes als die Administration, die er alsBürokratie entwickelt.
Der Bürokratie sind zunächst vorausgesetzt die „Selbstverwaltung" der
bürgerlichen Gesellschaft in „Korporationen". Die einzige Bestimmung, die
hinzukommt, ist, daß die Wahl der Verwalter, Obrigkeiten derselben etc. eine
gemischte ist, ausgehend von den Bürgern, bestätigt von der eigentlichenRegierungsgewalt („höhere Bestätigung", wie Hegel sagt).
Über dieser Sphäre zur „Festhaltung des allgemeinen Staatsinteresses und
des Gesetzlichen" stehn „Abgeordnete der Regierungsgewalt", die „exekutiven
Staatsbeamten" und die „kollegialischen Behörden", welche im „Monarchen"
zusammenlaufen.
In dem „Geschäfte der Regierung" findet „Teilung der Arbeit" statt. Die
Individuen müssen ihre Fähigkeit zu Regierungsgeschäften beweisen, d.h.
Examina ablegen. Die Wahl der bestimmten Individuen zu Staatsämtern
kommt der fürstlichen Staatsgewalt zu. Die Einteilung dieser Geschäfte ist
„durch die Natur der Sache gegeben". Das Amtsgeschäft ist die Pflicht,
der Lebensberuf der Staatsbeamten. Sie müssen daher besoldet werden vom
Staat. Die Garantie gegen den Mißbrauch der Bürokratie ist teils ihre Hier-
archie und Verantwortlichkeit, andrerseits die Berechtigung der Gemeinden,
Korporationen; ihre Humanität hängt teils mit der „direkten sittlichen und
Gedankenbildung'', teils mit der „Größe des Staats" zusammen. Die Beamten bilden den „Hauptteil des Mittelstandes". Gegen ihn als „Aristokratie
und Herrenschaft" schützen teils die „Institutionen der Souveränität von
oben herab", teils „die der Korporationsrechte von unten, herauf". Der
„Mittelstand" ist der Stand der „Bildung". Voila tout.1 Hegel gibt uns eine
empirische Beschreibung der Bürokratie, teils wie sie wirklich ist, teils der
Meinung, die sie selbst von ihrem Sein hat. Und damit ist das schwierige
Kapitel von der „Regierungsgewalt" erledigt.
Hegel geht von der Trennung des „Staats" und der „bürgerlichen" Gesellschaft, den „besondren Interessen" und dem „an und für sich seienden
Allgemeinen" aus, und allerdings basiert die Bürokratie auf dieser Trennung.
Hegel geht von der Voraussetzung der „Korporationen" aus, und allerdings
setzt die Bürokratie Sie Korporationen voraus, wenigstens den „Korporationsgeist". Hegel entwickelt keinen Inhalt der Bürokratie, sondern nur einige
allgemeine Bestimmungen ihrer „formellen" Organisation, und allerdings
ist die Bürokratie nur der „Formalismus" eines Inhalts, der außerhalb derselben liegt.
Die Korporationen sind der Materialismus der Bürokratie, und die Bürokratie ist der Spiritualismus der Korporationen/Die Korporation ist die Bürokratie der bürgerlichen Gesellschaft; die Bürokratie ist die Korporation des
Staats. In der Wirklichkeit tritt sie daher als die „bürgerliche Gesellschaft
des Staats" dem „Staat der bürgerlichen Gesellschaft", den Korporationen
gegenüber. Wo die „Bürokratie" neues Prinzip ist, wo das allgemeine Staatsinteresse anfängt, für sich ein „apartes", damit ein „wirkliches" Interesse zu
werden, kämpft sie gegen die Korporationen, wie jede Konsequenz gegen die
Existenz ihrer Voraussetzungen kämpft. Sobald dagegen das wirkliche
Staatsleben erwacht und die bürgerliche Gesellschaft sich von den Korporationen aus eignem Vernunfttrieb befreit, sucht die Bürokratie sie zu restaurieren; denn sobald der „Staat der bürgerlichen Gesellschaft" fällt, fällt
die „bürgerliche Gesellschaft des Staats". Der Spiritualismus verschwindet
mit dem ihm gegenüberstehenden Materialismus. Die Konsequenz kämpft
für die Existenz ihrer Voraussetzungen, sobald ein neues Prinzip nicht gegen
die Existenz, sondern gegen das Prinzip dieser Existenz kämpft. Derselbe
Geist, der in der Gesellschaft die Korporation, schafft im Staat die Bürokratie. Sobald also der Korporationsgeist, wird der Geist der Bürokratie
1
Das ist alles.
angegriffen, und wenn sie früher die Existenz der Korporationen bekämpfte,
um ihrer eignen Existenz Raum zu schaffen, so sucht sie jetzt gewaltsam die
Existenz der Korporationen zu halten, um den Korporationsgeist, ihren
eigenen Geist zu retten.
Die „Bürokratie" ist der „Staatsformalismus" der bürgerlichen Gesellschaft. Sie ist das „Staatsbewußtsein", der „Staatswille", die „Staatsmacht",
als eine Korporation (das „allgemeine Interesse" kann sich dem Besondern
gegenüber nur als ein „Besonderes" halten, solange sich das Besondere dem
Allgemeinen gegenüber als ein „Allgemeines" hält. Die Bürokratie muß also
die imaginäre Allgemeinheit des besondren Interesses, den Korporationsgeist, beschützen, um die imaginäre Besonderheit des allgemeinen Interesses,
ihren eigenen Geist, zu beschützen. Der Staat muß Korporation sein, solange die Korporation Staat seih will), also eine besondere, geschlossene Gesellschaft im Staat. Die Bürokratie will aber die Korporation als eine imaginäre
Macht. Allerdings hat auch die einzelne Korporation diesen Willen für ihr
besonderes Interesse gegen die Bürokratie, aber sie u)ill die Bürokratie gegen
die andere Korporation, gegen das andere besondere Interesse. Die Bürokratie als die vollendete Korporation trägt daher den Sieg davon über die
Korporation als die unvollendete Bürokratie. Sie setzt dieselbe zum Schein
herab oder will sie zum Schein herabsetzen, aber sie will, daß dieser Schein
existiere und an seine eigene Existenz glaube. Die Korporation ist der Versuch der bürgerlichen Gesellschaft, Staat zu werden; aber die Bürokratie ist
der Staat, der sich wirklich zur bürgerlichen Gesellschaft gemacht hat.
Der „Staatsformalismus", der die Bürokratie ist, ist der „Staat als Formalismus", und als solchen Formalismus hat sie Hegel beschrieben. Da
dieser „Staatsformalismus" sich als wirkliche Macht konstituiert und sich
selbst zu einem eignen materiellen Inhalt wird, so versteht es sich von selbst,
daß die „Bürokratie" ein.Gewebe von praktischen Illusionen oder die „Illusion
des Staats" ist. Der bürokratische Geist ist ein durch und durch jesuitischer,
theologischer Geist. Die Bürokraten sind die Staatsjesuiten und Staatstheologen. Die Bürokratie ist la republique pretre*.
Da die Bürokratie der „Staat als Formalismus" ihrem Wesen nach ist, so
ist .sie es auch ihrem Zweck nach. Der wirkliche; Staatszweck erscheint also :
der Bürokratie als ein Zweck wider den Staat. Der Geist der Bürokratie ist
der „formelle Staatsgeist". Sie macht daher den „formellen Staatsgeist" oder
die wirkliche Geistlosigkeit des Staats zum kategorischen Imperativ. Die
Bürokratie; gilt sich selbst als der letzte Endzweck des Staats. Da die Büro-1
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die Pfaffenrepublik
kratie ihre „formellen" Zwecke zu ihrem Inhalt macht, so gerät sie überall in
Konflikt mit den „reellen" Zwecken. Sie ist daher genötigt, das Formelle für
den Inhalt und den Inhalt für das Formelle auszugeben. Die Staatszwecke
verwandeln sich in Bürozwecke öder die Bürozwecke in Staatszwecke. Die
Bürokratie ist ein Kreis, aus dem niemand herausspringen kann. Ihre Hierarchie ist eine Hierarchie des Wissens. Die Spitze vertraut den untern Kreisen
die Einsicht ins Einzelne zu, wogegen die üntem Kreise der Spitze die Einsicht in das Allgemeine zutrauen, und so täuschen sie sich wechselseitig.
Die Bürokratie ist der imaginäre Staat neben dem reellen Staat, der Spiritualismus des Staats. Jedes Ding hat daher eine doppelte Bedeutung, eine
reelle und eine bürokratische, wie das Wissen ein doppeltes ist, ein reelles
und eiin bürokratisches (so auch der Wille). Das reelle Wesen wird aber behandelt nach seinem bürokratischen Wesen, nach seinem jenseitigen, spirituellen Wesen. Die Bürokratie hat das Staatswesen, das spirituelle Wesen
der Gesellschaft in ihrem Besitze, es ist ihr Privateigentum. Der allgemeine
Geist der Bürokratie ist das Geheimnis, das Mysterium, innerhalb ihrer selbst
durch die Hierarchie, nach außen als geschlossene Korporation bewahrt. Der
offenbare Staatsgeist, auch die Staatsgesinnung, erscheinen daher der Bürokratie als ein Verrat an ihrem Mysterium. Die Autorität ist daher das Prinzip
ihres Wissens, und die Vergötterung der Autorität ist ihre Gesinnung. Innerhalb ihrer selbst aber wird der Spiritualismus zu einem krassen Materialismus,
dem Materialismus des passiven Gehorsams, des Autoritätsglaubens, des
Mechanismus eines fixen formellen Handelns, fixer Grundsätze, Anschauungen, Überlieferungen. Was den einzelnen Bürokraten betrifft, so wird der
Stäatszweck zu seinem Privatzweck, zu einem Jagen nach höheren Posten, zu
einem Machen von Karriere. Erstens betrachtet er das wirkliche Leben als
ein materielles, denn der Geist dieses Lebeiis hat seine für sich abgesonderte
Existenz in der Bürokratie. Die Bürokratie muß daher dahin gehn, das Leben
so materiell wie möglich Zu machen. Zweitens ist es für ihn selbst, d. h. soweit
es zum Gegenstand der bürokratischen Behandlung wird, materiell, denn
sein Geist ist ihm vorgeschrieben, sein Zweck liegt außer ihm, sein Dasein
ist das Dasein des Büros; Der Staat existiert nur mehr als Verschiedehe fixe
Bürögeister, deren Zusammenhang die Subordination und der passive Gehorsam ist. Die wirkliche Wissenschaff erscheintals inhaltslos;, wie das wirkliche
Leben als tot, denn dies imaginäre Wissen und dies imaginäre Leben gelten
für das Wesen. Der Bürokrat muß daher jesuitisch'mit dem wirklichen
Staat verfahren, sei dieser Jesuitismus nun ein bewußter oder bewußtloser.
Es ist aber notwendig, daß er, sobald sein Gegensatz Wissen ist, ebenfalls
zum Selbstbewußtsein gelangt und nun absichtlicher Jesuitismus wird.
Während die Bürokratie einerseits dieser krasse Materialismus ist, zeigt
sich ihr krasser Spiritualismus darin, daß sie Alles machen will, d.h.,
daß sie den Willen zur causa prima1 macht, weil sie bloß tätiges Dasein ist
und ihren Inhalt von außen empfängt, ihre Existenz also nur durch Formieren, Beschränken dieses Inhalts beweisen kann. Der Bürokrat hat in der
Welt ein bloßes Objekt seiner Behandlung.
Wenn Hegel die Regierungsgewalt die objektive Seite der dem Monarchen
innewohnenden Souveränität nennt, so ist das richtig in demselben Sinn,
wie die katholische Kirche das reelle Dasein der Souveränität, des Inhalts und
Geistes der heiligen Dreieinigkeit war. In der Bürokratie ist die Identität
des Staatsinteresses und des besonderen Privatzwecks so gesetzt, daß das
Staatsinteresse zu einem besonderen Privatzweck gegenüber den anderen Privatzwecken wird.
Die Aufhebung der Bürokratie kann nur sein, daß das allgemeine Interesse wirklich und nicht, wie bei Hegel, bloß im Gedanken, in der Abstraktion zum besondren Interesse wird, was nur dadurch möglich ist, daß
das besondere Interesse wirklich zum allgemeinen wird. Hegel geht von einem
unwirklichen Gegensatz aus und bringt es daher nur zu einer imaginären, in
Wahrheit, selbst wieder gegensätzlichen Identität. Eine solche Identität ist
die Bürokratie.
Verfolgen wir nun im einzelnen seine Entwicklung.
Die einzige philosophische Bestimmung, die Hegel über die Regierangsgewalt gibt, ist die der „Subsumtion" des Einzelnen und Besonderen unter
das Allgemeine etc.
Hegel begnügt sich damit. Auf (der einen Seite: Kategorie „Subsumtion" des Besondern etc. Die muß verwirklicht werden. N«n nimmt er
irgendeine der empirischen Existenzen des preußischen oder modernen
Staats (wie sie ist mit Haut und Haar), welche unter anderm auch diese
Kategorie verwirklicht, obgleich mit derselben nicht ihr spezifisches Wesen
ausgedrückt ist. Die angewandte Mathematik ist auch Subsumtion etc.
Hegel fragt nicht, ist dies die vernünftige, die adäquate Weise der Subsumtion? Er hält nur die eine Kategorie fest und begnügt sich damit, eine entsprechende Existenz für sie zu finden. Hegel gibt seiner Logik einen politischen
Körper; er gibt nicht die Logik des politischen Körpers (§ 287).
Über das Verhältnis der Korporationen, Gemeinden zu der Regierung
erfahren wir zunächst, daß ihre Verwaltung (die Besetzung ihrer Magistratur)
„im allgemeinen eine Mischung von gemeiner Wahl dieser Interessenten
1
Hauptursache
und von einer höheren Bestätigung und Bestimmung" erheischt. Die gemischte Wahl der Gemeinde- und Korporationsvorsteher wäre also das erste
Verhältnis zwischen bürgerlicher Gesellschaft und Staat oder Regierungsgewalt, ihre erste Identität (§ 288). Diese Identität ist nach Hegel selbst sehr
oberflächlich, ein mixtum compositum, eine „Mischung". So oberflächlich
diese Identität ist, so scharf ist der Gegensatz. „Insofern diese Angelegenheiten" (sc. der Korporation, Gemeinde etc.) „einerseits Privateigentum und
Interesse dieser besondern Sphären sind und nach dieser Seite ihre Autorität
mit auf dem Vertrauen ihrer Standesgenossen und Bürgerschaften beruht,
andererseits diese Kreise dem höheren Interesse des Staats untergeordnet sein
müssen", ergibt sich die bezeichnete „gemischte Wahl".
Die Verwaltung der Korporation hat also den Gegensatz: '
Privateigentum und Interesse der besondren Sphären gegen das höhere Interesse des Staats: Gegensatz zwischen Privateigentum und Staat.
Es braucht nicht bemerkt zu werden, daß die Auflösung dieses Gegensatzes in der gemischten Wahl eine bloße Akkommodation, ein Traktat, ein
Geständnis des unaufgelösten Dualismus, selbst ein Dualismus, „Mischung"
ist. Die besonderen Interessen der Korporation und Gemeinden haben innerhalb ihrer eignen Sphäre einen Dualismus, der ebensosehr den Charakter
ihrer Verwaltung bildet.
Der entschiedene Gegensatz tritt aber erst hervor in dem Verhältnis
dieser „gemeinschaftlichen besondern Interessen" etc., die „außer dem an und
für sich seienden Allgemeinen des Staates liegen" und diesem „an und für
sich seienden Allgemeinen des Staats". Zunächst wieder innerhalb dieser
Sphäre.
„Die Festhaltung des allgemeinen Staatsinteresses und des Gesetzlichen in diesen
besonderen Rechten und die Zuriickführung derselben auf jenes erfordert eine B e s o r g u n g durch A b g e o r d n e t e der R e g i e r u n g s g e w a l t , die e x e k u t i v e n Staatsbeamten und die höheren beratenden, insofern k o l l e g i a l i s c h konstituierten Behörden, welche in den obersten, den Monarchen berührenden Spitzen zusammenlaufen." (§ 28?.)
Beiläufig machen wir aufmerksam auf die Konstruktion der Regierungskollegien, die man z.B. in Frankreich nicht kennt. „Insofern" Hegel diese
Behörden als „beratende" anführt, „insofern" versteht es sich allerdings von
selbst, daß sie „kollegialisch konstituiert" sind.
Hegel läßt den „Staat selbst", die „Regierungsgewalt" zur „Besorgung"
des „allgemeinen Staatsinteresses und des Gesetzlichen etc." innerhalb der
bürgerlichen Gesellschaft per „Abgeordnete" hineintreten, und nach ihm
17 Marx/Engels, Werte, Bd. 1
sind eigendich diese „Regierungsabgeordneten", die „exekutiven Staatsbeamten", die wahre „Staatsrepräsentation", nicht „der", sondern „gegen"
die „bürgerliche Gesellschaft". Der Gegensatz von Staat und bürgerlicher
Gesellschaft ist also fixiert; der Staat residiert nicht in, sondern außerhalb
der bürgerlichen Gesellschaft; er berührt sie nur durch seine „Abgeordneten",
denen die „Besorgung des Staats" innerhalb dieser Sphären anvertraut ist.
Durch diese „Abgeordneten" ist der Gegensatz nicht aufgehoben, sondern
zu einem „gesetzlichen", „fixen" Gegensatz geworden. Der „Staat" wird
als ein dem Wesen der bürgerlichen Gesellschaft Fremdes und Jenseitiges
von Deputierten dieses Wesens gegen die bürgerliche Gesellschaft geltend
gemacht. Die „Polizei" und das „Gericht" und die „Administration" sind
nicht Deputierte der bürgerlichen Gesellschaft selbst, die in ihnen und durch
sie ihr eignes allgemeines Interesse verwaltet, sondern Abgeordnete des
Staats, um den Staat gegen die bürgerliche Gesellschaft zu verwalten. Hegel
expliziert diesen Gegensatzweiter in der mehr oben betrachteten offenherzigen Anmerkung.
„Die Regierungsgeschäfte sind objektiver, für sich bereits entschiedener Natur."
(§291.)
Schließt Hegel daraus, daß sie deswegen um so leichter keine „Hierarchie des Wissens" erfordern, daß sie vollständig von der „bürgerlichen
Gesellschaft selbst" exekutiert werden können? Im Gegenteil.
Er macht die tiefsinnige Anmerkung, daß sie durch „Individuen" zu
vollführen sind und daß zwischen „ihnen und diesen Individuen keine unmittelbare natürliche Verknüpfung liegt". Anspielung auf die Fürstengewalt, welche nichts anders ist als die „natürliche Gewalt der Willkür", also
„geboren" werden kann. Die „fürstliche Gewalt" ist nichts als der Repräsentant des Naturmoments im Willen, der „Herrschaft der physischen Natur
im Staat".
Die „exekutiven Staatsbeamten" unterscheiden sich in der Erwerbung
ihrer Ämter daher wesentlich vom „Fürsten".
„Für ihre Bestimmung zu demselben" (sc. dem Staatsgeschäft) „ist das o b j e k t i v e
M o m e n t die Erkenntnis" (die subjektive Willkür entbehrt dieses Moments) „und der
Erweis ihrer Befähigung - , ein Erweis, der dem Staate sein Bedürfnis und als die
einzige Bedingung zugleich j e d e m B ü r g e r d i e M ö g l i c h k e i t , sich dem a l l g e m e i n e n Stande zu widmen, sichert."
Diese Möglichkeit jedes Bürgers, Staatsbeamter zu werden, ist also das
zweite affirmative Verhältnis zwischen bürgerlicher Gesellschaft und Staat,
die zweite Identität. Sie ist von sehr oberflächlicher und dualistischer Natur.
Jeder Katholik hat die Möglichkeit, Priester zu werden (d.h. sich von den
Laien wie der Welt zu trennen). Steht darum weniger das Pfaffentum dem
Katholiken als eine jenseitige Macht gegenüber? Daß jeder die Möglichkeit
hat, das Recht einer andern Sphäre zu erwerben, beweist nur, daß seine
eigne Sphäre nicht die Wirklichkeit dieses Rechts ist.
Im wahren Staat handelt es sich nicht um die Möglichkeit jedes Bürgers,
sich dem allgemeinen als einem besondern Stand zu widmen, sondern um
die Fähigkeit des allgemeinen Standes wirklich allgemein, d.h. der Stand
jedes Bürgers zu sein. Aber Hegel geht von der Voraussetzung des pseudoallgemeinen, des illusorisch-allgemeinen Standes, der besonderen ständigen
Allgemeinheit aus.
Die Identität, die er zwischen bürgerlicher Gesellschaft und Staat konstruiert hat, ist die Identität zweier feindlicher Heere, wo jeder Soldat die
„Möglichkeit" hat, durch „Desertion" Mitglied des „feindlichen" Heeres
zu werden, und allerdings beschreibt Hegel damit richtig den jetzigen empirischen Zustand.
Ebenso verhält es sich mit seiner Konstruktion der „Examina". In einem
vernünftigen Staat gehört eher ein Examen dazu, Schuster zu werden als
exekutiver Staatsbeamter; denn die Schusterei ist eine Fertigkeit, ohne die
man ein guter Staatsbürger, ein sozialer Mensch sein kann; aber das nötige
„Staatswissen" ist eine Bedingung, ohne die man im Staat außer dem Staat
lebt, von sich selbst, von der Luft abgeschnitten ist. Das „Examen" ist nichts
als eine Freimaurereiformel, die gesetzliche Anerkennung des staatsbürgerlichen Wissens als eines Privilegiums.
Die „Verknüpfung" des „Staatsamts" und des „Individuums", dieses
objektive Band zwischen dem Wissen der bürgerlichen Gesellschaft und
dem Wissen des Staats, das Examen ist nichts anders als die bürokratische
Taufe des Wissens, die offizielle Anerkenntnis von der Transsubstantiation
des profanen Wissens in das heilige (es versteht sich bei jedem Examen
von selbst, daß der Examinator alles weiß). Man hört nicht, daß die griechischen oder römischen Staatsleute Examina abgelegt. Aber allerdings,
was ist auch ein römischer Staatsmann contra einen preußischen Regierungsmann!
Neben dem objektiven Band des Individuums mit dem Staatsamt, neben
dem Examen, findet sich ein andres Band - die fürstliche Willkür.
„Die subjektive Seite, daß dieses Individuum aus Mehreren, deren es, da hier das
Objektive nicht (wie z.B. bei der Kunst) in Genialität liegt, notwendig unbestimmt
Mehrere gibt, unter denen der Vorzug nichts absolut Bestimmbares ist, zu einer Stelle
gewählt und ernannt und zur Führung des öffentlichen Geschäfts bevollmächtigt wird,
diese Verknüpfung des Individuums und des Amtes, als zweier sich gegeneinander
immer zufälligen Seiten, kommt der fürstlichen als der entscheidenden und souveränen
Staatsgewalt zu."
Der Fürst ist überall der Repräsentant des Zufalls. Außer dem objektiven
Moment des bürokratischen Glaubensbekenntnisses (Examens) gehört noch
das subjektive der fürstlichen Gnade hinzu, damit der Glaube Früchte
trage.
„Die besonderen Staatsgeschäfte, welche die Monarchie den Behörden
übergibt" (die Monarchie verteilt, übergibt die besonderen Staatstätigkeiten
als Geschäfte an die Behörden, verteilt den Staat unter die Bürokraten; sie
übergibt das, wie die heilige römische Kirche die Weihen; die Monarchie
ist ein System der Emanation; die Monarchie verpachtet die Staatsfunktionen), „machen einen Teil der objektiven Seite der dem Monarchen innewohnenden Souveränität aus". Hegel unterscheidet hier zuerst die objektive
Seite der dem Monarchen innewohnenden Souveränität von der subjektiven.
Früher warf er beide zusammen. Die dem Monarchen innewohnende Souveränität wird hier förmlich mystisch genommen, so wie die Theologen den
persönlichen Gott in der Natur finden. [Früher] hieß es noch, der Monarch ist die subjektive Seite der dem Staate innewohnenden Souveränität.
(§293.)
Im § 294 entwickelt Hegel die Besoldung der Beamten aus der Idee. Hier
in der Besoldung der Beamten, oder daß der Staatsdienst zugleich die Sicherheit der empirischen Existenz garantiert, ist die wirkliche Identität der bürgerlichen Gesellschaft und des Staats gesetzt. Der Sold des Beamten ist die
höchste Identität, welche Hegel herauskonstruiert. Die Verwandlung der
Staatstätigkeiten in Amter, die Trennung des Staats von der Gesellschaft vorausgesetzt. Wenn Hegel sagt:
„Der Staatsdienst fordert die Aufopferung selbständiger und beliebiger Befriedigung subjektiver Zwecke", so erfordert das jeder Dienst, „und gibt damit eben das
Recht, sie in der pflichtmäßigen Leistung, aber nur in ihr zu finden. Hierin liegt
nach dieser Seite die Verknüpfung des allgemeinen und besonderen Interesses, welche
den Begriff und die innere Festigkeit des Staats ausmacht",
so gilt das 1. von jedem Bedienten, 2. ist es richtig, daß die Besoldung der
Beamten die innere Festigkeit der tiefen modernen Monarchien ausmacht.
Nur die Existenz der Beamten ist garantiert, im Gegensatz zu dem Mitglied
der bürgerlichen Gesellschaft.
Es kann Hegel nun nicht entgehn, daß er die Regierungsgewalt als einen
Gegensatz zur bürgerlichen Gesellschaft, und zwar als ein herrschendes
Extrem konstruiert hat. Wie stellt er nun ein identisches Verhältnis her?
Nach § 295 liegt „die Sicherung des Staats und der Regierten gegen den
Mißbrauch der Gewalt von Seiten der Behörden und ihrer Beamten" teils
in ihrer „Hierarchie" (als wenn nicht die Hierarchie der Hauptmißbrauch
wäre und die paar persönlichen Sünden der Beamten gar nicht mit ihren nofwendigen hierarchischen Sünden zu vergleichen wären; die Hierarchie straft
den Beamten, insoweit er gegen die Hierarchie sündigt oder eine der Hierarchie überflüssige Sünde begeht; aber sie nimmt ihn in Schutz, sobald die
Hierarchie in ihm sündigt; zudem überzeugt sich die Hierarchie schwer von
den Sünden ihrer Glieder) und „in der Berechtigung der Gemeinden, Korporationen, als wodurch die Einmischung subjektiver Willkür in die den
Beamten anvertraute Gewalt für sich gehemmt und die in das einzelne Benehmen nicht reichende Kontrolle" (als wenn diese Kontrolle nicht aus dem
Gesichtspunkt der Bürokratie-Hierarchie geschähe) „von oben, von unten
ergänzt wird".
Die zweite Garantie gegen die Willkür der Bürokratie sind also die Korporationsprivilegien.
Fragen wir also Hegel, was ist der Schutz der bürgerlichen Gesellschaft
gegen die Bürokratie, so antwortet er:
1. Die „Hierarchie" der Bürokratie. Die Kontrolle. Dies, daß der Gegner
selbst an Händen und Füßen gebunden wird, und wenn er nach unten Hammer, nach oben Amboß ist. Wo ist nun der Schutz gegen die „Hierarchie"?
Das kleinere Übel wird durch das größere allerdings insofern aufgehoben,
als es dagegen verschwindet.
2. Der Konflikt, der unaufgelöste Konflikt zwischen Bürokratie und
Korporation. Der Kampf, die Möglichkeit des Kampfes, ist die Garantie
gegen das Unterliegen. Später (§ 297) fügt Hegel als Garantie noch die
„Institutionen der Souveränität von oben herab" hinzu, worunter wieder die
Hierarchie verstanden ist.
Aber Hegel bringt noch zwei Momente bei (§ 296).
In dem Beamten selbst - und dies soll ihn humanisieren, die „Leidenschaftlosigkeit, Rechtlichkeit und Milde des Benehmens" zur „Sitte" machen - sollen die „direkte sittliche und Gedankenbildung" dem Mechanismus
seines Wissens und seiner „wirklichen Arbeit" „das geistige Gleichgewicht"
halten. Als wenn nicht der „Mechanismus" seines „bürokratischen" Wissens
und seiner „wirklichen Arbeit" seiner „sittlichen und Gedankenbildung" das
„Gleichgewicht" hielte? Und wird nicht sein wirklicher Geist und seine
wirkliche Arbeit als Substanz über das Akzidens seiner sonstigen Begabung
siegen? Sein „Amt" ist ja sein „substantielles" Verhältnis und sein „Brot".
Schön nur, daß Hegel die „direkte sittliche und Gedankenbildung" dem
„Mechanismus des bürokratischen Wissens und Arbeitens" entgegenstellt!
Der Mensch im Beamten soll den Beamten gegen sich selbst sichern. Aber
welche Einheit! Geistiges Gleichgewicht. Welche dualistische Kategorie!
Hegel führt noch die „Größe des Staats" an, welche in Rußland nicht
gegen die Willkür der „exekutiven Staatsbeamten" garantiert, jedenfalls
ein Umstand ist, der „außer" dem „Wesen" der Bürokratie liegt.
Hegel hat die „Regierungsgewalt" als „Staatsbediententum" entwickelt.
Hier in der Sphäre des „an und für sich seienden Allgemeinen des
Staates selbst" finden wir nichts als unaufgelöste Konflikte. Examen und Brot
der Beamten sind die letzten Synthesen.
Die Ohnmacht der Bürokratie, ihren Konflikt mit der Korporation führt
Hegel als letzte Weihe derselben an.
In §297 wird eine Identität gesetzt, insofern „die Mitglieder der Regierung und die Staatsbeamten den Hauptteil des Mittelstandes" ausmachen.
Diesen „Mittelstand" rühmt Hegel als die „Grundsäule" des Staats „in
Beziehung auf Rechtlichkeit und Intelligenz". (Zusatz zum zitierten Paragraphen.)
„Daß dieser Mittelstand gebildet werde, ist ein Hauptinteresse des Staates, aber
dies kann nur in einer Organisation, wie die ist, welche wir gesehen haben, geschehen,
nämlich durch die Berechtigung besonderer Kreise, die relativ unabhängig sind, und
durch eine B e a m t e n w e l t , deren Willkür sich an solchen Berechtigten bricht."
Allerdings kann nur in einer solchen Organisation das Volk als ein Stand,
der Mittelstand, erscheinen, aber ist das eine Organisation, die durch das
Gleichgewicht der Privilegien sich in Gang hält? Die Regierungsgewalt ist
am schwersten zu entwickeln. Sie gehört noch in viel höherem Grad als die
gesetzgebende dem ganzen Volk.
Hegel spricht später (§ 308 Anmerkung) den eigentlichen Geist der
Bürokratie aus, wenn er ihn als „Geschäftsroutine" und den „Horizont einer
beschränkten Sphäre" bezeichnet.
„c) Die gesetzgebende Gewalt
§ 298. Die gesetzgebende Gewalt betrifft die Gesetze als solche, insofern sie weiterer
Fortbestimmung bedürfen, und die ihrem Inhalte nach g a n z a l l g e m e i n e n " (sehr
allgemeiner Ausdruck) „ i n n e r e n Angelegenheiten. Diese Gewalt ist selbst ein T e i l
d e r V e r f a s s u n g , welche ihr vorausgesetzt ist und insofern an und für sich außer
deren direkten Bestimmung liegt, aber in der Fortbildung der Gesetze und in dem
fortschreitenden Charakter der allgemeinen Regierungsangelegenheiten ihre weitere
Entwickelung erhält.'
Zunächst fällt es auf, daß Hegel hervorhebt, wie „diese Gewalt selbst ein
Teil der Verfassung" ist, „welche ihr vorausgesetzt ist und an und für sich
außer deren direkter Bestimmung liegt", da Hegel diese Bemerkung weder bei
der fürstlichen noch der Regierungsgewalt, wo sie ebenso wahr ist, angebracht hatte. Dann aber konstruiert Hegel erst das Ganze der Verfassung
und kann es insofern nicht voraussetzen; allein darin eben erkennen wir die
Tiefe bei ihm, daß er überall mit dem Gegensatz der Bestimmungen (wie sie
in unsren Staaten sind) beginnt und den Akzent darauf legt.
Die „gesetzgebende Gewalt ist selbst ein Teil der Verfassung", welche „an
und für sich außer deren direkter Bestimmung liegt". Aber die Verfassung
hat sich doch auch nicht von selbst gemacht. Die Gesetze, die „weiterer
Fortbestimmung bedürfen", müssen doch formiert worden sein. Es muß eine
gesetzgebende Gewalt vor der Verfassung und außer der Verfassung bestehen oder bestanden haben. Es muß eine gesetzgebende Gewalt bestehn
außer der wirklichen, empirischen, gesetzten gesetzgebenden Gewalt. Aber,
wird Hegel antworten: Wir setzen einen bestehenden Staat voraus. Allein
Hegel ist Rechtsphilosoph und entwickelt die Staatsgattung. Er darf nicht
die Idee am Bestehenden, er muß das Bestehende an der Idee messen.
Die Kollision ist einfach. Die gesetzgebende Gewalt ist die Gewalt, das
Allgemeine zu organisieren. Sie ist die Gewalt der Verfassung. Sie greift über
über die Verfassung.
Allein anderseits ist die gesetzgebende Gewalt eine verfassungsmäßige
Gewalt. Sie ist also unter die Verfassung subsumiert. Die Verfassung ist
Gesetz für die gesetzgebende Gewalt. Sie hat der gesetzgebenden Gewalt
Gesetze gegeben und gibt sie ihr beständig. Die gesetzgebende Gewalt ist
nur gesetzgebende Gewalt innerhalb der Verfassung, und die Verfassung
stände hors de loi1, wenn sie außerhalb der gesetzgebenden Gewalt stände.
Voilk la collision!2 Innerhalb der jüngsten französischen Geschichte ist mancherlei herumgeknuspert worden.
Wie löst Hegel diese Antinomie?
Zunächst heißt es:
Die Verfassung ist der gesetzgebenden Gewalt „vorausgesetzt"; sie liegt
„insofern an und für sich außer deren direkten Bestimmung".
„Aber" - aber „in der Fortbildung der Gesetze" „und in dem fortschreitenden Charakter der allgemeinen Regierungsangelegenheiten" „erhält" sie
„ihre weitere Entwicklung".
D . h . also: Direkt liegt die Verfassung außerhalb, dem Bereich der
1
außerhalb des Gesetzes -
2
Darin besteht der Widerspruch!
gesetzgebenden Gewalt; aber indirekt verändert die gesetzgebende Gewalt
die Verfassung. Sie tut auf einem Wege, was sie nicht auf gradem Wege tun
kann und darf. Sie zerpflückt sie en detail, weil sie dieselbe nicht en gros
verändern kann. Sie tut durch die Natur der Dinge und der Verhältnisse,
was sie nach der Natur der Verfassung nicht tun sollte. Sie tut materiell,
faktisch, was sie nicht formell, gesetzlich, verfassungsmäßig tut.
Hegel hat damit die Antinomie nicht gehoben, er hat sie in eine andre
Antinomie verwandelt; er hat das Wirken der gesetzgebenden Gewalt, ihr
verfassungsmäßiges Wirken in Widerspruch gestellt mit ihrer verfassungsmäßigen Bestimmung. Es bleibt der Gegensatz zwischen der Verfassung und
der gesetzgebenden Gewalt. Hegel hat das faktische und das legale Tun der
gesetzgebenden Gewalt als Widerspruch definiert oder auch den Widerspruch zwischen dem, was die gesetzgebende Gewalt sein soll, und dem, was
sie wirklich ist, zwischen dem, was sie zu tun meint, und dem, was sie wirklich tut.
Wie kann Hegel diesen Widerspruch für das Wahre ausgeben? „Der
fortschreitende Charakter der allgemeinen Regierungsangelegenheiten" erklärt ebensowenig, denn eben dieser fortschreitende Charakter soll erklärt
werden.
In dem Zusatz trägt Hegel zwar nichts zur Lösung der Schwierigkeiten
bei. Wohl aber stellt er sie noch klarer heraus.
„Die Verfassung muß an und für sich der feste geltende Boden sein, auf dem die
gesetzgebende Gewalt steht, und sie muß deswegen nicht erst gemacht werden. Die
Verfassung ist also, aber ebenso wesentlich wird sie, das heißt, sie schreitet in der Bildung fort. Dieses Fortschreiten ist eine V e r ä n d e r u n g , die u n s c h e i n b a r ist und
nicht die F o r m d e r V e r ä n d e r u n g hat."
Das heißt, die Verfassung ist dem Gesetz (der Illusion) nach, aber sie
wird der Wirklichkeit (der Wahrheit) nach. Sie ist ihrer Bestimmung nach
unveränderlich, aber sie verändert sich wirklich, nur ist diese Veränderung
unbewußt, sie hat nicht die Form der Veränderung. Der Schein widerspricht
dem Wesen. Der Schein ist das bewußte Gesetz der Verfassung, und das Wesen
ist ihr bewußtloses, dem ersten widersprechendes Gesetz. Es ist nicht im
Gesetz, was in der Natur der Sache ist. Es ist vielmehr das Gegenteil im
Gesetz.
Ist das nun das Wahre, daß im Staat, nach Hegel dem höchsten Dasein
der Freiheit, dem Dasein der selbstbewußten Vernunft, nicht das Gesetz, das
Dasein der Freiheit, sondern die blinde Naturnotwendigkeit herrscht? Und
wenn nun das Gesetz der Sache als widersprechend der gesetzlichen Definition erkannt wird, warum nicht das Gesetz der Sache, der Vernunft auch
als das Staatsgesetz anerkennen, wie nun den Dualismus mit Bewußtsein
festhalten? Hegel will überall den Staat als die Verwirklichung des freien
Geistes darstellen, aber re vera1 löst er alle schwierigen Kollisionen durch
eine Naturnotwendigkeit, die im Gegensatz zur Freiheit steht. So ist auch der
Übergang des Sonderinteresses in das Allgemeine kein bewußtes Staatsgesetz, sondern per Zufall vermittelt, wider das Bewußtsein sich vollziehend,
und Hegel will überall im Staat die Realisation des freien Willens! (Hierin
zeigt sich der substantielle Standpunkt Hegels.)
Die Beispiele, die Hegel über die dllmähliche Veränderung der Verfassung
anführt, sind unglücklich gewählt. So, daß das Vermögen der deutschen
Fürsten und ihrer Familien aus Privatgut in Staatsdomäne, das persönliche
Rechtsprechen der deutschen Kaiser in Rechtsprechen durch Abgeordnete
sich verwandelt hat. Der erste Übergang hat sich nur so gemacht, daß alles
Staatseigentum sich in fürstliches Privateigentum umsetzte.
Dabei sind diese Veränderungen partikular. Ganze Staatsverfassungen
haben sich allerdings so verändert, daß nach und nach neue Bedürfnisse entstanden, daß das Alte zerfiel etc.; aber zu der neuen Verfassung hat es immer
einer förmlichen Revolution bedurft.
„ S o ist also die Fortbildung eines Zustandes", schließt Hegel, „eine s c h e i n b a r
ruhige und unbemerkte. Nach langer Zeit kommt auf diese Weise eine Verfassung zu
einem ganz anderen Zustande als vorher."
Die Kategorie des allmählichen Überganges ist erstens historisch falsch,
und zweitens erklärt sie nichts.
Damit der Verfassung nicht nur die Veränderung angetan wird, damit
also dieser illusorische Schein nicht zuletzt gewaltsam zertrümmert wird,
damit der Mensch mit Bewußtsein tut, was er sonst ohne Bewußtsein durch
die Natur der Sache gezwungen wird zu tun, ist es notwendig, daß die Bewegung der Verfassung, daß der Fortschritt zum Prinzip der Verfassung gemacht wird, daß also der wirkliche Träger der Verfassung, das Volk, zum
Prinzip der Verfassung gemacht wird. Der Fortschritt selbst ist dann die
Verfassung.
Soll also die „Verfassung" selbst in den Bereich der „gesetzgebenden
Gewalt" gehören? Diese Frage kann nur aufgeworfen werden, 1. wenn der
politische Staat als bloßer Formalismus des wirklichen Staats existiert, wenn
der politische Staat eine aparte Domäne ist, wenn der politische Staat als
„Verfassung" existiert; 2. wenn die gesetzgebende Gewalt anderen Ursprungs ist als die Regierungsgewalt etc.
1
in Wirklichkeit
Die gesetzgebende Gewalt hat die französische Revolution gemacht; sie
hat überhaupt, wo sie in ihrer Besonderheit als das Herrschende auftrat,
die großen organischen allgemeinen Revolutionen gemacht; sie hat nicht die
Verfassung, sondern eine besondre antiquierte Verfassung bekämpft, eben
weil die gesetzgebende Gewalt der Repräsentant des Volkes, des Gattungswillens war. Die Regierungsgewalt dagegen hat die kleinen Revolutionen, die
retrograden Revolutionen, die Reaktionen gemacht; sie hat nicht für eine
neue Verfassung gegen eine alte, sondern gegen die Verfassung revolutioniert,
eben weil die Regierungsgewalt der Repräsentant des besonderen Willens,
der subjektiven Willkür, des magischen Teils des Willens war.
Wird die Frage richtig gestellt, so heißt sie nur: Hat das Volk das Recht,
sich eine neue Verfassung zu geben? Was unbedingt bejaht werden muß, indem die Verfassung, sobald sie aufgehört hat, wirklicher Ausdruck des Volkswillens zu sein, eine praktische Illusion geworden ist.
Die Kollision zwischen der Verfassung und der gesetzgebenden Gewalt
ist nichts als ein Konflikt der Verfassung mit sich selbst, ein Widerspruch im
Begriff der Verfassung.
Die Verfassung ist nichts als eine Akkommodation zwischen dem politischen und unpolitischen Staat; sie ist daher notwendig in sich selbst ein
Traktat wesentlich heterogener Gewalten. Hier ist es also dem Gesetz unmöglich, auszusprechen, daß eine dieser Gewalten, ein Teil der Verfassung,
das Recht haben solle, die Verfassung selbst, das Ganze, zu modifizieren.
Soll von der Verfassung als einem Besondern gesprochen werden, so muß
sie vielmehr als ein Teil des Ganzen betrachtet werden.
'
Wurden unter der Verfassung die allgemeinen Bestimmungen, die Fundamentalbestimmungen des vernünftigen Willens, verstanden, so versteht
sich, daß jedes Volk (Staat) dies zu seiner Voraussetzung hat und daß sie
sein politisches Gredo bilden müssen. Das ist eigentlich Sache des Wissens
und nicht des Willens., Der Wille eines Volks kann ebensowenig über die
Gesetze der Vernunft hinaus als der Wille eines Individuums. Bei einem
unvernünftigen Volk kann überhaupt nicht von einer vernünftigen Staatsorganisation die Rede sein. Hier in der Rechtsphilosophie ist überdem der
Gattungswille unser Gegenstand.
Die gesetzgebende Gewalt macht das Gesetz nicht, sie entdeckt und formuliert es nur.
Man hat diese Kollision zu lösen gesucht durch die Unterscheidung zwischen assemblee Constituante und assemblee constituee1.
1
konstituierende Versammlung und konstituierte Versammlung
„ § 2 9 9 . Diese Gegenstände" (die Gegenstände der gesetzgebenden Gewalt) „ b e stimmen sich in Beziehung auf die Individuen näher nach den zwei Seiten: a ) was
durch den Staat ihnen zugute kommt und sie zu genießen und ß) was sie demselben
zu leisten haben. Unter jenem sind die privatrechtlichen Gesetze überhaupt, die Rechte
der Gemeinden und Korporationen und ganz allgemeine Veranstaltungen und indirekt
(§ 298) das Ganze der Verfassung begriffen.: Das zu Leistende aber kann nur, indem
es auf Geld, als den existierenden allgemeinen Werf der Dinge und der Leistungen,
reduziert wird, auf eine gerechte Weise und zugleich auf eine Art bestimmt werden,
daß die besonderen Arbeiten und Dienste, die der Einzelne leisten kann, durch seine
Willkür vermittelt werden."
Über diese Bestimmung der Gegenstände der gesetzgebenden Gewalt bemerkt Hegel selbst in der Anmerkung zu diesem Paragraphen:
„Was Gegenstand der allgemeinen Gesetzgebung und was der Bestimmung der
Admiriistrativbehörden und der Regulierüng der Regierung überhaupt anheimzustellen sei, läßt sich zwar im Allgemeinen so unterscheiden, daß in jene nur das
dem Inhalte nach g a n z A l l g e m e i n e die gesetzlichen Bestimmungen, in diese aber
das B e s o n d e r e und die Art und Weise der Exekution falle. Aber völlig bestimmt ist
diese Unterscheidung schon dadurch nicht, daß das Gesetz, damit es Gesetz, nicht
ein bloßes Gebot überhaupt sei (wie: ,du sollst nicht töten'), in sich bestimmt sein muß;
je bestimmter es aber ist, desto mehr nähert sich sein Inhalt der Fähigkeit; so wie es ist,
ausgeführt zu werden. Zugleich aber würde die so weit gehende Bestimmung den
Gesetzen eine empirische Seite geben, welche in der wirklichen Ausführung A b änderungen unterworfen werden müßte, was dem Charakter von Gesetzen Abbruch
täte. In der o r g a n i s c h e n E i n h e i t der Staatsgewalten liegt es selbst, daß es Ein
Geist ist, der das Allgemeine festsetzt und der es zu seiner bestimmten Wirklichkeit
bringt und ausführt."
Aber eben diese organische Einheit ist es, die Hegel nicht konstruiert hat.
Die verschiedenen Gewalten haben ein verschiedenes Prinzip. Sie sind dabei
feste Wirklichkeit. Von ihrem wirklichen Konflikt an die imaginäre „organische Einheit" sich flüchten, statt sie als Momente einer organischen Einheit
entwickelt zu haben, ist daher eine leere mystische Ausflucht.
Die erste ungelöste Kollision war die zwischen der ganzen Verfassung und
der gesetzgebenden Gewalt. Die zweite ist die zwischen der gesetzgebenden und
der Regierungsgewalt, zwischen dem Gesetz und der Exekution.
Die zweite Bestimmung des Paragraphen ist, daß die einzige Leistung,
die der Staat von den Individuen fordert, das Geld ist.
Die Gründe, die Hegel dafür anführt, sind:
1. das Geld ist der existierende allgemeine Wert der Dinge und der Leistungen;
2. das zu Leistende kann nur durch diese Reduktion auf eine gerechte Art
bestimmt werden;
3. nur dadurch kann die Leistung auf eine solche Art bestimmt werden,
daß die besonderen Arbeiten und Dienste, die der Einzelne leisten kann, durch
seine Willkür vermittelt werden.
Hegel bemerkt in der Anmerkung:
ad 1. „Es kann im Staate zunächst auffallen, daß von den vielen Geschicklichkeiten, Besitztümern, Tätigkeiten, Talenten und darin liegenden unendlich mannigfaltigen lebendigen Vermögen, die zugleich mit Gesinnung verbunden sind, der Staat
keine direkte Leistung fordert, sondern nur das eine Vermögen in Anspruch nimmt,
das als Geld erscheint. - Die Leistungen, die sich auf die Verteidigung des Staats
gegen Feinde beziehen, gehören erst zu der Pflicht der folgenden Abteilung" (nicht
der folgenden Abteilung, aber anderer Gründe wegen werden wir erst später auf die
persönliche Pflicht zum Militärdienst kommen).
„ In der Tat ist das Geld aber nicht ein besonderes Vermögen neben den übrigen,
sondern es ist das Allgemeine derselben, insofern sie sich zu der Äußerlichkeit des
Daseins produzieren, in der sie als eine Sache gefaßt werden können." „Bei uns",
heißt es weiter in dem Zusatz, „kauft der Staat, was er braucht."
ad 2. „Nur an dieser äußerlichsten Spitze" (sc. worin die Vermögen sich zu der
Äußerlichkeit des Daseins produzieren, in der sie als eine Sache gefaßt werden können)
„ist die quantitative Bestimmtheit und damit die Gerechtigkeit und G l e i c h h e i t
d e r L e i s t u n g e n möglich." Im Zusatz heißt es: „Durch Geld kann aber die G e r e c h t i g k e i t d e r G l e i c h h e i t weit besser durchgeführt werden." „Der Talentvolle
würde sonst mehr besteuert sein als der Talentlose, wenn es auf die konkrete Fähigkeit
ankäme."
ad 3. „Plato läßt in seinem Staate die Individuen den besonderen Ständen durch
die Obern zuteilen und ihnen ihre besonderen Leistungen auflegen; in der Feudalmonarchie hatten Vasallen ebenso unbestimmte Dienste, aber auch in ihrer Besonderheit, z.B. das Richteramt usf. zu leisten; die Leistungen im Orient, Ägypten für die
unermeßlichen Architekturen usf. sind ebenso von besonderer Qualität usf. In diesen
Verhältnissen mangelt das Prinzip der subjektiven Freiheit, daß das substantielle T u n
des Individuums, das in solchen Leistungen ohnehin seinem Inhalte nach ein B e sonderes ist, durch seinen besonderen Willen vermittelt sei; - ein Recht, das allein durch
die Forderung der Leistungen in der Form des allgemeinen Wertes möglich und das
der Grund ist, der diese Verwandelung herbeigeführt hat." Im Zusatz heißt es: „Bei
uns kauft der Staat, was er braucht, und dies kann zunächst als abstrakt, tot und gemütlos erscheinen, und es kann auch aussehen, als wenn der Staat dadurch heruntergesunken wäre, daß er sich mit abstrakten Leistungen befriedigt. Aber es liegt in dem
Prinzipe des neueren Staates, das Alles, was das Individuum tut, durch seinen Willen
vermittelt sei." . . . „Nun aber wird eben dadurch R e s p e k t vor der subjektiven Freiheit an den Tag gelegt, daß man jemanden nur an dem ergreift, an welchem er ergriffen
werden kann."
Tut, was ihr wollt. Bezahlt, was ihr sollt.
Der Eingang des Zusatzes lautet:
„Die zwei Seiten der Verfassung beziehen sich auf die Rechte und Leistungen der
Individuen. Was nun die Leistungen betrifft, so reduzieren sie sich jetzt fast alle auf
Geld. Die Militärpflicht ist jetzt fast nur die einzige persönliche Leistung."
„ § 300. In der gesetzgebenden Gewalt als T o t a 1 i t ä t sind zunächst die zwei andern
Momente wirksam, das monarchische, als dem die höchste Entscheidung zukommt - ,
die Regierungsgewalt als das mit der konkreten Kenntnis und Übersicht des Ganzen in
seinen vielfachen Seiten und den darin f e s t g e w o r d e n e n wirklichen Grundsätzen
sowie mit der Kenntnis der Bedürfnisse der Staatsgewalt insbesondere, beratende
Moment - , endlich das ständische Element."
Die monarchische Gewalt und die Regierungsgewalt sind ... gesetzgebende Gewalt. Wenn aber die gesetzgebende Gewalt die Totalität ist,
müßten vielmehr monarchische Gewalt und Regierungsgewalt Momente der
gesetzgebenden Gewalt sein. Das hinzutretende ständische Element ist nur
gesetzgebende Gewalt oder die gesetzgebende Gewalt im Unterschied zu der
monarchischen und Regierungsgewalt.
„ § 301. Das ständische Element hat die Bestimmung, daß die allgemeine Angelegenheit nicht nur an sich, sondern auch für sich, d. i., daß das Moment der subjektiven
formellen Freiheit, das öffentliche Bewußtsein als empirische Allgemeinheit der Ansichten
und Gedanken der Vielen, darin zur Existenz komme."
Das ständische Element ist eine Deputation der bürgerlichen Gesellschaft an den Staat, dem sie als die „Vielen" gegenüberstehn. Die Vielen
sollen einen Augenblick die allgemeinen Angelegenheiten mit Bewußtsein als
ihre eigenen behandeln, als Gegenstände des öffentlichen Bewußtseins, welches
nach Hegel nichts ist als die „empirische Allgemeinheit der Ansichten und
Gedanken der Vielen" (und in Wahrheit ist es in den modernen, auch den
konstitutionellen Monarchien nichts anders). Es ist bezeichnend, daß Hegel,
der so großen Respekt vor dem Staatsgeist, dem sittlichen Geist, dem Staatsbewußtsein hat, es da, wo es ihm in wirklicher empirischer Gestalt gegenübertritt, förmlich verachtet.
Dies ist das Rätsel des Mystizismus. Dieselbe phantastische Abstraktion,
die das Staatsbewußtsein in der unangemeßnen Form der Bürokratie, einer
Hierarchie des Wissens, wiederfindet und diese unangemeßne Existenz unkritisch für die wirkliche Existenz hinnimmt als vollgültig, dieselbe mystische
Abstraktion gesteht ebenso unbefangen, daß der wirkliche empirische Staatsgeist, das öffentliche Bewußtsein, ein bloßes Potpourri von „Gedanken und
Ansichten der Vielen" sei. Wie sie der Bürokratie ein fremdes Wesen unterschiebt, so läßt sie dem wahren Wesen die unangemeßne Form der Erscheinung. Hegel idealisiert die Bürokratie und empirisiert das öffentliche
Bewußtsein. Hegel kann das wirkliche öffentliche Bewußtsein sehr ä part behandeln, eben weil er das ä part Bewußtsein als das öffentliche behandelt hat.
Er braucht sich um so weniger um die wirkliche Existenz des Staatsgeistes
zu kümmern, als er schon in seinen soi-disant1 Existenzen ihn gehörig realisiert zu haben meint. Solange der Staatsgeist mystisch im Vorhof spukte,
wurden ihm viel Reverenzen gemacht. Hier, wo wir ihn [in] persona gehascht, wird er kaum angesehn.
„Das ständische Element hat die Bestimmung, daß die allgemeine Angelegenheit nicht nur an sich, sondern auch für sich darin zur Existenz
komme." Und zwar kommt sie für sich zur Existenz als das „öffentliche Bewußtsein", als „empirische Allgemeinheit der Ansichten und Gedanken der
Vielen".
Das Subjektwerden der „allgemeinen Angelegenheit", die auf diese
Weise verselbständigt wird, wird hier als ein Moment des Lebensprozesses
der „allgemeinen Angelegenheit" dargestellt. Statt daß die Subjekte sich in
der „allgemeinen Angelegenheit" vergegenständlichten, läßt Hegel die „allgemeine Angelegenheit" zum „Subjekt" kommen. Die Subjekte bedürfen
nicht der „allgemeinen Angelegenheit" als ihrer wahren Angelegenheit, sondern die allgemeine Angelegenheit bedarf der Subjekte zu ihrer formellen
Existenz. Es ist eine Angelegenheit der „allgemeinen Angelegenheit", daß
sie auch als Subjekt existiere.
Es ist hier besonders der Unterschied zwischen dem „Ansichsein' und
dem „Fürsichsein" der allgemeinen Angelegenheit ins Auge zu fassen.
Die „allgemeine Angelegenheit" existiert schon „an sich" als das Geschäft
der Regierung etc.; sie existiert, ohne wirklich die allgemeine Angelegenheit
zu sein; sie ist nichts weniger als dies, denn sie ist nicht die Angelegenheit
der „bürgerlichen Gesellschaft". Sie hat schon ihre wesentliche an sich seiende
Existenz gefunden. Daß sie nun auch wirklich „öffentliches Bewußtsein",
„empirische Allgemeinheit" wird, ist rein formell und kommt gleichsam
nur symbolisch zur Wirklichkeit. Die „formelle" Existenz oder die „empirische" Existenz der allgemeinen Angelegenheit ist getrennt von ihrer
substantiellen Existenz. Die Wahrheit davon ist: Die an sich seiende „allgemeine Angelegenheit" ist nicht wirklich allgemein, und die wirkliche empirische allgemeine Angelegenheit ist nur formell.
Hegel trennt Inhalt und Form, Ansichsein und Fürsichsein und läßt das
letztere als ein formelles Moment äußerlich hinzutreten. Der Inhalt ist fertig
und existiert in vielen Formen, die nicht die Formen dieses Inhaltes sind;
1
sogenannten
wogegen es sich von selbst versteht, daß die F o r m , die nun f ü r die wirkliche
Form des Inhalts gelten soll, nicht den Wirklichen Inhalt zu ihrem Inhalt hat.
Die allgemeine Angelegenheit ist fertig, ohne daß sie wirkliche Angelegenheit des Volks wäre. Die wirkliche Volkssache ist ohne Tun des Volks zustande gekommen. Das ständische Element ist die illusorische Existenz der
Staatsangelegenheiten als einer Volkssache. Die Illusion, daß die allgemeine
Angelegenheit allgemeine Angelegenheit, öffentliche Angelegenheit sei, oder
die Illusion, daß die Sache des Volks allgemeine Angelegenheit sei. So weit
ist es sowohl in unseren Staaten als in der Hegeischen Rechtsphilosophie gekommen, daß der tautologische Satz: „Die allgemeine Angelegenheit ist
die allgemeine Angelegenheit", nur als eine Illusion des praktischen Bewußtseins erscheinen kann. Das ständische Element ist die politische Illusion
der bürgerlichen Gesellschaft. Die subjektive Freiheit erscheint bei Hegel als
formelle Freiheit (es ist allerdings wichtig, daß das Freie auch frei getan
werde, daß die Freiheit nicht als bewußtloser Naturinstinkt der Gesellschaft
herrsche), eben weil er die objektive Freiheit nicht als Verwirklichung, als
Betätigung der subjektiven hingestellt hat. Weil er dem präsumtiven oder
wirklichen Inhalt der Freiheit einen mystischen Träger gegeben hat, so
bekommt das wirkliche Subjekt der Freiheit eine formelle Bedeutung.
Die Trennung des Ansichs und des Fürsichs, der Substanz und des Subjekts, ist abstrakter Mystizismus.
Hegel setzt in der Anmerkung das „ständische Element" recht sehr als
ein „Formelles", „Illusorisches" auseinander.
Sowohl das Wissen als der Wille des „ständischen Elementes" sind teils
unbedeutend, teils verdächtig; d.h., das ständische Element ist kein inhaltsvolles Komplement.
1. „Die Vorstellung, die das gewöhnliche Bewußtsein über die Notwendigkeit oder
Nützlichkeit der Konkurrenz von Ständen zunächst vor sich zu haben pflegt, ist
vornehmlich etwa, daß die Abgeordneten aus dem Volk oder gar das Volk es am besten
Oerstehen müsse, was zu seinem Besten diene, und daß es den ungezweifelt besten Willen
für dieses Beste habe. Was das erstere betrifft, so ist vielmehr der Fall, daß das Volk,
insofern mit diesem Worte ein besonderer Teil der Mitglieder eines Staats bezeichnet
ist, den Teil ausdrückt, der nicht weiß, u)as er will. Z u wissen, was man will, und noch
mehr, was der an und für sich seiende Wille, die Vernunft, will, ist die Frucht tiefer
Erkenntnis" (die wohl in den Büros steckt) „und Einsicht, welche eben nicht die Sache
des Volks ist."
Mehr unten heißt es in bezug auf die Stände selbst:
„Die höchsten Staatsbeamten haben notwendig tiefere und umfassendere Einsicht in die Natur der Einrichtungen und Bedürfnisse des Staats sowie die größere
Geschicklichkeit und Gewohnheit dieser Geschäfte und können ohne Stände das Beste
tun, wie sie auch fortwährend bei den ständischen Versammlungen das Beste tun
müssen."
Und es versteht sich, daß bei der von Hegel beschriebnen Organisation
dies vollständig wahr ist.
2. „Was aber den vorzüglich guten Willen der Stände für das allgemeine Beste betrifft, so ist schon oben bemerkt worden, daß es zu der Ansicht des Pöbels, dem
Standpunkte des Negativen überhaupt gehört, bei der Regierung einen bösen oder
weniger guten Willen vorauszusetzen; - eine Voraussetzung, die zunächst, wenn in
gleicher Form geantwortet werden sollte, die Rekrimination zur Folge hätte, daß die
Stände, da sie von der Einzelnheit, dem Privatstandpunkt und den besonderen Interessen herkommen, für diese auf Kosten des allgemeinen Interesses ihre Wirksamkeit
zu gebrauchen geneigt seien, dahingegen die anderen Momente der Staatsgewalt schon
für sich auf den Standpunkt des Staates gestellt und dem allgemeinen Zwecke gewidmet sind."
Also Wissen und Willen der Stände sind teils überflüssig, teils verdachtig.
Das Volk weiß nicht, was es will. Die Stände besitzen nicht die Staatswissenschaft im Maße der Beamten, deren Monopol sie ist. Die Stände sind
überflüssig zum Vollbringen der „allgemeinen Angelegenheit". Die Beamten können sie ohne Stände vollbringen, ja sie müssen trotz der Stände das
Beste tun. Was also den Inhalt betrifft, so sind die Stände reiner Luxus. Ihr
Dasein ist daher im wörtlichsten Sinne eine bloße Form.
Was ferner die Gesinnung, den Willen der Stände betrifft, so ist er verdächtig, denn sie kommen vom Privatstandpunkt und den Privatinteressen
her. In Wahrheit ist das Privatinteresse ihre allgemeine Angelegenheit und
nicht die allgemeine Angelegenheit ihr Privatinteresse. Aber welche Manier
der „allgemeinen Angelegenheit", Form zu gewinnen als allgemeine Angelegenheit in einem Willen, der nicht weiß, was er will, wenigstens nicht ein
besondres Wissen des Allgemeinen besitzt, und in einem Willen, dessen
eigentlicher Inhalt ein entgegenstehendes Interesse ist!
In den modernen Staaten, wie in Hegels Rechtsphilosophie, ist die bewußte, die tßahre Wirklichkeit der allgemeinen Angelegenheit nur formell, oder
nur das Formelle ist Wirkliche allgemeine Angelegenheit.
Hegel ist nicht zu tadeln, weil er das Wesen des modernen Staats schildert, wie es ist, sondern weil er das, was ist, für das Wesen des Staats ausgibt. Daß das Vernünftige wirklich ist, beweist sich eben im Widerspruch der
unvernünftigen Wirklichkeit, die an allen Ecken das Gegenteil von dem ist,
was sie aussagt, und das Gegenteil von dem aussagt, was sie ist.
Statt daß Hegel zeigte, wie die „allgemeine Angelegenheit" für sich
„subjektiv, daher wirklich als solche existiere", daß sie auch die Form der
allgemeinen Angelegenheit hat, zeigt er nur, daß die Formlosigkeit ihre Subjektivität ist, und eine Form ohne Inhalt muß formlos sein. Die Form, welche
die allgemeine Angelegenheit in einem Staat gewinnt, der nicht der Staat der
allgemeinen Angelegenheit ist, kann nur eine Unform, eine sich selbst täuschende, eine sich selbst widersprechende Form sein, eine Scheinform, die
sich als dieser Schein ausweisen wird.
:
Hegel will den Luxus des ständischen Elements nur der Logik zulieb.
Das Fürsichsein der allgemeinen Angelegenheit als empirische Allgemeinheit
soll ein Dasein haben. Hegel sucht nicht nach einer adäquaten Verwirklichung des „Fürsichseins der allgemeinen Angelegenheit", er begnügt sich,
eine empirische Existenz zu finden, die in diese logische Kategorie aufgelöst
werden kann; das ist dann das ständische Element: wobei er nicht verfehlt,
selbst anzumerken, wie erbärmlich und widerspruchsvoll diese Existenz ist.
Und darin wirft er noch dem gewöhnlichen Bewußtsein vor, daß es sich mit
dieser logischen Satisfaktion nicht begnügt, daß es sich nicht die Wirklichkeit durch willkürliche Abstraktion in Logik, aufgelöst, sondern die Logik in
wahre Gegenständlichkeit verwandelt sehn will.
Ich sage: willkürliche Abstraktion. Denn da die Regierungsgewalt die
allgemeineAngelegenheit will, weiß, verwirklicht, aus dem Volk hervorgeht
und eine empirische Vielheit ist (daß es sich nicht um Allheit handelt, belehrt uns Hegel ja selbst), warum sollte die Regierungsgewalt nicht als das
„Fürsichsein der allgemeinen Angelegenheit" bestimmt werden können?
Oder warum nicht die „Stände" als ihr Ansichsein, da die Sache erst in der
Regierung Licht und Bestimmtheit und Ausführung und Selbständigkeit
gewinnt?
:
Aber der wahre Gegensatz ist: „Die allgemeine Angelegenheit" muß doch
irgendwo im Staat als „wirkliche", also „empirische allgemeine Angelegenheit" repräsentiert sein; sie muß irgendwo in der Krone und dem Talar des
Allgemeinen erscheinen, wodurch es von selbst zu einer Rolle, einer Illusion Wird.
Es handelt sich hier um den Gegensatz des „Allgemeinen" als „Form",
in der „Form der Allgemeinheit", und des „Allgemeinen als Inhalt".
Z.B. in der Wissenschaft kann ein „Einzelner" die allgemeine Angelegenheit vollbringen, und es sind immer Einzelne, die sie vollbringen. Aber
wirklich allgemein wird; sie erst, wenn sie nicht mehr die Sache des Einzelnen, sondern die der Gesellschaft ist. Das verändert nicht nur die
Form, sondern auch den Inhalt. Hier aber handelt es sich um den Staat, wo
das Volk selbst die allgemeine Angelegenheit ist; hier handelt es sich um den
18 Man/Engels, Werke, Bd. 1
Willen, der sein wahres Dasein als Gattungswille nur im selbstbewußten
Willen des Volkes hat. Und hier handelt es sich überdem von der Idee des
Staats.
Der moderne Staat, in dem die „allgemeine Angelegenheit" wie die Beschäftigung mit derselben ein Monopol ist und dagegen die Monopole die
wirklichen allgemeinen Angelegenheiten sind, hat die sonderbare Erfindung
gemacht, die „allgemeine Angelegenheit" als eine bloße Form sich anzueignen. (Das Wahre ist, daß nur die Form allgemeine Angelegenheit ist.) Er
hat damit die entsprechende Form für seinen Inhalt gefunden, der nur
scheinbar die wirkliche allgemeine Angelegenheit ist.
Der konstitutionelle Staat ist der Staat, in dem das Staatsinteresse als
wirkliches Interesse des Volkes nur formell, aber als eine bestimmte Form
neben dem wirklichen Staat vorhanden ist; das Staatsinteresse hat hier
formell wieder Wirklichkeit erhalten als Volksinteresse, aber es soll auch nur
diese formelle Wirklichkeit haben. Es ist zu einer Formalität, zu dem haut
goüt1 des Volkslebens geworden, eine Zeremonie. Das ständische Element ist
die sanktionierte, gesetzliche Lüge der konstitutionellen Staaten, daß der
Staat das Interesse des Volks oder daß das Volk das Staatsinteresse ist. Im
Inhalt wird sich diese Lüge enthüllen. Als gesetzgebende Gewalt hat sie sich
etabliert, eben weil die gesetzgebende Gewalt das Allgemeine zu ihrem Inhalt
hat, mehr Sache des Wissens als des Willens, die metaphysische Staatsgewalt
ist, während dieselbe Lüge als Regierungsgewalt etc. entweder sich sofort
auflösen oder in eine Wahrheit verwandeln müßte. Die metaphysische
Staatsgewalt war der geeignetste Sitz der metaphysischen; allgemeinen
Staatsillusion.
„Die Gewährleistung, die für das allgemeine Beste und die öffentliche Freiheit in
den Ständen liegt, findet sich bei einigem Nachdenken nicht in der besonderen Einsicht derselben, sondern sie liegt teils wohl in einer Z u t a t (!!) von Einsicht der A b geordneten, vornehmlich in das Treiben der den Augen der höheren Stellen ferner
stehenden Beamten, und insbesondere in dringendere und speziellere Bedürfnisse und
Mängel, die [siel in konkreter Anschauung vor sich haben, teils aber in derjenigen Wirkung, welche die zu erwartende Zensur Vieler, und zwar eine öffentliche Zensur, mit
sich führt, schon im voraus die beste Einsicht auf die Geschäfte und vorzulegenden
Entwürfe zu verwenden und sie nur den reinsten Motiven gemäß einzurichten - eine
Nötigung, die ebenso für die Mitglieder der Stände selbst wirksam ist."
„Was hiermit die Garantie überhaupt betrifft, welche besonders in den Ständen
liegen soll, so teilt auch j e d e a n d e r e d e r S t a a t s i n s t i t u t i o n e h dies mit ihnen,
eine Garantie des öffentlichen Wohls und der vernünftigen Freiheit zu sein, und es
1
der Würze
gibt darunter Institutionen, wie die Souveränität des Monarchen*, die Erblichkeit der
Thronfolge, Gerichtsverfassung usf., in welchen diese Garantie noch in viel stärkerem
Grade liegt. Die e i g e n t ü m l i c h e Begriffsbestimmung der Stände ist deshalb darin
zu suchen, daß in ihnen das subjektive Moment der allgemeinen Freiheit, die eigene
Einsicht und der eigene Wille der Sphäre, die in dieser Darstellung bürgerliche Gesellschaft genannt worden ist, in Beziehung auf den Staat zur Existenz kommt, Daß dies
Moment eine Bestimmung der zur Totalität entwickelten Idee ist, diese innere N o t wendigkeit, welche nicht mit äußeren Notwendigkeiten und Nützlichkeiten zu verwechseln ist, folgt, wie überall, aus dem philosophischen Gesichtspunkt."
Die öffentliche*, allgemeine Freiheit ist in den andern Staatsinstitutionen
angeblich garantiert; die Stände sind ihre angebliche Selbstgarantierung.
Daß das Volk auf die Stände, in denen es selbst sich zu versichern glaubt,
mehr Gewicht legt als auf die Institutionen, die ohne sein Tun die Assekuranzen seiner Freiheit sein sollen, Bestätigungen seiner Freiheit, ohne Betätigungen seiner Freiheit zu sein. Die Koordination, welche Hegel den
Ständen neben den andern Institutionen anweist, widerspricht ihrem Wesen.
Hegel löst das Rätsel, wenn er die „eigentümliche Begriffsbestimmung
der Stände" darin findet, daß in ihnen „die eigene Einsicht und der eigene
Wille der bürgerlichen Gesellschaft in Beziehung auf den Staat zur Existenz
kommt". Es ist die Reflexion der bürgerlichen Gesellschaft auf den Staat. Wie
die Bürokraten Abgeordnete des Staats an die bürgerliche Gesellschaft, so
sind die Stände Abgeordnete der bürgerlichen Gesellschaft an den Staat. Es
and also immer Transaktionen zweier gegensätzlicher Willen.
Im Zusatz zu diesem Paragraphen heißt es:
„Die Stellung der Regierung zu den Ständen soll keine w e s e n t l i c h feindliche
sein, und der Glaube an die Notwendigkeit dieses feindseligen Verhältnisses ist ein
trauriger Irrtum",
ist eine „traurige Wahrheit".
„Die Regierung ist keine Partei, der eine andere gegenübersteht."
Umgekehrt.
„Die Steuern, die die Stände bewilligen, sind ferner nifcht wie ein G e s c h e n k anzusehen, das dem Staate gegeben wird, sondern sie werden zum Besten der Bewilligenden selbst bewilligt."
Die Steuerbewilligung ist im konstitutionellen Staat der Meinung nach
notwendig ein Geschenk.
„Was die eigentliche Bedeutung der Stände ausmacht, ist, daß d e r S t a a t dadurch
in das s u b j e k t i v e B e w u ß t s e i n des V o l k s t r i t t und daß es an demselben teilzuhaben anfängt."
Das letztere ist ganz richtig. Das Volk in den Ständen fängt an, teilzuhaben am Staat, ebenso tritt er als ein jenseitiger in sein subjektives Bewußtsein. Wie kann Hegel diesen Anfang aber für die volle Realität ausgeben?
„ § 302. Als vermittelndes Organ betrachtet, stehen die Stände zwischen der Regierung überhaupt einerseits und dem in die besonderen Sphären und Individuen aufgelösten Volke andererseits. Ihre Bestimmung fordert an sie so sehr den Sinn und die
Gesinnung des Staats und der Regierung, als der Interessen der besonderen Kreise und
der Einzelnen. Zugleich hat diese Stellung die Bedeutung einer mit der organisierten
Regierungsgewalt gemeinschaftlichen Vermittelung, daß weder die fürstliche Gewalt
als Extrem isoliert und dadurch als bloße Herrschergewalt und Willkür erscheine, noch
daß die besonderen Interessen der Gemeinden, Korporationen und der Individuen
sich isolieren, oder noch mehr, daß die Einzelnen nicht zur Darstellung einer Menge
und eines Haufens, zu einem somit unorganischen Meinen und Wollen und zur bloß
massenhaften Gewalt gegen den organischen Staat kommen."
Staat und Regierung weiden immer als identisch auf die eine Seite, das
in die besondren Sphären und Individuen aufgelöste Volk auf die andere
Seite gesetzt. Die Stände stehn: als vermittelndes Organ zwischen beiden.
Die Stände sind die Mitte, worin „Sinn und Gesinnung des Staats und der
Regierung" zusammentreffen, vereinigt sein sollen mit „Sinn und Gesinnung der besonderen Kreise und der Einzelnen". Die Identität dieser beiden
entgegengesetzten Sinne und Gesinnungen, in deren Identität eigentlich
der Staat liegen sollte, erhält eine symbolische Darstellung in den Ständen.
Die Transaktion zwischen Staat und bürgerlicher Gesellschaft erscheint
als eine besondre Sphäre. Die Stände sind die Synthese zwischen Staat und
bürgerlicher Gesellschaft. Wie die Stände es aber anfangen sollen, zwei widersprechende Gesinnungen in sich zu vereinen, ist nicht angegeben. Die
Stände sind der gesetzte Widerspruch des Staates und der bürgerlichen Gesellschaft im Staate. Zugleich sind sie die Forderung der Auflösung dieses Widerspruches.
»Zugleich hat diese Stellung die Bedeutung einer mit der o r g a n i s i e r t e n Regierungsgewalt gemeinschaftlichen Vermittelung etc."
Die Stände vermitteln nicht nur Volk und Regierung. Sie verhindern die
„fürstliche Gewalt" als isoliertes „Extrem", die damit als „bloße Herrschergewalt und Willkür" erscheinen würde, ebenso die „Isolierung" der „besonderen" Interessen etc., ebenso1 die „Darstellung der Einzelnen als Menge
und Haufen". Diese Vermittelung ist den Ständen mit der organisierten Regierungsgewalt gemeinschaftlich. In einem Staat, worin-die „Stellung" der
„Stände" verhindert, „daß die Einzelnen nicht zur Darstellung einer Menge
oder eines Haufens, zu einem somit unorganischen Meinen und Wollen,
zur bloß massenhaften Gewalt gegen den organischen Staat kommen",
existiert der organische Staat" außer der „Menge" und dem „Haufen",
oder da gehört die „Menge" und der „Haufen" zur Organisation des Staats;
bloß soll sein „Unorganisches Meinen und Wollen" nicht zum „Meinen und
Wollen gegen den Staat" kommen, durch welche bestimmte Richtung es „organisches" Meinen und Wollen würde. Ebenso soll diese „massenhafte Gewalt" nur „massenhaft" bleiben, so daß der Verstand außer der Masse ist und
sie daher nicht sich selbst in Bewegung setzen, sondern nur von den Monopolisten des „organischen Staates" in Bewegung gesetzt und als massenhafte Gewalt exploitiert werden kann. Wo nicht „die besondern Interessen
der Gemeinden, Korporationen und der Einzelnen" sich gegen den Staat
isolieren, sondern die „Einzelnen zur Darstellung einer Menge Und eines
Haidens, zu einem somit unorganischen Meinen und Wollen und zur bloß
massenhaften Gewalt gegen den Staat kommen", da zeigt es sich eben, daß
kein „besonderes Interesse" dem Staat widerspricht, sondern daß der „wirkliche organische allgemeine Gedanke der Menge und des Haufens" nicht der
„Gedanke des organischen Staats" ist, der nicht in ihm seine Realisation
findet. Wodurch erscheinen nun die Stände als Vermittelung gegen dies
Extrem? Nur dadurch, „daß die besonderen Interessen der Gemeinden,
Korporationen und der Individuen sich isolieren", oder dadurch, daß ihre
isolierten Interessen ihre Rechnung mit dem Staat durch die Stände abschließen,
zugleich dadurch, daß das „unorganische Meinen und Wollen der Menge
und des Haufens" in- der Schöpfung der Stände seinen Willen (seine Tätigkeit) und in der Beurteilung der Tätigkeit der Stände sein „Meinen" beschäftigt und die Täuschung seiner Vergegenständlichung genossen hat. Die
„Stände" präservieren den Staat vor dem unorganischen Haufen nur durch
die Desorganisation dieses Haufens.
Zugleich aber sollen die Stände dagegen vermitteln, „daß die besonderen
Interessen der Gemeinden, Korporationen und der Individuen sich" nicht
„isolieren". Sie vermitteln dagegen, 1. indem sie mit dem„Staatsinteresse"
transigieren, 2. indem sie selbst die „politische Isolierung" dieser besondern
Interessen sind; diese Isolierung als politischer Akt, indem durch sie diese
„isolierten Interessen" den Rang des „Allgemeinen-' erhalten. ;
Endlich sollen die Stände gegen die „Isolierung" der fürstlichen Gewalt
als eines „Extrems" (die „dadurch als bloße Herrschergewalt und Willkür
erschiene'') vermitteln. Dies ist insofern richtig, als das Prinzip der fürstlichen
Gewalt (die Willkür) durch sie begrenzt ist, wenigstens hur in Fesseln sieh
bewegen kann, und als sie selbst Teilnehmer, Mitschuldige der fürstlichen
Gewalt werden.
'
Die fürstliche Gewalt hört entweder wirklich dadurch auf, das Extrem
der fürstlichen Gewalt zu sein (und die fürstliche Gewalt existiert nur als
ein Extrem, als eine Einseitigkeit, weil sie kein organisches Prinzip ist),
sie wird zu einer Scheingewalt, einem Symbol, oder sie verliert nur den
Schein der Willkür und bloßer Herrschergewalt. Sie vermitteln gegen die
„Isolierung" der Sonderinteressen, indem sie diese Isolierung als politischen Akt vorstellen. Sie vermitteln gegen die Isolierung der fürstlichen
Gewalt als eines Extrems, teils indem sie selbst zu einem Teil der fürstlichen Gewalt werden, teils indem sie die Regierungsgewalt zu einem Extrem
machen.
In den „Ständen" laufen alle Widersprüche der modernen Staatsorganisationen zusammen. Sie sind die „Mittler" nach allen Seiten hin, weil sie
nach allen Seiten hin „Mitteldinge" sind.
Zu bemerken ist, daß Hegel weniger den Inhalt der ständischen Tätigkeit,
die gesetzgebende Gewalt, als die Stellung der Stände, ihren politischen Rang
entwickelt.
Zu bemerken ist noch, daß, während nach Hegel zunächst die Stände
„zwischen der Regierung überhaupt einerseits und dem in die besonderen
Sphären und Individuen aufgelösten Volk andrerseits" stehn, ihre Stellung,
wie sie oben entwickelt, „dieBedeutung einermitder organisiertenRegierungsgewalt gemeinschaftlichen Vermittelung hat".
Was die erste Stellung betrifft, so sind die Stände das Volk gegen die
Regierung, aber das Volk en miniature. Das ist ihre oppositionelle Stellung.
Was die zweite betrifft, so sind sie die Regierung gegen das Volk, aber
die amplifizierte Regierung. Das ist ihre konservative Stellung. Sie sind selbst
ein Teil der Regierungsgewalt gegen das Volk, aber so, daß sie zugleich die
Bedeutung haben, das Volk gegen die Regierung zu sein.
Hegel hat oben die „gesetzgebende Gewalt als Totalität" (§ 300) bezeichnet, die Stände sind wirklich diese Totalität, der Staat im Staate, aber
eben in ihnen erscheint es, daß der Staat nicht die Totalität, sondern ein
Dualismus ist. Die Stände stellen den Staat in einer Gesellschaft vor, die fem
Staat ist. Der Staat ist eine bloße Vorstellung.
In der Anmerkung sägt Hegel:
„Es gehört zu den wichtigsten logischen Einsichten, daß ein bestimmtes Moment,
das als im Gegensatze stehend die Stellung eines Extrems hat, es dadurch zu sein aufhört und organisches Moment ist, daß es zugleich Mitte ist."
(So ist das ständische Element 1. das Extrem des Volks gegen die Regierung, aber 2. zugleich Mitte zwischen Volk und Regierung, oder es ist der
Gegensatz im Volk selbst. Der Gegensatz von Regierung und Volk vermittelt
sich durch den Gegensatz zwischen Ständen und Volk. Die Stände haben nach
der Seite der Regierung hin die Stellung des Volks, aber nach der Seite des
Volks hin die Stellung der Regierung. Indem das Volk als Vorstellung, als
Phantasie, Illusion, Repräsentation zustande kommt - das vorgestellte Volk
oder die Stände, das sich als eine besondre Gewalt sogleich in der Trennung
vom wirklichen Volk befindet hebt [es] den wirklichen Gegensatz zwischen
Volk und Regierung auf.Das Volk ist hier schon so zubereitet, wie es in dem
betrachteten Organismus zubereitet sein muß, um keinen entschiedenen
Charakter zu haben.)
„Bei dem hier betrachteten Gegenstand ist es um so wichtiger, diese Seite herauszuheben, weil es zu den häufigen, aber höchst gefährlichen Vorurteilen gehört, Stände
hauptsächlich im Gesichtspunkte des Gegensatzes gegen die Regierung, als ob dies
ihre wesentliche Stellung wäre, vorzustellen. Organisch, d . i . in die Totalität aufgenommen, beweist sich das s t ä n d i s c h e E l e m e n t n u r d u r c h d i e F u n k t i o n d e r
V e r m i t t e l u n g . Damit ist der G e g e n s a t z selbst zu einem S c h e i n herabgesetzt.
Wenn er, insofern er seine E r s c h e i n u n g hat, nicht bloß die Oberfläche beträfe, sondern w i r k l i c h ein s u b s t a n t i e l l e r G e g e n s a t z würde, so wäre der Staat in seinem
Untergange begriffen. - Das Zeichen, daß der Widerstreit nicht dieser Art ist, ergibt
sich der Natur der Sache nach dadurch, wenn die Gegenstände desselben nicht die
wesentlichen Elemente des Staatsorganismus, sondern speziellere und gleichgültigere
Dinge betreffen, und die Leidenschaft, die sich doch an diesen Inhalt knüpft, zur
Parteisucht um ein bloßsubjektives Interesse, etwa um die höheren Staatsstellen, wird."
Im Zusatz heißt es:
„ D i e V e r f a s s u n g ist w e s e n t l i c h ein S y s t e m d e r V e r m i t t e l u n g . "
„ § 303. Der allgemeine, näher dem Dienst der Regierang sich widmende Stand hat
unmittelbar in seiner Bestimmung, das Allgemeine zum Zwecke seiner wesentlichen
Tätigkeit zu haben; in dem ständischen Elemente der gesetzgebenden Gewalt kommt
der Privatstand zu einer politischen Bedeutung und Wirksamkeit. Derselbe kann nun
dabei weder als bloße ungeschiedene Masse noch als eine in ihre Atome aufgelöste
Menge erscheinen, sondern als das, was er bereits ist, nämlich unterschieden in den
auf das substantielle Verhältnis und in den auf die besonderen Bedürfnisse und die sie
vermittelnde Arbeit sich gründenden Stand. Nur so knüpft sieh in dieser Rücksicht
wahrhaft das im Staate wirkliche Besondere an das Allgemeine an."
Hier haben wir die Lösung des Rätsels. „In dem ständischen Elemente
der gesetzgebenden Gewalt kommt der Privatstand zu einer politischen Be~
deütung." Versteht sich, daß der Privatstand nach dem, was er ist, nach seiner
Gliederung in der bürgerlichen Gesellschaft (den allgemeinen Stand hat Hegel
schon als den der Regierung sich widmenden bezeichnet; der allgemeine
Stand ist also durch die Regierungsgewalt in der gesetzgebenden Gewalt vertreten) zu dieser Bedeutung kommt.
Das ständische Element ist die politische Bedeutung des Privatstandes, des
unpolitischen Standes, eine contradictio in adjecto1. Oder in dem von Hegel
beschriebenen Stand hat der Privatstand (weiter überhaupt der Unterschied
des Privatstandes) eine politische Bedeutung. Der Privatstand gehört zum
Wesen, zur Politik dieses Staates. Er gibt ihm daher auch eine politische Bedeutung, d.h. eine andere Bedeutung als seine wirkliche Bedeutung.
In der Anmerkung heißt es:
„Dies gehet gegen eine andere gangbare Vorstellung, daß, indem der Privatstand
zur T e i l n a h m e an der allgemeinen Sache in der gesetzgebenden Gewalt erhoben
wird, er dabei in Form der Einzelnen erscheinen müsse, sei es, daß sie Stellvertreter für
diese Funktion wählen oder daß gar selbst jeder eine Stimme dabei exerzieren solle.
Diese atomistische, abstrakte Ansicht verschwindet schon in der Familie wie in der
bürgerlichen Gesellschaft, wo der Einzelne nur als Mitglied eines Allgemeinen zur
Erscheinung kommt. Der Staat aber ist wesentlich eine Organisation von solchen
Gliedern, die für sich Kreise sind, und in ihm soll sich kein Moment als eine unorganische Menge zeigen. Die Vielen als Einzelne, was man gerne unter Volk versteht,
sind wohl ein Zusammen, aber nur als die Menge, - eine formlose Masse, deren Bewegung und Tun eben damit nur elementarisch, vernunftlos, wild und fürchterlich
wäre."
„Die Vorstellung, welche die in jenen Kreisen schon vorhandenen Gemeinwesen,
wo sie ins Politische, d.i. in den Standpunkt der höchsten konkreten Allgemeinheit eintreten, wieder in eine Menge von Individuen auflöst, hält eben damit das b ü r g e r l i c h e
u n d das p o l i t i s c h e L e b e n v o n e i n a n d e r g e t r e n n t und stellt dieses sozusagen
in die Luft, da seine Basis nur die abstrakte Einzelnheit der Willkür und Meinung,
somit das Zufällige, nicht eine an und für sich feste und berechtigte Grundlage sein
würde."
„Obgleich in den Vorstellungen sogenannter Theorien die Stände d e r bürgerlichen
G e s e l l s c h a f t überhaupt und die Stände in politischer Bedeutung weit auseinander
liegen, so hat doch die S p r a c h e noch diese Vereinigung erhalten, die f r ü h e r ohnehin
vorhanden war."
„Der allgemeine, näher dem Dienst der Regierung sich widmende Stand."
Hegel geht von der Voraussetzung aus, daß der allgemeine Stand im
„Dienst der Regierung" steht. Er unterstellt die allgemeine Intelligenz als
„ständisch und ständig".
„In dem ständischen Elemente etc." Die „politische Bedeutung und Wirksamkeit" des Privatstandes ist eine besondere Bedeutung und Wirksamkeit desselben. Der Privatstand verwandelt sich nicht in den politischen Stand, sondern
1
ein Widerspruch in der Begriffsbestimmung
als Privatstand tritt er in seine politische Wirksamkeit und Bedeutung. Er hat
nicht politische Wirksamkeit und Bedeutung schlechthin. Seine politische
Wirksamkeit und Bedeutung ist die politische Wirksamkeit und Bedetitimg
des Privatstandes als Privatstand. Der Privatstand kann also nur nach dem
Ständeunterschied der bürgerlichen Gesellschaft in die politische Sphäre treten.
Der Ständeunterschied der bürgerlichen Gesellschaft wird zu einem politischen Unterschied.
Schon die Spräche, sagt Hegel, drückt die Identität der Stände der bürgerlichen Gesellschaft und der Stände in politischer Bedeutung aus, eine „Vereinigung", „die früher ohnehin vorhanden war", also, sollte man schließen, jetzt
nicht mehr vorhanden ist. •
Hegel findet, daß „sich in dieser Rücksicht wahrhaft das im Staate
wirklich Besondere an das Allgemeine anknüpft". Die Trennung des „bürgerlichen und des politischen Lebens" soll auf diese Weise aufgehoben und ihre
„Identität" gesetzt sein.
Hegel stützt sich darauf: *
<
„In jenen Kreisen" (Familie und bürgerliche Gesellschaft) „sind schon
Gemeinwesen vorhanden." Wie kann man diese da, „wo sie ins Politische, d. i.
in den Standpunkt der höchsten konkreten Allgemeinheit eintreten", ,.wieder in eine Menge von Individuen auflösen" wollen?
Es ist wichtig, diese Entwicklung genau zu verfolgen.
>
Die Spitze der Hegeischen Identität war, wie er selbst gesteht, das Mittelalter. Hier waren die Stände der bürgerlichen Gesellschaft überhaupt und die
Stände in politischer Bedeutung identisch. Man kann den Geist des Mittelalters so aussprechen: Die Stände der bürgerlichen Gesellschaft und die Stände
in politischer Bedeutung wären identisch, weil die bürgerliche Gesellschaft
die politische Gesellschaft war: weil das organische Prinzip der bürgerlichen
Gesellschaft das Prinzip des Staats war.
Allein Hegel geht von der Trennung der bürgerlichen Gesellschaft" und
des „politischen Staates" als zweier fester Gegensätze, zweier wirklich verschiedner Sphären aus. Diese Trennung ist allerdings wirklich im modernen
Staat Vorhanden. Die Identität der bürgerlichen und politischen Stände
war der Ausdruck der Identität der bürgerlichen und politischen Gesellschaft.
Diese Identität ist verschwunden. Hegel setzt sie als verschwunden voraus.
„Die Identität der bürgerlichen und politischen Stände", wenn sie die
Wahrheit ausdrückte, könnte also nur mehr ein Ausdruck der Trennung der
bürgerlichen und politischen Gesellschaft sein! oder vielmehr: nur die Trennung der bürgerlichen und politischen Gesellschaft drückt das wahre Verhältnis
der bürgerlichen und politischen modernen Gesellschaft aus.
Zweitens: Hegel handelt hier von politischen Ständen in einem ganz anderen Sinne, als jene politischen Stände des Mittelalters waren, von denen die
Identität mit den Ständen der bürgerlichen Gesellschaft ausgesagt wird.
Ihr ganzes Dasein war politisch; ihr Dasein war das Dasein des Staats.
Ihre gesetzgebende Tätigkeit, ihre Steuerbewilligung für das Reich war nur ein
besonderer Ausfluß ihrer allgemeinen politischen Bedeutung und Wirksamkeit. Ihr Stand war ihr Staat. Das Verhältnis zum Reich war nur ein Transaktionsverhältnis dieser verschiedenen Staaten mit der Nationalität, denn der
politische Staat im Unterschied von der bürgerlichen Gesellschaft war nichts
andres als die Repräsentation der Nationalität. Die Nationalität war der point
d'honneur, der w t ' e^o/vjv1 politische Sinn dieser verschiedenen Korporationen etc., und nur auf sie bezogen sich die Steuern etc. Das war das Verhältnis der gesetzgebenden Stände zum Reich. Ähnlich verhielten sich die
Stände innerhalb der besonderen Fürstentümer. Das Fürstentum,'. die Souveränität war hier ein besonderer Stand, der gewisse Privilegien hatte, aber
ebensosehr von den Privilegien der anderen Stände geniert wurde. (Bei den
Griechen war die bürgerliche Gesellschaft Sklave der politischen.) Die allgemeine gesetzgebende Wirksamkeit der Stände der bürgerlichen Gesellschaft
war keineswegs ein Kommen des Privatstandes zu einer politischen Bedeutung
und Wirksamkeit, sondern vielmehr ein bloßer Ausfluß ihrer wirklichen und
allgemeinen politischen Bedeutung und Wirksamkeit. Ihr Auftreten als gesetzgebende Macht war bloß ein Komplement ihrer souveränen und regierenden (exekutiven) Macht; es war vielmehr ihr Kommen zu der ganz allgemeinen Angelegenheit als einer Privatsache, ihr Kommen zur Souveränität
als einem Privatstand. Die Stände der bürgerlichen Gesellschaft waren im
Mittelalter als solche Stände zugleich gesetzgebend, weil sie ke'ne Privatstände oder weil die Privatstände politische Stände waren. Die mittelalterlichen Stände kamen als politisch-ständisches Element zu keiner neuen Bestimmung. Sie wurden nicht politisch-ständisch, weil sie teil an der Gesetzgebunghatten; sondern sie hatten teil an der Gesetzgebung, weil sie politischständisch waren. Was hat das nun mit Hegels Privatstand gemein, der als
gesetzgebendes Element zu einer politischen Bravourarie, zu einem ekstatischen
Zustand, zu einer aparten, frappanten, ausnahmsweisen politischen Bedeutung und Wirksamkeit kommt?
In dieser Entwicklung findet man alle Widersprüche der Hegeischen Darstellung zusammen.
1. hat er die Trennung der bürgerlichen Gesellschaft und des politischen
1
hauptsächliche
Staats (einen modernen Zustand) vorausgesetzt und als notwendiges Moment
der Idee entwickelt, als absolute Vernunftwahrheit, Er hat den politischen
Staat in seiner modernen Gestalt der Trennung der verschiedenen Gewalten
dargestellt. Er hat dem wirklichen handelnden Staat die Bürokratie zu seinem
Leib gegeben und sie als den wissenden Geist dem Materialismus der bürgerlichen Gesellschaft supraordiniert. Er hat das an und für sich seiende Allgemeine des Staats dem besonderen Interesse und dem Bedürfnis der bürgerlichen Gesellschaft gegenübergestellt. Mit einem Wort: Er stellt überall den
Konflikt der bürgerlichen Gesellschaft und des Staates dar.
2. Hegel stellt die bürgerliche Gesellschaft als Privatstand dem politischen
Staat gegenüber.
3. Er bezeichnet das ständische Element der gesetzgebenden Gewalt als
den bloßen politischen Formalismus der bürgerlichen Gesellschaft. Er bezeichnet es als ein Reflexionsverhältnis der bürgerlichen Gesellschaft auf den
Staat und als ein Reflexionsverhältnis, was das Wesen des Staates nicht
alteriert. Ein Reflexionsverhältnis ist auch die höchste Identität zwischen
wesentlich Verschiedenen.
Andrerseits will Hegel:
1. die bürgerliche Gesellschaft bei ihrer Selbstkonstituierung als gesetzgebendes Element weder als bloße, ungeschiedene Masse noch als eine in
ihre Atome aufgelöste Menge erscheinen lassen. Er will ferne Trennung des
bürgerlichen und politischen Lebens.
2. Er vergißt, daß es sich um ein Reflexionsverhältnis handelt, und macht
die bürgerlichen Stände als solche zu politischen Ständen, aber wieder nur
nach der Seite der gesetzgebenden Gewalt hin, so daß ihre Wirksamkeit selbst
der Beweis der Trennung ist.
Er macht das ständische Element zum Ausdruck der Trennung, aber zugleich soll es der Repräsentant einer Identität sein, die nicht vorhanden ist.
Hegel weiß die Trennung der bürgerlichen Gesellschaft und des politischen
Staats, aber er will, daß innerhalb des Staats die Einheit desselben ausgedrückt sei, und zwar soll dies dergestalt bewerkstelligt werden, daß die
Stände der bürgerlichen Gesellschaft zugleich als solche das ständische Element der gesetzgebenden Gesellschaft bilden, (cf. XIV, X . n 4 1 ] )
„ § 304. Den in den früheren Sphären bereits vorhandenen Unterschied der Stände
enthält das politisch-ständische Element zugleich in seiner eigenen Bestimmung.
Seine zunächst abstrakte Stellung, nämlich des Extrems d e r empirischen Allgemeinheit
gegen das fürstliche oder monarchische Prinzip überhaupt - in der nur die Möglichkeit
d e r Übereinstimmung und damit ebenso die Möglichkeit feindlicher Entgegensetzung
liegt - , diese abstrakte Stellung wird nur dadurch zum vernünftigen Verhältnisse
(zum Schlüsse, vergleiche Anmerkung zu § 302), daß ihre Vermittelung zur Existenz
kommt. Wie von Seiten der fürstlichen Gewalt die Regierungsgewalt ( § 3 0 0 ) schon
diese Bestimmung hat, so muß auch von der Seite der Stände aus ein Moment derselben nach der Bestimmung gekehrt sein, wesentlich als das Moment der Mitte zu
existieren."
„ § 305. Der eine der Stände der bürgerlichen Gesellschaft enthält das Prinzip, das
für sich fähig ist, zu dieser politischen Beziehung konstituiert zu werden, der Stand
der natürlichen Sittlichkeit nämlich, der das Familienleben und in Rücksicht der Subsistenz den Grundbesitz zu seiner Basis, somit in Rücksicht seiner Besonderheit ein
auf sich beruhendes Wollen und die Naturbestimmung, welche das fürstliche Element
in sich schließt, mit diesem gemein hat."
„ § 306, Für die politische Stellung und Bedeutung wird er näher konstituiert, insofern sein Vermögen ebenso unabhängig vom Staatsvermögen als vöri der Unsicherheit
des Gewerbes, der Sucht des Gewinns und der Veränderlichkeit des Besitzes überhaupt - , wie von der Gunst der Regierungsgewalt, so Von der Gunst der Menge - , und
selbst gegen die eigene Willkür dadurch festgestellt ist, daß die für diese Bestimmung
berufenen Mitglieder dieses Standes des Rechts der anderen Bürger, teils über ihr
ganzes Eigentum frei zu disponieren, teils es nach der .Gleichheit der Liebe zu den
Kindern an sie übergehend zu wissen, entbehren; das Vermögen wird so ein unveräußerliches, mit dem Majorate belastetes Erbgut."
„Zusatz. Dieser Stand hat ein mehr für sich bestehendes Wollen. Im ganzen wird
der Stand der Güterbesitzer sich in den gebildeten Teil desselben und in den Bauernstand unterscheiden. Indessen beiden Arten steht der Stand des Gewerbes, als der
vom Bedürfnis abhängige und darauf hingewiesene, und der allgemeine Stand, als vom
Staat wesentlich abhängig, gegenüber. Die Sicherheit und Festigkeit dieses Standes
kann noch durch die Institution des Majorats vermehrt werden, welche jedoch nur in
politischer Rücksicht wünschenswert ist, denn es ist damit ein Opfer für den politischen
Zweck verbunden, daß der Erstgeborene unabhängig leben könne. Die Begründung
des Majorats liegt darin, daß der Staat nicht auf bloße Möglichkeit der Gesinnung,
sondern auf ein Notwendiges rechnen soll. Nun ist die Gesinnung freilich an ein
Vermögen nicht gebunden, aber der relativ notwendige Zusammenhang ist, daß, wer
ein selbständiges Vermögen hat, von äußeren Umständen nicht beschränkt ist und so
ungehemmt auftreten und für den Staat handeln kann. W o indessen politische Institutionen fehlen, ist die Gründung und Begünstigung von Majoraten nichts als eine Fessel,
die der Freiheit des Privatrechts angelegt ist, zu welcher entweder der politische Sinn
hinzutreten muß, oder die ihrer Auflösung entgegengeht."
„ § 307. Das Recht dieses Teils des substantiellen Standes ist auf diese Weise zwar
einerseits auf das N a t u r p r i n z i p d e r F a m i l i e gegründet, dieses aber zugleich durch
harte Aufopferungen für den politischen Zweck verkehrt, womit dieser Stand wesentlich
an die Tätigkeit für diesen Zweck angewiesen und gleichfalls in Folge hiervon ohne die
Zufälligkeit einer Wahl durch die Geburt dazu berufen und berechtigt ist. Damit
hat er die feste, substantielle Stellung zwischen der subjektiven Willkür oder Zufällig-
keit der beiden Extreme, und wie er ein Gleichnis des Moments, der fürstlichen Gewalt
in sich trägt, so teilt er auch mit dem anderen Extreme die im übrigen gleichen Bedürfnisse und gleichen Rechte und wird so zugleich Stütze des Thrones und der
Gesellschaft."
Hegel hat das Kunststück fertiggebracht, die geborenen Pairs, das Erbgut etc. etc., diese „Stütze des Throns und der Gesellschaft", aus der absoluten Idee entwickelt.
Das Tiefere bei Hegel liegt darin, daß er die Trennung der bürgerlichen
Gesellschaft und der politischen als einen Widerspruch empfindet. Aber das
Falsche ist, daß er sich mit dem Schein dieser Auflösung begnügt und ihn
für die Sache selbst ausgibt, wogegen die von ihm verachteten „sogenannten
Theorien" die „Trennung" der bürgerlichen und politischen Stände fordern,
und mit Recht, denn sie sprechen eine Konsequenz der modernen Gesellschaft aus, indem hier das politisch-ständische Element eben nichts anders ist
als der faktische Ausdruck des . wirklichen Verhältnisses von Staat und bürgerlicher Gesellschaft, ihre Trennung.
Hegel hat die Sache, worum es sich hier handelt, nicht bei ihrem bekannten Namen genannt. Es ist die Streitfrage zwischen repräsentativer und
ständischer Verfassung. Die repräsentative Verfassung ist ein großer Fortschritt, weil sie der offene, unverfälschte, konsequente Ausdruck des modernen
Staatszustandes ist. Sie ist der unverhohlene Widerspruch.
Ehe wir auf die Sache selbst eingehen, werfen wir npch einmal einen
Blick auf die Hegeische Darstellung.
„In dem ständischen Element der gesetzgebenden Gewalt kommt der Privatstand
zu einer politischen Bedeutung."
Früher (§ 301 Anmerkung) hieß es:
„Die e i g e n t ü m l i c h e Begriffsbestimmung der S t ä n d e ist deshalb darin zu
suchen, daß in ihnen . . . die eigene Einsicht und der eigene Wille der Sphäre, die in
dieser Darstellung b ü r g e r l i c h e G e s e l l s c h a f t genannt worden ist, in Beziehung
auf den Staat zur Existenz k o m m t . "
Fassen wir diese Bestimmung zusammen, so folgt: „Die bürgerliche Gesellschaft ist der Privatstand", oder der Privatstand ist der unmittelbare, wesentliche, konkrete Stand der bürgerlichen Gesellschaft. Erst in.dem ständischen Element der gesetzgebenden Gewalt erhält sie „politische Bedeutung
und Wirksamkeit". Es ist dies etwas Neues, was zu ihr hinzukommt, eine
besondere Funktion, denn eben ihr Charakter als Privatstand drückt ihren
Gegensatz zur politischen Bedeutsamkeit und Wirksamkeit, die Privation des
politischen Charakters aus, drückt aus, daß die bürgerliche Gesellschaft an
und für sich ohne politische Bedeutung und Wirksamkeit ist. Der Privat-
stand ist der Stand der bürgerlichen Gesellschaft, oder die bürgerliche Gesellschaft ist der Privatstand. Hegel schließt daher auch konsequent den
„allgemeinen Stand" von dem „ständischen Element der gesetzgebenden
Gewalt" aus.
„Der allgemeine, näher dem Dienst der Regierung sich widmende Stand hat unmittelbar in seiner Bestimmung, das Allgemeine zum Zweck seiner wesentlichen
Tätigkeit zu haben."
Die bürgerliche Gesellschaft oder der Privatstand hat dies nicht zu seiner
Bestimmung; seine wesentliche Tätigkeit hat nicht die Bestimmung, das
Allgemeine zum Zweck zu haben, oder seine wesentliche Tätigkeit ist keine
Bestimmung des Allgemeinen, feine allgemeine Bestimmung. Der Privatstand ist der Stand der bürgerlichen Gesellschaft gegen den Staat. Der Stand
der bürgerlichen Gesellschaft ist fein politischer Stand.
Indem Hegel die bürgerliche Gesellschaft als Privatstand bezeichnet,
hat er die Ständeunterschiede der bürgerlichen Gesellschaft für nichtpolitische Unterschiede erklärt, hat er das bürgerliche Leben und das politische
für heterogen, sogar für Gegensätze erklärt. Wie fährt er nun fort?
„Derselbe kann nun dabei weder als bloße ungeschiedene Masse noch als eine in
ihre Atome aufgelöste Menge erscheinen, sondern als das, was er bereits ist, nämlich
unterschieden in den auf das substantielle Verhältnis und in den auf die besonderen
Bedürfnisse und die sie vermittelnde Arbeit sich gründenden Stand (§ 201 ff.). Nur
so knüpft sich in dieser Rücksicht wahrhaft das im Staate wirkliche Besondere an das
Allgemeine an."
Als eine „bloße ungeschiedene Masse" kann die bürgerliche Gesellschaft
(der Privatstand) in ihrer gesetzgeberisch-ständischen Tätigkeit allerdings
nicht erscheinen, weil die „bloße ungeschiedene Masse" nür in der „Vorstellung", der „Phantasie", nicht aber in der Wirklichkeit existiert. Hier gibt
es nur größere und kleinere zufällige Massen (Städte, Flecken etc.). Diese
Massen oder diese Masse erscheint nicht nur, sondern ist überall realiter
„eine in ihre Atome aufgelöste Menge", und als diese Atomistik muß sie in
ihrer politisch-ständischen Tätigkeit erscheinen und auftreten. „Als das, was
er bereits ist", kann der Privatstand, die bürgerliche Gesellschaft, nicht hier
erscheinen. Denn was ist er bereits? Privatstand, d.h. Gegensatz und
Trennung vom Staat. Um zur „politischen Bedeutung und Wirksamkeit"
zu kommen, muß er sich vielmehr aufgeben als das, was er bereits ist, als
Privatstand. Dadurch erhält er eben erst seine „politische Bedeutung und
Wirksamkeit". Dieser politische Akt ist eine völlige Transsubstantiation. In
ihm muß sich die bürgerliche Gesellschaft völlig von sich als bürgerlicher
Gesellschaft, als Privatstand lossagen, eine Partie seines Wesens geltend
machen, die mit der wirklichen bürgerlichen Existenz seines Wesens nicht
nur keine Gemeinschaft hat, sondern ihr direkt gegenübersteht.
Am Einzelnen erscheint hier, was das allgemeine Gesetz ist. Bürgerliche
Gesellschaft und Staat sind getrennt. Also ist auch der Staatsbürger und der
Bürger, das Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft, getrennt. Er muß also
eine wesentliche Diremption1 mit sich selbst vornehmen. Als wirklichen Bürger
findet er sich in einer doppelten Organisation, der bürokratischen - die ist
eine äußere formelle Bestimmung des jenseitigen Staats, der Regierungsgewalt, die ihn und seine selbständige Wirklichkeit nicht tangiert - , der
sozialen, der Organisation der bürgerlichen Gesellschaft. Aber in dieser steht
er als Privatmann außer dem Staat; die tangiert den politischen Staat als
solchen nicht. Die erste ist eine Staatsorganisation, zu der er immer die
Materie abgibt; Die zweite ist eine bürgerliche Organisation, deren Materie
nicht der Staat ist. In der ersten verhält sich der Staat als formeller Gegensatz
zu ihm, in der zweiten verhält er sich selbst als materieller Gegensatz zum
Staat. Um also als wirklicher Staatsbürger sich zu verhalten, politische Bedeutsamkeit und Wirksamkeit zu erhalten, muß er aus seiner bürgerlichen
Wirklichkeit heraustreten, von ihr abstrahieren, von dieser ganzen Organisation in seine Individualität sich zurückziehn; denn die einzige Existenz,
die er für sein Staatsbürgertum findet, ist seine pure, blanke Individualität,
denn die Existenz des Staats als Regierung ist ohne ihn fertig, und seine
Existenz in der bürgerlichen Gesellschaft ist ohne den Staat fertig. Nur im
Widerspruch mit diesen einzig vorhandenen Gemeinschaften, nur als Individuum kann er Staatsbürger sein. Seine Existenz als Staatsbürger ist eine
Existenz, die außer seinen gemeinschaftlichen Existenzen liegt, die also rein
individuell ist. Die „gesetzgebende Gewalt" als „Gewalt" ist ja erst die
Organisation, der Gemeinkörper, den sie erhalten soll. Vor der „gesetzgebenden Gewalt" existiert die bürgerliche Gesellschaft, der Privatstand nicht als
Stäatsorganisation, und damit er als-solche zur Existenz komme, muß seine
wirkliche Organisation, das wirkliche bürgerliche Leben, als nicht vorhanden
gesetzt werden, denn das ständische Element der gesetzgebenden Gewalt
hat eben die Bestimmung, den Privatstand, die bürgerliche Gesellschaft, als
nicht vorhanden zu setzen. Die Trennung der bürgerlichen Gesellschaft und
des politischen Staates erscheint nötwendig als eine Trennung des politischen
Bürgers, des Staatsbürgers, Von der bürgerlichen Gesellschaft, von seiner
eignen wirklichen, empirischen Wirklichkeit, denn als Staatsidealist ist er
ein ganz anderes, von seiner Wirklichkeit verschiedenes, unterschiedenes,
1
Trennung
entgegengesetztes Wesen. Die bürgerliche Gesellschaft bewerkstelligt hier
innerhalb ihrer selbst das Verhältnis des Staats und der bürgerlichen Gesellschaft, welches andrerseits schon als Bürokratie existiert. In dem ständischen
Element wird das Allgemeine wirklich für sich, was es an sich ist, nämlich
Gegensatz zum Besondern. Der Bürger muß seinen Stand, die bürgerliche
Gesellschaft, den Privatstand, von sich abtun, um zu politischer Bedeutung
und Wirksamkeit zu kommen; denn eben dieser Stand steht zwischen dem
Individuum und dem politischen Staat.
Wenn Hegel schon das Ganze der bürgerlichen Gesellschaft als Privatstand dem politischen Staat entgegenstellt, so versteht es sich von selbst, daß
die Unterscheidungen innerhalb des Privatstandes, die verschiedenen bürgerlichen Stände, nur eine Privatbedeutung in bezug auf den Staat, keine politische Bedeutung haben. Denn die Verschiedenen bürgerlichen Stände sind
bloß die Verwirklichung, die Existenz des Prinzips, des Privatstandes als des
Prinzips der bürgerlichen Gesellschaft. Wenn aber das Prinzip, aufgegeben
werden muß, so versteht es sich von selbst, daß noch mehr die Diremptionen
innerhalb dieses Prinzips nicht vorhanden sind für den politischen Staat.
„Nur so", sehließt Hegel den Paragraphen, „knüpft sich iii dieser Rücksicht das
im Staate wirkliche Desondere an das Allgemeine an."
Aber Hegel verwechselt hier den Staat als das Ganze des Daseins eines
Volkes mit dem politischen Staat. Jenes Besondere ist nicht das,, Besondere
im", sondern vielmehr „außer dem Staate", nämlich dem politischen Staate.
Es ist nicht nur nicht „das im Staate wirkliche Besondere", sondern auch die
„Unwirkfichkeit des Staates". Hegel will entwickeln, daß die Stände der
bürgerlichen Gesellschaft die politischen Stände sind, und um dies zu beweisen, unterstellt er, daß die Stände der bürgerlichen Gesellschaft die „Besonderung des politischen Staates", d. i., daß die bürgerliche Gesellschaft
die politische Gesellschaft ist. Der Ausdruck: „Das Besondere im Staate"
kann hier nur Sinn haben als: „Die Besonderung des Staates". Hegel wählt
aus einem bösen.Gewissen den unbestimmten Ausdruck. Er selbst hat nicht
nur das Gegenteil entwickelt, er bestätigt es noch selbst in diesem Paragraphen, indem er die bürgerliche Gesellschaft als „Privatstand" bezeichnet.
Sehr vorsichtig ist auch die Bestimmung, daß sich das Besondere an das Allgemeine „anknüpft". Anknüpfen kann man die heterogensten Dinge. Es
handelt sich hier aber nicht um einen allmählichen Übergang, sondern um
eine Transsubstantiation, und es nützt nichts, diese Kluft, die übersprungen
und durch den Sprung selbst demonstriert wird, nicht sehn zu wollen.
Hegel sagt in der Anmerkung:
„Dies geht gegen eine andere gangbare Vorstellung" etc. Wir haben eben
gezeigt, wie diese gangbare Vorstellung konsequent, notwendig, eine „notwendige Vorstellung der jetzigen Volksentwicklung" und wie Hegels Vorstellung,
obgleich sie auch in gewissen Kreisen sehr gangbar, nichtsdestoweniger eine
Unwahrheit ist. Auf die gangbare Vorstellung zurückkommend, sagt Hegel:
„Diese atomistische, abstrakte Ansicht verschwindet schon in der Familie" etc. etc. „Der Staat aber ist" etc. Abstrakt ist diese Ansicht allerdings,
aber sie ist die „Abstraktion" des politischen Staates, wie ihn Hegel selbst
entwickelt. Atomistisch ist sie auch, aber sie ist die Atomistik der Gesellschaft selbst. Die „Ansicht" kann nicht konkret sein, wenn der Gegenstand
der Ansicht „abstrakt" ist. Die Atomistik, in die sich die bürgerliche Gesellschaft in ihrem politischen Akt stürzt, geht notwendig daraus hervor, daß das
Gemeinwesen, das kommunistische Wesen, worin der Einzelne existiert,
die bürgerliche Gesellschaft getrennt vom Staat oder der politische Staat
eine Abstraktion von ihr ist.
Diese atomistische Ansicht, obschon [sie] bereits in der Familie und
vielleicht (??) auch in der bürgerlichen Gesellschaft verschwindet, kehrt im
politischen Staate wieder, eben weil er eine Abstraktion von der Familie und
der bürgerlichen Gesellschaft ist. Ebenso verhält es sich umgekehrt. Dadurch, daß Hegel das Befremdliche dieser Erscheinung ausspricht, hat er die
Entfremdung nicht gehoben.
„Die Vorstellung", heißt es weiter, „welche die in jenen Kreisen schon v o r h a n d e n e n G e m e i n w e s e n , wo sie ins Politische, d. i. in den Standpunkt der höchsten
konkreten Allgemeinheit eintreten, wieder in eine Menge von Individuen auflöst, h ä l t
eben damit das bürgerliche und das politische Leben voneinander getrennt und stellt
dieses sozusagen in die Luft, da seine Basis nur die abstrakte Einzelnheit der Willkür
und Meinung, somit das Zufällige, nicht eine an und für sich feste und berechtigte
Grundlage sein würde."
Jene Vorstellung hält nicht das bürgerliche und politische Leben getrennt; sie ist bloß die Vorstellung einer wirklich vorhandenen Trennung.
Jene Vorstellung stellt nicht das politische Leben in die Luft, sondern
das politische Leben ist das Luftleben, die ätherische Region der bürgerlichen Gesellschaft.
Wir betrachten nun das ständische und das repräsentative System.
Es ist ein Fortschritt der Geschichte, der die politischen Stände in soziale
Stände verwandelt hat, so daß, wie die Christen gleich im Himmel, ungleich
auf der Erde, so die einzelnen Volksglieder gleich in dem Himmel ihrer politischen Welt, ungleich in dem irdischen Dasein der Sozietät sind. Die eigentliche Verwandlung der politischen Stände in bürgerliche ging vor sich in der
absoluten Monarchie. Die Bürokratie machte die Idee der Einheit gegen die
19 Marx/Engels, Werke, Bd. 1
verschiedenen Staaten im Staate geltend. Indessen blieb selbst neben der
Bürokratie der absoluten Regierungsgewalt der soziale Unterschied der Stände
ein politischer, ein politischer innerhalb und neben der Bürokratie der absoluten
Regierungsgewalt. Erst die französische Revolution vollendete die Verwandlung der politischen Stände in soziale oder machte die Ständeunterschiede der
bürgerlichen Gesellschaft zu nur sozialen Unterschieden, zu Unterschieden
des Privatlebens, welche in dem politischen Leben ohne Bedeutung sind. Die
Trennung des politischen Lebens und der bürgerlichen Gesellschaft war damit vollendet!
Die Stände der bürgerlichen Gesellschaft verwandelten sich ebenfalls damit: Die bürgerliche Gesellschaft war durch ihre Trennung von der politischen
eine aridere geworden. Stand im mittelaltrigen Sinn blieb nur mehr innerhalb
der Bürokratie selbst, wo die bürgerliche und die politische Stellung unmittelbar identisch sind. Demgegenüber steht die bürgerliche Gesellschaft als
Privatstand. Der Ständeunterschied ist hier nicht mehr ein Unterschied des
Bedürfnisses und der Arbeit als selbständiger Körper. Der einzige allgemeine,
oberflächliche und formelle Unterschied ist hier nur noch der von Stadt und
Land. Innerhalb der Gesellschaft selbst aber bildete sich der Unterschied aus
in beweglichen, nicht festen Kreisen, deren Prinzip die Willkür ist. Geld und
Bildung sind die Hauptkriterien. Doch wir haben dies nicht hier, sondern in
der Kritik von Hegels Darstellung der bürgerlichen Gesellschaft zu entwickeln. Genug. Der Stand der bürgerlichen Gesellschaft hat weder das
Bedürfnis, also ein natürliches Moment, noch die Politik zu seinem Prinzip.
Eis ist eine Teilung von Massen, die sich flüchtig bilden, deren Bildung selbst
eine willkürliche und keine Organisation ist.
Das Charakteristische ist nur, daß die Besitzlosigkeit und der Stand der
unmittelbaren Arbeit, der konkreten Arbeit, weniger einen Stand der bürgerlichen Gesellschaft als den Boden bilden, auf dem ihre Kreise ruhen und sich
bewegen. Der eigentliche Stand, wo politische und bürgerliche Stellung zusammenfallen, ist nur der der Mitglieder der Regierungsgewalt. Der jetzige
Stand der Sozietät zeigt schon dadurch seinen Unterschied von dem ehemaligen Stand der bürgerlichen Gesellschaft, daß er nicht wie ehemals als ein
Gemeinschaftliches, als ein Gemeinwesen das Individuum hält, sondern daß
es teils Zufall, teils Arbeit etc. des Individuums ist, ob es sich in seinem Stande
hält oder nicht, ein Stand, der selbst wieder nur eine äußerliche Bestimmung
des Individuums, denn weder ist er seiner Arbeit inhärent, noch verhält er
sich zu ihm als ein nach festen Gesetzen organisiertes und in festen Beziehungen zu ihm stehendes objektives Gemeinwesen. Er steht vielmehr in gar keiner
wirklichen Beziehung zu seinem substantiellen Tun, zu seinem wirklichen
Stand. Der Arzt bildet keinen besonderen Stand in der bürgerlichen Gesellschaft. Der eine Kaufmann gehört einem andern Stand an als der andere, einer
andren sozialen Stellung. Wie nämlich die bürgerliche Gesellschaft sich von
der politischen, so hat sich die bürgerliche Gesellschaft innerhalb ihrer selbst
getrennt in den Stand und die soziale Stellung, so manche Relationen auch
zwischen beiden stattfinden. Das Prinzip des bürgerlichen Standes oder der
bürgerlichen Gesellschaft ist der Genuß und die Fähigkeit zu genießen. In
seiner politischen Bedeutung macht sich das Glied der bürgerlichen Gesellschaft los von seinem Stande, seiner wirklichen Privatstellung; hier ist es
allein, daß es als Mensch zur Bedeutung kommt oder daß seine Bestimmung
als Staatsglied, als soziales Wesen, als seine menschliche Bestimmung erscheint.
Denn alle seine anderen Bestimmungen in der bürgerlichen Gesellschaft
erscheinen als dem Menschen, dem Individuum unwesentlich, als äußere Bestimmungen, die zwar notwendig sind zu seiner Existenz im Ganzen,
d.h. als ein Band mit dem Ganzen, ein Band, das es aber ebensosehr wieder
fortwerfen kann. (Die jetzige bürgerliche Gesellschaft ist das durchgeführte
Prinzip des Individualismus; die individuelle Existenz ist der letzte Zweck;
Tätigkeit, Arbeit, Inhalt etc. sind nur Mittel.)
Die ständische Verfassung, wo sie nicht eine Tradition des Mittelalters ist,
ist der Versuch, teils in der politischen Sphäre selbst den Menschen in die
Beschränktheit seiner Privatsphäre zurückzustürzen, seine Besonderheit zu
seinem substantiellen Bewußtsein zu machen und dadurch, daß politisch der
Ständeunterschied existiert, ihn auch wieder zu einem sozialen zu machen.
Der wirkliche Mensch ist der Privatmensch der jetzigen Staatsverfassung.
Der Stand hat überhaupt die Bedeutung, daß der Unterschied, die Trennung,
das Bestehn des Einzelnen ist. Die Weise seines Lebens, Tätigkeit etc., statt
ihn zu einem Glied, zu einer Funktion der Gesellschaft zu machen, macht
ihn zu einer Ausnahme von der Gesellschaft, ist sein Privilegium. Daß dieser
Unterschied nicht nur ein individueller ist, sondern sich als Gemeinwesen, Stand,
Korporation befestigt, hebt nicht nur nicht seine exklusive Natur auf, sondern
ist vielmehr nur ihr Ausdruck. Statt daß die einzelne Funktion Funktion
der Sozietät wäre, macht sie vielmehr die einzelne Funktion zu einer Sozietät für sich.
Nicht nur basiert der Stand auf der Trennung der Sozietät als dem herrschenden Gesetz, er trennt den Menschen von seinem allgemeinen Wesen, er
macht ihn zu einem Tier, das unmittelbar mit seiner Bestimmtheit zusammenfällt. Das Mittelalter ist die Tiergeschichte der Menschheit, ihre Zoologie.
Die moderne Zeit, die Zivilisation, begeht den umgekehrten Fehler. Sie
trennt das gegenständliche Wesen des Menschen als ein nur äußerliches, mate-
rielles von ihm. Sie nimmt nicht den Inhalt des Menschen als seine wahre
Wirklichkeit.
Das Weitere hierüber ist in dem Abschnitt: „bürgerliche Gesellschaft" zu
entwickeln. Wir kommen zu
i, § 304. Den in den früheren Sphären bereits vorhandenen Unterschied der Stände
enthält das politisch-ständische Element zugleich in seiner e i g e n e n Bedeutung."
Wir haben bereits gezeigt, daß der „in den früheren Sphären bereits vorhandene Unterschied der Stände" gar keine Bedeutung für die politische
Sphäre oder nur die Bedeutung eines privaten, also eines nicht politischen
Unterschiedes hat. Allein er hat nach Hegel hier auch nicht seine „bereits
vorhandene Bedeutung" (die Bedeutung, die er in der bürgerlichen Gesellschaft hat), sondern das „politisch-ständische Element" affirmiert, indem es
ihn aufnimmt, sein Wesen, und, in die politische Sphäre eingetaucht, erhält
er eine „eigene", diesem Element und nicht ihm angehörige Bedeutung.
Als noch die Gliederung der bürgerlichen Gesellschaft politisch und der
politische Staat die bürgerliche Gesellschaft war, war diese Trennung, die
Verdopplung der Bedeutung der Stände, nicht vorhanden. Sie bedeuteten nicht
dieses in der bürgerlichen und ein anderes in der politischen Welt. Sie erhielten keine Bedeutung in der politischen Welt, sondern sie bedeuteten sich
selbst. Der Dualismus der bürgerlichen Gesellschaft und des politischen
Staates, den die ständische Verfassung durch eine Reminiszenz zu lösen meint,
tritt in ihr selbst so hervor, daß der Unterschied der Stände (das Unterschiedensein der bürgerlichen Gesellschaft in sich) in der politischen Sphäre
eine andre Bedeutung erhält als in der bürgerlichen. Es ist hier anscheinend
Identität, dasselbe Subjekt, aber in einer wesentlich verschiedenen Bestimmung,
also in Wahrheit ein doppeltes Subjekt, und diese illusorische Identität (sie ist
schon deshalb illusorisch, weil zwar das wirkliche Subjekt, der Mensch, in den
verschiedenen Bestimmungen seines Wesens sich selbst gleichbleibt, seine
Identität nicht verliert; aber hier ist nicht der Mensch Subjekt, sondern der
Mensch ist mit einem Prädikat - dem Stand - identifiziert, und zugleich wird
behauptet, daß er in dieser bestimmten Bestimmtheit und in einer andern Bestimmtheit, daß er als dies bestimmte ausschließende Beschränkte ein anderes
als dieses Beschränkte ist) wird dadurch künstlich durch die Reflexion aufrechterhalten, daß einmal der bürgerliche Ständeunterschied als solcher eine
Bestimmung erhält, die ihm erst aus der politischen Sphäre erwachsen soll,
das andere Mal umgekehrt der Ständeunterschied in der politischen Sphäre
eine Bestimmung erhält, die nicht aus der politischen Sphäre, sondern aus
dem Subjekt der bürgerlichen hervorgeht. Um das eine beschränkte Subjekt,
den bestimmten Stand (den Ständeunterschied) als das wesentliche Subjekt
beider Prädikate darzustellen oder um die Identität beider Prädikate zu
beweisen, werden sie beide mystifiziert und in illusorischer unbestimmter
Doppelgestalt entwickelt.
Es wird hier dasselbe Subjekt in verschiedenen Bedeutungen genommen,
aber die Bedeutung ist nicht die Selbstbestimmung, sondern eine allegorische,
untergeschobene Bestimmung. Man könnte für dieselbe Bedeutung ein andres
konkretes Subjekt, man könnte für dasselbe Subjekt eine andere Bedeutung
nehmen. Die Bedeutung, die der bürgerliche Ständeunterschied in der politischen Sphäre erhält, geht nicht aus ihm, sondern aus der politischen Sphäre
hervor, und er könnte hier auch eine andere Bedeutung haben, was denn auch
historisch der Fall war. Ebenso umgekehrt. Es ist dies die unkritische, die
mystische Weise, eine alte Weltanschauung im Sinne einer neuen zu inter~
pretieren, wodurch sie nichts als ein unglückliches Zwitterding wird, worin
die Gestalt die Bedeutung und die Bedeutung die Gestalt belügt und weder
die Gestalt zu ihrer Bedeutung und zur wirklichen Gestalt noch die Bedeutung zur Gestalt und zur wirklichen Bedeutung wird. Diese Unkritik,
dieser Mystizismus ist sowohl das Rätsel der modernen Verfassungen (xax1
e^oy V^1 der ständischen) wie auch das Mysterium der Hegeischen Philosophie,
vorzugsweise der Rechts- und Religionsphilosophie.
Am besten befreit man sich von dieser Illusion, wenn man die Bedeutung
als das nimmt, was sie ist, als die eigentliche Bestimmung, sie als solche zum
Subjekt macht und nun vergleicht, ob das ihr angeblich zugehörige Subjekt ihr
wirkliches Prädikat ist, ob es ihr Wesen und wahre Verwirklichung darstellt.
„Seine" (des politisch-ständischen Elements) „zunächst abstrakte Stellung, nämlich des Extrems der empirischen Allgemeinheit gegen das fürstliche oder monarchische
Prinzip überhaupt - in der nur die Möglichkeit der Übereinstimmung und damit ebenso
die Möglichkeit feindlicher Entgegensetzung liegt - , diese abstrakte Stellung wird nur
dadurch zum vernünftigen Verhältnisse (zum Schlüsse, vergleiche Anmerkung zu § 302),
daß ihre Vermittelung zur Existenz kommt."
Wir haben schon gesehn, daß die Stände gemeinschaftlich mit der Regierungsgewalt die Mitte zwischen dem monarchischen Prinzip und dem Volk
bilden, zwischen dem Staatswillen, wie er als ein empirischer Wille und wie
er als viele empirische Willen existiert, zwischen der empirischen Einzelnheit und
der empirischen Allgemeinheit. Hegel mußte, wie er den Willen der bürgerlichen Gesellschaft als empirische Allgemeinheit, so den fürstlichen als empirische Einzelnheit bestimmen; aber er spricht den Gegensatz nicht in seiner
ganzen Schärfe aus.
1
hauptsächlich
Hegel fährt fort:
„Wie von Seiten der fürstlichen Gewalt die Regierungsgewalt (§ 300) schon diese
Bestimmung hat, so muß auch von der Seite der Stände aus ein Moment derselben
nach der Bestimmung gekehrt sein, wesentlich als das Moment der Mitte zu existieren."
Allein die wahren Gegensätze sind Fürst und bürgerliche Gesellschaft.
Und wir haben schon gesehn, dieselbe Bedeutung, welche die Regierungsgewalt von Seiten des Fürsten, hat das ständische Element von Seiten des
Volkes. Wie jene in einem verzweigten Kreislauf emaniert, so kondensiert sich
dieses in eine Miniaturausgabe, denn die konstitutionelle Monarchie kann
sich bloß mit dem Volk en miniature vertragen. Das ständische Element ist
ganz dieselbe Abstraktion des politischen Staates von Seiten der bürgerlichen
Gesellschaft, welche die Regierungsgewalt von seiten des Fürsten ist. Es
scheint also die Vermittelung vollständig zustande gekommen zu sein. Beide
Extreme haben von ihrer Sprödigkeit abgelassen, das Feuer ihres besondren
Wesens entgegengeschickt, und die gesetzgebende Gewalt, deren Elemente
ebensowohl die Regierungsgewalt als die Stände sind, scheint nicht erst die
Vermittelung zur Existenz kommen lassen zu müssen, sondern selbst schon die
zur Existenz gekommene Vermittelung zu sein. Auch hat Hegel schon dies
ständische Element gemeinschaftlich mit der Regierungsgewalt als die Mitte
zwischen Volk und Fürst (ebenso das ständische Element als die Mitte zwischen bürgerlicher Gesellschaft und Regierung etc.) bezeichnet. Das vernünftige Verhältnis, der Schluß, scheint also fertig zu sein. Die gesetzgebende
Gewalt, die Mitte, ist ein mixtum compositum der beiden Extreme, des fürstlichen Prinzips und der bürgerlichen Gesellschaft, der empirischen Einzelnheit und der empirischen Allgemeinheit, des Subjekts und des Prädikats.
Hegel faßt überhaupt den Schluß als Mitte, als ein mixtum compositum. Man
kann sagen, daß in seiner Entwicklung des Vernunftschlusses die ganze
Transzendenz und der mystische Dualismus seines Systems zur Erscheinung
kommt. Die Mitte ist das hölzerne Eisen, der vertuschte Gegensatz zwischen
Allgemeinheit und Einzelnheit.
Zunächst bemerken wir über diese ganze Entwicklung, daß die „Vermittelung", die Hegel hier zustande bringen will, keine Forderung ist, die er aus
dem Wesen der gesetzgebenden Gewalt, aus ihrer eignen Bestimmung, sondern
vielmehr aus Rücksicht auf eine außer ihrer wesentlichen Bestimmung liegende
Existenz herleitet. Es ist eine Konstruktion der Rücksicht. Die gesetzgebende
Gewalt vorzugsweise wird nur mit Rücksicht auf ein Drittes entwickelt. Es
ist daher vorzugsweise die Konstruktion ihres formellen Daseins, welche alle
Aufmerksamkeit in Anspruch nimmt. Die gesetzgebende Gewalt wird sehr
diplomatisch konstruiert. Es folgt dies aus der falschen, illusorischen j c o c t '
l^oxV 1 politischen Stellung, die die gesetzgebende Gewalt im modernen
Staat (dessen Interpret Hegel ist) hat. Es folgt daraus von selbst, daß dieser
Staat kein wahrer Staat ist, weil in ihm die staatlichen Bestimmungen, deren
eine die gesetzgebende Gewalt ist, nicht an und für sich, nicht theoretisch,
sondern praktisch betrachtet werden müssen, nicht als selbständige, sondern
als mit einem Gegensatz behaftete Mächte, nicht aus der Natur der Sache,
sondern nach den Regeln der Konvention.
Also das ständische Element sollte eigentlich „gemeinschaftlich mit der
Regierungsgewalt" die Mitte zwischen dem Willen der empirischen Einzelnheit, dem Fürsten, und dem Willen der empirischen Allgemeinheit, der bürgerlichen Gesellschaft, sein, allein in Wahrheit, realiter ist „seine Stellung"
eine „zunächst abstrakte Stellung, nämlich des Extrems der empirischen Allgemeinheit gegen das fürstliche oder monarchische Prinzip überhaupt, in der
nur die Möglichkeit der Übereinstimmung und damit ebenso die Möglichkeit
feindlicher Entgegensetzung liegt", eine, wie Hegel richtig bemerkt, „abstrakte
Stellung".
Zunächst scheint es nun, daß hier weder das „Extrem der empirischen
Allgemeinheit" noch das „fürstliche oder monarchische Prinzip", das Extrem
der empirischen Einzelnheit, sich gegenüberstehn. Denn von Seiten der bürgerlichen Gesellschaft sind die Stände, wie von Seiten des Fürsten die Regierungsgewalt deputiert. Wie das fürstliche Prinzip in der deputierten Regierungsgewalt aufhört, das Extrem der empirischen Einzelnheit zu sein, und
vielmehr in ihr den „grundlosen" Willen aufgibt, sich zu der „Endlichkeit" des
Wissens und der Verantwortlichkeit und des Denkens herabläßt, so scheint
in dem ständischen Element die bürgerliche Gesellschaft nicht mehr empirische Allgemeinheit, sondern ein sehr bestimmtes Ganzes zu sein, das ebensosehr den „Sinn und die Gesinnung des Staates und der Regierung als der
Interessen der besonderen Kreise und der Einzelnen" hat (§ 302). Die bürgerliche Gesellschaft hat in ihrer ständischen Miniaturausgabe aufgehört, die
„empirische Allgemeinheit" zu sein. Sie ist vielmehr zu einem Ausschuß,
zu einer sehr bestimmten Zahl herabgesunken, und wenn der Fürst in der
Regierungsgewalt sich empirische Allgemeinheit, so hat sich die bürgerliche
Gesellschaft in den Ständen empirische Einzelnheit oder Besonderheit gegeben. Beide sind zu einer Besonderheit geworden.
Der einzige Gegensatz, der hier noch möglich ist, scheint der zwischen
den beiden Repräsentanten der beiden Staatswillen, zwischen den beiden
1
hauptsächlichen
Emanationen, zwischen dem Regierungselement und dem ständischen Element
der gesetzgebenden Gewalt, scheint also ein Gegensatz innerhalb der gesetzgebenden Gewalt selbst zu sein. Die „gemeinschaftliche" Vermittelung scheint
auch recht geeignet, sich wechselseitig in die Haare zu fallen. In dem Regierungselement der gesetzgebenden Gewalt hat sich die empirische, unzugängliche Einzelnheit des Fürsten üerirdischt in einer Zahl beschränkter, faßbarer,
verantwortlicher Personalitäten, und in dem ständischen Element hat sich
die bürgerliche Gesellschaft verhimmlischt in eine Zahl politischer Männer.
Beide Seiten haben ihre Unfaßbarkeit verloren. Die fürstliche Gewalt das
unzugängliche, ausschließliche empirische Eins, die bürgerliche Gesellschaft
das unzugängliche, verschwimmende empirische All, die eine ihre Sprödigkeit,
die andere ihre Flüssigkeit. In dem ständischen Element einerseits, in dem
Regierungselement der gesetzgebenden Gewalt andrerseits, welche zusammen
bürgerliche Gesellschaft und Fürst vermitteln wollten, scheint also erst der
Gegensatz zu einem kampfgerechten Gegensatz, aber auch zu einem unversöhnlichen Widerspruch gekommen zu sein.
Diese „Vermittelung" hat es also auch erst recht nötig, wie Hegel richtig
entwickelt, „daß ihre Vermittelung zur Existenz kommt". Sie selbst ist vielmehr die Existenz des Widerspruches als der Vermittelung.
Daß diese Vermittelung von seiten des ständischen Elementes bewirkt werde,
scheint Hegel ohne Grund zu behaupten. Er sagt:
„Wie von Seiten der fürstlichen Gewalt die Regierungsgewalt (§ 300) schon diese
Bestimmung hat, so muß auch von der Seite der Stände aus ein Moment derselben
nach der Bestimmung gekehrt sein, wesentlich als das Moment der Mitte zu
existieren."
Allein wir haben schon gesehen, Hegel stellt hier willkürlich und inkonsequent Fürst und Stände als Extreme gegenüber. Wie von Seiten der fürstlichen
Gewalt die Regierungsgewalt, so hat von Seiten der bürgerlichen Gesellschaft
das ständische Element diese Bestimmung. Sie stehn nicht nur mit der Regierungsgewalt gemeinschaftlich zwischen Fürst u n d bürgerlicher Gesellschaft,
sie stehn auch zwischen der Regierung überhaupt und dem Volk (§302).
Sie tun von Seiten der bürgerlichen Gesellschaft mehr, als die Regierungsgewalt von seiten der fürstlichen Gewalt tut, da diese ja sogar selbst als Gegensatz dem Volke gegenübersteht. Sie hat also das Maß der Vermittelung vollgemacht. Warum also diese Esel mit noch mehr Säcken bepacken? Warum soll
denn das ständische Element überall die Eselsbrücke bilden, sogar zwischen sich
selbst und seinem Gegner? Warum ist es überall die Aufopferung selbst? Soll
es sich selbst eine Hand abhauen, damit es nicht mit beiden seinem Gegner,
dem Regierungselement der gesetzgebenden Gewalt, Widerpart halten kann?
Es kömmt noch hinzu, daß Hegel zuerst die Stände aus den Korporationen, Standesunterschieden etc. hervorgehn ließ, damit sie keine „bloße
empirische Allgemeinheit" seien, und daß er sie jetzt umgekehrt zur „bloßen
empirischen Allgemeinheit" macht, um den Standesunterschied aus ihnen
hervorgehn [zu] lassen! Wie der Fürst durch die Regierungsgewalt als ihren
Christus mit der bürgerlichen] Gesellschaft, so vermittelt sich die Gesellschaft durch die Stände als ihre Priester mit dem Fürsten.
Es scheint nun vielmehr die Rolle der Extreme, der fürstlichen Gewalt
(empirischen Einzelnheit) und der bürgerlichen Gesellschaft (empirischen Allgemeinheit) sein zu müssen, vermittelnd zwischen „ihre Vermittelungen zu
treten", um so mehr, da es „zu den wichtigsten logischen Einsichten gehört,
daß ein bestimmtes Moment, das als im Gegensatz stehend die Stellung eines
Extrems hat, es dadurch zu sein aufhört und organisches Moment ist, daß
es zugleich Mitte ist" (§ 302 Anmerkung). Die bürgerliche Gesellschaft
scheint diese Rolle nicht übernehmen zu können, da sie in der „gesetzgebenden Gewalt" als sie selbst, als Extrem keinen Sitz hat. Das andere Extrem,
das sich als solches inmitten der gesetzgebenden Gewalt befindet, das fürstliche Prinzip, scheint also den Mittler zwischen dem ständischen und dem
Regierungselement bilden zu müssen. Es scheint auch dazu qualifiziert [zu]
sein. Denn einerseits ist in ihm das Ganze des Staates, also auch die bürgerliche Gesellschaft, repräsentiert, und speziell hat es mit den Ständen die
„empirische Einzelnheit" des Willens gemein, da die empirische Allgemeinheit nur wirklich ist als empirische Einzelnheit. Es steht ferner der bürgerlichen Gesellschaft nicht nur als Formel, als Staatsbewußtsein gegenüber wie
die Regierungsgewalt. Es ist selbst Staat, es hat das materielle, natürliche
Moment mit der bürgerlichen Gesellschaft gemein. Andrerseits ist der Fürst
die Spitze und der Repräsentant der Regierungsgewalt. (Hegel, der alles
umkehrt, macht die Regierungsgewalt zum Repräsentanten, zur Emanation
des Fürsten. Weil er bei der Idee, deren Dasein der Fürst sein soll, nicht die
wirkliche Idee der Regierungsgewalt, nicht die Regierungsgewalt als Idee,
sondern das Subjekt der absoluten Idee vor Augen hat, die im Fürsten
körperlich existiert, so wird die Regierungsgewalt zu einer mystischen
Fortsetzung der in seinem Körper - dem fürstlichen Körper - existierenden
Seele.)
Der Fürst mußte also in der gesetzgebenden Gewalt die Mitte zwischen
der Regierungsgewalt und dem ständischen Element bilden, allein die Regierungsgewalt ist ja die Mitte zwischen ihm und der ständischen und die
ständische zwischen ihm und der bürgerlichen Gesellschaft. Wie sollte er das
untereinander vermitteln, dessen er zu seiner Mitte nötig hat, um kein ein-
seitiges Extrem zu sein? Hier tritt das ganze Ungereimte dieser Extreme, die
abwechselnd bald die Rolle des Extrems, bald die Mitte spielen, hervor. Es
sind Janusköpfe, die sich bald von vorn, bald von hinten zeigen und vorn einen
anderen Charakter haben als hinten. Das, was zuerst als Mitte zwischen zwei
Extremen bestimmt, tritt nun selbst als Extrem auf, und das eine der zwei
Extreme, das durch es mit dem anderen vermittelt war, tritt nun wieder als
Mitte (weil in seiner Unterscheidung von dem anderen Extrem) zwischen sein
Extrem und seine Mitte. Es ist eine wechselseitige Bekomplimentierung. Wie
wenn ein Mann zwischen zwei Streitende tritt und nun wieder einer der
Streitenden zwischen den vermittelnden Mann und den Streitenden. Es ist
die Geschichte von dem Mann und der Frau, die sich stritten, und von dem
Arzt, der als Vermittler zwischen sie treten wollte, wo nun wieder die Frau
den Arzt mit ihrem Mann und der Mann seine Frau mit dem Arzt vermitteln
mußte. Es ist wie der Löwe im „Sommernachtstraum", der ausruft: „Ich bin
Löwe, und ich bin nicht Löwe, sondern Schnock."[a5:1 So ist hier jedes Extrem
bald der Löwe des Gegensatzes, bald der Schnock der Vermittelung. Wenn
das eine Extrem ruft: „Jetzt bin ich Mitte", so dürfen es die beiden anderen
nicht anrühren, sondern nur nach dem andren schlagen, das eben Extrem
war. Man sieht, es ist eine Gesellschaft, die kampflustig im Herzen ist, aber
zu sehr die blauen Flecke fürchtet, um sich wirklich zu prügeln, und die
beiden, die sich schlagen wollen, richten es so ein, daß der Dritte, der dazwischentritt, die Prügel bekommen soll, aber nun tritt wieder einer der beiden
als der Dritte auf, und so kommen sie vor lauter Behutsamkeit zu keiner
Entscheidung. Dieses System der Vermittelung kommt auch so zustande, daß
derselbe Mann, der seinen Gegner prügeln will, ihn nach den andren Seiten
gegen andre Gegner vor Prügeln beschützen muß und so in dieser doppelten
Beschäftigung nicht zur Ausführung seines Geschäftes kommt. Es ist merkwürdig, daß Hegel, der diese Absurdität der Vermittelung auf ihren abstrakten,
logischen, daher unverfälschten, untransigierbaren Ausdruck reduziert, sie
zugleich als spekulatives Mysterium der Logik, als das vernünftige Verhältnis,
als den Vernunftschluß bezeichnet. Wirkliche Extreme können nicht miteinander vermittelt werden, eben weil sie wirkliche Extreme sind. Aber sie
bedürfen auch keiner Vermittelung, denn sie sind entgegengesetzten Wesens.
Sie haben nichts miteinander gemein, sie verlangen einander nicht, sie ergänzen einander nicht. Das eine hat nicht in seinem eigenen Schoß die Sehnsucht, das Bedürfnis, die Antizipation des andern. (Wenn aber Hegel Allgemeinheit und Einzelnheit, die abstrakten Momente des Schlusses, als wirkliche Gegensätze behandelt, so ist das eben der Grunddualismus seiner Logik.
Das Weitere hierüber gehört in die Kritik der Hegeischen Logik.)
Dem scheint entgegenzustehn: Les extremes se touchent.1 Nordpol und
Südpol ziehen sich an; weibliches Geschlecht und männliches ziehen sich
ebenfalls an, und erst durch die Vereinigung ihrer extremen Unterschiede
wird der Mensch.
Andrerseits. Jedes Extrem ist sein andres Extrem. Der abstrakte Spiritualismus ist abstrakter Materialismus; der abstrakte Materialismus ist der abstrakte
Spiritualismus der Materie.
Was das erste betrifft, so sind Nordpol und Südpol beide Pol; ihr Wesen
ist identisch; ebenso sind weibliches und männliches Geschlecht beide eine
Gattung, ein Wesen, menschliches Wesen. Nord und Süd sind entgegengesetzte Bestimmungen eines Wesens; der Unterschied eines Wesens auf seiner
höchsten Entwicklung. Sie sind das differenzierte Wesen. Sie sind, was sie sind,
nur als eine ünterschiedne Bestimmung, und zwar als diese unterschiedne Bestimmung des Wesens. Wahre wirkliche Extreme wären Pol und Nichtpol,
menschliches und unmenschliches Geschlecht. Der Unterschied ist hier ein
Unterschied der Existenz, dort ein Unterschied der Wesen, zweier Wesen. Was
das zweite betrifft, so liegt hier die Hauptbestimmung darin, daß ein Begriff
(Dasein etc.) abstrakt gefaßt wird, daß er nicht als selbständig, sondern als
eine Abstraktion von einem anderen und nur als diese Abstraktion Bedeutung
hat; also z. B. der Geist nur die Abstraktion von der Materie ist. Es versteht sich dann von selbst, daß er eben, weil diese Form seinen Inhalt ausmachen soll, vielmehr das abstrakte Gegenteil, der Gegenstand, von dem er
abstrahiert, in seiner Abstraktion, also hier der abstrakte Materialismus, sein
reales Wesen ist. Wäre die Differenz innerhalb der Existenz eines Wesens nicht
verwechselt worden teils mit der verselbständigten Abstraktion (versteht sich,
nicht von einem andern, sondern eigentlich von sich selbst), teils mit dem
wirklichen Gegensatz sich wechselseitig ausschließender Wesen, so wäre ein
dreifacher Irrtum verhindert worden: 1. daß, weil nur das Extrem wahr sei,
jede Abstraktion und Einseitigkeit sich für wahr hält, wodurch ein Prinzip
statt als Totalität in sich selbst nur als Abstraktion von einem andern erscheint; 2. daß die Entschiedenheit wirklicher Gegensätze, ihre Bildung zu
Extremen, die nichts anderes ist als sowohl ihre Selbsterkenntnis wie ihre
Entzündung zur Entscheidung des Kampfes, als etwas möglicherweise zu
Verhinderndes oder Schädliches gedacht wird; 3. daß man ihre Vermittelung
versucht. Denn so sehr beide Extreme in ihrer Existenz als wirklich auftreten und als Extreme, so liegt es doch nur in dem Wesen des einen, Extrem
zu sein, und es hat für das andre nicht die Bedeutung der wahren Wirklichkeit.
1
Gegensätze ziehen sich an.
Das eine greift über das andre über. Die Stellung ist keine gleiche. Z. B.
Christentum oder Religion überhaupt und Philosophie sind Extreme. Aber
in Wahrheit bildet die Religion zur Philosophie keinen wahren Gegensatz.
Denn die Philosophie begreift die Religion in ihrer illusorischen Wirklichkeit.
Sie ist also für die Philosophie - sofern sie eine Wirklichkeit sein will in sich selbst aufgelöst. Es gibt keinen wirklichen Dualismus des Wesens.
Später mehr hierüber.
Es fragt sich, wie kommt Hegel überhaupt zu dem Bedürfnis einer
neuen Vermittelung von Seiten des ständischen Elements? Oder teilt Hegel mit
„das häufige, aber höchst gefährliche Vorurteil, Stände hauptsächlich im Gesichtspunkte des Gegensatzes gegen die Regierung, als ob dies ihre wesentliche Stellung wäre,
vorzustellen"? (§ 302 Anmerk.)
Die Sache ist einfach die: Einerseits haben wir gesehn, daß in der „gesetzgebenden Gewalt" die bürgerliche Gesellschaft als „ständisches" Element
und die fürstliche Macht als „Regierungselement" sich erst zum wirklichen
unmittelbar praktischen Gegensatz begeistet haben.
Andrerseits: Die gesetzgebende Gewalt ist Totalität. Wir finden in ihr die
Deputation des fürstlichen Prinzips, „die Regierungsgewalt"; 2. die Deputation der bürgerlichen Gesellschaft, das „ständische" Element; aber außerdem befindet sich in ihr 3. das eine Extrem als solches, das fürstliche Prinzip,
während das andere Extrem, die bürgerliche Gesellschaft, als solches sich
nicht in ihr befindet. Dadurch wird erst das „ständische" Element zu dem
Extrem des „fürstlichen" Prinzips, das eigentlich die bürgerliche Gesellschaft sein sollte. Erst als „ständisches" Element organisiert sich, wie wir
gesehn haben, die bürgerliche Gesellschaft zu einem politischen Dasein.
Das „ständische" Element ist ihr politisches Dasein, ihre Transsubstantiation
in den politischen Staat. Die „gesetzgebende Gewalt" ist daher, wie wir gesehn, erst der eigentliche politische Staat in seiner Totalität. Hier ist also
I. fürstliches Prinzip, 2. Regierungsgewalt, 3. bürgerliche Gesellschaft. Das
„ständische" Element ist „die bürgerliche Gesellschaft des politischen Staates ,
der „gesetzgebenden Gewalt". Das Extrem, das die bürgerliche Gesellschaft
zum Fürsten bilden sollte, ist daher das „ständische" Element. (Weil die bürgerliche Gesellschaft die Unwirklichkeit des politischen Daseins, so ist das
politische Dasein der bürgerlichen Gesellschaft ihre eigne Auflösung, ihre
Trennung von sich selbst.) Ebenso bildet es daher einen Gegensatz zur
Regierungsgewalt.
Hegel bezeichnet daher auch das „ständische" Element wieder als das
„Extrem der empirischen Allgemeinheit", das eigentlich die bürgerliche
Gesellschaft selbst ist. (Hegel hat daher unnützerweise das politisch-stän-
dische Element aus den Korporationen und unterschiednen Ständen hervorgehn lassen. Dies hätte bloß Sinn, wenn nun die unterschiednen Stände als
solche die gesetzgebenden Stände wären, also der Unterschied der bürgerlichen Gesellschaft, die bürgerliche Bestimmung re vera1 die politische Bestimmung. Wir hätten dann nicht eine gesetzgehende Gewalt des Staatsganzen,
sondern die gesetzgehende Gewalt der verschiednen Stände und Korporationen
und Klassen über das Staatsganze. Die Stände der bürgerlichen Gesellschaft
empfingen keine politische Bestimmung, sondern sie bestimmten den politischen Staat. Sie machten ihre Besonderheit zur bestimmenden Gewalt des
Ganzen. Sie wären die Macht des Besonderen über das Allgemeine. Wir
hätten auch nicht eine gesetzgebende Gewalt, sondern mehrere gesetzgebende
Gewalten, die unter sich und mit der Regierung transigierten. Allein Hegel
hat die moderne Bedeutung des ständischen Elements, die Verwirklichung
des Staatsbürgertums, des bourgeois zu sein, vor Augen. Er will, daß das „an
und für sich Allgemeine", der politische Staat, nicht von der bürgerlichen
Gesellschaft bestimmt wird, sondern umgekehrt sie bestimmt. Während er
also die Gestalt des mittelaltrig-ständischen Elements aufnimmt, gibt er ihm
die entgegengesetzte Bedeutung, von dem Wesen des politischen Staates bestimmt zu werden. Die Stände als Repräsentanten der Korporationen etc.
wären nicht die „empirische Allgemeinheit", sondern die „empirische Besonderheit", die „Besonderheit der Empirie"!) Die „gesetzgebende Gewalt"
bedarf daher in sich selbst der Vermittelung, d.h. einer Vertuschung des
Gegensatzes, und diese Vermittelung muß vom „ständischen Element" ausgehn, weil das ständische Element innerhalb der gesetzgebenden Gewalt die
Bedeutung der Repräsentation der bürgerlichen Gesellschaft verliert und zum
primären Element wird, selbst die bürgerliche Gesellschaft der gesetzgebenden Gewalt ist. Die „gesetzgebende Gewalt" ist die Totalität des politischen
Staates, eben daher der zur Erscheinung getriebene Widerspruch desselben.
Sie ist daher ebensosehr seine gesetzte Auflösung. Ganz verschiedene Prinzipien karambolieren in ihr. Es erscheint dies allerdings als Gegensatz der
Elemente des fürstlichen Prinzips und des Prinzips des ständischen Elements
etc. In Wahrheit aber ist es die Antinomie des politischen Staates und der
bürgerlichen Gesellschaft, der Widerspruch des abstrakten politischen Staates mit
sich selbst. Die gesetzgebende Gewalt ist die gesetzte Revolte. (Hegels Hauptfehler besteht darin, daß er den Widerspruch der Erscheinung als Einheit im
Heesen, in der Idee faßt, während er allerdings ein Tieferes zu seinem Wesen
hat, nämlich einen Wesentlichen Widerspruch, wie z.B. hier der Widerspruch
1
in Wirklichkeit
der gesetzgebenden Gewalt in sich selbst nur der Widerspruch des politischen Staats, also auch der bürgerlichen Gesellschalt mit sich selbst ist.
Die vulgäre Kritik verfällt in einen entgegengesetzten dogmatischen Irrtum. So kritisiert sie z.B. die Konstitution. Sie macht auf die Entgegensetzung der Gewalten aufmerksam etc. Sie findet überall Widersprüche.
Das ist selbst noch dogmatische Kritik, die mit ihrem Gegenstand kämpft,
so wie man früher etwa das Dogma der heiligen Dreieinigkeit durch den
Widerspruch von eins und drei beseitigte. Die wahre Kritik dagegen zeigt
die innere Genesis der heiligen Dreieinigkeit im menschlichen Gehirn. Sie
beschreibt ihren Geburtsakt. So weist die wahrhaft philosophische Kritik der
jetzigen Staatsverfassung nicht nur Widersprüche als bestehend auf, sie
erklärt sie, sie begreift ihre Genesis, ihre Notwendigkeit. Sie faßt sie in ihrer
eigentümlichen Bedeutung. Dies Begreifen besteht aber nicht, wie Hegel meint,
darin, die Bestimmungen des logischen Begriffs überall wiederzuerkennen,
sondern die eigentümliche Logik des eigentümlichen Gegenstandes zu fassen.)
Hegel drückt dies so aus, daß in der Stellung des politisch-ständischen
Elementes zum fürstlichen „nur die Möglichkeit der Ubereinstimmung und
damit ebenso die Möglichkeit feindlicher Entgegensetzung liegt".
Die Möglichkeit der Entgegensetzung liegt überall, wo verschiedene Willen
zusammentreffen. Hegel sagt selbst, daß die „Möglichkeit der Übereinstimmung" die „Möglichkeit der Entgegensetzung" ist. Er muß also jetzt ein
Element bilden, was die „Unmöglichkeit der Entgegensetzung" und die „Wirklichkeit der Übereinstimmung" ist. Ein solches Element wäre also ihm die
Freiheit der Entschließung und des Denkens dem fürstlichen Willen und der
Regierung gegenüber. Es gehörte also nicht mehr zum „ständisch-politischen"
Element. Es wäre vielmehr ein Element des fürstlichen Willens und der
Regierung und befände sich in demselben Gegensatz zum wirklichen ständischen Element wie die Regierung selbst.
Sehr wird diese Forderung schon herabgestimmt durch den Schluß des
Paragraphen:
„Wie von seiten der fürstlichen Gewalt die Regierungsgewalt (§ 300) schon diese
Bestimmung hat, so muß auch von der Seite der Stände aus ein Moment derselben
nach der Bestimmung gekehrt sein, w e s e n t l i c h als das M o m e n t d e r M i t t e zu
existieren."
Das Moment, was von Seite der Stände abgeschickt wird, muß die umgekehrte Bestimmung haben, als die Regierungsgewalt von seiten der Fürsten
hat, da fürstliches und ständisches Element entgegengesetzte Extreme sind.
Wie der Fürst sich in der Regierungsgewalt demokratisiert, so muß sich dies
„ständische" Element in seiner Deputation monarchisieren. Was Hegel also
will, ist ein fürstliches Moment von seiten der Stände. Wie die Regierungsgewalt
ein ständisches Moment von seiten des Fürsten, so soll es auch ein fürstliches
Moment von Seiten der Stände geben.
Die „Wirklichkeit der Übereinstimmung" und die „Unmöglichkeit der
Entgegensetzung" verwandelt sich in folgende Forderung: [Es] „muß von
seiten der Stände aus ein Moment derselben nach der Bestimmung gekehrt
sein, wesentlich als das Moment der Mitte zu existieren". Nach der Bestimmung
gekehrt sein! Diese Bestimmung haben nach § 302 die Stände überhaupt. Es
müßte hier nicht mehr „Bestimmung", sondern „Bestimmtheit" sein.
Und was ist das überhaupt für eine Bestimmung, „wesentlich als das
Moment der Mitte zu existieren"? Seinem „Wesen" nach „Buridans Esel"11423
sein.
Die Sache ist einfach die:
Die Stände sollen „Vermittelung" zwischen Fürst und Regierung einerseits und Volk andrerseits sein, aber sie sind es nicht, sie sind vielmehr der
organisierte politische Gegensatz der 'bürgerlichen Gesellschaft. Die „gesetzgebende Gewalt" bedarf in sich selbst der Vermittelung, und zwar, wie gezeigt,
einer Vermittelung von seiten der Stände aus. Die vorausgesetzte moralische
Übereinstimmung der beiden Willen, von denen der eine der Staatswille als
fürstlicher Wille und der andere der Staatswille als der Wille der bürgerlichen
Gesellschaft ist, reicht nicht aus. Die gesetzgebende Gewalt ist zwar erst der
organisierte, totale politische Staat, aber eben in ihr erscheint, weil in seiner
höchsten Entwicklung, auch der unverhüllte Widerspruch des politischen
Staates mit sich selbst. Es muß also der Schein einer wirklichen Identität
zwischen fürstlichem und ständischem Willen gesetzt werden. Das ständische
Element muß als fürstlicher Wille oder der fürstliche Wille muß als ständisches
Element gesetzt werden. Das ständische Element muß sich als die Wirklichkeit eines Willens setzen, der nicht der Wille des ständischen Elementes ist.
Die Einheit, die nicht im Wesen vorhanden ist (sonst müßte sie sich durch die
Wirksamkeit und nicht durch die Daseinsweise des ständischen Elementes
beweisen), muß wenigstens als eine Existenz vorhanden sein, oder eine
Existenz der gesetzgebenden Gewalt (des ständischen Elements) hat die
Bestimmung, diese Einheit des Nichtvereinten zu sein. Dieses Moment des
ständischen Elements, Pairskammer, Oberhaus etc., ist die höchste Synthese
des politischen Staates in der betrachteten Organisation. Es ist zwar nicht
damit erreicht, was Hegel will, „die Wirklichkeit der Übereinstimmung" und
die „Unmöglichkeit feindlicher Entgegensetzung", vielmehr bleibt es bei der
„Möglichkeit der Übereinstimmung". Allein es ist die gesetzte Illusion von
der Einheit des politischen Staates mit sich selbst (des fürstlichen und stän-
dischen Willens, weiter dem Prinzip des politischen Staates und der bürgerlichen Gesellschaft), von dieser Einheit als materiellem Prinzip, d. h. so,
daß nicht nur zwei entgegengesetzte Prinzipien sich vereinen, sondern daß
die Einheit derselben Natur, Existentialgrund ist. Dieses Moment des ständischen Elementes ist die Romantik des politischen Staats, die Träume seiner
Wesenhaftigkeit oder seiner Übereinstimmung mit sich selbst. Es ist eine
allegorische Existenz.
Es hängt nun von dem wirklichen status quo des Verhältnisses zwischen
ständischem Element und fürstlichem ab, ob diese Illusion wirksame Illusion
oder bewußte Selbsttäuschung ist. Solange Stände und fürstliche Gewalt
faktisch übereinstimmen, sich vertragen, ist die Illusion ihrer wesentlichen
Einheit eine wirkliche, also wirksame Illusion. Im Gegenfall, wo sie ihre Wahrheit betätigen sollte, wird sie zur bewußten Unwahrheit und ridicule1.
„§305. Der eine der S t ä n d e d e r b ü r g e r l i c h e n Gesellschaft enthält das Prinzip,
das für sich fähig ist, zu dieser p o l i t i s c h e n Beziehung konstituiert zu werden, der
Stand der natürlichen Sittlichkeit nämlich, der das Familienleben und in Rücksicht
der Subsistenz den Grundbesitz zu seiner Basis, somit in Rücksicht seiner Besonderheit
ein auf sich beruhendes Wollen und die Naturbestimmung, welche das fürstliche
Element in sich schließt, mit diesem gemein hat."
Wir haben schon die Inkonsequenz Hegels nachgewiesen, 1. das politischständische Element in seiner modernen Abstraktion von der bürgerlichen
Gesellschaft etc. zu fassen, nachdem er es aus den Korporationen hat hervorgehn lassen; 2. es jetzt wieder nach dem Ständeunterschied der bürgerlichen
Gesellschaft zu bestimmen, nachdem er die politischen Stände als solche als
das „Extrem der empirischen Allgemeinheit" schon bestimmt hat.
Die Konsequenz wäre nun: Die politischen Stände iür sich zu betrachten,
als neues Element, und nun aus ihnen jetzt die § 304 geforderte Vermittelung
zu konstruieren.
Allein sehn wir nun, wie Hegel den bürgerlichen Ständeunterschied wieder hereinzieht und zugleich den Schein hervorbringt, daß nicht die Wirklichkeit und das besondere Wesen des bürgerlichen Ständeunterschieds die höchste
politische Sphäre, die gesetzgebende Gewalt bestimmt, sondern umgekehrt zu
einem bloßen Material herabsinkt, das die politische Sphäre nach ihrem, aus
ihr selbst hervorgehenden Bedürfnis formiert und konstruiert.
„Der eine der Stände der bürgerlichen Gesellschaft enthält das P r i n z i p , das für
sich fähig ist, zu dieser p o l i t i s c h e n B e z i e h u n g konstituiert zu w e r d e n , der Stand
der n a t ü r l i c h e n S i t t l i c h k e i t nämlich." (Der Bauernstand.)
1
Lächerlichkeit
Worin besteht nun diese prinzipielle Fähigkeit oder diese Fähigkeit des
Prinzips des Bauernstandes? Er hat
„das F a m i l i e n l e b e n und in Rücksicht der Subsistenz den G r u n d b e s i t z zu seiner
B a s i s , somit in R ü c k s i c h t
seiner
B e s o n d e r h e i t ein a u f s i c h beruhendes
Wollen und die N a t u r b e s t i m m u n g , welche das f ü r s t l i c h e Element in sich
schließt, mit diesem gemein".
Das „auf sich beruhende Wollen" bezieht sich auf die Subsistenz, den
„Grundbesitz", die mit dem fürstlichen Element gemeinschaftliche „Naturbestimmung" auf das „Familienleben" als Basis.
Die Subsistenz des „Grundbesitzes" und ein „auf sich beruhendes Wollen"
sind zwei verschiedne Dinge. Es müßte vielmehr von einem auf „Grund und
Boden ruhenden Wollen' die Rede sein. Es müßte aber vielmehr von einem
„auf der Staatsgesinnung", nicht von einem auf sich, sondern von einem im
Ganzen ruhenden Willen die Rede sein.
An die Stelle der „Gesinnung", des „Besitzes des Staatsgeistes" tritt der
„Grundbesitz".
Was ferner das „Familienleben" als Basis angeht, so scheint die „soziale"
Sittlichkeit der bürgerlichen Gesellschaft höher zu stehn als diese „natürliche
Sittlichkeit". Ferner ist das „Familienleben" die „natürliche Sittlichkeit" der
anderen Stände oder des Bürgerstandes der bürgerlichen Gesellschaft ebensowohl als des Bauernstandes. Daß aber das „Familienleben" bei dem Bauernstande nicht nur das Prinzip der Familie, sondern die Basis seines sozialen
Daseins überhaupt ist, scheint ihn vielmehr für die höchste politische Aufgabe unfähig zu machen, indem er patriarchalische Gesetze auf eine nicht
patriarchalische Sphäre anwenden wird und das Kind oder den Vater, den
Herrn und den Knecht da geltend macht, wo es sich um den politischen Staat,
um das Staatsbürgertum handelt.
Was die Naturbestimmung des fürstlichen Elements betrifft, so hat Hegel
keinen patriarchalischen, sondern einen modern konstitutionellen König entwickelt. Seine Naturbestimmung besteht darin, daß er der körperliche
Repräsentant des Staates ist und als König geboren oder das Königtum seine
Familienerbschaft ist, aber was hat das mit dem Familienleben als der Basis
des Bauernstandes, was hat die natürliche Sittlichkeit mit der Naturbestimmung der Geburt als solcher gemein? Der König teilt das mit dem Pferd, daß,
wie dieses als Pferd, der König als König geboren wird.
Hätte Hegel den von ihm angenommenen Ständeunterschied als solchen
zum politischen gemacht, so war ja schon der Bauernstand als solcher ein
selbständiger Teil des ständischen Elements, und wenn er als solcher ein
Moment der Vermittelung mit dem Fürstentum ist, weis bedürfte es dann der
20 Marx/Engels, Werke, Bd. 1
Konstruktion einer neuen Vermittelung? Und warum ihn aus dem eigentlich
ständischen Moment herausscheiden, da dieses ja nur durch die Scheidung
von ihm in die „abstrakte" Stellung zum fürstlichen Element gerät? Nachdem
Hegel aber eben das politisch-ständische Element als ein eigentümliches
Element, als eine Transsubstantiation des Privatstandes in das Staatsbürgertum
entwickelt hat und eben deswegen der Vermittelung bedürftig gefunden hat,
wie darf Hegel nun diesen Organismus wieder auflösen in den Unterschied
des Privatstandes, also in den Privatstand, und aus diesem die Vermittelung
des politischen Staates mit sich selbst herholen?
Überhaupt welche Anomalie, daß die höchste Synthese des politischen
Staates nichts andres ist als die Synthese von Grundbesitz und Familienleben!
Mit einem Wort:
Sobald die bürgerlichen Stände als solche politische Stände sind, bedarf
es jener Vermittelung nicht, und sobald es jener Vermittelung bedarf, ist der
bürgerliche Stand nicht politisch, also auch nicht jene Vermittelung. Der
Bauer ist dann nicht als Bauer, sondern als Staatsbürger ein Teil des politischständischen Elements, während umgekehrt ([wo er] als Bauer Staatsbürger
oder als Staatsbürger Bauer ist) sein Staatsbürgertum das Bauerntum, er nicht
als Bauer Staatsbürger, sondern als Staatsbürger Bauer ist!
Es ist hier also eine Inkonsequenz Hegels innerhalb seiner eignen Anschauungsweise, und eine solche Inkonsequenz ist Akkommodation. Das politisch-ständische Element ist im modernen Sinne, in dem von Hegel entwickelten Sinne, die vollzogene gesetzte Trennung der bürgerlichen Gesellschaft
von ihrem Privatstand und seinen Unterschieden. Wie kann Hegel den Privatstand zur Lösung der Antinomien der gesetzgebenden Gewalt in sich selbst
machen ? Hegel will das mittelalterliche ständische System, aber in dem modernen Sinn der gesetzgebenden Gewalt, und er will die moderne gesetzgebende
Gewalt, aber in dem Körper des mittelalterlich-ständischen Systems! Es ist
schlechtester Synkretismus.
Anfang § 304 heißt es:
„Den in den früheren Sphären bereits vorhandenen Unterschied der Stände enthält das politisch-ständische Element zugleich in seiner eigenen Bestimmung."
Aber in seiner eigenen Bestimmung enthält das politisch-ständische Element diesen Unterschied nur dadurch, daß es ihn annulliert, daß es ihn in
sich vernichtigt, von ihm abstrahiert.
Wird der Bauernstand oder, wie wir weiter hören werden, der potenzierte
Bauernstand, der adlige Grundbesitz, als solcher auf die beschriebene Weise
zur Vermittelung des totalen politischen Staates, der gesetzgebenden Gewalt
in sich selbst gemacht, so ist das allerdings die Vermittelung des ständischpolitischen Elements mit der fürstlichen Gewalt in dem Sinn, als es die Auflösung des politisch-ständischen Elementes als eines wirklichen politischen
Elementes ist. Nicht der Bauernstand, sondern der Stand, der Privatstand,
die Analyse (Reduktion) des politisch-ständischen Elementes in den Privatstand ist hier die wiederhergestellte Einheit des politischen Staats mit sich selbst.
(Nicht der Bauernstand als solcher ist hier die Vermittelung, sondern seine
Trennung von dem politisch-ständischen Element in seiner Qualität als bürgerlicher Privatstand; dies, daß sein Privatstand ihm eine gesonderte Stellung in
dem politisch-ständischen Element gibt, also auch der andre Teil des politisch-ständischen Elements die Stellung eines besondren Privatstandes erhält,
also aufhört, das Staatsbürgertum der bürgerlichen Gesellschaft zu repräsentieren.) Es ist hier nun nicht mehr der politische Staat als zwei entgegengesetzte
Willen vorhanden, sondern auf der einen Seite steht der politische Staat
(Regierung und Fürst) und auf der andern die bürgerliche Gesellschaft in
ihrem Unterschied vom politischen Staat. (Die verschiedenen Stände.) Damit
ist denn auch der politische Staat als Totalität aufgehoben.
Der nächste Sinn der Verdoppelung des politisch-ständischen Elementes in
sich selbst als einer Vermittelung mit der fürstlichen Gewalt ist überhaupt,
daß die Trennung dieses Elementes in sich selbst, sein eigner Gegensatz in
sich selbst seine wiederhergestellte Einheit mit der fürstlichen Gewalt ist. Der
Grunddualismus zwischen dem fürstlichen und dem ständischen Element der
gesetzgebenden Gewalt wird neutralisiert durch den Dualismus des ständischen Elementes in sich selbst. Bei Hegel aber geschieht diese Neutralisation dadurch, daß das politisch-ständische Element sich von seinem politischen Element selbst trennt.
Was den Grundbesitz als Subsistenz, welche der Souveränität des Willens,
der fürstlichen Souveränität, und das Familienleben als Basis des Bauernstandes,
welche der Naturbestimmung der fürstlichen Gewalt entsprechen soll, betrifft,
so kommen wir später darauf zurück. Hier im § 305 ist das „Prinzip" des
Bauernstandes entwickelt, „das für sich fähig ist, zu dieser politischen Beziehung konstituiert zu werden".
Im §306 wird die „Konstituierung" „für die politische Stellung und
Bedeutung" vorgenommen. Sie reduziert sich darauf: „Das Vermögen wird"
„ein unveräußerliches, mit dem Majorat belastetes Erbgut". Das „Majorat"
wäre also die politische Konstituierung des Bauernstandes.
„Die Begründung des Majorats", heißt es im Zusatz, „liegt darin, daß der Staat
nicht auf b l o ß e M ö g l i c h k e i t der Gesinnung, sondern auf ein N o t w e n d i g e s
rechnen soll. Nun ist die Gesinnung freilich an ein Vermögen nicht gebunden, aber
der r e l a t i v n o t w e n d i g e Zusammenhang ist, daß, wer ein selbständiges Vermögen
hat, von äußeren Umständen nicht beschränkt ist und so ungehemmt auftreten und für
den Staat handeln kann."
Erster Satz. Dem Staat genügt nicht „die bloße Möglichkeit der Gesinnung",
er soll auf ein „Notwendiges" rechnen.
Zweiter Satz. „Die Gesinnung ist an ein Vermögen nicht gebunden", d.h.,
die Gesinnung des Vermögens ist eine „bloße Möglichkeit".
Dritter Satz. Aber es findet ein „relativ notwendiger Zusammenhang" statt,
nämlich, „daß, wer ein selbständiges Vermögen hat etc., für den Staat handeln
kann", d.h., das Vermögen gibt die „Möglichkeit" der Staatsgesinnung, aber
eben die „Möglichkeit" genügt nach dem ersten Satz nicht.
Zudem hat Hegel nicht entwickelt, daß der Grundbesitz das einzige „selbständige Vermögen" ist.
Die Konstituierung seines Vermögens zur Unabhängigkeit ist die Konstituierung des Bauernstandes „für die politische Stellung und Bedeutung".
Oder „die Unabhängigkeit des Vermögens" ist seine „politische Stellung und
Bedeutung".
Diese Unabhängigkeit wird weiter so entwickelt:
Sein „Vermögen" ist „unabhängig vom Staatsvermögen". Unter Staatsvermögen wird hier offenbar die Regierungskasse verstanden. In dieser Beziehung
steht „der allgemeine Stand" „gegenüber" „als vom Staat wesentlich abhängig".
So heißt es in der Vorrede p. 13:
„Ohnehin" wird „bei uns die P h i l o s o p h i e nicht wie etwa bei den Griechen als
eine private Kunst exerziert", „sondern sie" hat „eine öffentliche, das Publikum
berührende Existenz, vornehmlich oder a l l e i n im Staatsdienste".
Also auch die Philosophie „wesentlich' von der Regierungskasse abhängig.
Sein Vermögen ist unabhängig „von der Unsicherheit des Gewerbes, der
Sucht des Gewinns und der Veränderlichkeit des Besitzes überhaupt". In
dieser Hinsicht steht ihm der „Stand des Gewerbes" „als der vom Bedürfnis
abhängige und darauf hingewiesene" gegenüber.
Dies Vermögen ist so „wie von der Gunst der Regierungsgewalt, so von der
Gunst der Menge" unabhängig.
Er ist endlich selbst gegen die eigene Willkür dadurch festgestellt, daß die
für diese Bestimmung berufenen Mitglieder dieses Standes, „des Rechts der
anderen Bürger, teils über ihr ganzes Eigentum frei zu disponieren, teils es
nach der Gleichheit der Liebe zu den Kindern, an sie übergehend zu wissen,
entbehren".
Die Gegensätze haben hier eine ganz neue und sehr materielle Gestalt angenommen, wie wir sie in dem Himmel des politischen Staates kaum erwarten
dürften.
Der Gegensatz, wie ihn Hegel entwickelt, ist in seiner Schärfe ausgesprochen der Gegensatz von Privateigentum und Vermögen.
Der Grundbesitz ist das Privateigentum xax' eZpxw1, das eigentliche Privateigentum. Seine exakte Privatnatur tritt hervor 1. als „Unabhängigkeit vom
Staatsvermögen", der „Gunst der Regierungsgewalt", dem Eigentum, wie es
als „allgemeines Eigentum des politischen Staats" existiert, ein nach der
Konstruktion des politischen Staates besonderes Vermögen neben anderen
Vermögen; 2. als „Unabhängigkeit vom Bedürfnis" der Sozietät oder dem
„sozialen Vermögen", der „Gunst der Menge". (Ebenso bezeichnend ist, daß
der Anteil am Staatsvermögen als „Gunst der Regierungsgewalt", wie der
Anteil am sozialen Vermögen als „Gunst der Menge" gefaßt wird.) Das Vermögen des „allgemeinen Standes" und des „Gewerbestandes" ist kein eigentliches Privateigentum, weil es dort direkt, hier indirekt durch den Zusammenhang mit dem allgemeinen Vermögen oder dem Eigentum als sozialem Eigentum bedingt ist, eine Partizipation an demselben ist, darum allerdings auf
beiden Seiten durch „Gunst", d.h. durch den „Zufall des Willens" vermittelt ist. Dem gegenüber steht der Grundbesitz als das souveräne Privateigentum, das noch nicht die Gestalt des Vermögens, d. h. eines durch den sozialen
Willen gesetzten Eigentums, erreicht hat.
Die politische Verfassung in ihrer höchsten Spitze ist also die Verfassung
des Privateigentums. Die höchste politische Gesinnung ist die Gesinnung des
Privateigentums. Das Majorat ist bloß die äußere Erscheinung von der innern
Natur des Grundbesitzes. Dadurch, daß er unveräußerlich ist, sind ihm die
sozialen Nerven abgeschnitten und seine Isolierung von der bürgerlichen Gesellschaft gesichert. Dadurch, daß er nicht nach der „Gleichheit der Liebe zu den
Kindern" übergeht, ist er sogar Von der kleinern Sozietät, der natürlichen
Sozietät der Familie, ihrem Willen und ihren Gesetzen losgesagt, unabhängig,
bewahrt also die schroffe Natur des Privateigentums auch vor dem Übergang
in das Familienvermögen.
Hegel hatte § 305 den Stand des Grundbesitzes fähig erklärt, zu der „politischen Beziehung" konstituiert zu werden, weil das „Familienleben" seine
„Basis" sei. Er hat aber selbst die „Liebe" für die Basis, für das Prinzip, für
den Geist des Familienlebens erklärt. In dem Stand, der das Familienleben
zu seiner Basis hat, fehlt also die Basis des Familienlebens, die Liebe als das
1
hauptsächlich
wirkliche, also wirksame und determinierende Prinzip. Es ist das geistlose
Familienleben, die Illusion des Familienlebens. In seiner höchsten Entwicklung widerspricht das Prinzip des Privateigentums dem Prinzip der Familie.
Es kommt also im Gegensatz züm Stand der natürlichen Sittlichkeit, des
Familienlebens, vielmehr erst in der bürgerlichen Gesellschaft das Familienleben zum Leben der Familie, zum Leben der Liebe. Jener ist vielmehr die
Barbarei des Privateigentums gegen das Familienleben.
Das wäre also die souveräne Herrlichkeit des Privateigentums, des Grund'
besitzes, worüber in neueren Zeiten so viele Sentimentalitäten stattgehabt
haben und so viele buntfarbige Krokodilstränen vergossen worden sind.
Es nützt Hegel nichts zu sagen, daß das Majorat bloß eine Forderung der
Politik sei und in seiner politischen Stellung und Bedeutung gefaßt werden
müsse. Es nützt ihm nichts zu sagen:
„Die Sicherheit und Festigkeit dieses Standes kann noch durch die Institution
des Majorats vermehrt werden, welche jedoch nur in politischer Rücksicht wünschenswert ist, denn es ist damit ein Opfer für den politischen Zweck verbunden, daß der
Erstgeborene unabhängig leben könne."
Es ist bei Hegel eine gewisse Dezenz, der/Instand des Verstandes. Er will
nicht das Majorat an und für sich, er will es nur in bezug auf ein andres, nicht
als Selbstbestimmung, sondern als Bestimmtheit eines andren, nicht als
Zweck, sondern als Mittel zu einem Zweck rechtfertigen und konstruieren.
In Wahrheit ist das Majorat eine Konsequenz des exakten Grundbesitzes,
das versteinerte Privateigentum, das Privateigentum (quand meme1) in der
höchsten Selbständigkeit und Schärfe seiner Entwicklung, und was Hegel als
den Zweck, als das Bestimmende, als die prima causa2 des Majorats darstellt,
ist vielmehr ein Effekt desselben, eine Konsequenz, die Macht des abstrakten
Privateigentums über den politischen Staat, während Hegel das Majorat als
die Macht des politischen Staates über das Privateigentum darstellt. Er macht
die Ursache zur Wirkung und die Wirkung zur Ursache, das Bestimmende
zum Bestimmten und das Bestimmte zum Bestimmenden.
Allein was ist der Inhalt der politischen Konstituierung, des politischen
Zweckes, was ist der Zweck dieses Zweckes? Was seine Substanz? Das
Majorat, der Superlativ des Privateigentums, das souveräne Privateigentum.
Welche Macht übt der politische Staat über das Privateigentum im Majorat
aus? Daß er es isoliert von der Familie und der Sozietät, daß er es zu seiner
abstrakten Verselbständigung bringt. Welches ist also die Macht des politischen
Staates über das Privateigentum? Die eigne Macht des Privateigentums, sein
1
unter allen Umständen -
2
Hauptursache
zur Existenz gebrachtes Wesen. Was bleibt dem politischen Staat im Gegensatz zu diesem Wesen übrig? Die Illusion, daß er bestimmt, wo er bestimmt
wird. Er bricht allerdings den Willen der Familie und der Sozietät, aber nur
um dem Willen desfamilien- undsozietätslosenPrivateigentums Dasein zugeben
und dieses Dasein als das höchste Dasein des politischen Staates, als das
höchste sittliche Dasein anzuerkennen.
Betrachten wir die verschiedenen Elemente, wie sie sich hier in der gesetzgebenden Gewalt, dem totalen, dem zur Wirklichkeit und zur Konsequenz,
zum Bewußtsein gekommenen Staat, dem wirklichen politischen Staat verhalten, mit der ideellen oder sein sollenden, mit der logischen Bestimmung und
Gestalt dieser Elemente.
(Das Majorat ist nicht, wie Hegel sagt, „eine Fessel, die der Freiheit des
Privatrechts angelegt ist", es ist vielmehr die „Freiheit des Privatrechts, die
sich von allen sozialen und sittlichen Fesseln befreit hat".) („Die höchste politische Konstruktion ist hier dieKonstruktion des abstraktenPrivateigentums.")
Ehe wir diese Vergleichung anstellen, ist noch ein näherer Blick auf eine
Bestimmung des Paragraphen zu werfen, nämlich darauf, daß durch das
Majorat das Vermögen des Bauernstandes, der Grundbesitz, das Privateigentum „selbst gegen die eigene Willkür dadurch festgestellt ist, daß die für diese
Bestimmung berufenen Mitglieder dieses Standes des Rechts der andern
Bürger, über ihr ganzes Eigentum frei zu disponieren, entbehren".
Wir haben schon hervorgehoben, wie durch die „Unveräußerlichkeit" des
Grun dbesitzes die sozialen Nerven des Privateigentums abgeschnitten werden. Das Privateigentum (der Grundbesitz) ist gegen die eigne Willkür des
Besitzers dadurch festgestellt, daß die Sphäre seiner Willkür aus einer allgemein menschlichen zur spezifischen Willkür des Privateigentums umgeschlagen,
das Privateigentum zum Subjekt des Willens geworden ist; der Wille bloß
mehr das Prädikat des Privateigentums ist. Das Privateigentum ist nicht mehr
ein bestimmtes Objekt der Willkür, sondern die Willkür ist das bestimmte Prädikat des Privateigentums. Doch vergleichen wir, was Hegel selbst innerhalb
der Sphäre des Privatrechts sagt:
„ § 65. Meines Eigentums kann ich mich entäußern, da es das meinige nur ist, insofern ich meinen Willen darin lege, aber nur insofern die Sache ihrer Natur nach ein
Äußerliches ist."
„ § 66. Unveräußerlich sind daher diejenigen Güter oder vielmehr substantiellen
Bestimmungen sowie das Recht an sie unverjährbar, welche meine eigenste Person
und das allgemeine Wesen meines Selbstbewußtseins ausmachen, wie meine Persönlichkeit überhaupt, meine allgemeine Willensfreiheit, Sittlichkeit, Religion."
Im Majorat wird also der Grundbesitz, das exakte Privateigentum, ein
unveräußerliches Gut, also eine substantielle Bestimmung, welche die „eigenste
Person, das allgemeine Wesen des Selbstbewußtseins" des majoratsherrlichen
Standes ausmachen, seine „Persönlichkeit überhaupt, seine allgemeine Willensfreiheit, Sittlichkeit, Religion". Es ist daher auch konsequent, daß, wo
das Privateigentum, der Grundbesitz unveräußerlich, dagegen die „allgemeine Willensfreiheit" (wozu auch die freie Disposition über ein Äußerliches,
wie der Grundbesitz ist, gehört) und die Sittlichkeit (wozu die Liebe als der
wirkliche, auch als das wirkliche Gesetz der Familie sich ausweisende Geist
gehört) veräußerlich sind. Die „Unveräußerlichkeit" des Privateigentums ist in
einem die „Veräußerlichkeit" der allgemeinen Willensfreiheit und Sittlichkeit.
Das Eigentum ist hier nicht mehr, insofern „ich meinen Willen darin lege",
sondern mein Wille ist, „insofern er im Eigentum liegt". Mein Wille besitzt
hier nicht, sondern ist besessen. Das ist eben der romantische Kitzel der
Majoratsherrlichkeit, daß hier das Privateigentum, also die Privatwillkür in
ihrer abstraktesten Gestalt, daß der ganz bornierte, unsittliche, rohe Willen als
die höchste Synthese des politischen Staates, als die höchste Entäußerung der
Willkür, als der härteste, aufopferndste Kampf mit der menschlichen Schwäche
erscheint, denn als menschliche Schwäche erscheint hier die Humanisierung,
die Vermenschlichung des Privateigentums. Das Majorat ist das sich selbst zur
Religion gewordene, das in sich selbst versunkene, von seiner Selbständigkeit
und Herrlichkeit entzückte Privateigentum. Wie das Majorat der direkten
Veräußerung, so ist es auch dem Vertrage entnommen. Hegel stellt den Übergang vom Eigentum zum Vertrage folgendermaßen dar:
„ § 7 1 . Das Dasein ist als bestimmtes Sein wesentlich Sein für anderes; das Eigentum, nach der Seite, daß es ein Dasein als äußerliche Sache ist, ist für andere Äußerlichkeiten und im Zusammenhange dieser Notwendigkeit und Zufälligkeit. Aber als
Dasein des Willens ist es als für anderes mir für den Willen einer anderen Person. Diese
Beziehung von Willen auf Willen ist der eigentümliche und wahrhafte Boden, in
welchem die Freiheit Dasein hat. Diese Vermittelung, E i g e n t u m nicht mehr nur
vermittelst e i n e r S a c h e u n d m e i n e s s u b j e k t i v e n Willens zu haben, sondern
ebenso vermittelst eines anderen Willens und hiermit in einem g e m e i n s a m e n Willen
zu haben, macht die Sphäre des Vertrags aus."
(Im Majorat ist es zum Staatsgesetz gemacht, das Eigentum nicht in einem
gemeinsamen Willen, sondern nur „vermittelst einer Sache und meines subjektiven Willens zu haben".) Während Hegel hier im Privatrecht die Veräußerlichkeit und die Abhängigkeit des Privateigentums von einem gemeinsamen
Willen als seinen wahren Idealismus auffaßt, wird umgekehrt im Staatsrecht
die imaginäre Herrlichkeit eines unabhängigen Eigentums im Gegensatz zu
der „Unsicherheit des Gewerbes, der Sucht des Gewinns, der Veränderlich-
keit des Besitzes, der Abhängigkeit vom Staatsvermögen" gepriesen. Welch
ein Staat, der nicht einmal den Idealismus des Privatrechts ertragen kann?
Welch eine Rechtsphilosophie, wo die Selbständigkeit des Privateigentums
eine andere Bedeutung im Privatrecht als im Staatsrecht hat?
Gegen die rohe Stupidität des unabhängigen Privateigentums ist die Unsicherheit des Gewerbes elegisch, die Sucht des Gewinns pathetisch (dramatisch), die Veränderlichkeit des Besitzes ein ernstes Fatum (tragisch), die
Abhängigkeit vom Staatsvermögen sittlich. Kurz, in allen diesen Qualitäten
schlägt das menschliche Herz durch das Eigentum durch, es ist Abhängigkeit
des Menschen vom Menschen. Wie sie immerhin an und für sich beschaffen
sei, sie ist menschlich gegenüber dem Sklaven, der sich frei dünkt, weil die
Sphäre, die ihn beschränkt, nicht die Sozietät, sondern die Scholle ist; die
Freiheit dieses Willens ist seine Leerheit von anderem Inhalt als dem des
Privateigentums.
Solche Mißgeburten wie das Majorat als eine Bestimmung des Privateigentums durch den politischen Staat zu definieren, ist überhaupt unumgänglich, wenn man eine alte Weltanschauung im Sinn einer neuen interpretiert, wenn man einer Sache, wie hier dem Privateigentum, eine doppelte
Bedeutung, eine andere im Gerichtshof des abstrakten Rechts, eine entgegengesetzte im Himmel des politischen Staats gibt.
Wir kommen zu der oben angedeuteten Vergleichung.
§ 257 heißt es:
„ D e r Staat ist die Wirklichkeit der sittlichen Idee - der sittliche Geist als der
offenbare, sich selbst deutliche, substantielle W i l l e . . . An der Sitte hat er seine unmittelbare und an dem Selbstbewußtsein des Einzelnen . . . seine vermittelte Existenz,
so wie dieses durch die Gesinnung in ihm, als seinem Wesen, Zweck und Produkte
seiner Tätigkeit, seine substantielle Freiheit hat."
§268 heißt es:
„Die politische Gesinnung, der Patriotismus überhaupt, als die in Wahrheit stehende
Gewißheit und das zur Gewohnheit gewordene Wollen ist nur Resultat der im Staate
bestehenden Institutionen, als in welchem die Vernünftigkeit wirklich vorhanden ist,
so wie sie durch das ihnen gemäße Handeln ihre Betätigung erhält. - Diese Gesinnung
ist überhaupt das Zutrauen (das zu mehr oder weniger gebildeter Einsicht übergehen
kann) - das Bewußtsein, daß mein substantielles und besonderes Interesse, im Interesse
und Zwecke eines Andern (hier des Staats) als im Verhältnis zu mir als Einzelnen bewahrt und enthalten ist - , womit eben dieser unmittelbar kein Anderer für mich ist und
Ich in diesem Bewußtsein frei bin."
Die Wirklichkeit der sittlichen Idee erscheint hier als die Religion des
Privateigentums (weil sich im Majorat das Privateigentum zu sich selbst auf
religiöse Weise verhält, so kommt es, daß in unseren modernen Zeiten die
Religion überhaupt zu einer dem Grundbesitz inhärenten Qualität geworden
ist und alle majoratsherrlichen Schriften voll religiöser Salbung sind. Die
Religion ist die höchste Denkform dieser Brutalität). Der „offenbare, sich
selbst deutliche, substantielle Wille" verwandelt sich in einen dunklen, an
der Scholle gebrochenen Willen, der eben von der Undurchdringlichkeit des
Elements, an dem er haftet, berauscht ist. „Die in Wahrheit stehende Gewißheit", welche die „politische Gesinnung ist", ist die auf „eigenem Boden"
(im wörtlichen Sinne) stehende Gewißheit. Das zur „Gewohnheit gewordene"
politische „Wollen" ist nicht mehr „nur Resultat" etc., sondern eine außer
dem Staat bestehende Institution. Die politische Gesinnung ist nicht mehr
das „Zutrauen", sondern vielmehr das „Vertrauen, das Bewußtsein, daß mein
substantielles und besonderes Interesse unabhängig vom Interesse und Zweck
eines Andern (hier des Staats) im Verhältnis zu mir als Einzelnen" ist. Das ist
das Bewußtsein meiner Freiheit vom Staate.
Die „Festhaltung des allgemeinen Staatsinteresses" etc. war (§ 289) die
Aufgabe der „Regierungsgewalt". In ihr residierte „die gebildete Intelligenz und das rechtliche Bewußtsein der Masse eines Volkes" (§ 297). Sie
macht „eigentlich die Stände überflüssig", denn sie „können ohne Stände
das Beste tun, wie sie auch fortwährend bei den ständischen Versammlungen das Beste tun müssen" (§ 301 Anmerkung). Der
„allgemeine, näher dem Dienst der Regierung sich widmende Stand hat unmittelbar zu
seiner Bestimmung, das Allgemeine zum Zwecke seiner wesentlichenTätigkeit zu haben".
Und wie erscheint der allgemeine Stand, die Regierungsgewalt jetzt? „Als
vom Staat wesentlich abhängig", als das „Vermögen, abhängig von der Gunst
der Regierungsgewalt". Dieselbe Umwandlung ist mit der bürgerlichen Gesellschaft vorgegangen, die früher in der Korporation ihre Sittlichkeit erreicht
hat. Sie ist ein Vermögen, abhängig „von der Unsicherheit des Gewerbes"
etc., von „der Gunst der Menge".
Welches ist also die angeblich spezifische Qualität des Majoratsherrn?
Und worin kann überhaupt die sittliche Qualität eines unveräußerlichen Vermögens bestehn? In der Unbestechlichkeit. Die Unbestechlichkeit erscheint als
die höchste politische Tugend, eine abstrakte Tugend. Dabei ist die Unbestechlichkeit in dem von Hegel konstruierten Staat etwas so Apartes, daß
sie als eine besondre politische Gewalt konstruiert werden muß, also eben
dadurch bewüßt, daß sie nicht der Geist des politischen Staates, nicht die
Regel, sondern die Ausnahme ist, und als solche Ausnahme ist sie konstruiert.
Man besticht die Majoratsherren durch ihr unabhängiges Eigentum, um sie
vor der Bestechlichkeit zu konservieren. Während nach der Idee die Abhängig-
keit vom Staat und das Gefühl dieser Abhängigkeit die höchste politische
Freiheit sein sollte, weil sie die Empfindung der Privatperson als einer abstrakten, abhängigen Person ist und diese vielmehr sich erst als Staatsbürger
unabhängig fühlt und fühlen soll, wird hier die unabhängige Privatperson
konstruiert. „Ihr Vermögen ist [ebenso] unabhängig vom Staatsvermögen als
von der Unsicherheit des Gewerbes" etc. Ihr steht gegenüber „der Stand des
Gewerbes, als der vom Bedürfnis abhängige und darauf hingewiesene, und
der allgemeine Stand, als vom Staat wesentlich abhängig". Hier ist also
Unabhängigkeit vom Staat und der bürgerlichen Gesellschaft, und diese verwirklichte Abstraktion von beiden, die realiter die rohste Abhängigkeit von
der Scholle ist, bildet in der gesetzgebenden Gewalt die Vermittelung und die
Einheit beider. Das unabhängige Privatvermägen, d. h. das abstrakte Privatvermögen und die ihm entsprechende Privatperson, sind die höchste Konstruktion des politischen Staates. Die politische „Unabhängigkeit" ist konstruiert als das „unabhängige Privateigentum" und die „Person dieses unabhängigen Privateigentums". Wir werden im nächsten sehn, wie es mit der
„Unabhängigkeit" und „Unbestechlichkeit" und der daraus hervorgehenden
Staatsgesinnung re vera1 steht.
Daß das Majorat Erbgut ist, spricht von selbst. Das Nähere hierüber
später. Daß es, wie Hegel im Zusatz bemerkt, der Erstgeborne ist, ist rein
historisch.
„ § 3 0 7 . Das Recht dieses Teils des substantiellen Standes ist auf diese Weise zwar
einerseits auf das Naturprinzip der Familie gegründet, dieses aber zugleich durch
h a r t e A u f o p f e r u n g e n für den politischen Zweck verkehrt, w o m i t dieser Stand
wesentlich an die Tätigkeit für diesen Zweck angewiesen und gleichfalls in Folge hiervon ohne die Zufälligkeit einer Wahl durch die Geburt dazu berufen und berechtigt ist."
Inwiefern das Recht dieses substantiellen Standes auf das Naturprinzip der
Familie gegründet ist, hat Hegel nicht entwickelt, es sei denn, daß er hierunter verstehe, daß der Grundbesitz als Erbgut existiert. Damit ist kein Recht
dieses Standes im politischen Sinne entwickelt, sondern nur das Recht der
Majoratsherm auf den Grundbesitz per Geburt. „Dieses", das Naturprinzip
der Familie, ist „aber zugleich durch harte Aufopferungen für den politischen
Zweck verkehrt". Wir haben allerdings gesehn, wie hier „das Naturprinzip
der Familie verkehrt" wird, wie dies aber „keine harte AufOpferung für den
politischen Zweck", sondern nur die verwirklichte Abstraktion des Privateigentums ist. Vielmehr wird durch diese Verkehrung des Naturprinzipes
der Familie ebenso der politische Zweck verkehrt, „womit (?) dieser Stand
1
in Wirklichkeit
wesentlich an die Tätigkeit für diesen Zweck angewiesen" - durch die
Verselbständigung des Privateigentums? - „und gleichfalls in Folge hiervon ohne die Zufälligkeit einer Wahl durch die Geburt dazu berufen und
berechtigt".
Hier ist also die Partizipation an der gesetzgebenden Gewalt ein angebornes
Menschenrecht. Hier haben wir geborene Gesetzgeber, die geborene Vermittelung
des politischen Staates mit sich selbst. Man hat sich, besonders von seiten der
Majoratsherrn, sehr mokiert über die angebornen Menschenrechte. Ist es nicht
komischer, daß einer besondern Menschenrasse das Recht der höchsten Würde
der gesetzgebenden Gewalt anvertraut ist? Nichts ist lächerlicher, als daß
Hegel die Berufung zum Gesetzgeber, zum Repräsentant des Staatsbürgertums durch die „Geburt" der Berufung durch „die Zufälligkeit einer Wahl"
entgegenstellt. Als wenn die Wahl, das bewußte Produkt des bürgerlichen
Vertrauens, nicht in einem ganz andern notwendigen Zusammenhang mit
dem politischen Zweck stände als der physische Zufall der Geburt. Hegel
sinkt überall von seinem politischen Spiritualismus in den krassesten Materialismus herab. Auf den Spitzen des politischen Staates ist es überall die
Geburt, welche bestimmte Individuen zu Inkorporationen der höchstenStaatsaufgaben macht. Die höchsten Staatstätigkeiten fallen mit den Individuen
durch die Geburt zusammen, wie die Stelle des Tiers, sein Charakter, Lebensweise etc. unmittelbar ihm angeboren wird. Der Staat in seinen höchsten
Funktionen erhält eine tierische Wirklichkeit. Die Natur rächt sich an Hegel
wegen der ihr bewiesenen Verachtung. Wenn die Materie nichts für sich mehr
sein sollte gegen den menschlichen Willen, so behält hier der menschliche
Wille nichts mehr für sich außer der Materie.
Die falsche Identität, die fragmentarische, stellenweise Identität zwischen
Natur und Geist, Körper und Seele, erscheint als Inkorporation. Da die Geburt dem Menschen nur das individuelle Dasein gibt und ihn zunächst nur
als natürliches Individuum setzt, die staatlichen Bestimmungen wie die gesetzgebende Gewalt etc. aber soziale Produkte, Geburten der Sozietät und nicht
Zeugungen des natürlichen Individuums sind, so ist eben die unmittelbare
Identität, das unvermittelte Zusammenfallen zwischen der Geburt des Individuums und dem Individuum als Individuation einer bestimmten sozialen
Stellung, Funktion etc. das Frappante, das Wtmder. Die Natur macht in diesem
System unmittelbar Könige, sie macht unmittelbar Pa/rs etc., wie sie Augen
und Nasen macht. Das Frappante ist, als unmittelbares Produkt der physischen Gattung zu sehn, was nur das Produkt der selbstbewußten Gattung ist.
Mensch bin ich durch die Geburt ohne die Übereinstimmung der Gesellschaft, Pair oder König wird diese bestimmte Geburt erst durch die allgemeine
Übereinstimmung. Die Übereinstimmung macht die Geburt dieses Menschen erst zur Geburt eines Königs: Also ist es die Übereinstimmung und
nicht die Geburt, die den König macht. Wenn die Geburt, im Unterschied
von den andern Bestimmungen, dem Menschen unmittelbar eine Stellung
gibt, so macht ihn sein Körper zu diesem bestimmten sozialen Funktionär. Sein
Körper ist sein soziales Recht. In diesem System erscheint die körperliche
Würde des Menschen oder die Würde des menschlichen Körpers (was weiter
ausgeführt lauten kann: die Würde des physischen Naturelements des Staats)
so, daß bestimmte, und zwar die höchsten sozialen Würden die Würden bestimmter durch die Geburt prädestinierter Körper sind. Es ist daher bei dem
Adel natürlich der Stolz auf das Blut, die Abstammung, kurz die Lebensgeschichte ihres Körpers; es ist natürlich diese zoologische Anschauungsweise,
die in der Heraldik die ihr entsprechende Wissenschaft besitzt. Das Geheimnis des Adels ist die Zoologie.
Es sind zwei Momente bei dem erblichen Majorat hervorzuheben:
1. Das Bleibende ist das Erbgut, der Grundbesitz. Es ist das Beharrende
in dem Verhältnis - die Substanz. Der Majoratsherr, der Besitzer, ist eigentlich nur Akzidens. Der Grundbesitz anthropomorphisiert sich in den verschiedenen Geschlechtern. Der Grundbesitz erbt gleichsam immer den Erstgebornen des Hauses als das an es gefesselte Attribut. Jeder Erstgeborne in
der Reihe der Grundbesitzer ist das Erbteil, das Eigentum des unveräußerlichen Grundbesitzes, die prädestinierte Substanz seines Willens und seiner
Tätigkeit. Das Subjekt ist die Sache und das Prädikat der Mensch. Der Wille
wird zum Eigentum des Eigentums.
2. Die politische Qualität des Majoratsherren ist die politische Qualität
seines Erbguts, eine diesem Erbgut inhärente politische Qualität. Die politische Qualität erscheint hier also ebenfalls als Eigentum des Grundeigentums,
als eine Qualität, die unmittelbar der rein physischen Erde (Natur) zukommt.
Was das erste angeht, so folgt daraus, daß der Majoratsherr der Leibeigene
des Grundeigentums ist und daß in den Leibeigenen, die ihm Untertan sind,
nur die praktische Konsequenz des theoretischen Verhältnisses erscheint, in
welchem er selbst sich zu dem Grundbesitz befindet. Die Tiefe der germanischen Subjektivität erscheint überall als die Roheit einer geistlosen Objektivität.
Es ist hier auseinanderzusetzen das Verhältnis 1. zwischen Privateigentum
und Erbschaft, 2. zwischen Privateigentum, Erbschaft und dadurch dem
Privilegium gewisser Geschlechter auf Teilnahme an der politischen Souveränität, 3. das wirkliche historische Verhältnis oder das germanische Verhältnis.
Wir haben gesehn, daß das Majorat die Abstraktion des „unabhängigen
Privateigentums" ist. Es schließt sich eine zweite Konsequenz hieran an. Die
Unabhängigkeit, die Selbständigkeit in dem politischen Staat, dessen Konstruktion wir bisher verfolgt haben, ist das Privateigentum, was auf seiner
Spitze als unveräußerlicher Grundbesitz erscheint. Die politische Unabhängigkeit fließt daher nicht ex proprio sinu1 des politischen Staats, sie ist
keine Gabe des politischen Staats an seine Glieder, sie ist nicht der ihn beseelende Geist, sondern die Glieder des politischen Staats empfangen ihre
Unabhängigkeit von einem Wesen, welches nicht das Wesen des politischen
Staats ist, von einem Wesen des abstrakten Privatrechts, vom abstrakten
Privateigentum. Die politische Unabhängigkeit ist ein Akzidens des Privateigentums, nicht die Substanz des politischen Staats. Der politische Staat
und in ihm die gesetzgebende Gewalt, wie wir gesehn, ist das enthüllte Mysterium von dem wahren Wert und Wesen der Staatsmomente. Die Bedeutung,
die das Privateigentum im politischen Staat hat, ist seine wesentliche, seine
wahre Bedeutung; die Bedeutung, die der Standesunterschied im politischen
Staat hat, ist die wesentliche Bedeutung des Standesunterschiedes. Ebenso
kommt das Wesen der fürstlichen [Macht] und der Regierung in der „gesetzgebenden Gewalt" zur Erscheinung. Hier, in der Sphäre des politischen
Staates, ist es, daß sich die einzelnen Staatsmomente zu sich als dem Wesen
der Gattung, als dem „Gattungswesen" verhalten; weil der politische Staat
die Sphäre ihrer allgemeinen Bestimmung, ihre religiöse Sphäre ist. Der
politische Staat ist der Spiegel der Wahrheit für die verschiedenen Momente
des konkreten Staats.
Wenn also das „unabhängige Privateigentum" im politischen Staat, in
der gesetzgebenden Gewalt, die Bedeutung der politischen Unabhängigkeit
hat, so ist es die politische Unabhängigkeit des Staats. Das „unabhängige
Privateigentum" oder das „wirkliche Privateigentum" ist dann nicht nur die
„Stütze der Verfassung", sondern die „Verfassung selbst". Und die Stütze
der Verfassung ist doch wohl die Verfassung der Verfassungen, die primäre,
die wirkliche Verfassung?
Hegel machte bei Konstruierung des erblichen Monarchen, gleichsam
selbst überrascht über „die immanente Entwicklung einer Wissenschaft, die
Ableitung ihres ganzen Inhaltes aus dem einfachen Begriffe" (§ 279 Anmerkung), die Bemerkung:
„So ist es das Grundmoment der zuerst im unmittelbaren Rechte a b s t r a k t e n
P e r s ö n l i c h k e i t , welches sich durch seine verschiedenen Formen von Subjektivität
1
aus dem eigenen Wesen
fortgebildet hat und hier im absoluten Rechte, dem Staate, der vollkommen konkreten
Objektivität des Willens, die Persönlichkeit des Staats ist, seine Gewißheit seiner selbst."
D. h., im politischen Staat kommt es zur Erscheinung, daß die „abstrakte
Persönlichkeit" die höchste politische Persönlichkeit, die politische Basis des
ganzen Staats ist. Ebenso kommt im Majorat das Recht dieser abstrakten
Persönlichkeit, ihre Objektivität, das „abstrakte Privateigentum" als die
höchste Objektivität des Staates, als sein höchstes Recht zum Dasein.
Der Staat ist erblicher Monarch, abstrakte Persönlichkeit heißt nichts
als die Persönlichkeit des Staats ist abstrakt, oder es ist der Staat der abstrakten Persönlichkeit, wie denn auch die Römer das Recht des Monarchen
rein innerhalb der Normen des Privatrechts oder das Privatrecht als die
höchste Norm des Staatsrechts entwickelt haben.
Die Römer sind die Rationalisten, die Germanen die Mystiker des souveränen Privateigentums.
Hegel bezeichnet das Privatrecht als das Recht der abstrakten Persönlichkeit
oder als das abstrakte Recht. Und in Wahrheit muß es als die Abstraktion des
Rechts und damit als das illusorische Recht der abstrakten Persönlichkeit entwickelt werden, wie die von Hegel entwickelte Moral das illusorische Dasein
der abstrakten Subjektivität ist. Hegel entwickelt das Privatrecht und die
Moral als solche Abstraktionen, woraus bei ihm nicht folgt, daß der Staat,
die Sittlichkeit, die sie zu Voraussetzungen hat, nichts als die Sozietät (das
soziale Leben) dieser Illusionen sein kann, sondern umgekehrt geschlossen
wird, daß sie subalterne Momente dieses sittlichen Lebens sind. Aber was
ist das Privatrecht anders als das Recht und die Moral anders als die Moral
dieser Staatssubjekte? Oder vielmehr die Person des Privatrechts und das
Subjekt der Moral sind die Person und das Subjekt des Staats. Man hat
Hegel vielfach angegriffen über seine Entwicklung der Moral. Er hat nichts
getan, als die Moral des modernen Staats und des modernen Privatrechts entwickelt. Man hat die Moral mehr vom Staat trennen, sie mehr emanzipieren
wollen. Was hat man damit bewiesen? Daß die Trennung des jetzigen Staats
von der Moral moralisch ist, daß die Moral unstaatlich und der Staat unmoralisch ist. Es ist vielmehr ein großes, obgleich nach einer Seite hin (nämlich nach der Seite hin, daß Hegel den Staat, der eine solche Moral zur
Voraussetzung hat, für die reale Idee der Sittlichkeit ausgibt) unbewußtes
Verdienst Hegels, der modernen Moral ihre wahre Stellung angewiesen zu
haben.
In der Verfassung, worin das Majorat eine Garantie ist, ist das Privateigentum die Garantie der politischen Verfassung. Im Majorat erscheint das
so, daß eine besondere Art von Privateigentum diese Garantie ist. Das Majorat
ist bloß eine besondere Existenz des allgemeinen Verhältnisses von Privat'
eigetitum und politischem Staat. Das Majorat ist der politische Sinn des Privateigentums, das Privateigentum in seiner politischen Bedeutung, d. h. in
seiner allgemeinen Bedeutung. Die Verfassung ist also hier Verfassung des
Privateigentums.
Wo wir das Majorat in seiner klassischen Ausbildung antreffen, bei den
germanischen Völkern, finden wir auch die Verfassung des Privateigentums.
Das Privateigentum ist die allgemeine Kategorie, das allgemeine Staatsband.
Selbst die allgemeinen Funktionen erscheinen als Privateigentum bald einer
Korporation, bald eines Standes.
Handel und Gewerbe sind in ihren besondern Nuancen das Privateigentum besonderer Korporationen. Hofwürden, Gerichtsbarkeit etc. sind das
Privateigentum besonderer Stände. Die verschiedenen Provinzen sind das
Privateigentum einzelner Fürsten etc. Der Dienst für das Land etc. ist das
Privateigentum des Herrschers. Der Geist ist das Privateigentum der Geistlichkeit. Meine pflichtgemäße Tätigkeit ist das Privateigentum eines andern,
wie mein Recht wieder ein besondres Privateigentum ist. Die Souveränität,
hier die Nationalität, ist das Privateigentum des Kaisers.
Man hat oft gesagt, daß im Mittelalter jede Gestalt des Rechts, der Freiheit, des sozialen Daseins als ein Privilegium, als eine Ausnahme von der
Regel erscheint. Man konnte das empirische Faktum dabei nicht übersehn,
daß diese Privilegien alle in der Form des Privateigentums erscheinen. Was ist
der allgemeine Grund dieses Zusammenfallens? Das Privateigentum ist das
Gattungsdasein des Privilegiums, des Rechts als einer Ausnahme.
Wo die Fürsten, wie in Frankreich, die Unabhängigkeit des Privateigentums angriffen, attentierten sie das Eigentum der Korporationen, ehe sie das
Eigentum der Individuen attentierten. Aber indem sie das Privateigentum
der Korporationen angriffen, griffen sie das Privateigentum als Korporation,
als das soziale Band an.
In der Lehensherrschaft erscheint es gradezu, daß die fürstliche Macht die
Macht des Privateigentums ist, und in der fürstlichen Macht ist das Mysterium
niedergelegt, was die allgemeine Macht, was die Macht aller Staatskreise ist.
(In dem Fürsten als dem Repräsentanten der Staatsmacht ist ausgesprochen, was das Mächtige des Staats ist. Der konstitutionelle Fürst drückt daher
die Idee des konstitutionellen Staates in ihrer schärfsten Abstraktion aus. Er
ist einerseits die Idee des Staats, die geheiligte Staatsmajestät, und zwar als
diese Person. Zugleich ist er eine bloße Imagination, er hat als Person und als
Fürst weder wirkliche Macht noch wirkliche Tätigkeit. Eis ist hier die Trennung der politischen und wirklichen, der formellen und materiellen, der
allgemeinen und individuellen Person, des Menschen und des sozialen Menschen in ihrem höchsten Widerspruch ausgedrückt.)
Das Privateigentum ist römischen Verstandes und germanischen Gemüts.
Es wird an diesem Ort belehrend sein, eine Vergleichung zwischen diesen
beiden extremen Entwicklungen desselben anzustellen. Es wird uns dies
zur Lösung des besprochenen politischen Problems behilflich sein.
Die Römer haben eigentlich erst das Recht des Privateigentums, das abstrakte Recht, das Privatrecht, das Recht der abstrakten Person ausgebildet.
Das römische Privatrecht ist das Privatrecht in seiner klassischen Ausbildung.
Wir finden aber nirgends bei den Römern, daß das Recht des Privateigentums, wie bei den Deutschen, mystifiziert worden wäre. Es wird auch nirgends zum Staatsrecht.
Das Recht des Privateigentums ist das jus utendi et abutendi1, das Recht
der Willkür über die Sache. Das Hauptinteresse der Römer besteht darin, die
Verhältnisse zu entwickeln und zu bestimmen, welche sich als abstrakte Verhältnisse des Privateigentums ergeben. Der eigentliche Grund des Privateigentums, der Besitz, ist ein Faktum, ein unerklärliches Faktum, kein Recht.
Erst durch juristische Bestimmungen, die die Sozietät dem faktischen Besitz
gibt, erhält er die Qualität des rechtlichen Besitzes, des Privateigentums.
Was bei den Römern den Zusammenhang zwischen politischer Verfassung und Privateigentum betrifft, so erscheint:
1. Der Mensch (als Sklave), wie bei den alten Völkern überhaupt, als
Gegenstand des Privateigentums.
Das ist nichts Spezifisches.
2. Die eroberten Länder werden als Privateigentum behandelt, das jus
utendi et abutendi wird in ihnen geltend gemacht.
3. In ihrer Geschichte selbst erscheint der Kampf zwischen Armen und
Reichen (Patriziern und Plebejern) etc.
Im übrigen macht sich das Privateigentum im Ganzen, wie bei den alten
klassischen Völkern überhaupt, als öffentliches Eigentum geltend, entweder,
wie in den guten Zeiten, als Aufwand der Republik oder als luxuriöse und
allgemeine Wohltat (Bäder etc.) gegen den Haufen.
Die Art Und Weise, wie die Sklaverei erklärt wird, ist das Kriegsrecht, das
Recht der Okkupation: eben weil ihre politische Existenz vernichtet ist, sind
sie Sklaven.
Zwei Verhältnisse heben wir hauptsächlich im Unterschied von den
Germanen hervor.
1
Recht der Nutzimg uttd Verfügung
21 Marx/Engels, Werke, Bd. I
1. Die kaiserliche Gewalt war nicht die Gewalt des Privateigentums, sondern die Souveränität des empirischen Willens als solchen, die weit entfernt
war, das Privateigentum als Band zwischen sich und ihren Untertanen zu betrachten, sondern im Gegenteil mit dem Privateigentum schaltete, wie mit
allen übrigen sozialen Gütern. Die kaiserliche Gewalt war daher auch nicht
anders als faktisch erllich. Die höchste Ausbildung des Rechts des Privateigentums, des Privatrechts, fällt zwar in die Kaiserzeit, aber sie ist vielmehr
eine Konsequenz der politischen Auflösung, als daß die politische Auflösung
eine Konsequenz des Privateigentums wäre. Zudem, als das Privatrecht in
Rom zur vollen Entwicklung gelangt, ist das Staatsrecht aufgehoben, in seiner
Auflösung begriffen, während es in Deutschland sich umgekehrt verhielt.
2. Die Staatswürden sind niemals in Rom erblich, d.h., das Privateigentum ist nicht die herrschende Stäatskategorie.
3. Im Gegensatz zu dem germanischen Majorat etc. erscheint in Rom die
Willkür des Testierens als Ausfluß des Privateigentums. In diesem letzteren
Gegensatz liegt der ganze Unterschied der römischen und germanischen
Entwicklung des Privateigentums.
(Im Majorat erscheint dies, daß das Privateigentum das Verhältnis zur
Staatsfunktion ist, so, daß das Staatsdasein eine Inhärenz, Akzidens des
unmittelbaren Privateigentums, des Grundbesitzes ist. Auf den höchsten
Spitzen erscheint so der Staat als Privateigentum, während hier das Privateigentum als Staatseigentum erscheinen sollte. Statt das Privateigentum zu
einer staatsbürgerlichen Qualität, macht Hegel das Staatsbürgertum und
Staatsdasein und Staatsgesinnung zu einer Qualität des Privateigentums.)
„ § 308. In den andern Teil des ständischen Elements fällt die bewegliche Seite der
bürgerlichen Gesellschaft, die äußerlich wegen der Menge ihrer Glieder, wesentlich aber
wegen der Natur ihrer Bestimmung und Beschäftigung, nur durch Abgeordnete eintreten kann. Insofern diese von der bürgerlichen Gesellschaft abgeordnet werden, liegt
es unmittelbar nahe, daß dies diese tut als das, mas sie ist - somit nicht als in die Einzelnen atomistisch aufgelöst und nur für einen einzelnen und temporären Akt sich auf
einen Augenblick ohne weitere Haltung versammelnd, sondern als in ihre ohnehin
konstituierten Genossenschaften, Gemeinden und Korporationen gegliedert, welche
auf diese Weise einen politischen Zusammenhang erhalten. In ihrer B e r e c h t i g u n g
zu solcher von der fürstlichen Gewalt aufgerufenen Abordnung, wie in der Berechtigung des ersten Standes zur Erscheinung (§ 307) findet die Existenz der Stände und
ihrer Versammlung eine konstituierte, eigentümliche Garantie."
Wir finden hier einen neuen Gegensatz der bürgerlichen Gesellschaft
und der Stände, einen beweglichen, also auch einen unbeweglichen Teil derselben (den des Grundbesitzes). Man hat diesen Gegensatz auch als Gegen-
satz von Raum und Zeit etc. konservativ und progressiv dargestellt. Darüber
siehe den vorigen Paragraphen. Übrigens hat Hegel den beweglichen Teil der
Gesellschaft ebenfalls zu einem stabilen durch die Korporationen etc. gemacht.
Der zweite Gegensatz ist, daß der erste, eben entwickelte Teil des ständischen Elements, die Majoratsherrn, als solche Gesetzgeber sind; daß die gesetzgebende Gewalt ein Attribut ihrer empirischen Person ist; daß sie keine
Abgeordneten, sondern sie selbst sind; während bei dem zweiten Stand Wahl
und Abordnung stattfindet.
Hegel gibt zwei Gründe an, warum dieser bewegliche Teil der bürgerlichen
Gesellschaft nur durch Abgeordnete in den politischen Staat, die gesetzgebende Gewalt eintreten kann. Den ersten, ihre Menge, bezeichnet er selbst
als äußerlich und überhebt uns daher dieser Replik.
Der wesentliche Grund aber sei die „Natur ihrer Bestimmung und Beschäftigung". Die „politische Tätigkeit" und „Beschäftigung" ist ein „der
Natur ihrer Bestimmung und Beschäftigung" Fremdes.
Hegel kommt nun wieder auf sein altes Lied, auf diese Stände als „Abgeordnete der bürgerlichen Gesellschaft". Diese müsse „dies tun als das, was
sie ist". Sie muß es vielmehr tun als das, was sie nicht ist, denn sie ist unpolitische Gesellschaft, und sie soll hier einen politischen Akt als einen ihr
wesentlichen, aus ihr selbst hervorgehenden Akt vollziehn. Damit ist sie in die
„Einzelnen atomistisch aufgelöst" „und nur für einen einzelnen und temporären Akt sich auf einen Augenblick ohne weitere Haltung versammelnd".
Erstens ist ihr politischer Akt ein einzelner und temporärer und kann daher in
seiner Verwirklichung nur als solcher erscheinen. Er ist ein Eklat machender
Akt der politischen Gesellschaft, eine Ekstase derselben, und als solcher muß
er auch erscheinen. Zweitens. Hegel hat keinen Anstoß daran genommen, es
sogar als notwendig konstruiert, daß die bürgerliche Gesellschaft materiell
(nur als eine zweite, von ihr abgeordnete Gesellschaft auftritt) sich von ihrer
bürgerlichen Wirklichkeit trennt und das, was sie nicht ist, als sich setzt, wie
kann er dies nun formell verwerfen wollen?
Hegel meint, dadurch, daß die Gesellschaft in ihren Korporationen etc.
abordnet, erhalten „ihre ohnehin konstituierten Genossenschaften" etc. „auf
diese Weise einen politischen Zusammenhang". Sie erhalten aber entweder
eine Bedeutung, die nicht ihre Bedeutung ist, oder ihr Zusammenhang als
solcher ist der politische und „erhält" nicht erst die politische Teinture1,
wie oben entwickelt, sondern die „Politik" erhält aus ihm ihren Zusammen1
Färbung
hang. Dadurch, daß Hegel nur diesen Teil des ständischen Elements als das
des „Abgeordneten" bezeichnet, hat er unbewußt das Wesen der beiden
Kammern (da, wo sie wirklich das von ihm bezeichnete Verhältnis zueinander haben) bezeichnet. Abgeordnetenkammer und Pairskammer (oder wie
sie sonst heißen) sind hier nicht verschiedene Existenzen desselben Prinzips,
sondern zwei wesentlich verschiedenen Prinzipien und sozialen Zuständen angehörig. Die Abgeordnetenkammer ist hier die politische Konstitution der
bürgerlichen Gesellschaft im modernen, die Pairskammer im ständischen
Sinn. Pairskammer und Abgeordnetenkammer stehn sich hier gegenüber als
ständische und als politische Repräsentation der bürgerlichen Gesellschaft.
Die eine ist das existierende ständische Prinzip der bürgerlichen Gesellschaft,
die andre ist die Verwirklichung ihres abstrakten politischen Daseins. Es versteht sich daher von selbst, daß die letztere nicht wieder als Repräsentation
von Ständen, Korporationen etc. da sein kann, denn sie repräsentiert eben
nicht das ständische, sondern das politische Dasein der bürgerlichen Gesellschaft. Es versteht sich dann von selbst, daß in der ersten Kammer nur
der ständische Teil der bürgerlichen Gesellschaft, der „souveräne Grundbesitz", der erbgeseßne Adel Sitz hat, denn er ist nicht ein Stand unter andern
Ständen, sondern das ständische Prinzip der bürgerlichen Gesellschaft als
wirkliches soziales, also politisches Prinzip, existiert nur mehr in ihm. Er ist
der Stand. Die bürgerliche Gesellschaft hat dann in der ständischen Kammer
den Repräsentant ihres mittelaltrigen, in der Abgeordnetenkammer ihres
politischen (modernen) Daseins. Der Fortschritt besteht hier gegen das
Mittelalter nur darin, daß die ständische Politik zu einer besondern politischen Existenz neben der staatsbürgerlichen Politik herabgesetzt ist. Die
empirische politische Existenz, die Hegel vor Augen hat (England), hat also
einen ganz anderen Sinn, als er ihr unterschiebt.
Die französische Konstitution ist auch hierin ein Fortschritt. Sie hat
zwar die Pairskammer zur reinen Nichtigkeit herabgesetzt, aber diese Kammer, innerhalb des Prinzips des konstitutionellen Königstums, wie es Hegel
zu entwickeln vorgab, kann seiner Natur [nach] nur eine Nichtigkeit sein, die
Fiktion der Harmonie zwischen Fürst und bürgerlicher Gesellschaft oder
der gesetzgebenden Gewalt oder des politischen Staats mit sich selbst als eine
besondre und dadurch eben wieder gegensätzliche Existenz.
Die Franzosen haben die Lebenslänglichkeit der Pairs bestehn lassen, um
ihre gleiche Unabhängigkeit von der Wahl der Regierung und des Volks
auszudrücken. Aber sie haben den mittelaltrigen Ausdruck - die Erblichkeit abgeschafft. Ihr Fortschritt besteht darin, daß sie die Pairskammer ebenfalls
nicht mehr aus der wirklichen bürgerlichen Gesellschaft hervorgehen lassen,
sondern ebenfalls in der Abstraktion von ihr geschaffen haben. Ihre Wahl
lassen sie von dem existierenden politischen Staat, vom Fürsten, ausgehn,
ohne ihn an eine sonstige bürgerliche Qualität gebunden zu haben. Die
Pairswürde ist in dieser Konstitution wirklich ein Stand in der bürgerlichen
Gesellschaft, der rein politisch ist, vom Standpunkt der Abstraktion des
politischen Staates aus geschaffen ist; er erscheint aber mehr als politische
Dekoration wie als wirklicher, mit besondern Rechten ausgestatteter Stand.
Die Pairskammer unter der Restauration war eine Reminiszenz. Die Pairskammer der Julirevolution11433 ist ein wirkliches Geschöpf der konstitutionellen
Monarchie.
Da in der modernen Zeit die Staatsidee nicht anders als in der Abstraktion
des „nur politischen Staates" oder der Abstraktion der bürgerlichen Gesell'
schaft von sich seihst, von ihrem wirklichen Zustande, erscheinen konnte, so
ist es ein Verdienst der Franzosen, diese abstrakte Wirklichkeit festgehalten,
produziert und damit das politische Prinzip selbst produziert zu haben. Was
man ihnen als Abstraktion vorwirft, ist also wahrhafte Konsequenz und das
Produkt der, wenn auch erst in einem Gegensatz, aber in einem notwendigen Gegensatz, wiedergefundnen Staatsgesinnung. Das Verdienst der Franzosen ist also hier, die Pairskammer als eigentümliches Produkt des politischen Staats gesetzt oder überhaupt das politische Prinzip in seiner Eigentümlichkeit zum Bestimmenden und Wirksamen gemacht zu haben.
Hegel bemerkt noch, daß bei der von ihm konstruierten Abordnung, in
der „Berechtigung der Korporationen etc. zu solcher Abordnung", „die
Existenz der Stände und ihrer Versammlung eine konstituierte, eigentümliche Garantie findet". Die Garantie der Existenz der ständischen Versammlung, ihre wahre primitive Existenz wird also das Privilegium der
Korporationen etc. Hiermit ist Hegel ganz auf den mittelaltrigen Standpunkt herabgesunken und hat seine „Abstraktion des politischen Staats als
der Sphäre des Staats als Staat, das an und für sich Allgemeine" gänzlich
aufgegeben.
Im modernen Sinn ist die Existenz der ständischen Versammlung die
politische Existenz der bürgerlichen Gesellschaft, die Garantie ihres politischen Daseins. Das In-Zweifel-Ziehn ihrer Existenz ist also der Zweifel am
Dasein des Staats. Wie vorhin bei Hegel die „Staatsgesinnung", das Wesen
der gesetzgebenden Gewalt, ihre Garantie in dem „unabhängigen Privateigentum", so findet ihre Existenz die Garantie an den „Privilegien der
Korporationen".
Aber das eine ständische Element ist vielmehr das politische Privilegium
der bürgerlichen Gesellschaft, oder ihr Privilegium, politisch zu sein. Es kann
also nirgends das Privilegium einer besondem, bürgerlichen Weise ihres
Daseins sein, noch weniger seine Garantie in ihm finden, da es vielmehr die
allgemeine Garantie sein soll.
So sinkt Hegel überall dahin hinab, den „politischen Staat" nicht als die
höchste, an und für sich seiende Wirklichkeit des sozialen Daseins zu schildern, sondern ihm eine prekäre, in Beziehung auf andres abhängige Wirklichkeit zu geben: ihn nicht als das wahre Dasein der andern Sphäre zu schildern,
sondern ihn vielmehr in der andern Sphäre sein wahres Dasein finden zu
lassen. Er bedarf überall der Garantie der Sphären, die außer ihm liegen. Er
ist nicht die verwirklichte Macht. Er ist die gestützte Ohnmacht, er ist nicht
die Macht über diese Stützen, sondern die Macht der Stütze. Die Stütze ist
das Mächtige.
Was ist das für ein hohes Dasein, dessen Existenz einer Garantie außer
sich selbst bedarf, und dabei soll es das allgemeine Dasein dieser Garantie
selbst sein; also ihre wirkliche Garantie. Hegel sinkt überhaupt überall in der
Entwicklung der gesetzgebenden Gewalt von dem philosophischen Standpunkt auf den andren Standpunkt zurück, der die Sache nicht in bezug auf
sich selbst betrachtet.
Wenn die Existenz der Stände einer Garantie bedarf, so sind sie keine
wirkliche, sondern nur eine fiktive Staatsexistenz. Die Garantie für die Existenz der Stände ist in den konstitutionellen Staaten das Gesetz. Ihr Dasein
ist also gesetzliches Dasein, vom allgemeinen Wesen des Staats und nicht von
der Macht oder Ohnmacht einzelner Korporationen, Genossenschaften abhängig, sondern als Wirklichkeit der Genossenschaft des Staats. (Die Korporationen etc., die besondren Kreise der bürgerlichen Gesellschaft, sollen ja
eben erst hier ihr allgemeines Dasein erhalten, und nun antizipiert Hegel
wieder dies allgemeine Dasein als Privilegium, als das Dasein dieser Besonderheiten.)
Das politische Recht als Recht von Korporationen etc. widerspricht ganz
dem politischen Recht als politischem, als Recht des Staats, des Staatsbürgertums; denn es soll ja eben nicht das Recht dieses Daseins als besondem Daseins sein, nicht das Recht als dies besondere Dasein.
Ehe wir nun die Kategorie der Wahl als des politischen Akts, wodurch
sich die bürgerliche Gesellschaft in einen politischen Ausschuß sezemiert,
übergehn, nehmen wir noch einige Bestimmungen aus der Anmerkung zu
diesem Paragraphen hinzu.
„Daß Alle einzeln an der Beratung und Beschließung über die allgemeinen A n gelegenheiten des Staats Anteil haben sollen, weil diese Alle Mitglieder des Staats und
dessen Angelegenheiten die Angelegenheiten Aller sind, bei denen sie mit ihrem Wissen
und Willen zu sein ein Recht haben - , diese Vorstellung, welche das demokratische
Element ohne alle vernünftige Form in den Staatsorganismus, der nur durch solche Form
es ist, setzen wollte, liegt darum so nahe, weil sie bei der abstrakten Bestimmung, M i t glied des Staats zu sein, stehenbleibt, und das oberflächliche Denken sich an Abstraktionen hält."
Zunächst nennt es Hegel eine „abstrakte Bestimmung, Mitglied des
Staats zu sein", obgleich es selbst nach der Idee, der Meinung seiner eignen
Entwicklung, die höchste konkreteste soziale Bestimmung der Rechtsperson,
des Staatsmitgliedes ist. Bei der „Bestimmung, Mitglied des Staats zu sein",
stehnbleiben und den Einzelnen in dieser Bestimmung fassen, das scheint
daher nicht eben das „oberflächliche Denken zu sein, das sich an Abstraktionen hält". Daß aber die „Bestimmung, Mitglied des Staats zu sein", eine
„abstrakte" Bestimmung ist, das ist nicht die Schuld dieses Denkens, sondern der Hegeischen Entwicklung und der wirklichen modernen Verhältnisse, welche die Trennung des wirklichen Lebens vom Staatsleben voraussetzen und die Staatsqualität zu einer „abstrakten Bestimmung" des wirklichen Staatsmitgliedes machen.
Die unmittelbare Teilnahme Aller an der Beratung und Beschließung
über die allgemeinen Staatsangelegenheiten nimmt nach Hegel „das demokratische Element ohne alle vernünftige Form in den Staatsorganismus, der
nur durch solche Form ist", auf; d. h., das demokratische Element kann nur
als formelles Element in einen Staatsorganismus aufgenommen werden, der
nur der Formalismus des Staats ist. Das demokratische Element muß vielmehr das wirkliche Element sein, das sich in dem ganzen Staatsorganismus
seine vernünftige Form gibt. Tritt es dagegen als ein „besondres" Element
in den Staatsorganismus oder -formalismus, so ist unter der „vernünftigen
Form' seines Daseins die Dressur, die Akkommodation, eine Form verstanden, in der es nicht die Eigentümlichkeit seines Wesens herauskehrt,
oder daß es nur als formelles Prinzip hereintritt.
Wir haben schön einmal angedeutet, Hegel entwickelt nur einen Staatsformalismus. Das eigentliche materielle Prinzip ist ihm die Idee, die abstrakte
Gedanken/orm des Staats als ein Subjekt, die absolute Idee, die kein passives,
kein materielles Moment in sich hat. Gegen die Abstraktion dieser Idee erscheinen die Bestimmungen des wirklichen, empirischen Staatsformalismus
als Inhalt und daher der wirkliche Inhalt als formloser, unorganischer Stoff
(hier der wirkliche Mensch, die wirkliche Sozietät etc.).
Hegel hatte das Wesen des ständischen Elements darin gelegt, daß hierin
die „empirische Allgemeinheit" zum Subjekt des an und für sich seienden
Allgemeinen wird. Heißt das nun was andres, als daß die Angelegenheiten
des Staats „Angelegenheiten Aller sind, bei denen sie mit ihrem Wissen und
Willen zu sein das Recht haben", und sollen nicht eben die Stände dies ihr
verwirklichtes Recht sein? Und ist es nun wunderbar, daß die Allen nun
auch die „Wirklichkeit" dieses ihres Rechts wollen?
„Daß Alle einzeln an der Beratung und Beschließung über die allgemeinen A n gelegenheiten des Staats Anteil haben sollen."
In einem wirklich vernünftigen Staat könnte man antworten: „Es sollen
nicht Alle einzeln an der Beratung und Beschließung über die allgemeinen
Angelegenheiten des Staats Anteil haben", denn die „Einzelnen" haben als
„Alle", d. h. innerhalb der Sozietät und als Glieder der Sozietät, Anteil an
der Beratung und Beschließung über die allgemeinen Angelegenheiten. Nicht
Alle einzeln, sondern die Einzelnen als Alle.
Hegel stellt sich selbst das Dilemma. Entweder die bürgerliche Gesellschaft (die Vielen, die Menge) nimmt durch Abgeordnete teil an der
Beratung und Beschließung über die allgemeinen Staatsangelegenheiten, oder
Alle tun dies [als die] Einzelnen. Es ist dies kein Gegensatz des Wesens, als
welchen ihn Hegel später darzustellen sucht, sondern der Existenz, und zwar
der äußerlichsten Existenz, der Zahl, womit immer der Grund, den Hegel
selbst als „äußerlich" bezeichnet hat - die Menge der Glieder - , der beste
Grund gegen die unmittelbare Teilnahme Aller bleibt. Die Frage, ob die
bürgerliche Gesellschaft so teil an der gesetzgebenden Gewalt nehmen soll,
daß sie entweder durch Abgeordnete eintritt oder so, daß „Alle einzeln" unmittelbar teilnehmen, ist selbst eine Frage innerhalb der Abstraktion des
politischen Staats oder innerhalb des abstrakten politischen Staats; es ist eine
abstrakte politische Frage.
Es ist in beiden Fällen, wie Hegel dies selbst entwickelt hat, die politische
Bedeutung der „empirischen Allgemeinheit".
Der Gegensatz in seiner eigentlichen Form ist: Die Einzelnen tun es Alle,
oder die Einzelnen tun es als Wenige, als Nicht~Alle. In beiden Fällen bleibt
die Allheit nur als äußerliche Vielheit oder Totalität der Einzelnen. Die Allheit ist keine wesentliche, geistige, wirkliche Qualität des Einzelnen. Die
Allheit ist nicht etwas, wodurch er die Bestimmung der abstrakten Einzelnheit verlöre; sondern die Allheit ist nur die volle Zahl der Einzelnheit. Eine
Einzelnheit, viele Einzelnheiten, alle Einzelnheiten. Das Eins, Viele, Alle keine dieser Bestimmungen verwandelt das Wesen des Subjekts, der Einzelnheit.
„Alle" sollen „einzeln" an der „Beratung und Beschließung über die
allgemeinen Angelegenheiten des Staats Anteil nehmen"; d.h. also: Alle sollen nicht als Alle, sondern als „einzeln" diesen Anteil nehmen.
Die Frage scheint in doppelter Hinsicht in Widerspruch mit sich zu stehn.
Die allgemeinen Angelegenheiten des Staats sind die Staatsangelegenheit, der Staat als wirkliche Angelegenheit. Die Beratung und Beschließung
ist die Effektuierung des Staats als wirklicher Angelegenheit. Daß also alle
Staatsglieder ein Verhältnis zum Staat als ihrer wirklichen Angelegenheit haben,
scheint sich von selbst zu verstehn. Schon in dem Begriff Staatsglied liegt,
daß sie ein Glied des Staats, ein Teil desselben sind, daß er sie als seinen Teil
nimmt. Wenn sie aber ein Anteil des Staats, so ist, wie sich von selbst versteht,
ihr soziales Dasein schon ihre wirkliche Teilnahme an demselben. Sie sind
nicht nur Anteil des Staates, sondern der Staat ist ihr Anteil. Bewußter Anteil
von etwas sein, ist, sich mit Bewußtsein einen Teil von ihm nehmen, bewußten
Anteil an ihm nehmen. Ohne dies Bewußtsein wäre das Staatsglied ein Tier.
Wenn man sagt: „die allgemeinen Angelegenheiten des Staats", so wird
der Schein hervorgebracht, daß die „allgemeinen Angelegenheiten" und der
„Staat" etwas Verschiedenes sind. Aber der Staat ist die „allgemeine Angelegenheit", also realiter die „allgemeinen Angelegenheiten".
Teil an den allgemeinen Angelegenheiten des Staats und teil am Staat
nehmen, ist also identisch. Daß also ein Staatsglied, ein Staatsteil teil am
Staat nimmt und daß dieses Teilnehmen nur als Beratung oder Beschließung
oder in ähnlichen Formen erscheinen kann, daß also jedes Staatsglied an der
Beratung und Beschließung (wenn diese Funktionen als die Funktionen der
wirklichen Teilnahme des Staats gefaßt werden) der allgemeinen Angelegenheiten des Staats teilnimmt, ist eine Tautologie. Wenn also von wirklichen
Staatsgliedern die Rede ist, so kann von dieser Teilnahme nicht als einem
Sollen die Rede sein. Es wäre sonst vielmehr von solchen Subjekten die Rede,
die Staatsglieder sein sollen und sein wollen, aber es nicht wirklich sind.
Andrerseits: wenn von bestimmten Angelegenheiten die Rede ist, von
einem einzelnen Staatsakt, so versteht es sich wieder von selbst, daß nicht
Alle einzeln ihn vollbringen. Der Einzelne wäre sonst die wahre Sozietät und
machte die Sozietät überflüssig. Der Einzelne müßte alles auf einmal tun,
während die Sozietät wie ihn für die andern, so auch die andern für ihn tun
läßt.
Die Frage, ob Alle einzeln an der „Beratung und Beschließung der allgemeinen Angelegenheiten des Staats teilnehmen sollen", ist eine Frage,
welche aus der Trennung des politischen Staats und der bürgerlichen Gesellschaft hervorgeht.
Wir haben gesehn. Der Staat existiert nur als politischer Staat. Die Totalität des politischen Staats ist die gesetzgebende Gewalt. Teil an der gesetzgebenden Gewalt nehmen ist daher teil am politischen Staat nehmen, ist sein
Dasein als Glied des politischen Staats, als Staatsglied beweisen und verwirklichen. Daß also Alle einzeln Anteil an der gesetzgebenden Gewalt nehmen
wollen, ist nichts als der Wille Aller, wirkliche (aktive) Staatsglieder zu sein
oder sich ein politisches Dasein zu geben oder ihr Dasein als ein politisches
zu beweisen und zu effektuieren. Wir haben ferner gesehn, das ständische
Element ist die bürgerliche Gesellschaft als gesetzgebende Gewalt, ihr politisches Dasein. Daß also die bürgerliche Gesellschaft massenweise, womöglich
ganz, in die gesetzgebende Gewalt eindringe, daß sich die wirkliche bürgerliche Gesellschaft der fiktiven bürgerlichen Gesellschaft der gesetzgebenden
Gewalt substituieren will, das ist nichts als das Streben der bürgerlichen Gesellschaft, sich politisches Dasein zu geben oder das politische Dasein zu ihrem
wirklichen Dasein zu machen. Das Streben der bürgerlichen Gesellschaft, sich
in die politische Gesellschaft zu verwandeln oder die politische Gesellschaft
zur wirklichen Gesellschaft zu machen, zeigt sich als das Streben der möglichst allgemeinen Teilnahme an der gesetzgebenden Gewalt.
Die Zahl ist hier nicht ohne Bedeutung. Wenn schon die Vermehrung
des ständischen Elements eine physische und intellektuelle Vermehrung einer
der feindlichen Streitkräfte ist - und wir haben gesehn, die verschiedenen
Elemente der gesetzgebenden Gewalt stehn sich als feindliche Streitkräfte
gegenüber - , so ist dagegen die Frage; ob Alle einzeln Glieder der gesetzgebenden Gewalt sein oder ob sie durch Abgeordnete eintreten sollen, die
In-Frage-Stellung des repräsentativen Prinzips innerhalb des repräsentativen
Prinzips, innerhalb der Grundvorstellung des politischen Staats, der seine
Existenz in der konstitutionellen Monarchie findet. 1. Ist es eine Vorstellung
der Abstraktion des politischen Staats, daß die gesetzgebende Gewalt die
Totalität des politischen Staates ist. Weil dieser eine Akt der einzige politische Akt der bürgerlichen Gesellschaft ist, so sollen und wollen Alle auf
einmal an ihm teilnehmen. 2. Alle als Einzelne. Im ständischen Element ist die
gesetzgebende Tätigkeit nicht als soziale, als eine Funktion der Sozialität
betrachtet, sondern vielmehr als der Akt, wo die Einzelnen erst in wirklich
und bewußt soziale Funktion, d.h. in eine politische Funktion treten. Die
gesetzgebende Gewalt ist hier kein Ausfluß, keine Funktion der Sozietät,
sondern erst ihre Bildung. Die Bildung zur gesetzgebenden Gewalt erheischt, daß alle Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft als einzelne sich
betrachten, sie stehn wirklich als einzeln gegenüber. Die Bestimmung, „Mitglieder des Staats zu sein", ist ihre „abstrakte Bestimmung", eine Bestimmung, die in ihrer lebendigen Wirklichkeit nicht verwirklicht ist.
Entweder findet Trennung des politischen Staats und der bürgerlichen
Gesellschaft statt, dann können nicht Alle einzeln an der gesetzgebenden
Gewalt teilnehmen. Der politische Staat ist eine von der bürgerlichen Gesellschaft getrennte Existenz. Die bürgerliche Gesellschaft würde einerseits sich
selbst aufgeben, wenn alle Gesetzgeber wären, andrerseits kann der ihr gegenüberstehende politische Staat sie nur in einer Form, ertragen, die seinem
Maßstabe angemessen ist. Oder eben die Teilnahme der bürgerlichen Gesellschaft durch Abgeordnete am politischen Staat ist eben der Ausdruck ihrer
Trennung und nur dualistischen Einheit.
Oder umgekehrt. Die bürgerliche Gesellschaft ist wirkliche politische
Gesellschaft. Dann ist es Unsinn, eine Forderung zu stellen, die nur aus der
Vorstellung des politischen Staates als der von der bürgerlichen Gesellschaft
getrennten Existenz, die nur aus der theologischen Vorstellung des politischen
Staates hervorgegangen ist. In diesem Zustand verschwindet die Bedeutung
der gesetzgebenden Gewalt als einer repräsentativen Gewalt gänzlich. Die
gesetzgebende Gewalt ist hier Repräsentation in dem Sinne, wie jede Funktion repräsentativ ist, wie z.B. der Schuster, insofern er ein soziales Bedürfnis verrichtet, mein Repräsentant ist, wie jede bestimmte soziale Tätigkeit als Gattungstätigkeit nur die Gattung, d.h. eine Bestimmung meines
eignen Wesens repräsentiert, wie jeder Mensch der Repräsentant des anderen
ist. Er ist hier Repräsentant nicht durch ein anderes, was er vorstellt, sondern durch das, was er ist und tut.
Die „gesetzgebende" Gewalt wird nicht wegen ihres Inhaltes, sondern
wegen ihrer formellen politischen Bedeutung angestrebt. An und für sich
mußte z.B. die Regierungsgewalt viel mehr das Ziel der Volks wünsche
sein als die gesetzgebende, die metaphysische Staatsfunktion. Die gesetzgebende Funktion ist der Wille, nicht in seiner praktischen, sondern in seiner
theoretischen Energie. Der Wille soll hier nicht statt des Gesetzes gelten:
Sondern es gilt, das wirkliche Gesetz zu entdecken und zu formulieren.
Aus dieser zwiespältigen Natur der gesetzgebenden Gewalt, als wirklicher gesetzgebender Funktion und als repräsentativer, abstrakt-politischer
Funktion, geht eine Eigentümlichkeit hervor, die sich vorzugsweise in
Frankreich, dem Land der politischen Bildung, geltend macht.
(Wir haben in der Regierungsgewalt immer zwei, das wirkliche Tun und
die Staatsräson dieses Tuns, als ein andres wirkliches Bewußtsein, das in
seiner totalen Gliederung die Bürokratie ist.)
Der eigentliche Inhalt der gesetzgebenden Gewalt wird (soweit nicht die
herrschenden Sonderinferessen in einen bedeutenden Konflikt mit dem objectum quaestionis1 geraten) sehr a part, als Nebensache behandelt. Besondere
1
Gegenstand der Untersuchung
Aufmerksamkeit erregt eine Frage erst, sobald sie politisch wird, d.h., entweder sobald eine Ministerfrage, also die Macht der gesetzgebenden Gewalt
über die Regierungsgewalt, daran angeknüpft werden kann, oder sobald
es sich überhaupt um Rechte handelt, die mit dem politischen Formalismus in Verbindung stehn. Woher diese Erscheinung? Weil die gesetzgebende Gewalt zugleich die Repräsentation des politischen Daseins der
bürgerlichen Gesellschaft ist; weil das politische Wesen einer Frage überhaupt in ihrem Verhältnis zu den verschiednen Gewalten des politischen
Staats besteht; weil die gesetzgebende Gewalt das politische Bewußtsein
repräsentiert und die sich nur im Konflikt mit der Regierungsgewalt als
politisch beweisen kann. Diese wesentliche Forderung, daß jedes soziale
Bedürfnis, Gesetz etc. politisch, d.h. als bestimmt durch das Staatsganze, in
seinem sozialen Sinn eruiert werde, nimmt im Staat der politischen Abstraktion die Wendung, daß ihr eine formelle Wendung gegen eine andere
Macht (Inhalt) außer ihrem wirklichen Inhalt gegeben werde. Das ist keine
Abstraktion der Franzosen, sondern das ist die notwendige Konsequenz,
weil der wirkliche Staat nur als der betrachtete politische Staatsformalismus
existiert. Die Opposition innerhalb der repräsentativen Gewalt ist das j c g c t '
elox^v1 politische Dasein der repräsentativen Gewalt. Innerhalb dieser repräsentativen Verfassung nimmt indessen die eruierte Frage eine andre Wendung, als in welcher Hegel sie betrachtet hat. Es handelt sich hier nicht, ob
die bürgerliehe Gesellschaft durch Abgeordnete oder Alle einzeln die gesetzgebende Gewalt ausüben sollen, sondern es handelt sich um die Ausdehnung
und möglichste Verallgemeinerung der Wahl, sowohl des aktiven als des
passiven Wahlrechts. Das ist der eigentliche Streitpunkt der politischen Reform, sowohl in Frankreich als in England.
Man betrachtet die Wahl nicht philosophisch, d.h. nicht in ihrem
eigentümlichen Wesen, wenn man sie sogleich in Beziehung auf die fürstliche
oder Regierungsgewalt faßt. Die Wahl ist das wirkliche Verhältnis der wirklichen bürgerlichen Gesellschaft zur bürgerlichen Gesellschaft der gesetzgebenden
Gewalt, zu dem repräsentativen Element. Oder die Wahl ist das unmittelbare,
das direkte, das nicht bloß vorstellende, sondern seiende Verhältnis der bürgerlichen Gesellschaft zum politischen Staat. Es versteht sich daher von selbst,
daß die Wahl das hauptsächliche politische Interesse der wirklichen bürgerlichen Gesellschaft bildet. In der unbeschränkten sowohl aktiven als passiven
Wahl hat die bürgerliche Gesellschaft sich erst wirklich zu der Abstraktion
von sich selbst, zu dem politischen Dasein als ihrem wahren allgemeinen
1
hauptsächliche
wesentlichen Dasein erhoben. Aber die Vollendung dieser Abstraktion ist
zugleich die Aufhebung der Abstraktion. Indem die bürgerliche Gesellschaft
ihr politisches Dasein wirklich als ihr wahres gesetzt hat, hat sie zugleich ihr
bürgerliches Dasein, in seinem Unterschied von ihrem politischen, als unwesentlich gesetzt; und mit dem einen Getrennten fällt sein Andres, sein
Gegenteil. Die Wahlreform ist also innerhalb des abstrakten politischen Staats
die Forderung seiner Auflösung, aber ebenso der Auflösung der bürgerlichen
Gesellschaft.
Wir werden der Frage der Wahlreform später unter einer anderen Gestalt
begegnen, nämlich von der Seite der Interessen. Ebenso werden wir später
die andren Konflikte erörtern, die aus der doppelten Bestimmung der gesetzgebenden Gewalt (einmal Abgeordneter, Mandatar der bürgerlichen Gesellschaft, das andere Mal vielmehr erst ihr politisches Dasein und ein eigentümliches Dasein innerhalb des politischen Staatsformalismus zu sein) hervorgehn.
Wir kehren einstweilen zu der Anmerkung zu unserm Paragraphen
zurück.
„Die vernünftige Betrachtung, das Bewußtsein der Idee, ist konkret und trifft
insofern mit dem wahrhaften praktischen Sinne, der selbst nichts Anderes als der vernünftige Sinn, der Sinn der Idee ist, zusammen." „Der k o n k r e t e Staat ist das in seine
besonderen Kreise gegliederte Ganze; das Mitglied des Staates ist ein Mitglied eines
solchen Standes; nur in dieser seiner objektiven Bestimmung kann es im Staate in
Betracht kommen."
Hierüber ist schon oben das Nötige gesagt.
„Seine" (des Staatsmitgliedes) „allgemeine Bestimmung überhaupt enthält das gedoppelte Moment, Privatperson und als denkendes ebensosehr Bewußtsein und Wollen
des Allgemeinen zu sein; dieses Bewußtsein und Wollen aber ist nur dann nicht leer,
sondern erfüllt und wirklich lebendig, wenn es mit der Besonderheit - und diese ist der
besondere Stand und Bestimmung - erfüllt ist; oder das Individuum ist Gattung, hat
aber seine immanente allgemeine Wirklichkeit als nächste Gattung."
Alles das, was Hegel sagt, ist richtig, mit der Beschränkung, 1. daß er
besondren Stand und Bestimmung als identisch setzt, 2. daß diese Bestimmung, die Art, die nächste Gattung auch wirklich, nicht nur an sich, sondern
für sich, als Art der allgemeinen Gattung, als ihre Besonderung gesetzt sein
müßte. Hegel aber begnügt sich im Staate, den er als das selbstbewußte Dasein des sittlichen Geistes demonstriert, daß dieser sittliche Geist nur an sich,
der allgemeinen Idee nach, das Bestimmende ist. Zum wirklichen Bestimmen
läßt er die Sozietät nicht kommen, weil dazu ein wirkliches Subjekt nötig ist
und er nur ein abstraktes, eine Imagination hat.
„ § 309. Da die Abordnung zur Beratung und Beschließung über die allgemeinen
Angelegenheiten geschieht, hat sie den Sinn, daß durch das Zutrauen solche Individuen
dazu bestimmt werden, die sich besser auf diese Angelegenheiten verstehen als die
Abordnenden, wie auch, daß sie nicht das besondere Interesse einer Gemeinde, K o r poration gegen das allgemeine, sondern wesentlich dieses geltend machen. Sie haben
damit nicht das Verhältnis, kommittierte oder Instruktionen überbringende Mandatarien zu sein, um so weniger als die Zusammenkunft die Bestimmung hat, eine lebendige, sich gegenseitig unterrichtende und überzeugende, gemeinsam beratende Versammlung zu sein."
Die Abgeordneten sollen 1. keine „kommittierte oder Instruktionen überbringende Mandatarien sein", weil „sie nicht das besondere Interesse einer
Gemeinde, Korporation gegen das allgemeine, sondern wesentlich dies geltend machen" sollen. Hegel hat die Repräsentanten erst als Repräsentanten
der Korporationen etc. konstruiert, um dann wieder die andere politische
Bestimmung hereinzubringen, daß sie nicht das besondre Interesse der Korporation etc. geltend zu machen haben. Er hebt damit seine eigene Bestimmung auf, denn er trennt sie in ihrer wesentlichen Bestimmung als
Repräsentanten gänzlich von ihrem Korporationsdasein. Er trennt damit auch
die Korporation von sich als ihrem wirklichen Inhalt, denn sie soll nicht aus
ihrem Gesichtspunkt, sondern aus dem Staatsgesichtspunkt wählen, d. h., sie
soll in ihrem Nicht-Dasein als Korporation wählen. In der materiellen Bestimmung erkennt er also an, was er in ihrer formellen verkehrte, die Abstraktion der bürgerlichen Gesellschaft von sich selbst in ihrem politischen
Akt, und ihr politisches Dasein ist nichts als diese Abstraktion. Hegel gibt als
Grund an, weil sie eben zur Betätigung der „allgemeinen Angelegenheiten"
gewählt werden; aber die Korporationen sind keine Existenzen der allgemeinen
Angelegenheiten.
2. soll die „Abordnung den Sinn" haben, „daß durch das Zutrauen solche
Individuen dazu bestimmt werden, die sich besser auf diese Angelegenheiten verstehen als die Abordnenden", woraus abermals folgen soll, daß
die Deputierten also nicht das Verhältnis der „Mandatarien" haben.
Daß sie dieses „besser" verstehn und nicht „einfach" verstehn, kann
Hegel nur durch ein Sophisma herausbringen. Es könnte dies nur dann geschlossen werden, wenn die Abordnenden die Wahl hätten, die allgemeinen
Angelegenheiten selbst zu beraten und zu beschließen oder bestimmte Individuen zu ihrer Vollziehung abzuordnen; d.h., eben wenn die Abordnung,
die Repräsentation, nicht wesentlich zum Charakter der gesetzgebenden Gewalt der bürgerlichen Gesellschaft gehörte, was eben ihr eigentümliches Wesen, wie eben ausgeführt, in dem von Hegel konstruierten Staate ausmacht.
Es ist dies Beispiel sehr bezeichnend dafür, wie Hegel die Sache
innerhalb ihrer Eigentümlichkeit halb absichtlich aufgibt und ihr in ihrer
bornierten Gestalt den entgegengesetzten Sinn dieser Borniertheit unterschiebt.
Den eigentlichen Grund gibt Hegel zuletzt. Die Deputierten der bürgerlichen Gesellschaft konstituieren sich zu einer „Versammlung", und diese
Versammlung ist erst das wirkliche politische Dasein und Wollen der bürgerlichen Gesellschaft. Die Trennung des politischen Staats von der bürgerlichen Gesellschaft erscheint als die Trennung der Deputierten von ihren
Mandataren. Die Gesellschaft ordnet bloß die Elemente zu ihrem politischen
Dasein von sich ab.
Der Widerspruch erscheint doppelt:
1 .formell. Die Abgeordneten der bürgerlichen Gesellschaft sind eine Gesellschaft, die nicht durch die Form der „Instruktion", des Auftrages mit
ihren Kommittenten in Verbindung stehn. Sie sind formell kommittiert,
aber sobald sie wirklich sind, sind sie nicht mehr Kommittierte. Sie sollen
Abgeordnete sein und sind es nicht.
2. materiell. In bezug auf die Interessen. Darüber hernach. Hier findet
das Umgekehrte statt. Sie sind als Repräsentanten der allgemeinen Angelegenheiten kommittiert, aber sie repräsentieren wirklich besondre Angelegenheiten.
Bezeichnend ist, daß Hegel hier das Zutrauen als die Substanz der Abordnung bezeichnet, als das substantielle Verhältnis zwischen Abordnenden
und Abgeordneten. Zutrauen ist ein persönliches Verhältnis. Es heißt darüber
weiter in dem Zusatz:
„Repräsentation gründet sich auf Zutrauen, Zutrauen aber ist etwas Anderes, als
ob ich als dieser meine Stimme gebe. Die Majorität der Stimmen ist ebenso dem
Grundsatze zuwider, daß bei dem, was mich verpflichten muß, ich als dieser zugegen
sein soll. Man hat Zutrauen zu einem Menschen, indem man seine Einsicht dafür ansieht, daß er meine Sache als seine Sache, nach seinem besten Wissen und Gewissen,
behandeln wird."
. §310. Die G a r a n t i e der diesem Zweck entsprechenden Eigenschaften und der
Gesinnung - da das unabhängige Vermögen schon in dem ersten Teile der Stände
sein Recht verlangt - zeigt sich bei dem zweiten Teile, der aus dem beweglichen und
veränderlichen Elemente der bürgerlichen Gesellschaft hervorgeht, vornehmlich in
der durch wirkliche Geschäftsführung in obrigkeitlichen oder Staatsämtern erworbenen
und durch die Tat bewährten Gesinnung, Geschicklichkeit und Kenntnis der Einrichtungen und Interessen des Staats und der bürgerlichen Gesellschaft und dem dadurch gebildeten und erprobten obrigkeitlichen Sinn und Sinn des Staats
Erst wurde die erste Kammer, die Kammer des unabhängigen Privateigentums für den Fürsten und die Regierungsgewalt als Garantie gegen die
Gesinnung der zweiten Kammer als dem politischen Dasein der empirischen
Allgemeinheit konstruiert, und jetzt verlangt Hegel wieder eine neue Garantie,
welche die Gesinnung etc. der zweiten Kammer selbst garantieren soll.
Erst war das Zutrauen - die Garantie der Abordner - die Garantie der
Abgeordneten. Jetzt bedarf dies Zutrauen selbst wieder der Garantie seiner
Tüchtigkeit.
Hegel hätte nicht übel Lust, die zweite Kammer zur Kammer der pensionierten Staatsbeamten zu machen. Er verlangt nicht nur „den Sinn des
Staats", sondern auch „obrigkeitlichen", bürokratischen Sinn.
Was er hier wirklich verlangt, ist, daß die gesetzgebende Gewalt die wirkliche regierende Gewalt sein soll. Er drückt dies so aus, daß er die Bürokratie
zweimal verlangt, einmal als Repräsentation der Fürsten und das andere Mal
als Repräsentantin des Volkes.
Wenn in konstitutionellen Staaten auch Beamte zulässig sind als Deputierte, so ist dies nur, weil überhaupt vom Stand, von der bürgerlichen Qualität
abstrahiert und die Abstraktion des Staatsbürgertums das Herrschende ist.
Hegel vergißt dabei, daß er die Repräsentation von den Korporationen
ausgehn ließ und daß diesen direkt die Regierungsgewalt gegenübersteht.
Er geht in diesem Vergessen, was er gleich in dem folgenden Paragraphen
wieder vergißt, so weit, daß er einen wesentlichen Unterschied zwischen den
Abgeordneten der Korporation und den ständischen Abgeordneten kreiert.
In der Anmerkung zu diesem Paragraphen heißt es:
„Die subjektive Meinung von sich findet leicht die Forderung solcher Garantien,
wenn sie in Rücksicht auf das sogenannte Volk gemacht wird, überflüssig, ja selbst etwa
beleidigend. Der Staat hat aber das Objektive, nicht eine subjektive Meinung und
deren S e l b s t z u t r a u e n zu seiner Bestimmung; die Individuen können nur das für
ihn sein, was an ihnen objektiv erkennbar und erprobt ist, und er hat hierauf bei
diesem Teile des ständischen Elements um so mehr zu sehen, als derselbe seine Wurzel
in den auf das Besondere gerichteten Interessen und Beschäftigungen hat, wo die
Zufälligkeit, Veränderlichkeit und Willkür ihr Recht sich zu ergehen hat."
Hier wird die gedankenlose Inkonsequenz und der „obrigkeitliche" Sinn
Hegels wirklich ekelhaft. Am Schlüsse des Zusatzes zum früheren Paragraphen heißt es:
<
„Daß dieses" (sc. ihre oben beschriebene Aufgabe) „der Abgeordnete vollbringe
und befördere, dazu bedarf es f ü r d i e W ä h l e n d e n der Garantie."
Diese Garantie für die Wählenden hat sich unter der Hand in eine Garantie
gegen die Wählenden, gegen ihr „Selbstzutrauen" entwickelt. In dem ständischen Element sollte die „empirische Allgemeinheit zum Moment" der
„subjektiven formellen Freiheit" kommen. „Das öffentliche Bewußtsein"
sollte in ihm „als empirische Allgemeinheit der Ansichten und Gedanken der
Vielen zur Existenz" kommen. (§ 301.)
Jetzt sollen diese „Ansichten und Gedanken" zuvor der Regierung eine
Probe ablegen, daß sie „ihre" Ansichten und Gedanken sind. Hegel spricht
hier nämlich dummerweise vom Staat als einer fertigen Existenz, obgleich
er eben erst daran ist, im ständischen Element den Staat fertig zu konstruieren. Er spricht vom Staat als konkretem Subjekt, das „sich nicht an die
subjektive Meinung und deren Selbstzutrauen stößt", für den die Individuen erst sich „erkennbar" gemacht und „erprobt" haben. Es fehlt nur
noch, daß Hegel ein Examen der Stände abzulegen bei der Wohllöblichen
Regierung verlangt. Hegel geht hier fast bis zur Servilität. Man sieht ihn
durch und durch angesteckt von dem elenden Hochmut der preußischen Beamtenwelt, die vornehm in ihrer Büroborniertheit auf das „Selbstzutrauen"
der „subjektiven Meinung des Volks zu sich" herabsieht. Der „Staat" ist
hier überall für Hegel identisch mit der „Regierung".
Allerdings kann in einem wirklichen Staate das „bloße Zutrauen", die
„subjektive Meinung" nicht genügen. Aber in dem von Hegel konstruierten
Staate ist die politische Gesinnung der bürgerlichen Gesellschaft eine bloße
Meinung, eben weil ihr politisches Dasein eine Abstraktion von ihrem wirklichen Dasein ist; eben weil das Ganze des Staats nicht die Objektivierung
der politischen Gesinnung ist. Wollte Hegel konsequent sein, so müßte er
vielmehr alles aufbieten, um das ständische Element seiner wesentlichen Bestimmung gemäß (§301) als das Fiirsichsein der allgemeinen Angelegenheit
in den Gedanken etc. der Vielen, also eben ganz unabhängig von den andern
Voraussetzungen des politischen Staats zu konstruieren.
Ebenso wie Hegel es früher als die Ansicht des Pöbels bezeichnete, den
schlechten Willen bei der Regierung etc. vorauszusetzen, ebensosehr und
noch mehr ist es die Ansicht des Pöbels, den schlechten Willen beim Volke
vorauszusetzen. Hegel darf es dann auch bei den von ihm verachteten Theoretikern weder „überflüssig" noch „beleidigend" finden, wenn Garantien
„in Rücksicht auf den sogenannten Staat, den soi-disant Staat, die Regierung
verlangt, Garantien verlangt werden, daß die Gesinnung der Bürokratie die
Staatsgesinnung sei.
„ § 3 1 1 . Die Abordnung, als von der bürgerlichen Gesellschaft ausgehend, hat
f e r n e r den Sinn, daß die Abgeordneten mit deren speziellen Bedürfnissen, Hindernissen, besonderen Interessen bekannt seien und ihnen selbst angehören. Indem sie
nach der Natur der bürgerlichen Gesellschaft von ihren verschiedenen Korporationen
ausgeht (§ 308) und die einfache Weise dieses Ganges nicht durch Abstraktionen und
22 Marx/Engels, Werke, Bd. 1
die atomistisehen Vorstellungen gestört wird, so erfüllt sie damit unmittelbar jenen
Gesichtspunkt, und Wählen ist entweder überhaupt etwas Uberflüssiges oder reduziert sich auf ein geringes Spiel der Meinung und der Willkür."
Zunächst knüpft Hegel die Abordnung in ihrer Bestimmung als „gesetzgebende Gewalt" (§ 309, 310) an die Abordnung „als von der bürgerlichen
Gesellschaft ausgehend", d.h. an ihre repräsentative Bestimmung, durch ein
einfaches „ferner" an. Die ungeheuren Widersprüche, die in diesem „ferner"
liegen, spricht er ebenso gedankenlos aus.
Nach § 309 sollen die Abordnenden „nicht das besondere Interesse einer
Gemeinde, Korporation gegen das allgemeine, sondern Wesentlich dieses
geltend machen".
Nach §311 gehn sie von den Korporationen aus, repräsentieren diese
besondern Interessen und Bedürfnisse und lassen sich nicht durch „Abstraktionen" stören, als wenn das „allgemeine Interesse" nicht auch eine solche
Abstraktion wäre, eine Abstraktion eben von ihren Korporations- etc. Interessen.
Nach § 310 wird verlangt, „daß sie durch wirkliche Geschäftsführung etc.
sich obrigkeitlichen Sinn und den Sinn des Staats" erworben und bewährt
haben. Im § 311 wird Korporations- und bürgerlicher Sinn verlangt:
In dem Zusatz zu §309 heißt es: „Repräsentation gründet sich auf
Zutrauen." Nach § 311 ist „Wählen", diese Realisierung des Zutrauens, diese
Betätigung, Erscheinung desselben, „entweder überhaupt etwas Überflüssiges
oder reduziert sich auf ein geringes Spiel der Meinung und der Willkür".
Das, worauf sich die Repräsentation gründet, ihr'Wesen, ist also der
Repräsentation „entweder überhaupt etwas Überflüssiges" etc. Hegel stellt
also in einem Atem die absoluten Widersprüche auf: Die Repräsentation
gründet sich auf Zutrauen, auf das Vertrauen des Menschen zum Menschen,
und sie gründet sich nicht auf das Zutrauen. Das ist vielmehr eine bloße
formelle Spielerei.
Das besondere Interesse ist nicht das Objekt der Vertretung, sondern der
Mensch und sein Staatsbürgertum, das allgemeine Interesse. Andrerseits:
Das besondere Interesse ist der Stoff der Vertretung, der Geist dieses Interesses ist der Geist des Repräsentanten.
In der Anmerkung zu diesem Paragraphen, den wir nun betrachten, werden, diese Widersprüche noch greller durchgeführt. Das eine Mal ist die
Repräsentation die Vertretung des Menschen, das andere Mal des besonr
deren Interesses, des besonderen Stoffes.
• ; „Es bietet sich von selbst das Interesse dar, daß unter den Abgeordneten sich für
jeden besonderen großen Zweig der Gesellschaft, z . B . für den Handel, für die
Fabriken usf. Individuen befinden, die ihn gründlich kennen und ihm selbst angehören; - in der Vorstellung eines losen, unbestimmten Wählens ist dieser wichtige
Umstand nur der Zufälligkeit preisgegeben. Jeder solcher Zweig hat aber gegen den
andern gleiches Recht, repräsentiert zu werden. Wenn die Abgeordneten als Repräsentanten betrachtet werden, so hat dies einen organisch vernünftigen Sinn nur dann, daß
sie nicht Repräsentanten als von Einzelnen, von einer Menge seien, sondern Repräsentanten einer der wesentlichen Sphären der Gesellschaft, Repräsentanten ihrer großen
Interessen. Das Repräsentieren hat damit auch nicht mehr die Bedeutung, daß E i n e r
an der Stelle eines Andern sei, sondern das Interesse selbst ist in seinem Repräsentanten
wirklich gegenwärtig, so wie der Repräsentant für sein eigenes objektives Element da ist.
Von dem Wählen durch die vielen Einzelnen kann noch bemerkt werden, daß notwendig besonders in großen Staaten die Gleichgültigkeit gegen das Geben seiner Stimme,
als die in der Menge eine unbedeutende Wirkung hat, eintritt, und die Stimmberechtigten, diese Berechtigung mag ihnen als etwas noch so Hohes angeschlagen und vorgestellt werden, eben zum Stimmgeben nicht erscheinen; - so daß aus solcher Institution vielmehr das Gegenteil ihrer Bestimmung erfolgt und die Wahl in die Gewalt
Weniger, einer Partei, somit des besondern, zufälligen Interesses fällt, das gerade
neutralisiert werden sollte."
Die beiden Paragraphen 312 und 313 sind im früheren erledigt und keiner
besonderen Besprechung wert. Wir setzen sie daher hierhin:
„ § 3 1 2 . Von den zwei im ständischen Elemente enthaltenen Seiten ( § 3 0 5 , 308)
bringt jede in die Beratung eine besondere Modifikation; und weil überdem das eine
Moment die eigentümliche Funktion der Vermittelung innerhalb dieser Sphäre, und
zwar zwischen Existierenden, hat, so ergibt sich für dasselbe gleichfalls eine abgesonderte Existenz; die ständische Versammlung wird sich somit in zwei Kammern teilen."
O Jerum!
„ § 3 1 3 . Durch diese Sonderung erhält nicht nur die Reife der Entschließung vermittelst einer Mehrheit von Instanzen ihre größere Sicherung, und wird die Zufälligkeit einer Stimmung des Augenblicks, wie die Zufälligkeit, welche die Entscheidung
durch die Mehrheit der Stimmenanzahl annehmen kann, entfernt, sondern vornehmlich kommt das ständische Element weniger in den Fall, der Regierung direkt gegenüber zu stehen, oder im Falle das vermittelnde Moment sich gleichfalls auf der Seite des
zweiten Standes befindet, wird das Gewicht seiner Ansicht um so mehr verstärkt, als
sie so unparteiischer und sein Gegensatz neutralisiert erscheint." 1
1
Hier bricht die Handschrift ab.
DEUTSCH-FRANZÖSISCHE
JAHRBUCHER
herausgegeben
TOB
ariulft äugt
un) jßart JMar*.
i g t e u n d 2te L i e f e r u n g .
IM BUREAU DER JAHRBÜCHER
AU BUREAU DES ANNALES»
* RUE VANNEAU.22.
1844
Umschlagseite der „Deutsch-Französischen Jahrbücher"
Karl Marx
[Briefe
aus den „Deutsch-Französischen Jahrbüchern"11443]
M . an R .
Auf der Treckschuit nach D. im März 1843
Ich reise jetzt in Holland. Soviel ich aus den hiesigen und französischen
Zeitungen sehe, ist Deutschland tief in den Dreck hineingeritten und wird es
noch immer mehr. Ich versichere Sie, wenn man auch nichts weniger als
Nationalstolz fühlt, so fühlt man doch Nationalscham, sogar in Holland. Der
kleinste Holländer ist noch ein Staatsbürger gegen den größten Deutschen.
Und die Urteile der Ausländer, über die preußische Regierung! Es herrscht
eine erschreckende Übereinstimmung, niemand täuscht sich mehr über dies
System und seine einfache Natur. Etwas hat also doch die neue Schule genützt. Der. Prunkmantel des Liberalismus ist gefallen, und der widerwärtigste Despotismus steht in seiner ganzen Nacktheit vor aller Welt Augen.
Das ist auch eine Offenbarung, wenngleich eine umgekehrte. Es ist eine
Wahrheit, die uns zum wenigsten die Hohlheit unsers Patriotismus, die Unnatur unseres Staatswesens kennen und unser Angesicht verhüllen lehrt. Sie
sehen mich lächelnd an und fragen :Was ist damit gewonnen? Aus Scham macht
man keine Revolution. Ich antworte: Die Schäm ist schön eine Revolution;
sie ist wirklich der Sieg der französischen Revolution über den deutschen
Patriotismus, durch den sie 1813 besiegt wurde. Scham ist eine Art Zorn, der
in sich gekehrte. Und wenn eine ganze Nation sich wirklich schämte, so wäre
sie der Löwe, der sich zum Sprunge in sich zurückzieht. Ich gebe zu, sogar
die Scham ist in Deutschland noch nicht vorhanden; im Gegenteil, diese
Elenden sind noch Patrioten. Welches System sollte ihnen aber den Patriotismus austreiben, wenn nicht dieses lächerliche des neuen Ritters1? Die Komödie des Despotismus, die mit uns aufgeführt wird, ist für ihn ebenso gefährlich, als es einst den Stuarts und Bourbonen die Tragödie war. Und selbst,
wenn man diese Komödie lange Zeit nicht für das halten sollte, was sie ist,
1
Friedrich1 Wilhelm IV.
so wäre sie doch schon eine Revolution. Der Staat ist ein zu ernstes Ding, um
zu einer Harlekinade gemacht zu werden. Man könnte vielleicht ein Schiff
voll Narren eine gute Weile vor dem Winde treiben lassen; aber seinem
Schicksal trieb* es entgegen eben darum, weil die Narren dies nicht glaubten.
Dieses Schicksal ist die Revolution, die uns bevorsteht.
M . an R.
Köln, im Mai 1843
Ihr Brief, mein teurer Freund, ist eine gute Elegie, ein atemversetzender
Grabgesang; aber politisch ist er ganz und gar nicht. Kein Volk verzweifelt,
und sollt' es auch lange Zeit nur aus Dummheit hoffen, so erfüllt es sich doch
nach vielen Jahren einmal aus plötzlicher Klugheit alle seine frommen
Wünsche.
' Doch, Sie haben mich angesteckt, Ihr Thema ist noch nicht erschöpft, ich
will das Finale hinzufügen, und wenn alles zu Ende ist, dann reichen Sie mir
die Hand, damit wir von vorne wieder anfangen. Laßt die Toten ihre Toten
begraben und beklagen. Dagegen ist es beneidenswert, die ersten zu sein, die
lebendig ins neue Leben eingehen; dies soll unser Los sein.
Es ist wahr, die alte Welt gehört dem Philister. Aber wir dürfen ihn nicht
wie einen Popanz behandeln, von dem man sich ängstlich wegwendet. Wir
müssen ihn vielmehr genau ins Auge fassen. Es lohnt sich, diesen Herrn der
Welt zu studieren.
Herr der Welt ist er freilich nur, indem er sie, wie die Würmer einen Leichnam, mit seiner Gesellschaft ausfüllt. Die Gesellschaft dieser Herren braucht
darum nichts weiter als eine Anzahl Sklaven, und die Eigentümer der Sklaven
brauchen nicht frei zu sein. Wenn sie wegen ihres Eigentums an Land und
Leuten Herren im eminenten Sinne genannt werden, sind sie darum nicht
weniger Philister als ihre Leute.
Menschen, das wären geistige Wesen, freie Männer, Republikaner. Beides
wollen die Spießbürger nicht sein. Was bleibt ihnen übrig, zu sein und zu
wollen?
Was sie wollen, leben und sich fortpflanzen (und weiter, sagt Goethe,
bringt es doch keiner), das will auch das Tier, höchstens würde ein deutscher
Politiker noch hinzuzusetzen haben, der Mensch wisse aber, daß er es wolle,
und der Deutsche sei so besonnen, nichts weiter zu wollen.
Das Selbstgefühl des Menschen, die Freiheit, wäre in der Brust dieser
Menschen erst wieder zu erwecken. Nur dies Gefühl, welches mit den Griechen
aus der Welt und mit dem Christentum in den blauen Dunst des Himmels
verschwindet, kann aus der Gesellschaft wieder eine Gemeinschaft der Menschen für ihre höchsten Zwecke, einen demokratischen Staat machen.
Die Menschen dagegen, welche sich nicht als Menschen fühlen, wachsen
ihren Herren zu, wie eine Zucht von Sklaven oder Pferden. Die angestammten
Herren sind der Zweck dieser ganzen Gesellschaft. Diese Welt gehört ihnen.
Sie nehmen sie, wie sie ist und sich fühlt. Sie nehmen sich selbst, wie sie sich
vorfinden, und stellen sich hin, wo ihre Füße gewachsen sind, auf die Nacken
dieser politischen Tiere, die keine andere Bestimmung kennen, als ihnen
„Untertan, hold und gewärtig" zu sein. '
Die Philisterwelt ist die politische Tierwelt, und wenn wir ihre Existenz anerkennen müssen, so bleibt uns nichts übrig, als dem status quo einfacherweise
recht zu geben. Barbarische Jahrhunderte haben ihn erzeugt und ausgebildet,
und nun steht er da als ein konsequentes System, dessen Prinzip die entmenschte
Welt ist. Die vollkommenste Philisterwelt, unser Deutschland, mußte also
natürlich weit hinter der französischen Revolution, die den Menschen wieder
herstellte, zurückbleiben; und der deutsche Aristoteles, der seine Politik aus
unsern Zuständen abnehmen wollte, würde an ihre Spitze schreiben: „Der
Mensch ist ein geselliges, jedoch völlig unpolitisches Tier", den Staat aber
könnte er nicht richtiger erklären, als dies Herr Zöpfl, der Verfasser des „Konstitutionellen Staatsrechts in Deutschland", bereits getan hat. Er ist nach ihm
ein „Verein vonFamilien", welcher, fahren wir fort, einer allerhöchstenFamilie,
die man Dynastie nennt, erb- und eigentümlich zugehört. Je fruchtbarer die
Familien sich zeigen, desto glücklicher die Leute, desto größer der Staat, desto
mächtiger die Dynastie, weswegen denn auch in dem normaldespotischenPreußen auf den siebenten Jungen eine Prämie von fünfzig Reichstalern gesetzt ist.
Die Deutschen sind so besonnene Realisten, daß alle ihre Wünsche und
ihre hochfliegendsten Gedanken nicht über das kahle Leben hinausreichen.
Und diese Wirklichkeit, nichts weiter, akzeptieren die, welche sie beherrschen. Auch diese Leute sind Realisten, sie sind sehr weit von allem Denken
und von aller menschlichen Größe entfernt, gewöhnliche Offiziere und Landjunker, aber sie irren sich nicht, sie haben recht, sie, so wie sie sind, reichen
vollkommen aus, dieses Tierreich zu benutzen und zu beherrschen, denn
Herrschaft und Benutzung ist ein Begriff, hier wie überall. Und wenn sie
sich huldigen lassen und über die wimmelnden Köpfe dieser hirnlosen Wesen
hinsehen, was liegt ihnen näher als der Gedanke Napoleons an der Beresina?
Man sagt ihm nach, er habe hinuritergewiesen auf das Gewimmel d e r
Ertrinkenden und seinem Begleiter zugerufen: Voyez ces crapaads!1 Diese
x
Sehen Sie sich diese Kröten an!
Nachrede ist wahrscheinlich eine Lüge, aber wahr ist sie nichtsdestoweniger.
Der einzige Gedanke des Despotismus ist die Menschenverachtung, der entmenschte Mensch, und dieser Gedanke hat vor vielen andern den Vorzug,
zugleich Tatsache zu sein. Der Despot sieht die Menschen immer entwürdigt.
Sie ersaufen vor seinen Augen und für ihn im Schlamm des gemeinen Lebens,
aus dem sie auch, gleich den Fröschen, immer wieder hervorgehen. Drängt
sich nun selbst Menschen, die großer Zwecke fähig waren, wie Napoleon vor
seiner Dynastietollheit, diese Ansicht auf, wie sollte ein ganz gewöhnlicher
König in einer solchen Realität Idealist sein?
Das Prinzip der Monarchie überhaupt ist der verachtete, der verächtliche,
der entmenschte Mensch; und Montesquieu hat sehr unrecht, die Ehre dafür
auszugeben. Er hilft sich mit der Unterscheidung von Monarchie, Despotie
und Tyrannei. Aber das sind Namen eines Begriffs, höchstens eine Sittenverschiedenheit bei demselben Prinzip. Wo das monarchische Prinzip in der
Majorität ist, da sind die Menschen in der Minorität, wo es nicht bezweifelt
wird, da gibt es keine Menschen. Warum soll nun ein Mann wie der König
von Preußen, der keine Proben davon hat, daß er problematisch wäre, nicht
lediglich seiner Laune folgen? Und nun er es tut, was kommt dabei heraus?
Widersprechende Absichten? Gut, so wird nichts daraus. Ohnmächtige
Tendenzen? Sie sind immer noch die einzige politische Wirklichkeit. Blamagen und Verlegenheiten? Es gibt nur eine Blamage und nur eine Verlegenheit, das Heruntersteigen vom Thron. Solange die Laune an ihrem Platze
bleibt, hat sie recht. Sie mag dort so unbeständig, so kopflos, so verächtlich
sein, wie sie will; sie ist immer noch gut genug, ein Volk zu regieren, welches
nie ein anderes Gesetz gekannt hat als die Willkür seiner Könige. Ich sage
nicht, ein kopfloses System und der Verlust der Achtung im Innern und
nach außen werde ohne Folgen bleiben, ich nehme die Assekuranz des
Narrenschiffes nicht auf mich; aber ich behaupte: Der König von Preußen
wird so lange ein Mann seiner Zeit sein, als die verkehrte Welt die wirkliche ist.
Sie wissen, ich beschäftige mich viel mit diesem Manne. Schon damals,
als er nur noch das „Berliner politische Wochenblatt" zu seinem Organe
hatte, erkannte ich seinen Wert und seine Bestimmung. Er rechtfertigte schon
bei der Huldigung in Königsberg meine Vermutung, daß nun die Frage rein
persönlich werden würde. Er erklärte sein Herz und sein Gemüt ' für das
künftige Staatsgrundgesetz der Domäne Preußen, seines Staates, und in der
Tat, der König ist in Preußen das System. Er ist die einzige politische Person.
Seine Persönlichkeit bestimmt das System so oder so. Was er tut oder was
man ihn tun läßt, was er denkt oder was man ihm in den Mund legt, das ist es,
was in Preußen der Staat denkt oder tut. Es ist also wirklich ein Verdienst, daß
der jetzige König dies so unumwunden erklärt hat.
Nur darin irrte man sich eine Zeitlang, daß man es für erheblich hielt,
welche Wünsche und Gedanken der König nun zum Vorschein brächte. Dies
konnte in der Sache nichts ändern, der Philister ist das Material der Monarchie
und der Monarch immer nur der König der Philister; er kann weder sich noch
seine Leute zu freien, wirklichen Menschen machen, wenn beide Teile bleiben,
was sie sind.
Der König von Preußen hat es versucht, mit einer Theorie, die wirklich
sein Vater1 so nicht hatte, das System zu ändern. Das Schicksal dieses Versuches ist bekannt. Er ist vollkommen gescheitert. Ganz natürlich. Ist man
einmal bei der politischen Tierwelt angelangt, so gibt es keine weitere Reaktion als bis zu ihr, und kein anderes Vordringen als das Verlassen ihrer Basis
und den Übergang zur Menschenwelt der Demokratie.
Der alte König wollte nichts Extravagantes, er war ein Philister und
machte keinen Anspruch auf Geist. Er wußte, daß der Dienerstaat und sein
Besitz nur der prosaischen, ruhigen Existenz bedurfte. Der junge König war
munterer und aufgeweckter, von der Allmacht des Monarchen, der nur durch
sein Herz und seinen Verstand beschränkt ist, dachte er viel größer. Der alte
verknöcherte Diener- und Sklavenstaat widerte ihn an. Er wollte ihn lebendig
machen und ganz und gar mit seinen Wünschen, Gefühlen und Gedanken
durchdringen; und er konnte das verlangen, er in seinem Staate, wenn es nur
gelingen wollte. Daher seine liberalen Reden Und Herzensergießungen. Nicht
das tote Gesetz, das volle lebendige Herz des Königs sollte alle seine Untertanen regieren. Er wollte alle Herzen und Geister für seine Herzenswünsche
und langgenährten Pläne in Bewegung setzen. Eine Bewegung ist erfolgt; aber
die übrigen Herzen schlügen nicht wie das seinige, und die Beherrschten
konnten den Mund nicht auftun, ohne von der Aufhebung der alten Herrschaft zu reden. Die Idealisten, welche die Unverschämtheit haben, den
Menschen zum Menschen machen zu wollen, ergriffen das Wort, und während
der König altdeutsch phantasierte, meinten sie, neudeutsch philosophieren
zu dürfen. Allerdings war dies unerhört in Preußen. Einen Augenblick schien
die alte Ordnung der Dinge auf den Kopf gestellt zu sein, ja, die Dinge fingen
an, sich in Menschen zu verwandeln, es gab sogar namhafte Menschen, obgleich die Namensnennung auf den Landtagen nicht erlaubt ist; aber, die
Diener des alten Despotismus machten diesem undeutschen Treiben bald
ein Ende. Es war nicht schwer, die Wünsche des Königs, der für eine große
1
Friedrich Wilhelm III.
Vergangenheit voll Pfaffen, Ritter und Hörige schwärmt, mit den Absichten
der Idealisten, welche lediglich die Folgen der französischen Revolution, also
zuletzt doch immer Republik und eine Ordnung der freien Menschheit statt
der Ordnung der toten Dinge wollen, in fühlbaren Konflikt zu bringen. Als
dieser Konflikt schneidend und unbequem genug geworden und der jähzornige König hinlänglich aufgeregt war, da traten die Diener zu ihm, die
früher den Gang der Dinge so leicht geleitet hatten, und erklärten: der König
täte nicht wohl, seine Untertanen zu unnützen Reden zu verleiten, sie würden
das Geschlecht der redenden Menschen nicht regieren können. Auch der Herr
aller Hinterrussen1 war über die Bewegung in den Köpfen der Vorderrussen1145-1 unruhig geworden und verlangte Wiederherstellung des alten ruhigen
Zustandes. Und es erfolgte eine neue Auflage der alten Ächtung aller Wünsche
und Gedanken der Menschen über menschliche Rechte und Pflichten, das
heißt die Rückkehr zu dem alten verknöcherten Dienerstaat, in welchem der
Sklave schweigend dient und der Besitzer des Landes und der Leute lediglich durch eine wohlgezogene, stillfolgsame Dienerschaft möglichst schweigsam herrscht. Beide können, was sie wollen, nicht sagen, weder die einen, daß
sie Menschen werden wollen, noch der andere, daß er keine Menschen in
seinem Lande brauchen könne. Schweigen ist daher das einzige Auskunftsmittel. Muta pecora, prona et ventri oboedientia.a
Dies ist der verunglückte Versuch, den Philisterstaat auf seiner eigenen
Basis aufzuheben; er ist dazu ausgeschlagen, daß er die Notwendigkeit der
Brutalität und die Unmöglichkeit der Humanität für den Despotismus aller
Welt anschaulich gemacht hat. Ein brutales Verhältnis kann nur mit Brutalität aufrechterhalten werden. Und hier bin ich nun mit unserer gemeinsamen
Aufgabe, den Philister und seinen Staat ins Auge zu fassen, fertig. Sie werden
nicht sagen, ich hielte die Gegenwart zu hoch, und wenn ich dennoch nicht
an ihr verzweifle, so ist es nur ihre eigene verzweifelte Lage, die mich mit Hoffnung erfüllt. Ich rede gar nicht von der Unfähigkeit der Herren und von der
Indolenz der Diener und Untertanen, die alles gehn lassen, wie es Gott gefällt; und doch reichte beides zusammen schon hin, um eine Katastrophe
herbeizuführen. Ich mache Sie nur darauf aufmerksam, daß die Feinde des
Philistertums, mit einem Wort alle denkenden und alle leidenden Menschen,
zu einer Verständigung gelangt sind, wozu ihnen früher durchaus die Mittel
fehlten, und daß selbst das passive Fortpflanzungssystem der alten Untertanen jeden Tag Rekruten für den Dienst der neuen Menschheit wirbt. Das
System des Erwerbs und Handels, des Besitzes und der Ausbeutung der
1
Nikolaus I. -
2
Die Herde ist stamm, kopfhängerisch und gehorcht dem Magen.
Menschen führt aber noch viel schneller als die Vermehrung der Bevölkerung
zu einem Bruch innerhalb der jetzigen Gesellschaft, den das alte System nicht
zu heilen vermag, weil es überhaupt nicht heilt und schafft, sondern nur existiert und genießt. Die Existenz der leidenden Menschheit, die denkt, und
der denkenden Menschheit, die unterdrückt wird, muß aber notwendig für
die passive und gedankenlos genießende Tierwelt der Philisterei ungenießbar
und unverdaulich werden.
Von unserer Seite muß die alte Welt vollkommen ans Tageslicht gezogen
und die neue positiv ausgebildet werden. Je länger die Ereignisse der denkenden Menschheit Zeit lassen, sich zu besinnen, und der leidenden, sich zu
sammeln, um so vollendeter wird das Produkt in die Welt treten, welches die
Gegenwart in ihrem Schöße trägt.
M . an R.
Kreuznach, im September 1843
Es freut mich, daß Sie entschlossen sind und von den Rückblicken auf das
Vergangene Ihre Gedanken zu einem neuen Unternehmen vorwärts wenden. Also in Paris1146-1, der alten Hochschule der Philosophie, absit ometi!1 und
der neuen Hauptstadt der neuen Welt. Was notwendig ist, das fügt sich. Ich
zweifle daher nicht, daß sich alle Hindernisse, deren Gewicht ich nicht verkenne, beseitigen lassen.
Das Unternehmen mag aber zustande kommen oder nicht; jedenfalls
werde ich Ende dieses Monats in Paris sein, da die hiesige Luft leibeigen
macht und ich in Deutschland durchaus keinen Spielraum für eine freie
Tätigkeit sehe.
In Deutschland wird alles gewaltsam unterdrückt, eine wahre Anarchie
des Geistes, das Regiment der Dummheit selbst ist hereingebrochen, und
Zürich gehorcht den Befehlen aus Berlin; es wird daher immer klarer, daß
ein neuer Sammelpunkt für die wirklich denkenden und unabhängigen Köpfe
gesucht werden muß. Ich bin überzeugt, durch unsern Plan würde einem wirklichen Bedürfnisse entsprochen werden, und die wirklichen Bedürfnisse müssen sich doch auch wirklich erfüllen lassen. Ich zweifle also nicht an dem
Unternehmen, sobald ernst damit gemacht wird.
Größer noch als die äußern Hindernisse scheinen beinahe die inneren
Schwierigkeiten zu sein. Denn wenn auch kein Zweifel über das „Woher", so
1
möge es nichts Schlimmes bedeutenl
herrscht desto mehr Konfusion über das „Wohin". Nicht nur, daß eine allgemeine Anarchie unter den Reformern ausgebrochen ist, so wird jeder sich selbst
gestehen müssen, daß er keine exakte Anschauung von dem hat, was werden
soll. Indessen ist das gerade wieder der Vorzug der neuen Richtung, daß wir
nicht dogmatisch die Welt antizipieren, sondern erst aus der Kritik der alten
Welt die neue finden wollen. Bisher hatten die Philosophen die Auflösung aller
Rätsel in ihrem Pulte liegen, und die dumme exoterische Welt hatte nur das
Maul aufzusperren, damit ihr die gebratenen Tauben der absoluten Wissenschaft in den Mund flogen. Die Philosophie hat sich verweltlicht, und der
schlagendste Beweis dafür ist, daß das philosophische Bewußtsein selbst in
die Qual des Kampfes nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich hineingezogen ist. Ist die Konstruktion der Zukunft und das Fertigwerden für
alle Zeiten nicht unsere Sache, so ist desto gewisser, was wir gegenwärtig
zu vollbringen haben, ich meine die rücksichtslose Kritik olles Bestehenden,
rücksichtslos sowohl in dem Sinne, daß die Kritik sich nicht vor ihren
Resultaten fürchtet und ebensowenig vor dem Konflikte mit den vorhandenen
Mächten.
Ich bin daher nicht dafür, daß wir eine dogmatische Fahne aufpflanzen,
im Gegenteil. Wir müssen den Dögmatikern nachzuhelfen suchen, daß sie
ihre Sätze sich klarmachen. So ist namentlich der Kommunismus eine dogmatische Abstraktion, wobei ich aber nicht irgendeinen eingebildeten und möglichen, sondern den wirklich existierenden Kommunismus, wie ihn Cabet,
Dezamy, Weitling etc. lehren, im Sinn habe. Dieser Kommunismus ist selbst
nur eine aparte, von seinem Gegensatz, dem Privatwesen, infizierte Erscheinung des humanistischen Prinzips. Aufhebung des Privateigentums und
Kommunismus sind daher keineswegs identisch, und der Kommunismus hat
andre sozialistische Lehren, wie die von Fourier, Proudhon etc., nicht zufällig, sondern notwendig sich gegenüber entstehn sehn, weil er selbst nur
eine besondre, einseitige Verwirklichung des sozialistischen Prinzips ist.
Und das ganze sozialistische Prinzip ist wieder nur die eine Seite, welche
die Realität des wahren menschlichen Wesens betrifft. Wir haben uns ebensowohl um die andre Seite, um die theoretische Existenz des Menschen zu
kümmern, also Religion, Wissenschaft etc. zum Gegenstande unserer Kritik
zu machen. Außerdem wollen wir auf unsere Zeitgenossen wirken, und zwar
auf unsre deutschen Zeitgenossen. Es fragt sich, wie ist das anzustellen?
Zweierlei Fakta lassen sich nicht ableugnen. Einmal die Religion, dann die
Politik sind Gegenstände, welche das Hauptinteresse des jetzigen Deutschlands bilden. An diese, wie sie auch sind, ist anzuknüpfen, nicht irgendein
System wie etwa die „Voyage en /can'e"[147] ihnen fertig entgegenzusetzen.
Die Vernunft hat immer existiert, nur nicht immer in der vernünftigen
Form. Der Kritiker kann also an jede Form des theoretischen und praktischen
Bewußtseins anknüpfen und aus den eigenen Formen der existierenden Wirklichkeit die wahre Wirklichkeit als ihr Sollen und ihren Endzweck entwickeln.
Was nun das wirkliche Leben betrifft, so enthält grade der politische Staat,
auch wo er von den sozialistischen Forderungen noch nicht bewußterweise
erfüllt ist, in allen seinen modernen Formen die Forderungen der Vernunft.
Und er bleibt dabei nicht stehn. Er unterstellt überall die Vernunft als realisiert. Er. gerät aber ebenso überall in den Widerspruch seiner ideellen Bestimmung mit seinen realen Voraussetzungen.
Aus diesem Konflikt des politischen Staates mit sich selbst läßt sich daher überall die soziale Wahrheit entwickeln. Wie die Religion das Inhaltsverzeichnis von den theoretischen Kämpfen der Menschheit, so ist es der
politische Staat von ihren praktischen. Der politische Staat drückt also innerhalb seiner Form sab specie rei publicae1 alle sozialen Kämpfe, Bedürfnisse,
Wahrheiten aus. Es ist also durchaus nicht unter der haatear des principes2,
die speziellste politische Frage - etwa den Unterschied von ständischem und
repräsentativem System - zum Gegenstand der Kritik zu machen. Denn
diese Frage drückt nur auf politische Weise den Unterschied von der Herrschaft des Menschen und der Herrschaft des Privateigentums aus. Der
Kritiker kann also nicht nur, er muß in diese politischen Fragen (die nach
der Ansicht der krassen Sozialisten unter aller Würde sind) eingehn. Indem
er den Vorzug des repräsentativen Systems vor dem ständischen entwickelt,
interessiert er praktisch eine große Partei. Indem er das repräsentative
System aus seiner politischen Form zu der allgemeinen Form erhebt und
die wahre Bedeutung, die ihm zugrunde liegt, geltend macht, zwingt er
zugleich diese Partei, über sich selbst hinauszugehn, denn ihr Sieg ist zugleich ihr Verlust.
Es hindert uns also nichts, unsre Kritik an die Kritik der Politik, an die
Parteinahme in der Politik, also an wirkliche Kämpfe anzuknüpfen und mit
ihnen zu identifizieren. Wir treten dann nicht der Welt doktrinär mit einem
neuen Prinzip entgegen: Hier ist die Wahrheit, hier kniee nieder! Wir entwickeln der Welt aus den Prinzipien der Welt neue Prinzipien. Wir sagen ihr
nicht: Laß ab von deinen Kämpfen, sie sind dummes Zeug; wir wollen dir die
wahre Parole des Kampfes zuschrein. Wir zeigen ihr nur, warum sie eigentlich
kämpft, und das Bewußtsein ist eine Sache, die sie sich aneignen maß, wenn
sie auch nicht will.
1
ah einer besonderen Staatsform
- 2 dem Niveau der Prinzipien
Die Reform des Bewußtseins besteht nur darin, daß man die Welt ihr
Bewußtsein innewerden läßt, daß man sie aus dem Traum über sich selbst
aufweckt, daß man ihre eignen Aktionen ihr erklärt. Unser ganzer Zweck kann
in nichts anderem bestehn, wie dies auch bei Feuerbachs Kritik der Religion
der Fall ist, als daß die religiösen und politischen Fragen in die selbstbewußte
menschliche Form gebracht werden.
Unser Wahlspruch muß also sein: Reform des Bewußtseins nicht durch
Dogmen, sondern durch Analysierung des mystischen, sich selbst unklaren
Bewußtseins, trete es nun religiös oder politisch auf. Es wird sich dann zeigen,
daß die Welt längst den Traum von einer Sache besitzt, von der sie nur das
Bewußtsein besitzen muß, um sie wirklich zu besitzen. Es wird sich zeigen,
daß es sich nicht um einen großen Gedankenstrich zwischen Vergangenheit
und Zukunft handelt, sondern um die Vollziehung der Gedanken der Vergangenheit. Es wird sich endlich zeigen, daß die Menschheit keine neue Arbeit
beginnt, sondern mit Bewußtsein ihre alte Arbeit zustande bringt.
Wir können also die Tendenz unsers Blattes in ein Wort fassen: Selbstverständigung (kritischePhilosophie) derZeit über ihre Kämpfe und Wünsche.
Dies ist eine Arbeit für die Welt und für uns. Sie kann nur das Werk vereinter
Kräfte sein. Es handelt sich um eine Beichte, um weiter nichts. Um sich ihre
Sünden vergeben zu lassen, braucht die Menschheit sie nur für das zu erklären, was sie sind.
Nach: „Deutsch-Französische Jahrbücher",
Paris 1844.
Karl Marx
Zur Judenfrage
1. Bruno Bauer: „Die Judenfrage". Braunschweig 1843.
2. Bruno Bauer: „Die Fähigkeit der heutigen Juden und Christen, frei zu
werden". „Einundzwanzig Bogen aus der Schweiz". Herausgegeben von
Georg Herwegh. Zürich und Winterthur, 1843, S. 56-71.
I
Bruno Bauer: „ D i e Judenfrage". Braunschweig 1843
Die deutschen Juden begehren die Emanzipation. Welche Emanzipation
begehren sie? Die staatsbürgerliche, die politische Emanzipation.
Bruno Bauer antwortet ihnen: Niemand in Deutschland ist politisch
emanzipiert. Wir selbst sind unfrei. Wie sollen wir euch befreien? Ihr Juden
seid Egoisten, wenn ihr eine besondere Emanzipation für euch als Juden verlangt. Ihr müßtet als Deutsche an der politischen Emanzipation Deutschlands,
als Menschen an der menschlichen Emanzipation arbeiten und die besondere
Art eures Drucks und eurer Schmach nicht als Ausnahme von der Regel,
sondern vielmehr als Bestätigung der Regel empfinden.
Oder verlangen die Juden Gleichstellung mit den christlichen Untertanen?
So erkennen sie den christlichen Staat als berechtigt an, so erkennen sie das
Regiment der allgemeinen Unterjochung an. Warum mißfällt ihnen ihr
spezielles Joch, wenn ihnen das allgemeine Joch gefällt! Warum soll der
Deutsche sich für die Befreiung der Juden interessieren, wenn der Jude sich
nicht für die Befreiung des Deutschen interessiert?
£ Der christliche Staat kennt nur Privilegien. Der Jude besitzt in ihm das
Privilegium, Jude zu sein. Er hat als Jude Rechte, welche die Christen nicht
haben. Warum begehrt er Rechte, welche er nicht hat und welche die Christen
genießen!
Wenn der Jude vom christlichen Staat emanzipiert sein will, so verlangt er,
daß der christliche Staat sein religiöses Vorurteil aufgebe. Gibt er, der Jude,
23 Marx/Engels, Werke, Bd. 1
sein religiöses Vorurteil auf? Hat er also das Recht, von einem andern diese
Abdankung der Religion zu verlangen?
Der christliche Staat kann seinem Wesen nach den Juden nicht emanzipieren; aber, setzt Bauer hinzu, der Jude kann seinem Wesen nach nicht
emanzipiert werden. Solange der Staat christlich und der Jude jüdisch ist,
sind beide ebensowenig fähig, die Emanzipation zu verleihen als zu empfangen.
Der christliche Staat kann sich nur in der Weise des christlichen Staats
zu dem Juden verhalten, das heißt auf privilegierende Weise, indem er die
Absonderung des Juden von den übrigen Untertanen gestattet, ihn aber den
Druck der andern abgesonderten Sphären empfinden und um so nachdrücklicher empfinden läßt, als der Jude im religiösen Gegensatz zu der herrschenden Religion steht. Aber auch der Jude kann sich nur jüdisch zum Staat verhalten, das heißt zu dem Staat als einem Fremdling, indem er der wirklichen
Nationalität seine chimärische Nationalität, indem er dem wirklichen Gesetz sein illusorisches Gesetz gegenüberstellt, indem er zur Absonderung von
der Menschheit sich berechtigt wähnt, indem er prinzipiell keinen Anteil an
der geschichtlichen Bewegung nimmt, indem er einer Zukunft harrt, welche
mit der allgemeinen Zukunft des Menschen nichts gemein hat, indem er sich
für ein Glied des jüdischen Volkes und das jüdische Volk für das auserwählte
Volk hält.
Auf welchen Titel hin begehrt ihr Juden also die Emanzipation? Eurer
Religion wegen? Sie ist die Todfeindin der Staatsreligion. Als Staatsbürger?
Es gibt in Deutschland keine Staatsbürger. Als Menschen? Ihr seid keine
Menschen, sowenig als die, an welche ihr appelliert.
Bauer hat die Frage der Judenemanzipation neu gestellt, nachdem er eine
Kritik der bisherigen Stellungen und Lösungen der Frage gegeben. Wie,
fragt er, sind sie beschaffen, der Jude, der emanzipiert werden, der christliche
Staat, der emanzipieren soll? Er antwortet durch eine Kritik der jüdischen
Religion, er analysiert den religiösen Gegensatz zwischen Judentum und
Christentum, er verständigt über das Wesen des christlichen Staates, alles
dies mit Kühnheit, Schärfe, Geist, Gründlichkeit in einer ebenso präzisen als
kernigen und energievollen Schreibweise.
Wie also löst Bauer die Judenfrage? Welches das Resultat? Die Formulierung einer Frage ist ihre Lösung. Die Kritik der Judenfrage ist die Antwort
auf die Judenfrage. Das Resume also folgendes:
Wir müssen uns selbst emanzipieren, ehe wir andere emanzipieren
können.
Die starrste Form des Gegensatzes zwischen dem Juden und dem Christen
ist der religiöse Gegensatz. Wie löst man einen Gegensatz? Dadurch, daß man
ihn unmöglich macht. Wie macht man einen religiösen Gegensatz unmöglich?
Dadurch, daß man die Religion aufhebt. Sobald Jude und Christ ihre gegenseitigen Religionen nur mehr als verschiedene Entwicklungsstufen des menschlichen Geistes, als verschiedene von der Geschichte abgelegte Schlangenhäute
und den Menschen als die Schlange erkennen, die sich in ihnen gehäutet, stehn
sie nicht mehr in einem religiösen, sondern nur noch in einem kritischen,
wissenschaftlichen, in einem menschlichen Verhältnisse. Die Wissenschaft ist
dann ihre Einheit. Gegensätze in der Wissenschaft lösen sich aber durch die
Wissenschaft selbst.
Dem deutschen Juden namentlich stellt sich der Mangel der politischen
Emanzipation überhaupt und die prononcierte Christlichkeit des Staats gegenüber. In Bauers Sinn hat jedoch die Judenfrage eine allgemeine, von den spezifisch deutschen Verhältnissen unabhängige Bedeutung. Sie ist die Frage von
dem Verhältnis der Religion zum Staat, von dem Widerspruch der religiösen
Befangenheit und der politischen Emanzipation. Die Emanzipation von der
Religion wird als Bedingung gestellt, sowohl an den Juden, der politisch
emanzipiert sein will, als an den Staat, der emanzipieren und selbst emanzipiert sein soll.
„Gut, sagt man, und der Jude sagt es selbst, der Jude soll auch nicht als Jude, nicht
weil er Jude ist, nicht weil er ein so treffliches allgemein menschliches Prinzip der Sittlichkeit hat, emanzipiert werden, der Jude wird vielmehr selbst hinter dem Staatsbürger
zurücktreten und Staatsbürger sein, trotzdem daß er Jude ist und Jude bleiben soll;
d. h., er ist und bleibt Jude, trotzdem daß er Staatsbürger ist und in allgemeinen
menschlichen Verhältnissen lebt: Sein jüdisches und beschränktes Wesen trägt immer
und zuletzt über seine menschlichen und politischen Verpflichtungen den Sieg, davon. Das Vorurteil bleibt, trotzdem daß es von allgemeinen Grundsätzen überflügelt
ist. Wenn es aber bleibt, so überflügelt es vielmehr alles andere." „Nur sophistisch,
dem Scheine nach, würde der Jude im Staatsleben Jude bleiben können; der bloße
Schein würde also, wenn er Jude bleiben wollte, das Wesentliche sein und den Sieg
davontragen, d. h., sein Leben im Staat würde nur Schein oder nur momentane Ausnahme gegen das Wesen und die Regel sein." („Die Fähigkeit der heutigen Juden
und Christen, frei zu werden." „Einundzwanzig Bogen", p. 57.)
Hören wir andrerseits, wie Bauer die Aufgabe des Staats stellt.
„Frankreich", heißt es, „hat uns neuerlich" (Verhandlungen der Deputiertenkammer
vom 26.Dezember 1840) „ih bezug auf die Judenfrage - sowie in allen andern politischen Fragen beständig - den Anblick eines Lebens gegeben, welches frei ist, aber
seine Freiheit im Gesetz revoziert, also auch für einen Schein erklärt und auf der
andern Seite sein freies Gesetz durch die Tat widerlegt." („Judenfrage'', p. 64.)
„Die allgemeine Freiheit ist in Frankreich noch nicht Gesetz, die Judenfrage auch
noch nicht gelöst, weil die gesetzliche Freiheit - daß alle Bürger gleich sind - im Leben,
welches von den religiösen Privilegien noch beherrscht und zerteilt ist, beschränkt wird
und diese Unfreiheit des Lebens auf das Gesetz zurückwirkt und dieses zwingt, die
Unterscheidung der an sich freien Bürger in Unterdrückte und Unterdrücker zu sanktionieren." (p. 65.)
Wann also wäre die Judenfrage für Frankreich gelöst?
„Der Jude z.B. müßte aufgehört haben, Jude zu sein, wenn er sich durch sein
Gesetz nicht verhindern läßt, seine Pflichten gegen den Staat und seine Mitbürger
zu erfüllen, also z.B. am Sabbat in die Deputiertenkammer geht und an den
öffentlichen Verhandlungen teilnimmt. Jedes religiöse Privilegium überhaupt, also auch
das Monopol einer bevorrechteten Kirche, müßte aufgehoben, und wenn einige oder
mehrere oder auch die uberwiegende Mehrzahl noch religiöse Pflichten glaubten erfüll
zu müssen, so müßte diese Erfüllung als eine reine Privatsache ihnen seihst überlassen
sein." (p. 65.) „Es gibt keine Religion mehr, wenn es keine privilegierte Religion mehr
gibt. Nehmt der Religion ihre ausschließende Kraft, und sie existiert nicht mehr."
(p.66.) „So gut, wie Herr Martin du Nord in dem Vorschlag, die Erwähnung des
Sonntags im Gesetze zu unterlassen, denAntrag auf dieErklärung sah, daß das Christentum aufgehört habe, zu existieren, mit demselben Rechte (und dies Recht ist vollkommen begründet) würde die Erklärung, daß das Sabbatgesetz für den Juden keine
Verbindlichkeit mehr habe, die Proklamation der Auflösung des Judentums sein."
(p- 71.)
Bauer verlangt also einerseits, daß der Jude das Judentum, überhaupt der
Mensch die Religion aufgebe, um staatsbürgerlich emanzipiert zu werden.
Andrerseits gilt ihm konsequenterweise die politische. Aufhebung der Religion
für die Aufhebung der Religion schlechthin. Der Staat, welcher die Religion
voraussetzt, ist noch kein wahrer, kein wirklicher Staat.
„Allerdings gibt die religiöse Vorstellung dem Staat Garantien. Aber welchem
Staat ? Welcher Art des Staates?" (p. 97.)
An diesem Punkt tritt die einseitige Fassung der Judenfrage hervor.
Es genügte keineswegs zu untersuchen: Wer soll emanzipieren? Wer soll
emanzipiert werden? Die Kritik hatte ein Drittes zu tun. Sie mußte fragen:
Von Welcher Art der Emanzipation handelt es sich? Welche Bedingungen sind
im Wesen der verlangten Emanzipation begründet? Die Kritik der politischen
Emanzipation selbst war erst die schließliche Kritik der Judenfrage und ihre
wahre Auflösung in die „allgemeine Frage der Zeit".
Weil Bauer die Frage nicht auf diese Höhe erhebt, verfällt er in Widersprüche. Er stellt Bedingungen, die nicht im Wesen der politischen Emanzipation selbst begründet sind. Er wirft Fragen auf, welche seine Aufgabe nicht
enthält, und er löst Aufgaben, welche seine Frage unerledigt lassen. Wenn
Bauer von den Gegnern der Judenemanzipation sagt: „Ihr Fehler war nur
der, daß sie den christlichen Staat als den einzig wahren voraussetzten und
nicht derselben Kritik unterwarfen, mit der sie das Judentum betrachteten"
(p. 3), so finden wir Bauers Fehler darin, daß er nur den „christlichen Staat",
nicht den „Staat schlechthin" der Kritik unterwirft, daß er das Verhältnis der
politischen Emanzipation zur menschlichen Emanzipation nicht untersucht und
daher Bedingungen stellt, welche nur aus einer unkritischen Verwechslung
der politischen Emanzipation mit der allgemein menschlichen erklärlich sind.
Wenn Bauer die Juden fragt: Habt ihr von eurem Standpunkt aus das Recht,
die politische Emanzipation zu begehren? so fragen wir umgekehrt: Hat der
Standpunkt der politischen Emanzipation das Recht, vom Juden die Aufhebung des Judentums, vom Menschen überhaupt die Aufhebung der Religion zu verlangen?
Die Judenfrage erhält eine veränderte Fassung, je nach dem Staate, in
welchem der Jude sich befindet. In Deutschland, wo kein politischer Staat,
kein Staat als Staat existiert, ist die Judenfrage eine rein theologische Frage.
Der Jude befindet sich im religiösen Gegensatz zum Staat, der das Christentum als seine Grundlage bekennt. Dieser Staat ist Theologe ex professo. Die
Kritik ist hier Kritik der Theologie, zweischneidige Kritik, Kritik der christlichen, Kritik der jüdischen Theologie. Aber so bewegen wir uns immer noch
in der Theologie, sosehr wir uns auch kritisch in ihr bewegen mögen.
In Frankreich, in dem konstitutionellen Staat, ist die Judenfrage die Frage
des Konstitutionalismus, die Frage von der Halbheit der politischen Emanzipation. Da hier der Schein einer Staatsreligion, wenn auch in einer nichtssagenden und sich selbst widersprechenden Formel, in der Formel einer
Religion der Mehrheit beibehalten ist, so behält das Verhältnis der Juden zum
Staat den Schein eines religiösen, theologischen Gegensatzes.
Erst in den nordamerikanischen Freistaaten - wenigstens in einem Teil
derselben - verliert die Judenfrage ihre theologische Bedeutung und wird zu
einer wirklich weltlichen Frage. Nur wo der politische Staat in seiner vollständigen Ausbildung existiert, kann das Verhältnis des Juden, überhaupt des
religiösen Menschen, zum politischen Staat, also das Verhältnis der Religion
zum Staat, in seiner Eigentümlichkeit, in seiner Reinheit heraustreten. Die
Kritik dieses Verhältnisses hört auf, theologische Kritik zu sein, sobald der
Staat aufhört, auf theologische Weise sich zur Religion zu verhalten, sobald
er sich als Staat, d. h. politisch, zur Religion verhält. Die Kritik wird dann
zur Kritik des politischen Staats. An diesem Punkt, wo die Frage aufhört,
theologisch zu sein, hört Bauers Kritik auf, kritisch zu sein.
„II n'existe aux Etats-Unis ni religion de VEtat, ni religion declaree celle de la maforit
ni preeminence d'un culte sur an autre. L'Etat est itranger ä tous les cultes."1 (Marie ou
l'esclavage aux Etats-Unis etc., parG.de Beaumont. Paris 1835, p.214.) Ja es gibt einige
nordamerikanische Staaten, wo „la Constitution n impose pas les croyances religieuses et
la pratique d'un culte comme condition des Privileges politiques"a (l. c. p. 225). Dennoc
„<m ne croit pas aux Etats-Unis qu'un homme sans religion puisse etre un honnete homm
(l.c.p.224).
Dennoch ist Nordamerika vorzugsweise das Land der Religiosität, wie
Beaumont, Tocqueville1-148-1 und der Engländer Hamilton1149-1 aus einem
Munde versichern. Die nordamerikanischen Staaten gelten uns indes nur
als Beispiel. Die Frage ist: Wie verhält sich die vollendete politische Emanzipation zur Religion? Finden wir selbst im Lande der vollendeten politischen
Emanzipation nicht nür die Existenz, sondern die lebensfrische, die lebenskräftige Existenz der Religion, so ist der Beweis geführt, daß das Dasein
der Religion der Vollendung des Staats nicht widerspricht. Da aber das Dasein der Religion das Dasein eines Mangels ist, so kann die Quelle dieses
Mangels nur noch im Wesen des Staats selbst gesucht werden. Die Religion
gilt uns nicht mehr als der Grund, sondern nur noch als das Phänomen der
weltlichen Beschränktheit. Wir erklären daher die religiöse Befangenheit der
freien Staatsbürger aus ihrer weltlichen Befangenheit. Wir behaupten nicht,
daß sie ihre religiöse Beschränktheit aufheben müssen, um ihre weltlichen
Schranken aufzuheben. Wir behaupten, daß sie ihre religiöse Beschränktheit
aufheben, sobald sie ihre weltliche Schranke aufheben. Wir verwandeln nicht
die weltlichen Fragen in theologische. Wir verwandeln die theologischen
Fragen in weltliche. Nachdem die Geschichte lange genug in Aberglauben
aufgelöst worden ist, lösen wir den Aberglauben in Geschichte auf. Die Frage
von dem Verhältnisse der politischen Emanzipation zur Religion wird für uns
die Frage von dem Verhältnis der politischen Emanzipation zur menschlichen
Emanzipation. Wir kritisieren die religiöse Schwäche des politischen Staats,
indem wir den politischen Staat, abgesehen von den religiösen Schwächen,
in seiner weltlichen Konstruktion kritisieren. Den Widerspruch des Staats
mit einer bestimmten Religion, etwa dem Judentum, vermenschlichen wir in
den Widerspruch des Staats mit bestimmten weltlichen Elementen, den Wider-
1 „In den Vereinigten Staaten gibt es weder eine Staatsreligion noch eins offizielle R
Mehrheit,noch den Vorrang einesKults über den anderen. Der Staat befaßt sich mit keinem
-2 „die Verfassung keinerlei religiösen Glauben oder die Ausübung eines bestimmten
Bedingung politischer Privilegien macht" - 3 „glaubt man in den Vereinigten Staaten ni
Mensch ohne Religion ein anständiger Mensch sein könnte"
spruch des Staats mit der Religion überhaupt, in den Widerspruch des Staats
mit seinen Voraussetzungen überhaupt.
Die politische Emanzipation des Juden, des Christen, überhaupt des
religiösen Menschen, ist die Emanzipation des Staats vom Judentum, vom
Christentum, überhaupt von der Religion. In seiner Form, in der seinem
Wesen eigentümlichen Weise, als Staat emanzipiert sich der Staat von der
Religion, indem er sich von der Staatsreligion emanzipiert, d. h., indem der
Staat als Staat keine Religion bekennt, indem der Staat sich vielmehr als Staat
bekennt. Die politische Emanzipation von der Religion ist nicht die durchgeführte, die widerspruchslose Emanzipation von der Religion, weil die
politische Emanzipation nicht die durchgeführte, die widerspruchslose Weise
der menschlichen Emanzipation ist.
Die Grenze der politischen Emanzipation erscheint sogleich darin, daß
der Staat sich von einer Schranke befreien kann, ohne daß der Mensch wirk'
lieh von ihr frei wäre, daß der Staat ein Freistaat sein kann, ohne daß der
Mensch ein freier Mensch wäre. Bauer selbst gibt dies stillschweigend zu, wenn
er folgende Bedingung der politischen Emanzipation setzt:
„Jedes religiöse Privilegium überhaupt, also auch das M o n o p o l einer bevoirechteten Kirche, m ü ß t e aufgehoben, und wenn einige oder mehrere oder auch die über'
wiegende Mehrzahl
noch religiöse Pflichten glaubten erfüllen zu müssen, so müßte diese
Erfüllung als eine reine Privatsache ihnen selbst überlassen sein."
Der Staat kann sich also von der Religion emanzipiert haben, sogar wenn
die überwiegende Mehrzahl noch religiös ist. Und die überwiegende Mehrzahl
hört dadurch nicht auf, religiös zu sein, daß sie privatim religiös ist.
Aber das Verhalten des Staats zur Religion, namentlich des Freistaats, ist
doch nur das Verhalten der Menschen, die den Staat bilden, zur Religion. Es
folgt hieraus, daß der Mensch durch das Medium des Staats, daß er politisch
von einer Schranke sich befreit, indem er sich im Widerspruch mit sich selbst,
indem er sich auf eine abstrakte und beschränkte, auf partielle Weise über
diese Schranke erhebt. Es folgt ferner, daß der Mensch auf einem Umweg,
durch ein Medium, wenn auch durch ein notwendiges Medium sich befreit,
indem er sich politisch befreit. Es folgt endlich, daß der Mensch, selbst wenn
er durch die Vermittlung des Staats sich als Atheisten proklamiert, d.h.,
wenn er den Staat zum Atheisten proklamiert, immer noch religiös befangen
bleibt, eben weil er sich nur auf einem Umweg, weil er nur durch ein Medium
sich selbst anerkennt. Die Religion ist eben die Arterkennung des Menschen
auf einem Umweg. Durch einen Mittler. Der Staat ist der Mittler zwischen
dem Menschen und der Freiheit des Menschen. Wie Christus der Mittler ist,
dem der Mensch seine ganze Göttlichkeit, seine ganze religiöse Befangenheit
aufbürdet, so ist der Staat der Mittler, in den er seine ganze Ungöttlichkeit,
seine ganze menschliche Unbefangenheit verlegt.
Die politische Erhebung des Menschen über die Religion teilt alle Mängel
und alle Vorzüge der politischen Erhebung überhaupt. Der Staat als Staat
annulliert z. B. das Privateigentum, der Mensch erklärt auf politische Weise
das Privateigentum für aufgehoben, sobald er den Zensus für aktive und passive
Wählbarkeit aufhebt, wie dies in vielen nordamerikanischen Staaten geschehen ist. Hamilton interpretiert dies Faktum von politischem Standpunkte
ganz richtig dahin: „Der große Haufen hat den Sieg über die Eigentümer und den
Geldreichtum davongetragen." Ist das Privateigentum nicht ideell aufgehoben, wenn der Nichtbesitzende zum Gesetzgeber des Besitzenden geworden
ist? Der Zensus ist die letzte politische Form, das Privateigentum anzuerkennen.
Dennoch ist mit der politischen Annullation des Privateigentums das
Privateigentum nicht nur nicht aufgehoben, sondern sogar vorausgesetzt. Der
Staat hebt den Unterschied der Geburt, des Standes, der Bildung, der ßeschäftigung in seiner Weise auf, wenn er Geburt, Stand, Bildung, Beschäftigung für unpolitische Unterschiede erklärt, wenn er ohne Rücksicht auf diese
Unterschiede jedes Glied des Volkes zum gleichmäßigen Teilnehmer der
Volkssouveränität ausruft, wenn er alle Elemente des wirklichen Volkslebens
von dem Staatsgesichtspunkt aus behandelt. Nichtsdestoweniger läßt der
Staat das Privateigentum, die Bildung, die Beschäftigung auf ihre Weise, d. h.
als Privateigentum, als Bildung, als Beschäftigung wirken und ihr besondres
Wesen geltend machen. Weit entfernt, diese faktischen Unterschiede aufzuheben, existiert er vielmehr nur unter ihrer Voraussetzung, empfindet er sich
als politischer Staat und macht er seine Allgemeinheit geltend nur im Gegensatz zu diesen seinen Elementen. Hegel bestimmt das Verhältnis des politischen
Staats zur Religion daherJganz richtig, wenn er sagt:
„Damit der Staat als die sich wissende s i t t l i c h e W i r k l i c h k e i t
des Geistes
zum Dasein komme, ist seine U n t e r s c h e i d u n g von der F o r m der Autorität und des
Glaubens notwendig," diese Unterscheidung tritt aber nur hervor, insofern die kirchliche Seite in sich selbst zur T r e n n u n g
kommt;
nur
so ü b e r
die besondern
Kirchen hat der Staat die Allgemeinheit des Gedankens, das Prinzip seiner F o r m g e wonnen und bringt sie zur Existenz". (Hegels Rechtsphilosophie, 1. Ausgabe, p. 3 4 6 . )
Allerdings! Nur so über den besondern Elementen konstituiert sich der
Staat als Allgemeinheit.
Der vollendete politische Staat ist seinem Wesen nach das Gattungsleben
des Menschen im Gegensatz zu seinem materiellen Leben. Alle Voraussetzungen dieses egoistischen Lebens bleiben außerhalb der Staatssphäre in
der bürgerlichen Gesellschaft bestehen, aber als Eigenschaften der bürgerlichen
Gesellschaft. W o der politische Staat seine wahre Ausbildung erreicht hat,
führt der Mensch nicht nur im Gedanken, im Bewußtsein, sondern in der
Wirklichkeit, im Leben ein doppeltes, ein himmlisches und ein irdisches Leben,
das Leben im politischen Gemeinwesen, worin er sich als Gemeinwesen gilt, und
das Leben in der bürgerlichen Gesellschaft, worin er als Privatmensch tätig ist,
die andern Menschen als Mittel betrachtet, sich selbst zum Mittel herabwürdigt und zum Spielball fremder Mächte wird. Der politische Staat verhält sich ebenso spiritualistisch zur bürgerlichen Gesellschaft wie der Himmel
zur Erde. Er steht in demselben Gegensatz zu ihr, er überwindet sie in derselben Weise wie die Religion die Beschränktheit der profanen Welt, d. h.,
indem er sie ebenfalls wieder anerkennen, herstellen, sich selbst von ihr b e herrschen lassen muß. Der Mensch in seiner nächsten Wirklichkeit, in der
bürgerlichen Gesellschaft, ist ein profanes Wesen. Hier, wo er als wirkliches
Individuum sich selbst und andern gilt, ist er eine unwahre Erscheinung. In
dem Staat dagegen, wo der Mensch als Gattungswesen gilt, ist er das imaginäre
Glied einer eingebildeten Souveränität, ist er seines wirklichen individuellen
Lebens beraubt und mit einer unwirklichen Allgemeinheit erfüllt.
Der Konflikt, in welchem sich der Mensch als Bekenner einer besondern
Religion mit seinem Staatsbürgertum, mit den andern Menschen als Gliedern
des Gemeinwesens befindet, reduziert sich auf die weltliche Spaltung zwischen
dem politischen Staat und der bürgerlichen Gesellschaft. Für den Menschen als
bourgeois1 ist das „Leben im Staate nur Schein oder eine momentane Ausnahme gegen das Wesen und die Regel". Allerdings bleibt der bourgeois, wie
der Jude, nur sophistisch im Staatsleben, wie der citoyen nur sophistisch Jude
oder bourgeois bleibt; aber diese Sophistik ist nicht persönlich. Sie ist die
Sophistik des politischen Staates selbst. Die Differenz zwischen dem religiösen
Menschen und dem Staatsbürger ist die Differenz zwischen dem Kaufmann
und dem Staatsbürger, zwischen dem Taglöhner und dem Staatsbürger,
zwischen dem Grundbesitzer und dem Staatsbürger, zwischen dem lebendigen Individuum und demStaatsbürger. Der Widerspruch, in dem sich der religiöse Mensch mit dem politischen Menschen befindet, ist derselbe Widerspruch, in welchem sich der bourgeois mit dem citoyen, in welchem sich das
Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft mit seiner politischen Löwenhaut befindet.
Diesen weltlichen Widerstreit, auf welchen sich die Judenfrage schließlich reduziert, das Verhältnis des politischen Staates zu seinen Vorausset1
Hier: Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft
zungen, mögen dies nun materielle Elemente sein, wie das Privateigentum
etc., oder geistige, wie Bildung, Religion, den Widerstreit zwischen dem
allgemeinen Interesse und dem Privatinteresse, die Spaltung zwischen dem
politischen Staat und der bürgerlichen Gesellschaft, diese weltlichen Gegensätze
läßt Bauer bestehen, während er gegen ihren religiösen Ausdruck polemisiert.
„Gerade ihre Grundlage, das Bedürfnis, welches der bürgerlichen Gesellschaft ihr
Bestehen sichert und ihre Notwendigkeit garantiert, setzt ihr Bestehen beständigen G e fahren aus, unterhält in ihr ein unsicheres Element und bringt jene in beständigem
Wechsel begriffene Mischung von Armut und Reichtum, N o t und Gedeihen, überhaupt
den Wechsel hervor." (p. 8 . )
Man vergleiche den ganzen Abschnitt: „Die bürgerliche Gesellschaft"
(p. 8-9), der nach den Grundzügen der Hegeischen Rechtsphilosophie entworfen ist. Die bürgerliche Gesellschaft in ihrem Gegensatz zum politischen
Staat wird als notwendig anerkannt, weil der politische Staat als notwendig
anerkannt wird.
Die politische Emanzipation ist allerdings ein großer Fortschritt, sie ist
zwar nicht die letzte Form der menschlichen Emanzipation überhaupt, aber
sie ist die letzte Form der menschlichen Emanzipation innerhalb der bisherigen
Weltordnung. Es versteht sich: Wir sprechen hier von wirklicher, von praktischer Emanzipation.
Der Mensch emanzipiert sich politisch von der Religion, indem er sie aus
dem öffentlichen Recht in das Privatrecht verbannt. Sie ist nicht mehr der
Geist des Staats, wo der Mensch - wenn auch in beschränkter Weise, unter
besonderer Form und in einer besondern Sphäre - sich als Gattungswesen
verhält, in Gemeinschaft mit andern Menschen, sie ist zum Geist der bürgerlichen Gesellschaft geworden, der Sphäre des Egoismus, des bellum omnium
contra omnes1. Sie ist nicht mehr das Wesen der Gemeinschaft, sondern das
Wesen des Unterschieds. Sie ist zum Ausdruck der Trennung des Menschen
von seinem Gemeinwesen, von sich und den andern Menschen geworden was sie ursprünglich war. Sie ist nur noch das abstrakte Bekenntnis der besondern Verkehrtheit, der Privatschrulle, der Willkür. Die unendliche Zersplitterung der Religion in Nordamerika z. B. gibt ihr schon äußerlich die
Form einer rein individuellen Angelegenheit. Sie ist unter die Zahl der Privatinteressen hinabgestoßen und aus dem Gemeinwesen als Gemeinwesen exiliert. Aber man täusche sich nicht über die Grenze der politischen Emanzipation. Die Spaltung des Menschen in den öffentlichen und in den Privat1
Krieges aller gegen alle
nterischen, die Dislokation der Religion aus dem Staate in die bürgerliche
Gesellschaft, sie ist nicht eine Stufe, sie ist die Vollendung der politischen
Emanzipation, die also die wirkliche Religiosität des Menschen ebensowenig
aufhebt als aufzuheben strebt.
Die Zersetzung des Menschen in den Juden und in den Staatsbürger, in
den Protestanten und in den Staatsbürger, in den religiösen Menschen und in
den Staatsbürger, diese Zersetzung ist keine Lüge gegen das Staatsbürgertum,
sie ist keine Umgehung der politischen Emanzipation, sie ist die politische
Emanzipation selbst, sie ist die politische Weise, sich von der Religion zu
emanzipieren. Allerdings: In Zeiten, wo der politische Staat als politischer
Staat gewaltsam aus der bürgerlichen Gesellschaft heraus geboren wird, wo
die menschliche Selbstbefreiung unter der Form der politischen Selbstbefreiung sich zu vollziehen strebt, kann und muß der Staat bis zur Aufhebung der Religion, bis zur Vernichtung der Religion fortgehen, aber nur so,
wie er zur Aufhebung des Privateigentums, zum Maximum, zur Konfiskation,
zur progressiven Steuer, wie er zur Aufhebung des Lebens, zur Guillotine
fortgeht. In den Momenten seines besondern Selbstgefühls sucht das politische Leben seine Voraussetzung, die bürgerliche Gesellschaft und ihre
Elemente, zu erdrücken und sich als das wirkliche, widerspruchslose Gattungsleben des Menschen zu konstituieren. Es vermag dies indes nur durch
gewaltsamen Widerspruch gegen seine eigenen Lebensbedingungen, nur indem es die Revolution für permanent erklärt, und das politische Drama endet
daher ebenso notwendig mit der Wiederherstellung der Religion, des Privateigentums, aller Elemente der bürgerlichen Gesellschaft, wie der Krieg mit
dem Frieden endet.
Ja, nicht der sogenannte christliche Staat, der das Christentum als seine
Grundlage, als Staatsreligion bekennt und sich daher ausschließend zu andern
Religionen verhält, ist der vollendete christliche Staat, sondern vielmehr der
atheistische Staat, der demokratische Staat, der Staat, der die Religion unter
die übrigen Elemente der bürgerlichen Gesellschaft verweist. Dem Staat, der
noch Theologe ist, der noch das Glaubensbekenntnis des Christentums auf
offizielle Weise ablegt, der sich noch nicht als Staat zu proklamieren wagt,
ihm ist es noch nicht gelungen, in weiflicher, menschlicher Form, in seiner
Wirklichkeit als Staat die menschliche Grundlage auszudrücken, deren überschwenglicher Ausdruck das Christentum ist. Der sogenannte christliche
Staat ist nur einfach der Nichtstaat, weil nicht das Christentum als Religion,
sondern nur der menschliche Hintergrund der christlichen Religion in wirklich
menschlichen Schöpfungen sich ausführen kann.
Der sogenannte christliche Staat ist die christliche Verneinung des Staats,
aber keineswegs die staatliche Verwirklichung des Christentums. Der Staat,
der das Christentum noch in der Form der Religion bekennt, bekennt es noch
nicht in der Form des Staats, denn er verhält sich noch religiös zu der Religion, d. h., er ist nicht die wirkliche Ausführung des menschlichen Grundes
der Religion, weil er noch auf die Unwirklichkeit, auf die imaginäre Gestalt
dieses menschlichen Kernes provoziert. Der sogenannte christliche Staat ist
der unvollkommene Staat, und die christliche Religion gilt ihm als Ergänzung
und als Heiligung seiner Unvollkommenheit. Die Religion wird ihm daher
notwendig zum Mittel, und er ist der Staat der Heuchelei. Es ist ein großer
Unterschied, ob der vollendete Staat wegen des Mangels, der im allgemeinen
Wesen des Staats liegt, die Religion unter seine Voraussetzungen zählt, öder
ob der unvollendete Staat wegen des Mangels, der in seiner besondern Existenz
liegt, als mangelhafter Staat, die Religion für seine Grundlage erklärt. Im
letztern Fall wird die Religion zur unvollkommenen Politik. Im ersten Fall
zeigt sich die Unvollkommenheit selbst der vollendeten Politik in der Religion.
Der sogenannte christliche Staat bedarf der christlichen Religion, um sich als
Staat zu vervollständigen. Der demokratische Staat, der wirkliche Staat, bedarf nicht der Religion zu seiner politischen Vervollständigung. Er kann vielmehr von der Religion abstrahieren, weil in ihm die menschliche Grundlage
der Religion auf weltliche Weise ausgeführt ist. Der sogenannte christliche
Staat verhält sich dagegen politisch zur Religion und religiös zur Politik.
Wenn er die Staatsformen zum Schein herabsetzt, so setzt er ebensosehr die
Religion zum Schein herab.
Um diesen Gegensatz zu verdeutlichen, betrachten wir Bauers Konstruktion des christlichen Staats, eine Konstruktion, welche aus der Anschauung
des christlich-germanischen Staats hervorgegangen ist.
„Man hat neuerlich", sagt Bauer, „um die Unmöglichkeit oder Nichtexistenz eines
christlichen Staates zu beweisen, öfter auf diejenigen Aussprüche in dem Evangelium
hingewiesen, die der Staat nicht nur nicht befolgt, sondern auch nicht einmal befolgen
kann, wenn er sich nicht vollständig auflösen will." „ S o leicht aber ist die Sache nicht
abgemacht. Was verlangen denn jene evangelischen Sprüche? Die übernatürliche
Selbstverleugnung, die Unterwerfung unter die Autorität der Offenbarung, die A b wendung vom Staat, die Aufhebung der weltlichen Verhältnisse. Nun, alles das verlangt und leistet der christliche Staat. Er hat den Geist des Evangeliums sich angeeignet,
und wenn er ihn nicht mit denselben Buchstaben wiedergibt, mit denen ihn das
Evangelium ausdrückt, so kommt das nur daher, weil er diesen Geist in Staatsformen,
d. h. in Formen ausdrückt, die zwar dem Staatswesen in dieser Welt entlehnt sind,
aber in der religiösen Wiedergeburt, die sie erfahren müssen, zum Schein herabgesetzt
werden. Es ist die Abwendung vom Staat, die sich zu ihrer Ausführung der Staatsformen bedient." (p. 55.)
Bauer entwickelt nun weiter, wie das Volk des christlichen Staats nur ein
Nichtvolk ist, keinen eignen Willen mehr hat, sein wahres Dasein aber in dem
Haupte besitzt, dem es Untertan, welches ihm jedoch ursprünglich und seiner
Natur nach fremd, d.h. von Gott gegeben und ohne sein eignes Zutun zu ihm
gekommen ist, wie die Gesetze dieses Volkes nicht sein Werk, sondern positive
Offenbarungen sind, wie sein Oberhaupt privilegierter Vermittler mit dem
eigentlichen Volke, mit der Masse bedarf, wie diese Masse selbst in eine
Menge besondrer Kreise zerfällt, welche der Zufall bildet und bestimmt, die
sich durch ihre Interessen, besonderen Leidenschaften und Vorurteile unterscheiden und als Privilegium die Erlaubnis bekommen, sich gegenseitig voneinander abzuschließen, etc. (p. 56.)
Allein Bauer sagt selbst:
„Die Politik, wenn sie nichts als Religion sein soll, darf nicht Politik sein, sowenig,
wie das Reinigen der Kochtöpfe, wenn es als Religionsangelegenheit gelten soll, als
eine Wirtschaftssache betrachtet werden darf." (p. 108.)
Im christlich-germanischen Staat ist aber die Religion eine „Wirtschaftssache", wie die „Wirtschaftssache" Religion ist. Im christlich-germanischen
Staat ist die Herrschaft der Religion die Religion der Herrschaft.
Die Trennung des „Geistes des Evangeliums" von den „Buchstaben des
Evangeliums" ist ein irreligiöser Akt. Der Staat, der das Evangelium in den
Buchstaben der Politik sprechen läßt, in andern Buchstaben als den Buchstaben des heiligen Geistes, begeht ein Sakrilegium, wenn nicht vor menschlichen Augen, so doch vor seinen eigenen religiösen Augen. Dem Staat, der
das Christentum als seine höchste Norm, der die Bibel als seine Charte bekennt, muß man die Worte der heiligen Schrift entgegenstellen, denn die
Schrift ist heilig bis auf das Wort. Dieser Staat sowohl als das Menschenkehricht, worauf er basiert, gerät in einen schmerzlichen, vom Standpunkte
des religiösen Bewußtseins aus unüberwindlichen Widerspruch, wenn man
ihn auf diejenigen Aussprüche des Evangeliums verweist, die er „nicht nur
nicht befolgt, sondern auch nicht einmal befolgen kann, wenn er sich nicht als
Staat vollständig auflösen will". Und warum will er sich nicht vollständig auflösen? Er selbst kann darauf weder sich noch andern antworten. Vor seinem
eignen Bewußtsein ist der offizielle christliche Staat ein Sollen, dessen Verwirklichung unerreichbar ist, der die Wirklichkeit seiner Existenz nur durch
Lügen vor sich selbst zu konstatieren weiß und sich selbst daher stets ein
Gegenstand des Zweifels, ein unzuverlässiger, problematischer Gegenstand
bleibt. Die Kritik befindet sich also in vollem Rechte, wenn sie den Staat,
der auf die Bibel provoziert, zur Verrücktheit des Bewußtseins zwingt, wo er
selbst nicht mehr weiß, ob er eine Einbildung oder eine Realität ist, wo die
Infamie seiner weltlichen Zwecke, denen die Religion zum Deckmantel dient,
mit der Ehrlichkeit seines religiösen Bewußtseins, dem die Religion als Zweck
der Welt erscheint, in unauflöslichen Konflikt gerät. Dieser Staat kann sich
nur aus seiner innern Qual erlösen, wenn er zum Schergen der katholischen
Kirche wird. Ihr gegenüber, welche die weltliche Macht für ihren dienenden
Körper erklärt, ist der Staat ohnmächtig, ohnmächtig die weltliche Macht,
welche die Herrschaft des religiösen Geistes zu sein behauptet.
In dem sogenannten christlichen Staat gilt zwar die Entfremdung, aber
nicht der Mensch. Der einzige Mensch, der gilt, der König, ist ein von den andern Menschen spezifisch unterschiedenes, dabei selbst noch religiöses, mit
dem Himmel, mit Gott direkt zusammenhängendes Wesen. Die Beziehungen,
die hier herrschen, sind noch gläubige Beziehungen. Der religiöse Geist ist
also noch nicht wirklich verweltlicht.
Aber der religiöse Geist kann auch nicht wirklich verweltlicht werden,
denn was ist er selbst, als die unweltliche Form einer Entwicklungsstufe des
menschlichen Geistes? Der religiöse Geist kann nur verwirklicht werden,
insofern die Entwicklungsstufe des menschlichen Geistes, deren religiöser
Ausdruck er ist, in ihrer weltlichen Form heraustritt und sich konstituiert.
Dies geschieht im demokratischen Staat. Nicht das Christentum, sondern der
menschliche Grund des Christentums ist der Grund dieses Staates. Die Religion bleibt das ideale, unweltliche Bewußtsein seiner Glieder, weil sie die
ideale Form der menschlichen Entwicklungsstufe ist, die in ihm durchgeführt
wird.
Religiös sind die Glieder des politischen Staats durch den Dualismus
zwischen dem individuellen und dem Gattungsleben, zwischen dem Leben
der bürgerlichen Gesellschaft und dem politischen Leben, religiös, indem
der Mensch sich zu dem seiner wirklichen Individualität jenseitigen Staatsleben als seinem wahren Leben verhält, religiös, insofern die Religion hier
der Geist der bürgerlichen Gesellschaft, der Ausdruck der Trennung und
der Entfernung des Menschen vom Menschen ist. Christlich ist die politische Demokratie, indem in ihr der Mensch, nicht nur ein Mensch, sondern
jeder Mensch, als souveränes, als höchstes Wesen gilt, aber der Mensch in
seiner unkultivierten, unsozialen Erscheinung, der Mensch in seiner zufälligen Existenz, der Mensch, wie er geht und steht, der Mensch, wie er durch
die ganze Organisation unserer Gesellschaft verdorben, sich selbst verloren,
veräußert, unter die Herrschaft unmenschlicher Verhältnisse und Elemente
gegeben ist, mit einem Wort, der Mensch, der noch kein wirkliches Gattungswesen ist. Das Phantasiegebild, der Traum, das Postulat des Christentums,
die Souveränität des Menschen, aber als eines fremden, von dem wirklichen
Menschen unterschiedenen Wesens, ist in der Demokratie sinnliche Wirklichkeit, Gegenwart, weltliche Maxime.
Das religiöse und theologische Bewußtsein selbst gilt sich in der vollendeten Demokratie um so religiöser, um so theologischer, als es scheinbar
ohne politische Bedeutung, ohne irdische Zwecke, Angelegenheit des weltscheuen Gemütes, Ausdruck der Verstandes-Borniertheit, Produkt der Willkür und der Phantasie, als es ein wirklich jenseitiges Leben ist. Das Christentum erreicht hier den praktischen Ausdruck seiner universalreligiösen Bedeutung, indem die verschiedenartigste Weltanschauung in der Form des
Christentums sich nebeneinander gruppiert, noch mehr dadurch, daß es an
andere nicht einmal die Forderung des Christentums, sondern nur noch der
Religion überhaupt, irgendeiner Religion stellt (vergl. die angeführte Schrift
von Beaumont). Das religiöse Bewußtsein schwelgt in dem Reichtum des
religiösen Gegensatzes und der religiösen Mannigfaltigkeit.
Wir haben also gezeigt: Die politische Emanzipation von der Religion
läßt die Religion bestehn, wenn auch keine privilegierte Religion. Der Widerspruch, in welchem sich der Anhänger einer besondern Religion mit seinem
Staatsbürgertum befindet, ist nur ein Teil des allgemeinen weltlichen Widerspruchs zwischen dem politischen Staat und der bürgerlichen Gesellschaft. Die
Vollendung des christlichen Staats ist der Staat, der sich als Staat bekennt
und von der Religion seiner Glieder abstrahiert. Die Emanzipation des Staats
von der Religion ist nicht die Emanzipation des wirklichen Menschen von
der Religion.
Wir sagen also nicht mit Bauer den Juden: Ihr könnt nicht politisch
emanzipiert werden, ohne euch radikal vom Judentum zu emanzipieren. Wir
sagen ihnen vielmehr: Weil ihr politisch emanzipiert werden könnt, ohne
euch vollständig und widerspruchslos vom Judentum loszusagen, darum ist
die politische Emanzipation selbst nicht die menschliche Emanzipation, Wenn
ihr Juden politisch emanzipiert werden wollt, ohne euch selbst menschlich
zu emanzipieren, so liegt die Halbheit und der Widerspruch nicht nur in eüch,
sie liegt in dem Wesen und der Kategorie der politischen Emanzipation. Wenn
ihr in dieser Kategorie befangen seid, so teilt ihr eine allgemeine Befangenheit. Wie der Staat eoangelisiert, wenn er, obschon Staat, sich christlich zu
dem Juden verhält, so politisiert der Jude, wenn er, obschon Jude, Staatsbürgerrechte verlangt.
Aber wenn der Mensch, obgleich Jude, politisch emanzipiert werden,
Staatsbürgerrechte empfangen kann, kann er die sogenannten Menschenrechte
in Anspruch nehmen und empfangen? Bauer leugnet es.
„Die Frage ist, ob der Jude als solcher, d.h. der Jude, der selber eingesteht, daß
er durch sein wahres Wesen gezwungen ist, in ewiger Absonderung von andren zu
leben, fähig sei, die allgemeinen Menschenrechte zu empfangen und andern zuzugestehn."
„Der Gedanke der Menschenrechte ist für die christliche Welt erst im vorigen
Jahrhundert entdeckt worden. Er ist dem Menschen nicht angeboren, er wird vielmehr
nur erobert im Kampfe gegen die geschichtlichen Traditionen, in denen der Mensch
bisher erzogen wurde. So sind die Menschenrechte nicht ein Geschenk der Natur,
keine Mitgift der bisherigen Geschichte, sondern der Preis des Kampfes gegen den
Zufall der Geburt und gegen die Privilegien, welche die Geschichte von Generation
auf Generation bis jetzt vererbt hat. Sie sind die Resultate der Bildung, und derjenige
kann sie nur besitzen, der sie sich erworben und verdient hat."
„Kann sie nun der Jude wirklich in Besitz nehmen? Solange er Jude ist, muß über
das menschliche Wesen, welches ihn als Menschen mit Menschen verbinden sollte, das
beschränkte Wesen, das ihn zum Juden macht, den Sieg davontragen und ihn von den
Nichtjuden absondern. Er erklärt durch diese Absonderung, daß das besondere Wesen,
das ihn zum Juden macht, sein wahres höchstes Wesen ist, vor welchem das Wesen des
Menschen zurücktreten muß."
„In derselben Weise kann der Christ als Christ keine Menschenrechte gewähren."
(p. 19,20.)
Der Mensch muß nach Bauer das „Privilegium des Glaubens" aufopfern,
um die allgemeinen Menschenrechte empfangen zu können. Betrachten wir
einen Augenblick die sogenannten Menschenrechte, und zwar die Menschenrechte unter ihrer authentischen Gestalt, unter der Gestalt, welche sie bei
ihren Entdeckern, den Nordamerikanern und Franzosen, besitzen! Zum Teil
sind diese Menschenrechte politische Rechte, Rechte, die nur in der Gemeinschaft mit andern ausgeübt werden. Die Teilnahme am Gemeinwesen, und zwar
am politischen Gemeinwesen, am Staatswesen, bildet ihren Inhalt. Sie fallen
unter die Kategorie der politischen Freiheit, unter die Kategorie der Staatsbürgerrechte, welche keineswegs, wie wir gesehn, die widerspruchslose und
positive Aufhebung der Religion, also etwa auch des Judentums, voraussetzen. Es bleibt der andere Teil der Menschenrechte zu betrachten, die droits de l'homme1, insofern sie unterschieden sind von den droits du
citoyen2.
In ihrer Reihe findet sich die Gewissensfreiheit, das Recht, einen beliebigen
Kultus auszuüben. Das Privilegium des Glaubens wird ausdrücklich anerkannt,
entweder als ein Menschenrecht oder als Konsequenz eines Menschenrechtes,
der Freiheit.
1
Menschenrechte -
2
Staatsbürgerrechten
„Declarationdesdroits de l'hojnmeet du citoyen, 1791 " t l 5 o : i , article 10: „Nulnedoit etre
inquiete pour ses opinions mSme religieuses." 1 Im titre I der Konstitution von 1791
wird als Menschenrecht garantiert: „La liberte ä tout homme d'exercer le culte religieux auquel il est attache." 2
„Declaration des droits de l'homme, etc. 1793" t1513 , zählt unter die Menschenrechte,
Artikel 7: „ L e libre exercice des cultes." 3 Ja, in bezug auf das Recht, seine Gedanken
und Meinungen zu veröffentlichen, sich zu versammeln, seinen Kultus auszuüben,
heißt es sogar: „La necessite d'enoncer ces droits suppose ou la presence ou le
souvenir recent du despotisme." 4 Man vergleiche die Konstitution von 1795C162-1, titre
X I V , article 354.
Constitution de Pensylvanie, article 9. § 3 : „Tous les hommes ont reyu de la
nature le droit imprescriptible d'adorer le Tout-Puissant selon les inspirations de Ieur
conscience, et nul ne peut Iegalement Stre contraint de suivre, instituer ou soutenir
contre son gre aucun culte ou ministere religieux. Nulle autoritä humaine ne peut,
dans aucun cas, intervenir dans les questions de conscience et controler les pouvoirs
de 1 äme."°
Constitution de New-Hampshire, article 5 et 6: „Au nombre des droits naturels,
quelques-uns sont inalienables de leur nature, parce que rien n'en peut etre
I'equivalent. D e ce nombre sont les droits de conscience." 0 (Beaumont, I. c., p. 213,
214.)
Die Unvereinbarkeit der Religion mit den Menschenrechten liegt so wenig
im Begriff der Menschenrechte, daß das Recht, religiös zu sein, auf beliebige
Weise religiös zu sein, den Kultus seiner besonderen Religion auszuüben,
vielmehr ausdrücklich unter die Menschenrechte gezählt wird. Das Privilegium des Glaubens ist ein allgemeines Menschenrecht.
Die droits de l'homme, die Menschenrechte, werden als solche unterschieden
von den droits du citoyen, von den Staatsbürgerrechten. Wer ist der vom
citoyen unterschiedene homme? Niemand anders als das Mitglied der bürger-
1
„Niemand soll wegen seiner Überzeugungen, auch nicht der religiösen, behelligt wer-
den." ist." -
„ D i e Freiheit für jedermann, den religiösen Kult
2
3
„ D i e freie Ausübung der Kulte." -
4
auszuüben, dessen Anhänger er
„ D i e Notwendigkeit, diese Rechte zu verkün-
den, setzt entweder das Vorhandensein oder die frische Erinnerung des Despotismus voraus."
- ° „Alle Menschen haben von der Natur das unabdingbare Recht empfangen, den Eingebungen ihres Gewissens folgend zum Allmächtigen zu beten, und niemand kann von G e setzes wegen gezwungen werden, sich gegen seinen Wunsch zu irgendeinem Kult oder Gottesdienst zu bekennen, sie einzuführen oder zu unterstützen. In keinem Falle darf irgendeine
menschliche Macht sich in Gewissensfragen einmischen und die Kräfte der Seele kontrollieren." -
6
„Unter den natürlichen Rechten gibt es einige, die ihrer Natur nach unveräußerlich
sind, weil sie durch nichts Gleichwertiges ersetzt werden könnten. Z u diesen zählen die Gewis-
sens rechte."
24 M W E n g e l s , Werke, Bd. 1
liehen Gesellschaft. Warum wird das Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft
„Mensch", Mensch schlechthin, warum werden seine Rechte Menschenrechte
genannt? Woraus erklären wir dies Faktum? Aus dem Verhältnis des politischen Staats zur bürgerlichen Gesellschaft, aus dem Wesen der politischen
Emanzipation.
Vor allem konstatieren wir die Tatsache, daß die sogenannten Menschenrechte, die droits de l'homme im Unterschied von den droits da citoyen, nichts
anderes sind als die Rechte des Mitglieds der bürgerlichen Gesellschaft, d.h. des
egoistischen Menschen, des vom Menschen und vom Gemeinwesen getrennten Menschen. Die radikalste Konstitution, die Konstitution von 1793, mag
sprechen:
„Declaration des droits de l'homme et da citoyen."
Article 2. „Ces droits etc. (les droits naturels et imprescriptibles) sont: Yegalite,
la liberti, la sürete, la propriete."1
Worin besteht die liberte?
Article 6. „La liberte est le pouvoir qui appartient ä l'homme de faire tout ce qui
ne nuit pas aux droits d'autrui" 2 , oder nach der „Deklaration der Menschenrechte von
1791": „La liberte consiste ä pouvoir faire tout ce qui ne nuit pas ä autrui." 3
Die Freiheit ist also das Recht, alles zu tun und zu treiben, was keinem
andern schadet. Die Grenze, in welcher sich jeder dem andern unschädlich
bewegen kann, ist durch das Gesetz bestimmt, wie die Grenze zweier Felder
durch den Zaunpfahl bestimmt ist. Es handelt sich um die Freiheit des
Menschen als isolierter auf sich zurückgezogener Monade. Warum ist der
Jude nach Bauer unfähig, die Menschenrechte zu empfangen?
„Solange er Jude ist, muß über das menschliche Wesen, welches ihn als Menschen
mit Menschen verbinden sollte, das beschränkte Wesen, das ihn zum Juden macht,
den Sieg davontragen und ihn von den Nichtjuden absondern."
Aber das Menschenrecht der Freiheit basiert nicht auf der Verbindung
des Menschen mit dem Menschen, sondern vielmehr auf der Absonderung
des Menschen von dem Menschen. Es ist das Recht dieser Absonderung, das
Recht des beschränkten, auf sich beschränkten Individuums.
1
„Diese Rechte usw. (die natürlichen und unabdingbaren Rechte) sind: die Gleichheit, die
Freiheit, die Sicherheit, das Eigentum." -
2
„Freiheit ist das Recht des Menschen, alles tun zu
dürfen, was den Rechten eines anderen nicht schadet" zu dürfen, was keinem anderen schadet."
3
„Die Freiheit besteht darin, alles tun
Die praktische Nutzanwendung des Menschenrechtes der Freiheit ist das
Menschenrecht des Privateigentums.
Worin besteht das Menschenrecht des Privateigentums?
Article 16. (Constitution de 1793): „ L e droit de propriete est celui qui appartient ä
tout citoyen de jouir et de disposer ä son gre de ses biens, de ses revenus, du fruit de
son travail et de son Industrie." 1
Das Menschenrecht des Privateigentums ist also das Recht, willkürlich
(ä son gre), ohne Beziehung auf andre Menschen, unabhängig von der Gesellschaft, sein Vermögen zu genießen und über dasselbe zu disponieren, das
Recht des Eigennutzes. Jene individuelle Freiheit, wie diese Nutzanwendung
derselben, bilden die Grundlage der bürgerlichen Gesellschaft. Sie läßt jeden
Menschen im andern Menschen nicht die Verwirklichung, sondern vielmehr
die Schranke seiner Freiheit finden. Sie proklamiert vor allem aber das
Menschenrecht,
„de jouir et de disposer ä son gre de ses biens, de ses revenus, du fruit de son travai
et de son industrie" 2 .
Es bleiben noch die andern Menschenrechte, die egalite und die sürete.
Die egalite, hier in ihrer nichtpolitischen Bedeutung, ist nichts als die
Gleichheit der oben beschriebenen liberte, nämlich: daß jeder Mensch gleichmäßig als solche auf sich ruhende Monade betrachtet wird. Die Konstitution
von 1795 bestimmt den Begriff dieser Gleichheit, ihrer Bedeutung angemessen,
dahin:
Article 3. (Constitution de 1795): „L'egalite consiste en ce que la loi est la meme
pour tous, soit qu'elle protege, soit qu'elle punisse.' 3
Und die sürete?
Article 8. (Constitution de 1793): „La sürete consiste dans la protection accordee
par la societe ä chacun de ses membres pour la conservation de sa personne, de ses
droits et de ses proprietes." 4
Die Sicherheit ist der höchste soziale Begriff der bürgerlichen Gesellschaft,
der Begriff der Polizei, daß die ganze Gesellschaft nur da ist, um jedem ihrer
1
„Das Eigentumsrecht ist das Recht jedes Bürgers, willkürlich seine Güter, seine Einkünfte,
die Früchte seiner Arbeit und seines Fleißes zu genießen und darüber zu disponieren."
-2
„willkürlich seine Güter, seine Einkünfte, die Früchte seiner Arbeit und seines Fleißes zu
genießen und darüber zu disponieren" -
3
„Die Gleichheit besteht darin, daß das gleiche G e -
setz für alle gilt, ganz gleich, ob es beschützt oder bestraft." -
4
„Die Sicherheit besteht in dem
Schutz, den die Gesellschaft jedem ihrer Mitglieder gewährt für die Erhaltung seiner Person,
seiner Rechte und seines Eigentums."
Glieder die Erhaltung seiner Person, seiner Rechte und seines Eigentums zu
garantieren. Hegel nennt in diesem Sinn die bürgerliche Gesellschaft „den
Not- und Verstandesstaat".
Durch den Begriff der Sicherheit erhebt sich die bürgerliche Gesellschaft
nicht über ihren Egoismus. Die Sicherheit ist vielmehr die Versicherang ihres
Egoismus.
Keines der sogenannten Menschenrechte geht also über den egoistischen
Menschen hinaus, über den Menschen, wie er Mitglied der bürgerlichen
Gesellschaft, nämlich auf sich, auf sein Privatinteresse und seine Privatwillkür zurückgezogenes und vom Gemeinwesen abgesondertes Individuum ist.
Weit entfernt, daß der Mensch in ihnen als Gattungswesen aufgefaßt wurde,
erscheint vielmehr das Gattungsleben selbst, die Gesellschaft, als ein den
Individuen äußerlicher Rahmen, als Beschränkung ihrer ursprünglichen
Selbständigkeit. Das einzige Band, das sie zusammenhält, ist die Naturnotwendigkeit, das Bedürfnis und das Privatinteresse, die Konservation ihres
Eigentums und ihrer egoistischen Person.
Es ist schon rätselhaft, daß ein Volk, welches eben beginnt, sich zu befreien, alle Barrieren zwischen den verschiedenen Volksgliedern niederzureißen, ein politisches Gemeinwesen zu gründen, daß ein solches Volk die
Berechtigung des egoistischen, vom Mitmenschen und vom Gemeinwesen
abgesonderten Menschen feierlich proklamiert („Declaration de 1791"), ja
diese Proklamation in einem Augenblicke wiederholt, wo die heroischste
Hingebung allein die Nation retten kann und daher gebieterisch verlangt
wird, in einem Augenblicke, wo die Aufopferung aller Interessen der bürgerlichen Gesellschaft zur Tagesordnung erhoben und der Egoismus als ein
Verbrechen bestraft werden muß, („Declaration des droits de l'homme etc.
de 1793".) Noch rätselhafter wird diese Tatsache, wenn wir sehen, daß das
Staatsbürgertum, das politische Gemeinwesen von den politischen Emanzipatoren sogar zum bloßen Mittel für dieErhaltung dieser sogenanntenMenschenrechte herabgesetzt, daß also der citoyen zum Diener des egoistischen homme
erklärt, die Sphäre, in welcher der Mensch sich als Gemeinwesen verhält,
unter die Sphäre, in welcher er sich als Teilwesen verhält, degradiert, endlich
nicht der Mensch als citoyen, sondern der Mensch als bourgeois für den
eigentlichen und Wahren Menschen genommen wird.
„ L e bat de toute association politiqae est la conservation des droits naturels et
imprescriptibles de l'homme." 1 („Declaration des droits etc. de 1791", article 2.) „ L e
1
„Das Ziel aller politischen Vereinigung ist die Erhaltung der natürlichen und unabdingba
Menschenrechte."
gouuemement est institue pour garantir ä l'homme la jouissance de ses droits naturels.et
impresCriptibles."1. („Declaration etc. de 1793", article 1.)
Also selbst in deri Momenten seines noch jugendfrischen und-durch den
Drang der Umstände auf die Spitze getriebenen Enthusiasmus erklärt sich das
politische Leben für ein bloßes Mittel, dessen Zweck das Leben der bürgerlichen Gesellschaft ist. Zwar steht seine revolutionäre Praxis in flagrantem
Widerspruch mit seiner Theorie. Während z. B. die Sicherheit als einMertschenrecht erklärt wird, wird die Verletzung des Briefgeheimnisses öffentlich
auf die Tagesordnung gesetzt. Während die „liberte indefinie de la presse"2
(Constitution de 1793, article 122) als Konsequenz des Menschenrechts, der
individuellen Freiheit, garantiert wird, wird die Preßfreiheit vollständig vernichtet, denn „la liberte de la presse ne doit pas etre permise lorsqu'elle compromet la libert6 publique"3 (Robespierre jeune, „Histoire parlementaire de
la revolution frangaise" par Buchez et Roux, T.28, p. 159), d.h. also: Das
Menschenrecht der Freiheit hört auf, ein Recht zu sein, sobald es mit dem
politischen Leben in Konflikt tritt, während der Theorie nach das politische
Leben nur die Garantie der Menschenrechte, der Rechte des individuellen
Menschen ist, also aufgegeben werden muß, sobald es seinem Zwecke, diesen
Menschenrechten widerspricht. Aber die Praxis ist nur die Ausnahme, und
die Theorie ist die Regel. Will man aber selbst die revolutionäre Praxis als die
richtige Stellung des Verhältnisses betrachten, so bleibt immer noch das
Rätsel zu lösen, warum im Bewußtsein der politischen Emanzipatoren das
Verhältnis auf den Kopf gestellt ist und der Zweck als Mittel, das Mittel als
Zweck erscheint. Diese optische Täuschung ihres Bewußtseins wäre immer
noch dasselbe Rätsel, obgleich dann ein psychologisches, ein theoretisches
Rätsel.
Das Rätsel löst sich einfach.
Die politische Emanzipation ist zugleich die Auflösung der alten Gesellschaft, auf welcher das dem Volk entfremdete Staatswesen, die Herrschermacht, ruht. Die politische Revolution ist die Revolution der bürgerlichen
Gesellschaft. Welches war der Charakter der alten Gesellschaft? Ein Wort
charakterisiert sie. Die Feudalität. Die alte bürgerliche Gesellschaft hatte
unmittelbar einen politischen Charakter, d. h., die Elemente des bürgerlichen
Lebens, wie z. B. der Besitz oder die Familie oder die Art und Weise der
Arbeit, waren in der Form der Grundherrlichkeit, des Standes und der Kor1
„Die Regierung ist eingesetzt, um dem Menschen den Genuß seiner natürlichen und
unabdingbaren Rechte zu verbürgen." -
2
„unbeschränkte Pressefreiheit" -
darf nicht zugelassen werden, wenn sie die allgemeine Freiheit verletzt"
3
„die Pressefreiheit
poration zu Elementen des Staatslebens erhoben. Sie bestimmten in dieser
Form das Verhältnis des einzelnen Individuums zum Staatsganzen, d.h. sein
politisches Verhältnis, d.h. sein Verhältnis der Trennung und Ausschließung
von den andern Bestandteilen der Gesellschaft. Denn jene Organisation des
Volkslebens erhob den Besitz oder die Arbeit nicht zu sozialen Elementen,
sondern vollendete vielmehr ihre Trennung von dem Staatsganzen und konstituierte sie zu besondem Gesellschaften in der Gesellschaft. So waren indes
immer noch die Lebensfunktionen und Lebensbedingungen der bürgerlichen
Gesellschaft politisch, wenn auch politisch im Sinne der Feudalität, d. h., sie
schlössen das Individuum vom Staatsganzen ab, sie verwandelten das besondere Verhältnis seiner Korporation zum Staatsganzen in sein eignes allgemeines Verhältnis zum Volksleben, wie seine bestimmte bürgerliche Tätigkeit und Situation in seine allgemeine Tätigkeit und Situation. Als Konsequenz dieser Organisation erscheint notwendig die Staatseinheit, wie das
Bewußtsein, der Wille und die Tätigkeit der Staatseinheit, die allgemeine
Staatsmacht, ebenfalls als besondere Angelegenheit eines von dem Volk abgeschiedenen Herrschers und seiner Diener.
Die politische Revolution, welche diese Herrschermacht stürzte und die
Staatsangelegenheiten zu Volksangelegenheiten erhob, welche den politischen
Staat als allgemeine Angelegenheit, d.h. als wirklichen Staat konstituierte,
zerschlug notwendig alle Stände, Korporationen, Innungen, Privilegien, die
ebenso viele Ausdrücke der Trennung des Volkes von seinem Gemeinwesen
waren. Die politische Revolution hob damit den politischen Charakter der
bürgerlichen Gesellschaft auf. Sie zerschlug die bürgerliche Gesellschaft in ihre
einfachen Bestandteile, einerseits in die Individuen, andrerseits in die materiellen und geistigen Elemente, welche den Lebensinhalt, die bürgerliche Situation
dieser Individuen bilden. Sie entfesselte den politischen Geist, der gleichsam
in die verschiedenen Sackgassen der feudalen Gesellschaft zerteilt, zerlegt,
zerlaufen war; sie sammelte ihn aus dieser Zerstreuung, sie befreite ihn von
seiner Vermischung mit dem bürgerlichen Leben und konstituierte ihn als
die Sphäre des Gemeinwesens, der allgemeinen Volksangelegenheit in idealer
Unabhängigkeit von jenen besondern Elementen des bürgerlichen Lebens.
Die bestimmte Lebenstätigkeit und die bestimmte Lebenssituation sanken zu
einer nur individuellen Bedeutung herab. Sie bildeten nicht mehr das allgemeine Verhältnis des Individuums zum Staatsganzen. Die öffentliche
Angelegenheit als solche ward vielmehr zur allgemeinen Angelegenheit jedes Individuums und die politische Funktion zu seiner allgemeinen Funktion.
Allein die Vollendung des Idealismus des Staats war zugleich die Voll-
endung des Materialismus der bürgerlichen Gesellschaft. Die Abschüttlung
des politischen Jochs war zugleich die Abschüttlung der Bande, welche
den egoistischen Geist der bürgerlichen Gesellschaft gefesselt hielten. Die
politische Emanzipation war zugleich die Emanzipation der bürgerlichen
Gesellschaft von der Politik, von dem Schein selbst eines allgemeinen
Inhalts.
Die feudale Gesellschaft war aufgelöst in ihren Grund, in den Menschen.
Aber in den Menschen, wie er wirklich ihr Grund war, in den egoistischen
Menschen.
Dieser Mensch, das Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft, ist nun die
Basis, die Voraussetzung des politischen Staats. Er ist von ihm als solche anerkannt in den Menschenrechten.
Die Freiheit des egoistischen Menschen und die Anerkennung dieser Freiheit ist aber vielmehr die Anerkennung der zügellosen Bewegung der geistigen
und materiellen Elemente, welche seinen Lebensinhalt bilden.
Der Mensch wurde daher nicht von der Religion befreit, er erhielt die
Religionsfreiheit. Er wurde nicht vom Eigentum befreit. Er erhielt die Freiheit des Eigentums. Er wurde nicht von dem Egoismus des Gewerbes befreit,
er erhielt die Gewerbefreiheit.
Die Konstitution des politischen Staats und die Auflösung der bürgerlichen
Gesellschaft in die unabhängigen Individuen - deren Verhältnis das Recht
ist, wie das Verhältnis der Standes- und Innungsmenschen das Privilegium
war - vollzieht sich in einem und demselben Akte. Der Mensch, wie er Mitglied
der bürgerlichen Gesellschaft ist, der unpolitische Mensch, erscheint aber
notwendig als der natürliche Mensch. Die droits de l'homme erscheinen als
droits naturels1, denn die selbstbewußte Tätigkeit konzentriert sich auf den
politischen Akt. Der egoistische Mensch ist das passive, nur vorgefundne Resultat der aufgelösten Gesellschaft, Gegenstand der unmittelbaren Gewißheit,
also natürlicher Gegenstand. Die politische Revolution löst das bürgerliche
Leben in seine Bestandteile auf, ohne diese Bestandteile selbst zu revolutionieren und der Kritik zu unterwerfen. Sie verhält sich zur bürgerlichen Gesellschaft, zur Welt der Bedürfnisse, der Arbeit, der Privatinteressen, des Privatrechts, als zur Grundlage ihres Bestehns, als zu einer nicht weiter begründeten
Voraussetzung, daher als zu ihrer Naturbasis. Endlich gilt der Mensch, wie er
Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft ist, für den eigentlichen Menschen,
für den homme im Unterschied von dem citoyen, weil er der Mensch in seiner
sinnlichen individuellen nächsten Existenz ist, während der politische Mensch
1
natürliche Rechte
nur der abstrahierte, künstliche Mensch ist, der Mensch als eine allegorische,
moralische Person. Der wirkliche Mensch ist erst in der Gestalt des egoistischen Individuums, der wahre Mensch erst in der Gestalt des abstrakten
citoyen anerkannt.
Die Abstraktion des politischen Menschen schildert Rousseau richtig
also:
„Celui qui ose entreprendre d'instituer un peuple doit se sentir en etat de changer
pour ainsi dire la nature humaine, de transformier chaque individu, qui par lui-meme
est un tout parfait et solitaire, en partie d'un plus grand tout dont cet individu refoive
en quelque sorte sa vie et son etre, de substituer une existence partielle et morale ä
l'existence physique et independante. 11 faut qu'il öte a l'homme ses jorces propres pour
lui en donner qui lui soient etrangeres et dont il ne puisse faire usage sans le secours
d'autrui." 1 („Contrat Social", livre II, Londres 1782, p. 67.)
Alle Emanzipation ist Zurückführung der menschlichen Welt, der Verhältnisse, auf den Menschen selbst.
Die politische Emanzipation ist die Reduktion des Menschen, einerseits
auf das Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft, auf das egoistische unabhängige Individuum, andrerseits auf den Staatsbürger, auf die moralische
Person.
Erst wenn der wirkliche individuelle Mensch den abstrakten Staatsbürger
in sich zurücknimmt und als individueller Mensch in seinem empirischen
Leben, in seiner individuellen Arbeit, in seinen individuellen Verhältnissen,
Gattungswesen geworden ist, erst wenn der Mensch seine „forces propres"2
als gesellschaftliche Kräfte erkannt und organisiert hat und daher die gesellschaftliche Kraft nicht mehr in der Gestalt der politischen Kraft von sich
trennt, erst dann ist die menschliche Emanzipation vollbracht.
1
„Wer den Mut hat, einem Volke eine Rechtsordnung zu geben, muß sich fähig füh-
len, sozusagen die menschliche Natur zu ändern, jedes Individuum, das in sich selbst und für
sich allein ein vollkommenes Ganzes ist, in den Teil eines größeren Ganzen umzuwandeln, von
dem dieses Individuum in gewisser Weise sein Leben und Sein empfängt, an die Stelle einer
physischen und unabhängigen eine moralische Teilexistenz zu setzen. Er muß dem Menschen
seine eigenen Kräfte nehmen, um ihm fremde dafür zu geben, die er nur mit Hilfe anderer gebrauchen kann. " -
2
„eigenen Kräfte"
II
„Die Fähigkeit der heutigen Juden und Christen, frei zu werden".
Von Bruno Bauer. („Einundzwanzig Bogen", pag. 56-71.)
Unter dieser Form behandelt Bauer das Verhältnis der jüdischen und
christlichen Religion, wie das Verhältnis derselben zur Kritik. Ihr Verhältnis
zur Kritik ist ihr Verhältnis „zur Fähigkeit, frei zu werden".
Es ergibt sich:
„Der Christ hat nur eine Stufe, nämlich seine Religion zu übersteigen, um die
Religion überhaupt aufzugeben", also frei zu werden, „der Jude dagegen hat nicht
nur mit seinem jüdischen Wesen, sondern auch mit der Entwicklung der Vollendung
seiner Religion zu brechen, mit einer Entwicklung, die ihm fremd geblieben ist."
(p-71.)
Bauer verwandelt also hier die Frage von der Judenemanzipation in eine
rein religiöse Frage. Der theologische Skrupel, wer eher Aussicht hat, selig
zu werden, Jude oder Christ, wiederholt siph in der aufgeklärten Form, wer
von beiden ist emanzipationsfähiger? Es fragt sich zwar nicht mehr: Macht
Judentum oder Christentum frei? sondern vielmehr umgekehrt: Was macht
freier, die Negation des Judentums öder die Negation des Christentums?
„Wenn sie frei werden wollen, so dürfen sich die Juden nicht zum Christentum
bekennen, sondern zum aufgelösten Christentum, zur aufgelösten Religion überhaupt, d.h. zur Aufklärung, Kritik und ihrem Resultate, der freien Menschlichkeit."
(p- 70.)
Es handelt sich immer noch um ein Bekenntnis für den Juden, aber nicht
mehr um das Bekenntnis zum Christentum, sondern zum aufgelösten
Christentum.
Bauer stellt an den Juden die Forderung, mit dem Wesen der christlichen
Religion zu brechen, eine Forderung, Welche, wie er selbst sagt, nicht aus der
Entwicklung des jüdischen Wesens hervorgeht.
Nachdem Bauer am Schluß der Judenfrage das Judentum nur als die
rohe religiöse Kritik des Christentums begriffen, ihm also eine „nur" religiöse
Bedeutung abgewonnen hatte, war vorherzusehen, daß auch die Emanzipation
der Juden in einen philosophisch-theologischen Akt sich verwandeln werde.
Bauer faßt das ideale abstrakte Wesen des Juden, seine Religion als sein
ganzes Wesen. Er schließt daher mit Recht: „Der Jude gibt der Menschheit
nichts, wenn er sein beschränktes Gesetz für sich mißachtet", wenn er sein
ganzes Judentum aufhebt, (p. 65.)
Das Verhältnis der Juden und Christen wird demnach folgendes: das einzige Interesse des Christen an der Emanzipation des Juden ist ein allgemein
menschliches, ein theoretisches Interesse. Das Judentum ist eine beleidigende
Tatsache für das religiöse Auge des Christen. Sobald sein Auge aufhört,
religiös zu sein, hört diese Tatsache auf, beleidigend zu sein. Die Emanzipation des Juden ist an und für sich keine Arbeit für den Christen.
Der Jude dagegen, um sich zu befreien, hat nicht nur seine eigne Arbeit,
sondern zugleich die Arbeit des Christen, die „Kritik der Synoptiker" und
das „Leben Jesu"0®3-1 etc. durchzumachen.
„Sie mögen selber zusehen: sie werden sich selber ihr Geschick bestimmen; die
Geschichte aber läßt mit sich nicht spotten." (p. 71.)
Wir versuchen, die theologische Fassung der Frage zu brechen. Die Frage
nach der Emanzipationsfähigkeit des Juden verwandelt sich uns in die Frage,
welches besondre gesellschaftliche Element zu überwinden sei, um das Judentum aufzuheben? Denn die Emanzipationsfähigkeit des heutigen Juden ist
das Verhältnis des Judentums zur Emanzipation der heutigen Welt. Dies
Verhältnis ergibt sich notwendig aus der besondern Stellung des Judentums
in der heutigen geknechteten Welt.
Betrachten wir den wirklichen weltlichen Juden, nicht den Sabbatsjaden,
wie Bauer es tut, sondern den Alltagsjaden.
Suchen wir das Geheimnis des Juden nicht in seiner Religion, sondern
suchen wir das Geheimnis der Religion im wirklichen Juden.
Welches ist der weltliche Grund des Judentums? Das praktische Bedürfnis, der Eigennutz.
Welches ist der weltliche Kultus des Juden? Der Schacher. Welches ist
sein weltlicher Gott? Das Geld.
Nun wohl! Die Emanzipation vom Schacher und vom Geld, also vom
praktischen, realen Judentum wäre die Selbstemanzipation unsrer Zeit.
Eine Organisation der Gesellschaft, welche die Voraussetzungen des
Schachers, also die Möglichkeit des Schachers aufhöbe, hätte den Juden unmöglich gemacht. Sein religiöses Bewußtsein würde wie ein fader Dunst in
der wirklichen Lebensluft der Gesellschaft sich auflösen. Andrerseits: wenn
der Jude dies sein praktisches Wesen als nichtig erkennt und an seiner Aufhebung arbeitet, arbeitet er aus seiner bisherigen Entwicklung heraus, an der
menschlichen Emanzipation schlechthin und kehrt sieh gegen den höchsten
praktischen Ausdruck der menschlichen Selbstentfremdung.
Wir erkennen also im Judentum ein allgemeines gegenwärtiges antisoziales
Element, welches durch die geschichtliche Entwicklung, an welcher die Juden
in dieser schlechten Beziehung eifrig mitgearbeitet, auf seine jetzige Höhe
getrieben wurde, auf eine Höhe, auf welcher es sich notwendig auflösen
muß.
Die Judenemanzipation in ihrer letzten Bedeutung ist die Emanzipation
der Menschheit vom Judentum.
Der Jude hat sich bereits auf jüdische Weise emanzipiert.
„Der Jude, der in Wien z.B. nur toleriert ist, bestimmt durch seine Geldmacht
das Geschick des ganzen Reichs. Der Jude, der in dem kleinsten deutschen Staat
rechtlos sein kann, entscheidet über das Schicksal Europas. Während die Korporationen und Zünfte dem Juden sich verschließen oder ihm noch nicht geneigt sind,
spottet die Kühnheit der Industrie des Eigensinns der mittelalterlichen Institute."
B. Bauer, „Judenfrage", p. 114.)
Es ist dies kein vereinzeltes Faktum. Der Jude hat sich auf jüdische Weise
emanzipiert, nicht nur, indem er sich die Geldmacht angeeignet, sondern
indem durch ihn und ohne ihn das Geld zur Weltmacht und der praktische
Judengeist zum praktischen Geist der christlichen Völker geworden ist. Die
Juden haben sich insoweit emanzipiert, als die Christen zu Juden geworden
sind.
„Der fromme und politisch freie Bewohner von Neuengland", berichtet z.B.
Oberst Hamilton, „ist eine Art von Laokoon, der auch nicht die geringste Anstrengung macht, um sich von den Schlangen zu befreien, die ihn zusammenschnüren.
Mammon ist ihr Götze, sie beten ihn nicht nur allein mit ihren Lippen, sondern mit
allen Kräften ihres Körpers und ihres Gemüts an. Die Erde ist in ihren Augen nichts
andres als eine Börse, und sie sind überzeugt, daß sie hienieden keine andere Bestimmung haben, als reicher zu werden denn ihre Nachbarn. Der Schacher hat sich
aller ihrer Gedanken bemächtigt, die Abwechslung in den Gegenständen bildet ihre
einzige Erholung. Wenn sie reisen, tragen sie, sozusagen, ihren Kram oder ihr Kontor
auf dem Rücken mit sich herum und sprechen von nichts als von Zinsen und Gewinn.
Wenn sie einen Augenblick ihre Geschäfte aus den Augen verlieren, so geschieht dies
bloß, um jene von andern zu beschnüffeln."
Ja, die praktische Herrschaft des Judentums über die christliche Welt
hat in Nordamerika den unzweideutigen, normalen Ausdruck erreicht, daß
die Verkündigung des Evangeliums selbst, daß das christliche Lehramt zu
einem Handelsartikel geworden ist, und der bankerotte Kaufmann im
Evangelium macht wie der reichgewordene Evangelist in Geschäftchen.
„Tel que vous le voyez ä la tele d'üne congregation respectable a commence par etre
marchand; son commerce etant tombe, il s'est fait ministre; cet autre a debute par le
sacerdoce, mais des qu'il a eu quelque somme d'argent ä la disposition, il a laissi la chaire
pour le negoce. Aux yeux d'un grand nombre, le ministere rdigieux est wie veritable carriir
industrielle."1 {.Beaumont, 1. c., p. 185, 186.)
Nach Bauer ist es
„ein lügenhafter Zustand, wenn in der Theorie dem Juden die politischen Rechte
vorenthalten werden, während er in der Praxis eine ungeheure Gewalt besitzt und
seinen politischen Einfluß, wenn er ihm im detail verkürzt wird, en gros ausübt".
(„Judenfrage", p. 114.)
Der Widerspruch, in welchem die praktische politische Macht des Juden
zu seinen politischen Rechten steht, ist der Widerspruch der Politik und
Geldmacht überhaupt. Während die erste ideal über der zweiten steht, ist sie
in der Tat zu ihrem Leibeignen geworden.
Das Judentum hat sich neben dem Christentum gehalten, nicht nur als
religiöse Kritik des Christentums, nicht nur als inkorporierter Zweifel an der
religiösen Abkunft des Christentums, sondern ebensosehr, weil der praktisch-jüdische Geist, weil das Judentum in der christlichen Gesellschaft
selbst sich gehalten und sogar seine höchste Ausbildung erhalten hat. Der
Jude, der als ein besonderes Glied in der bürgerlichen Gesellschaft steht, ist
nur die besondere Erscheinung von dem Judentum de:r bürgerlichen Gesellschaft.
Das Judentum hat sich nicht trotz der Geschichte, sondern durch die
Geschichte erhalten.
Aus ihren eignen Eingeweiden erzeugt die bürgerliche Gesellschaft fortwährend den Juden.
Welches war an und für sich die Grundlage der jüdischen Religion? Das
praktische Bedürfnis, der Egoismus.
Der Monotheismus des Juden ist daher in der Wirklichkeit der Polytheismus der vielen Bedürfnisse, ein Polytheismus, der auch den Abtritt zu einem
Gegenstand des göttlichen Gesetzes macht. Das praktische
Bedürfnis,
der Egoismus ist das Prinzip der bürgerlichen Gesellschaft und tritt rein als
solches hervor, sobald die bürgerliche Gesellschaft den politischen Staat vollständig aus sich herausgeboren. Der Gott des praktischen Bedürfnisses und
Eigennutzes ist das Geld.
Das Geld ist der eifrige Gott Israels, vor welchem kein andrer Gott bestehen darf. Das Geld erniedrigt alle Götter des Menschen - und verwandelt
1 „Der, den ihr an der Spitze einer achtbaren Kongregation seht, hat als Kaufmann a
da sein Handel gescheitert war, ist er Geistlicher geworden; ein anderer hat mit dem P
begonnen, aber sobald er eine bestimmte Summe Geldes zur Verfügung hatte, die Kanze
Schacher vertauscht. In den Augen einer großen Mehrzahl ist das geistliche Amt tatsäch
gewerbliche Laufbahn."
sie in eine Ware. Das Geld ist der allgemeine, für sich selbst konstituierte
Wert aller Dinge. Es hat daher die ganze Welt, die Menschenwelt wie die
Natur, ihres eigentümlichen Wertes beraubt. Das Geld ist das dem Menschen
entfremdete Wesen seiner Arbeit und seines Daseins, und dies fremde Wesen
beherrscht ihn, und er betet es an.
Der Gott der Juden hat sich verweltlicht, er ist zum Weltgott geworden.
Der Wechsel ist der wirkliche Gott des Juden. Sein Gott ist nur der illusorische Wechsel.
Die Anschauung, welche unter der Herrschaft des Privateigentums und
des Geldes von der Natur gewonnen wird, ist die wirkliche Verachtung, die
praktische Herabwürdigung der Natur, welche in der jüdischen Religion
zwar existiert, aber nur in der Einbildung existiert.
In diesem Sinn erklärt es Thomas Münzer für unerträglich,
„daß alle Kreatur zum Eigentum gemacht worden sei, die Fische im Wasser, die
Vögel in der Luft, das Gewächs auf Erden - auch die Kreatur müsse frei werden"1-154-1.
Was in der jüdischen Religion abstrakt liegt, die Verachtung der Theorie,
der Kunst, der Geschichte, des Menschen als Selbstzweck, das ist der wirkliche bewußte Standpunkt, die Tugend des Geldmenschen. Das Gattungsverhältnis selbst, das Verhältnis von Mann und Weib etc. wird zu einem
Handelsgegenstand! Das Weib wird verschachert.
Die chimärische Nationalität des Juden ist die Nationalität des Kaufmanns,
überhaupt des Geldmenschen.
Das grund- und bodenlose Gesetz des Juden ist nur die religiöse Karikatur der grund- und bodenlosen Moralität und des Rechts überhaupt, der
nur formellen Riten, mit welchen sich die Welt des Eigennutzes umgibt.
Auch hier ist das höchste Verhältnis des Menschen das gesetzliche Verhältnis, das Verhältnis zu Gesetzen, die ihm nicht gelten, weil sie die Gesetze
seines eigenen Willens und Wesens sind, sondern weil sie herrschen und weil
der Abfall von ihnen gerächt wird.
Der jüdische Jesuitismus, derselbe praktische Jesuitismus, den Bauer im
Talmud nachweist, ist das Verhältnis der Welt des Eigennutzes zu den sie
beherrschenden Gesetzen, deren schlaue Umgehung die Hauptkunst dieser
Welt bildet.
Ja, die Bewegung dieser Welt innerhalb ihrer Gesetze ist notwendig eine
stete Aufhebung des Gesetzes.
Das Judentum konnte sich als Religion, es konnte sich theoretisch nicht
•weiterentwickeln, weil die Weltanschauung des praktischen Bedürfnisses ihrer
Natur nach borniert und in wenigen Zügen erschöpft ist.
Die Religion des praktischen Bedürfnisses konnte ihrem Wesen nach die
Vollendung nicht in der Theorie, sondern nur in der Praxis finden, eben weil
ihre Wahrheit die Praxis ist.
Das Judentum konnte keine neue Welt schaffen; es konnte nur die neuen
Weltschöpfungen und Weltverhältnisse in den Bereich seiner Betriebsamkeit
ziehn, weil das praktische Bedürfnis, dessen Verstand der Eigennutz ist, sich
passiv verhält und sich nicht beliebig erweitert, sondern sich erweitert findet
mit der Fortentwicklung der gesellschaftlichen Zustände.
Das Judentum erreicht seinen Höhepunkt mit der Vollendung der bürgerlichen Gesellschaft; aber die bürgerliche Gesellschaft vollendet sich erst in
der christlichen Welt. Nur unter der Herrschaft des Christentums, welches
alle nationalen, natürlichen, sittlichen, theoretischen Verhältnisse dem Menschen äußerlich macht, konnte die bürgerliche Gesellschaft sich vollständig
vom Staatsleben trennen, alle Gattungsbande des Menschen zerreißen, den
Egoismus, das eigennützige Bedürfnis an die Stelle dieser Gattungsbande
setzen, die Menschenwelt in eine Welt atomistischer, feindlich sich gegenüberstehender Individuen auflösen.
Das Christentum ist aus dem Judentum entsprungen. Es hat sich wieder
in das Judentum aufgelöst.
Der Christ war von vornherein der theoretisierende Jude, der Jude ist
daher der praktische Christ, und der praktische Christ ist wieder Jude geworden.
Das Christentum hatte das reale Judentum nur zum Schein überwunden.
Es war zu vornehm, zu spiritualistisch, um die Roheit des praktischen
Bedürfnisses anders als durch die Erhebung in die blaue Luft zu beseitigen.
Das Christentum ist der sublime Gedanke des Judentums, das Judentum
ist die gemeine Nutzanwendung des Christentums, aber diese Nutzanwendung konnte erst zu einer allgemeinen werden, nachdem das Christentum
als die fertige Religion die Selbstentfremdung des Menschen von sich und
der Natur theoretisch vollendet hatte.
Nun erst konnte das Judentum zur allgemeinen Herrschaft gelangen und
den entäußerten Menschen, die entäußerte Natur zu veräußerlichen, verkäuflichen, der Knechtschaft des egoistischen Bedürfnisses, dem Schacher anheimgefallenen Gegenständen machen.
Die Veräußerung ist die Praxis der Entäußerung. Wie der Mensch, solange er religiös befangen ist, sein Wesen nur zu vergegenständlichen weiß,
indem er es zu einem fremden phantastischen Wesen macht, so kann er sich
unter der Herrschaft des egoistischen Bedürfnisses nur praktisch betätigen,
nur praktisch Gegenstände erzeugen, indem er seine Produkte, wie seine
Tätigkeit, unter die Herrschaft eines fremden Wesens stellt und ihnen die
Bedeutung eines fremden Wesens — des Geldes - verleiht.
Der christliche Seligkeitsegoismus schlägt in seiner vollendeten Praxis
notwendig um in den Leibesegoismus des Juden, das himmlische Bedürfnis
in das irdische, der Subjektivismus in den Eigennutz. Wir erklären die
Zähigkeit des Juden nicht aus seiner Religion, sondern vielmehr aus dem
menschlichen Grund seiner Religion, dem praktischen Bedürfnis, dem
Egoismus.
Weil das reale Wesen des Juden in der bürgerlichen Gesellschaft sich
allgemein verwirklicht, verweltlicht hat, darum konnte die bürgerliche Gesellschaft den Juden nicht von der Unwirhlichkeit seines religiösen Wesens,
welches eben nur die ideale Anschauung des praktischen Bedürfnisses ist,
überzeugen. Also nicht nur im Pentateuchtl55:l oder im Talmud, in der
jetzigen Gesellschaft finden wir das Wesen des heutigen Juden, nicht als ein
abstraktes, sondern als ein höchst empirisches Wesen, nicht nur als Beschränktheit des Juden, sondern als die jüdische Beschränktheit der Gesellschaft.
Sobald es der Gesellschaft gelingt, das empirische Wesen des Judentums,
den Schacher und seine Voraussetzungen aufzuheben, ist der Jude unmöglich
geworden, weil sein Bewußtsein keinen Gegenstand mehr hat, weil die subjektive Basis des Judentums, das praktische Bedürfnis vermenschlicht, weil
der Konflikt der individuell-sinnlichen Existenz mit der Gattungsexistenz
des Menschen aufgehoben ist.
Die gesellschaftliche Emanzipation des Juden ist die Emanzipation der
Gesellschaft vom Judentum.
Geschrieben August bis Dezember 1843.
Nach: „Deutsch-Französische Jahrbücher", Paris 1844.
Karl Marx
Zur Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie
Einleitung
Für Deutschland ist die Kritik der Religion im wesentlichen beendigt, und
die Kritik der Religion ist die Voraussetzung aller Kritik.
Die profane Existenz des Irrtums ist kompromittiert, nachdem seine
himmlische oratio pro aris etfocis1 widerlegt ist. Der Mensch, der in der phantastischen Wirklichkeit des Himmels, wo er einen Übermenschen suchte,
nur den Widerschein seiner selbst gefunden hat, wird nicht mehr geneigt
sein, nur den Schein seiner selbst, nur den Unmenschen zu finden, wo er
seine wahre Wirklichkeit sucht und suchen muß.
Das Fundament der irreligiösen Kritik ist: Der Mensch macht die Religion,
die Religion macht nicht den Menschen. Und zwar ist die Religion das
Selbstbewußtsein und das Selbstgefühl des Menschen, der sich selbst entweder noch nicht erworben oder schon wieder verloren hat. Aber der Mensch,
das ist kein abstraktes, außer der Welt hockendes Wesen. Der Mensch, das
ist die Welt des Menschen, Staat, Sozietät. Dieser Staat, diese Sozietät produzieren die Religion, ein Verkehrtes Weltbewußtsein, weil sie eine verkehrte
Welt sind. Die Religion ist die allgemeine Theorie dieser Welt, ihr enzyklopädisches Kompendium, ihre Logik in populärer Form, ihr spiritualistischer
Point-d'honneur, ihr Enthusiasmus, ihre moralische Sanktion, ihre feierliche Ergänzung, ihr allgemeiner Trost- und Rechtfertigungsgrund. Sie ist die
phantastische Verwirklichung des menschlichen Wesens, weil das menschliche
Wesen keine wahre Wirklichkeit besitzt. Der Kampf gegen die Religion
ist also mittelbar der Kampf gegen jene Welt, deren geistiges Aroma die
Religion ist.
Das religiöse Elend ist in einem der Ausdruck des wirklichen Elendes und
in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend. Die Religion ist der
Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie
der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volks.
1
Rede für Altar und Herd
Die Aufhebung der Religion als des illusorischen Glücks des Volkes ist die
Forderung seines wirklichen Glücks. Die Forderung, die Illusionen über
seinen Zustand aufzugeben, ist die Forderuns, einen Zustand aufzugeben, der
der Illusionen bedarf. Die Kritik der Religion ist also im Keim die Kritik des
Jammertales, dessen Heiligenschein die Religion ist.
Die Kritik hat die imaginären Blumen an der Kette zerpflückt, nicht damit der Mensch die phantasielose, trostlose Kette trage, sondern damit er
die Kette abwerfe und die lebendige Blume breche. Die Kritik der Religion
enttäuscht den Menschen, damit er denke, handle, seine Wirklichkeit gestalte wie ein enttäuschter, zu Verstand gekommener Mensch, damit er sich
um sich selbst und damit um seine Wirkliche Sonne bewege. Die Religion ist
nur die illusorische Sonne, die sich um den Menschen bewegt, solange er
sich nicht um sich selbst bewegt.
Es ist also die Auf gäbe der Geschichte, nachdem das Jenseits der Wahrheit
verschwunden ist, die Wahrheit des Diesseits zu etablieren. Es ist zunächst
die Aufgabe der Philosophie, die im Dienste der Geschichte steht, nachdem
die Heiligengestalt der menschlichen Selbstentfremdung entlarvt ist, die Selbstentfremdung in ihren unheiligen Gestalten zu entlarven. Die Kritik des Himmels verwandelt sich damit in die Kritik der Erde, die Kritik der Religion in
die Kritik des Rechts, die Kritik der Theologie in die Kritik der Politik.
Die nachfolgende Ausführung0563 - ein Beitrag zu dieser Arbeit - schließt
sich zunächst nicht an das Original, sondern an eine Kopie, an die deutsche
Staats- und Rechts -Philosophie an, aus keinem andern Grunde, als weil sie
sich an Deutschland anschließt.
Wollte man an den deutschen status quo selbst anknüpfen, wenn auch in
einzig angemessener Weise, d.h. negativ, immer bliebe das Resultat ein Anachronismus. Selbst die Verneinung unserer politischen Gegenwart findet sich
schon als bestaubte Tatsache in der historischen Rumpelkammer der modernen Völker. Wenn ich die gepuderten Zöpfe Verneine, habe ich immer noch
die ungepuderten Zöpfe.; Wenn ich die deutschen Zustände von 1843 verneine, stehe ich, nach französischer Zeitrechnung, kaum im Jahre 1789, noch
weniger im Brennpunkt der Gegenwart.
Ja, die deutsche Geschichte schmeichelt sich einer Bewegung, welche ihr
kein Volk am historischen Himmel weder vorgemacht hat noch nachmachen
wird. Wir haben nämlich die Restaurationen der modernen Völker geteilt,
ohne ihre Revolutionen zu teilen. Wir wurden restauriert, erstens, weil andere Völker eine Revolution wagten, und zweitens, weil andere Völker eine
Konterrevolution litten, das eine Mal, weil unsere Herren Furcht hatten, und
das andere Mal, weil unsere Herren keine Furcht hatten. Wir, unsere Hirten
25 Marx/Engels, Werke, Bd. 1
an der Spitze, befanden uns immer nur einmal in der Gesellschaft der Freiheit, am Tag ihrer Beerdigung.
Eine Schule, welche die Niederträchtigkeit von heute durch die Niederträchtigkeit von gestern legitimiert, eine Schule, die jeden Schrei des Leibeigenen gegen die Knute für rebellisch erklärt, sobald die Knute eine bejahrte,
eine angestammte, eine historische Knute ist, eine Schule, der die Geschichte,
wie der Gott Israels seinem Diener Moses, nur ihr a posteriori zeigt, die historische Rechtsschutz211, sie hätte daher die deutsche Geschichte erfunden, wäre
sie nicht eine Erfindung der deutschen Geschichte. Shylock, aber Shylock der
Bediente, schwört sie für jedes Pfund Fleisch, welches aus dem Volksherzen
geschnitten wird, auf ihren Schein, auf ihren historischen Schein, auf ihren
christlich-germanischen: Schein.
Gutmütige Enthusiasten dagegen, Deutschtümler von Blut und Freisinnige von Reflexion, suchen unsere Geschichte der Freiheit jenseits unserer
Geschichte in den teutonischen Urwäldern. Wodurch unterscheidet sich aber
unsere Freiheitsgeschichte von der Freiheitsgeschichte des Ebers, wenn sie
nur in den Wäldern zu finden ist? Zudem ist es bekannt: Wie man hineinschreit in den Wald, schallt es heraus aus dem Wald. Also Friede den teutonischen Urwäldern!
Krieg den deutschen Zuständen! Allerdings! Sie stehn unter dem Niveau
der Geschichte, sie sind unter aller Kritik, aber sie bleiben ein Gegenstand der
Kritik, wie der Verbrecher, der unter dem Niveau der Humanität steht, ein
Gegenstand des Scharfrichters bleibt. Mit ihnen im Kampf ist die Kritik keine
Leidenschaft des Kopfs, sie ist der Kopf der Leidenschaft. Sie ist kein anatomisches Messer, sie ist eine Waffe. Ihr Gegenstand ist ihr Feind, den sie
nicht widerlegen, sondern vernichten will. Denn der Geist jener Zustände ist
widerlegt. An und für sich sind sie keine denkwürdigen Objekte, sondern
ebenso verächtliche als verachtete Existenzen. Die Kritik für sich bedarf nicht
der Selbstverständigung mit diesem Gegenstand, denn sie ist mit ihm im
reinen. Sie gibt sich nicht mehr als Selbstzweck, sondern nur noch als Mittel.
Ihr wesentliches Pathos ist die Indignation/ ihre wesentliche Arbeit die
Denunziation.
Es gilt die Schilderung eines wechselseitigen dumpfen Drucks aller sozialen Sphären aufeinander, einer allgemeinen, tatlosen Verstimmung, einer
sich ebensosehr anerkennenden als verkennenden Beschränktheit, eingefaßt
in den Rahmen eines Regierungssystems, welches, von der Konservation
aller Erbärmlichkeiten lebend, selbst nichts ist als die Erbärmlichkeit an der
Regierung.
Welch ein Schauspiel! Die ins unendliche fortgehende Teilung der Ge-
sellschaft in die mannigfaltigsten Rassen, welche mit kleinen Antipathien,
schlechten Gewissen und brutaler Mittelmäßigkeit sich gegenüberstehn,
welche eben um ihrer wechselseitigen zweideutigen und argwöhnischen
Stellung willen alle ohne Unterschied, wenn auch mit verschiedenen Formalitäten, als konzessionierte Existenzen von ihren Herren behandelt werden.
Und selbst dies, daß sie beherrscht, regiert, besessen sind, müssen sie
als eine Konzession des Himmels anerkennen und bekennen! Andrerseits jene
Herrscher selbst, deren Größe in umgekehrtem Verhältnisse zu ihrer
Zahl steht!
Die Kritik, die sich mit diesem Inhalt befaßt, ist die Kritik im Handgemenge, und im Handgemenge handelt es sich nicht darum, ob der Gegner
ein edler, ebenbürtiger, ein interessanter Gegner ist, es handelt sich darum,
ihn zu treffen. Es handelt sich darum, den Deutschen keinen Augenblick der
Selbsttäuschung und Resignation zu gönnen. Man muß den wirklichen
Druck noch drückender machen, indem man ihm das Bewußtsein des Drucks
hinzufügt, die Schmach noch schmachvoller, indem man sie publiziert. Man
muß jede Sphäre der deutschen Gesellschaft als die partie honteuse1 der
deutschen Gesellschaft schildern, man muß diese versteinerten Verhältnisse
dadurch zum Tanzen zwingen, daß man ihnen ihre eigne Melodie vorsingt!
Man muß das Volk vor sich selbst erschrecken lehren, urn ihm Courage zu
machen. Man erfüllt damit ein unabweisbares Bedürfnis des deutschen Volks,
und die Bedürfnisse der Völker sind in eigener Person die letzten Gründe
ihrer Befriedigung.
Und selbst für die modernen Völker kann dieser Kampf gegen den bornierten Inhalt des deutschen status quo nicht ohne Interesse sein, denn der
deutsche status quo ist die offenherzige Vollendung des ancien regime, und das
ancien regime ist der versteckte Mangel des modernen Staates. Der Kampf gegen
die deutsche politische Gegenwart ist der Kampf gegen die Vergangenheit
der modernen Völker, und von den Reminiszenzen dieser Vergangenheit werden sie noch immer belästigt. Es ist lehrreich für sie, das ancien regime, das
bei ihnen seine Tragödie erlebte, als deutschen Revenant seine Komödie spielen zu sehen. Tragisch war seine Geschichte, solange es die präexistierende
Gewalt der Welt, die Freiheit dagegen ein persönlicher Einfall war, mit einem
Wort, solange es Selbst an seine Berechtigung glaubte und glauben mußte.
Solange das ancien regime als vorhandene Weltordnung mit einer erst werdenden Welt kämpfte, stand auf seiner Seite ein weltgeschichtlicher Irrtum, aber
kein persönlicher. Sein Untergang war daher tragisch.
1
den Schandfleck
Das jetzige deutsche Regime dagegen, ein Anachronismus, ein flagranter
Widerspruch gegen allgemein anerkannte Axiome, die zur Weltschau ausgestellte Nichtigkeit des ancien regime, bildet sich nur noch ein, an sich selbst
zu glauben, und verlangt von der Welt dieselbe Einbildung. Wenn es an sein
eignes Wesen glaubte, würde es dasselbe unter dem Schein eines fremden
Wesens zu verstecken und seine Rettung in der Heuchelei und dem Sophisma suchen? Das moderne ancien regime ist nur mehr der Komödiant
einer Weltordnung, deren wirkliche Helden gestorben sind. Die Geschichte
ist gründlich und macht viele Phasen durch, wenn sie eine alte Gestalt zu
Grabe trägt. Die letzte Phase einer weltgeschichtlichen Gestalt ist ihre Komödie. Die Götter Griechenlands, die schon einmal tragisch zu Tode verwundet waren im gefesselten Prometheus des Äschylus, mußten noch einmal
komisch sterben in den Gesprächen Lucians. Warum dieser Gang der Geschichte? Damit die Menschheit heiter von ihrer Vergangenheit scheide.
Diese heitere geschichtliche Bestimmung vindizieren wir den politischen
Mächten Deutschlands.
Sobald indes die moderne politisch-soziale Wirklichkeit selbst der Kritik
unterworfen wird, sobald also die Kritik zu wahrhaft menschlichen Problemen
sich erhebt, befindet sie sich außerhalb des deutschen status quo, oder sie
würde ihren Gegenstand unter ihrem Gegenstand greifen. Ein Beispiel 1 Das
Verhältnis der Industrie, überhaupt der Welt des Reichtums, zu der politischen Welt ist ein Hauptproblem der modernen Zeit. Unter welcher Form
fängt dies Problem an, die Deutschen zu beschäftigen? Unter der Form der
Schutzzölle, des Prohibitivsystems, der Nationalökonomie. Die Deutschtümelei
ist aus dem Menschen in die Materie gefahren, und so sahen sich eines Morgens unsere Baumwollritter und Eisenhelden in Patrioten verwandelt. Man
beginnt also in Deutschland die Souveränität des Monopols nach innen anzuerkennen dadurch, daß man ihm die Souveränität nach außen verleiht. Man
beginnt also jetzt in Deutschland anzufangen, womit man in Frankreich und
England zu enden beginnt. Der alte faule Zustand, gegen den diese Länder
theoretisch im Aufruhr sind und den sie nur noch ertragen, wie man die
Ketten erträgt, wird in Deutschland als die aufgehende Morgenröte einer
schönen Zukunft begrüßt, die kaum noch wagt, aus der listigen05™ Theorie in
die schonungsloseste Praxis überzugehn. Während das Problem in Frankreich und England lautet: Politische Ökonomie oder Herrschaft der Sozietät
über den Reichtum, lautet es in Deutschland: Nationalökonomie oder Herrschaft des Privateigentums über die Nationalität. Es gilt also in Frankreich
und England, das Monopol, das bis zu seinen letzten Konsequenzen fortgegangen ist, aufzuheben; es gilt in Deutschland, bis zu den letzten Konse-
quenzen des Monopols fortzugehen. Dort handelt es sich um die Lösung,
und hier handelt es sich erst um die Kollision. Ein zureichendes Beispiel von
der deutschen Form der modernen Probleme, ein Beispiel, wie unsere Geschichte, gleich einem ungeschickten Rekruten, bisher nur die Aufgabe hatte,
abgedroschene Geschichten nachzuexerzieren.
Ginge also die gesamte deutsche Entwicklung nicht über die politische
deutsche Entwicklung hinaus, ein Deutscher könnte sich höchstens an den
Problemen der Gegenwart beteiligen, wie sich ein Russe daran beteiligen
kann. Allein wenn das einzelne Individuum nicht gebunden ist durch die
Schranken der Nation, ist die gesamte Nation noch weniger befreit durch die
Befreiung eines Individuums. Die Skythen haben keinen Schritt zur griechischen Kultur vorwärts getan, weil Griechenland einen Skythen1158-1 unter
seine Philosophen zählt.
Zum Glück sind wir Deutsche keine Skythen.
Wie die alten Völker ihre Vorgeschichte in der Imagination erlebten, in
der Mythologie, so haben wir Deutsche unsre Nachgeschichte im Gedanken
erlebt, in der Philosophie. Wir sind philosophische Zeitgenossen der Gegenwart, ohne ihre historischen Zeitgenossen zu sein. Die deutsche Philosophie
ist die ideale Verlängerung der deutschen Geschichte. Wenn wir also statt
die ceuvres incompletes1 unsrer reellen Geschichte die osuvres posthumes2 unserer
ideellen Geschichte, die Philosophie, kritisieren, so steht unsere Kritik mitten
unter den Fragen, von denen die Gegenwart sagt: That is the questior?. Was
bei den fortgeschrittenen Völkern praktischer Zerfall mit den modernen
Staatszuständen ist, das ist in Deutschland, wo diese Zustände selbst noch
nicht einmal existieren, zunächst kritischer Zerfall mit der philosophischen
Spiegelung dieser Zustände.
Die deutsche Rechts- und Staatsphilosophie ist die einzige mit der offiziellen
modernen Gegenwart al pari stehende deutsche Geschichte. Das deutsche Volk
muß daher diese seine Traumgeschichte mit zu seinen bestehenden Zuständen
schlagen und nicht nur diese bestehenden Zustände, sondern zugleich ihre
abstrakte Fortsetzung der Kritik unterwerfen. Seine Zukunft kann sich weder
auf die unmittelbare Verneinung seiner reellen noch auf die unmittelbare
Vollziehung seiner ideellen Staats- und Rechtszustände beschränken, denn die
unmittelbare Verneinung seiner reellen Zustände besitzt es in seinen ideellen
Zuständen, und die unmittelbare Vollziehung seiner ideellen Zustände hat
es in der Anschauung der Nachbarvölker beinahe schon wieder überlebt. Mit
Recht fordert daher die praktische politische Partei in Deutschland die Nega1
unvollendeten Werke -
2
nachgelassenen Werke -
3
Das ist die Frage
tion der Philosophie. Ihr Unrecht besteht nicht in der Forderung, sondern
in dem Stehnbleiben bei der Forderung, die sie ernstlich weder vollzieht noch
vollziehen kann. Sie glaubt, jene Negation dadurch zu vollbringen, daß sie
der Philosophie den Rücken kehrt und abgewandten Hauptes - einige ärgerliche und banale Phrasen über sie hermurmelt; Die Beschränktheit ihres
Gesichtskreises zählt die Philosophie nicht ebenfalls in den Bering der
deutschen Wirklichkeit oder wähnt sie gar unter der deutschen Praxis und
den ihr dienenden Theorien, ihr verlangt, daß man an wirkliche Lebenskeime
anknüpfen soll, aber ihr vergeßt, daß der wirkliche Lebenskeim des deutschen Volkes bisher nur unter seinem Hirnschädel gewuchert hat. Mit
einem Worte: Ihr könnt die Philosophie nicht aufheben, ohne sie zu verwirklichen.
Dasselbe Unrecht, nur mit umgekehrten Faktoren, beging die theoretische,
von der Philosophie her datierende politische Partei.
Sie erblickte in dem jetzigen Kampf nur den kritischen Kampf der Philosophie mit der deutschen Welt, sie bedachte nicht, daß die seitherige Philosophie
selbst zu dieser Welt gehört und ihre, wenn auch ideelle, Ergänzung ist. Kritisch gegen ihren Widerpart, verhielt sie sich unkritisch zu sich selbst, indem
sie von den Voraussetzungen der Philosophie ausging und bei ihren gegebenen
Resultaten entweder stehenblieb oder anderweitig hergeholte Forderungen
und Resultate für unmittelbare Forderungen und Resultate der Philosophie
ausgab, obgleich dieselben - ihre Berechtigung vorausgesetzt - im Gegenteil nur durch die Negation der seitherigen Philosophie, der Philosophie
als Philosophie, zu erhalten sind. Eine näher eingehende Schilderung
dieser Partei behalten wir uns vor. Ihr Grundmangel läßt sich dahin
reduzieren :5('e glaubte, die Philosophie verwirklichen zu können, ohne sie aufzuheben.
Die Kritik der deutschen Staats- und Rechtsphilosophie, Vielehe durch Hegel
ihre konsequenteste, reichste und letzte Fassung erhalten hat, ist beides, sowohl die kritische Analyse des modernen Staats und der mit ihm zusammenhängenden Wirklichkeit als auch die entschiedene Verneinung der ganzen
bisherigen Weise des deutschen politischen und rechtlichen Bewußtseins, dessen
vornehmster, universellster, zur Wissenschaft erhobener Ausdruck eben die
spekulative Rechtsphilosophie selbst ist. War nur in Deutschland die spekulative Rechtsphilosophie möglich, dies abstrakte überschwengliche Denken des
modernen Staats, dessen Wirklichkeit ein Jenseits bleibtj mag dies Jenseits
auch nur jenseits des Rheins liegen: so war ebensosehr umgekehrt das deutsche,
vom wirklichen Menschen abstrahierende Gedankenbild des modernen Staats
nur möglich, weil und insofern der moderne Staat selbst vom wirklichen Men-
sehen abstrahiert oder den ganzen Menschen auf eine nur imaginäre Weise
befriedigt. Die Deutschen haben in der Politik gedacht, was die andern Völker
getan haben. Deutschland war ihr theoretisches Gewissen. Die Abstraktion und
Überhebung seines Denkens hielt immer gleichen Schritt mit der Einseitigkeit und Untersetztheit ihrer Wirklichkeit. Wenn also der status quo des deutschen Staatswesens die Vollendung des ancien regime ausdrückt, die Vollendung
des Pfahls im Fleische des modernen Staats, so drückt der status quo des deutschen Staatswissens die Unüollendung des modernen Staats aus, die Schadhaftigkeit seines Fleisches selbst.
Schon als entschiedner Widerpart der bisherigen Weise des deutschen
politischen Bewußtseins verläuft sich die Kritik der spekulativen Rechtsphilosophie nicht in sich selbst, sondern in Aufgaben, für deren Lösung es nur
ein Mittel gibt: die Praxis.
Es fragt sich: Kann Deutschland zu einer Praxis ä la hauteur des prineipes1
gelangen, d.h. zu einer Revolution, die es nicht nur auf das offizielle Niveau
der modernen Völker erhebt, sondern auf die menschliche Höhe, welche die
nächste Zukunft dieser Völker sein wird?
Die Waffe der Kritik kann allerdings die Kritik der Waffen nicht ersetzen,
die materielle Gewalt muß gestürzt werden durch materielle Gewalt, allein
auch die Theorie wird zur materiellen Gewalt, sobald sie die Massen ergreift.
Die Theorie ist fähig, die Massen zu ergreifen, sobald sie ad hominem? demonstriert, und sie demonstriert ad hominem, sobald sie radikal wird. Radikal sein
ist die Sache an der Wurzel fassen. Die Wurzel für den Menschen ist aber der
Mensch selbst. Der evidente Beweis für den Radikalismus der deutschen
Theorie, also für ihre praktische Energie, ist ihr Ausgang von der entschiedenen positiven Aufhebung der Religion. Die Kritik der Religion endet mit der
Lehre, daß .der Mensch das höchste Wesen für den Menschen sei, also mit dem
kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch
ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen
ist, Verhältnisse, die man nicht besser schildern kann als durch den Ausruf
eines Franzosen bei einer projektierten Hundesteuer: Arme Hunde! Man
will euch wie Menschen behandeln!
Selbst
praktische
gangenheit
Mönch, so
ginnt.
1
historisch hat die theoretische Emanzipation eine spezifisch
Bedeutung für Deutschland. Deutschlands revolutionäre Verist nämlich theoretisch, es ist die Reformation. Wie damals der
ist es jetzt der Philosoph, in dessen Hirn die Revolution be-
auf der Höhe der Prinzipien -
2
am Menschen
Luther hat allerdings die Knechtschaft aus Devotion besiegt, weil er die
Knechtschaft aus Überzeugung an ihre Stelle gesetzt hat. Er hat den Glauben
an die Autorität gebrochen, weil er die Autorität des Glaubens restauriert
hat. Er hat die Pfaffen in Laien verwandelt, weil er die Laien in Pfaffen verwandelt hat. Er hat den Menschen von der äußern Religiosität befreit, weil
er die Religiosität zum innern Menschen gemacht hat. Er hat den Leib von
der Kette emanzipiert, weil er das Herz in Ketten gelegt.
Aber, wenn der Protestantismus nicht die wahre Lösung, so war er die
wahre Stellung der Aufgabe. Es galt nun nicht mehr den Kampf des Laien
mit dem Pfaffen außer ihm, es galt den Kampf mit seinem eigenen innern
Pfaffen, seiner pfäffischen Natur. Und wenn die protestantische Verwandlung
der deutschen Laien in Pfaffen die Laienpäpste, die Fürsten samt ihrer
Klerisei, den Privilegierten und den Philistern, emanzipierte, so wird die
philosophische Verwandlung der pfäffischen Deutschen in Menschen das
Volk emanzipieren. Sowenig aber die Emanzipation bei den Fürsten, sowenig wird die Säkularisation der Güter bei dem Kirchenraub stehenbleiben,
den vor allen das heuchlerische Preußen ins Werk setzte. Damals scheiterte
der Bauernkrieg, die radikalste Tatsache der deutschen Geschichte, an der
Theologie. Heute, wo die Theologie selbst gescheitert ist, wird die unfreiste
Tatsache der deutschen Geschichte, unser status quo, an der Philosophie zerschellen. Den Tag vor der Reformation war das offizielle Deutschland der
unbedingteste Knecht von Rom. Den Tag vor seiner Revolution ist es der
unbedingte Knecht von weniger als Rom, von Preußen und Österreich, von
Krautjunkern und Philistern.
Einer radikalen deutschen Revolution scheint indessen eine Hauptschwierigkeit entgegenzustehn.
Die Revolutionen bedürfen nämlich eines passiven Elementes, einer
materiellen Grundlage. Die Theorie wird in einem Volke immer nur so weit
verwirklicht, als sie die Verwirklichung seiner Bedürfnisse ist. Wird nun dem
urigeheuern Zwiespalt zwischen den Forderungen des deutschen Gedankens
und den Antworten der deutschen Wirklichkeit derselbe Zwiespalt der bürgerlichen Gesellschaft mit dem Staat und mit sich selbst entsprechen? Werden
die theoretischen Bedürfnisse unmittelbar praktische Bedürfnisse sein? Es
genügt nicht, daß der Gedanke zur Verwirklichung drängt, die Wirklichkeit
muß sich selbst zum Gedanken drängen.
Aber Deutschland hat die Mittelstufen der politischen Emanzipation nicht
gleichzeitig mit den modernen Völkern erklettert. Selbst die Stufen, die es
theoretisch überwunden, hat es praktisch noch nicht erreicht. Wie sollte es
mit einem salto mortale nicht nur über seine eignen Schranken hinweg-
setzen, sondern zugleich über die Schranken der modernen Völker, über
Schranken, die es in der Wirklichkeit als Befreiung von seinen wirklichen
Schranken empfinden und erstreben muß? Eine radikale Revolution kann
nur die Revolution radikaler Bedürfnisse sein, deren Voraussetzungen und
Geburtsstätten eben zu fehlen scheinen.
Allein wenn Deutschland nur mit der abstrakten Tätigkeit des Denkens
die Entwicklung der modernen Völker begleitet hat, ohne werktätige Partei
an den wirklichen Kämpfen dieser Entwicklung zu ergreifen, so hat es andrerseits die Leiden dieser Entwicklung geteilt, ohne ihre Genüsse, ohne ihre
partielle Befriedigung zu teilen. Der abstrakten Tätigkeit einerseits entspricht
das abstrakte Leiden andrerseits. Deutschland wird sich daher eines Morgens
auf dem Niveau des europäischen Verfalls befinden, bevor es jemals auf dem
Niveau der europäischen Emanzipation gestanden hat. Man wird es einem
Fetischdiener vergleichen können, der an den Krankheiten des Christentums
siecht.
Betrachtet man zunächst die deutschen Regierungen, und man findet sie
durch die Zeitverhältnisse, durch die Lage Deutschlands, durch den Standpunkt der deutschen Bildung, endlich durch eignen glücklichen Instinkt getrieben, die zivilisierten Mängel der modernen Staatswelt, deren Vorteile wir
nicht besitzen, zu kombinieren mit den barbarischen Mängeln des ancien
regime, dessen wir uns in vollem Maße erfreuen, so daß Deutschland, wenn
nicht am Verstand, wenigstens am Unverstand auch der über seinen status
quo hinausliegenden Staatsbildungen immer mehr partizipieren muß. Gibt
es z.B. ein Land in der Welt, welches so naiv alle Illusionen des konstitutionellen Staatswesens teilt, ohne seine Realitäten zu teilen, als das sogenannte
konstitutionelle Deutschland? Oder war es nicht notwendig ein deutscher
Regierungseinfall, die Qualen der Zensur mit den Qualen der französischen
Septembergesetze1-1591, welche die Preßfreiheit voraussetzen, zu verbinden!
Wie man im römischen Pantheon die Götter aller Nationen fand, so wird man
im heiligen römischen deutschen Reich die Sünden aller Staatsformen finden.
Daß dieser Eklektizismus eine bisher nicht geahnte Höhe erreichen wird,
dafür bürgt namentlich die politisch-ästhetische Gourmanderie eines deutschen
Königs1, der alle Rollen des Königtums, des feudalen wie des bürokratischen,
des absoluten wie des konstitutionellen, des autokratischen wie des demokratischen, wenn nicht durch die Person des Volkes, so doch in eigner Person,
wenn nicht für das Volk, so doch für sich selbst zu spielen gedenkt. Deutschland als der zu einer eignen Welt konstituierte Mangel der politischen Ge-
1
Friedrich Wilhelm IV.
genwart wird die spezifisch deutschen Schranken nicht niederwerfen können, ohne die allgemeine Schranke der politischen Gegenwart niederzuwerfen.
Nicht die radikale Revolution ist utopischer Traum für Deutschland,
nicht die allgemein menschliche Emanzipation, sondern vielmehr die teilweise,
die nur politische Revolution, die Revolution, welche die Pfeiler des Hauses
stehenläßt. Worauf beruht eine teilweise, eine nur politische Revolution?
Darauf, daß ein Teil der bürgerlichen Gesellschaft sich emanzipiert und zur
allgemeinen Herrschaft gelangt, darauf, daß eine bestimmte Klasse von ihrer
besondern Situation aus die allgemeine Emanzipation der Gesellschaft unternimmt. Diese Klasse befreit die ganze Gesellschaft, aber nur unter der
Voraussetzung, daß die ganze Gesellschaft sich in der Situation dieser
Klasse befindet, also z. B. Geld und Bildung besitzt oder beliebig erwerben
kann.
Keine Klasse der bürgerlichen Gesellschaft kann diese Rolle spielen, ohne
ein Moment des Enthusiasmus in sich und in d e r Masse hervorzurufen, ein
Moment, worin sie mit der Gesellschaft im allgemeinen fraternisiert und
zusammenfließt; mit ihr verwechselt und als deren allgemeiner Repräsentant
empfunden und anerkannt wird, ein Moment, worin ihre Ansprüche und
Rechte in Wahrheit die Rechte und Ansprüche der Gesellschaft selbst sind,
worin sie wirklich der soziale Kopf und das soziale Herz ist. Nur im Namen
der allgemeinen Rechte der Gesellschaft kann eine besondere Klasse sich die
allgemeine Herrschaft vindizieren. Zur Erstürmung dieser emanzipatorischen
Stellung und damit zur politischen Ausbeutung aller Sphären der Gesellschaft
im Interesse der eignen Sphäre reichen revolutionäre Energie und geistiges
Selbstgefühl allein nicht aus. Damit die Revolution eines Volkes und die
Emanzipation einer besondern Klasse der bürgerlichen Gesellschaft zusammenfallen, damit ein Stand für den Stand der ganzen Gesellschaft gelte, dazu
müssen umgekehrt alle Mängel der Gesellschaft in einer andern Klasse konzentriert, dazu muß ein bestimmter Stand der Stand des allgemeinen Anstoßes, die Inkorporation der allgemeinen: Schranke sein, dazu muß eine
besondre soziale Sphäre für das notorische Verbrechen der ganzen Sozietät
gelten, so daß die Befreiung von dieser Sphäre als die allgemeine Selbstbefreiung erscheint. Damit ein Stand par excellence der Stand der Befreiung,
dazu muß umgekehrt ein andrer Stand der offenbare Stand der Unterjochung sein. Die negativ-allgemeine Bedeutung des französischen Adels
und der französischen Klerisei bedingte die positiv-allgemeine Bedeutung der zunächst angrenzenden und entgegenstehenden Klasse der Bourgeoisie.
Es fehlt aber jeder besondern Klasse in Deutschland nicht nur die Konsequenz, die Schärfe, der Mut, die Rücksichtslosigkeit, die sie zum negativen
Repräsentanten der Gesellschaft stempeln könnte. Es fehlt ebensosehr jedem
Stande jene Breite der Seele, die sich mit der Volksseele, wenn auch nur
momentan, identifiziert, jene Genialität, welche die materielle Macht zur
politischen Gewalt begeistert, jene revolutionäre Kühnheit, welche dem
Gegner die trotzige Parole zuschleudert: Ich bin nichts, und ich müßte alles
sein. Den Hauptstock deutscher Moral und Ehrlichkeit, nicht nur der Individuen, sondern auch der Klassen, bildet vielmehr jener bescheidene
Egoismus, welcher seine Beschränktheit geltend macht und gegen sich geltend machen läßt. Das Verhältnis der verschiedenen Sphären der deutschen
Gesellschaft ist daher nicht dramatisch, sondern episch. Jede derselben beginnt sich zu empfinden und neben die andern mit ihren besondern Ansprüchen hinzulagern, nicht sobald sie gedrückt wird, sondern sobald ohne
ihr Zutun die Zeitverhältnisse eine gesellige Unterlage schaffen, auf die sie
ihrerseits den Druck ausüben kann. Sogar das moralische Selbstgefühl der
deutschen Mittelklasse beruht nur auf dem Bewußtsein, die allgemeine Repräsentantin von der philisterhaften Mittelmäßigkeit aller übrigen Klassen
zu sein. Es sind daher nicht nur die deutschen Könige, die mal-ä-propos1
auf den Thron gelangen, es ist jede Sphäre der bürgerlichen Gesellschaft,
die ihre Niederlage erlebt, bevor sie ihren Sieg gefeiert, ihre eigne Schranke
entwickelt, bevor sie die ihr gegenüberstehende Schranke überwunden, ihr
engherziges Wesen geltend macht, bevor sie ihr großmütiges Wesen geltend
machen konnte, so daß selbst die Gelegenheit einer großen Rolle immer
vorüber ist, bevor sie vorhanden war, so daß jede Klasse, sobald sie den
Kampf mit der über ihr stehenden Klasse beginnt, in den Kampf mit der
unter ihr stehenden verwickelt ist. Daher befindet sich das Fürstentum im
Kampf gegen das Königtum, der Bürokrat im Kampf gegen den Adel, der
Bourgeois im Kampf gegen sie alle, während der Proletarier schon beginnt,
sich im Kampf gegen den Bourgeois zu befinden. Die Mittelklasse wagt kaum
von ihrem Standpunkt aus den Gedanken der Emanzipation zu fassen, und
schon erklärt die Entwickelung , der sozialen Zustände, wie der Fortschritt der
politischen Theorie diesen Standpunkt selbst für antiquiert oder wenigstens
für problematisch.
In Frankreich genügt es, daß einer etwas sei, damit er alles sein wolle.
In Deutschland darf einer nichts sein, wenn er nicht auf alles verzichten soll.
In Frankreich ist die partielle Emanzipation der Grund der universellen. In
1
zur Unzeit
Deutschland ist die universelle Emanzipation conditio sine qua non1 jeder
partiellen. In Frankreich muß die Wirklichkeit, in Deutschland muß die
Unmöglichkeit der stufenweisen Befreiung die ganze Freiheit gebären. In
Frankreich ist jede Volksklasse politischer Idealist und empfindet sich zunächst nicht als besondere Klasse, sondern als Repräsentant der sozialen
Bedürfnisse überhaupt. Die Rolle des Emanzipators geht also der Reihe nach
in dramatischer Bewegung an die verschiedenen Klassen des französischen
Volkes über, bis sie endlich bei der Klasse anlangt, welche die soziale Freiheit nicht mehr unter der Voraussetzung gewisser, außerhalb des Menschen
liegender und doch von der menschlichen Gesellschaft geschaffener Bedingungen verwirklicht, sondern vielmehr alle Bedingungen der menschlichen
Existenz unter der Voraussetzung der sozialen Freiheit organisiert. In
Deutschland dagegen, wo das praktische Leben ebenso geistlos als das geistige Leben unpraktisch ist, hat keine Klasse der bürgerlichen Gesellschaft
das Bedürfnis und die Fähigkeit der allgemeinen Emanzipation, bis sie nicht
durch ihre unmittelbare Lage, durch die materielle Notwendigkeit, durch ihre
Ketten selbst dazu gezwungen wird.
Wo also die positive Möglichkeit der deutschen Emanzipation?
Antwort: In der Bildung einer Klasse mit radikalen Ketten, einer Klasse
der bürgerlichen Gesellschaft, welche keine Klasse der bürgerlichen Gesellschaft ist, eines Standes, welcher die Auflösung aller Stände ist, einer Sphäre,
welche einen universellen Charakter durch ihre universellen Leiden besitzt
und kein besondres Recht in Anspruch nimmt, weil kein besondres Unrecht,
sondern das Unrecht schlechthin an ihr verübt wird, welche nicht mehr auf
einen historischen, sondern nur noch auf den menschlichen Titel provozieren
kann, welche in keinem einseitigen Gegensatz zu den Konsequenzen, sondern
in einem allseitigen Gegensatz zu den Voraussetzungen des deutschen Staatswesens steht, einer Sphäre endlich, welche sich nicht emanzipieren kann,
ohne sich von allen übrigen Sphären der Gesellschaft und damit alle übrigen
Sphären der Gesellschaft zu emanzipieren, welche mit einem Wort der
völlige Verlust des Menschen ist, also nur durch die völlige Wiedergewinnung
des Menschen sich selbst gewinnen kann. Diese Auflösung der Gesellschaft
als ein besonderer Stand ist das Proletariat.
Das Proletariat beginnt erst durch die hereinbrechende industrielle Bewegung für Deutschland zu werden, denn nicht die naturwüchsig entstandne,
sondern die künstlich produzierte Armut, nicht die mechanisch durch die
Schwere der Gesellschaft niedergedrückte, sondern die aus ihrer akuten
1
unerläßliche Bedingung
Auflösung, vorzugsweise aus der Auflösung des Mittelstandes, hervorgehende
Menschenmasse bildet das Proletariat, obgleich allmählich, wie sich von
selbst versteht, auch die naturwüchsige Armut und die christlich-germanische
Leibeigenschaft in seine Reihen treten.
Wenn das Proletariat die Auflösung der bisherigen Weltordnang verkündet,
so spricht es nur das Geheimnis seines eignen Daseins aus, denn es ist die jaktische Auflösung dieser Weltordnung. Wenn das Proletariat die Negation des
Privateigentums verlangt, so erhebt es nur zum Prinzip der Gesellschaft, was
die Gesellschaft zu seinem Prinzip erhoben hat, was in ihm als negatives Resultat der Gesellschaft schon ohne sein Zutun verkörpert ist. Der Proletarier
befindet sich dann in bezug auf die werdende Welt in demselben Recht, in
welchem der deutsche König in bezug auf die gewordene Welt sich befindet,
wenn er das Volk sein Volk wie das Pferd sein Pferd nennt. Der König, indem er das Volk für sein Privateigentum erklärt, spricht es nur aus, daß der
Privateigentümer König ist.
Wie die Philosophie im Proletariat ihre materiellen, so findet das Proletariat in der Philosophie seine geistigen Waffen, und sobald der Blitz des
Gedankens gründlich in diesen naiven Volksboden eingeschlagen ist, wird
sich die Emanzipation der Deutschen zu Menschen vollziehn.
Resümieren wir das Resultat:
Die einzig praktisch mögliche Befreiung Deutschlands ist die Befreiung
auf dem Standpunkt der Theorie, welche den Menschen für das höchste
Wesen des Menschen erklärt. In Deutschland ist die Emanzipation von dem
Mittelalter nur möglich als die Emanzipation zugleich von den teilweisen
Überwindungen des Mittelalters. In Deutschland kann fe'ne Art der Knechtschaft gebrochen werden, ohne jede Art der Knechtschaft zu brechen. Das
gründliche Deutschland kann nicht revolutionieren, ohne von Grund aus zu
revolutionieren. Die Emanzipation des Deutschen ist die Emanzipation des
Menschen. Der Kopf dieser Emanzipation ist die Philosophie, ihr Herz das
Proletariat. Die Philosophie kann sich nicht verwirklichen ohne die Aufhebung des Proletariats, das Proletariat kann sich nicht aufheben ohne die
Verwirklichung der Philosophie.
Wenn alle innern Bedingungen erfüllt sind, wird der deutsche Auferstehungstag verkündet werden durch das Schmettern des gallischen Hahns.
Geschrieben Ende 1843 bis Januar 1844.
Nach: „Deutsch-Französische Jahrbücher", Paris 1844.
Karl Marx*
Kritische Randglossen
zu dem Artikel „Der König von Preußen und die Sozialreform.
Von einem Preußen"» 6 0 '
(„Vorwärts! " N r . 60)
[„Vorwärts!" Nr. 63 vom 7. August 1844|
Die Nummer 60 des „Vorwärts" enthält einen Artikel, überschrieben:
„Der König von Preußen und die Sozialreform", unterzeichnet: „Ein
Preuße".
Zunächst referiert der angebliche Preuße den Inhalt der königlichen
preußischen Cabinetsordre über den schlesischeti Arbeiterauf stand11611 und die
Meinung des französischen Journals „La Reforme''' über die preußische
Cabinetsordre. Die„Reforme" halte den „Schrecken und das religiöse Gefühl"
des Königs1 für die Quelle der Cabinetsordre. Sie finde in diesem Dokument
sogar das Vorgefühl der großen Reformen, welche der bürgerlichen Gesellschaft bevorstehn. Der „Preuße" belehrt die „Reforme" wie folgt:
„Der König und die deutsche Gesellschaft ist noch nicht bei dem .Vorgefühl ihrer
Reform' angelangt**, selbst die schlesischen und böhmischen Aufstände haben dies
Gefühl nicht erzeugt. Es ist unmöglich, die partielle Not der Fäbrikdistrikte einem
unpolitischen Lande, wie Deutschland, als eine allgemeine Angelegenheit, geschweige
denn als einen Schaden der ganzen zivilisierten Welt zur Anschauung zu bringen. Das
Ereignis hat für die Deutschen denselben Charakter wie irgendeine lokale Wassersoder Hungersnot. Deshalb nimmt es der König als einen Verwaltungs- oder Mildtätigkeitsmangel. Aus diesem Grunde und weil wenig Militär mit den schwachen Webern
fertig wurde, flößt das Demolieren der Fabriken und Maschinen auch dem Könige
und den Behörden keinen,Schrecken ein. Ja, sogar das religiöse Gefühl hat die Cabinetsordre nicht diktiert: Sie ist ein sehr nüchterner Ausdruck der christlichen Staatskunst
* Spezielle Gründe veranlassen mich zu der Erklärung, daß der vorstehende
Artikel der erste ist, den ich dem „Vorwärts" habe zukommen lassen. K . M .
** Man bemerke den stilistischen und grammatikalischen Unsinn. „Der König von
Preußen und die Gesellschaft ist noch nicht bei dem Vorgefühl ihrer" (auf wen bezieht
sich das: „ihrer"-1) „Reform angelangt."
1
Friedrich Wilhelm IV.
und einer Doktrin, die vor ihrer einzigen Medizin, der .guten Gesinnung christlicher
Herzen keine Schwierigkeiten bestehn läßt, Armut und Verbrechen sind zwei große
Übel; wer kann sie heilen? Der Staat und die Behörden? Nein, aber die Vereinigung
aller christlichen Herzen."
Der angebliche Preuße leugnet den „Schrecken" des Königs unter anderen
aus dem Grunde, weil wenig Militär mit den schwachen Webern fertig
wurde.
In einem Lande also, wo Festessen mit liberalen Toasten und liberalem
Champagnerschaum - man erinnere sich des Düsseldorfer Festes - eine
königliche Cabinetsordre provozieren'-162"', wo es keines einzigen Soldaten
bedurfte, um die Gelüste der ganzen liberalen Bourgeoisie nach Preßfreiheit
und Konstitution niederzuschlagen; in einem Lande, wo der passive Gehorsam k l'ordre du jour1 ist; in einem solchen Lande wäre die erzwungene
Anwendung der bewaffneten Macht gegen schwache Weber, kein Ereignis
und kein erschreckendes Ereignis? Und die schwachen; Weber siegten bei
dem ersten Zusammentreffen. Sie wurden unterdrückt durch eine nachträglich verstärkte Truppenzahl. Ist der Aufstand eines Arbeiterhaufens
minder gefährlich, weil es keiner Armee bedarf, um ihn zu ersticken? Der
kluge Preuße vergleiche den schlesischen Weberaufstand mit den englischen
Arbeiteraufständen, und die schlesischen Weber werden ihm als starke Weber
erscheinen.
Aus dem allgemeinen Verhältnis der Politik zu sozialen Gebrechen werden
wir erklären, warum der Weberaufstand dem Könige keinen sonderlichen
„Schrecken" einflößen konnte. Vorläufig nur soviel: Der Aufstand war nicht
unmittelbar gegen den König von Preußen, er war gegen die Bourgeoisie gerichtet. Als Aristokrat und absoluter Monarch kann der König von Preußen
die Bourgeoisie nicht lieben; er kann noch weniger darüber erschrecken,
wenn ihre Unterwürfigkeit und ihre Ohnmacht durch ein gespanntes und
schwieriges Verhältnis zum Proletariat gesteigert wird. Ferner: Der orthodoxe Katholik steht dem orthodoxen Protestanten feindlicher gegenüber als
dem Atheisten, wie der Legitimist dem Liberalen feindlicher gegenübersteht
als dem Kommunisten. Nicht weil Atheist und Kommunist dem Katholiken
und Legitimisten verwandter, sondern weil sie ihm entfremdeter sind als der
Protestant und der Liberale, weil sie außerhalb seines Kreises stehn. Der
König von Preußen, als Politiker, hat seinen unmittelbaren Gegensatz in der
Politik, in dem Liberalismus. Für den König existiert der Gegensatz des
Proletariats ebensowenig, wie der König für das Proletariat existiert. Das
1
an der Tagesordnung
Proletariat müßte schon eine entschiedene Macht erlangt haben, um die Antipathien, die politischen Gegensätze zu ersticken und um die ganze Feindschaft der Politik gegen sich zu lenken. Endlich: Dem bekannten, nach
Interessantem und Bedeutendem lüsternen Charakter des Königs mußte es
sogar eine freudig aufregende Überraschung gewähren, jenen „interessanten"
und „viel berufenen" Pauperismus auf eignem Grund und Boden und damit
eine Gelegenheit zu finden, aufs neue von sich reden zu machen. Wie wohlig
mag ihm gewesen sein bei der Nachricht, nunmehr einen „eignen" königlich
preußischen Pauperismus zu besitzen!
Unser „Preuße" ist noch unglücklicher, wenn er das „religiöse Gefühl" als
Quelle der königlichen Cabinetsordre leugnet.
Warum ist das religiöse Gefühl nicht die Quelle dieser Cabinetsordre?
Weil sie ein „sehr nüchterner Ausdruck der christlichen Staatskunst" ist, ein
„nüchterner" Ausdruck der Doktrin, die „vor ihrer einzigen Medizin, der
guten Gesinnung christlicher Herzen, keine Schwierigkeiten bestehen läßt".
Ist das religiöse Gefühl nicht die Quelle der christlichen Staatskunst?
Basiert eine Doktrin, welche in der guten Gesinnung christlicher Herzen ihr
Universalmittel besitzt, nicht auf dem religiösen Gefühl? Hört ein nüchterner
Ausdruck des religiösen Gefühls auf, ein Ausdruck des religiösen Gefühls zu
sein? Noch mehr! Ich behaupte, daß es ein sehr von sich eingenommenes,
ein sehr trunkenes religiöses Gefühl ist, welches die „Heilung großer Übel",
die es dem „Staat und der Behörde" abspricht, in der „Vereinigung christlicher Herzen" sucht. Es ist ein sehr trunkenes religiöses Gefühl, welches nach dem Zugeständnis des „Preußen" - das ganze Übel in dem Mangel an
christlichem Sinn findet, und daher die Behörden auf das einzige Mittel,
diesen Sinn zu stärken, auf die „Ermahnung" verweist. Die christliche Gesinnung ist nach dem „Preußen" der Zweck der Cabinetsordre. Das religiöse
Gefühl, versteht sich, wenn es betrunken, wenn es nicht nüchtern ist, hält
sich für das einzige Gut. Wo es Übel sieht, schreibt es sie seiner Abwesenheit zu, denn wenn es das einzige Gut ist, so kann es auch einzig das Gute
erzeugen. Die durch das religiöse Gefühl diktierte Cabinetsordre diktiert
also konsequenterweise das religiöse Gefühl. Ein Politiker von nüchternem religiösen Gefühl würde in seiner „Ratlosigkeit" nicht an der „Ermahnung des frommen Predigers zur christlichen Gesinnung" seine „Hülfe"
suchen.
Wie beweist also der angebliche Preuße der „Reforme", daß die Cabinetsordre kein Ausfluß des religiösen Gefühls ist? Dadurch, daß er überall die
Cabinetsordre als einen Ausfluß des religiösen Gefühls schildert. Ist von
einem so unlogischen Kopfe eine Einsicht in soziale Bewegungen zu er-
warten? Hören wir, was er über das Verhältnis der deutschen Gesellschaft zu
der Arbeiterbewegung und zur sozialen Reform überhaupt plaudert.
Unterscheiden wir, was der „Preuße" vernachlässigt, unterscheiden wir die
verschiedenen Kategorien, die unter dem Ausdrucke „deutsche Gesellschaft"
zusammengefaßt worden: Regierung, Bourgeoisie, Presse, endlich die Arbeiter selbst. Das sind die verschiedenen Massen, um die es sich hier handelt.
Der „Preuße" faßt diese Massen zusammen und verurteilt sie von seinem
erhabenen Standpunkt aus in Masse. Die deutsche Gesellschaft ist nach ihm
„noch nicht einmal bei dem Vorgefühl ihrer .Reform' angelangt".
Warum fehlt ihr dieser Instinkt?
„In einem unpolitischen Lande wie Deutschland", antwortet der Preuße, „ist es
unmöglich, die partielle Not der Fabrikdistrikte als eine allgemeine Angelegenheit, geschweige denn als einen Schaden der ganzen zivilisierten Welt zur Anschauung zu
bringen. Das Ereignis hat für die Deutschen denselben Charakter wie irgendeine lokale
Wassers- oder Hungersnot. Der König nimmt es daher als einen Verwaltungs- und
Mildtätigkeitsmangel."
Der „Preuße" erklärt also diese verkehrte Auffassung der Arbeiternot aus
der Eigentümlichkeit eines unpolitischen Landes.
Man wird zugeben: England ist ein politisches Land. Man wird ferner zugeben: England ist das Land des Pauperismus, sogar dies Wort ist englischen
Ursprungs. Die Betrachtung Englands ist also das sicherste Experiment,
um das Verhältnis eines politischen Landes zum Pauperismus kennenzulernen.
In England ist die Arbeiternot nicht partiell, sondern universell; nicht auf die
Fabrikdistrikte beschränkt, sondern auf die Landdistrikte ausgedehnt. Die
Bewegungen sind hier nicht im Entstehen, sie kehren seit beinahe einem
Jahrhundert periodisch wieder.
Wie begreift nun die englische Bourgeoisie und die mit ihr zusammenhängende Regierung und Presse den Pauperismus?
Soweit die englische Bourgeoisie den Pauperismus als Schuld der Politik
eingesteht, betrachtet der Whig den Tory und der Tory den Whig als die Ursache des Pauperismus. Nach dem Whig ist das Monopol des großen Grundeigentums und die Prohibitivgesetzgebung gegen die Einführung des Getreides1163-1 die Hauptquelle des Pauperismus. Nach dem Tory liegt das ganze
Übel in dem Liberalismus, in der Konkurrenz, in dem zu weit getriebenen
Fabriksystem. Keine der Parteien findet den Grund in der Politik überhaupt,
sondern jede vielmehr nur in der Politik ihrer Gegenpartei; von einer Reform
der Gesellschaft lassen sich beide Parteien nicht träumen.
Der entschiedenste Ausdruck der englischen Einsicht in den Pauperismus - wir sprechen immer von der Einsicht der englischen Bourgeoisie und
26 Marx/Engels, Werke, Bd. I
Regierung - ist die englische Nationalökonomie, d.h. die wissenschaftliche
Widerspiegelung der englischen nationalökonomischen Zustände.
Einer der besten und berühmtesten englischen Nationalökonomen, der
die gegenwärtigen Verhältnisse kennt und eine Gesamtanschauung von der
Bewegung der bürgerlichen Gesellschaft besitzen muß, ein Schüler des zynischen Ricardo, MacCulloch, wagt noch in einer öffentlichen Vorlesung und
wagt es unter Beifallsbezeugungen, auf die Nationalökonomie anzuwenden,
was Baco von der Philosophie sagt:
„Der Mensch, welcher mit wahrer und unermüdlicher Weisheit sein Urteil suspendiert, stufenweise vorwärtsschreitet, eines der Hindernisse, welche wie Berge den
Gang des Studiums aufhalten, nach dem andern überwindet, wird mit der Zeit den
Gipfel der Wissenschaft erreichen, wo man der Ruhe und einer reinen Luft genießt,
wo die Natur sich dem Auge in ihrer ganzen Schönheit darbietet, und von w o man,
vermittelst eines bequem gesenkten Pfades, zu den letzten Details der Praxis herabsteigen kann."1164-1
Gute reine Luft die Pestatmosphäre der englischen Kellerwohnungen!
Große Naturschönheit die phantastische Lumpenkleidung der englischen
Armen und das welke, zusammengeschrumpfte Fleisch der Weiber, die von
Arbeit und Elend verzehrt sind; die Kinder, die auf dem Mist liegen; die
Mißgeburten, welche die Überarbeitung in der einförmigen Mechanik der
Fabriken erzeugt! Allerliebste letzte Details der Praxis: die Prostitution, der
Mord und der Galgen!
Selbst der Teil der englischen Bourgeoisie, der von der Gefahr des Pauperismus durchdrungen ist, faßt diese Gefahr, wie die Mittel zur Abhülfe,
in einer nicht nur partikulären, sondern, um es ohne Umschweife zu sagen,
kindischen und albernen Weise auf.
So reduziert z. B. der Dr. Kay in seiner Broschüre „Recent measures
for the promotion of education in England" alles auf die vernachlässigte
Erziehung. Man errate, aus welchem Grunde! Aus Mangel an Erziehung
sehe nämlich der Arbeiter die „natürlichen Gesetze des Handels" nicht ein,
Gesetze, die ihn notwendig auf den Pauperismus herabbringen. Darum lehne
er sich auf. Das könne „die Prosperität der englischen Manufakturen und
des englischen Handels genieren, das wechselseitige Vertrauen der Geschäftsleute erschüttern, die Stabilität der politischen und sozialen Institutionen
verringern".
So groß ist die Gedankenlosigkeit der englischen Bourgeoisie und ihrer
Presse über den Pauperismus, über diese Nationalepidemie Englands.
Gesetzt also, die Vorwürfe, die unser „Preuße" an die deutsche Gesellschaft richtet, seien begründet. Liegt der Grund in dem unpolitischen Zu-
stand Deutschlands? Aber wenn die Bourgeoisie des anpolitischen Deutschlands sich die allgemeine Bedeutung einer partiellen Not nicht zur Anschauung zu bringen weiß, so versteht es dagegen die Bourgeoisie des politischen Englands, die allgemeine Bedeutung einer universellen Not zu verkennen, einer Not, die ihre allgemeine Bedeutung teils durch die periodische
Wiederkehr in der Zeit, teils durch die Ausbreitung im Räume und teils
durch die Vereitlung aller Versuche zur Abhülfe zur Anschauung gebracht
hat.
Dem anpolitischen Zustand Deutschlands legt es der „Preuße" ferner zur
Last, wenn der König von Preußen in einem Verwaltungs- und Wohltätigkeitsmangel den Grund des Pauperismus findet und daher in Verwaltungs- und
Wohltätigkeitsmaßregeln die Mittel gegen den Pauperismus sucht.
Ist diese Anschauungsweise dem König von Preußen eigentümlich? Man
werfe einen raschen Blick auf England, das einzige Land, wo von einer
großen politischen Aktion auf den Pauperismus gesprochen Werden kann.
Die jetzige englische Armengesetzgebung datiert von dem Gesetz im
43. Akt der Regierung der Elisabeth.* Worin bestehen die Mittel dieser Gesetzgebung? In der Verpflichtung der Pfarreien zur Unterstützung ihrer
armen Arbeiter, in der Armentaxe, in der legalen Wohltätigkeit. Zwei Jahrhunderte hat diese Gesetzgebung - die Wohltätigkeit auf dem Wege der
Verwaltung - gedauert. Nach langen und schmerzlichen Erfahrungen, auf
welchem Standpunkte finden wir das Parlament in seiner Amendment Bill
von 1834U65J?
Zunächst erklärt es die fürchterliche Zunahme des Pauperismus aus einem
„Verwaltungsmangel".
Die Administration der Armentaxe, die aus Beamten der respektiven
Pfarreien bestand, wird daher reformiert. Man bildet Unionen von ungefähr
zwanzig Pfarreien, die in eine einzige Administration vereinigt sind. Ein
Büro von Beamten - Board of Guardians - , von Beamten, welche durch die
Steuerpflichtigen gewählt werden, versammelt sich an einem bestimmten
Tage in der Residenz der Union und entscheidet über die Zulässigkeit der
Unterstützung. Diese Büros werden gelenkt und überwacht von Abgeordneten der Regierung, der Zentral-Kommission von Somerset House cl66] , dem
Ministerium des Pauperismus, nach der treffenden Bezeichnung eines Franzosen1. Das Kapital, welches diese Administration überwacht, kommt fast
* E s i s t f ü r u n s e r n Zweck nicht nötig, bis zum Statut der Arbeiter unter Eduard III.
zurückzugehen.
1
Antoine-Eugene Buret
der Summe gleich, welche die Kriegsadministration in Frankreich kostet.
Die Zahl der Lokaladministrationen, welche sie beschäftigt, beläuft sich auf
500, und jede dieser Lokaladministrationen setzt wenigstens wieder zwölf
Beamte in Tätigkeit.
Das englische Parlament blieb nicht bei der formellen Reform der Administration stehen.
Die Hauptquelle des akuten Zustandes des englischen Pauperismus fand
es in dem Armengesetz selbst. Das legale Mittel gegen das soziale Gebrechen,
die Wohltätigkeit, begünstige das soziale Gebrechen. Was den Pauperismus
im allgemeinen betreffe, so sei er ein ewiges Naturgesetz, nach der Theorie
von Malthus:
„Da die Bevölkerung unaufhörlich die Subsistenzmittel zu überschreiten strebt,
so ist die Wohltätigkeit eine Narrheit, eine öffentliche Aufmunterung für das Elend.
Der Staat kann daher nichts tun, als das Elend seinem Schicksal überlassen, und höchstens den T o d der Elenden erleichtern."
Mit dieser menschenfreundlichen Theorie verbindet das englische Parlament die Ansicht, daß der Pauperismus das selbstverschuldete Elend der Arbeiter sei, dem man daher nicht als einem Unglück zuvorzukommen, das man
vielmehr als ein Verbrechen zu unterdrücken, zu bestrafen habe.
So entstand das Regime der Workhouses, d. h. der Armenhäuser, deren
innere Einrichtung die Elenden abschreckt, eine Zuflucht vor dem Hungertod zu suchen. In den Workhouses ist die Wohltätigkeit sinnreich verflochten
mit der Rache der Bourgeoisie an dem Elenden, der an ihre Wohltätigkeit
appelliert.
England hat also