Vorwort 9 Goethe, Faust und die Aufklärung. Zur Klärung einiger
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Vorwort 9 Goethe, Faust und die Aufklärung. Zur Klärung einiger
I N HA LT Vorwort 9 Goethe, Faust und die Aufklärung. Zur Klärung einiger zentraler Begriffe 13 Marschländer vor Sandgebirge? Zu Fausts letzter Vision 37 Der Dichter als Kunstrichter. Zu Schillers Rezensionsstrategie 47 Denken in Bildern. Zu Schillers philosophischem Stil 67 Schiller: Die Dämonie der Natur und die Kehrseite des aufgeklärten Denkens 105 Schiller und Kleist 121 Ein Menschheitstraum ausgeträumt. Kleists Das Erdbeben in Chili und das Ende der Aufklärung 145 Kleists „schneller Stil“ Zur Modernität seines Schreibens 165 Heines verkannte „Aphorismen“ und „Fragmente“. Literarische Fehlurteile und Überlegungen zu deren Revision 187 Heines ‚Millennium‘ und Eichendorffs ‚alte schöne Zeit‘ 205 Eichendorff und die Aufklärung 231 Konstruierte Wirklichkeiten. Zu Eichendorffs Lyrik 253 „…immer fesselnde Lektüre, wenn auch viel Dekoration und die Gefühle überinszeniert.“ Zu Hebbels Tagebüchern 279 Fritz Reuter. Von der Aktualität eines Unzeitgemäßen 301 Verzeichnis der Erstveröffentlichungen 317 Seit mehr als fünfzig Jahren, seitdem der gerade 28jährige seinen ersten Aufsatz über die „Kategorie des Hermetischen“ im Zauberberg geschrieben hatte, gehören die Arbeiten Helmut Koopmanns zu den gewichtigsten Beiträgen der neueren deutschen Literaturwissenschaft. Es bedarf dazu nicht der Berufung auf die längst nicht mehr überschaubare Zahl, auf die imposante Breite ihrer Themenfelder oder auf die Weitläufigkeit ihrer Erscheinungsorte rund um den Globus – die Erlesenheit ihres sprachlichen Wohllauts und die unbestechliche Genauigkeit des aufklärerischen Blicks sichern ihnen einen Ehrenplatz in der Überlieferung. Ist gerade die Thomas Mann-Forschung ohne die Arbeiten Helmut Koopmanns nicht denkbar, – immer wieder wird seine Stimme als Autorität gehört und zitiert –, so sind andererseits die Horizonte seiner Arbeit so wenig absehbar wie die Reichhaltigkeit der Perspektiven, die von der Philosophie und der Rhetorik über die Geschichte bis in die Naturwissenschaft und Medizin reichen. Es gibt kaum ein Feld der Literatur nach der Aufklärung, in dem er nicht seine bahnenden Spuren gezogen hätte. Gelehrsamkeit ohne jede Schwerfälligkeit, eine Leichtigkeit, die souverän große Bögen zu spannen vermag, und eine Eleganz der Sprache, der man sich nicht entziehen kann – zahllose Leser und Hörer haben die Texte von Helmut Koopmann schätzen gelernt. So war es für diesmal, aus Anlaß eines Geburtstages, der Wunsch des Augsburger Lehrstuhls, den Jubilar, nach nunmehr zwei ehrenvollen Festgaben aus fremder Feder, selbst um die dauerhaften Gaben aus dem eigenen Bestand zu bitten, um in einem würdigen Band die besten seiner Aufsätze dem wiederholten Lesen zur Verfügung zu stellen. Helmut Koopmann, der den Augsburger Lehrstuhl für Neuere deutsche Literaturwissenschaft 27 Jahre lang innegehabt hat, entsprach der Bitte und hat die schwere Auswahl getroffen, gar die Artikel selbst redigiert, so daß die Ehrung nicht ohne Dank ausfällt, ein Dank, der dann nicht weniger den Verleger, den Reihenherausgeber, den guten Geist der Korrekturleserin und Helmut Koopmanns Sekretärin umfaßt. Möge daher die Leserin, möge der Leser durch die Wieder- oder Erstbegegnung mit diesen Kabinettstücken einer souverän verfahrenden Literaturwissenschaft erfahren, daß in diesem Buch der eigentlich zu Beschenkende selbst der Schenkende ist. Mathias Mayer V O RW O R T Die in diesem Band versammelten Aufsätze sind über nahezu vierzig Jahre hin entstanden. Was sie verbindet, ist das Nachfragen: ein Ungenügen an Feststellungen, die andere getroffen haben. Ist Goethe wirklich ein Aufklärer gewesen, dokumentiert sich das aufgeklärte Denken Goethes in Fausts Vision eines Gemeinwesens, wie man gesagt hat? Oder wird nicht vielmehr die Aufklärung bei Goethe diskreditiert, wird in Faust nicht gerade der Zweifel an der Aufklärung manifest? Und was hat es mit Fausts grandioser Schluß-Vision wirklich auf sich, als er am Ende das Geklirre der Spaten hört und meint, daß da am Rande des Gebirges ein Deich gebaut werde – lag die Gegend im Lande Nirgendwo, waren ostpreußische oder Bremer Unternehmungen Vorbilder, oder war „Erfahrung“ im eigentlichen Sinne mit im Spiel? Schiller hat man verübelt, daß er als Kritiker erbarmungslos über seine dichtenden Zeitgenossen, vor allem über Bürgers Gedichte, hergefallen war – aber was steht im Hintergrund seiner literarischen Todesurteile? Und stimmt es, was die bedeutende englische Germanistin Elizabeth M. Wilkinson über Schiller sagte: daß seine poetischen Bilder allenfalls illustrative Funktion hätten, niemals originell seien, nicht immer glücklich gewählt und selten aussagekräftig? Wie war es im übrigen um Schillers Naturverständnis bestellt? Die freundliche Idylle seines Spazierganges wird abgelöst durch Bilder einer chaotischen, zerstörerischen Natur – verabschiedet sich da die Aufklärung mit ihrer Vorstellung von „Naturzweckmäßigkeit“? Mehr noch. Vor einer Generation galten Schiller und Kleist als Gegensätze, wie es sie deutlicher nicht hätte geben können: da sei „Wesensfremdheit“ zu konstatieren. Stimmt das? Zwar hat Kleist zuweilen eine Erzählung einem Schillerschen Drama geradezu entgegengeschrieben, hat Untergangsvorstellungen, wie sie sich seit seinem Wallenstein finden, ganz bewußt korrigiert. Doch die Zahl der Gemeinsamkeiten ist groß. War Kleist noch das, was Schiller am Ende nicht mehr war, nämlich ein Aufklärer? Er hat den um sich greifenden Subjektivismus, hat private Glückseligkeit auf Kosten anderer in seiner Erzählung vom Erdbeben in Chili erbarmungslos angeprangert. Aber ist sein Schreibstil 10 Vorwort andererseits nicht außerordentlich modern, hat sich das Phänomen der Beschleunigung, um 1800 so auffällig geworden, bei ihm nicht bis in seine literarische Sprache niedergeschlagen? Auf Nachfrage ist auch anderes als Vorurteil zu revidieren. Dazu gehört die Annahme, daß Heines kleine Texte, seine sogenannte Gedanken und Einfälle allenfalls als „Vorstufen“ größerer Texte oder als Paralipomena zu bewerten seien. Aber sind sie nicht vielmehr aufklärerische Instrumente, Aphorismen in bester europäischer Tradition – und zugleich schon Dokumente einer neuen Icherfahrung? Mit Heine und Eichendorff ist das 19. Jahrhundert unübersehbar auf den Plan getreten. Sind die beiden Zeitgenossen Antipoden, wie man oft gemeint hat, oder verbindet sie nicht vielmehr ein utopisches Denken, wenn bei Heine vom „Millennium“ und bei Eichendorff von der „alten schönen Zeit“ die Rede ist, im Doppelsinn des Wortes „einst“? Eichendorff gilt gemeinhin als entschiedener Feind der Aufklärung – aber bedient nicht gerade er sich aufklärerischer Mittel wie der moralischen Erzählung und des Einsatzes von Bildern als Möglichkeiten einer allegorischen Verdeutlichung? Zeigen sich nicht bei ihm wie bei Kleist und Heine „Spiegelungen, Verwerfungen und Verlängerungen aufklärerischen Denkens nach der Aufklärung“ (Mathias Mayer)? Eben ihnen gelten in diesem Band einige Arbeiten. Andererseits ist gerade Eichendorffs scheinbar so erzromantische Lyrik zeichenhafte Weltkonstruktion, hat Züge des seriellen Kunstwerks, wirkt symbolistisch – er selbst ein ortloser Dichter, in der „Fremde“ lebend, in einer Moderne, die nur noch in Fragmenten darzustellen ist. Wie sollen wir ihn lesen? Das spätere 18. Jahrhundert als Epoche der endenden Aufklärung, die aber auch noch im 19. ihre Verteidiger gefunden hat – das 19. Jahrhundert als das Jahrhundert großer Einzelner mit ihren auffälligen Verschrobenheiten. Aber spiegelt sich in Hebbels Tagebüchern nur eine in sich eingekerkerte narzißtische Existenz, oder zeugen diese nicht vielmehr (auch) vom Grundwiderspruch des späteren 19. Jahrhunderts, das den Einzelnen als Teil des Ganzen sah und diesen zugleich im Gegensatz dazu? Und war Fritz Reuter wirklich nur ein Idyllen-Dichter mit einer Begabung für „witzige Pointen“, wie man gesagt hat, seine Literatur verengt zum Provinziellen hin? War nicht vielmehr auch er Vorreiter einer Moderne, der eine widerspruchsvolle Welt in doppelter, manchmal sogar in vielfacher Optik betrachtete? Dem wird hier nachgefragt. Vorwort 11 „Ich muß doch auch ein wenig darüber nachdenken. Nur Schade, daß ich nicht nachdenken kann, ohne mit der Feder in der Hand! Zwar was Schade! Ich denke nur zu meiner eigenen Belehrung. Befriedigen mich meine Gedanken am Ende: so zerreiße ich das Papier. Befriedigen sie mich nicht, so lasse ich es drucken“, schrieb Lessing einmal. Das möchte der Verfasser dieser Arbeiten auch gerne von seinen Essays gesagt haben. Sie muß man, wie sich versteht, aber ebenfalls Nachfragen aussetzen. Eben daraus lebt Literaturwissenschaft. Oder, um noch einmal Lessing zu zitieren: „Schreibt man denn nur darum, um immer Recht zu haben? Ich meine mich um die Wahrheit eben so verdient gemacht zu haben, wenn ich sie verfehle, mein Fehler aber die Ursache ist, daß sie ein anderer entdeckt, als wenn ich sie selbst entdecke.“ Ich habe sehr zu danken: Mathias Mayer, ohne den es dieses Buch nicht gäbe; Gisela Barth, ohne die alles nur Plan geblieben wäre; Eckhard Heftrich, der das Buch in seine Reihe Das Abendland. Forschungen zum europäischen Geistesleben aufgenommen hat; Vittorio Klostermann, in dessen Verlag das Buch erscheinen darf. Helmut Koopmann GOETHE, FAUST UND DIE A U FK LÄ RU N G Zur Klärung einiger zentraler Begriffe Sucht man in dem Registerband der vierzigbändigen Jubiläumsausgabe der Werke Goethes, die jahrzehntelang die einzige kommentierte Ausgabe der Goetheschen Werke war, nach dem Stichwort „Aufklärung“, sucht man vergeblich: der Begriff fehlt.1 Das besagt zunächst einmal, daß es dezidierte Äußerungen Goethes zu diesem wichtigsten Phänomen seines Jahrhunderts offenbar nicht gibt. Das ist mehr als auffällig. Sollte Goethe sich nicht zusammenhängend über die Aufklärung geäußert haben, obwohl sie in seiner Zeit ihren Höhepunkt erreichte? Er hat es nicht, und will man dennoch etwas über Goethes Verhältnis zur Aufklärung erfahren, ist man zunächst auf Nebenpfade angewiesen. Was sagt er etwa zu Kant? Auch hier sind die Hinweise spärlich. Wir kennen den ironisch-spöttischen Ton der Gedichte, wenn Goethe sich Kantische Grundanschauungen anverwandelt, um sich anschließend darüber lustig zu machen. „Raum und Zeit, ich empfind es, sind bloße Formen des Denkens“, heißt es im Xenien-Komplex.2 Aber diese Kantische Binsenwahrheit wird sofort parodistisch beiseite geschoben, wenn das Distichon fortfährt mit: „Da das Eckchen mit dir, Liebchen, unendlich mir scheint“ (I/1, S. 562). Goethes Spott traf auch die Kantianer. Unter den Sachen so gestohlen worden (mit dem Zusatz: Immanuel Kant spricht) findet sich ein boshaftes Xenion: „Sechzig Begriffe wurden mir neulich diebisch entwendet,/ Leicht sind sie kenntlich, es steht sauber mein I. K. darauf“ (I/1, S. 545). Spott auch über die Vernunftgläubigen im Distichon Übertreibung und Einseitigkeit: „Daß der Deutsche doch alles zu einem Äußersten treibet,/ Für Natur und Vernunft selbst, für die nüchterne schwärmt!“ (I/1, S. 601). Aber die spöttische Distanz ist nicht alles. Wenn Goethe in den Maximen und Reflexionen über Kunst feststellt: „Wer gegenwärtig über Kunst schreiben oder gar streiten will, Goethes Sämtliche Werke. Jubiläums-Ausgabe in 40 Bänden, Stuttgart/Berlin o. J. Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. 40 Bde., hg. von Friedmar Apel u. a., Frankfurt am Main 1987ff. (= FA). Im Folgenden Abteilungs-, Band- und Seitenzahl im Text. 1 2 14 Goethe, Faust und die Aufkärung der sollte einige Ahndung haben von dem, was die Philosophie in unsern Tagen geleistet hat und zu leisten fortfährt“ (I/13, S. 387), so enthält diese Bemerkung deutlich genug eine achtungsvolle Anerkennung der philosophischen Leistungen seiner Zeit. Er hat zustimmend, wenn auch sehr allgemein von der durch Kant begonnenen „großen philosophischen Bewegung“ gesprochen und „daß kein Gelehrter ungestraft“ diese „von sich abgewiesen, sich ihr widersetzt, sie verachtet habe“ (I/19, S. 202), und ähnlich hat er sich im Gespräch mit Eckermann am 11. 4. 1827 geäußert (II/2, S. 243). Alles in allem jedoch sind Goethes Äußerungen spärlich, weit entfernt von offener Zustimmung, und im übrigen stammen die wichtigsten Aussagen über seine Beziehung zu Kant aus der Spätzeit, sind also nicht unmittelbare Reflexe auf die Begegnung mit Kant in den frühen neunziger Jahren. Viel über Kant aber findet sich auch in den Schriften und Äußerungen der zwanziger Jahre nicht. Daß dem so ist, liegt nicht zuletzt an Goethes schwierigem, gespaltenem Verhältnis zur Philosophie überhaupt. Nichts ist entwaffnender als der erste Satz einer kleinen Schrift Einwirkung der neueren Philosophie von 1820: „Für Philosophie im eigentlichen Sinne hatte ich kein Organ, nur die fortdauernde Gegenwirkung womit ich der eindringenden Welt zu widerstehen und sie mir anzueignen genötigt war, mußte mich auf eine Methode führen, durch die ich die Meinungen der Philosophen, eben auch als wären es Gegenstände, zu fassen und mich daran auszubilden suchte“ (I/24, S. 442). Aus dieser Einstellung heraus wird denn auch nachträglich Kants Kritik der reinen Vernunft erwähnt. Goethes Kommentar: „sie lag aber völlig außerhalb meines Kreises“ (ebd., S. 443). Immerhin: eine Theorie habe ihn angelächelt, bekennt Goethe, aber ihm fiel in diesem Fall die Zustimmung nicht schwer; denn er sei, so sagt er, in seinem Denken ähnlich verfahren, „synthetisch und dann wieder analytisch“, und so habe sich ihm der Eingang ins Labyrinth jener „Kritik“ aufgetan – in dieses selbst aber habe er sich nicht wagen können, und die Begründung zeigt deutlich, woran das lag: „bald hinderte mich die Dichtungsgabe, bald der Menschenverstand und ich fühlte mich nirgend gebessert“ (ebd., S. 443). Kants Kritik der Urteilskraft bekam zwar etwas mehr Zustimmung; Goethe schreibt sogar von einer „höchst frohen Lebensepoche“, die er dieser Kritik verdanke (ebd., S. 444). Aber zu lernen war auch da nicht viel. Noch schlechter erging es ihm mit den Kantianern, denen er sich zeitweise wenigstens wohl anzunähern versuchte. Das Ergebnis Goethe, Faust und die Aufkärung 15 war mager: „sie hörten mich wohl, konnten mir aber nichts erwidern, noch irgend förderlich sein“ (ebd., S. 443). Eine wirkliche Wahlverwandtschaft zeichnete sich nicht ab; und am Ende war es nur eine Bestätigung eigener Gedanken, die Goethe in den Kantischen Schriften fand, zumal er Kunst und Natur hier vereinigt zu finden meinte. Im Grunde genommen aber war Goethe nie bereit gewesen, sich auf die Kantische Philosophie einzulassen, und so fand er sich schnell von Kant bestätigt, ohne ihn ernsthaft studiert oder gar verstanden zu haben. Hier und da finden sich zwar Spuren einer Auseinandersetzung mit dem Philosophen gerade dort, wo dessen Name nicht fällt. Der Forschung ist schon früh aufgefallen, daß die große Rede Wilhelm Meisters über den Sternenhimmel, an den Astronomen gerichtet, in auffälliger Nähe zu Kants Betrachtungen über den Sternenhimmel am Schluß der Kritik der praktischen Vernunft steht (I/10, S. 384f.). Dennoch wäre es irrig, von dieser offenbar zustimmenden Paraphrase Kantischer Ideen auf eine generell wohlwollende Aufnahme der Kritiken, hier insbesondere der Kritik der Urteilskraft schließen zu wollen. In seinen spärlichen theoretischen Äußerungen zu Kant findet sich letztlich nur wenig Zustimmendes: zum Sittengesetz, zur Identität von Natur und Kunst, zum Organismusbegriff. Von der Kantischen Selbstbestimmungsidee hielt Goethe offenbar nicht allzuviel. Alles in allem wird man sagen dürfen, daß Goethes Verhältnis zur Aufklärung zurückhaltend und gelegentlich sogar nicht frei war von grundsätzlicher Kritik. Niemand wird heute ernsthaft behaupten, was in den Weimarer Beiträgen 1963 zu lesen war: „Die Aufklärung, in manchen Zügen auch die philosophische Revolution in Deutschland, hat in Goethe ihre höchste Stufe und Vollendung erreicht“.3 Man könnte meinen, daß es sich bei diesem Trompetenstoß um eine Siegesmeldung aus der früheren DDR gehandelt habe, der auf westlicher Seite nichts entsprochen habe. Aber auch 1990 konnte man lesen: Aufklärerisches Denken ist bei Goethe fast auf jeder Seite seines Werks mit Händen zu greifen. Selbst einem Leser, der vom Denken des 18. Jahrhunderts nur eine schemenhafte Vorstellung hätte und mit dem Begriff der Aufklärung 3 Helmut Holtzhauer: Aufklärung, Kunst und „Faust“. Der Übergang vom ersten zum zweiten Teil der Tragödie, in: Weimarer Beiträge 9, 1961, H. 1 und 2, S. 275-294, hier S. 293. 16 Goethe, Faust und die Aufkärung nicht mehr als die populär gewordene Religions- und Gesellschaftskritik zu verbinden möchte, müßte das eigentlich jederzeit in die Augen springen. 4 Der Verfasser dieser Studie betont ausdrücklich, daß Goethe zeit seines Lebens „ein entschiedener Verfechter der aufklärerischen ‚Gefühlsethik‘ gewesen“ sei,5 und stellt rigoros fest: „Goethes literarische Arbeit wurzelt im aufklärerischen Denken des 18. Jahrhunderts und hat dieses ihr Fundament nie verlassen“.6 Und flankierend: Ebensowenig wie beim jungen Goethe kann beim klassischen von einem Abrücken von der Aufklärung und ihren westlichen Protagonisten die Rede sein, wie es die ältere Literarhistorie gleich aus zwei Gründen, dem Antikeerlebnis der Italienischen Reise und der Erfahrung der Französischen Revolution, eintreten und in jene Kunstdoktrin einmünden sieht, in der sich die Vorstellung von der Autonomie der Kunst mit einem klassizistischen Stil- und Formideal sowie dem Programm einer ästhetischen Bildung verbinden soll.7 Auf die verwunderte Frage, wie es nun dazu habe kommen können, „daß ein Autor, in dessen Werk sich das Aufklärerische fast auf jeder Seite mit Händen greifen läßt, in den Augen der Nachgeborenen zu einem Gegner, ja zu einem Überwinder der Aufklärung schlechthin geworden ist“,8 hat der Verfasser als Antwort nur anzubieten, daß der nationale Gedanke des 19. Jahrhunderts das Bild vom Aufklärer derart geschwärzt habe, daß am Ende ein Gegenaufklärer darin zu erkennen gewesen sei. Zum Beleg für die These, daß aufklärerisches Denken bei Goethe auf jeder Seite zu greifen ist, nennt der Autor auch Goethes Faust, und Beweismittel ist die Vorstellung Fausts, „auf freiem Grund mit freiem Volk zu stehen“, also Fausts Vision eines Gemeinwesens, in dem der monarchische Wille vom „Gemeindrang“, der volonté générale ersetzt worden sei; der Entwicklungsgang Fausts zeige, daß „Freiheit“ und „Gleichheit“ das „Recht der Menschen“ sei, „das allen gemein ist“: in diesen Vorstellungen dokumentiere sich das aufgeklärte Denken Goethes wie sonst nirgendwo. Erstaunlich, daß solche Äußerungen noch 1990 getan wurden, daß man nicht sah, wie stark Goethe bestimmte Fehlleistungen und Fehl4 Gottfried Willems: Goethe – ein „Überwinder der Aufklärung“? Thesen zur Revision des Klassik-Bildes, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift NF 40, 1990, S. 22-40, hier S. 23. 5 Ebd., S. 31. 6 Ebd. 7 Ebd., S. 33f. 8 Ebd., S. 24f. Goethe, Faust und die Aufkärung 17 entwicklungen der Aufklärung kritisiert hat. Fünf Jahre zuvor hatte ein Historiker geschrieben: Goethe hat die Wörter ‚Aufklärung‘, ‚aufklären‘, ‚aufgeklärt‘ selten gebraucht. Vermutlich auch deshalb, weil die Aufklärer sie ständig als Schlag- und Programmwörter verwendeten und ihrer Zeit als Markenzeichen anhefteten. Diese Inanspruchnahme des Zeitgeistes, die pathetische Sinngebung auch trivialen Tuns als ‚Aufklärung‘ war ihm zuwider. Mit ihrem selbstverliehenen anspruchsvollen Namen, mit der räsonierenden Geschäftigkeit und dem intoleranten Nützlichkeits- und Beglückungseifer ihrer Adepten hat die Aufklärung selber Widerspruch und Spott herausgefordert und mit ihrem Programm allgemeiner Kritik unvermeidlich die kritische Frage nach ihren Ergebnissen provoziert. Nicht nur Goethe hat von ‚sogenannter Aufklärung‘ gesprochen. 9 Von einer ungebrochenen Zustimmung zur Aufklärung kann man in der Tat nicht reden – freilich auch nicht nur von ironischer Kritik. Auf jeden Fall wird man sagen dürfen, daß Goethes Verhältnis zur Aufklärung problematisch war, jedenfalls alles andere als von ungehemmter Zustimmung, und es ist Goethes Faust, in dem sich das Problematische dieses Verhältnisses so deutlich abzeichnet, daß auch von daher gesehen jener Satz „Aufklärerisches Denken ist bei Goethe fast auf jeder Seite seines Werks mit Händen zu greifen“ höchst fragwürdig ist. Das gilt um so mehr, als man schon vorher mit Recht festgestellt hatte: „Welchen Einfluß die Aufklärung auf Goethes Lebensweg und Bildungsgang gehabt hat, läßt sich im einzelnen kaum mit Sicherheit ausmachen“.10 Wir wollen versuchen, die Frage nach dem Verhältnis Goethes zur Aufklärung noch einmal zu stellen, wollen uns dabei aber auf Goethes Faust beschränken, genauer: auf die Anfänge des Dramas, in denen eine bestimmte Form der Aufklärung einer fast schrankenlosen Kritik unterworfen wird – auch wenn gelegentlich gesagt worden ist, daß es „eine explizite Auseinandersetzung mit der Aufklärung“ bei Goethe nicht gegeben habe.11 Zu sagen, daß aufklärerisches Denken bei Goethe fast auf jeder Seite seines Werkes mit Händen zu greifen sei,12 ist übertrieben; zu behaup9 Rudolf Vierhaus: Goethe und die Aufklärung, in: Allerhand Goethe. Seine wissenschaftliche Sendung aus Anlaß des 150. Todestages und des 50. Namenstages der Johann Wolfgang-GoetheUniversität in Frankfurt am Main, Frankfurt am Main 1985, S. 11-29, hier S. 22f. 10 Ebd., S. 16. 11 So Rudolf Vierhaus in seinem grundsätzlichen Artikel über Aufklärung, in: Goethe-Handbuch, Bd. 4/1, Stuttgart/Weimar 1998, S. 85-88, hier S. 88. 12 Willems (wie Anm. 4), S. 23. 18 Goethe, Faust und die Aufkärung ten, daß Goethes literarische Arbeit im aufklärerischen Denken des 18. Jahrhunderts verwurzelt sei und daß er dieses ihr Fundament nie verlassen habe,13 ist schlechterdings falsch. Goethes Aufklärungsbedenken treten schon im „Prolog im Himmel“ deutlich genug zutage. Es ist Mephistopheles, der das aus der Sicht der Aufklärer einzigartige Wunderwerk der Schöpfung, den Menschen, nicht in seiner Gloriole, sondern in seiner Beschränktheit sieht: Der kleine Gott der Welt bleibt stets von gleichem Schlag, Und ist so wunderlich als wie am ersten Tag. Ein wenig besser würd’ er leben, Hätt’st du ihm nicht den Schein des Himmelslichts gegeben; Er nennt’s Vernunft und braucht’s allein, Nur tierischer als jedes Tier zu sein. (V. 281ff.) Die Formulierung vom „kleinen Gott der Welt“ ist offensichtlich aus Leibniz’ Théodicée entnommen, nach dessen „un petit Dieu“.14 Aber hier ist daraus nicht nur eine sarkastische Kritik an der Krone der Schöpfung geworden, Goethe scheint überhaupt Bezug zu nehmen auf die aufklärerische Anthropologie. Vermutlich steht hinter diesen Zeilen jedoch auch ein Zitat aus Albrecht von Hallers Gedicht Gedanken über Vernunft, Aberglauben und Unglauben, wo nicht nur vom Menschen als „Mittel-Ding von Engel und von Vieh“ die Rede ist, sondern wo auch der Satz steht: „Du prahlst mit der Vernunft und Du gebrauchst sie nie“.15 Der Satz des Mephistopheles scheint eine nur zu deutliche Replik, eine wörtliche Anspielung auf jene Zeile aus Hallers Gedicht „Er nennt’s Vernunft und braucht’s allein“ (V. 285) zu sein. Aber mehr als das: Mephistopheles kehrt die alte Rangordnung des Menschen, wie sie uns in Hallers Gedicht begegnet, einfach um, indem er den Menschen als noch tierischer als jedes Tier bezeichnet; und er kehrt damit eine Rangordnung um, die sich sogar schon bei Pascal findet, bei dem es heißt: „L’homme n’est ni ange ni bête et le malheur veut que qui veut Ebd., S. 31. Leibniz: Essais de Théodicée 2, Paragraph 147. Vgl. den neuesten Kommentar zu Goethes Faust von Albrecht Schöne: Johann Wolfgang Goethe. Faust. Kommentare, Frankfurt am Main 1994, S. 169. 15 V. 17. 13 14 Goethe, Faust und die Aufkärung 19 faire l’ange fait la bête“:16 der Mensch ist weder Engel noch Tier, und das Dumme ist, daß der, der den Engel spielen will, zum Tier wird. Die Aufklärungskritik ist nicht zu überhören. Wenn Mephistopheles die Vernunft als „Schein des Himmelslichts“ deutet, so ist damit die menschliche Vernunft zwar als Abbild der göttlichen beschrieben. Aber ihr hoher Rang wird durch den Vernunftgebrauch verletzt: die Aufklärung hat die Vernunft, die göttlichen Ursprungs ist, geradezu mißhandelt. Ein wenig deutet sich in diesen Versen aus dem „Prolog im Himmel“ also schon an, was uns auch der Anfang des Faust bestätigen wird: von einer aufgeklärten, aufklärerischen Grundhaltung kann nicht die Rede sein, dafür aber um so mehr von Zweifel und Skepsis an dem, was sich als Aufklärung im 18. Jahrhundert ausgegeben hat. Es geht bei alledem nicht um Einzelheiten. Wenn schon im „Prolog im Himmel“ die aufklärerische Selbstüberschätzung als falscher Gebrauch der Vernunft angeprangert wird, so sind, mit anderen Worten, nicht die Möglichkeiten, sondern die Grenzen der Vernunft aufgezeigt; es ist Aufklärungsskepsis, die sich hier breitmacht. Sie findet sich auch noch an einer anderen Stelle des „Prologs im Himmel“, in dem sprichwörtlich gewordenen „Es irrt der Mensch so lang’ er strebt“ (V. 317). Ein Faust-Kommentar macht aus dem temporalen Bezug einen kausalen: der Mensch irrt, weil er strebt. So erscheint „Irren“ geradezu als zwangsläufige Folge allen Strebens; das läuft aber auf eine Verfälschung eines an sich so unproblematischen wie eindeutigen Textes hinaus, denn der besagt nur, daß der Mensch aus seinem Irrtum nicht herauskommen werde. Anders gesagt: das Irren, der Irrtum ist dem Menschen nicht nur ein- und aufgegeben, er vermag dem Irrtum auch nie und nimmer zu entfliehen. „Streben“ hat hier offensichtlich keinen besonderen Nebensinn, heißt einfach, daß der Mensch lebt, tätig ist. Eigentlich geht es nicht um eine allgemeine Lebensweisheit, sondern um die Widerlegung eines aufklärerischen Glaubenssatzes: daß der Irrtum produktiv sein könne, zur Erkenntnis zu führen vermöge. Für das aufklärerische Denken war der Irrtum gleichsam nur ein Stolperstein auf dem Wege zur Wahrheit, an deren Erkenntnismöglichkeit kein Aufklärer zweifelte. Dem „Irren“ ist in diesem Satz aber nicht die geringste Erkenntnisqualität zugesprochen. Bei Lessing las 16 Pensées sect. VI 358. Schöne verweist auf die Bibel (1. Mose 2, 9ff.) und auf Herders Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit (S. 169f.). 20 Goethe, Faust und die Aufkärung sich das noch anders: Irren und Fehler waren durchaus Erkenntnisinstrumente. „Schreibt man denn nur darum, um immer Recht zu haben? Ich meine mich um die Wahrheit eben so verdient gemacht zu haben, wenn ich sie verfehle, mein Fehler aber die Ursache ist, daß sie ein anderer entdeckt, als wenn ich sie selbst entdecke“, schrieb Lessing.17 Bei ihm ist die Wahrheit nicht unmittelbar zugänglich, Wahrheit ist, wie man gesagt hat, „für ihn ein prozessuales Phänomen“.18 Aber niemals und nirgendwo bei Lessing ein Zweifel, daß die Wahrheit sich vielleicht auf ewig verhülle oder eben nicht ans Licht kommen könne; „Streben“ ist bei ihm identisch mit einem steten Sich-Annähern an die Wahrheit. Bei Goethe wird das hingegen schlechterdings geleugnet, ist Wahrheit als Ziel menschlichen Strebens nicht vorgesehen. Diesmal ist es nicht Mephistopheles, der so spricht, sondern „der Herr“; und so etwas wie der „Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“19 wird hier gar nicht erst erwogen. Der Mensch bleibt im Irrtum, nicht, weil er strebt, sondern obwohl er strebt. Irrtum gehört zur conditio humana, nicht die Befreiung daraus – das alles lehrt der „Prolog im Himmel“, und das läßt bereits Goethes kritische Haltung einer optimistischen, zukunftsgläubigen Aufklärung gegenüber erkennen. Kurz zuvor klang es bei Goethe zwar noch freundlicher; 1796 schrieb er in einem Xenion: „Irrtum verläßt uns nie; doch ziehet ein höher Bedürfnis/ Immer den strebenden Geist leise zur Wahrheit hinan“ (I/2, S. 243). Um 1800, als der „Prolog im Himmel“ entstand, war jedoch von der leisen Bewegung zur Wahrheit keine Rede mehr. Aber auch schon 1796 war es nicht die Vernunft, sondern „ein höher Bedürfnis“, also eine im Menschen liegende sub- bzw. suprarationale Kraft, die den Weg zur Wahrheit bahnte. Der Irrtum war offenbar der Vernunft vorbehalten. Vier Jahre später liest man, daß bei aller Vernünftelei am Ende immer und überall nur der Irrtum herrsche. Das ist nicht nur ein Prolog im Himmel, es ist auch ein Prolog zum Verständnis des Folgenden, eine Einführung in den Geist des Dramas, genauer: in ein Stück, das mit so viel Vorbehalten gegen die Aufklärung, Werke […], hg. von Herbert G. Göpfert, München 1970-1979, Bd. 6, S. 379. Hans-Georg Werner: Der Streit und die Toleranz bei Lessing, in: Formen und Formgeschichte des Streitens. Der Literaturstreit, hg. von Franz Josef Worstbrock, Helmut Koopmann, Tübingen 1986, S. 155 […] [= Akten des VII. Internationalen GermanistenKongresses, Göttingen 1985, Bd. 2]. 19 Immanuel Kant: Werke in sechs Bänden, hg. von Wilhelm Weischedel, Bd. VI, Darmstadt 1964, S. 53. 17 18 Goethe, Faust und die Aufkärung 21 gegen die Rationalität ausgestattet ist. Die erste Szene ist mit „Nacht“ überschrieben, und der Anfang lautet: Habe nun, ach! Philosophie, Juristerei und Medizin, Und leider auch Theologie! Durchaus studiert, mit heißem Bemühn. Da steh’ ich nun, ich armer Tor! Und bin so klug als wie zuvor; Heiße Magister, heiße Doktor gar, Und ziehe schon an die zehen Jahr, Herauf, herab und quer und krumm, Meine Schüler an der Nase herum – Und sehe, daß wir nichts wissen können! (V. 354ff.) Faust-Kommentare neigen dazu, den Anfang des Dramas – und nur mit ihm wollen wir uns beschäftigen – entweder als existentielle Aussage zu nehmen oder als Ausdruck jugendlichen Aufbegehrens gegen das Überkommene. Der erstere der beiden Standpunkte repräsentiert die ältere Faust-Deutung; wir lesen etwa im Faust-Kommentar der Hamburger Ausgabe: Der Überdruß des geistigen Menschen, der überall die Grenzen seiner Fähigkeiten erkennt, ergibt schon bei Marlowe den großartigen Anfangsmonolog, ebenfalls im Volksdrama; bei Goethe – schon im ‚Urfaust‘ – ist das Motiv zur vollen Entfaltung gebracht. Die große Sehnsucht nach Erfassen der Welt – Denken, Schau und Schauder zugleich – war die Haltung der Pansophie und Naturmystik von Paracelsus über Kepler und Böhme bis zu Welling und Swedenborg, man suchte die Weltharmonik und die ‚semina rerum‘ […]; vieles in Fausts Sprache hier und im Folgenden klingt ganz nach dem 16. und 17. Jahrhundert; und doch zugleich völlig anders; denn diese Sprache der Innerlichkeit war jener Zeit noch nicht gegeben, und wie der innere Sturm hier dichterisch Form wird, gilt seit je mit Recht als eine der größten Leistungen der Weltliteratur.20 Das ist die Sprache der Germanistik am Ende der 40er Jahre; sie zeichnet sich ebenso durch Pathetik wie durch Ungenauigkeit aus. Das Entscheidende wird vernebelt, wenn vom „Überdruß des geistigen Menschen, der überall die Grenzen seiner Fähigkeiten erkennt“, die Rede ist 20 Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, Bd. 3: Dramatische Dichtungen, 1. Bd., hg. und mit Anmerkungen versehen von Erich Trunz, Hamburg 1949 u. ö., S. 495. 22 Goethe, Faust und die Aufkärung oder von einem „inneren Sturm“. Ein allgemeines menschliches Unbehagen über die Grenzen seiner Fähigkeiten verbindet sich mit einer Argumentation aus der Literaturgeschichte: die Sprache der Innerlichkeit, das sei die Sprache der Empfindsamkeit oder vielleicht auch noch die Sprache des Sturm und Drang; beides zusammen, also die Einsicht in die mentalen Grenzen und der Überschuß an Gefühlen zeichne sich in dieser Eingangsszene ab. Das ist so allgemein, daß es unglaubhaft wird. Wie sieht die neuere Forschung diese erste Szene? Wir lesen in dem neuesten Kommentar von 1994, daß es sich um „Ausbruchsversuche ins Helle und Weite“ handle, „die Faust hier unternimmt […]. Die euphorischen Aufschwünge und tiefen Abstürze dieser Ikarusflüge, die hochemotionalen Stimmungsumschläge dieser hier geradezu manisch-depressiv anmutenden Figur bilden sich gleichermaßen im Wortlaut ihrer Verse wie in deren jäh wechselnder metrischer Verfassung ab“.21 Das ist allerdings noch vager als das, was man in dem älteren Kommentar lesen konnte – wie sollen wir uns die Ausbruchsversuche „ins Helle und Weite“ vorstellen? Auch hier kommt der Sturm und Drang ins Spiel, mehr sogar noch als etwa die Empfindsamkeit, die sich bei jenem früheren Kommentar in der Sprache der Innerlichkeit äußert und die hier nun gar nicht mehr erscheint. Wir lesen weiter: Wohl erscheint Faust mit seiner enttäuschten, verzweifelten Abkehr von aller Schulwissenschaft, seinem Ausstieg aus der akademischen Lehre, seiner Hinwendung zur ‚alternativen Wissenschaft‘ der Magie als eine Identifikationsfigur: als Wortführer einer Generation (jeder Generation), die sich der lebendigen Natur entfremdet und von einer unmittelbaren Erfahrung des Lebens ausgeschlossen fühlt; die, um die Menschen zu bessern und zu bekehren, aus erstickendem Urväter Hausrat und steriler Gelehrsamkeit, aus einem in Konvention erstarrten, verkürzten Leben auszubrechen sucht ins Ganze, Große und Wahre. 22 Doch spricht aus Faust ein Generationsprotest? Oder gar der Protest jeder Generation? Damit wird Faust hier ebenfalls unversehens zur Menschheitsdichtung, sozusagen zur Bibel einer immer wieder neu in Erscheinung tretenden alternativen Bewegung. Noch fragwürdiger will uns der Hinweis auf den Ausbruch auf einem „in Konvention erstarrten, verkürzten Leben“ erscheinen. Was heißt das? Was ist ein „ver21 22 Schöne (wie Anm. 14), S. 207. Ebd. Goethe, Faust und die Aufkärung 23 kürztes Leben“? Natürlich ist das nicht im temporalen Sinne gemeint, sondern im Sinne einer Lebensverarmung. Aber soll als Antwort darauf der Ausbruch erfolgen „ins Ganze, Große und Wahre“? Will man die Nacht-Szene des Anfangs angemessen verstehen, kommt man nicht umhin, sich zu fragen, ob Goethe nicht an etwas Naheliegenderes gedacht habe als an euphorische Aufschwünge. Was ist tatsächlich gemeint, wenn Faust sieht, „daß wir nichts wissen können!“? Ist es ganz allgemein die „Schulweisheit“ schlechthin, die „akademische Lehre“, und klingt das, was Faust sagt, tatsächlich nach einer „alternativen Wissenschaft“, der Magie? Von einer „alternativen Wissenschaft“ ist hier mit keinem einzigen Wort die Rede, nur davon, „daß wir nichts wissen können“, und Faust erklärt seine Hinwendung zur Magie damit, „daß ich nicht mehr, mit sauerm Schweiß,/ Zu sagen brauche was ich nicht weiß“ (V. 380f.). Man kann darin durchaus die Abkehr von der Aufklärung manifestiert sehen, also von einem Aufklärungswissen, das nicht weit genug reicht. Die hohen Schulen, Zentren der Aufklärung, werden in ihrer Unzulänglichkeit bloßgestellt, das Erziehungswesen nicht weniger. Noch einmal ist vom Wissen die Rede, genauer: vom „Wissensqualm“ (V. 396), und im Verlauf der langen Rede wird auch deutlich, wer die Konkurrenz zu den hohen Schulen und zum Bücherwissen ist: die Natur (V. 423). Natürlich ist Fausts Verlangen nach Erkenntnis, seine Kritik an den hohen Schulen zeitlich in die frühe Neuzeit zu lokalisieren, ist sein Versuch, durch Magie zu Erkenntnis zu gelangen, ein renaissancehafter Zug. Aber der Monolog hat wie so manches seinen direkten Doppelsinn, ist auch unmittelbare Zeitkritik. Wie sehr, wird mit dem Auftritt Wagners deutlich, der mit seinen Eingangsworten („Verzeiht! ich hör’ euch deklamieren;/ Ihr las’t gewiß ein griechisch Trauerspiel?“ (V. 522ff.) nicht nur die Vorlesegewohnheiten des 18. Jahrhunderts im Sinn hat, sondern der – das ist natürlich seit langem bekannt – mit seinen Worten: „Ich hab’ es öfters rühmen hören,/ Ein Komödiant könnt’ einen Pfarrer lehren“ auch auf den Theologen Karl Friedrich Bahrdt anspielt, der als aufgeklärter Gottesmann gefordert hatte, die Schauspieler sollten den angehenden Pfarrern Unterricht im Predigen erteilen. Goethe hatte sich über Bahrdt schon 1774 in seinem Prolog zu den neuesten Offenbarungen Gottes, Verteutscht durch Dr. Carl Friedrich Bahrdt lustig gemacht. Übrigens sitzt in diesem Prolog Bahrdt ganz ähnlich wie Faust in der Eingangsszene „am Pulten“. (I/4, S. 439) Eigentlich sollte 24 Goethe, Faust und die Aufkärung ein solcher Hinweis auf Zeitgenössisches hellhörig machen, und zu diesen Hinweisen gehört auch der auf das Rhetorische – es ist die frühaufklärerische Gottsched-Welt, die sich dahinter verbirgt, und Faust kritisiert sie mit den Worten: „Wenn ihr’s nicht fühlt, ihr werdet’s nicht erjagen“ (V. 534). Im neuesten Kommentar kann man dazu die Erklärung finden, daß Faust hier auf „die Genieästhetik eines affektischen, spontanen, inspirierten Sprechens“ setze.23 Aber man muß das gar nicht so literaturhistorisch verstehen. Hier ist, um ein Begriffspaar des 18. Jahrhunderts zu gebrauchen, das Herz gegen den Kopf aufgerufen, mit anderen Worten: ein zu Erkenntnis befähigtes Organ gegen eines, das diese nur in unzureichender Form vermitteln kann. Wagner, der Famulus, der Faust in seinen Betrachtungen und seinem Gespräch mit dem Geist so nachhaltig stört, liefert noch mehr an Aufklärungskritik. Wenn ihm bei seinem „kritischen Bestreben“ (V. 560) so oft um Kopf und Busen bang wird, dann ist daran zu erinnern, daß der Begriff „Kritik“ zu den Kernbegriffen der Aufklärung gehört – nicht zufällig ist Gottscheds poetologische Hauptschrift mit Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen überschrieben. „Kritik“ ist eines der Schlüsselworte der Aufklärung, es findet sich in zahlreichen Titeln – etwa bei Gottsched in seinen Bemühungen zur Beförderung der Critik und des guten Geschmacks von 1743, in Johann Jacob Bodmers Critischen Betrachtungen über die Poetischen Gemählde der Dichter von 1741 und vielfach noch anderswo. Der Criticus ist der gelehrte Zensor, wie er schon in Shaftesburys Bemerkungen über den Critick von 1727 vorkommt.24 Der Kritiker gründet seine Anschauungen auf philosophische Einsichten, er ist das Sprachrohr der Vernunft, das die Dichtung kontrolliert. Wenn Wagner von seinem „kritischen Bestreben“ spricht, dann nennt er damit eines der Hauptworte der Aufklärung, spricht also von seinen philosophischen Bemühungen einer auf Verstandesgrundsätzen beruhenden Erkenntnis. Der neueste Kommentar zu dem „kritischen Bestreben“ merkt an: „Der Philologe Wagner hat die von den RenaissanceHumanisten betriebene Erfassung und textkritische Reinigung antiker Handschriften im Auge und meint Sprachkenntnisse, histor. Hilfswissenschaften etc. als die Mittel, zu diesen Quellen der Bildung und Erziehung zu gelangen“.25 Aber hier sind mit Quellen nicht Quellen im phi23 24 25 Schöne (wie Anm. 14), S. 221. Characteristicks of Men, Opinions, Times: Advice to an Author, 1727, S. 231. Schöne (wie Anm. 14), S. 222. Goethe, Faust und die Aufkärung 25 lologischen Sinne gemeint, sondern die Gründe der Erkenntnis schlechthin, und das kritische Bestreben hat mit Textkritik im germanistischen Verständnis nichts zu tun. Es ist nicht unsere Aufgabe, fragwürdige Stellen der aktuellen Goethe-Kommentierung zu berichtigen; deren Verdienste sind so groß, daß diese punktuelle Kritik den Wert des Kommentars keinesfalls mindert. Aber es geht um ein vielleicht angemesseneres Verständnis, was Goethes Kritik am Aufklärungsbegriff betrifft, und wir finden dafür in Faust noch weitere Belege. Wagner, in Schönes Kommentar lustigerweise als „eine Art Vorläufer der student. Hilfskraft, freilich mit weitergehenden Rechten und Pflichten“ bezeichnet“,26 versucht, dem Meister zu folgen und sagt: Verzeiht! es ist ein groß Ergetzen Sich in den Geist der Zeiten zu versetzen, Zu schauen wie vor uns ein weiser Mann gedacht, Und wie wir’s dann zuletzt so herrlich weit gebracht. (V. 570ff.) Im neuesten Kommentar, 1100 Seiten stark, findet sich hierzu nur die Bemerkung: „Den Geist der Zeiten bedenkend, verfällt er ins altertümliche Versmaß des Alexandriners.“27 Aber es geht um weit mehr: wiederum um Aufklärungskritik. Wagner, Sprachrohr der Aufklärung, karikiert sich ungewollt aufs schönste: nicht nur, daß hier der Glaube an die Richtigkeit der Tradition, das Vorbildhafte der Überlieferung, an die Ehrwürdigkeit des Exemplums aufs Korn genommen wird – hier, in dem „wie wir’s dann so herrlich weit gebracht“, wird der Optimismus der Aufklärung, der Fortschrittsglaube, wie er sich aufs deutlichste noch in Schillers Gedicht Die Künstler dokumentierte mit seinem „Wie schön, o Mensch, mit deinem Palmenzweige/ stehst du an des Jahrhunderts Neige,/ in edler stolzer Männlichkeit“, hier wird die alte Leibnizsche Vorstellung von der besten aller möglichen Welten in einer einzigen Zeile lächerlich gemacht. Und so geht es weiter. Wenn Faust davon spricht, daß dann, wenn vom „Geist der Zeiten“ die Rede ist, sich „der Herren eigner Geist“ in den Zeiten spiegelt und wenn er karikierend die aufklärerische Erkenntnislust beschreibt, dann ist nur zu deutlich, was gemeint ist: 26 27 Ebd., S. 219. Ebd., S. 223. 26 Goethe, Faust und die Aufkärung Ein Kehrichtfaß und eine Rumpelkammer, Und höchstens eine Haupt- und Staatsaktion, Mit trefflichen pragmatischen Maximen, Wie sie den Puppen wohl im Munde ziemen! (V. 582ff.) Eines ist sicher: Literatur und Philosophie der Zeit, das merkt selbst ein Wagner, können nicht viel ausrichten. Aber dessen Wissensdrang ist ungebrochen, und bevor er abtritt, sagt er noch einmal: „Zwar weiß ich viel, doch möcht’ ich alles wissen“ (V. 601). Auch hier ist das „Streben“ der Aufklärung gemeint, der Glaube an die stets mögliche Erfahrungserweiterung, an das „Wissen“. Über „Wissen“ hat sich Faust allerdings schon mehrfach ausgesprochen, in seinem „Und sehe, daß wir nichts wissen können“ und darin, daß er nicht mehr zu sagen braucht, „was ich nicht weiß“. Wagner möchte alles wissen – Faust weiß, daß er nichts wissen kann. Der unbegrenzte Wissensdurst Wagners ist bei ihm aber nur eine Sache des Kopfes, nicht des Herzens – und das bedeutet, daß hier ein ganz spezifischer Unendlichkeitsdrang satirisch behandelt wird, nicht etwa der Eudämonismus des 18. Jahrhunderts, also das Streben nach „Glück“ und „Tugend“. Das „Wissen“ und der Glaube an die potentielle Unbegrenztheit des Erkenntnisvermögens, an die unbegrenzten Zugriffsmöglichkeiten des Verstandes – eben das wird hier erneut als eine inzwischen überwundene Stufe der Aufklärung kritisiert. Faust kommentiert den Abgang seines Famulus mit Verwunderung über dessen Gutgläubigkeit; er sagt Wie nur dem Kopf nicht alle Hoffnung schwindet, Der immerfort an schalem Zeuge klebt, Mit gier’ger Hand nach Schätzen gräbt, Und froh ist wenn er Regenwürmer findet! (V. 602ff.) Das schale Zeug, das ist durch den Verstand erfahrbares Wissen – wieder taucht hier die alte Opposition von Kopf und Herz auf. Dem Wagnerschen Glauben an die unendliche Erweiterung des Wissens steht Fausts Kopfschütteln darüber entgegen, daß es diesen Glauben immer noch gibt. Das Satyrspiel zur Kritik der Aufklärung folgt bald, in Fausts Studierzimmer, als der Schüler auftritt; da geht es noch einmal über die hohen Schulen und über die Fakultäten her, also über die Bildungsinstitutionen vornehmlich des 18. Jahrhunderts, und ob es nun das Collegium Logicum ist, wo der Geist in spanische Stiefel eingeschnürt wird, die Metaphysik oder die Rechtsgelehrsamkeit, die Theologie oder die Goethe, Faust und die Aufkärung 27 Medizin: am Ende steht des Mephistopheles Erkenntnis: „Vergebens daß ihr ringsum wissenschaftlich schweift“ (V. 2015). Und dann folgt das sprichwörtlich gewordene „Grau, teurer Freund, ist alle Theorie“ (V. 2038). Die Szene zwischen Mephistopheles und dem Schüler im Studierzimmer ist natürlich Universitätssatire, aber auch hier wird nicht irgendetwas persifliert – Goethe dürfte sich seiner eigenen Leipziger Studentenzeit wieder bewußt gewesen sein, auch des Besuchs bei Gottsched, über den er in Dichtung und Wahrheit ja berichtet hat. Wenn der Schüler sagt: Ich bin allhier erst kurze Zeit, Und komme voll Ergebenheit, Einen Mann zu sprechen und zu kennen, Den Alle mir mit Ehrfurcht nennen (V. 1868ff.), dann könnte der Leipziger Staatsrechtler und Historiker Böhme gemeint sein, der Goethes Studienberater war, vielleicht aber auch Gottsched, in jedem Fall aber eben eine Person aus Goethes eigenem Umkreis. Wir wissen, daß zumindest der Studienberater einen nachhaltigen Eindruck auf ihn gemacht hat. Wir dürfen das seinem Brief an den Vater vom 13. Oktober 1765 entnehmen, den er nach einem Besuch bei Professor Böhme schrieb: sie können nicht glauben was es eine schöne sache um einen Professor ist. Ich binn ganz entzückt geweßen da ich einige von diesen leuten in ihrer Herrlichkeit sah. nil istis splendidius, gravius, ac honoratius. Oculorum animique aciem ita mihi perstrinxit, autoritas, gloriaque eorum, ut nullos praeter honores Professurae alios sitiam. (II/1, S. 17) [Es gibt nichts Glänzenderes, Gewichtigeres und Angeseheneres als diese. Ihre Autorität, ihr Ruhm hat die Sehkraft und den Verstand derart beeindruckt, daß ich nach keinen anderen Ehren dürste als nach denen einer Professur.] * Es geht nicht um die Kommentierung einzelner Verse. Die Wissenskritik ist hier Aufklärungskritik, und wenn ein Interpret schreibt, „daß ein solcher Autor [mit Fausts Vision, auf freiem Grund mit freiem Volk zu stehen] nicht gerade an der Überwindung der Aufklärung arbeitet“,28 dann scheint das Gegenteil richtiger zu sein: daß schon zu Beginn des 28 Willems (wie Anm. 4), S. 22. 28 Goethe, Faust und die Aufkärung Dramas an nichts anderem als an der Überwindung der Aufklärung gearbeitet wird. In einem Aufsatz über Faust und der Fortschritt29 ist mit Recht gesagt: „natürlich reflektiert ‚Faust‘ auch Geschichte, nur nicht notwendigerweise und in erster Linie politische und ökonomische Geschichte. Hinter dieser vollziehen sich ja größere und weitere Veränderungen in dem Welt- und Selbstverständnis“.30 Zu dieser Geschichtsreflexion gehören die aufklärungskritischen Verse zu Beginn des Faust. Wir wollen uns hier nicht fragen, inwiefern etwa der Schüler, der von Mephistopheles in seinem Wissensdrang an der Nase herumgeführt wird, auch Positionen Fausts einnimmt, sondern vielmehr, was Goethe bewogen haben könnte, die Aufklärung so kritisch zu betrachten. Für Goethes Iphigenie auf Tauris konnte ein Interpret zeigen, wie nahe dieses Drama der „Aufklärungsbewegung“ steht.31 Das Resümee seiner Deutung – „Eine viel engere, wirksamere Bindung Goethes an die […] Aufklärungsbewegung, als man meist annahm, wird erkennbar“32 mag für dieses Drama gelten – für Faust gilt das nicht. Der gleiche Autor hat in einer anderen Studie33 darauf aufmerksam gemacht, daß „in Fausts Abwertung der herkömmlichen Wissenschaft […] der ausgetrocknete Rationalismus mancher Aufklärer mitgemeint sein“ mag, hat jedoch hinzugesetzt: „Aber die Kritik Goethes und seiner Altersgenossen an solchen Fehlentwicklungen, an Verfestigungen und Verflachungen einer großen säkularen Bewegung bedeutet noch nicht eine Abwendung von der Aufklärung selbst“.34 Faust entferne sich nicht von der Aufklärungsgesinnung, sondern „spielt nur die empiristisch-sensualistische Komponente der Aufklärung gegen die rationalistische aus“ […], und: „Das Bekenntnis zur Erfahrung und unmittelbaren Wahrnehmung als Quelle aller Einsicht bildet eine dominierende Konstante in allen Aufzeichnungen, Briefen und sonstigen Äußerungen der siebziger Jahre“.35 29 Gerhard Schulz: Faust und der Fortschritt, in: Das neuzeitliche Ich in der Literatur des 18. und 20. Jahrhunderts. Zur Dialektik der Moderne. Ein internationales Symposion, hg. von Ulrich Fülleborn und Manfred Engel, München 1988, S. 173-190. 30 Ebd., S. 182. 31 Wolfdietrich Rasch: Goethes „Iphigenie auf Tauris“ als Drama der Autonomie, München 1979, hier S. 12. 32 Ebd. 33 Der junge Goethe und die Aufklärung, in: Literatur und Geistesgeschichte. Festgabe für Heinz Otto Burger, hg. von R. Grimm und C. Wiedemann, Berlin 1968, S. 127-139; auch in: Sturm und Drang, hg. von Manfred Wacker, Darmstadt 1985, S. 96-111. 34 Ebd., S. 100. 35 Ebd., S. 102. Goethe, Faust und die Aufkärung 29 Natürlich hält Goethe auch später noch an Erfahrung und unmittelbarer Wahrnehmung als Quellen aller Einsicht fest. Aber wie man auch Aufklärung definieren will: die Kritik zu Anfang des Faust ist unüberhörbar. Rasch hat auch noch festgestellt: Der Erkenntnisdrang wird jetzt als der ‚edelste der Triebe‘ angesehen. Diese Umwertung der Faust-Gestalt, die mit der Aufklärung eng zusammenhängt, ist auch in Goethes Konzeption eingegangen. Faust will erkennen, ‚was die Welt im Innersten zusammenhält‘, und das begründet seinen Ruhm, nicht sein Verderben.36 Aber ist es nicht so, daß sein Erkenntnisdrang zwar nicht sein Verderben, aber keinesfalls seinen Ruhm begründet? Die Aufklärungskritik setzt sich im übrigen massiv fort, auch in den Partien des Faust, von denen hier nicht die Rede ist. Die Kritik an der Aufklärung ist nicht auf einzelne Personen oder Szenen beschränkt – sie durchzieht das Drama als ganzes, und es sind die Grundprinzipien der Aufklärung, gegen die sich das Stück richtet: „Bestimme dich aus dir selbst“, so lautete eine aufklärerische Maxime, und Schiller hatte am 18. Februar 1793 sein berühmtes Bekenntnis zu Kant niedergeschrieben: „Es ist gewiß von keinem sterblichen Menschen kein größeres Wort noch gesprochen worden, als dieses Kantische, was zugleich der Innhalt seiner ganzen Philosophie ist: Bestimme Dich aus Dir selbst“. Goethe hatte dieser Philosophie ebenfalls mit seiner Iphigenie gehuldigt. Aber was dort Triumph des Individuums war, wird hier, im Faust, zur erbarmungslosen Kritik an jenem Satz. Denn auch Faust ist selbstbestimmt, aber das in seiner negativen Variante: es geht ihm allein um die Erfüllung seiner Wünsche, Träume und Visionen. Als Mephistopheles erscheint, meint er: „Nein, nein! der Teufel ist ein Egoist/ Und tut nicht leicht um Gottes Willen/ Was einem Andern nützlich ist“ (V. 1651ff.). Faust geht dennoch auf Mephistos Angebote ein. Aber was ihm gegeben wird, ist nicht eine neue Freiheit; Faust zerstört ständig die Freiheit anderer. Seine Opfer sind Gretchen, deren Mutter, sind Philemon und Baucis. Anders gesagt: Faust setzt seine Selbstbestimmung absolut, sieht sich nicht eingegrenzt durch die Existenz anderer. Er versteht sich autonom, und damit markiert Goethe scharf die Gefahren und Grenzen einer von der Aufklärung geforderten Selbstbestimmung, die sich nicht am Selbstbestimmungsrecht ande36 Ebd., S. 104f. 30 Goethe, Faust und die Aufkärung rer orientiert. Nicht nur der Teufel ist ein Egoist – Faust ist es nicht weniger. Daß es mit der absoluten Freiheit des Einzelnen ohnehin nicht so sehr weit her ist, das muss auch Faust schließlich erkennen. Und wenn er am Ende wähnt, auf freiem Grund mit freiem Volk zu stehen, dann wird diese Sozialutopie der Aufklärung nur zu schnell im wahrsten Wortsinn zu Grabe getragen. Aber auch in Mephistopheles wird die Aufklärung diskreditiert. In ihm hat sich der Rationalismus verkörpert, er ist, modern gesprochen, der aufgeklärte Intellektuelle, der Intelligenzler – wie er später in Thomas Manns Doktor Faustus im Teufelsgespräch erscheint. Er ist Zyniker und Nihilist, Skeptiker und illusionslos bei aller illusionären Kunst, die er zu produzieren weiss. „Verachte nur Vernunft und Wissenschaft,/ Des Menschen allerhöchste Kraft“, sagt er, als Faust sich auf ihn eingelassen hat (V. 1851f.) – und dann wird er selbst Vernunft und Wissenschaft fahren lassen und zu den „Blend- und Zauberwerken“ greifen. Nichts hat Bestand. Und wenn Goethe Mephistopheles sagen läßt, daß alles, was entstehe, auch wert sei, daß es zu Grunde gehe (V. 1340), dann ist der Optimismus der Aufklärung in Negativität umgeschlagen. So führt Mephistopheles auf höherer Ebene als Wagner das ad absurdum, was von Anfang an zur Aufklärung gehörte: den optimistischen, selbstsicheren, zukunftsorientierten Rationalismus des 18. Jahrhunderts. Mit ihm ist selbst in den Händen des Mephistopheles kein Staat zu machen. Vieles mag im ursprünglichen Faust-Plan schon mehr oder weniger direkt angelegt gewesen sein; aber die Weiterarbeit am Faust fällt, im Zusammenwirken mit Schiller, in eine Zeit, in der auch anderswo der Umschlag der Aufklärung in den Zweifel an ihr, damit also eine eigentümliche Dialektik der Aufklärung zu beobachten ist. Wir erkennen gleiches bei Schiller: dem hochgemuten Künstler-Gedicht, in dem der Aufklärungsglaube noch seine Triumphe feiert, folgen die geschichtsskeptischen großen Gedichte der 90er Jahre, allem voran Der Spaziergang. Nach der Französischen Revolution zeigt sich, wie gefährlich die Kehrseiten der Aufklärung sind. Kant hatte eine Erkenntnis aus Prinzipien gefordert – die Kant-Kritik am Ende des Jahrhunderts ist auch eine Kritik an den Erkenntnisprinzipien und am Glauben an Erkenntnismöglichkeiten. Schiller schreibt in seinen Briefen an den Augustenburger, den Vorläuferbriefen der Briefe Ueber die ästhetische Erziehung des Goethe, Faust und die Aufkärung 31 Menschen, gegen die Illuminaten-Ideale der Aufklärung an.37 Bei Schiller und seinen Briefen über Don Karlos hat man „die Erfahrung der gebrochenen Aufklärung“ konstatiert.38 Für Schiller endete das alles in einer neuen Kunstphilosophie – für Goethe in einer Idealisierung der „Natur“. Damit ist der Herrschaftsanspruch der Vernunft endgültig in Frage gestellt; für Goethe wird der Begriff der „Erfahrung“ zentral. Auch das mag ursprünglich ein aufklärerischer Begriff gewesen sein – hier wird er geradezu zum Gegenbegriff gegen das Wissen durch Lehre und Verstandeseinsicht. Goethes Faust kennzeichnet, ungeachtet aller frühen Fassungen, den Bruch mit der und den Zweifel an der Aufklärung, wie er für das Ende des 18. Jahrhunderts so charakteristisch ist. Schiller kritisiert in Don Karlos den Despotismus der Aufklärung,39 Goethe ihren rationalen Rigorismus. Anders gesagt: auch mit Goethes Faust gerät die Aufklärung in eine Phase der Selbstreflexion, die das als Grenze darstellt, was früher ungeahnte Möglichkeit war. Wie immer bei Goethe personalisiert sich die eigentümliche Schwellensituation gegen Ende des 18. Jahrhunderts. Mephisto mag vieles sein – aber er ist auch ein Zerrbild des aufgeklärten Gelehrten, wenn er dem lern- und wißbegierigen Schüler die Fakultäten durchhechelt und die eherne Festung der Aufklärung, die Sprache und das Wort, verhöhnt: „Mit Worten läßt sich trefflich streiten,/ Mit Worten ein System bereiten,/ An Worte läßt sich trefflich glauben,/ Von einem Wort läßt sich kein Jota rauben“ (V. 1997f.). „Am Anfang war das Wort“, hatte Faust zuvor übersetzt. Aber kurz darauf wird das Wort also schon ironisch diskreditiert. Mephistopheles nennt Faust „einen der das Wort so sehr verachtet“ (V. 1328). Und auch des jugendlichen Goethe hohe Meinung von den Professoren „in ihrer Herrlichkeit“ ist in der Gestalt des Mephistopheles persifliert. Denn dem ist nicht um Wissenschaft und Aufklärung zu tun, sondern nur darum, „Dass alle Studiosi nah und fern/ Uns wenigstens einmal die Wochen/ Kommen untern Absaz gekrochen./ Will einer an unserm Speichel sich lezzen/ Den thun wir zu unsrer Rechten sezzen“ (Urfaust, 286ff.). Womit die Fragwürdigkeit der gottähnlichen Professorenmentalität denn endlich überzeugend dargelegt ist. Vgl. Hans-Jürgen Schings: Die Brüder des Marquis Posa. Schiller und der Geheimbund der Illuminaten, Tübingen 1996, S. 189. 38 Ebd., S. 188. 39 Ebd., S. 164. 37 32 Goethe, Faust und die Aufkärung * Freilich: Goethes Auseinandersetzung mit der Aufklärung darf nicht über die Gemeinsamkeiten hinwegtäuschen, die sich bei aller Unterschiedlichkeit dennoch abzeichnen. Oder sagen wir vorsichtiger: über die Analogien, die etwa zwischen Kant und Goethe hier und da sichtbar werden. Bekanntlich ist das Wort „Streben“ eines der Schlüsselwörter in Goethes Faust, und dieses Streben nach etwas Besserem, Höherem, Reinerem (oder wie man das Gesuchte auch bezeichnen will) verbindet Faust natürlich mit der Aufklärung – nur daß bei ihm am Ende nicht die Erkenntnis, sondern der Absturz steht. Eine ähnliche partielle Gemeinsamkeit zeichnet sich ab, was das Erkennen betrifft. Faust geht es am Anfang des ersten Teils darum, zu erkennen, „was die Welt/ Im Innersten zusammenhält“. Eben das wollte auch die Aufklärung wissen. Eine weitere Analogie zeichnet sich ab zwischen Fausts Erkenntnis, daß wir das Leben nur „am farbigen Abglanz“ haben, und dem Kantischen Wissen um die Begrenztheit aller Anschauung durch Raum und Zeit. Doch was bei Kant Folge einer abstrakten Deduktion ist, ist bei Faust durch das „Schauen“ bewirkte Intuition. Beide Male also so etwas wie eine Zweiweltentheorie, aber wenn bei Kant die engen Bedingungen unserer Erkenntnis die Einsicht in das Wesen des Dings an sich begrenzen, ja eigentlich sogar unmöglich machen, so kann bei Goethe das „Leben“, der Inbegriff der Natur, nie direkt, sondern nur im Gleichnis gesehen werden. Ähnliches beim Unsterblichkeitsglauben: Kant spricht in seiner Kritik der praktischen Vernunft davon, daß kein Mensch zu seinen Lebzeiten den kategorischen Imperativ restlos befolgen und somit zur „Vollkommenheit“ gelangen könne. Diese Vollkommenheit wird aber „als praktisch notwendig gefordert“, und so kann sie nach Kant „nur in einem ins Unendliche gehenden Progressus […] angetroffen werden“. Das steht in der Nähe der Goetheschen Vorstellung, daß „unsere Fortdauer“ nur aus der „unermüdlichen Tätigkeit“ der Monade abzuleiten sei, die sich selbst in einer anderen Existenzform fortsetzen müsse. Goethe hat diese Nähe zu Kant im übrigen selbst in seinem Aufsatz Einwirkung der neueren Philosophie gesehen, der 1820 als Erstdruck in Zur Morphologie erschien. Über die Kritik der Urteilskraft schrieb er, daß er hier und da zwar etwas zu vermissen habe, setzte aber hinzu: „so waren doch die großen Hauptgedanken des Werks meinem bisherigen Schaffen, Tun und Denken ganz analog; das innere Leben der Kunst so wie der Natur, ihr beiderseitiges Wirken von innen heraus war im Buche Goethe, Faust und die Aufkärung 33 deutlich ausgesprochen“ (I/24, S. 444). Goethe hat sogar schon 1805 betont, „daß kein Gelehrter ungestraft jene große philosophische Bewegung, die durch Kant begonnen, von sich abgewiesen, sich ihr widersetzt, sie verachtet habe“. Ähnlich freundlich hat er sich auch zu Ekkermann am 11. April 1827 geäußert, obwohl Kant nie von ihm Notiz genommen habe: Meine Metamorphose der Pflanzen habe ich geschrieben, ehe ich etwas von Kant wußte, und doch ist sie ganz im Sinne seiner Lehre. Die Unterscheidung des Subjekts vom Objekt, und ferner die Ansicht, daß jedes Geschöpf um sein selbst willen existiert […], hatte Kant mit mir gemein und ich freute mich ihm hierin zu begegnen (II/12, S. 243). Aber im Faust hat Goethe die Aufklärung Kantischer Provenienz nicht in ihrer Möglichkeit, sondern in ihrer Begrenzung gezeigt. Dazu gehört auch die Vorstellung von der Erziehbarkeit des Menschen. Vielleicht ist diese Lieblingsidee der Aufklärung im Faust sogar am stärksten widerlegt. Der Mensch kann nur immer „sich selbst“ werden, seinem Dämon folgen, und so kann er nur zu sein versuchen, was er schon ist. Faust versucht dem zu entkommen, doch sein „Streben“ endet in seinem Untergang. Faust ist ein Abgesang auf die Aufklärung. * Fragt man nach dem eigentlichen Grund der Kritik Goethes an der Aufklärung, so stößt man bei der Lektüre seines Spätwerkes immer wieder auf einen Grundvorbehalt: daß die Aufklärung von einem einseitigen, restringierten, unzulänglichen Naturbegriff ausgegangen sei. Natur war bei den Aufklärern gelegentlich sogar mit mathematischen Mitteln zu definieren, auf jeden Fall war sie überschaubar, mit dem Verstand zu durchdringen. Geheimnisse hatte sie eigentlich nicht, sie ließ sich gleichsam als sachliches Objekt betrachten, und auf keinen Fall war sie furchterregend oder dämonisch, unbegreiflich oder unzugänglich. Sie war eben vermeßbar. Goethe muß einen fast ungeheuren Widerwillen gegen eine derartige Deutung der Natur gehabt haben. Für ihn war die Natur ein „göttliches Organ“ (I/13, S. 285), aus ihr entsprang für ihn „Unendliches“ (ebd.), und wie eine Kritik an den aufklärerischen Naturauffassungen lautet der Satz: „Das Große überkolossale der Natur eignet man so leicht sich nicht an“ (ebd., S. 401). Sie ist „unbegreiflich“, Natur ist „unberechenbares und unermeßliches Leben“ (ebd., S. 54), und Natur ist am Ende 34 Goethe, Faust und die Aufkärung für ihn sogar etwas Heiliges, eine fast religiöse Macht, und vor allem: sie hat immer Recht. „Die Natur bekümmert sich nicht um irgend einen Irrthum; sie selbst kann nicht anders als ewig Recht handeln, unbekümmert was daraus erfolgen möge“, notiert Goethe (ebd., S. 83), und: „Aus der Natur, nach welcher Seite hin man schaue, entspringt Unendliches“ (ebd., S. 285). Es ist die alte Lehre vom deus sive natura, von der Goethe zeitlebens nicht abgelassen hat. Das alles enthält letztlich Aufklärungskritik. Das soll aber nicht heißen, daß Goethe bei aller Kritik an der Verstandesaufklärung nicht auch auf seine Weise so etwas wie ein Volkserzieher gewesen ist. Die hier genannten Goethe-Zitate entstammen ausnahmslos einem seiner Spätwerke, das oft als etwas Beiläufiges schnell abgetan wird: den sogenannten Maximen und Reflexionen. Goethe hat sich in ihnen über Gott und die Welt ausgelassen, über die Gesellschaft und über die Kunst, über Literatur und Religion, Geschichte und Philosophie, über die Alten und über die eigenen Zeitgenossen. Kein Lebensbereich ist ausgespart, keine Zeit und keine Nation, und alles ist dem Leser zur eingehenden Betrachtung empfohlen. Lebenserfahrungen stehen neben Alltagsweisheiten, eher zufällige Bemerkungen zu Dichtern neben Rückerinnerungen, Gedanken zu den philosophischen Themen des ausgehenden 18. Jahrhunderts neben Einsichten, die beinahe schon banal sind: alles ist in diesen kleinen Sprüchen in Prosaform enthalten. Da ist viel Verständnis für Menschliches, Nachsicht bei Irrtümern, Unduldsamkeit bei Dummheit, aber da gibt es auch Ethisches und strenge Daseinsforderungen. Das eigentliche Generalthema, das hinter den meisten seiner Maximen steht, ist das Leben in seiner Vielfalt und zugleich in seiner Eintönigkeit, in seiner Verständlichkeit wie in seiner Unbegreiflichkeit. Hier spricht ein Volkserzieher; er klärt nicht auf im Sinne der Verstandesaufklärung des 18. Jahrhunderts, sondern er klärt über das Leben auf, und es gibt nichts, was ihm eigentlich verborgen geblieben wäre. Natürlich sind die Maximen und Reflexionen auch Dokumente eines bestandenen Daseins, die Summe seines Lebens, eingefangen in Erkenntnisse und Einsichten, die aber absichtlich nicht zu einem System zusammengefügt worden sind – die Aufklärer hätten das getan, aber Goethe geht es um seine eigene vielfältige Lebenswirklichkeit, die er hier anderen zu erkennen gibt. Diese Volksaufklärung, um noch einen Blick auf Schiller zu werfen, ist das Gegenstück zur ästhetischen Erziehung, die von diesem in den Goethe, Faust und die Aufkärung 35 neunziger Jahren so leidenschaftlich gefordert worden war. Was Goethe will, ist keine Erziehung durch die Kunst, aber es ist Erziehung durch Leben und Lebenseinsichten, versuchen sie doch, die Augen zu öffnen für das Veränderliche und mehr noch für das Unveränderliche der menschlichen Existenz, und wer etwas über den Menschen erfahren will, der findet hier Reichlichstes, jedenfalls entschieden mehr als das, was die aufgeklärte Anthropologie in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zu bieten hatte. Über allem steht die Natur, alles Vereinzelte ist Teil ihres großen Ganzen, und darüber spricht er in faßlichen, einfach formulierten, volkslehrerhaften Maximen. In ihnen ist auch noch einmal von den Fehlern der sogenannten Aufklärung die Rede, und zu diesen wird etwa gerechnet, „daß sie Menschen Vielseitigkeit giebt deren einseitige Lage man nicht ändern kann“ (ebd., S. 96). Gelegentlich auch hier noch einmal Spott über die deutsche Aufklärungsphilosophie, wenn er schreibt: „Es sind nun schon bald zwanzig Jahre, daß die Deutschen sämmtlich transcendiren. Wenn sie es einmal gewahr werden, müssen sie sich wunderlich vorkommen“ (ebd., S. 33). Ein Altersurteil. Es beleuchtet noch einmal ironisch Goethes Distanz zur Aufklärung. M A R S C H LÄ N D E R V O R S A N D G E B I RG E ? Z U F A U S T S LE T Z T E R V I S I O N Das Ende Fausts ist gespenstisch. Die Lemuren heben das Grab aus, und der blinde Faust, der aus dem Palast tritt, tastet an den Türpfosten und hört das Geklirr der Spaten. Da er nicht sieht, was geschieht, mißversteht er das Geräusch gründlich: er verwechselt es mit dem Spatengeklirr beim Bau eines Deiches, wähnt, daß Dämme und Buhnen das Meer „mit strengem Band“ umziehen werden, während Mephistopheles genau weiß, was das alles bedeutet und sein „Und auf Vernichtung läufts hinaus“ spricht (V. 11550).1 Faust denkt nicht ans Grab, sondern ans Graben, und mit seinen letzten Worten eröffnet sich eine grandiose Vision: Ein Sumpf zieht am Gebirge hin, Verpestet alles schon Errungene; Den faulen Pfuhl auch abzuziehn Das Letzte wär das Höchsterrungene. Eröffn’ ich Räume vielen Millionen, Nicht sicher zwar, doch tätig-frei zu wohnen. Grün das Gefilde, fruchtbar; Mensch und Herde Sogleich behaglich auf der neusten Erde, […] Im Innern hier ein paradiesisch Land, Da rase draußen Flut bis auf zum Rand, Und wie sie nascht gewaltsam einzuschießen, Gemeindrang eilt die Lücke zu verschließen. Ja diesem Sinne bin ich ganz ergeben (V. 11559ff.). Wir wissen, was folgt: das „Verweile doch, Du bist so schön!“ Fausts Genuß des höchsten Augenblicks – und dann sinkt er zurück. Uns beschäftigt die Landschaftsvision. Ist das ein phantasmagorisches Gelände, wahnhaft wie Fausts Ideen vom Deichbau, der hier in dieser Küstenlandschaft vor sich gehen soll? Es gibt eine hinlängliche Zahl von Faust-Kommentaren, von denen der Leser eine zureichende 1 Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche, 40 Bde., hg. von Friedmar Apel u. a., Frankfurt am Main 1987ff. (= FA), Bd. I/7,1. 38 Zu Fausts letzter Vision Antwort auf diese Fragen erwarten könnte. Aber der Blick in sie stimmt trübsinnig, denn sie sagen nichts oder doch so Unzureichend-Vages, daß damit nichts anzufangen ist. Die Jubiläumsausgabe, im allgemeinen mit soliden Erläuterungen aufwartend, schweigt sich aus;2 die Beutlersche Gedenkausgabe3 behandelt die Verse als Ausdruck phantastischer Erwartungen: „Das Volk aber, das der erblindete Faust jetzt vor seinem geistigen Auge sieht, ist ein anderes, ist Zukunftsvision“4 und beläßt es im übrigen dabei. Das gleiche gilt für die Aufbau-Ausgabe.5 Die gerne als Studienausgabe genutzte Hamburger Ausgabe6 kommentiert als eine der wenigen Ausgaben, die die Stelle überhaupt für erläuterungsbedürftig halten, die Landschaftsbeschreibung folgendermaßen: Fausts großer Schlußmonolog. Faust hat, wie aus der Anfangsszene des Akts hervorgeht, bereits einen beträchtlichen Landstreifen vor dem alten Strande entwässert und dort Bewohner angesiedelt. Doch dies Errungene erscheint ihm wenig im Vergleich zu dem, was er plant. Er denkt an noch weit größere Räume, wenn er ein Sumpfgebiet ebenfalls entwässert haben wird. (Anscheinend liegt es am Fuße des alten Landes, denn es liegt neben Gebirge, und damit ist doch wohl bergiges Küstengebiet gemeint; das Bild ist, gegen sonstige Goethesche Art, nicht völlig klar; vielleicht spielt hier die Entstehung in verschiedenen Arbeitsperioden mit.) Es ist Zukunftsphantasie. Da er den Meeresstrand zum Lehen erhielt, wäre er Beherrscher auch dieses neuen Marschlandes. 7 Doch – wo sollen wir uns dieses Land denken? Ein Marschland, das neben Gebirge liegt, gibt es zumindest in Deutschland nicht. Der Herausgeber und Kommentator, Erich Trunz, hat über das von Goethe beschriebene Land wenigstens nachgedacht, kann sich aber zu genaueren Bestimmungen nicht entschließen. So bleibt als vorerst letzte Hoffnung der neueste Kommentar zu Goethes Faust.8 In diesem überall mit 2 Goethes Sämtliche Werke. Jubiläums-Ausgabe, Bd. 14: Faust. Mit Einleitungen und Anmerkungen von Erich Schmidt, Stuttgart/Berlin o. J. (= JA). 3 Johann Wolfgang Goethe. Die Faust-Dichtungen […], Zürich/Stuttgart 1950, 21962 (Einführung und Textüberwachung von Ernst Beutler). 4 Ebd., S. 745. 5 Goethe. Poetische Werke. Dramatische Dichtungen, Bd. IV: Faust, Berlin/Weimar 21973. 6 Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, hg. von Erich Trunz, Bd. 3: Dramatische Dichtungen I, Hamburg 1949, München 111981 (= HA). 7 Ebd., S. 618. 8 FA I/7,2. Zu Fausts letzter Vision 39 Recht hochgelobten Kommentar lesen wir zu den Zeilen „Ein Sumpf zieht am Gebirge hin,/ Verpestet alles schon Errungene“: Gemeint ist eine Versumpfung der Marschländer, die sich zwischen dem Sandgebirge des alten Dünengürtels und den neuen Seedeichen erstrecken. Ihrer Auswässerung dient hier der große, zum Meer hin ableitende unternommene Graben […]. Büsch […] spricht dabei von „Versumpfungen – man erlaube mir dies vielleicht neue Wort“, und erklärt: wo solche Gebiete „nicht zu allen Zeiten voll Wasser stehen, sondern in troknen Jahreszeiten […] als ein Morast der Luft offen liegen, so wird der daraus für die Gesundheit der Anwohner zu befürchtende Schaden [neben dem einer eingeschränkten Nutzung des Landes] eine zweite Ursache, warum man sie auszutroknen suchen muß“. Schöne verweist dann noch auf Goethes „Sachverstand in dieser Frage der ‚Wasserbaukunst‘“ und auf den West-östlichen Divan, wo auch von Wasser und Kanälen, Gräben und anderem die Rede sei. In Schönes Kommentar heißt es weiter: In Unkenntnis (oder absichtsvoller Vernachlässigung) dieser konkreten, durchaus realistischen Begründung des Sumpfes, der alles schon Errungene verpestet, hat Mieth […] ihn als eine geschichtsprophetische Metapher ausgegeben und erklärt, hier gehe es um „die (künftige) Bedrohung“ des von Faust Errungenen „durch den (visionär geschauten) Sumpf“. So wurde in nacheilendem Gehorsam die Auslegung gestützt, die Walter Ulbricht 1962 […] diesen Sumpf-Versen gegeben hatte: „Die antinationalen und reaktionären Kräfte in der westdeutschen Bundesrepublik und in Westberlin haben aus dem von ihnen beherrschten Teil Deutschlands einen Sumpf kapitalistischer Ausbeutung, einen Herd der Kriegs- und Revanchepolitik und einen Sumpf einer schamlosen Korruption gemacht. Dieser Sumpf, der an die Grenzen unseres sozialistischen Deutschland heranreicht, die Sicherung des Friedens hindert und die Atmosphäre verpestet, muß trockengelegt werden. Erst wenn die Ursache des Sumpfes, die Herrschaft der Imperialisten und Militaristen in Westdeutschland, beseitigt ist, wird das deutsche Volk in Frieden leben, arbeiten und sich der Früchte seiner friedlichen Arbeit erfreuen können.9 Was man nicht bereden kann, soll man beschweigen: ob es nützlich, sinnvoll und erhellend war, Ulbrichts unsägliche Faust-Zitation überhaupt zu erwähnen, wird der Leser für sich entscheiden können. Zur Landschaft selbst aber erfahren wir nicht mehr, als daß es sich um eine Versumpfung der „Marschländer“ handle, „die sich zwischen dem Sandgebirge des alten Dünengürtels und den neuen Seedeichen erstre9 FA I/7,2, S. 759ff. 40 Zu Fausts letzter Vision cken“. Marschländer? Davon steht kein Wort im Text. Der deutsche Leser kennt Marschländer aus Norddeutschland – aber das dürfte Goethe nun wohl sicherlich nicht vor Augen geschwebt haben. Noch problematischer ist die Interpretation des Goetheschen „Gebirge“ als „Sandgebirge des alten Dünengürtels“. Kein Küstenbewohner wird einen Dünengürtel je als „Sandgebirge“ bezeichnen, und bei aller Ehrfurcht vor Goethes sprachschöpferischer Phantasie: ein solches dürfte er hier wohl kaum vor Augen gehabt haben. Im Text steht: „Gebirge“, nicht „Sandgebirge“ – ein Dünenwall dürfte also auf keinen Fall gemeint sein. Natürlich kann man der Meinung sein, Goethe habe hier etwas ganz und gar Imaginäres beschrieben, aber jeder Goethe-Leser weiß, wie konkret manchmal Details auch angeblich phantastischer Landschaften sind. Was wollen wir uns vorstellen, wenn wir von dem Sumpf lesen, der sich am Gebirge hinzieht? Von einer Entwässerungsaktion, die hier durch einen Graben ins Werk gesetzt werden soll? Hat Goethe sich vielleicht an Schillers Einleitung in dessen Geschichte des Abfalls der vereinigten Niederlande erinnert, in der zu lesen war: „Die verlassenen Dämme ergeben sich der Wuth ihrer Ströme und dem eindringenden Ocean wieder. Die Wunder der Menschenhand, die künstlichen Kanäle vertrocknen […]“,10 und wollte er im Faust ein Gegenbild schaffen? * Es gibt in der näheren Umgebung dieser Textstelle Hinweise darauf, wie Goethes Landschaftsgemälde vielleicht richtiger zu verstehen ist. Das „Geklirr der Spaten“, das Faust hört, ist das Spatengeklirr der Lemuren. Lemuren, so lesen wir schon seit der Jubiläumsausgabe und danach immer wieder, hat Goethe natürlich nicht erfunden, sondern hat sie gesehen, auf einem Basrelief in Cuma, und er hat darüber 1812 ein Sendschreiben an Karl Ludwig Sickler verfaßt.11 Lemuren sind, wie sich versteht, nicht Larven oder phantastische Gebilde, sondern Totengerippe, die noch mit ein wenig Muskeln und Sehnen behaftet sind, „damit sie sich kümmerlich bewegen können, damit sie nicht ganz als durchsichtige Gerippe erscheinen und zusammenstürzen“.12 Die TänSchillers Werke. Nationalausgabe, hg. von Julius Petersen (†) und Gerhard Fricke, Weimar 1943ff. (= NA), Bd. 17, S. 25. 11 FA I/19, S. 603ff. 12 FA I/19, S. 605. 10 Zu Fausts letzter Vision 41 zerin ist zu erkennen, wenn man „dieses gegenwärtige lemurische Scheusal mit weiblicher jugendlicher Muskelfülle“ sich denkt – so hat er seine Erinnerungen an das „von alten Griechischen Cumanern“ verfertigte Kunstwerk aufgefrischt.13 Cuma ist in Goethes Italienischer Reise zwar nicht erwähnt; er ist über Gaeta gereist, hat sich dann nach Osten gewandt und ist über Capua nach Neapel hereingekommen – aber wenn er Cuma auch nicht gesehen hat, so hat er doch zweifellos gewußt, was es dort zu sehen gab. Der Hinweis auf Lemuren ist dabei durchaus kein Zeugnis sonderlicher Belesenheit; Goethe hätte in Hederichs Lexikon nachlesen können, was es mit den Lemuren auf sich habe. Aber viel näher liegt die Vermutung, daß Goethe an das dachte, was er von Cuma her kannte: die Lemuren also als Grabfiguren. Das ist ein erster nicht undeutlicher Hinweis darauf, daß das, was Goethe in Faust II beschreibt, mit Süditalien in Verbindung zu bringen ist – also alles andere ist als Ausgeburt der Phantasie. Eigene Erfahrung ist offenbar auch die Landschaft, die hier beschrieben wird. Wer immer sich an Marschlandschaften oder Sandgebirge erinnert fühlt, sei daran erinnert, daß es eine Landschaft gibt, in der alles das real erscheint, was die Kommentatoren gerne ins Reich der Phantasie schieben möchten. Genauer: Goethe scheint sich hier seiner Reise durch die Pontinischen Sümpfe zu erinnern. Er berichtet unter dem 23. Februar 1787: Schon früh um drei Uhr waren wir auf dem Wege. Als es tagte fanden wir uns in den Pontinischen Sümpfen, welche kein so übles Ansehn haben als man sie in Rom gemeiniglich beschreibt. Man kann zwar ein so großes und weitläuftiges Unternehmen als die beabsichtigte Austrocknung ist auf der Durchreise nicht beurteilen, allein es scheint mir doch, daß die Arbeiten welche der Pabst angeordnet, die gewünschten Endzwecke wenigstens zum größten Teil erreichen werden. Man denke sich ein weites Tal, das sich von Norden nach Süden mit wenigem Falle hinzieht, ostwärts gegen die Gebirge zu vertieft, westwärts aber gegen das Meer zu erhöht liegt. Der ganzen Länge nach, in gerader Linie, ist die alte Via Appia wieder hergestellt, an der rechten Seite derselben der Haupt-Kanal gezogen und das Wasser fließt darin gelind hinab, dadurch ist das Erdreich der rechten Seite nach dem Meere zu ausgetrocknet und dem Feldbau überantwortet; so weit das Auge sehen kann ist es bebaut oder könnte es werden wenn sich Pächter fänden. Einige Flecke ausgenommen die allzutief liegen. 13 FA I/19, S. 608. 42 Zu Fausts letzter Vision Die linke Seite nach dem Gebirg zu ist schon schwerer zu behandeln. Zwar gehen Quer-Kanäle unter der Chaussee in den Haupt-Kanal; da jedoch der Boden gegen die Berge zu abfällt, so kann er auf diese Weise nicht vom Wasser befreit werden. Man will, sagt man, einen zweiten Kanal am Gebirge herführen. Große Strecken, besonders gegen Terracina, sind mit Weiden und Pappeln angeflogen.14 Natürlich ist nicht zu beweisen, daß Goethe sich, als er am Faust schrieb, seiner alten Darstellung der Landschaft der Pontinischen Sümpfe besonnen habe. Aber es liegt nur zu nahe, diese damals von ihm gesehene Landschaft hier wiederzuerkennen. Der zweite Kanal, der am Gebirge hergeführt werden soll – setzt nicht Faust visionär dieses Jahrhundertwerk fort? Begonnen hatte es Papst Julius IV., der einen großen Kanal durch den Sumpf ziehen ließ, und fertig geworden ist es sehr viel später: in den 30er Jahren unseres Jahrhunderts. Oder sollen wir sagen: begonnen wurde dieses Urbanisationswerk von Faust zu Beginn des 5. Aktes, wo ebenfalls schon von jenem ersten Kanal die Rede ist, der, zu Philemons und Baucis’ Überraschung, eines Morgens fertig ist und den Faust am Ende seines Lebens durch jenen zweiten Kanal zu ergänzen trachtet, von dem der Bericht über die italienische Reise erzählt? Auch hier liegt der Verdacht nahe, daß es sich bei jenem Kanal der ersten Szene des 5. Aktes um einen Kanal in südlichem Gelände handelt – also der Heimat von Philemon und Baucis. Dämme gibt es auch in der Gegend der Pontinischen Sümpfe – Dämme zu Seiten des Kanals oder vielmehr der Kanäle, die verhindern sollen, daß das Meerwasser, vom Westwind hochgedrückt, das urbanisierte Land wieder überflutet. „Linden“ sprechen zwar für eine deutsche Landschaft. Aber in allen Landschaften des Faust findet sich Heterogenes. Anders gesagt: es sind fast immer „synthetische“ Landschaften. Doch hier dominiert zweifellos Südliches. Auch das Kanalwerk, das am Beginn des 5. Aktes von Faust II erwähnt ist, hat die Kommentatoren zu weitschweifigen Anmerkungen veranlaßt. Erich Schmidt schreibt in der Jubiläums-Ausgabe: Fausts Tätigkeit weist nicht bloß auf Friesen und Holländer […], nicht bloß auf die ‚Biberrepublik‘ Venedig, Chioggia und die Murazzi, wie denn des Venezianers Cornaro seit 1588 gedruckte, von Goethe vielleicht gelesene ‚Discorsi della vita sobria‘ im 4. eine verewigende Greisenarbeit durch Austrocknung von Sümpfen erörtern […]. Sie mahnt auch, wie G. Freytag sagt, an Friedrichs 14 FA I/15,1, S. 195. Zu Fausts letzter Vision 43 des Großen Kulturschöpfung in Westpreußen, und sie hängt zusammen mit dem lebhaften Interesse, das der greise Goethe an dem Neuland Amerika nahm. Hat er doch, wie er die Engländer im Besitz eines Kanals von Suez zu sehn wünschte, im Anschluß an A. v. Humboldts Reisewerk das Projekt eines Durchstichs der Landenge von Panama und alle kräftige Kolonisationsarbeit der ‚jugendlichen‘ Vereinigten Staaten eifrig bedacht […]. Aber auch die neuen Bremischen Hafenanlagen an der Wesermündung interessierten ihn lebhaft; er ließ sich am 14. Juli 1826 durch Eckermann ‚von Hamburg, Stade und den dortigen Anschwemmungen, Einrichtungen, Ansiedelungen‘ (Marschen; Polder; Inseln wie Lune-Plate) erzählen.15 An alles also hat Erich Schmidt gedacht, nur nicht an das vom antikitalienischen Kontext her (Philemon und Baucis) Nächstliegende: an die Pontinischen Sümpfe. Erich Trunz spricht in seiner Hamburger Ausgabe unbestimmt davon, daß der Meeresboden entwässert sei; Daneben liegt die frühere Stranddüne, dort wohnen zwei alte Leute […]. Faust traut dem Deichwerk von Menschenhand, sie aber nur dem alten Dünenboden […]. Die Szene hat den ganzen Zauber des Idylls (darum auch durch die Namen anknüpfend an ein antikes Idyllenmotiv). Als Stimmung und Bild ist sie der völlige Gegensatz zu der weltweiten Herrschaft, zu Willen und Härte der folgenden Szenen.16 Wir dürfen denken, an was wir wollen. Schließlich Albrecht Schönes Kommentar im Deutschen Klassiker Verlag. Zum Kanal in dieser Szene lesen wir: Nimmt man Baucis’ Angaben textintern als Augenzeugenbericht, wird man sie textextern auf das ‚Maschinenwesen‘ der neuen Zeit beziehen dürfen, von dem die Schöne-Gute der Wanderjahre sagt, daß es sich quälend und ängstigend heranwälze […]. Dessen Inbegriff und der Motor der Industrialisierung waren die Dampfmaschinen, die schon im 18. und frühen 19. Jh. im Bergwesen, bei Kanalbauten und Landgewinnungsarbeiten zur Entwässerung eingesetzt wurden. Über den Gebrauch solcher dampfgetriebenen Schaufelbagger und Schöpfwerke, deren Leistung weit hinausging über das im gewohnten Handbetrieb und für Menschen- oder Pferdekräfte Mögliche, war Goethe sehr wohl informiert […]. So könnte man sich (sollte man sich nach Absicht des Autors?) Baucis’ Flämmchen und Feuergluten durchaus als den Widerschein dieser ihr unbekannten Maschinen vorstellen, die der Greisin mit ihren aus den Öfen schlagenden Flammen und den feuerrot beleuchteten, hier im nächtlichen 15 16 JA 14, S. 389. HA 3, S. 610f. 44 Zu Fausts letzter Vision Landwind meerwärts treibenden Dampfwolken als magisches Teufelswerk erscheinen mochten.17 „Kann sein, auch nicht“, ist man versucht, mit Kleist zu sagen – aber man erführe doch auch gerne etwas über den „Kanal“. Ein wenig ist freilich verzeichnet: In der 1782 veröffentlichten Lebensbeschreibung Friedrich v. Brenkenhofs, der für Friedrich II. die westpreußischen Bruchgebiete trockenlegte, heißt es, daß allein der 36 km lange Kanal zwischen Warthe und Netze, mit Arbeitermassen aus ganz Deutschland binnen 16 Monaten fertiggestellt, 1500 Menschen das Leben kostete […]. Eckermann am 10. 2. 1829 „fand Goethe umringt von Karten und Plänen in Bezug auf den Bremer Hafenbau, für welches großartige Unternehmen er ein besonderes Interesse zeigte“: beim Bau dieses 1826-29 60 km weserabwärts errichteten Hafens waren zeitweise mehr als 900 Arbeiter beschäftigt, sommers von 4.30-20.00 Uhr, mit Hacken und Schaufeln; 60 Pferde mußten die Pumpen in Betrieb halten, weil das ausgehobene Becken sich rasch wieder mit Wasser füllte; „Sumpffieber griff um sich und forderte zahlreiche Opfer“. 18 Goethes Interesse und das Interesse der Kommentatoren am Bremer Hafenbau in Ehren – aber wollen wir, in eine südliche Landschaft versetzt, das glauben? „Sumpffieber“ gab es reichlich auch in den Pontinischen Sümpfen; es war Malariagebiet. Der Hinweis auf nord- oder ostdeutsche Entwässerungsunternehmungen wird völlig fragwürdig dort, wo davon die Rede ist, daß die Urbanisation des faulen Pfuhls „vielen Millionen“ Räume eröffne – wo wollen wir die im Bremer Hafengebiet finden? Wo in den westpreußischen Bruchgebieten? In den früheren Pontinischen Sümpfen siedeln heute in der Tat Millionen, „Grün das Gefilde, fruchtbar; Mensch und Herde/ Sogleich behaglich auf der neusten Erde“ (V. 11565f.). Vor allem aber: wo haben wir das Meer auf der 36 km langen Kanalstrecke zwischen Warthe und Netze? Häfen gab es auch am Rande der Pontinischen Sümpfe: etwas südlich davon Sperlonga mit dem berühmten Schiff des Odysseus, und Gaeta, heute noch Hafen und Kriegshafen. Ein Blick in das Lesartenverzeichnis der deswegen nach wie vor unverzichtbaren Weimarer Ausgabe verleiht unserer Argumentation noch 17 18 FA I/7,2, S. 716. FA I/7,2, S. 716f. Zu Fausts letzter Vision 45 ein wenig Nachdruck. Für die Verse 11559 bis 11580 stand ursprünglich, die genannten Verse summierend, folgender Text: Dem Graben der durch Sümpfe schleicht Und endlich doch das Meer erreicht Gewinn ich Plaz für viele Millionen Da will ich unter ihnen wohnen, Auf wahrhaft eignem Grund und Boden stehn. 19 Die Sümpfe, der Graben, der sich bis zum Meer durchzieht, das ist der visionäre Nukleus, den Goethe dann in der endgültigen Fassung ausbaut und erweitert. Mit großer Wahrscheinlichkeit sind also die Pontinischen Sümpfe das, was Goethe vor Augen geschwebt haben mag, als er die Szene „Großer Vorhof des Palasts“ schrieb. „Das ist der Weisheit letzter Schluß“, ist man versucht zu sagen. Aber es gibt noch einen allerletzten Schluß. „Größe und Hybris“20 seien hier zu erkennen, meint ein Kommentator. Hier scheint die Realität des Grabes Fausts Blick in eine Zukunft, die nur in wahnhafter Weise existiert, zu besiegen. Aber wird das Gesicht des blinden Faust tatsächlich durch die Realität zerstört und zum absurden Wahn? Kann die Wirklichkeit der schaufelnden Lemuren Fausts Idee widerlegen? Wie immer man die Vision von der Urbarmachung des Sumpflandes auch verstehen will: sie ist zukunftsorientiert, und diese Vision ist kein Exkurs, sondern steht im Zenit von Fausts Glücksverlangen, beendet die Welt des Mephistopheles, ist die Erfüllung jenes Wunsches vom Augenblick, dem er Ewigkeit verleihen möchte. Die Nähe der Faust-Visionen zu den Visionen des blinden Teiresias ist zu auffällig, als daß sie beiseite geschoben werden sollte. Nur aus der Perspektive Mephistos ist das, was Faust sieht, ein dummer Wahn des zur Vernichtung Bestimmten; aber auch nur Mephistopheles deutet das „Graben“ in ein „Grab“ um. Gehen wir davon aus, daß die Teiresias-Parallele gewollt ist und daß damit die Vision Fausts gewissermaßen mythengenealogisch begründet ist, so widerlegt Mephistopheles’ geringschätziges Urteil das, was Faust zu erkennen glaubt, keineswegs; hier wird vielmehr Mephistopheles widerlegt. Denn Teiresias hat nicht Wahngesichte gehabt, sondern, eine Gabe Zeus’, Zukünftiges richtig prophezeit: er hat die Lebensschicksale des Ödipus und die Be19 Goethes Werke. Hg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachen (= WA), I. Abteilung, Bd. 15,2, S. 157. 20 HA 3, S. 617. 46 Zu Fausts letzter Vision lagerung Thebens durch die Sieben vorausgesagt. Das ist nicht wenig. Erscheint hier aber nun der blinde und trotzdem sehende Faust in Nachfolge des antiken Weissagers, so werden auch seine Visionen Realität werden: die Zukunft wird erfüllen, was Faust voraussagt. Wir wissen: die Zukunft hat sie erfüllt. Der zweite Kanal wurde gegraben, Fausts Prophezeiung hat sich gegen alle mephistophelische Skepsis und Niedertracht als richtig erwiesen. Seit 1932 ist durch die Urbanisation der ungefähr 760 Quadratkilometer großen Küstenebene eine Landschaft entstanden, in der zwischen den Albaner Bergen im Norden und Monte Circeo tatsächlich Millionen leben. Noch einmal ist vom Kanal die Rede, in der Regieanweisung zur „Palast“-Szene: „weiter Ziergarten, großer gradgeführter Kanal“. Albrecht Schönes zunächst einmal sehr einleuchtender Kommentar: „1826 dann hatte Karl Friedrich Schinkel im Park von Sanssouci das Schloß Charlottenhof errichtet, dessen nach Vorbildern der Renaissance angelegten Ziergarten ein gradgeführter Kanal begrenzt; eine solche herrscherliche Landschaftsarchitektur mag Goethe für seine „Palast“Szene vorgeschwebt haben“.21 Doch auch hier gilt das „Kann sein, auch nicht“. Im Park von Sanssouci gibt es keine schiffbaren Kanäle, auf diesen keine Schiffe, die „munter hafenein“ ziehen. Daß Goethe „Canal“, „Canale“ schreibt, ist natürlich Sprachgebrauch seiner Zeit. Aber letzteres ist zugleich italienische Schreibweise, und wer die früheren Pontinischen Sümpfe heute durchfährt, kann mühelos erkennen, daß die Kanäle dort breit genug sind, um kleinere Kähne passieren zu lassen. Das alles mag noch mehr Vision sein als das, was die Schlußszene kurz vor Fausts Hinsinken präsentiert. Aber wenn auch im Folgenden in der Rede Mephistopheles’ vom Meer die Rede ist, dann sollten wir jeden Gedanken an den Schloßpark von Sanssouci beiseite schieben. Im Charlottenburger Park gab es im übrigen nichts zu „kolonisieren“ (V. 11274). Davon gab es in den Pontinischen Sümpfen um so mehr. Faust wußte das, und Goethe wußte es auch. 21 FA I/7,2, S. 720. D E R D I C HT E R A LS K U N S T R I C HT E R Zu Schillers Rezensionsstrategie Für Lieselotte Blumenthal mit herzlichem Dank für einigen philologischen Nachhilfeunterricht 1961 Daß man im 18. Jahrhundert im Umgang mit literarischen Werken anderer nicht gerade zimperlich verfuhr, wissen wir zur Genüge. Der junge Schiller hat als Rezensent kein Blatt vor den Mund genommen. „Der Dichter bratet uns an seinem Genie-Feuer, welches doch ein bißchen zu kannibalisch schmeckt“, heißt es in der Rezension über Stäudlins Proben einer teutschen Aeneis 1781.1 Im Schwäbischen Musenalmanach auf das Jahr 1782 findet Schiller einen „Schwall von Mittelmäßigkeit“ und hört nur selten „einen wahren Saitenklang der Melpomene“, um so häufiger aber das „Froschgequäke der Reimer“.2 Das sind literarische Niederschläge, die es in sich haben, Urteile, die vor nichts zurückschrecken, und in einer Wertskala des Grobianismus würden sie hoch rangieren. „Alle Gedanken des Gedichts sind ohne allen Zweifel Aussprüche einiger Studenten im Bierrausche, die ein guter Reimer in diese Gestalt gegossen hat“:3 das ist Schillers Urteil über Stäudlins Gedicht vom Kraftgenie. Die literarische Rangelei kam hier allerdings nicht ganz überraschend, denn das Gedicht war an die Adresse Schillers gerichtet, und Schiller hat die Anspielungen auf die Räuber und die Laura-Oden gut verstanden; dazu bedurfte es keiner besonderen Hellhörigkeit. Aber er hätte auch wohl sonst nicht viel anders geurteilt. „Poetischer Plunder“ ist das nicht sehr freundliche Urteil Schillers über das Werk seines Kontrahenten, über die „Bildwerke einer mittleren Phantasie“ und die Blümchen vom Helikon – „Hundsviolen und andre gemeine Blumen“ Schillers Werke. Nationalausgabe, hg. von Julius Petersen (†) und Gerhard Fricke, Weimar 1943ff. (= NA), Bd. 22, S. 186. 2 NA 22, S. 188. 3 NA 22, S. 191. 1 48 Der Dichter als Kunstrichter sind gemeint. Die poetischen Backen seien zu voll genommen, hier gebe es nur Nichtsinn, leeren Schellenklang. Literarische Späße sind das alles gewiß nicht mehr, eher literarische Totschlagsversuche, die sich auch ungeniert als solche zu erkennen geben, kritische Hinrichtungen, die nur darin unvollständig sind, daß der Getroffene, zum alsbaldigen und gründlichen literarischen Tod Verurteilte im nächsten Werk wiederauferstehen kann. Aber auf keinen Fall sollen die Dichtungen wiederauferstehen, die hier nun einmal verurteilt und verdammt worden sind: Chronos, der den poetischen Plunder in derart großer Masse vorgesetzt bekommt, kann nicht anders, als unwillig werden, und er wird sich hüten, die Kindlein des Verfassers ins nächste Jahrhundert mitzunehmen. So meint Schiller es jedenfalls, wenn er von Stäudlins Vermischten poetischen Stücken spricht, und natürlich hofft er, daß er recht behält. Nur ein harmloses Gemüt kann hier bloß etwas unfreundliche Rezensionen sehen. Schiller schlägt mit dem kritischen Prügel los, so sehr er kann, unbarmherzig und bedingungslos. Daß der Kontrahent „an den Schwertspitzen der Kritik sich spieße“, ist der innige Wunsch des Rezensenten, und daß er sich dabei in effigie zu Tode spießen soll, versteht sich quasi von selbst. Der militante Ton ist nicht zu überhören: Dichter und Rezensent führen nicht einen belanglosen Kleinkrieg, sondern liefern sich eine Schlacht. „[…] der Heerführer der schwäbischen Musen, Hr. Stäudlin, gürtet sein Schwert um, dem ganzen unschwäbischen Teutschland ein Generaltreffen zu liefern“:4 unter diesem Bilde erscheint Schiller der Schwäbische Musenalmanach von 1782. Dementsprechend treten Klopstock und seinesgleichen nur noch als „alte Grenadiere im hohen Alter“ auf. Von der „Schlacht mit der Kritik“ ist die Rede und „herauskommandierten Liedern“. Nichts oder doch nur sehr wenig von Zärtlichkeit, Empfindung, Bildung und edlen Herzen, von liebenswürdiger Poesie und Wohlklang, von strahlenden Höhen der Poesie oder vollen Herzen: Schiller spricht ironisch und verächtlich von der „so empfindsamen Witterung im ganzen Teutschland“. Zu den „empfindsamen Tränen“ bemerkt er, daß sie, „inzidenter anzumerken, endlich einmal aus der Mode kommen dörften“, und das berühmte poetische Herzklopfen gehört nebst anderen Symptomen „am Ende gar noch in die Medizin“. Nichts kann vernichtender sein als, „bei der gegenwärtigen Mode, Kalender zu machen“, und Schillers scheinheilige Begrüßung für das neueste schwäbische Produkt dieser 4 NA 22, S. 187. Der Dichter als Kunstrichter 49 Art: „gesegnet sei die endliche prophetische Ankunft des schwäbischen Musenalmanachs“. Es ist offener Hohn, völlig unverhüllte Spottsucht, der überlegene Triumph des Rezensenten über das, was ihm vorgelegt worden ist, bevor er mit einem Wort nur auf die Sache selbst eingegangen ist, und wie es hier gleich anfangs dem Schwäbischen Musenalmanach von 1782 ergeht, so ergeht es auch Stäudlins Vermischten poetischen Stükken. Pegasus habe hier einen harten Dienst, steht am Anfang zu lesen, und in Württemberg sei es damit besonders schlimm – der Rezensent spricht sein Urteil, bevor er auch nur eine Zeile über die poetischen Stücke, über die er sich äußern soll, verloren hat; und nachdem der Leser derart initiiert worden ist, folgt eine zweite Philippika: man hört, welche seltenen Eigenschaften ein neuer Sänger in sich vereinigen muß, wenn er wirken will – Schiller setzt die Maßstäbe, nicht etwa Stäudlin, der gar nicht gefragt wird, ob er das vielleicht auch gewollt haben könnte, was er hier so fraglos zu leisten hat. So wird „der wahre Dichter“ heraufbeschworen und dessen „wahre Begeisterung“, und Schiller weiß nur zu genau, wie dieser sich verhält und was er zu bieten hat; und so ist das Urteil über Stäudlin gefällt, ehe der überhaupt zu Wort kommen konnte, rigoros und unwiderruflich. Bevor von der Sache die Rede gewesen ist, ist sie erledigt. „So denken wir von den Stäudlinischen Gedichten überhaupt“, heißt es,5 bevor ein einziges Gedicht besprochen wurde, und was folgt, sind nur noch einige Anmerkungen, Marginalien, die mit dem Ganzen wenig zu tun haben; ein paar Gedichte werden genannt, aber nicht, um prototypische Züge aufzuzeigen, sondern als Nachtrag zum Eigentlichen – aber dieses betraf nicht Stäudlin, sondern Schiller und seine Vorstellungen vom „wahren Dichter“. Diese sind vorangesetzt, und nach ihnen hat sich Stäudlin zu richten. Ob er das überhaupt beabsichtigte, steht nicht zur Debatte; ob er nicht vielleicht gänzlich anderes vorhatte, wird nicht erörtert. Das alles spricht für ein reichlich grobschlächtiges Rezensionswesen, in dem rasch verurteilt wird, ohne daß lange nach Absicht und Motiven, Zielen und Voraussetzungen gefragt wird. Den Rezensenten kümmert es nicht sonderlich, ob sein Urteil rechtens sei, aber es kommt ihm sehr darauf an, daß er das, was er sagt, so provokativ und verletzend wie möglich formuliert, und so schlägt er denn los. Da ist von „Gemälden voll Nichtsinn und Verwirrung“ und „schwäbischer Blödigkeit“ die Rede und davon, daß der Gärtner von einem Holzapfel5 NA 22, S. 190. 50 Der Dichter als Kunstrichter kern keine Ananas zu erwarten habe. Schiller richtet am Ende der Proben einer teutschen Aeneis väterlich „nun noch ein Wort an das Herz des jungen Dichters“ – Schiller ist zweiundzwanzig, Stäudlin ein Jahr älter. Voller Empfindlichkeit aber reagiert Schiller, wenn der Verfasser seinen eigenen Wert zu erkennen gibt, denn hier geht es um Eingriffe in den Herrschaftsbereich des Rezensenten und in dessen am hartnäckigsten verteidigtes Grundrecht. Die Aeneis-Rezension schließt mit der Bemerkung: „Endlich überströmt der Hr. Verf. gar zu sehr von Gefühl seines eigenen Dichterwerts, welches dem Leser, der in diesem Punkt gern selbst entscheidet, in sein Recht greifen heißt.“6 Es klingt wie eine belanglose Abschiedsfloskel. Aber der satirische Protest gegen eine eigenmächtige Selbstbewertung wiederholt sich am Schluß der Rezension über den Schwäbischen Musenalmanach auf das Jahr 1782 – eine nur zu deutliche Warnung an Stäudlins Almanach, sich nicht eigenmächtig und verblendet als „Epochmacher“ darzustellen. Derartiges kommt dem Rezensenten zu, gewiß nicht dem Autor – und so geht es am Ende dieser beiden Besprechungen denn noch einmal scharf über den Verfasser und Herausgeber her, und Schiller stellt dem Titelkupfer vom Aufgang der Sonne überm Schwabenland die düstere Vision des Nordsterns entgegen, der „Kälte prophezeit“: das Bild des Almanach-Herausgebers war dem Rezensenten ein allzu selbstbeschönigendes, und so kehrt er es Zug um Zug um, mit der Absicht, den kühnen Editor mit Hilfe seiner eigenen Vorstellungen „in der Finsternis taumelnd“ zu widerlegen. Der Rezensent hat nicht nur das erste Wort, wenn er dem Autor vorschreibt, was er eigentlich darzustellen habe, sondern auch das letzte. Schiller ist gewiß kein besonders radikaler Vertreter des rezensorischen Grobianismus. Der ist in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts gang und gäbe, und man hat Schiller ganz ähnlich mitgespielt. „Mit welcher Stirn kann ein Mensch doch solchen Unsinn schreiben und drucken lassen, und wie muß es in dessen Kopf und Herz aussehen, der solche Geburten seines Geistes mit Wohlgefallen betrachten kann“, lautet das Urteil von Karl Philipp Moritz über Kabale und Liebe; „was dieser Verfasser angreift, wird unter seinen Händen zum Schaum und Blase“.7 Grillparzer hat über Kabale und Liebe nicht viel freundlicher NA 22, S. 186. Berlinische Staats- und Gelehrten Zeitung vom 21. VII. 1784. Zu den folgenden Zitaten vgl. Verf.: Friedrich Schiller, Stuttgart 1966, Bd. 1, S. 15 bzw. 42; Bd. 2, S. 41, 51, 60, 69. 6 7 Der Dichter als Kunstrichter 51 geurteilt als Börne über Wallenstein. Goethe und Wieland empfanden einen „ebenso großen Greuel“ an der „seltsamen Hirnwut, die man izt am Neckar für Genie zu halten pflegt“: die Räuber sind gemeint. Hegel fand im Wallenstein „das Reich des Nichts“ und das Drama „nicht tragisch, sondern entsetzlich“, Jean Paul in Maria Stuart nur die „Stieftochter der Muse“, Schlegel in der Braut von Messina eine „tragische Fratze“, Otto Ludwig in der Jungfrau von Orleans eine „alberne Proposition“ – die Reihe ähnlicher Urteile ließe sich fast beliebig verlängern, und so hat man Schiller denn heimgezahlt, was er über Stäudlin geschrieben hatte, unwissend natürlich, aber eben doch wie zur Demonstration des Lessingschen Satzes in seinen Bemerkungen über Der Recensent braucht nicht besser machen zu können, was er tadelt, der diese beschließt: „Und überhaupt sind die Kunstrichter die einzige Art von Krähen, welche das Sprichwort zum Lügner machen.“8 * Doch der Eindruck chaotischer Willkür täuscht; und vor allem täuscht der Eindruck subjektiver Besserwisserei, der sich in den frühen Rezensionen Schillers aufdrängen muß. Der Rezensenten-Hochmut gehört nur zu sehr zum Schema, und Schillers dünkelhaft anmutende Herablassung ist alles andere als vom Privathaß auf Stäudlin diktiert; sie ist Ausdruck der Rolle, die Schiller hier einnimmt, und er hätte kaum anders urteilen können, wenn er als Rezensent ernstgenommen werden wollte. Lessings Titel Der Recensent braucht nicht besser machen zu können, was er tadelt untertreibt eigentlich nur, was längst zum Standard des Rezensierens gehörte: die unbezweifelte und unbezweifelbare Stellung des Rezensenten. Bei Lessing ist sie bereits fest etabliert, und es ist keine Frage, daß der Kunstrichter weit über dem Mann von Geschmack steht; dieser beruft sich bloß auf seine Empfindung, jener aber unterstützt sie „mit Gründen“. Doch Lessing ist nur eine späte Station auf dem Wege der Kritiker-Emanzipation. Die entscheidenden Schritte sind fast 40 Jahre zuvor getan worden, von keinem Geringeren als Gottsched selbst, der im Kapitel „Von dem Charactere eines Poeten“ die Grundlegung dieses kritischen Selbstbewußtseins gegeben hatte, wenn er schrieb: 8 Gotthold Ephraim Lessings sämtliche Schriften, hg. von Karl Lachmann und Franz Muncker, Bd. 15, Berlin 1900, S. 65. 52 Der Dichter als Kunstrichter Wenn man ein gründliches Erkenntniß aller Dinge Philosophie nennt; so sieht ein jeder, daß niemand den rechten Charakter von einem Poeten wird geben können, als ein Philosoph; aber ein solcher Philosoph, der von der Poesie philosophiren kann, welches sich nicht bey allen findet, die jenen Namen sonst gar wohl verdienen. Nicht ein jeder hat Zeit und Gelegenheit gehabt, sich mit seinen philosophischen Untersuchungen zu den freyen Künsten zu wenden, und da nachzugrübeln: woher es komme, daß dieses schön und jenes häßlich ist; dieses wohl, jenes aber übel gefällt? Wer dieses aber weis, der bekömmt einen besondern Namen, und heißt ein Kriticus. Dadurch verstehe ich nämlich nichts anders, als einen Gelehrten, der von freyen Künsten philosophiren, oder Grund anzeigen kann.9 Das Besondere des Kritikers liegt darin, daß er über die Poesie philosophieren kann; und das wird seinen Rang bis in das erste Drittel des 19. Jahrhunderts ausmachen, denn erst in dieser Zeit wird die Kunst des Rezensierens verfallen und profaniert werden. Auch die Kernfrage nach der eigenen Natur des Schönen wird bleiben; Gottsched stellt sie hier zwar in seinem pedantischen und altväterlich anmutenden Deutsch, aber sie wird von Baumgarten bis Moses Mendelssohn, von Sulzer bis Schiller immer wieder gestellt werden. Es ist der Kritikus, der eben diese Frage, „woher es komme, daß dieses schön und jenes häßlich ist“, beantworten kann; da er das vermag, ist sein Rang unbestritten, und so kann er mit Spott und Hohn über alle jene herfahren, die Häßliches, Ungereimtes und Schwaches schreiben; er wäre kein Kritikus, täte er es nicht. So erklärt sich also schon von dorther Schillers scheinbar so hochfahrende Haltung dem von ihm so scharf besprochenen Stäudlin gegenüber als höchst traditionelle Verhaltensweise des Kritikers zu seinem Gegenstande; Lessing ist mit Gottsched, der eben diese Haltung begründet und verteidigt hatte, nicht anders verfahren, und noch die Frühromantiker haben so rezensiert; und so erfüllte sich ein ganzes Jahrhundert lang der ironische Entwurf Shaftesburys vom Verhältnis des Kritikers zu seinem Opfer: „The CRITICKS, it seems, are formidable to ‘em. The CRITICKS are the dreadful Specters, the Giants, the Enchanters, who traverse and disturb ‘em in their Works“10 – ein Satz, den Shaftesbury wohl nicht geschrieben hätte, wäre die Furcht vor der Kritik und 9 Johann Christoph Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen, Leipzig 1751, Neudruck Darmstadt 1962, S. 96. 10 Charackteristicks of Men, Manners, opinions, Times: Advice to an Author, 1727, S. 231. Der Dichter als Kunstrichter 53 die allgemeine Abneigung nicht tatsächlich recht groß gewesen. Aber wie dem auch sei: schon in der Gottsched-Zeit ist die literarische Kritik über die bloße Geschmacksrichterei zur vernünftigen, d. h. philosophisch orientierten Wissenschaft erhoben worden, und Schillers Haltung gegenüber Stäudlin spiegelt ebenso wie Lessings kleine Schrift Der Recensent braucht nicht besser machen zu können, was er tadelt den selbstverständlichen Hochmut des gelehrten Kritikers im 18. Jahrhundert, der sich seiner philosophischen Überlegenheit in eben dem Maße bewußt ist, wie er vor sich nur den Dichter sieht, der sich allenfalls „poetische Freyheiten“ (Gottsched) erlauben kann, dem es aber an wahrer Einsicht in „Redekunst und Poesie“ mangelt. Schiller wäre ein schlechter Rezensent gewesen, hätte er sich nicht jener Haltung befleißigt, die dem Kunstrichter längst vorgeschrieben war, und er hätte sich selbst desavouiert, wäre er vom Kothurn des „Criticus“ ohne Grund herabgestiegen. Dazu war der Stand des Kritikers zu sehr etabliert, wenngleich Stäudlin seinem Kunstrichter gegenüber gewiß nicht mehr das empfand, was Shaftesbury idealisch verklärte, wenn er schrieb: Such Accuracy of Workmanship requires a CRITICK’s Eye. Tis lost upon a vulgar Judgement. Nothing grieves a real Artist more than that indifference of the Publick which suffers Work to pass uncriticiz’d. Nothing, on the other side, rejoices him more than the nice View and Inspection of the accurate Examiner and Judg of Work.11 Stäudlin hat, verständlicherweise, ganz anders reagiert. Der Kritiker als Kunstrichter, literarische Kritik als philosophische Wissenschaft (oder, wie Shaftesbury es nannte: „the Cause and Interest of CRITICKS […] the same with that of Wit, Learning and good Sense“):12 das hielt sich das ganze 18. Jahrhundert hindurch. Für Bodmer ist literarische Kritik gleichsam der praxisbezogene Teil der Kunsttheorie. Seinem „Criticus“ geht die „Verbesserung der Kunst wahrhaftig zu Hertzen“;13 schon deswegen steht der Kritikus über dem Scribenten, und über dem schlechten allzumal. „Rechtschaffene Kritik“ steht hier gleichrangig neben „rechtschaffener Philosophie“ – daß die literarische Kritik in den vierziger Jahren eine eigene Form noch nicht so recht Ebd., S. 234. Ebd., S. 260. 13 Johann Jacob Breitinger: Critische Dichtkunst. Faksimiledruck nach der Ausgabe von 1740, Stuttgart 1966, Vorrrede. 11 12 54 Der Dichter als Kunstrichter gefunden hatte, spricht nicht dagegen, sondern dafür, da sie sich ja als Teil der allgemeinen Kunstlehre begriff. Diese Herkunft wird das ganze 18. Jahrhundert hindurch nie ganz unsichtbar, bis hin zu Schillers späteren großen Kritiken. Ihre spezifischen literarischen Formen bildeten sich erst allmählich nach Bodmers Vorrede zu Breitingers Critischer Dichtkunst aus, in der sich so etwas wie eine erste umfassendere Grundlegung der literarischen Kritik findet, weil, wie er schreibt, „der Geschmack an critischen Schriften […] bey der deutschen Nation noch nicht so wohl befestiget“ sei, „daß man nicht nöthig hätte, sie mit Vorerinnerungen über gewisse Puncten einzuführen, wiewohl man mit der grösten Begründniß hoffen kan, daß er in kurtzer Zeit insgemeine durchbrechen werde“.14 In den vierziger Jahren aber realisierte sich diese Hoffnung durchaus schon – und bei Lessing ist die Position des Kunstrichters bereits wie selbstverständlich etabliert. Lessings 17. Literaturbrief etwa zeigt deutlich, daß der Kritiker, als solcher autark, gar nicht mehr der Absicherung durch Autoritäten oder Kunstregeln bedarf, wie sich das bei Gottsched noch findet: er ist zu einer absoluten Größe geworden, die nichts mehr über sich kennt. Sie äußert sich schon zu Beginn dieses Literaturbriefes im wie selbstverständlich formulierten Anspruch, auch gegen eine fest etablierte Macht auftreten zu können. Von alledem her wird auch der auf den ersten Blick so merkwürdige Titel der kleinen Schrift Der Recensent braucht nicht besser machen zu können, was er tadelt verständlicher. Er ist der Bessermacherei enthoben, weil er Kritiker ist: eine unbezweifelbare Instanz, die per se recht hat. Der Kunstrichter steht denn auch wie völlig selbstverständlich über dem Poeten, da er noch dann Kunst kritisch beurteilen kann, wenn der Poet schon nicht mehr imstande ist, die Schwächen seiner Arbeit zu sehen. Damit ist der hohe Rang des Kritikers für Lessing endgültig fundiert. Der Kritiker reflektiert, wo der Dichter nur schreibt, und es ist eben dieses Ausmaß an Reflexion, an philosophischer Erkenntnis und Urteilsfähigkeit, das ihn so eindeutig über den Dichter stellt. „Was sind die Gründe des Kunstrichters?“ schreibt Lessing. „Schlüsse, die er aus seinen Empfindungen, unter sich selbst und mit fremden Empfindungen verglichen, gezogen und auf die Grundbegriffe des Vollkommnen und Schönen zurückgeführt hat“.15 14 15 Ebd. Lessing (wie Anm. 8), S. 63. Der Dichter als Kunstrichter 55 Eben das gehört zum Elementarbestand des Kritikers; er braucht sich die Grundbegriffe des Vollkommenen und des Schönen nicht abzuleiten. Nicht mehr ein übergeordnetes Prinzip entscheidet über Rang und Qualität einer Dichtung, sondern eine inhärente Vorstellung des Kritikers: er kann sich auf das Vollkommene und Schöne als gleichsam in ihm selbst anwesende Instanz berufen. Daß es in der Mitte des 18. Jahrhunderts auch Kritik am neuen Kritikerstand gab, minderte nicht dessen Bedeutung, sondern machte nur noch offenkundiger, zu welcher Macht die literarische Kritik inzwischen geworden war. So hat Johann Georg Hamann sich mit sarkastischer Kritik 1762 in seinem Aufsatz über Schriftsteller und Kunstrichter geäußert. Bodmer hatte die Vorrede zu Breitingers Critischer Dichtkunst noch ausdrücklich als „Schutzschrift der Critick“ verstanden; Hamanns Aufsatz ist das genaue Gegenteil. „Die heroischen Zeiten sind an Dieben und die philosophischen an Betrügern fruchtbar“ – damit wird eine Kritik am Kritiker eingeläutet, die ihresgleichen sucht: Ein alter Knabe, der seine eigene Hand nicht lesen kann, der das nicht versteht noch behält, was er selbst schreibt, übernimmt sich gleichwol, jede fremde Schrift aus dem Stegreif aufzulösen. Und wie geschieht das? Weil er sich auf Leser verläst, die eben so unwissend und eben so naseweise, als er selbst ist, denen man jeden blauen Dunst für Wolken, und jede Wolke für eine Juno verkaufen kann.16 Hier deutet sich vorsichtig, zögernd und tastend eine Umorientierung in der Einschätzung des Verhältnisses von Kritik und Poesie an, die wenige Jahre später dazu führen wird, daß die Kunstrichterei nicht an die Dichtung selbst herankommt – weder was den Rang noch was das Verständnis angeht. Die Dichtungsauffassung des Sturm und Drang kündigt sich an, der Protest gegen Vernünftigkeitsvorstellungen und philosophische Ideale der frühen Aufklärung: der Kunstrichter gerät unter den Schriftsteller. Das bedeutet allerdings noch nicht den endgültigen Verruf des Kritikers; Schiller steht mit seinen Rezensionen noch ganz in der Tradition des aufgeklärten Rezensenten, dessen Kunstrichtertum so unbezweifelt wie drakonisch ist. Beim jungen Schiller ist die Position des Kritikers und das Selbstverständnis des Rezensenten noch völlig ungebrochen. Aber es handelt sich hier nicht um eine geradezu 16 Johann Georg Hamann: Sämtliche Werke, Bd. 2: Schriften über Philosophie/Philologie/Kritik 1758-1763, Wien 1950, S. 335. 56 Der Dichter als Kunstrichter böswillige Besserwisserei. Aus Schillers Verurteilung spricht nichts anderes als das Selbstbewußtsein des Kritikers; dieser aber war vorgeprägt, seit Bodmer spätestens fest etabliert, ein Kunstlehrer, auch und gerade wenn er kritisierte, die Personifikation philosophisch richtiger Grundsätze. Und der so anmaßend wirkende Ton der frühen Schillerschen Rezensionen ist nicht Hybris des Sturm und Drang, sondern gehört mit zur gleichsam didaktischen Aufgabe des Kritikers. Kritik demonstriert etwas Positives am negativen Beispiel, und sie tut das, um das Richtige zu zeigen, nicht etwa, um Falsches nur bloßzustellen: und so ist sie Teil einer Aufklärung, die sich als solche, ungebrochen von Empfindsamkeit und Sturm und Drang, auch in den 80er Jahren des 18. Jahrhunderts gerade in der literarischen Kritik fast ungebrochen erhalten hat. Eben diese zu Schillers Zeiten schon traditionelle Rolle des literarischen Kritikers hat das Rezensionswesen zugleich zum Ort grundsätzlicher Stellungnahmen und Feststellungen gemacht. Bis in das Ende des 18. Jahrhunderts hält sich Bodmers Auffassung, daß der schlimme Geschmack einen fürchterlichen Feind bekommen habe: die gesunde Philosophie, „indem diese durch das Mittel der Untersuchung, das ist, der Critick, alles prüffet, und aus einem vorsichtigen Mißtrauen gegen der betrüglichen Empfindung und den ungenugsamen Erfahrungen nichts vor schön annimmt, wovon sie nicht zulängliche Gründe angeben kann“.17 Kritik ist hier freilich in einem umfassenderen Sinne als Philosophie des Schönen schlechthin verstanden. Aber diese Grundhaltung prägt zugleich das im 18. Jahrhundert so breit aufkommende Rezensionswesen. Denn dem Kritikus vor allem geht die „Verbesserung der Kunst wahrhaftig zu Hertzen“, und so rückt schon für Bodmer die „rechtschaffene Critick“ schließlich gleichrangig neben die „rechtschaffene Philosophie“. Der Rezensent weiß nicht nur, durch Tradition und Amt, um die „Grundbegriffe des Vollkommnen und Schönen“ (Lessing); er stellt sie auch dar. Die Kritik setzt Maßstäbe oder bringt sie wenigstens wieder in Erinnerung – und je höher der Kritiker im Rang stieg, desto bedeutsamer wurde das Grundsätzliche bei ihm. Für Bodmer kommt es darauf an, „die Gründe dessen, was wegen der Natur der Sachen gefallen muß, in würcklich mißfallenden Erfahrungen und Beyspielen [zu] erklären“.18 Demonstration des Schönen am abschrecken17 18 Breitinger (wie Anm. 13), Vorrede. Ebd. Der Dichter als Kunstrichter 57 den Beispiel: das ist das eigentliche Feld der literarischen Kritik. Von dorther erklärt sich zu einem guten Teil das Überwiegen einer negativen Kritik vor allem in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts: mit persönlicher Irascibilität oder mißgünstiger bloßer Krittelsucht hat das nichts zu tun und schon gar nichts mit einer modisch gewordenen literarischen Mordlust. Denn die literarische Kritik des 18. Jahrhunderts hatte eben das, was der modernen Kritik so sichtbarlich abgeht: Grundbegriffe des Vollkommenen und Schönen. Sie sollen demonstriert werden, und zwar dort, wo die literarische Kritik ihr Feld hat: am negativen Beispiel. Sie hat zu zeigen, wie es nicht sein soll, damit um so deutlicher werde, wie es wirklich sein müsse. Und damit kein Zweifel sei, daß es dem Kritiker nicht um ein boshaft-vergnügliches Gericht über jemanden gehe, der sich nicht wehren kann, hat Bodmer das Tun des Rezensenten, das also auf die Demonstration des Schönen durch das Beispiel des Häßlichen hinauslief, als ein höchlichst moralisches beschrieben: „Die reinen und aufrichtigen Absichten eines solchen Critici kann man daraus erkennen, wenn er zeiget, daß er an der Entdeckung der Fehler mehr Verdruß als Lust und Vergnügen schöpfe“.19 Der Kritiker richtet nur ungern; aber er muß es, so sagt Breitinger, weil es seines Amtes ist, am Kleinlichen das Große zu zeigen und am Mißlichen das Wahre. Das alles ist natürlich nicht kodifiziert; aber da Schillers frühe Rezensionen über den ersten Eindruck von Willkür, Rechthaberei und Anmaßung hinweg sich nur zu deutlich in dieses Schema fügen, liegt es nahe anzunehmen, daß auch seine Kritiken diesem Grundschema folgen, das sich in den 40er Jahren entwickelte. Jedenfalls spricht mehr dafür als dagegen. Man würde Schillers frühe Rezensionen (von aller juvenilen Streitlust, die sicherlich auch mitspielte, einmal abgesehen) mißverstehen, sähe man in ihnen nur den Wunsch nach möglichster Vernichtung des literarischen Kontrahenten dokumentiert. Literarische Kritik ist auch in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts durch alle Destruktion hindurch konstruktiv orientiert: das Falsche wird bloßgestellt, um das Richtige zu zeigen. Es wäre absolut irrig anzunehmen, daß die kritische Analyse auf das Eigenwerk und die Eigenexistenz des Kritisierten ausgerichtet sei. Die Kritik zielt aufs Allgemeine und nicht aufs Einzelne; sie ist genotypisch orientiert und nicht individuell, und das Einzelwerk wird nicht an seinen inhärenten Maßstäben gemessen 19 Ebd. 58 Der Dichter als Kunstrichter als vielmehr an den Maßstäben der Kunst schlechthin. Und dementsprechend stehen denn auch in den frühen Rezensionen Schillers meist grundsätzliche Feststellungen. So geht er schon in seiner ersten Stäudlin-Rezension „zuvörderst“ auf die Problematik von Übersetzungen an sich ein, aufs Grundsätzliche derartiger Unternehmungen: „Von einer Übersetzung fordere ich, daß sie Treue mit Wohlklang verbinde; daneben den Genius der Sprache, in der sie geschrieben ist – nicht aber den der Originalsprache atme. Also gehört zu einem guten Übersetzer genaue Philologie einer doppelten Sprache“.20 Das ist freilich alles ziemlich selbstverständlich. Aber bedeutsamer ist, daß sich die Frage, ob Stäudlin den gleichen Grundsätzen huldige, überhaupt nicht stellt: nicht Stäudlin interessiert, sondern die Regel einer guten Übersetzung, die für die Übersetzung spezifischen „Grundbegriffe des Vollkommnen und Schönen“. Und so geht es in Schillers Rezensierpraxis weiter. Die Besprechung des Schwäbischen Musenalmanachs von 1782 setzt mit einer Erörterung über Almanache überhaupt ein: das Generische ist von Belang, nicht das Individuelle, denn an jenem wird dieses gemessen. Die Rezension über Stäudlins Vermischte poetische Stücke beginnt (nach einem rhetorischen Seitenhieb auf die schwere Fron des armen Pegasus bei Stäudlin) mit der Feststellung: Wenn in unserm philosophisch kalten Zeitalter und nach so vielen trefflichen Dichtern ein neuer Sänger Aufsehen erregen und, was unendlich mehr heißt, auf Gesinnungen und das ganze System unsrer Empfindungen tief und daurend wirken will, so muß er etliche seltne Eigenschaften vereiniget haben. 21 Das eben ist es; und ohne dieses Grundsätzliche geht es nicht. Erst dann kommt er auf Einzelheiten und auf Stäudlin, den „Nichtsinn“ und „leeren Schellenklang“ seiner Gedichte; und reichlich unvermittelt bricht Schiller ab. Aber das Wesentliche ist ja auch schon gesagt, es steht am Anfang, in aller Kürze; denn Schiller kann sich auf Grundsätze berufen, die selbstverständlich sind – wenigstens für ihn. Natürlich folgt nicht jede literarische Kleinanzeige diesem Schema. Aber es findet sich, wenn auch manchmal nur in rudimentären Ansätzen, doch zu häufig, als daß man hier an rezensorische Willkür glauben mag. Nicht die Individualitäten der Besprochenen interessieren, sondern Grundsätze und allenfalls die Differenzen zwischen diesen 20 21 NA 22, S. 180. NA 22, S. 189. Der Dichter als Kunstrichter 59 Grundsätzen und dem Kritisierten. Die Suche nach individuellem Werkverständnis, nach einem Eingehen des Rezensenten auf die besonderen Prämissen dessen, den er bespricht, wäre ganz sinnlos. Prinzipien gelten, und der Dichter hat sie zu befolgen, beileibe nicht erst zu entwerfen. Die legislative Macht des Rezensenten wird in späteren Rezensionen nicht geringer, sondern eher nur noch deutlicher. Geradezu prototypisch ist die Egmont-Rezension; sie setzt (nach einigen einführenden Hinweisen) mit einer massiven Grundlegung ein, an der selbst Goethe nicht vorbeikommt; kaum in einer anderen Rezension Schillers wird der Anspruch des Kritikers, „Kunstlehrer“ und „Kunstrichter“ sein zu wollen, der nicht bloß empfindet, „daß ihm etwas nicht gefällt“, sondern der „auch noch sein denn“ hinzufügt,22 so deutlich wie hier, wenngleich es in Schillers Augen nicht nur Schwächliches und Unverständliches, sondern auch sehr viel Überzeugendes gibt. Aber am Anfang steht die Proklamation poetologischer Grundsätze, und nichts wirkt im Zusammenhang mit der Geschichte des Rezensionswesens im 18. Jahrhundert selbstverständlicher als das. Entweder es sind außerordentliche Handlungen und Situationen, oder es sind Leidenschaften, oder es sind Charaktere, die dem tragischen Dichter zum Stoff dienen; und wenn gleich oft alle diese drei, als Ursach und Wirkung, in Einem Stücke sich beisammen finden, so ist doch immer das eine oder das andere vorzugsweise der letzte Zweck der Schilderung gewesen: damit beginnt ein langer Passus über Stoffe und die Konzeption des Tragischen, an der auch neue Formen der Tragödie nichts ändern können, und nichts könnte deutlicher den gesetzgeberischen Aspekt des Kritikers unterstreichen als der letzte Satz dieser Einführung: „Es ist hier nicht der Ort zu untersuchen, wie viel oder wie wenig sich diese neue Gattung mit dem letzten Zwecke der Tragödie, Furcht und Mitleid zu erregen, verträgt; genug, sie ist einmal vorhanden, und ihre Regeln sind bestimmt“.23 Das ist es; und der Kritiker ist berufen, eben diese Regeln wieder in Erinnerung zu rufen: das ist seines Amtes seit Gottscheds und Breitingers Zeiten. Und erst nach einem weiteren Passus über die Geschichte des wahren Egmont kommt Schiller zu „diesem Trauerspiel“ – also zur 22 23 Lessing (wie Anm. 8), S. 63. NA 22, S. 199f. 60 Der Dichter als Kunstrichter Sache im heutigen Sinne, im Sinne des 18. Jahrhunderts aber zum singularen Demonstrationsobjekt, das letztlich nicht viel mehr ist als Mittel zum Zweck, nämlich ein Instrument zum Nachweis dessen, was am Anfang stand: der „Regeln“, die ein für allemal „bestimmt“ sind. Man muß um die Vorgeschichte des Rezensionswesens im 18. Jahrhundert wissen, um auch Schillers Rezension Über Bürgers Gedichte recht zu verstehen. Schiller hatte nicht reine Freude damit, und wenn Goethe auch öffentlich erklärt hatte, „er wünschte Verfasser davon zu sein“,24 so gab es scharfe Angriffe auf Schiller. Man hat Schiller ebenso Einseitigkeiten seiner Theorie vorgeworfen wie mangelndes Verständnis für lyrische Dichtung, persönliche Feindseligkeit Bürger gegenüber wie mangelndes Einfühlungsvermögen in die Voraussetzungen eines ihm allerdings nicht sonderlich verwandten Lyrikers. Humboldt hat in seiner Darstellung Über Schiller und den Gang seiner Geistesentwicklung 1830 nachträglich in aller Kürze darüber berichtet, wenn er schrieb: „Die Rezension der Bürgerschen Gedichte […] hat Schillern den Vorwurf der Ungerechtigkeit gegen diesen mit Recht geliebten Dichter zugezogen. Allerdings ist sie streng“. Freilich zeigen sich auch hier schon die Spuren der Mißverständnisse, wenn Humboldt schreibt: „Allein an den darin aufgestellten allgemeinen Forderungen würde er darum gewiß nichts nachgelassen haben, und diese verdienen gerade hier als wahrhaft individuelle und persönliche Ansicht Schillers herausgehoben zu werden. An niemand richtet er diese Forderungen so streng als an sich selbst“.25 Eben das ist falsch oder zumindest einseitig: Schillers grundsätzliche Ansicht mag eine „wahrhaft individuelle und persönliche“ gewesen sein, aber das tut hier nichts zur Sache, und damit ist diese auch gewiß nicht zureichend begründet. Schiller spricht als Kritiker, als Kunstrichter, der nach Grundsätzen an sich urteilt und gewiß nicht nach solchen, die bloß in seiner Person begründet sind. Verkannt worden ist das immer wieder; es führte fast zwangsläufig dazu, daß man Bürger in Schutz nahm. Noch Jacob Grimm erwähnt in seiner Rede auf Schiller 1819, daß die Rezension über Bürgers Gedichte „diesem sehr wehe tat und auch manches an ihm verkennt“26 – ersteres stimmt, letzteres nur dann, wenn man von der Kritik ein individuelles Zur Aufnahme der Rezension vgl. NA 22, S. 410ff. Vgl. Norbert Oellers: Schiller – Zeitgenosse aller Epochen, Bd. 1, Frankfurt am Main 1970, S. 294. 26 Ebd., S. 450. 24 25 Der Dichter als Kunstrichter 61 Eingehen auf individuelle Ansprüche erwartet. Das aber war nicht Schillers Absicht. 1910 war in einer Schillerrede von Herbert Eulenberg gar davon die Rede, daß Schiller Bürger „mit seiner sinnlosen Gehässigkeit in den Tod getrieben hat“.27 Das ist von der Biographie Bürgers her gesehen Unsinn, wie wir wissen; erstaunlich, daß es sich so lange gehalten hat. Noch erstaunlicher ist freilich, daß man das Muster der Kritik darin so völlig verkannt hat. Schiller selbst hat sich in aller Klarheit darüber ausgesprochen, was ihm an Bürgers Gedichten so maßlos mißfiel, nachdem er seitenlang an die „höchsten Forderungen der Kunst“ erinnert hatte. Über die von ihm proklamierten Kunstgesetze – die Forderung, daß der Künstler seine Individualität zu veredeln habe, bei „glücklicher Wahl des Stoffs und höchster Simplizität in Behandlung desselben“28 – ist hinreichend genug geschrieben worden; sie interessieren hier auch nicht primär. Uns beschäftigt Schillers Strategie: und die ist eben die, die ihm die Rezensionstradition seit Bodmers Bemerkungen über den Kritiker und sein schwieriges Geschäft vorschreibt. Es ist zugleich, nur ins Kolossale verschoben, die seiner frühen Rezensionen. Schiller verfährt übrigens auch innerhalb dieser Rezension im Kleinen so, wie er im Ganzen vorgeht: einzelne Gedichte werden am jeweils noch einmal vorgestellten ästhetischen Gesetz gemessen. Schiller setzt gleichsam mehrfach an: auf die Darlegung des ästhetischen Grundsatzes, daß der Dichter seine Individualität „zur reinsten herrlichsten Menschheit hinaufzuläutern“ habe, folgt die Kritik am Volkssänger und an einzelnen Liedern Bürgers: An die Hoffnung, Die Elemente, Die Göttingische Jubelfeier und einiges mehr. Auf die Feststellung, daß nichts „die harmonische Wirkung des Ganzen“ stören dürfe, folgt als Gegenbeispiel Bürgers Elegie, als Molly sich losreißen wollte; auf die Forderung, daß der Dichter „das Individuelle und Lokale zum Allgemeinen zu erheben“ habe, folgen wiederum negative Beispiele: Das Mädel, das ich meine, Das hohe Lied und „mehrere andre“. Nach Hinweisen auf die „Schönheit der Form“ kommen kritische Bemerkungen zu Einzelnem: zum Blümchen Wunderhold (auch wenn Schiller hier noch einiges Lob spendet). Das ist sicher kaum Willkür, auch nicht ein beliebiges Durchsetzen des Grundsätzlichen mit Beweismaterial. Der Proklamation von Gesetzen folgt jedesmal (in freilich mehr oder minderer Deutlichkeit) die kritische Examination des zur 27 28 Ebd., Bd. 2, München 1976, S. 248. NA 22, S. 248. 62 Der Dichter als Kunstrichter Kritik Anstehenden; und für Schiller trifft die Bemerkung Bodmers, daß „dem Criticus die Verbesserung der Kunst wahrhaftig zu Herzen“ geht, ebenso zu wie der Satz von den „reinen und aufrichtigen Absichten“ eines Kritikers, der „zeiget, daß er an der Entdeckung der Fehler mehr Verdruß als Lust und Vergnügen schöpfe“. Schiller hat am Ende seiner Rezension ausdrücklich festgestellt, daß er „bei Gedichten, von denen sich unendlich viel Schönes sagen läßt, nur auf die fehlerhafte Seite hingewiesen“ habe,29 und er hat das damit begründet, daß diese Ungerechtigkeit nur einem Dichter „von Hn. B. Talent und Ruhm“ gegenüber zu vertreten sei. Konstruktive Kritik am destruktiven Exempel: Schiller befolgt diesen Grundsatz beinahe bis zum Extrem. Bürger verfaßte damals eine Antikritik, die von seiner Verwirrung ebenso zeugt wie von seiner Überraschung. Er mochte nicht anerkennen, daß da neue „Geschmacksnormen“ festgelegt worden waren, denen er sich so bedingungslos unterwerfen sollte. Aber Schiller hat in seiner Verteidigung des Rezensenten noch einmal seine Kunstrichterrolle bekräftigt: „Herrn Bürgers Sache wäre es gewesen, die Anwendung der vom Rez. aufgestellten Grundsätze auf seine Gedichte, nicht aber diese Grundsätze selbst zu bestreiten, die er im Ernst nicht wohl leugnen, nicht mißverstehen kann, ohne seine Begriffe von der Kunst verdächtig zu machen“.30 Das ist eine nur zu deutliche Bestätigung seiner Rezensionsstrategie, der die „Grundsätze“ über alles gehen und der die poetische Individualität und Eigengesetzlichkeit nichts bedeuten. Schiller wußte sich im übrigen dadurch gesichert, „daß er in seinem Urteile über Hn. B. die Meinung einiger der kompetentesten Geschmacksrichter von diesem Schriftsteller ausgesprochen habe“.31 Da ist er wieder, der Kritiker der Breitinger-Zeit, der nicht zu den „Richtern“ gehört, „die ihr Urtheil auf die bloße Erfahrung und Empfindung stützen“, und noch weniger zu den „Skribenten von verderbtem Geschmack“; der vielmehr „aus einem vorsichtigen Mißtrauen gegen der betrüglichen Empfindung und den ungenugsamen Erfahrungen nichts vor schön annimmt, wovon sie nicht zulängliche Gründe angeben kann“. Schiller ist die lebendigste Verkörperung dieser Grundsätze in seiner Bürger-Rezension, und er spricht Recht nach eben den Vorstellungen von Kritik, die Bodmer schon hatte. An Bürgers 29 30 31 NA 22, S. 258. NA 22, S. 262. NA 22, S. 264. Der Dichter als Kunstrichter 63 Gedichten wird ein Exempel statuiert, und nur deswegen interessieren sie und werden sie besprochen, nicht um ihrer selbst willen, sondern allein als negatives Anschauungsmaterial. Schiller ruft Maßstäbe in Erinnerung, um an diesen dann das lyrische Werk Bürgers zu prüfen. Wir haben es fast überdeutlich mit dem im 18. Jahrhundert dominanten Typus der normierenden Rezension zu tun: hier manifestiert sich noch einmal das Grundsatzdenken des Jahrhunderts, und damit ist Schillers Bürger-Rezension eine einzigartige Verteidigung ästhetischer Gesetzlichkeiten an sich. Es muß dem Künstler darum gehen, „das Individuelle und Lokale zum Allgemeinen zu erheben“. Das wirkt fast wie eine Umkehr des Lessingschen Satzes aus den Abhandlungen über die Fabel, daß das Allgemeine nur im Besonderen existiere und nur im Besonderen anschauend erkannt werden könne.32 Aber gemeint ist beide Male das Gleiche: die unbezweifelbare Macht des „Allgemeinen“, und wir haben es jeweils doch wohl nur mit einer verschiedenartigen Ausprägung der für das 18. Jahrhundert so konstitutiven Spannung zwischen dem Einzelnen und dem Allgemeinen, dem Individuellen und dem Generischen, dem Sonderfall und dem Exemplarischen zu tun. Eben diese Beziehung zwischen dem Einzelnen und dem Allgemeinen stellt auch Schiller in seiner Rezension her, und damit fällt der Vorwurf, daß Schiller hier nach Maßstäben geurteilt habe, die dem Bürgerschen Werk gar nicht zugrunde gelegen hätten, in sich zusammen. Daß wir es hier, was Schillers Kritik angeht, nicht mit einem Sonderund Einzelfall zu tun haben, zeigt auch die Rezension Über Matthissons Gedichte, in der das Problem des Verhältnisses von Subjektivem und Objektivem noch einmal abgehandelt wird, und auch die Über den Gartenkalender auf das Jahr 1795 ist nach dem gleichen Prinzip geschrieben, das den Einzelfall immer nur vor einem allgemeineren Hintergrund sehen und würdigen kann. Die Nähe der literarischen Kritik zur literarischen Theorie ist in der Bürger-Rezension aber wohl am größten; die Kritik erweist sich geradezu als eine Form der literarischen Theorie. Daß das möglich werden konnte, liegt freilich nicht an der Unschärfe der Rezension als literarischer Form oder an den ziemlich schrankenlos sich ausbreitenden ästhetischen Problemen. Es ist vielmehr Folge einer Kunstanschauung, die das Einzelne nur vom Aspekt des Ganzen her verstehen konnte; so drang Allgemeines in die Rezension über ein einzelnes Werk ein, und so konnte dieses zum legitimen Anlaß werden, 32 Vgl. Gotthold Ephraim Lessings sämtliche Schriften (wie Anm. 8), Bd. 7, S. 443. 64 Der Dichter als Kunstrichter Grundsätzliches festzustellen. Auch das trägt ebenso wie der seit Bodmer hohe Rang des Kritikers zur Aufwertung des Rezensionswesens entscheidend bei. Schon Lessing hatte in seiner Hamburgischen Dramaturgie am Einzelfall allgemeine poetologische Gesetzlichkeiten demonstriert. Schiller argumentiert nicht anders, und seine Kritik ist ganz im Sinne der Vorstellungen vom wahren Wesen einer Kritik dabei alles andere als rein destruktiv: er findet immer wieder entschuldigende Worte, um nicht nur zu kritisieren, sondern um die Schwächen noch herabzuspielen. Es ist die Tradition der konstruktiven Kritik im 18. Jahrhundert, die hier weiterwirkt, aber eben auch die der philosophischen Kritik, die über der Kunst steht. Kein anderer Satz könnte das besser verdeutlichen als der in Schillers Verteidigung gegen Bürgers Antikritik: „Schüchtern trete der Künstler vor die Kritik und das Publikum, aber nicht die Kritik vor den Künstler, wenn es nicht einer ist, der ihr Gesetzbuch erweitert.“ Es gibt andere Aspekte, die ebenfalls darauf hindeuten, wie stark sich Schiller in die Tradition der literarischen Rezension stellt. Schiller bezieht auch den Leser, das Publikum in seine Kritik mit ein, er läßt es mitsprechen und von seinem rezensorischen Gegenstand her angesprochen sein. Spätestens seit den frühen Rezensionen Lessings, etwa der Klopstockschen Ode an Gott, ist auch das Publikum und dessen Erwartung berücksichtigt. Von da an wächst der Einbezug des Lesers in den Bewußtseinshorizont des Rezensenten. Das Publikum spielt auch in Schillers Bürger-Rezension eine wichtige Rolle. Zunächst einmal tritt Schiller als Vertreter des Publikums auf; es sind nicht Anmerkungen eines Spezialisten, die hier gegeben werden, sondern Kommentare eines kritischen Zeitgenossen. Schiller kritisiert gleichsam von einer Allgemeinheit her, deren Teil er selbst ist: die Perspektive des Rezensenten hat sich damit zwangsläufig ausgeweitet. Das zeigt schon der erste Satz: „Die Gleichgültigkeit, mit der unser philosophierendes Zeitalter auf die Spiele der Musen herabzusehen anfängt, scheint keine Gattung der Poesie empfindlicher zu treffen als die lyrische.“33 Hier geht es nicht mehr bloß um die Beziehung eines einzelnen Rezensenten zu einem einzelnen Werk, sondern um solche der Öffentlichkeit, der Zeit zu einem literarischen Produkt, das allein durch das Faktum seiner öffentlichen Existenz auch eine öffentliche Angelegenheit geworden ist: und damit hat zugleich die Rezension ihren eigentlichen Öffentlichkeitscha33 NA 22, S. 245. Der Dichter als Kunstrichter 65 rakter erreicht. Vom Allgemeinheitsanspruch der Kritik her ist auch am leichtesten verständlich, daß sich in die literarische Kritik hier immer auch Zeitkritik mit einmischt, eine Kritik des Kunstrichters auch am Publikum, wie das bereits der erste Satz deutlich zu erkennen gibt. „Die Zeit“ gehört zu den Abstraktionen der Klassik – hier ist sie schon anwesend, in der Kritik und aus der Sicht des Rezensenten, der sich freilich nur sehr eingeschränkt als ihr Teilhaber begreift. Die geradezu intime Beziehung zwischen Dichter und Leser, wie sie sich noch bei Lessing in seinen frühen Rezensionen abzeichnet, ist dahin – an ihre Stelle ist das Publikum getreten, eine Lesermasse, die für Schiller nicht mehr differenzierbar ist. Aber sie ist da, es geht nicht ohne das Publikum – und auch darin ist Schiller Traditionalist im Rahmen dessen, was der Rezensionsstil ihm gewissermaßen vorschrieb. Bürger verstand das alles nicht; er begriff nicht, wieso er Gesetzen genügen sollte, die ein anderer ersonnen hatte, und warum er nach ästhetischen Grundsätzen verurteilt wurde, die er nicht gekannt hatte. Doch aus seiner Antikritik spricht, nachträglich besehen, nicht nur der konfus gewordene Volksdichter, dem plötzlich verleidet werden sollte, was viele an ihm gerühmt hatten. Er verspottet das „höhere Genie“, das sich hier ein Kunstrichtertum angemaßt hatte, wozu es in Bürgers Augen nicht legitimiert war. Und er schrieb: „Wäre nun mein Beurteiler kein höheres, sondern ein Kunstgenie bloß meinesgleichen, so würden unsere einander entgegenstehenden Autoritäten, wie zwei gleiche unabhängige Kräfte sich wenigstens die Wage halten, und sein Geschmack müßte von dem meinigen, wie ein Souverain von dem andern, wo nicht mit schüchterner, doch mit bescheidener Achtung sprechen.“34 Es war eine etwas simple Verteidigungsstrategie, die Bürger da einschlug – aber sie scheint über die von ihm aus so gesehene persönliche Fehde doch ein neues Zeitalter in den Beziehungen des Kritikers zu seinem Gegenstand einzuläuten. Denn was Bürger, wenn auch nur andeutungsweise, vertritt, ist die Idee von der Eigengesetzlichkeit der jeweiligen Kunstmaximen und die These, daß jeder nach seinen eigenen Werten beurteilt zu werden verdiene. Für Bürger liegen die ästhetischen Maßstäbe nicht in einer allgemeinen Gesetzlichkeit, sondern im jeweiligen Literaturwerk selbst. Es ist nichts Geringeres als die Auflösung der Ästhetik des 18. Jahrhunderts, die sich hier ankündigt, der Einzug neuer Wertungskriterien, die Ahnung dessen, daß die Zeit allgemeiner Kunstre34 NA 22, S. 421. 66 Der Dichter als Kunstrichter geln und einer fraglosen Kunstrichterei vorbei sei. Mit Schillers BürgerRezension endigt die Ära einer Kritik nach unbezweifelbaren Grundsätzen und den „Grundbegriffen des Vollkommnen und Schönen“. Und die Epoche, in der literarische Wertung zum Problem werden sollte, beginnt. D E N KE N IN B I LD E RN Zu Schillers philosophischem Stil Schiller gilt als abstrakter Kopf. Vor einem Vierteljahrhundert hat Elizabeth M. Wilkinson mit der ganzen Autorität der Kennerin und genauen Übersetzerin kategorisch festgestellt: „He does not create symbols, and his images are for the most part derivative – derived from the German baroque or from French classical tragedy – and mainly illustrative in function.“1 Dieses Urteil war eindeutig, und es ist seitdem auch nicht mehr ernsthaft revidiert worden. Ihr Votum war nicht unbegründet – aber war es tatsächlich richtig? Zwar hat Schiller selbst einiges dazu getan, um sich den Ruf eines aller Bildhaftigkeit mehr oder weniger abholden Schriftstellers einzutragen – und Goethe hat ebenfalls mitgeholfen. Der berühmte freundschaftliche Streit über die Urpflanze, von Goethe als Erfahrung, von Schiller als Idee betrachtet,2 hat zweifellos seine langzeitigen Polarisierungseffekte gehabt: Anschaulichkeit schien nicht Schillers Sache zu sein. Vorher schon hatte er sich in der Auseinandersetzung mit Bürger zu Äußerungen hinreißen lassen, die ohnehin den Verdacht nähren mußten, daß der Gedanke bei ihm in jedem Fall höher stehe als das Bild – was ihn an Bürger störte, war nicht nur die mangelnde Idealisierungsfähigkeit, sondern auch hier und da „ein unedles, die Schönheit der Gedanken entstellendes Bild“.3 An Imaginationen, so Schiller, fehle es Bürger nicht; er spricht ausdrücklich von dessen „Reichtum an Bildern“;4 aber Bürger blende durch üppige Farbenwechsel besonders jene Leser, „die nur für das Sinnliche empfänglich sind und, den Kindern gleich, nur das Bunte bewundern“.5 Die folgende intensive Beschäftigung mit Kants Schriften mußte den Ein1 Elizabeth M. Wilkinson: Schiller – Poet or Philosopher? Special Taylorian Lecture Delivered 17 November 1959, Oxford 1961, S. 22. 2 Darüber Goethe in den Paralipomena zu den Annalen. Goethes Sämtliche Werke. Jubiläums-Ausgabe, Stuttgart/Berlin o. J. (=JA), Bd. 30, S. 391. 3 Schillers Werke. Nationalausgabe, hg. von Julius Petersen (†) und Gerhard Fricke, Weimar 1943ff. (= NA), Bd. 22, S. 251. 4 NA 22, S. 256. 5 NA 22, S. 254. 68 Denken in Bildern druck vom abstrakten philosophischen Kopf nur noch verstärken. Darüber hinaus hatte Schiller sich mehrfach gegen eine illustrative Philosophie ausgesprochen. Noch im Brief an Goethe vom 12. Januar 1798, von Elizabeth Wilkinson als Kronzeuge ihres Verdikts zitiert, schreibt Schiller in der Tat davon, wie gefährlich es sei, einen theoretischen Satz unmittelbar durch Versuche beweisen zu wollen. Es stimmt dieß wie mir däucht mit einer andern philosophischen Warnung überein, daß man seine Sätze nicht durch Beispiele beweisen solle, weil kein Satz dem Beispiel gleich ist.6 Dieser Standpunkt war bei Schiller, wenn man den Interpreten glauben darf, damals aber schon längst fest einzementiert. So hatte er bereits am 10. November 1794 an Körner ähnlich geschrieben: „Der Leser soll denken, das kann ihm bey Philosophischen Materien nie erspart werden, und wenn er nicht in dem Context des Ganzen den Schlüßel zu den schwürigen Stellen findet, so kann ihm nicht geholfen werden.“7 Schließlich wird immer wieder auch der Briefentwurf an Fichte vom 4. August 1795 ins Feld geführt, in dem Schiller an die „gesunde Vernunft“ appelliert und gegen den „heillosen Geschmack“ zu Felde zieht.8 Alles das führt zu dem von Elizabeth Wilkinson mehrfach formulierten Urteil: „Schiller was, as he explained on more than one occasion, highly suspicious of illustrations in philosophy. […] His images are far fewer than Fichte and many others since have asserted; they are never original, not always felicitous, and rarely potent.“9 Aber ist Schiller wirklich der nüchterne Philosoph, abstrakter Denker mit einem Primitivschatz an Bildern, der Idee ausschließlich und der Empirie gar nicht zugetan, ein kantischer Rigorist, ohne Anschauungskraft, zum Sehen unbegabt, jeglicher einleuchtenden Illustration abgeneigt, voller Verdacht gegen die sinnliche Gewalt und Überzeugungsmacht eines Bildes? Auch Goethe hat ihn im Grunde genommen, wenn auch mit freundlicheren Worten, so geschildert, in Schiller den Idealisten gesehen und nicht den Realisten, immer wieder hat er die Differenz der Individualitäten beteuert10 und selbst in einem Spätwerk, nämlich in NA 29, S. 186. NA 27, S. 80. 8 NA 28, S. 20. 9 Wilkinson (wie Anm. 1), S. 17. 10 Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche, 40 Bde., hg. von Friedmar Apel u. a., Frankfurt am Main 1987ff. (= FA), Bd. I,17, S. 392. 6 7 Denken in Bildern 69 den Annalen, seinen ganzen Widerspruch zu Schillers abstrakter Denkart noch einmal formuliert, auch jene Begegnungssituation beschrieben, in der Schiller so rigoros zum Ideenverteidiger geworden war. Goethe empfindet, ein Menschenalter nach jener Begegnung, noch einmal die ihn bedrückende, unglücklich machende Gegenwart eines Kantianers, der keine Brücke sah zwischen Erfahrung und Idee und der Äußerungen tat wie jene: „Wie kann jemals Erfahrung gegeben werden, die einer Idee angemessen sein sollte? Denn darin besteht eben das Eigentümliche der letzteren, daß ihr niemals eine Erfahrung kongruieren könne.“11 Das Bild vom kruden Idealisten, der um der Idee willen die Wirklichkeit verachten mußte, war fertig, und es hielt sich bis heute. Erste Zweifel an diesem glatten, freilich nicht sehr schmeichelhaften Bild vom kargen Denker, der zur Imagination ein feindliches, bestenfalls gespanntes Verhältnis hatte, müssen freilich schon dann aufkommen, wenn man die immer wieder als Paradebeispiele herangezogenen Bemerkungen Schillers genauer prüft. Die zitierte Äußerung an Körner, daß der Mensch denken solle und ihm dieses bei philosophischen Materien nie erspart werden könne, ist keine programmatische Erklärung an sich, sondern bezieht sich auf Reaktionen Körners auf die Briefe Ueber die ästhetische Erziehung, ist also nur ein nachträglicher Kommentar zu den dort von ihm bereits vorgetragenen „Kantischen Ideen“;12 unter keinen Umständen kann aus diesem Brief, wie Elizabeth Wilkinson das getan hat, herausgelesen werden, daß Schiller einen tiefen Verdacht gegen Illustrationen in der Philosophie hege. Das gleiche gilt für das Briefkonzept Schillers an Fichte vom 4. August 1795. Kein Wort davon in diesem Brief, daß Schiller ein Bilderfeind in der Philosophie sei, wohl aber die prophetische Voraussage, daß seine, Schillers, Schriften noch beachtet würden, wenn die Fichtes längst „zwar citiert und ihrem Werth nach geschätzt, aber nicht mehr gelesen werden“13 – ein akademisches Begräbnis erster Klasse für jene, während Schiller nur zu sehr recht behalten sollte, was seine eigenen Arbeiten betraf. Aber Schiller war kein Prophet aus bloßer Geisterseherei heraus. Er begründet seine hellseherische Meinung indirekt mit Fichtes trockener, kommunikationsfeindlicher „Verfahrensart“: 11 12 13 JA 30, S. 392. NA 27, S. 80. NA 28, S. 22. 70 Denken in Bildern weil Schriften, deren Werth nur in den Resultaten ligt die sie für den Verstand enthalten, auch wenn sie hierinn noch so vorzüglich wären, in demselben Maasse entbehrlich werden, als der Verstand entweder gegen diese Resultate gleichgültiger wird, oder auf einem leichtern Weg dazu gelangen kann: da hingegen Schriften, die einen, von ihrem logischen Gehalt unabhängigen Effekt machen, und in denen sich ein Individuum lebend abdrückt, nie entbehrlich werden, und ein unvertilgbares Lebensprinzip in sich enthalten, eben weil jedes Individuum einzig und mithin auch unersetzlich ist.14 Doch auch der dritte Kronzeuge in der Wilkinsonschen Argumentation, Schillers Brief vom 12. Januar 1798, ist nicht zu gebrauchen. Denn Schillers Hinweis darauf, daß man „seine Sätze nicht durch Beispiele beweisen solle“, ist nur eine konformistische Bemerkung, keine eigene Forderung, affirmative Zustimmung zu einer Bemerkung Goethes, wie gefährlich es sei, „einen theoretischen Satz unmittelbar durch Versuche beweisen zu wollen“ – Schiller bedankt sich ohnehin nur so höflich wie unverbindlich für einen ihm von Goethe zugesandten Aufsatz Der Versuch als Vermittler von Object und Subject; von einer wirklich eigenen Stellungnahme und von originären Bemerkungen zur Rolle und Bedeutung der Imagination ist nichts zu finden. Mit keinem Wort ist hier von Bildern die Rede, umso ausführlicher von der davon recht weit abliegenden Frage, wie es um das Verhältnis von Versuch und Lehrsatz bestellt sei – ein Problem, das aber auch Goethe mit vorsichtiger Zurückhaltung behandelt, da er im Grunde überzeugt ist, daß der Versuch als Beweisinstrument unzulänglich und voller Irrtümer ist. Ein naturwissenschaftliches Problem also, und Schillers Brief enthält freundliche Zustimmung, nicht mehr. Aus alledem läßt sich kaum folgern, daß eine illustrativ arbeitende Philosophie Schiller höchst verdächtig gewesen sei, so wenig sich daraus ableiten läßt, daß Schillers Bilder nur ornamentalen Charakter hätten. Noch problematischer ist die Ansicht, sie hätten für Schiller bestenfalls eine stützende, bestätigende, zusätzlich erläuternde Funktion gehabt, aber niemals Beweiskraft bekommen, sie seien also für ihn stets nur Erkenntnisinstrumente zweiten Ranges gewesen, niemals mehr, und von Schiller selbst gründlich mit Mißtrauen bedacht und beargwöhnt: So habe er seinem zwar vorhandenen, aber eher rudimentär entwickelten und mehr spärlichen Imaginationsvermögen von vornherein eine tiefe Grube gegraben. Warum sollte Schiller den Bildge14 NA 28, S. 22. Denken in Bildern 71 brauch derart verdächtigt haben? Um über eine eigene spezifische Bildunfähigkeit hinwegzutäuschen? Elizabeth Wilkinson hat noch einen anderen Grund genannt: Schiller habe beansprucht, als Philosoph betrachtet zu werden („he was actually called to a Chair of Philosophy in Tübingen but declined“). Gewiß wollte er das – aber konnte das die Bildlichkeit von vornherein desavouieren? Das hätte der ganzen deutschen philosophischen Tradition des 18. Jahrhunderts widersprochen – eine überzeugende Begründung ist das also nicht. Im Gegenteil: Schiller hat bis dahin nie die Philosophie als bildlose Kunst treiben wollen. Er hat auch nie, wie die immer angeführten Belegstellen ex negativo zeigen, poetische Bilder im Kontext philosophischer Aussagen als bloße Illustrationen gewertet, wohl aber sehr genau das Problem gesehen, das sich bei der bildlichen Beweisführung philosophischer Sätze stellt. Eben von dorther läßt sich auch sein Interesse an Goethes Aufsatz über den Versuch als Vermittler von Object und Subject erklären: denn dem Versuch und seiner Position im Bereich der naturwissenschaftlichen Beweisführung entspricht in etwa, freilich mit den Unterschieden, die sich aus der Natur der Sache ergeben, die Problematik des poetischen Bildes dort, wo es mit Erkenntnisfunktion beladen wird. Wenn Schiller sich in der Mitte der 90er Jahre mehrfach zur Bildlichkeit äußert, dann nicht, um ihr rigoros zu entsagen. Vielmehr spricht alles dafür, daß Schiller sich in diesen Jahren bemühte, Möglichkeiten und Grenzen einer mit Bildern arbeitenden Darstellungstechnik zu prüfen, die auch die seines eigenen Schreibens war. Die Belege dafür, daß Schiller in einer Zeit, in der er angeblich einer pikturalen Verdeutlichungsstrategie völlig entsagt und eine solche selbstgewiß als minderwertig dargestellt habe, gerade in Zweifel geraten war, wie er künftig zu schreiben habe – Belege also für Unsicherheiten und Schwankungen in dieser für ihn so wichtigen Frage sind entschieden deutlicher als solche für eine klare und gefestigte Anschauung von alledem. Einen ersten liefert die Begegnung mit Goethe und deren Wirkung auf Schiller. Manches spricht dafür, daß Goethe es war, der Schiller in die Rolle des philosophischen Bilderstürmers gedrängt hat; sein spätes Urteil über Schiller und seine Beziehung zu ihm ist wohl nicht ganz unschuldig daran. Oder war es die Nachwelt, die diesen Gegensatz zwischen dem Vernünftler und dem wirklichen, der Natur viel stärker verbundenen Dichter erst aufrichtete? Freilich war Goethes Meinung nicht aus der Luft gegriffen; denn Schiller selbst hat sich ihm so zu erkennen 72 Denken in Bildern gegeben in seinen ersten großen Briefen an Goethe, die auf die Begegnung in Jena hin geschrieben wurden. In jenem vom 23. August 1794 ist nicht nur von der ganzen „Ideen-Maße“ die Rede, die Goethe bei Schiller wieder in Bewegung gebracht habe, sondern zugleich von dem bedrohlichen Abweg, auf den „sowohl die Speculation als die willkührliche und bloß sich selbst gehorchende Einbildungskraft“ geraten könne. Goethe hat diese Falle, die die Imagination dem produktiven Kopf stellen kann, zwar, so meint Schiller, glücklich vermieden, aber die Gefahr an sich hat Schiller deutlich gesehen und offensichtlich auch gefürchtet. Dennoch ist er voller Bewunderung für das, was ihm fehlt: die „richtige Intuition“, an die der abstrakte Kopf nicht herankann. „Intuition“ dort, bei Goethe, „Analysis“ hier, bei Schiller – und Schiller weiß auch, was diese leisten, oder besser: nicht leisten kann: „Diese kann bloß zergliedern, was ihr gegeben wird, aber das Geben selbst ist nicht die Sache des Analytikers sondern des Genies, welches unter dem dunkeln aber sichern Einfluß reiner Vernunft nach objektiven Gesetzen verbindet.“15 Ein erbarmungswürdiger Zustand, in den der abstrahierende Philosoph immer wieder gerät; Schiller erkennt das in seiner Begegnung mit seinem künstlerischen Antipoden nur zu gut, und die Andersartigkeit seiner dichterischen Produktion wird ihm erschreckend bewußt. Was in diesem Brief folgt, ist ein Kolossalgemälde des naiven Dichters, der Schiller selbst gerne gewesen wäre und doch nie sein kann: Anschauung, Natur, „Allheit“, „das reiche Ganze“ von Vorstellungen, „Anschauung der Dinge“: alles eine einzige Lobrede auf das, woran es Schiller mangelt. Dem folgt, wenn wir Schadewaldt glauben wollen, der sich zu diesem Brief in anderem Zusammenhang geäußert hat,16 eine verborgene Selbstcharakteristik Schillers, der hier Goethe zuschreibt, was für ihn selbst nur zu bezeichnend sei. Die Natur, die große Göttin, so Schiller, hatte ihn, Goethe, sehr viel spärlicher bedacht als den Griechen oder den Italiener, und so müsse er durch „Denkkraft“ ersetzen, was jenen anderen Götterlieblingen, die schon von der Wiege an „eine auserlesene Natur und eine idealisierende Kunst“ umgeben habe, der Himmel von Anfang an mitgegeben hatte, nämlich „Imagination“. Ein Mangel, den ein spekulativer Geist wie Goethe NA 27, S. 25. Wolfgang Schadewaldt: Der Weg Schillers zu den Griechen, in: W. S.: Hellas und Hesperien II (Antike und Gegenwart), Zürich/Stuttgart 1970, S. 127-133, bes. S. 127f. Zuerst in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft IV (1960), S. 90-97. 15 16 Denken in Bildern 73 allerdings auf genialische Weise dennoch wettmachen kann, wie Schiller sieht. Das alles sagt Schiller zu Goethe – aber wenn man Schadewaldt zustimmen will, ist das im Grunde genommen nichts anderes als eine Eigencharakteristik des Briefschreibers. Und es folgt das Selbstporträt des modernen abstrakten Geistes: nirgendwo spricht Schiller deutlicher als hier von sich, so meint Schadewaldt, wo er von Goethe zu handeln verspricht. Es ist das Konterfei des abstrakten Kopfes. Bilder, Vorstellungskraft sind nicht das Seinige, und er muß „auf rationalem Wege“ wettmachen, was ihm von Haus aus versagt blieb. Der philosophische Kopf der Spätzeit ist auf „leitende Begriffe“ angewiesen, wo das naive Genie der griechischen Frühzeit über Bilderfluten verfügt; und die „logische Richtung“ des Spätlings muß komplizierte Umwege gehen, will sie ans gleiche Ziel kommen, was der ursprüngliche Mensch so spielerisch leicht erreicht. Er muß nämlich „rückwärts Begriffe wieder in Intuitionen umsetzen, und Gedanken in Gefühle verwandeln“. Hier entwirft, wie Schadewaldt also meinte, der spekulative Kopf sein eigenes Abbild in das Gegen-Bild des großen, bewunderten Freundes und dichterischen Opponenten hinein. Intuitiver Geist hier, spekulativer Geist dort: Schiller habe ungewollt, so Schadewaldt, sich selbst erkannt: „alles Kategorien, die auf Goethe nur sehr bedingt, um so genauer aber auf Schiller selbst zutreffen, der, als er damals an Goethe schrieb, seit Jahren selbst wirklich dabei war, ‚durch Nachhilfe der Denkkraft‘ seiner ‚Imagination das, was ihr die Wirklichkeit vorenthielt, […] zu ersetzen‘“. Der bilderfeindliche, bilderarme Schiller mochte damit seine Schwierigkeiten haben, aber er konnte nicht anders. Und nicht genug damit: der zweite große Brief Schillers an Goethe vom 31. August 1794 schien mehr von diesem Selbstbildnis zu enthalten; auch dort war die Rede von der „nur etwas zahlreichen Familie von Begriffen“, die er, Schiller, zu verwalten habe. Hier scheinen Schiller die Unterschiede zwischen dem „Gang“ des Goetheschen Geistes und seiner eigenen geistigen Signatur allerdings dann deutlicher aufgegangen zu sein. Denn während Goethe, so sieht es aus Schillers Sicht aus, ein Königreich an Ideen regiere und der Imagination in ungewöhnlichem Maße fähig sei, komme bei ihm, Schiller, diese, falls sie überhaupt in Erscheinung trete, dem Denken unablässig in die Quere; Schiller weiß das nur zu gut, und so gesteht er denn auch freimütig: „Noch jetzt begegnet es mir häuffig genug, daß die Einbildungskraft meine Abstraktionen, und der kalte 74 Denken in Bildern Verstand meine Dichtung stört.“17 Welch ein Gegensatz zu Goethe, an dem Schiller voller Bewunderung die außerordentliche Intuition rühmt: „alle Ihre denkenden Kräfte scheinen auf die Imagination, als ihre gemeinschaftliche Repraesentantinn gleichsam compromittiert zu haben. Im Grund ist dieß das höchste, was der Mensch aus sich machen kann, sobald es ihm gelingt, seine Anschauung zu generalisieren und seine Empfindung gesetzgebend zu machen.“ Schiller aber sieht sich bestenfalls als Wanderer zwischen den Welten, nirgendwo recht zu Hause, vom Mangel ausgezehrt. Er schwebe zwischen dem „technischen Kopf und dem Genie“: eine skeptische Bestandsaufnahme, die hier eher noch ein wenig idealisiert ist. Im Grunde ist Schiller ein armer Teufel, an Goethe gemessen. Bildlicher Besitz fehlt ihm, und er weiß das auch. Das Vorurteil vom imaginationslosen Philosophen zeichnet sich schon hier ab, und Elizabeth Wilkinson scheint dennoch gerechtfertigt, nicht nur von Schadewaldt, sondern von keinem Geringeren als Schiller selbst bestätigt. Aber auch hier lassen sich Einwände nicht unterdrükken, so bestechend dieses Doppelporträt, das aber in Wirklichkeit nur ein und dasselbe ist, nämlich das seines Malers selbst, auch sein mag. Hatte Schadewaldt wirklich recht, als er im ersten großen Brief Schillers an Goethe so sehr das geheime Selbstbildnis des Schreibenden erkennen zu können glaubte? Schrieb hier tatsächlich ein bedauernswerter, verarmter, spekulativer Geist über den großen, so viel reicheren Bruder, dem die Imagination so reichlich alles bot, was er selbst erst mühsam mit seinem Geiste, in seinem Geiste, rekonstruieren mußte? Schon Schillers erster Brief an Goethe hält am Ende doch nicht, was er bei scheinbar genauem, in Wirklichkeit aber flüchtigem Lesen verspricht. Wer wie Schadewaldt argumentiert, verurteilt Schiller zur Unmündigkeit, da er ihm unterstellt, daß er nicht wisse, was er tue. Denn mit keinem einzigen Wort ist in Schillers Brief davon die Rede, daß er sich selbst meine. Es geht vielmehr darum, wie Goethe als naiver Dichter in einer abstrakten, modernen Zeit „ein Griechenland“ schaffen könne – also um das gleiche, um das Partien der Schrift Ueber naive und sentimentalische Dichtung kreisen. Was Schiller hier bewußt wird, ist nicht so sehr die Differenz zwischen seiner eigenen Denkart und der Goethes, sondern etwas anderes, nämlich das Wissen um die Gegensätzlichkeit von Antike und Moderne. Im sentimentalischen Zeitalter hat auch der naive, ursprüngliche Dichter mit Abstraktionen zu tun. Schiller setzt sich 17 NA 27, S. 32. Denken in Bildern 75 intensiv mit dem Gegensatz von Erfahrung und Idee auseinander, er versucht zu bestimmen, wie es um deren Mischungsverhältnis bestellt ist – und er führt damit nur das Gespräch in der „Naturforschenden Gesellschaft“ fort. Was läge auch näher? Was Schiller Goethe zum „Gang“ seines Geistes sagt, ist völlig einleuchtend; nichts deutet darauf hin, daß Schiller hier sich, neidvoll oder bewundernd, Goethe gegenüber abgrenzen wollte. Will man Schiller unterstellen, daß er von sich gehandelt habe, als er so offenkundig und bewußt von Goethe sprach? Das hieße, ein Gras wachsen zu hören, wo gar keines gesät worden ist. Schillers Brief läßt anderes erkennen – lebhafte Unsicherheit darüber, wie sich spekulierende Vernunft und intuitive Mannigfaltigkeit zueinander zu verhalten haben. Und allenfalls im letzten Absatz des Briefes spricht Schiller auch von sich, insofern nämlich, als von dieser Grundbefindlichkeit die Rede ist. „Erfahrung“ und „Denkkraft“ sollen in Beziehung gesetzt werden gegen den ersten Anschein, daß es keine größere Opposition zwischen dem spekulativen Geist und dem intuitiven geben könne. Empirie und Idee, Bild und Gedanke, Anschauung und Geist: Schiller sucht Vermittelndes. Hier schreibt keiner, der sich seiner abstrakten Eigentümlichkeit bewußt ist und so sein Gegenbild erkennen kann: Schiller hat – nur soweit ist Schadewaldt recht zu geben – mit einem Problem zu tun, das noch nicht gelöst ist. Auch hier die Frage, wie er künftig schreiben solle – sie ist durch die Begegnung mit Goethe erneut hochgekommen. Spekulation und Intuition sollen sich verbinden wie früher die geistige und tierische Natur des Menschen mit Hilfe einer Mittelkraft. Dabei geht es jetzt gar nicht so sehr um existentielle Fragen an sich, sondern allein um die Kunstanwendung, um das rechte Schreiben, das beides, Intuition und Gedanke, miteinander verknüpfen kann – was freilich für den Dichter eine existentielle Frage sui generis ist. Soll die Anschauung über den Gedanken herrschen oder der Gedanke höher stehen als Erfahrenes, Gesehenes, sinnlich Erfaßtes? Schiller entwirft eine ideale Lösung, aber nur, um diesen Entwurf sofort wieder abzubrechen. Er schreibt nicht weiter, weil aus dem Brief eine Abhandlung zu werden droht. Aber sie hätte, selbst wenn er eine solche unter der Feder gehabt hätte, wohl auch noch gar nicht zu Ende geschrieben werden können, bei allem „lebhaften Intereße“ am Thema. Nehmen wir auch den zweiten großen Brief Schillers an Goethe vom 31. August 179418 ernst, so erscheint er ebenfalls nicht so sehr als 18 NA 27, S. 31ff. 76 Denken in Bildern Zeugnis einer sich selbst völlig sicheren Individualität, die hier aus dem Bewußtsein zwar der eigenen Andersartigkeit, aber niemals als aus sich selbst und auch nicht als sich dem anderen gegenüber in Frage stellende Persönlichkeit schreibt, sondern vielmehr als Dokument einer Krise, die voll aufgebrochen ist und die nun, in ersten großen Selbstbestimmungsversuchen jenem anderen gegenüber, in ihrer Bedrohlichkeit sichtbar wird – gerade weil sein Gegenüber ihm in seiner Geschlossenheit, Ganzheit, Unveränderlichkeit, ja in seiner sehr weit erreichten Vollendung erschienen sein mochte. Daß Goethe einer solchen jedenfalls schon sehr nahe gekommen war, daran läßt Schiller keinen Zweifel. Dabei sieht er aber darin, liest man auch diesen Brief genau, durchaus nicht die dort, bei Goethe, bereits nahezu verwirklichte Erfüllung eines allgemeinen Lebensgesetzes und die fast abgeschlossene Ausbildung zu einer in sich vollendeten Persönlichkeit; es geht um sehr viel weniger, aber nicht weniger Bedeutsames als das, nämlich um die Bedeutung der Imagination für die eigene (literarische) Existenz; also um das dichterische Vermögen und um die Besonderheiten dieses dichterischen Vermögens beider.19 Goethe erscheint in einem Punkt aus der Sicht Schillers beneidenswert: Er hat in seinen Augen den Konflikt zwischen Denken und Anschauung, zwischen Abstraktion und Sinnlichkeit, zwischen Idee und Bild gelöst und überwunden. Denn alle „denkenden Kräfte“ scheinen ihm bei Goethe auf die „Imagination“ hin zusammengedrängt zu sein, und Schiller empfindet es als das Höchste, was der Mensch aus sich machen kann, wenn es ihm gelingt (und bei Goethe gelungen zu sein scheint), „seine Anschauung zu generalisieren“. Schiller ist, seiner eigenen Einschätzung nach, dieses Verdeutlichungsmittel der Imagination nicht so unbeschränkt gegeben. Ihm fehlt es an Anschauungskraft, an Plastizität seiner Erfindungen, an Bildhaftigkeit, und deshalb enthüllt sich ihm, mit Goethes fast unbeschränkter Fähigkeit zur Imagination vor Augen, seine eigene Existenz als eigentümlich gespalten, denn bei ihm ist nicht zum Ausgleich gebracht, was Goethe erreicht hat, da jener imstande ist, alle denkenden Kräfte auf die Imagination zu „compromittieren“. So stellt Schiller sich 19 Daß das Gespräch um Kunstfragen und nicht etwa um eine allgemeine Wesensbestimmung ging, belegt auch Schillers Brief an Körner vom 1. IX. 1794, in dem Schiller schreibt: „Wir hatten vor sechs Wochen über Kunst und Kunsttheorie ein langes und breites gesprochen, und uns die Hauptideen mitgetheilt, zu denen wir auf ganz verschiedenen Wegen gekommen waren“ (NA 27, S. 34). Denken in Bildern 77 als eine „ZwitterArt“ dar, schwebend „zwischen dem Begriff und der Anschauung“: Das Verhältnis zwischen diesen beiden Kräften seiner literarischen Tätigkeit ist gestört, unbestimmt, nicht ausgewogen. Schiller sieht darin sogar ein Grundübel seiner bisherigen poetischen Existenz überhaupt: „gewöhnlich übereilte mich der Poet, wo ich philosophieren sollte, und der philosophische Geist, wo ich dichten wollte.“20 Anschauung, Imagination, Einbildungskraft markieren den einen Bereich, Spekulationen, Ideen, Begriffe, Abstraktionen, kalter Verstand stecken den anderen Raum seiner literarischen Fähigkeiten ab; Schiller schwankt zwischen beidem, aber nicht, weil er das eine zugunsten des anderen völlig verlassen könnte, sondern vielmehr, weil eine befriedigende und fruchtbare Relation zwischen Einbildungskraft und Abstraktion, zwischen Imagination und Idee von ihm noch nicht gefunden worden ist. Die Begegnung mit Goethe hat offenbar die eigenen Unsicherheiten verstärkt, zu kritischer Bewußtheit gebracht, und aus der versuchten Selbstdefinition ist hier plötzlich das Porträt einer problematischen Existenz geworden, deren Lebensmöglichkeit ganz entscheidend davon abhängt, wie die beiden antagonistischen Bereiche seines Denkens und Darstellens zu einem Ausgleich gebracht werden können. Schiller will in der Tat nichts anderes, als dieser beiden Kräfte „Meister werden“, und so dürfen wir davon ausgehen, daß seine künftige Verwendung von Bildern und Gedanken in Verbindung mit dieser Absicht zu sehen ist: Der Weg zu einer neuen Funktionsbestimmung von Bild und Gedanke ist frei. Es gibt einige weitere Hinweise darauf, daß die Begegnung mit Goethe für Schiller alles andere als eine Selbstbestätigung war, daß dieses Treffen vielmehr tatsächlich Unsicherheiten in seinem eigenen Selbstverständnis ans Licht brachte, daß Zweifel aufgekommen waren, wie Bild und Gedanke zu präsentieren seien; und diese gingen weit über eine momentane Verunsicherung hinaus. Im Brief an Körner vom 4. September 1794, kurz darauf also, ist wiederum die Rede davon, daß er eigentlich nichts weniger vorstellen könne „als einen Dichter, und daß höchstens da, wo ich philosophieren will, der poetische Geist mich überrascht. Was soll ich thun?“21 Auch hier kommen sich also die heterogenen Kräfte seines Ausdrucksvermögens in die Quere, und die Krankheit, von der schon im ersten Brief an Goethe und auch noch im 20 21 Ebd., S. 32. NA 27, S. 38 78 Denken in Bildern zweiten die Rede ist, hat das Gefühl der Krisensituation sicherlich noch verschärft. Wie aber kam es dazu? * Man darf diese Krisensituation, diese eigenen Unsicherheiten über die „Zwitter-Art“ natürlich nicht allein aus der Begegnung mit Goethe erklären; diese verdeutlicht vielmehr nur, was längst im Hintergrund geschwelt hatte. So muß man Schillers Kommentar zum Treffen mit Goethe großräumig sehen, und das heißt: als Reaktion auf Unsicherheiten, die mit dem eigenen Schreiben aufgekommen waren. In dieser Zeit waren die Briefe Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen entstanden, in denen Schiller sich mit einer „eigentlichen Theorie des Schönen“ befassen wollte. Sie liefern zunächst einmal die Folie für die Suche nach dem Ausgleich zwischen Imagination und Idee. Eine Theorie des Schönen sollten sie enthalten, also Grundsätzliches aussagen über die Macht und Bedeutung des Anschaulichen, damit auch über die Bedeutung des schönen Bildes, der dargestellten Einbildung im Verhältnis zur Abstraktion. Aber das Ergebnis war eine tiefe Verunsicherung, was Art und Möglichkeiten des eigenen Schreibens betraf; von der Krisensituation künden auch andere Briefe, die schon von neuen dichterischen Plänen handeln. An Körner schreibt er am 12. September 1794: Auf Deine weitere Erklärung über meine poetische Sendung und meinen dramatischen Beruf warte ich mit Ungeduld. Du meynst, daß ich den Wallenstein zu sehr mit dem Verstand und zu wenig mit Begeisterung angreife. Aber das gilt nur von dem Plan, der nicht streng genug berechnet werden kann. Ausführen muß ihn die Imagination und die augenblickliche Empfindung. Dieß ist es aber, wofür ich fürchte, daß mich die Einbildungskraft, wenn ihr Reich kommt, verlaßen werde.22 Einbildungskraft: das ist im allgemeinsten und im wörtlichsten Sinne zu verstehen, und hier wird nichts Geringeres deutlich als die Angst, nicht mehr in Bildern schreiben zu können. Um vorzugreifen: von einer Dauerkrise kann keine Rede sein und ebensowenig von einer grundsätzlichen Veränderung in Schillers „Schreibart“. Wenig später wird die Krise überwunden; sichtbar wird das erstmals in der nicht zu Ende geführten, aber außerordentlich intensiven Auseinandersetzung mit Fichte und dessen Aufsatz Ueber Geist 22 NA 27, S. 47. Denken in Bildern 79 und Buchstab in der Philosophie. Hier sah Schiller offenbar – und das könnte die Ausführlichkeit der Auseinandersetzung erklären – ein Schreckund Warnbild eigener Möglichkeiten: der hohe Abstraktionsgrad der Fichteschen Überlegungen ließ Vorstellungen, Verdeutlichungen nicht mehr zu, und zugleich störte Schiller sich auch an der Präsentation des Gedachten. In einem der Entwürfe23 kommt er auf das Verhältnis von Idee und Vorstellung zurück, freilich jetzt nicht mehr aus der Unsicherheit heraus, mit der er Goethes Imaginationskraft bewundert hatte, sondern in der Überzeugung, nun eine Formel gefunden zu haben, mit der sich das Verhältnis von Idee und Anschauung beherrschen ließ. Schiller schrieb an Fichte: „Von einer guten Darstellung fordre ich vor allen Dingen Gleichheit des Tons, und, wenn sie aesthetischen Werth haben soll, eine Wechselwirkung zwischen Bild und Begriff, keine Abwechslung zwischen beyden“. Das kann nur besagen, daß Schiller das Bild auf keinen Fall als illustratives Hilfsmittel einsetzen wollte, auch nicht aus dekorativen Absichten, sondern daß hier eine Funktionsteilung angestrebt wurde, die dem Bild eine Gleichberechtigung neben dem Begriff sicherte. Wie wichtig Schiller diese Formel von der Wechselwirkung zwischen Bild und Begriff war, läßt sich daraus ablesen, daß auch in einem der weiteren Entwürfe davon noch die Rede ist, verbunden freilich mit der Einsicht, „daß man tiefsinnige Deduktionen niemals in ein Spiel für die Einbildungskraft verwandeln kann“.24 Dies mag als zusätzlicher Hinweis darauf gesehen werden, daß Schiller mit Einbildungskraft durchaus direkt die Anwesenheit von Bildern meint, verbunden mit der Einsicht, daß eine natürliche Grenze bestehe zwischen „Deduktionen“ und der „Einbildungskraft“ – was freilich die geforderte Wechselwirkung zwischen Bild und Begriff nur umso notwendiger und plausibler macht. Doch noch einmal: wie kam es überhaupt zur Krise des bildlichen Denkens, das so stark auch sein Selbstverständnis in den großen Goethe-Briefen tangierte, und wohin geriet sein Schreiben, nachdem sie, wie die Auseinandersetzung mit Fichte zeigt, dann beigelegt war? Was Schiller in seinem Streit mit Fichte zur Funktionsbestimmung des Bildes sagte, war neu, Ergebnis jener inneren Auseinandersetzung um die Möglichkeiten eines literarischen Stils, der einen Ausgleich gefunden hatte zwischen Imagination und Abstraktion. Nicht neu war der Gebrauch von Bildern bei Schiller, sowohl was 23 24 NA 27, S. 202. NA 27, S. 371. 80 Denken in Bildern seine vorklassische Lyrik angeht wie auch in bezug auf seine frühen philosophischen Schriften. Nichts kann überraschender sein als ein Blick zurück aus jener quälenden Selbstbefragung heraus, ob Bild oder Gedanke das eigentliche Mitteilungsmedium sei. Offenbar hat Schiller sich in den 80er Jahren, durch keine Vorbehalte eingeschränkt, einer illustrativen Sprache bedient, in der das Bild zu einem wichtigen Mitteilungsträger, ja zum erstrangigen Verdeutlichungsinstrument geworden war. In welchem Ausmaß das geschehen konnte, zeigt die einzige größere philosophische Schrift Schillers aus der vorkantischen Epoche, seine Philosophischen Briefe. Was immer er gewollt haben mochte, als er sie schrieb, was immer auch an älteren Relikten in sie eingegangen ist – die durchgängige Bildlichkeit ist auffällig, und ebenso auffällig ist ihre exegetische Qualität. Man hat Schillers eigentümlichen Darstellungsstil mit den Quellen in Verbindung gebracht, die er – nachweisbar oder nur vermutungsweise – benutzt haben könnte: der lyrisch-dithyrambische Stil der Darstellung weise auf Shaftesbury hin; Schillers Philosophie sei im übrigen die des schaffenden Künstlers und Dichters, vor allem aber deute vieles auf Übernahmen aus der Literatur des schwäbischen Pietismus, auf die dort verkündete Geheimwissenschaft der Naturerkenntnis, die zugleich Seelenerkenntnis sei; Friedrich Christoph Oetinger ist als Ahnherr derart spekulativer Gedankengänge genannt worden,25 also pansophisches Schrifttum, ohne daß man je den Beweis dieser Einflußnahme hätte führen können. Doch wo immer die Einflüsse auch herrühren mögen – Schillers eigentümlicher Darstellungsstil ist hier ebenso durchgängig ausgeprägt wie klar erkennbar. Er ist vor allem gekennzeichnet durch eine Bildlichkeit, die nicht nur als Verdeutlichungsinstrument dient, sondern die durch ihren regelmäßigen strikten Bezug zu dem mit ihrer Hilfe ausgedrückten theoretischen Bedeutungsgehalt charakterisiert ist. Unübersehbar ist hier ein gedanklicher Gehalt in Bilder übersetzt, die ihre eigene Aussagekraft haben. Stolze Vernunft scheitert an „verborgenen Klippen“,26 Skeptizismus und Freidenkerei sind „Fieberparoxysmen“ des menschlichen Geistes, in der seligen paradiesischen Zeit der Kindheit taumelt der Briefschreiber wie ein Trunkner „mit verbundenen Augen durch das Leben“, die Augen des Menschen tragen ihn „bis zu dem Sonnenziele der Gottheit“, der 25 26 Briefe. Dazu NA 21, S. 161f. Die folgenden Beispiele finden sich auf den nächsten Seiten der Philosophischen Denken in Bildern 81 Traum der Freiheit erscheint dem Gefangenen „wie ein Bliz in der Nacht“, die Philosophie ist die „unglükseelige Neugier des Oedipus, der nicht nachließ zu forschen“, dem jugendlichen Julius stehen „Körper und Geist in der herrlichsten Blüte“: mögen die Bilder gelegentlich auch abgeblaßt sein, gängiges Überzeugungsmaterial der Aufklärung, so ist doch der bewußte Einsatz der Bilder deutlich genug zu sehen. In Schillers figurativem Stil ist die Aussage im Bild enthalten, seine Botschaft wirkt unmittelbar auf die Vorstellungskraft, eine Übersetzung der Bildlichkeit in ein abstraktes Medium findet kaum statt. So wird der Zustand eines erst halb aufgeklärten Geistes, der von seinem Mentor verlassen worden ist, nicht etwa anhand abstrakter Zweifel, durch Vernunfteinwendungen oder mit Hilfe von intellektuellen Vorbehalten beschrieben, sondern rein piktural: Konntest du mit deiner sanften Seele es wagen, dein angefangenes Werk zu verlassen, noch so ferne von seiner Vollendung? Die Grundpfeiler deiner stolzen Weisheit wanken in meinem Gehirne und Herzen, alle die prächtigen Palläste die du bautest, stürzen ein, und der erdrükte Wurm wälzt sich wimmernd unter den Ruinen.27 Zwar ist in dieser Untergangsbeschreibung ein Konkretum mit einem Abstraktum verbunden: es sind nicht die Grundpfeiler eines wirklichen Baus, sondern die „deiner stolzen Weisheit“. Aber der bildliche Vorgang verselbständigt sich nahezu, das Figurale dominiert, das Gemeinte – die Zweifel des Neophyten an der Aufklärung – tritt in den Hintergrund. Als den Zweifeln abgeholfen ist, erscheint der Zustand des endgültig Aufgeklärten wiederum in bildlicher Übersetzung: „Deine Lehre hat meinem Stolze geschmeichelt. Ich war ein Gefangener. Du hast mich herausgeführt an den Tag, das goldne Licht und die unermeßliche Freie haben meine Augen entzükt“.28 Hier ist der abstrakte Hintergrund nur noch zu Beginn der Landschaftsdarstellung genannt – die „Lehre“ des Aufklärers. Das Wesen der Aufklärung mag undeutlich bleiben, über seine Wirkungen läßt die Bildlichkeit der Darstellung keinen Zweifel. Der Höhepunkt der Demonstration ist dort erreicht, wo von der Initiation des Aufzuklärenden, seiner endgültigen Befreiung die Rede ist: „Die Vernunft ist eine Fakel in einem Kerker. Der Gefangene wußte nichts von dem Lichte, aber ein Traum der Freiheit schien über ihm 27 28 NA 20, S. 109. NA 20, S. 111. 82 Denken in Bildern wie ein Bliz in der Nacht, der sie finstrer zurükläßt“. Auch hier ist das Abstraktum nur am Anfang genannt – „die Vernunft“. Je gründlicher das Bild ausgemalt ist, desto mehr Selbständigkeit gewinnt es: Wiederum ist die Einsicht in die Allmacht der Vernunft nicht mit Verstandesgründen erwiesen, sondern im Bild verdeutlicht, so unmittelbar wie eindringlich. Gelegentlich bedarf es gar nicht einmal des ideellen Zuordnungsortes, um einen Zusammenhang verständlich zu machen. Um die Wirkung des Zweifels zu verdeutlichen, läßt Schiller seinen Julius an Raphael schreiben: „Du hast eine Hütte niedergerissen, die bewohnt war, und einen prächtigen todten Pallast auf die Stelle gegründet“. Für Raphael sieht der gleiche Vorgang freilich anders aus, gleicht er doch dem Erwachen aus einem „süßen Traume“, oder, in medizinischer Terminologie: Du hast eine Krankheit zu überstehen, von der du nur allein durch dich selbst vollkommen genesen kannst, um vor jedem Rükfall sicher zu sein. Je verlaßner du dich fühlst, desto mehr wirst du alle Heilkräfte in dir selbst aufbieten, je weniger augenblikliche Linderung du von täuschenden Palliatifen empfängst, desto sicherer wird es dir gelingen, das Uebel aus dem Grunde zu heben. Die Theosophie des Julius, das älteste Stück der Philosophischen Briefe, enthält darüber hinaus noch gewissermaßen ein Wörterbuch der Begriffe und ihrer Bildübertragungen, wenn es heißt: „Lebhafte Thätigkeit nennen wir Feuer, die Zeit ist ein Strom der reissend von hinnen rollt, die Ewigkeit ist ein Zirkel, ein Geheimniß hüllt sich in Mitternacht, und die Wahrheit wohnt in der Sonne“. Hier sind die Hieroglyphen entziffert, oder vielmehr: hier wird die Identität von Bild und Sinn hergestellt, wobei der Tiefengehalt des Sinns tatsächlich nur im Bild abgerufen werden kann. Aber auch in diesem Abschnitt finden sich Bilder, die der Sinnsubstruktion entbehren. Das Durchdringen zur Erkenntnis wird von Julius so imaginiert: „Jezt bester Raphael, laß mich herumschauen. Die Höhe ist erstiegen, der Nebel ist gefallen, wie in einer blühenden Landschaft stehe ich mitten im Unermeßlichen. Ein reineres Sonnenlicht hat alle meine Begriffe geläutert“. In der Philosophie der eigenen Zeit Gefangene und dort vergeblich um Aufklärung Bemühte sind bei Schiller „entartete Sklaven, die unter dem Klang ihrer Ketten die Freiheit verschreien“. Am Schluß der Theosophie des Julius, dieser eigentümlich rationalistischen und dennoch mit irrationalen Faktoren arbeitenden Aufklärungslehre, wird noch einmal der Prospekt einer richtigen Denken in Bildern 83 Aufklärung in einem Bilde vorgestellt, das des Kommentars nicht mehr bedarf, um verstanden zu werden: Anders mahlt sich das Sonnenbild in den Thautropfen des Morgens, anders im majestätischen Spiegel des erdumgürtenden Ozeans! Schande aber dem trüben wolkigten Sumpfe, der es niemals empfängt und niemals zurükgiebt. Millionen Gewächse trinken von den vier Elementen der Natur. Eine Vorrathskammer steht offen für alle; aber sie mischen ihren Saft millionenfach anders, geben ihn millionenfach anders wieder; die schöne Mannichfaltigkeit verkündigt einen reichen Herrn dieses Hauses. Und mit dieser glänzenden Aussicht wird der Leser entlassen, der alles andere erfahren hat als eine der Idee verpflichtete philosophische Aufklärung, der vielmehr in einen Strudel von Bildern hineingerissen wurde, die ihn in ihrer eigenen Eindringlichkeit und Farbigkeit überzeugen und belehren sollen, eine Aufklärung zu verstehen, die anders operiert als mit Hilfe abstrakter Vorstellungen. Man würde der Qualität der Bildlichkeit in diesen Philosophischen Briefen nicht gerecht, sähe man hier überall nur verkürzte Vergleiche, unfertige Komparative. Das Bild selbst hat Aussagekraft, und es steht innerhalb eines größeren Aussagezusammenhanges (den hier Überschriften wie „Gott“, „Aufopferung“, „Liebe“, „Idee“ in etwa verdeutlichen) – aber auch das nur ungenau, da die Präsenz dieser Mächte nur im Bild vermittelt werden kann. Die Koppelung eines Abstraktums mit einem Konkretum, einer Vorstellung mit einer Idee wird bei Schiller immer wieder erweitert durch weitausgreifende Bildwelten, die eben nur in einem indirekten, untergründigen Bezug zum Thema der Abhandlung stehen. Schiller hat dazu in den Philosophischen Briefen eine eigene Bildtheorie entwickelt, die sich freilich auf ähnliche Bildtheorien des 18. Jahrhunderts gründet. Aber hier taucht zum ersten Mal bei ihm die Lehre von der Koexistenz von Bild und Gedanke, von Zeichen und Bezeichnetem auf. Die im Hintergrund dieser Zeichenlehre von Schiller kurz entwickelte, eher andeutungsweise als wirklich ausführlich dargelegte Philosophie wirkt durchaus nicht sehr originell, handelt sie doch nur von der Differenz von Gedanke und Wirklichkeit – „Weder Gott noch die menschliche Seele noch die Welt, sind das wirklich, was wir davon halten“.29 Viel bedeutsamer ist die Bildtheorie: sie besagt, daß Bilder nicht Illustrationscharakter haben, erst recht nicht dekorische 29 NA 20, S. 127. 84 Denken in Bildern Funktion, sondern daß Bild und Sache koexistent sind, also gleichermaßen Lebensrecht haben und auch als exegetisches Instrument, als aufklärerische Verständnishilfe gleichrangig sind. Eben in diesem Sinne ist die Bildlichkeit in Schillers Philosophischen Briefen praktiziert. Das Denken ist nur eine der möglichen Annäherungsformen an die Wirklichkeit dieser Welt, die Bilder eröffnen eine andere, unmittelbarere, überzeugendere. Mag diese Zeichentheorie auch ungenau sein, wenig durchdacht und allenfalls umrißhaft entworfen, so ist die Wirkung der Bilder nur umso eindringlicher. Bengt Algot Sørensen hat in seinem Buch über Symbol und Symbolismus in den ästhetischen Theorien des 18. Jahrhunderts und der deutschen Romantik auf die naturmystische Tradition einer solchen mit Bedeutungen aufgeladenen Bildtheorie aufmerksam gemacht, auch auf die Erneuerung dieser naturmystischen Traditionen und der ihr inhärenten Symboltheorie vor allem in der Zeit der Romantik „nach dem bildlosen, abstrakt denkenden Zeitalter der Aufklärung“.30 Aber daraus spricht eine Verkennung der Bedeutung, die die aufklärerische Popularphilosophie der bildlichen Exegese im Zeitalter eben dieser Aufklärung zumaß. So enthalten auch die Philosophischen Briefe weniger eine „metaphysisch begründete Symbollehre“31 als vielmehr den Versuch, neue Erfahrungen, die eben Erfahrungen der Aufklärung sind, ins Bildhafte transponiert zu verdeutlichen. Für eine naturmystische Symbolik in den Philosophischen Briefen ist bislang ein schlüssiger Beweis niemals erbracht worden, so häufig man auch derartige Traditionen vermutet hat. Daß die angeblich pansophische Bildlichkeit jedenfalls gewiß nicht an die Erfahrungen der Philosophischen Briefe gebunden ist, sondern zu Schillers Aussagemöglichkeiten in seiner vorkantischen Zeit gehört, zeigen die Fortsetzungen seiner Darstellungsweise, die freilich nicht in philosophischer Traktatform, sondern in lyrischer Einkleidung erschienen: in den großen Gedichten Die Götter Griechenlandes und in Die Künstler. Besonders im Künstler-Gedicht32 hat Schiller ebenso argumentiert und verdeutlicht wie in den Philosophischen Briefen – von den berühmten Eingangsversen („Wie schön, o Mensch, mit deinem Palmenzweige/ stehst du an des Jahrhunderts Neige“) durch viele Bilder hin bis in den letzten Bengt Algot Sørensen: Symbol und Symbolismus in den ästhetischen Theorien des 18. Jahrhunderts und der deutschen Romantik, Kopenhagen 1963, S. 144. 31 Ebd., S. 96. 32 NA 1, S. 201ff. 30 Denken in Bildern 85 Teil des Gedichtes. Auch hier findet sich der Typus einer Verbindung von Idee und Bild, wenn etwa vom „Morgenthor des Schönen“ die Rede ist, durch das der Neophyt in „der Erkenntniß Land“ eindringt. Von einer bloß illustrativen Funktion der Bilder kann man hier ebensowenig sprechen wie in den Philosophischen Briefen – stellt das ganze Gedicht doch eine einzige Bilderflut dar, mit deren Hilfe nichts Geringeres als die Geschichte der Menschheit erzählt wird, wie später noch im Spaziergang ein zweites Mal. Die humane Entwicklungsgeschichte wird verdeutlicht in Imaginationen, für die der Begriff des Symbols nicht ausreicht, weil es ganze Landschaften sind, die hier vorgestellt werden, um die Fortschritte der Kultur zu beschreiben. Vom Aufgang des Abendlandes ist ebenfalls nur in Bildern die Rede: der schöne Flüchtling aus dem Osten, der junge Tag, steigt im Westen neu empor, „und auf Hesperiens Gefilden sproßten/ verjüngte Blüthen Joniens hervor“ – Schiller hat mit Bildmaterial vor allem dort gearbeitet, wo Prozesse darzustellen waren. Er hat damals, über die nur ungenau fixierte Zeichentheorie hinaus, eine Erklärung gegeben, die verdeutlicht, daß er den Schreib- und Darstellungsstil der Philosophischen Briefe nun ganz bewußt eingesetzt hat. Die Hauptidee des Gedichtes, so lautet sein Kommentar bekanntlich, sei „die Verhüllung der Wahrheit und Sittlichkeit in die Schönheit“, und hier eben liegt die Erklärung für den eigentümlich ambivalenten, scheinbar zwitterhaften Darstellungsstil. Schiller hat es nicht bei der thematischen Fixierung belassen, sondern hat in seinem Kommentar, der sehr wörtlich zu verstehen ist, quasi auch seine Schreibweise charakterisiert: die Wahrheit und Sittlichkeit, abstrakte Vorstellungen also, Unsinnliches, Irreales, sind in die Schönheit, also in etwas Anschauliches, verhüllt, die Idee in das Bild gekleidet, der Gedanke durch etwas Konkretes sichtbar geworden. Eben das ist also nicht nur Thema, sondern erklärt auch die Methode seiner Darstellung. Er hat den Begriff des Symbols dabei sorgfältig vermieden und vielmehr von einer „Allegorie“ gesprochen, die nicht nur punktuell wirke, sondern „die ganz hindurch geht“, die also den Bildcharakter des Künstler-Gedichts durchgehend legitimiert. Zwar kam damals bald Kritik an seiner Darstellungsweise hoch, der Vorwurf, alles sei nur „philosophische Poesie“ oder „Philosophie in Versen“. Vor allem Wieland hat sich kritisch über das Künstler-Gedicht ausgelassen; ihn inkommodierte das „Durcheinanderwerfen poetisch 86 Denken in Bildern wahrer und wörtlich wahrer Stellen“. Aber Schiller hat sein Gedicht damals dennoch gerade in seiner besonderen Aussageweise verteidigt, wenn er an Körner schrieb: „Es ist ein Gedicht und keine Philosophie in Versen; und es ist dadurch kein schlechteres Gedicht, wodurch es mehr als ein Gedicht ist“.33 Auch Wieland hat die „mahlerische Sprache und das luxuriöse Uebergehen von Bilde zu Bilde“ getadelt – aber Schiller hat dem entgegengehalten, daß sich in den neuen „Formen“ immer wieder nur derselbe Gedanke finde; so sei die „Üppigkeit in der Ausführung“ nur ein Vorzug mehr. Ihm kam es offenbar gerade mit seiner Umarbeitung der Künstler, die auf eine Erweiterung um mehr als 200 neue Verse hinauslief, darauf an, seine Hauptidee dem Leser so plastisch und deutlich wie möglich vor Augen zu bringen, also ins Bildhafte, damit direkt Verständliche und Zugängliche zu übersetzen: „Die Hauptsache kommt nun bey meinen Künstlern darauf hinaus, ob der Hauptgedanke um den ich mich bewege, den höchsten Grad der Anschaulichkeit erhalten hat.“34 Das kann nur heißen, daß Schiller den Bildgehalt seines Gedichtes als wesentlich für seine Aussage ansah; nicht so sehr der Gedanke stand im Vordergrund als vielmehr seine Präsentation – erst die Bilder und nur sie allein gaben dem Gedicht Wirklichkeit und Überzeugungskraft. Vier Jahre später, im Mai 1793, war er entschlossen, die Künstler erneut umzuarbeiten. Gerade am Beispiel der Künstler zeigte sich, daß Schiller aber damals nicht mehr gewillt war, seinen alten Darstellungsstil fortzusetzen – und hier wird ein zweites Krisenzeichen sichtbar: der bisherige Darstellungsstil war verdächtig geworden, löste Zweifel an der Richtigkeit figuraler Demonstrationen aus; Kunst und Philosophie schienen sich ins Gehege gekommen zu sein. Schiller hat seine Unzufriedenheit mit dem Gedicht im Brief an Körner vom 5. Mai und vom 27. Mai bekundet. Das eindringlichste Zeugnis für den damaligen Sinneswandel findet sich freilich erst nachträglich, nämlich im Brief an Körner vom 21. Oktober 1800, wo davon die Rede ist, daß viele Gedichte „nicht in ihrer alten Gestalt bleiben“ könnten, obwohl Körner dem Freunde zugeredet hatte, Die Künstler nicht aus der neuen Gedichtsammlung auszuschließen – „Ich […] fürchtete immer Deine Strenge gegen Dich selbst“.35 Und Körner hatte ihm Mut gemacht, sich an je33 34 35 NA 25, S. 220. NA 25, S. 211. NA 38, 1, S. 347. Denken in Bildern 87 nen Lehrgedichten zu versuchen, wo er seinen Trieb „nach philosophischen Gehalt ohne Nachtheil der Kunst befriedigen“ könne.36 Aber Schiller war unerbittlich; aus der ursprünglichen Verteidigung der Künstler wurde harte Selbstkritik, wenn er schrieb: „Verschiedene, wie die Künstler, habe ich wohl zwanzigmale in der Hand herum geworfen, eh ich mich decidierte […]. Leider ist daßelbe durchaus unvollkommen und hat nur einzelne glückliche Stellen, um die es mir freilich selbst leid thut“.37 Was noch am 5. Februar 1789 etwas „Vollendetes“ war, war jetzt etwas durchaus Unvollkommenes: das Selbstlob hatte sich in ein beinahe vernichtendes Urteil verwandelt. Aber das entstammte nicht dem Jahr 1800. Schiller hat sein Urteil von 1793 offensichtlich nicht geändert und auch 1800, als er sich mit der ersten Sammlung seiner Gedichte beschäftigte, daran festgehalten, zumal er zu einer Überarbeitung keine Zeit fand. Und so blieben Die Künstler aus der ersten Gedichtausgabe ausgeschlossen; sie wurden erst in die Sammlung von 1803 aufgenommen, immer noch mit einem kaum verhüllten Hinweis auf ihre „Schwächen“. Das ist kein Einzelfall. Die Götter Griechenlandes haben eine ganz ähnliche Geschichte: Kurz vor den Künstlern, 1788, war dieses Gedicht erschienen, und Schiller hat auch damals schon auf Körners Kritik mit einer Verteidigung geantwortet – die Götter der Griechen seien hier, so schrieb er an Körner, „in eine Vorstellungsart zusammen gefaßt“.38 Aber auch dieses Gedicht verfiel der Selbstkritik, wie der Brief an Körner vom 5. Mai 1793 zeigt; also zur gleichen Zeit wie Die Künstler, und offenbar aus dem gleichen Anlaß heraus. Beidemal bezog die Kritik sich weniger auf den gedanklichen Inhalt als vielmehr auf die Präsentation dieses Inhalts, und das kann nur heißen: auf das Dichten in Bildern. * Was kann Schiller veranlaßt haben, dieses Dichten in Bildern aufzugeben, es zu verwerfen und zu verurteilen, nachdem er zuvor hierin seinen Stil gefunden zu haben glaubte, und das nicht nur in den Philosophischen Briefen, sondern auch in den großen philosophischen Gedichten der 80er Jahre, die ihm einen Durchbruch zum eigenen Darstellungsstil erst garantiert zu haben schienen? Was konnte ihn veranlassen, eine 36 37 38 NA 38, S. 348. NA 30, S. 206. NA 25, S. 167. 88 Denken in Bildern Darstellungsweise zu verabschieden, die sich als so überaus erfolgreich, als von der Allegorietheorie der Zeit her durchaus legitimiert darstellte? Eine Antwort bietet sich zunächst an, die nämlich, daß die Begegnung mit der kantischen Philosophie, die im März 1791 begann, Schiller um die Eigentümlichkeit seines Schreibens gebracht habe. Kants Rigorismus, der Abstraktionsgrad seiner Philosophie, die strenge Funktionalität der Definitionen, sein unausgesprochenes, aber abgrundtiefes Mißtrauen gegen jeden bloß illustrativen Charakter einer Aussage legen es nahe, hier den Anlaß, die Ursache für Schillers Verzicht auf einen figuralen Darstellungsstil zu sehen, den er bislang so ausgiebig und unbeschränkt genutzt hatte. Das alles wird noch verständlicher, wenn man bedenkt, daß Schiller nicht im Widerspruch, sondern in enthusiastischer Übereinstimmung mit Kant schrieb: in Kants rigider Philosophie aber hatte die Bildwelt keinen Raum. Hier hat, was Schillers Orientierungshorizont angeht, offenbar ein grundlegender Paradigmenwechsel stattgefunden, dessen Auswirkungen bis in jenen ersten Brief an Goethe spürbar sind, wo von der „Zwitter-Art“ der eigenen Existenz, dem unentschlossenen Hin- und Herschwanken zwischen Abstraktion und Imagination die Rede ist. Der bisherige Darstellungsstil, in den Philosophischen Briefen und den großen Gedichten wie den Künstlern praktiziert, konnte sich auf unbestrittene Anschauungen der Popularphilosophie stützen, wie sie sich etwa in Sulzers Allgemeiner Theorie der schönen Künste niedergeschlagen haben. Nirgendwo werden dort Bilder abgewertet, zum bloßen Illustrationsmaterial herabgewürdigt. In Sulzers Enzyklopädie finden sich unter dem Stichwort „Bild“ außerordentlich lobende Definitionen. Die Bilder, so heißt es dort, erweken klare und lebhafte Vorstellungen, die sehr faßlich sind, und darinn man viel auf einmal, wie mit einem einzigen Blik, erkennt. Wenn sie eine fühlbare Aehnlichkeit mit abstrakten Vorstellungen haben, so können sie also mit großem Vortheil an deren Stelle gesetzt werden. Sie thun alsdenn in der Rede den Dienst, den eine gemahlte Landschaft thut, die man jemandem vorlegt, um ihm einen Begriff von der Gegend zu machen, die dadurch abgebildet ist; folglich sind sie Gemählde der Gedanken.39 Nichts also von einer Zweitrangigkeit der Bilder, am Gedanken gemessen, dafür um so mehr von ihrer interpretatorischen Kraft, von ihrer 39 Johann Georg Sulzer: Allgemeine Theorie der schönen Künste, Nachdruck Hildesheim 1970, Bd. 1, S. 405. Denken in Bildern 89 Gleichwertigkeit mit den Gedanken. Aber Sulzer geht noch weiter. Er billigt den Bildern auch Erkenntnisfunktion zu, also gerade das, was traditionellerweise dem Gedanken zuzukommen scheint. Es heißt weiter: Die Bilder veranlassen ein anschauendes Erkenntniß der abgebildeten Sachen; sie geben den abstrakten Vorstellungen einen Körper, wodurch sie faßlich werden. Gedanken, die wegen der Menge der dazu gehörigen Begriffe schwerlich mit einem Blik könnten übersehen werden, lassen sich dadurch festhalten. Also dienen die Bilder überhaupt, die verschiedenen Verrichtungen des Geistes zu erleichtern. Hiezu kommt noch, daß das Vergnügen, welches allemal aus Bemerkungen der Aehnlichkeit zwischen dem Bild und dem Gegenbilde entsteht, die Eindrüke desto lebhafter und unvergeßlicher macht. Das ist unmißverständlich. Hier wird das Bild nicht nur dem Gedanken gleichgesetzt, es wird ihm übergeordnet; das Bild hat eine sammelnde, konzentrierende, über die abstrakte Formulierung hinaus exegetische Funktion, die zudem noch den Vorteil bietet, Vergnügen zu bereiten – im 18. Jahrhundert, das die horazische Formel immer noch schätzt, eine nicht unwichtige Zusatzlegitimation. Zwischen Bild und Geist, zwischen Imagination und Verstand gibt es keinen Gegensatz, eher ist das Bild in der Lage, dort noch Sinninhalte zu vermitteln, wo der Gedanke, der Begriff bereits versagt. Eine solche Hochschätzung wird durch nichts eingeschränkt, wohl aber immer wieder in ihrer Berechtigung unterstützt. Was das Bild vorzüglich zur Übernahme exegetischer Funktionen in abstrakten Texten prädestiniert, ist seine Verdeutlichungskraft: „jede Vorstellung des Geistes und jede Regung des Herzens“, so meint Sulzer, können so „zu sichtbaren und fühlbaren Gegenständen“ gemacht werden.40 Damit wird der Bildsprache eine Bedeutungsfunktion weit über die Sprache des Gedankens hinaus zuerkannt, da sie noch verständlich machen kann, was dem Gedanken nicht mehr ausdrückbar ist. Was Schiller im Gebrauch der Bilder besonders imponieren mußte, war allerdings die Feststellung, daß es eigentliche Aufgabe „der redenden Künste“ sei, „uns die unsichtbare Welt durch die sichtbare bekannter zu machen“. Das ermutigte nicht nur den Dichter zum besonderen Bildgebrauch, sondern entsprach auch einer aufklärerischen Aufgabe, die sich nicht nur ebenfalls, sondern vor allem und nur durch das Bild erfüllen ließ. 40 Ebd., S. 406. 90 Denken in Bildern Wie außerordentlich die Macht des Bildes in dieser nicht nur rhetorischen, sondern grundsätzlich darstellerischen Funktion war, zeigt der sehr viel umfangreichere Teil über die „Allegorie“,41 die nicht das meint, was heute darunter verstanden wird, sondern der Theorie des 18. Jahrhunderts folgt: „Setzt man sie [Bilder] aber ganz an die Stelle der abgebildeten Sache, so daß diese gar nicht dabey genennt wird: so bekommen sie insgemein den Namen der Allegorie, auch bisweilen der Fabel, der Parabel, oder des allegorischen Bildes.“42 Eben diese allegorischen Bilder hat Schiller mannigfaltig verwandt, überall dort, wo die Bildwelten sich scheinbar verselbständigen und nur indirekt und lose ein thematischer Zusammenhang mit einem übergeordneten Ganzen sichtbar wird. Eine Allegorie ist also ein Zeichen oder ein Bild, „in so fern es an die Stelle der bezeichneten Sache gesetzt wird“,43 wie Sulzer noch einmal definiert. Es handelt sich aber nicht um ein einfaches quid pro quo; die Sache kann nicht nur durch dies Bild dargestellt, sondern sie kann „bestimmt und mit Vortheil“ erkannt werden: ihre Ausstrahlungs- und Verdeutlichungskraft reicht auch hier weiter als der Sinn. Hier ist ebenfalls von der „ästhetischen Kraft des Bildes“ die Rede, und es ist deutlich zu sehen, daß Schillers Vorstellungen vom Ästhetischen als Verdeutlichungsinstrument der Wahrheit hier ihre Wurzeln haben. Die Allegorie kann eine Erkenntnis nicht nur sinnlich darstellen, sondern sie sagt „die Sache stärker und nachdrüklicher“ als der Gedanke selbst. Und Sulzer versteigt sich zu einem enthusiastischen Hymnus auf die Bildhaftigkeit, die Bildkraft der Allegorie, wenn er feststellt: sie verbindet Sinnlichkeit, Nachdruk, Kürze, Reichthum und Deutlichkeit, und gehört deßhalb zu den höchsten poetischen Schönheiten. Sie hat bisweilen eine beynahe beweisende Kraft. Denn Wahrheiten, deren man sich nicht sowol durch einen deutlichen Beweis, als ein schnelles Ueberschauen vieler einzelnen Umstände versichern muß, die also keines würklichen Beweises fähig sind, können durch solche Allegorien die Art des Beweises bekommen, dessen sie fähig sind.44 Bilder also beweisen mehr als Gedanken, sie haben nicht nur demonstrative Funktion, sondern Überzeugungskraft. Sulzer hebt sogar die Differenz zwischen Zeichen und Bezeichnetem auf, wenn er von den 41 42 43 44 Ebd., S. 73ff. Ebd., S. 406. Ebd., S. 73. Ebd., S. 76. Denken in Bildern 91 Allegorien, d. h. von Bildlichkeiten ohne direkten und unmittelbaren Verstandesbezug, sagt: „Sie sind nicht Zeichen einer Sache, sondern die Sache selbst“.45 Die Bildwelt bedarf also gar nicht einmal mehr einer Verankerung im Abstrakten, sie ist sinnlich gewordene Abstraktion selbst: Ein höheres Lob für die Anwesenheit von Bildern in philosophischen Texten läßt sich kaum denken. Schiller hat das offenbar alles aufgegeben, zurückgelassen, beiseite gedrängt, als er mit den kantischen Schriften bekannt wurde. Von den Bilderfluten der Philosophischen Briefe ist nicht einmal mehr ein spärliches Rinnsal übrig geblieben, stattdessen triumphiert die philosophische Einteilungslust und Abgrenzungswut: die Schrift Vom Erhabenen, zur „weitern Ausführung einiger Kantischen Ideen“ geschrieben, beweist das durch einen geradezu verblüffenden Mangel an Bildlichkeit. Das Sinnenwesen zählt nicht mehr sehr hoch, Freiheit gibt nur die intelligible Kraft des Menschen, Beispiele sind Fallstudien, Erhabenheit ist eine jenseits der Sinnlichkeit liegende Geistesqualität, „innre Gemüthsfreyheit“46 soll bewirkt werden, das Bild aus einem der Außenwelt zugehörigen Bereich hat keine Existenzmöglichkeit mehr. Das Sinnenwesen wird ausradiert, geleugnet, herabgewürdigt, Freiheit ist schlechterdings ein nur moralisches Vermögen – und die Folge ist ein Verlust an Bildlichkeit, wie er nach dem Vorangegangenen dramatischer kaum eintreten konnte. Ein paar Beispiele werden noch genannt, ein brennender Vulkan, eine Felsenmasse, die herabhängt – aber das sind wiederum Fälle, Naturgegebenheiten, die zu überwinden sind, der physischen Welt angehörig, die den Menschen vorübergehend bedrohen, im Grunde genommen aber nicht schrecken kann. Von Seelenstärke ist jetzt die Rede, von der „Darstellung der moralischen Selbstständigkeit im Leiden“47 – und die folgenden Schriften setzen diesen Feldzug, der einer Bilderstürmerei großen Stils gleichkommt, nur noch fort. Die Gemütskräfte werden klassifiziert, rubriziert, die Sinnlichkeit ist beiseite gedrängt oder doch als überwindenswerter, im Grunde genommen bedauerlicher Zustand des Menschen abgewertet; von der Geschichte der Menschheit, wie sie in den Künstlern so anschaulich beschrieben wurde, wird nichts mehr gesagt, nur noch von grundsätzlichen abstrakten Möglichkeiten und Verhaltensweisen, die alles andere als lebensnah 45 46 47 Ebd., S. 78f. NA 20, S. 178. NA 20, S. 195. 92 Denken in Bildern sind und das auch gar nicht sein sollen. Jetzt ist stärker noch von der „Nothwendigkeit der Vernunft“ und von der „Willkür der Einbildungskraft“ die Rede: Das Todesurteil über die letztere ist ziemlich deutlich ausgesprochen, das Ästhetische ist überladen und befrachtet mit einer einzigen Aufgabe: der nämlich, Zeichen der Freiheit, eines intelligiblen, abstrakten, erstrebenswerten, aber nur schwer erreichbaren Zustandes zu sein. Mit dem Verzicht auf die Imaginationskraft und der Hinwendung zur Welt des Abstrakten, mit der ganzen Theologie des Erhabenen und dem Zwang zum Triumph über das Leiden verflüchtigt sich die bunte Vielfalt der Bildwelten, die Schiller vorher kannte, bis hin zu jener unsäglich platten, langweiligen Betrachtung, die Schiller in dem Abschnitt „Von der ästhetischen Größenschätzung“ in den Zerstreuten Betrachtungen über verschiedene ästhetische Gegenstände über einen Turm anstellt:48 der Bankrott der Phantasie, das absolute Ende der Imaginationskraft. Schiller argumentiert so, als ob er nie einen Turm gesehen habe, aber der Turm ist ja auch nicht um seiner selbst willen wichtig, sondern dient nur als Vergleich und Anknüpfungsmoment, um den „ästhetischen Eindruck der Größe“ zu verdeutlichen – obwohl man von Verdeutlichung hier nicht einmal mehr reden kann, da nur noch physikalische Größen vorgestellt werden. Und so geht es weiter durch die kleineren Schriften hindurch, aber im wesentlichen auch noch durch Ueber Anmuth und Würde, wo zwar anfangs der Gürtel als „Symbol der beweglichen Schönheit“ beschrieben ist,49 wo aber dieser Mythos wirklich nur noch einen blassen illustrativen Sinn hat. Die ganze Abwertung der sogenannten „architektonischen Schönheit“ läuft auf die Glorifikation eines anderen Schönheitsbegriffs hinaus, der zwar Sinnbild der Freiheit ist, aber eben an Sinnlichkeit, an Anschauungskraft, an Imaginationsgewalt außerordentlich verloren hat. Vom Ästhetischen ist die Rede, aber nicht mehr um seiner selbst willen, und von einer allegorischen Darstellung, wie Schiller sie in den Künstlern oder auch in den Philosophischen Briefen so gut beherrscht hatte, findet sich keine Spur mehr. Die Grazie wird definiert, nicht vorgestellt, und wenn Schiller über die kantische Moralphilosophie sagt, daß die Idee der Pflicht dort mit einer Härte vorgetragen sei, „die alle Grazien davon zurückschreckt, und einen schwachen Verstand leicht versuchen könnte, auf dem Wege einer finstern und mönchischen Ascetik die moralische 48 49 NA 20, S. 230. NA 20, S. 252. Denken in Bildern 93 Vollkommenheit zu suchen“,50 dann spricht er im Grunde genommen auch ein Urteil über seine eigene Darstellung aus, denn alle seine Forderungen, daß die schöne Seele sich in die erhabene verwandeln müsse, bleiben blaß, unbildlich, unanschaulich, abstrakt, selbst dort noch, wo vom schönen Gegenstand die Rede ist. Aber nicht genug damit: der Verlust an Imaginationskraft in der darstellerischen Fähigkeit Schillers zieht sich auch durch die Briefe Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen hin. Wenn dort von Frühstadien der menschlichen Kultur gehandelt wird, dann mit Hilfe reichlich ausgelaugter Chiffren: vom Wilden ist die Rede und vom Barbaren, aber nichts mehr ist anschaulich, jener Frühzustand alles andere als bildhaft vorgestellt. Ein Hohn, wenn Schiller die „Individualität der Dinge“ erwähnt;51 auch die Natur ist eine blasse Vokabel geworden, der nichts Visuelles mehr entspricht. Einige mythische Relikte und Surrogate finden sich noch, aber das sind abgegriffene Münzen; Schiller verwendet mythologische Klischees, die jedermann bekannt waren. Hier geht es in der Tat nur noch um „theoretische Kultur“,52 die „praktische“ hat sich verflüchtigt. Wenn vom Menschen und vom Spiel die Rede ist, so bleibt selbst das merkwürdig abstrakt und hat, so konkret Schiller das auch vor Augen gehabt haben mochte, keine Überzeugungskraft. Schönheit ist als „allgemeine Idee“ ins Feld geführt, nicht als anschauliches Bild. Und so geht es durch alle 27 Briefe hindurch; von der Vernunft ist die Rede und vom Objekt, vom Formtrieb und vom Stofftrieb, von moralischer Freiheit und, kurioserweise, auch von der „sinnlichen Abhängigkeit“53 – am Ende steht eine bildlose Formel, die vom „Staat des schönen Scheins“, von der „reinen Kirche“ und der „reinen Republik“; die Epitheta deuten unmißverständlich an, daß die reine Kirche auf dieser Welt kaum zu finden ist und die reine Republik im absoluten Gegensatz zur wirklichen steht. Nur an einer Stelle unterbricht Schiller diesen rigoros-abstrakten Darstellungsstil, diese knochige Nomenklatur von nicht mehr imaginierbaren Rubrikationen: da, wo er vom Künstler spricht, im 9. Brief. Dort ist davon die Rede, daß eine wohltätige Gottheit den Säugling beizeiten von seiner Mutter Brust reißen solle; sie „nähre ihn mit der Milch eines bessern Alters, und lasse ihn unter fernem griechischen Himmel zur 50 51 52 53 NA 20, S. 284. NA 20, S. 327. NA 20, S. 332. NA 20, S. 397. 94 Denken in Bildern Mündigkeit reifen. Wenn er dann Mann geworden ist, so kehre er, eine fremde Gestalt, in sein Jahrhundert zurück; aber nicht, um es mit seiner Erscheinung zu erfreuen, sondern furchtbar wie Agamemnons Sohn, um es zu reinigen.“54 Hier ist noch etwas zu spüren von der Bildhaftigkeit seiner früheren Darstellungsmöglichkeiten, aber eben auch nur hier, und dies nicht zufällig. Denn darin hat sich der Künstler-Mythos gewissermaßen hinübergerettet in die Zeit der philosophischen Schriftstellerei, und es ist offenbar die thematische Nähe zu den Künstlern, die Schiller nun zu einem Bildstil hinreißt, der sich eigentlich auf höchst sonderbare Weise wie ein Fremdkörper in dieser Kaskade von Abstraktionen ausnimmt. Bilder gibt es sonst kaum noch – darin hat Elizabeth Wilkinson recht; wo es sie gibt, sind sie dürr, mager, flach, um nicht zu sagen: langweilig. Hier ist der Bildschwund noch radikaler als in Ueber Anmuth und Würde, und so stellt sich diese Schrift denn als eine einzige Bankrotterklärung eines bildhaften Schreibens dar, als Wegzeichen einer weitgehend verloren gegangenen Imaginationskraft; der Gewinn, den Schiller hat, ist mager, verglichen mit dem Verlust, durch den er erkauft worden ist. Wir wissen, wie sehr Schiller am Ende mit seinem Projekt der Ästhetischen Briefe gescheitert ist: sie wurden nicht fertig, das Thema ließ sich gedanklich nicht bewältigen, und mögen sie auf ihre Weise auch großartig sein, so sind sie doch Ausdruck eines Scheiterns, das man nicht verharmlosen sollte. Schiller hat sich von seiner ursprünglich geplanten „Analytik des Schönen“ weit entfernt, seine Schrift ist zu einem kulturpolitischen Programm geworden, dem es aber an Realitätsbezug erstaunlich mangelt; von der Theorie des Schönen war nicht mehr sehr viel geblieben, stattdessen schilderte er Wirkungen des Schönen auf die Kultur überhaupt: eine Abschweifung, die um so stärker als ein Abweichen von der ursprünglichen Konzeption interpretiert werden muß, als er zu Anfang seiner Arbeit deutlich erklärt hatte, daß er seine Gründe „für unüberwindlich“ halte. So stellt sich schließlich denn die Frage, ob es Schiller tatsächlich gelungen war, die Schönheit als Freiheit in der Erscheinung überzeugend darzustellen. Sein Versuch, Kant noch zu übertreffen, war eher zu einem Scheitern an diesem Versuch geworden. Was ebenso bedenklich war: Schiller war aber auch mit dieser neuen „Schreibart“ in Schwierigkeiten geraten. Das literarische Erziehungsprogramm, das in den Horen verkündet worden war, drohte in Wir54 NA 20, S. 333. Denken in Bildern 95 kungslosigkeit, in Antiliberalität umzuschlagen. Schiller wollte das literarische Publikum zur Anerkennung des Horen-Programms und darüber hinaus zur „Freiheit“ zwingen – aber das war keine neue republikanische Freiheit, sondern eine andere, die davon gerade loszukommen und die „politisch geteilte Welt unter der Fahne der Wahrheit und Schönheit wieder zu vereinigen“55 hoffte. Ein reichlich absolutistisches Vorhaben, verbunden mit der Absicht, das „Denken“ auszubreiten „eine harte Arbeit für manchen, aber wir müssen es dahin bringen, daß, wer auch nicht denken kann, sich doch schämt es sich zu gestehen“. Eine Erziehung zu kantischer Nüchternheit und Gedankenstrenge, zum Verzicht auf jegliche populäre Darstellung und damit auch auf alle Imagination? Das Publikum, dem derart Belehrung zugedacht war, hat diese klassische Zwangsjacke offenbar nicht mit ungeteiltem Vergnügen überziehen wollen – auch Schiller selbst scheint es, was zumindest den Darstellungsstil und die Aufforderung zum strengen Denken angeht, dabei nicht sonderlich wohl gewesen zu sein. Davon zeugt der Briefwechsel mit Körner; und es war Körner, der deutliche Warnungen aussprach. Am 11. Januar 1795 schrieb er, nach Empfang einer Sendung der Ästhetischen Briefe, an Schiller: „Die Form hat freylich das Anziehende nicht, was die ersten Briefe haben. Aber dießmal war der Ernst zu herrschend, um nicht einen Verlust an Schönheit im Vortrage zu verursachen“.56 Körner hat seine Kritik am 16. Januar 1795 nach Zusendung eines Aufsatzes für die Horen fortgesetzt und von „Schwierigkeiten der Form“ gesprochen: „Das Abstrakte was in dem Aufsatze herrscht ist für den bequemern Leser ermüdend“.57 Schiller hat sich zu verteidigen gesucht und um Verständnis geworben: Die abstrakte Darstellung, die gewiß für ein solches Thema noch viel Fleisch und Blut hat, mußt Du mir nachsehen, denn ich glaube ich bin an der Grenze gestanden, und ohne die Bündigkeit der Beweise zu schwächen, hätte ich von der Strenge der Schreibart nicht wohl etwas nachlassen können.58 55 Vgl. dazu den seinerzeit grundlegenden Aufsatz von Herman Meyer: Schillers philosophische Rhetorik, in: Euphorion 53, 1959, Festschrift des Euph., S. 91-128, bes. S. 120ff., mit Hinweisen auf die Aufnahme der Ästhetischen Briefe in zeitgenössischem Urteil, S. 121f. 56 NA 35, S. 125. 57 NA 35, S. 131. 58 NA 27, S. 115. 96 Denken in Bildern Einen Bericht über die Wirkung einiger seiner Ästhetischen Briefe auf Goethe und Meyer schickt Schiller am 19. Januar an Körner – ein bißchen zu enthusiastisch mag er wohl ausgefallen sein, aber Schiller hat inzwischen auch dazugelernt; der „allzugroßen Trockenheit des elften und zwölften Briefes“ glaubt er abgeholfen zu haben „durch öftere Rückkehr zur Anschauung und Erfahrung“. Das ist ein Signal, daß Schiller nun die darstellerischen Wirkungen der Bildlichkeit wieder höher einschätzt, zumal dann, wenn er es mit einem „nicht Kantischen Leser“ zu tun hat; die „Strenge der Schreibart“ ist gemildert, die „abstrakte Darstellung“ zurückgenommen, die Begriffsklauberei bereichert um Anschaulichkeit, die „scholastische Form“ der frühen Briefe aufgegeben. Der Weg zu einem neuen literarischen Stil war frei. In der Tat: hinter alledem steckt eine ständig wachsende Opposition gegen Kant. In Ueber Anmuth und Würde hat er der „schönen Seele“ gehuldigt, in ihr das „Siegel der vollendeten Menschheit“ gesehen. Das war schon ein nicht zu unterschätzender Angriff auf Kants „Idee der Pflicht“, und in den Ästhetischen Briefen setzt sich die Attacke auf das Drakonische der kantischen Moralphilosophie, auf das Rigoristische des kantischen Denkens fort; von dem enthusiastischen Bekenntnis zu Kant, zu dem lichtvollen, geistreichen Inhalt seiner Schriften blieb nicht mehr viel anderes übrig als Kritik an der Strenge des kantischen Systems: Kritik an einer Philosophie, deren Abstraktionsgrad bewundernswert, deren Wirklichkeitsgehalt aber, so mußte Schiller es sehen, sich immer mehr verflüchtigte, je weiter man sich damit beschäftigte. Und so enthalten die Ästhetischen Briefe beides: Kant-Nachfolge und Kant-Kritik, einen bilderarmen Stil und einen Protest gegen die Rigorosität eines unimaginativen Denkens. Wollte Schiller hier auch noch als Philosoph gelten? Gewiß, aber nicht mehr unbedingt als ein solcher kantischer Provenienz. Dem komplizierter werdenden Verhältnis Schillers zu Kant soll hier im einzelnen nicht weiter nachgegangen werden. Aber man darf doch als gesichert annehmen, daß von der nun einmal ausgesprochenen Kant-Kritik kein Weg mehr zu Kant zurückführte, und es war gleichermaßen die Härte der Bestimmungen wie auch das geradezu Puritanische der Darstellung, das Schiller abgeschreckt haben mochte. Und Schillers Kritik an Kant und seine zunehmende Distanzierung von dessen Philosophie hatte Folgen für sein Selbstverständnis, mehr aber noch solche für seine Schreibart. Seine Abkehr von Kant beginnt mit Denken in Bildern 97 produktiven Zweifeln an seinen eigenen Fähigkeiten. Hier liegt eben der Schlüssel zum Verständnis jener Formel von der „Zwitter-Art“ des eigenen Schreibens, von der 1794 die Rede ist. Wollen wir die Auseinandersetzung mit sich selbst, wie sie in jenem großen Brief an Goethe so deutlich wird, recht verstehen, müssen wir sie vor dem Hintergrund der Auseinandersetzung mit Kant, der durch Kant in Unruhe versetzten eigenen Selbstbewertung, dem Schwanken zwischen Gedanke und Bild sehen, bis dann bezeichnenderweise wieder in einer Auseinandersetzung, aber diesmal in der mit Fichte, die Formel von der Koexistenz von Bild und Gedanke als Lösung eines Problems auftaucht, das Schiller als sein ureigenstes erkennen zu müssen geglaubt hatte, das aber ein Problem der Rezeption kantischer Ideen durch einen vorher ganz anders philosophierenden Dichter gewesen war. In Ueber die nothwendigen Grenzen beim Gebrauch schöner Formen hat Schiller theoretisch zu beschreiben versucht, wie die Symbiose von „Begriffen „ und „Anschauungen“ beschaffen sein müsse. Aber er hat in seiner eigenen „Schreibart“ noch schärfer argumentiert: hat er doch kurz darauf den Verzicht auf die Imagination gewissermaßen indirekt als Irrweg erklärt und zu einer Darstellungsart zurückgefunden, die er vorher schon in den Künstlern praktiziert hatte. Die großen philosophischen Gedichte aus der Mitte der 90er Jahre legen davon Rechenschaft ab, vor allem Das Ideal und das Leben – ein unausgesprochener, aber um so nachdrücklicherer Kommentar zu eben dem Problem, das ihn seit Kant, in der Begegnung mit Goethe und in der Auseinandersetzung mit Fichte beschäftigt hatte. Die Rückkehr zur alten Schreibart der Imagination wird zu einem grandiosen Triumphzug, zum einzigartigen Hymnus auf ein Denken in Bildern. Jede Strophe bordet von Bildlichkeit über, und mag sie sich aus der Mythologie herleiten oder aus der Natur, Schiller philosophiert in Bildern und nurmehr in Bildern oder fast nur in solchen. Die Szenen im Olymp sind alles andere als abstrakte Jenseitsphilosophie, die Bilder sind hier tatsächlich koexistente Zeichen; sie und nur sie verdeutlichen, was anders nicht verdeutlicht werden kann, nämlich Grundsätzlichkeiten, die sich eigentlich der Vergegenwärtigung von sich aus entziehen. Die Schönheit erscheint hier wieder, aber es ist von ihren Hügeln die Rede, auch von der Schönheit stillen Schattenlanden – eine bildhafte Philosophie, stärker noch, als sie in den Künstlern begegnete; die mythologischen Szenen sind Analogiebeweise, Exaktes und Konkretes ist unauflöslich miteinander vermischt, eines aber nicht 98 Denken in Bildern Diener des anderen, sondern eine unzertrennliche, unverbrüchliche neue Wirklichkeit aus Gedanken und farbigster Imagination. Hier wird das Künstler-Gedicht legitimerweise fortgesetzt, hier wird die Aufklärung von der Imagination her vorangetrieben, hier ist auf eigentümliche Weise das Schöne zum Ausdruck des Freien geworden, aber anders und direkter, als das die Ästhetischen Briefe präsentieren konnten. Man hat diese Lyrik Gedankenlyrik, Reflexionspoesie oder philosophische Lyrik genannt,59 aber das ist unzulänglich. Hätte man sich die Mühe gemacht, in Sulzers Lehrbuch nach adäquaten Termini zu suchen, wäre die Frage der Benennung rasch geklärt gewesen. Denn die lyrischen Werke der hochklassischen Zeit, Das Ideal und das Leben, Die Ideale, Der Spaziergang, Nänie, Der Antritt des neuen Jahrhunderts, sind nicht etwa eine Umsetzung der Philosophie der frühen 90er Jahre ins Gedicht, sondern vielmehr eine Rückkehr zu der bildhaften Argumentation der vorkantischen Zeit – Kant erweist sich, auch hier, als Umweg, als Störung, als Unterbrechung einer Tradition, in der Schiller schon Beachtliches geleistet hatte. Was er nun schreibt, ist wiederum anschaulich, ist imaginierte Kulturphilosophie, Ausdruck jenes Denkens in Bildern, das im Bereich der Lyrik am leichtesten möglich ist. Diese Lyrik ist, der Definition der Zeit zufolge, „allegorische Lyrik“ – und man würde gut tun, durch diesen Begriff, der sich von Sulzers Allgemeiner Theorie der schönen Künste her legitimiert, jenen anderen, mißverständlichen, zwitterhaften Begriff der „philosophischen Lyrik“ oder den der „Reflexionspoesie“ zu ersetzen. Denn hier dominiert nicht die Reflexion, sondern das Bild und, in seiner Steigerung, die „Allegorie“. Schiller schwenkt damit wieder ein in poetisches Fahrwasser, das längst gut ausgeschildert war: das des allegorischen Schreibens. In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts hatte es zwar noch erhebliche Kritik an der Allegorie gegeben, auch Zweifel, wie der Begriff zu deuten sei: Bodmer verstand darunter nur eine „doppelsinnige Schreibart“,60 die gerade nicht für die „tiefsinnigen Geister“ erfunden worden sei, „welche abstractè gedencken können“, sondern für diejenigen, die mit der 59 Das Vorurteil ist alt und geht schon auf Eduard von der Hellen zurück, der bereits von der „sogenannten ‚Ideen- oder Gedankenlyrik‘“ spricht und darin schon den Höhepunkt der Schillerschen „Reflexionspoesie“ sieht; vgl. Schillers Sämtliche Werke. Säkular-Ausgabe, Bd. 1: Gedichte I, hg. von E. v. d. H., Stuttgart/Berlin o. J., S. XIII. 60 Johann Jacob Bodmer: Critische Betrachtungen über die poetischen Gemählde der Dichter, Zürich 1741, S. 601. Denken in Bildern 99 „Einbildung“ arbeiten:61 Eine sonderlich große Bedeutung komme ihr gewiß nicht zu, da sie nichts beweisen, allenfalls etwas erklären könne. Aber das Interesse an der Allegorie, am allegorischen Schreiben blieb, auch wenn Georg Friedrich Meier in seinen Anfangsgründen aller schönen Wissenschaften vor dem „ewigen Allegorisiren“ warnte;62 das könne nur „einen Eckel“ verursachen – ganz verwarf er sie dennoch nicht, rechnete sie allerdings nur „zu den schlechtesten Arten schöner Gedanken“.63 Diese negative Meinung setzt sich bei Riedel noch fort, wenn er schreibt: Die Allegorie ist eine mittelbare Bezeichnungs-Art der Gedanken durch Bilder, welche einen doppelten Sinn haben […]. In der Dichtkunst dient die Allegorie unmittelbar weder zur Ueberzeugung, noch zur Rührung; sie ist eine bloße Schönheit des Colorits, wodurch die Ideen lebhafter werden und das Ansehen der Neuheit erhalten können.64 Ein Ende der schlechten Reputation kam erst mit Winckelmann und seinem Versuch einer Allegorie,65 in dem die Allegorie erstmals aus ihrer bloß didaktischen Rolle befreit war, da sie nun „durch sich selbst verständlich seyn“ konnte;66 eine „Beyschrift“ sei nicht vonnöten. Das Bild bekommt damit bereits einen gewissen Autonomiecharakter; Moses Mendelssohn hat dann in seiner Schrift Über die Hauptgrundsätze der schönen Künste und Wissenschaften die Darstellungskraft der Allegorie schon sehr deutlich betont, behandelt sie doch für ihn „die Eigenschaften und Merkmale eines abstrakten Begriffs, und bildet daraus ein ziemliches Ganze, das auf der Leinwand durch natürliche Zeichen ausgedrückt werden kann“.67 Daß die Allegorie nicht unumstritten war, zeigt freilich Lessings Attacke auf die Allegorie 1760 – „ein so fremdes Wort, womit nur wenige einen bestimmten Begriff verbinden“.68 Aber der Autorität Winckelmanns war nicht viel entgegenzusetzen, und Christian Ludwig Ebd., S. 605. Georg Friedrich Meier: Anfangsgründe aller schönen Wissenschaften. Zweyter Theil, Halle/S. 1749, S. 372. 63 Ebd., S. 605. 64 Friedrich Just Riedel: Theorie der schönen Künste und Wissenschaften. Ein Auszug aus den Werken verschiedener Schriftsteller, Jena 1767, S. 366. 65 Johann Joachim Winckelmann: Versuch einer Allegorie, Dresden 1766. 66 Ebd., S. 2. 67 Moses Mendelssohn: Über die Hauptgrundsätze der schönen Künste und Wissenschaften, 1757, in: Gesammelte Schriften in 7 Bänden, Leipzig 1843, Bd. 1, S. 296. 68 Johann Jacob Bodmer: Lessingische unäsopische Fabeln, Zürich 1760, S. 232. 61 62 100 Denken in Bildern Hagedorn hat den Gebrauch der Allegorie sogar 1762 verteidigt: Malerei und Bildhauerei würden der Dichtkunst unähnlich, „wenn man beyden nicht vergönnen wollte, Dinge die nicht in die Sinne fallen, in sinnlichen Bildern vorzustellen“.69 Und bei ihm findet sich denn auch die vielleicht beste Rechtfertigung der Allegorie im 18. Jahrhundert: „Ein allegorisches Bild kann uns gleichwohl belehren, wie eine Sentenz“.70 In der englischen Tradition war man weiter: in den von Schiller gut gekannten Elements of Criticism war zu lesen: Die Allegorie erfodert keine Wirkung der Einbildungskraft, sie stellt nicht ein Ding unter dem Bilde eines andern vor; sie entsteht, wenn man ein Subjekt wählt, in welchem sich Eigenschaften oder Umstände finden, die den Eigenschaften oder Umständen des Hauptsubjektes ähnlich sind, und wenn man das erstere so beschreibt, daß es das letztere vorstellt. […] Nichts giebt mehr Vergnügen als diese Figur, wenn das vorstellende Subjekt in allen seinen Umständen demjenigen, das vorgestellt wird, analogisch ist. Aber man trifft selten eine so glückliche Wahl.71 Herder schließlich tat ein übriges, die Allegorie aufzuwerten: nicht eine allgemeine Theorie könne sie definieren, sondern nur „der einzelne, hier bestimmte Gebrauch“72 – und er zählte die Allegorien der Griechen fast zu den „Natursymbolen“73: „Nirgend schweift in ihnen das Auge der Phantasie jenseit der Natur hinaus; auch die erdichteten Prädikate erscheinen anschaulich-schön, mit Kunst- und Naturweisheit geordnet. Dies befriedigt das Auge, indem es den Geist erhebt.“74 Das steht in der Kalligone von 1800: und hier zeigt sich, wie hoch die Allegorie in der poetischen Wertung gestiegen war. „Ästhetischer Natur“ sei sie, und Allegorien nennt er „Geschöpfe der Phantasie und des personificirenden Verstandes, aus einem Hauch der Sprache genommen, in einem Hauch gebildet, müßen sie der Einbildungskraft leicht vortreten, sich lieblich anmelden und das was sie seyn wollen, durch sich selbst bewäh- 69 Christian Ludwig von Hagedorn: Betrachtungen über die Mahlerey, 1. Theil, Leipzig 1762, S. 458. 70 Ebd., S. 493. 71 Heinrich [= Henry] Home: Grundsätze der Kritik, Bd. 2, aus dem Englischen übersetzt von Joh. Nikolaus Meinhard, Leipzig 41772, S. 289ff. 72 Johann Gottfried Herder: Sämmtliche Werke, hg. von Bernhard Suphan, Bd. 8, Berlin 1892, S. 79. 73 Ebd., Bd. 22, S. 325. 74 Ebd. Denken in Bildern 101 ren“.75 Das war indirekt eine scharfe Kampfansage auch an Kant, der das Schreiben mit Hilfe von Symbolen nur als Ausdruck eines reflektierenden Verstandes begriffen wissen wollte.76 Schillers Position aber war Ebd., Bd. 23, S. 321. Siehe dazu Kants Kritik der Urteilskraft, bes. das Kap. „Von der Schönheit als Symbol der Sittlichkeit“, in: Gesammelte Schriften, hg. von der Königl. Preuß. Akademie der Wissenschaften, Berlin 1908, S. 351ff. Weitere Belege in der dankenswerten Sammlung: Allegorie und Symbol. Texte zur Theorie des dichterischen Bildes im 18. und frühen 19. Jahrhundert, ausgew., komment. u. mit einem Nachwort versehen von Bengt Algot Sørensen, Frankfurt am Main 1972. Dort findet sich auch eine kurze Wort- und Begriffsgeschichte zur Allegorie im 18. Jahrhundert (S. 261f.) mit wichtigen Bemerkungen über „die Rehabilitierung der Allegorie“ (S. 266). Vgl. im übrigen zum Thema im weiteren Sinne die Darstellung von Gert Ueding: Schillers Rhetorik. Idealistische Wirkungsästhetik und rhetorische Tradition, Tübingen 1971, insbes. Kap. VI: „Schillers Ideal einer philosophischen Prosa“ (S. 109ff.), in dem allerdings im wesentlichen nur die rhetorischen Momente zur Sprache kommen. Über die Möglichkeiten der Allegorie dort nur einige Bemerkungen auf S. 23. Zu einem Motiv aus der „Schaffenden Einbildungskraft“ Schillers vgl. Robert Mühlher: Die Spiegel-Metapher bei Schiller, in: R. M.: Deutsche Dichter der Klassik und Romantik, Wien 1976, S. 58-78. – Daß die Allegorie eine ideale Möglichkeit war, Ideal und Wirklichkeit zu versöhnen, leuchtet ein, und so mußte die allegorische Schreibart Schillers philosophischer Neigung gerade in den großen Gedichten der späten 90er Jahre besonders entgegenkommen. Über die Eigentümlichkeiten dieser Lyrik anhand eines Beispiels informiert Jürgen Stenzel: „Zum Erhabenen tauglich“. Spaziergang durch Schillers „Elegie“, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft XIX (1975), S. 167191. Zur großräumigeren Vorgeschichte des Emblematischen, im wesentlichen beschränkt allerdings auf die frühe Lyrik, vgl. Wilhelm Voßkamp: Emblematisches Zitat und emblematische Struktur in Schillers Gedichten, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft XVIII (1974), S. 388-406, bes. S. 399f. Zu dem allegorischen Anteil in Schillers Jugendlyrik vgl. auch Werner Keller: Das Pathos in Schillers Jugendlyrik, Berlin 1964, S. 101f. Käte Hamburger hat im übrigen darauf aufmerksam gemacht, daß Schiller, „dieser Ideenlyriker, sich nicht als Lyriker verstand“. In der Tat sind Schillers große Gedichte kaum als lyrische Gedichte im engeren Sinne zu lesen (vgl. K. Hamburger: Schiller und die Lyrik, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft XVI (1972), S. 299-329, bes. S. 329). Über Die Künstler als „Allegorie“ auch Gerhard Storz: Gesichtspunkte für die Betrachtung von Schillers Lyrik, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft XII (1968), S. 259-274, bes. S. 272, wobei Storz allerdings betont, daß Schiller sich von der Allegorie entfernt habe „zu einer anderen Art der Darstellung“ (S. 272). Interpretiert man „Allegorie“ freilich im Sinne Sulzers, bleiben auch Die Künstler eine Allegorie, und die These von Gerhard Storz – „Schillers Lyrik schreitet also von der Allegorie fort zu der klassischen Konkurrenz von Idee und Gestalt, zur Prägnanz und Stimmungskraft des Symbols“ – schränkt sich ein, zumal nach zeitgenössischer Auffassung Allegorie und Symbol keine Gegensätze sind, sondern Möglichkeiten des Bildes schlechthin. Näheres darüber bei Sulzer a.a.o., S. 405 unter „Bild“. Vgl. zum Thema auch Bengt Algot Sørensen: Die „zarte Differenz“. Symbol und Allegorie in der ästhetischen Diskussion zwischen Schiller und Goethe, in: Formen und Funktionen der Allegorie, hg. von Walter Haug, Stuttgart 1979, S. 632-641. 75 76 102 Denken in Bildern nach den Schwierigkeiten mit Kant, nach der Kritik an dessen Rigidität auf seiten Winckelmanns und Herders; und es dürfte nicht zuletzt auch die Begegnung mit Goethe gewesen sein, die ihn zum allegorisierenden Schreiben, zum Schreiben in Bildern zurückgebracht hatte. Oder sagen wir deutlicher: in der Begegnung mit Goethe und dessen „Intuition“, seiner Erfahrungsgläubigkeit und Bildmöglichkeit kam Schiller seine in der Tat unglückliche „Zwitter-Art“ scharf zum Bewußtsein, sein Schwanken zwischen Idee und Anschauung. Das war das Resultat der Begegnung mit Kant: gewiß Erkenntnisgewinn auf der einen Seite, aber erkauft durch eine tiefreichende Verunsicherung der eigenen „Schreibart“: „gewöhnlich übereilte mich der Poet, wo ich philosophieren sollte, und der philosophische Geist, wo ich dichten wollte“, hatte er geschrieben, und so war es tatsächlich um 1791 – vorher durchaus nicht, denn die Philosophischen Briefe sind aus einem Guß, und Schiller war zufrieden mit ihnen. Aber dann kam der innere Konflikt, und die Begegnung mit Goethe hatte eine geradezu katalytische Funktion. Und nach dem Streit mit Fichte schwenkte er endgültig wieder ein in eine aufklärerische Tradition, die seit den 60er Jahren des Jahrhunderts immer mächtiger geworden war und in der Bilder und Allegorien stärker zu überzeugen vermochten als der bloße Gedanke.77 Das Urteil von Elizabeth Wilkinson über Schillers Armut an Bildern und deren blasse Illustrationskraft gilt aber nur für die wenigen Jahren zwischen 1791 und 1794, also für die Zeit der intensiven Beschäftigung mit Kant. Schiller „highly suspicious of illustrations in philosophy“? Nur wenige Jahre, in 77 Wie stark Schillers Bildlichkeit früher abgewertet worden ist, zeigt etwa der Aufsatz von Hans Mayer: Schillers Gedichte und die Traditionen deutscher Lyrik, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft IV (1960), S. 72-89; auch in: H. M.: Zur deutschen Klassik und Romantik, Pfullingen 1963, S. 125-146; dort ist ausdrücklich davon die Rede, daß im Spaziergang die Landschaft, „überhaupt die Raumschilderung, als bloße Dekoration“ zu verstehen sei (S. 81.); auch die menschheitliche Erinnerung, die Reminiszenz bleibe „auf das Dekorative beschränkt“ (S. 82), und: „Die Landschaft als Teppich, Gemälde, Wandeldekoration – wie Jahrzehnte später in Richard Wagners Parsifal “, (ebd.). Gründlicher kann man den (im Sinne Sulzers) allegorischen Charakter dieses Gedichtes kaum verkennen. – Aus einer reizvollen und neuen Perspektive hat Günther Debon ein Gedicht wie Das Ideal und das Leben gedeutet: Schiller habe die Götter des Olymps in einem „Zwischenreich“ angesiedelt „einerseits voll menschlicher Gestalt, andererseits unsterblich, leidlos, schwebend in einem heiteren Blau“. Das deckt sich in vielem mit der hier vorgetragenen Deutung der Schillerschen großen Gedichte der 90er Jahre als „allegorischer“ Gedichte (G. D.: Die Schönheit der Schlangenlinie. Ein weiterer Beitrag zum Thema Schiller und der chinesische Geist, Neckargemünd 1984, bes. S. 28f.). Denken in Bildern 103 denen er den Sirenentönen der damals modernen Philosophie folgte. Nicht zuletzt die Begegnung mit Goethe hat ihn dann sich selbst fragen lassen, ob er gut daran tue, den Verlockungen eines abstrakten Philosophierens nachzugeben, und der Streit mit Fichte bewirkte dann ein übriges, um ihn zu seinem eigenen Stil, der der Stil einer populären Aufklärung war, zurückzubringen; sein Verdacht richtete sich 1794 nicht länger gegen die Bilder, sondern gegen Abstraktionen; er fand zurück zur produktiven „Wechselwirkung zwischen Bild und Begriff“, wie er das Fichte gegenüber formuliert hatte. Und so schloß er dann bald darauf seine „philosophische Bude“: Kant lag hinter ihm. Doch sein Denken in Bildern setzte er in seiner philosophischen Lyrik fort. S CH I L LE R : D I E D Ä M O N I E D E R N A T U R U N D K E H RS E I T E D E S A U F G E K L Ä RT E N D E N K E N S DIE Im Frühjahr 1793 unternimmt Schiller einen Spaziergang durch „eine schöne Landschaft in der Abendröthe“.1 Vor sich hat er „das unendlich wechselnde Spiel des Lichts“; er sieht, wie die Gegenstände mit „leichtem Flor“ umkleidet sind, und was er um sich erblickt, ist eine „Harmonie der Farben“. Zu den angenehmen Empfindungen kommt das sanfte Geräusch eines Wasserfalls hinzu, das freilich nicht so stark ist, daß es „das Schlagen der Nachtigallen“ übertönen könnte. Eine heile Welt. Schiller wird diesen Spaziergang wiederholen – und wieder ist es der Abend, der ihn verlockt. „An dem Himmel herauf mit leisen Schritten/ Kommt die duftende Nacht“ – ist das nicht Eichendorff oder auch Kleist? Nein, es ist Schiller, zwei Jahre später.2 Noch ein paar Jahre danach, 1799, erwartet er wieder die Nacht, die holde, und wieder ist es ein Sonnenuntergang mit einem „purpurrothen Flor“, flüstern Stimmen leise, zieht ein Schwan seine Kreise durch den Teich, und erneut ist ein Wasserfall zu hören, wieder „mit angenehmem Rauschen“. Dann kommt der Mond strahlend herauf, öffnen sich „die Kelche“ der Blumen.3 Wenn die Farben verblassen, kann sich der Blick allerdings täuschen, und erst bei genauerem Hinsehen zeigt sich, daß das schimmernde Weiß im Park nicht ein seidenes Gewand ist, sondern nur das Flimmern einer Säule an einer dunklen Taxuswand. Die Konturen verschwimmen, auch das Ohr erliegt Täuschungen: was sich wie Tritte im Laubengang anhört, ist nur der Fall einer überreifen Frucht. Schöne Natur, bukolische Szenerien: sie begegnen bei Schiller immer wieder, und in ihnen begegnet uns der empfindsame Schiller. Erlebt davon ist nichts, sondern alles auf flüchtige Weise imaginiert. Und so gibt es diverse Ungereimtheiten. Daß sich im holden Dämmerlicht kühn die Kelche öffnen, ist wider die Natur: Blumen schließen sich Zitiert wird nach: Schillers Werke. Nationalausgabe, hg. von Julius Petersen (†) und Gerhard Fricke, Weimar 1943ff. (= NA), Bd. 20, S. 225. 2 NA 1, S. 238. 3 NA 2/1, S. 201f. 1 106 Die Dämonie der Natur bekanntlich beim Einbruch der Nacht. Wenn vorher vom „purpurrothen Flor des Abends“ die Rede ist, kann der Mond nicht strahlend aufgehen, und wenn Dämmerlicht herrscht, kann der Schwan nicht seine Kreise durch den „Silberteich“ ziehen; denn das setzt voraus, daß der Mond schon hoch am Himmel steht – aber in diesem Gedicht geht die Sonne erst zwei Strophen später unter und der Mond dann erst auf. Es gibt sogar haarsträubende Widersprüche. Auf die Vermutung, daß da flüsternde Stimmen seien, ist die Rede von einem Schwan, der seine Kreise zieht – eine akustische Frage wird gleichsam optisch beantwortet. Die Traube winkt – hinter Blättern, die sie verdecken; die „Pfirsche“ lauscht zum Genuß, die Luft trinkt Glut. Mit dem „holden Schweigen“ im Park verträgt es sich nicht, daß die Früchte geräuschvoll vom Baum fallen; trotz dunkler Nacht sind die Rosenwangen der „Anmuthstrahlenden“ zu erkennen, und wenn es auch bis auf einen aufgeschreckten Vogel still ist – das Ohr des Betrachters „umtönt ein Harmonieenfluß“. Der wird auch nicht durch des Windes Wehen gestört, der durch die Pappeln „schwirrt“. Eine Phantasiekonstruktion, dieses Erlebnis des sinkenden Tages und der einbrechenden Nacht, und bei dem Gedicht Der Abend, in dem mit leisen Schritten die duftende Nacht am Himmel heraufkommt, gibt sich der Verfasser auch gar keine Mühe, das Dargestellte zu kaschieren: das Gedicht trägt den Untertitel “nach einem Gemählde“. Ob ein wirkliches Gemälde Anlaß zu dieser Abendschilderung gegeben hat, ist fraglich; bekannt ist keines, aber wahrscheinlicher ist ohnehin, daß Literarisches im Hintergrund steht: Ovids Metamorphosen, Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre, vielleicht auch Wielands Oberon. Was immer sich an lieblicher Natur bei Schiller präsentiert, ist unglaubwürdig, Gedankenkonstrukt, und besonders dort ist Mißtrauen angebracht, wo von Harmonie die Rede ist, von sanften Geräuschen und holdem Schweigen, von süßen Empfindungen und von Ruhe, von angenehmer Rührung und ergötzten Sinnen: bezeichnend ist, daß diese empfindsamen Naturschilderungen immer von Musikalischem begleitet sind, denn in der Musik kommt Harmonisches für Schiller am unmittelbarsten zum Ausdruck. Wir merken nur zu bald: diese Landschaftsbilder sind Rhetorikgemälde, in die antike Mythologie und einiges aus der Idyllentradition eingeschwärzt ist; Selbstwert haben diese Naturdarstellungen nicht. Manchmal dienen sie dazu, einzustimmen auf das, was mit dem Abend Die Dämonie der Natur 107 für Schiller verbunden ist: „die süße Liebe“,4 wie es in dem Abendgedicht von 1795 heißt, oder auch „die Erwartung“5 wie im Gedicht von 1799. Auch dort ist alles nur Vorspiel, damit „die Stunde des Glückes“6 erscheint, und so wird denn die Landschaft zur verheißungsvollen Kulisse, und wenn jenes, das Glück, nicht näher beschrieben ist, so wird dieses, die Einstimmung, um so wortreicher ausgemalt. Bukolische Dutzendware. Aber es bleibt nicht immer dabei – in nicht wenigen Naturbeschreibungen hat es mit der Harmonie ein plötzliches Ende. In Schillers Idyllen kann etwas hereinbrechen, was sie im Nachhinein noch unglaubwürdiger werden läßt, als sie es ohnehin schon sind. In die schöne Landschaft mit der Abendröte etwa kommt aus buchstäblich heiterem Himmel ein Ungewitter: Auf einmal erhebt sich ein Sturm, der den Himmel und die ganze Landschaft verfinstert, der alle andere Töne überstimmt oder schweigen macht, und uns alle jene Vergnügungen plötzlich raubt. Pechschwarze Wolken umziehen den Horizont, betäubende Donnerschläge fallen nieder, Blitz folgt auf Blitz, und unser Gesicht wie unser Gehör wird auf das widrigste gerührt. Der Blitz leuchtet nur, um uns das schreckliche der Nacht desto sichtbarer zu machen; wir sehen, wie er einschlägt, ja wir fangen an zu fürchten, daß er auch uns treffen möchte.7 Nichts ist unglaubwürdiger als dieser plötzliche Sturm, und wir ahnen: hier wird ein Theaterereignis inszeniert. Die Regie aber führt kein anderer als der Philosoph Friedrich Schiller. Und er will uns demonstrieren, daß die „plötzliche Lufterschütterung durch den Donner, so wie die plötzliche Lufterleuchtung durch den Blitz“, die eigentlich allem widerspricht, was wir als schön empfinden, daß, mit anderen Worten, „die plötzliche Abwechselung von Dunkelheit und Licht, von dem Knallen des Donners zur Stille“ ästhetisch gesehen ein Graus sind – und dennoch nichts weniger sind als „eine anziehende Erscheinung“.8 Denn was wir da erleben, ist zwar alles andere als „schön“9 – aber es ist „et- 4 5 6 7 8 9 NA 1, S. 238. NA 2/1, S. 201. NA 2/1, S. 202. NA 20, S. 225. NA 20, S. 225. NA 20, S. 225. 108 Die Dämonie der Natur was „Erhabenes“.10 Das Unwetter mag schrecklich sein, aber es ist hier instrumentalisiert und dient keinem anderen Zweck als der Demonstration dessen, was das fürchterliche Naturgeschehen im Menschen bewirken kann. Schillers Beispiel vom plötzlich heraufziehenden Sturm ist kein genuin lyrisches Thema; dieses hier findet sich bekanntlich in den Zerstreuten Betrachtungen über verschiedene ästhetische Gegenstände, Vorlesungsstoff, den er für seine Vorlesungen über Ästhetik brauchte, wie er sie im Winter 1792/93 hielt. Es sind Fingerübungen zu philosophischen Etüden, und die Partitur schrieb Kant – Schiller, der akademische Lehrer, ist hier auf die Schulbank gerückt. Jeder, der die Schrift einmal gelesen hat, erinnert sich an das abschreckend-langweilige Beispiel, das er seinerseits seinen akademischen Zuhörern zugemutet hat, wenn er umständlich das Beispiel eines Turmes zitiert: „Der Thurm, den ich vor mir sehe, ist eine Größe. Er ist zweyhundert Ellen hoch. Er ist hoch. Er ist ein hoher (erhabener) Gegenstand“.11 Schiller selbst hat die Anlehnung an die Kritik der Urteilskraft als offenbar so stark empfunden, daß er bei der späteren Aufnahme des Aufsatzes in die Kleineren prosaischen Schriften eine längere Passage gestrichen hat – sie ist, was das Erhabene angeht, allenfalls von erhabener Langeweile. Was es eigentlich mit dem Erhabenen auf sich hat – und zu dessen Demonstration dient so manches Naturbeispiel –, hat er anderswo überzeugender gesagt, etwa in der Schrift Vom Erhabenen mit dem Untertitel Zur weitern Ausführung einiger Kantischen Ideen, die er für seine Neue Thalia zu brauchen gedachte. Und hier wird auch deutlich, wozu die Schrecknisse der Natur gut sind: nur wo die Natur furchtbar ist, kann sie die Wirkung des Erhabenen auslösen.12 Dahinter steht die Vorstellung, daß unsere „Vernunftbestimmung“ uns eine „praktische Unabhängigkeit von der Natur“ gewissermaßen garantiert.13 Allerdings: ein Schiff, das durch „seine künstliche Einrichtung im Stand ist, allem Ungestüm des wilden Elements zu trotzen“,14 erweckt noch kein Gefühl des Erhabenen. Mit Schillers Worten: „Die physische Ueberlegenheit des Menschen über die Naturkräfte ist also so wenig ein Grund des 10 11 12 13 14 NA 20, S. 229. NA 20, S. 230. Vgl. NA 20, S. 178. NA 20, S. 176. NA 20, S. 176. Die Dämonie der Natur 109 Erhabenen, daß sie fast überall, wo sie angetroffen wird, die Erhabenheit des Gegenstandes schwächt oder ganz vernichtet“.15 Erhaben ist die Natur nur da, wo sie furchtbar ist – und dazu auffordert, sich davon nicht überwältigen zu lassen. Das Erhabene hat mit unserer inneren Freiheit zu tun, mit unserem „intelligiblen Selbst“, also mit dem in uns, „was nicht Natur ist“,16 und so ist denn das Erhabene nicht Eigenschaft einer Sache oder eines Naturvorganges, sondern die durch das Furchtbare etwa der Natur erst möglich gewordene Entscheidung des Menschen, sich dem nicht zu beugen. In Schillers definitorischem Satz: „Groß ist, wer das Furchtbare überwindet. Erhaben ist, wer es, auch selbst unterliegend, nicht fürchtet“.17 Natur ist also nichts anderes als ein Medium, ein Eigenleben hat sie bei Schiller nicht. Schillers Absicht ist eindeutig: es geht ihm um die Demonstration der menschlichen Autonomie, derer er sich vergewissern muß, um nicht vom Schicksal, von der Natur, von Gewalt, vom schlechten Leben, von den Verhältnissen unterjocht zu werden. Dem dient in seiner Argumentation auch die Vorstellung von einem Gewitter, das dem Menschen seine physische Ohnmacht vor Augen führt – und zugleich ein Anlaß ist, ihm seine innere Freiheit bewußt zu machen. Bilder einer schönen Natur werden denn auch vor allem dann gebraucht, wenn sie von Bildern einer schrecklichen Natur abgelöst werden. Das Idyllische: nur zu rasch hinweggewischt, Bukolik ist trügerisch, die Wirklichkeit der Natur grausam. Aber auch hier gilt, was für Schillers freundliche Spaziergang-Bilder bezeichnend ist: erlebt davon ist nichts – alle diese Bilder von Naturkatastrophen sind Gedankenspiele. Sie sollen immer wieder das Gleiche demonstrieren: daß gerade Katastrophen den Menschen frei machen können. * Menschliche Ohnmacht hatte auch schon der junge Schiller empfunden – aber es war damals eine fromme Ohnmacht angesichts der Herrlichkeit der Schöpfung, wie er sie in seinem frühen Gedicht Die Gröse der Welt beschrieben hatte.18 Das Chaos war gewesen, früher einmal, vor dem schaffenden Geist; die Natur war, auch wo sie überwältigend war, 15 16 17 18 NA 20, S. 178. NA 20, S. 184. NA 20, S. 185. Vgl. NA 1, S. 102. 110 Die Dämonie der Natur nichts anderes als ein Sinnbild für die unendliche Größe Gottes. Extreme Bilder auch dort schon, etwa in der Hymne an den Unendlichen: Wolken türmen sich zu Stürmen, der „Orkan“ spricht „Zebaoths Namen“ aus.19 Aber in dieser frühen Lyrik erscheint die Natur überall nur als Spiegel Gottes, ist von einer universellen Sympathie die Rede; da schreiben eigentlich Brockes, Haller und Klopstock mit. Eigenwert haben schon diese frühen Naturschilderungen nicht, so wenig wie Natur irgendwo sonst erlebt worden ist. Aber immer ist sie gewaltig. Landschaften werden geschildert, die fast nicht mehr vorstellbar sind: die Wolken sind ungeheure Gebirge, „neblichte Riesen“,20 die Wasser sind unabsehbar, die Erde selbst ein „Grabeshügel“;21 da ragt ein „Zakenfels“ zwischen Himmel und Erde, „orgelt“ der „Gewittersturm“, schreibt der „Griffel des Blizes“,22 brennt „Sonnenaufgangsglut“, wird der Sonnen Pracht im Meer der „Todennacht“ gelöscht, bläst der Wind „regenbogenfarbigtes Geschäume“ fort,23 wird die „blühende Natur“ zum „welken Leichnam“.24 Hier gibt es keine liebliche Natur, sondern nur eine kolossalische, und nicht weniger kolossalisch ist diese Rhetorik der Natur – eine Chiffrensprache, die der Verständigung über Ungewöhnliches, Großes, Erhabenes dient. Natur ist, wie T. S. Eliot derartiges benannt hatte, ein „objective correlative“.25 Von den Gottesgemälden wird Schiller sich freilich schon bald verabschieden, aber eines wird bleiben: die Bilder einer extremen Natur. Der „Donner Rollen“ hallt durch das Gebirge, ein „langes Klippenheer“ steht in „grausenvollen Felsenwüsten“,26 über einer Schlacht hängt eine Wetterwolke,27 und wenn sich ein lieblicher Hain zeigt, „rast“ plötzlich der „Sturm“ und zerknickt die „Rosenblum“,28 das Meer ist nicht ruhig, sondern empört,29 und auch menschliche Prospekte sind düster: „Deiner Wangen wallendes Rund/ Werden rauhe WinNA 1, S. 101. NA 1, S. 51. 21 NA 1, S. 52. 22 NA 1, S. 101. 23 NA 1, S. 114. 24 NA 1, S. 167. 25 T. S. Eliot: Hamlet and His Problems. In: T. S. E.: Selected Essays, London 1932, S. 141-146, hier S. 145. 26 NA 1, S. 55f. 27 NA 1, S. 70. 28 NA 1, S. 95. 29 NA 1, S. 109. 19 20 Die Dämonie der Natur 111 terstürme pflügen,/ Düstrer Jahre Nebelschein/ Wird der Jugend Silberquelle trüben“,30 heißt es in der Melancholie an Laura. * Vielleicht war es gar nicht einmal ein so weiter Weg von den quasi barocken Bildern der lyrischen Frühzeit in die Bilder einer katastrophalen Natur, wie sie sich in der klassischen Lyrik immer wieder finden, wenn es um die Menschheit und ihre traurige Blöße geht: „Ueber diesen grauenvollen Schlund/ Trägt kein Nachen, keiner Brücke Bogen,/ Und kein Anker findet Grund“.31 Natur aber wird nun anders gewertet, und von der Sprache Gottes durch die Natur ist nicht mehr die Rede. Natur ist zunehmend nicht länger mehr Demonstrationsmittel, sondern bekommt ein angsterregendes Eigenleben. In Das Ideal und das Leben spricht „der Natur furchtbare Stimme“.32 Immer wieder Gebirgsbilder bei Schiller: „Brausend stürzt der Gießbach herab durch die Rinne des Felsen/ Unter den Wurzeln des Baums bricht er entrüstet sich Bahn./ Wild ist es hier und schauerlich öd’“.33 Fromme Natur? Nicht mehr in diesen Schillerschen Bildern. Natur ist allem entgegengesetzt, was idealisch ist, und was es mit der Natur wirklich auf sich hat, zeigt etwa die Ballade vom Taucher. Die Natur ist dort auf besonders grausame Weise zerstörerisch, kalt, feindlich, mörderisch, die strudelnden Trichter öffnen den Weg in einen „Höllenraum“.34 Schiller bemüht das ganze Arsenal seiner furchtschaffenden Bilder, um zu zeigen, was es mit diesem wilden Meer auf sich hat: Feuer vermengt sich mit Wasser, so ist wiederholt zu lesen. Hier sind „Nacht und Grauen“,35 ein wildflutender „reissender Quell“, ein „Höllenrachen“, ist „traurige Oede“,36 und am Schluß vernichtet es den Jüngling. Eine lebensbedrohliche Natur auch in der Ballade von der Bürgschaft: des „Stromes Wuth“ bedroht den Freund, und wenn der auch dem Wasser schließlich entkommen ist, so droht der Sonne „glühender Brand“37 ihn zu versengen. Das Lied von der 30 31 32 33 34 35 36 37 NA 1, S. 114. NA 2/1, S. 399. NA 2, S. 400. NA 2/1, S. 313. NA 2/1, S. 373. NA 2/1, S. 374. NA 2/1, S. 375. NA 1, S. 422f. 112 Die Dämonie der Natur Glocke berichtet, wie es wird, wenn die „freie Tochter der Natur“38 losgelassen worden ist: eine Weltuntergangsvision, Feuer und Blitze, der Himmel „roth wie Blut“, „Sturm“ und eine „Feuersäule“,39 und in den „öden Fensterhöhlen“ wohnt am Ende „das Grauen“.40 Auch wenn einmal vom „ew’gen Sonnenschein“ auf „jenen Höhen“ die Rede ist, braust des „Stromes Toben“ dazwischen,41 und ein Ende hat es mit dem Bild einer harmonischen Idylle. In der Ballade von Hero und Leander ist die Natur zunächst dem Geschlecht des Menschen konfrontiert: dieses ist „falsch“, treulos, lügend – doch, so heißt es zum Meer, „du bist mild und gütig“.42 Aber dann kehrt sich das um: das Ende ist gräßlich, das Gewässer „bietet Schrecken“, des „Stromes Toben“43 wächst, alle Greuel der Natur sind losgelassen, und am Schluß stehen Tod und Vernichtung: die Stille des Pontus „war nur des Verrathes Hülle,/ Einem Spiegel warst du gleich,/ Tückisch ruhten deine Wogen,/ Bis du ihn heraus betrogen/ In dein falsches Lügenreich./ Jezt in deines Stromes Mitte,/ Da die Rückkehr sich verschloß,/ Lässest du auf den Verrathnen/ Alle deine Schrecken los“.44 Anderswo sind Blitze und Funken die zerstörerischen Gaben der Natur, über Ilion hängen „des Donners Wolken [...]/ Schwer herab“.45 Tod und Verderben überall, wo von der Natur die Rede ist. Nimmt man zusammen, was sich in Schillers Werken spätestens seit den neunziger Jahren durch Natur präsentiert, so ist nur zu deutlich: Natur ist so gut wie immer, sieht man von den imaginierten Gartenund Spaziergangs-Idyllen ab, gewalttätig und zerstörerisch. Natur sprengt alle Maße, ist unberechenbar, gesetzlos, anarchisch, todbringend, und sie begegnet immer wieder als extreme Natur. Erdbeben, Vulkanausbrüche, Unwetter, Meeresstürme: eine feindliche Natur stellt den Menschen auf die Probe. So kann es nur darum gehen, sich von dieser Natur zu befreien, und die Menschheitsgeschichte ist denn auch als Befreiungsgeschichte immer zugleich eine Geschichte der Befreiung von der Natur. 38 39 40 41 42 43 44 45 NA 2/1, S. 231. NA 2/1, S. 232. NA 2/1, S. 233. NA 2/1, S. 197. NA 2/1, S. 262. NA 2/1, S. 264. NA 2/1, S. 264. NA 2/1, S. 258. Die Dämonie der Natur 113 Hier wird die Kehrseite eines aufgeklärten Denkens sichtbar. Denn die als vernichtend und gewalttätig erscheinende Natur war nicht mehr die gesetzmäßig organisierte Natur, wie sie in Schillers Dissertation und auch noch in der Geschichte des Abfalls der vereinigten Niederlande von der spanischen Regierung begegnet war. Dort war noch zu lesen gewesen: „Die Geschichte der Welt ist sich selbst gleich, wie die Gesetze der Natur, und einfach wie die Seele des Menschen. Dieselben Bedingungen bringen dieselben Erscheinungen zurück“.46 Das war 1788 geschrieben. Natur bedeutete bis dahin Regelhaftigkeit, und die war allgegenwärtig. Schon in seiner Dissertation folgte die „Universalgeschichte des ganzen menschlichen Geschlechts“ den Regeln von „Naturgeschichte und Physik“.47 Hinter allem standen „Naturgesetze“, und die Naturgesetzlichkeit ragte ungebrochen in die Universalgeschichte hinein: sie zeichnete „Nothwendigkeit“ aus, war als „System“ zu begreifen, als „vernunftmäßig zusammenhängendes Ganzes“:48 eben so war die Welt organisiert, und an der Allmacht der Naturgesetze konnte kein Zweifel bestehen. Da war anfangs bei Schiller also noch ungebrochenes Aufklärungsdenken, und eines kam der Natur mit Sicherheit nicht zu: Eigengesetzlichkeit oder gar Gesetzlosigkeit. Aggregat und System, Ursache und Wirkung, Mittel und Absicht waren die Kategorien, die für ihn (wie für Kant und Schloezer) den „Gang der Welt“49 bestimmten; Schiller sprach nicht zufällig immer wieder von der „Weltordnung“.50 Natur gab es freilich auch als „Naturtrieb“ – aber der war zu überwinden, und die Geschichte der Menschheit, so stellte sich das Schiller noch in seiner Vorlesung Etwas über die erste Menschengesellschaft dar, war die Geschichte einer Emanzipation, wurde doch der Mensch „aus einem Sklaven des Naturtriebes ein freihandelndes Geschöpf, aus einem Automat ein sittliches Wesen, und mit diesem Schritt trat er zuerst auf die Leiter, die ihn nach Verlauf von vielen Jahrtausenden zur Selbstherrschaft führen wird“.51 Zwar war da auch eine gefährliche Natur, war die Wildnis; bereits die erste Menschengesellschaft hatte „den Grimm wilder Thiere und eine stürmische Natur“52 zu bekämpfen. Doch damit war 46 47 48 49 50 51 52 NA 17, S. 21. NA 20, S. 55. NA 17, S. 373. NA 17, S. 374. Vgl. z. B. NA 18, S. 347. NA 17, S. 400. NA 17, S. 400. 114 Die Dämonie der Natur fertig zu werden. Und so wurde denn die Geschichte aller feindlichen Natur zum Trotze zur Fortschrittsgeschichte, und was Schiller allein interessierte, war der Weg von der Natur zur Kultur; daß die Natur bedrohlich war, war bei der Darstellung der Kultur zu vernachlässigen und paßte im übrigen nicht in das aufgeklärte Denken hinein: in der Geschichte der Menschheit war selbst eine bedrohlich erscheinende Natur überschaubar, und, weil überschaubar, auch beherrschbar. Die Natur brachte es manchmal zu Kuriositäten, aber die waren eher Anlaß zur Heiterkeit; so machte Schiller sich schon in seiner Dissertation über Lavaters Physiognomische Fragmente lustig: Lavater, der die „launichten Spiele der Natur, die Bildungen, mit denen sie stiefmütterlich bestraft, und mütterlich beschenkt hat“, beschrieben habe – er möge sich hüten, daß er „über der ungeheuren kurzweiligen Mannigfaltigkeit der ihm vorkommenden Originale nicht selbst eines werde“.53 Eine freche Bemerkung mit einem ernsten Kern: Individualität, auch solche in der Natur, war irrelevant, interessant war der Mensch, sind nicht die Menschen, und so sehr die Menschheitsgeschichte, wie Schiller sie hier entwarf, naturwissenschaftliche Grundlagen hat, so wenig ging es um den Widerstreit von Natur und Menschengeschlecht – der war mit dem Aufkommen der ersten Menschengesellschaft, war mit den Staatengründungen für den Universalhistoriker Schiller erledigt. Und mehr als das: es gab zwar „Naturzweckmäßigkeit“,54 aber wichtiger war die moralische Zweckmäßigkeit; und wenn auch „diese rohen Naturgefühle“ im Menschen tätig waren – höher rangierte die „Würde der menschlichen Natur“.55 Aber dann erscheinen plötzlich die Bilder einer wilden, chaotischen, unbezähmbaren, zerstörerischen Natur – vor allem in der Schrift Ueber das Erhabene. Die physische Schöpfung: eine „wilde Bizarrerie“. Die Natur: „dieses gesetzlose Chaos von Erscheinungen“.56 Schillers Schrift über das Erhabene ist ein einziger Widerruf der Aufklärungstheorien, die er selbst so nachdrücklich vertreten hatte. „Wer freylich die große Haushaltung der Natur“, so schreibt Schiller, „mit der dürftigen Fackel des Verstandes beleuchtet, und immer nur darauf ausgeht, ihre kühne Unordnung in Harmonie aufzulösen, der kann sich in einer Welt nicht 53 54 55 56 NA 20, S. 70. NA 20, S. 140. NA 20, S. 149. NA 21, S. 48. Die Dämonie der Natur 115 gefallen, wo mehr der tolle Zufall als ein weiser Plan zu regieren scheint“.57 Und dann folgt der Widerruf der eigenen Feststellung, daß durch Naturgesetze die Natur zu erklären sei, folgt die Einsicht in die „furchtbare und zerstörende Natur“58: Eben der Umstand, daß die Natur im Großen angesehen, aller Regeln, die wir durch unsern Verstand ihr vorschreiben, spottet, daß sie auf ihrem eigenwilligen freyen Gang die Schöpfungen der Weisheit und des Zufalls mit gleicher Achtlosigkeit in den Staub tritt, daß sie das Wichtige wie das Geringe, das Edle wie das Gemeine in Einem Untergang mit sich fortreißt, daß sie hier eine Ameisenwelt erhält, dort ihr herrlichstes Geschöpf den Menschen in ihre Riesenarme faßt und zerschmettert, daß sie ihre mühsamsten Erwerbungen oft in einer leichtsinnigen Stunde verschwendet, und an einem Werk der Thorheit oft Jahrhunderte lang baut – mit einem Wort – dieser Abfall der Natur im Großen von den Erkenntnißregeln, denen sie in ihren einzelnen Erscheinungen sich unterwirft, macht die absolute Unmöglichkeit sichtbar, durch Naturgesetze die Natur selbst zu erklären. Die „zerstörende Natur“! Hier ist nichts mehr zu spüren von Schillers Aufklärungsoptimismus, ist aller Enthusiasmus begraben, hier gibt es keine vernünftigen Zwecke mehr, keine chain of being oder universalgeschichtliche Leiter, hier wird Natur bestenfalls zum Schicksal, und zwar zum blinden. Da ist ein alles überschwemmender Pessimismus, der Glaube an jegliche Gesetzlichkeit in der Natur über Bord gespült. Die so betrachtete Naturmisere läßt nur eine einzige Hoffnung offen: daß diese „physische Welt“ zu überwinden sei, und zwar dadurch, daß der Mensch ertragen lerne, „was er nicht ändern kann, und Preiß zu geben mit Würde, was er nicht retten kann“.59 Woher erklärt sich diese Verdüsterung in seinen Anschauungen von Welt, Natur, Geschichte? Woher begründet sich das Ende des Aufklärungsdenkens bei Schiller? Oder genauer gefragt: Wo und warum erscheint die Natur nicht mehr nur als Demonstrationsmittel, sondern plötzlich in ihrer tatsächlichen Wildheit und Unbezähmbarkeit? Die Frage beantwortet Schillers Spaziergang. Wenn dort „im Sturm die Anker“ des Menschen reißen, ihn der „flutende Strom“ mächtig faßt und ins „Unendliche“ reißt, die „Küste verschwindet“, der Kahn „entmastet“ auf der Fluten Gebirge treibt und „hinter Wolken erlöschen des 57 58 59 NA 21, S. 48. NA 21, S. 50. NA 21, S. 51. 116 Die Dämonie der Natur Wagens beharrliche Sterne,/ Bleibend ist nichts mehr“60 –, dann wird hier deutlich, was auch in der Geschichte sichtbar geworden war: in der terreur nach der Französischen Revolution waren Naturkräfte entfesselt worden, die alles Maß übertrafen. Schillers satirischer Blick auf das französische Ereignis: „Seine Fesseln zerbricht der Mensch. Der Beglückte! Zerriß er/ Mit den Fesseln der Furcht nur nicht den Zügel der Schaam!/ Freiheit ruft die Vernunft, Freiheit die wilde Begierde,/ Von der heil’gen Natur ringen sie lüstern sich los“.61 Heilige Natur? Daß die Natur heilig sei, war ein Glaubensbekenntnis, das eher Goethe als Schiller formuliert hatte – die Wirklichkeit sah anders aus, denn die Natur erschien „auf einmal als Wildniß“, wie es in Schillers Brief an Humboldt vom 29. und 30. November 1795 heißt.62 Die Konsequenz, die der Mensch zu ziehen hat, ist dringlicher denn je: es gilt, „der Macht der Natur zu widerstehen“,63 ihr also zuvorzukommen – und „Natur“ steht hier für irdisches Schicksal überhaupt, ist sein sichtbarster Ausdruck. So bleibt dem Menschen, „zu ertragen, was er nicht ändern kann“,64 und Schiller hat das in die Formel gebracht, daß der Mensch lernen müsse, sich mit Freiheit in die Notwendigkeit zu fügen. Nur wer so reagiert, kann das unvermeidliche Schicksal „seiner Bösartigkeit“65 berauben. Aber wenn es auch gelingen mag, sich derart innere Freiheit zu geben: die Natur bleibt zerstörerisch. Die neue Sicht auf die Natur, die Natur als Chaos, Unglück, Verhängnis, Katastrophe – sie geht parallel zur Abwendung von der menschlichen Geschichte als Fortschrittsgeschichte. Zum ersten Mal, etwas zaghaft noch, hatte Schiller seine Fortschrittsideen in der Geschichte des Abfalls der vereinigten Niederlande von der Spanischen Regierung über Bord geworfen. Dort hieß es: „die Weltgeschichte rollt der Zufall“66 und: „Des Fatums unsichtbare Hand führte den abgedrückten Pfeil in einem höhern Bogen und nach einer ganz andern Richtung fort, als ihm von der Sehne gegeben war“. Und in der Schrift Etwas über die erste Menschengesellschaft nach dem Leitfaden der mosaischen Urkunde konnte man zwei Jahre später von der „überhandnehmenden Unordnung in der ersten 60 61 62 63 64 65 66 NA 2/1, S. 312. NA 2/1, S. 312. NA 28, S. 116. NA 21, S. 51. NA 21, S. 51. NA 21, S. 51. NA 17, S. 21. Die Dämonie der Natur 117 Gesellschaft“67 lesen und davon, daß „Gewalt und Glück und eine schlagfertige Miliz“68 den Gang der frühen Geschichte bestimmt hatten. Schillers Geschichts-Resümee: „so widersprechend erscheint sie der Vernunft und allen Erfahrungen“.69 Das sind Hinweise darauf, daß die Geschichte sich bei Schiller wie die Natur allmählich einer aufgeklärten Betrachtung entzieht, daß es dunkle Zonen gibt, in denen der Zufall regiert wie dort, in der Natur, die Willkür. Gegen Ende der neunziger Jahre scheint der Geschichtspessimismus wie die endgültige Absage an die „heilige Natur“ manifest geworden zu sein. In der Geschichte des dreissigjährigen Krieges begegnet ein Wallenstein, der in seinem Charakter, in seinem zweideutigen Wesen das Undurchschaubare und das Rätselhafte der Geschichte und die Macht einer wilden, zerstörerischen Natur gleichsam in seiner Person verkörpert. Beides war widerspruchsvoll, wie Wallenstein selbst es war. Wallenstein ist, so sagt es schon die Geschichte des dreissigjährigen Krieges, „ein gleich undurchdringliches Geheimniß für Freund und Feind“.70 Aber nicht weniger undurchdringlich sind die Geheimnisse der Natur, und nur eines ist sicher: eine freundliche Natur gibt es nicht mehr. In der Geschichte wie in der Natur herrscht Gleiches, nämlich Zerstörerisches, und in beiden offenbart sich eine Welt, aus der sich die Aufklärung verabschiedet hat. Mochte das Unwetter in den Zerstreuten Betrachtungen über verschiedene ästhetische Gegenstände noch ein Gedankenexperiment gewesen sein, ein Spiel mit Vorstellungen, so zieht hier das Unwetter über Wallenstein herauf, nicht nur vergleichsweise, sondern wirklich: ihn bedroht die „Schwärze des Gewitterhimmels“,71 er ist dem „tückschen Mars“, „dem alten Schadenstifter“ ausgeliefert, der „Malefico“ alles andere als „unschädlich, machtlos, in cadente domo“;72 „ein greulich Zeichen“ im „Haus des Lebens“ wird sichtbar, ein „Unhold“ umlauert Wallensteins strahlenden Stern, und so stehen denn am Ende „die Zeichen [...] grausenhaft“.73 Und da er von dieser Natur überrascht wird, ist er gegen Leiden und Untergang auch nicht gewappnet und kann sich nicht, wie Schiller es formulierte, mit Freiheit in die Notwendigkeit fügen. Ist hier 67 68 69 70 71 72 73 NA 17, S. 410. NA 17, S. 413. NA 17, S. 11. NA 18, S. 302. NA 8, S. 332. NA 8, S. 177f. NA 8, S. 340. 118 Die Dämonie der Natur auch Schillers Glaube an die Autonomie des Menschen an ein Ende gekommen? Nur einmal noch in Schillers späten Dramen versucht jemand, sich mit Freiheit in die Notwendigkeit zu fügen: Maria Stuart. Aber ihre Blutschuld bleibt, und aus eigener Macht gelingt diese Entscheidung auch nicht: die Religion muß nachhelfen. Die Schreckensgeschichte wird dadurch nicht aufgehalten. So chaotisch und zerstörerisch die Natur beim späten Schiller ist, so undurchdringlich, zerstörerisch, undeutbar ist die Geschichte. Natura non loquitur – die Natur spricht nicht mehr, jedenfalls nicht mehr verständlich. Aber auch: Historia non loquitur, die Geschichte spricht ebenfalls nicht mehr. Sie ist dunkel, sie kennt keine Ordnung, und wo sie wiederhergestellt zu sein scheint, ist sie fragwürdig geworden. Das Aufkommen von Bildern einer zerstörerischen Natur, die Rede vom „gesetzlosen Chaos von Erscheinungen“74 und von den wilden Bizarrerien der physischen Schöpfung geht auffällig genug einher mit Vorstellungen einer zerstörerischen Geschichte. Eben das bringt der Aufsatz Ueber das Erhabene auch zum Ausdruck. „Die Welt, als historischer Gegenstand“, so schreibt Schiller, „ist im Grunde nichts anders als der Konflikt der Naturkräfte unter einander selbst und mit der Freyheit des Menschen“.75 Daraus spricht noch nicht Resignation. Aber dann folgt die ernüchterte Feststellung: „Nähert man sich nur der Geschichte mit großen Erwartungen von Licht und Erkenntniß – wie sehr findet man sich da getäuscht!“76 Der „furchtbaren und zerstörenden Natur“ in Schillers Aufsatz entsprechen Verrat, Heuchelei, Abtrünnigkeit, Aufruhr in der Geschichte. Mehr noch: einer zerstörerischen Natur entspricht die Vorstellung von einer zerstörten Menschheit, und wenn in seiner Elegie hinter den Wolken die Sterne, die Orientierung geben können, erlöschen, dann entspricht dem die Klage, daß aus dem Gespräch „die Wahrheit, Glauben und Treue/ Aus dem Leben“ verschwunden sind,77 und zwar, so will es das Gedicht, auf Jahrhunderte. Gegenbilder: die „geliebten Triften“, die „traulich stillen Täler“ in Johannas Welt,78 bevor sie die Naturidylle verläßt. Eine bukolische Welt, aber sie ist, nicht nur sinnbildlich, verlassen. Eine Naturutopie 74 75 76 77 78 NA 21, S. 48. NA 21, S. 49. NA 21, S. 49. NA 2/1, S. 312. NA 9, S. 180. Die Dämonie der Natur 119 auch noch in der Rede Karls an Agnes Sorel: „Wir gehen in ein glücklicheres Land./ Da lacht ein milder nie bewölkter Himmel/ Und leichtre Lüfte wehn, und sanftre Sitten/ Empfangen uns, da wohnen die Gesänge/ Und schöner blüht das Leben und die Liebe“79 – aber sie ist irreal wie jede Utopie. Eine Idylle die Szenerie zu Beginn des Wilhelm Tell – wie „im Paradieß“.80 Aber fast gleichzeitig schon der Bericht des Alpenjägers von den Feldern von Eis, vom „neblichten Meer“ unter den Füßen, und dann ein aufziehendes Unwetter: „Der graue Thalvogt kommt, dumpf brüllt der Firn,/ Der Mytenstein zieht seine Haube an,/ Und kalt her bläßt es aus dem Wetterloch,/ Der Sturm, ich meyn’, wird da seyn, eh’ wirs denken“.81 Eine Idylle, die gleich wieder zerstört wird. Vom Goldenen Zeitalter ist nicht mehr die Rede, und wenn am Ende der Elegie auch die fromme Natur beschworen wird, schließlich gar die Sonne Homers lächelt, dann ist das Stoff einer Idylle, von der wir nur zu gut wissen, daß sie sich nie ereignen wird; weil von ihr in einer Elegie die Rede ist, wird deutlich, daß sie ein verlorenes Ideal ist. Eine freundliche Natur, die Gemälde der Idyllen sind Lüge. Schiller rechnet erbarmungslos damit ab: „Also hinweg mit der falsch verstandenen Schonung und dem schlaffen verzärtelten Geschmack, der über das ernste Angesicht der Nothwendigkeit einen Schleyer wirft, und um sich bey den Sinnen in Gunst zu setzen, eine Harmonie zwischen dem Wohlseyn und Wohlverhalten lügt, wovon sich in der wirklichen Welt keine Spuren zeigen“.82 * Wenn Schiller sich auch um die wirkliche Natur kaum kümmerte, so kümmerten sich andere um ihn, wenn es um Gefahren der Natur ging. Einer von ihnen war der Tübinger Verleger Johann Friedrich Cotta. Der konnte am Himmelfahrtsabend des Jahres 1798 „keinen Augenblick schlafen“, und das hatte seinen quasi natürlichen Grund: bei ihm ging gerade ein Gewitter nieder, und Cotta fürchtete, daß ein Blitz seinen Lieblingsautor zuschanden machen könnte, der, wie Cotta wohl wußte, gerne sich in dem hochgelegenen Gartenhäuschen bei Jena aufhielt. Und so bestellte er am folgenden Tag einen Blitzableiter für Schil79 80 81 82 NA 9, S. 200. NA 10, S. 131. NA 10, S. 132. NA 21, S. 51f. 120 Die Dämonie der Natur lers Häuschen und schrieb an Schiller, er möge ihm „die Kosten zu tragen erlauben“.83 Schiller war sichtlich gerührt – und blieb von Blitzen verschont. 83 NA 37/1, S. 297 (Brief Cottas an Schiller vom 20. Mai 1798). S CH I L LE R UND K LE I S T Vor einer Generation noch war der Bogen, den die Forschung um dieses Thema machte, von erheblichem Umfang. Es schien falsch gestellt, die Konjunktion fehl am Platze, da es an Gemeinsamkeiten so gut wie nichts, an Widersprüchlichem hingegen mehr als genug zu geben schien. Mit Schiller und Kleist war eine Gegensätzlichkeit benannt, die ihresgleichen in dieser Zeit suchte. „Im Gegensatz zu Schiller ist Geschichte für Kleist nur eine irdische Wirklichkeit, nicht aber Sinnbild für eine überzeitliche Gottesordnung“, lesen wir in einer seinerzeit außerordentlich einflußreichen Darstellung.1 In leichter Variation dieser Feststellung heißt es bestätigend an anderer Stelle: „Schiller transzendiert, Kleist hält hingegen an der Immanenz alles Wirklichen fest, auch wenn es ihm dabei in das Bodenlose des Nichts entgleitet“.2 Oder, in einer dritten Fassung formuliert: „Wenn der Schillersche Held noch im Untergang freiwillig seinen Arm den Göttern leiht, so kennt Kleist nur noch den Schmerz der Verlassenen, denen sich das Göttliche verhüllt und vernächtigt und denen es stets von neuem entgleitet“.3 Was war die Ursache solch scharf herausgestellter Nichtverwandtschaft? Der Verfasser der eben zitierten Bemerkungen hatte dafür eine einfache Erklärung: Wesensfremdheit.4 Die war freilich nicht persönlich zu verstehen. Es standen sich Welten gegenüber, und die Germanistik von damals ist nicht müde geworden, die in den Personen sich darstellende Gegensätzlichkeit als ein transpersonales Phänomen zu beschreiben. Kleists Bemerkungen über sich selbst, den er einen unaussprechlichen Menschen nannte, der, wiederum nach eigener Aussage, „das allerqualvollste“ Leben zu bewältigen hatte, „das je ein Mensch geführt“ hat und der mit einer „höheren, festgewurzelten und unheilbaren Traurigkeit“ geschlagen war, ein solcher Kleist paßte nicht zur Welt 1 Benno von Wiese: Die deutsche Tragödie von Lessing bis Hebbel, Hamburg 41958 (11948), S. 290. 2 Ebd., S. 291. 3 Ebd., S. 292. 4 Ebd. 122 Schiller und Kleist der Klassik und schon gar nicht in sie hinein.5 Kleists Lebenskrisen, sein Krisen-Leben, diese Katastrophenexistenz, die die Welt nur als eine „gebrechliche“ begreifen konnte, die Düsternis um einen Unglücklichen, der seinen so sauber auskalkulierten Lebensplan über Bord geworfen hatte, das Gewalttätige und Wilde, wie es sich in der Penthesilea abzeichnet, die Beschäftigung mit einem Kohlhaas, der nicht nur zu den rechtschaffensten, sondern eben auch zu den „entsetzlichsten“ Menschen seiner Zeit gehörte, das alles fügte sich nicht ins Harmoniedenken Weimars. Das Urteil über Kleist war denn auch schnell fertig: eine krankhafte Existenz. Wenn es einen Gott in ihr gab, so war es ein „unbegriffener“, was kaum ein Wunder war angesichts der fatalen Weltverhältnisse, wie Kleist sie aufgezeichnet hatte. Die Welt Kleists ist, von kurzen Momenten eines glücklichen Wahns abgesehen, eine bedrohte Welt, und in ihr regieren Mißverständnisse, Torheiten, Wahn. Die Frucht der Erkenntnis ist jeweils bitter, das Ich vereinsamt, kein Gesetz mehr und kein kategorischer Imperativ, keine Forderung der Gesellschaft, nur das „törichte Herz“ mit seinen Schmerzen und „Zerrissenheiten“, in denen Liebe zum Haß wird und die Grazie zur Raserei. Dergleichen exemplifiziert die Penthesilea-Tragödie, und wenn einmal ein freundliches Wesen erscheint wie Jupiter der Alkmene, so ist es am Ende ein falscher Amphitryon, der das Schlimmste getan hat, was jemand einem Menschen antun kann, indem er nämlich das innerste Gefühl verwirrt hat. Auf was sollte sonst Verlaß sein? Nicht einmal auf dieses ist bei Kleist am Ende Verlaß, und wenn der Schreiber in Kleists Brief eines Malers an seinen Sohn feststellt: „Die Welt ist eine wunderliche Einrichtung“, so ist das pure Untertreibung: sie ist entsetzlich, und darüber kann im Grunde nichts hinwegtäuschen. Das Gespenst des Nihilismus grinst herauf, und wenn es auch gelegentlich Märchenträume gibt, wie das Käthchen von Heilbronn einen träumt, so ist die Erfüllung solcher Träume eben nicht in Wirklichkeit, sondern nur im Märchen möglich. Sollte es Götter geben, sind sie so gleichgültig wie fern, die Seele wehrlos, bei allem gelegentlichen Trost für sie – Wer wollte die ‚pathologischen‘ Züge dieses Charakters leugnen: die Gewaltsamkeit der Entschlüsse, das Hindrängen zum Katastrophalen, bei dem ein männlich harter, ja sadistischer Zug fast unverbunden neben verhaltener Weichheit und Keuschheit steht, ein Nebeneinander, das dieser geprägten 5 Dazu Benno von Wiese: Das Menschenbild Heinrich von Kleists, in: Der Mensch in der Dichtung. Studien zur deutschen und europäischen Literatur, Düsseldorf 1958, S. 170. Schiller und Kleist 123 Persönlichkeit auch wieder etwas Unentwickeltes, ja Infantiles gibt. Nur allzu oft verliert Kleist Steuer und Maß für die wechselvollen Verhältnisse des irdischen Lebens und gleicht dann nach seinem eignen Bekenntnis dem spielenden Kinde, das sich zu weit auf die Mitte des Sees gewagt hat und nun beim gefährlichen Schaukeln des Fahrzeuges die Himmelsgegenden nicht mehr findet, nach denen es steuern soll, nur noch von der Ahnung geleitet, daß ihm der eigene Untergang bevorsteht.6 So sah man den poetischen Exzentriker vor noch gar nicht allzu langer Zeit. Und dabei konnte man sich auf niemand Geringeren als Goethe berufen, der mißbilligend von der „Verwirrung des Gefühls“ in Kleists Werken gesprochen hatte. Schiller hingegen erschien oft als das quasi seitenverkehrte Gegenbild zu Kleist. Für Schiller war nicht nur „der über die Geschichte hinausgreifende Glaube“ als „beflügelnde Kraft“ charakteristisch,7 sondern zugleich die „Herrschaft des sittlichen Geistes“,8 und in die Nachbarschaft gehört, daß Schiller zwar die „tragische Bereitschaft zur Wirklichkeit“ gekannt habe (was immer man darunter auch verstehen mochte), aber ebenso den „geistigen Willen zur Idee“, und aus diesen Gegensätzen heraus habe er „die ästhetische Harmonie des Erhabenen erkämpft“.9 Natürlich war auch für Schiller die Wirklichkeit nicht gerade mit Rosenblüten übersät. Aber er vermochte sich und seine Leser von der Wirklichkeit zu erlösen. Am Ende blieb „die heitere Welt der Kunst, die Welt des Scheins“ – weit oberhalb der Realität angesiedelt. Als Eckpfeiler der imaginären poetischen Welt Schillers galten Freiheit und Anmut, das Schöne und das Überzeitliche, die „Herrschaft des sittlichen Geistes“, „der über den Widerstand der Geschichte triumphieren soll“,10 und die Freiheit als eine „Freiheit zum Himmlischen“.11 Kleist als Antipode Schillers: das bedeutete zwangsläufig, daß Schillers Welt in heiterer Ruhe erschien mit einer am Ende strahlend triumphierenden Geistigkeit, in der die Schlacken der irdischen Existenz hinweggeläutert waren. Schiller also als Klassizist, Kleist als moderner Dämon, Schiller als Überwinder der Geschichte, Kleist als der hoffnungslos in sie Verstrickte, der Glanz des Idealisten hier und die schwer überschat6 7 8 9 10 11 von Wiese (wie Anm. 1), S. 283. Ebd., S. 291. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. 124 Schiller und Kleist tete Welt eines unglücklichen Realisten da: da gab es nichts Vereinigendes, und so konnte man von einem der besten Schiller-Kenner der vorigen Generation denn auch lesen: „Schiller und Kleist! Nur wenige Jahre trennen die beiden größten deutschen Dramatiker, und doch scheint nichts Gemeinsames sie zu verbinden“.12 Das alles war nicht gänzlich neu. Kleist und Schiller waren schon in der Zeit der Jahrhundertwende in offene Opposition zueinander geraten.13 Dieses wäre nicht weiter erwähnenswert, ließe sich hier nicht geradezu beispielhaft Entstehen und Weiterwirken eines literarischen Klischees demonstrieren. Wenn sich ein halbes Jahrhundert lang derart tiefe Gräben auftun, werden Überbrückungsversuche selten und meist mit Mißtrauen beäugt. Wenn Kleist als Antipode Schillers erscheint, wenn „Wesensfremdheit“ das sie Trennende ist, fragt kaum jemand nach Abhängigkeiten, Anverwandlungen, nach möglicherweise sehr ernsthaft betriebenen Aneignungsgeschäften, nach Umakzentuierungen des Übernommenen, nach Korrekturen, die angebracht worden sein könnten. Fremde haben sich im allgemeinen wenig, im Extremfall nichts zu sagen. Hartmut Reinhardt hat auf den weißen Fleck auf der literaturwissenschaftlichen Landkarte aufmerksam gemacht, als er zu Recht jüngst noch feststellte, daß „eine systematische Erforschung von Kleists Verhältnis zu Schiller bis jetzt nicht vorliegt“.14 So etwas ist eben mit einer bloß dokumentierend verfahrenden Rezeptionsgeschichte nicht zu leisten. * Wie ist es um dieses Verhältnis zwischen Kleist und Schiller denn nun also bestellt? Aber sollte wirklich noch kein Schriftgelehrter in den Zeusworten des jungen Schiller: Lang schmachtet’ ich, mein weltbelastet Haupt 12 Schiller und die deutsche Tragödie des 19. Jahrhunderts, in: Deutsche Vierteljahrsschrift 25, 1951, S. 199-213, hier S. 203. Auf Trennendes machte auch Theodore Ziolkowski aufmerksam: An Ontology of Anxiety in the Dramas of Schiller, Goethe and Kleist, in: Lebendige Form. Interpretationen zur deutschen Literatur, Festschrift für Heinrich Henel, München 1970, S. 121-145. 13 Dazu Hartmut Reinhardt: Rechtsverwirrung und Verdachtspsychologie. Spuren der Schiller-Rezeption bei Heinrich von Kleist, in: Kleist-Jahrbuch 1988/89, Berlin 1988, S. 198-218, hier S. 198f. 14 Ebd., S. 199. Schiller und Kleist 125 An deinem Busen zu begraben, meine Sinnen Vom wilden Sturm der Weltregierung eingelullt, Und Zügel, Steu’r und Wagen weggeträumt, Und im Genuß der Seligkeit vergangen! –––––––––– Sie naht – Sie kommt – O Perle meiner Werke … – sollte, frage ich, noch keiner in diesen Versen das ‚weltenordnende‘ und sehnsuchtsverdrehte Haupt von Kleists Jupiter mit seinem ‚Mein angebetetes Geschöpf!‘ ‚Mein Abgott!‘ wiedererkannt, vor-erkannt haben und seine schwermütige Schöpferbitte: So viele Freude schüttet Er zwischen Erd’ und Himmel endlos aus; Wärst du vom Schicksal nun bestimmt, So vieler Millionen Wesen Dank, Ihm seine ganze Fordrung an die Schöpfung In einem einz’gen Lächeln auszuzahlen, Würd’st du dich ihm wohl – ach! – Genug denn von Semele. Auch das ist eine Stellungnahme zu unserem Thema. Aber so fragte, die Tonart läßt es erkennen, kein Germanist. Die Sätze stammen vielmehr von Thomas Mann, und sie finden sich in seinem Versuch über Schiller, gesprochen zum 150. Todestag des Dichters, erschienen im Todesjahr Thomas Manns.15 Daß der große Mann, so recht er hatte, irrte, ist ihm nicht nachzutragen, auch wenn er doppelt irrte. Denn auf die Verwandtschaft, die von der Germanistik der vorangegangenen Generation so hartnäckig geleugnet wurde, hatten ungeachtet der zuvor wiederholt konstatierten Wesensfremdheit und Unüberbrückbarkeit der Gegensätze bereits andere gelegentlich hingewiesen: Oskar Walzel und Erich Schmidt, jeweils in ihren Schiller- und Kleist-Ausgaben. Angesichts dieses verwirrenden Gegeneinanders der Standpunkte stellt sich erneut die Frage, wie es denn nun wirklich um die Beziehung zwischen Kleist und Schiller bestellt ist. Halten wir zunächst jedoch fest: so leicht es ist, Argumente für den einen wie für den anderen Standpunkt zu gewinnen, so unsinnig ist es, diesen oder jenen Standpunkt ausschließlich zu vertreten. Dabei sollte von vornherein darüber Klarheit herrschen, daß es Berührungspunkte gibt – sie sind so zahlreich, daß die Feststellung, Schiller und 15 Thomas Mann: Versuch über Schiller, Frankfurt am Main 1955, S. 78f. 126 Schiller und Kleist Kleist scheine nichts Gemeinsames zu verbinden, allerdings sonderbar anmutet. Thomas Mann, der in bezug auf die Entdeckung dieser Parallelen unrecht hatte, weil er sich irrtümlich als Vorreiter sah, wo er doch nur ein Nachkomme war, hatte nur zu sehr recht, wenn er Schillers frühe Semele, jene „Operette in zwo Scenen“, in Verbindung brachte mit Kleists Amphitryon. Kleist, den nach Zunft-Meinung eigentlich – und selbst noch in der Auseinandersetzung – mehr mit Goethe verbindet als mit Schiller, hat Schiller intensiv studiert; seine Spuren haben sich seinem Werk wie auch seinen Briefen tief eingedrückt. Natürlich ist Schiller bei Kleist auch schon allgemeines Bildungsgut der Zeit, aber Kleist hat ihn sich ebenso geschickt wie oft unauffällig anverwandelt. Thomas Mann hat im übrigen gar nicht unrichtig gesehen, als er eines der frühesten Werke Schillers mit Kleist in Beziehung brachte. Der junge Schiller hat Kleist beeindruckt, vielleicht sogar aus einer gewissen Wahlverwandtschaft heraus, wie gelegentlich auch ausdrücklich betont worden ist.16 „Ein Spätling der Sturm und Dranggeneration“ – so hat man in Abwehr einer allzu großen Annäherung Kleists an die Romantik nicht zu Unrecht festgestellt. Einen Beleg liefert etwa Schillers Hymne an den Unendlichen aus seiner Anthologie auf das Jahr 1782, die Kleist in seiner Hymne an die Sonne vom 13. Juli 1799 wiederaufgenommen hat.17 Übernahmen, Angleichungen auch sonst: Kleist war etwa von Schillers „Griffel des Blizes“ offenbar so angetan, daß er 1810 vom „Griffel des Strahles“ in seiner Anekdote Der Griffel Gottes sprach.18 Und die Kohlhaas-Geschichte orientiert sich zweifellos als ganze unter anderem auch an Schillers Verbrecher aus Ehrsucht, selbst wenn man zugestehen muß, daß das Motiv der übersteigerten Ehrsucht in den generellen Strahlungsbereich der moralischen Erzählungen der Zeit des 18. Jahrhunderts hineingehört. Kleist ist aber auch im einzelnen ein sehr genau verfahrender Zitationskünstler. Denn wenn Kohlhaas sein „kann sein, auch nicht!“ im Gespräch mit Luther äußert,19 so 16 Donald H. Crosby: The creative kinship of Schiller and Kleist, in: Monatshefte für deutschen Unterricht, deutsche Sprache und Literatur, Bd. 53, 1961, S. 254. Crosby kritisiert bereits die Äußerungen von Benno von Wiese und macht auf Parallelen aufmerksam. Ich verdanke seiner Arbeit viele Anregungen. 17 Dazu Reinhardt (wie Anm. 13), S. 199, und vorher schon Crosby (wie Anm. 16). 18 Darauf hat Helmut Sembdner aufmerksam gemacht: Sämtliche Werke und Briefe, hg. von Helmut Sembdner, 2 Bde., München 71984 (= SW), Bd. 2, S. 916 (im folgenden als SW). 19 SW 2, S. 47. Schiller und Kleist 127 hat er wörtlich aus Wallensteins Tod zitiert: „Kann sein, ich hätte mich bedacht – kann sein/ Auch nicht“ (V. 3660f.). Die Szene endet jeweils mit einem Diener, der leuchten soll – das „Leuchte, Kämmerling“ in Wallensteins Tod entspricht nur zu deutlich jenem Lutherischen Befehl an den Famulus: „leuchte!“. Das mag ein situatives Zitat sein, einigermaßen bedeutungslos, was den eigentlichen Sinn dieser Luther-Begegnung ausmacht. Aber es ist hintergründiger, als das auf den ersten Blick scheinen mag. Denn da wird in mehr als nur in die Dunkelheit der Nacht hineingeleuchtet. Das Gespräch mit Luther ist der Wendepunkt in der Geschichte des Kohlhaas; Wallensteins Reue, den „liebsten Freund“, Max also betreffend, steht am Ende seines Lebens: ein später Wendepunkt auch das. Wenn auch die Geschichte Kohlhaasens hier erst etwa zur Hälfte erzählt ist, so wird doch von diesem Gespräch mit Luther an klar, daß sein Tod ebenfalls beschlossene Sache sein wird: er ist nicht bereit, seinen Feinden zu vergeben, also, auf der Ebene der Realien: sich der obersten Instanz, der irdischen Gerichtsbarkeit zu fügen. Damit liefert er nicht nur später seinem Tribunal ein entscheidendes Argument, ihn zum Tode zu befördern, sondern er läßt auch seine Unbußfertigkeit erkennen – wie Wallenstein. „Blut ist geflossen, Gordon. Nimmer kann/ Der Kaiser mir vergeben“: damit ist in Schillers Drama das genannt, was beide Szenen über die rein situative Zitation hinaus verbindet. Wallenstein fügt hinzu: „Könnt ers, ich,/ Ich könnte nimmer mir vergeben lassen“ (V. 3655f.). Beide Male nimmt die Geschichte darauf ihren nun unabänderlichen Lauf: Vergebung und Tod stehen in einem engen thematischen Zusammenhang, und von der Unbereitschaft, zu vergeben und sich vergeben zu lassen, hängt ab, was jeweils folgt: Wallensteins Ende, Kohlhaasens Hinrichtung. Und wenn bei Kohlhaas auch das Tribunal noch aussteht, bei Wallenstein hingegen das Todesurteil unmittelbar danach vollstreckt wird, so ist es doch beide Male „des Kaisers Urtel“, wie es in Schillers Drama heißt (V. 3790). Kleist hat also durchaus nicht beiläufig zitiert, sondern mit dem Zitat auch etwas akzentuiert. Gescheiterte Ausbruchs- und Aufstandsversuche sind beide, Wallensteins Drama und Kohlhaasens Geschichte. Beidemale erhebt sich aus Gründen, die für gerecht gehalten werden, ein 128 Schiller und Kleist Einzelner gegen eine Obrigkeit, mit unabsehbaren Folgen für die Mitlebenden. Beide Male aber verschlingt Kronos seine Kinder.20 Aber eben hier, am bitteren Ende von Schiller-Drama und KleistNovelle, geschieht etwas, was mit dem so vertrauten Bild vom harmoniesüchtigen Schiller und dem dunkel-chaotischen Kleist nicht zusammenpassen will. Denn bei Kleist wird bekanntlich die so arg beleidigte Ordnung wiederhergestellt; der Gerechtigkeit geschieht Genüge, Kohlhaas bekommt „Genugtuung“, so wie er seinerseits bereit ist, „Genugtuung zu geben“.21 Er stirbt zwar unter dem Fallbeil; der Zukunftsprospekt ist dennoch erfreulich, denn das Kohlhaas-Geschlecht wird geadelt, und es wird noch lange weiterleben. Wie sieht es im Wallenstein aus? Zwar erklärt auch Octavio, daß die schwere Schuld gebüßt und der Kaiser versöhnt sei (V. 3835f.), aber die Gräfin Terzky zieht eine andere Bilanz: Der Herzog Ist tot, mein Mann ist tot, die Herzogin 20 Reinhardt hat dem Wallenstein-Zitat im Michael Kohlhaas, auf das auch Crosby schon aufmerksam gemacht hatte, eine ausführliche Passage gewidmet. Kleist habe, mit Schillers Hilfe, in dem Gespräch des Kohlhaas mit Luther „die Frage nach der Legitimierbarkeit einer zwischen Recht und Unrecht heillos verwickelten Position“ zu klären versucht (S. 203) und mit seinem Bezug auf „den Fall eines mächtig aufragenden und zuletzt scheiternden Individuums“ nichts anderes als „auf eine letzte Ambivalenz im Rechtlichen“ aufmerksam machen wollen: bei Schiller also kein idealistisches Gericht, sondern schon das Wissen um eine zwangsläufige Rechtsverwirrung. Darauf läßt sich nur antworten: kann sein, auch nicht. Mag auf seiten Wallensteins die Notwendigkeit und Unausweichlichkeit eines Rechtsbruches einer ungerechten Obrigkeit gegenüber auch einleuchten – Kleist hat klarere und festere Rechtsvorstellungen. Kohlhaas hat sie eindeutig gebrochen. Von einer „Ambivalenz im Rechtlichen“ ist bei Kleist nichts zu finden. Allenfalls befindet sich zuweilen das innere Rechtsgefühl des Kohlhaas im Widerstreit mit seinem Rechtsbewußtsein – aber das läuft auf eine persönliche, innere Rechtsverwirrung hinaus, nicht auf ein Infragestellen dessen, was Recht und rechtens ist. Und ist Kohlhaas wirklich der „Vertreter einer älteren germanischen Rechtsauffassung, die in der Mentalität des Jahrhunderts durchaus noch lebendig ist“ (S. 204)? Aus Kohlhaasens Verwirrung läßt sich auch das Gegenteil herauslesen: die innere Instabilität dessen, der sich auf sehr moderne Weise zwei einander kontrastierenden Rechtsauffassungen gegenübersieht – wie es wenig später die Droste in der Judenbuche, Grabbe in Napoleon oder die hundert Tage, Eichendorff im Schloß Dürande beschreibt. Mit diesen Überlegungen soll am hohen Rang der ebenso anregenden wie für die SchillerRezeptionsgeschichte wichtigen Darstellung Reinhardts nicht im geringsten gezweifelt werden. Reinhardt hat – nach Jahren einer reichlich stumpfsinnigen Rezeptionsforschung – hier wirklich Pionierarbeit geleistet. 21 SW 2, S. 102. Schiller und Kleist 129 Ringt mit dem Tode, meine Nichte ist verschwunden. Dies Haus des Glanzes und der Herrlichkeit Steht nun verödet, und durch alle Pforten Stürzt das erschreckte Hofgesinde fort. Ich bin die Letzte drin, ich schloß es ab, Und liefre hier die Schlüssel aus. (V. 3818ff.) Es mögen gerade diese Verse gewesen sein, die Hegel zu seinem Ausspruch motiviert haben: Der unmittelbare Eindruck nach der Lesung Wallenstein’s ist trauriges Verstummen über den Fall eines mächtigen Menschen, unter einem schweigenden und tauben Schicksal. Wenn das Stück endigt, so ist Alles aus, das Reich des Nichts, des Todes hat den Sieg behalten; es endigt nicht als eine Theodicee […] es steht nur Tod gegen Leben auf, und unglaublich! abscheulich! der Tod siegt über das Leben! Dieß ist nicht tragisch, sondern entsetzlich!22 Da ist denn also bei diesem skeptischen Interpreten des Schillerschen Dramas nichts geblieben von klassischer Harmonie. Wenn wir allerdings anderswo lesen, daß Kleist vor der schrecklichen Drohung stehe, „mit der das ganze 19. Jahrhundert vorweggenommen wird, daß Gott nicht mehr antwortet, daß der Mensch vor das Nichts gestellt ist, da alle Antworten verstummen“,23 dann fragen wir uns, ob sich hier nicht, Kleist betreffend, ein Namensirrtum eingeschlichen hat, eine Perspektivenverdrehung, bei der Kleist die Rolle Schillers übernimmt. Nicht Kohlhaasens Familie, Wallensteins Haus ist vor das Nichts gestellt, und wenn damit natürlich auch nicht gesagt sein soll, daß Kleist generell an eine wiederherstellende und wiederherzustellende Ordnung glaubt, Schiller hingegen die Geschichte in diesem Drama, aber hier nicht allein nur als Katastrophe erleben kann, so ist hingegen sicher, daß Kleist hier nicht einfach Schillers Wallenstein als Steinbruch benutzt hat, als er daraus zitierte. Die Kohlhaas-Geschichte ist der Wallensteins geradezu entgegengeschrieben, basierend auf den Generalthemen von Gerechtigkeit, Schuld, Vergebung und Genugtuung. Nur: die zerstörte Welt findet sich bei Schiller, nicht bei Kleist. Skeptiker können einwenden, daß hier an ein unscheinbares Zitat zu weitreichende Folgerungen angehängt sind. Aber darauf kann wiederum nur mit Wallensteins Worten geantwortet werden, die auch die des 22 Ueber Wallenstein, in: Sämtliche Werke, hg. von H. Glockner, Stuttgart 31958, Bd. 20, S. 456-458. 23 von Wiese (wie Anm. 1), S. 286. 130 Schiller und Kleist Kohlhaas sind: „kann sein/ Auch nicht“. Doch lassen wir den imaginären Kämmerling noch ein wenig tiefer hineinleuchten in die Zitationskunst Kleists. Auch hier ist, wie es im Kohlhaas, im Amphitryon oder auch in einer Anekdote heißt, „die Wahrscheinlichkeit nicht immer auf Seiten der Wahrheit“. Weitere direkte Zitate Kleists zeigen, daß er Schiller nicht nur studiert hat, sondern eigentlich immer sehr absichtsvoll zitiert. Mag das Karlos-Zitat „Unrecht leiden schmeichelt große Seelen“24 auch mehr bestätigenden als stimulierenden Charakter gehabt haben, so ist dabei dennoch zu erkennen, daß Kleist das beschreibt, was die Germanistik früher eine „Grenzsituation“ nannte. In seinem Aufsatz, den sichern Weg des Glücks zu finden und ungestört – auch unter den grössten Drangsalen des Lebens – ihn zu geniessen! interessieren ihn vor allem jene Wendepunkte und Extremsituationen, die Schiller auch immer beeindruckt haben. „Ja, mein Freund“, heißt es, „selbst in Ketten und Banden, in die Nacht des finstersten Kerkers gewiesen, – glauben und fühlen Sie nicht, daß es auch da überschwenglich entzückende Gefühle für den tugendhaften Weisen gibt?“25 Schiller hätte dem wohl ebenso bedingungslos wie begeistert zugestimmt, denn dafür, daß die Tugend sich als solche erst unter Zwängen beweist, hatte er etwa mit seiner Maria Stuart ja schon ein bewegendes Beispiel geliefert. Aber Kleist nähert seinen Text Schillers Gedankenwelt noch weiter an. Wenn er „Unrecht leiden schmeichelt große Seelen“ aus dem Don Karlos zitiert, so könnte das auf den ersten Blick als eine affirmative Redewendung erscheinen, und das Generelle dieser Feststellung könnte die Nutzung dieses Verses leichtgemacht haben: dafür würde zunächst auch sprechen, daß im Kontext der Kleistschen Überlegungen von Christus die Rede ist, von den Unmenschen, die ihn fesselten, zugleich von der Unschuld, die heiter über „sinkende Welten“ wandelt.26 Kein Vergleich mit Karlos’ Beziehung zu Philipp – doch im Kontext ist von Tyrannei und Tugend die Rede, und zugleich ist auch hier, wie bei jener erwähnten Szene in Wallensteins Tod, ein Wendepunkt des Dramas erreicht, weil Posa den Freund darauf aufmerksam macht, daß Privattugend nicht zähle, daß es gleichsam um öffentliche Verantwortung gehe, also auf der Ebene der zeitgeschichtlichen Bezüge um Flandern, auf der Ebene der Bedeutung hingegen um 24 25 26 SW 2, S. 306. SW 2, S. 305. SW 2, S. 306. Schiller und Kleist 131 das Repräsentative der Tugend, um das Exemplarische, Verbindliche und auch Fordernde einer Ethik, in der es – und Kleist folgt hier nur zu sehr den Vorstellungen des aufgeklärten 18. Jahrhunderts – Privates nicht geben kann, weil jedes Private Raub am Allgemeinen wäre. Aber auch hier akzentuiert Kleist um. Schillers Marquis Posa erkennt die Gefahr, die im „Unrecht leiden schmeichelt großen Seelen“ (V. 2436) liegt, und versucht Karlos zu überzeugen, daß es mit der Leidensmiene nicht getan ist. Kleist argumentiert anders, vorsichtiger, dem idealistischen Tugendbegriff des 18. Jahrhunderts näher. Bei Schiller soll Karlos aus dem eigentümlichen Glücksgefühl, Unrecht leiden zu müssen, befreit werden, eine politische Aktion bahnt sich an. Nichts davon bei Kleist, der es bei der Realisation eines unpolitischen Tugendbegriffes beläßt – offenbar nicht ohne Absicht. Bei Kleist ist die Forderung, tugendhaft zu sein, in diesem Beispiel und Fall gleichsam auf die entscheidende Essenz zurückgeführt, nicht, wie bei Schiller, ausgeweitet. Tugend ist nicht eine Sache der Staatsräson, sondern des individuellen Verhaltens, und wenn Christus ins Spiel gebracht wird, so haben wir es hier mit einer extrem protestantischen Variante der Tugendhaftigkeit zu tun. Aber Kleist zitiert Schiller in diesem Aufsatz über den sichern Weg des Glücks zu finden nicht nur auf erkenntliche Weise, wenn er auch den Namen nicht nennt; ein Hinweis findet sich ohne Anführungszeichen, aber mit desto deutlicherem Bezug auf eine der philosophischen Schriften Schillers. Es heißt bei Kleist: Der Tugend folgt die Belohnung, dem Laster die Strafe. Kein Gold besticht ein empörtes Gewissen, und wenn der lasterhafte Fürst auch alle Blicke und Mienen und Reden besticht, wenn er auch alle Künste des Leichtsinns herbeiruft, wie Medea alle Wohlgerüche Arabiens, um den häßlichen Mordgeruch von ihren Händen zu vertreiben – und wenn er auch Mahoms Paradies um sich versammelte, um sich zu zerstreun oder zu betäuben – umsonst! Ihn quält und ängstigt sein Gewissen, wie den Geringsten seiner Untertanen.27 Das ist ein direktes Zitat aus Schillers Schrift Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken?, die in der Thalia erschien – so wie überhaupt eine gute Kenntnis dieser Thalia für Kleist bezeugt ist. Bei Schiller heißt es: „Heilsame Schauer werden die Menschheit ergreifen, und in der Stille wird jeder sein gutes Gewissen preißen, wenn Lady Makbeth, eine 27 SW 2, S. 307. 132 Schiller und Kleist schreckliche Nachwandlerin, ihre Hände wäscht, und alle Wohlgerüche Arabiens herbeiruft, den häßlichen Mordgeruch zu vertilgen“.28 Ohne Zweifel ein direktes Zitat, Übereinstimmung und vielleicht sogar gedankliche Abhängigkeit signalisierend. Aber auch hier fallen beträchtliche Unterschiede auf. Bei Schiller folgt der Tugend ebenfalls die Belohnung und dem Laster die Strafe – aber nur an einem spezifischen Ort, nämlich auf der Bühne. Kleist aber hält für wirklich, was für Schiller nur poetische Imagination ist. Es wäre wohl unangebracht, Schiller auch hier nur als Stofflieferanten für Kleist zu benennen. Daß es sich nicht nur um jene Bemerkung über die Wohlgerüche Arabiens, die Medea [!] nicht von ihrem Mordgeruch befreien können, handelt, sondern um mehr, zeigen indirekte Gemeinsamkeiten. Wenn bei Kleist von den Großen die Rede ist, so bei Schiller von den Mächtigen, wenn Kleist davon spricht, daß die Großen mit Gold den Kummer nicht aufwiegen können, so ist bei Schiller davon die Rede, daß die Gerechtigkeit „für Gold“ verblinden kann, – und wenn es bei Kleist heißt, daß alle Betäubung umsonst ist, weil ihn, den Fürsten, sein Gewissen quält und ängstigt,29 so handelt Schiller nicht weniger deutlich vom Gewissen, das der als gutes Gewissen hat, der nicht Verbrechen wie Lady Macbeth auf sich geladen hat. Die Umakzentuierung betrifft die Realitätsebene der Tugend. Daß der Tugend die Belohnung, dem Laster die Strafe folgt, ist für Kleist nicht poetische Wahrheit, sondern wirkliche; und darin berichtigt er gewissermaßen Schillers Vorstellung, indem er sie von der Theaterwelt in die Wirklichkeit zurückholt, damit radikalisiert und zugleich auf den eigentlichen Kern der Tugendlehre des aufgeklärten Jahrhunderts zurückführt. Denn die Tugend soll ja nicht nur im Theater dargestellt werden, sondern sie ist eine Forderung an die Wirklichkeit; und wenn im folgenden noch Polykrates erwähnt wird, so ist die Geschichte von dem ins Meer geworfenen Ring wiederum Zitat, genauer: verbessertes Zitat, was Schillers Gedicht angeht. Schillers Gedicht ist nicht zufällig, sondern offenbar sehr absichtsvoll erwähnt; geht es doch in ihm um das Glück, und so gehört es in einen Aufsatz über den sichern Weg des Glücks zu finden unbedingt hinein. Daß Kleist Samos und Syrakus verwechselt, sei ihm verziehen, zumal er sich im Bereich der Verwechslungen dennoch als kenntnisreicher Leser erweist; 28 Schillers Werke. Nationalausgabe, hg. von Julius Petersen (†) und Gerhard Fricke, Weimar 1943ff., Bd. 20, S. 92. 29 SW 2, S. 307. Schiller und Kleist 133 denkt er doch offenbar an Die Bürgschaft, die in Syrakus endet. Bei Schiller ist der wiedergefundene Ring zuviel des Glücks, und auf den erstaunten Ausruf des Kochs, daß sein Glück ohne Grenzen sei, verläßt ihn der Gast, Ägyptens König, weil der im Übermaß des Glückes die Absicht der Götter erkennt, Polykrates zu verderben. Ob dieses Verderben wirklich eintrat, wissen wir nicht, Schiller schweigt sich über den Tod des Polykrates aus. Kleist erzählt die Geschichte gleichsam weiter, indem er freilich auch nicht Herodots Bericht folgt, in dem Polykrates am Kreuz endigt, sondern ihn am Galgen sterben läßt. Damit wird die Geschichte gewissermaßen entchristianisiert und auf ein allgemeineres Fundament gebracht: Kleist will das Gleichgewicht von Glück und Unglück demonstrieren, getreu seinem Satz: „Auch scheint es, als ob die Summe der glücklichen und der unglücklichen Zufälle im ganzen für jeden Menschen gleich bleibe“.30 Darin stecken zweifellos, wie auch in der Kohlhaas-Geschichte, Restitutionsgedanken: keine der beiden Schalen bekommt das Übergewicht, der „große Kreislauf der Dinge“31 läßt am Ende Einseitigkeiten nicht zu. Man kann den Stoizismus der Kleistschen Weltvorstellungen nicht übersehen, ebensowenig egalitäre Gedanken, hier auf Glück und Unglück bezogen. Der richtige Weg zum Glück bedeutet nicht, daß das Unglück negiert würde – es will im Gegenteil einbezogen sein, damit sich das Ausmaß von „Vernichtung“ und „Segen“ gleichsam die Waage halte. Leibnizsche Theodizeevorstellungen überdecken hier sogar noch den Stoizismus, der dem Glücksuchenden anempfohlen wird. Daß es bei Schiller mit der Theodizee nicht so weit her war, hatte ihm gerade Wallenstein, aus dem er von allen Schillerschen Dramen am häufigsten zitiert, vor Augen geführt. Daß der „nicht als eine Theodicee endigt“ – Kleist hätte Hegels Urteil bestätigen können. Kehrt Kleist zu einer Anschauung zurück, die sich bei Schiller als nicht mehr tragfähig erwiesen hatte? Wir wollen die Frage zunächst offen lassen. Aus alledem sollte auch nicht der Eindruck entstehen, als ginge es hier um den Nachweis, daß Schiller und Kleist, Kleist und Schiller doch mehr miteinander zu tun hätten, als es die ältere Germanistik wahrhaben wollte. Belege für das eine wie für das andere lassen sich leicht finden, und nach jenen Feststellungen, daß Kleist und Schiller so gut wie nichts gemeinsam hätten, hat es ohnehin ja schon genug Überlegungen gegeben, das Gegenteil 30 31 SW 2, S. 309. SW 2, S. 310. 134 Schiller und Kleist festzustellen. Donald H. Crosby hat mit einer treffenden Formulierung „creative affinities“ zwischen Schiller und Kleist konstatiert,32 und zu dieser schöpferischen Verwandtschaft hat man die Neigung beider gerechnet, sich mit der Philosophie und besonders mit der Kants zu beschäftigen. Beide, so hat Crosby seinerzeit gesagt, könnten ihre philosophische Entwicklung von einem „Kant-Erlebnis“ herleiten.33 Beide, so der Verfasser mit Walter Silz weiter,34 hätten sich für eine neue Form des deutschen Dramas interessiert, und bei beiden sei es um die Vereinigung antiker und moderner Tendenzen gegangen. Kein Zweifel, daß vor allem der hier schon wiederholt zitierte Wallenstein Kleist beeinflußt hat: in Kleists Familie Schroffenstein finden sich zahlreiche Zitatanspielungen, „verbal echoes“, wie Crosby es nennt, obwohl wir ja wissen, daß es mit diesen wörtlichen Echowirkungen meist mehr auf sich hat, als der erste Augenschein oder das erste Hören zu erkennen geben. Wie genau Kleist für seine Familie Schroffenstein Schillers Wallenstein studiert und ausgewertet hat, hat Hartmut Reinhardt sorgfältig und überzeugend untersucht. Das mag bei einem dramatischen Anfänger nichts Ungewöhnliches sein, und manches ist hier tatsächlich nur abkonterfeit: Schillers Wallenstein war Übung und Lehrbuch zugleich. Die Verwandtschaft bezieht sich auch auf Figuren: Jeronimus in der Familie Schroffenstein hat deutliche Züge von Schillers Max Piccolomini. Wallenstein hat aber offenbar auch in Robert Guiskard hineingewirkt. Das bezieht sich auf eine nicht zu übersehende Ähnlichkeit zwischen Guiskard und Wallenstein selbst wie auch auf die politische Substruktur: Wallenstein verhandelt mit den Schweden, Guiskard mit zwei griechischen Prinzen. Auch dramentektonische Ähnlichkeiten sind auffällig: dazu gehört die indirekte Charakteristik der jeweiligen Helden durch die Truppen, längst bevor Wallenstein beziehungsweise Guiskard selbst auftreten. Crosby hat im einzelnen darauf aufmerksam gemacht, Reinhardt hat ausführlich und klug argumentierend die These vertreten, daß Kleist damit Schiller habe überbieten wollen – zumal hier wie bei der Familie Schroffenstein manches dafür spricht, daß Schillers Drama das Übungsterrain absteckte, auf dem sich der dramatische Anfänger nach Art aller Crosby (wie Anm. 16), S. 255. Ebd. 34 Chorus and Choral Function in Schiller, in: Schiller 1759-1959. Commemorative American Studies, ed. by John R. Frey (Illinois Studies in Language and Literature, 46), Urbana 1959, S. 147-170. 32 33 Schiller und Kleist 135 Anfänger mit einem Meister messen wollte. Dergleichen pflegt fast immer schiefzugehen. Andere Dinge fallen ohnehin ins Auge: so die Verwandtschaft zwischen Penthesilea und Schillers Die Jungfrau von Orleans. Rechnen wir noch Das Käthchen von Heilbronn hinzu, so hat Schillers Drama gleich für zwei poetische Produktionen von Kleist Pate gestanden. Ob es sich nun um eine heilige Mission handelt wie bei Johanna und Penthesilea, um die ,,Verwirrung des Gefühls“, bei Schiller wie bei Kleist abgehandelt, um das jeweilige Liebesverbot wie auch um den Ungehorsam, einmal den Göttern, einmal dem Herzen gegenüber: Ähnlichkeiten, Beziehungen, Verwandtschaften sind unverkennbar. Das gleiche gilt für die fast somnambule Gefühlssicherheit bei Kleists Käthchen und bei Schillers Jungfrau von Orleans. Mag man darin auch ein romantisches Akzidenz sehen, literarische Tagesmode, von der beide Gebrauch machten, so ändert es doch nichts an der auffälligen Parallelität, was diese Sicherheit des Gefühls angeht. Kaiser und Femegericht, das Tableauhafte der Landschaftsdarstellungen, die szenischen Arrangements, alles das enthüllt in der Tat Gemeinsamkeiten, die man freilich auch hier nur ungenau bezeichnen würde, sähe man bloß stoffliche oder stimmungshafte Anleihen Kleists bei Schillers Drama. Mag das Interesse am Mittelalter sogar ganz allgemein romantisch motiviert gewesen sein – es ist als Gemeinsamkeit dennoch vorhanden. Schließlich Kirchenkritisches: bei Schiller in den Räubern und im Don Karlos, im Wallenstein und in der Maria Stuart zu lokalisieren, bei Kleist findet es sich im Erdbeben in Chili und im Findling. Auch das mag, als zeitgenössisches Phänomen, nicht einmal besonders stringent sein, was die Beziehungen zwischen Kleist und Schiller angeht. Aber es ist andererseits auch nicht zu leugnen, daß es da Gemeinsamkeiten gibt – so wie es bei beiden Autoren auch eine Neigung zum Katholizismus gibt, bei Schiller zu lokalisieren in seiner Maria Stuart und in seiner Jungfrau von Orleans, bei Kleist in seiner Heiligen Cäcilie. Das mag wiederum romantische Mode sein, der hier zwei Protestanten zum Opfer fielen. Wichtiger sind wohl noch die brieflichen Hinweise auf Schillers Werk. Am 16. August 1800 empfiehlt Kleist Wilhelmine von Zenge Schillers Wallenstein – er hat das Buch für sie gekauft und schreibt: Lies ihn, liebes Mädchen, ich werde ihn auch lesen. So werden sich unsre Seelen auch in dem dritten Gegenstande zusammentreffen. Laß ihn nach Deiner Willkür auf meine Kosten binden und schreibe auf der innern Seite des Bandes die bekannte Formel: H. v. K. an W. v. Z. Träume Dir so mit schönen Vorstel- 136 Schiller und Kleist lungen die Zeit unsrer Trennung hinweg. Alles was Max Piccolomini sagt, möge, wenn es einige Ähnlichkeit hat, für mich gelten, alles was Thekla sagt, soll, wenn es einige Ähnlichkeit hat, für Dich gelten.35 Wallenstein also als Identifikationsprothese, als Verdeutlichungshilfe, als Verbalisierungsmedium, was die Idealität einer Liebesbeziehung angeht. Schillers Don Karlos folgt in der Wertschätzung erst danach. Gelegentlich freilich rücken sie in der Idealität der Figuren einander sehr nahe. Kleist schreibt am 11. und 12. Januar 1801 an das „liebe Mädchen“: Unsre Väter und Mütter und Lehrer schelten immer so erbittert auf die Ideale, und doch gibt es nichts, das den Menschen wahrhaft erheben kann, als sie allein. Würde wohl etwas Großes auf der Erde geschehen, wenn es nicht Menschen gäbe, denen ein hohes Bild vor der Seele steht, das sie sich anzueignen bestreben? Posa würde seinen Freund nicht gerettet, und Max nicht in die schwedischen Haufen geritten sein. Folge daher nie dem dunkeln Triebe, der immer nur zu dem Gemeinen führt. Frage Dich immer in jeder Lage Deines Lebens ehe Du handelst: wie könntest Du hier am edelsten, am schönsten, am vortrefflichsten handeln? – und was Dein erstes Gefühl Dir antwortet, das tue. Das nenne ich das Ideal, das Dir immer vorschweben soll. 36 Die Dichtung als Lebensvorbild, als Lebenselixier, als pädagogische Anweisung an das „liebe Mädchen“ – hier nimmt Kleist noch einmal wörtlich, was für Schiller nur poetische Wirklichkeit war, so wie er früher auch wirklich wollte, was Schiller nur auf der Bühne praktizierte. Aber noch einmal: es kann hier nicht darum gehen, eine Nähe oder auch Ferne zwischen Kleist und Schiller festzustellen. Daß Schiller und Kleist nichts miteinander zu tun hätten, war ein vorschnelles Urteil, ein Vorurteil gewesen, das sich nicht halten ließ. Doch der Beziehung ist damit noch nicht Genüge getan, daß man das Gegenteil konstatiert, also den Nachweis von Zitaten, Abhängigkeiten, thematischen und eher im Irrationalen anzusiedelnden Gemeinsamkeiten führt. Mit anderen Worten: daß Kleist sich intensiv auf Schiller bezogen hat, und das nicht nur in seinem literarischen Werk, steht heute vor allem nach den Arbeiten von Crosby und Reinhardt außer Zweifel. Aber wir wollen uns nicht mit der Feststellung begnügen, daß das „und“ in unserem Thema tatsächlich berechtigt ist. Einige Zitationen haben gezeigt, daß Kleist Schiller nicht sklavisch imitiert, wiederholt, übernimmt, sondern 35 36 SW 2, S. 517f. Dazu auch kurz Reinhardt (wie Anm. 13), S. 199. SW 2, S. 612. Schiller und Kleist 137 daß in der Zitationsveränderung die eigentliche Essenz der Beziehung Kleists zu Schiller wenigstens fragmentarisch deutlich wird. Lesen wir die Umwertungen in den Schiller-Zitationen richtig, so kann von einer bloßen Übernahme oder einer Orientierung an einem großen Leitbild, an einer Affirmation, einer eigenen Einsicht oder von einer gerne anerkannten Vorbildhaftigkeit nicht die Rede sein – die Umwertungen sind zu sichtbar, Ausmaß und Genauigkeit des Zitats hingegen Hinweise darauf, daß es sich hier wohl nicht um absichtslose Variationen im Zuge einer mehr oder weniger beliebigen Stoffübernahme und dichterischen Aneignung aus puren Praktikabilitätsgründen handeln kann. An der Genauigkeit der Schiller-Kenntnis und an der Subtilität der Zitate kann kaum ein Zweifel sein. Doch was besagen sie – falls eine Antwort darauf überhaupt möglich ist – summa summarum? * Gesteht man der Eigenart und dem Ausmaß der Zitationskunst Bedeutung zu, dann hat sie, was Schiller angeht, zunächst einmal nur einen Sinn. Kleist, für den Schillers Dichtungen den Charakter regulativer Lebenslehren und Lebenseinsichten hatten, hat sich in den Zitaten mit Schillers Vorstellungen auseinandergesetzt, und zwar ebenso kritisch wie intensiv. Natürlich kommt diese Auseinandersetzung mit Schiller nicht im entferntesten an die Kant-Krise des Jahres 1801 heran – über sie hat 1954 Ludwig Muth in Kleist und Kant. Versuch einer neuen Interpretation37 wohl das Entscheidende gesagt. Wenn zur Krisenhaftigkeit der Begegnung mit Kant jene Erschütterung gehört, von der Kleist in seinen Briefen vom 22. und 23. März 1801 gesprochen hat, dann ist schon deswegen die Auseinandersetzung mit Schiller, wenn wir sie nun einmal als solche bezeichnen wollen, nicht die einer geistigen Revolution, eines Zusammenstürzens bestimmter bis dahin für gültig gehaltener Vorstellungen. Die so intensive Beschäftigung mit dem Weimaraner, die gelegentlich auch nur das Aussehen einer etwas eigenwilligen Aneignung Schillerscher Gedanken oder den Charakter eines Transfers dieser Gedanken hat, dauert länger, ist unauffälliger und weniger spektakulär. Aber es spricht vieles dafür, daß sie dem Range, wenn auch nicht der Erscheinungsform nach, mit der Kant-Krise zu vergleichen ist und ähnlich tief reicht, langzeitig wirkt und ein wichtiges Moment im 37 Kant-Studien. Ergänzungsheft, Nr. 68, Köln 1954. 138 Schiller und Kleist Selbstverständnis und in der Bekundung der eigenen Position darstellt. Es sieht sogar so aus, als seien die Umzitationen Schillers nicht beliebig, sondern in gewisser Hinsicht Reaktionen auf jene Krise des Jahres 1801, von der die beiden genannten Briefe künden. Summieren wir die Beobachtungen, so ergibt sich über unsere anfänglichen Beobachtungen hinaus etwa folgendes Bild: Kleist überträgt das, was für Schiller im Bereich des Poetischen Wirklichkeit ist, auf die wirkliche Wirklichkeit, und damit ist das Leben der eigentliche Schauplatz, nicht mehr das Theater, auf dem debattiert, gehandelt und entschieden wird. Das muß nicht unbedingt auf eine Radikalisierung Schillerscher Vorstellungen hinauslaufen; aber der Realitätsgrad ist ein anderer geworden. Schiller hatte noch, wie es im späten 18. Jahrhundert üblich war, zwischen historischer und poetischer Wahrheit unterschieden, und beides war von der Realität im Grunde genommen gleich weit entfernt. Kleist entscheidet sich für die wirkliche Wahrheit, und er widerspricht damit indirekt Schiller, der die poetische Wahrheit höher als die historische stellte: fast sieht es so aus, als sei Schillers Weg in die Poesie hier wieder rückgängig gemacht worden – das aber nicht im Sinne eines Geländeverlustes, da Kleist in die Realität zurücktransponiert haben will, was für Schiller nur auf dem Theater geschah. Kleist macht, mit anderen Worten, ernst mit Schillerschen Einsichten, und das nicht nur dort, wo er Wilhelmine von Zenge und sich selbst Wallenstein vorhält, um auch die literarische Beziehung zwischen Max und Thekla zur wirklichen zu erklären. Wenn er die literarische Parabel vom Glück, wie Schiller sie im Ring des Polykrates geschrieben hatte, in seine Gedanken über den sicheren Weg, zum Glück zu gelangen, übernimmt, dann auch das, um ernst zu machen, und zwar mit dem, was bei Schiller nur poetisches Gleichnis war. Daß auch das bei Kleist nur durch das Schreiben geschehen konnte, zählt zur Paradoxie solcher Radikalisierungen, und wir haben darin den Preis zu sehen, den Kleist hat zahlen müssen, einen Preis, der ihn schwer genug dünkte. Daß er es nicht bei der Rätselhaftigkeit im Literarischen bewenden lassen wollte, sondern sich selbst als letztlich rätselhaft empfand, gehört mit in den Umkreis dieses Ernstmachens mit der Literatur. Ob dahinter ein Vorwurf verborgen liegt, an Schillers Adresse gerichtet, der nämlich, ins Reich der Poesie abgeleitet zu haben, was in Wirklichkeit gelebt werden müsse, diese Frage ist allenfalls zu stellen, aber nicht mehr zu beantworten. Doch mit dieser Radikalisierung und Realisie- Schiller und Kleist 139 rung der Schillerschen Vorstellungen ist auch verbunden, daß sie Fragen von Recht und Unrecht, Rache und Vergebung, Genugtuung und Urteilsspruch bis an die äußerste Grenze, das heißt: bis in den Bereich des Religiösen ausdehnt. Wallensteins Untergang ist ein kontinentales Ereignis. Kohlhaasens Rebellion aber rührt, obwohl sie die Rebellion eines einzelnen kleinen Mannes ist, an die Grundfesten der Ordnung, und das Gespräch mit Luther steht nicht ohne Grund im Zentrum, ja am Wendepunkt der Erzählung. Sind das Korrekturen an Schillers Vorstellungen? Man wird die Frage nicht eindeutig beantworten können. Aber in einem anderen Bereich haben solche Korrekturen offenbar stattgefunden: in dem der theologischen Interpretation der Welt. Deuten wir Schillers Werk seit dem Wallenstein richtig, so tritt der Theodizee-Gedanke dort auffällig zurück: Untergangsgeschichten erfüllen das Theater, und das nicht nur, weil in der Tragödie nun einmal Blut fließen muß. Wallensteins Tod ist vom Theodizee-Gedanken nicht mehr zu rechtfertigen, Hegel hatte darin nur zu recht. Eine „verödete Stätte“, ein „Haus der Atriden“: so lautete auch der Kommentar Humboldts. Dort haust das Schicksal, dort sind die Bewohner vertrieben, und das Schicksal ist unbegreiflich geworden, gewiß nicht mehr vom leitenden Gedanken einer Nemesis bestimmt, nicht mehr auf Wiederherstellung aus, auf Restitution einer ursprünglichen Ordnung – die Französische Revolution hat für Schillers Geschichtsvorstellungen verheerend gewirkt, was wir freilich auch so deuten könnten, daß sie Schiller die Augen geöffnet hat für die Fragwürdigkeit von Theodizee-Gedanken, wie sie Schillers Drama auch fortan bestimmt.38 Mit Schillers Maria Stuart hat man immer das Erhabene 38 Nachdem in den 60er Jahren mit Jean Starobinski, Gerd Mattenklott, Wolf Lepenies und dann mit Hans-Jürgen Schings die Melancholieforschung auch in Deutschland aufgekommen ist, sind immer neue Melancholiker entdeckt worden – bis hin zu Bölls Ansichten eines Clowns. Dieter Borchmeyer (Macht und Melancholie. Schillers Wallenstein, Frankfurt am Main 1988) hat den alten Knochen nun noch einmal nach allen Regeln einer antiquarischen Auslegesophistik benagt. Wallenstein – erneut und wieder – als Sternengläubiger und Zauderer? Der Kritiker des Klerikalismus als Bruder Hamlets? Die Geschichtstragödie als Drama der schwarzen Galle? Der Verkünder der Idee des neuen Lebens mit „Spuren der Geisteskrankheit“ behaftet, weil er seit seiner Absetzung ein „Regensburg-Trauma“ mit sich herumträgt? Wallenstein gleichzeitig (!) als enger Verwandter des erblindeten Faust und Tassos und der Reihe der „KünstlerSaturnkinder von der deutschen Romantik über Baudelaire und Verlaine bis zu Thomas Manns Leverkühn“? Dieser Trittbrettfahrt durch ganze Jahrhunderte darf man vielleicht doch wie „die Zeitgenossen und konventionell eingestellten Nachgeborenen 140 Schiller und Kleist verbunden, das dort zum Durchbruch komme, den Tod als Katharsis verstanden, das Drama als Läuterungs-, Mysterien- und Erlösungsspiel. Aber Maria geht unter, kein Zweifel, und wenn sie ihren eigenen Tod auch als einen Sühnetod für einen früheren Mord interpretiert: das ist keine Wiederherstellung, darin sind weder Theodizee noch Teleologie anwesend. Wird der eine Mord gesühnt, so bleibt der an Maria Stuart doch das Letzte, was in diesem Drama gezeigt wird, und was für Maria als Läuterung interpretiert worden ist, ist in Wirklichkeit, lassen wir uns da nicht von den erbaulichen Interpretationen einiger selbstsicherer Germanisten täuschen, Untergang und Ende, Zerstörung und Tod. Man wird einwenden, daß die Jungfrau von Orleans mit ihrer spektakulären Himmelfahrt alle Untergangsgedanken hinwegscheuche – aber hier ist poetisches Wunder, was, nicht nur den Zeitgenossen bewußt, in Wirklichkeit ebenfalls bitterer Tod war. Die Interpretation der SchillerKenner hat mit diesem Drama nicht viel anfangen können: auch der Hinweis auf das Legendäre hilft uns nicht weiter. Legendäre Himmelfahrt oder sakrales Wunder: der überirdische Schluß ist und bleibt ein poetischer Schluß, weit weg von der Wirklichkeit. Die Braut von Messina – Zerstörung einer Familie, eine moderne Ödipodie, und wenn das Schicksal auch nicht mehr als theatralische Macht über den Wolken regiert, die Tragödie ist doch nicht aufzuhalten. Lassen wir uns nicht blenden von Don Cesars Todesmonolog: das Pathos der inneren Freiheit steht auf tönernen Füßen, es klingt hohl genug. „Wirklich ein Trauerspiel“, soll Schiller gesagt haben, und er hatte, auch wenn er selbst nur die gelungene Tragödienform rühmte, nur zu sehr recht. Goethe hat vom „Bild einer solchen mit furchtbarer Consequenz und doch zwecklos handelnden Macht“ gesprochen, und Sinn wird man dieser Geschichte tatsächlich kaum abgewinnen können, jedenfalls nicht, wenn man an eine sinnvolle Weltordnung und an einen halbwegs vernünftigen Gang der Geschichte zu glauben geneigt ist. Wilhelm Tell ein Tyrannenmord, zum Vergnügen des Zuschauers vollzogen, der hier die Hybris endlich einmal bestraft sieht: auf der Bühne, wie sich versteht, was sich nach der Französischen Revolution sonderbar genug ausnehmen mochte. Aber bedenken wir, daß das Drama mit Parricidas Untat endet, mit Vatermord und Kaisermord – es wäre zu fragen, ob hier nicht doch mehr zur Sprache gebracht wird als nur ein etwas verständnislos“ gegenüberstehen – es sei denn, man nähme sie als reichlich sonderbaren Nachhilfeunterricht im Fach Geschichte. Schiller und Kleist 141 plumper Rechtfertigungsversuch der Tellschen Befreiungstat, denn die Ermordung des Kaisers ist etwas anderes als die Ermordung eines kleinen Landvogts. Damit soll das dramatisch-tragische Geschehen auf Tells Bühne nicht heruntergespielt werden. Aber daß jenes andere möglich ist, daß dadurch die Geschichte in weit größerem Ausmaß verändert wird, daß die Geschichte überhaupt von Kräften geprägt wird, die sich einer Rechtfertigung durch Theodizee-Vorstellungen so restlos entziehen, eben das bestimmt dieses Drama auch, und wenn wir bedenken, daß im Demetrius dann Legitimationsfragen hochkommen, daß falsche Geschichte gemacht wird, dann kann von Harmoniegedanken nicht mehr die Rede sein, von klassischer Synthese nicht, von Idealismus nicht und nicht von dem ganzen interpretatorisch-philosophischen Budenzauber, mit dem man Schillers Spätwerk eingedeckt hat. Die pessimistischen Züge in Schillers letzten Dramen kann man nur dann übersehen, wenn man vom Bazillus einer unbedingt optimistisch argumentierenden Klassizismusvorstellung angesteckt ist. Wird im Wilhelm Tell das Recht des politischen Mordes verteidigt? Da wäre doch noch sehr die Frage, ob es so zu verteidigen ist. Tell als „leibhaft gegenständlicher Träger des sittlich oder gar religiös Guten“, wie Klaus Ziegler einmal formuliert hat?39 Sehr fragliche Interpretationen, und wir mögen einen Moment an Börnes Charakteristik denken, der Tell als Kleinbürger beschrieben hatte: „er hat eine schnelle Hand und einen langsamen Kopf, und so bringt ihn endlich seine gutmütige Bedenklichkeit dahin, sich hinter den Busch zu stellen und einen schnöden Meuchelmord zu begehen, statt mit edlem Trotze eine schöne Tat zu tun. – Tells Charakter ist die Untertänigkeit“.40 So weit muß man nicht unbedingt gehen, aber man darf die düsteren Züge in Schillers Geschichte nicht übersehen. Der Weltlauf mag noch nicht chaotisch sein, aber weit ist er nicht mehr davon entfernt. Das Düstere, Rätselhafte, Unverständliche und Sinnlose: in Schillers Dramen vom Wallenstein an ist es durchaus zu finden, sehr viel eher vielleicht, als es seine Interpreten in Kleists Charakter zu finden glaubten. Nehmen wir Kleists kleine Schriften zur Kunst- und Weltbetrachtung ernst, so ist, gerade in jenem Aufsatz, den sichern Weg des Glücks zu finden, der Fortschrittsglaube des 18. Jahrhunderts, dessen TugendSchiller und das Drama, in: Wirkendes Wort 5, 1954/55, S. 205-215, hier S 210. Ludwig Börne: Sämtliche Schriften […], hg. von Inge und Peter Rippmann, Bd. 1, Düsseldorf 1964, S. 398. 39 40 142 Schiller und Kleist lehre und Glückserwartung, damit aber auch die Vorstellung von der endlichen Gerechtigkeit auf dieser Welt und einer vernünftigen Sinnhaftigkeit in einem Ausmaß präsent, wie das in diesen Jahren schlechterdings verwunderlich ist. Wer so sehr an die Vernünftigkeit der Welt und der Weltgeschichte glaubt, der bereitet sich seine intellektuelle Katastrophe gewissermaßen selbst und zwangsläufig vor. Kleist hatte, wie wir wissen, seine perfektibilistischen Weltanschauungen von Wieland, nicht etwa von Schiller, und zwar von dessen Sympathien, 1758. Wir wollen mit keinem Gedanken bezweifeln, daß die Vorstellungen von einer nicht nur möglichen, sondern unbedingt zu erreichenden Perfektibilität der Welt durch die Kant-Krise gründlich zerstört worden sind. Kant ist wie ein Ungewitter in die teleologischen Ideen des jungen Kleist hineingefahren, und wem derart der Boden unter den Füßen weggezogen wird, der kann wohl nur so reagieren, wie Kleist reagiert hat, wenn er davon sprach, daß ein innerlicher Ekel seinen Willen überwältigt habe41 – so in seinem Brief an Wilhelmine von Zenge. Äußerer Tumult, glühende Angst, das sind die Charakteristika, die Kleist sich selbst gibt. Hat es mit jeglicher teleologischer Geschichtsdeutung von da an ein Ende? Schiller hätte ihn mit seinen Tragödien bestätigen können, weniger was die Relevanz der Wahrheitssuche anging als vielmehr, was die Zerstörungskraft der Geschichte betraf. Teleologie war auch bei Schiller nicht mehr zu finden. Doch es sieht so aus, als habe Kleist sich damit ebensowenig abfinden wollen wie mit Schillers Versuch, auf der Bühne das zu restituieren, was der Wirklichkeit ermangelte. Nehmen wir Geschichten wie Michael Kohlhaas, den Zweikampf, die Marquise von O …, selbst Das Erdbeben in Chili, so vermindert sich doch der Katastrophencharakter der Geschichte erheblich: Kleist beschreibt Vorgänge, die zwar zerstörerisch sind, die aber am Ende auf die Restitution weniger einer Ordnung als vielmehr der Ordnungsbegriffe hinauslaufen. Mit anderen Worten: in Kleists Erzählungen, aber auch im Prinz von Homburg oder im Käthchen von Heilbronn wird die Geschichte umgeschrieben, nicht zur Legende oder zur Heils- und Erlösungsgeschichte, nicht zur Verklärung oder zum Läuterungsdrama: aber die Sinnlosigkeit, die scheinbare, wird ihr genommen, indem sie zur letztlich sinnvollen Geschichte wird. Kleist hat versucht, wider den Augenschein zu argumentieren, gegen die Erfahrung des „als ob“ anzuschreiben, und am Ende triumphiert die Geschichte selbst, da sie mit den 41 SW 2, S. 634. Schiller und Kleist 143 Krisen fertig wird, die ihr drohen. Ist das ein neuer Versuch einer Teleologie? Das mag zu kühn formuliert sein, aber Rechtfertigungsgeschichte ist die Geschichte gewiß. Am Ende herrscht Ordnung, mag auch sie das sein, was man am letzten und wenigsten hinter den Vorgängen vermuten würde. Und: Kleist schreibt in eine jeweilige Zukunft hinein. In Schillers Dramen gab es vom Wallenstein an eine solche im Grunde genommen nicht mehr, und Wilhelm Tell ist kein Gegenbeweis. Schiller hat eine Gegenwartsanalyse versucht, und die Gegenwart kam nicht sehr glänzend davon. Kleist operiert so gut wie immer mit der Zukunft, denn in ihr erfüllt sich, was in der Gegenwart gefährdet schien oder zerstört war. Ein Drama widerspricht freilich dieser optimistischen Geschichtserwartung: Penthesilea. Stirbt Penthesilea, weil sie nur auf diese Weise eine Ordnung wiederherstellen kann, die sie selbst verletzt hat? Ihr letztes Wort „Nun ists gut“42 könnte man mit einiger Vorsicht so interpretieren. Dieses Drama ist das zweifellos schillernächste Stück Kleists, bei dem die Wiederherstellung der Geschichte aufs äußerste reduziert ist, unter den größten Opfern erkauft werden muß. Doch bei den meisten anderen Erzählungen und Dramen ist der Glaube an die restitutive Kraft der Geschichte erheblich. Von der Idee der Perfektibilität ist freilich nichts geblieben, und ob man diesen Wechsel auf die Zukunft als teleologisch beschreiben will, mag auch zweifelhaft bleiben. Aber wie immer man auch die Erzählungen und Dramen lesen will: sie liefern eine Korrektur Schillerscher Untergangsvorstellungen, und die Kant-Krise hat daran am Ende nichts ändern können. Was im 18. Jahrhundert teleologische Heilsbotschaft war, ist bei Kleist freilich, wir wissen es, mehr als einmal in die Instanz des Gefühls verlegt. Dieses ist verwirrbar, aber das Gefühl blieb allein wohl übrig, nachdem das Wissen von Kant so kräftig in Zweifel gezogen war. Auch das ist ein Protest, wenn auch kein sehr haltbarer. Denn am Ende hat Kleist sich gewissermaßen selbst in Frage gestellt: in jenem Brief am Schluß seines Lebens, in dem er sagt, daß ihm auf Erden nicht zu helfen war. Hat er damit und mit seinem Freitod den Glauben an die unzerstörbare Macht leitender Ideen widerlegt? Wir wissen es nicht, und so bleibt zu vermuten, was auch hier nur als Vermutung über die eigentliche Beziehung Kleists zu Schiller vorgetragen wurde. 42 SW 1, S. 427. E I N M E N S C H HE I T S T R A U M A U S G E T RÄ U M T . K LE I S T S D A S E RD B E B EN IN C H I L I U N D D A S E N D E A U F K LÄ RU N G DER Nichts ist in Kleists Erzählungen normaler und selbstverständlicher als der Zufall. Es ist Zufall, daß in der Geschichte von Michael Kohlhaas der Kämmerer, der ein altes Trödelweib aufgegriffen hat, in diesem ausgerechnet jene geheimnisvolle Zigeunerin traf, die Kohlhaas das Wissen um das Ende des sächsischen Hofes vermacht hatte – der Kämmerer hatte „den ungeheuersten Mißgriff begangen“,1 der sich denken ließ, so heißt es, aber es war genau besehen nichts anderes als ein Zufall. Zufällig ist der alte Hoango, der allen Weißen den Krieg erklärt hat, nicht anwesend, als in der Geschichte von der Verlobung in St. Domingo ein weißer Offizier an die Tür klopft. Ein Zufall löst in der Erzählung vom Findling eine ganze Kette verhängnisvoller Begebenheiten aus. In den Dramen geht es ähnlich zu. Zufälle regieren das Weltgeschehen; Zufälle bestimmen über Leben und Tod des Menschen – so auch in der Geschichte vom Erdbeben in Chili. Es ist augenscheinlich nichts anderes als Zufall, daß in den Augenblick, in dem Jeronimo sich an einem Pfeiler des Gefängnisses erhängen will, die Erde bebt; und es ist nicht weniger Zufall, daß das einstürzende Gebäude in seinem Fall dem des gegenüberstehenden Gebäudes begegnet, so daß sich eine „zufällige Wölbung“ (146) ergibt, die den potentiellen Selbstmörder rettet. Es ist Zufall, daß in dem Augenblick, als ein Nachbeben den Rest der Stadt in Trümmer reißt, Jeronimo sich bereits im Freien befindet. Zufälle auch schon vorher; als Jeronimo von seiner Geliebten getrennt worden war, hatte er „durch einen glücklichen Zufall“ (144) die Verbindung mit Josephe wieder von neuem anzuknüpfen gewußt. Ähnlich war auch Josephe davongekommen; sie war, zum Tode verurteilt, dem Richtplatze schon ganz nahe gewesen, als der irdische Erdbeben-Zufall sie befreite. Und zufällig finden die beiden, die dem Tod schon so nahe ge- 1 Heinrich von Kleist: Sämtliche Werke und Briefe, hg. von Helmut Sembdner, 2 Bde., München 71977 (= SW), Bd. 2, S. 96. Im Folgenden Seitenangaben von SW 2 im Text. 146 Kleists „Das Erdbeben in Chili“ wesen waren, einander wieder. Dreimal ist in Kleists Text expressis verbis vom Zufall die Rede. Die Betroffenen freilich sehen das ganz anders. Was sie erlebt haben, ist die „zerstörende Gewalt der Natur“ (147), aber weil sie wider alle Wahrscheinlichkeit davongekommen sind, sehen sie in dem Geschehenen ein „Wunder des Himmels“, ihre „wunderbare Errettung“. Jeronimo hatte ernsthaft den Tod gesucht, seine Bewußtlosigkeit war quasi dessen Vorwegnahme; doch als ihm ein Westwind „sein wiederkehrendes Leben anwehte“ (146), war das fast eine Wiederauferstehung, der Beginn eines neuen Daseins, und eine Art Wiedergeburt hatte auch Josephe mitsamt dem „Knaben, den ihr der Himmel wiedergeschenkt hatte“ (148), erlebt. Da war also nicht nur die zerstörende Gewalt der Natur auf der einen Seite und das Wunder des Himmels, die wunderbare Rettung auf der anderen; die Davongekommenen stellen einen Bezug dazwischen her, wenn sie dachten, „wie viel Elend über die Welt kommen mußte, damit sie glücklich würden!“ (150). Das Unglück der Welt also aufgerechnet gegen das Glück zweier Menschen. Daß das nicht ein sporadischer Gedanke der beiden Liebenden war, sondern ihre ernsthafte Erklärung für das, was geschehen war, ist der Novelle selbst zu entnehmen: denn noch zweimal wird darauf aufmerksam gemacht, daß das Elend der Welt noch so groß gewesen sein mochte – für sie war das „eine Wohltat, wie der Himmel noch keine über sie verhängt hatte“ (152), und noch ein drittes Mal ist von diesem konditionalen Zusammenhang die Rede, wenn Josephe meint, daß das allgemeine Wohlsein auf der einen Seite zwar abgenommen habe, aber auf der anderen Seite um ebensoviel gewachsen sei. Die Geretteten unterstellen dem zerstörerischen Geschehen des Erdbebens also mehrfach einen eindeutigen Sinn, sehen im Zufall des Erdbebens etwas vom Himmel Bewirktes, und so machen sie denn eine für sie völlig stimmige Rechnung auf: der Untergang der Welt hier, das Glück der Liebenden dort – und das eine war quasi die Bedingung des anderen. Aus der Sicht der so überraschend Geretteten mag das alles verständlich sein. Und diese Interpretation der Ereignisse ist auch vor dem Hintergrund des aufgeklärten Denkens, wie es ja die Jahre Kleists noch bestimmte, gar nichts Ungewöhnliches, sondern verträgt sich sehr gut mit einem Denken, demzufolge es spektakuläre Ereignisse oder zufällige Begebenheiten quasi aus dem Nichts heraus eigentlich gar nicht geben konnte. Hinter der Rechtfertigung des allgemeinen Unglücks, das Kleists „Das Erdbeben in Chili“ 147 über die Welt gekommen war, um so die eigene Rettung zu ermöglichen, steht ein Denken, das Sinnlosigkeiten, Zufälle, Überraschungen nicht zuläßt. Kannte Kleist das Wort Voltaires: Zufall ist das Pseudonym Gottes? Vermutlich. Angesichts der außerordentlichen Abhängigkeit Kleists von Schiller kannte er aber ohne jeden Zweifel die Rede des Marquis Posa aus dem Don Karlos: „Den Zufall giebt die Vorsehung – Zum Zwecke/ Muß ihn der Mensch gestalten“.2 Und sicherlich auch Wallensteins Wort: „Es gibt keinen Zufall;/ Und was uns blindes Ohngefähr nur dünkt,/ Gerade das steigt aus den tiefsten Quellen“.3 Kleist ist der Konstrukteur von Zufällen, die keine sind. Wenn dem so ist, kann auch das Erdbeben kein Zufall sein. Natürlich kannte man Naturkatastrophen. Aber man nahm sie entweder nicht wahr oder ordnete sie ein in aufgeklärte Vorstellungen vom Lauf der Welt. Der war zu verstehen, wie Kant gelehrt hatte, nämlich als „die Vollziehung eines verborgenen Plans der Natur“.4 Die Natur war nicht blind, erbarmungslos, zerstörerisch, chaotisch oder unberechenbar, sondern ihr Wirken letztlich sinnvoll. Anders gesagt: was immer geschieht, dient einem Zweck – das Denken in den Kategorien von Ursache und Wirkung, Ereignis und Folge gehört zu den Grundvorstellungen der Aufklärung. Nichts ist selbstbezogen, sondern alles eingebettet in einen Funktionalismus, für den die Zeit damals auch den Begriff des „Systems“ hatte. Wir könnten auch sagen: Die Orientierung an der Zweck-Mittel-Relation dominiert das Denken grundsätzlich; alles hat ein Ziel, ist eingebunden in einen geordneten, planvollen Zusammenhang. Die „stille Hand der Natur“, wie Schiller das einmal genannt hat,5 brachte einen Sinn selbst in das scheinbar Sinnlose. Diese Überzeugungen stehen auch im Hintergrund jenes Satzes, daß das Elend über die Welt kommen mußte, damit sie, die Liebenden, glücklich würden. Zweckorientiertes Aufklärungsdenken, ein Argumentieren in den Kategorien von Ursache und Wirkung, von Bedingung und Folge, von Absicht und Erfüllung: mochten spektakuläre Ereignisse auf den ersten Blick hin noch so unbegreiflich scheinen, so wurden sie 2 Friedrich Schiller: Schillers Werke. Nationalausgabe, hg. von Julius Petersen (†) und Gerhard Fricke, Weimar 1943ff. (= NA), Bd. 7,1, S. 505f. 3 NA 8, S. 213. 4 Kant’s gesammelte Schriften, hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, 1. Abtheilung, Werke, Bd. VIII: Abhandlungen nach 1781, Berlin 1923, S. 27. 5 NA 17, S. 375. 148 Kleists „Das Erdbeben in Chili“ doch eingeordnet und auf das Zweckmäßige an ihnen ausgedeutet. Anders gesagt: hinter dem angesichts der ungeheuren Untergangskatastrophe an sich ebenso selbstverständlichen wie befremdlichen Satz, daß sie sehr gerührt waren, „wenn sie dachten, wie viel Elend über die Welt kommen mußte, damit sie glücklich würden“, steht mehr als nur das Empfinden zweier Einzelner, nämlich eine ganze Geschichtsphilosophie. Hier ist die Wirklichkeitsinterpretation der Aufklärung präsent, ist die alte Vorstellung von der Zweckgerichtetheit aller Dinge und Geschehnisse in die Deutung einer Naturkatastrophe übersetzt. Es sieht fast wie nach einer Kosten-Nutzen-Rechnung im Gewand des 18. Jahrhunderts aus: was anderen geschadet hat, ist zum Vorteil dieser beiden so unverhofft Geretteten ausgeschlagen. Die Rechnung, daß ebensoviel Elend über die Welt kommen mußte, „damit sie glücklich würden“, ist also vom Denken der Zeit her nicht im geringsten zu beanstanden, denn sie ist von einer aufklärerischen Interpretation des Weltgeschehens her durchaus verständlich, und mehr als das: sie ist eigentlich selbstverständlich. Doch dieser Satz vom eigenen Glück, auch wenn es das Unglück anderer bedeutet, enthält zugleich noch etwas anderes, was ebenfalls zum Denken der Aufklärung gehört: Glückserwartung. Der Mensch hat im aufgeklärten Zeitalter ein Anrecht auf Glück; Glück ist Teil seiner menschlichen Bestimmung. Was ist Glück? Im 18. Jahrhundert ist Glück vor allem eine Begleiterscheinung der Tugend; der Weg der Tugend wiederum, so schrieb Kleist im Brief an seinen Lehrer Christian Ernst Martini vom 18./19. März 1799, sei der direkte, „kein schönerer und edlerer Weg zum Glücke denkbar“ (475). Aber Glück ist nicht nur eine theoretische oder abstrakte Erwartung. In diesem Brief heißt es auch: Ein Traum kann diese Sehnsucht nach Glück nicht sein, die von der Gottheit selbst so unauslöschlich in unserer Seele erweckt ist und durch welche sie unverkennbar auf ein für uns mögliches Glück hindeutet. Glücklich zu sein ist ja der erste aller unsrer Wünsche […] (477). Ähnliche Gedanken finden sich in dem kleinen Aufsatz, den sichern Weg des Glücks zu finden und ungestört – auch unter den größten Drangsalen des Lebens – ihn zu genießen!, der wohl noch vor dem Brief an Martini entstanden ist. Sehnsucht nach Glück also etwas ureigen Menschliches. Und wenn die beiden durch das Erdbeben Geretteten bedenken, wieviel Elend über die Welt kommen mußte, damit sie glücklich wurden, dann Kleists „Das Erdbeben in Chili“ 149 sagen sie damit zugleich: Glück ist eine so wichtige Erfahrung, daß es das Elend, das über die Welt kommen kann, durchaus aufwiegt. Und so erleben sie denn das Glück in jenem Tal, das nicht irgendein Tal ist, sondern ein Tal, „als ob es das Tal von Eden gewesen wäre“ (149): das grenzenlose Unglück, das mit dem Erdbeben über die Menschen gekommen ist, ist wie weggewischt, zum grenzenlosen Glück zweier Menschen geworden. Der „prachtvolle Granatapfelbaum“, das Liebessymbol, ist nicht zufällig erwähnt, so wenig wie das „wollüstige Lied“ der Nachtigall. Und so bestätigt sich, was sie voller Rührung bedachten: daß das über die Welt gekommene Elend Voraussetzung ihres nächtlichen Glücks gewesen war. Ihre Glückserwartung hat sich erfüllt. So ist für Jeronimo und Josephe wahr geworden, was Kleist im Aufsatz schrieb: die Gottheit wird die Sehnsucht nach Glück nicht täuschen, die sie selbst unauslöschlich in unsrer Seele erweckt hat, wird die Hoffnung nicht betrügen, durch welche sie unverkennbar auf ein für uns mögliches Glück hindeutet. Denn glücklich zu sein, das ist ja der erste aller unsrer Wünsche, der laut und lebendig aus jeder Ader und jeder Nerve unsers Wesens spricht, der uns durch den ganzen Lauf unsers Lebens begleitet […] (301). Fast wörtlich steht das auch in dem Brief an Martini (477f.). * Das 18. Jahrhundert reicht auch unter anderer Beleuchtung in die Glücks-Szenerie unserer Erzählung hinein. Nach dem Erdbeben scheint sich in jenem Tal, das den beiden Seligkeit versprach, „als ob es das Tal von Eden gewesen wäre“, gewissermaßen die ganze Menschheit erneuert zu haben; eine quasi klassenlose Gesellschaft hat sich dort versammelt, oder, wie es in Kleists Text heißt: Auf den Feldern, so weit das Auge reichte, sah man Menschen von allen Ständen durcheinander liegen, Fürsten und Bettler, Matronen und Bäuerinnen, Staatsbeamte und Tagelöhner, Klosterherren und Klosterfrauen: einander bemitleiden, sich wechselseitig Hülfe reichen, von dem, was sie zur Erhaltung ihres Lebens gerettet haben mochten, freudig mitteilen, als ob das allgemeine Unglück alles, was ihm entronnen war, zu einer Familie gemacht hätte (152). Hier hat sich nicht nur das Unglück zum Glück gewandelt; eine Idylle ist Wirklichkeit geworden, die Menschheit hat sich noch einmal zu einer Familie zusammengeschlossen – das war der große Traum des 18. Jahrhunderts gewesen, wie er in Schriften wie Lessings Erziehung des 150 Kleists „Das Erdbeben in Chili“ Menschengeschlechts deutlich geworden war, auch in Nathan der Weise, wo sich am Schluß die anfangs so wirren Personal-Verhältnisse alle gelöst hatten und die familiären Bindungen sichtbar geworden waren: beispielhaft zu verstehen, die Menschheit als große Verwandtschaft. Auch in jenem Tal, als ob es das Tal von Eden gewesen wäre, ist die Menschheit quasi neu erschaffen worden. Und das war Folge jener Naturkatastrophe: sie hat denen, die überlebt hatten, eine neue Welt eröffnet, in der ein Zusammenleben, das vorher nur aufgeklärtes Ideal gewesen war, Wirklichkeit wurde. Standesunterschiede spielen jetzt keine Rolle mehr, die wechselseitige Hilfsbereitschaft ist grenzenlos, der menschliche Geist geht, wie Kleist das in ein großartiges Bild gefaßt hat, „wie eine schöne Blume“ auf – und Josephe dünkt sich „unter den Seligen“. In der Tat, das ist ein himmlischer Zustand, der sich auf der Erde ausgebreitet hat, und noch einmal sagt Josephe jenen Satz vom Glücklichwerden der beiden Liebenden durch das Elend der Anderen: „Ein Gefühl, das sie nicht unterdrücken konnte, nannte den verfloßnen Tag, so viel Elend er auch über die Welt gebracht hatte, eine Wohltat, wie der Himmel noch keine über sie verhängt hatte“ (152). Und noch ein drittes Mal spricht aus ihr Glücksgefühl: da sie den „Schmerz in jeder Menschenbrust mit so viel süßer Lust vermischt“ sieht. In diesen Betrachtungen erschöpfen sich Jeronimo und Josephe und fassen, so in Sicherheit gewiegt und vom Himmel scheinbar bestätigt, einen verhängnisvollen Entschluß: sie wollen bleiben, sich nicht nach Spanien begeben, um „daselbst ihr glückliches Leben zu beschließen“ (150). Denn sie leben ja nach der Naturkatastrophe, so meinen sie, in einer neugeborenen Menschheit: „Es war“, so hatte es in der Erzählung geheißen, „als ob die Gemüter, seit dem fürchterlichen Schlage, der sie durchdröhnt hatte, alle versöhnt wären“. Das Paradies wiederhergestellt, alles irdische Verhängnis abgewendet, die Gesellschaft eine schranken- und ständelose, der glückliche Urzustand der Natur Wirklichkeit geworden. * Doch es war nur ein Traum, oder mehr noch: es war ein Irrtum, ein schrecklicher, und wie sehr es das war, zeigt das Folgende. Der Zufall des Erdbebens hatte sie gerettet – aber das Treiben der Gesellschaft vollzieht die Todesurteile, die über sie gefällt worden waren, dennoch. Es ist der Prediger in der Dominikanerkirche, der das Erdbeben als Vorboten des Weltgerichts deutet und dafür die „Sittenverderbnis der Kleists „Das Erdbeben in Chili“ 151 Stadt“ verantwortlich macht; es ist das Geschehen im Klostergarten der Karmeliterinnen, das seinen priesterlichen Zorn erregt, und so übergibt er Jeronimo und Josephe „allen Fürsten der Hölle“ (156), zunächst rhetorisch, dann aber in Wirklichkeit. Die Menge droht zwar zunächst mit Don Fernando und dem kleinen Sohn, von Josephe gehalten, die Falschen zu steinigen, aber der eigene Vater identifiziert Jeronimo als den Schuldigen, und am Ende ist alles Glück dahin, der paradiesische Zustand abrupt beendet, schließlich Josephe und Jeronimo und mit ihnen die unschuldige Donna Constanze ermordet, und die „noch ungesättigte Mordlust“ verschont auch eines der Kinder nicht. Die Epitheta und Vergleiche, die Kleist gebraucht, um das Handeln der aufgebrachten Menge als das zu bezeichnen, was es ist, sind eindeutig: es ist Mordlust. Der Himmel ist eingestürzt; der Prediger, der die Seelen der Täter, „wörtlich genannt, allen Fürsten der Hölle übergab“, wird selbst zur teuflischen Figur, der Mörder der Donna Constanze zum „fanatischen Mordknecht“, zum „Fürst der satanischen Rotte“. Josephe ruft vor ihrem Tode noch aus: „hier mordet mich, ihr blutdürstenden Tiger!“. Die Mörder sind „Bluthunde“ und „Ungeheuer“, die ihr „steinigt sie! steinigt sie!“ schreien. Unmenschen sind ihrer Mordlust verfallen, und am Ende dieses Kampfes des Himmels gegen die Hölle siegt die Hölle. Fernando, der sie vergebens zu verteidigen suchte, erscheint als „dieser göttliche Held“. Aber er unterliegt. Das Paradies ist verloren, das Glück beendet. John Milton, der große englische Dichter des 17. Jahrhunderts, schrieb erst sein Paradise Lost, Jahre später sein Paradise regained. Hier ist es umgekehrt. * Wie ist das alles zu deuten? Ist die von Kleist erzählte Geschichte erklärlich, läßt sich in dem auf großartige Weise Schrecklichen irgendein Sinn finden? Ist es eine antiklerikale Erzählung, „gegen römisches Priestertum und Kuttenmoral“ gerichtet? So hat ein berühmter Interpret diese Novelle gelesen; kein anderer als Thomas Mann sprach von einer prachtvollen Erzählung, worin alles Glück und Verzeihen, alle Güte, seelische Reinigung und Menschenverbrüderung, die aus der gemeinen Heimsuchung, der fürchterlichen Naturkatastrophe „wie eine schöne Blume aufge- 152 Kleists „Das Erdbeben in Chili“ hen“, zerstört und in mörderische Sühn- und Strafwut verkehrt werden durch den Fanatismus eines Dominikaner-Predigers.6 Aber das war nicht alles, und vor allem: darin erschöpft sich nicht die Novelle. Auch nicht für Thomas Mann; er hat hinzugesetzt: „Man kommt beim Lesen dieser Geschichten aus dem Schrecken, der Aufregung, der Bangigkeit vor dem Ungeheuerlichen, aus dem Bann geteilten Gefühls nicht heraus“.7 Aber was dann? Die Geschichte hat viele Federn in Bewegung gesetzt, und die Interpreten haben nichts ausgelassen. Einige haben die Weltordnung hier nicht angezweifelt, sondern verteidigt gefunden, höhere Werte hätten sich gerade dort bewahrheitet, wo sie durch das niedrige Weltgeschehen so nachdrücklich in Frage gestellt zu sein schienen. Andere haben hier ein blindes Schicksal am Werk gesehen, wieder andere die Unbegreiflichkeit des göttlichen Wirkens, Gott also als deus absconditus; wieder andere meinten, hier sei das Unvorhersehbare des Weltlaufs dokumentiert, die Fragwürdigkeit menschlicher Verhältnisse, die Ungewißheit des Lebens, die Schöpfung undurchschaubar, das Dasein ein furchtbares Rätsel. Das alles sind letztlich metaphysische Deutungen – recht befriedigen will keine von ihnen. Den Metaphysikern steht die Front der Realisten gegenüber. So hat man hier eine Anklage gegen soziale Ungerechtigkeit und die Sinnlosigkeit der Standesunterschiede gesehen; ein anderer wollte hier demonstriert wissen, „wie die Brutalität der Masse durch demagogische Manipulation hervorgerufen wird“8 – dagegen habe Kleist den Naturzustand einer Gemeinschaft ausgemalt, die alle zu einer Familie macht, in der der Mensch seine individuelle Freiheit dadurch verwirklicht, daß er sich in allen Individuen, die ihn umgeben, vervollständigt, und nicht dadurch, daß er sich von aller Menschengemeinschaft isoliert. Also ein herrschaftsfreier und in positivem Sinne anarchistischer Zustand einer klassenlosen Gesellschaft, entgegengesetzt der unheiligen Allianz von Staat und Kirche, die sich in der Herrschaft des Mobs austobt. Aber auch das will alles so recht nicht überzeugen. Am ehesten einsichtig scheint noch die These zu sein, daß Kleist sich hier kritisch mit Rous6 Thomas Mann: Gesammelte Werke in dreizehn Bänden, Frankfurt am Main 1974, Bd. IX, S. 836f. 7 Ebd., S. 838. 8 So Peter Horn: Heinrich von Kleists Erzählungen. Eine Einführung, Königstein/Ts. 1978, S. 114. Kleists „Das Erdbeben in Chili“ 153 seau auseinandergesetzt habe: die Rückkehr zum einfachen Leben, zur Natur, von Rousseau zum Ideal erhoben, sei hier gescheitert – im Hintergrund stehe Kleists Auseinandersetzung mit dem Ideengut des Predigers vom einfachen Landleben und seine Kritik an dessen Utopie von einem idealen Naturzustand. Das Erdbeben in Chili sei nichts anderes als eine Widerlegung des Mythos vom ursprünglichen Dasein in der Natur.9 Das klingt halbwegs plausibel, sagt aber noch nichts über das Naturgeschehen dieser Erzählung, also über das Erdbeben aus. Daß eine Naturkatastrophe erst die Möglichkeit schafft, einen idealen Naturzustand wiederzugewinnen, wie das in jenem Tal geschieht, das nicht zufällig mit dem Tal von Eden verglichen wird, mag ja sein; aber das würde jene Lügen strafen, die darin einen Sinn oder sogar einen himmlischen Zweck erkennen wollen. Oder war das Erdbeben gleichsam sinnlos, da ja der dadurch gewonnene, möglich gewordene Naturzustand in kürzester Zeit wieder zerstört wird? Am Ende also doch nur das Erdbeben als etwas Unerklärliches? Natürlich kann man sagen: da ist etwas Unbegreifliches geschehen, ist die Sinnlosigkeit eines Geschehens dokumentiert, da jeder dem Erdbeben gegebene Sinn sich als Täuschung erweist. Also die Rätselhaftigkeit des Daseins überhaupt dargestellt? Aber das würde bedeuten, daß man Kleist quasi mit Kafkas Augen läse. Vor allem aber: eine solche Stellungnahme ist anachronistisch. Denn zu Kleists Zeiten wäre niemand auf die Idee verfallen, eine Geschichte nur um ihrer Unbegreiflichkeit wegen zu schreiben. Im übrigen hat Kleist in seinen Novellen oft von rätselhaften Fakta berichtet, aber die Rätsel der Fakta wurden in jeder Erzählung aufgelöst – häufig durch die Vorgeschichte. Das ist hier nicht der Fall. Aber Wiederholung ist ein Strukturmerkmal fast aller Erzählungen Kleists: was geschieht, geschieht so gut wie immer noch einmal, wenn auch unter veränderten Vorzeichen. Auch in unserer Erzählung geht es ähnlich zu. Auch ein Blick auf literarisch Benachbartes zeigt, daß eine Geschichte nicht erzählt wurde, weil sie unbegreiflich war. Die Zeit der moralischen Erzählungen ist zu Kleists Zeiten eigentlich ja noch gar nicht vorbei, jener kurzen Geschichten, die zwischen Recht und Unrecht 9 So Harry Steinhauer: Heinrich von Kleists Das Erdbeben in Chili, in: Goethezeit. Studien zur Erkenntnis und Rezeption Goethes und seiner Zeitgenossen. Festschrift für Stuart Atkins, hg. von Gerhart Hoffmeister, Bern/München 1981, S. 281-300. 154 Kleists „Das Erdbeben in Chili“ scharf zu unterscheiden wußten und die eine Moral im Sinne von Lebenslehren, die es zu befolgen galt, verkünden wollten. Kleists Erzählung mag zeitlos sein, sie verlangt aber zunächst einmal danach, von den Vorstellungen der Zeit her ausgelegt zu werden. Kleist will unter den Voraussetzungen gelesen werden, die das auslaufende Aufklärungszeitalter bot. Die Erzählung wurde ein Jahr nach Schillers Tod beendet, erst fast ein Menschenalter später starb Goethe. Die Frühromantiker hatten sich zwar schon literarisch etabliert, aber auch in ihrem Werk war die aufgeklärte Tradition noch lebendig. Auf die Dichtung bezogen hieß das: eine ohne Sinn erzählte Geschichte widerlegte sich selbst, das reine Anschauen unerklärlicher Ereignisse war nicht darstellenswert. Das schloß nicht aus, daß Geschichten allegorisch zu lesen waren: das Denken in Bildern war in der Zeit des ausgehenden 18. Jahrhunderts und in den ersten Jahren des neunzehnten weit verbreitet, manche Lebenslehre wurde in gleichnishafter Verkleidung vorgetragen. Aber ohne irgendeine Aussage hätte sich eine Dichtung selbst aufgegeben. Wir müssen also einen Sinn in die Geschichte hinein- oder vielmehr: aus der Geschichte herauslesen, auch wenn er offenkundig nicht sofort zu erkennen ist. Hier verlassen wir die schon oft ausgetretenen Pfade der Deutung und versuchen uns an einer neuen Erklärung, und zwar vor dem Hintergrund dessen, was wir gerade skizziert haben, also vor dem Hintergrund des 18. Jahrhunderts. Eine von diesem Kontext her mögliche Deutung bietet sich an, wenn man den Blick auf das richtet, was mit dem Liebespaar unmittelbar zu tun hatte. Anders gesagt: Erdbeben und davongekommenes Liebespaar – wie vertrug sich das? Die Erzählung hatte ursprünglich den Titel Jeronimo und Josephe. Beide werden zunächst gerettet: das Erdbeben verhilft Jeronimo zur Freiheit und bewahrt Josephe im letzten Moment vor dem Scharfrichter. Ein Zufall also hat sie verschont, nämlich der Zufall des Erdbebens. Tatsächlich wird ihre Rettung nur von ihnen als wunderbar bezeichnet, wird der „zerstörenden Gewalt der Natur“ das „Wunder des Himmels“ gegenübergestellt. Und sie machten ja auch eine Rechnung auf: es war die, daß soviel Elend über die Welt kommen mußte, „damit sie glücklich würden“. Damit war das Geschehen in das Denken der Aufklärung gebracht, da hier für die Liebenden das Prinzip von Ursache und Wirkung, von Ereignis und Folge auf so sichtbare Weise gewahrt war. Kleists „Das Erdbeben in Chili“ 155 Aber gerade in dieser Erfüllung aufgeklärter Forderung nach Sinngebung des offensichtlich Sinnlosen scheint sich die Aufklärung selbst ad absurdum zu führen: denn die Rechnung vom Glück weniger Einzelner auf Kosten vieler läßt sich so nicht aufmachen. Die Schlußfolgerung, die die Liebenden aus dem Geschehen ziehen, grenzt an Vermessenheit: denn ein namenloses Unglück vieler, wie es das Erdbeben mit sich gebracht hatte, kann, mit aufgeklärter Vernunft betrachtet, nicht das Glück einiger weniger rechtfertigen. Hier ist jede Verhältnismäßigkeit außer acht gelassen, wird das Geschehene auf groteske Weise zur Sinnhaftigkeit umgebogen und dem Erdbeben ein Zweck unterlegt, der ihm von Haus aus nicht innewohnen kann. Wiegt das Glück zweier Menschen tatsächlich das Unglück Tausender auf? Und ist nicht verräterisch, wenn hier als Wunder des Himmels erscheint, was zur Rettung beider geführt hatte? Denn Wunder waren in der aufgeklärten Weltinterpretation nicht vorgesehen – sie standen jenseits aller Vernünftigkeit. Hier hat sich, genau besehen, ein schrankenloser Subjektivismus eröffnet, und nur so war möglich, daß jemand sich auf Kosten des Elends der Welt glücklich fühlen konnte – vom Recht eines jeden Menschen, das Glück für sich einzufordern, ist nichts geblieben außer einem persönlichen Glücksanspruch, der nur durch das Unglück der Anderen zu erfüllen war. Glück nur als Glück des Einzelnen: das ist romantischer Solipsismus, ist gegen das Menschenverständnis der Aufklärung gesagt. Was wir in Kleists Geschichte vor uns haben, ist die Unabhängigkeitserklärung des Individuums, einiger Individuen. Ein altruistisches Denken gibt es hier nicht mehr, nicht mehr die Vorstellung, daß der Einzelne sich nicht „insuliren“ dürfe, wie Lessing das einmal genannt hat. Vereinseitigung und Außenseitertum waren im Denken des 18. Jahrhunderts nicht vorgesehen, es gab keine „Trennungen, wodurch die Menschen einander so fremd werden“, wie Lessing das auch gesagt hat; was immer dem Einzelnen geschah, geschah allen, und was allen geschah, spiegelte sich im Schicksal des Einzelnen. In Kleists Novelle hingegen meldet sich das zu Wort, was den Beginn der Moderne prägen wird: die neue Erfahrung der Subjektivität, die Erkenntnis, daß das Individuum nicht mehr fragloser Teil eines großen Ganzen sei, sondern seine eigene Welt. Die sichernden Netze einer Allgemeinheit, in der sich jeder für jeden verantwortlich fühlte, sind zerrissen: das zeichnet sich hier schon fast überdeutlich ab. Kann sich der Einzelne ausgliedern aus dem größeren Ganzen? Er kann es nicht. Die Überzeugung, 156 Kleists „Das Erdbeben in Chili“ daß das Unglück der Welt das Glück des Einzelnen bedeuten kann, verträgt sich nicht mit der Forderung, daß der Einzelne sich so verhalten müsse, daß sein Tun Vorbild für alle anderen sein könne. Wer so denkt wie die beiden durch das Erdbeben Geretteten, nimmt ein PrivatRecht für sich auf Kosten der Allgemeinheit in Anspruch, erklärt sich in grenzenloser Verkennung der Verantwortung gegenüber dem Ganzen als Individuum zum Herrn der Welt. Was zählt, ist hier nur noch das eigene Glück. Aber das darf nicht sein. Und so gesehen ist ihr Tod am Ende der Geschichte nicht ein grausamer Mord an Unschuldigen, die der Himmel selbst quasi freigesprochen hat, sondern die gerechte Quittung für eine egoistisch-subjektive Interpretation eines Weltunterganges zugunsten einer individuellen Glückserfahrung. Hier ist das Denken der Aufklärung, das alles auf Sinn und Zweck hin funktionalisiert hatte, ist auch die Glückserwartung des 18. Jahrhunderts mißbraucht, herabgewürdigt, zur nicht mehr zu rechtfertigenden Rechtfertigung des eigenen Überlebens geworden. Der Hybris folgt die Nemesis. Glück ist nicht möglich, wenn es das Unglück aller anderen ist. Nein, es darf nicht sein, daß die Menschheit zugrunde geht, um das Glück Einzelner zu ermöglichen; mögen sie darin nun eine wunderbare Rettung des Himmels sehen oder auch einen puren Zufall. Aber Zufälle gibt es nicht bei Kleist, oder besser: gibt es nicht in der aufgeklärten Weltordnung. Hier aber rechnen sich zwei zugute, was der Menschheit an Schrecken widerfahren ist. Das darf, nach aufgeklärtem Denken, nicht sein. Würde man diese Einstellung verallgemeinern, wäre die Welt letztlich beherrscht von schrankenlosem Egoismus. Natürlich könnte der Himmel das auch zulassen – aber er tut es in diesem Falle nicht. Und so ereilt denn Josephe und Jeronimo am Ende doch noch die Nemesis, auch wenn es eine blutige Rotte von Mördern ist, die das Urteil an ihnen schließlich vollstreckt. Nicht die Liebe im Klostergarten wird bestraft; bestraft wird ein Denken, das im schlechten Sinne schrankenlos geworden ist. Anders gesagt: so darf eine Naturkatastrophe nicht interpretiert werden, wie Josephe und Jeronimo das tun, und der Erzähler, der allmächtige, darf nicht zulassen, daß sie mit heiler Haut entkommen und sich in La Conception – der Name ist natürlich doppeldeutig – nach Spanien einschiffen, um „daselbst ihr glückliches Leben zu beschließen“. So leicht kommt in der Zeit der Aufklärung niemand davon. Kleists „Das Erdbeben in Chili“ 157 Die Interpretation des Weltgeschehens, wie sie Jeronimo und Josephe geben, ist Hybris und ist dem Geist des 18. Jahrhunderts alles andere als angemessen. Was in jener Zeit dem Einzelnen geschah, geschah der Allgemeinheit, das Besondere galt nur insoweit, als das Allgemeine sich darin spiegelte, und die Vorstellung, daß um des Glückes zweier Menschen willen die gesamte Welt ringsumher in Trümmer fallen mußte, hätte den, der so argumentiert hätte, wohl ins Tollhaus gebracht. Die moralisch legitimierte Weltordnung ließ keine Nischen, Aussonderungen oder Einzelvergünstigungen zu; die brüderlichmenschheitliche Gesinnung umfaßte jeden, und das bedeutete auch: Altruismus war eine selbstverständliche Forderung an jeden, das Wohlleben eines Einzelnen auf Kosten anderer in jedem Fall verwerflich. Eben dieser Grundsatz, der zu den Selbstverständlichkeiten des aufgeklärten Zeitalters gehörte, ist eindeutig verletzt. Kleist ist hier wie auch in seinen anderen Erzählungen ein aufgeklärter Moralist. Was Jeronimo und Josephe über das Unglück der Welt und über ihr eigenes Glück dachten, kündete eine neue Zeit an, in der das Allgemeine keine Rolle mehr spielte oder doch nur als Möglichkeit gesehen wurde, dem Einzelnen zum eigenen Glück zu verhelfen. Solch eine Welt konnte nicht Bestand haben – sie durfte auch nicht Bestand haben. Und so überlebten die, die zu überleben hofften, nicht – auf welche Weise sie auch zu Tode kamen, sie kamen zu Tode, und mit ihnen war ihre Hoffnung auf ein Privatglück ein für allemal begraben. Das Ende eines aufgeklärten Denkens, das Grenzen überschritten hatte, die nicht überschritten werden durften. Glück konnte eingefordert werden – aber nicht auf Kosten anderer. Und die ungeheuerlichen Dimensionen des Untergangs einer ganzen Stadt standen in keinem Verhältnis zum eingeforderten Glück zweier Einzelner. Das Aufklärungsdenken also auf absurde Weise mißbraucht, der Untergang vieler gerechtfertigt, ein Sinn in die Katastrophe hineinkonstruiert, der sich nur dann ergab, wenn man Ursache und Wirkung so sah, wie Josephe und Jeronimo: da war das aufgeklärte Denken geradezu an einen Abgrund geraten. Kein anderer als Kleist bestätigt diese Lesart. In seinem Aufsatz, den sichern Weg des Glücks zu finden, heißt es unmißverständlich: Wenn das Glück nur allein von äußeren Umständen, wenn es also vom Zufall abhinge, mein Freund, und wenn Sie mir auch davon tausend Beispiele aufführten; was mit der Güte und Weisheit Gottes streitet, kann nicht wahr sein. 158 Kleists „Das Erdbeben in Chili“ Der Gottheit liegen die Menschen alle gleich nahe am Herzen, nur der bei weiten kleinste Teil ist indes der vom Schicksal begünstigte, für den größten wären also die Genüsse des Glücks auf immer verloren. Nein, mein Freund, so ungerecht kann Gott nicht sein, es muß ein Glück geben, das sich von den äußeren Umständen trennen läßt, alle Menschen haben ja gleiche Ansprüche darauf, für alle muß es also in gleichem Grade möglich sein (302). Und es heißt noch einmal unmißverständlich: „Auch scheint es, als ob die Summe der glücklichen und der unglücklichen Zufälle im ganzen für jeden Menschen gleich bleibe; [...] wir werden unser Glück zum Teil in der Gründung des Glücks anderer finden, und andere bilden, wie wir bisher selbst gebildet worden sind“ (309f.). * Aber Kleists Erzählung ist ja nicht nur auf zwei Menschen hin orientiert, sondern hat die Gemeinschaft der Menschen in Chili, also die Gesellschaft, ebenfalls als Thema. Das Erdbeben hat nicht nur die Rettung der beiden Liebenden ermöglicht, sondern auch für wenige Stunden eine neuen Gesellschaft erstehen lassen, eben jene Gesellschaft im Tal, als ob es das Tal von Eden wäre. In jenem Tal stellt sich eine klassenlose Gesellschaft her, die der menschliche Geist der Hilfsbereitschaft, des Mitleids, der tätigen Nächstenliebe wie eine schöne Blume aufblühen läßt: die Menschheit als eine große Familie. Auch das war eine Folge des Erdbebens. Im Sinne unserer Deutung aber konnte sie keinen Bestand haben: da war etwas mißbraucht worden, was nicht hätte mißbraucht werden dürfen. Und so werden Jeronimo und Josephe noch einmal verurteilt, der „geschärfteste Prozeß“, den man Jeronimo und Josephe gemacht hatte, wird ihnen noch einmal gemacht, und zwar in der Predigt des Chorherrn, und die Enthauptung, zu der Josephe verurteilt worden war, wird durch den Keulenschlag des Schusters doch noch vollzogen; und nicht weniger entgeht Jeronimo seinem – selbstgesprochenen – Urteil. Die „ungeheure Wendung der Dinge“ in der Vorgeschichte wiederholt sich in der Geschichte selbst: wie sich das Geschehen damals langsam zugespitzt hatte, so gerät es hier erneut in einen Strudel, aus dem es kein Entkommen gibt. Der „rasende Haufen“ auf dem „erfüllten Vorplatz“ gleicht den Gefängnismauern, die nicht zu durchbrechen sind. Und so nimmt das Verhängnis denn doch noch seinen Lauf. Der Traum vom Einzelglück auf Kosten anderer ist ausge- Kleists „Das Erdbeben in Chili“ 159 träumt, auch der Menschheitstraum von einer neuen Gesellschaft, wie er nach der Erdbebenkatastrophe für kurze Zeit geträumt worden war. * Kleist hat mehrere Schilderungen von Erdbeben gekannt. Er dürfte Voltaires Bericht im 5. Kapitel seines Romans Candide oder der Optimismus (deutsch 1776) gelesen haben, auch Kants Geschichte und Naturbeschreibung der merkwürdigsten Vorfälle des Erdbebens, welches an dem Ende des 1755sten Jahres einen großen Theil der Erde erschüttert hat, von 1756. Kant hatte geschrieben: Alles, was die Einbildungskraft sich Schreckliches vorstellen kann, muß man zusammennehmen, um das Entsetzen sich einigermaßen vorzubilden, darin sich die Menschen befinden müssen, wenn die Erde unter ihren Füßen bewegt wird, wenn alles um sie her einstürzt, wenn ein in seinem Grunde bewegtes Wasser das Unglück durch Überströmungen vollkommen macht, wenn die Furcht des Todes, die Verzweifelung wegen des völligen Verlusts aller Güter, endlich der Anblick anderer Elenden den standhaftesten Mut niederschlagen. 10 Und hatte damals hinzugesetzt: Eine solche Erzählung würde rührend sein, sie würde, weil sie eine Wirkung auf das Herz hat, vielleicht auch eine auf die Besserung desselben haben können. Allein ich überlasse diese Geschichte geschickteren Händen. Ich beschreibe hier nur die Arbeit der Natur, die merkwürdigen natürlichen Umstände, die die schreckliche Begebenheit begleitet haben, und die Ursachen derselben. Kleist könnte sich entschlossen haben, diese „Geschichte“ zu schreiben, Kants Vorschlag also in die Wirklichkeit umzusetzen. Ihn dürfte vor allem interessiert haben, daß das Erdbeben, wie Kant sagte, auch eine Wirkung auf das Herz hat, auf die Besserung des Menschen hin erlebt wird. Aber es gab auch noch andere Erdbebenbeschreibungen, die Kleist wohl gekannt hat, auch wenn sie sich nicht auf das Erdbeben in Chili, sondern auf das große Lissaboner Erdbeben bezogen: so ein Buch mit dem Titel Beschreibung des Erdbebens, welches die Hauptstadt Lissabon und viele andere Städte [...] umgeworfen (Danzig 1756). Vielleicht hat er auch den Stoff aus einem Schauerroman mit dem Titel The Monk (1796; als Der Mönch, 1797) von Matthew G. Lewis benutzt: dort ist von der 10 Kant’s gesammelte Schriften (wie Anm. 4), Bd. I: Vorkritische Schriften I. 1747-1756, Berlin 1910, S. 434. 160 Kleists „Das Erdbeben in Chili“ Liebesgeschichte einer Nonne die Rede und einer Rebellion in einer Kirche. Das Erdbeben von Lissabon war ein Naturereignis gewesen, das vor allem die philosophische Auseinandersetzung um den Sinn eines Erdbebens beflügelt hatte. Voltaires Poème sur le désastre de Lisbonne löste eine große Diskussion aus; Rousseau hat sich mit seinem Brief an Herrn von Voltaire (deutsch 1779) daran beteiligt. Das Erdbeben von Lissabon machte einen Strich durch die Rechnung derer, die glaubten, daß diese Welt die beste aller möglichen Welten sei. Das hatte Leibniz behauptet in seinen Essais de théodicée sur la bonté de Dieu, la liberté de l’homme et l’origine du mal. Und der Aufklärungsglaube war nicht nur durch das Erdbeben von Lissabon erschüttert worden, sondern nicht weniger durch die Französische Revolution von 1789. Liest man Kleists Erzählung auch in diesem Sinne allegorisch, bekommt sie eine neue Dimension. Dafür spricht manches; es gab Zeitgenossen Kleists, die diese Revolution ebenfalls schon als Erdbeben beschrieben hatten. So hatte Wilhelm Heinse 1792 in sein Tagebuch notiert: „Das bürgerliche Gebäude befindet sich bis dato noch in einem Erdbeben; ein Stück fällt nach dem andern, und was neu gebaut wird, und worden ist, desgleichen. Alles muß dem Erdboden gleich gemacht werden; alles nackter Mensch werden“.11 Kritisch hatte Jean Paul in seinem Freiheits-Büchlein 1804 geschrieben: Das stumme Frankreich bekam plötzlich eine Zunge, wie der stumme Sohn des Krösus; nur anders, theils vor einem Morde des Vaterlands, theils zu einem eines Vaterlandsvaters. Aber desto schlimmer, wenn die ungestüme Nothwendigkeit spricht, nicht die lange sanfte Freiheit; wenn nicht der fromme Kirchner, sondern ein Erdbeben die Glocken läutet. 12 Das Erdbeben ist auch in Kleists Erzählung als Chiffre für die Französische Revolution zu deuten, gleichsam als Allegorie. Kleist war bekanntlich ein Kritiker der Französischen Revolution, oder genauer gesagt: er war ein Kritiker der Revolutionsfolgen. Was er im Juli 1801 in Paris erlebte, war alles andere als angetan, für das neue Frankreich Sympathie zu empfinden. Er schrieb am 18. Juli an Karoline von Schlieben: Wilhelm Heinse: Sämmtliche Werke, hg. von Carl Schüddekopf, Bd. 8/II: Aphorismen, hg. von Albert Leitzmann, Leipzig 1925, S. 426. 12 Jean Paul: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe, hg. von der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Bd. I/12: Freiheits-Büchlein, Weimar 1937, S. 38. 11 Kleists „Das Erdbeben in Chili“ 161 Seit 8 Tagen sind wir nun hier in Paris, und wenn ich Ihnen alles schreiben wollte, was ich in diesen Tagen sah und hörte und dachte und empfand, so würde das Papier nicht hinreichen, das auf meinem Tische liegt. Ich habe dem 14. Juli, dem Jahrestage der Zerstörung der Bastille beigewohnt, an welchem zugleich das Fest der wiedererrungenen Freiheit und das Friedensfest gefeiert ward. Wie solche Tage würdig begangen werden könnten, weiß ich nicht bestimmt; doch dies weiß ich, daß sie fast nicht unwürdiger begangen werden können, als dieser. Nicht als ob es an Obelisken und Triumphbogen und Dekorationen, und Illuminationen, und Feuerwerken und Luftbällen und Kanonaden gefehlt hätte, o behüte. Aber keine von allen Anstalten erinnerte an die Hauptgedanken, die Absicht, den Geist des Volks durch eine bis zum Ekel gehäufte Menge von Vergnügen zu zerstreuen, war überall herrschend […] (664). Und am 15. August 1801 an Wilhelmine von Zenge: Wohin das Schicksal diese Nation führen wird –? Gott weiß es. Sie ist reifer zum Untergange als irgend eine andere europäische Nation. Zuweilen, wenn ich die Bibliotheken ansehe, wo in prächtigen Sälen und in prächtigen Bänden die Werke Rousseaus, Helvetius’, Voltaires stehen, so denke ich, was haben sie genutzt? Hat ein einziges seinen Zweck erreicht? Haben sie das Rad aufhalten können, das unaufhaltsam stürzend seinem Abgrund entgegeneilt? 13 Kleists Kommentare sind eindeutig. Und im allegorischen Sinne eindeutig ist auch das, was seine Geschichte vom Erdbeben in Chili zu erzählen weiß. Wer das Erdbeben nur als Naturkatastrophe betrachtet, hat den allegorischen Charakter des Katastrophenberichts nicht erkannt. Das eigentliche Erdbeben fand in Paris statt, im Jahre 1789. Auch die Französische Revolution hatte zu den schönsten Hoffnungen Anlaß gegeben. Der Menschheitstraum als Traum des 18. Jahrhunderts von einer neuen Gesellschaft, in der wirklich Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit herrschen, schien lebendig zu werden. Es war die Gesellschaft, die ihn zerstörte. Einen Vizekönig von Chili gab es nicht mehr, der Erzbischof war erschlagen worden, nahezu alle Kirchen eingestürzt, auf den Feldern aber „Menschen von allen Ständen“, eine ideale Menschengesellschaft, die das allgemeine Unglück zu einer einzigen großen Familie gemacht hatte. Der „Umsturz aller Verhältnisse“ hatte zu einer „Summe des allgemeinen Wohlseins“ geführt, und im Tal, als ob es das Tal von Eden gewesen wäre, wird ein Gesellschaftstraum wahr: ein Ausnahmezu13 Ebd., S. 681. 162 Kleists „Das Erdbeben in Chili“ stand, ein erreichtes Ideal, die aufgeklärten Vorstellungen von einer freien Gesellschaft freier Menschen nach der Katastrophe verwirklicht. Aber was dann kommt, ist die Restauration; die zerstörerischen Kräfte, die die Welt vor dem Erdbeben beherrscht hatten, setzen sich wieder durch, und wenn der Prediger von Sodom und Gomorrha spricht und von den Fürsten der Hölle, dann weiß der aufmerksame Leser: Sodom und Gomorrha, das war nicht das Geschehen im Klostergarten, sondern Sodom und Gomorrha finden hier statt, in der Kathedrale, und die Fürsten der Hölle: hier sind sie versammelt. Es will nicht zufällig scheinen, daß die Zerstörung der schönen Idylle in der Kirche an einem Nachmittag beginnt und daß schließlich von der Finsternis der einbrechenden Nacht die Rede ist. Es ist die Nacht der Restauration, die böse Umkehr der Französischen Revolution. Damit war auch der Traum von der besten aller möglichen Welten ein für allemal ausgeträumt. Liest man in Kleists Politischen Schriften des Jahres 1809, was er über die Deutschen gesagt hat, dann wäre nicht undenkbar, daß er mit seiner Geschichte vom Erdbeben in Chili kurz zuvor ein warnendes Beispiel, was deutsche Verhältnisse angeht, hat aussprechen wollen. Im Katechismus der Deutschen werden jene gerühmt, die ihrer Freiheit wegen sterben und jene verdammt, die als Sklaven leben (360). Will er hier sagen, wie es um eine ideale Gesellschaft bestellt sein müßte? Die Einleitung zur Zeitschrift Germania spiegelt seinen ungebrochenen Patriotismus – Diese Zeitschrift soll der erste Atemzug der deutschen Freiheit sein. Sie soll alles aussprechen was, während der drei letzten, unter dem Druck der Franzosen, verseufzten Jahre, in den Brüsten wackerer Deutscher, hat verschwiegen bleiben müssen: alle Besorgnis, alle Hoffnung, alles Elend und alles Glück. […] Jetzt, oder niemals, ist es Zeit, den Deutschen zu sagen, was sie ihrerseits zu tun haben […] (375f.) Die Schrift Was gilt es in diesem Kriege?, von Kleist gedacht, um seine Landsleute zu einem Befreiungskrieg zu motivieren, beschwört ein Ideal der „Gemeinschaft“, wie es in diesen Jahren nicht selten vertreten wurde, unter anderem auch von Fichte und in anonymen antinapoleonischen Flugblättern und Propagandaschriften. Eine Gemeinschaft gilt es, deren Wurzeln tausendästig, einer Eiche gleich, in den Boden der Zeit eingreifen; deren Wipfel, Tugend und Sittlichkeit überschattend, an den silbernen Saum der Wolken rührt; deren Dasein durch das Dritteil eines Erdalters geheiligt worden ist. Eine Gemeinschaft, die, unbekannt mit dem Geist der Herrschsucht und der Eroberung, des Daseins und Kleists „Das Erdbeben in Chili“ 163 der Duldung so würdig ist, wie irgend eine; die ihren Ruhm nicht einmal denken kann, sie müßte denn den Ruhm zugleich und das Heil aller übrigen denken, die den Erdkreis bewohnen; deren ausgelassenster und ungeheuerster Gedanke noch, von Dichtern und Weisen, auf Flügeln der Einbildung erschwungen, Unterwerfung unter eine Weltregierung ist, die, in freier Wahl, von der Gesamtheit aller Brüder-Nationen, gesetzt wäre. Eine Gemeinschaft gilt es, deren Wahrhaftigkeit und Offenherzigkeit, gegen Freund und Feind gleich unerschütterlich geübt […] (378). Eine hochidealisierte Gemeinschaft als Wunschbild eines neuen Staates: die dem Menschengeschlecht nichts, in dem Wechsel der Dienstleistungen, schuldig geblieben ist; die den Völkern, ihren Brüdern und Nachbarn, für jede Kunst des Friedens, welche sie von ihnen erhielt, eine andere zurückgab; eine Gemeinschaft, die, an dem Obelisken der Zeiten, stets unter den Wackersten und Rüstigsten tätig gewesen ist: ja, die den Grundstein desselben gelegt hat, und vielleicht den Schlußblock darauf zu setzen, bestimmt war. […] Eine Gemeinschaft mithin gilt es, die dem ganzen Menschengeschlecht angehört. (378f.) Kleist hat in diesen kleinen politischen Schriften ein eigenes Pathos entwickelt. Sie sind Agitationsliteratur, gegen Frankreich gerichtet, aber vor allem auch auf die Deutschen gemünzt. Wenn man sich entschließt, Das Erdbeben in Chili politisch zu lesen, dann wird man folgern dürfen: nicht nur die Wirkungsgeschichte der Französischen Revolution, sondern auch der Weg in die Restauration ganz allgemein wird in Kleists Novelle beschrieben, während die kleine Lebensgemeinschaft in jenem Tal einerseits zwar ein Wunschbild bleibt, andererseits aber wenigstens entfernt auch das Wunschbild eines vereinten und freien Deutschland sein könnte. Und für solch eine politische Lesart spricht manches. Schiller, von dem Kleist so unendlich viel übernommen hat, war noch der Meinung gewesen, daß eine ästhetische Erziehung den schönen Staat, die reine Republik garantieren könne. Ungefähr zehn Jahr später hatte sich das als Illusion erwiesen. Die Folgen der Französischen Revolution hatten widerlegt, was die Revolution selbst als Möglichkeit hatte erscheinen lassen. Ein Menschheitstraum war ausgeträumt. Wir haben eine letzte Lücke zu schließen: wie paßt die Liebesgeschichte zur politischen Revolution? Gemeinsam ist ihnen, daß sie beide scheitern. Aber nicht allein das verbindet sie: in der Privatgeschichte scheitern die zunächst Davongekommenen, weil sie ihr Privatglück auf Kosten des Unglücks vieler erleben, und wir haben gesehen: das darf 164 Kleists „Das Erdbeben in Chili“ nicht sein. Die Französische Revolution scheiterte, weil sich auch dort Egoismus, der Geist der Herrschsucht und der Eroberung durchsetzten. Und der eigene Traum vom Glück? Auch Kleist hat ihn geträumt. Wie hatte es im Brief an seinen Lehrer Martini geheißen? „Ein Traum kann diese Sehnsucht nach Glück nicht sein, die von der Gottheit selbst so unauslöschlich in unserer Seele erweckt ist und durch welche sie unverkennbar auf ein für uns mögliches Glück hindeutet. Glücklich zu sein ist ja der erste aller unsrer Wünsche […]“ (477). Aber er wußte zu der Zeit, als die Erzählung vom Erdbeben in Chili entstand, auch schon um dessen Vergeblichkeit: Sein Lebenstraum war, wie der Menschheitstraum, ausgeträumt. Was blieb, was blieb Kleist selbst? Er wußte schon 1799: „Dem einen Ruhm, dem andern Vergessenheit, dem einen ein Szepter, dem andern ein Wanderstab!“ (478). Aber das Erdbeben hatte hier wenigstens einen Augenblick des Glücks beschert, jene „schönste Nacht“ ermöglicht, zeitlos und unwirklich, „wie nur ein Dichter davon träumen mag“ (149) – im Widerspruch zu allem, was vorher geschehen war und zu dem, was darauf noch geschehen sollte. „Das Leben nennt der Derwisch eine Reise/ Und eine kurze“ spricht der Prinz von Homburg, „Von zwei Spannen/ Diesseits der Erde nach zwei Spannen drunter“. Das Glück nur ein Dichtertraum, und nur ein kurzer. Auch er was ausgeträumt. Aber einmal war er geträumt worden. „Was ist Wahrheit“? fragt Pilatus. Er wußte es nicht. Aber es gibt ja auch eine Wahrheit der Träume. Daß sie irgendwann ausgeträumt sind, widerlegt sie nicht. K LE I S T S „ S C HN E L LE R S T I L “. Z U R M O D E RN I T Ä T S E I N E S S C H RE I B E N S Achilles hatte einen schlechten Tag. Als er sich Penthesilea zur Gefangenen machen will, hat er sich gräßlich verrechnet: seine Geliebte enthüllt sich als eine Mörderin. Die rasende Penthesilea hebt ihren Bogen auf, zielt und schießt, jagt ihm den Pfeil durch den Hals – aber damit nicht genug. Wir lesen: Jetzt gleichwohl lebt der Ärmste noch der Menschen, Den Pfeil, den weit vorragenden, im Nacken, Hebt er sich röchelnd auf, und überschlägt sich, Und hebt sich wiederum und will entfliehn; Doch, hetz! schon ruft sie: Tigris! hetz, Leäne! Hetz, Sphinx! Melampus! Dirke! Hetz, Hyrkaon! Und stürzt – stürzt mit der ganzen Meut, o Diana! Sich über ihn, und reißt – reißt ihn beim Helmbusch, Gleich einer Hündin, Hunden beigesellt.1 Sehr viel dramatischer kann ein Bericht über die Hetzjagd auf den zu Tode Verwundeten kaum ausfallen. Es war, wie wir etwas später zu unserer Verwunderung erfahren, gleichsam ein Mord aus Versehen. Der arglose Achill, der sich Penthesilea ergeben hatte und von ihr ermordet wurde, hat offenbar im Zustand unverantwortlichen Leichtsinns gehandelt, sie hingegen im Zustand der Unzurechnungsfähigkeit. Sie wird nachträglich über ihre Tat aufgeklärt, und sie entgegnet: Was! Ich? Ich hätt ihn –? Unter meinen Hunden –? Mit diesen kleinen Händen hätt ich ihn –? Und dieser Mund hier, den die Liebe schwellt –? Ach, zu ganz anderm Dienst gemacht, als ihn –! Die hätten, lustig stets einander helfend, Mund jetzt und Hand, und Hand und wieder Mund –?2 1 Heinrich von Kleist: Sämtliche Werke und Briefe, hg. von Helmut Sembdner, 2 Bde., München 71977 (= SW), Bd. 1, S. 413. 2 SW 1, S. 424f. 166 Kleists schneller Stil Ja, so war es. Penthesilea ist noch nicht recht davon überzeugt, daß das, was ihr vorgehalten wird, wirklich geschehen ist. Sie hält alles für Lüge, wundert sich, daß Achilles sich nicht gewehrt habe, bekommt als Erklärung, daß er sich ihr, weil er sie liebte, als Gefangener habe ergeben wollen, und dann folgt ein kurzer Wortwechsel zwischen Penthesilea, der Oberpriesterin und Prothoe: PENTHESILEA. So, so – DIE OBERPRIESTERIN. Du trafst ihn – PENTHESILEA. Ich zerriß ihn. PROTHOE. O meine Königin! PENTHESILEA. Oder war es anders? MEROE. Die Gräßliche! PENTHESILEA. Küßt ich ihn tot? DIE ERSTE PRIESTERIN. O Himmel! PENTHESILEA. Nicht? Küßt ich nicht? Zerrissen wirklich? sprecht? DIE OBERPRIESTERIN. Weh! Wehe! ruf ich dir. Verberge dich! Laß fürder ewge Mitternacht dich decken! PENTHESILEA. – So war es ein Versehen. Küsse, Bisse, Das reimt sich, und wer recht von Herzen liebt, Kann schon das eine für das andre greifen.3 Dann folgt die Szene an der Leiche des Achill: Penthesilea küßt ihn; weil sie der raschen Lippe Herr nicht sei, so habe sie sich bloß versprochen – jetzt aber sage sie ihm deutlich, wie sie es meine: „Dies, du Geliebter, wars, und weiter nichts“.4 Dann folgt das „Schafft sie hinweg!“ der Oberpriesterin, denn sie ist offensichtlich endgültig dem Irrsinn verfallen, und was die Dramatik des Folgenden angeht, so steht die der kurz rekapitulierten Szene zuvor nicht nach. Sie folgt Achilles in den Tod. Die Ereignisse überschlagen sich, oder besser: der Bericht über das Geschehen scheint sich zu überschlagen. In abgerissener Kürze wird berichtet, was da vorgegangen sein muß, und zur Beschleunigung des Ganzen trägt bei, daß wir zweimal hören, was geschehen ist: einmal als Bericht, dann quasi als Rechenschaftsbericht. Die Tat einer Wahnsinnigen offensichtlich, und wenn wir auch mitbekommen, was da passierte, so wirken beide Berichte doch eigentümlich lückenhaft; sie sparen aus, sind eigentlich eine Reihe von Bildeindrücken, so wie denn überhaupt 3 4 SW 1, S. 425. SW 1, S. 426. Kleists schneller Stil 167 das Visuelle überwiegt. Aber dieser Blick ist kein ruhiger Blick über das Geschehene hin; es geht in der Schilderung hochdramatisch zu, und das Ganze wird dadurch noch verwirrender, daß an den Bericht vom Mord der von der Hetzjagd der Meute angeschlossen wird, und was passiert, als die Hunde über Achill herfallen, wird in ganzen zweieinhalb Zeilen berichtet. Wir hören noch, daß die Hunde den rechten Teil der Brust zerreißen, Penthesilea den linken – und dann gibt es Brüche; Meroe überspringt, was danach geschah, berichtet in der folgenden Zeile erst wieder, daß Penthesilea Blut von Mund und Händen herabgeträuft sei, und dann kommt, was nur zu verständlich ist, eine „Pause voll Entsetzen“. Dies alles ist zweifellos das, was man als „schnellen Stil“ bezeichnen könnte. Es geht rasant zu in diesen sich wiederholenden Berichten, geradezu sprunghaft, auch wenn man nur beim genauen Lesen merkt, wieviel übersprungen ist; die Bilder drängeln sich beinahe ineinander, drohen sich zu überlagern – und wenn sie das nicht tun, so nur, weil der Bericht auf das Nacheinander verpflichtet ist, es sei denn, mehrere sprächen gleichzeitig oder so gut wie gleichzeitig – was hier und da auch geschieht, aber die Dramatik der Ereignisse nicht etwa bremst, sondern nur noch stärker befördert. Wir sehen uns einer Bildtechnik konfrontiert, die manchmal geradezu bruchstückhaft wirkt; abgerissene Wörter, verstümmelte Sätze, kaum etwas ins Einzelne ausgemalt, das Ganze eher ein Feuerwerk rhetorischer Raketen, dabei alles aufs äußerste verknappt: wir müssen einen Teil unserer Imagination und unserer Verständniskraft mitinvestieren, sonst bliebe das Geschehen in seinem inneren Zusammenhang auch für uns so brüchig und abrupt, wie das alles auf den ersten Blick zu lesen ist. Ob sich auch das Lesetempo angesichts des „schnellen Stils“ erhöht, läßt sich natürlich nicht sagen – aber dieser Text reizt zum schnellen Lesen, denn die Dynamik der Sätze teilt sich eigentlich unwillkürlich dem Leser (oder dem Hörer) mit, und man kann sich nicht vorstellen, daß das alles langsam gesprochen wäre. Unser Beispiel mag als erste und vorläufige Charakteristik einer nun allerdings hochdramatischen Szene dienen, und wollte man diesen Stil als „schnellen Stil“ Kleists charakterisieren, könnte man sofort einen Einwand erheben, der nur zu naheliegt: hier spreche oder schreibe der Dramatiker, der in seine Vorgänge Tempo hineinbringen möchte. Einen solchen Einwand kann man schlecht widerlegen, aber er beweist 168 Kleists schneller Stil auch noch nicht viel. Und sicherlich nicht das Gegenteil: daß der „schnelle Stil“ nichts anderes sei als der Normalstil eines Dramatikers, der von kriegerischen Vorgängen zu berichten habe, denn das kann man, wie Schillers Wallenstein mit dessen ewigem Zaudern und Zögern lehrt, auch ganz anders machen. Es kommt hinzu, daß die Dramatik der äußeren Vorgänge einer Seelendramatik entspricht, und betrachten wir diese, wird das abrupt, nur unzusammenhängend Berichtete, ja kaum Nachvollziehbare noch deutlicher – in welchem Ausmaß, dokumentieren die auf der Bühne Beteiligten selbst, denn sie verstehen so gut wie nichts mehr und halten für Wahnsinn, was sich als psychischer Reflex Penthesileas abspielt. Das ist es wohl auch, aber es wird kein Versuch einer Erklärung gemacht, sondern es bleibt bei der Beteuerung der Unverständlichkeit des Geschehens, und das alles gibt dem Ganzen noch mehr Rätsel auf, als der Zuschauer oder Leser im Augenblick zu lösen vermag – hinterher freilich wird ihm klar, was da vorgegangen sein muß. Aber es ist viel zu viel ausgespart, als daß er das im Taumel der Worte und Sätze sofort mitvollziehen könnte – es sei denn, er befleißige sich auch eines „schnellen Stiles“ beim Hören oder Lesen. Kurzum: mit den Erfordernissen einer dramatischen Sprache läßt sich das alles allein nicht erklären; hier ist jemand am Werk, der nur das Nötigste an Informationen gibt, der, mehr als das, die gleiche Geschichte zweimal, aus sehr unterschiedlichen Blickwinkeln, erzählt, der zugleich andeutet, daß da noch eine dritte Ebene ist, nämlich das Seelendrama, das dahinter abläuft – und so oft Kleist auch in den Vergleich verfällt, den man im Erzählstil einen epischen Vergleich zu nennen pflegt, so sind die Vergleiche doch meistens auf ein oder zwei Zeilen beschränkt, wirbeln gleichsam neue Farben auf, die in das Gemälde neue Vielfalt hineinbringen. Es bleibt schließlich als Ganzes der Eindruck eines außerordentlich rapiden Erzählens, eines sehr raschen Ablaufs von Bildern und Vorgängen, die gleichsam nur angedeutet werden; nichts wird zu Ende gebracht, keine Ausführlichkeit, schon gar nicht bei psychischen Reaktionen oder Intentionen: uns bleibt nur in Erinnerung, daß sie, Penthesilea, ihren Pfeil in den Hals des Achill geschossen hat und daß die Hunde, zusammen mit ihr, ihn zerreißen. Wir wollen Kleist dankbar sein, daß er letzteres nicht in aller Ausführlichkeit beschrieben hat. Das Bild der Penthesilea, der das Blut von Mund und Händen herabläuft, reicht aus. Kleists schneller Stil 169 Kleists Hermannsschlacht ist voll weiterer Beispiele für den „schnellen Stil“. Der Auftritt von Teuthold und den zwei anderen Männern im fünften Auftritt des vierten Aktes könnte es belegen. Es gibt eine Reihe anderer Szenen, die das gleiche demonstrieren. Der fünfte Auftritt des fünften Aktes etwa bietet ein rasches Gespräch zwischen Varus, dem ersten und dem zweiten Feldherrn. Es lautet: VARUS. Sieh da! ERSTER FELDHERR. Beim Jupiter, dem Gott der Welt! ZWEITER FELDHERR. Was war das? VARUS. Wo? ZWEITER FELDHERR. Hier, wo der Pfad sich kreuzet! VARUS. Saht ihr es auch, das sinnverrückte Weib? ERSTER FELDHERR. Das Weib? ZWEITER FELDHERR. Ob wirs gesehn? VARUS. Nicht? – Was wars sonst? Der Schein des Monds, der durch die Stämme fällt? ERSTER FELDHERR. Beim Orkus! Eine Hexe! Halt’ sie fest! Da schimmert die Laterne noch! VARUS niedergeschlagen. Laßt, laßt! Sie hat des Lebens Fittich mir Mit ihrer Zunge scharfem Stahl gelähmt!5 Das ist ein überaus rasches Frage- und Antwortspiel, die Zwischenfragen der Feldherren zerstören den Redefluß eines kontinuierlichen Berichtes, sie verunsichern alles, und der rhetorisch schnellen Bewegung entspricht am Schluß der kurzen Szene der Entschluß, der Hexe rasch nachzugehen und sie festzuhalten – eine Bewegung, die nur von Varus’ niedergeschlagenen Worten gestoppt wird: „Sie hat des Lebens Fittich mir/ Mit ihrer Zunge scharfem Stahl gelähmt!“. Schnelligkeit wird hier durch das rasche Gespräch erreicht, aber zugleich wird die Wirklichkeit diaphan: am Ende ist den Beteiligten unklar, ob es die Laterne der Hexe war oder der Schein des Mondes, der durch die Stämme fällt. Eines mag an dieser kleinen Szene besonders deutlich werden: daß ein schneller Stil häufig konform geht mit einer Auflösung der Wirklichkeit, mit einer Doppelbödigkeit, die dem Leser hier und da den festen Boden unter den Füßen wegzuziehen scheint. Alle Dramen Kleists sind voll von Beispielen des „schnellen Stils“. Zuweilen ist es schon die Mehrstimmigkeit, die in eine dramatische 5 SW 1, S. 604. 170 Kleists schneller Stil Handlung, in eine dramatische Situation Tempo hineinbringt. Dann werden die Satzgefüge aufgesprengt, und manche Szene wird so zu einem schnell geführten Verhör. Als Dorfrichter Adam im Zerbrochenen Krug vom Gerichtsrat Walter ermahnt wird, nicht vor der Session mit den Parteien zu sprechen, da ist er nicht bei der Sache, sondern denkt an die verlorengegangene Perücke. Schreiber Licht schreckt ihn auf und fragt ihn: „Herr Richter! Seid Ihr –?“ – und Adam entgegnet: LICHT. ADAM: LICHT. ADAM. LICHT. ADAM. LICHT. Ich? Auf Ehre nicht! Ich hatte sie behutsam drauf gehängt, Und müßt ein Ochs gewesen sein – Was? Was? Ich fragte – ! Ihr fragtet, ob ich – ? Ob Ihr taub seid, fragt ich. Dort Seiner Gnaden haben Euch gerufen. Ich glaubte – ! Wer ruft? Der Herr Gerichtsrat dort.6 Was sich vordergründig als Zustand der Verwirrtheit bei Dorfrichter Adam abzeichnet, enthüllt sich bei näherem Zusehen als sprachlich hochartistisches Spiel, das auf Beschleunigung des dramatischen Vorgangs aus ist. Die Sätze sind reduziert auf einzelne Wörter, aber es ist nicht in erster Linie das zerstreute Unverständnis des Dorfrichters, das hier an den Pranger gestellt werden soll, es ist die Beschleunigung der Sprache in dem Augenblick, als der Vorgang selbst ins Zögern zu geraten scheint, weil Dorfrichter Adam nicht bei der Sache ist. Der kurze Dialog gewinnt noch dadurch an Schnelligkeit, daß mit Wiederholungen gespielt wird. Auf das fragende „Was?“ von Schreiber Licht antwortet Adam seinerseits mit einem fragenden „Was?“, und auf Lichts Antwort „Ich fragte“ entgegnet Adam „Ihr fragtet, ob ich – ?“. Daraus zu schließen, daß sich das Spiel verlangsame, wäre irrig; die Verdoppelungen verdoppeln gleichsam auch das szenische Tempo, zumal Schreiber Licht alles daransetzt, Dorfrichter Adam aus seinen wirren Rückerinnerungen aufzurütteln. Der Stil wirkt um so schneller, als zuvor Ge6 SW 1, S. 196. Kleists schneller Stil 171 richtsrat Walter nicht in Abbreviaturen spricht, sondern in einem zwar nicht sonderlich kunstvollen, aber doch ausgewogenen, klaren Satzgefüge. Das Ineinanderstolpern kurzer Ausrufe folgt noch mehrfach in diesem Drama, etwa dort, wo Frau Marthe aufgefordert wird, sich vor dem Dorfrichter zu legitimieren – und das „Wes Namens, Standes, Wohnorts, und so weiter.“ von vornherein ad absurdum geführt wird durch das „Wer seid Ihr?“ des Dorfrichters und das scheinbare Unverständnis der Frau Marthe, die „Wer – ?“ entgegnet, worauf Adam wiederum sagt: „Ihr“ und Frau Marthe erneut: „Wer ich – ?“ und Adam dann dieses kleine Rätsel des „Wer“ und „Ihr“ und „Wer ich“ auflöst in ein „Wer Ihr seid!“.7 Auch das verzögert nicht; diese Persiflage auf das wohlgeordnete Ausfragen von Amts wegen bringt vielmehr ein Beschleunigungsmoment in die Verhörsituation, wie es sonst schwerlich zu erreichen gewesen wäre. Im novellistischen Bereich gibt es Vergleichbares. Ein bekanntes Beispiel: Das Erdbeben in Chili. Jeronimo steht an einem Wandpfeiler und befestigt den Strick, mit dem er sich aufhängen will, an einer Eisenklammer im Gesimse, als plötzlich der größte Teil der Stadt mit einem Gekrache einstürzt, als ob das Firmament zugrunde gehen wolle: Jeronimo Rugera war starr vor Entsetzen; und gleich als ob sein ganzes Bewußtsein zerschmettert worden wäre, hielt er sich jetzt an dem Pfeiler, an welchem er hatte sterben wollen, um nicht umzufallen. Der Boden wankte unter seinen Füßen, alle Wände des Gefängnisses rissen, der ganze Bau neigte sich, nach der Straße zu einzustürzen, und nur der, seinem langsamen Fall begegnende, Fall des gegenüberstehenden Gebäudes verhinderte, durch eine zufällige Wölbung, die gänzliche Zubodenstreckung desselben. Zitternd, mit sträubenden Haaren, und Knieen, die unter ihm brechen wollten, glitt Jeronimo über den schiefgesenkten Fußboden hinweg, der Öffnung zu, die der Zusammenschlag beider Häuser in die vordere Wand des Gefängnisses eingerissen hatte.8 Da wird zwar kohärent erzählt, aber was passiert, der Untergang einer ganzen Stadt, wird in drei Sätzen berichtet. Die sind von einiger Länge, doch man wird nicht sagen können, daß Kleist in Einzelheiten ginge. Was wir lesen, ist die Beschreibung einer sich akzelerierenden Bewegung, oder genauer: es sind zwei Bewegungen, nämlich die der beiden einstürzenden Wände aufeinander zu, und wenn sich das auch als 7 8 SW 1, S. 197. SW 2, S. 145f. 172 Kleists schneller Stil „langsamer Fall“ vollzogen hat, so wird es doch so erzählt, daß wir im nächsten Satz bereits der Flucht des Jeronimo folgen. Wir lesen auch nur vom gegenseitigen Fall der Mauern: wir hören nichts von den Geräuschen, erfahren nichts von der Staubwolke, erblicken nichts von herabstürzenden einzelnen Steinen, bekommen nichts gesagt über den Neigungswinkel der einander gleichsam stützenden, abstützenden Mauern, und wenn sich der Untergang dieser Welt auch in syntaktisch wohlgeordneten Sätzen vollzieht: wir wissen nur Bruchstückhaftes. Wie es draußen in der Stadt aussieht, hören wir freilich auch: Hier stürzte noch ein Haus zusammen, und jagte ihn, die Trümmer weit umherschleudernd, in eine Nebenstraße; hier leckte die Flamme schon, in Dampfwolken blitzend, aus allen Giebeln, und trieb ihn schreckenvoll in eine andere; hier wälzte sich, aus seinem Gestade gehoben, der Mapochofluß auf ihn heran, und riß ihn brüllend in eine dritte. Hier lag ein Haufen Erschlagener, hier ächzte noch eine Stimme unter dem Schutte, hier schrieen Leute von brennenden Dächern herab, hier kämpften Menschen und Tiere mit den Wellen, hier war ein mutiger Retter bemüht, zu helfen; hier stand ein anderer, bleich wie der Tod, und streckte sprachlos zitternde Hände zum Himmel. 9 Eine rasante Bildfolge, wiederum eine Art erzählerischer Fetzentechnik, Eindruck neben Eindruck gesetzt, unverbunden alles, Momentaufnahmen, gleichsam ein suggestiver Impressionismus, der sich da breitmacht. Das ist ebenfalls „schneller Stil“, ein Stil ohne erzählerische Reflexion oder irgendeinen Versuch der Sinngebung. Der Blick geht rundum: am Ende haben wir so etwas wie eine Totale, aber eine aus unterschiedlichen, inkohärenten Eindrücken. Sie ergeben ein fragmentarisches Ganzes – und Kleist braucht einen einzigen Satz, um das Chaos, das sich so vielfältig in Einzelbildern präsentiert, einzufangen. Natürlich mag das ein besonders prägnantes Beispiel sein – aber nahezu in jeder Geschichte finden sich vergleichbare Schnelligkeiten im Erzählen, spüren wir etwas von der Atemlosigkeit, mit der hier berichtet wird, wird gleichsam ohne Punkt und Komma erzählt, obwohl wir ja wissen, daß Kleist reichlichen Gebrauch davon macht, das Semikolon eingeschlossen. Der „schnelle Stil“ prägt freilich nicht alles – Idyllisches wird in der Regel langsam erzählt. Aber umso rascher laufen die „schnellen“ Erzählpartien ab. 9 SW 2, S. 146. Kleists schneller Stil 173 Alles das gilt gesteigert für einige Anekdoten. Das mag insofern auf den ersten Blick hin verständlich sein, als ja wenig Erzählraum zur Verfügung steht, Vorgänge also gerafft werden müssen, Handlungsabläufe oft nur skizziert werden können. Aber in manchen Anekdoten ist die Zeit geradezu thematisiert, so etwa in der Anekdote aus dem letzten preußischen Kriege. Der einzelne preußische Reiter, abgeschnitten von seiner Armee und das Dorf fast schon von den Franzosen umzingelt, verlangt nach einem Glas Branntewein und bekommt dort schon gesagt: „will er machen, Freund, daß er wegkömmt?“.10 Retardierende Momente kommen ins Spiel, wenn der Reiter erklärt, daß er den ganzen Tag noch nichts genossen habe, aber immer noch nicht weiterreitet, als er eine ganze Flasche Danziger bekommt. Die Zeit, die er zur Flucht noch zur Verfügung hat, läuft immer rascher aus, und er bestätigt das noch, wenn er sagt: „denn ich habe keine Zeit!“. Der Reiter trinkt den Branntwein gegen die verrinnende Zeit, ein zweites und ein drittes Mal, und als er dann wirklich aufs dringlichste genötigt wird, doch endlich loszureiten, verlangt er noch Feuer für seinen Pfeifenstummel. Als die Franzosen ihn dann tatsächlich umzingelt haben, da übersetzt sich die im Dialog so sichtbarlich-rasch verfließende Zeit in Handlung, und die Anekdote endet mit einem langen Satz: „Bassa Manelka!“ ruft der Kerl, und gibt seinem Pferde die Sporen und sprengt auf sie ein; spengt, so wahr Gott lebt, auf sie ein, und greift sie, als ob er das ganze Hohenlohische Korps hinter sich hätte, an; dergestalt, daß, da die Chasseurs, ungewiß, ob nicht noch mehr Deutsche im Dorf sein mögen, einen Augenblick, wider ihre Gewohnheit, stutzen, er, mein Seel, ehe man noch eine Hand umkehrt, alle drei vom Sattel haut, die Pferde, die auf dem Platz herumlaufen, aufgreift, damit bei mir vorbeisprengt, und: „Bassa Teremtetem!“ ruft, und: „Sieht er wohl, Herr Wirt?“ und „Adies!“ und „auf Wiedersehn!“ und: „hoho! hoho! hoho!“– –.11 Das Tempo der Zeit spiegelt sich, bei aller syntaktischen Wohlorganisiertheit, gleichsam in der Zerrissenheit des Satzes, der die sich geradezu überstürzende Handlung auf direkte Weise im „schnellen Stil“ dieser Anekdote ausdrückt. * 10 11 SW 2, S. 264. SW 2, S. 265. 174 Kleists schneller Stil „Schneller Stil“ ist kein terminus technicus der Kleist-Forschung. Aber er ist ein Begriff aus der Zeit Kleists. Er begegnet etwa bei Leopardi, der fast noch sein Zeitgenosse ist, in dessen Zibaldone, unter dem 3. November 1821:12 da ist von der „rapidità“ und der „concisione“ die Rede, also von der Schnelligkeit und Präzision des Stils; Leopardi spricht sich bewundernd dafür aus, weil der Seele damit eine Fülle von gleichzeitigen oder so rasch aufeinander folgenden Ideen präsentiert werde, daß sie simultan wirken. Das Übermaß von Gedanken oder von Bildern und gleichzeitigen Empfindungen lasse die Seele schwanken, sie könne sie kaum alle erfassen und das Einzelne selten völlig ausschöpfen, aber die Geschwindigkeit des Erzählens zeuge von Lebendigkeit und Energie. Das Erregen simultaner Ideen, so schreibt Leopardi, könne durch ein einzelnes Wort, von einer Gruppe von Wörtern oder von einem Satzbogen bewirkt werden, aber es könnten auch Wörter oder Sätze unterdrückt werden, um diesen Effekt zu erreichen. Er hat ein Beispiel, das weit zurückreicht: Horaz. Der schreibe einen „sehr schnellen Stil“, einen Stil voller Bilder. Dort sei die Seele in dauernder und lebhafter Bewegung, Horaz lenke brüsk von einer Idee auf eine andere, die oft weit weg sei, und Leopardi bemerkt dazu: „Das Denken hat viel zu tun, um alles zu erreichen“. Das ist für Leopardi ein kraftvoller Stil, kraftvoll deswegen, weil in den Inversionen und Sprüngen und in der Kühnheit des Satzbaus Leben und Engagement geradezu fühlbar würden. Das Gegenbeispiel: Ovid, ein schwacher Stilist, weil die Bilder aus einer Menge von Wörtern und Versen bestehen, die das, was gezeigt werden soll, nur in langen Umschweifen hervorrufen und die deshalb nichts von Gleichzeitigkeit haben. Das ist nicht etwa antiquarische Philologie. Italo Calvino hat in seiner zweiten Vorlesung der Lezioni americane auch von „rapidità“ des Stils gesprochen; die Sei proposte per il prossimo millennio13 wurden postum erstmals im Mai 1988 veröffentlicht. In einem gut erzählten Text, so Calvino, gebe es ein Netz von unsichtbaren Beziehungen; Ereignisse seien gleichsam punktförmig und unabhängig von ihrer wirklichen 12 Giacomo Leopardi: Zibaldone di Pensieri. Edizione critica e annotata a cura di G. Pacella, Milano 1991. In der traditionellen Seitenzählung des Manuskripts Zib. 20412043, 2049-2057 von Anfang November 1821 mit Nachtrag vom 9. Dezember 1821 in Zib 2239. 13 Italo Calvino: Lezioni americane. Sei proposte per il prossimo millennio, Milano 1995, in: Saggi 1945-1985, Bd. 1, S. 656-676. Kleists schneller Stil 175 Dauer im Erzählen miteinander verbunden: das Zickzack des Erzählens führe zu einer unaufhaltsamen Bewegung; diese rufe schließlich den Eindruck von Unabwendbarkeit hervor. Wie im Märchen gebe es zwar gelegentlich auch Wiederholungen, die in der Prosa gleichsam einen Reimeffekt bewirkten. Doch auch im Märchen seien Sprünge, die nicht begründet würden; alles diene schließlich der rapidità, der Proliferation, der „velocità mentale“.14 Das Gegenbeispiel: ein Erzähler mit Digressionen, einer, der das festina lente beherzige. Sternes Tristram Shandy ist das Allerweltsexempel, das einen Gegentypus verkörpert: das umständliche Abschweifen und immer wieder in Seitenwege sich verlagernde Erzählen, das nichts unbesprochen läßt, alles im Übermaß motiviert, erklärt, begründet, wo also sozusagen nichts verlorengeht, und wir wissen, wohin das führt: zu einem Auf-der-Stelle-Treten des Erzählens, weil die Vor- und Rückblicke, die noch hinzukommen, das verhindern, was bei Calvino „velocità“ heißt und bei Leopardi „rapidità“. Kurz vor Leopardi begegnet das Phänomen „rapidità dello … stile“ übrigens auch bei Ugo Foscolo (und, weit davor, als „style […] rapide“ bei Boileau, dort freilich in anderem Sinne).15 Einige Mißverständnisse könnten sich auftun und sollen von vornherein abgewehrt werden. Ein „schneller Stil“: das bedeutet nicht, daß es ein syntaktisches Durcheinander gibt, spricht also nicht für abgerissene Satzteile oder für ein Übermaß an Elisionen. Wir wissen, wie lang und gleichzeitig wie wohlgebaut Kleists Sätze sind, zumindest im Bereich der Literatur, und der „schnelle Stil“ darf also keineswegs mit der Technik der „Seelensprache“ etwa von Sturm und Drang-Autoren verwechselt werden. Kleists Stil ist noch von den kunstvollen Satzgefügen der Aufklärungszeit mitgeprägt, die Diktion von Schillers ästhetischen Schriften läßt sich unschwer aus den langen Satzperioden heraushören. Für Kleist ist charakteristisch, daß unendlich viel in einen Satz hineingepackt werden kann, oder vielmehr: daß ganze Ketten von Beobachtungen, von Abläufen, von Bildern sich in ein einziges Satzgebilde fügen können. Die Dynamik des Erzählens ist denn auch nicht eine syntaktisch begründete, sondern zeigt sich in der außerordentlich schnellen Abfolge von Eindrücken, Vorgängen, Geräuschen, was freilich seltener vorkommt, und von Gedanken, weniger von Gefühlen. Anders gesagt: Ebd., S. 665. Ich verdanke diesen Hinweis auf Foscolo und Boileau Reinhard Pabst, Frankfurt am Main. 14 15 176 Kleists schneller Stil es geschieht mehr in einem Kleistschen Satz als in Sätzen anderer Erzählungen anderer Autoren aus dem gleichen Zeitraum, und eben das vermittelt den Eindruck der Schnelligkeit. Der „schnelle Stil“ ist also nicht so sehr eine Sache des erzählerischen Aktionismus, sondern es wird, durchaus in komplizierten Satzgebilden, eine Fülle von oft scheinbar zusammenhanglosen Einzelheiten mitgeteilt. Der „schnelle Stil“ schließt im übrigen nicht aus, daß auf begründete Weise erzählt wird, d. h.: daß Kleist nicht darauf verzichtet, Ursache und Wirkung zu nennen. In der Verlobung in St. Domingo lesen wir, nachdem wir von der Ankunft des Fremden im Hause des Congo Hoango in einer stürmischen und regnigten Nacht gehört haben, folgenden Satz: Inzwischen war auf das Gebell einiger Hofhunde ein Knabe, namens Nanky, den Hoango auf unehelichem Wege mit einer Negerin erzeugt hatte, und der mit seinem Bruder Seppy in den Nebengebäuden schlief, erwacht; und da er beim Schein des Mondes einen einzelnen Mann auf der hinteren Treppe des Hauses stehen sah: so eilte er sogleich, wie er in solchen Fällen angewiesen war, nach dem Hoftor, durch welches derselbe hereingekommen war, um es zu verschließen.16 Ein kleines Netz von Ursache und Folge ist hier in den Satz eingespannt: wenn die Hunde nicht gebellt hätten, wäre Nanky nicht wach geworden. Und wenn er nicht den einzelnen Mann gesehen hätte, wäre er nicht zum Hoftor geeilt, um es zu verschließen. Wer die Geschichte zu Ende liest, weiß, daß der Knabe Seppy, der hier scheinbar zusammenhanglos eingeführt wird, noch seine erzählerische Rolle spielen wird, da er ja als Geisel dient. Gedrängte Wirklichkeit wird auf höchst gedrängte Weise erzählt, natürlich auch anderswo. Nach dem Kampf im Hause des Hoango tritt Toni mit dem Knaben Seppy auf dem Arm an der Hand Herrn Strömlis in das Zimmer, und wir hören: Gustav wechselte bei diesem Anblick die Farbe; er hielt sich, indem er aufstand, als ob er umsinken wollte, an den Leibern der Freunde fest; und ehe die Jünglinge noch wußten, was er mit dem Pistol, das er ihnen jetzt aus der Hand nahm, anfangen wollte: drückte er dasselbe schon, knirschend vor Wut, gegen Toni ab. Der Schuß war ihr mitten durch die Brust gegangen; und da sie, mit einem gebrochenen Laut des Schmerzes, noch einige Schritte gegen ihn tat, und sodann, indem sie den Knaben an Herrn Strömli gab, vor ihm niedersank: 16 SW 2, S. 162f. Kleists schneller Stil 177 schleuderte er das Pistol über sie, stieß sie mit dem Fuß von sich, und warf sich, indem er sie eine Hure nannte, wieder auf das Bette nieder.17 Zwei Sätze, in denen außerordentlich viel passiert. Gustav handelt, ehe die Jünglinge ahnen, was mit der Pistole geschieht, er drückt sie blind vor Wut gegen Toni ab – und dann heißt es: „Der Schuß war ihr mitten durch die Brust gegangen“. Dazwischen ist zwar nicht sehr viel, aber doch ein Bruchteil von Zeit vergangen, und der plötzliche Wechsel vom Imperfekt zum Plusquamperfekt und wieder zurück zum Imperfekt zeigt, daß da etwas ausgespart worden ist, ohne daß der Fluß des Erzählens gestoppt worden wäre, und anschließend haben wir es mit der Gleichzeitigkeit von Vorgängen zu tun: während Toni noch einige Schritte auf Gustav zugeht und vor ihm hinsinkt, schleudert er, im selben Augenblick, die Pistole über sie und stößt sie mit dem Fuß von sich. Kleist ist natürlich an das Nacheinander des Erzählens gebunden, aber die Gleichzeitigkeit der Vorgänge könnte nicht besser zum Ausdruck gebracht werden, und auch darin, sozusagen im Aufheben der Konsekutivzeit des Erzählens, wird ein weiteres Mittel des „schnellen Stils“ sichtbar, so wie die Kausalitätsverhältnisse in jenem Satz, in dem die Hofhunde bellen und damit eigentlich alles weitere auslösen, auch eine der Möglichkeiten sind, den „schnellen Stil“ zu verwirklichen. Die Vorgänge durchkreuzen, überschneiden sich gleichsam. Eine dritte Möglichkeit, den Stil zu beschleunigen, soll noch erwähnt werden. Das sind die Vergleiche. Wer je, um ein unzeitgemäßes, aber extremes Gegenbeispiel zu nennen, die langatmigen epischen Vergleiche eines Milton in seinem Paradise Lost, die sich über zwanzig, dreißig Zeilen hinziehen können, gelesen hat, der weiß, daß ein Vergleich eigentlich zum Mittel des digressiven Erzählens gehört, daß er einen Text nicht schlank macht, sondern ihn aufschwellt, aber bei Kleist ist das anders. Im Prinzen von Homburg, so wissen wir, werden ihm am Ende die Augen verbunden, dann wird er durch das untere Gartengitter geführt, und während man in der Ferne Trommeln des Totenmarsches hört, spricht er seine Verse: Nun, o Unsterblichkeit, bist du ganz mein! Du strahlst mir, durch die Binde meiner Augen, Mir Glanz der tausendfachen Sonne zu! Es wachsen Flügel mir an beiden Schultern, 17 SW 2, S. 192. 178 Kleists schneller Stil Durch stille Ätherräume schwingt mein Geist; Und wie ein Schiff, vom Hauch des Winds entführt, Die muntre Hafenstadt versinken sieht, So geht mir dämmernd alles Leben unter: Jetzt unterscheid ich Farben noch und Formen, Und jetzt liegt Nebel alles unter mir.18 Während Homburg äußerlich nichts sieht, sieht er mit seinen inneren Augen dennoch etwas, und während sich sein Geist „durch stille Ätherräume schwingt“, wird das Schiff vom Wind entführt und versinkt die muntere Hafenstadt. Da sind mindestens drei Vorgänge parallelisiert, ins Nebeneinander gebracht: die geistigen Flüge durch die Ätherräume, das Schiff, das sich entfernt, die Hafenstadt, die versinkt. Zu den drei Vorgängen, die, so gut es die Sprache überhaupt erlaubt, als gleichzeitige Vorgänge erscheinen, kommen noch Zeitverschränkungen. Die letzten beiden Zeilen Jetzt unterscheid ich Farben noch und Formen, Und jetzt liegt Nebel alles unter mir. deuten an, daß es da schon ein Nacheinander gibt, aber das ist aufs äußerste zusammengeschrumpft. Es sind zwei Augenblicke, die einander abrupt abwechseln, auf das eine Jetzt folgt sofort das andere Jetzt. Kleist hat darauf verzichtet, ein Nacheinander darzustellen, sondern beschreibt diese beiden Augen-Blicke – sie sind es im wörtlichsten Sinne – unmittelbar als fast gleichzeitige, so daß die Fahrt in den Äther dem, dessen Augen zugebunden sind, unerhört beschleunigt erscheint. Er kann noch Farben und Formen unterscheiden – „und jetzt“, nahezu im gleichen Augenblick, liegt das alles als Nebel unter ihm. Schneller hinauf geht es nicht – schneller kann dieser Höhenflug auch gar nicht beschrieben werden. Mit Impressionismus hat das nichts zu tun, wohl aber mit der rapidità des Stils, mit dem, was bei Leopardi, dem fast noch Zeitgenossen, das Erregen simultaner Ideen genannt ist, mit der Schnelligkeit und der Präzision des Stils. * Woher begründet sich der „schnelle Stil“ bei Kleist? Es ist der Stil eines raffenden Darstellens, und es kommt einem irgendwann der Verdacht, daß dieser Stil mit einer Erfahrung zu tun haben könnte, die die Epo18 SW 1, S. 707. Kleists schneller Stil 179 che um 1800 und kurz danach entscheidend mitgeprägt hat: die Erfahrung einer ungewöhnlichen Beschleunigung der Zeit. Wir haben mannigfache Zeugnisse darüber, daß die Zeit anders erfahren wurde, daß sie kurz nach 1800 schneller verflog, und das Erlebnis einer beschleunigten Zeit war auch die Erfahrung einer gleichsam beschleunigten Realität. Möglicherweise ist diese veränderte Zeiterfahrung nur eine Sekundärerfahrung, und sie könnte sich begründet sehen in jenem Urerlebnis der Moderne, nämlich der Französischen Revolution, also in dem Wissen um die plötzliche, rasche Veränderbarkeit der Dinge und damit um ein an dem des 18. Jahrhunderts gemessenes instabil gewordenes Zeitbewußtsein. Die Uhren laufen einfach schneller. Es ist kein Zufall, daß das Uhrensymbol so häufig in Texten der Romantiker auftaucht, daß die angehaltenen Uhren, die stehengebliebenen Uhren für die alte Zeit stehen, für Unveränderlichkeit, Überlebtheit, Lebensabgewandtheit. Die Inschrift auf der Schuluhr in Recanati, dem Geburtsort Leopardis, bringt das veränderte Zeitbewußtsein gleichsam in eine Formel, die die Zeiterfahrung des frühen 19. Jahrhunderts einfängt: „volat irreparabile tempus“. Wenig später wird dann die Technik dem brüchig gewordenen Zeitbewußtsein noch weitere Risse und Sprünge versetzen. Eichendorff hat in einem Vorwort zu dem Textkonvolut Aus den Papieren eines Einsiedlers die Dampffahrten auf der Eisenbahn in komischer Verzweiflung als wahre Foltern dargestellt: Diese Dampffahrten rütteln die Welt, die eigentlich nur noch aus Bahnhöfen besteht, unermüdlich durcheinander wie ein Kaleidoscop, wo die vorüberjagenden Landschaften, ehe man noch irgend eine Physiognomie gefaßt, immer neue Gesichter schneiden, der fliegende Salon immer andere Sozietäten bildet, bevor man noch die alten recht überwunden. 19 Überall herrsche so große Eilfertigkeit, daß man vor lauter Eile mit nichts fertig werden könne, so kommentiert er das aufkommende technische Zeitalter mit seinen Beschleunigungserlebnissen eigener Art. Und Chamisso wird noch wenig später in seinem Gedicht Das Dampfroß die Beschleunigung der Zeit, mittels Technik erreichbar, satirisch aufs Korn nehmen, wenn er im Dampfroß, „Muster der Schnelligkeit“, ein 19 Joseph von Eichendorff: Vorwort. <Aus den Papieren eines Einsiedlers> 1841-1856, in: Bd. V/4: Erzählungen. Autobiographische Fragmente. Text und Kommentar, hg. von Dietmar Kunisch, Tübingen 1998, S. 88 (= Sämtliche Werke des Freiherrn Joseph von Eichendorff. Historisch-Kritische Ausgabe, begründet von Wilhelm Kosch und August Sauer, fortgeführt von Hermann Kunisch (†) und Helmut Koopmann). 180 Kleists schneller Stil Instrument sieht, das die laufende Zeit hinter sich läßt. Das Dampfroß überholt sich schließlich selbst, denn zu seiner Fähigkeit gehört das, was Chamisso in zwei Zeilen steckt: Und nimmt’s zur Stunde nach Westen den Lauf, Kommt’s gestern von Osten schon wieder herauf.20 – und so wird die Zeit schließlich rückwärts gedreht, bis der Großvater als glücklicher Bräutigam erscheint, und in einer Art umfunktionierter Zeitmaschine sucht der Held des Gedichtes Napoleon erst auf Helena und dann beim Krönungsfest. Bei Kleist ist davon natürlich noch nichts zu merken, aber von modernen Maschinen, die den Raum spielend überwinden und damit auch die Zeit verkürzen, findet sich gelegentlich schon etwas, so in den Berichten über die verschiedenen Ballonreisen. Kleists Zeitbewußtsein scheint irgendwo zwischen den Veränderungen, die die Französische Revolution auslöste, und den technischen Veränderungen der folgenden Jahrzehnte angesiedelt zu sein; von statischen Verhältnissen kann bei ihm nicht mehr die Rede sein, weder in seinem Wirklichkeitsverständnis noch in seinem Zeitbewußtsein. Und sein „schneller Stil“ läßt erkennen, daß er gewiß nicht das ist, was die Jungdeutschen später als „Stabilitätsnarren“ verhöhnten. Im übrigen hat Kleist von der Mobilitätserfahrung der Moderne, die durch das Reisen schon zu seiner Zeit befördert wurde, bereits einiges mitbekommen, oder vielmehr: die Schnelligkeit des Reisens kristallisiert sich auch bei ihm als neue Erfahrung aus. Wir können das seinen Reisebriefen hier und da entnehmen. Am 5. September 1800 schreibt er an Wilhelmine von Zenge: „Was das Reisen hier schnell geht, das glaubst Du gar nicht. Oder ist es die Zeit, die so schnell verstreicht?“.21 Die Zeit verstrich in der Tat schnell, und Kleist gibt gleich ein anschauliches Exempel: Fünf Uhr war es als wir von Oderan abfuhren, jetzt ist es ½ 11, also in 5 ½ Stunde 4 Meilen. Jetzt geht es gleich weiter nach Zwickau. Wir fliegen wie die Vögel über die Länder. Aber dafür lernen wir auch nicht viel. Einige flüchtige Gedanken sind die ganze Ausbeute unsrer Reise. Adelbert von Chamisso: Sämtliche Werke, Bd. 1: Prosa. Dramatisches. Gedichte. Nachlese der Gedichte, Darmstadt 1975, S. 209. 21 SW 2, S. 550. Auch diesen Hinweis verdanke ich Reinhard Pabst, Frankfurt am Main. 20 Kleists schneller Stil 181 Sind Sie in Dresden gewesen? – „Ja, durchgereist.“ – Haben Sie das grüne Gewölbe gesehen? – „Nein.“ – Das Schloß? – „Von außen.“ – Königsstein? – „Von weitem.“ – Pillnitz, Moritzburg? – „Gar nicht.“ – Mein Gott, wie ist das möglich? Die späteren Eisenbahnfahrten, die noch einmal zu Beschleunigungserlebnissen führten, boten da nur graduelle Steigerungen. Natürlich ändert sich damit nicht überall der Erzählstil eines Zeitalters. Es gibt ein altertümliches, genau motivierendes, langsames, überall erklärendes und behutsames Erzählen, das nicht von der Stelle kommt, auch im 19. Jahrhundert. Aber man würde umgekehrt Schwierigkeiten haben, schnelles Erzählen, einen „schnellen Stil“ im 18. Jahrhundert zu lokalisieren. Bei Sturm und Drang-Texten zeigt sich auf den ersten Blick hin ähnliches – aber hier geht es nicht um Beschleunigungserfahrungen, auch nicht um den „schnellen Stil“, sondern um die Sprache des Gefühls, das sich deswegen abrupt ausspricht, weil der Verstand wohlgeordnet redet. Kleist hingegen ist zumindest ein Vorläufer „moderner“ Texte, wobei wir den Begriff der Modernität gar nicht weiter definieren wollen. Aber zwanzig Jahre nach ihm gibt es Vergleichbares. Nur manchmal, wenn der Sturm das Gewölk in die Thäler warf, und es den Wald herauf dampfte, und die Stimmen an den Felsen wach wurden, bald wie fern verhallende Donner, und dann gewaltig heran brausten, in Tönen, als wollten sie in ihrem wilden Jubel die Erde besingen, und die Wolken wie wilde wiehernde Rosse heransprengten, und der Sonnenschein dazwischen durchging und kam und sein blitzendes Schwert an den Schneeflächen zog, so daß ein helles, blendendes Licht über die Gipfel in die Thäler schnitt; oder wenn der Sturm das Gewölk abwärts trieb und einen lichtblauen See hineinriß, und dann der Wind verhallte und tief unten aus den Schluchten, aus den Wipfeln der Tannen wie ein Wiegenlied und Glockengeläute heraufsummte, und am tiefen Blau ein leises Rot hinaufklomm, und kleine Wölkchen auf silbernen Flügeln durchzogen und alle Berggipfel scharf und fest, weit über das Land hin glänzten und blitzten, riß es ihm in der Brust […]22 – der Satz ist noch lange nicht zu Ende, aber wir wissen natürlich längst, woher er stammt: aus Büchners Lenz. Auch das ist „schneller Stil“, gedrängte Fülle von Bildern und akustischen Eindrücken, unvergleichlich expressiv dieser Text, voller Dynamik – der Blick des Lesers 22 Georg Büchner: Lenz, in: Sämtliche Werke und Briefe. Historisch-Kritische Ausgabe mit Kommentar, hg. von Werner R. Lehmann, 1. Bd.: Dichtungen und Übersetzungen. Mit Dokumentationen zur Stoffgeschichte, Hamburg 1967, S. 79. 182 Kleists schneller Stil kann, wenn er sich imaginiert, welche Welt dort beschrieben ist, eigentlich kaum folgen. Keine Psychologie – jedenfalls keine ausgesprochene, wie auch bei Kleist. Moderne Texte verzichten weitgehend darauf, wenn sie sich des „schnellen Stils“ befleißigen, was nicht heißen soll, daß jeder realistische Roman, der auf altertümliche Weise erzählt wird, auch psychologisch motiviere und argumentiere. Aber moderne Texte wie die Büchners laufen schneller ab als Stifter-Texte. Sie sind auf andere Weise artistisch als die Texte Kleists; doch sie haben mit ihnen eben die „rapidità“ gemeinsam. Veränderte Zeiterfahrungen könnten also im Hintergrund des „schnellen Stils“ stehen – veränderte Wirklichkeitserfahrungen sind es aber auch, und es wäre müßig, zu fragen, was zunächst da war, das veränderte Zeitempfinden oder das veränderte Wirklichkeitsbewußtsein. Beides sind korrelative Ereignisse, sie prägen das Bild der Moderne um 1800 und kurz danach viel tiefer als alle Proklamationen von seiten der Frühromantiker oder später dann aus der Generation der Heine, Börne, der Jungdeutschen, die das Wort „Moderne“ als Schlagwort in ihre Titel hineinbringen. Wir haben uns angewöhnt, von Schwellensituationen zu sprechen, und die Zeit um 1800 ist sicherlich eine solche: es ist auch eine Schwellensituation in bezug auf diese Grunderfahrungen. Und: eine Schwellensituation in bezug auf die literarischen Herauskristallisationen solcher Beschleunigungserlebnisse und Realitätsveränderungen. Im Grunde begegnet bei Kleist schon so etwas wie eine fragmentarisierte Realität – oder, vorsichtiger formuliert: seine Sprache reflektiert vielfach nicht eine gleichsam ungebrochene Wirklichkeit, sondern partikularisiert sie, und das rasche Nebeneinander der Partikel bewirkt den Eindruck eines schnellen Stils. In dem bereits erwähnten Brief vom 5. September 1800 findet sich die Fragmentarisierung der Welt als Reisebeobachtung: „Wenn ich so im offnen Wagen sitze […], guter Weg, und immer rechts und links die Erscheinungen wechseln, wie Bilder auf dem Tuche bei dem Guckkasten“.23 Natürlich begründet das nicht die Fragmentarisierung der Welt, aber das Wechseln der Erscheinungen von Einzelbild zu Einzelbild konnte nur auffallen, weil eben ein Wirklichkeitskontinuum nicht mehr gegeben war. Das Ergebnis sind geradezu „proto-cinematographische Effekte“.24 Eine Theorie dieses Darstel23 24 SW 2, S. 549. So eine Formulierung von Reinhard Pabst, Frankfurt am Main. Kleists schneller Stil 183 lungsstils gibt es bei Kleist nicht, wohl aber bei den Frühromantikern, insbesondere bei Friedrich Schlegel. Doch der Theorie des Fragments entspricht nichts in der poetischen Realität der Frühromantiker, es gibt weder ein fragmentarisches Erzählen noch einen „schnellen Stil“. Erst später, eben bei Büchner, finden sich dichterische Realisationen dessen, was wir hier als schnellen Stil bezeichnet haben. Ähnlichkeiten lassen sich sonst nur etwa in den Nordseegedichten bei Heine feststellen – aber da stiftet das Ich die nötige Kohärenz. Man kann natürlich nur Vermutungen darüber anstellen, warum auf die Kleistschen Stilexperimente so lange nichts folgte – es könnte, das sei allerdings mit aller Vorsicht gesagt, der Geist des Restaurationszeitalters sein, der dem zuwider war. Modern-Revolutionäres kam erst später auf, etwa in Gutzkows Theorie vom Roman des Nebeneinander. Was Kleist aus der Erzähltradition des ausgehenden 18. Jahrhunderts hat ausscheren lassen, darüber kann man wiederum nur spekulieren. Ist es sein Entschluß zur Selbstbestimmung, wie er ihn im Brief an Martini im März 1799 niederlegt? Es sei „wenigstens weise und ratsam […], in dieser wandelbaren Zeit so wenig wie möglich an die Ordnung der Dinge zu knüpfen“, schreibt er ebenfalls in diesem Brief,25 und daraus könnte man schließen, daß jetzt, auch im Erzählerischen, eine neue Ordnung der Dinge nötig sei, da die alte nicht mehr tragfähig war. Wenn Kleist als Vorläufer der Moderne genommen werden sollte – hier wäre eine solche Behauptung wohl am ehesten noch zu begründen. Sein Erzählen hat Parallelen zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Wo wird ähnlich erzählt, ähnlich gedrängt, beschleunigt, schnell? „Wir sollen einzig das Meckern, Paffen, Rattern, Heulen, Näseln der irdischen Dinge imitieren, das Tempo der Realität zu erreichen suchen, und dies sollte nicht Phonographie, sondern Kunst […] heißen?“26 Das ist nicht das Manifest oder ein Manifest der Moderne, sondern ein fragender Satz – Döblin richtet ihn in einem offenen Brief an Marinetti und dessen Futurismus-Programm. Döblin schließt mit dem erfrischenden Satz: „Pflegen Sie Ihren Futurismus. Ich pflege meinen Döblinismus.“27 Aber wie sieht der aus? Am auffälligsten ist der Verzicht auf „psycholoSW 2, S. 485. Alfred Döblin: Futuristische Worttechnik. Offener Brief an F. T. Marinetti, in: Schriften zu Ästhetik, Poetik und Literatur, hg. von E. Kleinschmidt, Olten/Freiburg i Br. 1989 (= Ausgewählte Werke in Einzelbänden), S. 113-119, hier S. 115. 27 Ebd., S. 119. 25 26 184 Kleists schneller Stil gische Manier“, und das zweite wichtige Kennzeichen ist: man habe von der Psychiatrie zu lernen. Die „beschränkt sich auf die Notierung der Abläufe, Bewegungen, – mit einem Kopfschütteln, Achselzucken für das Weitere und das ‚Warum‘ und ‚Wie‘.“28 Der Hinweis auf die Psychiatrie ist bei Döblin natürlich berufsbezogen, aber da gibt es einige Sätze, die geradezu das theoretische Fundament für manche schnellen Texte, für den „schnellen Stil“ der Moderne bilden könnten. Döblin schreibt im sogenannten Berliner Programm von 1913: Die Darstellung erfordert bei der ungeheuren Menge des Geformten einen Kinostil. In höchster Gedrängtheit und Präzision hat „die Fülle der Gesichte“ vorbeizuziehen. Der Sprache das Äußerste der Plastik und Lebendigkeit abzuringen. Der Erzählerschlendrian hat im Roman keinen Platz; man erzählt nicht, sondern baut. Der Erzähler hat eine bäurische Vertraulichkeit. Knappheit, Sparsamkeit der Worte ist nötig; frische Wendungen. Von Perioden, die das Nebeneinander des Komplexen wie das Hintereinander rasch zusammenzufassen erlauben, ist umfänglicher Gebrauch zu machen. Rapide Abläufe, Durcheinander in bloßen Stichworten; wie überhaupt an allen Stellen die höchste Exaktheit in suggestiven Wendungen zu erreichen gesucht werden muß. Das Ganze darf nicht erscheinen wie gesprochen sondern wie vorhanden.29 Natürlich ist das nicht eine Beschreibung von Kleists „schnellem Stil“, denn vom Durcheinander in bloßen Stichworten kann bei ihm (noch) nicht die Rede sein. Aber manches andere steht doch in unmittelbarer Nachbarschaft dessen, was wir an Kleists „schnellem Stil“ zu zeigen versuchten. Döblin will Bewegung, will Tempo, und sein Berlin Alexanderplatz zeigt, wie das zu verstehen ist, wenn der Erzähler seine Kamera herumschwenkt und von Litfaßsäulen, Geschäftsauslagen, vorüberratternden Straßenbahnen Realitätspartikel aufnimmt und zu einer neuen Realität zusammenmontiert. Immerhin hat Döblin Kleist als sein Vorbild bezeichnet und noch 1949 erklärt: „Kleist und Hölderlin wurden die Götter meiner Jugend“. Natürlich sind hier keine stringenten Verbindungslinien zu ziehen, und von Abhängigkeiten ist schon gar nicht zu reden. „Modern“ kann auch ein extrem digressives Schreiben sein, wie Prousts A la recherche du temps perdu zeigt – wer je Manuskriptseiten von ihm in der „Biblio28 Alfred Döblin: An Romanautoren und ihre Kritiker. Berliner Programm, in: ebd., S. 119-123, hier S. 121. 29 Ebd., S. 121f. Kleists schneller Stil 185 thèque Nationale“ sah, bekam augenfällig demonstriert, wie seine Texte auswucherten. Kleists „schneller Stil“ ist also nur eine Möglichkeit des modernen Stils. Gewisse Eigenheiten des Kleistschen Stils in den Dramen, in seinen Erzählungen sollten hier vorläufig charakterisiert werden, und es sollte gefragt werden, woher der Kleistsche Darstellungsstil sich begründen läßt. Man könnte andere Argumente ins Feld führen: Kleists Faszination für den Tanz als einer Möglichkeit, der „Trägheit der Materie“ entgegenzuwirken,30 seine erzählerischen Versuche, den bloßen Gesetzen der Schwerkraft gewissermaßen entgegenzuarbeiten. Auch sein „schneller Stil“ ist antigrav, so wie die Schwerkraft für die Marionette ebenfalls aufgehoben ist. In der Bärengeschichte des Marionettentheaters kommt es natürlich in erster Linie darauf an, daß die Tricks als solche erkannt werden und daß das – wir würden sagen – Unbewußte besser und schneller reagiert als alles mit dem Verstand Erfaßbare. Der Fechter ist zweifellos ein schneller Fechter: er versucht, den Bären durch Finten zu verführen, fällt ihn mit einer „augenblicklichen Gewandtheit“ an. Der Stich würde „eines Menschen Brust […] ohnfehlbar getroffen haben“,31 lesen wir – aber der Bär ist schnell, schneller als der Fechter, und pariert den Stoß. Auch der Bär bedient sich sozusagen eines „schnellen Stils“. Es gibt noch, jenseits aller Philologie, eine andere Erklärung für den „schnellen Stil“. Sie liegt im Metaphysischen, im Existentiellen, Anthropologischen – oder wie immer man das Transliterarische hinter dem „Stil“ bezeichnen will. Eigentlich hat sie ursprünglich eher mit dem Gegenstück des „schnellen Stils“ zu tun, nämlich mit dem Erzählen, das sich reichlich der Digressionen bedient, also einer Darstellungsart, bei der das Erzählen gleichsam immer wieder stockt, weil Abschweifendes, nur ungefähr oder gar nicht zur Sache Gehöriges miteingebracht wird. Es ist der Erzählstil des bereits erwähnten Lawrence Sterne. Warum erzählt Sterne so digressiv? Carlo Levi hat in seiner Einleitung in Sternes Tristram Shandy32 eine Erklärung gegeben, die philosophischer Natur ist. Die Digression, so hat Levi das Erzählprinzip Sternes charakterisiert, sei eine Strategie, um den Schluß aufzuheben, es möglichst gar nicht zu einem Schluß kommen zu lassen. Die 30 31 32 SW 2, S. 342. SW 2, S. 345. Zitiert bei Calvino (wie Anm. 13), S. 54. 186 Kleists schneller Stil Digression sei eigentlich eine fortwährende Flucht. Eine Flucht wovor? Wenn der Schluß immer wieder hinausgeschoben werde, dann sei es eigentlich eine Flucht vor dem Tod. So kennen wir das auch aus Tausendundeiner Nacht. Es reizt, diese Idee, so sonderbar sie anmuten mag, auf Kleist zu beziehen: er wäre dann geradezu der Todessüchtige, der einen schnellen, weitgehend digressionsfreien Stil schreibt, weil da nichts hinauszuschieben ist. Es ist eine gewagt-fragwürdige spekulative Idee, die da hochkommt. Aber für Kleist paßt sie. „Die Schnelligkeit des Stils und des Gedankens bedeutet vor allem Behendigkeit, Beweglichkeit […] disinvoltura“,33 hat Italo Calvino auch noch gesagt. Mag die Vorstellung vom auf den Tod zueilenden Stil allenfalls in einem loseren Sinne richtig sein, so ist der Begriff der disinvoltura allerdings geeignet, Kleists Stil noch zutreffender zu beschreiben als mit dem Begriff des „schnellen Stils“. Disinvoltura – in der Schrift über das Marionettentheater entspricht dem der Begriff der „Grazie“. Im übrigen richtet Kleist an die Kunstfertigkeit der Marionette die Forderungen, die als Charakteristika des „schnellen Stils“ dienen: „Ebenmaß, Beweglichkeit, Leichtigkeit“.34 So ließe sich denn am Ende mit einigem Recht sagen, daß es doch so etwas wie eine Kleistsche Poetik des „schnellen Stils“ gibt: es ist die Schrift über das Marionettentheater, in der als höchstes Ziel des Lebens propagiert wird, was im Felde des Stils der „schnelle Stil“ verspricht. Es ist, in der Sprache Kleists, ein „antigraver“ Stil. Er kennt nichts, im übertragenen Sinne, von der Trägheit der Materie. Eben ihr möchte auch der „schnelle Stil“ entkommen. 33 „La rapidità dello stile e del pensiero vuol dire soprattutto agilità, nobilità, disinvoltura“; Calvino (wie Anm. 13), S. 53. 34 SW 2, S. 341. HEINES „A P HO RI S M E N “ „F RA G M E N T E “ V E R KA N N T E UND Literarische Fehlurteile und Überlegungen zu deren Revision Literarische Fragmente haben es, wie jedermann weiß, in Deutschland nie leicht gehabt: sie haben in einer wesentlich an der Klassik orientierten Literaturwissenschaft als etwas vermeintlich nur Vorläufiges und Unabgeschlossenes häufig nur ein Schattendasein führen können. Gelegentlich hat man zwar vom „echten“ oder „notwendigen“ Fragment gesprochen und damit Texte bezeichnet, in denen „das Fragmentarische unabdinglich und gleichsam organisch ist, zur dichterischen Form selber gehört.“1 Aber derartige Würdigungen sind Ausnahmen. Im Zeitalter einer organologisch, an ganzheitlichen Strukturen orientierten Kunst- und Literaturauffassung galt ein Fragment, also etwas anscheinend Unabgeschlossenes, halb oder gar nicht Fertiges, wenig oder nichts, und man mußte es von seinem Organismuscharakter her rechtfertigen, wenn es trotzdem diskutabel bleiben sollte. Ein Ausbruch aus dem Erbbegräbnis, das den Fragmenten vor allem seit der Klassik bereitet worden war, gelang gelegentlich nur dann, wenn Fragmente gewissermaßen in Rudeln auftraten: in der Frühromantik etwa. Aber auch dort sind sie häufig nur als sichtbare, fragmentarische Äußerungen eines unsichtbaren Gedankensystems gesehen worden und damit indirekt doch wieder unter der Lupe, die alle Teile immer nur als Partikel eines höheren Ganzen erkennen möchte. Bedeutsamer als diese Mißachtung der Fragmente war aber noch, daß überhaupt kleinformatige Äußerungen, auch wo sie offensichtlich gar nicht Fragmentcharakter trugen, nicht sonderlich hoch angesehen waren. Das gleiche Zeitalter, das etwa eine Handschrift des Wilhelm Tell in kleine Teile zerschnitt, um Einige Vorüberlegungen finden sich in meinem Beitrag: Heines sogenannte „Gedanken und Einfälle“. Versuch einer Neubewertung, in: Die Nachlaßedition. La publication de manuscrits inédits, hg. von Louis Hay und Winfried Woesler, Bern u. a. 1979, S. 206-211 (= Jahrbuch für Internationale Germanistik, A, Bd. 4). 1 So Benno von Wiese: Die deutsche Novelle von Goethe bis Kafka. Interpretationen II, Düsseldorf 1961, S. 106, in seiner Interpretation von Büchners Lenz. 188 Heines verkannte „Aphorismen“ und „Fragmente“ Schillers moralische und patriotische Sätze einzeln verkaufen zu können, strafte Fragmente, also kleinformatige Äußerungen, als eklektisch, zufällig, zweitrangig ab. Fragmente führen seit dem 19. Jahrhundert ein Schattendasein. Eine gewisse Bedeutung wurde Fragmenten in der Regel nur unter einer Bedingung zugestanden: wenn sie auf ein abgeschlossenes Werk hinführten oder zumindest im Zusammenhang damit standen. Die mit schichtengenetischen Vorstellungen arbeitende neuere Editionspraxis hat diese Vorstellungen auch in die textkritischen Ausgaben hineingebracht – damit aber die Fragmente, sofern sie eben nicht schichtengenetische Bedeutung haben, endgültig herabgewürdigt. Aber daß es damit nicht getan war, zeigen die unausgeräumten Definitionsprobleme, die weder von einer organologisch orientierten Literaturkonzeption noch von der landläufigen Editionstheorie gelöst worden sind. Ist ein Fragment ein „Gedankensplitter“ oder ein kleiner literarischer Kosmos für sich? Ist es ein sichtbares Zeichen eines Ausbruchsversuches aus einem überkommenen System, sozusagen auch von der Form her ein Protest gegen traditionelle Gattungen und größere literarische Formen, oder ist es ein erster Gedankenkeim, Prospekt eines zukünftigen Werkes in nuce? Kristallisiert sich hier eine Lebensweisheit in der Form eines formlosen Sprichwortes aus, oder ist das Fragment ein Gedankenblitz, der besser gar nicht schriftlich aufgezeichnet worden wäre, weil er nur Versuchscharakter hat und das von seiner unvollkommenen Form her auch deutlich zu erkennen gibt? Zu den Folgen der klassischen und nachklassischen Abwertung des Fragments gehört zweifellos auch die Verunsicherung in der Grenzziehung zu anderen Kleinformen, vor allem zum Aphorismus: schon im 19. Jahrhundert ist reichlich viel Zweifel darüber hochgekommen, was das Eine vom Anderen trenne. Was unterscheidet den Aphorismus, da er schon vom Fragment nicht genau abgetrennt werden kann, von der Maxime, von der Sentenz, vom Apophthegma? Alles das läßt ein wenig von dem Hintergrund erkennen, vor dem sich die Geschichte dessen, was man Heines „Fragmente“ und „Aphorismen“ genannt hat, abgespielt hat. Heine hat im Laufe seines Lebens, vor allem aber vermutlich in den 30er und 40er Jahren, nahezu 360 kürzere oder längere Gedanken, Einfälle, Notizen, Aphorismen, Fragmente, Skizzen, Bemerkungen, Beobachtungen (oder wie immer man diese Aufzeichnungen auch benennen will) niedergeschrieben und gesammelt. Sie sind – und das deutet schon auf ihre Geringschätzung von Heines verkannte „Aphorismen“ und „Fragmente“ 189 seiten der Heine-Forschung hin – bis heute aber weder in ihrer literarischen noch in ihrer zeitgeschichtlichen Bedeutung gewürdigt und zudem nicht in zureichender Weise ediert worden; die formgeschichtlichen Probleme, die sich mit dieser Sammlung stellen, sind sogar völlig außer acht gelassen worden. Veröffentlicht wurden Heines kleine Texte erstmals 1869 von Adolf Strodtmann als Gedanken und Einfälle,2 kommentarlos, nach Themenbereichen gegliedert. Ein unverbindlicherer und auch einfallsloserer Titel als Gedanken und Einfälle läßt sich tatsächlich kaum denken, und entsprechend willkürlich hat Strodtmann die Texte innerhalb dieser Edition nach Gruppen geordnet: wir finden „Persönliches“ neben Bemerkungen zur „Religion und Philosophie“, Notizen zu „Kunst und Literatur“, einiges zu „.Staat und Gesellschaft“, ebenfalls einiges zu „Frauen, Liebe und Ehe“, und am Schluß folgt das, was von dem sammelnden Herausgeber nicht anderswo untergebracht werden konnte, unter dem Titel „Vermischte Einfälle“. Der erste unter dieser Überschrift gesammelte Einfall lautet: „Weise erdenken die neuen Gedanken, und Narren verbreiten sie“ – und man kann nicht umhin, diesen Ausspruch auf Heine selbst und die Geschichte der Verbreitung seiner sogenannten Gedanken und Einfälle zu beziehen. Ein letzter Abschnitt in dieser Edition der Gedanken und Einfälle ist überschrieben mit „Bilder und Farbenstriche“, und das ist eine endgültige editorische Bankrotterklärung. Unverbindlicheres ist schlechthin nicht mehr denkbar. Sicherlich betrifft in dieser Sammlung manches nur Alltägliches. Aber es gibt nicht einen einzigen unvollendeten Einfall, also bloß hingeworfene, unverständliche Stichworte – es sei denn, sie fänden sich in einem ausdrücklich als solchem gekennzeichneten Plan zu einem literarischen Werk. In der Regel sind die Gedanken und Einfälle in eine sehr zugespitzte Form gebracht; die Subjektivität der Feststellungen darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß wir es hier durchaus nicht mit beliebigen persönlichen Bemerkungen zu tun haben. Gesehen worden ist das jedoch in der Regel nicht, und die weitere Wirkungsgeschichte der von Strodtmann erstmals veröffentlichten Gedanken und Einfälle zeigt ausgesprochene Einfalls- und Gedankenlosigkeit: Ernst Elster hat diese Gedanken und Einfälle noch vor der Jahrhundertwende unkritisch und nur spärlich kommentiert in den letzten Band seiner siebenbändigen 2 Adolf Strodtmann: Letzte Gedichte und Gedanken von Heinrich Heine. Aus dem Nachlasse des Dichters zum ersten Male veröffentlicht, Hamburg 1869. 190 Heines verkannte „Aphorismen“ und „Fragmente“ historisch-kritischen Ausgabe übernommen,3 als eine Art von Kuddelmuddel, wie Heine selbst Fragmentarisches bezeichnet hat, womit er allerdings nicht seine Gedanken und Einfälle meinte; und nach dieser Edition haben Oskar Walzel4 und Fritz Strich5 ebenfalls die Gedanken und Einfälle abgedruckt, kommentarlos und ohne weitere Diskussion der von Strodtmann völlig willkürlich hergestellten und unbegründeten Ordnung. Nur ein einziges Mal danach sind die 360 Notizen noch in anderer Anordnung ediert worden: 1915, von Erich Loewenthal, der den Prosa-Nachlaß Aphorismen und Fragmente nannte.6 Das Prinzip seiner Neuordnung ist im wesentlichen aber auch wieder nur die Assoziation: so bauen sich künstliche Gedankenbrücken und Gedankenketten auf, die letztlich aber alle nicht tragfähig sind, und gaukeln eine Ordnung vor, die Heines Aufzeichnungen durchaus nicht haben. Auch Loewenthal scheint zumindest indirekt von der Vorstellung vom größeren Ganzen eines literarischen Werkes und von organologischen Vorstellungen mitbestimmt gewesen zu sein, denn seine assoziative Neuordnung läßt unausgesprochen den Wunsch erkennen, hier Bruchstücke größerer Werkzusammenhänge zu sehen, die bei Heine aber über den fragmentarischen Charakter nicht hinausgekommen sind. Erstmals taucht freilich auch, ein Lichtblick, der Begriff Aphorismus auf: und damit sind die Gedanken und Einfälle Strodtmanns zweifellos entschieden aufgewertet; Loewenthal hat erkannt, daß diesen angeblichen Gedanken und Einfällen ein eigener Formcharakter zugrunde liegt, und er hat ebenfalls gesehen, daß Heine sich einer literarischen Form bedient, die schließlich ihre lange Tradition hatte. Aber daneben findet sich eben auch wieder die fatale Vorstellung vom Fragment, und so regt sich erneut der Verdacht, daß hier etwas Fragment genannt wurde, das einfach nur klein war, eine Miniaturform, die nicht zuletzt deswegen in Verruf geraten war, weil sie neben den literarischen Großformen sich in der Tat sehr zwergenhaft ausnehmen mußte. Es gibt allenfalls einen einzigen weiteren Rechtfertigungsgrund für die Bezeichnung „Frag3 Heinrich Heines Sämtliche Werke, hg. von Ernst Elster, Leipzig/Wien o. J. [18871890]. Elster bemerkt lapidar: „Abgedruckt aus Letzte Gedichte und Gedanken“ und stellt fest: „Anordnung und Überschrift rühren höchst wahrscheinlich von ihm [Strodtmann] her“ (Bd. 7, S. 611). 4 Sämtliche Werke, hg. von Oskar Walzel, Bd. 10, Leipzig 1915. 5 Sämtliche Werke, hg. von Fritz Strich, Bd. 10, München 1925. 6 Der Prosa-Nachlaß von H. Heine. Neu geordnet, gesichtet und eingeleitet von Erich Loewenthal, Hamburg/Berlin [1926]. Heines verkannte „Aphorismen“ und „Fragmente“ 191 mente“: die Tatsache, daß sich thematische Parallelen zwischen einzelnen Aphorismen und einzelnen Stellen in veröffentlichten Werken finden. Aber diese Parallelität besagt allein noch gar nichts. Dennoch hat Loewenthals Edition des Prosa-Nachlasses unter der Überschrift Aphorismen und Fragmente ihrerseits weiter Schule gemacht. Die gleichen Texte erscheinen ebenfalls als Aphorismen und Fragmente in der vielbenutzten ost- und westdeutschen Ausgabe der Werke Heines von Hans Kaufmann;7 und in der neuesten umfangreicheren Edition, der von Briegleb, erscheinen sie als etwas noch Geringeres, nämlich nur noch als Aufzeichnungen.8 Die Geschichte dieser Editionen illustriert noch einmal die Geschichte des Aphorismus und des Fragments im 19. und 20. Jahrhundert; sie ist zugleich die Geschichte eines Mißverständnisses, zumindest die eines tief eingewurzelten Vorurteils. Denn man schloß von der fragmentarischen Form auch auf einen fragmentarischen Entstehungsprozeß. Schon Adolf Strodtmann hat Heines kleine Notizen zu einer bloßen Sammlung von Gedanken und Einfällen degradiert, „wie die Stunde sie brachte, zu gelegentlicher Verwendung“,9 und die Mißachtung drückt sich auch in der negativen Beschreibung der Arbeitsmaterialien aus: Heine habe sie „heute auf einem abgerissenen Papierfetzen, morgen auf der Rückseite einer Visitenkarte oder eines Einladungsbilletts, ein andermal am Fuße eines Briefes oder auf dem leer gebliebenen Raume eines Gedichtbrouillons“ notiert. Dazu ist zu sagen, daß die abgerissenen Papierfetzen, die Visitenkarte oder das Einladungsbillett die Ausnahmen in der Wahl der Materialien darstellen; häufig sind die Texte auf großformatige Blätter geschrieben, wie Heine sie auch zur Niederschrift seiner übrigen Werke benutzte. Dennoch hat sich innerhalb der Heine-Philologie auch die Fama bewahrt, obwohl sie sich auf nichts gründet als auf ein Vorurteil, das von einem Blick auf das tatsächliche Material sofort widerlegt werden kann. Die gleiche Charakteristik Strodtmanns, der die negative Wirkungsgeschichte dieser sogenannten Gedanken und Einfälle in Gang brachte, findet sich nahezu hundert Jahre später fast unverändert in dem Kommentar von Briegleb, der 7 Sämtliche Werke, Bd. XIV, München 1964: „Unser Text folgt der Loewenthalschen Anordnung“ (S. 231). 8 Heinrich Heine: Sämtliche Schriften, hg. von Klaus Briegleb, 6 Bde., München 1968-1976, Bd. VI, 2, S. 332f. 9 Strodtmann (wie Anm. 2), S. XIII. 192 Heines verkannte „Aphorismen“ und „Fragmente“ neuesten und umfangreichsten kommentierten Ausgabe. Dort heißt es: „Auf losen Blättern und Papierstücken, die gerade zur Hand sind, bis zur Visitenkarte, Rechnung oder Einladung, hält er Bilder, Gedankenkerne, Zitate, Gesprächsfetzen, Wortspiele und ansetzende Charakteristiken oder Analysen fest und hebt sie auf“.10 Die Ähnlichkeiten in der Formulierung sind nicht zufällig, so wenig zufällig sich die Vorstellung gehalten hat, es handele sich hier vielfach um Entwürfe oder später überflüssig gewordene Vorstufen, die gelegentlich Aufschlußreiches, letztlich aber doch Sekundäres für Heines Arbeitsweise erkennen ließen. Strodtmann ist seinerzeit sogar noch einen Schritt weitergegangen. Er hat nämlich das, was später in einer anderen Werkform erschien, „in der Regel“ sogar ausgeschieden oder, falls er „die Mittheilung aus irgend einem Grunde für wünschenswerth hielt, mit einem Hinweis auf die betreffende Stelle der sämmtlichen Werke“ begleitet.11 Auch hier argumentiert Briegleb noch ganz ähnlich, wenn er eine „Auflösung der Aufzeichnungen und ihre Notierung als ‚Paralipomena‘ zu den Texten, zu denen sie die größte oder eine klar entscheidbare Vorstufennähe haben“, empfiehlt; das trage zur „Einübung in stufengenetisches und montagebewußtes Lesen bei“. Nach solchen Urteilen wird deutlich, warum es nie eine Interpretation, eine zusammenhängende Darstellung oder auch nur eine Würdigung dieser kleinformatigen Arbeiten gegeben hat. Sie sind das Opfer des traditionellen poetologischen Werkverständnisses geworden, von dem eingangs die Rede war. Und man kann hier sehen, wie fatal Editionen wirken können: die Geschichte der Mißachtung der Heineschen Aphorismen beginnt mit ihrer ersten Edition, und sie wurde später nachhaltig durch eine Editionsauffassung gestützt, die das vollendete Werk in den Mittelpunkt ihrer Argumentation stellte und die vor allem in kleinformatigen Texten, in den Elementarteilchen poetischer Produktionen, nur vorbereitende Arbeit sah oder eben Ausgeschiedenes, später nicht Verwandtes. Selbst moderne Editoren erweisen sich da noch als Anhänger klassischer Kunstdoktrinen, die eben nur den Weg zu oder den Abfall von einem Werk sehen konnten. Die editorische Schichtentheorie ist schuld daran, daß auch in neuester Zeit die herausgeberische Verurteilung dieser kleinformatigen Texte auf dem Fuße folgte: Heines kleine Texte, von Anfang an als Auswahl veröffentlicht, 10 11 Heine (wie Anm. 8), S. 332. Strodtmann (wie Anm. 2), S. XIV. Heines verkannte „Aphorismen“ und „Fragmente“ 193 wurden auch später immer wieder nur zu mehr oder weniger willkürlich thematisch begründeten Gruppen zusammengestellt und galten als literarisch zweitrangig, weil es eben, wie Strodtmann das schon so klar zum Ausdruck gebracht hatte, angeblich nur Einfälle waren, „wie die Stunde sie brachte“. Auch die historisch-kritische Düsseldorfer HeineAusgabe, die Manfred Windfuhr herausgibt, folgt diesen Bahnen: die sogenannten „Fragmente“ und „Einfälle“ werden als Paralipomena behandelt, also als Vorläufer zu einem größeren Werk – oder allenfalls entstehungsgeschichtlich relevanter Abfall. Es heißt im Herausgeberbericht: In den Anhängen jedes Bandes wird der Gesichtspunkt der genetischen oder inhaltlichen Zusammengehörigkeit beibehalten. Denn hier erscheinen alle Textteile, die Heine bei der endgültigen Fixierung seines Werkes entweder ausgeschieden oder nicht aufgenommen hat, also Gedichte, Artikel, Vorreden, außerdem öffentliche Erläuterungen zu den eigenen Werken und größere Bruchstücke. Heine hat die Endform seiner Werke meist erst nach mehreren Anläufen erreicht, dabei aber interessante Zwischenstadien hinterlassen, die nicht wie in früheren Ausgaben in den Apparat, sondern in den Textanhang gehören. Dies gilt auch für größere, nur handschriftlich überlieferte Paralipomena von eigenem Gewicht.12 Zu letzteren zählten offenbar auch die umfangreicheren Gedanken und Einfälle bzw. Aphorismen. Zur Rechtfertigung der Gesamtgliederung dieser Ausgabe ist bemerkt: „Diese Gliederung vermeidet es, Zusammengehöriges auseinanderzureißen oder Nachlesebände in Kauf zu nehmen, in denen so oft der Ausschuß einer zu weit getriebenen editorischen Systematik übrigbleibt.“ (DHA I, 1260) Aber wird nicht gerade dann, wenn die „Aphorismen“ und „Fragmente“, wo immer es nur möglich ist, den „jeweiligen Hauptwerken“ zugeordnet werden, eben eine editorische Systematik zu weit getrieben, da sich die Frage des Eigenwertes dieser kleinen Texte gar nicht stellt, sondern stillschweigend das, was von ihnen eine thematische Verwandtschaft mit größeren Texten erkennen läßt, als „Vorstufe“ oder „Paralipomenon“ interpretiert wird? Vom Befund her läßt sich eine solche Auffassung kaum halten. Nahezu die Hälfte der knapp 360 kleinen Texte umfaßt zwar nur drei bis 12 Heinrich Heine: Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke, hg. von Manfred Windfuhr (= DHA), Bd. I/2: Buch der Lieder. Apparat bearbeitet von Pierre Grappin, Hamburg 1975, S. 1260f. 194 Heines verkannte „Aphorismen“ und „Fragmente“ vier Druckzeilen, aber beinahe 45 % der Texte sind zwischen fünf und mehr als zwanzig Zeilen lang; weniger als 10 % sind rein autobiographisch motiviert. Für die These, daß es sich bei Heines kleinformatigen Prosatexten wesentlich um Augenblickseinfälle oder um Vorarbeiten zu größeren Werken handele, spricht eigentlich nur, daß Heine sie nirgendwo zu veröffentlichen versucht hat. Angesichts des permanenten Publikationswillens scheint er damit selbst über ihre Zweitrangigkeit entschieden zu haben. Aber auch dieses Argument ist nicht stichhaltig. Denn Heine hat seine Memoiren, über deren publikationswürdigen Wert nie auch nur der geringste Zweifel bestanden hat, ebenfalls nur fragmentarisch publiziert. Der mögliche Einwand, daß Heines Publikationswille oder hier vielmehr der Unwille zugleich eine automatische Dualisierung seines Werkes und eine indirekte Abwertung seiner eigenen Texte impliziere, läßt sich noch zusätzlich dadurch abschwächen, daß Heine möglicherweise ihre öffentliche Wirkung und das öffentliche Interesse daran unterschätzt hat. Es kam hinzu, daß sich diese kleinen Texte der Integration etwa in den Rahmen eines weiteren Salonbandes, also einer größeren publizistischen Einheit, ihrer Materie nach von vornherein zu widersetzen schienen; weiterhin wäre zu bedenken, daß Campe vermutlich niemals einer Veröffentlichung zugestimmt hätte, da auch er natürlich an großformatigen Arbeiten interessiert war, das allerdings mehr aus wirtschaftlichen Interessen als aus Gründen einer poetologischen Konfession. Außerdem muß man noch anführen, daß Heine schon von den 30er Jahren an zu immer größeren Werkeinheiten bis hin zur Gesamtausgabe seiner Schriften tendierte und hier vermutlich keine adäquate Form einer Separatedition gefunden hätte. Doch es lassen sich auch positive Argumente finden für die Bedeutung, die Heine seinen späteren Editoren und Interpreten zum Trotz seinen kleinen Texten zuerkannt hat. Zunächst einmal spricht dafür die Tatsache, daß er sie, sofern sie für ihn angebliches Vorstufenmaterial für etwas anderes gewesen sind, nicht nach ihrer vermeintlichen Auswertung vernichtet hat; es ist nicht einzusehen, warum Heine sich ein Leben lang mit seinen Materialien herumgeschleppt haben sollte, nachdem er sie längst benutzt hatte. Ein anderes Argument ist bedeutsamer: daß er seine Texte, wie die Manuskripte in aller Deutlichkeit zeigen, teilweise stilistisch stark oder stärker noch als andere veröffentlichte Prosa durchgearbeitet hat. Das ist für Heine immer ein werkimmanentes positives Bewertungskriterium; uninteressante Texte hat er in einem Zug nieder- Heines verkannte „Aphorismen“ und „Fragmente“ 195 geschrieben, Texte, die er stilistisch präzisiert hat und die in zwei oder drei ineinandergeschriebenen Fassungen vorliegen, enthalten damit Hinweise darauf, daß sie zumindest von seiner Seite aus ernstzunehmen sind, weil er sich mit ihnen Mühe gegeben hat. Nicht weniger bedeutsam ist, daß er zur Niederschrift in aller Regel eben nicht zufälliges oder beliebiges Papiermaterial benutzt und seine Notizen vermutlich zu Heften zusammengefaßt hat. Dieses Argument hat dabei besonderes Gewicht. Die große Masse der kleinen Prosatexte ist nicht unzusammenhängend überliefert worden; die Mehrzahl der für die Niederschrift genutzten Blätter trägt Heftspuren, die erkennen lassen, daß mindestens vier Hefte existiert haben. Jedes Heft hat etwa 25-30 Blätter enthalten. Die Texte eines Heftes sind auf relativ große, durchweg ganz erhaltene Blätter geschrieben; ein weiteres Heft ist offenbar von mittelgroßem Format gewesen, in einem dritten Heft finden sich nur Teile von Blättern mit Einzelnotizen zusammengeheftet, ein viertes Heft besteht im Format ebenfalls aus ungleichartigen Blättern. Natürlich ist wiederum denkbar, daß die kleinen Prosatexte erst nachträglich geheftet worden sind, etwa von Nachlaßverwaltern, die Ordnung schaffen wollten. Aber auch dieses Argument ist reversibel, und die Umkehr erhält sogar mehr Wahrscheinlichkeit. Die Tatsache, daß die Prosatexte in vier Heften überliefert sind, macht wahrscheinlich, daß sie nicht erst nachträglich geheftet worden sind, sondern daß Heine diese vielmehr zur Niederschrift seiner Texte benutzte und nicht etwa auf „abgerissene Papierfetzen“, wie Strodtmann es meinte, geschrieben hat. Denn es ist nicht recht einzusehen, warum die Notizen, hätte sie der Nachlaßverwalter nur geordnet, auf mehrere Hefte verteilt zusammengeheftet worden wären; selbst wenn das aber der Fall gewesen wäre, spräche die relativ geschlossene Überlieferung der kleinen Prosatexte dafür, daß Heine diese bereits zu Lebzeiten als etwas Eigenständiges gesammelt hat. Unter diesem Aspekt aber ist die Annahme, daß Heine Hefte zur Niederschrift seiner kleinen Prosatexte benutzte, wiederum wahrscheinlicher als das Gegenteil, oder vielmehr: wahrscheinlicher ist, daß er Sammlungen angelegt hat, die durchaus ihren eigenen Ganzheitscharakter hatten. Diese Argumente lassen sich noch durch weitere sekundäre Feststellungen stützen. Der erste Nachlaßverwalter, Julia, hatte an der Prosa ein relativ schwaches Interesse und hat sich vor allem mit der Lyrik befaßt; dieses Desinteresse an der Prosa aber macht es ebenfalls unwahrscheinlich, daß die kleinen Prosatexte 196 Heines verkannte „Aphorismen“ und „Fragmente“ Heines erst nach seinem Tode in mehrere, mindestens vier Hefte zusammengeheftet wurden. Von Alfred Meißner, seinem Freund, stammt diese Einteilung aber auch wohl nicht, weil Strodtmann in seiner Erstveröffentlichung von einem „bunt durch einander gewirrten Haufen von Manuskripten“ spricht,13 den er vorgefunden habe. Wäre das wörtlich zu verstehen und hätte Strodtmann diese Blätter erst zusammengeheftet, so wäre die Ordnung in den Heften vermutlich weitgehend mit der seiner Ausgabe identisch; er hätte wohl auch nicht in jedes Heft jenen Anteil thematisch nicht klassifizierbarer Texte hineingebracht, der sich nun einmal dort findet und der nicht zu leugnen ist, auch wenn das letztlich eher für als gegen Heines Sammel- und Ordnungsintentionen spricht. Die gelegentlich gegebene Antwort, daß sie erst im Nachhinein geheftet worden seien, ist aller Wahrscheinlichkeit nach zu widerlegen: Heine hatte geheftete Materialien, und erst im Nachlaß sind sie auseinandergerissen worden; schon Strodtmann hatte eben nicht mehr vor sich als den „bunt durch einander gewirrten Haufen von Manuskripten“. Schließlich gehört in die Reihe der Argumente noch die Bemerkung, daß auch die Überlieferungsträger einige Beweiskraft haben. Die zum größten Teil heute in New York befindlichen Manuskripte14 sind nicht etwa isoliert überliefert worden; 70 % der Texte finden sich mit anderen Texten auf einem Blatt oder mehreren Blättern. Das widerlegt ebenfalls die zitierte Angabe Strodtmanns zur Niederschrift der kleinen Prosa, also die Meinung, Heine habe vorwiegend lose Blätter oder Papierstücke benutzt, die gerade zur Hand gewesen seien, Visitenkarten, Rechnungen und ähnliches. Heine hat für seine Texte also keinen zweitrangigen Überlieferungsträger gewählt, sondern den gleichen wie für andere poetische Texte. Und die Überlieferungsgeschichte zeigt, daß Heines kleine Prosatexte über Jahrzehnte hin relativ geschlossen weitergegeben wurden. Das könnte natürlich auch aus Desinteresse an dieser Sammlung geschehen sein. Aber die Annahme, daß schon Heine diese Texte nicht nur gesammelt, sondern von vornherein zusammenhängend bewahrt hat, wird angesichts der weitzerstreuten Überlieferung der übrigen Texte noch wahrscheinlicher. Damit aber wird die These, daß es sich bei den kleinen Prosatexten um irgendwo beliebig festgehalStrodtmann (wie Anm. 2), S. XII. Pierpont Morgan Library, New York. Einige Manuskripte befinden sich in der Houghton-Library der Harvard-University, einzelne an anderen Orten in den USA und in der UdSSR. 13 14 Heines verkannte „Aphorismen“ und „Fragmente“ 197 tene Augenblickseinfälle handele, in sich noch brüchiger. Für den autochthonen Charakter der kleinen Prosatexte spricht zudem, daß sie überlieferungsgeschichtlich nicht als Paralipomena zu größeren Werken überliefert worden sind, sondern separat. Die größere Einheit, der sie zuzuordnen sind, ist nicht der endgültig fixierte Text, sondern überall dort, wo die Texte überhaupt inhaltliche Relationen aufweisen, der Kontext der mitüberlieferten kleinen Prosatexte. Zwar finden sich einzelne Parallelen durch Heines gesamtes Werk zwischen 1816 und 1854. Aber man kann genausogut andersherum argumentieren und feststellen, daß sich auch innerhalb der veröffentlichten Heineschen Werke überall Parallelen und Entsprechungen finden und daß ein gelegentlich etwa in der Schrift über Kahldorf nur angedeuteter Sachverhalt in dem Buch über Börne dann acht Jahre später ausführlich behandelt worden ist.15 Doch die Parallelen sind hier ohnehin in der Minderzahl, gemessen am Korpus der Texte überhaupt, und die Behauptung, daß die kleinen Prosatexte im wesentlichen nur Vorstufen der Werke seien, läßt sich nicht halten. Um die Vorstellung von der Einheitlichkeit und strengen Durchkomposition des Heineschen Gesamtwerkes plausibel zu machen, hat man sich gelegentlich der Sätze bedient, die Heine zur zweiten Auflage des Buches der Lieder niedergeschrieben hatte: Bescheidenen Sinnes und um Nachsicht bittend, übergebe ich dem Publikum das Buch der Lieder; für die Schwäche dieser Gedichte mögen vielleicht meine politischen, theologischen und philosophischen Schriften einigen Ersatz bieten. Bemerken muß ich jedoch, daß meine poetischen, eben so gut wie meine politischen, theologischen und philosophischen Schriften, einem und demselben Gedanken entsprossen sind […].16 15 Vgl. dazu etwa DHA, Bd. XI mit Hinweis auf das Krähen des gallischen Hahnes in Paris – eine Anspielung auf die Französische Revolution, die Heine 1831 in der Einleitung zu Kahldorf über den Adel und dann ausführlicher 1840 in der Denkschrift über Börne verwendet (Erläuterungen zu 52,8-9 bzw. 134,6 dieses Bandes). 16 DHA I, 1, S. 565f. Der Herausgeber dieses Bandes, Pierre Grappin, hat daraus den Schluß gezogen, daß Heine 1837 das Buch der Lieder nicht mehr so wertvoll wie die Prosawerke der ersten Pariser Zeit erschienen sei (DHA I, 2, S. 1236) – eine plausible Erklärung. Der Gesamtherausgeber, Manfred Windfuhr, hat diese Sätze allerdings anders gedeutet, nämlich als Hinweis auf „die Zusammenhänge in seinem verstreut gedruckten Werk“ und daraus gefolgert, daß Heine sich der „Strukturierung seines Gesamtwerkes durchaus bewußt“ gewesen sei. Ebd., S. 1260. 198 Heines verkannte „Aphorismen“ und „Fragmente“ Aber Heine betont hier nur die Einheitlichkeit seines Werkes und seines Denkens und hat damit noch keine Gliederungsvorschrift gegeben. Da er hier so sehr auf der Einheitlichkeit seines Denkens besteht, ist es editorische Willkür, die kleinen und kleinsten Texte nur als Vorstufenmaterial zu betrachten und ihnen damit einen Eigenwert innerhalb dieser einheitlichen Gedankenwelt abzusprechen. Es gibt von Heine ebensowenig Äußerungen über den zweitrangigen Wert seiner „Fragmente“ und „Aphorismen“ wie über ihre bloß schichtenspezifische Bedeutung. Wenn aber die Vorstufentheorie für diese kleinen Texte höchst fadenscheinig und fragwürdig ist – was waren sie dann, wofür waren sie bestimmt? Sicher ist, daß Heine seine kleinen Prosatexte ohne Zweifel lange beisammengehalten und sie ständig noch kumuliert hat. Und ebenso sicher ist auch, daß er sie nicht wahllos auf seine Blätter brachte. Friedrich Hirth hat bereits darauf aufmerksam gemacht, „daß die auf demselben Zettel befindlichen Aphorismen […] immer inhaltlich zusammengehören, so wenig geschlossen gelegentlich der Zusammenhang erscheinen mag“. Und von Friedrich Hirth ist ebenfalls schon richtig festgestellt worden, „daß ein Plan des Schriftstellers, einzelne isolierte Gedankensplitter niederzuschreiben, nicht bestand, sondern die einzelnen Sätze immer in bestimmte Zusammenhänge zu bringen sind“.17 Seine Bemerkung, daß Heine beabsichtigt habe, die Notizen später zu neuen Einheiten zusammenzufügen, bestätigt sich in gewisser Weise vom Befund der überlieferten, früher einmal zusammengefaßten Hefte. Ein erstes Heft hat in der Mehrzahl politische Kurztexte im weitesten Sinne enthalten, etwa 50 von insgesamt 90 Notierungen. Der Rest entfällt auf religiöse Aussagen, allgemeine zeitkritische Feststellungen und lebensphilosophische Bemerkungen. Der Vorrang politischer Texte und Hinweise auf die Julirevolution lassen den Schluß zu, daß dieses Heft wahrscheinlich in den 30er Jahren angelegt worden ist und allenfalls bis in die frühen 40er Jahre hineingereicht hat. Ein zweites Heft enthält in der Mehrzahl literarische Texte, einige wenige allgemeine politische Aussagen sowie ebenfalls Lebensphilosophisches, ein drittes Heft allgemeinere Texte mit persönlichen Erfahrungen vermischt, generelle Aussagen zur Welt und zur Geschichte; hier stehen 17 Friedrich Hirth: Heinrich Heines Aphorismen, in: F. H.: Heinrich Heine. Bausteine zu einer Biographie, Mainz [1950], S. 175 bzw. 179. Hirths Aufsatz enthält im Grunde genommen bis heute die einzige ernsthafte Auseinandersetzung mit Heines Aphorismen. Heines verkannte „Aphorismen“ und „Fragmente“ 199 Politisches und Literarisches deutlich im Hintergrund. Ein viertes Heft hat offenbar allgemeine theologische Bemerkungen enthalten, allerdings auch wieder Generelles und einige zeitgenössische politische Kommentare. Eine völlig eindeutige Zuordnung der Hefte zu klar eingrenzbaren Themenbereichen wäre angesichts der assoziativ-aphoristischen Denkweise Heines aber auch nicht zu erwarten. Doch die Tendenzen lassen erkennen, daß Heine seine Hefte offenbar nicht willkürlich und wahllos mit Notizen gefüllt hat, sondern gewisse inhaltlich-gedankliche Schwerpunkte beachtete. Und das läßt die vorsichtige Schlußfolgerung zu, daß Heine bei einer möglichen endgültigen Ordnung nicht nach chronologischen, sondern eindeutig nach thematischen Einteilungskriterien verfahren wäre. Was läßt sich aus alledem festhalten? Sicher scheint zu sein, daß es sich hier um eigenständige Texte handelt, nicht um Vorarbeiten oder literarischen Abfall. Denn selbst wenn man hier einen Teil der genannten Gründe anerkennen würde, so gilt doch, daß alle diese kleinen Texte auch jenseits der stilistischen Argumente die Kriterien einer für Heine hochwertigen literarischen Leistung aufweisen. Dazu gehört der Variantenreichtum in der Formulierung, also das Ausfeilen der Sprache bis zu einer letztmöglichen knappen Formulierung hin, die relative Geschlossenheit der Texte, die Konzentration auf ein Faktum oder ein bestimmtes Leitwort, auf einen Fall oder einen historischen Vorgang; wir haben dennoch auch hier, wie bei Heine so oft, Mehrdeutigkeiten, Mehrschichtigkeiten, gedankliche Polarisierungen und Konzentrationen, fast nie nur einen Sachverhalt, sondern fast immer auch seine Exegese. Die kleinen Prosatexte lassen ebenso wie die großformatigen Arbeiten durchaus etwas von der Struktur und den Formen des Heineschen Denkens sichtbar werden: der Einfall als kleinste Denkeinheit Heines spiegelt ebenso wie die größeren Formen die produktiv gewordene Spannung zwischen subjektiver Beobachtung und objektiver Aussage, und sie läßt Heines Neigung zur Konzentration auf den paradigmatischen Einzelfall ebensogut erkennen wie seine Tendenz, eine Aussage bis ins äußerste Extrem zu führen, sie in ein Spannungsfeld zu bringen, nicht linear zu denken, sondern das Gemeinte gleichsam von allen Seiten zu umzingeln, um es mit einem blitzschnellen Zugriff seines Denkens zu fassen. Heines kleine Texte, neben den tradierten Gattungen fast zum Verschwinden gebracht, gehören nicht in den Bereich der Vorarbeiten zu größeren Einheiten, sondern in den Kontext der im 200 Heines verkannte „Aphorismen“ und „Fragmente“ frühen 19. Jahrhundert so stark genutzten literarischen Kleinformen, wie sie uns in den damals überall verfaßten Skizzen, Charakteren, Bildern, Studien, Notizen, Aphorismen, Arabesken entgegentreten. Wichtiger aber noch ist die Frage nach der Funktion der kleinen Texte: warum hat Heine sie überhaupt in dieser Fülle niedergeschrieben? Mehrere Antworten sind möglich. Manche Notiz enthält soviel politische Konterbande, daß sie in dieser Form nie hätte veröffentlicht werden können – man kann einer Reihe von Aphorismen politische Radikalität nicht absprechen, und es kann kein Zweifel sein, daß Heine hier eigenste Gedanken denkt. Ihm ist bei aller Vertrautheit mit den französischen Zuständen der Blick für eine deutsche Revolution, ihre Eigentümlichkeit und Notwendigkeit nicht abgegangen, auch wenn er, scheinbar nur witzig, vom Pöbel schreibt: „Wenn ich von Pöbel spreche, nehme ich davon aus: erstens alle die im Adreßbuch stehen, und zweitens alle die nicht drin stehen“.18 Der Scherz hat eine sehr ernste Kehrseite. Denn Pöbel sind damit alle – aber Heine will nicht alles als Pöbel abtun, sondern er wertet den Begriff des Pöbels damit indirekt und doch nachdrücklich auf. Pöbel sind alle, das Volk, und indem er sich auf den ersten Blick gesehen vom Pöbel distanziert, zählt er sich eigentlich diesem, dem Volk, zu: die durch das Adreßbuch geschaffene hierarchische Ordnung ist falsch, fabulös, irreführend. Andere Angriffe auf die politisch-staatlichen Verhältnisse sind noch schärfer. Aber Heine hat die Aphorismen doch wohl nicht als geheimes Tagebuch betrachtet, das deswegen angelegt wurde, weil diese politischen Bemerkungen das Licht der Öffentlichkeit nicht erblicken konnten. Die „Aphorismen“ und „Fragmente“ und „Einfälle“ sind keine Tarnkappen – zumal der Anteil des nicht unmittelbar Politischen, Religiösen und Philosophischen hoch ist. Gerade für diese kleinen Texte gilt der Satz aus der zweiten Auflage des Buches der Lieder, daß seine poetischen, politischen, theologischen und philosophischen Schriften „einem und demselben Gedanken“, also einem einheitlichen Denken „entsprossen sind“, ganz besonders: die kleinen Texte sind ein Spiegelbild der schriftstellerischen Existenz Heines in nuce. So ist denn auch die Unterteilung, die Strodtmann und in seinem Gefolge Elster und andere Editoren vornahmen, also die Trennung zwischen Politischem, Religiösem und Literarischem und innerhalb dessen eine mehr oder weniger assoziativ geleitete Anordnung schon deswegen unsinnig, weil 18 Loewenthal (wie Anm. 6), S. 152f. Heines verkannte „Aphorismen“ und „Fragmente“ 201 sie Grenzen setzt, wo Heine gar keine gesehen hat. Der geradezu unendliche Raum der von Heine abgeschrittenen Themen ist aber auch nicht als willkürliche Raisoniererei über alles mögliche zu erklären, sondern zeigt, welche Bedeutung der Summe der kleinen Texte zukommt: sie sind so etwas wie ein Systemersatz, treten an die Stelle großer Kompendien und haben eigentlich nichts Geringeres als den gesamten Weltlauf zum Inhalt. Nichts ist ausgenommen aus der kommentierenden Berichterstattung, alles kann Gegenstand sein: dahinter verbirgt sich der nicht geringe Anspruch, tatsächlich über alles in der Welt sprechen zu können. Das beleuchtet einerseits den immer noch vorhandenen Glauben an die Allmacht des Dichters, der schreiben kann, über was er will, zum anderen aber auch den ungeheuren Anspruch der kleinen Texte: sie treten gewissermaßen an die Stelle großer Welterklärungsbücher, an die Stelle auch von Weltsystemen, wie Goethe sie etwa in seiner organologischen Kunstbetrachtung eingeführt hat. Auch das sagt etwas über die Bedeutsamkeit dieser kleinen Texte aus, die eben ein traditionelles Betrachtungssystem ersetzen sollen. Mindestens ebenso bedeutsam aber ist die radikale Tendenz. Man hat das alles immer wieder mit Heines Witz in Verbindung bringen wollen, mit seiner Neigung zur Pointe, seinem ironischen Sprechen. Aber das ist zu kurz gesehen, denn was wir hier vor uns haben, ist eine radikalisierte Weltansicht, die sich nicht im witzigen Spiel erschöpft, sondern die gerade in ihrer Radikalität die Wahrheit vermitteln will. So sind Heines kleine Texte Bruchstücke einer Aufklärung im 19. Jahrhundert, die ihrem Wahrheitsanspruch nachkommt. Die Ansicht, daß diese Welt unvollkommen sei, teilt Heine mit seinem bewunderten Vorbild Lessing. Ebenso charakteristisch aber ist für seine Fragmente ein progressiver Zug, die Suche nach einer besseren Welt und der Wahrheit, wobei darunter nicht die Wirklichkeit naturgesetzlicher Kausalitäten zu verstehen ist, sondern das, was das eigentliche Wesen der Dinge ausmacht. Das soll freilich nicht heißen, daß Heine nicht auch einen Blick für technische Entwicklungen und für die Moderne des 19. Jahrhunderts gehabt habe. Er notiert einmal: Die höchste Blüthe des deutschen Geistes: Philosophie und Lied – Die Zeit ist vorbei, es gehörte dazu die idyllische Ruhe, Deutschland ist fortgerissen in die Bewegung – der Gedanke ist nicht mehr uneigennützig, in seine abstrakte Welt stürzt die rohe Thatsache – der Dampfwagen der Eisenbahn gibt uns eine zittrige Gemütserschüttrung, wobei kein Lied aufgehen kann, der Kohlen- 202 Heines verkannte „Aphorismen“ und „Fragmente“ dampf verscheucht die Sangesvögel und der Gasbeleuchtungsgestank verdirbt die duftige Mondnacht.19 Aber auch die Erkenntnis dieser Lebensbedingungen ist Aufklärung, so wie die Radikalität des Blicks und die Unbeirrbarkeit der Formulierung. Hier schwingt auch noch ein bißchen von der Göttin Irascibilität mit, der Lessing gehuldigt hat – auch Heines Texte sind im Grunde genommen streitbare Texte. So ist der Aphorismus, das Fragment, sind die kleinen Texte der Gedanken und Einfälle in mehrfacher Hinsicht aufklärerische Instrumente. Daß Aufklärung auch politische Aufklärung für Heine beinhaltet, versteht sich von selbst. Aber auf der anderen Seite zeichnet sich hier, im Heineschen Aphorismus, noch eine andere Bewegung ab, die für das frühe 19. Jahrhundert mindestens ebenso charakteristisch ist. Und dieses unterscheidet letztlich die Aufklärung des frühen 19. Jahrhunderts von der des 18. Jahrhunderts. Was ist die Basis, wer liefert das Fundament, von dem her Aufklärung auch im radikalen Sinne des Wortes möglich ist? Im 18. Jahrhundert waren es große menschheitliche Konzepte – von alledem ist zu Heines Zeiten nichts mehr geblieben, und es kann kein Zweifel sein, daß in diesem Sinne die Aufklärung eher eine Rückzugsposition bezogen hat. Aber zugleich werden hier Entwicklungen des neuen Jahrhunderts sichtbar, die nicht weniger bedeutsam sind als das Ende der alten Aufklärung des 18. Jahrhunderts. Denn der einzige Bezugspunkt, von dem Heine aus argumentiert, ist sein eigenes Ich, und seine direktesten Verlautbarungen und Äußerungen sind seine Gedanken und Einfälle. So sind diese eigentlich Zeugnisse einer fortdauernden Ich-Philosophie, und mit ihnen beginnt in gewisser Weise die Entdeckung des Ich im 19. Jahrhundert, der Individualismus, das Aufsich-gestellt-Sein eines jeden trotz aller Traditionen. Das Jahrhundert der Einzelnen dämmert herauf, und es ist Heine, der sich als einer der ersten von seiner Individualität her begreift. So urteilt er denn aus seiner Sicht, von der er aber überzeugt ist, daß sie die wahre sei – wenn Aufklärung verbreitet werden kann, dann nur noch von Individuen, nicht mehr von Religionen, Menschheitskonzepten oder Weltanschauungen. In dieser Spätphase der Aufklärung ist das Ich die einzige Aufklärungsinstanz, und es kann kein Zweifel sein, daß es sich deswegen auch der ganzen Welt bemächtigen kann, weil er eines Korrektivs von 19 Ebd., S. 195. Heines verkannte „Aphorismen“ und „Fragmente“ 203 außen nicht mehr bedarf. So wird also auch von hierher verständlich, warum die große Zahl seiner Aphorismen an die Stelle eines Welterklärungssystems tritt. Was begonnen hat, ist die Zeit der Einzelnen, und es ist vor allem seit den dreißiger Jahren nicht mehr ein romantisch verklärter, sondern ein desillusionierter Blick, den Heine an die Dinge legt. Auch von hierher ist die Radikalität seiner Aussagen verständlich und legitimiert. Die Enthüllungen machen übrigens vor der eigenen Person nicht halt. Einmal heißt es: „Da und da hatte ich einen großen Gedanken, hab’ ihn aber vergessen. Was mag es wohl sein? Ich plage mich mit Erraten.“20 Was Heine beschreibt, ist ein allgemeiner Weltniedergang, mehr jedenfalls als ein fröhlicher Blick in die Zukunft; wenn er einmal feststellt: „Wie vernünftige Menschen oft sehr dumm sind, so sind die Dummen manchmal sehr gescheut“,21 so ist ein solcher Satz mehr als nur eine rhetorische Pointe, nämlich Ausdruck fast schon des Nihilismus, wie er sich ungefähr gleichzeitig auch bei Büchner durchsetzt. Die großen Konzeptionen gelten nicht mehr, weder was den Lauf der Geschichte noch was den Sinn des einzelnen Lebens angeht, aber um so deutlicher wird ins Blickfeld gerückt, was tatsächlich ist. So treffen sich in Heines sogenannten Aphorismen und Fragmenten auf eindrucksvolle Weise das 18. und das 19. Jahrhundert, die Aufklärung und die Desillusionierung, die großen Entwürfe der Menschheit und die Ernüchterung, Skepsis, die Einsicht, daß das Ich allein noch übriggeblieben ist. Heine hat gelegentlich über seine Exilsituation geschrieben, besonders, was seine Existenz in Frankreich angeht, wenn er etwa sagt: „Mein Geist fühlt sich in Frankreich exiliert, in eine fremde Sprache verbannt.“22 Zugleich ist das aber auch das Exil des Ich, das im 18. Jahrhundert nicht mehr heimisch sein kann und in ein sehr unwirtliches 19. Jahrhundert hinausgetreten ist. Eine gehörige Portion Sarkasmus ist freilich auch in der Ich- Philosophie Heines vertreten. Er schreibt: Friedliche Gesinnung. Wünsche: bescheidene Hütte, Strohdach, aber gutes Bett, gutes Essen, Milch und Butter, sehr frisch, vor dem Fenster Blumen, vor der Türe einige schöne Bäume, und wenn der liebe Gott mich ganz glücklich machen will, läßt er mich die Freude erleben, daß an diesen Bäumen etwa sechs bis sieben meiner Feinde aufgehängt werden – Mit gerührtem Herzen werde ich ihnen vor ihrem Tode alle Unbill verzeihen die sie mir im Leben 20 21 22 Heine (wie Anm. 3), Bd. 7, S. 448. Loewenthal (wie Anm. 6), S. 183. Ebd., S. 170. 204 Heines verkannte „Aphorismen“ und „Fragmente“ zugefügt – ja, man muß seinen Feinden verzeihen, aber nicht früher als bis sie gehenkt worden.23 Das ist zynisch, aber irgendwo spricht sich auch in dieser Feststellung die unbeschränkte Herrschaft des Ich aus. Dieses absolute Ich wird hier geboren, und bei aller friedlichsten Gesinnung ist es doch auch ein militantes Ich, das sich hier ausstellt. So ist die Aufklärung des 18. Jahrhunderts oder besser der Weg vom 18. ins 19. verbunden mit einer Reduktion der aufklärerischen Fundamente bis auf das Ich hin als letzte Einzelgröße, die allein noch imstande ist, Aufklärung zu leisten. Aber Heine betreibt sie um so radikaler, schonungsloser und gründlicher. Heine, der späte Aufklärer im 19. Jahrhundert, das absolute Ich, das aber den Sinn seines Lebens in der Aufklärung sieht, hat mit ähnlicher Hellsichtigkeit auch etwas über seine eigene Situation gesagt, wenn er seinen Standort selbst so beschrieb: „Um meine Wiege spielten die letzten Mondlichter des achtzehnten und das erste Morgenrot des neunzehnten Jahrhunderts“.24 Nichts könnte klarer Heines Position bezeichnen, nichts aber letztlich auch deutlicher machen, warum Heine es bei den Elementarteilchen der Selbstdarstellung, bei Gedanken, Einfällen und Aphorismen, belassen mußte. Und damit ist am Ende vielleicht die richtige Antwort auf die Frage nach Sinn und Bedeutung der kleinen Prosatexte gefunden: Strodtmann, der sie so willkürlich ediert hat, hat doch eine richtige Idee gehabt, wenn er vermutete, daß der „weitaus größte Teil“ der in Heines Nachlaß vorgefundenen Papiere für den Nachlaßband in der Werkausgabe bestimmt gewesen sei, von dem im Briefwechsel mit Campe mehrfach die Rede ist. Geht man davon aus, daß die Mehrzahl der Prosatexte etwa zwischen 1830 und 1847 niedergeschrieben worden ist, dann hätten wir hier tatsächlich nichts Zweit- oder Drittrangiges vor uns, sondern nichts Geringeres als eine fragmentarische Geschichte des Heineschen Denkens selbst, ein Komplementärunternehmen zu seinen immer gewollten und nie abgeschlossenen Memoiren, die ihm jahrzehntelang sein wichtigstes Werk waren. Sagen wir getrost noch schärfer: es sind seine gedanklichen Memoiren, die sich anders kaum schreiben ließen, die Memoiren eines modernen Ich, das letztlich, was sein Schreiben und Denken anging, auch eine moderne, gleichsam fragmentarische Existenz führte. 23 24 In gegenüber Elster etwas geänderter Fassung ebd., S. 202f. Ebd., S. 187. H E I N E S ‚M I L LE N N I U M ‘ U N D E I CH E N D O R F FS ‚ A LT E S CH Ö N E Z E I T ‘. Z U R U T O PI E I M F RÜ H E N 19. J A H RHU N D E RT Was Heine und Eichendorff miteinander gemeinsam haben, ist auf den ersten Blick nicht viel anderes als das, was Gegensätze miteinander verknüpft. Eichendorff ist neun Jahre vor Heine geboren und ein Jahr nach ihm gestorben. Was ihn darüber hinaus mit Heine verbindet, ist außer einigen wechselseitigen Erwähnungen, die von Heines Seite aus direkt und sehr freundlich, von seiten Eichendorffs indirekt und sehr wenig freundlich sind, und allgemein Spätromantischem, das weder für den Einen noch für den Anderen sonderlich spezifisch ist, nur eines, nämlich die beiderseitige offensichtliche Vorliebe für den PygmalionStoff. Heine hat in seinen Elementargeistern den Mythos von der lebendig gewordenen Marmorstatue in einiger Ausführlichkeit beschrieben und die Geschichte von dem jungen Ritter nacherzählt, der in Italien, dem gewöhnlichen Schauplatz derartiger Aventiuren, von den „schönen Unholden“, den verbannten Heidengeistern, mit allerlei lieblichen Listen umgarnt wird und der nächtlicherweise (soweit ist auch Heine noch Romantiker) in eine Villa gerät, wo er einer schönen Dame begegnet, die eben der marmornen Bildsäule gleicht, die ihn unter den Trümmern des Heidentums, unter denen er gerne wandelt, mit Magie umgeben und ihn verzaubert hat. Er folgt der Einladung der schönen Fremden, aber dann fällt er in wüste Träume und schlägt, immer noch im Traum, der schönen Unbekannten, die sich in ein häßliches Ungeheuer verwandelt hat, das Haupt ab; als er morgens erwacht, sieht er sich zwar in seinen wohlbekannten Ruinen wieder, aber die schöne Bildsäule, die er so sehr geliebt, ist von ihrem Postamente herabgestürzt, ihr abgebrochenes Haupt liegt zu seinen Füßen. Das ist, mit einigen Variationen, zugleich Florios Geschichte, Eichendorffs Marmorbild, die lebendig gewordene Venusstatue, die als „schöne Herrin des Gartens“ erscheint.1 Es sind romantische Versionen der Venusbergge1 Sämtliche Werke des Freiherrn Joseph von Eichendorff. Historisch-Kritische Ausgabe […], hg. von Hermann Kunisch (†) und Helmut Koopmann (= HKA), Bd. V/1, Tübingen 1998, S. 53. 206 Heines ‚Millennium‘ und Eichendorffs ‚alte schöne Zeit‘ schichte; die Fabel vom „bösen Trug“ und der Zaubermacht der längst totgesagten Antike, die hier für Eichendorff und für Heine aus ihrem Grabe wieder heraufgestiegen ist, gleicht sich bei beiden nur zu sehr, auch wenn bei Heine bloß in Abbreviaturen wiedergegeben wird, was Eichendorff in seiner so mäandrisch verschlungenen Geschichte bis ins vieldeutige Detail hin erzählt hat. Eichendorffs Marmorbild war 1819 erschienen, Heines Elementargeister wurden 1837 im dritten Teil des Salon veröffentlicht. Natürlich kannte Heine Eichendorffs Novelle, und er hat sich sogar sehr lobend über Eichendorffs Bearbeitung dieser Geschichte ausgelassen: „Der Freyherr von Eichendorff“, so heißt es bei ihm, „ein neuerer deutscher Schriftsteller, hat sie zu einer schönen Erzählung aufs anmuthigste benutzt“.2 Aber das ist auch alles. Sonderlich enge Gemeinsamkeit schafft es natürlich nicht, und die Gemeinsamkeiten zerrinnen uns schon wieder unter den Fingern, kaum daß wir sie gefunden haben. Denn der Stoff war im 19. Jahrhundert überaus beliebt: Immermann hat ihn in seinem Neuen Pygmalion ebenso genutzt wie Willibald Alexis in seiner Novelle Venus in Rom. Es ist ja zugleich das Tannhäusermotiv, von Tieck in Der getreue Eckart und der Tannenhäuser ebenso bearbeitet wie von Brentano in seinen Romanzen vom Rosenkranz. Dazu gehören auch Heines eigenes Tannhäuser-Gedicht und ebenfalls Die Göttin Diana, der VenusbergNachtrag zu den Göttern im Exil, auch Geibels Ballade, von Wagners gesamtkunstwerklichem Musikdrama ganz zu schweigen. Der Stoff ist im 19. Jahrhundert dutzendfach variiert, ausgeweitet und neu inszeniert worden bis hin zu Jensens Gradiva, über die Sigmund Freud dann psychoanalytisch gehandelt hat. Übrigens hat Heine nicht einmal den Stoff von Eichendorff, sondern von dritter Seite, von Heinrich Kornmanns Mons Veneris, Fraw Veneris Berg, schon 1614 in Frankfurt erschienen, „die wichtigste Quelle für das ganze Thema“, wie Heine selbst erklärt.3 Heine druckt in seinen Elementargeistern auch Brentanos WunderhornGedicht ab und die Vorlage für sein eigenes Tannhäuser-Gedicht von 2 Heinrich Heine. Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke, hg. von Manfred Windfuhr (= DHA), Bd. 9, Hamburg 1987, S. 51 – Das ist von Heine ungenau oder zumindest unzureichend festgestellt. Über die Beziehungen der Eichendorffschen Erzählung zu Happels Denkwürdigkeiten und zu Novalis’ Heinrich von Ofterdingen sowie zu dem von Kind herausgegebenen, heute so gut wie unbekannten 7. Band der Tulpen und zur Gespenstergeschichte Der Fremde in Lucca vgl. Gerhard Möbus: Der andere Eichendorff, Osnabrück 1960, S. 78-101. 3 Ebd., S. 51. Heines ‚Millennium‘ und Eichendorffs ‚alte schöne Zeit‘‘ 207 1836, und er erwähnt ebenfalls ein absurdes Zauberbuch, Disquisitionum magicarum libri sex, auctore Martino Del Rio von 1608, wo er den Stoff ebenfalls gefunden habe. Das alles schafft aber selbstverständlich noch keine Gemeinsamkeiten zwischen Eichendorff und Heine, sondern zeigt nur, daß beide unter Dutzenden anderer sich über einen Stoff hergemacht haben, der zu den Lieblingsstoffen des 19. Jahrhunderts gehörte, weil er als romantisch galt. Sonst gibt es eben nur wenig an Beziehungen, an Äußerungen übereinander oder zu Dritten: sie haben nebeneinander hergelebt, aber nicht sehr viel miteinander zu tun gehabt. Heine hat sich über Eichendorff zwar immer nur lobend ausgelassen. In der Romantischen Schule ist über ihn zu lesen: In der That, welch ein vortrefflicher Dichter ist der Freyherr von Eichendorff; die Lieder die er in seinem Roman Ahnung und Gegenwart eingewebt hat, lassen sich von den Uhlandschen gar nicht unterscheiden, und zwar von den besten derselben. Der Unterschied besteht vielleicht nur in der grüneren Waldesfrische und der kristallhafteren Wahrheit der Eichendorffschen Gedichte.4 Aber Heine lobt die Romantiker reihenweise, und er sagt auch deutlich, daß hier der Ort sei, wo er noch manchen von der Romantischen Schule rühmen könne. Und das tut er auch in ausführlichster Oberflächlichkeit: sein Maßstab ist Uhland, Erzromantiker schlechthin für Heine, ein Jugenderlebnis, romantisch, weil Uhland schon damals „das alte Lied von der alten Zeit“ sang.5 Und hinter Uhland stellen sich für Heine eigentlich dann auch fast alle anderen Romantiker: außer Eichendorff Justinus Kerner und Gustav Schwab, Wilhelm Müller und Brentano, Chamisso und Wetzel: in Uhland, so heißt es, „resumiren sich die meisten seiner lyrischen Gespielen von der romantischen Schule“.6 Das ist Heines Romantik-Bild, wenn man von den Auslassungen über Tiecks chamäleonhafte Fertigkeiten, über Brentanos Merkwürdigkeiten, Arnims Phantasmen und einige romantische Verrücktheiten und von den kritisch-boshaften Tiraden über den altgewordenen Ludwig Tieck, den „Hund, der einst gehört zu den Bessern“, wie es im Tannhäuser heißt, einmal absieht, und in diesem Bild ist Eichendorff nicht sehr viel mehr als ein freundlicher Statist. 4 5 6 DHA 8/I, S. 237. DHA 8/I, S. 234. DHA 8/I, S. 239. 208 Heines ‚Millennium‘ und Eichendorffs ‚alte schöne Zeit‘ Aber dieses harmlose und freundliche Porträt trügt, zumindest aus der Sicht Eichendorffs. Von literarischer Gegenliebe keine Spur; eher vom Gegenteil. Namen hat Eichendorff selten genannt; doch seine Meinung war nur zu deutlich. In seiner Schrift Ueber die Folgen von der Aufhebung der Landeshoheit der Bischöfe und der Klöster in Deutschland liest man von „fader Schwärmerey oder politischem Wahnsinn“, der alle ernsten Verhältnisse verwirrend unter Wasser setzte, und vom falschen, lügenhaften Leben.7 Das dürfte sich nur zu eindeutig auf Literatur und Wirken des Jungen Deutschland beziehen. Es ist kein Einzelurteil. Denn auch in seiner Schrift Der deutsche Roman des 18. Jahrhunderts in seinem Verhältniß zum Christenthum stand etwas über „Journalisten, Touristen, Magister der freien Künste u. dgl. m.“.8 Das war deutlich genug, selbst wenn man nicht Heines Satz „Die Journale sind unsere Festungen“ gelesen und Börnes Formel vom „Zeitschriftsteller“ nicht gehört hatte. Wer könnte mit den Touristen anders gemeint gewesen sein als die Verfasser der zahllosen und endlosen Reiseberichte, vor allem aus Paris, allen voran Börnes Schilderungen aus Paris und Heines Reisebilder, beides auffälligste Dokumente eines literarischen Tourismus, den es vorher in der Form tatsächlich noch nicht gegeben hatte? Und mit den „Magistern der freien Künste“ dürfte Eichendorff wiederum die Jungdeutschen und deren Begeisterung für den Saint-Simonismus gemeint haben, die allzufreien Künste, die anrüchige Philosophie der Fleischwiedereinsetzung und die Verteidigung der „freien Ehe“, die offenen und versteckten zahlreichen Angriffe auf das Christentum und die Sensualismusphilosophie. Alle diese Kombattanten der Säkularisation leben, so meint Eichendorff, „von der endlosen Bewegung und Negation“, und man braucht sich nur jungdeutscher Schlagwörter wie „Bewegungsliteratur“ und „Bewegungsparteien“ zu erinnern, um zu wissen, was Eichendorff gemeint haben dürfte. Das Bild vom welt- und zeitabgewandten Romantiker Eichendorff ist eine zwar liebgewordene, aber allzu trügerische Vorstellung. Eichendorff hat die „politische Poesie“ seiner Zeit, wie er sie nannte,9 nur zu genau gekannt. Heine kommt nicht allzugut weg. Heine war der Erste, der in diesem verwilderten Feldzuge das sauve qui peut! öffentlich ertönen ließ, und mit zweischneidiger Ironie, von dem in der eige7 8 9 HKA X/1, S. 47. HKA VIII/2, S. 217. HKA VIII/2, S. 214f. Heines ‚Millennium‘ und Eichendorffs ‚alte schöne Zeit‘‘ 209 nen Phantasterei steckengebliebenen Munitionskarren der Romantik rasch die letzten Gurten und Stränge durchschneidend, mit Sattel und Zeug zu dem schon lange schadenfroh gegenüber lauernden Heidenthum Reißaus nahm. Eine ganze Freischar romantischer Trainknechte, Nachzügler und Marodeurs, ja Alles, was inzwischen am Glauben Schiffbruch gelitten, folgte ebenso frech, aber weniger witzig als Heine seinem willkommenen Signalrufe […].10 Auch wenn wir nicht wüßten, welch scharfes Urteil Eichendorffs Begriff des Verwilderns enthält, wären wir sicher, wie Eichendorff auf den letzten Romantiker zu sprechen war. Heine erscheint als eben einer jener wetterwendischen und unzuverlässigen Gaukler, als die ihm, Heine, die meisten der altgewordenen Frühromantiker erschienen waren, in direkter Umkehr des Urteils. Daß Heine Eichendorff gelobt hatte, konnte diesen nicht bestechen. Heine blieb für ihn der durchgebrannte Romantiker, und „frech“ blieb, was er sagte: in der Geschichte der Heinewirkung ein nur zu bekanntes und beliebtes Urteil.11 Eichendorff ist kein sonderlich einfallsreicher Heine-Kritiker gewesen. Um so auffälliger ist die eigentümliche Militanz der Argumentation. Eichendorff operiert mit Kriegsbegriffen, nicht zufällig, denn in seinen Augen geht es um einen allgemeinen Feldzug der guten Literatur gegen die schlechte und um den der „Poesie der Wahrheit“ gegen die „Poesie der Lüge“12 – auch das übrigens ein Hinweis darauf, wie wenig Eichendorff der unbeschwerte Romantiker ist, den die Zeit nichts angeht. Sein Urteil über das Junge Deutschland und damit auch über Heine als einen seiner Chorführer war so scharf, weil er hier ein Prinzip am Werke sah, das er bekämpfen mußte, wollte er sich selbst nicht verleugnen: Jene antichristliche Poesie nennt sich selbst die jungdeutsche, eine ganz unhistorische Anmaßung, die wir durchaus nicht gelten lassen können. Sie ist nicht deutsch, denn wir Alle haben ihre Großväter Rousseau und Voltaire in Frankreich und ihren englischen Vater Byron noch recht gut gekannt, und jung ist 10 HKA VIII/2, S. 232f. Weitere Anspielungen Eichendorffs auf Heine finden sich in Eichendorffs Entwürfen zum Puppenspiel Das Incognito in Bemerkungen über den Anführer der Liberalen Freimund (dazu Hugo Häusle: Eichendorffs Puppenspiel ‚Das Incognito‘. Deutsche Quellen und Studien, Heft 6, Regensburg 1910, S. 59 und S. 42). 11 Zur Heine-Rezeption in Deutschland, insbesondere im 19. Jahrhundert vgl. Eberhard Galley: Heine im Widerstreit der Meinungen 1825-1965. Schriften der Heinrich-HeineGesellschaft Düsseldorf 3, Düsseldorf 1967 und Verf.: Heinrich Heine in Deutschland. Aspekte seiner Wirkung im 19. Jahrhundert, in: Nationalismus in Germanistik und Dichtung, Berlin 1967, S. 312-333. 12 HKA VIII/2, S. 230. 210 Heines ‚Millennium‘ und Eichendorffs ‚alte schöne Zeit‘ sie auch nicht, wenn man unter Jugend nicht Juvenilität, sondern nur Das verstehen will, was wirklich frische Triebkraft zeigt. Sie hat aber, wie wir oben gesehen, nichts Neues erfunden, sondern nur dem längstvorbereiteten Unglauben poetischen Ausdruck, und somit allerdings eine verschärfte und allgemeinere Wirksamkeit gegeben; sie hat die alte Negation, die weder mehr leben noch sterben konnte, endlich in allen ihren Variationen zu Tode gespielt.13 Hier finden sich für Eichendorff sehr entscheidende Vokabeln: das Antichristliche, Unglauben, die alte Negation. Die alte Negation ist natürlich für Eichendorff die Aufklärung und dahinter jede Form des Protestantismus, der, indem er reformieren wollte, „vielmehr gegen die Ueberlieferung schlechthin protestirte“:14 für Eichendorff die Erscheinung des Nihilismus schlechthin. Daß das Junge Deutschland so als der letzte Ausläufer der Aufklärung erschien, war nicht nur Eichendorffs Sicht: die jungdeutsche Bewegung selbst und allen voran Heine haben in den Aufklärern und in Lessing insbesondere ihre Ahnherren gepriesen und als deren Vorläufer wiederum Luther erkannt. Eben das aber machte sie zum zwangsläufigen Feind und Eichendorff zu einem unbedingten Gegner, und so zog er gegen sie aus in Kampfeslust und „Pulverdampf“, mit „ästhetischer Bravour“ und in kämpferisch „aufgewirbelten Staubwolken“, in einem „allgemeinen Krieg“,15 in „Getümmel“16 und militärischen Manövern. Das ist Eichendorffs Sprache, die Sprache eines militanten Moralisten, der hier nur noch den Kampf kennt und nichts Versöhnliches. Eichendorff hat sich in leicht verschlüsselter Form so noch häufiger geäußert. Nur harmlose Gemüter können seine Erzählung Auch ich war in Arkadien! als das verstehen, als was der Untertitel sie ausweist: „Eine Phantasie“. Der Untertitel stammt auch gar nicht von Eichendorff selbst, sondern von seinem Sohn. Es ist eine Literatursatire, in bester Tradition dieser Gattung, alles andere als harmlose Einbildung, vielmehr boshafteste Ironie. Das beginnt mit der Beschreibung der Situation des Reisenden, der wieder hinter seinem Pulte sitzt, um den Reisebericht abzustatten – nochmals ein Hieb auf die Reisebilderliteratur. Der Berichtende hat allerdings nicht sonderlich viel zu erzählen, da er wie ein Einsiedler lebte, der „von der Welt und ihrer Juli-Revolution 13 14 15 16 HKA VIII/2, S. 243. HKA VIII/2, S. 38. HKA VIII/2, S. 231. HKA VIII/2, S. 6. Heines ‚Millennium‘ und Eichendorffs ‚alte schöne Zeit‘‘ 211 leider wenig Notiz genommen“.17 Er findet, dennoch zur Deutschtümelei entschlossen, daß „die Deutschen […] unterdeß französisch, die Franzosen deutsch, beide aber wiederum ein wenig polnisch geworden“. Ob das ein Hieb ist auf Heines Schrift Ueber Polen, ist nicht sicher. Aber folgendes bezieht sich sicher auf ihn und seine Nachfolger. So kehrt er in den Gasthof „Zum goldenen Zeitgeist“ ein, wo es früher allerdings stiller herging, „denn wir hatten alle mehr Witz als Geld“. Neben der Frechheit galt nichts als charakteristischer für Heine als der skrupellose und zu allem entschlossene Witz: das alles war mehr als anspielungsreich, so wie die satirische Schilderung eines Lesekabinetts (bei Börne gibt es ähnliches; aber natürlich nicht ernsthaft) ebenfalls auf die Jungdeutschen abzielte; man äußert, gleichsam als Losung, dort nur kurze Worte wie „Preßfreiheit“, „Garantie“ oder „Konstitution“. Schließlich wandelt sich die Szene zum Blocksberg-Ritt. Dort, auf dem Blocksberg, saßen „sieben Pfeiffer […] zur Seiten auf einem Stein und bliesen das ça ira von Anfang bis zu Ende und wieder und immer wieder von vorn“.18 Philipp Jakob Siebenpfeiffer, von Heine in den Französischen Zuständen und später in seiner Denkschrift über Ludwig Börne ausführlicher erwähnt, gehörte zu den bekannteren Republikanern und war eine der führenden Figuren des Hambacher Festes. Daß mit den sieben ça ira blasenden Pfeifern Siebenpfeiffer gemeint ist, steht zwar expressis verbis nirgendwo, aber es ist eine unabweisliche, zwingende Assoziation. Eichendorff verlangt gerade in seinen Skurrilitäten aufmerksame Leser: das Phantastische hat nur zu oft einen realistischen Boden. Auf den Satz von den sieben Pfeifern folgt: Auf der Tribüne der Restauration aber stand der Wirth und schrie mitten durch das Geblase mit durchdringender Stimme seine Wunderbüchsen und Likör-Flaschen aus: Konstitutionswaßer, doppelt Freiheit! u.s.w. Unten schoßen Kinder Burtzelbäume und warfen jauchtzend ihre rothen Mützchen in die Luft, das Volk war wie beseßen, sie würgten einander ordentlich, jeder wollte sein Geld zuerst los seyn.19 HKA V/3, S. 159. HKA V/3, S. 166. Näheres über die satirische Szenerie schon bei Reinhold Wesemeier: Joseph von Eichendorffs satirische Novellen, Marburg/Lahn 1915, S. 22ff. und im Eichendorff-Kommentar von Ansgar Hillach und Klaus-Dieter Krabiel, Bd. I, München 1971, S. 152ff. 19 HKA V/3, S. 166f. 17 18 212 Heines ‚Millennium‘ und Eichendorffs ‚alte schöne Zeit‘ Mehr als die roten Mützchen verrät der Wirt, was hier auf dem Blocksberg vorgeht. Mit dem Wirt auf der Tribüne der Restauration (Eichendorff spricht hintersinnig von einem Restaurationsbetrieb) ist der Doktor Wirth, der Die Deutsche Tribüne herausgab, gemeint: das ist kein Zufall. Zu allem Überfluß befindet sich die Restauration unter einem dreifarbigen Zelt (wir müssen gar nicht gesagt bekommen, welche Farben es sind), und auf ihm sitzt ein fuchsroter alter Hahn, der unaufhörlich kräht. Auch in Heines Börnebuch wird es wenige Jahre später ähnlich vieldeutig und zugleich eindeutig wie bei Eichendorff heißen: „In Paris, lieben Freunde, hat der Hahn gekräht; das ist alles was ich weiß“.20 Auch wir brauchen nicht mehr zu wissen, denn das alles ist mehr als deutlich. Arkadien: das ist eigentlich der Blocksberg, und das Blocksbergfest, das Hambacher Fest, ist vermengt mit nahezu unaufhörlichen Anspielungen auf die Julirevolution und den rotmützigen Republikanismus, und das Ganze ist durchzogen von Eichendorffs eindeutig scharfer Meinung dazu. „Im Hintergrund“, so heißt es, aber schien sich ein seltsames Wolkengerüst mit Logen und Gallerieen langsam aufzubauen, alles Grau in Grau; dazwischen pfiff ein heftiger Zugwind, daß ich meinen Hut mit beiden Händen auf dem Kopfe festhalten mußte, und die Fackeln warfen wilde rothe Streiflichter zwischen die Wolkengebilde, überall ein chaotisches Dehnen und Wogen, als sollte die Welt von neuem erschaffen werden.21 Es ist die alte Gewittermetapher Eichendorffs, wie wir sie aus der Revolutionsgeschichte vom Schloß Dürande kennen; das sinnbildliche Unwetter, der politische Weltenbrand, erfaßt dort schließlich die ganze Welt. „Als der Tag anbrach“, heißt es dort gegen Ende der Erzählung, war der ganze Himmel gegen Morgen dunkelroth gefärbt; gegenüber aber stand das Gewitter bleifarben hinter den grauen Thürmen des Schlosses Dürande, die Sterbeglocke ging in einzelnen abgebrochenen Klängen über die stille Gegend, die fremd und wie verwandelt in der seltsamen Beleuchtung heraufblickte.22 Das Gewitter ist die Revolution, und die allgemeine Revolutionsangst, der tiefe Revolutionspessimismus, wie er sich um 1830 im konservativen Lager überall breitmachte, bei Niebuhr in seiner Römischen Geschichte 20 21 22 DHA 11, S. 52, S. 134 in der Einleitung zu Kahldorf über den Adel. HKA V/3, S. 171f. HKA V/1, S. 310. Heines ‚Millennium‘ und Eichendorffs ‚alte schöne Zeit‘‘ 213 so gut wie beim alten Goethe, bei Görres so gut wie bei Eichendorff,23 er könnte sich kaum besser symbolisiert haben als in diesem Bild elementarer Zerstörung.24 Eben dieses Revolutionsgewitter droht auch hier, im satirisch verstandenen Arkadien, dem Hambacher Blocksbergfest. Vielleicht hat Eichendorff auch noch auf anderes angespielt.25 Aber wie dem auch sei: Eichendorff hat sich auf mehr als deutliche Weise und wiederholt von den Julirepublikanern distanziert, vom Hambacher Fest und den Jakobinermützen, dem Revolutionsgejubel und dem jungdeutschen Emanzipationswahn. Und nichts könnte den Gegensatz deutlicher bezeichnen als Heines im Börnebuch mehrfach enthusiastisch wiederholte Formel „Lafayette, die dreifarbige Fahne, die Marseillaise“ und Eichendorffs Satz, ausgesprochen im Jahr der Julirevolution: „Vor allem behüte uns Gott vor einem deutschen Paris“. * Jeder Eichendorff-Leser weiß, was Eichendorff den zerstörerischen Zeitkräften entgegenzusetzen hat: die „alte schöne Zeit“. Sie ist ein Gegenbereich zur Welt der Revolution, und Eichendorff hat sie poe23 Über Goethes und Niebuhrs Revolutionspessimismus berichtet Ranke (Sämtliche Werke, Bd. 49/50, Leipzig 1887, S. 171); Görres hat in seinen Revolutionsschriften die Gefahren ebenso nachdrücklich beschrieben, wie die Jungdeutschen, teilweise wenigstens, hier ihre Hoffnungen sahen. Auch Hegel sprach von den „ewig unruhevollen Zeiten des Fürchtens und Hoffens“ (Brief an Creuzer vom 30. Oktober 1819): eine Stellungnahme, die sich in dieser Zeit nur zu häufig wiederholt. Vgl. zu diesem Problem Karl Löwith: Von Hegel zu Nietzsche. Der revolutionäre Bruch im Denken des 19. Jahrhunderts, Stuttgart 1958, S. 40ff.; Joachim Ritter: Hegel und die Französische Revolution, Köln/Opladen 1957, S. 15ff. und Theodor Schieder: Das Problem der Revolution im 19. Jahrhundert, in: Historische Zeitschrift 170, 1950, S. 233ff. 24 Eichendorff hat es übrigens oft verwandt. Auch in Robert und Guiscard erscheint die Revolution „wie’n feurig Wetter“. Eichendorffs Versepos Julian endet ähnlich. „Die Blitze werden zielen nach den Kronen,/ Die Stürme rastlos fegen durch die Gauen“, heißt es in dem Gedicht Kein Pardon von 1848. Eichendorff dürfte das Bild vom Revolutionsgewitter von Görres übernommen haben; dort findet es sieh schon, in der Schrift über Teutschland und die Revolution, 1819, und ähnlich noch einmal 1821 in der zweiten Revolutionsschrift, Europa und die Revolution. 25 Börne war auf dem Hambacher Fest die Uhr gestohlen worden; in Eichendorffs Arkadien kommt dem Tyrannen in Pantoffeln und Schlafrock, der Philisterdraperie der Zeit, der Tabaksbeutel abhanden. In einem großen Schlafrock wiederum „wohnt“ Börne, wie Heine in seiner Denkschrift über Börne satirisch anmerkt, als er ihn in Paris besucht und Börne ihm dann ausführlich von Hambach und der gestohlenen Uhr berichtet. Auch dort können Beziehungen verborgen sein; hier kann es sich allerdings in der Tat auch um Zufälle handeln. 214 Heines ‚Millennium‘ und Eichendorffs ‚alte schöne Zeit‘ tisch vielfach verifiziert. Die alte schöne Zeit ist die Kehrseite seiner Gegenwartskritik, das wahre Arkadien, immer wieder poetisch beschworen, allerdings immer nur als etwas in Wirklichkeit längst unwiederbringlich Verlorenes – wenn irgendwo, dann zeigt sich hier die restitutive Macht der Dichtung, die noch für wirklich nehmen kann, was eigentlich für immer dahin ist. Die „alte schöne Zeit“ ist dabei für Eichendorff zunächst einmal die nur noch poetisch realisierbare Welt der Kindheit. Den dichterischen Gestalten Eichendorffs vergeht manchmal der Atem „vor Erinnerung an die alte schöne Zeit“.26 Selbst noch der Taugenichts träumt sich in die Väter- und Kindheitswelt zurück, auf eine einsame grüne Wiese, über die ein warmer Sommerregen sprüht. In der Entführung weht die Gräfin Diana die Erinnerung an „wie einzelne Klänge eines verlorenen Liedes, es hielt ihr fast den Athem an, sie bedeckte die Augen mit beiden Händen und sann und sann“.27 Das verlorene Lied, das auch hier bezeichnenderweise Diana fast den Atem nimmt – kein physiologischer Reflex, sondern Chiffre für die Überwältigung durch die verlorene Zeit, die bei Eichendorff häufiger auftaucht – ist natürlich wieder das alte Kindheitslied, Lied der verlorenen Kindheit: kaum irgendwo anders kommt die Vergangenheit stärker ins Bewußtsein als gerade hier. Eichendorff hat die alte schöne Zeit auch im Gedicht beschrieben; in den Romanzen findet sich das Gedicht vom alten Garten, das auch in die Entführung eingegangen ist: Kaiserkron’ und Päonien roth, Die müssen verzaubert sein, Denn Vater und Mutter sind lange todt, Was blühn sie hier so allein? Der Springbrunn plaudert noch immerfort Von der alten schönen Zeit, Eine Frau sitzt eingeschlafen dort, Ihre Locken bedecken ihr Kleid. Sie hat eine Laute in der Hand, Als ob sie im Schlafe spricht, Mir ist, als hätt’ ich sie sonst gekannt – Still, geh vorbei und weck’ sie nicht! 26 27 HKA V/1, S. 292. HKA V/1, S. 352. Heines ‚Millennium‘ und Eichendorffs ‚alte schöne Zeit‘‘ 215 Und wenn es dunkelt das Thal entlang, Streift sie die Saiten sacht, Da giebt’s einen wunderbaren Klang Durch den Garten die ganze Nacht.28 Das ist die Welt der Kindheit – Hofmannsthal wird wenige Jahrzehnte später von der verlorenen Präexistenz sprechen, Rilke in seinem MalteRoman von seiner Kindheit aus der Sicht des verlorenen Sohnes, und für Thomas Mann wird es familiäre Vorzeit sein, die alte schöne Zeit liegt in den Buddenbrooks vier Generationen zurück; für George ist es Hellas, von dem er wünscht, daß ein Schein davon auf uns fallen möge – es ist ein überaus bedeutsames Thema der Jahrhundertwende, das sich hier präformiert. Für Eichendorff ist die „alte schöne Zeit“ freilich noch nichts Weltbewegendes, nicht einmal ein epischer Stoff, sondern nur ein kleines Gartenparadies, ein alter Garten, der alte Garten. Die Verbindung der alten schönen Zeit mit dessen Beschreibung (es ist, das merken wir bald, immer der gleiche Garten) ist dabei so sinnfällig und so eng, daß das Eine im Grunde als nur topographische Verdeutlichung und Versinnlichung des Anderen, der temporalen Bestimmung, erscheinen will. T. S. Eliot hat derartige Entsprechungen einmal als „objective correlative“ bezeichnet, Objektivierungen eigentlich transrealer Verhältnisse; so erscheint hier der alte Garten für die alte schöne Zeit. Es ist, rein biographisch gesehen, sicherlich auch der Kindheitsgarten von Lubowitz. Im Bilderbuch aus meiner Jugend heißt es in Andeutungen darüber: „Das uralte Lubowitz – Lage des Schlosses und Gartens, Hasengarten, Tafelzimmer usw. […]. Damalige Zeit und Stilleben. Wie der Papa im Garten ruhig spazieren geht, der Großpapa mit keinem König tauschen möchte.“29 Eichendorff hat die graziöse ländliche Idylle wiederholt beschrieben, für die der alte Garten bei ihm so oft stellvertretend steht, die Karnevalszeit und die Jagdsaison, die harmlosen Feste und Tanzvergnügen. Als Eichendorff das alles verlassen muß, weil er nach Halle auf die Universität soll, notiert er in sein Diarium: „Ein quälendes Erwachen. – Traurig öffneten sich meine Blicke zum letztenmale allen den umgebenden Schönheiten Lubowitzens […]“.30 Aber das alles ist nur die gute alte Zeit im biographischen Sinn. Poetisch war das allenfalls Anlaß und Stoff; die dichterische alte schöne Zeit bedeu28 29 30 HKA I/1, S. 368; V/1, S. 353f. HKA V/4, S. 65. HKA XI/1, S. 138. 216 Heines ‚Millennium‘ und Eichendorffs ‚alte schöne Zeit‘ tet mehr als Lubowitz, und sie steht darüber hinaus auch nicht nur für die alte schöne Zeit als etwas temporal Ausmeßbares. Mit der alten schönen Zeit, die der alte Garten verdeutlicht, ist eigentlich etwas Metatemporales gemeint; auch die alte schöne Zeit ist ein Sinnbild. Wie wir die Formel vom alten Garten und der alten schönen Zeit eigentlich zu verstehen haben, lehrt uns die Erzählung Friedrichs in Ahnung und Gegenwart: Meine frühesten Erinnerungen verlieren sich in einem großen, schönen Garten. Lange, hohe Gänge von gradbeschnittenen Baumwänden laufen nach allen Richtungen zwischen großen Blumenfeldern hin. Wasserkünste rauschen einsam dazwischen, die Wolken ziehen hoch über die dunkeln Gänge weg, ein wunderschönes kleines Mädchen, älter als ich, sizt an der Wasserkunst und singt welsche Lieder, während ich oft Stundenlang an den eisernen Stäben des Gartenthors stehe, das an die Strasse stößt, und sehe, wie draussen der Sonnenschein wechselnd über Wälder und Wiesen fliegt, und Wagen, Reuter und Fußgänger am Thore vorüber in die glänzende Ferne hinausziehen. Diese ganze stille Zeit liegt weit hinter alle dem Schwalle der seitdem durchlebten Tage, wie ein uraltes, wehemüthig süßes Lied, und wenn mich oft nur ein einzelner Ton davon wieder berührt, faßt mich ein unbeschreibliches Heimweh, nicht nur nach jenen Gärten und Bergen, sondern nach einer viel ferneren und tieferen Heimath, von welcher jene nur ein lieblicher Wiederschein zu seyn scheint.31 Über den Sinn dieser Beschreibung kann es keinen Zweifel geben. Friedrich meint eine „fernere und tiefere Heimat“ als die alte Zeit der Kindheit, und in eben diesem Sinne ist seine Erzählung ein Gleichnis. Derartige Blicke zurück waren allerdings auch anderswo romantische Heilmittel gegen die Krankheiten der eigenen Zeit; Eichendorff ist nicht der einzige gewesen, der sich einer größeren Vergangenheit versichert hat, um der Gegenwart auszuweichen oder ihr etwas entgegenzusetzen, getreu der Parole Friedrich Schlegels, daß es „kein besseres Gegengewicht gegen den Andrang des Zeitalters“ gebe „als die Erinnerung an eine große Vergangenheit“.32 So haben viele gedacht – von Tieck bis Görres, von Novalis bis zu den Brüdern Grimm. Aber wir haben in der Kindheitsvision Eichendorffs, wie sie als poetische Vergegenwärtigung der alten schönen Zeit erscheint, mehr als nur den privaHKA III, S. 46f. Friedrich Schlegel: Kritische Ausgabe, Bd. 7/1, hg. von Ernst Behler, München u. a. 1966, S. 272. 31 32 Heines ‚Millennium‘ und Eichendorffs ‚alte schöne Zeit‘‘ 217 ten Kindheitskult eines Spätromantikers und die Verherrlichung einer privaten Vorzeit. Denn wenn auch der Kindheitsgarten von Lubowitz Eichendorff zu seiner so spezifischen Darstellung der alten schönen Zeit als einer Gartenlandschaft stimuliert haben mag, so scheint hinter dem Kindheitsgarten, da er nun einmal als Gleichnis zu verstehen ist, schließlich nichts Geringeres als der Garten Eden sichtbar zu werden als die „viel fernere und tiefere Heimat“.33 So ist denn die Chiffre von der alten schönen Zeit eigentlich eine Paradiesesformel, das Zurückliegende damit aber zugleich etwas Vorausliegendes, auch wenn dieser Aspekt bei Eichendorff expressis verbis keine Rolle spielt. Die Gartenvisionen sind für ihn poetische Anamnesen, die in die Zeit jenseits aller Zeit zurückführen. Aber da das Paradies zugleich eine Verheißung ist, entschlüsselt sich die nach außen hin so private Kindheitserinnerung als subjektivierte Heilserinnerung und Heilserwartung zugleich. Die Eichendorffsche Frühzeit- und Paradiesesutopie, die beides in einem enthält, Kindheitsgarten und Paradiesesgarten, kann den Zeitpunkt ihrer Abfassung freilich nicht verleugnen. Die alte schöne Zeit hat bei Eichendorff einen weiteren, für die Situation im frühen 19. Jahrhundert sehr charakteristischen Aspekt. Zwischen die Kindheitserinnerung und die Vorstellung vom Garten Eden (die in dieser Zeit übrigens ziemlich verbreitet ist: auch Kleist handelt im Erdbeben in Chili ja von ähnlichem, vom Tal, „als ob es das Tal von Eden gewesen wäre“) schiebt sich eine historische Dimension, die für Eichendorff um so bedeutsamer ist, als sie das subjektive Moment, das in der Darstellung des Kindheitsparadieses so sehr dominiert, begrenzt und ergänzt durch einen überindividuellen Sachverhalt. Das läßt mehrere Erklärungen zu. Ist es eine historische Neigung, die er mit seiner Zeit und Generation gemeinsam hat, daß es ihn drängt, seine Utopie, die so jenseits aller Zeit liegt, doch noch historisch zu verwurzeln, sie wiederzufinden in einem geschichtlich durchaus genau zu fixierenden goldenen Zeitalter? Weiß Eichendorff, daß private Utopien nur schwer zu vermitteln sind, auch wenn sie sich alter Formeln und Vorstellungen bedienen, oder hat er 33 Ähnlich über den Garten, in den Florio im Marmorbild findet, als Paradiesesgarten Josef Kunz: Eichendorff. Höhepunkt und Krise der Spätromantik, Darmstadt 21973, S. 169; über Victors Garten in Dichter und ihre Gesellen als Paradiesesgarten vgl. Hans Jürg Lüthi: Dichtung und Dichter bei Joseph von Eichendorff, Bern/München 1966, S. 128. Über Reisen und Wandern als Reisen ins Himmelreich, ins Paradies vgl. Möbus (wie Anm. 2), S. 177. 218 Heines ‚Millennium‘ und Eichendorffs ‚alte schöne Zeit‘ seine eigene Erfahrung der alten schönen Zeit als Späterfahrung historisch lange schon zurückliegender Epochalerfahrungen begriffen? Wie dem auch sei: Eichendorff hat die alte schöne Zeit auch in ihrer geschichtlichen Realisation gesehen, und es spricht manches dafür, daß es sein realistischer Hang war, der ihn seine Utopie von der alten schönen Zeit in der Realzeit verankern ließ. Wir wissen, wie eminent historisch Eichendorff bei aller tiefeingewurzelten Skepsis der Geschichte gegenüber gedacht hat und daß das Klischee vom zeitlosen romantischen Sänger vielleicht auf die gefährlichste aller falschen Interpretationen hinausläuft. Eichendorffs Paradies ist kein privates Vorzeitparadies, sondern ist für ihn zugleich schon einmal historische Wirklichkeit gewesen: natürlich nicht im alten Rokoko-Garten, wie er verschiedentlich bei Eichendorff erscheint – als Bild der Zopfperiode, einer eingeschlafenen, ja verlassenen Zeit, die aus dem Geschichtsprozeß gewissermaßen herausgefallen ist –, sondern in einer Epoche, deren Ende für Eichendorff zugleich den Beginn der Neuzeit markierte. Diese Zeit liegt für ihn noch jenseits der Reformation, im Mittelalter, der Ritterzeit, die heiter und versöhnend in ihren Poesien war. Es ist sicher kein Zufall, daß Eichendorff auch das, was von jener Zeit auf seine Gegenwart überkommen ist, im Bilde eines alten Gartens beschreibt: Das sind die Trümmer der alten ritterlichen Poesie; halbzerfallene Ruinen, die alte Herrlichkeit nur noch in kühnen Bogen und Pfeilern andeutend, von Epheu und Waldblumen überrankt; in dem verwilderten Burggarten weiden die Ziegen, aber Hirten und Jäger freuen sich noch bis heute daran, und lauschen den noch wie damals durch die Wildniß gehenden Bächen, die träumerisch von der untergegangenen Welt und Schönheit erzählen. 34 Das ist die alte schöne Zeit, der alte Garten in historischer Großdimension, das Mittelalter als lang zurückliegende, halb verschüttete Kindheit des Menschen, und die Gleichartigkeit des privaten und des historiographischen Gartenbildes spricht vielleicht am stärksten für die Analogie zwischen geschichtlicher und persönlicher Vorzeit und schließlich auch für das bei aller historischen Fixierung eigentümlich Ungeschichtliche dieses Geschichtspanoramas, das mehr Abglanz des Paradieses enthält, als es der strenge Historiker zugeben dürfte. Um so bestürzender ist der Abbruch dieser Zeit, der Zerstörungsvorgang zu Ausgang des Mittelalters, der ihre Poesien in Eichendorffs Bild zertrümmert. Ihr 34 HKA VIII/2, S. 35. Heines ‚Millennium‘ und Eichendorffs ‚alte schöne Zeit‘‘ 219 Ende ist das Ende aller ursprünglichen Einheit; für Eichendorff kommt mit dem Protestantismus eine Prädominanz des Verstandes auf, „welchem daher hiermit eine unverhältnismäßige Bedeutung und Macht über Phantasie, Gefühl und die andern für eine harmonische Bildung gleich unentbehrlichen Seelenkräfte zuerkannt wurde“.35 Das ist noch milde geurteilt, denn im Grunde ist das alles für Eichendorff schon gleichbedeutend mit dem selbstzerstörerischen Prozeß der Subjektivierung, der jetzt einsetzte und den unrühmlichen Beginn der Moderne markierte. Eichendorff hat das in seiner Geschichte des deutschen Romans in aller Ausführlichkeit beschrieben. Aus dem, was damals begann, läßt sich mühelos rekonstruieren, was damit verlorenging; eine ursprüngliche Einheit von Seele und Verstand, „Harmonie“, wie Eichendorff altväterlich noch ganz im Sinne des 18. Jahrhunderts sagt, so wie auch seine etwas grobschlächtige historische Periodisierung eher an das 18. als an das 19. Jahrhundert erinnert. Aber im Mittelalter, der Zeit der ritterlichen Dichtung, sieht Eichendorff eben das, was er in poetischer Analogie als „alte schöne Zeit“ beschrieben hat: historische Äquivalente der subjektiven, im Grunde zeitlosen Erfahrung der „alten schönen Zeit“, die eigentlich eine Paradieseserfahrung in effigie war, vermittelt durch Sinnbilder und Gleichnisse vom alten Garten. Das Mittelalter war für Eichendorff etwas ähnliches; das geschichtliche Sinnbild eines ungeschichtlichen Heilszustandes. Den Abfall davon, das Herausfallen aus der ursprünglichen Einheit des Menschen, hat Eichendorff mit „Verwilderung“ bezeichnet. Verwilderte Figuren begegnen häufig bei Eichendorff: die Gräfin Diana gehört zu ihnen ebenso wie Romana in Ahnung und Gegenwart. Verwilderung ist im poetischen Bereich eben das, was Eichendorff in seinen literarischen Schriften als „revolutionäre Emancipation der Subjectivität“ bezeichnet hat:36 ein unheilvolles Streben nach Vereinseitigung, die hemmungslose Verselbständigung einzelner Kräfte und damit die Zerstörung der menschlichen Totalität. Oder wie Eichendorff es einmal formuliert hat: „Denn jede maaßlose Ausbildung einer einzelnen Kraft, weil sie nur auf Kosten der anderen möglich, ist Krankheit, u. so geht oft eine geistige Verstimmung durch gantze Generationen und giebt der Geschichte unerwartet eine abnorme Richtung“.37 Daß dieser dreihundertjährige 35 36 37 HKA VIII/2, S. 37. HKA VIII/1, S. 5f. HKA X/1, S. 128. 220 Heines ‚Millennium‘ und Eichendorffs ‚alte schöne Zeit‘ geschichtliche Prozeß der „Verwilderung“ in säkularen Dimensionen für Eichendorff ein historisches Problem ersten Ranges war, läßt sich aus der großen Zahl der Äußerungen ablesen, die sich darauf beziehen. Bezeichnenderweise hat Eichendorff sich über die ideale Welt davor nie ausführlicher ausgesprochen. Aber wir dürfen sicher sein, daß sie von der „Harmonie“ aller Kräfte des Menschen gekennzeichnet war. Die Situation der Moderne ist für Eichendorff aber eben die, die er in Gedichten wie In der Fremde so oft beschrieben hat. Die alte schöne Zeit ist nicht nur im temporalen, sondern auch im existentiellen Sinne verloren, und aus der Sicht des Spätlings, der sich in der Fremde weiß, erscheint sie als ebenso unwiederbringlich dahin, wie sie in Bewußtsein und Darstellungskraft des Dichters aufgehoben ist: wenn es eine Legitimation der Dichtung gibt, dann liegt sie hier. Und wie eine düstere Untergangsvision der Zeit, in romantischen Abbreviaturen gegeben, lesen sich die ersten Zeilen des Gedichtes Sängerglück: Herbstlich alle Fluren rings verwildern, Und unkenntlich wird die Welt. Dieses Scheidens Schmerzen sich zu mildern, Wenn die Zauberei zerfällt, Sinnt der Dichter, treulich abzuschildern Den versunknen Glanz der Welt.38 * Von Heine trennt ihn eine Welt. Das drückt sich nicht nur in der so rigorosen Ablehnung der Französischen Revolution bei Eichendorff aus, in seinem so entsetzten „Vor allem behüte uns Gott vor einem deutschen Paris“ und der fast panischen Furcht vor einem weiteren Ausbreiten des Revolutionsfiebers und Republikanerwahns, sondern mindestens ebenso stark in der Einschätzung der jahrhundertealten Vorgeschichte der Französischen Revolution, die für Eichendorff schon mit dem Protestantismus als dem ersten Akt der Aufklärung begann. Heine interpretiert die Geschichte ebenso großräumig; auch für ihn setzt die Moderne mit Luther ein, aber nicht als damit beginnende Zerstörung der Welt, sondern als Befreiung, als Ende des mittelalterlichen Sklavendaseins und der früheren gewaltsamen Verfinsterung des Verstandes. Darüber kann man in Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland alles im einzelnen nachlesen: daß Luther der Vor38 HKA I/3, S. 277. Heines ‚Millennium‘ und Eichendorffs ‚alte schöne Zeit‘‘ 221 läufer Lessings gewesen sei und Lessing wiederum der Kants auf dem unvergleichbaren Siegeszug der Aufklärung. Für Eichendorff war das alles eine einzigartige Insurrektion des Verstandes, die auf eine irrevokable Zerstörung der alten Traditionen, der menschlichen Totalität hinauslief, für Heine aber ein wilder Triumphzug, eine philosophische Revolution ohnegleichen, die der mittelalterlichen Dunkelmännerherrschaft endlich den Garaus macht. Bei Heine ist viel die Rede von der Geistesfreiheit, die man schon dem teuern Doktor Martin Luther zu verdanken habe;39 das 18. Jahrhundert arbeite nur aus, was damals begonnen. Wo Eichendorff aber die diabolische Epiphanie des modernen Ungeistes sieht, die Heraufkunft des Antichrists und die Zerstörung einer alten, eigentlich nie wiederherzustellenden Ordnung, da sieht Heine den „Kampf der Reformazionsinteressen und Ansichten mit der alten Ordnung der Dinge“,40 und das ist positiv verstanden. Sein Triumph über die Befreiung des Verstandes aus der normgebenden Vorherrschaft alter Ordnungen ist unüberhörbar. Er schreibt voller Frohlocken: „Der allgemeine Charakter der modernen Litteratur besteht darinn, daß jetzt die Individualität und die Skepsis vorherrschen. Die Autoritäten sind niedergebrochen; nur die Vernunft ist jetzt des Menschen einzige Lampe, und sein Gewissen ist sein einziger Staab, in den dunkeln Irrgängen dieses Lebens“.41 Das ist Zug um Zug die genaue Umkehrung der Eichendorffschen Position, und hier ist ins Enthusiastische gekehrt, was dort zu einem bitteren Pessimismus geworden ist. Heine hat diesen Prozeß der Emanzipation des Individuums mit unverhohlener Begeisterung, fast triumphierend, geschildert; das Christentum hat er für zu Unrecht so übermächtig erklärt und eine Religion der Freude ausgerufen, von der er hoffte, daß sie die Religion der Zukunft sein und das Christentum endgültig zurückdrängen werde in den Schatten, den es jetzt, nach seiner jahrhundertelangen finsteren Vorherrschaft, verdiene. Kernstück seines Gegenwartsoptimismus aber war die Emanzipationsidee, „Geistesfreiheit“, von der er glaubte, daß er sie Luther zu verdanken habe. Das war zugleich Kernidee der Revolutionsphilosophie, und die Befreiung des Individuums ging für Heine durch die zwei Stadien, die er ausführlich genug beschrieben hat: durch 39 40 41 DHA 8/I, S. 42. DHA 8/I, S. 44. DHA 8/I, S. 45. 222 Heines ‚Millennium‘ und Eichendorffs ‚alte schöne Zeit‘ die große religiöse Revolution Luthers und durch die philosophische Revolution Kants und seiner Zeit. Die These von der Subjektivierung allen Lebens, von Heine so zustimmend wie von Eichendorff ablehnend vertreten, war natürlich nicht neu. Sie ist frühromantisches Gedankengut, und Friedrich Schlegel hat ausführlich davon schon in seiner Schrift Über das Studium der griechischen Poesie gehandelt. Schon Schlegel hat sich eine Überwindung des Individuellen erhofft, wie Eichendorff später. Zur Signatur der Moderne gehörte auch für ihn das Individuelle und damit die Herrschaft des Interessanten und Charakteristischen und der Mangel an „Allgemeingültigkeit“ als habitueller Zug hinzu, und schon Schlegel erhoffte sich eine „dritte Periode“,42 in der das alles überwunden werde. Bei Eichendorff ist aus der „wohltätigen Krise des Interessanten“43 allerdings ein lebenszerstörerischer Prozeß geworden; was für Schlegel noch unmittelbar erreichbar schien, war für Eichendorff endgültig in der Vergangenheit versunken und allenfalls noch poetisch bewahrt – eben in den Berichten von der „alten schönen Zeit“, der Grundformel für die verlorene Vollkommenheit der Welt. An der Bewertung des zeitgenössischen Individualitätsenthusiasmus schieden sich endgültig die Geister: an der Emanzipation des Subjekts maß Heine den Fortschritt, Eichendorff den Rückschritt der Zeit. Im frühen 19. Jahrhundert und in der Romantik insbesondere werden gerne Lichtmetaphern gebraucht, und für Heine war Morgenröte, was für Eichendorff Abenddämmerung war, letzter Widerschein und Abglanz einer besseren Welt. Die Geschichte ist zur Verheißung oder zur Flucht geworden, sie hat in einer Katastrophe – der Revolution – geendet oder, bei Heine, in der Befreiung. Für Eichendorff ist nicht mehr, was für Heine noch ist. So erklärt sich denn auch nur zu gut die Bewertung der Französischen Revolution, des wichtigsten, am meisten diskutierten Ereignisses im frühen 19. Jahrhundert. Für Eichendorff beschließt sie vorerst die Geschichte des Menschen, und ihre Bedeutung wird in der Novelle vom Schloß Dürande als eben das beschrieben, was sie nicht nur in metaphorischem, sondern in tatsächlichem Sinne ist: ein Weltenbrand. Feuer und Erdbeben sind auch bei Heine die Begleiterscheinung der Revolution. Aber Heine spricht von „flammenden Sternen, die aus der Höhe herab42 21964, 43 Friedrich Schlegel: Kritische Schriften, hg. von Wolfdietrich Rasch, München S. 222. Ebd., S. 152. Heines ‚Millennium‘ und Eichendorffs ‚alte schöne Zeit‘‘ 223 schießen und die Paläste verbrennen und die Hütten erleuchten“. Und „unter der Erde aber kracht es und klopft es, der Boden öffnet sich, die alten Götter strecken daraus ihre Köpfe hervor, und mit hastiger Verwunderung fragen sie: ‚was bedeutet der Jubel, der bis ins Mark der Erde drang? Was giebt’s neues? dürfen wir wieder hinauf?‘“ Die Julirevolution ist für Heine ein griechisches Feuer, das kein Wasser löscht; alle seine Gedanken brennen lichterloh.44 Für Eichendorff aber verbrennt in ihr endgültig die „alte schöne Zeit“. Heine hat allerdings nach seiner Übersiedelung nach Paris nur zu schnell gemerkt, „daß die Dinge in der Wirklichkeit ganz andre Farben trugen, als ihnen die Lichteffekte meiner Begeisterung in der Ferne geliehen hatten“. Für Heine ist das vielleicht die bedeutsamste Wende in seinem Revolutionsverständnis: je desillusionierter und trivialer ihm die Ereignisse der Julirevolution aus der Nähe erschienen, desto größer wurden seine Erwartungen an die wirkliche, eigentliche Revolution. Und desto deutlicher wird für ihn auch, was sie tatsächlich zu leisten hat. Sie ist alles andere als ein bloß politisches Ereignis. Heine hat sich in seiner Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland in aller Ausführlichkeit darüber ausgelassen. Was er sich erhoffte, war nichts Geringeres als die Versöhnung zwischen Sensualismus und Spiritualismus – oder Hellenentum und Nazarenertum, Heidentum und Christentum, Materialismus und Idealismus, dem Platonischen und dem Aristotelischen, Natur und Geist. Alle diese Formulierungen finden sich bei ihm selbst. Das darf man nicht mißverstehen als bloße Sprachartistik; es sind immer neue Versuche, Kräfte zu benennen, die das Weltgeschehen überhaupt bestimmen; und Heine nimmt denn auch Zuflucht zu einer Mythe, die eben das beschreibt, was er sich von der Weltgeschichte erhoffte, nachdem das Nazarenertum seit dem Mittelalter eine so einseitige Herrschaft über das Heidentum angetreten hatte: Der nächste Zweck aller unseren neuen Instituzionen ist solchermaßen die Rehabilitazion der Materie, die Wiedereinsetzung derselben in ihre Würde, ihre moralische Anerkennung, ihre religiöse Heiligung, ihre Versöhnung mit dem Geiste. Purusa wird wieder vermählt mit Prakriti. Durch ihre gewaltsame Trennung, wie in der indischen Mythe so sinnreich dargestellt wird, entstand die große Weltzerrissenheit, das Uebel.45 44 45 DHA 11, S. 50, S. 56. DHA 8/I, S. 59f. 224 Heines ‚Millennium‘ und Eichendorffs ‚alte schöne Zeit‘ Spätestens hier sollte deutlich werden, daß Heine auf alles andere aus ist als auf einen gründlichen Umsturz der politischen Verhältnisse. Die Schriften Heines im unmittelbaren Gefolge der Julirevolution sind metapolitisch, transreal orientiert, auf die Formulierung utopischer Ziele aus und nicht auf den unmittelbaren Umsturz der Gesellschaft. Die Formel von der „Politisierung nach der Julirevolution“ ist eine sicherlich viel zu einfache, ja falsche Formel; bereits Sengle hat diese Feststellung Windfuhrs kritisiert.46 Im Rückblick erscheint die Französische Revolution nicht als bloß politisches Ereignis, sondern geradezu als sensualistische Korrekturmaßnahme der Geschichte selbst, um die Suprematie des Nazarenertums zu brechen. Das alles ist sicherlich nicht vorrangig politisch gedacht, es ist nicht einmal geschichtlich. Heine erwartet sich von einer Zukunft, die jenseits aller geschichtlichen Zeit liegt, nichts Geringeres als das, was er im Börnebuch die „harmonische Vermischung der beiden Elemente“ nannte: Spiritualismus und Sensualismus sollen sich aufheben, und das sieht er als „die Aufgabe der ganzen europäischen Civilization“. Was Heine im Börnebuch nur als Frage formuliert, ist tatsächlich seine Erwartung an die Geschichte, die dadurch zur Heilsgeschichte wird. Eben diese coincidentia oppositorum wird für Heine schließlich auch die irdische Geschichte durchkreuzen und sie beenden, da dann eintreten wird, was er als „das Reich der ewigen Freude“ bezeichnet oder, kürzer, als „Millennium“.47 Im zweiten Buch der Denkschrift über Börne, niedergeschrieben einige Wochen nach der Julirevolution, ist davon ausdrücklich die Rede, und die starke Durchsetzung dieser Revolutionsschrift mit theologischen Überlegungen hätte an sich schon warnen müssen, hier eine „Politisierung nach der Julirevolution“ zu finden. Das Gegenteil ist richtiger. Und gewiß nicht zufällig beschreibt Heine Christus als „Sonne“: „Christus liebt die Menschheit, jene Sonne umflammte die ganze Erde mit den wärmenden Stralen seiner Liebe“.48 Das ist natürlich eine alte Christusmetapher, aber an ihr ist hier auffällig, daß Heine ja mit Sonnenmetaphern auch die Revolution beschreibt. Was er sich von der wirkliFriedrich Sengle: Biedermeierzeit, Bd. 2, Stuttgart 1972, S. 59. DHA 11, S. 42. 48 DHA 11, S. 43. Von den Sonnenstrahlen der Revolution ist bei Heine kurz darauf (S. 50) die Rede, ebenfalls in der Einleitung zu Kahldorf über den Adel (ebd., S. 134). Entsprechend erscheint die Vergangenheit, die Zeit vor der Französischen Revolution, als Nacht. 46 47 Heines ‚Millennium‘ und Eichendorffs ‚alte schöne Zeit‘‘ 225 chen, eigentlichen, wahren Revolution erwartet, ist der Anbruch des Millenniums. Eichendorffs „alte schöne Zeit“ war eine metahistorische Formel, der alte Garten der Garten Eden, die eigentlichere, „fernere und tiefere Heimat“ hinter der Kindheit, wie sie Friedrich in Ahnung und Gegenwart beschreibt, das Paradies. Eichendorff und Heine trennt gewiß eine Unendlichkeit; was der Eine pries, hat der Andere verurteilt. Aber Heines Formel vom Millennium ist im Grunde genommen nur die futuristische Projektion der Formel von der alten schönen Zeit. Beides sind Versuche, den Bereich der Geschichte, den Eichendorff als zerstörerisch empfand und von dem Heine sich zu viel versprochen hatte, zu transzendieren. Die alte schöne Zeit ist geschichtslos, außerhalb des Zeitflusses und damit ebenso Utopie wie zugleich überall dort allgegenwärtig, wo sie beschworen wird, und es ist der Dichter, der eben das leistet – auch wenn die alte schöne Zeit im Mittelalter schon einmal Wirklichkeit gewesen war. Heines Millennium ist gleicherweise ein Zustand der Geschichtslosigkeit, seine Konzeption einerseits Folge enttäuschter Revolutionshoffnung, andererseits Frucht messianischer Erwartung von der Geschichte. Das „Millennium“ ist wie die „alte schöne Zeit“ letztlich ein Traumbild: beides enthält eine Absage an die Zeit und eine verborgene, aber außerordentlich endgültige Absage an die Geschichte. Das spricht sich am deutlichsten und zugleich am nachdrücklichsten in der Überwindung der Dualismen im Millennium und in der alten schönen Zeit aus: Christentum und Heidentum sollen bei Heine wieder versöhnt werden. Oskar Seidlin hat darauf aufmerksam gemacht,49 daß aber auch Eichendorffs Formel von der alten schönen Zeit in der Novelle Eine Meerfahrt einen ebenso paradiesischen wie heidnischen Klang habe; auch hier steht beides außerhalb der Zeit. Sind es Versuche der Überwindung der Geschichte, mitten im Zeitalter des Historismus, die sich hier ereignen? Sind es Bemühungen, Regionen außerhalb der für absolut gehaltenen Macht der Geschichte zu gewinnen? Sind es verborgene Selbstrechtfertigungen der eigenen Dichtung? Auch Heine hat in der Kunst eines der großen Heilmittel gesehen, um die Welt aus ihrem Zwiespalt zu befreien und damit das Millennium antizipatorisch herbeizuführen. Ist es ein Ungenügen an der Geschichte und ihren Theorien? Heine hat sich ausführlicher mit der Vorstellung auseinandergesetzt, daß in allen irdischen Dingen nur ein 49 In der schönen und tiefsinnigen Deutung der „Zeitlichen Perspektiven“ in seinen Versuchen über Eichendorff, Göttingen 1965, S. 121f. 226 Heines ‚Millennium‘ und Eichendorffs ‚alte schöne Zeit‘ trostloser Kreislauf herrsche, ein Wachsen, Blühen, Welken und Sterben: Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Es waren die Weltweisen der historischen Schule, die für Heine so dachten50 – ein Geschichtsverständnis, das im frühen 19. Jahrhundert weitverbreitet war. Eichendorff kennt ähnliches. Er hat die Lehre von der ewigen Wiederkehr des Gleichen chiffrierter, aber doch nicht weniger nachdrücklich beschrieben, etwa im Kreislauf der Natur: Frau Venus symbolisiert ihn im Gegeneinander von märchenhafter Gegenwart und toter Statuenhaftigkeit. Das versunkene Reich der Venus wird ihm wieder lebendig, aber ebenso sicher wird es erneut verschüttet. Es gibt vielleicht kein eindrucksvolleres Bild für den Kreislauf von Zeit und Welt als die Auferstehung der toten Marmorstatue und ihre Rückkehr ins Tote. Eichendorff hat die Venusberg-Mythe zum Sinnbild der Welt, der geschichtlichen Welt gemacht: ihre Lebendigkeit ist Schein, ihr Tod im Leben beschlossen, übrig bleiben versunkene Säulen und künstlich behauene Statuen.51 Wir wissen um Eichendorffs Angst vor den Uhren – im Schloß Dürande sind sie Symbole der Zeit, und nichts versinnbildlicht den für Eichendorff so bedrohlichen Kreislauf der Welt deutlicher als sie. Die alte schöne Zeit aber steht außerhalb der Zeit; sie ist der sichere Punkt jenseits der Geschichte, so wie es für Heine das Millennium ist. Es sind zugleich Positionen einer überwundenen Geschichte, und Eichendorff ist sich seiner „alten schönen Zeit“ ebenso sicher wie Heine des „Millenniums“. So lehnen beide eine Zeit ab, die nur den Kreislauf kennt und nur die immer bloß erneuerte sinnlose Spannung zwischen Antinomien; Paradies und Millennium sind die religiösen Kategorien außerhalb des sinnlos gewordenen Kreislaufs der Geschichte. Eichendorff und Heine bedienen sich zur Formulierung ihrer utopischen Vorstellungen zwar 50 DHA 10, S. 301. Heine meint Savigny (Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, 1814) und Ranke. 51 Heine hat interessanterweise später, im Romanzero, ähnlich von den Larven der Welt gesprochen, die nach alledem für ihn übriggeblieben seien – „Der Himmel ist öde,/ Ein blauer Kirchhof, entgöttert und stumm./ Ich gehe gebückt im Wald herum.// Im Walde sind die Elfen verschwunden,/ Jagdhörner hör’ ich, Gekläffe von Hunden;/ Im Dickicht ist das Reh versteckt/ Das thränend seine Wunden leckt“ (DHA 3/I, S. 83). Sind es nicht letztlich identische Situationen, auch wenn das Bild von der zerstörten Gartenlandschaft hier die Geschichte meint und dort, in fast schon expressionistisch anmutender Bildlichkeit, Heines Ernüchterung nach dem Zusammenbruch der romantischen Welt? Heines ‚Millennium‘ und Eichendorffs ‚alte schöne Zeit‘‘ 227 durchaus gängiger Chiffren – aber beide verteidigen damit doch eigenste Vorstellungen. Heine scheint freilich seine Ideen vom kommenden tausendjährigen Reich unabhängig von sich selbst zu entwickeln: im Börnebuch ist es die Beschäftigung mit dem Alten Testament, die ihn zum Millennium bringt – „Wie lange Karavanenzüge zog die heilige Vorwelt durch meinen Geist“, heißt es, und so scheint nur theologisch vermittelt, was bei Eichendorff seine zunächst einmal biographischen Wurzeln hat. Aber auch Heines Millenniums-Hoffnung ist zumindest partiell biographisch motiviert. Schon aus der Mitte der 20er Jahre, nach dem Besuch Heines in Weimar, sind Äußerungen überliefert, die von seiner eigenen Zwiespältigkeit zeugen. Lebensgenuß und Schwärmerei sind die Pole, zwischen denen er sich bewegt, und es sind zugleich die Gegensätze seiner eigenen Natur. Schwärmerische Neigung einerseits und Lebemenschentum andererseits: das sind Nazarenertum und Hellenismus in seiner eigenen Person. Sah er nun in der Geschichte den gleichen Antagonismus, den er auch in sich lebendig wußte, übertrug er die invariablen Konstanten seines eigenen Wesens auf die Historie, und war die Hoffnung auf den Eintritt des Millenniums letztlich nur die auf einen Ausgleich im eigenen Inneren? Überlegungen dieser Art sind so wenig von der Hand zu weisen, wie sie sich eindeutig stützen lassen. Aber zumindest ist auffällig, daß sich diese persönlichen Hintergründe beidemale finden, wenn auch in kontroverser Art: Eichendorff hat in seiner Kindheit eben jenen Zustand einer zeitlosen inneren Einheit erfahren, den Heine zeitlebens gesucht hat. Doch beidemale entwickelt sich das utopische Denken auch aus Persönlichem heraus, und hier liegt wohl zugleich ein Erklärungsversuch für das Eigentümliche der poetischen Utopie im frühen 19. Jahrhundert. Es sind Versuche, sich außerhalb der Zeit zu stellen, Gegenschläge zum scheinbar grenzenlosen und alles überflutenden Historismus mit seinen Lehren von der Abhängigkeit des Einzelnen vom Ganzen der Geschichte und der Nationen. Individualerlebnis und utopische Hoffnung parallelisieren sich hier ebenso, wie sich auf der anderen Seite auch Geschichtsverständnis und Individualerlebnis ausgleichen. Es ist der Aufstand des Individuums gegen die alles zerstörende Zeit, ein Versuch, sich herauszuretten ebenso aus ihrem sinnlosen Kreislauf wie aus ihrer saturnalischen Macht. Die Geschichte ließ sich nicht von neuen Systemen her widerlegen, zumal ja gerade ihre verborgene Systematik philosophisch demonstriert worden war. Ihr war nur von der Kraft 228 Heines ‚Millennium‘ und Eichendorffs ‚alte schöne Zeit‘ des Individuums her beizukommen, das sich zwar einbezogen wußte in den Gang der Geschichte, das sich aber zugleich doch auch an Positionen jenseits der Zeit erinnerte, die ein Entkommen aus der Geschichte ermöglichten oder sie vorausentwarf, als regulative Idee gleichsam. Und so berührt sich Eichendorffs alte schöne Zeit und die Vorstellung vom Garten Eden über alles Kontroverse hinweg mit Heines Erwartung des Millenniums. Ein paar flankierende Bemerkungen abschließend. Der Entwurf einer Position außerhalb von Geschichte und Gegenwart mutet in seinem Vorhaben durchaus noch klassisch an. Schiller kannte ähnliche Fluchtpunkte außerhalb der Zeit; sie lagen wesentlich im Bereich des Ästhetischen. Vor allem seine Formel von der Schönheit als Freiheit in der Erscheinung gehört in diesen Zusammenhang, aber auch das, was er über die Autonomie des Künstlers im 9. seiner Briefe Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen gesagt hat. Doch das Reich der autonomen Kunst, der Kunst als einer unabhängigen zweiten Welt, ist um 1830 unweigerlich zu Ende; Heine hat es vielleicht am deutlichsten gesehen. An deren Stelle sind neue Unabhängigkeiten getreten; sie werden von Heine und von Eichendorff bezeichnenderweise jeweils theologisch markiert (und durchaus nicht etwa politisch). Und an die Stelle allgemeinverbindlicher Anschauungen, wie sie sich im klassischen Begriff des Stils, des Objektiven, des Schönen etwa niederschlagen, sind individuelle Entwürfe gerückt: das Zeitalter der Privatutopien beginnt. Überall kommt jetzt Individuelles ins Blickfeld; Objektives, Wahrheiten „an sich“ sind dahin. Im frühen 19. Jahrhundert mehren sich flutartig die Autobiographien; sie verdrängen allmählich die Memoiren, die Darstellungen ganzer Zeitläufe; an ihre Stelle treten die Individualgeschichten, die Lebensläufe Einzelner. Ähnlich gibt es im Bereich des Romans, vor allem des Zeitromans, geradezu ein Auswuchern von Individualerfahrungen. Zeitromane des frühen 19. Jahrhunderts stellen die Zeit aus subjektiver Optik dar, monoperspektivisch, von Immermanns Epigonen bis zu Mundts Madonna und den Modernen Lebenswirren, den Brief- und Zeitabenteuern eines Salzschreibers. Die fast grenzenlose Subjektivierung der Literatur zeigt sich gerade im Bereich des Jungen Deutschland im ungehemmten Hervordringen subjektiver Literaturformen: der Briefe, Reiseberichte, Schilderungen, Charakteristiken, Tagebücher und Erinnerungen. Aber Eichendorffs Dichtungen sind nicht weniger subjektiv orientiert und haben gewiß nicht den Anspruch Heines ‚Millennium‘ und Eichendorffs ‚alte schöne Zeit‘‘ 229 objektiver Darstellungen. Der Verlust objektiver Vorstellungen kennzeichnet Eichendorffs Position ebenso wie die Heines. Beide haben im einzelnen höchst unterschiedlich, im Grunde genommen aber gleichartig darauf reagiert: im Bewußtsein der Widersprüchlichkeit und Zerrissenheit der Zeit ebenso wie mit dem Entwurf von Privatutopien. Es gehöre zu den perennierenden Zügen in der literaturwissenschaftlichen Physiognomie des frühen 19. Jahrhunderts, daß sich die Literatur nach Goethe und Schiller in ein nachklassisches Diadochentum aufgespalten habe, in „Biedermeier“ und „Romantik“ hier, „Junges Deutschland“ und „Vormärz“ dort; um 1930 hat man sich bis zur Verzweiflung bemüht, das Eine sorgfältig gegen das Andere abzugrenzen. Aber die Gemeinsamkeiten sind doch so groß, daß man allenfalls von feindlichen Brüdern sprechen kann. Manches spricht für die zumindest partiell enge Verwandtschaft der scheinbar so opponenten Strömungen, als deren Exponenten auch Eichendorff und Heine gelten. Neben einigen Klassizismen im Bereich der Jungdeutschen und der romantischen Literatur zeigt sich das nicht zuletzt im Wissen um die problematisch gewordene, rasch verfließende Zeit und in dem, was Heine als das neuerdings angebrochene Reich der „wildesten Subjektivität“ bezeichnet hat,52 Eichendorff als rechthaberische Ungebundenheit des menschlichen Verstandes und Souveränität des Subjekts.53 Alle diese Faktoren aber haben mitgewirkt bei der dichterischen Fixierung dessen, was Eichendorff die alte schöne Zeit nannte und Heine das Millennium. Was sie strukturell letztlich unterscheidet, ist allein der Doppelsinn des Wortes „einst“. 52 In seiner Rezension von Wolfgang Menzels Die deutsche Literatur von 1828, in: DHA 10, S. 247. 53 HKA VIII/2, S. 37f. E I CH E N D O RF F UND DIE A U F K LÄ R U N G In Eichendorffs Panoptikum sonderbarer und verschrobener Figuren, das von vagierenden Glücksrittern, verbummelten Studenten und nichtstaugenden Frohsinnsburschen nur so wimmelt, in dieser Kolossallandschaft ebenso erfreulicher wie fragwürdiger Sonderlinge begegnet uns gelegentlich auch ein Geselle, der als trocken und hochfahrend charakterisiert wird, als rechthaberischer Ordnungsfanatiker, mit einem ebenso unstillbaren Eifer zum Aufräumen wie mit einem maßlosen Überlegenheitsgefühl ausgestattet. Die lieben Mitmenschen sieht er stets nur unter sich, nicht aber neben sich; und er duldet erst recht keine Götter über sich, zumal er sich als Bilderstürmer bereits einen beachtlichen Namen gemacht hat. Idolatrien sind ihm ungemein verhaßt, und so schlägt er in Stücke, was ihm im Sektor der Sakralmodellierungen begegnet, so wie er sich überhaupt als Spezialist für Ikonoklasmen bereithält. Alles Abergläubische ist ihm tief verdächtig, er schwört auf klare Begrifflichkeit. Manchmal hat er päpstliche Allüren – dann hält er sich für unfehlbar. Jener „absolutistische, trockene und hochfahrende Gesell“ begegnet uns nicht in Eichendorffs Erzählerwelt. Er tritt gleichsam theoretisch auf – in Der deutsche Roman des 18. Jahrhunderts in seinem Verhältniß zum Christenthum können wir nachlesen, daß es sich bei ihm um niemand anderen als um den menschlichen Verstand handelt, genauer: um den aufgeklärten Verstand, und wir wissen, ohne danach gefragt zu haben, was Eichendorff von ihm hält: gar nichts.1 Eichendorffs Aufklärungs1 Sämtliche Werke des Freiherrn Joseph von Eichendorff. Historisch-Kritische Ausgabe […], hg. von Hermann Kunisch (†) und Helmut Koopmann (= HKA), Bd. VIII/2, S. 37. Soweit ich sehe, ist Eichendorffs Beziehung zur Aufklärung noch nicht in einer eigenen Studie zureichend gewürdigt worden. Vereinzelte Bemerkungen zu diesem Thema bei Peter Krüger: Eichendorffs politisches Denken, 2. Teil, in: Aurora 29, 1969, S. 50ff. Aus pädagogischer Sicht vgl. Christoph Lüth: Arbeit und Bildung in der Bildungstheorie Wilhelm von Humboldts und Eichendorffs. Zur Auseinandersetzung Humboldts und Eichendorffs mit dem Erziehungsbegriff der Aufklärung, in: Eichendorff und die Spätromantik, hg. von Hans-Georg Pott, Paderborn 1985, S. 181ff. Die einzige größere Studie, die sich thematisch mit der hier vorliegenden berührt, stammt von Hans-Jürg Lüthi: Josef von Eichendorff und die Aufklärung, in: Aurora 35, 1975, S. 7-20. Lüthi referiert im wesentlichen nur Eichen- 232 Eichendorff und die Aufklärung kritik ist so rigoros wie unerbittlich, und wer ihr nachgeht, stößt immer wieder auf die Urteile eines moralischen Scharfrichters. Das fragwürdige Wesen der Aufklärung enthüllt sich ihm schon in ihrer Geschichte, und Eichendorff hat diese Geschichte der Aufklärung, die für ihn in die Französische Revolution mündete, sogar zweimal geschrieben: in Halle und Heidelberg als selbsterlebte Geschichte, in den literarhistorischen Schriften als allgemeine Religions- und Geistesgeschichte. Beide Geschichten hängen natürlich zusammen, und zwar bereits dadurch, daß Eichendorff in seinen eigenen Erfahrungen quasi ontogenetisch erleben zu müssen meinte, was das Jahrhundert als ganzes entwickelt hatte. Eichendorff, weit davon entfernt, eine halbwegs neutrale Geschichte der Aufklärung schreiben zu wollen, hat also gleich zweimal ein Bild des 18. Jahrhunderts geliefert, das die simplifizierenden wie die karikierenden Linien seines Malers nicht verleugnen kann und auch gar nicht verleugnen will: und darin spricht sich die Aufklärung ihr Verdikt selbst. Wie sehen diese Geschichten aus? Für Eichendorff stellt sich die selbsterlebte Geschichte der Aufklärung in einer autobiographisch bedingten Verkürzung dar, die in sich bereits deswegen wie eine gewollte Verzeichnung wirkt. Kant erscheint dorffs Urteile über die Aufklärung und Dichter der Aufklärung; Eichendorff erscheint als Gegner der Aufklärung, wenngleich er etwa in Das Marmorbild in seiner „Verkündigung des klar leuchtenden christlichen Geistes“ seinerseits zu einem Aufklärer sui generis wird. Aber es fragt sich doch wohl, ob Eichendorffs Verhältnis zur Aufklärung als einem Phänomen der Geistesgeschichte nicht zugleich eindeutiger und differenzierter ist. – Über einen einzelnen aufklärerischen Autor, nämlich Friedrich Nicolai, sehr erhellend Wolfgang Martens: Zu Eichendorffs Nicolai-Bild, in: Aurora 45, 1985, S. 106-120; die Auseinandersetzung mit Nicolai erscheint hier als Auseinandersetzung des Romantikers mit dem Aufklärer, dessen Wirkung bis in Eichendorffs Zeit hineinragte: nämlich bis in die Dichtung des Jungen Deutschland. Über Eichendorffs Kritik der Sentimentalität und seine Auseinandersetzung mit der Literatur des 18. Jahrhunderts vgl. John Neubauer: „Liederlichkeit der Gefühle“: Kritik der Subjektivität in Eichendorffs Studie zum deutschen Roman des achtzehnten Jahrhunderts, in: Aurora 45, 1985, S. 149-162. Vgl. zum Thema auch noch die ältere Arbeit von Hans-Egon Hass: Eichendorff als Literaturhistoriker, in: Jahrbuch für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft 2, 1952-54, S. 103-177; ebenfalls Alexander von Bormann: Natura loquitur. Naturpoesie und emblematische Formel bei Joseph von Eichendorff, Tübingen 1968, passim. Vergleichend mit Heines Sicht des 18. Jahrhunderts hat Alfred Riemen Eichendorffs Kritik an Nicolai, Lessing, Hamann, Goethe und Schiller auf wenigen Seiten klar dargestellt: Heines und Eichendorffs literarhistorische Schriften. Zum geistesgeschichtlichen Denken in der Restaurationszeit, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 99, 1980, S. 532-559, bes. S. 541-546. Riemen betont zu Recht, wie sehr sich Eichendorffs Urteil in seinen späteren Schriften verschärft. Eichendorff und die Aufklärung 233 in dieser persönlich erfahrenen Geschichte der Aufklärung nämlich nicht etwa als ihr Vollender, sondern steht am Anfang jener in Eichendorffs Augen fatalen Aufklärung, die er schließlich als Katastrophengeschichte beschrieben hat. Eichendorff begegnet der Aufklärung vor allem in den Schülern Kants, und diese radikalisierten, was Kant begonnen hatte. Das Urteil über sie ist in ihrer Charakteristik enthalten, wenn Eichendorff feststellt: „Sie setzten daher nun ihren lichtseligen Verstand ganz allgemein als alleinigen Weltbeherrscher ein; es sollte fortan nur noch einen Vernunftstaat, nur Vernunftreligion, Vernunftpoesie u. s. w. geben.“2 Das Geheimnisvolle und Unerforschliche sei als störend und überflüssig abgetan worden, und als Folge dessen sei – Eichendorff denkt da sehr universalistisch – „das deutsche Leben und das deutsche Reich, das grade auf diesen unsichtbaren Fundamenten vorzugsweise geruht“, aufs Lebensgefährliche bedroht gewesen. Endpunkt der Aufklärung ist für Eichendorff die Französische Revolution; er hat sie als Ungewitter empfunden, das der Idyllik des 18. Jahrhunderts ein jähes Ende bereitete. So sehr Eichendorff die Geschichte der Aufklärung in seinen biographischen Schriften subjektiv als einen völlig einsichtigen Vorgang beschrieben hat, so sehr hat er das Ende der Aufklärung als irrationales Ereignis dargestellt, so, als habe die Aufklärung schon vor dem Ausbruch der Revolution ihre analytisch-klärende Kraft völlig verloren. Schon in den letzten Dezennien des Jahrhunderts, so meinte Eichendorff, habe jeder gefühlt, „daß irgend etwas Großes im Anzuge sei, ein unausgesprochenes banges Erwarten, man wußte nicht von was, hatte mehr oder minder alle Gemüther beschlichen“.3 Rechnen wir seine Angaben um, so begann das unheimliche Ende der Aufklärung also etwa schon ab 1780. Eichendorff führt, um die Aura des Unheimlichen anschaulich zu machen, jene seltsamen Gestalten und unerhörten Abenteurer an, die damals die Welt bevölkerten: den Grafen Saint Germain, Cagliostro, die Rosenkreuzer, die Illuminaten, Geheimbündler jeglicher Couleur – der Revolutionsgegner Goethe hält die gleichen Namen parat. Nichts mehr von Rationalität – der Spuk überwuchert alles. Der Boden, so meinte Eichendorff, war längst von heimlichen Minen, welche die Vergangenheit u. Gegenwart in die Luft sprengen sollten, gründlich unterwühlt, man hörte überall ein spuk- 2 3 HKA V/4, S. 139. HKA V/4, S. 125. 234 Eichendorff und die Aufklärung haftes unterirdisches Hämmern u. Klopfen, darüber aber wuchs noch lustig der Rasen, auf dem die fetten Heerden ruhig weideten. Vorsichtige Grübler wollten zwar schon manchmal gelinde Erdstöße verspürt haben, ja die Kirchen bekamen hin u. wieder bedenkliche Riße, allein die Nachbarn, da ihre Häuser u. Krämerbuden noch ganz unversehrt standen, lachten darüber […]4 Aber das Lachen sollte ihnen bald vergehen. So endete also die Aufklärung in Dunkelmännertum und subversiver Empörung – kaum daß sie begonnen hatte. Eichendorff schließt seine Übersicht über die Geschichte der Aufklärung mit den Worten: „Und so war denn in der Tat der ganze alte Bau schon im Anfange unseres Jahrhunderts in sich zusammengebrochen; der Sturm der französischen Revolution und der nachfolgenden Fremdherrschaft hat nur den unnützen Schutt auseinandergefegt“.5 Haben wir recht gehört? Wir haben – aber irgendetwas stimmt unbehaglich. Es ist die hier aufgemachte Zeitrechnung, und sie fordert zum Nachdenken auf. Kants Schrift Was ist Aufklärung? erschien bekanntlich 1784, fünf Jahre vor der Französischen Revolution. Kants Kritik der reinen Vernunft wurde zwar schon 1781 publiziert; wirkungsgeschichtlich wichtiger ist jedoch die zweite veränderte Auflage von 1787. Die Kritik der praktischen Vernunft erschien 1788, die Kritik der Urteilskraft erst 1790. Selbst wenn wir davon ausgehen, daß die Kritik der reinen Vernunft in der Fassung von 1781 von Eichendorff gemeint gewesen sein sollte, so bleiben für Kants Arbeit, für die angebliche Depravation der Kantischen Ideen durch seine Schüler und deren Reden von Vernunftstaat, Vernunftreligion und Vernunftpoesie sowie für den Zusammenbruch dieses Ideenreiches durch die Negation des „Geheimnisvollen“ und „Unerforschlichen“ weniger als acht Jahre: denn der Sturm der Französischen Revolution hat ja, Eichendorff zufolge, nur noch unnützen Schutt auseinandergefegt. Der Zusammenbruch der Aufklärung hat sich, mit anderen Worten, in dieser sonderbaren Chronologie etwa schon um 1787 ereignet, also fünf oder sechs Jahre nach der Proklamation der Kantischen Ideen. Das Reich der Vernunft war zusammengestürzt, bevor es recht errichtet war, die Nachfolger und Schüler Kants waren auf dem Plan, bevor er die zweite seiner Kritiken geschrieben hatte, und so fallen denn der Anfang, der tatsächlich gesehen keiner war, und das Ende, das noch lange nicht erreicht war, in Eichen4 5 HKA V/4, S. 126. HKA V/4, S. 140. Eichendorff und die Aufklärung 235 dorffs autobiographischer Darstellung, die sich nichtsdestoweniger den Anschein einer neutralen Berichterstattung gibt, nahezu zusammen. Das ist Demagogie. Das ist mehr als Zahlenakrobatik, das ist eine Aufklärungskritik, die sich listigerweise eines Demonstrationsmittels bedient, das – wie das der Chronologie nun einmal eigen ist – unwiderleglich zu sein scheint. Daß sich dem alternden Eichendorff das Zeitgefüge so ineinandergeschoben habe, daß er auf sehr abenteuerliche Weise verkürzte, was Entwicklungsgeschichte eines ganzen Jahrhunderts war, ist als Argument zu vordergründig und damit nicht brauchbar. Sehr viel wahrscheinlicher ist, daß hier unter der Flagge der autobiographischen Freiheit ein Geschichtsprozeß so zurechtgestutzt wurde, daß er in seiner Darstellung sich gleichsam selbst verurteilte. Kaum jemand anders hat der Aufklärung weniger Raum zugebilligt als Eichendorff, der Halle und Heidelberg immerhin mit dem Satz einleitet: „Das vorige Jahrhundert [das 18. also] wird mit Recht als das Zeitalter der Geisterrevolution bezeichnet.“ Hat Eichendorff die Aufklärung und ihr Ende je wirklich so erlebt? Man darf die Frage wohl getrost verneinen, was die weitere aufwirft, warum Eichendorff denn so aberwitzig die Chronologie verändert hat. Aber davon später. Sosehr sich die Geschichte der Aufklärung in Eichendorffs autobiographischer Sicht verkürzt, sosehr überdehnt ist sie in seinen literarhistorischen Schriften dargestellt. Begann sie dort erst mit Kant, so hier bereits mit der Reformation. Eichendorff denkt durchaus noch universalgeschichtlich: bereits die Reformation erscheint als Krankheitssymptom der Neuzeit, deren Beginn mit der Kritik der Renaissance an der Kirche markiert ist. Eichendorff erwähnt auch die „Subjektivierung der Religion“, der eine Haltung entsprach, die als Protestantismus im Zeitalter der Reformation erstmals deutlich auf den Plan trat. Protestantismus ist für ihn bekanntlich eine „Negation“ und zugleich „eine Demonstration des Verstandes“,6 und die Suprematie des Verstandes über die „andern für eine harmonische Bildung gleich unentbehrlichen Seelenkräfte“ ist für Eichendorff die Krankheit der Moderne, die in der Aufklärung und schließlich in der Französischen Revolution zum Ausbruch und zur Krise kommt. Eichendorff verurteilt die Reformation aber nicht nur, weil sie für ihn den Beginn der Vernunftherrschaft dokumentiert, sondern auch deswegen, weil der Protestantismus „gegen 6 HKA VIII/2, S. 37. 236 Eichendorff und die Aufklärung die Ueberlieferung schlechthin protestirte“;7 auch die Reformation war schon Revolution, setzte sie sich doch „über das Bestehende und seine innere Berechtigung hinweg“. An die Stelle der überlieferten Religion setzte sich die „Freigeisterei“.8 Schiller hielt drei Jahre vor der Französischen Revolution die Freigeisterei für einen heilsamen Fieberparoxismus und sah darin einen wichtigen Schritt der ganzen Menschheit. Für Eichendorff proklamierte ein tollgewordener freisinniger Rationalismus „in seiner praktischen Anwendung eine Religion des Egoismus“ und bereitete damit nichts Geringeres vor als den Untergang des Abendlandes. Sosehr es naheliegt, hier nur den Traditionalisten zu sehen, der gegen jegliche Weltveränderung anschrieb, so hatte Eichendorff doch seine ideologischen Gründe. Denn er zog vor allem deswegen gegen den Protestantismus zu Felde, weil sich damit für ihn ein Grundverhältnis im Menschen selbst verschoben hatte: der Verstand bekam damals erstmals „eine unverhältnißmäßige Bedeutung und Macht über Phantasie, Gefühl“9 und hatte den „lebendigen Verkehr mit der höheren Geisterwelt abgeschlossen“. Ein schlimmes, ein vernichtendes Urteil. Eichendorff hat die Geschichte des Verstandes, die für ihn dann zur Geschichte der Aufklärung wurde, immer unter dem Begriff der Usurpation gesehen und damit das eigentlich Illegitime der Aufklärung gebrandmarkt. Von daher erklären sich die zahlreichen Hinweise auf den frechen Tyrannen, der sich sein Amt unrechtmäßig angeeignet habe. Von daher erklärt sich für ihn aber auch der Krankheitszustand der Moderne. In Preußen und die Konstitutionen hat Eichendorff noch einmal zusammengefaßt, daß sich ihm die Geschichte der Aufklärung als Symptom von Krankheit darstellte.10 Und Krankheit ist für Eichendorff nur eine andere Formel für Revolution. So gibt es also zwei Geschichten der Aufklärung: eine persönlich erlebte, die eigentlich nur die Geschichte ihres Unterganges ist, und eine universalhistorische, in der die Aufklärung als Protestantismus verketzert wird. Sie laufen freilich beide auf das gleiche hinaus: auf die Zerstörung der alten Welt. Eichendorff hat uns vorgerechnet, wann und warum das so kommen mußte. Daß diese 7 8 9 10 HKA VIII/2, S. 38. HKA V/4, S. 128. HKA VIII/2, S. 37. HKA X/1, S. 123ff. Eichendorff und die Aufklärung 237 Rechnung so haarsträubend falsch war, war am Ende dann wohl sogar Absicht. Aber auch wir haben falsch gerechnet: es gibt nicht nur diese beiden Aufklärungsberichte. Denn Eichendorff hat die Geschichte der Aufklärung, die für ihn zugleich die Vorgeschichte des Ausbruchs der Französischen Revolution war, noch ein drittes Mal und dort, wenn Steigerungen möglich sind, noch viel radikaler dargestellt: auf poetischem Terrain, nämlich in der Erzählung Das Schloß Dürande. Von ihr muß hier ebenfalls die Rede sein, denn sie enthält die wohl schärfste Aufklärungskritik Eichendorffs. Wir kennen die Erzählung – sie endet bekanntlich mit dem Ausbruch jenes Gewittersturms der Französischen Revolution, der sich schon so lange ankündigte, so wie Eichendorff das ja in seinen autobiographischen und theoretischen Schriften ebenfalls beschrieben hat. Aber man läse diese Revolutionserzählung einseitig und unzulänglich, sähe man hier nur die äußeren Ereignisse in eindrucksvollen Bildern dokumentiert, die den verspäteten Zuhörer noch nachträglich das Gruseln lehren können. Das Wesentliche ist das, was damals tatsächlich passierte. Anders gesagt: die wichtigere Geschichte ist die, die sich im Innern der Figuren abspielt, und so berichtet die Novelle denn nicht nur von historischen Begebenheiten, sondern erzählt noch etwas anderes, nämlich die eigentliche Geschichte der Revolution. Es ist die Geschichte eines seelischen Verfalls. Es ist nicht Eichendorffs Absicht, das Revolutionsgeschehen und dessen Vorgeschichte zu einer tellurischen Urgewalt zu erklären, der die Menschen hilflos gegenüberstanden. Erst recht spielt der Aufruhr der damaligen Habenichtse keine Rolle. Eichendorffs Erklärung für das Aufkommen der Revolution ist anderer Art, und er gibt sie im letzten Satz seiner Erzählung, in dem er Resümee und Warnung zugleich ausspricht: „Du aber hüte dich, das wilde Thier zu wecken in der Brust, daß es nicht plötzlich ausbricht und dich selbst zerreißt“. Sosehr die Revolution nach außen hin als Naturkatastrophe erscheint, so ist sie doch eigentlich das Ergebnis einer seelischen Ausartung, Endstadium eines psychischen Ausnahme- und Krankheitsfalles, Ausbruch des Wahnsinns, das Zutagetreten des Bösen in der Welt. Die Erzählung Das Schloß Dürande will vor allem demonstrieren, wie es zum Ausbruch des wilden Tiers kommen konnte. Damit ist weit mehr als die unmittelbare Vorgeschichte der Französischen Revolution erzählt; dargestellt ist zugleich die Geschichte der Aufklärung, wie sie aus Eichendorffs Sicht erscheint. 238 Eichendorff und die Aufklärung Eichendorff hat sie hier vielleicht sogar noch schärfer verurteilt als in seinen theoretischen Arbeiten und zugleich das wirkliche Übel der Aufklärung beim Namen genannt – und weil hier also nichts Geringeres als eine Geschichtsexegese der gesamten Neuzeit geliefert wird, verlohnt die Erzählung noch einige Aufmerksamkeit, zumal sie auch prospektive Züge enthält. Denn Eichendorff hat sich nicht auf die Zeitdiagnostik beschränkt – er hat sich zugleich als Therapeut versucht und das Heilmittel angegeben, das der modernen Weltvergiftung allein abhelfen kann. * Wie sieht das nun aus? Vor allem: die Revolution ist im Grunde keine Revolution, denn es fehlen die Revolutionäre. Es geht in Eichendorffs Geschichte durchaus nicht um ein plötzlich ausbrechendes Rebellentum oder um den Aufstand derer, die sich zukurzgekommen wähnen. Denn Renald, der unglückselige Held der Geschichte, ist, das sei ausdrücklich betont, alles andere als ein blutgieriger Sozialwüterich. Er ist im Grunde genommen eine konservative Natur, und nichts liegt ihm ferner als ein endlich möglich gewordener Aufstand gegen seine Obrigkeit; er will die feudale Ordnung nicht zerstören, sondern bemüht sich so lange wie möglich und so verzweifelt wie kein anderer, ihr zu genügen. Die Fundamente dieser alten Ordnung sind für ihn Liebe und Vertrauen, die beide im Glauben verankert sind – und Renald denkt nicht im Traum daran, an ihnen zu rütteln. Es sind Werte, die, wie wir wissen, auch für Eichendorff selbst die Ordnung der Welt ausgemacht haben. Aber das wilde Tier in der Brust des Menschen, das zeigt die Geschichte, kann das alles, den gesamten Bau der sittlichen Welt, wie Schiller das genannt hätte, zerstören. Was meint Eichendorff damit? Für Eichendorff ist dieses Bild vom wilden Tier in der Brust des Menschen ein Schlüsselbild, was seine Interpretation der Aufklärung angeht. Es kommt bekanntlich noch an zwei anderen Stellen vor: am Schluß des Versepos Julian, wo vom Dämon in der Brust die Rede ist, der, wenn er plötzlich ausbricht, den Menschen selbst zerreißt, und sodann in der Charakteristik Kleists in der Geschichte der poetischen Literatur Deutschlands, wo Eichendorff in fast wörtlicher Wiederholung der Dürande-Zeilen warnt: „Hüte jeder das wilde Thier in seiner Brust, daß es Eichendorff und die Aufklärung 239 nicht plötzlich ausbricht und ihn selbst zerreißt!“11 Kleist ist für Eichendorff durch den „gänzlichen Mangel an religiösem Glauben“ charakterisiert, durch eine „wüste phantastische Leere, die Vorliebe für das blos Seltsame und Unerhörte, die unbezwingbare Lust, anstatt der natürlichen Grundlage religiöser Motive einen oft trivialen und widerwärtigen Aberglauben zum Angelpunkt seiner dramatischen und novellistischen Katastrophen zu machen“. Kleist ist Vertreter einer Literatur der Zerrissenheit, der Phantasterei und des Hasses: Stigmata der Moderne, die Eichendorff hier brandmarkt. Letztlich also ist es eine Mangelerscheinung, die das wilde Tier loskommen läßt; das gänzliche Fehlen eines religiösen Glaubens kann ein übersteigertes Rechtsgefühl, mag es auch alles für sich haben, zum wahnsinnigen Fanatismus ausarten lassen. Auch bei Renald ist der Glaube an Liebe und Vertrauen, an die Fundamente jeder Weltordnung gestört, ja zerstört, und weil dem so ist, kann das wilde Tier in seiner Brust losgebunden werden. Aber damit ist nicht eine numinose Macht gemeint, sondern etwas Einfacheres und zugleich viel Komplizierteres: das, was bei Eichendorff beziehungsvoll „Zweifel“ heißt – und das Heraufkommen dieses Zweifels ist nicht nur das eigentliche Spannungsmoment der Erzählung, sondern zugleich die in die Fiktion integrierte Geschichte der Aufklärung, wie Eichendorff sie sah. Die Geschichte zeigt, wie der Zweifel an die Stelle des Glaubens tritt und damit die Welt in Frage stellt. Mit dem Zweifeln beginnt die Zerstörung der überkommenen Welt; was übrigbleibt, ist am Ende der Trümmerhaufen des Schlosses Dürande, der zugleich der Trümmerhaufen der alten Welt ist. Der Zweifel ist für Eichendorff das eigentlich Böse in der Welt: der Verstand, derart losgebunden, muß irregehen; gibt man ihm nach, endet alles im Untergang. Eichendorff schildert die Erzählung hindurch alle Phasen des wachsenden Zweifels, der zu irreparablen Vertrauenskrisen führt, und nichts könnte die diabolische Kraft des Verstandes, der sich an die Stelle des gläubigen Gefühls gesetzt hat, besser verdeutlichen als die Weltgeschichte der Französischen Revolution, die hier zum Weltgericht wird. Es ist unschwer zu sehen, daß Eichendorffs Erzählung eine Replik auf Kleists Kohlhaas-Geschichte ist. Beidemale begründet sich die Suprematie des Verstandes in der Durchsetzung eines vermeintlichen 11 HKA IX/3, S. 429. Ausführlichere Deutung der Erzählung in dem Band des Verfassers: Freiheitssonne und Revolutionsgewitter. Reflexe der Französischen Revolution im literariscben Deutschland zwiscben 1789 und 1840, Tübingen 1989. 240 Eichendorff und die Aufklärung Rechtsanspruches. Rechtskollisionen sind in der Literatur des frühen 19. Jahrhunderts keine Ausnahme, sondern eher die Regel; Kleist hat derartige Kollisionen bekanntlich wiederholt geschildert, und so auch Büchner, die Droste, Immermann, Heine. In Kleist sieht Eichendorff jedoch die eigentliche Krise der Subjektivität, der Selbstemanzipation, des Glaubensverlustes: Subjektivität und Verstandesherrschaft sind für Eichendorff nur verschiedene Erscheinungsformen der gleichen Krankheit, die hier, unbehandelt, zwangsläufig zum Tode führt. Renald zweifelt also – er zweifelt wie Kohlhaas an der Rechtmäßigkeit der überkommenen Ordnung und Autorität. In Eichendorffs Geschichte aber hätte Renald diesem Zweifel nicht nachgeben dürfen, denn in dem Augenblick, wo er ihm folgt, ist das altehrwürdige System, das die Welt bis dahin in Ordnung gehalten hat, in Unordnung geraten und dem Untergang geweiht. Eine Weile lang will er noch die alte Ordnung bewahren, da nichts dafür spricht, daß diese sich auf ein Unrecht gegründet habe, zumal sie ihm bislang immer noch als Spiegel der himmlischen Ordnung erschienen war – aber zunehmend gibt er Zweifeln in seiner Brust Raum, läßt das Mißtrauen vordringen, begräbt damit die Ordnungselemente, an denen er doch festhalten möchte. Am Ende setzt Renald das irdische Recht höher als den Glauben, oder vielmehr: Renald setzt sich in seinem Rechtsdenken an die Stelle der göttlichen Gerechtigkeit, wenn er seinem Gegenspieler „im Namen Gottes“ seine Bedingungen stellt, er verabsolutiert seinen eigenen, auf Zweifel gegründeten Rechtsanspruch – und bereitet so seine eigene Katastrophe vor. Eben damit hat Eichendorff zugleich seine Geschichte der Aufklärung geschrieben. Denn auch sie endet mit dem Sieg des vorwitzigen Verstandes, mit dem Triumph der Rationalität, der Herrschaft des Zweifelns über den Glauben, mit der Verabsolutierung des eigenen Ich. So gliedert sich die Erzählung vom Ausbruch der Französischen Revolution jenen anderen Ereignissen an, die Eichendorff als sichtbare Zeichen einer Negativ-Geschichte der Neuzeit genannt hat: den Bauernkriegen, dem „Skandal der Münster’schen Wiedertäufer“ und der „wüsten Raserei des Dreißigjährigen Krieges“.12 Eichendorffs Erzählung demonstriert in Bildern und Geschehnissen, daß die Geschichte der Aufklärung eigentlich ein Kapitel aus der Seelengeschichte der 12 HKA VIII/2, S. 39. Eichendorff und die Aufklärung 241 Menschheit ist. Das Antidot gegen die zerstörerischen Verhältnisse der Moderne ist denn auch nur in der Seele zu finden. * Die Geschichte der Aufklärung als die Geschichte einer verwildernden Seele: das ist Eichendorffs Interpretation der Neuzeit. Vom Ende der Novelle her erschließt sich auch die literarische Kategorie, der sie zugeordnet werden muß: die Aufforderung an den Leser macht unmißverständlich klar, daß es sich um eine moralische Erzählung in der Tradition der moralischen Erzählungen des 18. Jahrhunderts handelt; die Geschichte vom Jäger Renald ist ein Beispielfall. Zwar ist er ins Extreme geraten, aber gerade der extremen Situation wegen kann um so deutlicher gezeigt werden, was zur Zerstörung der Welt führt. Mochte am Anfang auch ein Übermaß an Trivialelementen den Leser hineinlocken in eine Erzählung, die sehr in die Nähe der Kolportage zu geraten schien, so verblaßt das Triviale allmählich; dafür wird jener seelische Prozeß sichtbar, der an und in Renald aufgezeigt wird und der der eigentliche Gegenstand dieser Erzählung ist. Wie jede moralische Erzählung des 18. Jahrhunderts ist Eichendorffs Geschichte auch ein Gleichnis, da an einem Einzelfall demonstriert wird, was generell gilt. Aber die eigentliche Leistung des Dichters, des Schriftstellers ist nicht die, die Weltgeschichte als Psychohistorie zu beschreiben. Er hat sie auch zu deuten, das heißt: er hat die Vorgänge symbolisch zu verstehen, und das nicht nur in dem Sinne, daß sich die Geschichte eines ganzen Jahrhunderts, ja die Geschichte der Moderne von der Reformation bis zur Französischen Revolution in die Geschichte weniger Wochen verkürzen kann, sondern auch in jenem, daß die Geschichtskräfte, die eigentlich Seelenkräfte sind, benannt werden. Im Grunde haben wir es in dieser scheinbar so stimmungsvollen, bilderreichen und mit Natursymbolik nicht sparenden Geschichte vom Aufkommen der Französischen Revolution mit einer Allegorie zu tun, in der die Figuren nicht nur das Schreckenstheater der Revolution inszenieren, sondern zugleich eine Metaebene bevölkern. Es lohnt sich, noch einen Moment bei ihnen zu verweilen. Wir sagten schon, daß hier nicht das Proletariat gegen den Adel aufsteht, damit nicht das Schlechte gegen das Gute (oder das Gute gegen das Schlechte, je nach der Beleuchtung des Falles). Eindeutig kritisiert wird nur die Welt des alten Grafen Dürande; er ist in Eichendorffs 242 Eichendorff und die Aufklärung Erzählung geradezu die Inkarnation einer negativ zu bewertenden Restauration. Was an ihr gezeigt wird, ist die Depravation der „alten schönen Zeit“, und wenn der alte Schloßherr mit „einer geputzten Leiche“ verglichen wird, so spricht das für sich und enthält Eichendorffs ganze Kritik an einem Adel, der die Zeichen der Zeit nicht erkannt hat. Das Festhalten an einer vorrevolutionären feudalen Haltung ist in Eichendorffs Augen identisch mit einem Ignorieren der Geschichte, und er geißelt die Unglaubwürdigkeit dieser Haltung, indem er ihren Vertreter untergehen läßt. Im Grunde bedarf es gar nicht einmal der Revolution, um den alten Dürande aus dem Spiel der Mächte herauszunehmen. Aber selbst für ihn gibt es bei Eichendorff noch so etwas wie Erlösung: wenn ihm in seinen Todesphantasien seine längst verstorbene Frau in Gestalt der Himmelskönigin entgegenkommt, dann wandelt sich die Vergangenheit für ihn zur Zukunft, was doch wohl besagen will, daß auch ein derartig Irregehender wie der alte Graf Dürande noch erlöst werden kann. Der junge Dürande ist von Eichendorff nicht negativ gesehen, so wenig wie Renald, sein Gegenspieler; es sind erst Mißverständnisse, es ist der Zweifel, der sie zu Kontrahenten macht. Eichendorff hat den jungen Grafen Dürande mit hochrangigen Werten ausgestattet, und wenn er ihn als Gegner der Revolution erscheinen läßt, so deswegen, weil er die Revolution als Mittel der Durchsetzung von Sozialreformen ablehnt. Im Grunde steht er für ein in ihm wiederbelebtes altes ritterlich-christliches Ethos, und so, wie der junge Graf Dürande Symbol des wahren Adels ist, so ist Renald der Vertreter des guten Volkes. Die wichtigste Figur aber ist Gabriele; gerade sie ist mit allegorischen Zügen vielleicht noch deutlicher ausgestattet als die anderen Figuren der Erzählung. Nicht nur, daß sie die entscheidende, verbindende Gestalt zwischen Adel und Volk ist; sie erscheint als Verkörperung von Liebe und Treue, und sie hätte die Spannungen zwischen den Ständen und Gesinnungen mildern und ausleben können, wäre nicht der Zweifel in Renald so mächtig geworden. Wird aber Gabriele als Inkarnation des entscheidenden Bandes zwischen Adel und Volk, nämlich der (christlichen) Liebe, verstanden, so leuchtet ein, daß Eichendorff in dieser Geschichte vom Untergang eines alten Staates zugleich das Idealbild von Staatsverhältnissen entwirft, wie er sie für die Zukunft erhoffte – im Sinne einer konservativen Revolution, deren evolutionistische Tendenzen überwiegen, im Sinne auch eines aufgeklärten Adelsdenkens, einer idealen Harmonie zwischen dem Alten und Eichendorff und die Aufklärung 243 dem Neuen. Die allegorische Bedeutung dieser Geschichte, in der hinter den Familienkonflikten Staatskonflikte stehen, belegt im übrigen eine Stelle aus der Eichendorffschen Schrift Über preußische Verfassungsfragen, wo es heißt: „Gleichwie es sich aber in einer unentarteten Familie gantz von selbst versteht, daß der Vater den Sohn liebreich zum Besten leite und der Sohn den Vater ehre, so bedarf auch jenes gesunde StaatsVerhältniß zu seiner Bürgschaft nicht des Vertrages, dieser Artzenei erkrankter Treue“.13 Daß das prospektiv gedacht war, zeigt der Zusatz: „Und dieser Geist wechselseitiger Liebe, Mäßigung und Gerechtigkeit […] wird in dem Sturme einer tiefbewegten Zeit ferner schirmend über uns walten“. Einen Vertrag wollte auch Renald mit dem jungen Dürande machen – da aber war, wie uns die Erzählung lehrt, die Treue ja schon erkrankt. Daß in der Geschichte vom Schloß Dürande Vater und Sohn sich nicht mehr verstehen, beleuchtet andererseits die Mißverhältnisse in jener bereits entarteten Familie. Der junge Graf Dürande und Gabriele hingegen hätten sich sehr wohl verstanden, wären sie nicht durch Zweifel und Argwohn daran gehindert worden. So haben wir denn im Grunde genommen eine zeitkritische Novelle vor uns, in der auf allegorische Weise die Wurzeln der Krankheit ebenso aufgedeckt werden, wie Rezepte zur Heilung angeboten sind. Und eben von daher erklärt sich der moralische Satz am Schluß. * Ein moralischer Satz am Schluß der Erzählung eines Romantikers? Eine allegorische Geschichte, was sich auf den ersten Blick wie ein Stimmungsbild aus der Zeit der Französischen Revolution liest? Spätestens hier zeigt sich, daß Eichendorffs Verhältnis zur Aufklärung durchaus nicht von einseitiger Kritik bestimmt ist. Eichendorff selbst bedient sich aufklärerischer Mittel, die moralische Erzählung ist eine seiner stärksten Waffen. Mit einer Einschränkung freilich: was er aufklärend mitzuteilen hat, ist nicht durch den Verstand zu leisten. Der, von ihm so außerordentlich kritisch betrachtet, darf hier nicht tätig sein, aber das hindert Eichendorff nicht, in aufklärerischer Absicht zu schreiben. So erklärt sich, warum er ganze Bildreihen aufbaut, um mit deren Hilfe zu überzeugen, da die Aufklärung bei ihm gewissermaßen über Bild, ursprüngliche Einsicht und Gefühl gehen muß, nicht über 13 HKA X/1, S. 119f. 244 Eichendorff und die Aufklärung die Vernunft. Aber auch von hier aus gesehen gibt es keine überzeugendere Verteidigung der Poesie und ihrer Möglichkeiten als gerade diese Aufgabe: zu verdeutlichen, wo der Verstand nicht mehr verdeutlichen kann. So haben wir denn in der Erzählung Das Schloß Dürande auch einen bewußten Rückzug aus der intellektuellen Sphäre, keine Erklärung der Revolution mit Hilfe kühner Thesen und philosophischer Spekulationen, wie sie etwa bei Heine immer wieder begegnen, sondern eine Exegese gleichsam unterhalb der Verstandesebene, in einer Bild- und Figurenwelt, die oft allerdings dazu verführt hat, diese nur als solche zu betrachten und nicht den Sinn dahinter zu erkennen, mit dem bei Eichendorff alles so eindeutig befrachtet ist. Eichendorff setzt als Überzeugungselement Bilder ein; was er betreibt, ist eine Art pikturaler Aufklärung, und das Belehren durch Vorbilder und Gleichnisse ist darin eingeschlossen. Er wußte offenbar genau, daß ein Gleichnis sehr viel wirkungsvoller unterrichten kann als jeder noch so klar argumentierende Aufruf, und wenn sich die Geschichte vom Schloß Dürande auch scheinbar naiv liest, eben als bloße Sittenschilderung aus der Zeit der Französischen Revolution, so ist gerade das ungefähr das einzige, was sie nicht sein will, da sie eben auf einer Ebene unterhalb oder vielmehr, nach Eichendorff, oberhalb des Verstandes operiert, um dem Leser im wahrsten Sinne des Wortes die Augen zu öffnen. Eichendorff will aufklären, aber nicht nach Art der rationalen Überzeugungsdidaktiker, sondern indirekter, oder sagen wir besser: direkter. Hat man sich über das allegorische Schreiben Eichendorffs erst einmal verständigt, so folgt daraus der aufklärerische Grundzug dieses Schreibens fast von selbst. Denn die Aufklärung hatte kaum eine stärkere Waffe als die Allegorie. Für Bodmer war sie zwar nur eine „doppelsinnige Schreibart“, eigentlich ein Angriff auf die „abstracté“.14 Georg Friedrich Meier warnte sogar noch vor dem „ewigen Allegorisiren“, da das nur „einen Eckel“ verursachen könne.15 Aber seit Winckelmanns Versuch einer Allegorie und seiner Feststellung, daß sie „durch sich selbst verständlich seyn“ könne,16 ist die Allegorie als auf14 Johann Jacob Bodmer: Critische Betrachtungen über die poetischen Gemählde der Dichter, Zürich 1741, S. 601. Zum allegorischen Schreiben im 18. Jahrhundert vgl. Verf.: Denken in Bildern. Zu Schillers philosophischem Stil, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 30, 1986, S. 218-250. 15 Georg Friedrich Meier: Anfangsgründe aller schönen Wissenschaften, Zweyter Theil, Halle/S. 1749, S. 372. 16 Johann Joachim Winckelmann: Versuch einer Allegorie, Dresden 1766, S. 2. Eichendorff und die Aufklärung 245 klärerisches Instrument anerkannt. Christian Ludwig Hagedorn hat festgestellt: „Ein allegorisches Bild kann uns gleichwohl belehren, wie eine Sentenz“.17 In der Erzählung vom Schloß Dürande wirkt Eichendorff als Aufklärer, der seinen moralischen Satz schon vorher, im Verlauf des Erzählens, mit so viel bildlicher Beweiskraft ausstattet, daß er nicht nur als subscriptio und notwendige Schlußfolgerung, sondern zugleich als längst ausgesprochener Appell an die Zukunft verstanden werden muß. Eichendorffs Geschichten sind dabei nur vordergründig frei von Intellektualität: in Wirklichkeit ist dieses Erzählen ein raffiniertes Spiel mit Vorstellungen, die, wie es einer Allegorie zukommt, als Gleichungen benutzt werden können. Aufklärungskritik mit Hilfe aufklärerischer Praktiken: darin zeigt sich Eichendorffs ambivalente Haltung zur Aufklärung, das eigentümlich Gegenreformatorische, der Feldzug, den er gegen sie führt, um sie listigerweise mit ihren eigenen Waffen zu schlagen. Eichendorffs Revolutionserzählung hat wie seine autobiographische Darstellung der Aufklärung ebenfalls etwas von erzählerischer Demagogie an sich, das Wort ohne alle negativen Konnotationen verstanden. Eichendorff ist ein durchaus militanter Gegenaufklärer, dem die Mittel der Aufklärung nur recht sind, um sie zu bekämpfen. In seinen autobiographischen Schriften hat er andere gewählt und dort die Zeitverhältnisse so manipuliert, daß die Geschichte der Aufklärung schon ins Absurde geriet. Eindringlicher freilich ist seine Aufklärungskritik hier, in der Erzählung Das Schloß Dürande. Eichendorff hat aufklärerische Praktiken und Taktiken gelegentlich sogar noch stärker eingesetzt: in seinen Satiren nämlich. Dieser Begriff ist nicht sehr hilfreich, um jene Texte zu verstehen, die damit bezeichnet werden; tatsächlich handelt es sich auch hier um Allegorien, und die Zielscheibe dieses allegorisierenden Erzählens ist wieder die Aufklärung und ihr in Eichendorffs Augen so bösartiges Ende, die Revolution. In Auch ich war in Arkadien! ist es freilich nur die Julirevolution, die Eichendorff aber, wie fast alle seine Zeitgenossen, als Fortsetzung der Französischen Revolution verstanden hat. Der Ritt auf den Blocksberg spricht in seiner allegorischen Komposition für sich und soll hier nicht im einzelnen noch einmal nachgeritten werden. Nur ein Beispiel für Eichendorffs Art des sinnbildlichen Erzählens: die Partie zum Blocksberg erreicht endlich eine 17 Christian Ludwig von Hagedorn: Betrachtungen über die Mahlerey, Erster Theil, Leipzig 1762, S. 493. 246 Eichendorff und die Aufklärung Restauration, die, ziemlich geschmacklos, sich unter einem dreifarbigen Zelte befand, auf welchem ein fuchsrother alter Hahn saß und unaufhörlich krähte. Sieben Pfeiffer saßen zur Seiten auf einem Stein und bliesen das çaira von Anfang bis zu Ende und wieder und immer wieder von vorn, so langweilig, als bliesen sie schon auf dem letzten Loche. Auf der Tribüne der Restauration aber stand der Wirth und schrie mitten durch das Geblase mit durchdringender Stimme seine Wunderbüchsen und Likör-Flaschen aus: Konstitutionswaßer, doppelt Freiheit! u. s. w. Unten schoßen Kinder Burtzelbäume und warfen jauchtzend ihre rothen Mützchen in die Luft, das Volk war wie beseßen.18 Nichts ist hier ohne allegorischen Bezug. Die Farben des dreifarbigen Zeltes bedürfen keines Kommentars, daß der gallische Hahn sich fuchsrot auf dem Dach präsentiert, ebenfalls nicht. Wer aber sind die sieben Pfeifer, die das ça ira blasen? Die Zeitgeschichte gibt Aufschluß: das ist eine boshafte Vervielfachung eines Einzigen, nämlich von Philipp Jakob Siebenpfeiffer, der die Einladung zum Hambacher Fest 1832 verfaßt hatte. Wir kennen auch den Wirt, der seine Wunderbüchsen und Likörflaschen ausruft: Johann Georg August Wirth war Redakteur eines liberalen Blattes in München, und wenn er in Eichendorffs Erzählung auf der Tribüne der Restauration steht, so wußte der Zeitgenosse, daß er von 1831 an eine Zeitschrift herausgegeben hatte mit dem Titel Die deutsche Tribüne. Ein constitutionelles Tagblatt. Wenn der Wirt sein Konstitutionswasser verkaufen will, so sei daran erinnert, daß auch Siebenpfeiffer 1830 eine Zeitschrift herausgab mit dem Titel Rheinbayern. Eine vergleichende Zeitschrift für Verfassung, Gesetzgebung, Justizpflege, gesamte Verwaltung und Volksleben des constitutionellen In- und Auslandes, zumal Frankreichs. Der Hinweis auf die roten Mützen, chapeau rouge, ist fast schon zu dick aufgetragen; wir wissen ohnehin, wo wir uns befinden. Auch die subscriptio, der verborgene moralische Satz fehlt in diesem Revolutionsgemälde nicht. Es ist der Schlußsatz: „das Volk war wie beseßen“, Resümee und Urteil Eichendorffs zugleich. Dergleichen findet sich häufiger. Wenn in Libertas und ihre Freier „die ganze gute alte Zeit gründlich reparirt u. neu übergoldet worden“,19 so wissen wir, wie auch diese Geschichte zu lesen ist. Ob andere Erzählungen wie etwa die Taugenichtsnovelle auf ähnliche Weise zu verstehen sind, sei hier nur als Frage gestellt. Es empfiehlt sich, schon Ahnung 18 19 HKA V/3, S. 166f. HKA V/3, S. 340. Eichendorff und die Aufklärung 247 und Gegenwart mit einem geschärften Blick für allegorische Szenerien zu lesen. Daß die Sonne eben prächtig aufgegangen war, ist eine Feststellung, die derart deutlich einen allegorischen Inhalt hat, daß es schwer fällt, diesen Satz als bloßen Natureingang zu bewundern. Daß noch auf der nächsten Seite des Romans das hohe Kreuz „Trost- und Friedenreich“ auf die Szenerie und die Fahrt der studentischen Argonauten herabblickt, ist zumindest topographisch nicht belegt, verlangt also nach einer anderen Erklärung: Brentanos Rheinmärchen liefern sie. Und daß der Strom, auf dem die Studenten fahren, der Strom des Lebens ist, bedarf keines Kommentars – so wie ja auch der Schluß des Romans eben nur allegorisch zu deuten ist. Zweifellos handhabt Eichendorff hier virtuos die „doppelsinnige Schreibart“, von der Bodmer gesprochen hatte, und daß auch Ahnung und Gegenwart Aufklärungskritik enthält, da ein düsteres Zeitbild entworfen wird, das den optimistischen Geschichtsvorstellungen der Aufklärung völlig zuwiderläuft, ist offenkundig. Auch hier wird die Aufklärung mit Hilfe aufklärerischer Mittel entlarvt wie in den späten theoretischen Schriften. Daß Eichendorff in seiner Aufklärungskritik freilich einen Popanz bekämpfte, den er selbst so zurechtgestutzt hatte, steht auf einem anderen Blatt. Sein universalistisches Geschichtsverständnis ließ ihn diese Epoche von ihrem Ende, wie ihm schien, her beurteilen, und er sah als Untergang, was den liberalen Köpfen seiner Zeit als Aufgang erschien. Aber sein Verhältnis zur Aufklärung erschöpft sich nicht in der Anwendung aufklärerischer Praktiken bei gleichzeitiger Ablehnung der Aufklärung als eines den Menschen denaturierenden Prozesses. Eichendorff geht weiter: er sucht die Aufklärung zu überwinden, indem er aufklärerisches Denken in seine eigenen Geschichtsdarstellungen integriert. Eichendorff, der Gegenaufklärer, führt die Geschichte der Aufklärung und die Aufklärung über das Wesen der Geschichte an ihr eigentliches Ende – wohl wissend, daß man sich der gedanklichen Macht eines Kontrahenten am sichersten bemächtigt, indem man sie für seine eigenen Absichten umfunktioniert. Er konnte die evolutionistische Geschichtstheorie der Aufklärung bruchlos übernehmen und zugleich gleichsam wortlos widerlegen, da sie in heilsgeschichtliche Vorstellungen umzumünzen war. Dabei störte allenfalls das Ereignis der Revolution. Er ist denn auch nicht müde geworden, diese in allen ihren Erscheinungsformen gewissermaßen als einen Umschlag der Evolution in ihr tödliches Gegenteil zu interpretieren. Sie beunruhigte ihn am meis- 248 Eichendorff und die Aufklärung ten von allem, was im 18. Jahrhundert geschehen war, und die Linearität seiner Geschichtsvorstellungen, die er mit den Aufklärern gemeinsam hatte und gegen sie nutzte, führte dazu, daß er von hier aus eben dieses seiner Ansicht nach falsch aufgeklärte 18. Jahrhundert beurteilte und verurteilte. Aber seine eigene Verurteilung wäre nicht sinnvoll gewesen ohne jenes Evolutionsdenken, das ihn in den Stand setzte, das fehlgeleitete Aufklärungspotential wieder auf den rechten Weg zu bringen, die Heilsgeschichte an die Stelle einer politischen Hoffnungsgeschichte zu setzen, und von daher leuchtet ein, warum in Ahnung und Gegenwart Friedrich „beruhigt und glückselig“ in den „stillen Klostergarten“ hinaustritt, in der Erzählung Das Schloß Dürande am Ende der Geschichte ebenfalls „alles still“ wird, als die Opferflamme zum gestirnten Himmel aufsteigt – anders als im 18. Jahrhundert, wo dessen Ende mit dem Gepolter der Französischen Revolution die Geschichte, die dahin geführt hatte, zur Unheilsgeschichte erklärte, während Eichendorffs Geschichten im gegenaufklärerischen Sinne alle Heilsgeschichten sind. Sie widerlegen die Aufklärung, indem sie sie auf eigentliche Weise ans Ziel führen: der vielleicht geschickteste Schachzug Eichendorffs bei allen seinen Bemühungen, die für ihn so gefährliche Gewalt des aufklärerischen Denkens zu bändigen. Das alles betrifft nicht nur die abstrakte Geschichte der Aufklärung. Eichendorff hat sie derart auch in seinen literarhistorischen Schriften zu neutralisieren gesucht. Es ist ebenso irrig wie leichtfertig, in ihnen nur eine Altersbeschäftigung an der Grenze zum Sklerotischen zu sehen, weil sie voller Wiederholungen stecken und auf den ersten Blick hin Zeugnisse einer immer einfallsloser werdenden Seniorenstarrheit sind. Wiederholungen gehören zur Arbeitstechnik Eichendorffs; er ist nie ganz frei davon gewesen, und in der Lyrik finden sie sich zeitweise derart gehäuft, daß man hier schon fast serielle Verfahrensformen zu finden meint. Im übrigen scheint es auch wieder für die Hartnäckigkeit der aufgeklärten Gegenaufklärung zu sprechen, mit der Eichendorff die Geschichte der Aufklärung umschreibt. Denn auf nichts anderes laufen die literarhistorischen Darstellungen hinaus. Sie sind, wenn man so will, nach der autobiographischen, der geistesgeschichtlichen und der erzählerischen Geschichte der Aufklärung eine vierte Bemühung um die Korrektur gängiger, aber falscher Vorstellungen. Auch sie lohnen einen abschließenden Blick. Eichendorff und die Aufklärung 249 Eichendorffs Periodisierungen wirken auf den ersten Blick freilich willkürlich bis zum Absurden und fast indiskutabel: so, wenn Kant als „der eigentliche Philosoph der Reformation“ bezeichnet wird. Aber Eichendorff nutzt seine Kategorien nicht temporal, sondern hat sachliche Kriterien. Kant ist Reformator in dem Sinne, daß er „die einmal emancipirte menschliche Vernunft nun auch ganz folgerecht zum waltenden Princip erhob“. Fichte ist in Eichendorffs Augen sogar ein noch radikalerer Reformator, geht er doch „bis zur Vergötterung des reformatorisch emancipirten Subjects“.20 Das grenzt in Eichendorffs Sicht freilich schon an eine Selbstverurteilung. Die eigentlichen Integrationsversuche Eichendorffs werden aber erst in den Abschnitten über Lessing sichtbar. Auch hier widerlegt er, indem er integriert. Weit davon entfernt, den Aufklärer Lessing zu verurteilen, sieht er ihn als bedenkenswerten Protestanten, der den Zweifel als Waffe nutzt, „um sich zu positiver Ueberzeugung durchzuhauen“.21 Eichendorff interpretiert ihn gerade darin allerdings als tragischen Charakter, da der Wahrheitssucher „an der Schwelle des Allerheiligsten unbefriedigt untergeht“:22 Lessing also als Suchender, ohne dem Ziel nahegekommen zu sein. Eichendorff hat sich geschickt Lessings Wahrheitsdurst zu eigen gemacht und ihn in seinem tatsächlich entscheidenden Charakteristikum beschrieben, aber Lessings unendlichen Zug zur Wahrheit in seiner Literaturgeschichte gleichsam finalisiert; seine Geschichtssicht ließ eine aufklärerische Unendlichkeit nicht zu, sondern sah in ihr gerade die wesentliche Mangelerscheinung des aufgeklärten Skeptikers. Lessing konnte nicht sagen, wohin der Argonautenzug seiner Wahrheitssuche ging; dieses positive Merkmal der Aufklärung aber münzt Eichendorff um, sieht darin die entscheidende Schwäche: er hingegen gibt der aufgeklärten Geschichtssicht ein Ziel. In seinem Haß auf den „flachen Rationalismus“ erscheint Lessing so schließlich geradezu als Vorläufer Eichendorffs: ein Meisterstück kritischer Anverwandlung. Der prozessuale Charakter der Lessingschen Wahrheitssuche hat ein Eschaton bekommen. Lessing hätte sich allerdings doch wohl sehr gewundert ob solcher Inanspruchnahme. Daß Lessing und Eichendorff in ihren Darstellungen es beide oft mit der Göttin Irascibilität halten, daß Eichendorff darin sogar von Lessing gelernt haben könnte – auch das schafft ja allenfalls äußerliche Ge20 21 22 HKA IX/3, S. 187. HKA IX/3, S. 226. HKA IX/3, S. 227. 250 Eichendorff und die Aufklärung meinsamkeiten. Aber Eichendorff wollte mehr, er war auf Landnahmen in den Provinzen des 18. Jahrhunderts aus, um den verhaßten Feind noch auf dessen eigenem Gebiet zu besiegen. Eichendorffs Geschichtsdarstellungen sind Geschichtsberichtigungen. Er korrigiert die Reformationsidee, die auf die „revolutionäre Emanzipation der Subjektivität“ hinauslief: mehrfach und ohne Kompromisse. Eichendorff stellt sich dabei durchaus nicht als Aufklärungsgegner dar; in seiner Schrift über den deutschen Roman heißt es ausdrücklich: „Es ist gewiß nichts so natürlich, edel und christlich, als das menschliche Streben nach Licht, ein reformatorischer Gebrauch der Vernunft“.23 Aber das ist die List des gegenreformatorischen Rattenfängers, denn nichts liegt ihm ferner als ein Preislied auf die Reformation. Eichendorff trennt denn auch sogleich die wahre Aufklärung von der bekämpfenswerten falschen Aufklärung, und die stammt, wie wir schon wiederholt erfahren haben, aus dem „allgemeinen Protestantismus der menschlichen Natur“, und wir wissen, wie Eichendorff über den denkt. Eichendorff und die Aufklärung: seine Beziehung zu ihr illustriert am Ende also Eichendorffs Verhältnis zur Geschichte überhaupt, und er spricht darüber in einer Zeit, in der das Gespenst des Nihilismus der Moderne schon längst am düsteren Horizont der Geschichtserwartungen aufgetaucht war und in der die Lehre von der mehr oder weniger sinnlosen Kreisbewegung der Geschichte einen immer größeren Raum gewann – von Büchner bis zu Ernst von Lasaulx. Das könnte erklären, warum Eichendorff sich so vehement der Aufklärung zuwandte, denn da, aber auch nur da war noch etwas zu retten. Eichendorff konnte der aufgeklärten Geschichtsphilosophie, die von der Idee der unendlichen Perfektibilität geleitet war, ein Telos geben und somit die Aufklärung an ein Ende bringen: ein Bollwerk gegen jeglichen zeitgenössischen Geschichtspessimismus. Dabei hat er sich geschickt Vorstellungen zunutze gemacht, die nicht nur der Aufklärung, sondern auch der Frühromantik vertraut waren: daß die Geschichtsschreibung sich der menschlichen Ursprünge versichern könne und daß diese Ursprünge gut seien. Eichendorff spricht von der „ursprünglich vorgesehenen Harmonie“ und macht sich im Zeitalter eines wachsenden Kulturpessimismus eben diesen Pessimismus zunutze, indem er dem Endzeitbewußtsein eine erfreuliche Botschaft und den Trostbedürftigen eine Harmonie vorhält, 23 HKA VIII/2, S. 66. Eichendorff und die Aufklärung 251 die er als gleichzeitig verlorenes und wiederzugewinnendes Paradies identifiziert. So verheißt er jenen ein Ziel, die am Sinn ihres Daseins zweifeln, und denen Erlösung, die der unendlichen Heerstraße der aufgeklärten Wahrheitssuche müde geworden sind. Und er gibt seine Sicht der Dinge als wahre Aufklärung aus, da er den Weg der Wahrheitssuche uminterpretiert zur Sehnsucht nach christlicher Erlösung. Eichendorff hat bei alledem ungläubigen Scholaren gegenüber nicht mit Drohungen gespart und war weit davon entfernt, der von ihm bekämpften Aufklärung ihren eigenen Weg zuzugestehen. Er hat seinen Vorstellungen mehrfach sogar durch Schreckbilder nachgeholfen – und hier wird etwas von der Militanz des Gegenaufklärers deutlich, der sich nicht ganz sicher ist, ob seine Inbesitznahme der Aufklärung aus gegenaufklärerischen Absichten heraus genügte. So schrieb er, Angst und Abscheu beschwörend, von der Anarchie, die hinter den letzten Trümmern einer tausendjährigen Kultur lauere: „die Anarchie, die Barbarei, und der Kommunismus; der Proletarier hat an der willkommenen Bresche, wie zur Probe, schon die Sturmleiter angelegt“.24 Da ist der Kinderschreck und Alarmprophet Eichendorff tätig. Eichendorff war sich seiner Beziehung zur Aufklärung offenbar nie ganz sicher – so schrieb er immer wieder gegen sie an, um sie einzugemeinden. Ihre produktive Kraft hat er ebenso gekannt wie gefürchtet – nicht umsonst spielt der Protestantismus eine derart große Rolle in seinen Überlegungen. Er sah aber hier nicht nur Gefahren, sondern zugleich Interpretationsmöglichkeiten, die von der Natur der Aufklärung selbst vorgegeben waren. Das Suchen nach Wahrheit war im Grunde genommen nicht revolutionär – und eben darin mag Eichendorff seine gegenaufklärerische Chance gesehen haben. Das Prinzip aufklärerischen Denkens war evolutionär, und evolutionär dachte auch Eichendorff: so sah er sich von der aufklärerischen Praxis des Denkens offenbar ermutigt, diese fortzusetzen, um dem entgegenzuwirken, was er vor allem fürchtete: der Revolution. In sie hatte, seiner Sicht nach, die falsche Aufklärung geführt. Die richtige Aufklärung führte, so meinte Eichendorff, in die Katholizität zurück und in der Menschheitsgeschichte zugleich voran. Und so glaubte er den gefährlichen Bazillus eines allzu freimütigen Denkens am Ende überwunden, und dazu hatte er beizutragen versucht, indem er die Aufklärung, wie er meinte, mit 24 Vgl. dazu Günther Schiwy: Eichendorff. Der Dichter in seiner Zeit. Eine Biographie, München 2000, S. 595. 252 Eichendorff und die Aufklärung ihren eigenen Waffen schlug. Daß ihm das gelungen sei, dessen war er sich sicher – während die Aufklärung sich nur sicher war, daß man sich nicht sicher sein könne. Aber eines verband ihn bei aller Kritik an der Aufklärung und bei allen Umfunktionierungsversuchen dennoch mit ihr: das ist die Idee der historischen Selbstbestimmung. Ist die Weltgeschichte eigentlich Seelengeschichte, so verliert sie etwas von ihrer Unveränderbarkeit. Der Lauf der Geschichte erscheint vielmehr dann bestimmbar, wenn die seelischen Kräfte, die Geschichte erst machen, aktiviert werden. Das hat zur Folge, daß die Geschichte zu einer vom Menschen zu verantwortenden Geschichte wird: von einer Überwältigung durch eine blinde Macht kann nicht die Rede sein. Die Rechnung wird den in sie Verwickelten aufgemacht, und die Erzählung Das Schloß Dürande zeigt vielleicht am sinnfälligsten, wie das revolutionäre Ende der Aufklärung zu bewerten ist. Es ist die Dichtung, die in diesem Fall jene Rechnung präsentiert; so wie sie es ist, der es zukommt, die Weltgeschichte als Geschichte der Innerlichkeit zu zeigen. Daß der Dichter das Herz der Welt sei, ist eine oft gedankenlos nachgesprochene Formel. Ihren eigentlichen Sinn bekommt sie erst dort, wo dem Dichter die Rolle zugewiesen wird, die Weltgeschichte als vom Einzelnen zu verantwortende Geschichte zu begreifen, und so nähert sich Eichendorff hier wieder dem aufklärerischen Ethos an, wenngleich die Instanzen, vor denen Verantwortung abzulegen ist, höchst unterschiedlicher Natur sind. Nähe und Ferne – das mag noch einmal auf das ambivalente Verhältnis Eichendorffs zur Aufklärung hindeuten, die er mit ihren eigenen Waffen zu schlagen gedachte und die er doch wie kaum eine andere Zeit brauchen konnte, um seine Geschichtssicht zu verdeutlichen. Er hätte ihr eigentlich dankbar sein müssen. – Doch das wäre wohl zuviel verlangt gewesen. K O N S T RU I E RT E W I R K LI CH KE I T E N . Z U E I C HE N D O R F FS L Y RI K Unser landläufiges Eichendorff-Bild, das sich mit ihm, seit er schrieb, fest verbunden hat, ist nicht das Bild eines modernen Dichters. Eichendorff war eigentlich von Anfang an und bis heute hin in den Augen der Öffentlichkeit nichts anderes als ein romantischer Sänger, der sein waldesgrünes Schlesien vielmals besungen hat, und das meist in Versen, die auf naive Weise volkstümlich zu sein schienen oder auch auf volkstümliche Weise naiv: Verständnisschwierigkeiten gab und gibt es bei ihm nie und nirgendwo. Denn was sich da präsentiert, ist nur zu oft immer wieder das Gleiche: auf irgendeiner glänzenden Landstraße sind sie unterwegs, die Spielleute, die Reiter, die Wandergesellen, die jungen Burschen, die in die Fremde Verschlagenen, und glänzend wie die Landstraße ist meist auch deren Innenleben: im Gemüt herrscht ewiger Sonntag, gewandert wird ohne Ziel und Zweck, das Fernweh gehört zu den habituell gewordenen Schmerzen, die man mit Lust in sich spürt, aber vor allem wird geschwärmt, und wo geschwärmt wird, von den Lauben und von Palästen im Mondenschein, da klingt das so, als ob die Wanderer das wirklich selbst erlebt hätten – aber dabei ist alles nur Gesang. Wer nicht mitmacht auf diesem trunkenen Siegeszug durch die Welt, gilt als Philister – ein schlimmeres Schimpfwort ist in Eichendorffs Zeit kaum denkbar. Das wahre Leben liegt jenseits des Philisteriums, liegt bei denen, die wie der Taugenichts, der romantische Trittbrettfahrer, auf einer Postkutsche mit dem Zielort Wien unterwegs sind: wie er wollen sie alle nichts lieber als ins Weite hineinstreichen, voll unbestimmter Erwartung, die sich gar nicht zu erfüllen braucht, aber mit einem tiefen Vertrauen darin, daß man dann richtig lebt, wenn man nutzlos lebt, und nutzlos möchte der Taugenichts als exemplarische Figur dieses romantischen Herumvagabundierens auch alles andere haben, will in seinem Gärtchen Blumen statt Kartoffeln und Gemüse. Aber lange hält es ihn ja auch da nicht. Es drängt ihn wieder hinaus, und die Landstraßen sind erneut Brücken ins Unendliche, wie es sich vor ihm am Rande einer schillernden Landschaft ausbreitet. Die Kornfelder wogen leise, Lerchen schrauben sich über ihm in den Himmel, 254 Zu Eichendorffs Lyrik und gerade, wenn ihm die Welt so bunt und verlockend erscheint, wenn er sein Vagantentum so recht genießt, dann weiß er: „Unser Reich ist nicht von dieser Welt!“1 Auch die anderen Götterkinder leben ihr poetisches Leben. Und so schwärmen auch sie denn herum, fahren die Donau entlang wie in dem schon 1810 begonnenen Roman Ahnung und Gegenwart. Lebenskünstler sind sie alle, die sprichwörtliche ewige Jugend im Herzen und irgendein Wanderlied auf den Lippen. Die Signale stehen immer auf Ausfahrt, am nächtlichen Himmel scheinen unentwegt die Sterne, ewig rauschen die Brunnen und die Wälder, und wem das an akustischen Eindrücken noch nicht genug ist, der kann hin und wieder das Posthorn vernehmen: kein Verkehrssignal, sondern aus romantischer Produktion stammend; was dieses Posthorn entläßt, ist immer ein Lebensruf, der sich an den nächtlichen Berghängen bricht und der auch gehört wird, vorausgesetzt, Studenten ziehen zufällig vorbei. Und selbst wenn vom stillen Land die Rede ist, ist Gesang in der Luft, manchmal auch Lautenklang, bis dann im Morgengrauen die Vögel erwachen zu musikalischen Darbietungen anderer Art und den Posthornklang und das Brunnenrauschen ablösen. So hat man Eichendorff wieder und wieder gelesen, und kein Geringerer als Thomas Mann hat das Bild vom derart romantischen Eichendorff nachhaltiger geprägt. Seine Charakteristik, nicht zufällig 1918 in einem schlimmen Kriegsjahr niedergeschrieben, kann es, was sprachlichen Glanz angeht, durchaus mit Eichendorffs Taugenichtsprosa aufnehmen. Der kleine Roman, so heißt es bei Thomas Mann, ist wie sein Held „nichts weniger als wohlerzogen, er entbehrt jedes soliden Schwergewichts, jedes psychologischen Ehrgeizes, jedes sozialkritischen Willens und jeder intellektuellen Zucht“2; aber dieses Manko werde weit aufgewogen durch das, was dieser kleine romantische Roman biete. Thomas Manns Sätze aus den Betrachtungen eines Unpolitischen haben sich lange schon mit dem Eichendorff-Bild ebenso untrennbar wie nachhaltig verbunden: der Taugenichts sei nichts als Traum, Musik, Gehenlassen, ziehender Posthornklang, Fernweh, Heimweh, Leuchtkugelfall auf nächtlichen Park, törichte Seligkeit, so daß einem die Ohren klingen und der Kopf summt vor poetischer Verzauberung Sämtliche Werke des Freiherrn Joseph von Eichendorff. Historisch-Kritische Ausgabe […], hg. von Hermann Kunisch (†) und Helmut Koopmann (= HKA), Bd. V/1, S. 110. 2 Thomas Mann: Gesammelte Werke in dreizehn Bänden, Bd. XII, Frankfurt am Main 1974, S. 376. 1 Zu Eichendorffs Lyrik 255 und Verwirrung. Aber er ist auch Volkstanz im Sonntagsputz und wandernde Leierkasten, ein deutsch-romantisch gesehenes Künstler-Italien, fröhliche Schiffahrt einen schönen Fluß hinab, während die Abendsonne Wälder und Täler vergoldet und die Ufer von Waldhornklängen widerhallen, Sang vazierender Studenten, welche ,die Hüt’ im Morgenstrahl schwenken‘, Gesundheit, Frische, Einfalt, Frauendienst, Humor, Drolligkeit, innige Lebenslust und eine stete Bereitschaft zum Liede, zum reinsten, erquickendsten, wunderschönsten Gesange… Ja, die Weisen, die da erklingen, die überall eingestreut sind, als sei es nicht weiter viel damit, – es sind nicht solche, die man nur eben in Kauf nimmt, es sind Kleinode der deutschen Lyrik, hochberühmt, unserm Ohr und Herzen alt und lieb vertraut […]. Und dann zitiert er als „non plus ultra, eine betörende Essenz der Romantik“, die Zeilen: Schweigt der Menschen laute Lust: Rauscht die Erde wie in Träumen Wunderbar mit allen Bäumen, Was dem Herzen kaum bewußt, Alte Zeiten, linde Trauer, Und es schweifen leise Schauer Wetterleuchtend durch die Brust.3 Als Thomas Mann einmal gefragt wurde, was denn sein Lieblingsgedicht sei, da nannte er Eichendorffs „Es war, als hätt’ der Himmel die Erde still geküßt“ – es war für ihn „die Perle der Perlen“.4 Aber dieses Eichendorff-Bild ist, bei allem Respekt vor dem, der es ausgemalt hat, revisionsbedürftig, und das in mehrfachem Sinne. Zum einen: Eichendorff ist auch so etwas wie ein politischer Dichter gewesen. In seiner Gedichtsammlung findet sich eine Rubrik Zeitlieder, und deren Existenz allein schon widerlegt den Eindruck vom träumerischen Vor-sich-hin-Dichten des Romantikers. Zeitgedichte waren damals modern, sie waren auf breiter Front in den unruhigen Zeiten nach der Französischen Revolution aufgekommen, sie fanden sich vermehrt in den Jahren der Freiheitskriege, und Eichendorff war nur einer unter vielen – Max von Schenkendorff, Ernst Moritz Arndt, Uhland und andere Vaterlandssänger priesen das Deutsche, vor allem dort, wo es sich mittelalterlich gerierte, und auch bei Eichendorff ist von Feldwacht, von alten Waffen und gekreuzten Schwertern die Rede, und 3 4 Ebd., S. 376f. Ebd., Bd. X, S. 922. 256 Zu Eichendorffs Lyrik selbst wenn häufig nur getrommelt, gepfiffen und geblasen wird, die Hörner singen und die Trompeten werbend klingen, so wird doch immer wieder das blanke Schwert gezogen, und wenn es manchmal auch nur ein Degen ist, so ist das doch keine Galanteriesache, sondern meist „von den Vätern alt“ überliefert und so mit einem Gütesiegel ganz besonderer Art versehen. Manchmal fliegen sogar Pfeile durch das Dunkel; das mutet allerdings beinahe steinzeitlich an, während das Schwertergeklirr eher mittelalterliche Lautmalerei ist: Faustwaffen und Reitergewehre sind seit dem 15. und 16. Jahrhundert in Gebrauch, aber kein einziges Modell ist bei Eichendorff erwähnt. Wenn dennoch immer wieder nur Schwerter vorkommen, so ist das militärtechnisch gesehen also ein wilder Anachronismus, aber wir haben es ja nicht mit Produkten der Rüstungsindustrie zu tun, sondern mit symbolischen Gegenständen, die zumeist auch, ebenfalls symbolischerweise, in gefalteten Händen gehalten werden, aber das ist kein Militärimpressionismus, sondern hochpathetische Lyrik, patriotisch bis in die letzte Verszeile durchgefärbt, und zu allem Überfluß wird oft auch der Himmel beschworen, selbst bei Eichendorff: „Gott stand in der Noth uns bei“, heißt es einmal in dem Gedicht Der Friedensbote.5 Das ist die Gott-mituns-Lyrik des 19. Jahrhunderts, Eichendorff schwimmt mit im großen Strom der Vaterländerei, auch wenn seine eigenen Kriegserfahrungen mehr als bescheiden waren, da er meist zu spät kam: die Schlachten waren beendet, in Torgau hatte man gerade kapituliert, und sein Wunsch, doch noch zu einem Regiment zu stoßen. „das entweder bereits vor dem Feind stände, oder doch unverzüglich dahin abgehen sollte“,6 erfüllte sich nicht – zum Glück. Aber Eichendorff hat sich dann doch relativ schnell von dieser lyrischen Säbelrasselei befreit. Er wußte, daß auch der Heldentod ein blutiges Ereignis war, und er hat sich ironisch besonders von den Altdeutschen distanziert, von deren outfit mit schwarzem Rock und langen Haaren, dem offenen Kragen und den gewaltigen Stiefeln, und es ist der Sänger der Zeitlieder von 1810, der sich bekehrt hat und der schon 1815 den nationalpoetischen Budenzauber entlarvt: Eichendorff wird zum Dissidenten, und er weiß, daß die Satire die wichtigste Waffe ist gegen einen falschen Nationalismus, den außer ihm kaum jemand sonst angeprangert hat, Heine vielleicht ausgenommen. Auch um 1848 herum 5 6 HKA I/1, S. 167. HKA XII, S. 32. Zu Eichendorffs Lyrik 257 hat Eichendorff noch einmal politische Lyrik geschrieben, hat damit das Bild vom nur seinen romantischen Sehnsüchten hingegebenen Sänger erneut widerlegt. Aus dem martialischen Verfechter einer Deutschtümelei mit Mittelalter-Beigeschmack, der damals „Deutschen Landes Kronen“ verteidigen wollte, wurde fast so etwas wie ein Untergangsprophet, der Deutschland von „Ungewittern“ umdroht sah: „Die Blitze werden zielen nach den Kronen,/ Die Stürme rastlos fegen durch die Gauen,/ All’ Thürme brechend, wo die Stoltzen wohnen“ schrieb er,7 und: „Die Welt vergeht im schauernden Verwildern“.8 Hinter den letzten Trümmern einer tausendjährigen Kultur sah er die Anarchie lauern, „die Barbarei, und der Kommunismus; der Proletarier hat an der willkommenen Bresche, wie zur Probe, schon die Sturmleiter angelegt“.9 Er war nicht weltfremd; 1847 war in London der Bund der Kommunisten gegründet worden, im Februar 1848 veröffentlichten Marx und Engels in London das Kommunistische Manifest. Doch von der Wirklichkeit sind wir dennoch weit entfernt. Wenn Eichendorff in seinen Zeitgedichten an den alten Heerschild schlägt, der Degen gezogen wird, die von den Vätern überkommenen Waffen gepriesen werden, so wissen wir sofort: das ist symbolisch oder allegorisch zu verstehen. Die kriegerischen Instrumente haben lyrische Realität, keine wirkliche, bei aller Gegenständlichkeit ist es doch eine entgegenständlichte Poesie, und wenn wir uns auch nicht zwischen Allegorie und Symbol entscheiden können, so dürfen wir doch wohl sagen: es sind Zeichen. Und Zeichen ist mehr oder weniger auch alles andere, was gegenständlich zu sein scheint, und nichts wäre falscher, als wenn man auch die romantischen Berichte als solche über eine wirklich erlebte romantische Welt deuten würde. Anders gesagt: auch die schönsten romantischen Gedichte sind keine Erlebnisgedichte aus einer wirklich erfahrenen Welt; sie sind trennscharf von der Realität abgegrenzt. Eichendorff ist frei von jener Erlebnisdichtung, in der sich ein inniges Gefühl in einer Sprache Bahn brach, die die Einzigartigkeit des wirklich Empfundenen auf eine einzigartige Weise auszudrücken versuchte − jedenfalls weitgehend. Er hat vielmehr an einer Grundbewegung des 19. Jahrhunderts teil, die auch seine Lyrik, die romantischen Lieder wie HKA I/3, S. 8f. HKA I/3, S. 9. 9 Vgl. dazu Günther Schiwy: Eichendorff. Der Dichter in seiner Zeit. Eine Biographie, München 2000, S. 595. 7 8 258 Zu Eichendorffs Lyrik seine Zeitgedichte, prägt: es ist der Weg vom Erlebnis weg und zum Zeichen hin. Im Grunde gilt schon für seine Lyrik, was Stefan George einmal in eine einzige Zeile eines Gedichtes brachte: „Kein ding sei wo das wort gebricht“.10 Das will sagen: nur im Wort existiert die Sache, es gibt keine Dingwelt hinter der Sprache, und wenn es auch manchmal so aussieht, als beziehe sich Eichendorff auf etwas wirklich Erlebtes, dann ist dieses Täuschung. Oder anders gesagt: die im Gedicht dargestellte Welt hat nichts zu tun mit der, die sie, so scheint es jedenfalls auf den ersten Blick, so deutlich abbildet. Viele Gedichte Eichendorffs beschreiben, paradox gesagt, etwas, das es so, also in Wirklichkeit, gar nicht gibt und nie gegeben hat. Und so ist denn auch nichts im landläufigen Sinne erlebt und danach in gefühlvolle Verse gefaßt. Das kann man an einem Gedicht demonstrieren, das zu den bekanntesten und vielleicht auch zu den schönsten Gedichten Eichendorffs gehört: Der alte Garten. Es ist eingepaßt in die Erzählung Die Entführung – nichts Ungewöhnliches, Eichendorff hat bekanntlich viele Gedichte in seine Erzählwerke integriert. Kaiserkron’ und Päonien roth, Die müssen verzaubert sein, Denn Vater und Mutter sind lange todt, Was blühn sie hier so allein? Der Springbrunn plaudert noch immerfort Von der alten schönen Zeit, Eine Frau sitzt eingeschlafen dort, Ihre Locken bedecken ihr Kleid. Sie hat eine Laute in der Hand, Als ob sie im Schlafe spricht, Mir ist, als hätt’ ich sie sonst gekannt – Still, geh vorbei und weck’ sie nicht! Und wenn es dunkelt das Thal entlang, Streift sie die Saiten sacht, Da giebt’s einen wunderbaren Klang Durch den Garten die ganze Nacht.11 10 In: Stefan George: Gesamt-Ausgabe der Werke. Endgültige Fassung, Bd. IX, hg. von Georg Bondi, Berlin 1928, S. 134. 11 HKA I/1, S. 368. Zu Eichendorffs Lyrik 259 Ein monologisches Gedicht, auch wenn Diana in der Erzählung, nachdem sie ihr Lied geendigt hat, sagt: „Ich weckte sie doch […], wenn ich sie so im Garten fände, und spräch’ mit ihr“.12 Aber das Gedicht ist in seiner raffinierten Einfachheit hintergründiger, als es zuerst erscheinen mag. Denn auch aus dem Monolog der Sängerin wird unversehens ein Dialog, wenn sie, Diana, singt: „Still, geh vorbei und weck’ sie nicht!“ Das Ich spricht mit sich selbst, redet sich selbst als Du an, und damit ist es nicht um die Deutlichkeit, wohl aber um die Eindeutigkeit geschehen. Aber auch sonst lösen sich die Konturen der Realität auf. Das einst Gewesene wuchert geradezu in die Gegenwart hinein, denn die enthält, versteinert, die hier wiederauferstehende Vergangenheit. Doch die Realität wird auch noch auf andere Weise diaphan: der Garten steht lange schon verwildert, aber der Springbrunnen rauscht noch immerfort; eine Frau sitzt dort eingeschlafen, aber sie scheint im Schlaf zu sprechen; sie, die nicht aufgeweckt sein soll, streift dennoch nachts über die Saiten ihrer Laute, und der Klang verhallt nicht etwa, sondern tönt die ganze Nacht hindurch, und so sind denn das Frühere und das Gegenwärtige, das Traumhafte und das Wirkliche, das Momentane und das immerfort Dauernde, das Fremde und das Bekannte in diesem einen Gedicht höchst kunstvoll miteinander versammelt: es ist in vielfacher Hinsicht mehrdimensional, lebt vom Ineinanderspiel der Zeiten, bewegt sich in einer doppelten Gegenwart, bringt die Koordinaten des Raumes in ein Durcheinander, kennt Stimme und Gegenstimme. Nimmt man noch den erzählerischen Rahmen hinzu, vervielfachen sich die Brechungen und verschwimmen die Ebenen noch stärker ineinander als im Gedicht ohnehin. Wenn zur Moderne das Desintegrierende gehört, wie man gelegentlich mit Recht gesagt hat, dann ist dieses romantische Gedicht unerhört modern: die Zeiten sind geradezu ineinander verwirbelt, das Wirkliche und das Mögliche sind nicht mehr klar voneinander zu trennen, die Realien, die hier genannt sind, bekommen ihren mehrfachen Sinn, und bedenkt man, daß der alte Garten für Eichendorff wie für den Leser auch als Hinweis auf den Garten Eden gelesen werden kann, dann wird das Gedicht noch hintergründiger. Das Imaginierte und das Wirkliche vermischen sich dabei in einem einfachen Formelwort, im „als ob“. Die Frau, von der wir nicht wissen, ob es eine Steinfigur ist oder eine wirklich dort Eingeschlafene – es ist dem Betrachter, „als ob sie im Schlafe spricht“, und dieses „als ob“, dieser 12 HKA V/1, S. 354. 260 Zu Eichendorffs Lyrik kleine sprachliche Gestus reicht schon aus, um der Wirklichkeit einen doppelten Boden zu geben. Robert Musil wird später vom Wirklichkeitssinn und vom Möglichkeitssinn sprechen. Aber wir kennen ein solches „als ob“ auch von Kleist, dem vielleicht modernsten Dichter des 19. Jahrhunderts. Der Begriff der Moderne ist nicht zeitlich fixierbar, aber das Moderne begreift sich in jedem Fall aus dem Gegensatz zum Überkommenen, indem es dieses erweitert, negiert, auflöst, transparent macht. Am sichersten zeigt sich das in dem Gegeneinander und Durcheinander von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Das mag in gewissem Sinne traditionell sein – wenn Schiller in seiner Elegie seinen poetischen Spaziergang macht, dann ist es auch nicht nur ein solcher durch die schwäbische Landschaft, sondern zugleich einer durch die Zeiten bis tief in die Antike hinein. Aber Schiller kennt in seinem Gedicht keine Zeitdistanzen – die Antike wohnt sozusagen gleich nebenan. Die Verwandtschaft Eichendorffs mit Autoren des 20. Jahrhunderts ist ungleich enger. „Time present and time past/ Are both perhaps present in time future,/ And time future contained in time past,“ heißt es bei T. S. Eliot einmal in seinen Four Quartets.13 Fest fixierte Zeitgrenzen gibt es dort nicht mehr, aber auch schon nicht mehr bei Eichendorff. Darin mag Eichendorffs Modernität vielleicht besonders deutlich werden. Aber zugleich, bei allem Ernst, auch etwas vom Spielcharakter dieses Gedichtes und der Eichendorffschen Lyrik schlechthin. Wer nur dieses Gedicht kennt, kann nicht wissen, daß etwas anderes auffällig ist, was Eichendorffs Lyrik ebenso stark bestimmt wie die so charakteristische Verwirbelung der Zeitebenen und der Wirklichkeitsdimensionen. Die alte schöne Zeit begegnet vielfach in Eichendorffs Lyrik, auch das „als ob“, vor allem aber der Garten, doch nicht weniger das dunkle Tal und die klingende Nacht. Es sind, um es grob zu sagen, Versatzstücke – Werner Kohlschmidt, der große Schweizer Germanist, hat schon vor Jahrzehnten höflicher von der symbolischen Formelhaftigkeit bei Eichendorff gesprochen und damit auf etwas aufmerksam gemacht, was für seine Lyrik so außerordentlich charakteristisch ist, aber auch in seinen Romanen und Erzählungen immer wieder begegnet.14 Was als Gegenständliches erscheint, ist zumeist Formel. Zur Four Quartets, by T. S. Eliot, London 91952, S. 7. Werner Kohlschmidt: Die symbolische Formelhaftigkeit von Eichendorffs Prosastil. Zum Problem der Formel in der Romantik, in: W. K.: Form und Innerlichkeit. Beiträge zur Geschichte 13 14 Zu Eichendorffs Lyrik 261 Formel aber gehört die Wiederkehr, oder umgekehrt: ständig wiederkehrende Bilder machen diese schließlich zur Formel. Und selbst wer auch nur ein wenig mit Eichendorffs Lyrik vertraut ist, kennt dergleichen „Formeln“: der Springbrunnen, die Laute. Sie begegnen uns in dem Gedicht vom alten Garten, aber eben dutzendfach auch noch anderswo. Da ist das am Abgrund grasende Reh, das aus der Tiefe kommende Rauschen des Waldes, das Schloß und der stille Garten und immer wieder die „alte schöne Zeit“, da sind die Flügel der Sehnsucht, die Lerchen und das Morgenrot, der blitzende Strom und die Abendglocken – das alles kehrt in einem endlosen Zug immer wieder. Aber der Hauch von Unwirklichkeit, der sich damit verbindet, verstärkt sich, wenn der Leser merkt, daß die Landschaften einander zum Verwechseln ähneln, weil es nicht individuell gesehene Landschaften sind. Eichendorff montiert die Elemente seiner poetischen Welt zu immer neuen Gebilden zusammen, die also gleichsam synthetisch entstehen, nicht organisch aus einem Eindruck oder einer Beobachtung entwickelt wurden. Montage ist ein Kunstprinzip der Moderne, ohne jede Frage: wir kennen die Bildmontagen des jungen Picasso, aber Montage ist auch ein Erzählmodus etwa Thomas Manns, den er jahrzehntelang in einer ausgefeilten Technik praktiziert hat. Montage auch hier. Sie nimmt vielen Gedichten Eichendorffs zweifellos ihre Individualität, bereichert sie aber um etwas spezifisch Artistisches, Konstruktivistisches, und manchmal sieht es so aus, als experimentiere Eichendorff jahre- und jahrzehntelang mit seinen Elementen herum. Was auf den ersten Blick so tief empfunden scheint, ist also in Wahrheit wohlorganisiert, und wie sehr Eichendorff sich um eine solche Organisierung bemüht hat und nicht etwa aus dem Stegreif heraus einer Intuition folgend schreibt, das zeigt sein wenig bekannter und noch weniger ausgeschöpfter lyrischer Nachlaß: dort kann man studieren, wie er mit ersten Entwürfen umgeht, sie umschreibt, sie mit Formeln und lyrischen Floskeln ausstattet, um sie zu einem Gedicht zu machen. Eine gewisse Beliebigkeit ist im Konstrukteursbüro dabei durchaus anzutreffen. Ein Beispiel: die erste Zeile eines Gedichtes, „Ueber dem Wald hinter den Blitzen roth“15 könnte alles Mögliche einleiten: eine Revolutionserzählung, einen Bericht über eine verworrene Nacht, eine Unglücksgeund Wirkung der deutschen Klassik und Romantik, Bern 1955, S. 177-209 [zuerst in: Orbis Litterarum, Kopenhagen 1950]. 15 HKA I/3, S. 206. 262 Zu Eichendorffs Lyrik schichte. Aber in diesem Liedchen, wie es sich im Nachlaß Eichendorffs fand, ist die erste Zeile nur die in einem Gedicht, das von seinem Verlust der Poesie spricht; die sei, so das Gedicht, auf dem Steg verloren, deren Stimme komme nur noch manchmal durchs Waldrauschen her – und dann die Reflexion: „aber mag ich dich immerhin verlieren, der Morgen steigt ringsumher, ich brauch’ dich nicht mehr“. Daß er die Stimme der Poesie verloren hat, aber darüber nicht verzweifelt ist, mag so etwas wie ein sehr persönliches Bekenntnis sein, aber die Zwischenzeile „der Morgen steigt ringsumher“ hat damit nichts zu tun – genau so wenig wie das rote Blitzen über dem Wald. Versatzstücke, Naturelemente, eingesprengt in ein autopoetisches Gedicht. Es gibt Dutzende anderer Beispiele einer gelungenen oder manchmal auch einer mißlungenen, also unglaubwürdigen, nicht recht überzeugenden oder in sich nicht kohärenten Konstruktion. Aber wie dem auch sei: die Bilder, die Klänge vermitteln keine Erfahrung mehr, sie sind das Bau- und Spielmaterial des Dichters. Dadurch, daß sie immer wieder auftauchen, kommt sogar etwas Serielles in die Lyrik hinein: die gleichen Situationen oder Vorgänge werden dutzendfach und mehr beschrieben. So etwa auch in dem Gedicht Frühling: Was weckst du, Frühling, mich von neuem wieder? Wenn vom Gebirg der Quell kommt hell geschossen, Die schöne Mutter grüßen tausend Lieder. So schauend auch in deiner Brust das Sprossen, Und tiefe Sehnsucht will die Seele schwellen, Blick auf! Schon schweifen Paradiesesvögel. Auch ich seitdem wuchs stille fort, wie du Noch einmal grüß ich aus der Ferne wieder. Wie in der Heimat klingen diese Glocken, Der Fluß glitt einsam hin und rauschte, Vergangen ist der lichte Tag. O stille Schauer, wunderbares Schweigen. Dieses Gedicht stammt von Eichendorff – und ist doch gänzlich falsch, weil es nirgendwo so in einer seiner Gedichtsammlungen zu finden ist. Authentisch aber ist es dennoch, denn authentisch sind die einzelnen Zeilen – aber sie sind hier aus einem halben Dutzend verschiedener Gedichte neu zusammengesetzt. Originär ist also alles – oder, genau besehen, nichts. Eine Fälschung aus Echtem. Eine konstruierte Wirklichkeit. Aber von dieser Qualität sind auch die „echten“ Gedichte. Zu Eichendorffs Lyrik 263 Originalität zählt nicht bei Eichendorff, und das um so weniger, als manche Formeln ja eine lange Vorgeschichte haben, der Garten an das Rokoko verweist und der Wanderer als homo viator bis in die barocke Bildsprache zurückreicht. Damit wird noch deutlicher, daß Eichendorff nichts individuell gesehen haben möchte. Wer Eichendorffs Gedichte als ganze liest, der sieht, wie leicht einzelne Elemente ausgewechselt werden können, und sie können es, weil sie einander bis zur Ununterscheidbarkeit gleichen. Keine Landschaft ist unbestimmter als die Eichendorffs, weil sie nicht zu konkretisieren ist, aber zugleich ist keine Landschaft bestimmter, da sie aus einem Arsenal genau bekannter Details aufgebaut ist.16 Kompositionsfolge und Zuordnung mögen wechseln – der Gesamteindruck bleibt. Eine montierte Kunstwelt, mit viel Experiment beladen, Serielles, wie wir das aus der Zeit des Impressionismus kennen, aus den Serienbildern eines Monet etwa, etwas eigentümlich Abstraktes bei aller Bildhaftigkeit und Plastizität der Landschaftsschilderungen, und wenn wir auch wissen, daß der alte Garten, biographisch gesehen, der von Schloß Lubowitz war – im Gedicht ist dieser alte Garten nicht mehr lokalisiert, oder vielmehr: überall zu denken. Eine zeichenhafte Welt. Im Grunde sind seine scheinbar so direkt erfahrenen Landschaften Weltkonstruktionen, die jedes Eigenlebens verlustig gegangen sind, weil sie nur durch das Wort und im Wort existieren. Nehmen wir alles zusammen, so haben wir in diesem dichten Netz von Beziehungen und Bedeutungen, von immer neu zusammengesehenen, zusammengesetzten Landschaften und Vorgängen, vor allem aber in der Bildhaftigkeit der lyrischen Welt frühes Anschauungsmaterial für etwas, was sich wenige Jahre später in Europa etablieren sollte: es ist der Symbolismus, eine der letzten großen gesamteuropäischen Erscheinungen in der Literatur. In Eichendorffs Todesjahr erschienen in Paris Baudelaires Les Fleurs du Mal. Das wurde die Bibel des Symbolismus, das Gedicht Correspondances enthielt dessen Programm, und es gibt für Eichendorffs Symbolismus keine bessere Beschreibung als jene erste Strophe der berühmten Correspondances von Baudelaire: 16 Vgl. dazu den noch immer gültigen Aufsatz von Richard Alewyn: Eine Landschaft Eichendorffs, in: Euphorion 51, 1957, S. 42-60 [auch in: Eichendorff heute. Stimmen der Forschung mit einer Bibliographie, hg. von Paul Stöcklein, München 1960, S. 19-43]. 264 Zu Eichendorffs Lyrik La Nature est un temple où de vivants piliers Laissent parfois sortir de confuses paroles; L’homme y passe à travers des forêts de symboles Qui l’observent avec des regards familiers. Die Natur ist ein Tempel, wo aus lebendigen Pfeilern zuweilen wirre Worte dringen; der Mensch geht dort durch Wälder von Symbolen, die mit vertrauten Blicken ihn beobachten.17 Wenn hier von Wäldern von Symbolen (forêts de symboles) die Rede ist, dann kann man sich nicht des Eindrucks erwehren, als habe Eichendorff schon der symbolistischen Dichtung vorgearbeitet. Das zeigt sich auch, wenn man das berühmte Manifest des Symbolismus dagegen hält, das von Moréas in Le Figaro am 18. September 1886 veröffentlicht wurde: La poésie symboliste cherche à vêtir l’Idée d’une forme sensible qui, néanmoins, ne serait pas son but à elle-même, mais qui, tout en servant à exprimer l’Idée, demeurerait sujette. L’Idée, à son tour, ne doit point se laisser voir privée des somptueuses simarres des analogies extérieures, car le caractère essentiel de l’art symbolique consiste à ne jamais aller jusqu’à la conception de l’Idée en soi. Die symbolistische Dichtung sucht die Idee mit einer sinnlich wahrnehmbaren Form zu bekleiden, die gleichwohl nicht ihr Ziel in sich selbst, sondern eine untergeordnete Bedeutung hat, indem sie ausschließlich dazu dient, die Idee auszudrücken. Die Idee ihrerseits darf nicht ohne den prachtvollen Schmuck äußerer Entsprechungen erscheinen, denn das wesentliche Merkmal der symbolistischen Kunst besteht darin, niemals bis zum Erfassen der Idee an sich vorzudringen!18 Es gibt eben Verwandtschaften, die manchmal erst im Nachhinein deutlich werden und von denen diejenigen, die so verbunden sind, zu Lebzeiten nicht einmal etwas ahnten. Eichendorff wußte natürlich noch nichts von seinem Symbolismus, der 1857 nur vorläufiges Programm war; erst dreißig Jahre später wurde er poetische Wirklichkeit. Im deutschsprachigen Raum ist Conrad Ferdinand Meyer eigentlich der erste bewußt schreibende Symbolist, der wie Eichendorff mit Zeichen arbeitet. Aber auch Eichendorff hat schon Jahrzehnte vor der JahrhunCharles Baudelaire: Die Blumen des Bösen. Les Fleurs du Mal. Vollständige zweisprachige Ausgabe. Deutsch von Friedhelm Kemp, München 1986 [zuerst 1975], S. 22f. 18 Nach Paul Gerhard Klussmann: Stefan George. Zum Selbstverständnis der Kunst und des Dichters in der Moderne, Bonn 1961, S. 5, S. 134. 17 Zu Eichendorffs Lyrik 265 dertwende und deren Symbolismus-Vertretern so geschrieben, wie jene es im Gefolge Baudelaires versuchten. Bei beiden ist die Realität nicht um ihrer selbst willen interessant, sondern nur als Zeichensprache für Unsichtbares, für Ideen, die hinter der Welt der Erscheinungen existieren und – das trifft für Eichendorff ebenso zu wie für Meyer – gleichsam einen Zusammenhang des Seins herstellen. Gängige Bilder, oft in der Tradition verwurzelte Zeichen, ein mehr oder weniger künstliches Spiel mit dem Material der kulturellen Überlieferung: das hat Eichendorff mit Meyer und den folgenden Symbolisten gemeinsam. Sie waren zum Teil auch Romantiker, aber umgekehrt war Eichendorff als Romantiker auch einer der ersten Symbolisten. Eine innere Verwandtschaft mit symbolistischen Kunstarbeiten, das Spiel mit der Sprache, die artistischen Zeichensysteme hinter scheinbar erlebten Schilderungen und Erfahrungen: Eichendorff hat das mit den Symbolisten in auffälliger Weise gemeinsam. Es genügen Baudelaire immer nur einzelne Formelworte, um das zu evozieren, was das Gedicht benennen will. Niemand wird bezweifeln, daß es bei Eichendorff (und Meyer) ähnlich ist. Die genannten Dinge stehen für etwas, sind Teile einer Zeichensprache für Unsichtbares, und es ist der Blick für die Hintergründigkeit des Sichtbaren, der sich in Eichendorffs Gedichten überall Bahn bricht. Und für Eichendorff gilt, was auch für die Symbolisten später gelten wird: seine poetische Welt ist zwar eine Welt aus Zeichen, aber viele seiner Symbole sind „Dingsymbole“, also Gegenstände, die im Zusammenhang eines Gedichtes ihren Doppel- und Hintersinn bekommen. Symbolisten sind immer auch ein wenig Realisten – und sie sind zugleich mehr, weil sie zu erkennen geben, daß ihre poetische Welt eben aus Chiffren besteht, die über sich hinausweisen. Im übrigen gibt es noch eine Gemeinsamkeit, die die Nähe von Eichendorffs Lyrik zu der der späteren Symbolisten sogar noch auffälliger macht als anderes: es ist die Vorliebe für bewegte Bilder. Symbolistische Bilder sind nicht mehr repräsentativ, sondern wollen nur andeuten, und das gelingt am besten, wenn Bilder bewegt sind, da sie gleichsam nur punktuell etwas zu erfassen erlauben, denn der Blick auf bewegte Bilder läßt sich nicht fixieren: das nächste wartet schon darauf, erfaßt zu werden. Das gilt für Mallarmé wie für Baudelaire, nicht weniger aber auch für Stefan George, dem wohl bedeutendsten deutschen Symbolisten. Vor den Symbolisten aber hat niemand anders als Eichendorff sich der Technik der bewegten Bilder aufs Gründlichste bedient: alles ist in ständiger Bewe- 266 Zu Eichendorffs Lyrik gung, die Wolken ziehen, der Strom blitzt herüber, in der Ferne kommt ein Wetterleuchten auf, Licht funkelt vorüber, der Morgen leuchtet herrlich über die ganze Gegend hin, eine wunderbare Nacht steigt sachte von den Bergen hernieder, die Strahlen der Morgensonne schießen über die Fläche. Auch die Landschaften sind in unendlicher Bewegung, und so gibt es denn keinen festen Punkt, von dem man aus alles in Ruhe betrachten könnte. Das muß an sich noch nicht modern sein, aber es wird modern, wenn man etwa eine Landschaftsschilderung Stifters dagegen hält. Mit den akustischen Sinneseindrücken verhält es sich ähnlich: auch da unendliche Bewegung. Der Spielmann singt den Lenz aus, die Morgenglocken klingen nicht etwa nur, sondern sie klingen herauf, und wir hören auch, woher sie kommen: von fern aus den Tälern über den Garten hin. Die Nachtigallen schlagen und die Wälder rauschen durch die Nacht, das Waldhorn tönt, die Wandergäste jubeln im Baum, die alten Lieder schallen herüber, und wenn die Vögel über die Wälder hinziehen, so klingt es wie in Frühlingstagen.19 Wenn das Geschaute klingt, wenn die Klänge zu betrachten sind, so sind das synästhetische Erfahrungen, wie die Romantik sie kannte und liebte. Aber sie kennzeichnen auch die symbolistische Dichtung. * Wie kommt Eichendorff in die Nähe der Symbolisten und zum Rang einer Vorläuferschaft? Die (mögliche) Antwort führt zurück in die literarische Vergangenheit und zur Neubewertung der literarischen Umgebung Eichendorffs. Man hat das 19. Jahrhundert das große Jahrhundert der Realisten genannt. Aber Eichendorff gehört zu den Anti-Realisten, ist ein Nachbar Heinrich Heines. Man hat, was diesen angeht, lange angenommen, daß im Hintergrund seines Buchs der Lieder eine wirkliche Geliebte gestanden habe, oder vielleicht sogar deren zwei. Aber so etwas kann nur fanatisch nach biographischem Material suchenden Germanisten einfallen. Wir wollen es nicht besser wissen, aber wir wissen, daß Heine anakreontische Bilder ebenso genutzt hat wie Formeln des Petrarkismus, jener lyrischen Tradition, die in Europa jahrhundertelang die Lyrik bestimmt hat.20 Bei Eichendorff ähnliches: anakreontische Traditionen finden sich bei ihm genauso wie eine bis ins Barock Vgl. etwa das Gedicht Trennung, in: HKA I/1, S. 245. Dazu grundlegend Manfred Windfuhr: Die barocke Bildlichkeit und ihre Kritiker. Stilhaltungen in der deutschen Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts, Stuttgart 1966. 19 20 Zu Eichendorffs Lyrik 267 zurückreichende Bildlichkeit, wenn vom Hirsch an der Quelle oder vom Reh am Abgrund die Rede ist. Für Heine und Eichendorff zählt das eigene Erlebnis überhaupt nicht, in der Lyrik selbst konstituiert sich erst jene Wirklichkeit, die dann als die eigentliche Realität des Lyrikers gilt. Das ist ein außerordentlich modernes Verfahren, dieses Spielen mit alten Bauelementen, die den Stempel des Realismus, den man so oft dieser Literatur des 19. Jahrhunderts aufgedrückt hat, als Fälschung erweisen. Bei Eichendorff kommt noch etwas anderes hinzu: die Tradition des Kirchenliedes und deren Nutzung. Vor allem in seiner Jugendlyrik finden sich Marienlieder, formelhafte Wendungen aus dem Kirchenlied, und es ist kein Zufall, daß Eichendorff selbst ein solches Kirchenlied gedichtet hat.21 Eine Zeile wie „Es ging Maria in den Morgen hinein“22 hat Kirchenliedcharakter; zumindest wird ein solches hier kunstvoll und gleichzeitig doch scheinbar naiv imitiert. Kirche und Blume, die Jungfrau als Jungfrau Maria, die Engel und feste Formeln wie „So walte Gott!“, Verse, wie sie in jedem Gesangbuch beiderlei Konfessionen stehen könnten wie „O laß die Sehnsucht ganz dein Herz durchdringen!“23 – das alles weist auf die unmittelbare Präsenz religiöser Lyrik beziehungsweise des Kirchenliedes in Eichendorffs Gedichten, auch in den weltlichen, hin. Gedichtüberschriften wie Morgengebet, Morgenlied, Gottes Segen, Nachtgebet, Marienlied und das kapriziöse Memento mori („Schnapp’ Austern, Ducaten,/ Mußt dennoch sterben!/ Dann tafeln die Maden/ Und lachen die Erben.“)24: es wimmelt auch sonst von überkommenen Devotionalformeln und traditionellen Gebetsvorstellungen. Dann noch der Herr als Hirte, die Abendkühle als der herankommende Tod – das Feld religiöser Begriffe und Bilder ist außerordentlich groß, bis hin zum Kindlichen, ja zum Kitschigen. „Droben wird der Herr nun bald/ An die Sterne zünden“, heißt es in Abschied 25 – ein gewollter Primitivismus, wie er sich in der religiösen Lyrik nicht nur dieser Zeit findet: Eichendorff gleicht sich ihr an. So gelingt es ihm, den Eindruck des Volkstümlichen zu wahren. Der Wächter schließlich als geistlicher Wächter, sein Ruf „Wacht auf, wacht auf“, das jedermann an „Wachet auf, ruft uns die Stimme“ erinnert, das 21 22 23 24 25 HKA I/1, S. 301f. HKA I/1, S. 290. HKA I/1, S. 298. HKA I/1, S. 338. HKA I/1, S. 327. 268 Zu Eichendorffs Lyrik alles ist ebenfalls ein Fundus an Bildern und Formeln, der noch größer ist als der der Natur. Beide Bereiche können sich im übrigen überlagern. Wenn von der Nachtigall die Rede ist, dann ist es nicht nur der Liebesvogel, sondern auch ein religiöses Symbol: Friedrich von Spee lehrt das zur Genüge. Das Schiff, das in katholischen Kirchenliedern als Sinnbild des menschlichen Lebens begegnet, ist bei Eichendorff in seinem ersten Roman zwar zunächst einmal ein Fortbewegungsmittel der studentischen Argonauten, und zugleich ist es mehr. Ähnlich verhält es sich mit Rosen und Lilien, dem Himmel mit seinen Strahlen und dem nächtlichen Sternentanz: in Friedrich von Spees Trutznachtigall ist ähnliches zu finden. Jedenfalls ist die katholische Gesangbuchlyrik in ihrem Einfluß auf Eichendorffs Lyrik nicht zu unterschätzen, und auch da ist es wieder das Formelwesen, die Fähigkeit, die irdische Welt als Gleichnis zu sehen, ist es die Konzentration auf einige Zentralsymbole wie Sonne, Rosen, Nacht, die die Verwandtschaften herstellt. Schwer denkbar, daß Eichendorff nicht Jacob Böhmes Aurora oder Morgenröte im Aufgang gekannt haben sollte; das Buch hat ja auch Baader, Schelling, Novalis, Tieck, Görres beeinflußt. Über das Kirchenlied hat Eichendorff aus profundem Wissen heraus einen längeren Abschnitt in seiner Geschichte der poetischen Literatur Deutschlands geschrieben; Hinweise auf das protestantische Kirchenlied lassen vermuten, daß er auch damit relativ gut vertraut war. Schließlich wußte er um die Nähe des Kirchenliedes zum Volkslied, wußte, daß das Kirchenlied oft Melodien und Liedanfänge aus dem Volkslied entlehnt hat, und umgekehrt. Über Friedrich von Spee schrieb er: Kein Dichter hat wohl so innig, wie Spee im ‚güldenen Tugendbuch‘ und in seiner ‚Trutz-Nachtigall‘, die verborgenen Stimmen der Natur belauscht und verstanden: wie die Ströme und Wälder und Bächlein emsig zu Gottes Lobe rauschen, und die Vögel von Ihm singen, und die geheimnißvolle Sommernacht von Ihm träumt; als ob der Finger Gottes leise über die unsichtbaren Saiten der Schöpfung glitte.26 Kurzum: Eichendorffs Dichtung steht dem Kirchenlied, der überlieferten religiösen Poesie, den Kuhlmanschen Psalmen nahe, Abraham a Santa Clara ist bereits in Eichendorffs Tagebüchern erwähnt, und es dürfte wohl nicht zuletzt das eigentümlich Serielle in der Kirchenlieddichtung sein, das ihn bewogen haben könnte, ähnlich zu dichten: in 26 HKA IX/3, S. 180f. Zu Eichendorffs Lyrik 269 Reihen geradezu, in denen die Partikel der religiösen Lyrik, wie sie in der Tradition überliefert worden sind, immer wieder neu zusammengesetzt werden. Auch das bedeutet eine Entrealisierung der Wirklichkeit, verstärkt die Vermutung, daß Eichendorff an ihr gar nichts gelegen war, wenig auch an der wirklichen Natur. Alles das aber lief letztlich auf den Symbolismus hinaus, nimmt ihn vorweg. Man mag das Alexandrinismus nennen. Aber auch das ist ja, wie wir wissen, ein Kennzeichen der Moderne: also die Nutzung der literarischen Überlieferung und ihrer Kombinationsmöglichkeiten. * Eichendorff hat aber noch eine andere Erfahrung gemacht, die ihn ganz unabhängig vom Konstruktivismus seiner Lyrik der Moderne zuschlägt. Es ist die Erfahrung der Fremde, oder, wie man existentialistisch zu sagen pflegte, die Erfahrung der Unbehaustheit. Sie hängt zusammen mit der Erfahrung der abbrechenden Zeit, dem Kontinuitätsbruch um 1800, den er radikaler als die übrigen Romantiker erfahren hat. Viele seiner Gedichte handeln vom Zwielicht, von der Dämmerung, aber es geht in solchen Gedichten nicht um den Wechsel vom Tag zur Nacht, sondern hintergründig auch um das Zwielichtige der Zeit, um das Zwielichtige der Gegenwart. Sie ist, so Eichendorff, wenig haltbar und verläßlich. Die gute alte Zeit ist vergangen, sie ist gleichsam statisch geworden – die Gegenwart aber erlebt sich als in unendlich rascher Bewegung befindlich. „Die Zeit fliegt heut entsetzlich“, ruft der Graf Hippolyt in seiner Erzählung vom Schloß Dürande. Sie verunsichert den Menschen wie nichts anderes. Zu der Erfahrung der rasenden Zeit gibt es eine korrelierende andere: daß auch die Räume fremd geworden sind. Zwielicht ist nicht nur eine Zeiterfahrung, sondern auch eine solche des Raumes, oder anders gesagt: Eichendorff weiß, daß er in der Fremde ist. Es ist eine Elementarerfahrung Eichendorffs, und er hat sie in seiner Lyrik immer wieder zur Sprache gebracht. „Mir graut im fremden Land“, heißt eine Zeile im Gedicht Heimweh. An meinen Bruder.27 In der Fremde ist ein anderes überschrieben mit der bewegenden Zeile: „Ich weiß nicht, wo ich bin“.28 Die Fremde spielt selbst in ein Gedicht wie Liebe in der Fremde hinein.29 Zur Erfahrung der Fremde 27 28 29 HKA I/1, S. 103. HKA I/1, S. 33. HKA I/1, S. 40. 270 Zu Eichendorffs Lyrik gehört komplementär das Heimweh, auch wiederholt bei Eichendorff beschrieben. Aber die Erfahrung der Fremde ist dominanter. Der irre Spielmann – so die Überschrift eines Gedichtes – singt: Aus stiller Kindheit unschuldiger Hut Trieb mich der tolle, frevelnde Muth. Seit ich da draußen so frei nun bin, Find’ ich nicht wieder nach Hause mich hin. 30 Es ist nicht nur das verlorene Paradies, es ist die Erfahrung der Fremde als immerwährende existentielle Bedrohung. Die Koordinaten seines Lebens verwirren sich für ihn. Die zweite Strophe des Gedichtes vom irren Spielmann beginnt mit den Zeilen Durch’s Leben jag’ ich manch trüg’risch Bild, Wer ist der Jäger da? wer ist das Wild? Hugo von Hofmannsthal wird fünfzig Jahre später tief verunsichert die gleiche Frage stellen. Wer seine Heimat verlassen hat, unwiederbringlich, wird zum homo viator im eigentlichen Sinne, zum Wanderer, und Eichendorffs Wanderlieder sind alles andere als Wirtshausgesänge, sie künden vom Dasein in der Fremde. Die Erfahrung der Fremde ist ein Gegenerlebnis zu den Aufbrüchen der Romantiker, wie sie von Eichendorff auch beschrieben worden sind. „Thun All’ so fremde schauen“, heißt es in dem Gedicht Klage.31 Glückliche Fahrt, gewiß,32 und: „Hoch Aurora flammend weht“,33 Frühlingslieder und Zauberei der Nacht 34 – aber die Erfahrung der Fremde ist die tiefere. Im Garten vor dem Schloß gehen jetzt „fremde Leute“,35 und was bleibt, ist Einsamkeit. In der Fremde ist ein Gedicht aus dem Zyklus Todtenopfer überschrieben: „Aber Vater und Mutter sind lange todt,/ Es kennt mich dort Keiner mehr.“36 Welch ein Wandel im Selbstverständnis der Dichter! Als Eichendorff geboren wurde, war Schiller gerade in Weimar angekommen, und ein Zweifel an der fast göttergleichen Stellung des Dichters wäre ihm nie 30 31 32 33 34 35 36 HKA I/1, S. 52. HKA I/1, S. 226. HKA I/1, S. 106f. HKA I/1, S. 9. HKA I/3, S. 17. HKA I/3, S. 262. HKA I/3, S. 280. Zu Eichendorffs Lyrik 271 gekommen. Im Oktober 1788 entstand Schillers Gedicht Die Künstler; von Fremde ist mit keinem Wort die Rede, wohl aber wird variationsreich die Existenzberechtigung für Dichter genannt: „Der Menschheit Würde ist in eure Hand gegeben,/ bewahret sie!“37 Es blieb nicht so, wie wir nur zu gut wissen; genau fünfzig Jahre nach Eichendorffs Tod, 1907, veröffentlichte Hugo von Hofmannsthal seinen Essay Der Dichter und diese Zeit. Da war der Dichter längst in die Fremde geraten, ja in eine noch tiefere Fremde, als Eichendorff sie ihm zugeschrieben hatte. „Seltsam wohnt er im Haus der Zeit, unter der Stiege, wo alle an ihm vorüber müssen und keiner ihn achtet“, heißt es bei Hofmannsthal. Er gleiche, so Hofmannsthal, dem fürstlichen Pilger aus der alten Legende, dem auferlegt war, „sein fürstliches Haus und Frau und Kinder zu lassen und nach dem Heiligen Lande zu ziehen; und er kehrte wieder, aber ehe er die Schwelle betrat, wurde ihm auferlegt, nun als ein unerkannter Bettler sein eigenes Haus zu betreten und zu wohnen, wo das Gesinde ihn wiese. Das Gesinde wies ihn unter die Treppe, wo nachts der Platz der Hunde ist“.38 So wohnt er denn als Fremder im eigenen Haus, „unter der Stiege“, „fremd und doch daheim“. Und: „Er ist da, und es ist niemandes Sache, sich um seine Anwesenheit zu bekümmern“.39 Das ist gleichsam ein Göttersturz – Eichendorff steht ungefähr in der Mitte dieser gewaltigen Bewegung hinab, von den Zeiten Schillers bis ins frühe 20. Jahrhundert. Der Dichter als Fremder im eigenen Land. Auch das ist wohl eine Erfahrung der Moderne, und andere seiner Zeit haben sie mit Eichendorff geteilt. Etwas vor ihm fragt Kleist in der Hermannschlacht: „Wo komm ich her? Wo bin ich? Wohin wandr’ ich?“40 Auch bei ihm ist der Mensch ein homo viator, unterwegs. Und wer das maßlose Erstaunen Eichendorffs über die fliegende Zeit hört, der erinnert sich vielleicht an Kleists Prinz Friedrich von Homburg und dessen „Das Leben nennt der Derwisch eine Reise,/ Und eine kurze“.41 Es ist, wie wir nur zu gut 37 Schillers Werke. Nationalausgabe 1776-1799, hg. von Julius Petersen (†) und Gerhard Fricke, Weimar 1943ff. (= NA), Bd. 1, S. 213. 38 Hugo von Hofmannsthal: Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden, hg. von Bernd Schoeller in Beratung mit Rudolf Hirsch. Reden und Aufsätze I. 1891-1913, Frankfurt am Main 1979, S. 66. 39 Ebd., S. 67. 40 Heinrich von Kleist: Sämtliche Werke und Briefe, hg. von Helmut Sembdner, Bd. 1, München 1984, S. 603. 41 Ebd., S. 686. 272 Zu Eichendorffs Lyrik wissen, auch bei Kleist die Reise eines Fremden. Aber eine noch erstaunlichere Verwandtschaft tut sich bei einem Blick auf das Spätwerk Heinrich Heines auf. Sechs Jahre vor Eichendorffs Tod erschien Heines Romanzero, und im Zweiten Buch, den Lamentazionen, heißt es in dem Gedicht Waldeinsamkeit (Élégie romantique in der französischen Übersetzung) über ihn, den Dichter und seine verlorene Romantik: Ich hab’ in meinen Jugendtagen Wohl auf dem Haupt einen Kranz getragen; Die Blumen glänzten wunderbar, Ein Zauber in dem Kranze war. […] Der Kranz ist mir vom Haupt genommen, Ich weiß es nicht, wie es gekommen; Doch seit der schöne Kranz mir fehlt, Ist meine Seele wie entseelt. Es glotzen mich an unheimlich blöde Die Larven der Welt! Der Himmel ist öde, Ein blauer Kirchhof, entgöttert und stumm. Ich gehe gebückt im Wald herum.42 Auch er hat die Erfahrung der Fremde gemacht, und es war zugleich die Erfahrung der Vereinzelung, die auch Eichendorff gekannt hat, wenn er sich in der Fremde wußte. Es war die Erfahrung eines Exilanten. Eichendorff ist ebenfalls eigentlich im Exil, wenn er in der Fremde ist. Seine Heimat ist eine rekonstruierte Wirklichkeit. Auch Fremde ist eine moderne Erfahrung, ohne Frage. Oder genauer: eine Erfahrung bereits des 19. Jahrhunderts. Sicher ist das Erleben einer „Fremde“ ein Urerlebnis der Menschheit, aber lange Zeit hatte die Differenz von Heimat und Fremde keine Rolle gespielt. Im 18. Jahrhundert war, wie Lessing es einmal genannt hatte, „in der Welt nichts insulieret“,43 der Mensch seinem Selbstverständnis nach überall zuhause. Er war Weltbürger, und in diesem Weltbürgertum gab es nicht den Unterschied zwischen Fremde und Heimat, es gab keine Vereinzelung 42 Heinrich Heine: Romanzero. Gedichte 1853 und 1854. Lyrischer Nachlaß. Text bearbeitet von Frauke Bartelt und Alberto Destro [= Heinrich Heine. Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke […], hg. von Manfred Windfuhr, Bd. 3/1], Hamburg 1992, S. 79 u. 83. 43 Gotthold Ephraim Lessing: Werke […], hg. von Herbert G. Göpfert, 8 Bde., München 1970-79, Bd. 7, S. 187. Zu Eichendorffs Lyrik 273 und keine Außenseiter, keine Aussonderungen und keine Fremde. Lessing schrieb für eine menschliche Welt ohne jene „Trennungen, wodurch die Menschen einander so fremd werden“.44 Nathan der Weise war ein Menschheitsdrama, Manifest einer brüderlich-menschheitlichen Gesinnung, die jeden umfaßte, und wenn Nathan selbst auch Gefahr lief, ausgegrenzt zu werden, weil er Jude war, so ging Lessings Appell doch dahin, weder ein äußeres noch ein inneres Exil zuzulassen, am wenigsten einem Juden gegenüber. Bei Schiller klang es ein Jahr nach Eichendorffs Geburt, 1789, in seiner Antrittsvorlesung Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte? ähnlich: „Alle denkenden Köpfe verknüpft jetzt ein weltbürgerliches Band“,45 und: „zwischen denkenden Köpfen gilt eine innige Gemeinschaft aller Güter des Geistes; was Einer im Reiche der Wahrheit erwirbt, hat er Allen erworben“.46 Zwar gibt es bei Schiller ein Gedicht mit dem Titel Das Mädchen aus der Fremde – doch das ist eine Allegorie der Poesie, Fremde ist bei Schiller der göttliche Ursprungsort der Dichtung; aber Fremde ist jetzt, bei Eichendorff, das Andersartige, das nicht mehr Verständliche oder nicht Geheure. Im aufgeklärten Jahrhundert gab es Fremde weder im geographischen noch im temporalen Sinn. Doch die Fremde meldete sich zu Worte, als diese schöne Welt zerbrach. In der Krisensituation um und nach 1800 zerrissen die sichernden Netze, die das Leben des Einzelnen aufgefangen hatten, die Philosophie verlor 1830, nach dem Tod Hegels, ihre dominante Position, die Orientierungssysteme der Religion versagten ebenfalls zunehmend. So kam denn nicht zufällig die Erfahrung der Fremde auf. Und es sind die deutschen Romantiker, allen voran Eichendorff, die Fremde jetzt gleichsam als „Verlust der mythischen Heimat“ erleben, wie Nietzsche das in seiner Schrift über Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik einmal genannt hat.47 Jener Satz des Novalis: „Wo gehen wir hin? Immer nach Hause“ hat in Eichendorffs Zeit seinen Sinn verloren. Die Geschichte des Taugenichts ist nur die heitere Variante der Suche nach einer Heimat, die längst aufgehört hat zu existieren. Ebd., Bd. 8, S. 466. NA 17, S 366. 46 NA 17, S. 363. 47 Friedrich Nietzsche: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Bd. 1: Die Geburt der Tragödie. Unzeitgemäße Betrachtungen I-IV. Nachgelassene Schriften 1870-1873, München 1999, S. 146. 44 45 274 Zu Eichendorffs Lyrik Ist der Gedanke zu kühn, daß sich dieses exilante Dasein, das Wissen um die Fremde des Lebens auch auf die poetische Wirklichkeitskonstitution ausgewirkt hat? Wer Zeit und Raum als etwas zutiefst Unbeständiges, wenig Verläßliches erlebt, der ist wohl nicht mehr imstande, in sich geschlossene Welten abzubilden, naive Wirklichkeiten − er kann die Wirklichkeit wohl nur noch als etwas aus diversen unverbundenen Partialitäten Zusammengesetztes erleben, als etwas sich rasch Wandelndes zudem − und er kann sie wohl auch nur so darstellen: er konstruiert zusammen, was ihm an Einzelheiten begegnet. Auch das erklärt, warum es zu jenen konstruierten Wirklichkeiten kommt, die uns in Eichendorffs Dichtung begegnen. Und da nichts zeitlos-beständig ist, fliegen die Räume vorbei, wandern die Studenten, ist alles in unendlicher Bewegung. Der homo viator erlebt seine Wirklichkeit, im eigentlichen und im uneigentlichen Sinne, als vorübergehend. * Haben wir Eichendorff richtig gelesen? Vor etwa fünfzig Jahren las man ihn ganz anders. Am 22. November 1957 fand im Großen Saal des Kölner Gürzenich eine Eichendorff-Feier statt; der damalige deutsche Bundeskanzler Konrad Adenauer hatte ein Grußwort geschickt, in dem es hieß: „ich halte es gerade in der heutigen Zeit für bedeutungsvoll, sich dieses berühmten deutschen Romantikers zu erinnern. Aus Schlesien stammend und seiner schlesischen Heimat zutiefst verbunden, hat er in seinen Werken doch allen Stämmen unseres Volkes die Liebe zur großen deutschen Heimat nahegebracht“.48 Nun, das war ein Grußwort, wie es derer viele gibt. Damals hatten sich viele Gäste versammelt, zahlreiche Vertreter des diplomatischen Korps, hohe Beamte der deutschen Bundesregierung und der Länderregierungen, Ordinarien der Germanistischen Institute vieler deutscher Universitäten, Würdenträger beider christlicher Kirchen und der Jüdische Zentralrat, und Grüße wurden überbracht von den Universitäten in Oxford, Bristol, Paris und Wien, Toulouse, Rom und Bologna, Mailand, Graz und Fribourg, Nimwegen, Kopenhagen, Stockholm und Oslo. Der Festredner war Wilhelm Emrich, seinerzeit einer der bekanntesten deutschen Germanisten, und er holte weit aus und gründelte tief in Eichendorffs Welt, gab, so ist dem Bericht von damals zu entnehmen, „eine philosophisch 48 Karl Schodrok: Rückblick auf das Eichendorff-Gedenkjahr 1957, in: Aurora. Eichendorff-Almanach 18, 1958, S. 104. Zu Eichendorffs Lyrik 275 vertiefte Deutung des Dichters, indem er auf den metaphysischen Urgrund von Eichendorffs Dichtung hinwies“, und dann meinte er noch, daß die tiefste Bedeutung dieser Dichtung noch gar nicht erschlossen sei, „sie ist mehr als das frohe Lied von Sonne, Wind und Wald, mit ihren Sinnbildern von Heimat und Glaube führe sie die Menschen in wahrhaft prophetischer Poesie zu dem Urgrund alles Lebens und Denkens“.49 Starke Worte. Es war ein Fest mit nationalen Dimensionen. Feste auch anderswo, selbst Bayern beteiligte sich: eine EichendorffBüste wurde in die Walhalla aufgenommen, und König Ludwigs I. Worte zur Gründung der Walhalla wurden zitiert. Auch da versammelte sich „eine glänzende Festgesellschaft“. Man hatte übrigens auf der anderen Seite Deutschlands 1952 aus Anlaß von Eichendorffs 95. Todestag schon ähnlich Rühmendes lesen können: „Eichendorff ist der Entdecker der unendlichen Schönheiten der deutschen Landschaft in der modernen Lyrik. Seine Gedichte sind das hohe Lied auf das Bild unserer Heimat. Darin gerade besteht sein großer, echter Patriotismus“.50 Doch dann wurde er östlicherseits als antikapitalistischer Frontsoldat empfohlen: er habe das „gefährdete unverstellte Empfinden der deutschen Heimat“ gegen die prosaische Herrschaft des Geldes verteidigt. Im Westen aber betonte der Festredner fünf Jahre später ganz anderes. Seine Laudatio kulminierte in den Sätzen: Seine Poesie will Erlösung, Erlösung von allen Entstellungen, die der Mensch dem Menschen, die der Mensch sich selber antut. Erst in solcher Poesie kann die Bedeutung des Ganzen offenbar werden, wird die Grundmelodie hörbar, die jeder vergeblich auszudrücken sucht. Solche Poesie aber ist Wissen, Wissen um die irdischen Verfehlungen, Wissen aber auch um Überwindung. 51 Das waren, mit anderen Worten, die berühmten „ewigen Werte“. Aber uns überkommt heute Unbehagen. Jener prominente deutsche Germanist, dem 1957 in Köln über tausend Leute zuhörten, schnitzte an einem zeitlosen Eichendorff-Denkmal herum; daß Eichendorffs Ebd., S. 105. So in der SED-Zeitung Neues Deutschland am 27. 11. 1952; [unvollständig] zitiert bei Bolko Frhr. von Richthofen: Eichendorff in kommunistischer Sicht, in: Aurora. EichendorffAlmanach 14, 1954, S. 122f. Vgl. auch Eberhard Lämmert: Zur Wirkungsgeschichte Eichendorffs in Deutschland, in: Romantikforschung seit 1945, hg. von Klaus Peter, Meisenheim 1980, S. 203-228; hier S. 216 [zuerst 1967]. 51 Wilhelm Emrich: Dichtung und Gesellschaft bei Eichendorff, in: Aurora. EichendorffAlmanach 18, 1958, S. 16. 49 50 276 Zu Eichendorffs Lyrik Poesie reiner Gesang sei, ist sicherlich schön gesagt, aber so furchtbar weit ist der Schritt nicht zu Eichendorff als „Sänger des deutschen Waldes“ und als „Erwecker beseligender lyrischer Verzauberungen“: Feiertagsrhetorik, unschwer zu hören, Eichendorff so etwas wie ein gehobener Heimatdichter, seine Lyrik für jeden erreichbar, schön im Nacherleben des vorgeblich bei Eichendorff Vorgelebten, im Kern eben auf romantische Weise zeitlos, und, wie sich damals herausstellte, so recht etwas für patriotische Feierstunden, denn Eichendorff war ja nicht nur derjenige Romantiker, der noch jedem etwas sagen konnte, sondern er war vor allem auch ein deutscher Dichter. War er das wirklich, war er nur das? Andere Zeiten, andere Lesarten. Es gibt keine richtige und keine falsche Interpretation, es gibt nur veränderte Akzentuierungen. Emrichs Deutung war vielleicht nicht ganz falsch, aber sie war vielleicht auch nicht ganz richtig. Eichendorffs historische Bedeutung ist doch wohl anders zu bestimmen: in seinem Vorläufertum, was den Symbolismus betrifft, in seinen lyrischen Experimenten, in seiner überall konstruierten Wirklichkeit und in seiner ausgiebig genutzten Montage. Und in seiner Beschreibung einer im 19. Jahrhundert sehr neuen Erfahrung, auch wenn sie eine sehr alte ist: der der Fremde, der Heimatlosigkeit, der tiefen Verunsicherung, vor der ihn auch sein Katholizismus nicht bewahren konnte. Sie aber brachte ihn dazu, „Heimat“ zu rekonstruieren. * Dagegen kann man durchaus setzen, daß Eichendorffs Poesie „in wahrhaft prophetischer Poesie zu dem Urgrund alles Lebens und Denkens“ führe. Oder daß Eichendorff eben doch vor allem, und das in manchmal betörend schönen Versen, der Sänger des deutschen Waldes sei. Aber wie dem auch sei: gelesen wurde er und wird er, nicht nur im deutschsprachigen Raum, auch wenn er unserem Verständnis nach manchmal auf sonderbare Weise falsch gelesen wurde. Was hätte Eichendorff wohl gesagt, wenn er die Rückübersetzung einer Übertragung seiner Erzählung vom Taugenichts, dem wanderlustigen Müllerburschen, ins Chinesische gekannt hätte? Dort ist der liebenswürdige Held, der uns ja wie eine Märchenfigur vorkommt, ein „leistungsunwilliger Freßsack“ und ein „Volksschädling, der sich außerhalb der maoistischen Gesellschaft befindet“. Die Übertragung des Titels in chinesische Charaktere läuft in etwa auf „Aufzeichnung von Genüßlichkeit im Le- Zu Eichendorffs Lyrik 277 ben eines Freßsacks“ hinaus. Eine absurde Überschrift. Aber die Schwierigkeiten sind im Chinesischen im wahrsten Sinne des Wortes buchstäblicher Natur: chinesische Schriftzeichen sind bekanntlich traditionell so beladen, daß sie durchaus mißverständlich gelesen werden können; das beginnt schon beim Wort „Freiherr“ und endet noch lange nicht beim „Taugenichts“. Eichendorff selbst ist es im Chinesischen ähnlich ergangen wie seinem Helden: der Name des Dichters ist wiedergegeben mit Zeichen, die auf deutsch etwa lauten würden: „Sein Hang zur Freude war immerdar groß“. Nun, je nach mehr philosophischen oder mehr gefühlsbetonten Assoziationen kann es eben überall Mißverständnisse geben, aber die maoistische Gesellschaft hat nicht gezögert, auch ihre Kritik an jenem treuherzigen homo viator, der mit seiner Geige durch die Landschaft streicht und dessen Reich nicht von dieser Welt ist, schon in der Übersetzung des Titels so unmißverständlich wie nachhaltig auszudrücken. Dennoch gibt es trotz des uns so absurd übertragenen Taugenichts Tröstliches: die Erzählung gilt auch in China als Werk der Weltliteratur, und deutlichster Hinweis darauf ist die Aufnahme des Taugenichts in die Jedermann’s Bibliothek, ein chinesisches Gegenstück zur englischen Everyman’s Library-Reihe. Das hätte Eichendorff mit seinem in chinesischer Lesart namentlichen „Hang zur Freude“ am Ende wohl tatsächlich Vergnügen bereitet, hätte er davon gewußt. „… I M M E R FE S S E L N D E L E KT Ü RE , W E N N A U C H V I E L D E KO RA T I O N U N D D I E G E FÜ H LE Ü B E RI N S Z E N I E R T .“ Zu Hebbels Tagebüchern „Ich lese in Hebbels Tagebüchern, es ist immer fesselnde Lektüre, wenn auch viel Dekoration und die Gefühle überinszeniert“, so heißt es in Brechts Tagebuch vom 21. August 1920. Und dann folgen noch einige scharfsinnige Beobachtungen zu diesem Tagebuchschreiber Hebbel. Brecht fährt fort: Das Pflichtgefühl drin ist mir widerlich, auch die Ordnung, die einer ungeheuren Einbildung gleichkommt: im Grunde ist Hebbel eben Sammler. Er hat eine beschränkte Teleologie in allen Gedankengängen, es scheint, er ist eitel darauf, überall da noch einen Sinn zu entdecken, wo die Dümmeren keinen mehr entdecken, und Leute, die es weit gebracht haben, sind selten dazu zu bringen, es noch weiter bringen zu wollen. Ein Fremder für Brecht, dieser Hebbel, aber einer von der interessanteren Sorte, und nicht zuletzt jemand, an dem er, Brecht, sich selbst messen, mit dessen Hilfe er sich profilieren kann. Nicht als Tagebuchschreiber, wohl aber als Dramatiker, und kein Zweifel: hier schreibt einer, der Hebbel zwar zu verstehen glaubt, den er aber doch ablehnt. Denn er hält Hebbels Weg letztlich für eine Sackgasse: Nicht die Großartigkeit der Geste, mit der das Schicksal den großen Menschen zerschmettert, ergreift uns, sondern allein der Mensch, dessen Schicksal ihn nur zeigt. Sein Schicksal ist seine Chance. Es gilt also nicht, große, ideelle Prinzipiendramen zu schaffen, die das Getriebe der Welt und die Gewohnheiten des Schicksals darstellen, sondern einfache Stücke, die die Schicksale von Menschen schildern, Menschen, die die Gewinne der Stücke sein sollen. 1 Also einiges an Hebbels Dramen hat Brecht auch bereits gelesen, und er findet offenbar in den Tagebüchern das gleiche, was er schon in den Stücken fand: eine bis ans Äußerste getriebene scholastische Dialektik, aber auch einen Hauch von Prinzipienreiterei, von Idealismus fernab 1 Bertolt Brecht: Tagebücher 1920-1922. Autobiographische Aufzeichnungen 1920-1954, hg. von Herta Ramthun, Frankfurt am Main 1975, S. 30. 280 Zu Hebbels Tagebüchern der Wirklichkeit. Und eine Suche nach Sinnhaftigkeit, also so etwas wie den unausrottbaren Wunsch, die Welt zu erklären, selbst dort, wo man nichts mehr erklären kann. Aber, bei alledem: immer fesselnde Lektüre. Am Anfang sah alles noch etwas spielerisch aus. Am 23. März 1835 beginnt Hebbel sein Tagebuch, und schon seine Überschrift enthält ein Programm, das so weit formuliert ist, daß wirklich alles hineinpaßt, mit einem leisen Zweifel, ob das Tagebuch denn wirklich als Form die richtige sei. Der Titel lautet bekanntlich: Reflexionen über Welt, Leben und Bücher, hauptsächlich aber über mich selbst, nach Art eines Tagebuchs, von K. F. Hebbel. Angefangen den 23. März 1835.2 Welt, Leben und Bücher als Gegenstände, er selbst als Zentrum: ungenauer und gleichzeitig besser, treffender könnte das gar nicht bezeichnet worden sein. Am Anfang noch ein Schuß Selbstironie in seinem ersten Satz: Ich fange dieses Heft nicht allein meinem künftigen Biographen zu Gefallen an, obwohl ich bei meinen Aussichten auf die Unsterblichkeit gewiß seyn kann, daß ich einen erhalten werde. Es soll ein Notenbuch meines Herzens seyn, und diejenigen Töne, welche mein Herz angiebt, getreu, zu meiner Erbauung in künftigen Zeiten, aufbewahren. Also Lektüre für später, er selbst der aufmerksamste Leser seiner Niederschrift – vielleicht auch der einzige wirklich gemeinte Adressat? Doch ein wenig denkt er ja auch ans Künftige, an den späteren Biographen: da war er, wenn auch aus verständlicher Eitelkeit, durchaus weitblickend. Natürlich gibt es Pausen in diesem Tagebuch, das über weite Partien hin wie ein Selbstgespräch anmutet, aber immer wieder nimmt Hebbel sich in die Pflicht. Es sollte ein nulla dies sine linea sein, und im großen und ganzen hat er seine sich selbst gesetzte Aufgabe bestanden: tausende, viele tausende von Eintragungen! Was am Anfang eher beiläufig niedergeschrieben war, wird im Laufe der Jahre zum selbstauferlegten Zwang. Es ist das weiße Papier, was ihn zwingt, es mit Schrift zu füllen, und irgendwann schreibt er nicht mehr auf lose Blätter, die er nachträglich zusammennähen muß, sondern tatsächlich in ein Buch. Manchmal sagt er auch etwas über sein Tagebuchschreiben selbst, so am 19. August 1843: Die Tagebücher werden zitiert nach: Friedrich Hebbel. Sämtliche Werke. Historischkritische Ausgabe besorgt von Richard Maria Werner. Zweite Abteilung: Tagebücher Bd. IIV, Hamburg u. a. 1865, Nachdruck Bern 1970. Die Notatzahlen in Klammern im Text. 2 Zu Hebbels Tagebüchern 281 Ich werde meinen Gewohnheiten ungetreu. Ein gebundenes Tagebuch! Vier und zwanzig Bogen auf einmal! Ein starker Wechsel, auf die Zukunft gezogen! Sonst beschrieb ich Blatt nach Blatt und heftete nachher Alles mühsam mit der Nadel zusammen. Doch, man reis’t nach Paris und Italien steht in Aussicht. Da ist es vielleicht vernünftig, daß man sich durch eine solche Masse weißen Papiers die Pflicht, es zu beschreiben, immer gegenwärtig erhält. Im Allgemeinen haben meine Tagebücher freilich sehr geringen Werth: Zustände und Dinge kommen kaum darin vor, nur Gedanken-Gänge, und auch diese nur, so weit sie unreif sind. Es ist, als ob eine Schlange ihre Häute sammeln wollte, statt sie den Elementen zurück zu geben. Aber man sieht doch einigermaßen, wie man war, und das ist sehr nothwendig, wenn man erfahren will, wie man ist. Das ganze Leben ist ein verunglückter Versuch des Individuums, Form zu erlangen; man springt beständig von der einen in die Andere hinein und findet jede zu eng oder zu weit, bis man des Experimentirens müde wird und sich von der letzten ersticken oder aus einander reißen läßt. Ein Tagebuch zeichnet den Weg. Also fortgefahren! (2756). Da drückt sich ein fast manischer Zwang zur Niederschrift aus, eben jenes Brecht so fatale Pflichtgefühl, aber ebenfalls die Unsicherheit des Ich: er will erfahren, wer er ist, und zwar aus dem, was war, was er war. Hebbel spricht vom Experimentieren: das ist ein Schlüsselwort, zutreffend für alle Tagebücher. Im Experiment mischen sich bekanntlich Neugier auf noch nicht Erfahrenes und Unzufriedenheit mit dem bis dahin Feststehenden, aus dem Experimentieren spricht aber auch das Ungenügen an sich selbst, der Wunsch, endlich einen Zustand zu erreichen, in dem alles Experimentieren überflüssig wird, sich seiner selbst ein für allemal sicher zu sein. Eine altes jiddisches Sprichwort sagt: Wenn wir uns erinnern, wo wir herkommen, werden wir auch immer wissen, wo wir hin müssen. Es könnte hinter Hebbels Tagebüchern stehen, da es so etwas wie ein Grundsatzbekenntnis des Tagebuchschreibers enthält, das ihn vor sich selbst legitimiert, seinen Weg in eine ihm offenbar dunkle Zukunft ein wenig erhellt. So schreibt er also weiter, weiterhin „nach Art eines Tagebuchs“, aber immer mischen sich persönliche Eindrücke mit seinen Reflexionen. Das Schreiben war zugleich ein Heilmittel gegen die Ermüdung und Langeweile, die sich immer wieder einstellten, und ein Stimulanz, um dem gefürchteten Verstummen zu entkommen. Am 1. Januar 1847 trägt er ein: Ich will dieses Jahr, wie ich es mir schon oft vornahm, einmal regelmäßig Tagebuch führen, bloß, um zu sehen, ob etwas dabei heraus kommt, und was. 282 Zu Hebbels Tagebüchern Hoffentlich brauche ich nicht zu dem Mittel jenes holsteinischen Candidaten der Theologie, dessen Tagebuch ich als Knabe in Händen hatte, meine Zuflucht zu nehmen, daß ich nämlich die Blätter mit ewig wiederholten Berichten über mein Waschen, Haarkämmen, Kaffeetrinken und Pfeifestopfen fülle, um sie nicht weiß lassen zu müssen. Was mir fehlt, ist der Zwang zum Schreiben, ich meine nicht zum Dichten, sondern zum bloßen schriftlichen Aussprechen meiner Gedanken, denn die Form fängt an, mich zu tyrannisiren und mich selbst in gleichgültigen Aeußerungen des geistigen Lebens zu hindern. Freilich glaube ich, daß jeder Dichter an dieser Krankheit leiden muß, wenn er das dreizigste Jahr zurückgelegt und sein individuelles Verhältniß zur Sprache kennen gelernt hat, aber eine Krankheit bleibt immer Krankheit, wenn sie auch nur edlere Organisationen befällt, und es muß gegen sie gekämpft werden. Vielleicht wird das Tagebuchführen gute Dienste leisten (3875). Da ist alles versammelt, Lust und Leid des Diaristen, das als Zwang empfundene Schreibbedürfnis und der Wunsch, diesem nachzukommen, notfalls gegen alle Widerstände. Der Zwang zum Schreiben: fast eine Krankheit, aber doch etwas, dem er folgen muß, das Tagebuch im Grunde ein Tyrann, der ihm hinderlich ist, alles andere als eine mit Leidenschaft betriebene Geisteswerkstatt und ein Schreiblabor, und doch: Tagebuch führen, so hofft er, wird ihm gute Dienste leisten. Es sind die guten Dienste, die er sich für sein Schreiben, für sein eigentliches Schreiben erhofft, es ist die Schreibwut, nicht die Schreiblust, die ihn vorantreibt: Krankheit, Kampf, Hindernisse, der Drang, das Tagebuch zu schreiben und gleichzeitig der fehlende Wille zum Abschluß: das Tagebuch also Ausdruck eines schwierigen Lebens, wohl auch einer immer wieder eintretenden momentanen Ermattung und Müdigkeit – aber Hebbel schreibt weiter, wenn auch nur, um zu sehen, was dabei herauskommt. Es ist auch das Experiment mit einer noch neuen Form, mit einem literarischen Medium, dem er nicht so recht traut und dem er sich doch gleichzeitig bis in seine geheimen Gedanken hin anvertraut. Er weiß, daß sein Tun nicht unproblematisch ist, daß sein Schreiben ein lebenslanges Experimentieren bleiben wird – aber er kann nicht anders, und deswegen heißt es: „Also fortgefahren!“ Er will die Sprache, die sich ihm zu entziehen droht, zwingen, und er will sich vor allem selbst zwingen, zu produzieren, auch wenn es nur Alltäglichkeiten sind, die er zu Papier bringt – was er fürchtet. Zweifel an sich selbst, abwertender Sarkasmus seinem Schreiben gegenüber spricht sich hier aus, das Tagebuch ist ihm manchmal so etwas wie ein Provisorium, nie zu Ende Zu Hebbels Tagebüchern 283 geführt, soviel er auch schreibt, es bietet keine Lebenslösungen und läßt allenfalls Rechenschaftsberichte zu, meist über Nicht-Erlangtes. Irgendwo laboriert Hebbel auch zwischen Gedanken und Gefühlen herum, aber vielleicht macht auch das den Reiz der Tagebücher aus, hat vielleicht sogar den Reiz für Brecht ausgemacht. Bis zum Ende hin freilich Zweifel, ob das alles überhaupt einen Sinn habe. Am 24. November 1859 fängt er sein sechstes Tagebuch an und schreibt: „Noch ein Tagebuch und bald 47 Jahr! Lohnt sich’s der Mühe? Eben legt meine liebe Frau mir’s auf den Tisch. In ihrem Namen sey’s denn angefangen“ (5769). Manchmal gerät das Tagebuch in die Niederungen des Lebens hinein, aber das war wohl unvermeidlich. Am 31. Dezember 1859 schreibt er: Ehemals lächelte ich wohl, wenn ich in fremde Tagebücher oder Briefe, besonders in solche, die aus älterer Zeit stammten, durch Zufall hinein sah und fand, daß sie gewöhnlich mit Gesundheitsberichten anfingen. Jetzt mache ich es ebenso und freue mich unendlich, in diesem Augenblick nieder schreiben zu können: es steht mit uns Allen wohl! (5777). Und dann folgt ein langer Bericht über die Beschwernisse des vergangenen Jahres, über Rheumatismus, über den Fuß, an dem er gelitten hat, über Magenbeschwerden und eine Erkältung bis zu einer Geschwulst, bis zum „finsteren Gemütszustand“. Ein Leidensbericht in folio! Aber zum Glück bleibt es nicht dabei, die folgenden Notate zeigen ihn wieder auf der Höhe philosophischer Spekulationen und Reflexionen, wobei er relativ scharf zwischen seinem Tagebuch und seinem dichterischen Werk trennt: von letzterem ist allerdings nur wenig die Rede. 1863, im 6. Tagebuch, werden die Notate länger, die Zeit dringt wohl noch etwas stärker hinein als früher, aber es bleibt vielfach auch bei Oberflächlichkeiten. Manchmal beobachtet er sich selbst, verfolgt, wie aus einem Einfall, einem Eindruck eine Assoziation, ein Vergleich entsteht, wie es bei ihm zu Bildern kommt, wie Ideenassoziationen eine Brücke schaffen von der physischen zur intellektuellen Welt. Der Analytiker ist tätig, der Selbstbeobachter, der gewissermaßen seine eigene Produktivität begutachtet. Die Tagebücher enden euphorisch: „Eine große Leidens-Periode, die noch nicht vorüber ist, so daß ich sie erst später fixiren kann. Aber seltsam genug, hat seit 14 Tagen der poetische Geist angefangen, sich in mir zu regen“ (6176). „Fixiren“: auch das ist ein Begriff, der sich auf seine Tagebücher bezieht, er fixiert tatsächlich, hält fest, macht es unveränderbar, fügt das Beobachtete, fügt einen 284 Zu Hebbels Tagebüchern Vorgang in seine Lebensbahn ein, indem er notiert, was wert ist, festgehalten, fixiert zu werden. Am Schluß ein Erstaunen über seine wiedererwachte Leistungsfähigkeit: „Wunderlich-eigensinnige Kraft, die sich Jahre lang so tief verbirgt, wie eine zurückgetretene Quelle unter der Erde, und die dann, wie diese, plötzlich und oft zur unbequemsten Stunde, wieder hervor bricht!“ So am 25. Oktober 1863. Keine zwei Monate später stirbt er. * Schon als Hebbel am 23. März 1835 mit Eintragungen beginnt, schreibt er bereits eine bunte Mischung aus Berichten über sich selbst, seinen Tageserlebnissen, Träumen, Dramenplänen, witzigen Aperçus, Beobachtungen und literarkritischen Urteilen. Diese unendliche Flut läßt über fast dreißig Jahre in ihrer Intensität und Breite nicht nach. Die Tagebucheintragungen sind nicht Ersatz für eine Autobiographie – sie sind eine, aber sie sind weit mehr, sie enthalten sein Leben und sein Denken, seine Träume und sein Dichten, und wenn sie auch etwas Gestaltloses an sich haben, ungeordnet wirken bis zum Durcheinander, banal oder kleinlich sind sie nur selten. Aber warum schreibt er so pausenlos? Steckt dahinter ein protestantisches Rechtfertigungsbedürfnis, was Tagebuchschreibern aus dem Norden nicht selten zu eigen ist, oder ein geradezu pietistisches Sich-selbst-Behorchen? Wirkt hier ein Registrator, der es nicht lassen kann, seine eigene innere Welt unablässig in Worte zu fassen? Nimmt er sich nicht doch ein wenig zu wichtig, wenn er über das sprichwörtliche „Gott und die Welt“ schreibt, literarische Ereignisse ebenso kommentiert wie weltgeschichtliche Augenblicke? Ist in diesen Belehrungen, die sich nicht selten finden, nicht auch ein Hauch von Oberlehrerhaftigkeit und der Anspruch, ein unbestechlicher Richter über das Tagesgeschehen zu sein? Ist darüber hinaus auch ein Zensor am Werke, was die zeitgenössische Literatur angeht, da er unbarmherzig zu Gericht sitzt über alles, was halbwegs lesens- und bedenkenswert ist? Überschreitet hier der Tagebuchschreiber nicht ständig die Grenzen der Bescheidenheit und der Selbstkritik, sieht er letztlich nicht die ganze Welt zu seiner Verfügung und möchte daran auch nichts ändern? Oder schreibt hier ein Einsamer, der immer wieder in ein Gespräch mit sich selbst gerät, ein Monologist, dem die Zuhörerschaft fehlt, die er doch so gerne hätte? Ist Hebbel ein GettoBewohner? Lotet hier ein Unsicherer sich selbst aus, sucht er sich Zu Hebbels Tagebüchern 285 gleichsam Wegezeichen zu setzen, damit sein Ich nicht in die Irre geht? Oder strömt sich hier ein Geist aus, der unablässig in Bewegung ist, um festzuhalten, was er sieht, zu notieren, was er denkt, zu kritisieren, was er nicht leiden kann? Ungehemmte Schreiblust, ein ungebremstes Räsonieren über alles und jedes? Er scheint alles zu wissen, und vor allem: er scheint alles besser zu wissen. Aber waren das noch Tagebücher? Diarien im üblichen Wortsinn sind die Hebbelschen Niederschriften nicht. Ein Tagebuch ist persönlichkeitsorientiert, und selbst wenn Weltereignisse erwähnt werden: das Ich ist Ausgangspunkt der Mitteilungen, aber in ihm, mit ihm enden diese auch. Tagebücher sind auf den Einzelnen bezogene Rechenschaftsberichte, sie beschäftigen sich eo ipso mit dem Vergangenen, dieses wird registriert, protokolliert, im besten Fall auch analysiert. Das Gewesene ist das Gegebene, verändern läßt sich nichts mehr, ein Tagebuch hat immer abschließenden Charakter. Nicht selten dient ein Tagebuch auch der Selbstbehauptung, der Identitätssicherung, und im Extremfall empfindet ein Tagebuchschreiber sein Leben gelegentlich sogar als Dauerkrise, der er nur entkommen kann, wenn er sich davon schreibend befreit. Das trifft für Hebbel in gewisser Hinsicht zu. Er hätte sagen können, was Robert Musil zu seinem Tagebuch-Unternehmen schrieb: „Mich zu rechtfertigen und mir selbst zu erklären“. Doch der Anteil an Aphorismen, an Maximen, an Gedanken und Einfällen ist viel zu groß, als daß man noch von einem Tagebuch im herkömmlichen Sinne sprechen könnte. Keine Seite ist frei von aphoristischen Bemerkungen, die nicht selten aufs Allgemeinste zielen, generelle Gültigkeit beanspruchen. Sätze wie „Der Gedanke ist das Product der Individualität“ (1636) oder „Leben heißt partheiisch sein“ (2613) oder „Gott ist gebundene, Natur ungebundene Kraft“ (1963) – Tausende solcher Bemerkungen finden sich in den Hebbelschen Tagebüchern, und damit sprengen sie gründlich den herkömmlichen Rahmen eines Tagebuchs: über diesen Tag, über diese Stunden im Leben eines Einzelnen zu berichten. Hebbels Gedanken-Niederschriften beanspruchen generelle Gültigkeit, und damit entwickelt sich in seinen Tagebüchern eine Schicht, die gegenläufig ist zu den tatsächlichen Tagesnotaten. Hier Berichte über wirklich Vorgefallenes, Begegnungen, Finanzprobleme, Lektürereminiszenzen, Wetterberichte, über den Ankauf von ein paar Stiefeln, Briefe, ins Tagebuch kopiert, und daneben eben jene quasi philosophischen Einfälle, manchmal Donnerworte, gelegentlich aber auch Banalitäten, Spitzfin- 286 Zu Hebbels Tagebüchern digkeiten und Selbstverständlichkeiten – eine oft reichlich bunte Mischung. „Bei den ersten Menschen gab’s keine Blutschande“ (3690), lesen wir – natürlich nicht. Manchmal auch extremistisch zugespitzte Anschauungen der Zeit, ins fast schon Unglaubwürdige generalisiert: „Des Weibes Natur ist Beschränkung, Gränze, darum muß sie in’s Unbegränzte streben; des Mannes Natur ist das Unbegränzte, darum muß er sich zu begränzen suchen“ (2309). Das wird ergänzt durch eine (scheinbare) Haarspalterei, die ihresgleichen sucht: „was die Uhr zur Uhr macht, hält sie zugleich ab, etwas Anderes, als Uhr zu seyn“. In der Tat – aber diese Erkenntnis ist weder neu noch originell. Sie ist richtig und bei aller Richtigkeit doch banal. Aber dann wieder Aphorismen, die vor Brillanz funkeln: „Die Welt ist Gottes Sündenfall“ (3031), oder auch: „Viele glauben Nichts, aber sie fürchten Alles“ (2614), „Ein Feind, der so groß und dick ist, daß sein Gegner in seinem Schatten kämpfen kann“ (2422). Oder: „Allegorie entsteht, wenn der Verstand sich vorlügt, er habe Phantasie“ (2002). Das kommt durchaus an Nietzschesche Aphorismen heran, nicht nur in ihrer fast gewalttätigen Schärfe, sondern auch in ihrer aperçuhaften Zuspitzung. Aphorismen waren zu Zeiten Hebbels alles andere als neu, Aphorismen kennt vor allem die französische Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts, für sie stehen Namen wie La Rochefoucauld oder Chamfort und in deren Hintergrund wiederum die Aphorismoi des Hippokrates, ursprünglich medizinische, später wissenschaftliche Stellungnahmen, Bemerkungen und Regeln. Zwischen Hippokrates und den Aphoristikern des 17. und 18. Jahrhunderts: Francis Bacon. Erwähnenswert bei ihm schon das Bemühen, das Freie, Ungebundene, Regellose, Systemferne dieser Art Philosophie abzugrenzen gegen jede Regelhaftigkeit, also der Versuch, gegen die scholastische traditio methodica eine traditio per aphorismos zu etablieren, vor allem aus dem Mißtrauen gegen ein abgeschlossenes systemintegriertes Wissen, gegen nicht mehr verrückbare Zusammenhänge – dagegen schreibt ein Aphoristiker an, und er formuliert so scharf, weil er nicht mit seiner Bemerkung etwas abschließen will, sondern zum Weiterdenken auffordert: der Systematiker beschränkt sich auf seine wohlgeordnete Welt, der Aphoristiker zielt über sie hinaus. Wenn die Aphorismen in sich auch zusammenhanglos zu sein scheinen, ein wirrer Schwarm von Gedankensplittern, jeder für sich richtig und zu akzeptieren, obwohl der nächste Aphorismus den vorhergehenden zu widerlegen scheint, so mißverstünde man sie, sähe Zu Hebbels Tagebüchern 287 man in ihnen nur Ausgeburten eines regellosen Philosophierens – sie wollen nur jeder Systematik, jeder geordnet-sinnvollen Zusammenfassung widersprechen. Eine längere deutsche Literaturtradition hat es für diese aphoristische Kunst nicht gegeben – mag sein, daß das systematische Denken der Aufklärung eine solche verhindert hat. Es fehlt auch bezeichnenderweise an einem rechten Begriff, um diese kleinen Gedankeneinheiten zu charakterisieren und zu benennen, oder vielmehr: es gibt eine Fülle von Bezeichnungen. Lichtenberg hat seine Notate in Sudelbücher zusammengefaßt; seine Aphorismen wurden als Bemerkungen vermischten Inhalts aber erst aus dem Nachlaß veröffentlicht mit dem Hinweis, daß diese Sammlung nur einzelne Gedanken über ganz verschiedene Gegenstände enthalte. Einen rechten Namen für diese in Deutschland neue Gattung hatte man damals nicht. Goethe nannte seine berühmten Sprüche Maximen und Reflexionen, doch was unter diesem Titel heute firmiert, ist von ihm durchaus nicht so konzipiert gewesen – sein Titel bezieht sich nur auf einen Teil der Sammlung, und andere Abschnitte hat Goethe mit eigenen Überschriften versehen: „Aus Ottiliens Tagebuch“, „Eigenes und Angeeignetes“, „Betrachtungen im Sinne der Wanderer“, „Aus Makariens Archiv“. Das zeigt, wie brüchig der Obertitel war. Jean Paul spricht hingegen von Aphorismen, aber das war eher verwirrend als klärend. Denn bereits Nietzsche, dem der Begriff zu allgemein war, unterschied kurz darauf den Aphorismus, der eine Einsicht aus einem Besonderen in etwas Allgemeines bringe, von der Maxime, die nichts anderes sei als ein Prosaspruch, bis hin zur Volkstümlichkeit und Banalität. Erst Marie von Ebner-Eschenbach hat dann Aphorismen in ihrer Sammlung von 1880 populär gemacht, doch noch Robert Musil hat gefragt: „Was ist ein Aphorismus? Eine Notiz oder ein Fragment?“ Er sei „Teil eines Ich-Romans“, wie er auch gelegentlich sagte.3 Eine rechte Antwort hatte er ebenfalls nicht, und wenn er einmal auch den Aphorismus definierte als eine „isolierte Notiz“ (das sind diese Hebbelschen Notizen ja auch), dann hat er auf der anderen Seite angemerkt: „Aphorismus. Nicht Fisch und nicht Fleisch. Nicht Epigramm und nicht Entdeckung. Es fehlt ihm anscheinend an der Ganzheit, Einprägsamkeit, Reduzierbarkeit odgl. Bloß Bewegung ohne 3 S. 558. Tagebücher, Aphorismen, Essays und Reden, hg. von Adolf Frisé, Hamburg 1955, 288 Zu Hebbels Tagebüchern Ergebnis, Knotenpunkt“.4 Den Begriff „Gedankensplitter“ lehnte er freilich als „widerlich“ ab. Karl Kraus wiederum nutzte den Titel Sprüche und Widersprüche und stellte lapidar fest: „Der Aphorismus deckt sich nie mit der Wahrheit; er ist entweder eine halbe Wahrheit oder anderthalb“.5 Das sind im Grunde späte Auswirkungen eines Streites um die rechte Begrifflichkeit, wie er eben vor allem seit den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts geführt worden ist, also in der Zeit der Hebbelschen Tagebücher. Damals hatte sich, zumindest in der romantischen Literatur, vorübergehend der Begriff „Fragment“ durchgesetzt; besonders der junge Novalis und Friedrich Schlegel präferierten diese Bezeichnung. Aber auch sie setzte sich nicht durch. Friedrich Schlegel hat einmal hübsch gesagt: „Ein Fragment muß gleich einem kleinen Kunstwerke […] in sich selbst vollendet sein wie ein Igel“. Doch wie dem auch sei: eine eindeutige Bezeichnung gab es nicht – obwohl es seit 1800 geradezu eine Fragmenten- und Aphorismenflut gab. Gleichzeitig mit Hebbel schrieb etwa auch Heine Bemerkungen von jener Art, die Hebbels Tagebücher so nachhaltig bestimmen. Heine hatte überhaupt keinen Namen für seine kleinen Einfälle, erst spätere Herausgeber haben sie etwas willkürlich und hilflos als Gedanken und Einfälle betitelt; der erste Editor einer historisch-kritischen Ausgabe, Ernst Elster, hat alles dann noch einmal untergliedert und das, was er am Ende nicht unter „Persönliches“, „Staat und Gesellschaft“ oder anderes subsumieren konnte, noch einmal „Vermischte Einfälle“ genannt – eine Armuts-, eine Bankrotterklärung eines Gliederungswütigen; Ordnung ließ sich in eine von vornherein ungeordnete, willentlich und absichtlich zusammengewürfelte Sammlung von Einfällen eigentlich nicht bringen. Heines Niederschriften sind, was das Aphoristische angeht, geradezu ein Parallelunternehmen zu Hebbels Tagebüchern, und auch hier finden sich Banalitäten neben brillanten Boshaftigkeiten. Ein Fragment lautet: „Wie vernünftige Menschen oft sehr dumm sind, so sind die Dummen manchmal sehr gescheit“.6 Ganz recht, kann man dazu nur sagen. Oder auch: „De mortuis nil nisi bene – man soll von den Lebenden Ebd., S. 423. Zitiert nach: Franz H. Mautner: Der Aphorismus, in: Prosakunst ohne Erzählen. Die Gattungen der nicht-fiktionalen Kunstprosa, hg. von Klaus Weissenberger, Tübingen 1985, S. 14. 6 Heinrich Heines Sämtliche Werke, hg. von Ernst Elster, Leipzig/Wien o. J., Bd. 7, S. 446. 4 5 Zu Hebbels Tagebüchern 289 nur Böses reden“.7 Mit Hebbel teilt Heine literaturgeschichtliche Äußerungen über Zeitgenossen – Gutzkow etwa ist von beiden avisiert, und bei beiden kommt er schlecht weg. Einmal schreibt Heine übers Geld: Die Hauptarmee der Feinde Rothschilds besteht aus allen, die nichts haben; sie denken alle: was wir nicht haben, hat Rothschild. Hinzu fließt die Masse derer, die ihr Vermögen verlieren; statt ihrer Dummheit diesen Verlust zuzuschreiben, glauben sie, die Pfiffigkeit derer, die ihr Vermögen behalten, sei daran schuld. Sowie einer kein Geld mehr hat, wird er Rothschilds Feind. 8 Ums liebe Geld geht es auch Hebbel immer wieder, vor allem, weil auch er nichts davon hat. Doch solch ein ironischer Kopf wie Heine ist Hebbel nicht. Es gibt bei ihm zuviel Tiefsinn und gedankliche Erdenschwere, und wenn der Aphorismus bei Heine die halbe Wahrheit ist, so ist er bei Hebbel eben die anderthalbfache, um mit Karl Kraus zu reden. Witzige Einfälle: höchst selten bei Hebbel, man muß mit der Lupe danach suchen. Aber dafür bei ihm die vielen kurzen Notate, in denen sich ein Stück Welterklärung versteckt, und während bei Heine der Witz manchmal etwas Unverbindliches hat, eine Bemerkung gesagt ist um der schönen Formulierung willen, hat man bei Hebbel zuweilen das Gefühl, daß die Sprache kaum ausreicht, um das zu verdeutlichen, um was es ihm geht. Heine zieht sich selbst oft zurück aus seinen Gedanken und Einfällen, um diesen Titel doch noch einmal zu gebrauchen, und heraus kommen Allgemeinheiten, denen man nicht widersprechen kann, die aber auch nicht die Überzeugungsmacht einer individuellen Einsicht haben. Dennoch sind Hebbel und Heine sich manchmal verblüffend nahe. Einmal schreibt Heine: „Jeder, wer heiratet, ist wie der Doge, der sich mit dem Adriatischen Meere vermählt – er weiß nicht, was drin, was er heiratet: Schätze, Perlen, Ungetüme, unbekannte Stürme“.9 Das sagt Hebbel anders, obschon er das Gleiche sieht. Hebbel schreibt: Jedes neue Verhältniß ist, wie ein Spiel. Man weiß nicht, ob man gewinnt, oder verliert, aber man muß den Einsatz wagen, denn sonst kann man überhaupt nicht spielen. Der Einsatz besteht darin, daß man ohne den Anderen zu kennen, seine Ansichten und Gedanken bloß geben muß. Wer klug ist – ich bin es nicht – der hält sich dabei möglichst im Allgemeinen (3014). 7 8 9 Ebd., S. 445. Ebd., S. 432. Ebd., S. 443. 290 Zu Hebbels Tagebüchern Mit Verhältnis ist nicht eine Liebesbeziehung gemeint, sondern allgemein das Eingehen auf einen anderen Menschen – bei Heine ist das wohl um des witzigen Einfalls willen reduziert auf die Heirat, sozusagen die ultimative Bindung. Aber den Transfer ins Allgemeine leistet Hebbel auch – eben das macht den Charakter des Aphorismus in diesen Jahren aus. Eines hat Hebbel Heine sicherlich voraus: Heine ist mit seinen Bemerkungen immer irgendwie „fertig“; da ist nichts vorläufig, nichts anzugreifen, nichts zu verbessern. Anders Hebbel: seine Gedanken, Einfälle und Aphorismen wirken oft wie Laboratorien, in denen er mit einem Einfall, einem Gedanken herumexperimentiert. Manches sieht fertig aus, und doch ist es ein gleichsam gerade erst herausgedachtes Ergebnis, kein endgültig formulierter Einfall wie bei Heine. Fast überall ist die Versuchsanordnung noch erkennbar in diesen Gedankenexperimenten, vieles ist bloß Hypothese, nur wenig gesicherte Erkenntnis. Denn das Unfertige, auch das Paradoxe gehört in dieses Laboratorium der Gedanken ebenso hinein wie eine kühne Hypothese. Das Auf-den-Punkt-Bringen einer Sache, eines Problems, einer Erkenntnis ist nicht Hebbels Art: daran hindern ihn vor allem die Spontaneität und das Unabgeschlossene seines Denkens. So abgeschlossen sich die kleinen Niederschriften auch geben, sie sind immer nur Partikel innerhalb seines Gedankenstromes, der in ihnen nicht zu Ende kommt, sondern der geradezu endlos weiterfließt. Was bei Hebbel freilich weitgehend fehlt, ist Sozialkritik, auch ein Mitdenken für andere – dazu ist seine Konzentration auf das eigene Ich zu groß. Hebbel empfindet sich nicht als Glied im Ganzen, sondern er ist das Ganze, er der Mittelpunkt seines Weltsystems, was nicht heißen muß, daß er blind sei für Anderes und Fremdes. Aber er bezieht es nicht auf eine soziale Weise mit ein, ist eher Vertreter einer Ich-Philosophie, die dennoch den Anspruch hat, generell zu gelten. Peter Altenberg hat einmal gesagt: „Richtige Aphorismen kommen nicht aus dem Gehirn, sondern aus dem Leben! “10 Für Hebbel gilt das nicht, das Umgekehrte ist richtiger. Hebbels Aphorismen klären etwas im einzelnen ab, bringen auf Reflexionsebene, was vielleicht ursprünglich Erfahrung oder Gefühl gewesen sein mochte, was sich aber zu einem Gedanken auskristallisiert hat. Doch Hebbel, der in seinen Aphorismen die oft vorläufigen Ergebnisprotokolle seines Denkens in Abbreviaturen vorlegt, muß zuweilen erfahren, daß es auch noch eine 10 Zitiert bei Mautner (wie Anm. 5), S. 13. Zu Hebbels Tagebüchern 291 Welt jenseits seiner Gedanken gibt: die Welt der Träume. Im Grunde genommen beunruhigen sie ihn, weil da das Irrationale sich ungehemmt Bahn bricht. Welche Botschaften bringen sie? Hebbel notiert einmal: „Der Traum ist der beste Beweis dafür, daß wir nicht so fest in unsere Haut eingeschlossen sind, als es scheint“ (3045). Der Traum mag willkürlich, subjektiv, ungeordnet oder vielleicht sogar unverständlich gewesen sein – aber er läßt erkennen, daß es jenseits der rationalen Welt eine andere gibt, die der Verstand nicht leugnen kann, über die er aber keine Macht hat. Der Traum erweitert die Grenzen des Ich, er öffnet Türen in völlig anderes – bedeutet das, daß sich im Traum das Ich nicht in seinem Überfluß erfährt, sondern eher als etwas Eingeschlossenes, Begrenztes, als Gefangener einer Bewußtseinsfestung, aus der dieses Ich zuweilen herausdrängt – in seine Träume hinein? Die große Bedeutung der Träume in seinen Tagebüchern spricht dafür, und wenn er seine Subjektivität als etwas Endliches gesehen hat, so erfuhr er immer wieder, daß Träume sie aufsprengten. Hebbel hat sie nicht geleugnet oder gar unterdrückt. Bei allem Deutungsbemühen bleibt hier für ihn ein Rest an Unerklärlichkeiten. Denn die Träume überfallen ihn mit geradezu urtümlicher Gewalt. Einmal notiert er: „Wahnsinnige, verrückte Träume, die uns selbst im Traum doch vernünftig vorkommen: die Seele setzt mit einem Alphabet, das sie noch nicht versteht, unsinnige Figuren zusammen, wie ein Kind mit den 24 Buchstaben; es ist aber gar nicht gesagt, daß dies Alphabet an und für sich unsinnig ist“ (2889). Eingemeinden in seine Gedankenwelt lassen die Träume sich nicht. Sie bleiben beunruhigend, ihnen läßt sich nicht beikommen. Liegen sie jenseits dessen, was er immer wieder umkreist, die „Wahrheit“ nämlich? Welche Art von Wahrheit enthalten die Träume, wenn sie sich schon dem Alltagsverständnis, dem gedanklichen Zugriff und der Ausdeutung so rigoros entziehen? Einmal schreibt er: „Es ist eine Sünde, heißt es, den Menschen die Wahrheit vorzuenthalten. Mag seyn“. Aber dann setzt er hinzu: „Aber es ist eine größere, es ist ein Frevel, die Wahrheit einem Individuum gegenüber, das kein Organ für sie hat, Preis zu geben“ (3049). Er weiß, die Wahrheit könnte einen erschlagen. Banaler gesagt: Nicht alles ist für alle gut. Der egalitäre Charakter des Menschen, im 18. Jahrhundert von jedem philosophischen Hinz und Kunz propagiert, hat sich verflüchtigt, Hebbel sieht die Unterschiede, weiß um das Problematische des einzelnen Fassungsvermögens, nicht nur in philosophischer Hinsicht. Aber er hat wohl auch gewußt, daß 292 Zu Hebbels Tagebüchern Träume eine andere Art von Wahrheit verkünden, die ihm letztlich nicht zugänglich ist: da ist der Wahrheitssucher an die Grenzen seiner Explikations- und Deutungskunst gekommen, auch an die Grenzen seiner Rationalität. Alles in allem: die Tagebücher Hebbels enthalten weit mehr als Tagebuchnotate, und der Titel ist dennoch gerechtfertigt, weil es in den Jahren, in denen er schrieb, einen Begriffswirrwarr gab, weil sich kein zureichender Name für diese neu ausgestaltete literarische Form finden wollte. Was sich auf den ersten Blick als Gattungsvermischung, als Durcheinander und ungeordnetes Ineinander verschiedener literarischer Gattungen darzustellen scheint, das ist in Wirklichkeit eigentlich etwas sehr Neues: ein Versuch nämlich, Individuelles, Persönliches, am Tag Erlebtes und nachts Geträumtes mit Allgemeineinsichten zu verbinden, nicht bruchlos, aber wohl mit Zusammenhang. Hebbels Tagebücher sind auch darin ein Experiment, ein Versuch, die alte diaristische Form mit Grundsätzlichkeiten zu beschweren, andererseits einer Sentenzensammlung Alltagswirklichkeit, die schreibende Persönlichkeit hinzuzufügen. Jedenfalls machen die Briefe, die literarkritischen Urteile, die Bemerkungen über Andere, die grundsätzlichen Gedanken, die Träume, die Berichte über Begegnungen, auch über Alltägliches, über religiöse Themen und Verlegersorgen in dieser einzigartigen Mischung die Tagebücher tatsächlich zu dem, als was der junge Brecht sie kennenlernte, nämlich zu einer „immer fesselnden Lektüre“. Fesselnd ist für Brecht offenbar selbst noch das gewesen, was ihn abgestoßen hat, also die Sammlermentalität hinter den zahllosen Notaten, seine Ordnungssucht, die nicht im wohlüberlegten Nacheinander seiner Niederschriften zu suchen ist, sondern in seinen Weltvorstellungen, die Chaotisches, Unordentliches, Beliebig-Zufälliges in der Welt nicht recht wahrhaben wollen. Und dann das Pflichtgefühl, wie Brecht es nennt – er fand es widerlich, aber es brachte Hebbel dazu, zu schreiben und mit der Niederschrift nicht mehr aufzuhören. Die Weltbetrachtungen im Tagebuch: sie tragen unverkennbar Hebbels Handschrift – aber was ist mit dem anderen, größeren Teil, den persönlichen Notaten, also dem, was wirklich „Tagebuch“ ist? Wo ist Hebbels Ich, wo spiegelt er sich selbst und nicht nur die Welt? Eines ist sicher: sein Diarium ist kein Siegeszug. Tagebücher sind das meistens nicht. „Auf was für einem schwachen oder gar nicht vorhandenen Boden ich lebe“, bemerkt ein anderer Diarist, Franz Kafka, und das gehört Zu Hebbels Tagebüchern 293 direkt zu Hebbels Vergleich des Menschen mit schwankenden Pendeln, die dazu bestimmt seien, „den Schwerpunct nie zu finden“.11 „Unaufhörliches Denken an mich selbst und das, was ich erfahre und tue“ – das ist auch nicht Hebbel, sondern Novalis, aber Hebbel könnte das ebenfalls gesagt haben. Aus dieser Not heraus scheint Hebbel eine Tugend zu machen, wenn er sich selbst darstellt, und er hat es auch deutlich gesagt: „Übrigens ist der Mensch mit Nothwendigkeit Egoist, denn er ist ein Punct und der Punct vertieft sich in sich selbst“. Kafka scheint in manchem aber tatsächlich so etwas wie ein geheimer Wahlverwandter zu sein, was seine Ansichten zum Tagebuch angeht. „Ich werde das Tagebuch nicht mehr verlassen. Hier muß ich mich festhalten, denn nur hier kann ich es“, schreibt Kafka,12 und auch: „Alles erscheint mir als Konstruktion. […] Ich bin unsicherer, als ich jemals war, nur die Gewalt des Lebens fühle ich.“ Das Tagebuch also quasi als Rettungsanker, als Kompaß, der den Lebenskurs stabilisiert, der den Weg in die Zukunft hinein möglich macht, und zwar durch den Blick zurück auf das Gewesene und das gelebte Leben? Dahinter steht ein tiefes Mißtrauen der Wirklichkeit gegenüber, die Unsicherheit, wie sie zu verstehen und zu begreifen sei, ja letztlich: ob es sie wirklich gebe. Natürlich gibt es sie, aber Wirklichkeit ist nicht objektiv zu erfahren, sondern nur subjektiv, die Wirklichkeit ist, wie Hebbel sagt, „durch die Subjektivität […] gespalten“. Wer Wirklichkeit und Welt so sieht, dem bleibt eigentlich nicht sehr viel mehr übrig als das Tagebuch, um dennoch mit ihr fertig zu werden. Auch Hebbel scheint sich damit zu behaupten, daß er Tagebuch schreibt – und vielleicht ist das der tiefere Anlaß für das, was er als Pflicht, als Pflicht sich selbst gegenüber empfand. Die Tagebuchschreiber: im 19. und 20. Jahrhundert kommen sie wie aus einem Stamm, notieren Vergleichbares, Ähnliches, zum Verwechseln Austauschbares. Das sind mehr als nur Familienähnlichkeiten. „Das Tagebuch von heute an festhalten! Regelmäßig schreiben!“.13 Das könnte bei Hebbel stehen, steht auch fast wörtlich so irgendwo. Vielleicht nicht das, was der Schreiber dieser Notiz hinzufügte: „Sich nicht aufgeben! Wenn auch keine Erlösung kommt, so will ich doch jeden Augenblick ihrer würdig sein“. Es ist wiederum ein Kafka-Notat, den Zitiert bei Claus Vogelgesang: Das Tagebuch, in: Prosakunst ohne Erzählen (wie Anm. 5), S. 187. Ich verdanke dem Beitrag viele Hinweise. 12 Ebd. S. 191 13 Ebd., S. 197. 11 294 Zu Hebbels Tagebüchern letzten Satz hätte Hebbel in dieser Form wohl nicht geschrieben. Aber für Hebbel gilt, was auch für Kafka gilt und was Canetti niedergeschrieben hat: das Tagebuch „hält einen wach“.14 Gewiß ist Selbstbespiegelung darin, also das, was Brecht in seiner kritischen Bemerkung Dekoration nannte und die Gefühle überinszeniert. Was die Form angeht, dieses Gemisch und diese Gemengelage aus persönlichen Berichten, welthistorischen Bemerkungen, Sentenzen und literarkritischen Verurteilungen, so gilt das, was Charles Ferdinand Ramuz an 7. Januar 1906 einmal notierte: „Vielleicht besteht das ganze Geheimnis der Kunst darin, daß sie ungeordnete Erregungen zu ordnen versteht, aber so zu ordnen, daß das Ungeordnete dadurch noch fühlbarer wird“.15 Wer Tagebuch schreibt, will etwas fixieren – wie Hebbel das gesagt hat. Manchmal schimmert die Angst vor der verfließenden Zeit hindurch – nicht nur bei Hebbel, bei allen Tagebuchschreibern. Daß das Leben chaotisch sei, ist eine Erfahrung nicht nur von Diaristen. Aber daß es dennoch Möglichkeiten gibt, es zu ordnen, es einzupassen in Zusammenhänge, die weit jenseits des Einzelnen liegen, das ist, mehr oder weniger stark, wohl die Hoffnung aller Tagebuchschreiber – die Hebbels jedenfalls gewiß. Was Brecht Überinszenierung nennt, könnte man auch als Stilisierung bezeichnen, und ob diese Stilisierung die Wirklichkeit verfälscht oder sie erst recht zum Ausdruck bringt: eine offene Frage, kein Tagebuchschreiber ist um sie herumgekommen, aber auch keiner hat sie jemals ergiebig und zureichend genug beantwortet. Hebbel bleibt ein Patient, vor allem sich selbst gegenüber, und der Arzt in ihm kann diesem Patienten in ihm nicht immer aufhelfen. Manchmal fällt die Beschreibung der Zeit mit der Charakteristik der eigenen Situation zusammen. Am 31. Dezember 1849 notiert er: Wieder ein Jahr zu Ende. Im Allgemeinen dieselbe Unsicherheit der Zustände, wie im vorigen Jahr; nirgends eine Hoffnung auf endliche Lösung des ungeheuren gesellschaftlichen Räthsels; nirgends auch nur ein ernstlicher Versuch; dagegen wieder überall die Furcht, die Krankheit bei’m rechten Namen zu nennen und die Wunden zu sondiren; überall der alte Haß gegen die Männer, die als redliche Aerzte das thun. Man lebt so hin und genießt, wie am Abend vor einer Schlacht, was sich eben bietet; selbst dem Künstler wird es schwer, sich in seiner Mongolfiére über den Dunst-Wolken zu halten. […] In mir 14 15 Ebd. Ebd., S. 196. Zu Hebbels Tagebüchern 295 selbst regt sich das Leben immer noch mächtig, so viele Steine man mir auch auf den Kopf wirft. Voilà tout! (4659). Man mißverstünde sein Tagebuch, sähe man darin auch wieder nur einen Narziß, der sich selbst bespiegelt, der auch Geschichtsereignisse nur auf sich bezieht, der eigentlich über sich spricht, wenn er über andere handelt. In vielen Eintragungen ist von der Form die Rede, und wenn auch der Formbegriff hier und da unklar bleibt, Form Lösung für ihn ist und Stoff Aufgabe, wie er einmal schreibt (1395), dann aber auch wieder Form als „der höchste Inhalt“ erscheint (1625), so ist doch sicher, daß Form das Andere ist. Manchmal sagt er dafür auch Gestalt – das hat nichts mehr mit ihm selbst zu tun, sondern ist seine Gegenwelt, ist die Herausforderung an ihn, ist sein dichterisches Problem und wohl auch sein Lebensproblem. Denn er lebt nicht in Übereinstimmung mit seiner Welt und Umwelt, aber auch nicht in Distanz zu ihr, sondern in einem Spannungsverhältnis, das immer wieder nach einem Ausgleich verlangt, den er aber nie endgültig findet. Im Tagebuch stehen Formulierungen, die das verdeutlichen, etwa: „Die Widersprüche des Poeten“ sind „die Widersprüche der Welt“ (5841). Oder 1844: „Der Mensch kann nicht mit sich allein seyn, d. h. er kann nicht leer und todt seyn, und aller Unterschied zwischen den Geistern beruht darauf, ob sie den Gegensatz in sich selbst hervor rufen können oder ihn draußen aufsuchen müssen“ (3047). Das Ich, mit sich allein gelassen, würde in absoluter Einsamkeit enden, im Nichts. So sehr im Tagebuch sich die Monologe häufen, der Verfasser der Notate steht in einem beständigen Dialog – mit sich, mit der Welt, mit anderen Schriftstellern, und er bedarf eigentlich gar nicht des wirklichen Dialogs, da er ihn im Tagebuch selbst führt: er hat aus der Not eine Tugend gemacht. Ein schwieriges Verhältnis zu sich, zur Welt. Gelegentlich hat Hebbel seinen Dialog mit sich und mit dem oder auch den anderen als Dialektik bezeichnet, etwa wenn er schreibt: „Jede Erscheinung ruft unmittelbar in und durch sich selbst ihren Gegensatz hervor.“ Oder: „Welt und Leben sind selbst dialektisch“. Hebbel lebt, das zeigen gerade die Tagebücher fast überdeutlich, in einer Spannung zwischen Ich und Welt, obwohl für ihn die Welt andererseits nur im Bewußtsein des Ich existiert oder, andersherum gesehen, das Ich nur Teil der Welt ist. Die Tagebücher sind in alledem nicht frei von Widersprüchen. Einerseits ist die Wirklichkeit also eigentlich gar nicht existent, sondern „gleißender Schein-Realismus“ (6086), andererseits stehen sich in den Tagebüchern 296 Zu Hebbels Tagebüchern immer wieder das Ich und etwas Allgemeines gegenüber – unvereinbare Positionen, eine nicht aufhebbare Spannung. Aber sie allein macht ihn produktiv, im Denken und auch als Dichter. Er entwickelt eine eigentümliche Relativitätstheorie, wenn er etwa sagt: „Die einzige Wahrheit, die das Leben mich gelehrt hat, ist die, daß der Mensch über Nichts zu einer unveränderlichen Ueberzeugung kommt und daß alle seine Urtheile Nichts, als Entschlüsse sind, Entschlüsse, die Sache so oder so anzusehen“ (3713). Wir bewegen uns im Rahmen dessen, was wir erkennen können, und kommen darüber niemals hinaus. Hebbel hat das in ein schönes Bild gebracht, als er schrieb: „So sind wir Lichter, die eigentlich nur sich selbst erleuchten“ (1692). Ein Leben in Gegensätzen, ein Denken in dialektisch aufeinander bezogenen Dualismen. Wer ist das Andere, das doch nur im Umkreis des eigenen Bewußtseins erscheinen kann? Hebbel nennt es gelegentlich den Weltgeist, das Universum, die Idee, die Materie: Stichworte in einem unendlichen Reflexionsprozeß, der diesen Dualismus nie aufheben, wohl aber immer wieder bewußt werden lassen kann. * Man hat gesagt, daß die großen Realisten des 19. Jahrhunderts allesamt in einem Spannungsverhältnis leben, daß die Spannung zwischen dem Einzelnen und einem Ganzen das Grundthema des Jahrhunderts gewesen sei, und ob es nun das widerspruchsvolle Verhältnis des Einzelnen zur Kunst ist wie bei Keller, die Beziehung des Einzelnen zu einem mythischen Ganzen wie bei Grillparzer, der Gegensatz zwischen dem Einzelnen und der Gesellschaft wie bei Fontane, die Spannung zwischen dem Möglichen und dem Wirklichen wie bei Stifter: es gibt wohl tatsächlich dieses Grundthema, und es gibt dieses Thema sicherlich auch bei Hebbel, vor allem in seinen Dramen. Da ist, um es etwas schablonenhaft zu benennen, auf der einen Seite die Unbedingtheit des eigenen Ich, der Wunsch nach Selbstverwirklichung, nach eigenem Leben, wie etwa in Agnes Bernauer, aber da ist auf der anderen Seite das Ganze, schlecht zu benennen, nicht irgend etwas partial Wichtiges, sondern letztlich etwas Gesetzliches, eine metaphysisch begründete Weltordnung, ein Unbedingtes, mit dem das Individuum mit seinem irrationalen Wunsch nach Selbstbestimmung in Konflikt gerät. Wer ist das Andere? In diesem Konflikt zwischen dem Einzelnen und einem Größeren spricht sich ein Urgegensatz aus. Von einem einfachen Dua- Zu Hebbels Tagebüchern 297 lismus kann aber dennoch nicht die Rede sein, also nicht von einem bloß spannungsvollen Gegensatz zwischen dem Ich und dem Allgemeinen, der Welt, denn da der Einzelne Teil dieser Welt ist, bedeutet das, daß der Widerspruch in das Individuum selbst hineingetragen wird: in den Tragödien entwickeln sich die Konfliktsituationen nicht nur aus dem Zusammenprall des Einzelnen mit der Welt, sondern auch in dem Sinne, daß sich im Einzelnen quasi eine Spaltung vollzieht, da er sich nicht mehr mit sich selbst völlig identisch ist insofern, als er sich zugleich als Teil des Ganzen begreifen muß. Das aber bedeutet, daß ein ausgeglichenes Verhältnis zwischen Ich und Welt unmöglich ist. Dahinter steht eine etwas verquere Theologie, die auch in den Tagebüchern immer wieder durchscheint. Es gibt über der Welt nicht ein unbezweifelbares Walten Gottes; in Gott ist der Widerspruch, der in der Welt ist, gewissermaßen eingeschlossen, und die Geschichte ist so etwas wie ein Prozeß, in dem sich nicht nur die tragische Diskrepanz zwischen dem Einzel-Ich und der Welt abzeichnet, sondern auch der Prozeß einer Entfernung Gottes von sich selbst, die eben dort deutlich wird, wo das Ich leidet. Das sind schwierige Überlegungen innerhalb der Hebbelschen Theologie, aber sie sind zum Verständnis seiner Dichtungen und letztlich auch seiner Tagebücher unabweisbar. Gott braucht gewissermaßen die Welt, so wie die Welt Gott braucht; Gott ist nicht ein deus absconditus, ein verborgener Gott, sondern er ist in der Welt anwesend. Hebbel schreibt einmal den Satz: „Gott braucht die Welt und den Schmerz des Menschen, um sich selbst vollenden zu können“. Das ist auch Theologenkritik, dahinter steckt eine Attacke auf die naive Vorstellung vom immer nur guten Gott. Fast ans Paradoxe grenzt der Satz „Gott braucht die Existenzschuld menschlicher Vereinzelung, um seines eigenen Wesens in der Gespaltenheit inne zu werden“. Von christlicher Gnade und Erlösung ist bei Hebbel keine Rede, das Einzelne, der Einzelne wird vernichtet, aber weil durch Gott derartiges, also Spaltung, Auflösung, Feindschaft und Untergang überhaupt in die Welt gekommen ist, ist gerade dieser Vorgang der Vernichtung des Einzelnen so etwas wie ein Existenzbeweis Gottes. Das ist eine paradox formulierte Theologie, aber sie legitimiert die Tragödie, die nicht mit dem Verlust der individuellen Existenz an das Ganze endet, sondern die in der Auseinandersetzung des Einzelnen mit dem Ganzen eine Notwendigkeit sieht, die die Selbstaufhebung des Einzelnen zugunsten des Allgemeinen fordert und damit das Tragische entschärft. Einfacher 298 Zu Hebbels Tagebüchern gesagt: für Hebbel entschließt sich der tragische Held bewußt und willentlich zum eigenen Untergang – und nimmt ihm damit das nur Zerstörerische. Hebbel kennt die tragische Versöhnung, die den Untergang des Einzelnen quasi legitimiert. 1843 hat er geschrieben: „Die Versöhnung im Tragischen geschieht im Interesse der Gesammtheit, nicht in dem des Einzelnen, des Helden, und es ist gar nicht nöthig, obgleich besser, daß er sich selbst ihrer bewußt wird“ (2664). Anders gesagt: Der Einzelne muß untergehen und sich opfern, damit er wieder Teil des Ganzen werden kann, dem er ursprünglich zugehörte und von dem er gewissermaßen abgespalten worden ist. Hebbel hat das einmal in ein Bild gefaßt, als er schrieb: „Das Leben ist der große Strom, die Individualitäten sind Tropfen, die tragischen aber Eisstücke, die wieder zerschmolzen werden müssen und sich, damit dies möglich sei, aneinander abreiben und zerstoßen“. Das sind Überlegungen, die der Philosophie Schopenhauers nicht sehr fern stehen, der auch seine Zweifel am Sinn des Einzelnen hatte und das Leben quasi als Gefängnis betrachtete, aus dem die Seele sich befreien müsse. Hebbel hat das Leiden des Einzelnen dadurch legitimiert, daß er es als Entfernung Gottes von sich selbst erklärte. Es ist ein theologisch nicht unproblematischer Gottesbeweis, aber es ist sein Versuch, auch noch das Leiden sinnvoll, verständlich und akzeptabel zu machen. Derartige Überlegungen stehen sicherlich nicht im Zentrum der Tagebücher, aber die Tagebücher grenzen immer wieder an sie, denn sie gehören in den Prozeß der ständigen Selbstvergewisserung, der sich durch die Tagebücher hindurchzieht. Seine philosophischen Reflexionen, seine Aphorismen sind alles andere als bloße Gedankensplitter, sie sind vielmehr, um es etwas überspitzt zu sagen, Form gewordene Philosophie. In ihnen vollzieht sich wie in seinen Tragödien ein ständiger Prozeß der Auseinandersetzung des Einzelnen mit einem Ganzen, und sie zeigen diesen Prozeß als einen nicht zu beendenden. Der Einzelne als Teil eines Ganzen und zugleich im Gegensatz, ja im Widerspruch dazu: das ist letztlich Hebbels Generalthema. Dieses hochproblematische Verhältnis des Einzelnen zu jenem Anderen und auch zu sich ist nie ausbalanciert – und so schreibt Hebbel weiter und immer weiter. Eine Versöhnung mit der Welt und mit dem Anderen ist nur eine regulative Idee: ein Ziel, das er nie erreicht, aber immer vor Augen hat. Das hat Brecht wohl auch mit seinem Hinweis auf die „beschränkte Teleologie“ bei Hebbel gemeint. Zu Hebbels Tagebüchern 299 Wer seines Zieles sicher ist, zweifelt nicht. Hebbel aber zweifelte immer, und vielleicht ist der Zweifel der eigentliche Motor des Schreibens, Zweifel an der Welt, Zweifel an der Wirklichkeit, nicht zuletzt der Zweifel an sich selbst. Die Tagebücher sind Dokumente des Zweifelns und zugleich seine Antwort auf sein ständiges Zweifeln. Hebbel zitiert häufig Lessing, den Vater des Zweifelns; und wie bei Lessing ist bei Hebbel der Zweifel zum produktiven Prinzip geworden. Eigentlich hatte er ja, wie er 1847 schrieb, sein Tagebuch nur angefangen, „bloß, um zu sehen, ob etwas dabei heraus kommt, und was“. Er hat einmal spöttisch über jemand gesagt: „Ein Mensch, der ein Tagebuch führt und manches nur deshalb tut, um manches hinein zu schreiben zu haben“. Hebbel aber hatte immer hineinzuschreiben, überreich und andauernd, aber nirgendwo hat man beim Lesen seiner Tagebücher das Gefühl, daß irgend etwas herausgekommen, vollendet, abgeschlossen, zu einem befriedigenden Ausgleich gebracht worden wäre. Hebbels Tagebücher sind vielleicht nicht das, was Canetti 1968 von Lichtenbergs Sammlung von Gedanken und Einfällen meinte, nämlich „das reichste Buch der Weltliteratur“. Aber sehr reiche Bücher sind sie sicherlich. Kein geringerer als Thomas Mann hat vom „großen Hebbel“ gesprochen, als er im Mai 1904 in dessen Tagebüchern las. VON DER FRITZ REUTER. A KT U A L I T Ä T E I N E S U N Z E I T G E M Ä S S E N . Wenn es irgendwo im 19. Jahrhundert ein zerstörtes, geknechtetes, zutiefst verunsichertes und geschundenes Leben gegeben hat, ein über viele Jahre hin völlig auswegloses Dasein, bedroht von Gefängnis und Tod, verfolgt von einer erbarmungslosen Justiz, der daran gelegen war, einen Menschen aufs gründlichste zu zerstören, bis zu einem besinnungslosen, stumpfen und dumpfen Dasein herabzuwürdigen, dann war es wohl das Schicksal Fritz Reuters. Es sieht so aus, als sei er nicht nur in eine falsche Gesellschaft, sondern auch in eine falsche Zeit hineingeboren worden. Der Vater: kein Tyrann, aber ein Patriarch mit allen Ansprüchen eines solchen; die Mutter: ein Wrack, auch wenn sie sich und ihr bedauernswertes Dasein im Rollstuhl verteidigte, so gut es eben ging; dazu anfangs eine schlichte, um nicht zu sagen: eine schlechte Schulbildung, erst mit vierzehn Jahren ein halbwegs akzeptabler Gymnasialunterricht in Friedland, doch später dann der Zwang, sich in eine Laufbahn fügen zu müssen, für die er nun wirklich nicht geeignet war, und der daraus resultierende permanente Konflikt mit dem Vater, der den Sohn anhielt, das zu werden, was er, der Vater, sich vorstellte. Reuter versuchte, sich dem zu entziehen und vermochte es nicht, er wollte sich nicht einfügen und fügte sich doch. Hier ist wohl der Grund gelegt worden für Reuters späteres Selbstverständnis, aber auch für sein Schreiben und die eigentümliche Signatur seines Schreibens. Derartige Konflikte sind eigentlich immer auch solche zeittypischer Natur, und wir wollen zunächst einen Blick werfen auf die generelle Bedeutung dieses Konfliktes. Der war, wenn man so argumentieren darf, geistesgeschichtlich schon großräumig vorbereitet worden: hatten die Väter im 18. Jahrhundert, zumindest in den ersten beiden Dritteln, noch uneingeschränktes Ansehen, so kam die neue, die Protestgesellschaft gegen die Väter, mit dem Sturm und Drang hoch: also in den siebziger Jahren des 18. Jahrhunderts. Das war Protest gegen eine patriarchalische Ordnung, die den Menschen an dem hinderte, was seit der Aufklärung eine erste Forderung war, an jenem „Bestimme dich aus dir selbst“, wie Kant das formuliert hatte und wie Schiller das dankbar als 302 Fritz Reuter größtes Wort, das je ein sterblicher Mensch gesprochen, 1793 zitiert hatte. Der junge Goethe kannte noch keinen ausdrücklichen Protest gegen die Väterwelt, der junge Schiller aber schon in seinem Kampf gegen gleich drei Väter: den leiblichen (der es freilich gut mit ihm meinte), den württembergischen Herzog, der von einer Selbstbestimmung des Menschen nichts wissen wollte, und gegen Gottvater, der immer dann schnell bemüht wurde, wenn der wirkliche Vater oder auch der Landesherr sich legitimieren wollten. Ein Drama wie Schillers Räuber scheint denn auch die erste Phase einer späteren vaterlosen Gesellschaft zu markieren − aber auffällig (und in unserem Zusammenhang von großer Bedeutung) ist, daß diese vom Vater dennoch nicht lassen kann. Denn da ist der wachsende Protest gegen ihn, aber da ist auch noch die alte Autoritätengläubigkeit mit ihrer biblisch fundamentierten Liebe zum Vater, und diese sonderbare Mischung aus Opposition und einem innerlichen Sich-Fügen, dieses double bind, wie es die Psychologen nennen würden, gab es häufig und lange. Aber vor allem gab es das auch bei Fritz Reuter in seinem mehr oder weniger stillschweigenden Aufbegehren, das aber dann doch nicht durchgehalten wurde und schließlich in Schuldbewußtsein endete. Darin spiegelte sich wohl auch noch das religiöse Gebot: „Du sollst Gott fürchten und lieben“. Dieses Ineinander von Verehrung und Kritik durchzog, wie wir wissen, noch das ganze 19. Jahrhundert bis hin zu Heinrich Manns Untertan, der seinen Erzeuger, getreu dem christlichen Gebot, zugleich fürchtet und liebt. Er erlebt Prügel dankbar noch als väterliche Zuwendung: ein Prototyp menschlichen Verhaltens in der Zeit des Wilhelminismus, eben aus Untertanenmentalität. Da war zwar der Aufstand gegen die Väter beim Jungen Deutschland, also bei Heine, bei Börne, Gutzkow, Laube, Mundt und Wienbarg einige Jahrzehnte zuvor schon geprobt, aber durch das Verbot dieser Bewegung schon 1835 niedergeschlagen worden; und auch die Vormärzgruppierungen, die Turnbewegung um Vater Jahn waren letztlich erfolglose Versuche gewesen, der Dominanz des Patriarchalischen erfolgreich entgegenzutreten. Die unheilvolle Rolle der Väter, selbst wenn sie das Beste wollten − kaum anderswo kann man das im übrigen besser studieren als an Hebbels Maria Magdalena, und wie schrecklich ein Vater wüten konnte, wenn er im Schatten der traditionellen Vaterrolle blieb, zeigt etwa auch Theodor Storm mit seiner Novelle Hans und Heinz Kirch: Vater und Sohn unversöhnlich bis zum bitteren Ende, die Geschichte einer Lebenstragödie von apokalyp- Fritz Reuter 303 tischen Ausmaßen, auch wenn alles in kleinem norddeutschen Rahmen passiert. Wenn wir sehen wollten, wie es weiter ging, brauchten wir nur zu einigen Erzählungen Kafkas zu greifen: der Vater dort nur noch als Übervater, lebensgefährlich in seiner Zuwendung zum Sohn. Natürlich war da, was Reuter anging, auch die Burschenschaft mit ihren höchst fragwürdigen Riten und wirkungslosen Revolutionswünschen, gab es zeitweise wenigstens eine saufbrüderliche Gruppenmentalität, aber es sieht doch so aus, als sei der Einfluß des Väterlichen, die Selbstverständlichkeit, mit der die patriarchalische Ordnung in den Köpfen der älteren Generation aufrechterhalten wurde, das eigentlich Zerstörerische auch für den jungen Fritz Reuter gewesen. Der Vater hält den Sohn für einen Taugenichts, aber keinen von der liebenswürdigen Art der Eichendorffschen Erzählung, sondern für einen Versager, einen Bummelanten, einen Trunkenbold und Lebensuntüchtigen. Was tat der Sohn? Er wußte, daß er geknechtet wurde, er hat den Vater in dessen letzten Lebensjahren geradezu gehaßt – und hat doch nicht gegen ihn aufbegehrt; sein Haß war Privathaß, und dabei blieb es, von einem offenen Aufstand keine Rede, der Sohn beugte sich – und damit war sein Scheitern eigentlich endgültig vorprogrammiert. Aber er tat noch mehr: er hat dem Vater schließlich verziehen, hat sein eigenes Verhalten bereut, hatte Schuldgefühle und ein schlechtes Gewissen: ein unausgetragener Konflikt, ein Sich-Fügen in die Verhältnisse, und wir fragen uns heute noch: warum? War er nicht stark genug, es mit dem Vater und der Väterwelt aufzunehmen? War er schon so zerbrochen worden, daß er alles akzeptierte, seine eigene Zerstörung eingeschlossen? Wir werden es nie endgültig wissen, wir wissen nur, daß sein Psychogramm zugleich das Psychogramm seiner Zeit war, daß er sich eigentlich nicht sehr viel anders verhalten konnte, daß die Zeit des erfolgreichen Aufbegehrens auf breiter Front, die eines erbarmungslosen Gerichts über die Väter erst später kam: als die Gründerzeit begann und als massive Kritik losbrach nicht nur an der Zeit, sondern auch an denen, die sie zu verantworten hatten, eben an den Vätern. Da ist es eigentlich kein Wunder, daß Reuter sich so verhielt, wie das viele seiner Zeit taten: dem Vater, später auch der Obrigkeit gegenüber. So kam es zur manchmal uneingestandenen, aber vielfach auch bewußten Ablehnung der väterlichen Welt, die aber paradoxerweise deren Anerkennung fast immer mit einschloß. 304 Fritz Reuter Davon befreit hat Reuter sich erst sehr spät. Soviel ist jedoch sicher: Reuters frühe Geschichte reicht mit ihren unausgeräumten Widersprüchlichkeiten weit in sein Leben und letztlich auch in sein literarisches Werk hinein. Und wenn er später davon sprach, daß er das Feld der Politik und das der Religion meiden wolle, dann ist auch das nicht nur, aber auch noch ein Reflex auf eine zerstörte Jugend. Selbst als er sich zeitweise vom Vater gelöst zu haben schien, ging es ihm nicht besser. Alkoholismus, Quartalssäuferei, tief depressive Phasen, Angst vor dem Versagen, das ewige Wollenmüssen und das ständige Nichtvollbringen-Können: schlimmer hätte es gar nicht kommen können. Da war ein mehrfach gebrochenes Selbstverständnis, da war schließlich ein Dreißigjähriger, der angehalten war, mit zehn Jahre Jüngeren gemeinsam noch einmal zu studieren, da sollte einer in die Landwirtschaft, obwohl er nichts von ihr verstand. Die Zukunft war verbaut, und zwar, so schien es, für immer. Reuter empfand das aber durchaus nicht nur als sein ganz privates Schicksal: in einem Brief an seine Braut schrieb er damals: „Diese Zeit ist für jeden denkenden Menschen verderbensschwangerer als das brausende Meer, als der tückische Vulkan“.1 Reuters Schicksal war sicherlich ein extremes, aber kein gänzlich einzigartiges. Viele haben damals die eigenen Jahre so gesehen, so schon Kleist, aber diese Sicht setzte sich fort, von Eichendorff bis Heine, von Börne bis zu Büchner: Untergänge allenthalben. Nicht nur Reuter war krank − die Zeit war es auch. Sie krankte nicht zuletzt an ihren Vätern, wie Reuter an seinem immer wieder vereitelten Aufbegehren. Wir dürfen sicher sein, daß er bereits während seiner Haftzeit einen Schuldkomplex ausgebildet hat, und wir haben jenen späten Brief vom 5. März 1862 an Pastor Lierow, in dem er bekannte: „Ich hatte schuld – wiewohl eine andere, als mir das Kammergericht in Berlin aufgebürdet hat – und mußte dafür büßen“.2 Worin bestand die Schuld? Reuter hat sich darüber nie genauer ausgelassen, aber vermutlich war es weniger eine politische Schuld als vielmehr sein Leben, das ihn hatte schuldig werden lassen; als er dreißig war, machte er eine Bestandsaufnahme von sich und schrieb: „Wat was ick? Wat wüßt ick? Wat kunn ick? −Nicks −Wat hadd ick mit de Welt tau dauhn? − Rein gor nicks. − De Welt was eh- 1 Fritz Reuter: Gesammelte Werke und Briefe, hg. von Kurt Batt, Rostock 1967, Bd. 8, S. 250 (Brief vom 10. 5. 1847). 2 Ebd., S. 394. Fritz Reuter 305 ren ollen scheiwen Gang ruhig wider gahn, ahn dat ick ehr fehlt hadd“.3 Das frühe Scheitern setzte sich fort: 1845, als er fünfunddreißig war, sah er sich erneut in schreckliche Verzweiflung gestürzt, Wahnsinn schien in ihm aufzulodern – an seinen Lehrherrn Franz Rust schrieb er zu Weihnachten: Ich weiß nicht, ob Sie sich jemals in einer Stimmung befunden haben, worin man dem Wahnsinn nahe ist − ich glaube nicht; ich weiß aber, daß ich es bin, daß mein Unheil und mein Unrecht mich in diese schreckliche Verzweiflung gestürzt haben; ich glaube an nichts mehr als an eines, und dieses kann ich nie erreichen. Körperlich unwohl, geistig krank, von Reue zerrissen, von einem Plan zu meinem Glück auf den andern übergehend und dann alle als unausführbar von mir stoßend, bin ich ein Spielball der schrecklichsten Gedanken und Befürchtungen.4 Aber er fing sich auch diesmal wieder, und dann begann, eigentlich unbegreiflich für ein solches Schicksal, sein Schreiben, und es war das Schreiben eines Außenseiters: in die hohe Literatur konnte sich das, was er zu sagen hatte, auf keinen Fall einfügen, eigentlich war er wirklich ein Unzeitgemäßer mit seinen plattdeutschen Geschichten, denn eine Mundartdichtung oder eine Tradition der Mundartdichtung gab es noch nicht. Unzeitgemäß waren auch viele andere, die im 19. Jahrhundert schrieben: Raabe so gut wie Storm, Hebbel so gut wie Büchner, die Droste so gut wie Fontane. Doch niemand schrieb aus solcher Verzweiflung heraus. Warum aber schrieb er so, wie er schrieb? Die Antwort, daß er damit Geld machen wollte, ist natürlich richtig, aber sie ist zugleich auch banal. Es lag zunächst einmal nahe, satirisch Rache zu nehmen, und die Satire ist Reuter nicht fremd: Die Feier des Geburtstages der regierenden Frau Gräfin rechnet ab, auch die Einzugsfeierlichkeit rechnet ab mit einem Adel, der ebenso verrottet wie uneinsichtig, ebenso hochmütig wie unmoralisch war. Doch seine Attacke im Hakensterz-Manuskript auf den „hochwohlgeborenen dummstolzen Junker“ und den „wohlgebornen, bürgerlichen Geldbeutel“5 geht eigentlich in Rhetorik unter. Und wir kennen ja vor allem jenen anderen Reuter, den Erzähler komischer Schnurren, in der tölpelhafte Bauern die erste Geige spielen, der das Unterhaltungsblatt für beide Mecklenburg und Pommern herausgibt und der 3 4 5 Reuter (wie Anm. 1), Bd. 4, S. 535. Reuter (wie Anm. 1), Bd. 8, S. 240f. Reuter (wie Anm. 1), Bd. 1, S. 58. 306 Fritz Reuter 1855 ein Manuskript ablehnt, weil es politisch sei, er hingegen es für notwendig hält, „in diesen Zeitläuften die Politik und die obligate Religion aus unserm Blatt zu exkludieren“.6 Reuter hat damals zwar hinzugesetzt, daß er durchaus nicht ernstlich gesonnen sei, nicht mehr auf dem sozialen Feld zu wirken und den Edelmann, den Priester, den Philister nicht mehr zu attackieren. Aber in der ersten Ausgabe seines Blattes schrieb er unmißverständlich: Der Zweck […] würde Unterhaltung sein, wie der Titel es anzeigt, und zwar Unterhaltung, die sich durchaus fern von politischen und religiösen Fragen hält, die jeden Angriff auf Personen, der über den Scherz hinausgeht und mehr den Träger als die etwaige Lächerlichkeit der Sache trifft, aus ihrem Kreise verbannt und als Hintergrund, soviel als möglich, lokale Verhältnisse benutzt.7 Hat er klein beigegeben, hat er sich wieder einmal angepaßt? Oder war die Welt der Schwänke und der humoristischen Erzählungen eine Gegenwelt zu dem, was er erlebt hatte, war sein Schreiben also ein gleichsam selbsttherapeutisches Schreiben, ein langandauernder Befreiungsschlag, um die Schatten der Vergangenheit loszuwerden? Idyllen waren auf jeden Fall unverfänglich. Sie gibt es auch bei Reuter. Hanne Nüte un de lütte Pudel: das war eine Biedermeier-Idylle, wie sie im Buche steht, da gab es „die natürliche Seite unseres Landlebens“ in großer Harmlosigkeit, und Reuter erfüllt dort alle Klischees, die sich mit der Vorstellung eines heiteren Landlebens verbinden: eine glückliche Kindheit, das Lob der Heimat, das Symbol der Eiche, „muntere Szenen aus dem Tierleben“, wie er schrieb, „die lustige Vogelwelt“, und am Schluß, wie könnte es anders sein, „die Vereinigung der Liebenden“.8 Die Liebe wird selbst noch von den Tieren beschützt: und wenn man dazu noch die Illustrationen sieht, dann weiß man: das ist Biedermeier in seiner damals beliebtesten und zugleich fragwürdigsten Form. Die Idylle war bei Reuter, war in seiner Zeit sicherlich eine Möglichkeit, sich in der Welt konfrontationslos einzurichten; sie bildete sich gerade im mittleren und späteren 19. Jahrhundert sehr viel stärker aus als etwa in der Zeit des Jungen Deutschland, also der Jahre der Börne und Heine und ihrer jüngeren Gefolgsleute. Idyllen sind gewissermaßen Reuter (wie Anm. 1), Bd. 8, S. 296. Unterhaltungsblatt für beide Mecklenburg und Pommern, Nr. 1, Neubrandenburg, 1. April 1855, S. 1 (zitiert bei Kurt Batt: Fritz Reuter. Leben und Werk, Rostock 1974, S. 173). 8 Reuter (wie Anm. 1), Bd. 8, S. 353 (Brief vom 25. 1. 1860). 6 7 Fritz Reuter 307 Sehnsuchtsprogramme des 19. Jahrhunderts, und niemand von den großen Autoren dieses Jahrhunderts ist ganz frei vom Idyllischen: Fontane so wenig wie Raabe, Keller so wenig wie Stifter, Fontane so wenig wie C. F. Meyer. Aber wir wissen nur zu gut: die Idylle ist sehr häufig bloß Oberfläche, darunter brodelt es, lodert ein geradezu vulkanisches Feuer. Man muß etwa nur Raabes Horacker-Geschichte lesen, um diesen Vulkanismus durch die idyllische Kruste hindurchzuspüren: da kommen die Verunsicherungen des gutbürgerlichen 19. Jahrhunderts hoch, da wird die Krise der bürgerlichen Gesellschaft sichtbar; gerade in der scheinbaren Idyllik großer Romanautoren scheint sich zu bewahrheiten, daß das 19. Jahrhundert ein permanentes Revolutionsjahrhundert gewesen ist, wie Jacob Burckhardt das einmal nach dem deutsch-französischen Krieg von 1870/71 als Einleitung in eine Vorlesung über das Zeitalter der Französischen Revolution gesagt hat; „im Grunde lauter Revolutionszeitalter“, so hat er seine eigene Epoche bezeichnet.9 Nach der Französischen Revolution, nach der Revolution von 1830 war es um die alte Ordnung geschehen. Und soziale Sprengkraft war zur Genüge vorhanden. Reuter hat auch ihr Worte gegeben. Er schreibt Kein Hüsung, jenes Drama in Versform, das so etwas wie eine Abrechnung mit seinem eigenen Schicksal war, ein Befreiungsschlag, ein gnadenloses InsGericht-Gehen mit einer Gesellschaft, die unmenschlich war. Es ist nahezu unbegreiflich, daß kein geringerer als Friedrich Hebbel dieses große Gedicht eine „Idylle“ genannt hat und sogar kritisierte, daß Reuter sich damit auf das Gebiet der Tragödie begeben habe – zu seinem Nachteil, meinte er überdies, denn damit habe er alle Harmonie zerstört. Sollte sich ausgerechnet bei Hebbel dahinter noch die alte Vorstellung finden, daß es in der Dichtung harmonisch zugehen müsse, in der Idylle allemal? Und das vor allem dort, wo es ums Landleben ging? Ja, so etwas gab es auch bei Reuter, es war wohl sein Tribut an die Zeit, Reuter konnte eben auch so schreiben. Aber der andere Reuter lebt in seiner Schilderung zweier zerstörter Leben in Kein Hüsung, und es ist schwer begreiflich, daß man auch später noch dieses Versepos unter die „realistische Idylle“ gerechnet hat,10 denn da ist schlechthin nichts IdylJacob Burckhardt: Historische Fragmente, Sonderausgabe, S. 200; zitiert bei: Theodor Schieder: Das Problem der Revolution im 19. Jahrhundert, in: Historische Zeitschrift, Bd. 170, 1950, S. 233-271, hier S. 233. 10 So Renate Böschenstein: Idylle, Stuttgart 1967, S. 69. 9 308 Fritz Reuter lisches, und wir sehen plötzlich: die alten gattungstypischen Klischees wollen nicht greifen. Kurt Batt, gewiß einer der besten, wenn auch nicht unumstrittenen Kenner, hat Kein Hüsung andererseits in die Nähe der Volksballade mit ihren Schauereffekten rücken wollen, und seine Begründung: „fraglos weisen die Formelhaftigkeit der Sprache, die Sinnfälligkeit der Kontraste und die zu Typen gleichermaßen überhöhten wie reduzierten Figuren auf die Volksballade zurück“.11 Aber das ist eine ebenso fragwürdige Verwandtschaft, wie es die mit der Idylle ist. Reuters auch heute noch bewegendes Versepos gehört eigentlich ganz woanders hin, nämlich in den Bereich des sozialen Romans und der sozialen Novelle in Deutschland, wie sie sich in den vierziger und fünfziger Jahren in Deutschland ausbreiteten. Diese soziale Literatur war damals der Obrigkeit zwar unbequem, aber durchaus populär; und wir wollen nur einige Namen und Titel nennen, um zu zeigen, daß Reuters „Versroman“, wenn man Kein Hüsung einmal auch so bezeichnen will, hier seine literarischen Geschwister hatte und in der Nähe der Idylle oder der Volksballade nichts zu suchen hat. Carl Arnold Schloenbach etwa hat 1848 zwölf Erzählungen mit dem unverfänglichen Titel Das deutsche Bauernbuch oder: so lebt das Volk. Dorfgeschichten herausgegeben: Frühnaturalismus, was die verheerenden sozialen Umstände angeht, Wirklichkeitsreportagen. Vier dieser zwölf Erzählungen befassen sich mit Frauenschicksalen. Neben Reuters Kein Hüsung sind ebenfalls Gottfried und Johanna Kinkels Erzählungen zu stellen, vor allem Gottfried Kinkels Die Heimatlosen (1849). Luise Otto schrieb Ein Bauernsohn. Eine Erzählung für das Volk aus der neuesten Zeit (1849); und in die unmittelbare Nähe gehören auch von Fanny Lewald Kein Haus, eine Dorfgeschichte von 1853 und Ernst Dronke mit dessen Polizeigeschichten von 1846, darunter besonders Vom heimatlosen Vaterland und Polizeiliche Ehescheidung, und zu dieser sozialen Literatur rechnet ebenfalls Jodocus Donatus Hubert Temme mit seiner Erzählung Die schwarze Mare, eine litauische Dienstmagd, 1854, und mit den fünf Bänden Die Verbrecher, 1855; Robert Prutz beschreibt die Zustände unter der Landbevölkerung in seinem dreibändigen Roman Oberndorf, 1862. Das kennt heute fast niemand mehr. Es ist eine andere, entschieden ungemütlichere Literatur als die der leichten Dorfgeschichten, die das Leben auf dem Lande dem Publikum in fröhlicher Lesart präsentierten. 11 Fritz Reuters Werke in drei Bänden. Ausgewählt und eingeleitet von Kurt Batt, Berlin/Weimar 1981, Bd. 1, S. XXV. Fritz Reuter 309 Die damals so zahlreich geschriebenen sozialen Romane und Novellen beleuchten die Schattenseiten des Landlebens, und in diesen Kontext gehört Reuters Kein Hüsung. Es war der Beitrag eines poetisch Unzeitgemäßen, gemessen an den alten, vielfach noch klassischen Standards der Dichtung, aber eben das macht, nicht nur von heute her gesehen, seine Aktualität aus. Man hat gesagt, daß Reuter mit seiner Gesellschaftskritik weit hinter der Radikalität eines Heinrich Heine oder Ludwig Börne zurückgeblieben sei,12 doch uns will das heute eher gegenteilig erscheinen: die größere Radikalität ist bei Reuter, das gemütliche Holpern seiner Verse darf darüber nicht hinwegtäuschen. Man kann sich allenfalls fragen, ob das Ende von Kein Hüsung nicht schließlich doch eine gewisse „Harmonie“ in dieses Bild hineinträgt, da die Zukunft bringen soll, was die Vergangenheit nicht bringen konnte: das „Fri sall hei sin!“ ist ein Wechsel auf eine bessere Zeit, die versöhnlich erscheinen läßt, was eigentlich im tiefsten unversöhnlich ist. Der Schluß gibt Wasser auf die Mühlen derer, die bei Reuter die Wendung von der „Sozialkritik zur harmlosen Unterhaltungsliteratur“ sehen13 − wie auch in seinen Polterabendgeschichten und in De Reis’ nah Bellingen, eine Verserzählung, die zwar noch satirisch angelegt ist, aber den zeitgeschichtlichen Kontext meidet und sich auf komische Situationen zu beschränken scheint. Aber was blieb damals anderes als die Hoffnung auf eine freundlichere Zukunft? Reuters wesentlicher Beitrag zur Literatur des 19. Jahrhunderts waren nicht die humorigen Schnurren und Idyllen. Er hat das Chaotische dieses Jahrhunderts, das sich nach außen hin so bürgerlich und ordentlich gab, am eigenen Leibe erfahren müssen, und er hat es beschrieben in seinem Gefangenenbuch Ut mine Festungstid, aber auch in Ut mine Stromtid und in Ut de Franzosentid. Man könnte zwar meinen, daß auch hier eigentümliche Verdrängungsprozesse stattgefunden haben: denn da war zum Freundlich-Komischen geworden, was eigentlich grauenhafte Lebenserfahrung gewesen war, und das unterlief nicht nur so, sondern war durchaus Absicht; die Arbeit an Ut mine Festungstid wurde begonnen, so Reuter selbst, mit dem festen Willen, „die abscheuliche Festungszeit ins Humoristische zu übersetzen“.14 War das So Michael Töteberg in seiner verdienstvollen Darstellung: Fritz Reuter, Reinbek bei Hamburg 1978, S. 68. 13 Ebd., S. 84. 14 Reuter (wie Anm. 1), Bd. 8, S. 384 (Brief vom 8. 11. 1861). 12 310 Fritz Reuter Schönfärberei? Jedenfalls war es eine von vornherein gewollte, denn eine Vorstufe der Festungstid ist schon 1855 unter dem Titel Eine heitere Episode aus einer traurigen Zeit im Unterhaltungsblatt erschienen.15 Es gab freilich daneben genug, was Reuter ausblendete, weil es sich dem Humor so völlig entzog: so finden wir nichts über die Untersuchungshaft in Berlin und nichts über die Festung Silberberg mit ihren schikanösen Verhältnissen, beschrieben ist nur etwa die Hälfte der sieben Festungsjahre. Und Ut de Franzosentid: das liest sich wie eine absurd-komische Groteske, Reuter nutzt alle Tricks der Komödie, sogar die der Commedia dell’arte, Sprachkomik mischt sich mit Verwechslungsszenen, und am Ende ist alles, alles gut. Wirklich? „Kein Mensch kann mir nun verdenken, daß ich beim Erzählen einer lustigen Geschichte keine Lust habe, grauliche Geschichten einzumengen“, sagt Reuter, und darum erzählt er so gut wie nichts über die Hinrichtung des französischen Chasseurs. Doch als dessen blutiger Leib auf dem Sande lag, habe „wohl keiner daran gedacht, daß die Kugeln weit hinten in Frankreich ein Herz viel grausamer getroffen haben als sein eigenes − ich meine das Herz seiner alten Mutter“.16 Und da zucken wir plötzlich zusammen und wissen, daß die treuherzige Biedermeier-Geschichte einen unheimlichen, verstörenden Boden hat. Das Weltall des Humors hat einen tiefen, unüberbrückbaren Riß bekommen. * Warum der Humor? Wie ist er zu verstehen? Man kann ihn wohl nicht einfach abtun mit der Raabeschen Formel vom „Heiteren Darüberstehn“, auch nicht mit Fontanes Plaudereien vergleichen, die selbst schlimme Lebenserfahrungen in Beredbares, in durch die Sprache zu Bewältigendes umformen. Es ist – vielleicht – eine Form des literarischen Protestes. Einen offenen Protest gibt es bei ihm nicht; das mag Vgl. Töteberg (wie Anm. 12), S. 141. Ut de Franzosentid. Hochdeutsche Ausgabe, Leipzig 1933, S. 191, in: Fritz Reuter: Gezeiten des Lebens. Autobiographische Romane. Aus der Franzosenzeit, Meine Vaterstadt Stavenhagen, Aus meiner Festungszeit, Drei Aufsatzentwürfe aus der Zeit um 1848. Hochdeutsche Übertragung von Friedrich und Barbara Minssen, mit Erläuterungen und einem Nachwort [München 1980], S. 122 [Kap. 17, Das Affenjäckchen]. Ursprünglich: „[…] un as sin bläudig Liw up de Sand lagg, hett woll keiner doran dacht, dat de Kugeln wid hinnen in Frankrik vel harter in en Hart flogen as in sin eigen − ick mein in sin olle Moder ehr.“ Reuters Werke […] neubearbeitet und ergänzt von Wilhelm Seelmann und Heinrich Brömse […] 3. Bd., Leipzig [1936], S. 166. 15 16 Fritz Reuter 311 letztlich ein Reflex auf seine frühe doppeldeutige, eigentümlich widerspruchsvolle Haltung der Väterwelt gegenüber sein. Es ist wiederum ein Sich-Fügen, aber dieses Mal ist es eines der Überlegenheit. Das Leben, das Reuter durchlitten hatte, war alles andere als so gewesen, daß es Anlaß zum Humor hätte geben können. Hat er verdrängt, was da über ihn hereingebrochen war? Wohl kaum, dazu waren die Erfahrungen zu grauenhaft gewesen, aber mir scheint, sein humoristisches Schreiben ist Widerstand, überlegener Widerstand gegen die deplorablen Verhältnisse dieser Welt, und es ist auch ein Stück Freiheit, sich die eigene Welt, die erzählte nämlich, so zurechtzubiegen, daß sie mit eben jenem Maß an Ausgeglichenheit, Heiterkeit, humoriger Harmonie ausgestattet ist, das der wirklichen Welt so sehr fehlt. Sein Weg geht, wenn man so will, von der Satire in den Humor: es ist auch der Weg zu einer Überwindung der Widerwärtigkeiten des realen Lebens mit Hilfe der Komik, ist darin Kritik des Lebens und zugleich sehr viel mehr. Und wenn sich Idyllisches einschleicht, dann ist es nicht die Idylle als Schönfärberei, sondern ist als eine subtile Form der Lebenskritik zu verstehen. Bei Raabe glimmt unter der beschaulichen Oberfläche fast immer so etwas wie eine eruptive Gewalt, Reuter aber hat die Schrecken des Daseins, von denen er wahrlich genug mitbekommen hatte, in seiner Kunstwelt neutralisiert, überspielt, verwandelt in etwas, das man als innere Freiheit bezeichnen könnte. Daß das andere, das Leben der geplagten Pächter, der gebeutelten Inspektoren und der von Amts wegen zu Heimatlosen Erklärten, das der Parias der bürgerlichen Gesellschaft durchaus existiert, das merkt jeder Leser. Es gibt die Welt der Herren und die der Knechte; Herr und Knecht war ja der ursprüngliche Titel von Kein Hüsung. Aber es sind gerade die kleinen Leute, die Lebenszuversicht behalten haben, es ist die Provinz, in der sich Humanität etablieren kann. Manchmal nimmt die Kritik sogar die Form des Närrischen an; wieder und wieder wird das an Onkel Bräsig sichtbar, jener komisch-tragischen Figur, in der die Zeitkritik am deutlichsten zum Humor geworden ist, in der der Humor aber zugleich am sichtbarsten Gesellschaftskritik ist, auch wenn er − doch das liegt in der Eigenart des Humors − alles relativiert. Humor ist das Gegenteil von Fanatismus, aber er ist ebenfalls die Einsicht, daß das Ich alles andere als eine Allmacht ist; Humor enthält auch das Eingeständnis der eigenen Unzulänglichkeit, aber gerade mit der Einsicht in die eigene Schwäche wird diese zu einer Position der Stärke. Reuter liefert im großen Bereich des sozialen Romans und 312 Fritz Reuter der sozialen Novelle die humoristische Variation; Humor und Sozialkritik schließen sich nicht aus, der Humor ist vielleicht die überlegenste Form der Sozialkritik, die vor allem die späten Werke Reuters durchzieht. Und wir finden in diesen Werken auch etwas, was später dann in der Literatur des deutschen Naturalismus, besonders bei Gerhart Hauptmann, zum zentralen Thema wird: Mitgefühl, Mitleid. „Für wen nimmt der Poet Partei?“ fragt Reuter einmal. „Für die Konquistadores oder für die Inkas? Die Poesie fällt stets mit dem rein menschlichen Erbarmen für den Unterliegenden zusammen, sie steht auf der Seite des Hektor gegen den Sieger Achilleus“.17 Angesichts der weithin deplorablen Lebensverhältnisse war der Humor Reuters eigentlich unzeitgemäß, humorvolle Sozialkritik gab es nirgendwo sonst, Raabe vielleicht ausgenommen. Aber so konnte die Wirklichkeit vielleicht am besten gemeistert werden. * Ist Fritz Reuter mit Läuschen un Rimels, mehr noch mit De Reis’ nah Belligen aber nicht doch ein Unterhaltungsschriftsteller gewesen, der denn auch als solcher, mehr oder weniger nur als solcher einen so großen literarischen und buchhändlerischen Erfolg hatte? War er darin ein Zeitgemäßer? Ja, wohl auch, auch ein wenig. Die erste Fassung der Reis’ nah Belligen war ein plattdeutsches Gedicht mit dem Titel Hans Dumm, der kluge Bauer, 1847 in Raabes Jahrbuch erschienen − eine komische Reiseerzählung und nicht mehr, unterhaltsam, aber belanglos? Dazu ist allerdings zu sagen: Unterhaltungsliteratur muß nichts literarisch Verwerfliches sein, alle gute Literatur ist immer auch Unterhaltung: von Homers Odyssee bis zu Grimmelshausens Simplicissimus oder Grass’ Blechtrommel. Aber das Unzeitgemäße, das eigentlich Moderne ist ganz woanders zu finden − in seiner „Poetik“, wenn man das einmal so nennen darf, also in seiner literarischen Formgebung, die so vieles auf den Kopf stellte, was erst im 20. Jahrhundert wieder auf die Füße kam. Bezeichnend ist schon, daß man Reuters Kein Hüsung, wie wir gesehen haben, nicht recht zu fassen vermochte: Ist es eine Idylle? Ist es eine Ballade? Ist es beides oder keines von beidem? Wie immer die Antwort auch sein wird: sie ist letztlich beliebig. Viel wichtiger ist, daß sich da Auflösungen alter Formen abzeichnen, traditionelle Vorstellungen lok17 S. 473. Zitiert bei Fritz Martini: Deutsche Literatur im bürgerlichen Realismus, Stuttgart 1962, Fritz Reuter 313 kern; vieles in seinem Werk gehört Zwischengattungen an. Auffällig ist zudem, daß er auch den Leser miteinbezog und ansprach. Das hatten vor ihm gelegentlich zwar auch schon andere getan, Wieland so gut wie Laurence Sterne; Jean Paul gehörte ebenfalls zu denjenigen, die so die alte geschlossene Form des Romans durchbrachen. Aber bedeutsamer als dieses (und wir wollen gleich hinzusetzen: zukunftsträchtiger) ist die Auflösung der Handlung in eine lockere Reihung von Geschehnissen − die eigentliche erzählerische Einheit Reuters ist die Episode,18 die Vorstellung vom Roman als einem in sich geschlossenen Werk muß man beiseitelegen. Ein buntes Kaleidoskop tut sich auf, und so wie sein Werk im Thematischen irgendwo zwischen Idylle (diese freilich nicht im landläufig-harmlosen Sinne verstanden) und Sozialkritik beheimatet ist, so ist sein Erzählen zwischen dem Typus aneinandergereihter Abenteuer und der Darstellung vor allem von Figuren angesiedelt: Menschen sind die eigentlichen Zentren seiner Romane und Verserzählungen und nicht Handlungen, und Reuter ist ihr Souverän. Eine geschlossene Form im Sinne eines Ganzen gibt es so gut wie nirgendwo mehr, sie würde der Heterogenität der Welt nicht mehr entsprechen. Und weil dem so ist, verstehen wir auch die starke Dialogisierung seiner Romane. Was immer geschieht, geschieht quasi im Gespräch, die Grenzen zwischen Drama und Erzählung sind überall durchlöchert, seine Romane sind, wenn man so will, Gesprächsromane, seine Domäne ist das Kolloquiale, was freilich nicht besagen soll, daß da nicht auch noch ein traditionelles Erzählen zu finden wäre. Aber für Reuter ist das Dialogische viel charakteristischer. Es kommt überall darauf an, was besprochen und wie gesprochen wird. Im Gespräch sind die einzelnen sozialen Schichten anwesend, da werden die Beziehungen zwischen ihnen zu Geschichten, da erscheinen höchst unterschiedliche Zeitgenossen mit ihren Stärken und in ihren Schwächen, da sind die Besitzenden und da sind die Habenichtse − sie treten gegeneinander an, und hier und da zeichnet sich eine mögliche Konfrontation ab. Aber sie schlagen nicht aufeinander los: die Welt der Kunst ist nicht die Welt sozialer Auseinandersetzungen. Die Welt bleibt widerspruchsvoll, aber 18 Zum Episoden-Stil des Reuterschen Erzählens schon Martini: Bürgerlicher Realismus, S. 470 und ausführlich Gerhard Schmidt-Henkel: Zwei Kapitel Fritz Reuter: Episodisches und bildhaftes Erzählen. Niederdeutsche Literatur zwischen bürgerlicher Idylle und Leidensgeschichte, in: Germanistische Streifzüge, Festschrift für Gustav Korlén, hg. von Gert Mellbourn u. a., Stockholm 1974 [= Acta Universitatis Stockholmiensis 16], S. 222-237. 314 Fritz Reuter die Kunst relativiert, und vieles ist eigentlich nur in doppelter, manchmal sogar in vielfacher Optik zu betrachten. Das war nicht Reuters ausdrückliches Programm einer literarischen Modernität, aber es will uns heute so scheinen, als sei er auch darin einer ihrer Vorreiter gewesen. Denn was die doppelte Optik angeht: da war nicht nur Nietzsche, da war auch Reuter ein Lehrer desjenigen, der dieses Erzählen später aufs virtuoseste praktiziert hat: Thomas Mann. Aber nicht einmal der hat zu einer Formulierung gefunden wie Onkel Bräsig, der die doppelte Optik selbst sprachlicher Wendungen unnachahmlich auf seine Art kommentiert, wenn er zu Fremd- und Lehnworten sagt: „Mit die ausländschen Wörter ist das was besonders, der eine benennt sie so, der andere so“. Onkel Bräsig weiß freilich um das Kuriose seines Sprachgebarens, und Reuter sagt über ihn: „Bräsig wüßt recht gaud, dat hei allerlei dummes Tüg mit de Frömdwürd’ anrichten ded“.19 Die ältere Literatur hat Reuter festgelegt auf das „GenrehaftZuständliche, Idyllisch-Komische“, auf seine „witzigen Pointen“ − da habe seine Begabung gelegen, „nicht im Erfinden von Fabel und Handlung“20 − dabei „intime Lebensnähe und unliterarische Volkstümlichkeit, die sich am Einfältigen freute und mit ihm spielte“.21 Und was Reuter dem „Eigenstil der Sprache“ hinzugefügt habe, das seien „Stimmung, Humor, das Idyllisch-Behagliche, der Witz der Situationsund Sprachpointen“ gewesen, sei „schließlich die humane Grundstimmung, die ein Maß zwischen Ernst und Scherz, Rührung und Witz, Humor und Traurigem, Derbheit und Zartem, Drastischem und Lyrischem hielt“.22 Das mag nicht ganz falsch sein, aber darum ist es noch lange nicht richtig: denn da wird Reuter wieder eingemauert in die Idyllen-Welt, in die Behaglichkeit des 19. Jahrhunderts, ins Biedermeierliche. Und wir lesen mit einigem Unbehagen, daß seine „Naivität, die sich mittels der Mundart abschirmte, auch eine sehr deutliche Grenze, eine Verengung im Provinziellen oder Subjektiven, im nur Sentimentalen oder nur Humorigen“ bedeutet habe.23 Doch da sehen wir heute schärfer hin. Reuter war in politicis gewiß kein Revolutionär, aber befreit man ihn vom Zuckerguß einer wohlwollenden, harmonisierenden Deu19 20 21 22 23 Reuter (wie Anm. 1), Bd. 5, S. 316. Martini (wie Anm. 18), S. 470. Ebd., S. 471. Ebd., S. 475. Ebd., S. 473. Fritz Reuter 315 tung, kommt durchaus Revolutionäres, tief Beunruhigendes, Verrätseltes zutage, oder sagen wir vielleicht besser: etwas außerordentlich Modernes. Von Naivität kann keine Rede sein. Auch literarisch ist er ein stiller, aber hartnäckiger Revolutionär: da hat er kühn alte Grenzen niedergerissen, überalterte, lebensunwahr gewordene Aussageformen aufgesprengt − ganz unpathetisch, aber um so glaubwürdiger. Und mit Langzeitwirkung. Sich selbst hat Reuter in kleinerem Format gesehen, er schrieb zu Ut mine Stromtid: Ich bin kein Dichter, der Epoche macht, kein genialer Mann, der Einfluß auf die Fortbildung der deutschen Literatur ausübt; mein ganzes Geheimnis besteht in dem Glück, den Ton getroffen zu haben, der unten und oben, beim Volk und bei den Gebildeten, zugleich anklingt.24 Da hat er sich aber doch gründlich unterschätzt. Kein geringerer als Thomas Mann hat ihn genannt, wenn von Einflüssen die Rede war: er hat zu den Buddenbrooks gesagt: „Der deutsche Einfluß ist wunderlich zusammengesetzt: aus dem niederdeutsch-humoristischen und dem episch-musikalischen Element, − er kam von Fritz Reuter und Richard Wagner“.25 Die Mutter, so berichtet er aus seiner Kindheit, habe aus Reuters Erzählungen vorgelesen, „und mit unendlichem Vergnügen folgte ich den Kapiteln des ersten Romans, der sich, breit und humoristisch, vor meinem inneren Auge aufbaute: der ‚Stromtid‘. Die ‚Buddenbrooks‘ lassen, glaube ich, merken, daß ich damals gut zugehört habe“.26 Zu den Buddenbrooks hat er später noch einmal bekräftigend bemerkt, daß deren Quellen und Ingredienzien nicht allein Schopenhauer und Wagner, der französische, russische und englische Roman gewesen seien, „sondern nicht zuletzt der niederdeutsche Humor, der sich ausdrückt in dem Werk Fritz Reuters, einem der ersten literarischen Eindrücke, der mir überhaupt zuteil wurde und der in diesem Buch sehr stark nachwirkt“.27 Und man darf vermuten, daß es noch mehr Reuter im Werk seines Bruders Heinrich gibt: von den plattdeutschen Redewendungen im Professor Unrat bis zur Dialogisierung des Erzählens, stärker noch und durchgängiger als bei Thomas Mann. DarReuter (wie Anm. 1), Bd. 8, S. 403 (Brief vom 31. 10. 1862). Thomas Mann: Gesammelte Werke in dreizehn Bänden, Frankfurt am Main 1974, Bd. XII, S. 89. 26 Thomas Mann (wie Anm. 25), Bd. XI, S. 421. 27 Ebd., S. 803. 24 25 316 Fritz Reuter über hat sich noch niemand hergemacht, aber es wäre eine Untersuchung wert. So wie es sich wohl auch lohnen würde, nach inneren Beziehungen Reuters zum großen Analysten der Wirklichkeit im 19. Jahrhundert, zu Schopenhauer, zu fragen. Thomas Mann hat Fritz Reuter noch verschiedentlich erwähnt, vor allem Ut mine Stromtid, aber eine ganz besondere kleine Huldigung findet sich in einer Erzählung Thomas Manns, in Herr und Hund. Thomas Manns Hund heißt Bauschan, und Bauschan begegnet uns in Ut mine Stromtid als Hund Jochen Nüßlers. Gäbe es eine schönere kleine Hommage als diese Namensnennung? „Transliterarizität“ pflegt man das heute ebenso modern wie großspurig zu nennen. Aber es ist nur und vor allem eine versteckt-offene Reverenz eines großen deutschen Erzählers, der auch Humorist war, vor einem großen Humoristen, der auch ein Erzähler war, ein Erzähler aus Mecklenburg. V E RZ E I CH N I S DER E R S T V E R Ö F F E N T LI CH U N G E N Goethe, Faust und die Aufklärung. Zur Klärung einiger zentraler Begriffe, in: Translation as cultural Praxis. Goethe Society of India, Yearbook 2007, S. 156-182. Marschländer vor Sandgebirge? Zu Fausts letzter Vision. In: Hermenautik − Hermeneutik. Literarische und geisteswissenschaftliche Beiträge zu Ehren von Peter Horst Neumann. Hg. von Holger Helbig u. a., Würzburg 1996, S. 85-93. Der Dichter als Kunstrichter. Zu Schillers Rezensionsstrategie. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 20, 1976, S. 192-216. Denken in Bildern. Zu Schillers philosophischem Stil. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 30, 1986, S. 218-250. Schiller. Die Dämonie der Natur und die Kehrseite des aufgeklärten Denkens. In: Schillers Natur. Leben, Denken und literarisches Schaffen. Hg. von Georg Braungart und Bernhard Greiner [= Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft. Sonderheft 6], Hamburg 2005, S. 177189. Schiller und Kleist. In: Aurora. Jahrbuch der Eichendorff-Gesellschaft 50, 1990, S. 127-143. Ein Menschheitstraum ausgeträumt. Kleists „Das Erdbeben in Chili“ und das Ende der Aufklärung. In: Festschrift für Hans Vilmar Geppert. Hg. von Werner Frick, Fabian Lampart und Bernadette Malinowski, Tübingen 2006, S. 141-154. Kleists „schneller Stil“. Zur Modernität seines Schreibens. In: Grenzgänge. Studien zur Literatur der Moderne. Festschrift für Hans-Jörg Knobloch. Hg. von Helmut Koopmann und Manfred Misch, Paderborn 2002, S. 39-57. 318 Verzeichnis der Erstveröffentlichungen Heines verkannte ‚Aphorismen‘ und ‚Fragmente‘. Literarische Fehlurteile und Überlegungen zu deren Revision. In: Heine-Jahrbuch 1981, S. 90-107. Heines ‚Millennium‘ und Eichendorffs ‚Alte schöne Zeit‘. Zur Utopie im frühen 19. Jahrhundert. In: Aurora. Jahrbuch der EichendorffGesellschaft 37, 1977, S. 33-50. Eichendorff und die Aufklärung. In: Aurora. Jahrbuch der EichendorffGesellschaft 48, 1988, S. 27-42. Konstruierte Wirklichkeiten. Zu Eichendorffs Lyrik. In: Aurora. Jahrbuch der Eichendorff-Gesellschaft 70/71, 2010/2011, S. 35-54. „ … immer fesselnde Lektüre, wenn auch viel Dekoration und die Gefühle überinszeniert“. Zu Hebbels Tagebüchern. In: Hebbel-Jahrbuch 2003, S. 91-112. Fritz Reuter. Von der Aktualität eines Unzeitgemäßen. In: Fritz Reuter − in seiner und in unserer Zeit. Hg. im Auftrag der Fritz Reuter Gesellschaft von Christian Bunners, Ulf Bichel und Jürgen Grote, Rostock 2011, S. 20-34. * Die Aufsätze folgen den hier angegebenen Erstdrucken; Zitate wurden auf neuere maßgebende Ausgaben umzitiert, Fehler wurden verbessert.