Vorwort 9 Goethe, Faust und die Aufklärung. Zur Klärung einiger

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Vorwort 9 Goethe, Faust und die Aufklärung. Zur Klärung einiger
I N HA LT
Vorwort
9
Goethe, Faust und die Aufklärung. Zur Klärung einiger
zentraler Begriffe
13
Marschländer vor Sandgebirge? Zu Fausts letzter Vision
37
Der Dichter als Kunstrichter. Zu Schillers Rezensionsstrategie
47
Denken in Bildern. Zu Schillers philosophischem Stil
67
Schiller: Die Dämonie der Natur und die Kehrseite des
aufgeklärten Denkens
105
Schiller und Kleist
121
Ein Menschheitstraum ausgeträumt.
Kleists Das Erdbeben in Chili und das Ende der Aufklärung
145
Kleists „schneller Stil“ Zur Modernität seines Schreibens
165
Heines verkannte „Aphorismen“ und „Fragmente“.
Literarische Fehlurteile und Überlegungen zu deren Revision
187
Heines ‚Millennium‘ und Eichendorffs ‚alte schöne Zeit‘
205
Eichendorff und die Aufklärung
231
Konstruierte Wirklichkeiten. Zu Eichendorffs Lyrik
253
„…immer fesselnde Lektüre, wenn auch viel Dekoration
und die Gefühle überinszeniert.“ Zu Hebbels Tagebüchern
279
Fritz Reuter. Von der Aktualität eines Unzeitgemäßen
301
Verzeichnis der Erstveröffentlichungen
317
Seit mehr als fünfzig Jahren, seitdem der gerade 28jährige seinen ersten
Aufsatz über die „Kategorie des Hermetischen“ im Zauberberg geschrieben hatte, gehören die Arbeiten Helmut Koopmanns zu den gewichtigsten Beiträgen der neueren deutschen Literaturwissenschaft. Es bedarf dazu nicht der Berufung auf die längst nicht mehr überschaubare
Zahl, auf die imposante Breite ihrer Themenfelder oder auf die Weitläufigkeit ihrer Erscheinungsorte rund um den Globus – die Erlesenheit
ihres sprachlichen Wohllauts und die unbestechliche Genauigkeit des
aufklärerischen Blicks sichern ihnen einen Ehrenplatz in der Überlieferung. Ist gerade die Thomas Mann-Forschung ohne die Arbeiten Helmut Koopmanns nicht denkbar, – immer wieder wird seine Stimme als
Autorität gehört und zitiert –, so sind andererseits die Horizonte seiner
Arbeit so wenig absehbar wie die Reichhaltigkeit der Perspektiven, die
von der Philosophie und der Rhetorik über die Geschichte bis in die
Naturwissenschaft und Medizin reichen. Es gibt kaum ein Feld der
Literatur nach der Aufklärung, in dem er nicht seine bahnenden Spuren
gezogen hätte. Gelehrsamkeit ohne jede Schwerfälligkeit, eine Leichtigkeit, die souverän große Bögen zu spannen vermag, und eine Eleganz
der Sprache, der man sich nicht entziehen kann – zahllose Leser und
Hörer haben die Texte von Helmut Koopmann schätzen gelernt.
So war es für diesmal, aus Anlaß eines Geburtstages, der Wunsch des
Augsburger Lehrstuhls, den Jubilar, nach nunmehr zwei ehrenvollen
Festgaben aus fremder Feder, selbst um die dauerhaften Gaben aus
dem eigenen Bestand zu bitten, um in einem würdigen Band die besten
seiner Aufsätze dem wiederholten Lesen zur Verfügung zu stellen.
Helmut Koopmann, der den Augsburger Lehrstuhl für Neuere deutsche Literaturwissenschaft 27 Jahre lang innegehabt hat, entsprach der
Bitte und hat die schwere Auswahl getroffen, gar die Artikel selbst redigiert, so daß die Ehrung nicht ohne Dank ausfällt, ein Dank, der dann
nicht weniger den Verleger, den Reihenherausgeber, den guten Geist
der Korrekturleserin und Helmut Koopmanns Sekretärin umfaßt.
Möge daher die Leserin, möge der Leser durch die Wieder- oder
Erstbegegnung mit diesen Kabinettstücken einer souverän verfahrenden Literaturwissenschaft erfahren, daß in diesem Buch der eigentlich
zu Beschenkende selbst der Schenkende ist.
Mathias Mayer
V O RW O R T
Die in diesem Band versammelten Aufsätze sind über nahezu vierzig
Jahre hin entstanden. Was sie verbindet, ist das Nachfragen: ein Ungenügen an Feststellungen, die andere getroffen haben. Ist Goethe wirklich ein Aufklärer gewesen, dokumentiert sich das aufgeklärte Denken
Goethes in Fausts Vision eines Gemeinwesens, wie man gesagt hat?
Oder wird nicht vielmehr die Aufklärung bei Goethe diskreditiert, wird
in Faust nicht gerade der Zweifel an der Aufklärung manifest? Und was
hat es mit Fausts grandioser Schluß-Vision wirklich auf sich, als er am
Ende das Geklirre der Spaten hört und meint, daß da am Rande des
Gebirges ein Deich gebaut werde – lag die Gegend im Lande Nirgendwo, waren ostpreußische oder Bremer Unternehmungen Vorbilder,
oder war „Erfahrung“ im eigentlichen Sinne mit im Spiel? Schiller hat
man verübelt, daß er als Kritiker erbarmungslos über seine dichtenden
Zeitgenossen, vor allem über Bürgers Gedichte, hergefallen war – aber
was steht im Hintergrund seiner literarischen Todesurteile? Und stimmt
es, was die bedeutende englische Germanistin Elizabeth M. Wilkinson
über Schiller sagte: daß seine poetischen Bilder allenfalls illustrative
Funktion hätten, niemals originell seien, nicht immer glücklich gewählt
und selten aussagekräftig? Wie war es im übrigen um Schillers Naturverständnis bestellt? Die freundliche Idylle seines Spazierganges wird
abgelöst durch Bilder einer chaotischen, zerstörerischen Natur – verabschiedet sich da die Aufklärung mit ihrer Vorstellung von „Naturzweckmäßigkeit“?
Mehr noch. Vor einer Generation galten Schiller und Kleist als Gegensätze, wie es sie deutlicher nicht hätte geben können: da sei „Wesensfremdheit“ zu konstatieren. Stimmt das? Zwar hat Kleist zuweilen
eine Erzählung einem Schillerschen Drama geradezu entgegengeschrieben, hat Untergangsvorstellungen, wie sie sich seit seinem Wallenstein
finden, ganz bewußt korrigiert. Doch die Zahl der Gemeinsamkeiten ist
groß. War Kleist noch das, was Schiller am Ende nicht mehr war, nämlich ein Aufklärer? Er hat den um sich greifenden Subjektivismus, hat
private Glückseligkeit auf Kosten anderer in seiner Erzählung vom
Erdbeben in Chili erbarmungslos angeprangert. Aber ist sein Schreibstil
10
Vorwort
andererseits nicht außerordentlich modern, hat sich das Phänomen der
Beschleunigung, um 1800 so auffällig geworden, bei ihm nicht bis in
seine literarische Sprache niedergeschlagen?
Auf Nachfrage ist auch anderes als Vorurteil zu revidieren. Dazu gehört die Annahme, daß Heines kleine Texte, seine sogenannte Gedanken
und Einfälle allenfalls als „Vorstufen“ größerer Texte oder als Paralipomena zu bewerten seien. Aber sind sie nicht vielmehr aufklärerische
Instrumente, Aphorismen in bester europäischer Tradition – und zugleich schon Dokumente einer neuen Icherfahrung?
Mit Heine und Eichendorff ist das 19. Jahrhundert unübersehbar auf
den Plan getreten. Sind die beiden Zeitgenossen Antipoden, wie man
oft gemeint hat, oder verbindet sie nicht vielmehr ein utopisches Denken, wenn bei Heine vom „Millennium“ und bei Eichendorff von der
„alten schönen Zeit“ die Rede ist, im Doppelsinn des Wortes „einst“?
Eichendorff gilt gemeinhin als entschiedener Feind der Aufklärung –
aber bedient nicht gerade er sich aufklärerischer Mittel wie der moralischen Erzählung und des Einsatzes von Bildern als Möglichkeiten einer
allegorischen Verdeutlichung? Zeigen sich nicht bei ihm wie bei Kleist
und Heine „Spiegelungen, Verwerfungen und Verlängerungen aufklärerischen Denkens nach der Aufklärung“ (Mathias Mayer)? Eben ihnen
gelten in diesem Band einige Arbeiten. Andererseits ist gerade Eichendorffs scheinbar so erzromantische Lyrik zeichenhafte Weltkonstruktion, hat Züge des seriellen Kunstwerks, wirkt symbolistisch – er selbst
ein ortloser Dichter, in der „Fremde“ lebend, in einer Moderne, die nur
noch in Fragmenten darzustellen ist. Wie sollen wir ihn lesen?
Das spätere 18. Jahrhundert als Epoche der endenden Aufklärung,
die aber auch noch im 19. ihre Verteidiger gefunden hat – das 19. Jahrhundert als das Jahrhundert großer Einzelner mit ihren auffälligen Verschrobenheiten. Aber spiegelt sich in Hebbels Tagebüchern nur eine in
sich eingekerkerte narzißtische Existenz, oder zeugen diese nicht vielmehr (auch) vom Grundwiderspruch des späteren 19. Jahrhunderts, das
den Einzelnen als Teil des Ganzen sah und diesen zugleich im Gegensatz dazu? Und war Fritz Reuter wirklich nur ein Idyllen-Dichter mit
einer Begabung für „witzige Pointen“, wie man gesagt hat, seine Literatur verengt zum Provinziellen hin? War nicht vielmehr auch er Vorreiter einer Moderne, der eine widerspruchsvolle Welt in doppelter,
manchmal sogar in vielfacher Optik betrachtete? Dem wird hier nachgefragt.
Vorwort
11
„Ich muß doch auch ein wenig darüber nachdenken. Nur Schade,
daß ich nicht nachdenken kann, ohne mit der Feder in der Hand! Zwar
was Schade! Ich denke nur zu meiner eigenen Belehrung. Befriedigen
mich meine Gedanken am Ende: so zerreiße ich das Papier. Befriedigen
sie mich nicht, so lasse ich es drucken“, schrieb Lessing einmal. Das
möchte der Verfasser dieser Arbeiten auch gerne von seinen Essays
gesagt haben. Sie muß man, wie sich versteht, aber ebenfalls Nachfragen aussetzen. Eben daraus lebt Literaturwissenschaft. Oder, um noch
einmal Lessing zu zitieren: „Schreibt man denn nur darum, um immer
Recht zu haben? Ich meine mich um die Wahrheit eben so verdient
gemacht zu haben, wenn ich sie verfehle, mein Fehler aber die Ursache
ist, daß sie ein anderer entdeckt, als wenn ich sie selbst entdecke.“
Ich habe sehr zu danken:
Mathias Mayer, ohne den es dieses Buch nicht gäbe;
Gisela Barth, ohne die alles nur Plan geblieben wäre;
Eckhard Heftrich, der das Buch in seine Reihe Das Abendland. Forschungen zum europäischen Geistesleben aufgenommen hat;
Vittorio Klostermann, in dessen Verlag das Buch erscheinen darf.
Helmut Koopmann
GOETHE, FAUST
UND DIE
A U FK LÄ RU N G
Zur Klärung einiger zentraler Begriffe
Sucht man in dem Registerband der vierzigbändigen Jubiläumsausgabe
der Werke Goethes, die jahrzehntelang die einzige kommentierte Ausgabe der Goetheschen Werke war, nach dem Stichwort „Aufklärung“,
sucht man vergeblich: der Begriff fehlt.1 Das besagt zunächst einmal,
daß es dezidierte Äußerungen Goethes zu diesem wichtigsten Phänomen seines Jahrhunderts offenbar nicht gibt. Das ist mehr als auffällig.
Sollte Goethe sich nicht zusammenhängend über die Aufklärung geäußert haben, obwohl sie in seiner Zeit ihren Höhepunkt erreichte? Er hat
es nicht, und will man dennoch etwas über Goethes Verhältnis zur
Aufklärung erfahren, ist man zunächst auf Nebenpfade angewiesen.
Was sagt er etwa zu Kant? Auch hier sind die Hinweise spärlich. Wir
kennen den ironisch-spöttischen Ton der Gedichte, wenn Goethe sich
Kantische Grundanschauungen anverwandelt, um sich anschließend
darüber lustig zu machen. „Raum und Zeit, ich empfind es, sind bloße
Formen des Denkens“, heißt es im Xenien-Komplex.2 Aber diese Kantische Binsenwahrheit wird sofort parodistisch beiseite geschoben, wenn
das Distichon fortfährt mit: „Da das Eckchen mit dir, Liebchen, unendlich mir scheint“ (I/1, S. 562). Goethes Spott traf auch die Kantianer. Unter den Sachen so gestohlen worden (mit dem Zusatz: Immanuel
Kant spricht) findet sich ein boshaftes Xenion: „Sechzig Begriffe wurden mir neulich diebisch entwendet,/ Leicht sind sie kenntlich, es steht
sauber mein I. K. darauf“ (I/1, S. 545). Spott auch über die Vernunftgläubigen im Distichon Übertreibung und Einseitigkeit: „Daß der Deutsche
doch alles zu einem Äußersten treibet,/ Für Natur und Vernunft selbst,
für die nüchterne schwärmt!“ (I/1, S. 601). Aber die spöttische Distanz
ist nicht alles. Wenn Goethe in den Maximen und Reflexionen über Kunst
feststellt: „Wer gegenwärtig über Kunst schreiben oder gar streiten will,
Goethes Sämtliche Werke. Jubiläums-Ausgabe in 40 Bänden, Stuttgart/Berlin o. J.
Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. 40 Bde.,
hg. von Friedmar Apel u. a., Frankfurt am Main 1987ff. (= FA). Im Folgenden Abteilungs-, Band- und Seitenzahl im Text.
1
2
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Goethe, Faust und die Aufkärung
der sollte einige Ahndung haben von dem, was die Philosophie in unsern Tagen geleistet hat und zu leisten fortfährt“ (I/13, S. 387), so enthält diese Bemerkung deutlich genug eine achtungsvolle Anerkennung
der philosophischen Leistungen seiner Zeit. Er hat zustimmend, wenn
auch sehr allgemein von der durch Kant begonnenen „großen philosophischen Bewegung“ gesprochen und „daß kein Gelehrter ungestraft“
diese „von sich abgewiesen, sich ihr widersetzt, sie verachtet habe“
(I/19, S. 202), und ähnlich hat er sich im Gespräch mit Eckermann am
11. 4. 1827 geäußert (II/2, S. 243).
Alles in allem jedoch sind Goethes Äußerungen spärlich, weit entfernt von offener Zustimmung, und im übrigen stammen die wichtigsten Aussagen über seine Beziehung zu Kant aus der Spätzeit, sind also
nicht unmittelbare Reflexe auf die Begegnung mit Kant in den frühen
neunziger Jahren. Viel über Kant aber findet sich auch in den Schriften
und Äußerungen der zwanziger Jahre nicht. Daß dem so ist, liegt nicht
zuletzt an Goethes schwierigem, gespaltenem Verhältnis zur Philosophie überhaupt. Nichts ist entwaffnender als der erste Satz einer kleinen
Schrift Einwirkung der neueren Philosophie von 1820: „Für Philosophie im
eigentlichen Sinne hatte ich kein Organ, nur die fortdauernde Gegenwirkung womit ich der eindringenden Welt zu widerstehen und sie mir
anzueignen genötigt war, mußte mich auf eine Methode führen, durch
die ich die Meinungen der Philosophen, eben auch als wären es Gegenstände, zu fassen und mich daran auszubilden suchte“ (I/24, S. 442).
Aus dieser Einstellung heraus wird denn auch nachträglich Kants Kritik
der reinen Vernunft erwähnt. Goethes Kommentar: „sie lag aber völlig
außerhalb meines Kreises“ (ebd., S. 443). Immerhin: eine Theorie habe
ihn angelächelt, bekennt Goethe, aber ihm fiel in diesem Fall die Zustimmung nicht schwer; denn er sei, so sagt er, in seinem Denken ähnlich verfahren, „synthetisch und dann wieder analytisch“, und so habe
sich ihm der Eingang ins Labyrinth jener „Kritik“ aufgetan – in dieses
selbst aber habe er sich nicht wagen können, und die Begründung zeigt
deutlich, woran das lag: „bald hinderte mich die Dichtungsgabe, bald
der Menschenverstand und ich fühlte mich nirgend gebessert“ (ebd.,
S. 443). Kants Kritik der Urteilskraft bekam zwar etwas mehr Zustimmung; Goethe schreibt sogar von einer „höchst frohen Lebensepoche“,
die er dieser Kritik verdanke (ebd., S. 444). Aber zu lernen war auch da
nicht viel. Noch schlechter erging es ihm mit den Kantianern, denen er
sich zeitweise wenigstens wohl anzunähern versuchte. Das Ergebnis
Goethe, Faust und die Aufkärung
15
war mager: „sie hörten mich wohl, konnten mir aber nichts erwidern,
noch irgend förderlich sein“ (ebd., S. 443). Eine wirkliche Wahlverwandtschaft zeichnete sich nicht ab; und am Ende war es nur eine Bestätigung eigener Gedanken, die Goethe in den Kantischen Schriften
fand, zumal er Kunst und Natur hier vereinigt zu finden meinte. Im
Grunde genommen aber war Goethe nie bereit gewesen, sich auf die
Kantische Philosophie einzulassen, und so fand er sich schnell von
Kant bestätigt, ohne ihn ernsthaft studiert oder gar verstanden zu haben. Hier und da finden sich zwar Spuren einer Auseinandersetzung
mit dem Philosophen gerade dort, wo dessen Name nicht fällt. Der
Forschung ist schon früh aufgefallen, daß die große Rede Wilhelm
Meisters über den Sternenhimmel, an den Astronomen gerichtet, in
auffälliger Nähe zu Kants Betrachtungen über den Sternenhimmel am
Schluß der Kritik der praktischen Vernunft steht (I/10, S. 384f.). Dennoch
wäre es irrig, von dieser offenbar zustimmenden Paraphrase Kantischer
Ideen auf eine generell wohlwollende Aufnahme der Kritiken, hier
insbesondere der Kritik der Urteilskraft schließen zu wollen. In seinen
spärlichen theoretischen Äußerungen zu Kant findet sich letztlich nur
wenig Zustimmendes: zum Sittengesetz, zur Identität von Natur und
Kunst, zum Organismusbegriff. Von der Kantischen Selbstbestimmungsidee hielt Goethe offenbar nicht allzuviel.
Alles in allem wird man sagen dürfen, daß Goethes Verhältnis zur
Aufklärung zurückhaltend und gelegentlich sogar nicht frei war von
grundsätzlicher Kritik. Niemand wird heute ernsthaft behaupten, was in
den Weimarer Beiträgen 1963 zu lesen war: „Die Aufklärung, in manchen
Zügen auch die philosophische Revolution in Deutschland, hat in Goethe ihre höchste Stufe und Vollendung erreicht“.3 Man könnte meinen,
daß es sich bei diesem Trompetenstoß um eine Siegesmeldung aus der
früheren DDR gehandelt habe, der auf westlicher Seite nichts entsprochen habe. Aber auch 1990 konnte man lesen:
Aufklärerisches Denken ist bei Goethe fast auf jeder Seite seines Werks mit
Händen zu greifen. Selbst einem Leser, der vom Denken des 18. Jahrhunderts
nur eine schemenhafte Vorstellung hätte und mit dem Begriff der Aufklärung
3
Helmut Holtzhauer: Aufklärung, Kunst und „Faust“. Der Übergang vom ersten zum
zweiten Teil der Tragödie, in: Weimarer Beiträge 9, 1961, H. 1 und 2, S. 275-294, hier S. 293.
16
Goethe, Faust und die Aufkärung
nicht mehr als die populär gewordene Religions- und Gesellschaftskritik zu
verbinden möchte, müßte das eigentlich jederzeit in die Augen springen. 4
Der Verfasser dieser Studie betont ausdrücklich, daß Goethe zeit seines
Lebens „ein entschiedener Verfechter der aufklärerischen ‚Gefühlsethik‘ gewesen“ sei,5 und stellt rigoros fest: „Goethes literarische Arbeit
wurzelt im aufklärerischen Denken des 18. Jahrhunderts und hat dieses
ihr Fundament nie verlassen“.6 Und flankierend:
Ebensowenig wie beim jungen Goethe kann beim klassischen von einem Abrücken von der Aufklärung und ihren westlichen Protagonisten die Rede sein,
wie es die ältere Literarhistorie gleich aus zwei Gründen, dem Antikeerlebnis
der Italienischen Reise und der Erfahrung der Französischen Revolution,
eintreten und in jene Kunstdoktrin einmünden sieht, in der sich die Vorstellung von der Autonomie der Kunst mit einem klassizistischen Stil- und Formideal sowie dem Programm einer ästhetischen Bildung verbinden soll.7
Auf die verwunderte Frage, wie es nun dazu habe kommen können,
„daß ein Autor, in dessen Werk sich das Aufklärerische fast auf jeder
Seite mit Händen greifen läßt, in den Augen der Nachgeborenen zu
einem Gegner, ja zu einem Überwinder der Aufklärung schlechthin
geworden ist“,8 hat der Verfasser als Antwort nur anzubieten, daß der
nationale Gedanke des 19. Jahrhunderts das Bild vom Aufklärer derart
geschwärzt habe, daß am Ende ein Gegenaufklärer darin zu erkennen
gewesen sei. Zum Beleg für die These, daß aufklärerisches Denken bei
Goethe auf jeder Seite zu greifen ist, nennt der Autor auch Goethes
Faust, und Beweismittel ist die Vorstellung Fausts, „auf freiem Grund
mit freiem Volk zu stehen“, also Fausts Vision eines Gemeinwesens, in
dem der monarchische Wille vom „Gemeindrang“, der volonté générale ersetzt worden sei; der Entwicklungsgang Fausts zeige, daß „Freiheit“ und „Gleichheit“ das „Recht der Menschen“ sei, „das allen gemein ist“: in diesen Vorstellungen dokumentiere sich das aufgeklärte
Denken Goethes wie sonst nirgendwo.
Erstaunlich, daß solche Äußerungen noch 1990 getan wurden, daß
man nicht sah, wie stark Goethe bestimmte Fehlleistungen und Fehl4
Gottfried Willems: Goethe – ein „Überwinder der Aufklärung“? Thesen zur Revision des
Klassik-Bildes, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift NF 40, 1990, S. 22-40, hier S. 23.
5
Ebd., S. 31.
6
Ebd.
7
Ebd., S. 33f.
8
Ebd., S. 24f.
Goethe, Faust und die Aufkärung
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entwicklungen der Aufklärung kritisiert hat. Fünf Jahre zuvor hatte ein
Historiker geschrieben:
Goethe hat die Wörter ‚Aufklärung‘, ‚aufklären‘, ‚aufgeklärt‘ selten gebraucht.
Vermutlich auch deshalb, weil die Aufklärer sie ständig als Schlag- und Programmwörter verwendeten und ihrer Zeit als Markenzeichen anhefteten. Diese
Inanspruchnahme des Zeitgeistes, die pathetische Sinngebung auch trivialen
Tuns als ‚Aufklärung‘ war ihm zuwider. Mit ihrem selbstverliehenen anspruchsvollen Namen, mit der räsonierenden Geschäftigkeit und dem intoleranten Nützlichkeits- und Beglückungseifer ihrer Adepten hat die Aufklärung
selber Widerspruch und Spott herausgefordert und mit ihrem Programm allgemeiner Kritik unvermeidlich die kritische Frage nach ihren Ergebnissen
provoziert. Nicht nur Goethe hat von ‚sogenannter Aufklärung‘ gesprochen. 9
Von einer ungebrochenen Zustimmung zur Aufklärung kann man in
der Tat nicht reden – freilich auch nicht nur von ironischer Kritik. Auf
jeden Fall wird man sagen dürfen, daß Goethes Verhältnis zur Aufklärung problematisch war, jedenfalls alles andere als von ungehemmter
Zustimmung, und es ist Goethes Faust, in dem sich das Problematische
dieses Verhältnisses so deutlich abzeichnet, daß auch von daher gesehen jener Satz „Aufklärerisches Denken ist bei Goethe fast auf jeder
Seite seines Werks mit Händen zu greifen“ höchst fragwürdig ist. Das
gilt um so mehr, als man schon vorher mit Recht festgestellt hatte:
„Welchen Einfluß die Aufklärung auf Goethes Lebensweg und Bildungsgang gehabt hat, läßt sich im einzelnen kaum mit Sicherheit ausmachen“.10 Wir wollen versuchen, die Frage nach dem Verhältnis Goethes zur Aufklärung noch einmal zu stellen, wollen uns dabei aber auf
Goethes Faust beschränken, genauer: auf die Anfänge des Dramas, in
denen eine bestimmte Form der Aufklärung einer fast schrankenlosen
Kritik unterworfen wird – auch wenn gelegentlich gesagt worden ist,
daß es „eine explizite Auseinandersetzung mit der Aufklärung“ bei
Goethe nicht gegeben habe.11
Zu sagen, daß aufklärerisches Denken bei Goethe fast auf jeder Seite
seines Werkes mit Händen zu greifen sei,12 ist übertrieben; zu behaup9
Rudolf Vierhaus: Goethe und die Aufklärung, in: Allerhand Goethe. Seine wissenschaftliche Sendung aus Anlaß des 150. Todestages und des 50. Namenstages der Johann Wolfgang-GoetheUniversität in Frankfurt am Main, Frankfurt am Main 1985, S. 11-29, hier S. 22f.
10 Ebd., S. 16.
11 So Rudolf Vierhaus in seinem grundsätzlichen Artikel über Aufklärung, in: Goethe-Handbuch, Bd. 4/1, Stuttgart/Weimar 1998, S. 85-88, hier S. 88.
12 Willems (wie Anm. 4), S. 23.
18
Goethe, Faust und die Aufkärung
ten, daß Goethes literarische Arbeit im aufklärerischen Denken des 18.
Jahrhunderts verwurzelt sei und daß er dieses ihr Fundament nie verlassen habe,13 ist schlechterdings falsch. Goethes Aufklärungsbedenken
treten schon im „Prolog im Himmel“ deutlich genug zutage. Es ist
Mephistopheles, der das aus der Sicht der Aufklärer einzigartige Wunderwerk der Schöpfung, den Menschen, nicht in seiner Gloriole, sondern in seiner Beschränktheit sieht:
Der kleine Gott der Welt bleibt stets von gleichem Schlag,
Und ist so wunderlich als wie am ersten Tag.
Ein wenig besser würd’ er leben,
Hätt’st du ihm nicht den Schein des Himmelslichts gegeben;
Er nennt’s Vernunft und braucht’s allein,
Nur tierischer als jedes Tier zu sein. (V. 281ff.)
Die Formulierung vom „kleinen Gott der Welt“ ist offensichtlich aus
Leibniz’ Théodicée entnommen, nach dessen „un petit Dieu“.14 Aber hier
ist daraus nicht nur eine sarkastische Kritik an der Krone der Schöpfung geworden, Goethe scheint überhaupt Bezug zu nehmen auf die
aufklärerische Anthropologie. Vermutlich steht hinter diesen Zeilen
jedoch auch ein Zitat aus Albrecht von Hallers Gedicht Gedanken über
Vernunft, Aberglauben und Unglauben, wo nicht nur vom Menschen als
„Mittel-Ding von Engel und von Vieh“ die Rede ist, sondern wo auch
der Satz steht: „Du prahlst mit der Vernunft und Du gebrauchst sie
nie“.15 Der Satz des Mephistopheles scheint eine nur zu deutliche Replik, eine wörtliche Anspielung auf jene Zeile aus Hallers Gedicht „Er
nennt’s Vernunft und braucht’s allein“ (V. 285) zu sein. Aber mehr als
das: Mephistopheles kehrt die alte Rangordnung des Menschen, wie sie
uns in Hallers Gedicht begegnet, einfach um, indem er den Menschen
als noch tierischer als jedes Tier bezeichnet; und er kehrt damit eine
Rangordnung um, die sich sogar schon bei Pascal findet, bei dem es
heißt: „L’homme n’est ni ange ni bête et le malheur veut que qui veut
Ebd., S. 31.
Leibniz: Essais de Théodicée 2, Paragraph 147. Vgl. den neuesten Kommentar zu
Goethes Faust von Albrecht Schöne: Johann Wolfgang Goethe. Faust. Kommentare, Frankfurt
am Main 1994, S. 169.
15 V. 17.
13
14
Goethe, Faust und die Aufkärung
19
faire l’ange fait la bête“:16 der Mensch ist weder Engel noch Tier, und
das Dumme ist, daß der, der den Engel spielen will, zum Tier wird.
Die Aufklärungskritik ist nicht zu überhören. Wenn Mephistopheles
die Vernunft als „Schein des Himmelslichts“ deutet, so ist damit die
menschliche Vernunft zwar als Abbild der göttlichen beschrieben. Aber
ihr hoher Rang wird durch den Vernunftgebrauch verletzt: die Aufklärung hat die Vernunft, die göttlichen Ursprungs ist, geradezu mißhandelt.
Ein wenig deutet sich in diesen Versen aus dem „Prolog im Himmel“ also schon an, was uns auch der Anfang des Faust bestätigen wird:
von einer aufgeklärten, aufklärerischen Grundhaltung kann nicht die
Rede sein, dafür aber um so mehr von Zweifel und Skepsis an dem,
was sich als Aufklärung im 18. Jahrhundert ausgegeben hat. Es geht bei
alledem nicht um Einzelheiten. Wenn schon im „Prolog im Himmel“
die aufklärerische Selbstüberschätzung als falscher Gebrauch der Vernunft angeprangert wird, so sind, mit anderen Worten, nicht die Möglichkeiten, sondern die Grenzen der Vernunft aufgezeigt; es ist Aufklärungsskepsis, die sich hier breitmacht.
Sie findet sich auch noch an einer anderen Stelle des „Prologs im
Himmel“, in dem sprichwörtlich gewordenen „Es irrt der Mensch so
lang’ er strebt“ (V. 317). Ein Faust-Kommentar macht aus dem temporalen Bezug einen kausalen: der Mensch irrt, weil er strebt. So erscheint
„Irren“ geradezu als zwangsläufige Folge allen Strebens; das läuft aber
auf eine Verfälschung eines an sich so unproblematischen wie eindeutigen Textes hinaus, denn der besagt nur, daß der Mensch aus seinem
Irrtum nicht herauskommen werde. Anders gesagt: das Irren, der Irrtum ist dem Menschen nicht nur ein- und aufgegeben, er vermag dem
Irrtum auch nie und nimmer zu entfliehen. „Streben“ hat hier offensichtlich keinen besonderen Nebensinn, heißt einfach, daß der Mensch
lebt, tätig ist. Eigentlich geht es nicht um eine allgemeine Lebensweisheit, sondern um die Widerlegung eines aufklärerischen Glaubenssatzes: daß der Irrtum produktiv sein könne, zur Erkenntnis zu führen
vermöge. Für das aufklärerische Denken war der Irrtum gleichsam nur
ein Stolperstein auf dem Wege zur Wahrheit, an deren Erkenntnismöglichkeit kein Aufklärer zweifelte. Dem „Irren“ ist in diesem Satz aber
nicht die geringste Erkenntnisqualität zugesprochen. Bei Lessing las
16 Pensées sect. VI 358. Schöne verweist auf die Bibel (1. Mose 2, 9ff.) und auf Herders Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit (S. 169f.).
20
Goethe, Faust und die Aufkärung
sich das noch anders: Irren und Fehler waren durchaus Erkenntnisinstrumente. „Schreibt man denn nur darum, um immer Recht zu haben?
Ich meine mich um die Wahrheit eben so verdient gemacht zu haben,
wenn ich sie verfehle, mein Fehler aber die Ursache ist, daß sie ein anderer entdeckt, als wenn ich sie selbst entdecke“, schrieb Lessing.17 Bei
ihm ist die Wahrheit nicht unmittelbar zugänglich, Wahrheit ist, wie
man gesagt hat, „für ihn ein prozessuales Phänomen“.18 Aber niemals
und nirgendwo bei Lessing ein Zweifel, daß die Wahrheit sich vielleicht
auf ewig verhülle oder eben nicht ans Licht kommen könne; „Streben“
ist bei ihm identisch mit einem steten Sich-Annähern an die Wahrheit.
Bei Goethe wird das hingegen schlechterdings geleugnet, ist Wahrheit
als Ziel menschlichen Strebens nicht vorgesehen. Diesmal ist es nicht
Mephistopheles, der so spricht, sondern „der Herr“; und so etwas wie
der „Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“19 wird hier gar nicht erst erwogen. Der Mensch bleibt im Irrtum,
nicht, weil er strebt, sondern obwohl er strebt. Irrtum gehört zur conditio
humana, nicht die Befreiung daraus – das alles lehrt der „Prolog im
Himmel“, und das läßt bereits Goethes kritische Haltung einer optimistischen, zukunftsgläubigen Aufklärung gegenüber erkennen. Kurz
zuvor klang es bei Goethe zwar noch freundlicher; 1796 schrieb er in
einem Xenion: „Irrtum verläßt uns nie; doch ziehet ein höher Bedürfnis/ Immer den strebenden Geist leise zur Wahrheit hinan“ (I/2,
S. 243). Um 1800, als der „Prolog im Himmel“ entstand, war jedoch
von der leisen Bewegung zur Wahrheit keine Rede mehr. Aber auch
schon 1796 war es nicht die Vernunft, sondern „ein höher Bedürfnis“,
also eine im Menschen liegende sub- bzw. suprarationale Kraft, die den
Weg zur Wahrheit bahnte. Der Irrtum war offenbar der Vernunft vorbehalten. Vier Jahre später liest man, daß bei aller Vernünftelei am Ende immer und überall nur der Irrtum herrsche.
Das ist nicht nur ein Prolog im Himmel, es ist auch ein Prolog zum
Verständnis des Folgenden, eine Einführung in den Geist des Dramas,
genauer: in ein Stück, das mit so viel Vorbehalten gegen die Aufklärung,
Werke […], hg. von Herbert G. Göpfert, München 1970-1979, Bd. 6, S. 379.
Hans-Georg Werner: Der Streit und die Toleranz bei Lessing, in: Formen und Formgeschichte des Streitens. Der Literaturstreit, hg. von Franz Josef Worstbrock, Helmut Koopmann, Tübingen 1986, S. 155 […] [= Akten des VII. Internationalen GermanistenKongresses, Göttingen 1985, Bd. 2].
19 Immanuel Kant: Werke in sechs Bänden, hg. von Wilhelm Weischedel, Bd. VI,
Darmstadt 1964, S. 53.
17
18
Goethe, Faust und die Aufkärung
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gegen die Rationalität ausgestattet ist. Die erste Szene ist mit „Nacht“
überschrieben, und der Anfang lautet:
Habe nun, ach! Philosophie,
Juristerei und Medizin,
Und leider auch Theologie!
Durchaus studiert, mit heißem Bemühn.
Da steh’ ich nun, ich armer Tor!
Und bin so klug als wie zuvor;
Heiße Magister, heiße Doktor gar,
Und ziehe schon an die zehen Jahr,
Herauf, herab und quer und krumm,
Meine Schüler an der Nase herum –
Und sehe, daß wir nichts wissen können! (V. 354ff.)
Faust-Kommentare neigen dazu, den Anfang des Dramas – und nur mit
ihm wollen wir uns beschäftigen – entweder als existentielle Aussage zu
nehmen oder als Ausdruck jugendlichen Aufbegehrens gegen das
Überkommene. Der erstere der beiden Standpunkte repräsentiert die
ältere Faust-Deutung; wir lesen etwa im Faust-Kommentar der Hamburger Ausgabe:
Der Überdruß des geistigen Menschen, der überall die Grenzen seiner Fähigkeiten erkennt, ergibt schon bei Marlowe den großartigen Anfangsmonolog,
ebenfalls im Volksdrama; bei Goethe – schon im ‚Urfaust‘ – ist das Motiv zur
vollen Entfaltung gebracht. Die große Sehnsucht nach Erfassen der Welt –
Denken, Schau und Schauder zugleich – war die Haltung der Pansophie und
Naturmystik von Paracelsus über Kepler und Böhme bis zu Welling und Swedenborg, man suchte die Weltharmonik und die ‚semina rerum‘ […]; vieles in
Fausts Sprache hier und im Folgenden klingt ganz nach dem 16. und 17. Jahrhundert; und doch zugleich völlig anders; denn diese Sprache der Innerlichkeit
war jener Zeit noch nicht gegeben, und wie der innere Sturm hier dichterisch
Form wird, gilt seit je mit Recht als eine der größten Leistungen der Weltliteratur.20
Das ist die Sprache der Germanistik am Ende der 40er Jahre; sie zeichnet sich ebenso durch Pathetik wie durch Ungenauigkeit aus. Das Entscheidende wird vernebelt, wenn vom „Überdruß des geistigen Menschen, der überall die Grenzen seiner Fähigkeiten erkennt“, die Rede ist
20 Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, Bd. 3: Dramatische Dichtungen,
1. Bd., hg. und mit Anmerkungen versehen von Erich Trunz, Hamburg 1949 u. ö.,
S. 495.
22
Goethe, Faust und die Aufkärung
oder von einem „inneren Sturm“. Ein allgemeines menschliches Unbehagen über die Grenzen seiner Fähigkeiten verbindet sich mit einer
Argumentation aus der Literaturgeschichte: die Sprache der Innerlichkeit, das sei die Sprache der Empfindsamkeit oder vielleicht auch noch
die Sprache des Sturm und Drang; beides zusammen, also die Einsicht
in die mentalen Grenzen und der Überschuß an Gefühlen zeichne sich
in dieser Eingangsszene ab.
Das ist so allgemein, daß es unglaubhaft wird. Wie sieht die neuere
Forschung diese erste Szene? Wir lesen in dem neuesten Kommentar
von 1994, daß es sich um „Ausbruchsversuche ins Helle und Weite“
handle, „die Faust hier unternimmt […]. Die euphorischen Aufschwünge und tiefen Abstürze dieser Ikarusflüge, die hochemotionalen
Stimmungsumschläge dieser hier geradezu manisch-depressiv anmutenden Figur bilden sich gleichermaßen im Wortlaut ihrer Verse wie in
deren jäh wechselnder metrischer Verfassung ab“.21 Das ist allerdings
noch vager als das, was man in dem älteren Kommentar lesen konnte –
wie sollen wir uns die Ausbruchsversuche „ins Helle und Weite“ vorstellen? Auch hier kommt der Sturm und Drang ins Spiel, mehr sogar
noch als etwa die Empfindsamkeit, die sich bei jenem früheren Kommentar in der Sprache der Innerlichkeit äußert und die hier nun gar
nicht mehr erscheint. Wir lesen weiter:
Wohl erscheint Faust mit seiner enttäuschten, verzweifelten Abkehr von aller
Schulwissenschaft, seinem Ausstieg aus der akademischen Lehre, seiner Hinwendung zur ‚alternativen Wissenschaft‘ der Magie als eine Identifikationsfigur: als Wortführer einer Generation (jeder Generation), die sich der lebendigen
Natur entfremdet und von einer unmittelbaren Erfahrung des Lebens ausgeschlossen fühlt; die, um die Menschen zu bessern und zu bekehren, aus erstickendem
Urväter Hausrat und steriler Gelehrsamkeit, aus einem in Konvention erstarrten, verkürzten Leben auszubrechen sucht ins Ganze, Große und Wahre. 22
Doch spricht aus Faust ein Generationsprotest? Oder gar der Protest
jeder Generation? Damit wird Faust hier ebenfalls unversehens zur
Menschheitsdichtung, sozusagen zur Bibel einer immer wieder neu in
Erscheinung tretenden alternativen Bewegung. Noch fragwürdiger will
uns der Hinweis auf den Ausbruch auf einem „in Konvention erstarrten, verkürzten Leben“ erscheinen. Was heißt das? Was ist ein „ver21
22
Schöne (wie Anm. 14), S. 207.
Ebd.
Goethe, Faust und die Aufkärung
23
kürztes Leben“? Natürlich ist das nicht im temporalen Sinne gemeint,
sondern im Sinne einer Lebensverarmung. Aber soll als Antwort darauf
der Ausbruch erfolgen „ins Ganze, Große und Wahre“?
Will man die Nacht-Szene des Anfangs angemessen verstehen,
kommt man nicht umhin, sich zu fragen, ob Goethe nicht an etwas
Naheliegenderes gedacht habe als an euphorische Aufschwünge. Was
ist tatsächlich gemeint, wenn Faust sieht, „daß wir nichts wissen können!“? Ist es ganz allgemein die „Schulweisheit“ schlechthin, die „akademische Lehre“, und klingt das, was Faust sagt, tatsächlich nach einer
„alternativen Wissenschaft“, der Magie? Von einer „alternativen Wissenschaft“ ist hier mit keinem einzigen Wort die Rede, nur davon, „daß
wir nichts wissen können“, und Faust erklärt seine Hinwendung zur
Magie damit, „daß ich nicht mehr, mit sauerm Schweiß,/ Zu sagen
brauche was ich nicht weiß“ (V. 380f.). Man kann darin durchaus die
Abkehr von der Aufklärung manifestiert sehen, also von einem Aufklärungswissen, das nicht weit genug reicht. Die hohen Schulen, Zentren
der Aufklärung, werden in ihrer Unzulänglichkeit bloßgestellt, das Erziehungswesen nicht weniger. Noch einmal ist vom Wissen die Rede,
genauer: vom „Wissensqualm“ (V. 396), und im Verlauf der langen
Rede wird auch deutlich, wer die Konkurrenz zu den hohen Schulen
und zum Bücherwissen ist: die Natur (V. 423).
Natürlich ist Fausts Verlangen nach Erkenntnis, seine Kritik an den
hohen Schulen zeitlich in die frühe Neuzeit zu lokalisieren, ist sein Versuch, durch Magie zu Erkenntnis zu gelangen, ein renaissancehafter
Zug. Aber der Monolog hat wie so manches seinen direkten Doppelsinn, ist auch unmittelbare Zeitkritik. Wie sehr, wird mit dem Auftritt
Wagners deutlich, der mit seinen Eingangsworten („Verzeiht! ich hör’
euch deklamieren;/ Ihr las’t gewiß ein griechisch Trauerspiel?“
(V. 522ff.) nicht nur die Vorlesegewohnheiten des 18. Jahrhunderts im
Sinn hat, sondern der – das ist natürlich seit langem bekannt – mit seinen Worten: „Ich hab’ es öfters rühmen hören,/ Ein Komödiant
könnt’ einen Pfarrer lehren“ auch auf den Theologen Karl Friedrich
Bahrdt anspielt, der als aufgeklärter Gottesmann gefordert hatte, die
Schauspieler sollten den angehenden Pfarrern Unterricht im Predigen
erteilen. Goethe hatte sich über Bahrdt schon 1774 in seinem Prolog zu
den neuesten Offenbarungen Gottes, Verteutscht durch Dr. Carl Friedrich Bahrdt
lustig gemacht. Übrigens sitzt in diesem Prolog Bahrdt ganz ähnlich wie
Faust in der Eingangsszene „am Pulten“. (I/4, S. 439) Eigentlich sollte
24
Goethe, Faust und die Aufkärung
ein solcher Hinweis auf Zeitgenössisches hellhörig machen, und zu
diesen Hinweisen gehört auch der auf das Rhetorische – es ist die frühaufklärerische Gottsched-Welt, die sich dahinter verbirgt, und Faust
kritisiert sie mit den Worten: „Wenn ihr’s nicht fühlt, ihr werdet’s nicht
erjagen“ (V. 534). Im neuesten Kommentar kann man dazu die Erklärung finden, daß Faust hier auf „die Genieästhetik eines affektischen,
spontanen, inspirierten Sprechens“ setze.23 Aber man muß das gar nicht
so literaturhistorisch verstehen. Hier ist, um ein Begriffspaar des 18.
Jahrhunderts zu gebrauchen, das Herz gegen den Kopf aufgerufen, mit
anderen Worten: ein zu Erkenntnis befähigtes Organ gegen eines, das
diese nur in unzureichender Form vermitteln kann.
Wagner, der Famulus, der Faust in seinen Betrachtungen und seinem
Gespräch mit dem Geist so nachhaltig stört, liefert noch mehr an Aufklärungskritik. Wenn ihm bei seinem „kritischen Bestreben“ (V. 560) so
oft um Kopf und Busen bang wird, dann ist daran zu erinnern, daß der
Begriff „Kritik“ zu den Kernbegriffen der Aufklärung gehört – nicht
zufällig ist Gottscheds poetologische Hauptschrift mit Versuch einer
Critischen Dichtkunst vor die Deutschen überschrieben. „Kritik“ ist eines der
Schlüsselworte der Aufklärung, es findet sich in zahlreichen Titeln –
etwa bei Gottsched in seinen Bemühungen zur Beförderung der Critik und des
guten Geschmacks von 1743, in Johann Jacob Bodmers Critischen Betrachtungen über die Poetischen Gemählde der Dichter von 1741 und vielfach noch
anderswo. Der Criticus ist der gelehrte Zensor, wie er schon in Shaftesburys Bemerkungen über den Critick von 1727 vorkommt.24 Der Kritiker gründet seine Anschauungen auf philosophische Einsichten, er ist
das Sprachrohr der Vernunft, das die Dichtung kontrolliert. Wenn
Wagner von seinem „kritischen Bestreben“ spricht, dann nennt er damit eines der Hauptworte der Aufklärung, spricht also von seinen philosophischen Bemühungen einer auf Verstandesgrundsätzen beruhenden Erkenntnis. Der neueste Kommentar zu dem „kritischen Bestreben“ merkt an: „Der Philologe Wagner hat die von den RenaissanceHumanisten betriebene Erfassung und textkritische Reinigung antiker
Handschriften im Auge und meint Sprachkenntnisse, histor. Hilfswissenschaften etc. als die Mittel, zu diesen Quellen der Bildung und Erziehung zu gelangen“.25 Aber hier sind mit Quellen nicht Quellen im phi23
24
25
Schöne (wie Anm. 14), S. 221.
Characteristicks of Men, Opinions, Times: Advice to an Author, 1727, S. 231.
Schöne (wie Anm. 14), S. 222.
Goethe, Faust und die Aufkärung
25
lologischen Sinne gemeint, sondern die Gründe der Erkenntnis
schlechthin, und das kritische Bestreben hat mit Textkritik im germanistischen Verständnis nichts zu tun.
Es ist nicht unsere Aufgabe, fragwürdige Stellen der aktuellen Goethe-Kommentierung zu berichtigen; deren Verdienste sind so groß, daß
diese punktuelle Kritik den Wert des Kommentars keinesfalls mindert.
Aber es geht um ein vielleicht angemesseneres Verständnis, was Goethes Kritik am Aufklärungsbegriff betrifft, und wir finden dafür in Faust
noch weitere Belege. Wagner, in Schönes Kommentar lustigerweise als
„eine Art Vorläufer der student. Hilfskraft, freilich mit weitergehenden
Rechten und Pflichten“ bezeichnet“,26 versucht, dem Meister zu folgen
und sagt:
Verzeiht! es ist ein groß Ergetzen
Sich in den Geist der Zeiten zu versetzen,
Zu schauen wie vor uns ein weiser Mann gedacht,
Und wie wir’s dann zuletzt so herrlich weit gebracht. (V. 570ff.)
Im neuesten Kommentar, 1100 Seiten stark, findet sich hierzu nur die
Bemerkung: „Den Geist der Zeiten bedenkend, verfällt er ins altertümliche Versmaß des Alexandriners.“27 Aber es geht um weit mehr: wiederum um Aufklärungskritik. Wagner, Sprachrohr der Aufklärung, karikiert sich ungewollt aufs schönste: nicht nur, daß hier der Glaube an die
Richtigkeit der Tradition, das Vorbildhafte der Überlieferung, an die
Ehrwürdigkeit des Exemplums aufs Korn genommen wird – hier, in
dem „wie wir’s dann so herrlich weit gebracht“, wird der Optimismus
der Aufklärung, der Fortschrittsglaube, wie er sich aufs deutlichste
noch in Schillers Gedicht Die Künstler dokumentierte mit seinem „Wie
schön, o Mensch, mit deinem Palmenzweige/ stehst du an des Jahrhunderts Neige,/ in edler stolzer Männlichkeit“, hier wird die alte Leibnizsche Vorstellung von der besten aller möglichen Welten in einer
einzigen Zeile lächerlich gemacht. Und so geht es weiter. Wenn Faust
davon spricht, daß dann, wenn vom „Geist der Zeiten“ die Rede ist,
sich „der Herren eigner Geist“ in den Zeiten spiegelt und wenn er karikierend die aufklärerische Erkenntnislust beschreibt, dann ist nur zu
deutlich, was gemeint ist:
26
27
Ebd., S. 219.
Ebd., S. 223.
26
Goethe, Faust und die Aufkärung
Ein Kehrichtfaß und eine Rumpelkammer,
Und höchstens eine Haupt- und Staatsaktion,
Mit trefflichen pragmatischen Maximen,
Wie sie den Puppen wohl im Munde ziemen! (V. 582ff.)
Eines ist sicher: Literatur und Philosophie der Zeit, das merkt selbst ein
Wagner, können nicht viel ausrichten. Aber dessen Wissensdrang ist
ungebrochen, und bevor er abtritt, sagt er noch einmal: „Zwar weiß ich
viel, doch möcht’ ich alles wissen“ (V. 601). Auch hier ist das „Streben“
der Aufklärung gemeint, der Glaube an die stets mögliche Erfahrungserweiterung, an das „Wissen“. Über „Wissen“ hat sich Faust allerdings
schon mehrfach ausgesprochen, in seinem „Und sehe, daß wir nichts
wissen können“ und darin, daß er nicht mehr zu sagen braucht, „was
ich nicht weiß“. Wagner möchte alles wissen – Faust weiß, daß er
nichts wissen kann. Der unbegrenzte Wissensdurst Wagners ist bei ihm
aber nur eine Sache des Kopfes, nicht des Herzens – und das bedeutet,
daß hier ein ganz spezifischer Unendlichkeitsdrang satirisch behandelt
wird, nicht etwa der Eudämonismus des 18. Jahrhunderts, also das
Streben nach „Glück“ und „Tugend“. Das „Wissen“ und der Glaube
an die potentielle Unbegrenztheit des Erkenntnisvermögens, an die
unbegrenzten Zugriffsmöglichkeiten des Verstandes – eben das wird
hier erneut als eine inzwischen überwundene Stufe der Aufklärung
kritisiert. Faust kommentiert den Abgang seines Famulus mit Verwunderung über dessen Gutgläubigkeit; er sagt
Wie nur dem Kopf nicht alle Hoffnung schwindet,
Der immerfort an schalem Zeuge klebt,
Mit gier’ger Hand nach Schätzen gräbt,
Und froh ist wenn er Regenwürmer findet! (V. 602ff.)
Das schale Zeug, das ist durch den Verstand erfahrbares Wissen – wieder taucht hier die alte Opposition von Kopf und Herz auf. Dem Wagnerschen Glauben an die unendliche Erweiterung des Wissens steht
Fausts Kopfschütteln darüber entgegen, daß es diesen Glauben immer
noch gibt.
Das Satyrspiel zur Kritik der Aufklärung folgt bald, in Fausts Studierzimmer, als der Schüler auftritt; da geht es noch einmal über die
hohen Schulen und über die Fakultäten her, also über die Bildungsinstitutionen vornehmlich des 18. Jahrhunderts, und ob es nun das Collegium Logicum ist, wo der Geist in spanische Stiefel eingeschnürt wird,
die Metaphysik oder die Rechtsgelehrsamkeit, die Theologie oder die
Goethe, Faust und die Aufkärung
27
Medizin: am Ende steht des Mephistopheles Erkenntnis: „Vergebens
daß ihr ringsum wissenschaftlich schweift“ (V. 2015). Und dann folgt
das sprichwörtlich gewordene „Grau, teurer Freund, ist alle Theorie“
(V. 2038).
Die Szene zwischen Mephistopheles und dem Schüler im Studierzimmer ist natürlich Universitätssatire, aber auch hier wird nicht irgendetwas persifliert – Goethe dürfte sich seiner eigenen Leipziger Studentenzeit wieder bewußt gewesen sein, auch des Besuchs bei Gottsched,
über den er in Dichtung und Wahrheit ja berichtet hat. Wenn der Schüler
sagt:
Ich bin allhier erst kurze Zeit,
Und komme voll Ergebenheit,
Einen Mann zu sprechen und zu kennen,
Den Alle mir mit Ehrfurcht nennen (V. 1868ff.),
dann könnte der Leipziger Staatsrechtler und Historiker Böhme gemeint sein, der Goethes Studienberater war, vielleicht aber auch Gottsched, in jedem Fall aber eben eine Person aus Goethes eigenem Umkreis. Wir wissen, daß zumindest der Studienberater einen nachhaltigen
Eindruck auf ihn gemacht hat. Wir dürfen das seinem Brief an den
Vater vom 13. Oktober 1765 entnehmen, den er nach einem Besuch
bei Professor Böhme schrieb:
sie können nicht glauben was es eine schöne sache um einen Professor ist. Ich
binn ganz entzückt geweßen da ich einige von diesen leuten in ihrer Herrlichkeit sah. nil istis splendidius, gravius, ac honoratius. Oculorum animique aciem
ita mihi perstrinxit, autoritas, gloriaque eorum, ut nullos praeter honores
Professurae alios sitiam. (II/1, S. 17) [Es gibt nichts Glänzenderes, Gewichtigeres und Angeseheneres als diese. Ihre Autorität, ihr Ruhm hat die Sehkraft
und den Verstand derart beeindruckt, daß ich nach keinen anderen Ehren
dürste als nach denen einer Professur.]
*
Es geht nicht um die Kommentierung einzelner Verse. Die Wissenskritik ist hier Aufklärungskritik, und wenn ein Interpret schreibt, „daß ein
solcher Autor [mit Fausts Vision, auf freiem Grund mit freiem Volk zu
stehen] nicht gerade an der Überwindung der Aufklärung arbeitet“,28
dann scheint das Gegenteil richtiger zu sein: daß schon zu Beginn des
28
Willems (wie Anm. 4), S. 22.
28
Goethe, Faust und die Aufkärung
Dramas an nichts anderem als an der Überwindung der Aufklärung
gearbeitet wird. In einem Aufsatz über Faust und der Fortschritt29 ist mit
Recht gesagt: „natürlich reflektiert ‚Faust‘ auch Geschichte, nur nicht
notwendigerweise und in erster Linie politische und ökonomische Geschichte. Hinter dieser vollziehen sich ja größere und weitere Veränderungen in dem Welt- und Selbstverständnis“.30 Zu dieser Geschichtsreflexion gehören die aufklärungskritischen Verse zu Beginn des Faust.
Wir wollen uns hier nicht fragen, inwiefern etwa der Schüler, der von
Mephistopheles in seinem Wissensdrang an der Nase herumgeführt
wird, auch Positionen Fausts einnimmt, sondern vielmehr, was Goethe
bewogen haben könnte, die Aufklärung so kritisch zu betrachten. Für
Goethes Iphigenie auf Tauris konnte ein Interpret zeigen, wie nahe dieses
Drama der „Aufklärungsbewegung“ steht.31 Das Resümee seiner Deutung – „Eine viel engere, wirksamere Bindung Goethes an die […]
Aufklärungsbewegung, als man meist annahm, wird erkennbar“32 mag
für dieses Drama gelten – für Faust gilt das nicht. Der gleiche Autor hat
in einer anderen Studie33 darauf aufmerksam gemacht, daß „in Fausts
Abwertung der herkömmlichen Wissenschaft […] der ausgetrocknete
Rationalismus mancher Aufklärer mitgemeint sein“ mag, hat jedoch
hinzugesetzt: „Aber die Kritik Goethes und seiner Altersgenossen an
solchen Fehlentwicklungen, an Verfestigungen und Verflachungen
einer großen säkularen Bewegung bedeutet noch nicht eine Abwendung
von der Aufklärung selbst“.34 Faust entferne sich nicht von der Aufklärungsgesinnung, sondern „spielt nur die empiristisch-sensualistische
Komponente der Aufklärung gegen die rationalistische aus“ […], und:
„Das Bekenntnis zur Erfahrung und unmittelbaren Wahrnehmung als
Quelle aller Einsicht bildet eine dominierende Konstante in allen Aufzeichnungen, Briefen und sonstigen Äußerungen der siebziger Jahre“.35
29 Gerhard Schulz: Faust und der Fortschritt, in: Das neuzeitliche Ich in der Literatur des
18. und 20. Jahrhunderts. Zur Dialektik der Moderne. Ein internationales Symposion, hg. von
Ulrich Fülleborn und Manfred Engel, München 1988, S. 173-190.
30 Ebd., S. 182.
31 Wolfdietrich Rasch: Goethes „Iphigenie auf Tauris“ als Drama der Autonomie, München 1979, hier S. 12.
32 Ebd.
33 Der junge Goethe und die Aufklärung, in: Literatur und Geistesgeschichte. Festgabe für
Heinz Otto Burger, hg. von R. Grimm und C. Wiedemann, Berlin 1968, S. 127-139;
auch in: Sturm und Drang, hg. von Manfred Wacker, Darmstadt 1985, S. 96-111.
34 Ebd., S. 100.
35 Ebd., S. 102.
Goethe, Faust und die Aufkärung
29
Natürlich hält Goethe auch später noch an Erfahrung und unmittelbarer Wahrnehmung als Quellen aller Einsicht fest. Aber wie man auch
Aufklärung definieren will: die Kritik zu Anfang des Faust ist unüberhörbar. Rasch hat auch noch festgestellt:
Der Erkenntnisdrang wird jetzt als der ‚edelste der Triebe‘ angesehen. Diese
Umwertung der Faust-Gestalt, die mit der Aufklärung eng zusammenhängt, ist
auch in Goethes Konzeption eingegangen. Faust will erkennen, ‚was die Welt
im Innersten zusammenhält‘, und das begründet seinen Ruhm, nicht sein Verderben.36
Aber ist es nicht so, daß sein Erkenntnisdrang zwar nicht sein Verderben, aber keinesfalls seinen Ruhm begründet? Die Aufklärungskritik
setzt sich im übrigen massiv fort, auch in den Partien des Faust, von
denen hier nicht die Rede ist.
Die Kritik an der Aufklärung ist nicht auf einzelne Personen oder
Szenen beschränkt – sie durchzieht das Drama als ganzes, und es sind
die Grundprinzipien der Aufklärung, gegen die sich das Stück richtet:
„Bestimme dich aus dir selbst“, so lautete eine aufklärerische Maxime,
und Schiller hatte am 18. Februar 1793 sein berühmtes Bekenntnis zu
Kant niedergeschrieben: „Es ist gewiß von keinem sterblichen Menschen kein größeres Wort noch gesprochen worden, als dieses Kantische, was zugleich der Innhalt seiner ganzen Philosophie ist: Bestimme
Dich aus Dir selbst“. Goethe hatte dieser Philosophie ebenfalls mit
seiner Iphigenie gehuldigt. Aber was dort Triumph des Individuums war,
wird hier, im Faust, zur erbarmungslosen Kritik an jenem Satz. Denn
auch Faust ist selbstbestimmt, aber das in seiner negativen Variante: es
geht ihm allein um die Erfüllung seiner Wünsche, Träume und Visionen.
Als Mephistopheles erscheint, meint er: „Nein, nein! der Teufel ist ein
Egoist/ Und tut nicht leicht um Gottes Willen/ Was einem Andern
nützlich ist“ (V. 1651ff.). Faust geht dennoch auf Mephistos Angebote
ein. Aber was ihm gegeben wird, ist nicht eine neue Freiheit; Faust
zerstört ständig die Freiheit anderer. Seine Opfer sind Gretchen, deren
Mutter, sind Philemon und Baucis. Anders gesagt: Faust setzt seine
Selbstbestimmung absolut, sieht sich nicht eingegrenzt durch die Existenz anderer. Er versteht sich autonom, und damit markiert Goethe
scharf die Gefahren und Grenzen einer von der Aufklärung geforderten Selbstbestimmung, die sich nicht am Selbstbestimmungsrecht ande36
Ebd., S. 104f.
30
Goethe, Faust und die Aufkärung
rer orientiert. Nicht nur der Teufel ist ein Egoist – Faust ist es nicht
weniger. Daß es mit der absoluten Freiheit des Einzelnen ohnehin nicht
so sehr weit her ist, das muss auch Faust schließlich erkennen. Und
wenn er am Ende wähnt, auf freiem Grund mit freiem Volk zu stehen,
dann wird diese Sozialutopie der Aufklärung nur zu schnell im
wahrsten Wortsinn zu Grabe getragen.
Aber auch in Mephistopheles wird die Aufklärung diskreditiert. In
ihm hat sich der Rationalismus verkörpert, er ist, modern gesprochen,
der aufgeklärte Intellektuelle, der Intelligenzler – wie er später in
Thomas Manns Doktor Faustus im Teufelsgespräch erscheint. Er ist
Zyniker und Nihilist, Skeptiker und illusionslos bei aller illusionären
Kunst, die er zu produzieren weiss. „Verachte nur Vernunft und Wissenschaft,/ Des Menschen allerhöchste Kraft“, sagt er, als Faust sich
auf ihn eingelassen hat (V. 1851f.) – und dann wird er selbst Vernunft
und Wissenschaft fahren lassen und zu den „Blend- und Zauberwerken“ greifen. Nichts hat Bestand. Und wenn Goethe Mephistopheles
sagen läßt, daß alles, was entstehe, auch wert sei, daß es zu Grunde
gehe (V. 1340), dann ist der Optimismus der Aufklärung in Negativität
umgeschlagen. So führt Mephistopheles auf höherer Ebene als Wagner
das ad absurdum, was von Anfang an zur Aufklärung gehörte: den
optimistischen, selbstsicheren, zukunftsorientierten Rationalismus des
18. Jahrhunderts. Mit ihm ist selbst in den Händen des Mephistopheles
kein Staat zu machen.
Vieles mag im ursprünglichen Faust-Plan schon mehr oder weniger
direkt angelegt gewesen sein; aber die Weiterarbeit am Faust fällt, im
Zusammenwirken mit Schiller, in eine Zeit, in der auch anderswo der
Umschlag der Aufklärung in den Zweifel an ihr, damit also eine eigentümliche Dialektik der Aufklärung zu beobachten ist. Wir erkennen
gleiches bei Schiller: dem hochgemuten Künstler-Gedicht, in dem der
Aufklärungsglaube noch seine Triumphe feiert, folgen die geschichtsskeptischen großen Gedichte der 90er Jahre, allem voran Der Spaziergang. Nach der Französischen Revolution zeigt sich, wie gefährlich die
Kehrseiten der Aufklärung sind. Kant hatte eine Erkenntnis aus Prinzipien gefordert – die Kant-Kritik am Ende des Jahrhunderts ist auch
eine Kritik an den Erkenntnisprinzipien und am Glauben an Erkenntnismöglichkeiten. Schiller schreibt in seinen Briefen an den Augustenburger, den Vorläuferbriefen der Briefe Ueber die ästhetische Erziehung des
Goethe, Faust und die Aufkärung
31
Menschen, gegen die Illuminaten-Ideale der Aufklärung an.37 Bei Schiller
und seinen Briefen über Don Karlos hat man „die Erfahrung der gebrochenen Aufklärung“ konstatiert.38 Für Schiller endete das alles in einer
neuen Kunstphilosophie – für Goethe in einer Idealisierung der „Natur“. Damit ist der Herrschaftsanspruch der Vernunft endgültig in Frage gestellt; für Goethe wird der Begriff der „Erfahrung“ zentral. Auch
das mag ursprünglich ein aufklärerischer Begriff gewesen sein – hier
wird er geradezu zum Gegenbegriff gegen das Wissen durch Lehre und
Verstandeseinsicht. Goethes Faust kennzeichnet, ungeachtet aller frühen Fassungen, den Bruch mit der und den Zweifel an der Aufklärung,
wie er für das Ende des 18. Jahrhunderts so charakteristisch ist. Schiller
kritisiert in Don Karlos den Despotismus der Aufklärung,39 Goethe ihren
rationalen Rigorismus. Anders gesagt: auch mit Goethes Faust gerät die
Aufklärung in eine Phase der Selbstreflexion, die das als Grenze darstellt, was früher ungeahnte Möglichkeit war.
Wie immer bei Goethe personalisiert sich die eigentümliche Schwellensituation gegen Ende des 18. Jahrhunderts. Mephisto mag vieles sein
– aber er ist auch ein Zerrbild des aufgeklärten Gelehrten, wenn er dem
lern- und wißbegierigen Schüler die Fakultäten durchhechelt und die
eherne Festung der Aufklärung, die Sprache und das Wort, verhöhnt:
„Mit Worten läßt sich trefflich streiten,/ Mit Worten ein System bereiten,/ An Worte läßt sich trefflich glauben,/ Von einem Wort läßt sich
kein Jota rauben“ (V. 1997f.). „Am Anfang war das Wort“, hatte Faust
zuvor übersetzt. Aber kurz darauf wird das Wort also schon ironisch
diskreditiert. Mephistopheles nennt Faust „einen der das Wort so sehr
verachtet“ (V. 1328). Und auch des jugendlichen Goethe hohe Meinung von den Professoren „in ihrer Herrlichkeit“ ist in der Gestalt des
Mephistopheles persifliert. Denn dem ist nicht um Wissenschaft und
Aufklärung zu tun, sondern nur darum, „Dass alle Studiosi nah und
fern/ Uns wenigstens einmal die Wochen/ Kommen untern Absaz
gekrochen./ Will einer an unserm Speichel sich lezzen/ Den thun wir
zu unsrer Rechten sezzen“ (Urfaust, 286ff.). Womit die Fragwürdigkeit
der gottähnlichen Professorenmentalität denn endlich überzeugend
dargelegt ist.
Vgl. Hans-Jürgen Schings: Die Brüder des Marquis Posa. Schiller und der Geheimbund
der Illuminaten, Tübingen 1996, S. 189.
38 Ebd., S. 188.
39 Ebd., S. 164.
37
32
Goethe, Faust und die Aufkärung
*
Freilich: Goethes Auseinandersetzung mit der Aufklärung darf nicht
über die Gemeinsamkeiten hinwegtäuschen, die sich bei aller Unterschiedlichkeit dennoch abzeichnen. Oder sagen wir vorsichtiger: über
die Analogien, die etwa zwischen Kant und Goethe hier und da sichtbar werden. Bekanntlich ist das Wort „Streben“ eines der Schlüsselwörter in Goethes Faust, und dieses Streben nach etwas Besserem, Höherem, Reinerem (oder wie man das Gesuchte auch bezeichnen will) verbindet Faust natürlich mit der Aufklärung – nur daß bei ihm am Ende
nicht die Erkenntnis, sondern der Absturz steht. Eine ähnliche partielle
Gemeinsamkeit zeichnet sich ab, was das Erkennen betrifft. Faust geht
es am Anfang des ersten Teils darum, zu erkennen, „was die Welt/ Im
Innersten zusammenhält“. Eben das wollte auch die Aufklärung wissen.
Eine weitere Analogie zeichnet sich ab zwischen Fausts Erkenntnis,
daß wir das Leben nur „am farbigen Abglanz“ haben, und dem Kantischen Wissen um die Begrenztheit aller Anschauung durch Raum und
Zeit. Doch was bei Kant Folge einer abstrakten Deduktion ist, ist bei
Faust durch das „Schauen“ bewirkte Intuition. Beide Male also so etwas
wie eine Zweiweltentheorie, aber wenn bei Kant die engen Bedingungen unserer Erkenntnis die Einsicht in das Wesen des Dings an sich
begrenzen, ja eigentlich sogar unmöglich machen, so kann bei Goethe
das „Leben“, der Inbegriff der Natur, nie direkt, sondern nur im
Gleichnis gesehen werden. Ähnliches beim Unsterblichkeitsglauben:
Kant spricht in seiner Kritik der praktischen Vernunft davon, daß kein
Mensch zu seinen Lebzeiten den kategorischen Imperativ restlos befolgen
und somit zur „Vollkommenheit“ gelangen könne. Diese Vollkommenheit
wird aber „als praktisch notwendig gefordert“, und so kann sie nach Kant
„nur in einem ins Unendliche gehenden Progressus […] angetroffen werden“. Das steht in der Nähe der Goetheschen Vorstellung, daß „unsere
Fortdauer“ nur aus der „unermüdlichen Tätigkeit“ der Monade abzuleiten
sei, die sich selbst in einer anderen Existenzform fortsetzen müsse.
Goethe hat diese Nähe zu Kant im übrigen selbst in seinem Aufsatz
Einwirkung der neueren Philosophie gesehen, der 1820 als Erstdruck in Zur
Morphologie erschien. Über die Kritik der Urteilskraft schrieb er, daß er
hier und da zwar etwas zu vermissen habe, setzte aber hinzu: „so waren
doch die großen Hauptgedanken des Werks meinem bisherigen Schaffen, Tun und Denken ganz analog; das innere Leben der Kunst so wie
der Natur, ihr beiderseitiges Wirken von innen heraus war im Buche
Goethe, Faust und die Aufkärung
33
deutlich ausgesprochen“ (I/24, S. 444). Goethe hat sogar schon 1805
betont, „daß kein Gelehrter ungestraft jene große philosophische Bewegung, die durch Kant begonnen, von sich abgewiesen, sich ihr widersetzt, sie verachtet habe“. Ähnlich freundlich hat er sich auch zu Ekkermann am 11. April 1827 geäußert, obwohl Kant nie von ihm Notiz
genommen habe:
Meine Metamorphose der Pflanzen habe ich geschrieben, ehe ich etwas von
Kant wußte, und doch ist sie ganz im Sinne seiner Lehre. Die Unterscheidung
des Subjekts vom Objekt, und ferner die Ansicht, daß jedes Geschöpf um sein
selbst willen existiert […], hatte Kant mit mir gemein und ich freute mich ihm
hierin zu begegnen (II/12, S. 243).
Aber im Faust hat Goethe die Aufklärung Kantischer Provenienz nicht
in ihrer Möglichkeit, sondern in ihrer Begrenzung gezeigt. Dazu gehört
auch die Vorstellung von der Erziehbarkeit des Menschen. Vielleicht ist
diese Lieblingsidee der Aufklärung im Faust sogar am stärksten widerlegt. Der Mensch kann nur immer „sich selbst“ werden, seinem Dämon
folgen, und so kann er nur zu sein versuchen, was er schon ist. Faust
versucht dem zu entkommen, doch sein „Streben“ endet in seinem
Untergang. Faust ist ein Abgesang auf die Aufklärung.
*
Fragt man nach dem eigentlichen Grund der Kritik Goethes an der
Aufklärung, so stößt man bei der Lektüre seines Spätwerkes immer
wieder auf einen Grundvorbehalt: daß die Aufklärung von einem einseitigen, restringierten, unzulänglichen Naturbegriff ausgegangen sei.
Natur war bei den Aufklärern gelegentlich sogar mit mathematischen
Mitteln zu definieren, auf jeden Fall war sie überschaubar, mit dem
Verstand zu durchdringen. Geheimnisse hatte sie eigentlich nicht, sie
ließ sich gleichsam als sachliches Objekt betrachten, und auf keinen Fall
war sie furchterregend oder dämonisch, unbegreiflich oder unzugänglich. Sie war eben vermeßbar.
Goethe muß einen fast ungeheuren Widerwillen gegen eine derartige
Deutung der Natur gehabt haben. Für ihn war die Natur ein „göttliches
Organ“ (I/13, S. 285), aus ihr entsprang für ihn „Unendliches“ (ebd.),
und wie eine Kritik an den aufklärerischen Naturauffassungen lautet
der Satz: „Das Große überkolossale der Natur eignet man so leicht sich
nicht an“ (ebd., S. 401). Sie ist „unbegreiflich“, Natur ist „unberechenbares und unermeßliches Leben“ (ebd., S. 54), und Natur ist am Ende
34
Goethe, Faust und die Aufkärung
für ihn sogar etwas Heiliges, eine fast religiöse Macht, und vor allem: sie
hat immer Recht. „Die Natur bekümmert sich nicht um irgend einen
Irrthum; sie selbst kann nicht anders als ewig Recht handeln, unbekümmert was daraus erfolgen möge“, notiert Goethe (ebd., S. 83), und:
„Aus der Natur, nach welcher Seite hin man schaue, entspringt Unendliches“ (ebd., S. 285). Es ist die alte Lehre vom deus sive natura, von der
Goethe zeitlebens nicht abgelassen hat. Das alles enthält letztlich Aufklärungskritik.
Das soll aber nicht heißen, daß Goethe bei aller Kritik an der Verstandesaufklärung nicht auch auf seine Weise so etwas wie ein Volkserzieher gewesen ist. Die hier genannten Goethe-Zitate entstammen ausnahmslos einem seiner Spätwerke, das oft als etwas Beiläufiges schnell
abgetan wird: den sogenannten Maximen und Reflexionen. Goethe hat sich
in ihnen über Gott und die Welt ausgelassen, über die Gesellschaft und
über die Kunst, über Literatur und Religion, Geschichte und Philosophie, über die Alten und über die eigenen Zeitgenossen. Kein Lebensbereich ist ausgespart, keine Zeit und keine Nation, und alles ist dem
Leser zur eingehenden Betrachtung empfohlen. Lebenserfahrungen
stehen neben Alltagsweisheiten, eher zufällige Bemerkungen zu Dichtern neben Rückerinnerungen, Gedanken zu den philosophischen
Themen des ausgehenden 18. Jahrhunderts neben Einsichten, die beinahe schon banal sind: alles ist in diesen kleinen Sprüchen in Prosaform
enthalten. Da ist viel Verständnis für Menschliches, Nachsicht bei Irrtümern, Unduldsamkeit bei Dummheit, aber da gibt es auch Ethisches
und strenge Daseinsforderungen. Das eigentliche Generalthema, das
hinter den meisten seiner Maximen steht, ist das Leben in seiner Vielfalt und zugleich in seiner Eintönigkeit, in seiner Verständlichkeit wie in
seiner Unbegreiflichkeit. Hier spricht ein Volkserzieher; er klärt nicht
auf im Sinne der Verstandesaufklärung des 18. Jahrhunderts, sondern er
klärt über das Leben auf, und es gibt nichts, was ihm eigentlich verborgen geblieben wäre. Natürlich sind die Maximen und Reflexionen auch
Dokumente eines bestandenen Daseins, die Summe seines Lebens,
eingefangen in Erkenntnisse und Einsichten, die aber absichtlich nicht
zu einem System zusammengefügt worden sind – die Aufklärer hätten
das getan, aber Goethe geht es um seine eigene vielfältige Lebenswirklichkeit, die er hier anderen zu erkennen gibt.
Diese Volksaufklärung, um noch einen Blick auf Schiller zu werfen,
ist das Gegenstück zur ästhetischen Erziehung, die von diesem in den
Goethe, Faust und die Aufkärung
35
neunziger Jahren so leidenschaftlich gefordert worden war. Was Goethe will, ist keine Erziehung durch die Kunst, aber es ist Erziehung
durch Leben und Lebenseinsichten, versuchen sie doch, die Augen zu
öffnen für das Veränderliche und mehr noch für das Unveränderliche
der menschlichen Existenz, und wer etwas über den Menschen erfahren will, der findet hier Reichlichstes, jedenfalls entschieden mehr als
das, was die aufgeklärte Anthropologie in der zweiten Hälfte des 18.
Jahrhunderts zu bieten hatte. Über allem steht die Natur, alles Vereinzelte ist Teil ihres großen Ganzen, und darüber spricht er in faßlichen,
einfach formulierten, volkslehrerhaften Maximen. In ihnen ist auch
noch einmal von den Fehlern der sogenannten Aufklärung die Rede,
und zu diesen wird etwa gerechnet, „daß sie Menschen Vielseitigkeit
giebt deren einseitige Lage man nicht ändern kann“ (ebd., S. 96). Gelegentlich auch hier noch einmal Spott über die deutsche Aufklärungsphilosophie, wenn er schreibt: „Es sind nun schon bald zwanzig Jahre, daß
die Deutschen sämmtlich transcendiren. Wenn sie es einmal gewahr
werden, müssen sie sich wunderlich vorkommen“ (ebd., S. 33).
Ein Altersurteil. Es beleuchtet noch einmal ironisch Goethes Distanz zur Aufklärung.
M A R S C H LÄ N D E R V O R S A N D G E B I RG E ?
Z U F A U S T S LE T Z T E R V I S I O N
Das Ende Fausts ist gespenstisch. Die Lemuren heben das Grab aus,
und der blinde Faust, der aus dem Palast tritt, tastet an den Türpfosten
und hört das Geklirr der Spaten. Da er nicht sieht, was geschieht, mißversteht er das Geräusch gründlich: er verwechselt es mit dem Spatengeklirr beim Bau eines Deiches, wähnt, daß Dämme und Buhnen das
Meer „mit strengem Band“ umziehen werden, während Mephistopheles
genau weiß, was das alles bedeutet und sein „Und auf Vernichtung
läufts hinaus“ spricht (V. 11550).1 Faust denkt nicht ans Grab, sondern
ans Graben, und mit seinen letzten Worten eröffnet sich eine grandiose
Vision:
Ein Sumpf zieht am Gebirge hin,
Verpestet alles schon Errungene;
Den faulen Pfuhl auch abzuziehn
Das Letzte wär das Höchsterrungene.
Eröffn’ ich Räume vielen Millionen,
Nicht sicher zwar, doch tätig-frei zu wohnen.
Grün das Gefilde, fruchtbar; Mensch und Herde
Sogleich behaglich auf der neusten Erde,
[…]
Im Innern hier ein paradiesisch Land,
Da rase draußen Flut bis auf zum Rand,
Und wie sie nascht gewaltsam einzuschießen,
Gemeindrang eilt die Lücke zu verschließen.
Ja diesem Sinne bin ich ganz ergeben (V. 11559ff.).
Wir wissen, was folgt: das „Verweile doch, Du bist so schön!“ Fausts
Genuß des höchsten Augenblicks – und dann sinkt er zurück.
Uns beschäftigt die Landschaftsvision. Ist das ein phantasmagorisches Gelände, wahnhaft wie Fausts Ideen vom Deichbau, der hier in
dieser Küstenlandschaft vor sich gehen soll? Es gibt eine hinlängliche
Zahl von Faust-Kommentaren, von denen der Leser eine zureichende
1
Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche, 40 Bde.,
hg. von Friedmar Apel u. a., Frankfurt am Main 1987ff. (= FA), Bd. I/7,1.
38
Zu Fausts letzter Vision
Antwort auf diese Fragen erwarten könnte. Aber der Blick in sie stimmt
trübsinnig, denn sie sagen nichts oder doch so Unzureichend-Vages,
daß damit nichts anzufangen ist. Die Jubiläumsausgabe, im allgemeinen
mit soliden Erläuterungen aufwartend, schweigt sich aus;2 die Beutlersche Gedenkausgabe3 behandelt die Verse als Ausdruck phantastischer
Erwartungen: „Das Volk aber, das der erblindete Faust jetzt vor seinem
geistigen Auge sieht, ist ein anderes, ist Zukunftsvision“4 und beläßt es
im übrigen dabei. Das gleiche gilt für die Aufbau-Ausgabe.5 Die gerne
als Studienausgabe genutzte Hamburger Ausgabe6 kommentiert als eine
der wenigen Ausgaben, die die Stelle überhaupt für erläuterungsbedürftig halten, die Landschaftsbeschreibung folgendermaßen:
Fausts großer Schlußmonolog. Faust hat, wie aus der Anfangsszene des Akts
hervorgeht, bereits einen beträchtlichen Landstreifen vor dem alten Strande
entwässert und dort Bewohner angesiedelt. Doch dies Errungene erscheint
ihm wenig im Vergleich zu dem, was er plant. Er denkt an noch weit größere
Räume, wenn er ein Sumpfgebiet ebenfalls entwässert haben wird. (Anscheinend liegt es am Fuße des alten Landes, denn es liegt neben Gebirge, und damit
ist doch wohl bergiges Küstengebiet gemeint; das Bild ist, gegen sonstige Goethesche Art, nicht völlig klar; vielleicht spielt hier die Entstehung in verschiedenen Arbeitsperioden mit.) Es ist Zukunftsphantasie. Da er den Meeresstrand
zum Lehen erhielt, wäre er Beherrscher auch dieses neuen Marschlandes. 7
Doch – wo sollen wir uns dieses Land denken? Ein Marschland, das
neben Gebirge liegt, gibt es zumindest in Deutschland nicht. Der Herausgeber und Kommentator, Erich Trunz, hat über das von Goethe
beschriebene Land wenigstens nachgedacht, kann sich aber zu genaueren Bestimmungen nicht entschließen. So bleibt als vorerst letzte Hoffnung der neueste Kommentar zu Goethes Faust.8 In diesem überall mit
2
Goethes Sämtliche Werke. Jubiläums-Ausgabe, Bd. 14: Faust. Mit Einleitungen und
Anmerkungen von Erich Schmidt, Stuttgart/Berlin o. J. (= JA).
3
Johann Wolfgang Goethe. Die Faust-Dichtungen […], Zürich/Stuttgart 1950, 21962
(Einführung und Textüberwachung von Ernst Beutler).
4
Ebd., S. 745.
5
Goethe. Poetische Werke. Dramatische Dichtungen, Bd. IV: Faust, Berlin/Weimar
21973.
6
Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, hg. von Erich Trunz, Bd. 3: Dramatische Dichtungen I, Hamburg 1949, München 111981 (= HA).
7
Ebd., S. 618.
8
FA I/7,2.
Zu Fausts letzter Vision
39
Recht hochgelobten Kommentar lesen wir zu den Zeilen „Ein Sumpf
zieht am Gebirge hin,/ Verpestet alles schon Errungene“:
Gemeint ist eine Versumpfung der Marschländer, die sich zwischen dem
Sandgebirge des alten Dünengürtels und den neuen Seedeichen erstrecken.
Ihrer Auswässerung dient hier der große, zum Meer hin ableitende unternommene Graben […]. Büsch […] spricht dabei von „Versumpfungen – man erlaube
mir dies vielleicht neue Wort“, und erklärt: wo solche Gebiete „nicht zu allen
Zeiten voll Wasser stehen, sondern in troknen Jahreszeiten […] als ein Morast
der Luft offen liegen, so wird der daraus für die Gesundheit der Anwohner zu
befürchtende Schaden [neben dem einer eingeschränkten Nutzung des Landes]
eine zweite Ursache, warum man sie auszutroknen suchen muß“.
Schöne verweist dann noch auf Goethes „Sachverstand in dieser Frage
der ‚Wasserbaukunst‘“ und auf den West-östlichen Divan, wo auch von
Wasser und Kanälen, Gräben und anderem die Rede sei. In Schönes
Kommentar heißt es weiter:
In Unkenntnis (oder absichtsvoller Vernachlässigung) dieser konkreten, durchaus realistischen Begründung des Sumpfes, der alles schon Errungene verpestet,
hat Mieth […] ihn als eine geschichtsprophetische Metapher ausgegeben und
erklärt, hier gehe es um „die (künftige) Bedrohung“ des von Faust Errungenen
„durch den (visionär geschauten) Sumpf“. So wurde in nacheilendem Gehorsam die Auslegung gestützt, die Walter Ulbricht 1962 […] diesen Sumpf-Versen
gegeben hatte: „Die antinationalen und reaktionären Kräfte in der westdeutschen Bundesrepublik und in Westberlin haben aus dem von ihnen beherrschten Teil Deutschlands einen Sumpf kapitalistischer Ausbeutung, einen Herd
der Kriegs- und Revanchepolitik und einen Sumpf einer schamlosen Korruption gemacht. Dieser Sumpf, der an die Grenzen unseres sozialistischen
Deutschland heranreicht, die Sicherung des Friedens hindert und die Atmosphäre verpestet, muß trockengelegt werden. Erst wenn die Ursache des
Sumpfes, die Herrschaft der Imperialisten und Militaristen in Westdeutschland,
beseitigt ist, wird das deutsche Volk in Frieden leben, arbeiten und sich der
Früchte seiner friedlichen Arbeit erfreuen können.9
Was man nicht bereden kann, soll man beschweigen: ob es nützlich,
sinnvoll und erhellend war, Ulbrichts unsägliche Faust-Zitation überhaupt zu erwähnen, wird der Leser für sich entscheiden können. Zur
Landschaft selbst aber erfahren wir nicht mehr, als daß es sich um eine
Versumpfung der „Marschländer“ handle, „die sich zwischen dem
Sandgebirge des alten Dünengürtels und den neuen Seedeichen erstre9
FA I/7,2, S. 759ff.
40
Zu Fausts letzter Vision
cken“. Marschländer? Davon steht kein Wort im Text. Der deutsche
Leser kennt Marschländer aus Norddeutschland – aber das dürfte Goethe nun wohl sicherlich nicht vor Augen geschwebt haben. Noch problematischer ist die Interpretation des Goetheschen „Gebirge“ als
„Sandgebirge des alten Dünengürtels“. Kein Küstenbewohner wird
einen Dünengürtel je als „Sandgebirge“ bezeichnen, und bei aller Ehrfurcht vor Goethes sprachschöpferischer Phantasie: ein solches dürfte
er hier wohl kaum vor Augen gehabt haben. Im Text steht: „Gebirge“,
nicht „Sandgebirge“ – ein Dünenwall dürfte also auf keinen Fall gemeint sein. Natürlich kann man der Meinung sein, Goethe habe hier
etwas ganz und gar Imaginäres beschrieben, aber jeder Goethe-Leser
weiß, wie konkret manchmal Details auch angeblich phantastischer
Landschaften sind. Was wollen wir uns vorstellen, wenn wir von dem
Sumpf lesen, der sich am Gebirge hinzieht? Von einer Entwässerungsaktion, die hier durch einen Graben ins Werk gesetzt werden soll? Hat
Goethe sich vielleicht an Schillers Einleitung in dessen Geschichte des
Abfalls der vereinigten Niederlande erinnert, in der zu lesen war: „Die verlassenen Dämme ergeben sich der Wuth ihrer Ströme und dem eindringenden Ocean wieder. Die Wunder der Menschenhand, die künstlichen Kanäle vertrocknen […]“,10 und wollte er im Faust ein Gegenbild
schaffen?
*
Es gibt in der näheren Umgebung dieser Textstelle Hinweise darauf,
wie Goethes Landschaftsgemälde vielleicht richtiger zu verstehen ist.
Das „Geklirr der Spaten“, das Faust hört, ist das Spatengeklirr der
Lemuren. Lemuren, so lesen wir schon seit der Jubiläumsausgabe und
danach immer wieder, hat Goethe natürlich nicht erfunden, sondern
hat sie gesehen, auf einem Basrelief in Cuma, und er hat darüber 1812
ein Sendschreiben an Karl Ludwig Sickler verfaßt.11 Lemuren sind, wie
sich versteht, nicht Larven oder phantastische Gebilde, sondern Totengerippe, die noch mit ein wenig Muskeln und Sehnen behaftet sind,
„damit sie sich kümmerlich bewegen können, damit sie nicht ganz als
durchsichtige Gerippe erscheinen und zusammenstürzen“.12 Die TänSchillers Werke. Nationalausgabe, hg. von Julius Petersen (†) und Gerhard Fricke,
Weimar 1943ff. (= NA), Bd. 17, S. 25.
11 FA I/19, S. 603ff.
12 FA I/19, S. 605.
10
Zu Fausts letzter Vision
41
zerin ist zu erkennen, wenn man „dieses gegenwärtige lemurische
Scheusal mit weiblicher jugendlicher Muskelfülle“ sich denkt – so hat er
seine Erinnerungen an das „von alten Griechischen Cumanern“ verfertigte Kunstwerk aufgefrischt.13 Cuma ist in Goethes Italienischer Reise
zwar nicht erwähnt; er ist über Gaeta gereist, hat sich dann nach Osten
gewandt und ist über Capua nach Neapel hereingekommen – aber
wenn er Cuma auch nicht gesehen hat, so hat er doch zweifellos gewußt, was es dort zu sehen gab.
Der Hinweis auf Lemuren ist dabei durchaus kein Zeugnis sonderlicher Belesenheit; Goethe hätte in Hederichs Lexikon nachlesen können, was es mit den Lemuren auf sich habe. Aber viel näher liegt die
Vermutung, daß Goethe an das dachte, was er von Cuma her kannte:
die Lemuren also als Grabfiguren. Das ist ein erster nicht undeutlicher
Hinweis darauf, daß das, was Goethe in Faust II beschreibt, mit Süditalien in Verbindung zu bringen ist – also alles andere ist als Ausgeburt
der Phantasie. Eigene Erfahrung ist offenbar auch die Landschaft, die
hier beschrieben wird. Wer immer sich an Marschlandschaften oder
Sandgebirge erinnert fühlt, sei daran erinnert, daß es eine Landschaft
gibt, in der alles das real erscheint, was die Kommentatoren gerne ins
Reich der Phantasie schieben möchten. Genauer: Goethe scheint sich
hier seiner Reise durch die Pontinischen Sümpfe zu erinnern. Er berichtet unter dem 23. Februar 1787:
Schon früh um drei Uhr waren wir auf dem Wege. Als es tagte fanden wir uns
in den Pontinischen Sümpfen, welche kein so übles Ansehn haben als man sie
in Rom gemeiniglich beschreibt. Man kann zwar ein so großes und weitläuftiges Unternehmen als die beabsichtigte Austrocknung ist auf der Durchreise
nicht beurteilen, allein es scheint mir doch, daß die Arbeiten welche der Pabst
angeordnet, die gewünschten Endzwecke wenigstens zum größten Teil erreichen werden. Man denke sich ein weites Tal, das sich von Norden nach Süden
mit wenigem Falle hinzieht, ostwärts gegen die Gebirge zu vertieft, westwärts
aber gegen das Meer zu erhöht liegt.
Der ganzen Länge nach, in gerader Linie, ist die alte Via Appia wieder hergestellt, an der rechten Seite derselben der Haupt-Kanal gezogen und das Wasser
fließt darin gelind hinab, dadurch ist das Erdreich der rechten Seite nach dem
Meere zu ausgetrocknet und dem Feldbau überantwortet; so weit das Auge
sehen kann ist es bebaut oder könnte es werden wenn sich Pächter fänden.
Einige Flecke ausgenommen die allzutief liegen.
13
FA I/19, S. 608.
42
Zu Fausts letzter Vision
Die linke Seite nach dem Gebirg zu ist schon schwerer zu behandeln. Zwar
gehen Quer-Kanäle unter der Chaussee in den Haupt-Kanal; da jedoch der
Boden gegen die Berge zu abfällt, so kann er auf diese Weise nicht vom Wasser befreit werden. Man will, sagt man, einen zweiten Kanal am Gebirge herführen. Große Strecken, besonders gegen Terracina, sind mit Weiden und
Pappeln angeflogen.14
Natürlich ist nicht zu beweisen, daß Goethe sich, als er am Faust
schrieb, seiner alten Darstellung der Landschaft der Pontinischen
Sümpfe besonnen habe. Aber es liegt nur zu nahe, diese damals von
ihm gesehene Landschaft hier wiederzuerkennen. Der zweite Kanal, der
am Gebirge hergeführt werden soll – setzt nicht Faust visionär dieses
Jahrhundertwerk fort? Begonnen hatte es Papst Julius IV., der einen
großen Kanal durch den Sumpf ziehen ließ, und fertig geworden ist es
sehr viel später: in den 30er Jahren unseres Jahrhunderts. Oder sollen
wir sagen: begonnen wurde dieses Urbanisationswerk von Faust zu
Beginn des 5. Aktes, wo ebenfalls schon von jenem ersten Kanal die
Rede ist, der, zu Philemons und Baucis’ Überraschung, eines Morgens
fertig ist und den Faust am Ende seines Lebens durch jenen zweiten
Kanal zu ergänzen trachtet, von dem der Bericht über die italienische
Reise erzählt? Auch hier liegt der Verdacht nahe, daß es sich bei jenem
Kanal der ersten Szene des 5. Aktes um einen Kanal in südlichem Gelände handelt – also der Heimat von Philemon und Baucis. Dämme
gibt es auch in der Gegend der Pontinischen Sümpfe – Dämme zu
Seiten des Kanals oder vielmehr der Kanäle, die verhindern sollen, daß
das Meerwasser, vom Westwind hochgedrückt, das urbanisierte Land
wieder überflutet. „Linden“ sprechen zwar für eine deutsche Landschaft. Aber in allen Landschaften des Faust findet sich Heterogenes.
Anders gesagt: es sind fast immer „synthetische“ Landschaften. Doch
hier dominiert zweifellos Südliches.
Auch das Kanalwerk, das am Beginn des 5. Aktes von Faust II erwähnt ist, hat die Kommentatoren zu weitschweifigen Anmerkungen
veranlaßt. Erich Schmidt schreibt in der Jubiläums-Ausgabe:
Fausts Tätigkeit weist nicht bloß auf Friesen und Holländer […], nicht bloß
auf die ‚Biberrepublik‘ Venedig, Chioggia und die Murazzi, wie denn des Venezianers Cornaro seit 1588 gedruckte, von Goethe vielleicht gelesene ‚Discorsi della vita sobria‘ im 4. eine verewigende Greisenarbeit durch Austrocknung
von Sümpfen erörtern […]. Sie mahnt auch, wie G. Freytag sagt, an Friedrichs
14
FA I/15,1, S. 195.
Zu Fausts letzter Vision
43
des Großen Kulturschöpfung in Westpreußen, und sie hängt zusammen mit
dem lebhaften Interesse, das der greise Goethe an dem Neuland Amerika
nahm. Hat er doch, wie er die Engländer im Besitz eines Kanals von Suez zu
sehn wünschte, im Anschluß an A. v. Humboldts Reisewerk das Projekt eines
Durchstichs der Landenge von Panama und alle kräftige Kolonisationsarbeit
der ‚jugendlichen‘ Vereinigten Staaten eifrig bedacht […]. Aber auch die neuen
Bremischen Hafenanlagen an der Wesermündung interessierten ihn lebhaft; er
ließ sich am 14. Juli 1826 durch Eckermann ‚von Hamburg, Stade und den
dortigen Anschwemmungen, Einrichtungen, Ansiedelungen‘ (Marschen; Polder; Inseln wie Lune-Plate) erzählen.15
An alles also hat Erich Schmidt gedacht, nur nicht an das vom antikitalienischen Kontext her (Philemon und Baucis) Nächstliegende: an die
Pontinischen Sümpfe. Erich Trunz spricht in seiner Hamburger Ausgabe unbestimmt davon, daß der Meeresboden entwässert sei;
Daneben liegt die frühere Stranddüne, dort wohnen zwei alte Leute […]. Faust
traut dem Deichwerk von Menschenhand, sie aber nur dem alten Dünenboden
[…]. Die Szene hat den ganzen Zauber des Idylls (darum auch durch die Namen anknüpfend an ein antikes Idyllenmotiv). Als Stimmung und Bild ist sie
der völlige Gegensatz zu der weltweiten Herrschaft, zu Willen und Härte der
folgenden Szenen.16
Wir dürfen denken, an was wir wollen. Schließlich Albrecht Schönes
Kommentar im Deutschen Klassiker Verlag. Zum Kanal in dieser Szene lesen wir:
Nimmt man Baucis’ Angaben textintern als Augenzeugenbericht, wird man sie
textextern auf das ‚Maschinenwesen‘ der neuen Zeit beziehen dürfen, von dem
die Schöne-Gute der Wanderjahre sagt, daß es sich quälend und ängstigend
heranwälze […]. Dessen Inbegriff und der Motor der Industrialisierung waren
die Dampfmaschinen, die schon im 18. und frühen 19. Jh. im Bergwesen, bei
Kanalbauten und Landgewinnungsarbeiten zur Entwässerung eingesetzt wurden. Über den Gebrauch solcher dampfgetriebenen Schaufelbagger und
Schöpfwerke, deren Leistung weit hinausging über das im gewohnten Handbetrieb und für Menschen- oder Pferdekräfte Mögliche, war Goethe sehr wohl
informiert […]. So könnte man sich (sollte man sich nach Absicht des Autors?)
Baucis’ Flämmchen und Feuergluten durchaus als den Widerschein dieser ihr
unbekannten Maschinen vorstellen, die der Greisin mit ihren aus den Öfen
schlagenden Flammen und den feuerrot beleuchteten, hier im nächtlichen
15
16
JA 14, S. 389.
HA 3, S. 610f.
44
Zu Fausts letzter Vision
Landwind meerwärts treibenden Dampfwolken als magisches Teufelswerk
erscheinen mochten.17
„Kann sein, auch nicht“, ist man versucht, mit Kleist zu sagen – aber
man erführe doch auch gerne etwas über den „Kanal“. Ein wenig ist
freilich verzeichnet:
In der 1782 veröffentlichten Lebensbeschreibung Friedrich v. Brenkenhofs,
der für Friedrich II. die westpreußischen Bruchgebiete trockenlegte, heißt es,
daß allein der 36 km lange Kanal zwischen Warthe und Netze, mit Arbeitermassen aus ganz Deutschland binnen 16 Monaten fertiggestellt, 1500 Menschen das Leben kostete […].
Eckermann am 10. 2. 1829 „fand Goethe umringt von Karten und Plänen in
Bezug auf den Bremer Hafenbau, für welches großartige Unternehmen er ein
besonderes Interesse zeigte“: beim Bau dieses 1826-29 60 km weserabwärts
errichteten Hafens waren zeitweise mehr als 900 Arbeiter beschäftigt, sommers
von 4.30-20.00 Uhr, mit Hacken und Schaufeln; 60 Pferde mußten die Pumpen in Betrieb halten, weil das ausgehobene Becken sich rasch wieder mit
Wasser füllte; „Sumpffieber griff um sich und forderte zahlreiche Opfer“. 18
Goethes Interesse und das Interesse der Kommentatoren am Bremer
Hafenbau in Ehren – aber wollen wir, in eine südliche Landschaft versetzt, das glauben? „Sumpffieber“ gab es reichlich auch in den Pontinischen Sümpfen; es war Malariagebiet.
Der Hinweis auf nord- oder ostdeutsche Entwässerungsunternehmungen wird völlig fragwürdig dort, wo davon die Rede ist, daß die
Urbanisation des faulen Pfuhls „vielen Millionen“ Räume eröffne – wo
wollen wir die im Bremer Hafengebiet finden? Wo in den westpreußischen Bruchgebieten? In den früheren Pontinischen Sümpfen
siedeln heute in der Tat Millionen, „Grün das Gefilde, fruchtbar;
Mensch und Herde/ Sogleich behaglich auf der neusten Erde“
(V. 11565f.). Vor allem aber: wo haben wir das Meer auf der 36 km
langen Kanalstrecke zwischen Warthe und Netze? Häfen gab es auch
am Rande der Pontinischen Sümpfe: etwas südlich davon Sperlonga mit
dem berühmten Schiff des Odysseus, und Gaeta, heute noch Hafen
und Kriegshafen.
Ein Blick in das Lesartenverzeichnis der deswegen nach wie vor unverzichtbaren Weimarer Ausgabe verleiht unserer Argumentation noch
17
18
FA I/7,2, S. 716.
FA I/7,2, S. 716f.
Zu Fausts letzter Vision
45
ein wenig Nachdruck. Für die Verse 11559 bis 11580 stand ursprünglich, die genannten Verse summierend, folgender Text:
Dem Graben der durch Sümpfe schleicht
Und endlich doch das Meer erreicht
Gewinn ich Plaz für viele Millionen
Da will ich unter ihnen wohnen,
Auf wahrhaft eignem Grund und Boden stehn. 19
Die Sümpfe, der Graben, der sich bis zum Meer durchzieht, das ist der
visionäre Nukleus, den Goethe dann in der endgültigen Fassung ausbaut und erweitert. Mit großer Wahrscheinlichkeit sind also die Pontinischen Sümpfe das, was Goethe vor Augen geschwebt haben mag, als er
die Szene „Großer Vorhof des Palasts“ schrieb. „Das ist der Weisheit
letzter Schluß“, ist man versucht zu sagen. Aber es gibt noch einen
allerletzten Schluß. „Größe und Hybris“20 seien hier zu erkennen, meint
ein Kommentator. Hier scheint die Realität des Grabes Fausts Blick in
eine Zukunft, die nur in wahnhafter Weise existiert, zu besiegen. Aber
wird das Gesicht des blinden Faust tatsächlich durch die Realität zerstört und zum absurden Wahn? Kann die Wirklichkeit der schaufelnden
Lemuren Fausts Idee widerlegen? Wie immer man die Vision von der
Urbarmachung des Sumpflandes auch verstehen will: sie ist zukunftsorientiert, und diese Vision ist kein Exkurs, sondern steht im Zenit von
Fausts Glücksverlangen, beendet die Welt des Mephistopheles, ist die
Erfüllung jenes Wunsches vom Augenblick, dem er Ewigkeit verleihen
möchte. Die Nähe der Faust-Visionen zu den Visionen des blinden
Teiresias ist zu auffällig, als daß sie beiseite geschoben werden sollte.
Nur aus der Perspektive Mephistos ist das, was Faust sieht, ein dummer
Wahn des zur Vernichtung Bestimmten; aber auch nur Mephistopheles
deutet das „Graben“ in ein „Grab“ um. Gehen wir davon aus, daß die
Teiresias-Parallele gewollt ist und daß damit die Vision Fausts gewissermaßen mythengenealogisch begründet ist, so widerlegt Mephistopheles’ geringschätziges Urteil das, was Faust zu erkennen glaubt, keineswegs; hier wird vielmehr Mephistopheles widerlegt. Denn Teiresias
hat nicht Wahngesichte gehabt, sondern, eine Gabe Zeus’, Zukünftiges
richtig prophezeit: er hat die Lebensschicksale des Ödipus und die Be19 Goethes Werke. Hg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachen (= WA), I. Abteilung, Bd. 15,2, S. 157.
20 HA 3, S. 617.
46
Zu Fausts letzter Vision
lagerung Thebens durch die Sieben vorausgesagt. Das ist nicht wenig.
Erscheint hier aber nun der blinde und trotzdem sehende Faust in
Nachfolge des antiken Weissagers, so werden auch seine Visionen Realität werden: die Zukunft wird erfüllen, was Faust voraussagt.
Wir wissen: die Zukunft hat sie erfüllt. Der zweite Kanal wurde gegraben, Fausts Prophezeiung hat sich gegen alle mephistophelische
Skepsis und Niedertracht als richtig erwiesen. Seit 1932 ist durch die
Urbanisation der ungefähr 760 Quadratkilometer großen Küstenebene
eine Landschaft entstanden, in der zwischen den Albaner Bergen im
Norden und Monte Circeo tatsächlich Millionen leben.
Noch einmal ist vom Kanal die Rede, in der Regieanweisung zur
„Palast“-Szene: „weiter Ziergarten, großer gradgeführter Kanal“. Albrecht Schönes zunächst einmal sehr einleuchtender Kommentar:
„1826 dann hatte Karl Friedrich Schinkel im Park von Sanssouci das
Schloß Charlottenhof errichtet, dessen nach Vorbildern der Renaissance angelegten Ziergarten ein gradgeführter Kanal begrenzt; eine solche
herrscherliche Landschaftsarchitektur mag Goethe für seine „Palast“Szene vorgeschwebt haben“.21 Doch auch hier gilt das „Kann sein,
auch nicht“. Im Park von Sanssouci gibt es keine schiffbaren Kanäle,
auf diesen keine Schiffe, die „munter hafenein“ ziehen. Daß Goethe
„Canal“, „Canale“ schreibt, ist natürlich Sprachgebrauch seiner Zeit.
Aber letzteres ist zugleich italienische Schreibweise, und wer die früheren Pontinischen Sümpfe heute durchfährt, kann mühelos erkennen,
daß die Kanäle dort breit genug sind, um kleinere Kähne passieren zu
lassen. Das alles mag noch mehr Vision sein als das, was die Schlußszene kurz vor Fausts Hinsinken präsentiert. Aber wenn auch im Folgenden in der Rede Mephistopheles’ vom Meer die Rede ist, dann sollten
wir jeden Gedanken an den Schloßpark von Sanssouci beiseite schieben. Im Charlottenburger Park gab es im übrigen nichts zu „kolonisieren“ (V. 11274). Davon gab es in den Pontinischen Sümpfen um so
mehr. Faust wußte das, und Goethe wußte es auch.
21
FA I/7,2, S. 720.
D E R D I C HT E R
A LS
K U N S T R I C HT E R
Zu Schillers Rezensionsstrategie
Für Lieselotte Blumenthal mit herzlichem Dank
für einigen philologischen Nachhilfeunterricht
1961
Daß man im 18. Jahrhundert im Umgang mit literarischen Werken
anderer nicht gerade zimperlich verfuhr, wissen wir zur Genüge. Der
junge Schiller hat als Rezensent kein Blatt vor den Mund genommen.
„Der Dichter bratet uns an seinem Genie-Feuer, welches doch ein bißchen zu kannibalisch schmeckt“, heißt es in der Rezension über Stäudlins Proben einer teutschen Aeneis 1781.1 Im Schwäbischen Musenalmanach auf
das Jahr 1782 findet Schiller einen „Schwall von Mittelmäßigkeit“ und
hört nur selten „einen wahren Saitenklang der Melpomene“, um so
häufiger aber das „Froschgequäke der Reimer“.2 Das sind literarische
Niederschläge, die es in sich haben, Urteile, die vor nichts zurückschrecken, und in einer Wertskala des Grobianismus würden sie hoch
rangieren. „Alle Gedanken des Gedichts sind ohne allen Zweifel Aussprüche einiger Studenten im Bierrausche, die ein guter Reimer in diese
Gestalt gegossen hat“:3 das ist Schillers Urteil über Stäudlins Gedicht
vom Kraftgenie. Die literarische Rangelei kam hier allerdings nicht ganz
überraschend, denn das Gedicht war an die Adresse Schillers gerichtet,
und Schiller hat die Anspielungen auf die Räuber und die Laura-Oden
gut verstanden; dazu bedurfte es keiner besonderen Hellhörigkeit. Aber
er hätte auch wohl sonst nicht viel anders geurteilt. „Poetischer Plunder“ ist das nicht sehr freundliche Urteil Schillers über das Werk seines
Kontrahenten, über die „Bildwerke einer mittleren Phantasie“ und die
Blümchen vom Helikon – „Hundsviolen und andre gemeine Blumen“
Schillers Werke. Nationalausgabe, hg. von Julius Petersen (†) und Gerhard Fricke,
Weimar 1943ff. (= NA), Bd. 22, S. 186.
2
NA 22, S. 188.
3
NA 22, S. 191.
1
48
Der Dichter als Kunstrichter
sind gemeint. Die poetischen Backen seien zu voll genommen, hier
gebe es nur Nichtsinn, leeren Schellenklang.
Literarische Späße sind das alles gewiß nicht mehr, eher literarische
Totschlagsversuche, die sich auch ungeniert als solche zu erkennen
geben, kritische Hinrichtungen, die nur darin unvollständig sind, daß
der Getroffene, zum alsbaldigen und gründlichen literarischen Tod
Verurteilte im nächsten Werk wiederauferstehen kann. Aber auf keinen
Fall sollen die Dichtungen wiederauferstehen, die hier nun einmal verurteilt und verdammt worden sind: Chronos, der den poetischen Plunder in derart großer Masse vorgesetzt bekommt, kann nicht anders, als
unwillig werden, und er wird sich hüten, die Kindlein des Verfassers ins
nächste Jahrhundert mitzunehmen. So meint Schiller es jedenfalls,
wenn er von Stäudlins Vermischten poetischen Stücken spricht, und natürlich hofft er, daß er recht behält. Nur ein harmloses Gemüt kann hier
bloß etwas unfreundliche Rezensionen sehen. Schiller schlägt mit dem
kritischen Prügel los, so sehr er kann, unbarmherzig und bedingungslos.
Daß der Kontrahent „an den Schwertspitzen der Kritik sich spieße“, ist
der innige Wunsch des Rezensenten, und daß er sich dabei in effigie zu
Tode spießen soll, versteht sich quasi von selbst. Der militante Ton ist
nicht zu überhören: Dichter und Rezensent führen nicht einen belanglosen Kleinkrieg, sondern liefern sich eine Schlacht. „[…] der Heerführer der schwäbischen Musen, Hr. Stäudlin, gürtet sein Schwert um, dem
ganzen unschwäbischen Teutschland ein Generaltreffen zu liefern“:4
unter diesem Bilde erscheint Schiller der Schwäbische Musenalmanach von
1782. Dementsprechend treten Klopstock und seinesgleichen nur noch
als „alte Grenadiere im hohen Alter“ auf. Von der „Schlacht mit der
Kritik“ ist die Rede und „herauskommandierten Liedern“. Nichts oder
doch nur sehr wenig von Zärtlichkeit, Empfindung, Bildung und edlen
Herzen, von liebenswürdiger Poesie und Wohlklang, von strahlenden
Höhen der Poesie oder vollen Herzen: Schiller spricht ironisch und
verächtlich von der „so empfindsamen Witterung im ganzen Teutschland“. Zu den „empfindsamen Tränen“ bemerkt er, daß sie, „inzidenter
anzumerken, endlich einmal aus der Mode kommen dörften“, und das
berühmte poetische Herzklopfen gehört nebst anderen Symptomen
„am Ende gar noch in die Medizin“. Nichts kann vernichtender sein
als, „bei der gegenwärtigen Mode, Kalender zu machen“, und Schillers
scheinheilige Begrüßung für das neueste schwäbische Produkt dieser
4
NA 22, S. 187.
Der Dichter als Kunstrichter
49
Art: „gesegnet sei die endliche prophetische Ankunft des schwäbischen
Musenalmanachs“. Es ist offener Hohn, völlig unverhüllte Spottsucht,
der überlegene Triumph des Rezensenten über das, was ihm vorgelegt
worden ist, bevor er mit einem Wort nur auf die Sache selbst eingegangen ist, und wie es hier gleich anfangs dem Schwäbischen Musenalmanach
von 1782 ergeht, so ergeht es auch Stäudlins Vermischten poetischen Stükken. Pegasus habe hier einen harten Dienst, steht am Anfang zu lesen,
und in Württemberg sei es damit besonders schlimm – der Rezensent
spricht sein Urteil, bevor er auch nur eine Zeile über die poetischen
Stücke, über die er sich äußern soll, verloren hat; und nachdem der
Leser derart initiiert worden ist, folgt eine zweite Philippika: man hört,
welche seltenen Eigenschaften ein neuer Sänger in sich vereinigen muß,
wenn er wirken will – Schiller setzt die Maßstäbe, nicht etwa Stäudlin,
der gar nicht gefragt wird, ob er das vielleicht auch gewollt haben könnte, was er hier so fraglos zu leisten hat. So wird „der wahre Dichter“
heraufbeschworen und dessen „wahre Begeisterung“, und Schiller weiß
nur zu genau, wie dieser sich verhält und was er zu bieten hat; und so
ist das Urteil über Stäudlin gefällt, ehe der überhaupt zu Wort kommen
konnte, rigoros und unwiderruflich. Bevor von der Sache die Rede
gewesen ist, ist sie erledigt. „So denken wir von den Stäudlinischen
Gedichten überhaupt“, heißt es,5 bevor ein einziges Gedicht besprochen wurde, und was folgt, sind nur noch einige Anmerkungen, Marginalien, die mit dem Ganzen wenig zu tun haben; ein paar Gedichte
werden genannt, aber nicht, um prototypische Züge aufzuzeigen, sondern als Nachtrag zum Eigentlichen – aber dieses betraf nicht Stäudlin,
sondern Schiller und seine Vorstellungen vom „wahren Dichter“. Diese
sind vorangesetzt, und nach ihnen hat sich Stäudlin zu richten. Ob er
das überhaupt beabsichtigte, steht nicht zur Debatte; ob er nicht vielleicht gänzlich anderes vorhatte, wird nicht erörtert.
Das alles spricht für ein reichlich grobschlächtiges Rezensionswesen,
in dem rasch verurteilt wird, ohne daß lange nach Absicht und Motiven, Zielen und Voraussetzungen gefragt wird. Den Rezensenten
kümmert es nicht sonderlich, ob sein Urteil rechtens sei, aber es kommt
ihm sehr darauf an, daß er das, was er sagt, so provokativ und verletzend wie möglich formuliert, und so schlägt er denn los. Da ist von
„Gemälden voll Nichtsinn und Verwirrung“ und „schwäbischer Blödigkeit“ die Rede und davon, daß der Gärtner von einem Holzapfel5
NA 22, S. 190.
50
Der Dichter als Kunstrichter
kern keine Ananas zu erwarten habe. Schiller richtet am Ende der Proben einer teutschen Aeneis väterlich „nun noch ein Wort an das Herz des
jungen Dichters“ – Schiller ist zweiundzwanzig, Stäudlin ein Jahr älter.
Voller Empfindlichkeit aber reagiert Schiller, wenn der Verfasser seinen
eigenen Wert zu erkennen gibt, denn hier geht es um Eingriffe in den
Herrschaftsbereich des Rezensenten und in dessen am hartnäckigsten
verteidigtes Grundrecht. Die Aeneis-Rezension schließt mit der Bemerkung: „Endlich überströmt der Hr. Verf. gar zu sehr von Gefühl seines
eigenen Dichterwerts, welches dem Leser, der in diesem Punkt gern
selbst entscheidet, in sein Recht greifen heißt.“6 Es klingt wie eine belanglose Abschiedsfloskel. Aber der satirische Protest gegen eine eigenmächtige Selbstbewertung wiederholt sich am Schluß der Rezension
über den Schwäbischen Musenalmanach auf das Jahr 1782 – eine nur zu
deutliche Warnung an Stäudlins Almanach, sich nicht eigenmächtig und
verblendet als „Epochmacher“ darzustellen. Derartiges kommt dem
Rezensenten zu, gewiß nicht dem Autor – und so geht es am Ende
dieser beiden Besprechungen denn noch einmal scharf über den Verfasser und Herausgeber her, und Schiller stellt dem Titelkupfer vom
Aufgang der Sonne überm Schwabenland die düstere Vision des Nordsterns
entgegen, der „Kälte prophezeit“: das Bild des Almanach-Herausgebers
war dem Rezensenten ein allzu selbstbeschönigendes, und so kehrt er
es Zug um Zug um, mit der Absicht, den kühnen Editor mit Hilfe seiner eigenen Vorstellungen „in der Finsternis taumelnd“ zu widerlegen.
Der Rezensent hat nicht nur das erste Wort, wenn er dem Autor vorschreibt, was er eigentlich darzustellen habe, sondern auch das letzte.
Schiller ist gewiß kein besonders radikaler Vertreter des rezensorischen Grobianismus. Der ist in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts
gang und gäbe, und man hat Schiller ganz ähnlich mitgespielt. „Mit
welcher Stirn kann ein Mensch doch solchen Unsinn schreiben und
drucken lassen, und wie muß es in dessen Kopf und Herz aussehen, der
solche Geburten seines Geistes mit Wohlgefallen betrachten kann“,
lautet das Urteil von Karl Philipp Moritz über Kabale und Liebe; „was
dieser Verfasser angreift, wird unter seinen Händen zum Schaum und
Blase“.7 Grillparzer hat über Kabale und Liebe nicht viel freundlicher
NA 22, S. 186.
Berlinische Staats- und Gelehrten Zeitung vom 21. VII. 1784. Zu den folgenden Zitaten vgl. Verf.: Friedrich Schiller, Stuttgart 1966, Bd. 1, S. 15 bzw. 42; Bd. 2, S. 41, 51, 60,
69.
6
7
Der Dichter als Kunstrichter
51
geurteilt als Börne über Wallenstein. Goethe und Wieland empfanden
einen „ebenso großen Greuel“ an der „seltsamen Hirnwut, die man izt
am Neckar für Genie zu halten pflegt“: die Räuber sind gemeint. Hegel
fand im Wallenstein „das Reich des Nichts“ und das Drama „nicht tragisch, sondern entsetzlich“, Jean Paul in Maria Stuart nur die „Stieftochter der Muse“, Schlegel in der Braut von Messina eine „tragische Fratze“,
Otto Ludwig in der Jungfrau von Orleans eine „alberne Proposition“ – die
Reihe ähnlicher Urteile ließe sich fast beliebig verlängern, und so hat
man Schiller denn heimgezahlt, was er über Stäudlin geschrieben hatte,
unwissend natürlich, aber eben doch wie zur Demonstration des Lessingschen Satzes in seinen Bemerkungen über Der Recensent braucht nicht
besser machen zu können, was er tadelt, der diese beschließt: „Und überhaupt sind die Kunstrichter die einzige Art von Krähen, welche das
Sprichwort zum Lügner machen.“8
*
Doch der Eindruck chaotischer Willkür täuscht; und vor allem täuscht
der Eindruck subjektiver Besserwisserei, der sich in den frühen Rezensionen Schillers aufdrängen muß. Der Rezensenten-Hochmut gehört
nur zu sehr zum Schema, und Schillers dünkelhaft anmutende Herablassung ist alles andere als vom Privathaß auf Stäudlin diktiert; sie ist
Ausdruck der Rolle, die Schiller hier einnimmt, und er hätte kaum anders urteilen können, wenn er als Rezensent ernstgenommen werden
wollte. Lessings Titel Der Recensent braucht nicht besser machen zu können,
was er tadelt untertreibt eigentlich nur, was längst zum Standard des Rezensierens gehörte: die unbezweifelte und unbezweifelbare Stellung des
Rezensenten. Bei Lessing ist sie bereits fest etabliert, und es ist keine
Frage, daß der Kunstrichter weit über dem Mann von Geschmack
steht; dieser beruft sich bloß auf seine Empfindung, jener aber unterstützt sie „mit Gründen“. Doch Lessing ist nur eine späte Station auf
dem Wege der Kritiker-Emanzipation. Die entscheidenden Schritte
sind fast 40 Jahre zuvor getan worden, von keinem Geringeren als
Gottsched selbst, der im Kapitel „Von dem Charactere eines Poeten“
die Grundlegung dieses kritischen Selbstbewußtseins gegeben hatte,
wenn er schrieb:
8
Gotthold Ephraim Lessings sämtliche Schriften, hg. von Karl Lachmann und Franz
Muncker, Bd. 15, Berlin 1900, S. 65.
52
Der Dichter als Kunstrichter
Wenn man ein gründliches Erkenntniß aller Dinge Philosophie nennt; so sieht
ein jeder, daß niemand den rechten Charakter von einem Poeten wird geben
können, als ein Philosoph; aber ein solcher Philosoph, der von der Poesie
philosophiren kann, welches sich nicht bey allen findet, die jenen Namen sonst
gar wohl verdienen. Nicht ein jeder hat Zeit und Gelegenheit gehabt, sich mit
seinen philosophischen Untersuchungen zu den freyen Künsten zu wenden,
und da nachzugrübeln: woher es komme, daß dieses schön und jenes häßlich
ist; dieses wohl, jenes aber übel gefällt? Wer dieses aber weis, der bekömmt
einen besondern Namen, und heißt ein Kriticus. Dadurch verstehe ich nämlich
nichts anders, als einen Gelehrten, der von freyen Künsten philosophiren, oder
Grund anzeigen kann.9
Das Besondere des Kritikers liegt darin, daß er über die Poesie philosophieren kann; und das wird seinen Rang bis in das erste Drittel des 19.
Jahrhunderts ausmachen, denn erst in dieser Zeit wird die Kunst des
Rezensierens verfallen und profaniert werden. Auch die Kernfrage nach
der eigenen Natur des Schönen wird bleiben; Gottsched stellt sie hier
zwar in seinem pedantischen und altväterlich anmutenden Deutsch,
aber sie wird von Baumgarten bis Moses Mendelssohn, von Sulzer bis
Schiller immer wieder gestellt werden. Es ist der Kritikus, der eben
diese Frage, „woher es komme, daß dieses schön und jenes häßlich ist“,
beantworten kann; da er das vermag, ist sein Rang unbestritten, und so
kann er mit Spott und Hohn über alle jene herfahren, die Häßliches,
Ungereimtes und Schwaches schreiben; er wäre kein Kritikus, täte er es
nicht.
So erklärt sich also schon von dorther Schillers scheinbar so hochfahrende Haltung dem von ihm so scharf besprochenen Stäudlin gegenüber als höchst traditionelle Verhaltensweise des Kritikers zu seinem Gegenstande; Lessing ist mit Gottsched, der eben diese Haltung
begründet und verteidigt hatte, nicht anders verfahren, und noch die
Frühromantiker haben so rezensiert; und so erfüllte sich ein ganzes
Jahrhundert lang der ironische Entwurf Shaftesburys vom Verhältnis
des Kritikers zu seinem Opfer: „The CRITICKS, it seems, are formidable
to ‘em. The CRITICKS are the dreadful Specters, the Giants, the Enchanters,
who traverse and disturb ‘em in their Works“10 – ein Satz, den Shaftesbury wohl nicht geschrieben hätte, wäre die Furcht vor der Kritik und
9
Johann Christoph Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen,
Leipzig 1751, Neudruck Darmstadt 1962, S. 96.
10 Charackteristicks of Men, Manners, opinions, Times: Advice to an Author, 1727, S. 231.
Der Dichter als Kunstrichter
53
die allgemeine Abneigung nicht tatsächlich recht groß gewesen. Aber
wie dem auch sei: schon in der Gottsched-Zeit ist die literarische Kritik
über die bloße Geschmacksrichterei zur vernünftigen, d. h. philosophisch orientierten Wissenschaft erhoben worden, und Schillers Haltung gegenüber Stäudlin spiegelt ebenso wie Lessings kleine Schrift Der
Recensent braucht nicht besser machen zu können, was er tadelt den selbstverständlichen Hochmut des gelehrten Kritikers im 18. Jahrhundert, der
sich seiner philosophischen Überlegenheit in eben dem Maße bewußt
ist, wie er vor sich nur den Dichter sieht, der sich allenfalls „poetische
Freyheiten“ (Gottsched) erlauben kann, dem es aber an wahrer Einsicht
in „Redekunst und Poesie“ mangelt.
Schiller wäre ein schlechter Rezensent gewesen, hätte er sich nicht
jener Haltung befleißigt, die dem Kunstrichter längst vorgeschrieben
war, und er hätte sich selbst desavouiert, wäre er vom Kothurn des
„Criticus“ ohne Grund herabgestiegen. Dazu war der Stand des Kritikers zu sehr etabliert, wenngleich Stäudlin seinem Kunstrichter gegenüber gewiß nicht mehr das empfand, was Shaftesbury idealisch verklärte, wenn er schrieb:
Such Accuracy of Workmanship requires a CRITICK’s Eye. Tis lost upon a
vulgar Judgement. Nothing grieves a real Artist more than that indifference of
the Publick which suffers Work to pass uncriticiz’d. Nothing, on the other side,
rejoices him more than the nice View and Inspection of the accurate Examiner
and Judg of Work.11
Stäudlin hat, verständlicherweise, ganz anders reagiert.
Der Kritiker als Kunstrichter, literarische Kritik als philosophische
Wissenschaft (oder, wie Shaftesbury es nannte: „the Cause and Interest of
CRITICKS […] the same with that of Wit, Learning and good Sense“):12
das hielt sich das ganze 18. Jahrhundert hindurch. Für Bodmer ist literarische Kritik gleichsam der praxisbezogene Teil der Kunsttheorie.
Seinem „Criticus“ geht die „Verbesserung der Kunst wahrhaftig zu
Hertzen“;13 schon deswegen steht der Kritikus über dem Scribenten,
und über dem schlechten allzumal. „Rechtschaffene Kritik“ steht hier
gleichrangig neben „rechtschaffener Philosophie“ – daß die literarische
Kritik in den vierziger Jahren eine eigene Form noch nicht so recht
Ebd., S. 234.
Ebd., S. 260.
13 Johann Jacob Breitinger: Critische Dichtkunst. Faksimiledruck nach der Ausgabe
von 1740, Stuttgart 1966, Vorrrede.
11
12
54
Der Dichter als Kunstrichter
gefunden hatte, spricht nicht dagegen, sondern dafür, da sie sich ja als
Teil der allgemeinen Kunstlehre begriff. Diese Herkunft wird das ganze
18. Jahrhundert hindurch nie ganz unsichtbar, bis hin zu Schillers späteren großen Kritiken. Ihre spezifischen literarischen Formen bildeten
sich erst allmählich nach Bodmers Vorrede zu Breitingers Critischer
Dichtkunst aus, in der sich so etwas wie eine erste umfassendere Grundlegung der literarischen Kritik findet, weil, wie er schreibt, „der Geschmack an critischen Schriften […] bey der deutschen Nation noch
nicht so wohl befestiget“ sei, „daß man nicht nöthig hätte, sie mit Vorerinnerungen über gewisse Puncten einzuführen, wiewohl man mit der
grösten Begründniß hoffen kan, daß er in kurtzer Zeit insgemeine
durchbrechen werde“.14 In den vierziger Jahren aber realisierte sich
diese Hoffnung durchaus schon – und bei Lessing ist die Position des
Kunstrichters bereits wie selbstverständlich etabliert. Lessings 17. Literaturbrief etwa zeigt deutlich, daß der Kritiker, als solcher autark, gar
nicht mehr der Absicherung durch Autoritäten oder Kunstregeln bedarf, wie sich das bei Gottsched noch findet: er ist zu einer absoluten
Größe geworden, die nichts mehr über sich kennt. Sie äußert sich
schon zu Beginn dieses Literaturbriefes im wie selbstverständlich formulierten Anspruch, auch gegen eine fest etablierte Macht auftreten zu
können. Von alledem her wird auch der auf den ersten Blick so merkwürdige Titel der kleinen Schrift Der Recensent braucht nicht besser machen
zu können, was er tadelt verständlicher. Er ist der Bessermacherei enthoben, weil er Kritiker ist: eine unbezweifelbare Instanz, die per se recht
hat. Der Kunstrichter steht denn auch wie völlig selbstverständlich über
dem Poeten, da er noch dann Kunst kritisch beurteilen kann, wenn der
Poet schon nicht mehr imstande ist, die Schwächen seiner Arbeit zu
sehen. Damit ist der hohe Rang des Kritikers für Lessing endgültig
fundiert. Der Kritiker reflektiert, wo der Dichter nur schreibt, und es ist
eben dieses Ausmaß an Reflexion, an philosophischer Erkenntnis und
Urteilsfähigkeit, das ihn so eindeutig über den Dichter stellt. „Was sind
die Gründe des Kunstrichters?“ schreibt Lessing. „Schlüsse, die er aus
seinen Empfindungen, unter sich selbst und mit fremden Empfindungen verglichen, gezogen und auf die Grundbegriffe des Vollkommnen
und Schönen zurückgeführt hat“.15
14
15
Ebd.
Lessing (wie Anm. 8), S. 63.
Der Dichter als Kunstrichter
55
Eben das gehört zum Elementarbestand des Kritikers; er braucht
sich die Grundbegriffe des Vollkommenen und des Schönen nicht
abzuleiten. Nicht mehr ein übergeordnetes Prinzip entscheidet über
Rang und Qualität einer Dichtung, sondern eine inhärente Vorstellung
des Kritikers: er kann sich auf das Vollkommene und Schöne als gleichsam in ihm selbst anwesende Instanz berufen.
Daß es in der Mitte des 18. Jahrhunderts auch Kritik am neuen Kritikerstand gab, minderte nicht dessen Bedeutung, sondern machte nur
noch offenkundiger, zu welcher Macht die literarische Kritik inzwischen geworden war. So hat Johann Georg Hamann sich mit sarkastischer Kritik 1762 in seinem Aufsatz über Schriftsteller und Kunstrichter
geäußert. Bodmer hatte die Vorrede zu Breitingers Critischer Dichtkunst
noch ausdrücklich als „Schutzschrift der Critick“ verstanden; Hamanns
Aufsatz ist das genaue Gegenteil. „Die heroischen Zeiten sind an Dieben und die philosophischen an Betrügern fruchtbar“ – damit wird eine
Kritik am Kritiker eingeläutet, die ihresgleichen sucht:
Ein alter Knabe, der seine eigene Hand nicht lesen kann, der das nicht versteht
noch behält, was er selbst schreibt, übernimmt sich gleichwol, jede fremde
Schrift aus dem Stegreif aufzulösen. Und wie geschieht das? Weil er sich auf
Leser verläst, die eben so unwissend und eben so naseweise, als er selbst ist,
denen man jeden blauen Dunst für Wolken, und jede Wolke für eine Juno
verkaufen kann.16
Hier deutet sich vorsichtig, zögernd und tastend eine Umorientierung
in der Einschätzung des Verhältnisses von Kritik und Poesie an, die
wenige Jahre später dazu führen wird, daß die Kunstrichterei nicht an
die Dichtung selbst herankommt – weder was den Rang noch was das
Verständnis angeht. Die Dichtungsauffassung des Sturm und Drang
kündigt sich an, der Protest gegen Vernünftigkeitsvorstellungen und
philosophische Ideale der frühen Aufklärung: der Kunstrichter gerät
unter den Schriftsteller. Das bedeutet allerdings noch nicht den endgültigen Verruf des Kritikers; Schiller steht mit seinen Rezensionen noch
ganz in der Tradition des aufgeklärten Rezensenten, dessen Kunstrichtertum so unbezweifelt wie drakonisch ist. Beim jungen Schiller ist die
Position des Kritikers und das Selbstverständnis des Rezensenten noch
völlig ungebrochen. Aber es handelt sich hier nicht um eine geradezu
16 Johann Georg Hamann: Sämtliche Werke, Bd. 2: Schriften über Philosophie/Philologie/Kritik 1758-1763, Wien 1950, S. 335.
56
Der Dichter als Kunstrichter
böswillige Besserwisserei. Aus Schillers Verurteilung spricht nichts
anderes als das Selbstbewußtsein des Kritikers; dieser aber war vorgeprägt, seit Bodmer spätestens fest etabliert, ein Kunstlehrer, auch und
gerade wenn er kritisierte, die Personifikation philosophisch richtiger
Grundsätze. Und der so anmaßend wirkende Ton der frühen Schillerschen Rezensionen ist nicht Hybris des Sturm und Drang, sondern
gehört mit zur gleichsam didaktischen Aufgabe des Kritikers. Kritik
demonstriert etwas Positives am negativen Beispiel, und sie tut das, um
das Richtige zu zeigen, nicht etwa, um Falsches nur bloßzustellen: und
so ist sie Teil einer Aufklärung, die sich als solche, ungebrochen von
Empfindsamkeit und Sturm und Drang, auch in den 80er Jahren des
18. Jahrhunderts gerade in der literarischen Kritik fast ungebrochen
erhalten hat.
Eben diese zu Schillers Zeiten schon traditionelle Rolle des literarischen Kritikers hat das Rezensionswesen zugleich zum Ort grundsätzlicher Stellungnahmen und Feststellungen gemacht. Bis in das Ende des
18. Jahrhunderts hält sich Bodmers Auffassung, daß der schlimme Geschmack einen fürchterlichen Feind bekommen habe: die gesunde Philosophie, „indem diese durch das Mittel der Untersuchung, das ist, der
Critick, alles prüffet, und aus einem vorsichtigen Mißtrauen gegen der
betrüglichen Empfindung und den ungenugsamen Erfahrungen nichts
vor schön annimmt, wovon sie nicht zulängliche Gründe angeben
kann“.17 Kritik ist hier freilich in einem umfassenderen Sinne als Philosophie des Schönen schlechthin verstanden. Aber diese Grundhaltung
prägt zugleich das im 18. Jahrhundert so breit aufkommende Rezensionswesen. Denn dem Kritikus vor allem geht die „Verbesserung der
Kunst wahrhaftig zu Hertzen“, und so rückt schon für Bodmer die
„rechtschaffene Critick“ schließlich gleichrangig neben die „rechtschaffene Philosophie“. Der Rezensent weiß nicht nur, durch Tradition und
Amt, um die „Grundbegriffe des Vollkommnen und Schönen“ (Lessing); er stellt sie auch dar. Die Kritik setzt Maßstäbe oder bringt sie
wenigstens wieder in Erinnerung – und je höher der Kritiker im Rang
stieg, desto bedeutsamer wurde das Grundsätzliche bei ihm. Für Bodmer kommt es darauf an, „die Gründe dessen, was wegen der Natur der
Sachen gefallen muß, in würcklich mißfallenden Erfahrungen und Beyspielen [zu] erklären“.18 Demonstration des Schönen am abschrecken17
18
Breitinger (wie Anm. 13), Vorrede.
Ebd.
Der Dichter als Kunstrichter
57
den Beispiel: das ist das eigentliche Feld der literarischen Kritik. Von
dorther erklärt sich zu einem guten Teil das Überwiegen einer negativen Kritik vor allem in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts: mit
persönlicher Irascibilität oder mißgünstiger bloßer Krittelsucht hat das
nichts zu tun und schon gar nichts mit einer modisch gewordenen literarischen Mordlust. Denn die literarische Kritik des 18. Jahrhunderts
hatte eben das, was der modernen Kritik so sichtbarlich abgeht:
Grundbegriffe des Vollkommenen und Schönen. Sie sollen demonstriert werden, und zwar dort, wo die literarische Kritik ihr Feld hat: am
negativen Beispiel. Sie hat zu zeigen, wie es nicht sein soll, damit um so
deutlicher werde, wie es wirklich sein müsse. Und damit kein Zweifel
sei, daß es dem Kritiker nicht um ein boshaft-vergnügliches Gericht
über jemanden gehe, der sich nicht wehren kann, hat Bodmer das Tun
des Rezensenten, das also auf die Demonstration des Schönen durch
das Beispiel des Häßlichen hinauslief, als ein höchlichst moralisches
beschrieben: „Die reinen und aufrichtigen Absichten eines solchen
Critici kann man daraus erkennen, wenn er zeiget, daß er an der Entdeckung der Fehler mehr Verdruß als Lust und Vergnügen schöpfe“.19
Der Kritiker richtet nur ungern; aber er muß es, so sagt Breitinger, weil
es seines Amtes ist, am Kleinlichen das Große zu zeigen und am Mißlichen das Wahre.
Das alles ist natürlich nicht kodifiziert; aber da Schillers frühe Rezensionen über den ersten Eindruck von Willkür, Rechthaberei und Anmaßung hinweg sich nur zu deutlich in dieses Schema fügen, liegt es
nahe anzunehmen, daß auch seine Kritiken diesem Grundschema folgen, das sich in den 40er Jahren entwickelte. Jedenfalls spricht mehr
dafür als dagegen. Man würde Schillers frühe Rezensionen (von aller
juvenilen Streitlust, die sicherlich auch mitspielte, einmal abgesehen)
mißverstehen, sähe man in ihnen nur den Wunsch nach möglichster
Vernichtung des literarischen Kontrahenten dokumentiert. Literarische
Kritik ist auch in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts durch alle
Destruktion hindurch konstruktiv orientiert: das Falsche wird bloßgestellt, um das Richtige zu zeigen. Es wäre absolut irrig anzunehmen,
daß die kritische Analyse auf das Eigenwerk und die Eigenexistenz des
Kritisierten ausgerichtet sei. Die Kritik zielt aufs Allgemeine und nicht
aufs Einzelne; sie ist genotypisch orientiert und nicht individuell, und
das Einzelwerk wird nicht an seinen inhärenten Maßstäben gemessen
19
Ebd.
58
Der Dichter als Kunstrichter
als vielmehr an den Maßstäben der Kunst schlechthin. Und dementsprechend stehen denn auch in den frühen Rezensionen Schillers meist
grundsätzliche Feststellungen. So geht er schon in seiner ersten Stäudlin-Rezension „zuvörderst“ auf die Problematik von Übersetzungen an
sich ein, aufs Grundsätzliche derartiger Unternehmungen: „Von einer
Übersetzung fordere ich, daß sie Treue mit Wohlklang verbinde; daneben den Genius der Sprache, in der sie geschrieben ist – nicht aber den
der Originalsprache atme. Also gehört zu einem guten Übersetzer genaue Philologie einer doppelten Sprache“.20 Das ist freilich alles ziemlich selbstverständlich. Aber bedeutsamer ist, daß sich die Frage, ob
Stäudlin den gleichen Grundsätzen huldige, überhaupt nicht stellt: nicht
Stäudlin interessiert, sondern die Regel einer guten Übersetzung, die für
die Übersetzung spezifischen „Grundbegriffe des Vollkommnen und
Schönen“. Und so geht es in Schillers Rezensierpraxis weiter. Die Besprechung des Schwäbischen Musenalmanachs von 1782 setzt mit einer
Erörterung über Almanache überhaupt ein: das Generische ist von
Belang, nicht das Individuelle, denn an jenem wird dieses gemessen.
Die Rezension über Stäudlins Vermischte poetische Stücke beginnt (nach
einem rhetorischen Seitenhieb auf die schwere Fron des armen Pegasus
bei Stäudlin) mit der Feststellung:
Wenn in unserm philosophisch kalten Zeitalter und nach so vielen trefflichen
Dichtern ein neuer Sänger Aufsehen erregen und, was unendlich mehr heißt,
auf Gesinnungen und das ganze System unsrer Empfindungen tief und daurend wirken will, so muß er etliche seltne Eigenschaften vereiniget haben. 21
Das eben ist es; und ohne dieses Grundsätzliche geht es nicht. Erst
dann kommt er auf Einzelheiten und auf Stäudlin, den „Nichtsinn“ und
„leeren Schellenklang“ seiner Gedichte; und reichlich unvermittelt
bricht Schiller ab. Aber das Wesentliche ist ja auch schon gesagt, es
steht am Anfang, in aller Kürze; denn Schiller kann sich auf Grundsätze
berufen, die selbstverständlich sind – wenigstens für ihn.
Natürlich folgt nicht jede literarische Kleinanzeige diesem Schema.
Aber es findet sich, wenn auch manchmal nur in rudimentären Ansätzen, doch zu häufig, als daß man hier an rezensorische Willkür glauben mag. Nicht die Individualitäten der Besprochenen interessieren,
sondern Grundsätze und allenfalls die Differenzen zwischen diesen
20
21
NA 22, S. 180.
NA 22, S. 189.
Der Dichter als Kunstrichter
59
Grundsätzen und dem Kritisierten. Die Suche nach individuellem
Werkverständnis, nach einem Eingehen des Rezensenten auf die besonderen Prämissen dessen, den er bespricht, wäre ganz sinnlos. Prinzipien gelten, und der Dichter hat sie zu befolgen, beileibe nicht erst zu
entwerfen.
Die legislative Macht des Rezensenten wird in späteren Rezensionen
nicht geringer, sondern eher nur noch deutlicher. Geradezu prototypisch ist die Egmont-Rezension; sie setzt (nach einigen einführenden
Hinweisen) mit einer massiven Grundlegung ein, an der selbst Goethe
nicht vorbeikommt; kaum in einer anderen Rezension Schillers wird der
Anspruch des Kritikers, „Kunstlehrer“ und „Kunstrichter“ sein zu
wollen, der nicht bloß empfindet, „daß ihm etwas nicht gefällt“, sondern der „auch noch sein denn“ hinzufügt,22 so deutlich wie hier, wenngleich es in Schillers Augen nicht nur Schwächliches und Unverständliches, sondern auch sehr viel Überzeugendes gibt. Aber am Anfang
steht die Proklamation poetologischer Grundsätze, und nichts wirkt im
Zusammenhang mit der Geschichte des Rezensionswesens im 18. Jahrhundert selbstverständlicher als das.
Entweder es sind außerordentliche Handlungen und Situationen, oder es sind
Leidenschaften, oder es sind Charaktere, die dem tragischen Dichter zum Stoff
dienen; und wenn gleich oft alle diese drei, als Ursach und Wirkung, in Einem
Stücke sich beisammen finden, so ist doch immer das eine oder das andere
vorzugsweise der letzte Zweck der Schilderung gewesen:
damit beginnt ein langer Passus über Stoffe und die Konzeption des
Tragischen, an der auch neue Formen der Tragödie nichts ändern können, und nichts könnte deutlicher den gesetzgeberischen Aspekt des
Kritikers unterstreichen als der letzte Satz dieser Einführung: „Es ist
hier nicht der Ort zu untersuchen, wie viel oder wie wenig sich diese
neue Gattung mit dem letzten Zwecke der Tragödie, Furcht und Mitleid zu erregen, verträgt; genug, sie ist einmal vorhanden, und ihre Regeln sind bestimmt“.23
Das ist es; und der Kritiker ist berufen, eben diese Regeln wieder in
Erinnerung zu rufen: das ist seines Amtes seit Gottscheds und Breitingers Zeiten. Und erst nach einem weiteren Passus über die Geschichte
des wahren Egmont kommt Schiller zu „diesem Trauerspiel“ – also zur
22
23
Lessing (wie Anm. 8), S. 63.
NA 22, S. 199f.
60
Der Dichter als Kunstrichter
Sache im heutigen Sinne, im Sinne des 18. Jahrhunderts aber zum singularen Demonstrationsobjekt, das letztlich nicht viel mehr ist als Mittel zum Zweck, nämlich ein Instrument zum Nachweis dessen, was am
Anfang stand: der „Regeln“, die ein für allemal „bestimmt“ sind.
Man muß um die Vorgeschichte des Rezensionswesens im 18. Jahrhundert wissen, um auch Schillers Rezension Über Bürgers Gedichte recht
zu verstehen. Schiller hatte nicht reine Freude damit, und wenn Goethe
auch öffentlich erklärt hatte, „er wünschte Verfasser davon zu sein“,24
so gab es scharfe Angriffe auf Schiller. Man hat Schiller ebenso Einseitigkeiten seiner Theorie vorgeworfen wie mangelndes Verständnis für
lyrische Dichtung, persönliche Feindseligkeit Bürger gegenüber wie
mangelndes Einfühlungsvermögen in die Voraussetzungen eines ihm
allerdings nicht sonderlich verwandten Lyrikers. Humboldt hat in seiner
Darstellung Über Schiller und den Gang seiner Geistesentwicklung 1830 nachträglich in aller Kürze darüber berichtet, wenn er schrieb: „Die Rezension
der Bürgerschen Gedichte […] hat Schillern den Vorwurf der Ungerechtigkeit gegen diesen mit Recht geliebten Dichter zugezogen. Allerdings ist
sie streng“. Freilich zeigen sich auch hier schon die Spuren der Mißverständnisse, wenn Humboldt schreibt: „Allein an den darin aufgestellten
allgemeinen Forderungen würde er darum gewiß nichts nachgelassen
haben, und diese verdienen gerade hier als wahrhaft individuelle und
persönliche Ansicht Schillers herausgehoben zu werden. An niemand
richtet er diese Forderungen so streng als an sich selbst“.25 Eben das ist
falsch oder zumindest einseitig: Schillers grundsätzliche Ansicht mag
eine „wahrhaft individuelle und persönliche“ gewesen sein, aber das tut
hier nichts zur Sache, und damit ist diese auch gewiß nicht zureichend
begründet. Schiller spricht als Kritiker, als Kunstrichter, der nach
Grundsätzen an sich urteilt und gewiß nicht nach solchen, die bloß in
seiner Person begründet sind.
Verkannt worden ist das immer wieder; es führte fast zwangsläufig
dazu, daß man Bürger in Schutz nahm. Noch Jacob Grimm erwähnt in
seiner Rede auf Schiller 1819, daß die Rezension über Bürgers Gedichte
„diesem sehr wehe tat und auch manches an ihm verkennt“26 – ersteres
stimmt, letzteres nur dann, wenn man von der Kritik ein individuelles
Zur Aufnahme der Rezension vgl. NA 22, S. 410ff.
Vgl. Norbert Oellers: Schiller – Zeitgenosse aller Epochen, Bd. 1, Frankfurt am Main
1970, S. 294.
26 Ebd., S. 450.
24
25
Der Dichter als Kunstrichter
61
Eingehen auf individuelle Ansprüche erwartet. Das aber war nicht
Schillers Absicht. 1910 war in einer Schillerrede von Herbert Eulenberg
gar davon die Rede, daß Schiller Bürger „mit seiner sinnlosen Gehässigkeit in den Tod getrieben hat“.27 Das ist von der Biographie Bürgers
her gesehen Unsinn, wie wir wissen; erstaunlich, daß es sich so lange
gehalten hat. Noch erstaunlicher ist freilich, daß man das Muster der
Kritik darin so völlig verkannt hat.
Schiller selbst hat sich in aller Klarheit darüber ausgesprochen, was
ihm an Bürgers Gedichten so maßlos mißfiel, nachdem er seitenlang an
die „höchsten Forderungen der Kunst“ erinnert hatte. Über die von
ihm proklamierten Kunstgesetze – die Forderung, daß der Künstler
seine Individualität zu veredeln habe, bei „glücklicher Wahl des Stoffs
und höchster Simplizität in Behandlung desselben“28 – ist hinreichend
genug geschrieben worden; sie interessieren hier auch nicht primär. Uns
beschäftigt Schillers Strategie: und die ist eben die, die ihm die Rezensionstradition seit Bodmers Bemerkungen über den Kritiker und sein
schwieriges Geschäft vorschreibt. Es ist zugleich, nur ins Kolossale
verschoben, die seiner frühen Rezensionen. Schiller verfährt übrigens
auch innerhalb dieser Rezension im Kleinen so, wie er im Ganzen vorgeht: einzelne Gedichte werden am jeweils noch einmal vorgestellten
ästhetischen Gesetz gemessen. Schiller setzt gleichsam mehrfach an: auf
die Darlegung des ästhetischen Grundsatzes, daß der Dichter seine
Individualität „zur reinsten herrlichsten Menschheit hinaufzuläutern“
habe, folgt die Kritik am Volkssänger und an einzelnen Liedern Bürgers: An die Hoffnung, Die Elemente, Die Göttingische Jubelfeier und einiges
mehr. Auf die Feststellung, daß nichts „die harmonische Wirkung des
Ganzen“ stören dürfe, folgt als Gegenbeispiel Bürgers Elegie, als Molly
sich losreißen wollte; auf die Forderung, daß der Dichter „das Individuelle
und Lokale zum Allgemeinen zu erheben“ habe, folgen wiederum negative Beispiele: Das Mädel, das ich meine, Das hohe Lied und „mehrere andre“. Nach Hinweisen auf die „Schönheit der Form“ kommen kritische
Bemerkungen zu Einzelnem: zum Blümchen Wunderhold (auch wenn
Schiller hier noch einiges Lob spendet). Das ist sicher kaum Willkür,
auch nicht ein beliebiges Durchsetzen des Grundsätzlichen mit Beweismaterial. Der Proklamation von Gesetzen folgt jedesmal (in freilich
mehr oder minderer Deutlichkeit) die kritische Examination des zur
27
28
Ebd., Bd. 2, München 1976, S. 248.
NA 22, S. 248.
62
Der Dichter als Kunstrichter
Kritik Anstehenden; und für Schiller trifft die Bemerkung Bodmers,
daß „dem Criticus die Verbesserung der Kunst wahrhaftig zu Herzen“
geht, ebenso zu wie der Satz von den „reinen und aufrichtigen Absichten“ eines Kritikers, der „zeiget, daß er an der Entdeckung der Fehler
mehr Verdruß als Lust und Vergnügen schöpfe“. Schiller hat am Ende
seiner Rezension ausdrücklich festgestellt, daß er „bei Gedichten, von
denen sich unendlich viel Schönes sagen läßt, nur auf die fehlerhafte
Seite hingewiesen“ habe,29 und er hat das damit begründet, daß diese
Ungerechtigkeit nur einem Dichter „von Hn. B. Talent und Ruhm“
gegenüber zu vertreten sei. Konstruktive Kritik am destruktiven Exempel: Schiller befolgt diesen Grundsatz beinahe bis zum Extrem.
Bürger verfaßte damals eine Antikritik, die von seiner Verwirrung
ebenso zeugt wie von seiner Überraschung. Er mochte nicht anerkennen, daß da neue „Geschmacksnormen“ festgelegt worden waren, denen er sich so bedingungslos unterwerfen sollte. Aber Schiller hat in
seiner Verteidigung des Rezensenten noch einmal seine Kunstrichterrolle
bekräftigt: „Herrn Bürgers Sache wäre es gewesen, die Anwendung der
vom Rez. aufgestellten Grundsätze auf seine Gedichte, nicht aber diese
Grundsätze selbst zu bestreiten, die er im Ernst nicht wohl leugnen,
nicht mißverstehen kann, ohne seine Begriffe von der Kunst verdächtig
zu machen“.30 Das ist eine nur zu deutliche Bestätigung seiner Rezensionsstrategie, der die „Grundsätze“ über alles gehen und der die poetische Individualität und Eigengesetzlichkeit nichts bedeuten. Schiller
wußte sich im übrigen dadurch gesichert, „daß er in seinem Urteile über
Hn. B. die Meinung einiger der kompetentesten Geschmacksrichter
von diesem Schriftsteller ausgesprochen habe“.31
Da ist er wieder, der Kritiker der Breitinger-Zeit, der nicht zu den
„Richtern“ gehört, „die ihr Urtheil auf die bloße Erfahrung und Empfindung stützen“, und noch weniger zu den „Skribenten von verderbtem Geschmack“; der vielmehr „aus einem vorsichtigen Mißtrauen
gegen der betrüglichen Empfindung und den ungenugsamen Erfahrungen nichts vor schön annimmt, wovon sie nicht zulängliche Gründe
angeben kann“. Schiller ist die lebendigste Verkörperung dieser
Grundsätze in seiner Bürger-Rezension, und er spricht Recht nach eben
den Vorstellungen von Kritik, die Bodmer schon hatte. An Bürgers
29
30
31
NA 22, S. 258.
NA 22, S. 262.
NA 22, S. 264.
Der Dichter als Kunstrichter
63
Gedichten wird ein Exempel statuiert, und nur deswegen interessieren
sie und werden sie besprochen, nicht um ihrer selbst willen, sondern
allein als negatives Anschauungsmaterial. Schiller ruft Maßstäbe in Erinnerung, um an diesen dann das lyrische Werk Bürgers zu prüfen. Wir
haben es fast überdeutlich mit dem im 18. Jahrhundert dominanten
Typus der normierenden Rezension zu tun: hier manifestiert sich noch
einmal das Grundsatzdenken des Jahrhunderts, und damit ist Schillers
Bürger-Rezension eine einzigartige Verteidigung ästhetischer Gesetzlichkeiten an sich. Es muß dem Künstler darum gehen, „das Individuelle und Lokale zum Allgemeinen zu erheben“. Das wirkt fast wie eine
Umkehr des Lessingschen Satzes aus den Abhandlungen über die Fabel,
daß das Allgemeine nur im Besonderen existiere und nur im Besonderen anschauend erkannt werden könne.32 Aber gemeint ist beide Male
das Gleiche: die unbezweifelbare Macht des „Allgemeinen“, und wir
haben es jeweils doch wohl nur mit einer verschiedenartigen Ausprägung der für das 18. Jahrhundert so konstitutiven Spannung zwischen
dem Einzelnen und dem Allgemeinen, dem Individuellen und dem
Generischen, dem Sonderfall und dem Exemplarischen zu tun. Eben
diese Beziehung zwischen dem Einzelnen und dem Allgemeinen stellt
auch Schiller in seiner Rezension her, und damit fällt der Vorwurf, daß
Schiller hier nach Maßstäben geurteilt habe, die dem Bürgerschen Werk
gar nicht zugrunde gelegen hätten, in sich zusammen.
Daß wir es hier, was Schillers Kritik angeht, nicht mit einem Sonderund Einzelfall zu tun haben, zeigt auch die Rezension Über Matthissons
Gedichte, in der das Problem des Verhältnisses von Subjektivem und
Objektivem noch einmal abgehandelt wird, und auch die Über den Gartenkalender auf das Jahr 1795 ist nach dem gleichen Prinzip geschrieben,
das den Einzelfall immer nur vor einem allgemeineren Hintergrund
sehen und würdigen kann. Die Nähe der literarischen Kritik zur literarischen Theorie ist in der Bürger-Rezension aber wohl am größten; die
Kritik erweist sich geradezu als eine Form der literarischen Theorie.
Daß das möglich werden konnte, liegt freilich nicht an der Unschärfe
der Rezension als literarischer Form oder an den ziemlich schrankenlos
sich ausbreitenden ästhetischen Problemen. Es ist vielmehr Folge einer
Kunstanschauung, die das Einzelne nur vom Aspekt des Ganzen her
verstehen konnte; so drang Allgemeines in die Rezension über ein einzelnes Werk ein, und so konnte dieses zum legitimen Anlaß werden,
32
Vgl. Gotthold Ephraim Lessings sämtliche Schriften (wie Anm. 8), Bd. 7, S. 443.
64
Der Dichter als Kunstrichter
Grundsätzliches festzustellen. Auch das trägt ebenso wie der seit Bodmer hohe Rang des Kritikers zur Aufwertung des Rezensionswesens
entscheidend bei. Schon Lessing hatte in seiner Hamburgischen Dramaturgie am Einzelfall allgemeine poetologische Gesetzlichkeiten demonstriert. Schiller argumentiert nicht anders, und seine Kritik ist ganz im
Sinne der Vorstellungen vom wahren Wesen einer Kritik dabei alles
andere als rein destruktiv: er findet immer wieder entschuldigende Worte, um nicht nur zu kritisieren, sondern um die Schwächen noch herabzuspielen. Es ist die Tradition der konstruktiven Kritik im 18. Jahrhundert, die hier weiterwirkt, aber eben auch die der philosophischen Kritik, die über der Kunst steht. Kein anderer Satz könnte das besser verdeutlichen als der in Schillers Verteidigung gegen Bürgers Antikritik:
„Schüchtern trete der Künstler vor die Kritik und das Publikum, aber
nicht die Kritik vor den Künstler, wenn es nicht einer ist, der ihr Gesetzbuch erweitert.“
Es gibt andere Aspekte, die ebenfalls darauf hindeuten, wie stark sich
Schiller in die Tradition der literarischen Rezension stellt. Schiller bezieht auch den Leser, das Publikum in seine Kritik mit ein, er läßt es
mitsprechen und von seinem rezensorischen Gegenstand her angesprochen sein. Spätestens seit den frühen Rezensionen Lessings, etwa der
Klopstockschen Ode an Gott, ist auch das Publikum und dessen Erwartung berücksichtigt. Von da an wächst der Einbezug des Lesers in den
Bewußtseinshorizont des Rezensenten. Das Publikum spielt auch in
Schillers Bürger-Rezension eine wichtige Rolle. Zunächst einmal tritt
Schiller als Vertreter des Publikums auf; es sind nicht Anmerkungen
eines Spezialisten, die hier gegeben werden, sondern Kommentare eines
kritischen Zeitgenossen. Schiller kritisiert gleichsam von einer Allgemeinheit her, deren Teil er selbst ist: die Perspektive des Rezensenten
hat sich damit zwangsläufig ausgeweitet. Das zeigt schon der erste Satz:
„Die Gleichgültigkeit, mit der unser philosophierendes Zeitalter auf die
Spiele der Musen herabzusehen anfängt, scheint keine Gattung der
Poesie empfindlicher zu treffen als die lyrische.“33 Hier geht es nicht
mehr bloß um die Beziehung eines einzelnen Rezensenten zu einem
einzelnen Werk, sondern um solche der Öffentlichkeit, der Zeit zu
einem literarischen Produkt, das allein durch das Faktum seiner öffentlichen Existenz auch eine öffentliche Angelegenheit geworden ist: und
damit hat zugleich die Rezension ihren eigentlichen Öffentlichkeitscha33
NA 22, S. 245.
Der Dichter als Kunstrichter
65
rakter erreicht. Vom Allgemeinheitsanspruch der Kritik her ist auch am
leichtesten verständlich, daß sich in die literarische Kritik hier immer
auch Zeitkritik mit einmischt, eine Kritik des Kunstrichters auch am
Publikum, wie das bereits der erste Satz deutlich zu erkennen gibt. „Die
Zeit“ gehört zu den Abstraktionen der Klassik – hier ist sie schon anwesend, in der Kritik und aus der Sicht des Rezensenten, der sich freilich nur sehr eingeschränkt als ihr Teilhaber begreift. Die geradezu
intime Beziehung zwischen Dichter und Leser, wie sie sich noch bei
Lessing in seinen frühen Rezensionen abzeichnet, ist dahin – an ihre
Stelle ist das Publikum getreten, eine Lesermasse, die für Schiller nicht
mehr differenzierbar ist. Aber sie ist da, es geht nicht ohne das Publikum – und auch darin ist Schiller Traditionalist im Rahmen dessen, was
der Rezensionsstil ihm gewissermaßen vorschrieb.
Bürger verstand das alles nicht; er begriff nicht, wieso er Gesetzen
genügen sollte, die ein anderer ersonnen hatte, und warum er nach
ästhetischen Grundsätzen verurteilt wurde, die er nicht gekannt hatte.
Doch aus seiner Antikritik spricht, nachträglich besehen, nicht nur der
konfus gewordene Volksdichter, dem plötzlich verleidet werden sollte,
was viele an ihm gerühmt hatten. Er verspottet das „höhere Genie“,
das sich hier ein Kunstrichtertum angemaßt hatte, wozu es in Bürgers
Augen nicht legitimiert war. Und er schrieb: „Wäre nun mein Beurteiler
kein höheres, sondern ein Kunstgenie bloß meinesgleichen, so würden
unsere einander entgegenstehenden Autoritäten, wie zwei gleiche unabhängige Kräfte sich wenigstens die Wage halten, und sein Geschmack
müßte von dem meinigen, wie ein Souverain von dem andern, wo nicht
mit schüchterner, doch mit bescheidener Achtung sprechen.“34 Es war
eine etwas simple Verteidigungsstrategie, die Bürger da einschlug – aber
sie scheint über die von ihm aus so gesehene persönliche Fehde doch
ein neues Zeitalter in den Beziehungen des Kritikers zu seinem Gegenstand einzuläuten. Denn was Bürger, wenn auch nur andeutungsweise,
vertritt, ist die Idee von der Eigengesetzlichkeit der jeweiligen Kunstmaximen und die These, daß jeder nach seinen eigenen Werten beurteilt zu werden verdiene. Für Bürger liegen die ästhetischen Maßstäbe
nicht in einer allgemeinen Gesetzlichkeit, sondern im jeweiligen Literaturwerk selbst. Es ist nichts Geringeres als die Auflösung der Ästhetik
des 18. Jahrhunderts, die sich hier ankündigt, der Einzug neuer Wertungskriterien, die Ahnung dessen, daß die Zeit allgemeiner Kunstre34
NA 22, S. 421.
66
Der Dichter als Kunstrichter
geln und einer fraglosen Kunstrichterei vorbei sei. Mit Schillers BürgerRezension endigt die Ära einer Kritik nach unbezweifelbaren Grundsätzen und den „Grundbegriffen des Vollkommnen und Schönen“.
Und die Epoche, in der literarische Wertung zum Problem werden
sollte, beginnt.
D E N KE N
IN
B I LD E RN
Zu Schillers philosophischem Stil
Schiller gilt als abstrakter Kopf. Vor einem Vierteljahrhundert hat Elizabeth M. Wilkinson mit der ganzen Autorität der Kennerin und genauen Übersetzerin kategorisch festgestellt: „He does not create symbols, and his images are for the most part derivative – derived from the
German baroque or from French classical tragedy – and mainly illustrative in function.“1 Dieses Urteil war eindeutig, und es ist seitdem auch
nicht mehr ernsthaft revidiert worden. Ihr Votum war nicht unbegründet – aber war es tatsächlich richtig? Zwar hat Schiller selbst einiges
dazu getan, um sich den Ruf eines aller Bildhaftigkeit mehr oder weniger abholden Schriftstellers einzutragen – und Goethe hat ebenfalls
mitgeholfen. Der berühmte freundschaftliche Streit über die Urpflanze,
von Goethe als Erfahrung, von Schiller als Idee betrachtet,2 hat zweifellos seine langzeitigen Polarisierungseffekte gehabt: Anschaulichkeit
schien nicht Schillers Sache zu sein. Vorher schon hatte er sich in der
Auseinandersetzung mit Bürger zu Äußerungen hinreißen lassen, die
ohnehin den Verdacht nähren mußten, daß der Gedanke bei ihm in
jedem Fall höher stehe als das Bild – was ihn an Bürger störte, war
nicht nur die mangelnde Idealisierungsfähigkeit, sondern auch hier und
da „ein unedles, die Schönheit der Gedanken entstellendes Bild“.3 An
Imaginationen, so Schiller, fehle es Bürger nicht; er spricht ausdrücklich
von dessen „Reichtum an Bildern“;4 aber Bürger blende durch üppige
Farbenwechsel besonders jene Leser, „die nur für das Sinnliche empfänglich sind und, den Kindern gleich, nur das Bunte bewundern“.5 Die
folgende intensive Beschäftigung mit Kants Schriften mußte den Ein1
Elizabeth M. Wilkinson: Schiller – Poet or Philosopher? Special Taylorian Lecture
Delivered 17 November 1959, Oxford 1961, S. 22.
2
Darüber Goethe in den Paralipomena zu den Annalen. Goethes Sämtliche Werke. Jubiläums-Ausgabe, Stuttgart/Berlin o. J. (=JA), Bd. 30, S. 391.
3
Schillers Werke. Nationalausgabe, hg. von Julius Petersen (†) und Gerhard Fricke,
Weimar 1943ff. (= NA), Bd. 22, S. 251.
4
NA 22, S. 256.
5
NA 22, S. 254.
68
Denken in Bildern
druck vom abstrakten philosophischen Kopf nur noch verstärken.
Darüber hinaus hatte Schiller sich mehrfach gegen eine illustrative Philosophie ausgesprochen. Noch im Brief an Goethe vom 12. Januar
1798, von Elizabeth Wilkinson als Kronzeuge ihres Verdikts zitiert,
schreibt Schiller in der Tat davon, wie gefährlich es sei,
einen theoretischen Satz unmittelbar durch Versuche beweisen zu wollen. Es
stimmt dieß wie mir däucht mit einer andern philosophischen Warnung überein, daß man seine Sätze nicht durch Beispiele beweisen solle, weil kein Satz
dem Beispiel gleich ist.6
Dieser Standpunkt war bei Schiller, wenn man den Interpreten glauben
darf, damals aber schon längst fest einzementiert. So hatte er bereits am
10. November 1794 an Körner ähnlich geschrieben: „Der Leser soll
denken, das kann ihm bey Philosophischen Materien nie erspart werden,
und wenn er nicht in dem Context des Ganzen den Schlüßel zu den
schwürigen Stellen findet, so kann ihm nicht geholfen werden.“7
Schließlich wird immer wieder auch der Briefentwurf an Fichte vom 4.
August 1795 ins Feld geführt, in dem Schiller an die „gesunde Vernunft“ appelliert und gegen den „heillosen Geschmack“ zu Felde
zieht.8 Alles das führt zu dem von Elizabeth Wilkinson mehrfach formulierten Urteil: „Schiller was, as he explained on more than one occasion, highly suspicious of illustrations in philosophy. […] His images
are far fewer than Fichte and many others since have asserted; they are
never original, not always felicitous, and rarely potent.“9
Aber ist Schiller wirklich der nüchterne Philosoph, abstrakter Denker
mit einem Primitivschatz an Bildern, der Idee ausschließlich und der
Empirie gar nicht zugetan, ein kantischer Rigorist, ohne Anschauungskraft, zum Sehen unbegabt, jeglicher einleuchtenden Illustration abgeneigt, voller Verdacht gegen die sinnliche Gewalt und Überzeugungsmacht eines Bildes? Auch Goethe hat ihn im Grunde genommen, wenn
auch mit freundlicheren Worten, so geschildert, in Schiller den Idealisten gesehen und nicht den Realisten, immer wieder hat er die Differenz
der Individualitäten beteuert10 und selbst in einem Spätwerk, nämlich in
NA 29, S. 186.
NA 27, S. 80.
8
NA 28, S. 20.
9
Wilkinson (wie Anm. 1), S. 17.
10 Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche, 40 Bde.,
hg. von Friedmar Apel u. a., Frankfurt am Main 1987ff. (= FA), Bd. I,17, S. 392.
6
7
Denken in Bildern
69
den Annalen, seinen ganzen Widerspruch zu Schillers abstrakter Denkart noch einmal formuliert, auch jene Begegnungssituation beschrieben,
in der Schiller so rigoros zum Ideenverteidiger geworden war. Goethe
empfindet, ein Menschenalter nach jener Begegnung, noch einmal die
ihn bedrückende, unglücklich machende Gegenwart eines Kantianers,
der keine Brücke sah zwischen Erfahrung und Idee und der Äußerungen tat wie jene: „Wie kann jemals Erfahrung gegeben werden, die einer
Idee angemessen sein sollte? Denn darin besteht eben das Eigentümliche der letzteren, daß ihr niemals eine Erfahrung kongruieren könne.“11
Das Bild vom kruden Idealisten, der um der Idee willen die Wirklichkeit verachten mußte, war fertig, und es hielt sich bis heute.
Erste Zweifel an diesem glatten, freilich nicht sehr schmeichelhaften
Bild vom kargen Denker, der zur Imagination ein feindliches, bestenfalls gespanntes Verhältnis hatte, müssen freilich schon dann aufkommen, wenn man die immer wieder als Paradebeispiele herangezogenen Bemerkungen Schillers genauer prüft. Die zitierte Äußerung an
Körner, daß der Mensch denken solle und ihm dieses bei philosophischen Materien nie erspart werden könne, ist keine programmatische
Erklärung an sich, sondern bezieht sich auf Reaktionen Körners auf die
Briefe Ueber die ästhetische Erziehung, ist also nur ein nachträglicher
Kommentar zu den dort von ihm bereits vorgetragenen „Kantischen
Ideen“;12 unter keinen Umständen kann aus diesem Brief, wie Elizabeth
Wilkinson das getan hat, herausgelesen werden, daß Schiller einen tiefen Verdacht gegen Illustrationen in der Philosophie hege. Das gleiche
gilt für das Briefkonzept Schillers an Fichte vom 4. August 1795. Kein
Wort davon in diesem Brief, daß Schiller ein Bilderfeind in der Philosophie sei, wohl aber die prophetische Voraussage, daß seine, Schillers,
Schriften noch beachtet würden, wenn die Fichtes längst „zwar citiert
und ihrem Werth nach geschätzt, aber nicht mehr gelesen werden“13 –
ein akademisches Begräbnis erster Klasse für jene, während Schiller nur
zu sehr recht behalten sollte, was seine eigenen Arbeiten betraf. Aber
Schiller war kein Prophet aus bloßer Geisterseherei heraus. Er begründet seine hellseherische Meinung indirekt mit Fichtes trockener, kommunikationsfeindlicher „Verfahrensart“:
11
12
13
JA 30, S. 392.
NA 27, S. 80.
NA 28, S. 22.
70
Denken in Bildern
weil Schriften, deren Werth nur in den Resultaten ligt die sie für den Verstand
enthalten, auch wenn sie hierinn noch so vorzüglich wären, in demselben
Maasse entbehrlich werden, als der Verstand entweder gegen diese Resultate
gleichgültiger wird, oder auf einem leichtern Weg dazu gelangen kann: da hingegen Schriften, die einen, von ihrem logischen Gehalt unabhängigen Effekt
machen, und in denen sich ein Individuum lebend abdrückt, nie entbehrlich
werden, und ein unvertilgbares Lebensprinzip in sich enthalten, eben weil jedes
Individuum einzig und mithin auch unersetzlich ist.14
Doch auch der dritte Kronzeuge in der Wilkinsonschen Argumentation, Schillers Brief vom 12. Januar 1798, ist nicht zu gebrauchen. Denn
Schillers Hinweis darauf, daß man „seine Sätze nicht durch Beispiele
beweisen solle“, ist nur eine konformistische Bemerkung, keine eigene
Forderung, affirmative Zustimmung zu einer Bemerkung Goethes, wie
gefährlich es sei, „einen theoretischen Satz unmittelbar durch Versuche
beweisen zu wollen“ – Schiller bedankt sich ohnehin nur so höflich wie
unverbindlich für einen ihm von Goethe zugesandten Aufsatz Der Versuch als Vermittler von Object und Subject; von einer wirklich eigenen Stellungnahme und von originären Bemerkungen zur Rolle und Bedeutung
der Imagination ist nichts zu finden. Mit keinem Wort ist hier von Bildern die Rede, umso ausführlicher von der davon recht weit abliegenden Frage, wie es um das Verhältnis von Versuch und Lehrsatz bestellt
sei – ein Problem, das aber auch Goethe mit vorsichtiger Zurückhaltung behandelt, da er im Grunde überzeugt ist, daß der Versuch als
Beweisinstrument unzulänglich und voller Irrtümer ist. Ein naturwissenschaftliches Problem also, und Schillers Brief enthält freundliche
Zustimmung, nicht mehr.
Aus alledem läßt sich kaum folgern, daß eine illustrativ arbeitende
Philosophie Schiller höchst verdächtig gewesen sei, so wenig sich daraus ableiten läßt, daß Schillers Bilder nur ornamentalen Charakter hätten. Noch problematischer ist die Ansicht, sie hätten für Schiller bestenfalls eine stützende, bestätigende, zusätzlich erläuternde Funktion
gehabt, aber niemals Beweiskraft bekommen, sie seien also für ihn stets
nur Erkenntnisinstrumente zweiten Ranges gewesen, niemals mehr,
und von Schiller selbst gründlich mit Mißtrauen bedacht und beargwöhnt: So habe er seinem zwar vorhandenen, aber eher rudimentär
entwickelten und mehr spärlichen Imaginationsvermögen von vornherein eine tiefe Grube gegraben. Warum sollte Schiller den Bildge14
NA 28, S. 22.
Denken in Bildern
71
brauch derart verdächtigt haben? Um über eine eigene spezifische Bildunfähigkeit hinwegzutäuschen? Elizabeth Wilkinson hat noch einen
anderen Grund genannt: Schiller habe beansprucht, als Philosoph betrachtet zu werden („he was actually called to a Chair of Philosophy in
Tübingen but declined“). Gewiß wollte er das – aber konnte das die
Bildlichkeit von vornherein desavouieren? Das hätte der ganzen deutschen philosophischen Tradition des 18. Jahrhunderts widersprochen –
eine überzeugende Begründung ist das also nicht. Im Gegenteil: Schiller
hat bis dahin nie die Philosophie als bildlose Kunst treiben wollen. Er
hat auch nie, wie die immer angeführten Belegstellen ex negativo zeigen, poetische Bilder im Kontext philosophischer Aussagen als bloße
Illustrationen gewertet, wohl aber sehr genau das Problem gesehen, das
sich bei der bildlichen Beweisführung philosophischer Sätze stellt.
Eben von dorther läßt sich auch sein Interesse an Goethes Aufsatz
über den Versuch als Vermittler von Object und Subject erklären: denn dem
Versuch und seiner Position im Bereich der naturwissenschaftlichen
Beweisführung entspricht in etwa, freilich mit den Unterschieden, die
sich aus der Natur der Sache ergeben, die Problematik des poetischen
Bildes dort, wo es mit Erkenntnisfunktion beladen wird. Wenn Schiller
sich in der Mitte der 90er Jahre mehrfach zur Bildlichkeit äußert, dann
nicht, um ihr rigoros zu entsagen. Vielmehr spricht alles dafür, daß
Schiller sich in diesen Jahren bemühte, Möglichkeiten und Grenzen
einer mit Bildern arbeitenden Darstellungstechnik zu prüfen, die auch
die seines eigenen Schreibens war. Die Belege dafür, daß Schiller in
einer Zeit, in der er angeblich einer pikturalen Verdeutlichungsstrategie
völlig entsagt und eine solche selbstgewiß als minderwertig dargestellt
habe, gerade in Zweifel geraten war, wie er künftig zu schreiben habe –
Belege also für Unsicherheiten und Schwankungen in dieser für ihn so
wichtigen Frage sind entschieden deutlicher als solche für eine klare
und gefestigte Anschauung von alledem. Einen ersten liefert die Begegnung mit Goethe und deren Wirkung auf Schiller.
Manches spricht dafür, daß Goethe es war, der Schiller in die Rolle
des philosophischen Bilderstürmers gedrängt hat; sein spätes Urteil
über Schiller und seine Beziehung zu ihm ist wohl nicht ganz unschuldig daran. Oder war es die Nachwelt, die diesen Gegensatz zwischen
dem Vernünftler und dem wirklichen, der Natur viel stärker verbundenen Dichter erst aufrichtete? Freilich war Goethes Meinung nicht aus
der Luft gegriffen; denn Schiller selbst hat sich ihm so zu erkennen
72
Denken in Bildern
gegeben in seinen ersten großen Briefen an Goethe, die auf die Begegnung in Jena hin geschrieben wurden. In jenem vom 23. August 1794
ist nicht nur von der ganzen „Ideen-Maße“ die Rede, die Goethe bei
Schiller wieder in Bewegung gebracht habe, sondern zugleich von dem
bedrohlichen Abweg, auf den „sowohl die Speculation als die willkührliche und bloß sich selbst gehorchende Einbildungskraft“ geraten
könne. Goethe hat diese Falle, die die Imagination dem produktiven
Kopf stellen kann, zwar, so meint Schiller, glücklich vermieden, aber
die Gefahr an sich hat Schiller deutlich gesehen und offensichtlich auch
gefürchtet. Dennoch ist er voller Bewunderung für das, was ihm fehlt:
die „richtige Intuition“, an die der abstrakte Kopf nicht herankann. „Intuition“ dort, bei Goethe, „Analysis“ hier, bei Schiller – und Schiller
weiß auch, was diese leisten, oder besser: nicht leisten kann: „Diese
kann bloß zergliedern, was ihr gegeben wird, aber das Geben selbst ist
nicht die Sache des Analytikers sondern des Genies, welches unter dem
dunkeln aber sichern Einfluß reiner Vernunft nach objektiven Gesetzen
verbindet.“15 Ein erbarmungswürdiger Zustand, in den der abstrahierende Philosoph immer wieder gerät; Schiller erkennt das in seiner
Begegnung mit seinem künstlerischen Antipoden nur zu gut, und die
Andersartigkeit seiner dichterischen Produktion wird ihm erschreckend
bewußt. Was in diesem Brief folgt, ist ein Kolossalgemälde des naiven
Dichters, der Schiller selbst gerne gewesen wäre und doch nie sein
kann: Anschauung, Natur, „Allheit“, „das reiche Ganze“ von Vorstellungen, „Anschauung der Dinge“: alles eine einzige Lobrede auf das,
woran es Schiller mangelt. Dem folgt, wenn wir Schadewaldt glauben
wollen, der sich zu diesem Brief in anderem Zusammenhang geäußert
hat,16 eine verborgene Selbstcharakteristik Schillers, der hier Goethe
zuschreibt, was für ihn selbst nur zu bezeichnend sei. Die Natur, die
große Göttin, so Schiller, hatte ihn, Goethe, sehr viel spärlicher bedacht
als den Griechen oder den Italiener, und so müsse er durch „Denkkraft“ ersetzen, was jenen anderen Götterlieblingen, die schon von der
Wiege an „eine auserlesene Natur und eine idealisierende Kunst“ umgeben habe, der Himmel von Anfang an mitgegeben hatte, nämlich
„Imagination“. Ein Mangel, den ein spekulativer Geist wie Goethe
NA 27, S. 25.
Wolfgang Schadewaldt: Der Weg Schillers zu den Griechen, in: W. S.: Hellas und Hesperien II (Antike und Gegenwart), Zürich/Stuttgart 1970, S. 127-133, bes. S. 127f. Zuerst
in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft IV (1960), S. 90-97.
15
16
Denken in Bildern
73
allerdings auf genialische Weise dennoch wettmachen kann, wie Schiller
sieht. Das alles sagt Schiller zu Goethe – aber wenn man Schadewaldt
zustimmen will, ist das im Grunde genommen nichts anderes als eine
Eigencharakteristik des Briefschreibers. Und es folgt das Selbstporträt
des modernen abstrakten Geistes: nirgendwo spricht Schiller deutlicher
als hier von sich, so meint Schadewaldt, wo er von Goethe zu handeln
verspricht. Es ist das Konterfei des abstrakten Kopfes. Bilder, Vorstellungskraft sind nicht das Seinige, und er muß „auf rationalem Wege“
wettmachen, was ihm von Haus aus versagt blieb. Der philosophische
Kopf der Spätzeit ist auf „leitende Begriffe“ angewiesen, wo das naive
Genie der griechischen Frühzeit über Bilderfluten verfügt; und die „logische Richtung“ des Spätlings muß komplizierte Umwege gehen, will
sie ans gleiche Ziel kommen, was der ursprüngliche Mensch so spielerisch leicht erreicht. Er muß nämlich „rückwärts Begriffe wieder in
Intuitionen umsetzen, und Gedanken in Gefühle verwandeln“. Hier
entwirft, wie Schadewaldt also meinte, der spekulative Kopf sein eigenes Abbild in das Gegen-Bild des großen, bewunderten Freundes und
dichterischen Opponenten hinein. Intuitiver Geist hier, spekulativer
Geist dort: Schiller habe ungewollt, so Schadewaldt, sich selbst erkannt:
„alles Kategorien, die auf Goethe nur sehr bedingt, um so genauer aber
auf Schiller selbst zutreffen, der, als er damals an Goethe schrieb, seit
Jahren selbst wirklich dabei war, ‚durch Nachhilfe der Denkkraft‘ seiner
‚Imagination das, was ihr die Wirklichkeit vorenthielt, […] zu ersetzen‘“. Der bilderfeindliche, bilderarme Schiller mochte damit seine
Schwierigkeiten haben, aber er konnte nicht anders. Und nicht genug
damit: der zweite große Brief Schillers an Goethe vom 31. August 1794
schien mehr von diesem Selbstbildnis zu enthalten; auch dort war die
Rede von der „nur etwas zahlreichen Familie von Begriffen“, die er,
Schiller, zu verwalten habe. Hier scheinen Schiller die Unterschiede
zwischen dem „Gang“ des Goetheschen Geistes und seiner eigenen
geistigen Signatur allerdings dann deutlicher aufgegangen zu sein. Denn
während Goethe, so sieht es aus Schillers Sicht aus, ein Königreich an
Ideen regiere und der Imagination in ungewöhnlichem Maße fähig sei,
komme bei ihm, Schiller, diese, falls sie überhaupt in Erscheinung trete,
dem Denken unablässig in die Quere; Schiller weiß das nur zu gut, und
so gesteht er denn auch freimütig: „Noch jetzt begegnet es mir häuffig
genug, daß die Einbildungskraft meine Abstraktionen, und der kalte
74
Denken in Bildern
Verstand meine Dichtung stört.“17 Welch ein Gegensatz zu Goethe, an
dem Schiller voller Bewunderung die außerordentliche Intuition rühmt:
„alle Ihre denkenden Kräfte scheinen auf die Imagination, als ihre gemeinschaftliche Repraesentantinn gleichsam compromittiert zu haben.
Im Grund ist dieß das höchste, was der Mensch aus sich machen kann,
sobald es ihm gelingt, seine Anschauung zu generalisieren und seine
Empfindung gesetzgebend zu machen.“ Schiller aber sieht sich bestenfalls als Wanderer zwischen den Welten, nirgendwo recht zu Hause,
vom Mangel ausgezehrt. Er schwebe zwischen dem „technischen Kopf
und dem Genie“: eine skeptische Bestandsaufnahme, die hier eher noch
ein wenig idealisiert ist. Im Grunde ist Schiller ein armer Teufel, an
Goethe gemessen. Bildlicher Besitz fehlt ihm, und er weiß das auch.
Das Vorurteil vom imaginationslosen Philosophen zeichnet sich
schon hier ab, und Elizabeth Wilkinson scheint dennoch gerechtfertigt,
nicht nur von Schadewaldt, sondern von keinem Geringeren als Schiller
selbst bestätigt. Aber auch hier lassen sich Einwände nicht unterdrükken, so bestechend dieses Doppelporträt, das aber in Wirklichkeit nur
ein und dasselbe ist, nämlich das seines Malers selbst, auch sein mag.
Hatte Schadewaldt wirklich recht, als er im ersten großen Brief Schillers
an Goethe so sehr das geheime Selbstbildnis des Schreibenden erkennen zu können glaubte? Schrieb hier tatsächlich ein bedauernswerter,
verarmter, spekulativer Geist über den großen, so viel reicheren Bruder,
dem die Imagination so reichlich alles bot, was er selbst erst mühsam
mit seinem Geiste, in seinem Geiste, rekonstruieren mußte? Schon
Schillers erster Brief an Goethe hält am Ende doch nicht, was er bei
scheinbar genauem, in Wirklichkeit aber flüchtigem Lesen verspricht.
Wer wie Schadewaldt argumentiert, verurteilt Schiller zur Unmündigkeit, da er ihm unterstellt, daß er nicht wisse, was er tue. Denn mit keinem einzigen Wort ist in Schillers Brief davon die Rede, daß er sich
selbst meine. Es geht vielmehr darum, wie Goethe als naiver Dichter in
einer abstrakten, modernen Zeit „ein Griechenland“ schaffen könne –
also um das gleiche, um das Partien der Schrift Ueber naive und sentimentalische Dichtung kreisen. Was Schiller hier bewußt wird, ist nicht so sehr
die Differenz zwischen seiner eigenen Denkart und der Goethes, sondern etwas anderes, nämlich das Wissen um die Gegensätzlichkeit von
Antike und Moderne. Im sentimentalischen Zeitalter hat auch der naive, ursprüngliche Dichter mit Abstraktionen zu tun. Schiller setzt sich
17
NA 27, S. 32.
Denken in Bildern
75
intensiv mit dem Gegensatz von Erfahrung und Idee auseinander, er
versucht zu bestimmen, wie es um deren Mischungsverhältnis bestellt
ist – und er führt damit nur das Gespräch in der „Naturforschenden
Gesellschaft“ fort. Was läge auch näher? Was Schiller Goethe zum
„Gang“ seines Geistes sagt, ist völlig einleuchtend; nichts deutet darauf
hin, daß Schiller hier sich, neidvoll oder bewundernd, Goethe gegenüber abgrenzen wollte. Will man Schiller unterstellen, daß er von sich
gehandelt habe, als er so offenkundig und bewußt von Goethe sprach?
Das hieße, ein Gras wachsen zu hören, wo gar keines gesät worden ist.
Schillers Brief läßt anderes erkennen – lebhafte Unsicherheit darüber, wie sich spekulierende Vernunft und intuitive Mannigfaltigkeit
zueinander zu verhalten haben. Und allenfalls im letzten Absatz des
Briefes spricht Schiller auch von sich, insofern nämlich, als von dieser
Grundbefindlichkeit die Rede ist. „Erfahrung“ und „Denkkraft“ sollen
in Beziehung gesetzt werden gegen den ersten Anschein, daß es keine
größere Opposition zwischen dem spekulativen Geist und dem intuitiven geben könne. Empirie und Idee, Bild und Gedanke, Anschauung
und Geist: Schiller sucht Vermittelndes. Hier schreibt keiner, der sich
seiner abstrakten Eigentümlichkeit bewußt ist und so sein Gegenbild
erkennen kann: Schiller hat – nur soweit ist Schadewaldt recht zu geben
– mit einem Problem zu tun, das noch nicht gelöst ist. Auch hier die
Frage, wie er künftig schreiben solle – sie ist durch die Begegnung mit
Goethe erneut hochgekommen. Spekulation und Intuition sollen sich
verbinden wie früher die geistige und tierische Natur des Menschen mit
Hilfe einer Mittelkraft. Dabei geht es jetzt gar nicht so sehr um existentielle Fragen an sich, sondern allein um die Kunstanwendung, um das
rechte Schreiben, das beides, Intuition und Gedanke, miteinander verknüpfen kann – was freilich für den Dichter eine existentielle Frage sui
generis ist. Soll die Anschauung über den Gedanken herrschen oder der
Gedanke höher stehen als Erfahrenes, Gesehenes, sinnlich Erfaßtes?
Schiller entwirft eine ideale Lösung, aber nur, um diesen Entwurf sofort
wieder abzubrechen. Er schreibt nicht weiter, weil aus dem Brief eine
Abhandlung zu werden droht. Aber sie hätte, selbst wenn er eine solche
unter der Feder gehabt hätte, wohl auch noch gar nicht zu Ende geschrieben werden können, bei allem „lebhaften Intereße“ am Thema.
Nehmen wir auch den zweiten großen Brief Schillers an Goethe vom
31. August 179418 ernst, so erscheint er ebenfalls nicht so sehr als
18
NA 27, S. 31ff.
76
Denken in Bildern
Zeugnis einer sich selbst völlig sicheren Individualität, die hier aus dem
Bewußtsein zwar der eigenen Andersartigkeit, aber niemals als aus sich
selbst und auch nicht als sich dem anderen gegenüber in Frage stellende
Persönlichkeit schreibt, sondern vielmehr als Dokument einer Krise,
die voll aufgebrochen ist und die nun, in ersten großen Selbstbestimmungsversuchen jenem anderen gegenüber, in ihrer Bedrohlichkeit
sichtbar wird – gerade weil sein Gegenüber ihm in seiner Geschlossenheit, Ganzheit, Unveränderlichkeit, ja in seiner sehr weit erreichten
Vollendung erschienen sein mochte. Daß Goethe einer solchen jedenfalls schon sehr nahe gekommen war, daran läßt Schiller keinen
Zweifel. Dabei sieht er aber darin, liest man auch diesen Brief genau,
durchaus nicht die dort, bei Goethe, bereits nahezu verwirklichte Erfüllung eines allgemeinen Lebensgesetzes und die fast abgeschlossene
Ausbildung zu einer in sich vollendeten Persönlichkeit; es geht um sehr
viel weniger, aber nicht weniger Bedeutsames als das, nämlich um die
Bedeutung der Imagination für die eigene (literarische) Existenz; also
um das dichterische Vermögen und um die Besonderheiten dieses dichterischen Vermögens beider.19 Goethe erscheint in einem Punkt aus der
Sicht Schillers beneidenswert: Er hat in seinen Augen den Konflikt
zwischen Denken und Anschauung, zwischen Abstraktion und Sinnlichkeit, zwischen Idee und Bild gelöst und überwunden. Denn alle
„denkenden Kräfte“ scheinen ihm bei Goethe auf die „Imagination“
hin zusammengedrängt zu sein, und Schiller empfindet es als das
Höchste, was der Mensch aus sich machen kann, wenn es ihm gelingt
(und bei Goethe gelungen zu sein scheint), „seine Anschauung zu generalisieren“. Schiller ist, seiner eigenen Einschätzung nach, dieses Verdeutlichungsmittel der Imagination nicht so unbeschränkt gegeben.
Ihm fehlt es an Anschauungskraft, an Plastizität seiner Erfindungen, an
Bildhaftigkeit, und deshalb enthüllt sich ihm, mit Goethes fast unbeschränkter Fähigkeit zur Imagination vor Augen, seine eigene Existenz
als eigentümlich gespalten, denn bei ihm ist nicht zum Ausgleich gebracht, was Goethe erreicht hat, da jener imstande ist, alle denkenden
Kräfte auf die Imagination zu „compromittieren“. So stellt Schiller sich
19 Daß das Gespräch um Kunstfragen und nicht etwa um eine allgemeine Wesensbestimmung ging, belegt auch Schillers Brief an Körner vom 1. IX. 1794, in dem Schiller schreibt: „Wir hatten vor sechs Wochen über Kunst und Kunsttheorie ein langes
und breites gesprochen, und uns die Hauptideen mitgetheilt, zu denen wir auf ganz
verschiedenen Wegen gekommen waren“ (NA 27, S. 34).
Denken in Bildern
77
als eine „ZwitterArt“ dar, schwebend „zwischen dem Begriff und der
Anschauung“: Das Verhältnis zwischen diesen beiden Kräften seiner
literarischen Tätigkeit ist gestört, unbestimmt, nicht ausgewogen. Schiller sieht darin sogar ein Grundübel seiner bisherigen poetischen Existenz überhaupt: „gewöhnlich übereilte mich der Poet, wo ich philosophieren sollte, und der philosophische Geist, wo ich dichten wollte.“20
Anschauung, Imagination, Einbildungskraft markieren den einen Bereich, Spekulationen, Ideen, Begriffe, Abstraktionen, kalter Verstand
stecken den anderen Raum seiner literarischen Fähigkeiten ab; Schiller
schwankt zwischen beidem, aber nicht, weil er das eine zugunsten des
anderen völlig verlassen könnte, sondern vielmehr, weil eine befriedigende und fruchtbare Relation zwischen Einbildungskraft und Abstraktion, zwischen Imagination und Idee von ihm noch nicht gefunden
worden ist. Die Begegnung mit Goethe hat offenbar die eigenen Unsicherheiten verstärkt, zu kritischer Bewußtheit gebracht, und aus der
versuchten Selbstdefinition ist hier plötzlich das Porträt einer problematischen Existenz geworden, deren Lebensmöglichkeit ganz entscheidend davon abhängt, wie die beiden antagonistischen Bereiche seines
Denkens und Darstellens zu einem Ausgleich gebracht werden können.
Schiller will in der Tat nichts anderes, als dieser beiden Kräfte „Meister
werden“, und so dürfen wir davon ausgehen, daß seine künftige Verwendung von Bildern und Gedanken in Verbindung mit dieser Absicht
zu sehen ist: Der Weg zu einer neuen Funktionsbestimmung von Bild
und Gedanke ist frei.
Es gibt einige weitere Hinweise darauf, daß die Begegnung mit Goethe für Schiller alles andere als eine Selbstbestätigung war, daß dieses
Treffen vielmehr tatsächlich Unsicherheiten in seinem eigenen Selbstverständnis ans Licht brachte, daß Zweifel aufgekommen waren, wie
Bild und Gedanke zu präsentieren seien; und diese gingen weit über
eine momentane Verunsicherung hinaus. Im Brief an Körner vom 4.
September 1794, kurz darauf also, ist wiederum die Rede davon, daß er
eigentlich nichts weniger vorstellen könne „als einen Dichter, und daß
höchstens da, wo ich philosophieren will, der poetische Geist mich
überrascht. Was soll ich thun?“21 Auch hier kommen sich also die heterogenen Kräfte seines Ausdrucksvermögens in die Quere, und die
Krankheit, von der schon im ersten Brief an Goethe und auch noch im
20
21
Ebd., S. 32.
NA 27, S. 38
78
Denken in Bildern
zweiten die Rede ist, hat das Gefühl der Krisensituation sicherlich noch
verschärft. Wie aber kam es dazu?
*
Man darf diese Krisensituation, diese eigenen Unsicherheiten über die
„Zwitter-Art“ natürlich nicht allein aus der Begegnung mit Goethe
erklären; diese verdeutlicht vielmehr nur, was längst im Hintergrund
geschwelt hatte. So muß man Schillers Kommentar zum Treffen mit
Goethe großräumig sehen, und das heißt: als Reaktion auf Unsicherheiten, die mit dem eigenen Schreiben aufgekommen waren. In dieser Zeit
waren die Briefe Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen entstanden, in
denen Schiller sich mit einer „eigentlichen Theorie des Schönen“ befassen wollte. Sie liefern zunächst einmal die Folie für die Suche nach dem
Ausgleich zwischen Imagination und Idee. Eine Theorie des Schönen
sollten sie enthalten, also Grundsätzliches aussagen über die Macht und
Bedeutung des Anschaulichen, damit auch über die Bedeutung des
schönen Bildes, der dargestellten Einbildung im Verhältnis zur Abstraktion. Aber das Ergebnis war eine tiefe Verunsicherung, was Art und
Möglichkeiten des eigenen Schreibens betraf; von der Krisensituation
künden auch andere Briefe, die schon von neuen dichterischen Plänen
handeln. An Körner schreibt er am 12. September 1794:
Auf Deine weitere Erklärung über meine poetische Sendung und meinen dramatischen Beruf warte ich mit Ungeduld. Du meynst, daß ich den Wallenstein
zu sehr mit dem Verstand und zu wenig mit Begeisterung angreife. Aber das
gilt nur von dem Plan, der nicht streng genug berechnet werden kann. Ausführen muß ihn die Imagination und die augenblickliche Empfindung. Dieß ist es
aber, wofür ich fürchte, daß mich die Einbildungskraft, wenn ihr Reich
kommt, verlaßen werde.22
Einbildungskraft: das ist im allgemeinsten und im wörtlichsten Sinne zu
verstehen, und hier wird nichts Geringeres deutlich als die Angst, nicht
mehr in Bildern schreiben zu können.
Um vorzugreifen: von einer Dauerkrise kann keine Rede sein und
ebensowenig von einer grundsätzlichen Veränderung in Schillers
„Schreibart“. Wenig später wird die Krise überwunden; sichtbar wird
das erstmals in der nicht zu Ende geführten, aber außerordentlich intensiven Auseinandersetzung mit Fichte und dessen Aufsatz Ueber Geist
22
NA 27, S. 47.
Denken in Bildern
79
und Buchstab in der Philosophie. Hier sah Schiller offenbar – und das könnte die Ausführlichkeit der Auseinandersetzung erklären – ein Schreckund Warnbild eigener Möglichkeiten: der hohe Abstraktionsgrad der
Fichteschen Überlegungen ließ Vorstellungen, Verdeutlichungen nicht
mehr zu, und zugleich störte Schiller sich auch an der Präsentation des
Gedachten. In einem der Entwürfe23 kommt er auf das Verhältnis von
Idee und Vorstellung zurück, freilich jetzt nicht mehr aus der Unsicherheit heraus, mit der er Goethes Imaginationskraft bewundert hatte,
sondern in der Überzeugung, nun eine Formel gefunden zu haben, mit
der sich das Verhältnis von Idee und Anschauung beherrschen ließ.
Schiller schrieb an Fichte: „Von einer guten Darstellung fordre ich vor
allen Dingen Gleichheit des Tons, und, wenn sie aesthetischen Werth
haben soll, eine Wechselwirkung zwischen Bild und Begriff, keine Abwechslung zwischen beyden“. Das kann nur besagen, daß Schiller das
Bild auf keinen Fall als illustratives Hilfsmittel einsetzen wollte, auch
nicht aus dekorativen Absichten, sondern daß hier eine Funktionsteilung angestrebt wurde, die dem Bild eine Gleichberechtigung neben
dem Begriff sicherte. Wie wichtig Schiller diese Formel von der Wechselwirkung zwischen Bild und Begriff war, läßt sich daraus ablesen, daß
auch in einem der weiteren Entwürfe davon noch die Rede ist, verbunden freilich mit der Einsicht, „daß man tiefsinnige Deduktionen niemals in ein Spiel für die Einbildungskraft verwandeln kann“.24 Dies
mag als zusätzlicher Hinweis darauf gesehen werden, daß Schiller mit
Einbildungskraft durchaus direkt die Anwesenheit von Bildern meint,
verbunden mit der Einsicht, daß eine natürliche Grenze bestehe zwischen „Deduktionen“ und der „Einbildungskraft“ – was freilich die
geforderte Wechselwirkung zwischen Bild und Begriff nur umso notwendiger und plausibler macht. Doch noch einmal: wie kam es überhaupt zur Krise des bildlichen Denkens, das so stark auch sein Selbstverständnis in den großen Goethe-Briefen tangierte, und wohin geriet
sein Schreiben, nachdem sie, wie die Auseinandersetzung mit Fichte
zeigt, dann beigelegt war? Was Schiller in seinem Streit mit Fichte zur
Funktionsbestimmung des Bildes sagte, war neu, Ergebnis jener inneren Auseinandersetzung um die Möglichkeiten eines literarischen Stils,
der einen Ausgleich gefunden hatte zwischen Imagination und Abstraktion. Nicht neu war der Gebrauch von Bildern bei Schiller, sowohl was
23
24
NA 27, S. 202.
NA 27, S. 371.
80
Denken in Bildern
seine vorklassische Lyrik angeht wie auch in bezug auf seine frühen
philosophischen Schriften. Nichts kann überraschender sein als ein
Blick zurück aus jener quälenden Selbstbefragung heraus, ob Bild oder
Gedanke das eigentliche Mitteilungsmedium sei. Offenbar hat Schiller
sich in den 80er Jahren, durch keine Vorbehalte eingeschränkt, einer
illustrativen Sprache bedient, in der das Bild zu einem wichtigen Mitteilungsträger, ja zum erstrangigen Verdeutlichungsinstrument geworden
war. In welchem Ausmaß das geschehen konnte, zeigt die einzige größere philosophische Schrift Schillers aus der vorkantischen Epoche,
seine Philosophischen Briefe. Was immer er gewollt haben mochte, als er
sie schrieb, was immer auch an älteren Relikten in sie eingegangen ist –
die durchgängige Bildlichkeit ist auffällig, und ebenso auffällig ist ihre
exegetische Qualität. Man hat Schillers eigentümlichen Darstellungsstil
mit den Quellen in Verbindung gebracht, die er – nachweisbar oder nur
vermutungsweise – benutzt haben könnte: der lyrisch-dithyrambische
Stil der Darstellung weise auf Shaftesbury hin; Schillers Philosophie sei
im übrigen die des schaffenden Künstlers und Dichters, vor allem aber
deute vieles auf Übernahmen aus der Literatur des schwäbischen Pietismus, auf die dort verkündete Geheimwissenschaft der Naturerkenntnis, die zugleich Seelenerkenntnis sei; Friedrich Christoph Oetinger ist
als Ahnherr derart spekulativer Gedankengänge genannt worden,25 also
pansophisches Schrifttum, ohne daß man je den Beweis dieser Einflußnahme hätte führen können. Doch wo immer die Einflüsse auch herrühren mögen – Schillers eigentümlicher Darstellungsstil ist hier ebenso
durchgängig ausgeprägt wie klar erkennbar. Er ist vor allem gekennzeichnet durch eine Bildlichkeit, die nicht nur als Verdeutlichungsinstrument dient, sondern die durch ihren regelmäßigen strikten Bezug
zu dem mit ihrer Hilfe ausgedrückten theoretischen Bedeutungsgehalt
charakterisiert ist. Unübersehbar ist hier ein gedanklicher Gehalt in
Bilder übersetzt, die ihre eigene Aussagekraft haben. Stolze Vernunft
scheitert an „verborgenen Klippen“,26 Skeptizismus und Freidenkerei
sind „Fieberparoxysmen“ des menschlichen Geistes, in der seligen
paradiesischen Zeit der Kindheit taumelt der Briefschreiber wie ein
Trunkner „mit verbundenen Augen durch das Leben“, die Augen des
Menschen tragen ihn „bis zu dem Sonnenziele der Gottheit“, der
25
26
Briefe.
Dazu NA 21, S. 161f.
Die folgenden Beispiele finden sich auf den nächsten Seiten der Philosophischen
Denken in Bildern
81
Traum der Freiheit erscheint dem Gefangenen „wie ein Bliz in der
Nacht“, die Philosophie ist die „unglükseelige Neugier des Oedipus, der
nicht nachließ zu forschen“, dem jugendlichen Julius stehen „Körper
und Geist in der herrlichsten Blüte“: mögen die Bilder gelegentlich
auch abgeblaßt sein, gängiges Überzeugungsmaterial der Aufklärung, so
ist doch der bewußte Einsatz der Bilder deutlich genug zu sehen.
In Schillers figurativem Stil ist die Aussage im Bild enthalten, seine
Botschaft wirkt unmittelbar auf die Vorstellungskraft, eine Übersetzung
der Bildlichkeit in ein abstraktes Medium findet kaum statt. So wird der
Zustand eines erst halb aufgeklärten Geistes, der von seinem Mentor
verlassen worden ist, nicht etwa anhand abstrakter Zweifel, durch Vernunfteinwendungen oder mit Hilfe von intellektuellen Vorbehalten
beschrieben, sondern rein piktural:
Konntest du mit deiner sanften Seele es wagen, dein angefangenes Werk zu
verlassen, noch so ferne von seiner Vollendung? Die Grundpfeiler deiner
stolzen Weisheit wanken in meinem Gehirne und Herzen, alle die prächtigen
Palläste die du bautest, stürzen ein, und der erdrükte Wurm wälzt sich wimmernd unter den Ruinen.27
Zwar ist in dieser Untergangsbeschreibung ein Konkretum mit einem
Abstraktum verbunden: es sind nicht die Grundpfeiler eines wirklichen
Baus, sondern die „deiner stolzen Weisheit“. Aber der bildliche Vorgang verselbständigt sich nahezu, das Figurale dominiert, das Gemeinte
– die Zweifel des Neophyten an der Aufklärung – tritt in den Hintergrund. Als den Zweifeln abgeholfen ist, erscheint der Zustand des endgültig Aufgeklärten wiederum in bildlicher Übersetzung: „Deine Lehre
hat meinem Stolze geschmeichelt. Ich war ein Gefangener. Du hast
mich herausgeführt an den Tag, das goldne Licht und die unermeßliche
Freie haben meine Augen entzükt“.28 Hier ist der abstrakte Hintergrund
nur noch zu Beginn der Landschaftsdarstellung genannt – die „Lehre“
des Aufklärers. Das Wesen der Aufklärung mag undeutlich bleiben,
über seine Wirkungen läßt die Bildlichkeit der Darstellung keinen Zweifel. Der Höhepunkt der Demonstration ist dort erreicht, wo von der
Initiation des Aufzuklärenden, seiner endgültigen Befreiung die Rede
ist: „Die Vernunft ist eine Fakel in einem Kerker. Der Gefangene wußte nichts von dem Lichte, aber ein Traum der Freiheit schien über ihm
27
28
NA 20, S. 109.
NA 20, S. 111.
82
Denken in Bildern
wie ein Bliz in der Nacht, der sie finstrer zurükläßt“. Auch hier ist das
Abstraktum nur am Anfang genannt – „die Vernunft“. Je gründlicher
das Bild ausgemalt ist, desto mehr Selbständigkeit gewinnt es: Wiederum ist die Einsicht in die Allmacht der Vernunft nicht mit Verstandesgründen erwiesen, sondern im Bild verdeutlicht, so unmittelbar wie
eindringlich. Gelegentlich bedarf es gar nicht einmal des ideellen Zuordnungsortes, um einen Zusammenhang verständlich zu machen. Um
die Wirkung des Zweifels zu verdeutlichen, läßt Schiller seinen Julius an
Raphael schreiben: „Du hast eine Hütte niedergerissen, die bewohnt
war, und einen prächtigen todten Pallast auf die Stelle gegründet“. Für
Raphael sieht der gleiche Vorgang freilich anders aus, gleicht er doch
dem Erwachen aus einem „süßen Traume“, oder, in medizinischer
Terminologie:
Du hast eine Krankheit zu überstehen, von der du nur allein durch dich selbst
vollkommen genesen kannst, um vor jedem Rükfall sicher zu sein. Je verlaßner
du dich fühlst, desto mehr wirst du alle Heilkräfte in dir selbst aufbieten, je
weniger augenblikliche Linderung du von täuschenden Palliatifen empfängst,
desto sicherer wird es dir gelingen, das Uebel aus dem Grunde zu heben.
Die Theosophie des Julius, das älteste Stück der Philosophischen Briefe, enthält
darüber hinaus noch gewissermaßen ein Wörterbuch der Begriffe und
ihrer Bildübertragungen, wenn es heißt: „Lebhafte Thätigkeit nennen
wir Feuer, die Zeit ist ein Strom der reissend von hinnen rollt, die
Ewigkeit ist ein Zirkel, ein Geheimniß hüllt sich in Mitternacht, und die
Wahrheit wohnt in der Sonne“. Hier sind die Hieroglyphen entziffert,
oder vielmehr: hier wird die Identität von Bild und Sinn hergestellt,
wobei der Tiefengehalt des Sinns tatsächlich nur im Bild abgerufen
werden kann. Aber auch in diesem Abschnitt finden sich Bilder, die der
Sinnsubstruktion entbehren. Das Durchdringen zur Erkenntnis wird
von Julius so imaginiert: „Jezt bester Raphael, laß mich herumschauen.
Die Höhe ist erstiegen, der Nebel ist gefallen, wie in einer blühenden
Landschaft stehe ich mitten im Unermeßlichen. Ein reineres Sonnenlicht hat alle meine Begriffe geläutert“. In der Philosophie der eigenen Zeit Gefangene und dort vergeblich um Aufklärung Bemühte sind
bei Schiller „entartete Sklaven, die unter dem Klang ihrer Ketten die
Freiheit verschreien“. Am Schluß der Theosophie des Julius, dieser eigentümlich rationalistischen und dennoch mit irrationalen Faktoren arbeitenden Aufklärungslehre, wird noch einmal der Prospekt einer richtigen
Denken in Bildern
83
Aufklärung in einem Bilde vorgestellt, das des Kommentars nicht mehr
bedarf, um verstanden zu werden:
Anders mahlt sich das Sonnenbild in den Thautropfen des Morgens, anders im
majestätischen Spiegel des erdumgürtenden Ozeans! Schande aber dem trüben
wolkigten Sumpfe, der es niemals empfängt und niemals zurükgiebt. Millionen
Gewächse trinken von den vier Elementen der Natur. Eine Vorrathskammer
steht offen für alle; aber sie mischen ihren Saft millionenfach anders, geben ihn
millionenfach anders wieder; die schöne Mannichfaltigkeit verkündigt einen
reichen Herrn dieses Hauses.
Und mit dieser glänzenden Aussicht wird der Leser entlassen, der alles
andere erfahren hat als eine der Idee verpflichtete philosophische Aufklärung, der vielmehr in einen Strudel von Bildern hineingerissen wurde, die ihn in ihrer eigenen Eindringlichkeit und Farbigkeit überzeugen
und belehren sollen, eine Aufklärung zu verstehen, die anders operiert
als mit Hilfe abstrakter Vorstellungen.
Man würde der Qualität der Bildlichkeit in diesen Philosophischen Briefen nicht gerecht, sähe man hier überall nur verkürzte Vergleiche, unfertige Komparative. Das Bild selbst hat Aussagekraft, und es steht innerhalb eines größeren Aussagezusammenhanges (den hier Überschriften
wie „Gott“, „Aufopferung“, „Liebe“, „Idee“ in etwa verdeutlichen) –
aber auch das nur ungenau, da die Präsenz dieser Mächte nur im Bild
vermittelt werden kann. Die Koppelung eines Abstraktums mit einem
Konkretum, einer Vorstellung mit einer Idee wird bei Schiller immer
wieder erweitert durch weitausgreifende Bildwelten, die eben nur in
einem indirekten, untergründigen Bezug zum Thema der Abhandlung
stehen. Schiller hat dazu in den Philosophischen Briefen eine eigene Bildtheorie entwickelt, die sich freilich auf ähnliche Bildtheorien des 18.
Jahrhunderts gründet. Aber hier taucht zum ersten Mal bei ihm die
Lehre von der Koexistenz von Bild und Gedanke, von Zeichen und
Bezeichnetem auf. Die im Hintergrund dieser Zeichenlehre von Schiller
kurz entwickelte, eher andeutungsweise als wirklich ausführlich dargelegte Philosophie wirkt durchaus nicht sehr originell, handelt sie doch
nur von der Differenz von Gedanke und Wirklichkeit – „Weder Gott
noch die menschliche Seele noch die Welt, sind das wirklich, was wir
davon halten“.29 Viel bedeutsamer ist die Bildtheorie: sie besagt, daß
Bilder nicht Illustrationscharakter haben, erst recht nicht dekorische
29
NA 20, S. 127.
84
Denken in Bildern
Funktion, sondern daß Bild und Sache koexistent sind, also gleichermaßen Lebensrecht haben und auch als exegetisches Instrument, als
aufklärerische Verständnishilfe gleichrangig sind. Eben in diesem Sinne
ist die Bildlichkeit in Schillers Philosophischen Briefen praktiziert. Das
Denken ist nur eine der möglichen Annäherungsformen an die Wirklichkeit dieser Welt, die Bilder eröffnen eine andere, unmittelbarere,
überzeugendere. Mag diese Zeichentheorie auch ungenau sein, wenig
durchdacht und allenfalls umrißhaft entworfen, so ist die Wirkung der
Bilder nur umso eindringlicher.
Bengt Algot Sørensen hat in seinem Buch über Symbol und Symbolismus in den ästhetischen Theorien des 18. Jahrhunderts und der deutschen Romantik
auf die naturmystische Tradition einer solchen mit Bedeutungen aufgeladenen Bildtheorie aufmerksam gemacht, auch auf die Erneuerung
dieser naturmystischen Traditionen und der ihr inhärenten Symboltheorie vor allem in der Zeit der Romantik „nach dem bildlosen, abstrakt
denkenden Zeitalter der Aufklärung“.30 Aber daraus spricht eine Verkennung der Bedeutung, die die aufklärerische Popularphilosophie der
bildlichen Exegese im Zeitalter eben dieser Aufklärung zumaß. So enthalten auch die Philosophischen Briefe weniger eine „metaphysisch begründete Symbollehre“31 als vielmehr den Versuch, neue Erfahrungen,
die eben Erfahrungen der Aufklärung sind, ins Bildhafte transponiert
zu verdeutlichen. Für eine naturmystische Symbolik in den Philosophischen Briefen ist bislang ein schlüssiger Beweis niemals erbracht worden, so häufig man auch derartige Traditionen vermutet hat. Daß die
angeblich pansophische Bildlichkeit jedenfalls gewiß nicht an die Erfahrungen der Philosophischen Briefe gebunden ist, sondern zu Schillers
Aussagemöglichkeiten in seiner vorkantischen Zeit gehört, zeigen die
Fortsetzungen seiner Darstellungsweise, die freilich nicht in philosophischer Traktatform, sondern in lyrischer Einkleidung erschienen: in
den großen Gedichten Die Götter Griechenlandes und in Die Künstler. Besonders im Künstler-Gedicht32 hat Schiller ebenso argumentiert und
verdeutlicht wie in den Philosophischen Briefen – von den berühmten Eingangsversen („Wie schön, o Mensch, mit deinem Palmenzweige/ stehst
du an des Jahrhunderts Neige“) durch viele Bilder hin bis in den letzten
Bengt Algot Sørensen: Symbol und Symbolismus in den ästhetischen Theorien des 18.
Jahrhunderts und der deutschen Romantik, Kopenhagen 1963, S. 144.
31 Ebd., S. 96.
32 NA 1, S. 201ff.
30
Denken in Bildern
85
Teil des Gedichtes. Auch hier findet sich der Typus einer Verbindung
von Idee und Bild, wenn etwa vom „Morgenthor des Schönen“ die
Rede ist, durch das der Neophyt in „der Erkenntniß Land“ eindringt.
Von einer bloß illustrativen Funktion der Bilder kann man hier ebensowenig sprechen wie in den Philosophischen Briefen – stellt das ganze
Gedicht doch eine einzige Bilderflut dar, mit deren Hilfe nichts Geringeres als die Geschichte der Menschheit erzählt wird, wie später noch
im Spaziergang ein zweites Mal. Die humane Entwicklungsgeschichte
wird verdeutlicht in Imaginationen, für die der Begriff des Symbols
nicht ausreicht, weil es ganze Landschaften sind, die hier vorgestellt
werden, um die Fortschritte der Kultur zu beschreiben. Vom Aufgang
des Abendlandes ist ebenfalls nur in Bildern die Rede: der schöne
Flüchtling aus dem Osten, der junge Tag, steigt im Westen neu empor,
„und auf Hesperiens Gefilden sproßten/ verjüngte Blüthen Joniens
hervor“ – Schiller hat mit Bildmaterial vor allem dort gearbeitet, wo
Prozesse darzustellen waren.
Er hat damals, über die nur ungenau fixierte Zeichentheorie hinaus,
eine Erklärung gegeben, die verdeutlicht, daß er den Schreib- und Darstellungsstil der Philosophischen Briefe nun ganz bewußt eingesetzt hat.
Die Hauptidee des Gedichtes, so lautet sein Kommentar bekanntlich,
sei „die Verhüllung der Wahrheit und Sittlichkeit in die Schönheit“, und
hier eben liegt die Erklärung für den eigentümlich ambivalenten,
scheinbar zwitterhaften Darstellungsstil. Schiller hat es nicht bei der
thematischen Fixierung belassen, sondern hat in seinem Kommentar,
der sehr wörtlich zu verstehen ist, quasi auch seine Schreibweise charakterisiert: die Wahrheit und Sittlichkeit, abstrakte Vorstellungen also,
Unsinnliches, Irreales, sind in die Schönheit, also in etwas Anschauliches, verhüllt, die Idee in das Bild gekleidet, der Gedanke durch etwas
Konkretes sichtbar geworden. Eben das ist also nicht nur Thema, sondern erklärt auch die Methode seiner Darstellung. Er hat den Begriff
des Symbols dabei sorgfältig vermieden und vielmehr von einer „Allegorie“ gesprochen, die nicht nur punktuell wirke, sondern „die ganz
hindurch geht“, die also den Bildcharakter des Künstler-Gedichts durchgehend legitimiert.
Zwar kam damals bald Kritik an seiner Darstellungsweise hoch, der
Vorwurf, alles sei nur „philosophische Poesie“ oder „Philosophie in
Versen“. Vor allem Wieland hat sich kritisch über das Künstler-Gedicht
ausgelassen; ihn inkommodierte das „Durcheinanderwerfen poetisch
86
Denken in Bildern
wahrer und wörtlich wahrer Stellen“. Aber Schiller hat sein Gedicht damals
dennoch gerade in seiner besonderen Aussageweise verteidigt, wenn er
an Körner schrieb: „Es ist ein Gedicht und keine Philosophie in Versen;
und es ist dadurch kein schlechteres Gedicht, wodurch es mehr als ein
Gedicht ist“.33 Auch Wieland hat die „mahlerische Sprache und das
luxuriöse Uebergehen von Bilde zu Bilde“ getadelt – aber Schiller hat
dem entgegengehalten, daß sich in den neuen „Formen“ immer wieder
nur derselbe Gedanke finde; so sei die „Üppigkeit in der Ausführung“
nur ein Vorzug mehr. Ihm kam es offenbar gerade mit seiner Umarbeitung der Künstler, die auf eine Erweiterung um mehr als 200 neue Verse
hinauslief, darauf an, seine Hauptidee dem Leser so plastisch und deutlich wie möglich vor Augen zu bringen, also ins Bildhafte, damit direkt
Verständliche und Zugängliche zu übersetzen: „Die Hauptsache
kommt nun bey meinen Künstlern darauf hinaus, ob der Hauptgedanke
um den ich mich bewege, den höchsten Grad der Anschaulichkeit erhalten hat.“34 Das kann nur heißen, daß Schiller den Bildgehalt seines
Gedichtes als wesentlich für seine Aussage ansah; nicht so sehr der
Gedanke stand im Vordergrund als vielmehr seine Präsentation – erst
die Bilder und nur sie allein gaben dem Gedicht Wirklichkeit und Überzeugungskraft.
Vier Jahre später, im Mai 1793, war er entschlossen, die Künstler erneut umzuarbeiten. Gerade am Beispiel der Künstler zeigte sich, daß
Schiller aber damals nicht mehr gewillt war, seinen alten Darstellungsstil fortzusetzen – und hier wird ein zweites Krisenzeichen sichtbar: der
bisherige Darstellungsstil war verdächtig geworden, löste Zweifel an der
Richtigkeit figuraler Demonstrationen aus; Kunst und Philosophie
schienen sich ins Gehege gekommen zu sein. Schiller hat seine Unzufriedenheit mit dem Gedicht im Brief an Körner vom 5. Mai und vom
27. Mai bekundet. Das eindringlichste Zeugnis für den damaligen Sinneswandel findet sich freilich erst nachträglich, nämlich im Brief an
Körner vom 21. Oktober 1800, wo davon die Rede ist, daß viele Gedichte „nicht in ihrer alten Gestalt bleiben“ könnten, obwohl Körner
dem Freunde zugeredet hatte, Die Künstler nicht aus der neuen Gedichtsammlung auszuschließen – „Ich […] fürchtete immer Deine Strenge
gegen Dich selbst“.35 Und Körner hatte ihm Mut gemacht, sich an je33
34
35
NA 25, S. 220.
NA 25, S. 211.
NA 38, 1, S. 347.
Denken in Bildern
87
nen Lehrgedichten zu versuchen, wo er seinen Trieb „nach philosophischen Gehalt ohne Nachtheil der Kunst befriedigen“ könne.36 Aber
Schiller war unerbittlich; aus der ursprünglichen Verteidigung der Künstler wurde harte Selbstkritik, wenn er schrieb: „Verschiedene, wie die
Künstler, habe ich wohl zwanzigmale in der Hand herum geworfen, eh
ich mich decidierte […]. Leider ist daßelbe durchaus unvollkommen
und hat nur einzelne glückliche Stellen, um die es mir freilich selbst leid
thut“.37 Was noch am 5. Februar 1789 etwas „Vollendetes“ war, war
jetzt etwas durchaus Unvollkommenes: das Selbstlob hatte sich in ein
beinahe vernichtendes Urteil verwandelt. Aber das entstammte nicht
dem Jahr 1800. Schiller hat sein Urteil von 1793 offensichtlich nicht
geändert und auch 1800, als er sich mit der ersten Sammlung seiner
Gedichte beschäftigte, daran festgehalten, zumal er zu einer Überarbeitung keine Zeit fand. Und so blieben Die Künstler aus der ersten Gedichtausgabe ausgeschlossen; sie wurden erst in die Sammlung von
1803 aufgenommen, immer noch mit einem kaum verhüllten Hinweis
auf ihre „Schwächen“.
Das ist kein Einzelfall. Die Götter Griechenlandes haben eine ganz ähnliche Geschichte: Kurz vor den Künstlern, 1788, war dieses Gedicht
erschienen, und Schiller hat auch damals schon auf Körners Kritik mit
einer Verteidigung geantwortet – die Götter der Griechen seien hier, so
schrieb er an Körner, „in eine Vorstellungsart zusammen gefaßt“.38 Aber
auch dieses Gedicht verfiel der Selbstkritik, wie der Brief an Körner
vom 5. Mai 1793 zeigt; also zur gleichen Zeit wie Die Künstler, und offenbar aus dem gleichen Anlaß heraus. Beidemal bezog die Kritik sich
weniger auf den gedanklichen Inhalt als vielmehr auf die Präsentation
dieses Inhalts, und das kann nur heißen: auf das Dichten in Bildern.
*
Was kann Schiller veranlaßt haben, dieses Dichten in Bildern aufzugeben, es zu verwerfen und zu verurteilen, nachdem er zuvor hierin seinen Stil gefunden zu haben glaubte, und das nicht nur in den Philosophischen Briefen, sondern auch in den großen philosophischen Gedichten
der 80er Jahre, die ihm einen Durchbruch zum eigenen Darstellungsstil
erst garantiert zu haben schienen? Was konnte ihn veranlassen, eine
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37
38
NA 38, S. 348.
NA 30, S. 206.
NA 25, S. 167.
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Denken in Bildern
Darstellungsweise zu verabschieden, die sich als so überaus erfolgreich,
als von der Allegorietheorie der Zeit her durchaus legitimiert darstellte?
Eine Antwort bietet sich zunächst an, die nämlich, daß die Begegnung
mit der kantischen Philosophie, die im März 1791 begann, Schiller um
die Eigentümlichkeit seines Schreibens gebracht habe. Kants Rigorismus, der Abstraktionsgrad seiner Philosophie, die strenge Funktionalität der Definitionen, sein unausgesprochenes, aber abgrundtiefes Mißtrauen gegen jeden bloß illustrativen Charakter einer Aussage legen es
nahe, hier den Anlaß, die Ursache für Schillers Verzicht auf einen figuralen Darstellungsstil zu sehen, den er bislang so ausgiebig und unbeschränkt genutzt hatte. Das alles wird noch verständlicher, wenn man
bedenkt, daß Schiller nicht im Widerspruch, sondern in enthusiastischer
Übereinstimmung mit Kant schrieb: in Kants rigider Philosophie aber
hatte die Bildwelt keinen Raum. Hier hat, was Schillers Orientierungshorizont angeht, offenbar ein grundlegender Paradigmenwechsel stattgefunden, dessen Auswirkungen bis in jenen ersten Brief an Goethe
spürbar sind, wo von der „Zwitter-Art“ der eigenen Existenz, dem
unentschlossenen Hin- und Herschwanken zwischen Abstraktion und
Imagination die Rede ist. Der bisherige Darstellungsstil, in den Philosophischen Briefen und den großen Gedichten wie den Künstlern praktiziert,
konnte sich auf unbestrittene Anschauungen der Popularphilosophie
stützen, wie sie sich etwa in Sulzers Allgemeiner Theorie der schönen Künste
niedergeschlagen haben. Nirgendwo werden dort Bilder abgewertet,
zum bloßen Illustrationsmaterial herabgewürdigt. In Sulzers Enzyklopädie finden sich unter dem Stichwort „Bild“ außerordentlich lobende
Definitionen. Die Bilder, so heißt es dort,
erweken klare und lebhafte Vorstellungen, die sehr faßlich sind, und darinn
man viel auf einmal, wie mit einem einzigen Blik, erkennt. Wenn sie eine fühlbare Aehnlichkeit mit abstrakten Vorstellungen haben, so können sie also mit
großem Vortheil an deren Stelle gesetzt werden. Sie thun alsdenn in der Rede
den Dienst, den eine gemahlte Landschaft thut, die man jemandem vorlegt, um
ihm einen Begriff von der Gegend zu machen, die dadurch abgebildet ist;
folglich sind sie Gemählde der Gedanken.39
Nichts also von einer Zweitrangigkeit der Bilder, am Gedanken gemessen, dafür um so mehr von ihrer interpretatorischen Kraft, von ihrer
39 Johann Georg Sulzer: Allgemeine Theorie der schönen Künste, Nachdruck Hildesheim
1970, Bd. 1, S. 405.
Denken in Bildern
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Gleichwertigkeit mit den Gedanken. Aber Sulzer geht noch weiter. Er
billigt den Bildern auch Erkenntnisfunktion zu, also gerade das, was
traditionellerweise dem Gedanken zuzukommen scheint. Es heißt weiter:
Die Bilder veranlassen ein anschauendes Erkenntniß der abgebildeten Sachen;
sie geben den abstrakten Vorstellungen einen Körper, wodurch sie faßlich
werden. Gedanken, die wegen der Menge der dazu gehörigen Begriffe schwerlich mit einem Blik könnten übersehen werden, lassen sich dadurch festhalten.
Also dienen die Bilder überhaupt, die verschiedenen Verrichtungen des Geistes zu erleichtern. Hiezu kommt noch, daß das Vergnügen, welches allemal
aus Bemerkungen der Aehnlichkeit zwischen dem Bild und dem Gegenbilde
entsteht, die Eindrüke desto lebhafter und unvergeßlicher macht.
Das ist unmißverständlich. Hier wird das Bild nicht nur dem Gedanken
gleichgesetzt, es wird ihm übergeordnet; das Bild hat eine sammelnde,
konzentrierende, über die abstrakte Formulierung hinaus exegetische
Funktion, die zudem noch den Vorteil bietet, Vergnügen zu bereiten –
im 18. Jahrhundert, das die horazische Formel immer noch schätzt,
eine nicht unwichtige Zusatzlegitimation. Zwischen Bild und Geist,
zwischen Imagination und Verstand gibt es keinen Gegensatz, eher ist
das Bild in der Lage, dort noch Sinninhalte zu vermitteln, wo der Gedanke, der Begriff bereits versagt. Eine solche Hochschätzung wird
durch nichts eingeschränkt, wohl aber immer wieder in ihrer Berechtigung unterstützt. Was das Bild vorzüglich zur Übernahme exegetischer
Funktionen in abstrakten Texten prädestiniert, ist seine Verdeutlichungskraft: „jede Vorstellung des Geistes und jede Regung des
Herzens“, so meint Sulzer, können so „zu sichtbaren und fühlbaren
Gegenständen“ gemacht werden.40 Damit wird der Bildsprache eine
Bedeutungsfunktion weit über die Sprache des Gedankens hinaus zuerkannt, da sie noch verständlich machen kann, was dem Gedanken nicht
mehr ausdrückbar ist. Was Schiller im Gebrauch der Bilder besonders
imponieren mußte, war allerdings die Feststellung, daß es eigentliche
Aufgabe „der redenden Künste“ sei, „uns die unsichtbare Welt durch
die sichtbare bekannter zu machen“. Das ermutigte nicht nur den Dichter zum besonderen Bildgebrauch, sondern entsprach auch einer aufklärerischen Aufgabe, die sich nicht nur ebenfalls, sondern vor allem
und nur durch das Bild erfüllen ließ.
40
Ebd., S. 406.
90
Denken in Bildern
Wie außerordentlich die Macht des Bildes in dieser nicht nur rhetorischen, sondern grundsätzlich darstellerischen Funktion war, zeigt der
sehr viel umfangreichere Teil über die „Allegorie“,41 die nicht das
meint, was heute darunter verstanden wird, sondern der Theorie des 18.
Jahrhunderts folgt: „Setzt man sie [Bilder] aber ganz an die Stelle der
abgebildeten Sache, so daß diese gar nicht dabey genennt wird: so bekommen sie insgemein den Namen der Allegorie, auch bisweilen der
Fabel, der Parabel, oder des allegorischen Bildes.“42 Eben diese allegorischen Bilder hat Schiller mannigfaltig verwandt, überall dort, wo die
Bildwelten sich scheinbar verselbständigen und nur indirekt und lose
ein thematischer Zusammenhang mit einem übergeordneten Ganzen
sichtbar wird. Eine Allegorie ist also ein Zeichen oder ein Bild, „in so
fern es an die Stelle der bezeichneten Sache gesetzt wird“,43 wie Sulzer
noch einmal definiert. Es handelt sich aber nicht um ein einfaches quid
pro quo; die Sache kann nicht nur durch dies Bild dargestellt, sondern
sie kann „bestimmt und mit Vortheil“ erkannt werden: ihre Ausstrahlungs- und Verdeutlichungskraft reicht auch hier weiter als der Sinn.
Hier ist ebenfalls von der „ästhetischen Kraft des Bildes“ die Rede, und
es ist deutlich zu sehen, daß Schillers Vorstellungen vom Ästhetischen
als Verdeutlichungsinstrument der Wahrheit hier ihre Wurzeln haben.
Die Allegorie kann eine Erkenntnis nicht nur sinnlich darstellen, sondern sie sagt „die Sache stärker und nachdrüklicher“ als der Gedanke
selbst. Und Sulzer versteigt sich zu einem enthusiastischen Hymnus auf
die Bildhaftigkeit, die Bildkraft der Allegorie, wenn er feststellt:
sie verbindet Sinnlichkeit, Nachdruk, Kürze, Reichthum und Deutlichkeit, und
gehört deßhalb zu den höchsten poetischen Schönheiten. Sie hat bisweilen
eine beynahe beweisende Kraft. Denn Wahrheiten, deren man sich nicht sowol
durch einen deutlichen Beweis, als ein schnelles Ueberschauen vieler einzelnen
Umstände versichern muß, die also keines würklichen Beweises fähig sind,
können durch solche Allegorien die Art des Beweises bekommen, dessen sie
fähig sind.44
Bilder also beweisen mehr als Gedanken, sie haben nicht nur demonstrative Funktion, sondern Überzeugungskraft. Sulzer hebt sogar die
Differenz zwischen Zeichen und Bezeichnetem auf, wenn er von den
41
42
43
44
Ebd., S. 73ff.
Ebd., S. 406.
Ebd., S. 73.
Ebd., S. 76.
Denken in Bildern
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Allegorien, d. h. von Bildlichkeiten ohne direkten und unmittelbaren
Verstandesbezug, sagt: „Sie sind nicht Zeichen einer Sache, sondern die
Sache selbst“.45 Die Bildwelt bedarf also gar nicht einmal mehr einer
Verankerung im Abstrakten, sie ist sinnlich gewordene Abstraktion
selbst: Ein höheres Lob für die Anwesenheit von Bildern in philosophischen Texten läßt sich kaum denken.
Schiller hat das offenbar alles aufgegeben, zurückgelassen, beiseite
gedrängt, als er mit den kantischen Schriften bekannt wurde. Von den
Bilderfluten der Philosophischen Briefe ist nicht einmal mehr ein spärliches
Rinnsal übrig geblieben, stattdessen triumphiert die philosophische
Einteilungslust und Abgrenzungswut: die Schrift Vom Erhabenen, zur
„weitern Ausführung einiger Kantischen Ideen“ geschrieben, beweist
das durch einen geradezu verblüffenden Mangel an Bildlichkeit. Das
Sinnenwesen zählt nicht mehr sehr hoch, Freiheit gibt nur die intelligible Kraft des Menschen, Beispiele sind Fallstudien, Erhabenheit ist eine
jenseits der Sinnlichkeit liegende Geistesqualität, „innre Gemüthsfreyheit“46 soll bewirkt werden, das Bild aus einem der Außenwelt zugehörigen Bereich hat keine Existenzmöglichkeit mehr. Das Sinnenwesen
wird ausradiert, geleugnet, herabgewürdigt, Freiheit ist schlechterdings
ein nur moralisches Vermögen – und die Folge ist ein Verlust an Bildlichkeit, wie er nach dem Vorangegangenen dramatischer kaum eintreten konnte. Ein paar Beispiele werden noch genannt, ein brennender
Vulkan, eine Felsenmasse, die herabhängt – aber das sind wiederum
Fälle, Naturgegebenheiten, die zu überwinden sind, der physischen
Welt angehörig, die den Menschen vorübergehend bedrohen, im Grunde genommen aber nicht schrecken kann. Von Seelenstärke ist jetzt die
Rede, von der „Darstellung der moralischen Selbstständigkeit im Leiden“47 – und die folgenden Schriften setzen diesen Feldzug, der einer
Bilderstürmerei großen Stils gleichkommt, nur noch fort. Die Gemütskräfte werden klassifiziert, rubriziert, die Sinnlichkeit ist beiseite
gedrängt oder doch als überwindenswerter, im Grunde genommen
bedauerlicher Zustand des Menschen abgewertet; von der Geschichte
der Menschheit, wie sie in den Künstlern so anschaulich beschrieben
wurde, wird nichts mehr gesagt, nur noch von grundsätzlichen abstrakten Möglichkeiten und Verhaltensweisen, die alles andere als lebensnah
45
46
47
Ebd., S. 78f.
NA 20, S. 178.
NA 20, S. 195.
92
Denken in Bildern
sind und das auch gar nicht sein sollen. Jetzt ist stärker noch von der
„Nothwendigkeit der Vernunft“ und von der „Willkür der Einbildungskraft“ die Rede: Das Todesurteil über die letztere ist ziemlich
deutlich ausgesprochen, das Ästhetische ist überladen und befrachtet
mit einer einzigen Aufgabe: der nämlich, Zeichen der Freiheit, eines
intelligiblen, abstrakten, erstrebenswerten, aber nur schwer erreichbaren
Zustandes zu sein. Mit dem Verzicht auf die Imaginationskraft und der
Hinwendung zur Welt des Abstrakten, mit der ganzen Theologie des
Erhabenen und dem Zwang zum Triumph über das Leiden verflüchtigt
sich die bunte Vielfalt der Bildwelten, die Schiller vorher kannte, bis hin
zu jener unsäglich platten, langweiligen Betrachtung, die Schiller in dem
Abschnitt „Von der ästhetischen Größenschätzung“ in den Zerstreuten
Betrachtungen über verschiedene ästhetische Gegenstände über einen Turm anstellt:48 der Bankrott der Phantasie, das absolute Ende der Imaginationskraft. Schiller argumentiert so, als ob er nie einen Turm gesehen
habe, aber der Turm ist ja auch nicht um seiner selbst willen wichtig,
sondern dient nur als Vergleich und Anknüpfungsmoment, um den
„ästhetischen Eindruck der Größe“ zu verdeutlichen – obwohl man
von Verdeutlichung hier nicht einmal mehr reden kann, da nur noch
physikalische Größen vorgestellt werden. Und so geht es weiter durch
die kleineren Schriften hindurch, aber im wesentlichen auch noch durch
Ueber Anmuth und Würde, wo zwar anfangs der Gürtel als „Symbol der
beweglichen Schönheit“ beschrieben ist,49 wo aber dieser Mythos wirklich nur noch einen blassen illustrativen Sinn hat. Die ganze Abwertung
der sogenannten „architektonischen Schönheit“ läuft auf die Glorifikation eines anderen Schönheitsbegriffs hinaus, der zwar Sinnbild der
Freiheit ist, aber eben an Sinnlichkeit, an Anschauungskraft, an Imaginationsgewalt außerordentlich verloren hat. Vom Ästhetischen ist die
Rede, aber nicht mehr um seiner selbst willen, und von einer allegorischen Darstellung, wie Schiller sie in den Künstlern oder auch in den
Philosophischen Briefen so gut beherrscht hatte, findet sich keine Spur
mehr. Die Grazie wird definiert, nicht vorgestellt, und wenn Schiller
über die kantische Moralphilosophie sagt, daß die Idee der Pflicht dort
mit einer Härte vorgetragen sei, „die alle Grazien davon zurückschreckt, und einen schwachen Verstand leicht versuchen könnte, auf
dem Wege einer finstern und mönchischen Ascetik die moralische
48
49
NA 20, S. 230.
NA 20, S. 252.
Denken in Bildern
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Vollkommenheit zu suchen“,50 dann spricht er im Grunde genommen
auch ein Urteil über seine eigene Darstellung aus, denn alle seine Forderungen, daß die schöne Seele sich in die erhabene verwandeln müsse,
bleiben blaß, unbildlich, unanschaulich, abstrakt, selbst dort noch, wo
vom schönen Gegenstand die Rede ist. Aber nicht genug damit: der
Verlust an Imaginationskraft in der darstellerischen Fähigkeit Schillers
zieht sich auch durch die Briefe Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen
hin. Wenn dort von Frühstadien der menschlichen Kultur gehandelt
wird, dann mit Hilfe reichlich ausgelaugter Chiffren: vom Wilden ist die
Rede und vom Barbaren, aber nichts mehr ist anschaulich, jener Frühzustand alles andere als bildhaft vorgestellt. Ein Hohn, wenn Schiller
die „Individualität der Dinge“ erwähnt;51 auch die Natur ist eine blasse
Vokabel geworden, der nichts Visuelles mehr entspricht. Einige mythische Relikte und Surrogate finden sich noch, aber das sind abgegriffene
Münzen; Schiller verwendet mythologische Klischees, die jedermann
bekannt waren. Hier geht es in der Tat nur noch um „theoretische Kultur“,52 die „praktische“ hat sich verflüchtigt. Wenn vom Menschen und
vom Spiel die Rede ist, so bleibt selbst das merkwürdig abstrakt und
hat, so konkret Schiller das auch vor Augen gehabt haben mochte,
keine Überzeugungskraft. Schönheit ist als „allgemeine Idee“ ins Feld
geführt, nicht als anschauliches Bild. Und so geht es durch alle 27 Briefe hindurch; von der Vernunft ist die Rede und vom Objekt, vom
Formtrieb und vom Stofftrieb, von moralischer Freiheit und, kurioserweise, auch von der „sinnlichen Abhängigkeit“53 – am Ende steht eine
bildlose Formel, die vom „Staat des schönen Scheins“, von der „reinen
Kirche“ und der „reinen Republik“; die Epitheta deuten unmißverständlich an, daß die reine Kirche auf dieser Welt kaum zu finden ist
und die reine Republik im absoluten Gegensatz zur wirklichen steht.
Nur an einer Stelle unterbricht Schiller diesen rigoros-abstrakten Darstellungsstil, diese knochige Nomenklatur von nicht mehr imaginierbaren Rubrikationen: da, wo er vom Künstler spricht, im 9. Brief. Dort ist
davon die Rede, daß eine wohltätige Gottheit den Säugling beizeiten
von seiner Mutter Brust reißen solle; sie „nähre ihn mit der Milch eines
bessern Alters, und lasse ihn unter fernem griechischen Himmel zur
50
51
52
53
NA 20, S. 284.
NA 20, S. 327.
NA 20, S. 332.
NA 20, S. 397.
94
Denken in Bildern
Mündigkeit reifen. Wenn er dann Mann geworden ist, so kehre er, eine
fremde Gestalt, in sein Jahrhundert zurück; aber nicht, um es mit seiner
Erscheinung zu erfreuen, sondern furchtbar wie Agamemnons Sohn,
um es zu reinigen.“54 Hier ist noch etwas zu spüren von der Bildhaftigkeit seiner früheren Darstellungsmöglichkeiten, aber eben auch nur
hier, und dies nicht zufällig. Denn darin hat sich der Künstler-Mythos
gewissermaßen hinübergerettet in die Zeit der philosophischen Schriftstellerei, und es ist offenbar die thematische Nähe zu den Künstlern, die
Schiller nun zu einem Bildstil hinreißt, der sich eigentlich auf höchst
sonderbare Weise wie ein Fremdkörper in dieser Kaskade von Abstraktionen ausnimmt. Bilder gibt es sonst kaum noch – darin hat Elizabeth
Wilkinson recht; wo es sie gibt, sind sie dürr, mager, flach, um nicht zu
sagen: langweilig. Hier ist der Bildschwund noch radikaler als in Ueber
Anmuth und Würde, und so stellt sich diese Schrift denn als eine einzige
Bankrotterklärung eines bildhaften Schreibens dar, als Wegzeichen
einer weitgehend verloren gegangenen Imaginationskraft; der Gewinn,
den Schiller hat, ist mager, verglichen mit dem Verlust, durch den er
erkauft worden ist.
Wir wissen, wie sehr Schiller am Ende mit seinem Projekt der Ästhetischen Briefe gescheitert ist: sie wurden nicht fertig, das Thema ließ sich
gedanklich nicht bewältigen, und mögen sie auf ihre Weise auch großartig sein, so sind sie doch Ausdruck eines Scheiterns, das man nicht
verharmlosen sollte. Schiller hat sich von seiner ursprünglich geplanten
„Analytik des Schönen“ weit entfernt, seine Schrift ist zu einem kulturpolitischen Programm geworden, dem es aber an Realitätsbezug erstaunlich mangelt; von der Theorie des Schönen war nicht mehr sehr
viel geblieben, stattdessen schilderte er Wirkungen des Schönen auf die
Kultur überhaupt: eine Abschweifung, die um so stärker als ein Abweichen von der ursprünglichen Konzeption interpretiert werden muß, als
er zu Anfang seiner Arbeit deutlich erklärt hatte, daß er seine Gründe
„für unüberwindlich“ halte. So stellt sich schließlich denn die Frage, ob
es Schiller tatsächlich gelungen war, die Schönheit als Freiheit in der
Erscheinung überzeugend darzustellen. Sein Versuch, Kant noch zu
übertreffen, war eher zu einem Scheitern an diesem Versuch geworden.
Was ebenso bedenklich war: Schiller war aber auch mit dieser neuen
„Schreibart“ in Schwierigkeiten geraten. Das literarische Erziehungsprogramm, das in den Horen verkündet worden war, drohte in Wir54
NA 20, S. 333.
Denken in Bildern
95
kungslosigkeit, in Antiliberalität umzuschlagen. Schiller wollte das literarische Publikum zur Anerkennung des Horen-Programms und darüber
hinaus zur „Freiheit“ zwingen – aber das war keine neue republikanische Freiheit, sondern eine andere, die davon gerade loszukommen und
die „politisch geteilte Welt unter der Fahne der Wahrheit und Schönheit wieder zu vereinigen“55 hoffte. Ein reichlich absolutistisches Vorhaben, verbunden mit der Absicht, das „Denken“ auszubreiten „eine
harte Arbeit für manchen, aber wir müssen es dahin bringen, daß, wer
auch nicht denken kann, sich doch schämt es sich zu gestehen“. Eine
Erziehung zu kantischer Nüchternheit und Gedankenstrenge, zum
Verzicht auf jegliche populäre Darstellung und damit auch auf alle Imagination? Das Publikum, dem derart Belehrung zugedacht war, hat
diese klassische Zwangsjacke offenbar nicht mit ungeteiltem Vergnügen
überziehen wollen – auch Schiller selbst scheint es, was zumindest den
Darstellungsstil und die Aufforderung zum strengen Denken angeht,
dabei nicht sonderlich wohl gewesen zu sein. Davon zeugt der Briefwechsel mit Körner; und es war Körner, der deutliche Warnungen aussprach. Am 11. Januar 1795 schrieb er, nach Empfang einer Sendung
der Ästhetischen Briefe, an Schiller: „Die Form hat freylich das Anziehende nicht, was die ersten Briefe haben. Aber dießmal war der Ernst zu
herrschend, um nicht einen Verlust an Schönheit im Vortrage zu verursachen“.56 Körner hat seine Kritik am 16. Januar 1795 nach Zusendung
eines Aufsatzes für die Horen fortgesetzt und von „Schwierigkeiten der
Form“ gesprochen: „Das Abstrakte was in dem Aufsatze herrscht ist
für den bequemern Leser ermüdend“.57 Schiller hat sich zu verteidigen
gesucht und um Verständnis geworben:
Die abstrakte Darstellung, die gewiß für ein solches Thema noch viel Fleisch
und Blut hat, mußt Du mir nachsehen, denn ich glaube ich bin an der Grenze
gestanden, und ohne die Bündigkeit der Beweise zu schwächen, hätte ich von
der Strenge der Schreibart nicht wohl etwas nachlassen können.58
55 Vgl. dazu den seinerzeit grundlegenden Aufsatz von Herman Meyer: Schillers philosophische Rhetorik, in: Euphorion 53, 1959, Festschrift des Euph., S. 91-128, bes.
S. 120ff., mit Hinweisen auf die Aufnahme der Ästhetischen Briefe in zeitgenössischem
Urteil, S. 121f.
56 NA 35, S. 125.
57 NA 35, S. 131.
58 NA 27, S. 115.
96
Denken in Bildern
Einen Bericht über die Wirkung einiger seiner Ästhetischen Briefe auf
Goethe und Meyer schickt Schiller am 19. Januar an Körner – ein bißchen zu enthusiastisch mag er wohl ausgefallen sein, aber Schiller hat
inzwischen auch dazugelernt; der „allzugroßen Trockenheit des elften
und zwölften Briefes“ glaubt er abgeholfen zu haben „durch öftere
Rückkehr zur Anschauung und Erfahrung“. Das ist ein Signal, daß
Schiller nun die darstellerischen Wirkungen der Bildlichkeit wieder
höher einschätzt, zumal dann, wenn er es mit einem „nicht Kantischen
Leser“ zu tun hat; die „Strenge der Schreibart“ ist gemildert, die „abstrakte Darstellung“ zurückgenommen, die Begriffsklauberei bereichert
um Anschaulichkeit, die „scholastische Form“ der frühen Briefe aufgegeben. Der Weg zu einem neuen literarischen Stil war frei.
In der Tat: hinter alledem steckt eine ständig wachsende Opposition
gegen Kant. In Ueber Anmuth und Würde hat er der „schönen Seele“
gehuldigt, in ihr das „Siegel der vollendeten Menschheit“ gesehen. Das
war schon ein nicht zu unterschätzender Angriff auf Kants „Idee der
Pflicht“, und in den Ästhetischen Briefen setzt sich die Attacke auf das
Drakonische der kantischen Moralphilosophie, auf das Rigoristische
des kantischen Denkens fort; von dem enthusiastischen Bekenntnis zu
Kant, zu dem lichtvollen, geistreichen Inhalt seiner Schriften blieb nicht
mehr viel anderes übrig als Kritik an der Strenge des kantischen Systems: Kritik an einer Philosophie, deren Abstraktionsgrad bewundernswert, deren Wirklichkeitsgehalt aber, so mußte Schiller es sehen,
sich immer mehr verflüchtigte, je weiter man sich damit beschäftigte.
Und so enthalten die Ästhetischen Briefe beides: Kant-Nachfolge und
Kant-Kritik, einen bilderarmen Stil und einen Protest gegen die Rigorosität eines unimaginativen Denkens. Wollte Schiller hier auch noch als
Philosoph gelten? Gewiß, aber nicht mehr unbedingt als ein solcher
kantischer Provenienz.
Dem komplizierter werdenden Verhältnis Schillers zu Kant soll hier
im einzelnen nicht weiter nachgegangen werden. Aber man darf doch
als gesichert annehmen, daß von der nun einmal ausgesprochenen
Kant-Kritik kein Weg mehr zu Kant zurückführte, und es war gleichermaßen die Härte der Bestimmungen wie auch das geradezu Puritanische der Darstellung, das Schiller abgeschreckt haben mochte. Und
Schillers Kritik an Kant und seine zunehmende Distanzierung von
dessen Philosophie hatte Folgen für sein Selbstverständnis, mehr aber
noch solche für seine Schreibart. Seine Abkehr von Kant beginnt mit
Denken in Bildern
97
produktiven Zweifeln an seinen eigenen Fähigkeiten. Hier liegt eben
der Schlüssel zum Verständnis jener Formel von der „Zwitter-Art“ des
eigenen Schreibens, von der 1794 die Rede ist. Wollen wir die Auseinandersetzung mit sich selbst, wie sie in jenem großen Brief an Goethe
so deutlich wird, recht verstehen, müssen wir sie vor dem Hintergrund
der Auseinandersetzung mit Kant, der durch Kant in Unruhe versetzten eigenen Selbstbewertung, dem Schwanken zwischen Gedanke und
Bild sehen, bis dann bezeichnenderweise wieder in einer Auseinandersetzung, aber diesmal in der mit Fichte, die Formel von der Koexistenz
von Bild und Gedanke als Lösung eines Problems auftaucht, das Schiller als sein ureigenstes erkennen zu müssen geglaubt hatte, das aber ein
Problem der Rezeption kantischer Ideen durch einen vorher ganz anders philosophierenden Dichter gewesen war.
In Ueber die nothwendigen Grenzen beim Gebrauch schöner Formen hat Schiller theoretisch zu beschreiben versucht, wie die Symbiose von „Begriffen „ und „Anschauungen“ beschaffen sein müsse. Aber er hat in seiner eigenen „Schreibart“ noch schärfer argumentiert: hat er doch kurz
darauf den Verzicht auf die Imagination gewissermaßen indirekt als
Irrweg erklärt und zu einer Darstellungsart zurückgefunden, die er vorher schon in den Künstlern praktiziert hatte. Die großen philosophischen
Gedichte aus der Mitte der 90er Jahre legen davon Rechenschaft ab,
vor allem Das Ideal und das Leben – ein unausgesprochener, aber um so
nachdrücklicherer Kommentar zu eben dem Problem, das ihn seit
Kant, in der Begegnung mit Goethe und in der Auseinandersetzung mit
Fichte beschäftigt hatte. Die Rückkehr zur alten Schreibart der Imagination wird zu einem grandiosen Triumphzug, zum einzigartigen Hymnus auf ein Denken in Bildern. Jede Strophe bordet von Bildlichkeit
über, und mag sie sich aus der Mythologie herleiten oder aus der Natur,
Schiller philosophiert in Bildern und nurmehr in Bildern oder fast nur
in solchen. Die Szenen im Olymp sind alles andere als abstrakte Jenseitsphilosophie, die Bilder sind hier tatsächlich koexistente Zeichen; sie
und nur sie verdeutlichen, was anders nicht verdeutlicht werden kann,
nämlich Grundsätzlichkeiten, die sich eigentlich der Vergegenwärtigung
von sich aus entziehen. Die Schönheit erscheint hier wieder, aber es ist
von ihren Hügeln die Rede, auch von der Schönheit stillen Schattenlanden – eine bildhafte Philosophie, stärker noch, als sie in den Künstlern
begegnete; die mythologischen Szenen sind Analogiebeweise, Exaktes
und Konkretes ist unauflöslich miteinander vermischt, eines aber nicht
98
Denken in Bildern
Diener des anderen, sondern eine unzertrennliche, unverbrüchliche
neue Wirklichkeit aus Gedanken und farbigster Imagination. Hier wird
das Künstler-Gedicht legitimerweise fortgesetzt, hier wird die Aufklärung
von der Imagination her vorangetrieben, hier ist auf eigentümliche
Weise das Schöne zum Ausdruck des Freien geworden, aber anders und
direkter, als das die Ästhetischen Briefe präsentieren konnten. Man hat
diese Lyrik Gedankenlyrik, Reflexionspoesie oder philosophische Lyrik
genannt,59 aber das ist unzulänglich. Hätte man sich die Mühe gemacht,
in Sulzers Lehrbuch nach adäquaten Termini zu suchen, wäre die Frage
der Benennung rasch geklärt gewesen. Denn die lyrischen Werke der
hochklassischen Zeit, Das Ideal und das Leben, Die Ideale, Der Spaziergang,
Nänie, Der Antritt des neuen Jahrhunderts, sind nicht etwa eine Umsetzung
der Philosophie der frühen 90er Jahre ins Gedicht, sondern vielmehr
eine Rückkehr zu der bildhaften Argumentation der vorkantischen Zeit
– Kant erweist sich, auch hier, als Umweg, als Störung, als Unterbrechung einer Tradition, in der Schiller schon Beachtliches geleistet hatte.
Was er nun schreibt, ist wiederum anschaulich, ist imaginierte Kulturphilosophie, Ausdruck jenes Denkens in Bildern, das im Bereich der
Lyrik am leichtesten möglich ist. Diese Lyrik ist, der Definition der Zeit
zufolge, „allegorische Lyrik“ – und man würde gut tun, durch diesen
Begriff, der sich von Sulzers Allgemeiner Theorie der schönen Künste her
legitimiert, jenen anderen, mißverständlichen, zwitterhaften Begriff der
„philosophischen Lyrik“ oder den der „Reflexionspoesie“ zu ersetzen.
Denn hier dominiert nicht die Reflexion, sondern das Bild und, in seiner Steigerung, die „Allegorie“.
Schiller schwenkt damit wieder ein in poetisches Fahrwasser, das
längst gut ausgeschildert war: das des allegorischen Schreibens. In der
ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts hatte es zwar noch erhebliche Kritik
an der Allegorie gegeben, auch Zweifel, wie der Begriff zu deuten sei:
Bodmer verstand darunter nur eine „doppelsinnige Schreibart“,60 die
gerade nicht für die „tiefsinnigen Geister“ erfunden worden sei, „welche abstractè gedencken können“, sondern für diejenigen, die mit der
59 Das Vorurteil ist alt und geht schon auf Eduard von der Hellen zurück, der bereits von der „sogenannten ‚Ideen- oder Gedankenlyrik‘“ spricht und darin schon den
Höhepunkt der Schillerschen „Reflexionspoesie“ sieht; vgl. Schillers Sämtliche Werke.
Säkular-Ausgabe, Bd. 1: Gedichte I, hg. von E. v. d. H., Stuttgart/Berlin o. J., S. XIII.
60 Johann Jacob Bodmer: Critische Betrachtungen über die poetischen Gemählde der Dichter,
Zürich 1741, S. 601.
Denken in Bildern
99
„Einbildung“ arbeiten:61 Eine sonderlich große Bedeutung komme ihr
gewiß nicht zu, da sie nichts beweisen, allenfalls etwas erklären könne.
Aber das Interesse an der Allegorie, am allegorischen Schreiben blieb,
auch wenn Georg Friedrich Meier in seinen Anfangsgründen aller schönen
Wissenschaften vor dem „ewigen Allegorisiren“ warnte;62 das könne nur
„einen Eckel“ verursachen – ganz verwarf er sie dennoch nicht, rechnete sie allerdings nur „zu den schlechtesten Arten schöner Gedanken“.63
Diese negative Meinung setzt sich bei Riedel noch fort, wenn er
schreibt:
Die Allegorie ist eine mittelbare Bezeichnungs-Art der Gedanken durch Bilder,
welche einen doppelten Sinn haben […]. In der Dichtkunst dient die Allegorie
unmittelbar weder zur Ueberzeugung, noch zur Rührung; sie ist eine bloße
Schönheit des Colorits, wodurch die Ideen lebhafter werden und das Ansehen
der Neuheit erhalten können.64
Ein Ende der schlechten Reputation kam erst mit Winckelmann und
seinem Versuch einer Allegorie,65 in dem die Allegorie erstmals aus ihrer
bloß didaktischen Rolle befreit war, da sie nun „durch sich selbst verständlich seyn“ konnte;66 eine „Beyschrift“ sei nicht vonnöten. Das Bild
bekommt damit bereits einen gewissen Autonomiecharakter; Moses
Mendelssohn hat dann in seiner Schrift Über die Hauptgrundsätze der schönen Künste und Wissenschaften die Darstellungskraft der Allegorie schon
sehr deutlich betont, behandelt sie doch für ihn „die Eigenschaften und
Merkmale eines abstrakten Begriffs, und bildet daraus ein ziemliches
Ganze, das auf der Leinwand durch natürliche Zeichen ausgedrückt
werden kann“.67 Daß die Allegorie nicht unumstritten war, zeigt freilich
Lessings Attacke auf die Allegorie 1760 – „ein so fremdes Wort, womit
nur wenige einen bestimmten Begriff verbinden“.68 Aber der Autorität
Winckelmanns war nicht viel entgegenzusetzen, und Christian Ludwig
Ebd., S. 605.
Georg Friedrich Meier: Anfangsgründe aller schönen Wissenschaften. Zweyter Theil,
Halle/S. 1749, S. 372.
63 Ebd., S. 605.
64 Friedrich Just Riedel: Theorie der schönen Künste und Wissenschaften. Ein Auszug aus
den Werken verschiedener Schriftsteller, Jena 1767, S. 366.
65 Johann Joachim Winckelmann: Versuch einer Allegorie, Dresden 1766.
66 Ebd., S. 2.
67 Moses Mendelssohn: Über die Hauptgrundsätze der schönen Künste und Wissenschaften,
1757, in: Gesammelte Schriften in 7 Bänden, Leipzig 1843, Bd. 1, S. 296.
68 Johann Jacob Bodmer: Lessingische unäsopische Fabeln, Zürich 1760, S. 232.
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62
100
Denken in Bildern
Hagedorn hat den Gebrauch der Allegorie sogar 1762 verteidigt: Malerei und Bildhauerei würden der Dichtkunst unähnlich, „wenn man
beyden nicht vergönnen wollte, Dinge die nicht in die Sinne fallen, in
sinnlichen Bildern vorzustellen“.69 Und bei ihm findet sich denn auch
die vielleicht beste Rechtfertigung der Allegorie im 18. Jahrhundert:
„Ein allegorisches Bild kann uns gleichwohl belehren, wie eine Sentenz“.70 In der englischen Tradition war man weiter: in den von Schiller
gut gekannten Elements of Criticism war zu lesen:
Die Allegorie erfodert keine Wirkung der Einbildungskraft, sie stellt nicht ein
Ding unter dem Bilde eines andern vor; sie entsteht, wenn man ein Subjekt
wählt, in welchem sich Eigenschaften oder Umstände finden, die den Eigenschaften oder Umständen des Hauptsubjektes ähnlich sind, und wenn man das
erstere so beschreibt, daß es das letztere vorstellt. […] Nichts giebt mehr Vergnügen als diese Figur, wenn das vorstellende Subjekt in allen seinen Umständen demjenigen, das vorgestellt wird, analogisch ist. Aber man trifft selten eine
so glückliche Wahl.71
Herder schließlich tat ein übriges, die Allegorie aufzuwerten: nicht eine
allgemeine Theorie könne sie definieren, sondern nur „der einzelne, hier
bestimmte Gebrauch“72 – und er zählte die Allegorien der Griechen fast zu
den „Natursymbolen“73: „Nirgend schweift in ihnen das Auge der
Phantasie jenseit der Natur hinaus; auch die erdichteten Prädikate erscheinen anschaulich-schön, mit Kunst- und Naturweisheit geordnet.
Dies befriedigt das Auge, indem es den Geist erhebt.“74 Das steht in
der Kalligone von 1800: und hier zeigt sich, wie hoch die Allegorie in der
poetischen Wertung gestiegen war. „Ästhetischer Natur“ sei sie, und
Allegorien nennt er „Geschöpfe der Phantasie und des personificirenden Verstandes, aus einem Hauch der Sprache genommen, in einem
Hauch gebildet, müßen sie der Einbildungskraft leicht vortreten, sich
lieblich anmelden und das was sie seyn wollen, durch sich selbst bewäh-
69 Christian Ludwig von Hagedorn: Betrachtungen über die Mahlerey, 1. Theil, Leipzig
1762, S. 458.
70 Ebd., S. 493.
71 Heinrich [= Henry] Home: Grundsätze der Kritik, Bd. 2, aus dem Englischen
übersetzt von Joh. Nikolaus Meinhard, Leipzig 41772, S. 289ff.
72 Johann Gottfried Herder: Sämmtliche Werke, hg. von Bernhard Suphan, Bd. 8,
Berlin 1892, S. 79.
73 Ebd., Bd. 22, S. 325.
74 Ebd.
Denken in Bildern
101
ren“.75 Das war indirekt eine scharfe Kampfansage auch an Kant, der
das Schreiben mit Hilfe von Symbolen nur als Ausdruck eines reflektierenden Verstandes begriffen wissen wollte.76 Schillers Position aber war
Ebd., Bd. 23, S. 321.
Siehe dazu Kants Kritik der Urteilskraft, bes. das Kap. „Von der Schönheit als
Symbol der Sittlichkeit“, in: Gesammelte Schriften, hg. von der Königl. Preuß. Akademie
der Wissenschaften, Berlin 1908, S. 351ff. Weitere Belege in der dankenswerten Sammlung: Allegorie und Symbol. Texte zur Theorie des dichterischen Bildes im 18. und frühen 19.
Jahrhundert, ausgew., komment. u. mit einem Nachwort versehen von Bengt Algot
Sørensen, Frankfurt am Main 1972. Dort findet sich auch eine kurze Wort- und Begriffsgeschichte zur Allegorie im 18. Jahrhundert (S. 261f.) mit wichtigen Bemerkungen
über „die Rehabilitierung der Allegorie“ (S. 266). Vgl. im übrigen zum Thema im weiteren Sinne die Darstellung von Gert Ueding: Schillers Rhetorik. Idealistische Wirkungsästhetik
und rhetorische Tradition, Tübingen 1971, insbes. Kap. VI: „Schillers Ideal einer philosophischen Prosa“ (S. 109ff.), in dem allerdings im wesentlichen nur die rhetorischen
Momente zur Sprache kommen. Über die Möglichkeiten der Allegorie dort nur einige
Bemerkungen auf S. 23. Zu einem Motiv aus der „Schaffenden Einbildungskraft“
Schillers vgl. Robert Mühlher: Die Spiegel-Metapher bei Schiller, in: R. M.: Deutsche Dichter
der Klassik und Romantik, Wien 1976, S. 58-78. – Daß die Allegorie eine ideale Möglichkeit war, Ideal und Wirklichkeit zu versöhnen, leuchtet ein, und so mußte die allegorische Schreibart Schillers philosophischer Neigung gerade in den großen Gedichten der
späten 90er Jahre besonders entgegenkommen. Über die Eigentümlichkeiten dieser
Lyrik anhand eines Beispiels informiert Jürgen Stenzel: „Zum Erhabenen tauglich“. Spaziergang durch Schillers „Elegie“, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft XIX (1975), S. 167191. Zur großräumigeren Vorgeschichte des Emblematischen, im wesentlichen beschränkt allerdings auf die frühe Lyrik, vgl. Wilhelm Voßkamp: Emblematisches Zitat und
emblematische Struktur in Schillers Gedichten, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft XVIII
(1974), S. 388-406, bes. S. 399f. Zu dem allegorischen Anteil in Schillers Jugendlyrik
vgl. auch Werner Keller: Das Pathos in Schillers Jugendlyrik, Berlin 1964, S. 101f. Käte
Hamburger hat im übrigen darauf aufmerksam gemacht, daß Schiller, „dieser Ideenlyriker, sich nicht als Lyriker verstand“. In der Tat sind Schillers große Gedichte kaum als
lyrische Gedichte im engeren Sinne zu lesen (vgl. K. Hamburger: Schiller und die Lyrik,
in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft XVI (1972), S. 299-329, bes. S. 329). Über Die
Künstler als „Allegorie“ auch Gerhard Storz: Gesichtspunkte für die Betrachtung von Schillers
Lyrik, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft XII (1968), S. 259-274, bes. S. 272,
wobei Storz allerdings betont, daß Schiller sich von der Allegorie entfernt habe „zu
einer anderen Art der Darstellung“ (S. 272). Interpretiert man „Allegorie“ freilich im
Sinne Sulzers, bleiben auch Die Künstler eine Allegorie, und die These von Gerhard
Storz – „Schillers Lyrik schreitet also von der Allegorie fort zu der klassischen Konkurrenz von Idee und Gestalt, zur Prägnanz und Stimmungskraft des Symbols“ – schränkt
sich ein, zumal nach zeitgenössischer Auffassung Allegorie und Symbol keine Gegensätze sind, sondern Möglichkeiten des Bildes schlechthin. Näheres darüber bei Sulzer
a.a.o., S. 405 unter „Bild“. Vgl. zum Thema auch Bengt Algot Sørensen: Die „zarte
Differenz“. Symbol und Allegorie in der ästhetischen Diskussion zwischen Schiller und Goethe, in:
Formen und Funktionen der Allegorie, hg. von Walter Haug, Stuttgart 1979, S. 632-641.
75
76
102
Denken in Bildern
nach den Schwierigkeiten mit Kant, nach der Kritik an dessen Rigidität
auf seiten Winckelmanns und Herders; und es dürfte nicht zuletzt auch
die Begegnung mit Goethe gewesen sein, die ihn zum allegorisierenden
Schreiben, zum Schreiben in Bildern zurückgebracht hatte. Oder sagen
wir deutlicher: in der Begegnung mit Goethe und dessen „Intuition“,
seiner Erfahrungsgläubigkeit und Bildmöglichkeit kam Schiller seine in
der Tat unglückliche „Zwitter-Art“ scharf zum Bewußtsein, sein
Schwanken zwischen Idee und Anschauung. Das war das Resultat der
Begegnung mit Kant: gewiß Erkenntnisgewinn auf der einen Seite, aber
erkauft durch eine tiefreichende Verunsicherung der eigenen „Schreibart“: „gewöhnlich übereilte mich der Poet, wo ich philosophieren sollte,
und der philosophische Geist, wo ich dichten wollte“, hatte er geschrieben, und so war es tatsächlich um 1791 – vorher durchaus nicht,
denn die Philosophischen Briefe sind aus einem Guß, und Schiller war zufrieden mit ihnen. Aber dann kam der innere Konflikt, und die Begegnung mit Goethe hatte eine geradezu katalytische Funktion. Und nach
dem Streit mit Fichte schwenkte er endgültig wieder ein in eine aufklärerische Tradition, die seit den 60er Jahren des Jahrhunderts immer
mächtiger geworden war und in der Bilder und Allegorien stärker zu
überzeugen vermochten als der bloße Gedanke.77 Das Urteil von Elizabeth Wilkinson über Schillers Armut an Bildern und deren blasse Illustrationskraft gilt aber nur für die wenigen Jahren zwischen 1791 und
1794, also für die Zeit der intensiven Beschäftigung mit Kant. Schiller
„highly suspicious of illustrations in philosophy“? Nur wenige Jahre, in
77 Wie stark Schillers Bildlichkeit früher abgewertet worden ist, zeigt etwa der Aufsatz von Hans Mayer: Schillers Gedichte und die Traditionen deutscher Lyrik, in: Jahrbuch der
Deutschen Schillergesellschaft IV (1960), S. 72-89; auch in: H. M.: Zur deutschen Klassik und
Romantik, Pfullingen 1963, S. 125-146; dort ist ausdrücklich davon die Rede, daß im
Spaziergang die Landschaft, „überhaupt die Raumschilderung, als bloße Dekoration“ zu
verstehen sei (S. 81.); auch die menschheitliche Erinnerung, die Reminiszenz bleibe
„auf das Dekorative beschränkt“ (S. 82), und: „Die Landschaft als Teppich, Gemälde,
Wandeldekoration – wie Jahrzehnte später in Richard Wagners Parsifal “, (ebd.). Gründlicher kann man den (im Sinne Sulzers) allegorischen Charakter dieses Gedichtes kaum
verkennen. – Aus einer reizvollen und neuen Perspektive hat Günther Debon ein
Gedicht wie Das Ideal und das Leben gedeutet: Schiller habe die Götter des Olymps in
einem „Zwischenreich“ angesiedelt „einerseits voll menschlicher Gestalt, andererseits
unsterblich, leidlos, schwebend in einem heiteren Blau“. Das deckt sich in vielem mit
der hier vorgetragenen Deutung der Schillerschen großen Gedichte der 90er Jahre als
„allegorischer“ Gedichte (G. D.: Die Schönheit der Schlangenlinie. Ein weiterer Beitrag zum
Thema Schiller und der chinesische Geist, Neckargemünd 1984, bes. S. 28f.).
Denken in Bildern
103
denen er den Sirenentönen der damals modernen Philosophie folgte.
Nicht zuletzt die Begegnung mit Goethe hat ihn dann sich selbst fragen
lassen, ob er gut daran tue, den Verlockungen eines abstrakten Philosophierens nachzugeben, und der Streit mit Fichte bewirkte dann ein
übriges, um ihn zu seinem eigenen Stil, der der Stil einer populären
Aufklärung war, zurückzubringen; sein Verdacht richtete sich 1794
nicht länger gegen die Bilder, sondern gegen Abstraktionen; er fand
zurück zur produktiven „Wechselwirkung zwischen Bild und Begriff“,
wie er das Fichte gegenüber formuliert hatte. Und so schloß er dann
bald darauf seine „philosophische Bude“: Kant lag hinter ihm. Doch
sein Denken in Bildern setzte er in seiner philosophischen Lyrik fort.
S CH I L LE R : D I E D Ä M O N I E D E R N A T U R U N D
K E H RS E I T E D E S A U F G E K L Ä RT E N D E N K E N S
DIE
Im Frühjahr 1793 unternimmt Schiller einen Spaziergang durch „eine
schöne Landschaft in der Abendröthe“.1 Vor sich hat er „das unendlich
wechselnde Spiel des Lichts“; er sieht, wie die Gegenstände mit „leichtem Flor“ umkleidet sind, und was er um sich erblickt, ist eine „Harmonie der Farben“. Zu den angenehmen Empfindungen kommt das
sanfte Geräusch eines Wasserfalls hinzu, das freilich nicht so stark ist,
daß es „das Schlagen der Nachtigallen“ übertönen könnte. Eine heile
Welt.
Schiller wird diesen Spaziergang wiederholen – und wieder ist es der
Abend, der ihn verlockt. „An dem Himmel herauf mit leisen Schritten/
Kommt die duftende Nacht“ – ist das nicht Eichendorff oder auch
Kleist? Nein, es ist Schiller, zwei Jahre später.2 Noch ein paar Jahre
danach, 1799, erwartet er wieder die Nacht, die holde, und wieder ist es
ein Sonnenuntergang mit einem „purpurrothen Flor“, flüstern Stimmen
leise, zieht ein Schwan seine Kreise durch den Teich, und erneut ist ein
Wasserfall zu hören, wieder „mit angenehmem Rauschen“. Dann
kommt der Mond strahlend herauf, öffnen sich „die Kelche“ der Blumen.3 Wenn die Farben verblassen, kann sich der Blick allerdings täuschen, und erst bei genauerem Hinsehen zeigt sich, daß das schimmernde Weiß im Park nicht ein seidenes Gewand ist, sondern nur das
Flimmern einer Säule an einer dunklen Taxuswand. Die Konturen verschwimmen, auch das Ohr erliegt Täuschungen: was sich wie Tritte im
Laubengang anhört, ist nur der Fall einer überreifen Frucht.
Schöne Natur, bukolische Szenerien: sie begegnen bei Schiller immer
wieder, und in ihnen begegnet uns der empfindsame Schiller. Erlebt
davon ist nichts, sondern alles auf flüchtige Weise imaginiert. Und so
gibt es diverse Ungereimtheiten. Daß sich im holden Dämmerlicht
kühn die Kelche öffnen, ist wider die Natur: Blumen schließen sich
Zitiert wird nach: Schillers Werke. Nationalausgabe, hg. von Julius Petersen (†) und
Gerhard Fricke, Weimar 1943ff. (= NA), Bd. 20, S. 225.
2
NA 1, S. 238.
3
NA 2/1, S. 201f.
1
106
Die Dämonie der Natur
bekanntlich beim Einbruch der Nacht. Wenn vorher vom „purpurrothen Flor des Abends“ die Rede ist, kann der Mond nicht strahlend
aufgehen, und wenn Dämmerlicht herrscht, kann der Schwan nicht
seine Kreise durch den „Silberteich“ ziehen; denn das setzt voraus, daß
der Mond schon hoch am Himmel steht – aber in diesem Gedicht geht
die Sonne erst zwei Strophen später unter und der Mond dann erst auf.
Es gibt sogar haarsträubende Widersprüche. Auf die Vermutung, daß
da flüsternde Stimmen seien, ist die Rede von einem Schwan, der seine
Kreise zieht – eine akustische Frage wird gleichsam optisch beantwortet. Die Traube winkt – hinter Blättern, die sie verdecken; die „Pfirsche“ lauscht zum Genuß, die Luft trinkt Glut. Mit dem „holden
Schweigen“ im Park verträgt es sich nicht, daß die Früchte geräuschvoll
vom Baum fallen; trotz dunkler Nacht sind die Rosenwangen der
„Anmuthstrahlenden“ zu erkennen, und wenn es auch bis auf einen
aufgeschreckten Vogel still ist – das Ohr des Betrachters „umtönt ein
Harmonieenfluß“. Der wird auch nicht durch des Windes Wehen gestört, der durch die Pappeln „schwirrt“.
Eine Phantasiekonstruktion, dieses Erlebnis des sinkenden Tages
und der einbrechenden Nacht, und bei dem Gedicht Der Abend, in dem
mit leisen Schritten die duftende Nacht am Himmel heraufkommt, gibt
sich der Verfasser auch gar keine Mühe, das Dargestellte zu kaschieren:
das Gedicht trägt den Untertitel “nach einem Gemählde“. Ob ein wirkliches Gemälde Anlaß zu dieser Abendschilderung gegeben hat, ist
fraglich; bekannt ist keines, aber wahrscheinlicher ist ohnehin, daß Literarisches im Hintergrund steht: Ovids Metamorphosen, Goethes Wilhelm
Meisters Lehrjahre, vielleicht auch Wielands Oberon. Was immer sich an
lieblicher Natur bei Schiller präsentiert, ist unglaubwürdig, Gedankenkonstrukt, und besonders dort ist Mißtrauen angebracht, wo von Harmonie die Rede ist, von sanften Geräuschen und holdem Schweigen,
von süßen Empfindungen und von Ruhe, von angenehmer Rührung
und ergötzten Sinnen: bezeichnend ist, daß diese empfindsamen Naturschilderungen immer von Musikalischem begleitet sind, denn in der
Musik kommt Harmonisches für Schiller am unmittelbarsten zum Ausdruck. Wir merken nur zu bald: diese Landschaftsbilder sind Rhetorikgemälde, in die antike Mythologie und einiges aus der Idyllentradition
eingeschwärzt ist; Selbstwert haben diese Naturdarstellungen nicht.
Manchmal dienen sie dazu, einzustimmen auf das, was mit dem Abend
Die Dämonie der Natur
107
für Schiller verbunden ist: „die süße Liebe“,4 wie es in dem Abendgedicht von 1795 heißt, oder auch „die Erwartung“5 wie im Gedicht von
1799. Auch dort ist alles nur Vorspiel, damit „die Stunde des Glückes“6
erscheint, und so wird denn die Landschaft zur verheißungsvollen Kulisse, und wenn jenes, das Glück, nicht näher beschrieben ist, so wird
dieses, die Einstimmung, um so wortreicher ausgemalt. Bukolische
Dutzendware.
Aber es bleibt nicht immer dabei – in nicht wenigen Naturbeschreibungen hat es mit der Harmonie ein plötzliches Ende. In Schillers
Idyllen kann etwas hereinbrechen, was sie im Nachhinein noch unglaubwürdiger werden läßt, als sie es ohnehin schon sind. In die schöne
Landschaft mit der Abendröte etwa kommt aus buchstäblich heiterem
Himmel ein Ungewitter:
Auf einmal erhebt sich ein Sturm, der den Himmel und die ganze Landschaft
verfinstert, der alle andere Töne überstimmt oder schweigen macht, und uns
alle jene Vergnügungen plötzlich raubt. Pechschwarze Wolken umziehen den
Horizont, betäubende Donnerschläge fallen nieder, Blitz folgt auf Blitz, und
unser Gesicht wie unser Gehör wird auf das widrigste gerührt. Der Blitz leuchtet nur, um uns das schreckliche der Nacht desto sichtbarer zu machen; wir
sehen, wie er einschlägt, ja wir fangen an zu fürchten, daß er auch uns treffen
möchte.7
Nichts ist unglaubwürdiger als dieser plötzliche Sturm, und wir ahnen:
hier wird ein Theaterereignis inszeniert. Die Regie aber führt kein anderer als der Philosoph Friedrich Schiller. Und er will uns demonstrieren,
daß die „plötzliche Lufterschütterung durch den Donner, so wie die
plötzliche Lufterleuchtung durch den Blitz“, die eigentlich allem widerspricht, was wir als schön empfinden, daß, mit anderen Worten, „die
plötzliche Abwechselung von Dunkelheit und Licht, von dem Knallen
des Donners zur Stille“ ästhetisch gesehen ein Graus sind – und dennoch nichts weniger sind als „eine anziehende Erscheinung“.8 Denn
was wir da erleben, ist zwar alles andere als „schön“9 – aber es ist „et-
4
5
6
7
8
9
NA 1, S. 238.
NA 2/1, S. 201.
NA 2/1, S. 202.
NA 20, S. 225.
NA 20, S. 225.
NA 20, S. 225.
108
Die Dämonie der Natur
was „Erhabenes“.10 Das Unwetter mag schrecklich sein, aber es ist hier
instrumentalisiert und dient keinem anderen Zweck als der Demonstration dessen, was das fürchterliche Naturgeschehen im Menschen bewirken kann.
Schillers Beispiel vom plötzlich heraufziehenden Sturm ist kein genuin lyrisches Thema; dieses hier findet sich bekanntlich in den Zerstreuten
Betrachtungen über verschiedene ästhetische Gegenstände, Vorlesungsstoff, den
er für seine Vorlesungen über Ästhetik brauchte, wie er sie im Winter
1792/93 hielt. Es sind Fingerübungen zu philosophischen Etüden, und
die Partitur schrieb Kant – Schiller, der akademische Lehrer, ist hier auf
die Schulbank gerückt. Jeder, der die Schrift einmal gelesen hat, erinnert
sich an das abschreckend-langweilige Beispiel, das er seinerseits seinen
akademischen Zuhörern zugemutet hat, wenn er umständlich das Beispiel eines Turmes zitiert: „Der Thurm, den ich vor mir sehe, ist eine
Größe. Er ist zweyhundert Ellen hoch. Er ist hoch. Er ist ein hoher
(erhabener) Gegenstand“.11 Schiller selbst hat die Anlehnung an die
Kritik der Urteilskraft als offenbar so stark empfunden, daß er bei der
späteren Aufnahme des Aufsatzes in die Kleineren prosaischen Schriften eine
längere Passage gestrichen hat – sie ist, was das Erhabene angeht, allenfalls von erhabener Langeweile.
Was es eigentlich mit dem Erhabenen auf sich hat – und zu dessen
Demonstration dient so manches Naturbeispiel –, hat er anderswo
überzeugender gesagt, etwa in der Schrift Vom Erhabenen mit dem Untertitel Zur weitern Ausführung einiger Kantischen Ideen, die er für seine Neue
Thalia zu brauchen gedachte. Und hier wird auch deutlich, wozu die
Schrecknisse der Natur gut sind: nur wo die Natur furchtbar ist, kann
sie die Wirkung des Erhabenen auslösen.12 Dahinter steht die Vorstellung, daß unsere „Vernunftbestimmung“ uns eine „praktische Unabhängigkeit von der Natur“ gewissermaßen garantiert.13 Allerdings: ein
Schiff, das durch „seine künstliche Einrichtung im Stand ist, allem Ungestüm des wilden Elements zu trotzen“,14 erweckt noch kein Gefühl
des Erhabenen. Mit Schillers Worten: „Die physische Ueberlegenheit
des Menschen über die Naturkräfte ist also so wenig ein Grund des
10
11
12
13
14
NA 20, S. 229.
NA 20, S. 230.
Vgl. NA 20, S. 178.
NA 20, S. 176.
NA 20, S. 176.
Die Dämonie der Natur
109
Erhabenen, daß sie fast überall, wo sie angetroffen wird, die Erhabenheit des Gegenstandes schwächt oder ganz vernichtet“.15 Erhaben ist
die Natur nur da, wo sie furchtbar ist – und dazu auffordert, sich davon
nicht überwältigen zu lassen. Das Erhabene hat mit unserer inneren
Freiheit zu tun, mit unserem „intelligiblen Selbst“, also mit dem in uns,
„was nicht Natur ist“,16 und so ist denn das Erhabene nicht Eigenschaft
einer Sache oder eines Naturvorganges, sondern die durch das Furchtbare etwa der Natur erst möglich gewordene Entscheidung des Menschen, sich dem nicht zu beugen. In Schillers definitorischem Satz:
„Groß ist, wer das Furchtbare überwindet. Erhaben ist, wer es, auch
selbst unterliegend, nicht fürchtet“.17 Natur ist also nichts anderes als
ein Medium, ein Eigenleben hat sie bei Schiller nicht.
Schillers Absicht ist eindeutig: es geht ihm um die Demonstration
der menschlichen Autonomie, derer er sich vergewissern muß, um
nicht vom Schicksal, von der Natur, von Gewalt, vom schlechten Leben, von den Verhältnissen unterjocht zu werden. Dem dient in seiner
Argumentation auch die Vorstellung von einem Gewitter, das dem
Menschen seine physische Ohnmacht vor Augen führt – und zugleich
ein Anlaß ist, ihm seine innere Freiheit bewußt zu machen. Bilder einer
schönen Natur werden denn auch vor allem dann gebraucht, wenn sie
von Bildern einer schrecklichen Natur abgelöst werden. Das Idyllische:
nur zu rasch hinweggewischt, Bukolik ist trügerisch, die Wirklichkeit
der Natur grausam. Aber auch hier gilt, was für Schillers freundliche
Spaziergang-Bilder bezeichnend ist: erlebt davon ist nichts – alle diese
Bilder von Naturkatastrophen sind Gedankenspiele. Sie sollen immer
wieder das Gleiche demonstrieren: daß gerade Katastrophen den Menschen frei machen können.
*
Menschliche Ohnmacht hatte auch schon der junge Schiller empfunden
– aber es war damals eine fromme Ohnmacht angesichts der Herrlichkeit der Schöpfung, wie er sie in seinem frühen Gedicht Die Gröse der
Welt beschrieben hatte.18 Das Chaos war gewesen, früher einmal, vor
dem schaffenden Geist; die Natur war, auch wo sie überwältigend war,
15
16
17
18
NA 20, S. 178.
NA 20, S. 184.
NA 20, S. 185.
Vgl. NA 1, S. 102.
110
Die Dämonie der Natur
nichts anderes als ein Sinnbild für die unendliche Größe Gottes. Extreme Bilder auch dort schon, etwa in der Hymne an den Unendlichen:
Wolken türmen sich zu Stürmen, der „Orkan“ spricht „Zebaoths Namen“ aus.19 Aber in dieser frühen Lyrik erscheint die Natur überall nur
als Spiegel Gottes, ist von einer universellen Sympathie die Rede; da
schreiben eigentlich Brockes, Haller und Klopstock mit.
Eigenwert haben schon diese frühen Naturschilderungen nicht, so
wenig wie Natur irgendwo sonst erlebt worden ist. Aber immer ist sie
gewaltig. Landschaften werden geschildert, die fast nicht mehr vorstellbar sind: die Wolken sind ungeheure Gebirge, „neblichte Riesen“,20 die
Wasser sind unabsehbar, die Erde selbst ein „Grabeshügel“;21 da ragt
ein „Zakenfels“ zwischen Himmel und Erde, „orgelt“ der „Gewittersturm“, schreibt der „Griffel des Blizes“,22 brennt „Sonnenaufgangsglut“, wird der Sonnen Pracht im Meer der „Todennacht“ gelöscht,
bläst der Wind „regenbogenfarbigtes Geschäume“ fort,23 wird die „blühende Natur“ zum „welken Leichnam“.24 Hier gibt es keine liebliche
Natur, sondern nur eine kolossalische, und nicht weniger kolossalisch
ist diese Rhetorik der Natur – eine Chiffrensprache, die der Verständigung über Ungewöhnliches, Großes, Erhabenes dient. Natur ist, wie
T. S. Eliot derartiges benannt hatte, ein „objective correlative“.25
Von den Gottesgemälden wird Schiller sich freilich schon bald verabschieden, aber eines wird bleiben: die Bilder einer extremen Natur.
Der „Donner Rollen“ hallt durch das Gebirge, ein „langes Klippenheer“ steht in „grausenvollen Felsenwüsten“,26 über einer Schlacht
hängt eine Wetterwolke,27 und wenn sich ein lieblicher Hain zeigt,
„rast“ plötzlich der „Sturm“ und zerknickt die „Rosenblum“,28 das
Meer ist nicht ruhig, sondern empört,29 und auch menschliche Prospekte sind düster: „Deiner Wangen wallendes Rund/ Werden rauhe WinNA 1, S. 101.
NA 1, S. 51.
21 NA 1, S. 52.
22 NA 1, S. 101.
23 NA 1, S. 114.
24 NA 1, S. 167.
25 T. S. Eliot: Hamlet and His Problems. In: T. S. E.: Selected Essays, London 1932,
S. 141-146, hier S. 145.
26 NA 1, S. 55f.
27 NA 1, S. 70.
28 NA 1, S. 95.
29 NA 1, S. 109.
19
20
Die Dämonie der Natur
111
terstürme pflügen,/ Düstrer Jahre Nebelschein/ Wird der Jugend Silberquelle trüben“,30 heißt es in der Melancholie an Laura.
*
Vielleicht war es gar nicht einmal ein so weiter Weg von den quasi barocken Bildern der lyrischen Frühzeit in die Bilder einer katastrophalen
Natur, wie sie sich in der klassischen Lyrik immer wieder finden, wenn
es um die Menschheit und ihre traurige Blöße geht: „Ueber diesen
grauenvollen Schlund/ Trägt kein Nachen, keiner Brücke Bogen,/ Und
kein Anker findet Grund“.31 Natur aber wird nun anders gewertet, und
von der Sprache Gottes durch die Natur ist nicht mehr die Rede. Natur
ist zunehmend nicht länger mehr Demonstrationsmittel, sondern bekommt ein angsterregendes Eigenleben. In Das Ideal und das Leben
spricht „der Natur furchtbare Stimme“.32 Immer wieder Gebirgsbilder
bei Schiller: „Brausend stürzt der Gießbach herab durch die Rinne des
Felsen/ Unter den Wurzeln des Baums bricht er entrüstet sich Bahn./
Wild ist es hier und schauerlich öd’“.33 Fromme Natur? Nicht mehr in
diesen Schillerschen Bildern. Natur ist allem entgegengesetzt, was idealisch ist, und was es mit der Natur wirklich auf sich hat, zeigt etwa die
Ballade vom Taucher. Die Natur ist dort auf besonders grausame Weise
zerstörerisch, kalt, feindlich, mörderisch, die strudelnden Trichter öffnen den Weg in einen „Höllenraum“.34 Schiller bemüht das ganze Arsenal seiner furchtschaffenden Bilder, um zu zeigen, was es mit diesem
wilden Meer auf sich hat: Feuer vermengt sich mit Wasser, so ist wiederholt zu lesen. Hier sind „Nacht und Grauen“,35 ein wildflutender
„reissender Quell“, ein „Höllenrachen“, ist „traurige Oede“,36 und am
Schluß vernichtet es den Jüngling. Eine lebensbedrohliche Natur auch
in der Ballade von der Bürgschaft: des „Stromes Wuth“ bedroht den
Freund, und wenn der auch dem Wasser schließlich entkommen ist, so
droht der Sonne „glühender Brand“37 ihn zu versengen. Das Lied von der
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31
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33
34
35
36
37
NA 1, S. 114.
NA 2/1, S. 399.
NA 2, S. 400.
NA 2/1, S. 313.
NA 2/1, S. 373.
NA 2/1, S. 374.
NA 2/1, S. 375.
NA 1, S. 422f.
112
Die Dämonie der Natur
Glocke berichtet, wie es wird, wenn die „freie Tochter der Natur“38 losgelassen worden ist: eine Weltuntergangsvision, Feuer und Blitze, der
Himmel „roth wie Blut“, „Sturm“ und eine „Feuersäule“,39 und in den
„öden Fensterhöhlen“ wohnt am Ende „das Grauen“.40 Auch wenn
einmal vom „ew’gen Sonnenschein“ auf „jenen Höhen“ die Rede ist,
braust des „Stromes Toben“ dazwischen,41 und ein Ende hat es mit
dem Bild einer harmonischen Idylle. In der Ballade von Hero und Leander ist die Natur zunächst dem Geschlecht des Menschen konfrontiert:
dieses ist „falsch“, treulos, lügend – doch, so heißt es zum Meer, „du
bist mild und gütig“.42 Aber dann kehrt sich das um: das Ende ist gräßlich, das Gewässer „bietet Schrecken“, des „Stromes Toben“43 wächst,
alle Greuel der Natur sind losgelassen, und am Schluß stehen Tod und
Vernichtung: die Stille des Pontus „war nur des Verrathes Hülle,/ Einem Spiegel warst du gleich,/ Tückisch ruhten deine Wogen,/ Bis du
ihn heraus betrogen/ In dein falsches Lügenreich./ Jezt in deines
Stromes Mitte,/ Da die Rückkehr sich verschloß,/ Lässest du auf den
Verrathnen/ Alle deine Schrecken los“.44 Anderswo sind Blitze und
Funken die zerstörerischen Gaben der Natur, über Ilion hängen „des
Donners Wolken [...]/ Schwer herab“.45 Tod und Verderben überall,
wo von der Natur die Rede ist.
Nimmt man zusammen, was sich in Schillers Werken spätestens seit
den neunziger Jahren durch Natur präsentiert, so ist nur zu deutlich:
Natur ist so gut wie immer, sieht man von den imaginierten Gartenund Spaziergangs-Idyllen ab, gewalttätig und zerstörerisch. Natur
sprengt alle Maße, ist unberechenbar, gesetzlos, anarchisch, todbringend, und sie begegnet immer wieder als extreme Natur. Erdbeben,
Vulkanausbrüche, Unwetter, Meeresstürme: eine feindliche Natur stellt
den Menschen auf die Probe. So kann es nur darum gehen, sich von
dieser Natur zu befreien, und die Menschheitsgeschichte ist denn auch
als Befreiungsgeschichte immer zugleich eine Geschichte der Befreiung
von der Natur.
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39
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42
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44
45
NA 2/1, S. 231.
NA 2/1, S. 232.
NA 2/1, S. 233.
NA 2/1, S. 197.
NA 2/1, S. 262.
NA 2/1, S. 264.
NA 2/1, S. 264.
NA 2/1, S. 258.
Die Dämonie der Natur
113
Hier wird die Kehrseite eines aufgeklärten Denkens sichtbar. Denn
die als vernichtend und gewalttätig erscheinende Natur war nicht mehr
die gesetzmäßig organisierte Natur, wie sie in Schillers Dissertation und
auch noch in der Geschichte des Abfalls der vereinigten Niederlande von der
spanischen Regierung begegnet war. Dort war noch zu lesen gewesen: „Die
Geschichte der Welt ist sich selbst gleich, wie die Gesetze der Natur,
und einfach wie die Seele des Menschen. Dieselben Bedingungen bringen dieselben Erscheinungen zurück“.46 Das war 1788 geschrieben.
Natur bedeutete bis dahin Regelhaftigkeit, und die war allgegenwärtig.
Schon in seiner Dissertation folgte die „Universalgeschichte des ganzen
menschlichen Geschlechts“ den Regeln von „Naturgeschichte und
Physik“.47 Hinter allem standen „Naturgesetze“, und die Naturgesetzlichkeit ragte ungebrochen in die Universalgeschichte hinein: sie
zeichnete „Nothwendigkeit“ aus, war als „System“ zu begreifen, als
„vernunftmäßig zusammenhängendes Ganzes“:48 eben so war die Welt
organisiert, und an der Allmacht der Naturgesetze konnte kein Zweifel
bestehen. Da war anfangs bei Schiller also noch ungebrochenes Aufklärungsdenken, und eines kam der Natur mit Sicherheit nicht zu: Eigengesetzlichkeit oder gar Gesetzlosigkeit. Aggregat und System, Ursache
und Wirkung, Mittel und Absicht waren die Kategorien, die für ihn (wie
für Kant und Schloezer) den „Gang der Welt“49 bestimmten; Schiller
sprach nicht zufällig immer wieder von der „Weltordnung“.50 Natur
gab es freilich auch als „Naturtrieb“ – aber der war zu überwinden, und
die Geschichte der Menschheit, so stellte sich das Schiller noch in seiner Vorlesung Etwas über die erste Menschengesellschaft dar, war die Geschichte einer Emanzipation, wurde doch der Mensch „aus einem Sklaven des Naturtriebes ein freihandelndes Geschöpf, aus einem Automat
ein sittliches Wesen, und mit diesem Schritt trat er zuerst auf die Leiter,
die ihn nach Verlauf von vielen Jahrtausenden zur Selbstherrschaft
führen wird“.51 Zwar war da auch eine gefährliche Natur, war die Wildnis; bereits die erste Menschengesellschaft hatte „den Grimm wilder
Thiere und eine stürmische Natur“52 zu bekämpfen. Doch damit war
46
47
48
49
50
51
52
NA 17, S. 21.
NA 20, S. 55.
NA 17, S. 373.
NA 17, S. 374.
Vgl. z. B. NA 18, S. 347.
NA 17, S. 400.
NA 17, S. 400.
114
Die Dämonie der Natur
fertig zu werden. Und so wurde denn die Geschichte aller feindlichen
Natur zum Trotze zur Fortschrittsgeschichte, und was Schiller allein
interessierte, war der Weg von der Natur zur Kultur; daß die Natur
bedrohlich war, war bei der Darstellung der Kultur zu vernachlässigen
und paßte im übrigen nicht in das aufgeklärte Denken hinein: in der
Geschichte der Menschheit war selbst eine bedrohlich erscheinende
Natur überschaubar, und, weil überschaubar, auch beherrschbar. Die
Natur brachte es manchmal zu Kuriositäten, aber die waren eher Anlaß
zur Heiterkeit; so machte Schiller sich schon in seiner Dissertation über
Lavaters Physiognomische Fragmente lustig: Lavater, der die „launichten
Spiele der Natur, die Bildungen, mit denen sie stiefmütterlich bestraft,
und mütterlich beschenkt hat“, beschrieben habe – er möge sich hüten,
daß er „über der ungeheuren kurzweiligen Mannigfaltigkeit der ihm
vorkommenden Originale nicht selbst eines werde“.53 Eine freche Bemerkung mit einem ernsten Kern: Individualität, auch solche in der
Natur, war irrelevant, interessant war der Mensch, sind nicht die Menschen, und so sehr die Menschheitsgeschichte, wie Schiller sie hier entwarf, naturwissenschaftliche Grundlagen hat, so wenig ging es um den
Widerstreit von Natur und Menschengeschlecht – der war mit dem
Aufkommen der ersten Menschengesellschaft, war mit den Staatengründungen für den Universalhistoriker Schiller erledigt. Und mehr als
das: es gab zwar „Naturzweckmäßigkeit“,54 aber wichtiger war die moralische Zweckmäßigkeit; und wenn auch „diese rohen Naturgefühle“
im Menschen tätig waren – höher rangierte die „Würde der menschlichen Natur“.55
Aber dann erscheinen plötzlich die Bilder einer wilden, chaotischen,
unbezähmbaren, zerstörerischen Natur – vor allem in der Schrift Ueber
das Erhabene. Die physische Schöpfung: eine „wilde Bizarrerie“. Die
Natur: „dieses gesetzlose Chaos von Erscheinungen“.56 Schillers Schrift
über das Erhabene ist ein einziger Widerruf der Aufklärungstheorien,
die er selbst so nachdrücklich vertreten hatte. „Wer freylich die große
Haushaltung der Natur“, so schreibt Schiller, „mit der dürftigen Fackel
des Verstandes beleuchtet, und immer nur darauf ausgeht, ihre kühne
Unordnung in Harmonie aufzulösen, der kann sich in einer Welt nicht
53
54
55
56
NA 20, S. 70.
NA 20, S. 140.
NA 20, S. 149.
NA 21, S. 48.
Die Dämonie der Natur
115
gefallen, wo mehr der tolle Zufall als ein weiser Plan zu regieren
scheint“.57 Und dann folgt der Widerruf der eigenen Feststellung, daß
durch Naturgesetze die Natur zu erklären sei, folgt die Einsicht in die
„furchtbare und zerstörende Natur“58:
Eben der Umstand, daß die Natur im Großen angesehen, aller Regeln, die wir
durch unsern Verstand ihr vorschreiben, spottet, daß sie auf ihrem eigenwilligen freyen Gang die Schöpfungen der Weisheit und des Zufalls mit gleicher
Achtlosigkeit in den Staub tritt, daß sie das Wichtige wie das Geringe, das Edle
wie das Gemeine in Einem Untergang mit sich fortreißt, daß sie hier eine
Ameisenwelt erhält, dort ihr herrlichstes Geschöpf den Menschen in ihre Riesenarme faßt und zerschmettert, daß sie ihre mühsamsten Erwerbungen oft in
einer leichtsinnigen Stunde verschwendet, und an einem Werk der Thorheit oft
Jahrhunderte lang baut – mit einem Wort – dieser Abfall der Natur im Großen
von den Erkenntnißregeln, denen sie in ihren einzelnen Erscheinungen sich
unterwirft, macht die absolute Unmöglichkeit sichtbar, durch Naturgesetze die
Natur selbst zu erklären.
Die „zerstörende Natur“! Hier ist nichts mehr zu spüren von Schillers
Aufklärungsoptimismus, ist aller Enthusiasmus begraben, hier gibt es
keine vernünftigen Zwecke mehr, keine chain of being oder universalgeschichtliche Leiter, hier wird Natur bestenfalls zum Schicksal, und zwar
zum blinden. Da ist ein alles überschwemmender Pessimismus, der
Glaube an jegliche Gesetzlichkeit in der Natur über Bord gespült. Die
so betrachtete Naturmisere läßt nur eine einzige Hoffnung offen: daß
diese „physische Welt“ zu überwinden sei, und zwar dadurch, daß der
Mensch ertragen lerne, „was er nicht ändern kann, und Preiß zu geben
mit Würde, was er nicht retten kann“.59
Woher erklärt sich diese Verdüsterung in seinen Anschauungen von
Welt, Natur, Geschichte? Woher begründet sich das Ende des Aufklärungsdenkens bei Schiller? Oder genauer gefragt: Wo und warum erscheint die Natur nicht mehr nur als Demonstrationsmittel, sondern
plötzlich in ihrer tatsächlichen Wildheit und Unbezähmbarkeit? Die
Frage beantwortet Schillers Spaziergang. Wenn dort „im Sturm die Anker“ des Menschen reißen, ihn der „flutende Strom“ mächtig faßt und
ins „Unendliche“ reißt, die „Küste verschwindet“, der Kahn „entmastet“ auf der Fluten Gebirge treibt und „hinter Wolken erlöschen des
57
58
59
NA 21, S. 48.
NA 21, S. 50.
NA 21, S. 51.
116
Die Dämonie der Natur
Wagens beharrliche Sterne,/ Bleibend ist nichts mehr“60 –, dann wird
hier deutlich, was auch in der Geschichte sichtbar geworden war: in der
terreur nach der Französischen Revolution waren Naturkräfte entfesselt
worden, die alles Maß übertrafen. Schillers satirischer Blick auf das
französische Ereignis: „Seine Fesseln zerbricht der Mensch. Der Beglückte! Zerriß er/ Mit den Fesseln der Furcht nur nicht den Zügel der
Schaam!/ Freiheit ruft die Vernunft, Freiheit die wilde Begierde,/ Von
der heil’gen Natur ringen sie lüstern sich los“.61 Heilige Natur? Daß die
Natur heilig sei, war ein Glaubensbekenntnis, das eher Goethe als
Schiller formuliert hatte – die Wirklichkeit sah anders aus, denn die
Natur erschien „auf einmal als Wildniß“, wie es in Schillers Brief an
Humboldt vom 29. und 30. November 1795 heißt.62 Die Konsequenz,
die der Mensch zu ziehen hat, ist dringlicher denn je: es gilt, „der Macht
der Natur zu widerstehen“,63 ihr also zuvorzukommen – und „Natur“
steht hier für irdisches Schicksal überhaupt, ist sein sichtbarster Ausdruck. So bleibt dem Menschen, „zu ertragen, was er nicht ändern
kann“,64 und Schiller hat das in die Formel gebracht, daß der Mensch
lernen müsse, sich mit Freiheit in die Notwendigkeit zu fügen. Nur wer
so reagiert, kann das unvermeidliche Schicksal „seiner Bösartigkeit“65
berauben. Aber wenn es auch gelingen mag, sich derart innere Freiheit
zu geben: die Natur bleibt zerstörerisch.
Die neue Sicht auf die Natur, die Natur als Chaos, Unglück, Verhängnis, Katastrophe – sie geht parallel zur Abwendung von der
menschlichen Geschichte als Fortschrittsgeschichte. Zum ersten Mal,
etwas zaghaft noch, hatte Schiller seine Fortschrittsideen in der Geschichte des Abfalls der vereinigten Niederlande von der Spanischen Regierung über
Bord geworfen. Dort hieß es: „die Weltgeschichte rollt der Zufall“66
und: „Des Fatums unsichtbare Hand führte den abgedrückten Pfeil in
einem höhern Bogen und nach einer ganz andern Richtung fort, als ihm
von der Sehne gegeben war“. Und in der Schrift Etwas über die erste Menschengesellschaft nach dem Leitfaden der mosaischen Urkunde konnte man zwei
Jahre später von der „überhandnehmenden Unordnung in der ersten
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66
NA 2/1, S. 312.
NA 2/1, S. 312.
NA 28, S. 116.
NA 21, S. 51.
NA 21, S. 51.
NA 21, S. 51.
NA 17, S. 21.
Die Dämonie der Natur
117
Gesellschaft“67 lesen und davon, daß „Gewalt und Glück und eine
schlagfertige Miliz“68 den Gang der frühen Geschichte bestimmt hatten. Schillers Geschichts-Resümee: „so widersprechend erscheint sie
der Vernunft und allen Erfahrungen“.69 Das sind Hinweise darauf, daß
die Geschichte sich bei Schiller wie die Natur allmählich einer aufgeklärten Betrachtung entzieht, daß es dunkle Zonen gibt, in denen der
Zufall regiert wie dort, in der Natur, die Willkür. Gegen Ende der
neunziger Jahre scheint der Geschichtspessimismus wie die endgültige
Absage an die „heilige Natur“ manifest geworden zu sein. In der Geschichte des dreissigjährigen Krieges begegnet ein Wallenstein, der in seinem
Charakter, in seinem zweideutigen Wesen das Undurchschaubare und
das Rätselhafte der Geschichte und die Macht einer wilden, zerstörerischen Natur gleichsam in seiner Person verkörpert. Beides war widerspruchsvoll, wie Wallenstein selbst es war. Wallenstein ist, so sagt es
schon die Geschichte des dreissigjährigen Krieges, „ein gleich undurchdringliches Geheimniß für Freund und Feind“.70 Aber nicht weniger undurchdringlich sind die Geheimnisse der Natur, und nur eines ist sicher:
eine freundliche Natur gibt es nicht mehr. In der Geschichte wie in der
Natur herrscht Gleiches, nämlich Zerstörerisches, und in beiden offenbart sich eine Welt, aus der sich die Aufklärung verabschiedet hat.
Mochte das Unwetter in den Zerstreuten Betrachtungen über verschiedene
ästhetische Gegenstände noch ein Gedankenexperiment gewesen sein, ein
Spiel mit Vorstellungen, so zieht hier das Unwetter über Wallenstein
herauf, nicht nur vergleichsweise, sondern wirklich: ihn bedroht die
„Schwärze des Gewitterhimmels“,71 er ist dem „tückschen Mars“, „dem
alten Schadenstifter“ ausgeliefert, der „Malefico“ alles andere als „unschädlich, machtlos, in cadente domo“;72 „ein greulich Zeichen“ im
„Haus des Lebens“ wird sichtbar, ein „Unhold“ umlauert Wallensteins
strahlenden Stern, und so stehen denn am Ende „die Zeichen [...] grausenhaft“.73 Und da er von dieser Natur überrascht wird, ist er gegen
Leiden und Untergang auch nicht gewappnet und kann sich nicht, wie
Schiller es formulierte, mit Freiheit in die Notwendigkeit fügen. Ist hier
67
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69
70
71
72
73
NA 17, S. 410.
NA 17, S. 413.
NA 17, S. 11.
NA 18, S. 302.
NA 8, S. 332.
NA 8, S. 177f.
NA 8, S. 340.
118
Die Dämonie der Natur
auch Schillers Glaube an die Autonomie des Menschen an ein Ende
gekommen? Nur einmal noch in Schillers späten Dramen versucht
jemand, sich mit Freiheit in die Notwendigkeit zu fügen: Maria Stuart.
Aber ihre Blutschuld bleibt, und aus eigener Macht gelingt diese Entscheidung auch nicht: die Religion muß nachhelfen. Die Schreckensgeschichte wird dadurch nicht aufgehalten. So chaotisch und zerstörerisch
die Natur beim späten Schiller ist, so undurchdringlich, zerstörerisch,
undeutbar ist die Geschichte. Natura non loquitur – die Natur spricht
nicht mehr, jedenfalls nicht mehr verständlich. Aber auch: Historia non
loquitur, die Geschichte spricht ebenfalls nicht mehr. Sie ist dunkel, sie
kennt keine Ordnung, und wo sie wiederhergestellt zu sein scheint, ist
sie fragwürdig geworden.
Das Aufkommen von Bildern einer zerstörerischen Natur, die Rede
vom „gesetzlosen Chaos von Erscheinungen“74 und von den wilden
Bizarrerien der physischen Schöpfung geht auffällig genug einher mit
Vorstellungen einer zerstörerischen Geschichte. Eben das bringt der
Aufsatz Ueber das Erhabene auch zum Ausdruck. „Die Welt, als historischer Gegenstand“, so schreibt Schiller, „ist im Grunde nichts anders
als der Konflikt der Naturkräfte unter einander selbst und mit der
Freyheit des Menschen“.75 Daraus spricht noch nicht Resignation. Aber
dann folgt die ernüchterte Feststellung: „Nähert man sich nur der Geschichte mit großen Erwartungen von Licht und Erkenntniß – wie sehr
findet man sich da getäuscht!“76 Der „furchtbaren und zerstörenden
Natur“ in Schillers Aufsatz entsprechen Verrat, Heuchelei, Abtrünnigkeit, Aufruhr in der Geschichte. Mehr noch: einer zerstörerischen
Natur entspricht die Vorstellung von einer zerstörten Menschheit, und
wenn in seiner Elegie hinter den Wolken die Sterne, die Orientierung
geben können, erlöschen, dann entspricht dem die Klage, daß aus dem
Gespräch „die Wahrheit, Glauben und Treue/ Aus dem Leben“ verschwunden sind,77 und zwar, so will es das Gedicht, auf Jahrhunderte.
Gegenbilder: die „geliebten Triften“, die „traulich stillen Täler“ in
Johannas Welt,78 bevor sie die Naturidylle verläßt. Eine bukolische
Welt, aber sie ist, nicht nur sinnbildlich, verlassen. Eine Naturutopie
74
75
76
77
78
NA 21, S. 48.
NA 21, S. 49.
NA 21, S. 49.
NA 2/1, S. 312.
NA 9, S. 180.
Die Dämonie der Natur
119
auch noch in der Rede Karls an Agnes Sorel: „Wir gehen in ein glücklicheres Land./ Da lacht ein milder nie bewölkter Himmel/ Und leichtre
Lüfte wehn, und sanftre Sitten/ Empfangen uns, da wohnen die Gesänge/ Und schöner blüht das Leben und die Liebe“79 – aber sie ist
irreal wie jede Utopie. Eine Idylle die Szenerie zu Beginn des Wilhelm
Tell – wie „im Paradieß“.80 Aber fast gleichzeitig schon der Bericht des
Alpenjägers von den Feldern von Eis, vom „neblichten Meer“ unter
den Füßen, und dann ein aufziehendes Unwetter: „Der graue Thalvogt
kommt, dumpf brüllt der Firn,/ Der Mytenstein zieht seine Haube an,/
Und kalt her bläßt es aus dem Wetterloch,/ Der Sturm, ich meyn’, wird
da seyn, eh’ wirs denken“.81 Eine Idylle, die gleich wieder zerstört wird.
Vom Goldenen Zeitalter ist nicht mehr die Rede, und wenn am Ende
der Elegie auch die fromme Natur beschworen wird, schließlich gar die
Sonne Homers lächelt, dann ist das Stoff einer Idylle, von der wir nur
zu gut wissen, daß sie sich nie ereignen wird; weil von ihr in einer Elegie die Rede ist, wird deutlich, daß sie ein verlorenes Ideal ist. Eine
freundliche Natur, die Gemälde der Idyllen sind Lüge. Schiller rechnet
erbarmungslos damit ab: „Also hinweg mit der falsch verstandenen
Schonung und dem schlaffen verzärtelten Geschmack, der über das
ernste Angesicht der Nothwendigkeit einen Schleyer wirft, und um sich
bey den Sinnen in Gunst zu setzen, eine Harmonie zwischen dem
Wohlseyn und Wohlverhalten lügt, wovon sich in der wirklichen Welt
keine Spuren zeigen“.82
*
Wenn Schiller sich auch um die wirkliche Natur kaum kümmerte, so
kümmerten sich andere um ihn, wenn es um Gefahren der Natur ging.
Einer von ihnen war der Tübinger Verleger Johann Friedrich Cotta.
Der konnte am Himmelfahrtsabend des Jahres 1798 „keinen Augenblick schlafen“, und das hatte seinen quasi natürlichen Grund: bei ihm
ging gerade ein Gewitter nieder, und Cotta fürchtete, daß ein Blitz seinen Lieblingsautor zuschanden machen könnte, der, wie Cotta wohl
wußte, gerne sich in dem hochgelegenen Gartenhäuschen bei Jena aufhielt. Und so bestellte er am folgenden Tag einen Blitzableiter für Schil79
80
81
82
NA 9, S. 200.
NA 10, S. 131.
NA 10, S. 132.
NA 21, S. 51f.
120
Die Dämonie der Natur
lers Häuschen und schrieb an Schiller, er möge ihm „die Kosten zu
tragen erlauben“.83 Schiller war sichtlich gerührt – und blieb von Blitzen verschont.
83
NA 37/1, S. 297 (Brief Cottas an Schiller vom 20. Mai 1798).
S CH I L LE R
UND
K LE I S T
Vor einer Generation noch war der Bogen, den die Forschung um dieses Thema machte, von erheblichem Umfang. Es schien falsch gestellt,
die Konjunktion fehl am Platze, da es an Gemeinsamkeiten so gut wie
nichts, an Widersprüchlichem hingegen mehr als genug zu geben
schien. Mit Schiller und Kleist war eine Gegensätzlichkeit benannt, die
ihresgleichen in dieser Zeit suchte. „Im Gegensatz zu Schiller ist Geschichte für Kleist nur eine irdische Wirklichkeit, nicht aber Sinnbild
für eine überzeitliche Gottesordnung“, lesen wir in einer seinerzeit
außerordentlich einflußreichen Darstellung.1 In leichter Variation dieser
Feststellung heißt es bestätigend an anderer Stelle: „Schiller transzendiert, Kleist hält hingegen an der Immanenz alles Wirklichen fest, auch
wenn es ihm dabei in das Bodenlose des Nichts entgleitet“.2 Oder, in
einer dritten Fassung formuliert: „Wenn der Schillersche Held noch im
Untergang freiwillig seinen Arm den Göttern leiht, so kennt Kleist nur
noch den Schmerz der Verlassenen, denen sich das Göttliche verhüllt
und vernächtigt und denen es stets von neuem entgleitet“.3
Was war die Ursache solch scharf herausgestellter Nichtverwandtschaft? Der Verfasser der eben zitierten Bemerkungen hatte dafür eine
einfache Erklärung: Wesensfremdheit.4 Die war freilich nicht persönlich zu verstehen. Es standen sich Welten gegenüber, und die Germanistik von damals ist nicht müde geworden, die in den Personen sich
darstellende Gegensätzlichkeit als ein transpersonales Phänomen zu
beschreiben. Kleists Bemerkungen über sich selbst, den er einen unaussprechlichen Menschen nannte, der, wiederum nach eigener Aussage,
„das allerqualvollste“ Leben zu bewältigen hatte, „das je ein Mensch
geführt“ hat und der mit einer „höheren, festgewurzelten und unheilbaren Traurigkeit“ geschlagen war, ein solcher Kleist paßte nicht zur Welt
1
Benno von Wiese: Die deutsche Tragödie von Lessing bis Hebbel, Hamburg 41958
(11948), S. 290.
2
Ebd., S. 291.
3
Ebd., S. 292.
4
Ebd.
122
Schiller und Kleist
der Klassik und schon gar nicht in sie hinein.5 Kleists Lebenskrisen,
sein Krisen-Leben, diese Katastrophenexistenz, die die Welt nur als
eine „gebrechliche“ begreifen konnte, die Düsternis um einen Unglücklichen, der seinen so sauber auskalkulierten Lebensplan über Bord geworfen hatte, das Gewalttätige und Wilde, wie es sich in der Penthesilea
abzeichnet, die Beschäftigung mit einem Kohlhaas, der nicht nur zu
den rechtschaffensten, sondern eben auch zu den „entsetzlichsten“
Menschen seiner Zeit gehörte, das alles fügte sich nicht ins Harmoniedenken Weimars. Das Urteil über Kleist war denn auch schnell fertig:
eine krankhafte Existenz. Wenn es einen Gott in ihr gab, so war es ein
„unbegriffener“, was kaum ein Wunder war angesichts der fatalen
Weltverhältnisse, wie Kleist sie aufgezeichnet hatte. Die Welt Kleists
ist, von kurzen Momenten eines glücklichen Wahns abgesehen, eine
bedrohte Welt, und in ihr regieren Mißverständnisse, Torheiten, Wahn.
Die Frucht der Erkenntnis ist jeweils bitter, das Ich vereinsamt, kein
Gesetz mehr und kein kategorischer Imperativ, keine Forderung der
Gesellschaft, nur das „törichte Herz“ mit seinen Schmerzen und „Zerrissenheiten“, in denen Liebe zum Haß wird und die Grazie zur Raserei.
Dergleichen exemplifiziert die Penthesilea-Tragödie, und wenn einmal
ein freundliches Wesen erscheint wie Jupiter der Alkmene, so ist es am
Ende ein falscher Amphitryon, der das Schlimmste getan hat, was jemand einem Menschen antun kann, indem er nämlich das innerste
Gefühl verwirrt hat. Auf was sollte sonst Verlaß sein? Nicht einmal auf
dieses ist bei Kleist am Ende Verlaß, und wenn der Schreiber in Kleists
Brief eines Malers an seinen Sohn feststellt: „Die Welt ist eine wunderliche
Einrichtung“, so ist das pure Untertreibung: sie ist entsetzlich, und
darüber kann im Grunde nichts hinwegtäuschen. Das Gespenst des
Nihilismus grinst herauf, und wenn es auch gelegentlich Märchenträume gibt, wie das Käthchen von Heilbronn einen träumt, so ist die Erfüllung solcher Träume eben nicht in Wirklichkeit, sondern nur im
Märchen möglich. Sollte es Götter geben, sind sie so gleichgültig wie
fern, die Seele wehrlos, bei allem gelegentlichen Trost für sie –
Wer wollte die ‚pathologischen‘ Züge dieses Charakters leugnen: die Gewaltsamkeit der Entschlüsse, das Hindrängen zum Katastrophalen, bei dem ein
männlich harter, ja sadistischer Zug fast unverbunden neben verhaltener
Weichheit und Keuschheit steht, ein Nebeneinander, das dieser geprägten
5
Dazu Benno von Wiese: Das Menschenbild Heinrich von Kleists, in: Der Mensch in der
Dichtung. Studien zur deutschen und europäischen Literatur, Düsseldorf 1958, S. 170.
Schiller und Kleist
123
Persönlichkeit auch wieder etwas Unentwickeltes, ja Infantiles gibt. Nur allzu
oft verliert Kleist Steuer und Maß für die wechselvollen Verhältnisse des irdischen Lebens und gleicht dann nach seinem eignen Bekenntnis dem spielenden Kinde, das sich zu weit auf die Mitte des Sees gewagt hat und nun beim
gefährlichen Schaukeln des Fahrzeuges die Himmelsgegenden nicht mehr
findet, nach denen es steuern soll, nur noch von der Ahnung geleitet, daß ihm
der eigene Untergang bevorsteht.6
So sah man den poetischen Exzentriker vor noch gar nicht allzu langer
Zeit. Und dabei konnte man sich auf niemand Geringeren als Goethe
berufen, der mißbilligend von der „Verwirrung des Gefühls“ in Kleists
Werken gesprochen hatte.
Schiller hingegen erschien oft als das quasi seitenverkehrte Gegenbild zu Kleist. Für Schiller war nicht nur „der über die Geschichte hinausgreifende Glaube“ als „beflügelnde Kraft“ charakteristisch,7 sondern
zugleich die „Herrschaft des sittlichen Geistes“,8 und in die Nachbarschaft gehört, daß Schiller zwar die „tragische Bereitschaft zur Wirklichkeit“ gekannt habe (was immer man darunter auch verstehen mochte), aber ebenso den „geistigen Willen zur Idee“, und aus diesen Gegensätzen heraus habe er „die ästhetische Harmonie des Erhabenen
erkämpft“.9 Natürlich war auch für Schiller die Wirklichkeit nicht gerade mit Rosenblüten übersät. Aber er vermochte sich und seine Leser
von der Wirklichkeit zu erlösen. Am Ende blieb „die heitere Welt der
Kunst, die Welt des Scheins“ – weit oberhalb der Realität angesiedelt.
Als Eckpfeiler der imaginären poetischen Welt Schillers galten Freiheit
und Anmut, das Schöne und das Überzeitliche, die „Herrschaft des
sittlichen Geistes“, „der über den Widerstand der Geschichte triumphieren soll“,10 und die Freiheit als eine „Freiheit zum Himmlischen“.11
Kleist als Antipode Schillers: das bedeutete zwangsläufig, daß Schillers
Welt in heiterer Ruhe erschien mit einer am Ende strahlend triumphierenden Geistigkeit, in der die Schlacken der irdischen Existenz hinweggeläutert waren. Schiller also als Klassizist, Kleist als moderner Dämon,
Schiller als Überwinder der Geschichte, Kleist als der hoffnungslos in
sie Verstrickte, der Glanz des Idealisten hier und die schwer überschat6
7
8
9
10
11
von Wiese (wie Anm. 1), S. 283.
Ebd., S. 291.
Ebd.
Ebd.
Ebd.
Ebd.
124
Schiller und Kleist
tete Welt eines unglücklichen Realisten da: da gab es nichts Vereinigendes, und so konnte man von einem der besten Schiller-Kenner der
vorigen Generation denn auch lesen: „Schiller und Kleist! Nur wenige
Jahre trennen die beiden größten deutschen Dramatiker, und doch
scheint nichts Gemeinsames sie zu verbinden“.12
Das alles war nicht gänzlich neu. Kleist und Schiller waren schon in
der Zeit der Jahrhundertwende in offene Opposition zueinander geraten.13 Dieses wäre nicht weiter erwähnenswert, ließe sich hier nicht
geradezu beispielhaft Entstehen und Weiterwirken eines literarischen
Klischees demonstrieren. Wenn sich ein halbes Jahrhundert lang derart
tiefe Gräben auftun, werden Überbrückungsversuche selten und meist
mit Mißtrauen beäugt. Wenn Kleist als Antipode Schillers erscheint,
wenn „Wesensfremdheit“ das sie Trennende ist, fragt kaum jemand
nach Abhängigkeiten, Anverwandlungen, nach möglicherweise sehr
ernsthaft betriebenen Aneignungsgeschäften, nach Umakzentuierungen
des Übernommenen, nach Korrekturen, die angebracht worden sein
könnten. Fremde haben sich im allgemeinen wenig, im Extremfall
nichts zu sagen. Hartmut Reinhardt hat auf den weißen Fleck auf der
literaturwissenschaftlichen Landkarte aufmerksam gemacht, als er zu
Recht jüngst noch feststellte, daß „eine systematische Erforschung von
Kleists Verhältnis zu Schiller bis jetzt nicht vorliegt“.14 So etwas ist
eben mit einer bloß dokumentierend verfahrenden Rezeptionsgeschichte nicht zu leisten.
*
Wie ist es um dieses Verhältnis zwischen Kleist und Schiller denn nun
also bestellt?
Aber sollte wirklich noch kein Schriftgelehrter in den Zeusworten des jungen
Schiller:
Lang schmachtet’ ich, mein weltbelastet Haupt
12 Schiller und die deutsche Tragödie des 19. Jahrhunderts, in: Deutsche Vierteljahrsschrift 25,
1951, S. 199-213, hier S. 203. Auf Trennendes machte auch Theodore Ziolkowski
aufmerksam: An Ontology of Anxiety in the Dramas of Schiller, Goethe and Kleist, in: Lebendige
Form. Interpretationen zur deutschen Literatur, Festschrift für Heinrich Henel, München
1970, S. 121-145.
13 Dazu Hartmut Reinhardt: Rechtsverwirrung und Verdachtspsychologie. Spuren der Schiller-Rezeption bei Heinrich von Kleist, in: Kleist-Jahrbuch 1988/89, Berlin 1988, S. 198-218, hier
S. 198f.
14 Ebd., S. 199.
Schiller und Kleist
125
An deinem Busen zu begraben, meine Sinnen
Vom wilden Sturm der Weltregierung eingelullt,
Und Zügel, Steu’r und Wagen weggeträumt,
Und im Genuß der Seligkeit vergangen!
––––––––––
Sie naht – Sie kommt – O Perle meiner Werke …
– sollte, frage ich, noch keiner in diesen Versen das ‚weltenordnende‘ und
sehnsuchtsverdrehte Haupt von Kleists Jupiter mit seinem ‚Mein angebetetes
Geschöpf!‘ ‚Mein Abgott!‘ wiedererkannt, vor-erkannt haben und seine
schwermütige Schöpferbitte:
So viele Freude schüttet
Er zwischen Erd’ und Himmel endlos aus;
Wärst du vom Schicksal nun bestimmt,
So vieler Millionen Wesen Dank,
Ihm seine ganze Fordrung an die Schöpfung
In einem einz’gen Lächeln auszuzahlen,
Würd’st du dich ihm wohl – ach!
– Genug denn von Semele.
Auch das ist eine Stellungnahme zu unserem Thema. Aber so fragte,
die Tonart läßt es erkennen, kein Germanist. Die Sätze stammen vielmehr von Thomas Mann, und sie finden sich in seinem Versuch über
Schiller, gesprochen zum 150. Todestag des Dichters, erschienen im
Todesjahr Thomas Manns.15
Daß der große Mann, so recht er hatte, irrte, ist ihm nicht nachzutragen, auch wenn er doppelt irrte. Denn auf die Verwandtschaft, die von
der Germanistik der vorangegangenen Generation so hartnäckig geleugnet wurde, hatten ungeachtet der zuvor wiederholt konstatierten
Wesensfremdheit und Unüberbrückbarkeit der Gegensätze bereits andere gelegentlich hingewiesen: Oskar Walzel und Erich Schmidt, jeweils
in ihren Schiller- und Kleist-Ausgaben. Angesichts dieses verwirrenden
Gegeneinanders der Standpunkte stellt sich erneut die Frage, wie es
denn nun wirklich um die Beziehung zwischen Kleist und Schiller bestellt ist. Halten wir zunächst jedoch fest: so leicht es ist, Argumente für
den einen wie für den anderen Standpunkt zu gewinnen, so unsinnig ist
es, diesen oder jenen Standpunkt ausschließlich zu vertreten. Dabei
sollte von vornherein darüber Klarheit herrschen, daß es Berührungspunkte gibt – sie sind so zahlreich, daß die Feststellung, Schiller und
15
Thomas Mann: Versuch über Schiller, Frankfurt am Main 1955, S. 78f.
126
Schiller und Kleist
Kleist scheine nichts Gemeinsames zu verbinden, allerdings sonderbar
anmutet. Thomas Mann, der in bezug auf die Entdeckung dieser Parallelen unrecht hatte, weil er sich irrtümlich als Vorreiter sah, wo er doch
nur ein Nachkomme war, hatte nur zu sehr recht, wenn er Schillers
frühe Semele, jene „Operette in zwo Scenen“, in Verbindung brachte mit
Kleists Amphitryon. Kleist, den nach Zunft-Meinung eigentlich – und
selbst noch in der Auseinandersetzung – mehr mit Goethe verbindet
als mit Schiller, hat Schiller intensiv studiert; seine Spuren haben sich
seinem Werk wie auch seinen Briefen tief eingedrückt.
Natürlich ist Schiller bei Kleist auch schon allgemeines Bildungsgut
der Zeit, aber Kleist hat ihn sich ebenso geschickt wie oft unauffällig
anverwandelt. Thomas Mann hat im übrigen gar nicht unrichtig gesehen, als er eines der frühesten Werke Schillers mit Kleist in Beziehung
brachte. Der junge Schiller hat Kleist beeindruckt, vielleicht sogar aus
einer gewissen Wahlverwandtschaft heraus, wie gelegentlich auch ausdrücklich betont worden ist.16 „Ein Spätling der Sturm und Dranggeneration“ – so hat man in Abwehr einer allzu großen Annäherung Kleists
an die Romantik nicht zu Unrecht festgestellt. Einen Beleg liefert etwa
Schillers Hymne an den Unendlichen aus seiner Anthologie auf das Jahr 1782,
die Kleist in seiner Hymne an die Sonne vom 13. Juli 1799 wiederaufgenommen hat.17 Übernahmen, Angleichungen auch sonst: Kleist war
etwa von Schillers „Griffel des Blizes“ offenbar so angetan, daß er 1810
vom „Griffel des Strahles“ in seiner Anekdote Der Griffel Gottes
sprach.18 Und die Kohlhaas-Geschichte orientiert sich zweifellos als
ganze unter anderem auch an Schillers Verbrecher aus Ehrsucht, selbst
wenn man zugestehen muß, daß das Motiv der übersteigerten Ehrsucht
in den generellen Strahlungsbereich der moralischen Erzählungen der
Zeit des 18. Jahrhunderts hineingehört. Kleist ist aber auch im einzelnen ein sehr genau verfahrender Zitationskünstler. Denn wenn Kohlhaas sein „kann sein, auch nicht!“ im Gespräch mit Luther äußert,19 so
16 Donald H. Crosby: The creative kinship of Schiller and Kleist, in: Monatshefte für deutschen Unterricht, deutsche Sprache und Literatur, Bd. 53, 1961, S. 254. Crosby kritisiert bereits
die Äußerungen von Benno von Wiese und macht auf Parallelen aufmerksam. Ich
verdanke seiner Arbeit viele Anregungen.
17 Dazu Reinhardt (wie Anm. 13), S. 199, und vorher schon Crosby (wie Anm. 16).
18 Darauf hat Helmut Sembdner aufmerksam gemacht: Sämtliche Werke und Briefe,
hg. von Helmut Sembdner, 2 Bde., München 71984 (= SW), Bd. 2, S. 916 (im folgenden
als SW).
19 SW 2, S. 47.
Schiller und Kleist
127
hat er wörtlich aus Wallensteins Tod zitiert: „Kann sein, ich hätte mich
bedacht – kann sein/ Auch nicht“ (V. 3660f.). Die Szene endet jeweils
mit einem Diener, der leuchten soll – das „Leuchte, Kämmerling“ in
Wallensteins Tod entspricht nur zu deutlich jenem Lutherischen Befehl
an den Famulus: „leuchte!“.
Das mag ein situatives Zitat sein, einigermaßen bedeutungslos, was
den eigentlichen Sinn dieser Luther-Begegnung ausmacht. Aber es ist
hintergründiger, als das auf den ersten Blick scheinen mag. Denn da
wird in mehr als nur in die Dunkelheit der Nacht hineingeleuchtet. Das
Gespräch mit Luther ist der Wendepunkt in der Geschichte des Kohlhaas; Wallensteins Reue, den „liebsten Freund“, Max also betreffend,
steht am Ende seines Lebens: ein später Wendepunkt auch das. Wenn
auch die Geschichte Kohlhaasens hier erst etwa zur Hälfte erzählt ist,
so wird doch von diesem Gespräch mit Luther an klar, daß sein Tod
ebenfalls beschlossene Sache sein wird: er ist nicht bereit, seinen Feinden zu vergeben, also, auf der Ebene der Realien: sich der obersten
Instanz, der irdischen Gerichtsbarkeit zu fügen. Damit liefert er nicht
nur später seinem Tribunal ein entscheidendes Argument, ihn zum
Tode zu befördern, sondern er läßt auch seine Unbußfertigkeit erkennen – wie Wallenstein. „Blut ist geflossen, Gordon. Nimmer kann/ Der
Kaiser mir vergeben“: damit ist in Schillers Drama das genannt, was
beide Szenen über die rein situative Zitation hinaus verbindet. Wallenstein fügt hinzu: „Könnt ers, ich,/ Ich könnte nimmer mir vergeben
lassen“ (V. 3655f.). Beide Male nimmt die Geschichte darauf ihren nun
unabänderlichen Lauf: Vergebung und Tod stehen in einem engen
thematischen Zusammenhang, und von der Unbereitschaft, zu vergeben und sich vergeben zu lassen, hängt ab, was jeweils folgt: Wallensteins Ende, Kohlhaasens Hinrichtung. Und wenn bei Kohlhaas auch
das Tribunal noch aussteht, bei Wallenstein hingegen das Todesurteil
unmittelbar danach vollstreckt wird, so ist es doch beide Male „des
Kaisers Urtel“, wie es in Schillers Drama heißt (V. 3790).
Kleist hat also durchaus nicht beiläufig zitiert, sondern mit dem Zitat
auch etwas akzentuiert. Gescheiterte Ausbruchs- und Aufstandsversuche sind beide, Wallensteins Drama und Kohlhaasens Geschichte. Beidemale erhebt sich aus Gründen, die für gerecht gehalten werden, ein
128
Schiller und Kleist
Einzelner gegen eine Obrigkeit, mit unabsehbaren Folgen für die Mitlebenden. Beide Male aber verschlingt Kronos seine Kinder.20
Aber eben hier, am bitteren Ende von Schiller-Drama und KleistNovelle, geschieht etwas, was mit dem so vertrauten Bild vom harmoniesüchtigen Schiller und dem dunkel-chaotischen Kleist nicht zusammenpassen will. Denn bei Kleist wird bekanntlich die so arg beleidigte
Ordnung wiederhergestellt; der Gerechtigkeit geschieht Genüge, Kohlhaas bekommt „Genugtuung“, so wie er seinerseits bereit ist, „Genugtuung zu geben“.21 Er stirbt zwar unter dem Fallbeil; der Zukunftsprospekt ist dennoch erfreulich, denn das Kohlhaas-Geschlecht
wird geadelt, und es wird noch lange weiterleben. Wie sieht es im Wallenstein aus? Zwar erklärt auch Octavio, daß die schwere Schuld gebüßt
und der Kaiser versöhnt sei (V. 3835f.), aber die Gräfin Terzky zieht
eine andere Bilanz:
Der Herzog
Ist tot, mein Mann ist tot, die Herzogin
20 Reinhardt hat dem Wallenstein-Zitat im Michael Kohlhaas, auf das auch Crosby
schon aufmerksam gemacht hatte, eine ausführliche Passage gewidmet. Kleist habe, mit
Schillers Hilfe, in dem Gespräch des Kohlhaas mit Luther „die Frage nach der Legitimierbarkeit einer zwischen Recht und Unrecht heillos verwickelten Position“ zu klären
versucht (S. 203) und mit seinem Bezug auf „den Fall eines mächtig aufragenden und
zuletzt scheiternden Individuums“ nichts anderes als „auf eine letzte Ambivalenz im
Rechtlichen“ aufmerksam machen wollen: bei Schiller also kein idealistisches Gericht,
sondern schon das Wissen um eine zwangsläufige Rechtsverwirrung. Darauf läßt sich
nur antworten: kann sein, auch nicht. Mag auf seiten Wallensteins die Notwendigkeit
und Unausweichlichkeit eines Rechtsbruches einer ungerechten Obrigkeit gegenüber
auch einleuchten – Kleist hat klarere und festere Rechtsvorstellungen. Kohlhaas hat sie
eindeutig gebrochen. Von einer „Ambivalenz im Rechtlichen“ ist bei Kleist nichts zu
finden. Allenfalls befindet sich zuweilen das innere Rechtsgefühl des Kohlhaas im
Widerstreit mit seinem Rechtsbewußtsein – aber das läuft auf eine persönliche, innere
Rechtsverwirrung hinaus, nicht auf ein Infragestellen dessen, was Recht und rechtens
ist. Und ist Kohlhaas wirklich der „Vertreter einer älteren germanischen Rechtsauffassung, die in der Mentalität des Jahrhunderts durchaus noch lebendig ist“ (S. 204)? Aus
Kohlhaasens Verwirrung läßt sich auch das Gegenteil herauslesen: die innere Instabilität dessen, der sich auf sehr moderne Weise zwei einander kontrastierenden Rechtsauffassungen gegenübersieht – wie es wenig später die Droste in der Judenbuche, Grabbe in
Napoleon oder die hundert Tage, Eichendorff im Schloß Dürande beschreibt. Mit diesen
Überlegungen soll am hohen Rang der ebenso anregenden wie für die SchillerRezeptionsgeschichte wichtigen Darstellung Reinhardts nicht im geringsten gezweifelt
werden. Reinhardt hat – nach Jahren einer reichlich stumpfsinnigen Rezeptionsforschung – hier wirklich Pionierarbeit geleistet.
21 SW 2, S. 102.
Schiller und Kleist
129
Ringt mit dem Tode, meine Nichte ist verschwunden.
Dies Haus des Glanzes und der Herrlichkeit
Steht nun verödet, und durch alle Pforten
Stürzt das erschreckte Hofgesinde fort.
Ich bin die Letzte drin, ich schloß es ab,
Und liefre hier die Schlüssel aus. (V. 3818ff.)
Es mögen gerade diese Verse gewesen sein, die Hegel zu seinem Ausspruch motiviert haben:
Der unmittelbare Eindruck nach der Lesung Wallenstein’s ist trauriges Verstummen über den Fall eines mächtigen Menschen, unter einem schweigenden
und tauben Schicksal. Wenn das Stück endigt, so ist Alles aus, das Reich des
Nichts, des Todes hat den Sieg behalten; es endigt nicht als eine Theodicee
[…] es steht nur Tod gegen Leben auf, und unglaublich! abscheulich! der Tod
siegt über das Leben! Dieß ist nicht tragisch, sondern entsetzlich!22
Da ist denn also bei diesem skeptischen Interpreten des Schillerschen
Dramas nichts geblieben von klassischer Harmonie. Wenn wir allerdings anderswo lesen, daß Kleist vor der schrecklichen Drohung stehe,
„mit der das ganze 19. Jahrhundert vorweggenommen wird, daß Gott
nicht mehr antwortet, daß der Mensch vor das Nichts gestellt ist, da alle
Antworten verstummen“,23 dann fragen wir uns, ob sich hier nicht,
Kleist betreffend, ein Namensirrtum eingeschlichen hat, eine Perspektivenverdrehung, bei der Kleist die Rolle Schillers übernimmt. Nicht
Kohlhaasens Familie, Wallensteins Haus ist vor das Nichts gestellt, und
wenn damit natürlich auch nicht gesagt sein soll, daß Kleist generell an
eine wiederherstellende und wiederherzustellende Ordnung glaubt,
Schiller hingegen die Geschichte in diesem Drama, aber hier nicht allein
nur als Katastrophe erleben kann, so ist hingegen sicher, daß Kleist hier
nicht einfach Schillers Wallenstein als Steinbruch benutzt hat, als er daraus zitierte. Die Kohlhaas-Geschichte ist der Wallensteins geradezu
entgegengeschrieben, basierend auf den Generalthemen von Gerechtigkeit, Schuld, Vergebung und Genugtuung. Nur: die zerstörte Welt
findet sich bei Schiller, nicht bei Kleist.
Skeptiker können einwenden, daß hier an ein unscheinbares Zitat zu
weitreichende Folgerungen angehängt sind. Aber darauf kann wiederum nur mit Wallensteins Worten geantwortet werden, die auch die des
22 Ueber Wallenstein, in: Sämtliche Werke, hg. von H. Glockner, Stuttgart 31958,
Bd. 20, S. 456-458.
23 von Wiese (wie Anm. 1), S. 286.
130
Schiller und Kleist
Kohlhaas sind: „kann sein/ Auch nicht“. Doch lassen wir den imaginären Kämmerling noch ein wenig tiefer hineinleuchten in die Zitationskunst Kleists. Auch hier ist, wie es im Kohlhaas, im Amphitryon oder auch
in einer Anekdote heißt, „die Wahrscheinlichkeit nicht immer auf Seiten der Wahrheit“.
Weitere direkte Zitate Kleists zeigen, daß er Schiller nicht nur studiert hat, sondern eigentlich immer sehr absichtsvoll zitiert. Mag das
Karlos-Zitat „Unrecht leiden schmeichelt große Seelen“24 auch mehr
bestätigenden als stimulierenden Charakter gehabt haben, so ist dabei
dennoch zu erkennen, daß Kleist das beschreibt, was die Germanistik
früher eine „Grenzsituation“ nannte. In seinem Aufsatz, den sichern Weg
des Glücks zu finden und ungestört – auch unter den grössten Drangsalen des Lebens – ihn zu geniessen! interessieren ihn vor allem jene Wendepunkte und
Extremsituationen, die Schiller auch immer beeindruckt haben. „Ja,
mein Freund“, heißt es, „selbst in Ketten und Banden, in die Nacht des
finstersten Kerkers gewiesen, – glauben und fühlen Sie nicht, daß es
auch da überschwenglich entzückende Gefühle für den tugendhaften
Weisen gibt?“25 Schiller hätte dem wohl ebenso bedingungslos wie begeistert zugestimmt, denn dafür, daß die Tugend sich als solche erst
unter Zwängen beweist, hatte er etwa mit seiner Maria Stuart ja schon
ein bewegendes Beispiel geliefert. Aber Kleist nähert seinen Text Schillers Gedankenwelt noch weiter an. Wenn er „Unrecht leiden schmeichelt große Seelen“ aus dem Don Karlos zitiert, so könnte das auf den
ersten Blick als eine affirmative Redewendung erscheinen, und das
Generelle dieser Feststellung könnte die Nutzung dieses Verses leichtgemacht haben: dafür würde zunächst auch sprechen, daß im Kontext
der Kleistschen Überlegungen von Christus die Rede ist, von den Unmenschen, die ihn fesselten, zugleich von der Unschuld, die heiter über
„sinkende Welten“ wandelt.26 Kein Vergleich mit Karlos’ Beziehung zu
Philipp – doch im Kontext ist von Tyrannei und Tugend die Rede, und
zugleich ist auch hier, wie bei jener erwähnten Szene in Wallensteins Tod,
ein Wendepunkt des Dramas erreicht, weil Posa den Freund darauf
aufmerksam macht, daß Privattugend nicht zähle, daß es gleichsam um
öffentliche Verantwortung gehe, also auf der Ebene der zeitgeschichtlichen Bezüge um Flandern, auf der Ebene der Bedeutung hingegen um
24
25
26
SW 2, S. 306.
SW 2, S. 305.
SW 2, S. 306.
Schiller und Kleist
131
das Repräsentative der Tugend, um das Exemplarische, Verbindliche
und auch Fordernde einer Ethik, in der es – und Kleist folgt hier nur zu
sehr den Vorstellungen des aufgeklärten 18. Jahrhunderts – Privates
nicht geben kann, weil jedes Private Raub am Allgemeinen wäre. Aber
auch hier akzentuiert Kleist um. Schillers Marquis Posa erkennt die
Gefahr, die im „Unrecht leiden schmeichelt großen Seelen“ (V. 2436)
liegt, und versucht Karlos zu überzeugen, daß es mit der Leidensmiene
nicht getan ist. Kleist argumentiert anders, vorsichtiger, dem idealistischen Tugendbegriff des 18. Jahrhunderts näher. Bei Schiller soll Karlos aus dem eigentümlichen Glücksgefühl, Unrecht leiden zu müssen,
befreit werden, eine politische Aktion bahnt sich an. Nichts davon bei
Kleist, der es bei der Realisation eines unpolitischen Tugendbegriffes
beläßt – offenbar nicht ohne Absicht. Bei Kleist ist die Forderung,
tugendhaft zu sein, in diesem Beispiel und Fall gleichsam auf die entscheidende Essenz zurückgeführt, nicht, wie bei Schiller, ausgeweitet.
Tugend ist nicht eine Sache der Staatsräson, sondern des individuellen
Verhaltens, und wenn Christus ins Spiel gebracht wird, so haben wir es
hier mit einer extrem protestantischen Variante der Tugendhaftigkeit zu
tun.
Aber Kleist zitiert Schiller in diesem Aufsatz über den sichern Weg
des Glücks zu finden nicht nur auf erkenntliche Weise, wenn er auch
den Namen nicht nennt; ein Hinweis findet sich ohne Anführungszeichen, aber mit desto deutlicherem Bezug auf eine der philosophischen
Schriften Schillers. Es heißt bei Kleist:
Der Tugend folgt die Belohnung, dem Laster die Strafe. Kein Gold besticht
ein empörtes Gewissen, und wenn der lasterhafte Fürst auch alle Blicke und
Mienen und Reden besticht, wenn er auch alle Künste des Leichtsinns herbeiruft, wie Medea alle Wohlgerüche Arabiens, um den häßlichen Mordgeruch
von ihren Händen zu vertreiben – und wenn er auch Mahoms Paradies um
sich versammelte, um sich zu zerstreun oder zu betäuben – umsonst! Ihn quält
und ängstigt sein Gewissen, wie den Geringsten seiner Untertanen.27
Das ist ein direktes Zitat aus Schillers Schrift Was kann eine gute stehende
Schaubühne eigentlich wirken?, die in der Thalia erschien – so wie überhaupt
eine gute Kenntnis dieser Thalia für Kleist bezeugt ist. Bei Schiller heißt
es: „Heilsame Schauer werden die Menschheit ergreifen, und in der
Stille wird jeder sein gutes Gewissen preißen, wenn Lady Makbeth, eine
27
SW 2, S. 307.
132
Schiller und Kleist
schreckliche Nachwandlerin, ihre Hände wäscht, und alle Wohlgerüche
Arabiens herbeiruft, den häßlichen Mordgeruch zu vertilgen“.28 Ohne
Zweifel ein direktes Zitat, Übereinstimmung und vielleicht sogar gedankliche Abhängigkeit signalisierend. Aber auch hier fallen beträchtliche Unterschiede auf. Bei Schiller folgt der Tugend ebenfalls die Belohnung und dem Laster die Strafe – aber nur an einem spezifischen
Ort, nämlich auf der Bühne. Kleist aber hält für wirklich, was für Schiller nur poetische Imagination ist. Es wäre wohl unangebracht, Schiller
auch hier nur als Stofflieferanten für Kleist zu benennen. Daß es sich
nicht nur um jene Bemerkung über die Wohlgerüche Arabiens, die
Medea [!] nicht von ihrem Mordgeruch befreien können, handelt, sondern um mehr, zeigen indirekte Gemeinsamkeiten. Wenn bei Kleist von
den Großen die Rede ist, so bei Schiller von den Mächtigen, wenn
Kleist davon spricht, daß die Großen mit Gold den Kummer nicht
aufwiegen können, so ist bei Schiller davon die Rede, daß die Gerechtigkeit „für Gold“ verblinden kann, – und wenn es bei Kleist heißt, daß
alle Betäubung umsonst ist, weil ihn, den Fürsten, sein Gewissen quält
und ängstigt,29 so handelt Schiller nicht weniger deutlich vom Gewissen, das der als gutes Gewissen hat, der nicht Verbrechen wie Lady
Macbeth auf sich geladen hat. Die Umakzentuierung betrifft die Realitätsebene der Tugend. Daß der Tugend die Belohnung, dem Laster die
Strafe folgt, ist für Kleist nicht poetische Wahrheit, sondern wirkliche;
und darin berichtigt er gewissermaßen Schillers Vorstellung, indem er
sie von der Theaterwelt in die Wirklichkeit zurückholt, damit radikalisiert und zugleich auf den eigentlichen Kern der Tugendlehre des aufgeklärten Jahrhunderts zurückführt. Denn die Tugend soll ja nicht nur
im Theater dargestellt werden, sondern sie ist eine Forderung an die
Wirklichkeit; und wenn im folgenden noch Polykrates erwähnt wird, so
ist die Geschichte von dem ins Meer geworfenen Ring wiederum Zitat,
genauer: verbessertes Zitat, was Schillers Gedicht angeht. Schillers Gedicht ist nicht zufällig, sondern offenbar sehr absichtsvoll erwähnt; geht
es doch in ihm um das Glück, und so gehört es in einen Aufsatz über
den sichern Weg des Glücks zu finden unbedingt hinein. Daß Kleist
Samos und Syrakus verwechselt, sei ihm verziehen, zumal er sich im
Bereich der Verwechslungen dennoch als kenntnisreicher Leser erweist;
28 Schillers Werke. Nationalausgabe, hg. von Julius Petersen (†) und Gerhard Fricke,
Weimar 1943ff., Bd. 20, S. 92.
29 SW 2, S. 307.
Schiller und Kleist
133
denkt er doch offenbar an Die Bürgschaft, die in Syrakus endet. Bei Schiller ist der wiedergefundene Ring zuviel des Glücks, und auf den erstaunten Ausruf des Kochs, daß sein Glück ohne Grenzen sei, verläßt
ihn der Gast, Ägyptens König, weil der im Übermaß des Glückes die
Absicht der Götter erkennt, Polykrates zu verderben. Ob dieses Verderben wirklich eintrat, wissen wir nicht, Schiller schweigt sich über den
Tod des Polykrates aus. Kleist erzählt die Geschichte gleichsam weiter,
indem er freilich auch nicht Herodots Bericht folgt, in dem Polykrates
am Kreuz endigt, sondern ihn am Galgen sterben läßt. Damit wird die
Geschichte gewissermaßen entchristianisiert und auf ein allgemeineres
Fundament gebracht: Kleist will das Gleichgewicht von Glück und
Unglück demonstrieren, getreu seinem Satz: „Auch scheint es, als ob
die Summe der glücklichen und der unglücklichen Zufälle im ganzen
für jeden Menschen gleich bleibe“.30 Darin stecken zweifellos, wie auch
in der Kohlhaas-Geschichte, Restitutionsgedanken: keine der beiden
Schalen bekommt das Übergewicht, der „große Kreislauf der Dinge“31
läßt am Ende Einseitigkeiten nicht zu. Man kann den Stoizismus der
Kleistschen Weltvorstellungen nicht übersehen, ebensowenig egalitäre
Gedanken, hier auf Glück und Unglück bezogen. Der richtige Weg
zum Glück bedeutet nicht, daß das Unglück negiert würde – es will im
Gegenteil einbezogen sein, damit sich das Ausmaß von „Vernichtung“
und „Segen“ gleichsam die Waage halte. Leibnizsche Theodizeevorstellungen überdecken hier sogar noch den Stoizismus, der dem Glücksuchenden anempfohlen wird. Daß es bei Schiller mit der Theodizee
nicht so weit her war, hatte ihm gerade Wallenstein, aus dem er von allen
Schillerschen Dramen am häufigsten zitiert, vor Augen geführt. Daß
der „nicht als eine Theodicee endigt“ – Kleist hätte Hegels Urteil bestätigen können. Kehrt Kleist zu einer Anschauung zurück, die sich bei
Schiller als nicht mehr tragfähig erwiesen hatte?
Wir wollen die Frage zunächst offen lassen. Aus alledem sollte auch
nicht der Eindruck entstehen, als ginge es hier um den Nachweis, daß
Schiller und Kleist, Kleist und Schiller doch mehr miteinander zu tun
hätten, als es die ältere Germanistik wahrhaben wollte. Belege für das
eine wie für das andere lassen sich leicht finden, und nach jenen Feststellungen, daß Kleist und Schiller so gut wie nichts gemeinsam hätten,
hat es ohnehin ja schon genug Überlegungen gegeben, das Gegenteil
30
31
SW 2, S. 309.
SW 2, S. 310.
134
Schiller und Kleist
festzustellen. Donald H. Crosby hat mit einer treffenden Formulierung
„creative affinities“ zwischen Schiller und Kleist konstatiert,32 und zu
dieser schöpferischen Verwandtschaft hat man die Neigung beider
gerechnet, sich mit der Philosophie und besonders mit der Kants zu
beschäftigen. Beide, so hat Crosby seinerzeit gesagt, könnten ihre philosophische Entwicklung von einem „Kant-Erlebnis“ herleiten.33 Beide,
so der Verfasser mit Walter Silz weiter,34 hätten sich für eine neue Form
des deutschen Dramas interessiert, und bei beiden sei es um die Vereinigung antiker und moderner Tendenzen gegangen. Kein Zweifel, daß
vor allem der hier schon wiederholt zitierte Wallenstein Kleist beeinflußt
hat: in Kleists Familie Schroffenstein finden sich zahlreiche Zitatanspielungen, „verbal echoes“, wie Crosby es nennt, obwohl wir ja wissen, daß es
mit diesen wörtlichen Echowirkungen meist mehr auf sich hat, als der
erste Augenschein oder das erste Hören zu erkennen geben. Wie genau
Kleist für seine Familie Schroffenstein Schillers Wallenstein studiert und
ausgewertet hat, hat Hartmut Reinhardt sorgfältig und überzeugend
untersucht. Das mag bei einem dramatischen Anfänger nichts Ungewöhnliches sein, und manches ist hier tatsächlich nur abkonterfeit:
Schillers Wallenstein war Übung und Lehrbuch zugleich. Die Verwandtschaft bezieht sich auch auf Figuren: Jeronimus in der Familie Schroffenstein hat deutliche Züge von Schillers Max Piccolomini. Wallenstein hat
aber offenbar auch in Robert Guiskard hineingewirkt. Das bezieht sich
auf eine nicht zu übersehende Ähnlichkeit zwischen Guiskard und Wallenstein selbst wie auch auf die politische Substruktur: Wallenstein verhandelt mit den Schweden, Guiskard mit zwei griechischen Prinzen.
Auch dramentektonische Ähnlichkeiten sind auffällig: dazu gehört die
indirekte Charakteristik der jeweiligen Helden durch die Truppen,
längst bevor Wallenstein beziehungsweise Guiskard selbst auftreten.
Crosby hat im einzelnen darauf aufmerksam gemacht, Reinhardt hat
ausführlich und klug argumentierend die These vertreten, daß Kleist
damit Schiller habe überbieten wollen – zumal hier wie bei der Familie
Schroffenstein manches dafür spricht, daß Schillers Drama das Übungsterrain absteckte, auf dem sich der dramatische Anfänger nach Art aller
Crosby (wie Anm. 16), S. 255.
Ebd.
34 Chorus and Choral Function in Schiller, in: Schiller 1759-1959. Commemorative American
Studies, ed. by John R. Frey (Illinois Studies in Language and Literature, 46), Urbana
1959, S. 147-170.
32
33
Schiller und Kleist
135
Anfänger mit einem Meister messen wollte. Dergleichen pflegt fast
immer schiefzugehen. Andere Dinge fallen ohnehin ins Auge: so die
Verwandtschaft zwischen Penthesilea und Schillers Die Jungfrau von Orleans. Rechnen wir noch Das Käthchen von Heilbronn hinzu, so hat Schillers Drama gleich für zwei poetische Produktionen von Kleist Pate
gestanden. Ob es sich nun um eine heilige Mission handelt wie bei Johanna und Penthesilea, um die ,,Verwirrung des Gefühls“, bei Schiller
wie bei Kleist abgehandelt, um das jeweilige Liebesverbot wie auch um
den Ungehorsam, einmal den Göttern, einmal dem Herzen gegenüber:
Ähnlichkeiten, Beziehungen, Verwandtschaften sind unverkennbar.
Das gleiche gilt für die fast somnambule Gefühlssicherheit bei Kleists
Käthchen und bei Schillers Jungfrau von Orleans. Mag man darin auch
ein romantisches Akzidenz sehen, literarische Tagesmode, von der
beide Gebrauch machten, so ändert es doch nichts an der auffälligen
Parallelität, was diese Sicherheit des Gefühls angeht. Kaiser und Femegericht, das Tableauhafte der Landschaftsdarstellungen, die szenischen
Arrangements, alles das enthüllt in der Tat Gemeinsamkeiten, die man
freilich auch hier nur ungenau bezeichnen würde, sähe man bloß stoffliche oder stimmungshafte Anleihen Kleists bei Schillers Drama.
Mag das Interesse am Mittelalter sogar ganz allgemein romantisch
motiviert gewesen sein – es ist als Gemeinsamkeit dennoch vorhanden.
Schließlich Kirchenkritisches: bei Schiller in den Räubern und im Don
Karlos, im Wallenstein und in der Maria Stuart zu lokalisieren, bei Kleist
findet es sich im Erdbeben in Chili und im Findling. Auch das mag, als
zeitgenössisches Phänomen, nicht einmal besonders stringent sein, was
die Beziehungen zwischen Kleist und Schiller angeht. Aber es ist andererseits auch nicht zu leugnen, daß es da Gemeinsamkeiten gibt – so
wie es bei beiden Autoren auch eine Neigung zum Katholizismus gibt,
bei Schiller zu lokalisieren in seiner Maria Stuart und in seiner Jungfrau
von Orleans, bei Kleist in seiner Heiligen Cäcilie. Das mag wiederum romantische Mode sein, der hier zwei Protestanten zum Opfer fielen.
Wichtiger sind wohl noch die brieflichen Hinweise auf Schillers Werk.
Am 16. August 1800 empfiehlt Kleist Wilhelmine von Zenge Schillers
Wallenstein – er hat das Buch für sie gekauft und schreibt:
Lies ihn, liebes Mädchen, ich werde ihn auch lesen. So werden sich unsre Seelen auch in dem dritten Gegenstande zusammentreffen. Laß ihn nach Deiner
Willkür auf meine Kosten binden und schreibe auf der innern Seite des Bandes
die bekannte Formel: H. v. K. an W. v. Z. Träume Dir so mit schönen Vorstel-
136
Schiller und Kleist
lungen die Zeit unsrer Trennung hinweg. Alles was Max Piccolomini sagt, möge,
wenn es einige Ähnlichkeit hat, für mich gelten, alles was Thekla sagt, soll,
wenn es einige Ähnlichkeit hat, für Dich gelten.35
Wallenstein also als Identifikationsprothese, als Verdeutlichungshilfe, als
Verbalisierungsmedium, was die Idealität einer Liebesbeziehung angeht.
Schillers Don Karlos folgt in der Wertschätzung erst danach. Gelegentlich freilich rücken sie in der Idealität der Figuren einander sehr nahe.
Kleist schreibt am 11. und 12. Januar 1801 an das „liebe Mädchen“:
Unsre Väter und Mütter und Lehrer schelten immer so erbittert auf die Ideale,
und doch gibt es nichts, das den Menschen wahrhaft erheben kann, als sie
allein. Würde wohl etwas Großes auf der Erde geschehen, wenn es nicht Menschen gäbe, denen ein hohes Bild vor der Seele steht, das sie sich anzueignen
bestreben? Posa würde seinen Freund nicht gerettet, und Max nicht in die
schwedischen Haufen geritten sein. Folge daher nie dem dunkeln Triebe, der
immer nur zu dem Gemeinen führt. Frage Dich immer in jeder Lage Deines
Lebens ehe Du handelst: wie könntest Du hier am edelsten, am schönsten, am
vortrefflichsten handeln? – und was Dein erstes Gefühl Dir antwortet, das tue.
Das nenne ich das Ideal, das Dir immer vorschweben soll. 36
Die Dichtung als Lebensvorbild, als Lebenselixier, als pädagogische
Anweisung an das „liebe Mädchen“ – hier nimmt Kleist noch einmal
wörtlich, was für Schiller nur poetische Wirklichkeit war, so wie er früher auch wirklich wollte, was Schiller nur auf der Bühne praktizierte.
Aber noch einmal: es kann hier nicht darum gehen, eine Nähe oder
auch Ferne zwischen Kleist und Schiller festzustellen. Daß Schiller und
Kleist nichts miteinander zu tun hätten, war ein vorschnelles Urteil, ein
Vorurteil gewesen, das sich nicht halten ließ. Doch der Beziehung ist
damit noch nicht Genüge getan, daß man das Gegenteil konstatiert,
also den Nachweis von Zitaten, Abhängigkeiten, thematischen und
eher im Irrationalen anzusiedelnden Gemeinsamkeiten führt. Mit anderen Worten: daß Kleist sich intensiv auf Schiller bezogen hat, und das
nicht nur in seinem literarischen Werk, steht heute vor allem nach den
Arbeiten von Crosby und Reinhardt außer Zweifel. Aber wir wollen
uns nicht mit der Feststellung begnügen, daß das „und“ in unserem
Thema tatsächlich berechtigt ist. Einige Zitationen haben gezeigt, daß
Kleist Schiller nicht sklavisch imitiert, wiederholt, übernimmt, sondern
35
36
SW 2, S. 517f. Dazu auch kurz Reinhardt (wie Anm. 13), S. 199.
SW 2, S. 612.
Schiller und Kleist
137
daß in der Zitationsveränderung die eigentliche Essenz der Beziehung
Kleists zu Schiller wenigstens fragmentarisch deutlich wird. Lesen wir
die Umwertungen in den Schiller-Zitationen richtig, so kann von einer
bloßen Übernahme oder einer Orientierung an einem großen Leitbild,
an einer Affirmation, einer eigenen Einsicht oder von einer gerne anerkannten Vorbildhaftigkeit nicht die Rede sein – die Umwertungen sind
zu sichtbar, Ausmaß und Genauigkeit des Zitats hingegen Hinweise
darauf, daß es sich hier wohl nicht um absichtslose Variationen im Zuge einer mehr oder weniger beliebigen Stoffübernahme und dichterischen Aneignung aus puren Praktikabilitätsgründen handeln kann. An
der Genauigkeit der Schiller-Kenntnis und an der Subtilität der Zitate
kann kaum ein Zweifel sein. Doch was besagen sie – falls eine Antwort
darauf überhaupt möglich ist – summa summarum?
*
Gesteht man der Eigenart und dem Ausmaß der Zitationskunst Bedeutung zu, dann hat sie, was Schiller angeht, zunächst einmal nur einen
Sinn. Kleist, für den Schillers Dichtungen den Charakter regulativer
Lebenslehren und Lebenseinsichten hatten, hat sich in den Zitaten mit
Schillers Vorstellungen auseinandergesetzt, und zwar ebenso kritisch
wie intensiv. Natürlich kommt diese Auseinandersetzung mit Schiller
nicht im entferntesten an die Kant-Krise des Jahres 1801 heran – über
sie hat 1954 Ludwig Muth in Kleist und Kant. Versuch einer neuen Interpretation37 wohl das Entscheidende gesagt. Wenn zur Krisenhaftigkeit der
Begegnung mit Kant jene Erschütterung gehört, von der Kleist in seinen Briefen vom 22. und 23. März 1801 gesprochen hat, dann ist schon
deswegen die Auseinandersetzung mit Schiller, wenn wir sie nun einmal
als solche bezeichnen wollen, nicht die einer geistigen Revolution, eines
Zusammenstürzens bestimmter bis dahin für gültig gehaltener Vorstellungen. Die so intensive Beschäftigung mit dem Weimaraner, die gelegentlich auch nur das Aussehen einer etwas eigenwilligen Aneignung
Schillerscher Gedanken oder den Charakter eines Transfers dieser Gedanken hat, dauert länger, ist unauffälliger und weniger spektakulär.
Aber es spricht vieles dafür, daß sie dem Range, wenn auch nicht der
Erscheinungsform nach, mit der Kant-Krise zu vergleichen ist und
ähnlich tief reicht, langzeitig wirkt und ein wichtiges Moment im
37
Kant-Studien. Ergänzungsheft, Nr. 68, Köln 1954.
138
Schiller und Kleist
Selbstverständnis und in der Bekundung der eigenen Position darstellt.
Es sieht sogar so aus, als seien die Umzitationen Schillers nicht beliebig,
sondern in gewisser Hinsicht Reaktionen auf jene Krise des Jahres
1801, von der die beiden genannten Briefe künden. Summieren wir die
Beobachtungen, so ergibt sich über unsere anfänglichen Beobachtungen hinaus etwa folgendes Bild:
Kleist überträgt das, was für Schiller im Bereich des Poetischen
Wirklichkeit ist, auf die wirkliche Wirklichkeit, und damit ist das Leben
der eigentliche Schauplatz, nicht mehr das Theater, auf dem debattiert,
gehandelt und entschieden wird. Das muß nicht unbedingt auf eine
Radikalisierung Schillerscher Vorstellungen hinauslaufen; aber der Realitätsgrad ist ein anderer geworden. Schiller hatte noch, wie es im späten
18. Jahrhundert üblich war, zwischen historischer und poetischer
Wahrheit unterschieden, und beides war von der Realität im Grunde
genommen gleich weit entfernt. Kleist entscheidet sich für die wirkliche
Wahrheit, und er widerspricht damit indirekt Schiller, der die poetische
Wahrheit höher als die historische stellte: fast sieht es so aus, als sei
Schillers Weg in die Poesie hier wieder rückgängig gemacht worden –
das aber nicht im Sinne eines Geländeverlustes, da Kleist in die Realität
zurücktransponiert haben will, was für Schiller nur auf dem Theater
geschah. Kleist macht, mit anderen Worten, ernst mit Schillerschen
Einsichten, und das nicht nur dort, wo er Wilhelmine von Zenge und
sich selbst Wallenstein vorhält, um auch die literarische Beziehung zwischen Max und Thekla zur wirklichen zu erklären. Wenn er die literarische Parabel vom Glück, wie Schiller sie im Ring des Polykrates geschrieben hatte, in seine Gedanken über den sicheren Weg, zum Glück zu
gelangen, übernimmt, dann auch das, um ernst zu machen, und zwar
mit dem, was bei Schiller nur poetisches Gleichnis war. Daß auch das
bei Kleist nur durch das Schreiben geschehen konnte, zählt zur Paradoxie solcher Radikalisierungen, und wir haben darin den Preis zu sehen, den Kleist hat zahlen müssen, einen Preis, der ihn schwer genug
dünkte. Daß er es nicht bei der Rätselhaftigkeit im Literarischen bewenden lassen wollte, sondern sich selbst als letztlich rätselhaft empfand, gehört mit in den Umkreis dieses Ernstmachens mit der Literatur.
Ob dahinter ein Vorwurf verborgen liegt, an Schillers Adresse gerichtet,
der nämlich, ins Reich der Poesie abgeleitet zu haben, was in Wirklichkeit gelebt werden müsse, diese Frage ist allenfalls zu stellen, aber nicht
mehr zu beantworten. Doch mit dieser Radikalisierung und Realisie-
Schiller und Kleist
139
rung der Schillerschen Vorstellungen ist auch verbunden, daß sie Fragen von Recht und Unrecht, Rache und Vergebung, Genugtuung und
Urteilsspruch bis an die äußerste Grenze, das heißt: bis in den Bereich
des Religiösen ausdehnt. Wallensteins Untergang ist ein kontinentales
Ereignis. Kohlhaasens Rebellion aber rührt, obwohl sie die Rebellion
eines einzelnen kleinen Mannes ist, an die Grundfesten der Ordnung,
und das Gespräch mit Luther steht nicht ohne Grund im Zentrum, ja
am Wendepunkt der Erzählung.
Sind das Korrekturen an Schillers Vorstellungen? Man wird die Frage
nicht eindeutig beantworten können. Aber in einem anderen Bereich
haben solche Korrekturen offenbar stattgefunden: in dem der theologischen Interpretation der Welt. Deuten wir Schillers Werk seit dem Wallenstein richtig, so tritt der Theodizee-Gedanke dort auffällig zurück:
Untergangsgeschichten erfüllen das Theater, und das nicht nur, weil in
der Tragödie nun einmal Blut fließen muß. Wallensteins Tod ist vom
Theodizee-Gedanken nicht mehr zu rechtfertigen, Hegel hatte darin
nur zu recht. Eine „verödete Stätte“, ein „Haus der Atriden“: so lautete
auch der Kommentar Humboldts. Dort haust das Schicksal, dort sind
die Bewohner vertrieben, und das Schicksal ist unbegreiflich geworden,
gewiß nicht mehr vom leitenden Gedanken einer Nemesis bestimmt,
nicht mehr auf Wiederherstellung aus, auf Restitution einer ursprünglichen Ordnung – die Französische Revolution hat für Schillers Geschichtsvorstellungen verheerend gewirkt, was wir freilich auch so deuten könnten, daß sie Schiller die Augen geöffnet hat für die Fragwürdigkeit von Theodizee-Gedanken, wie sie Schillers Drama auch fortan
bestimmt.38 Mit Schillers Maria Stuart hat man immer das Erhabene
38 Nachdem in den 60er Jahren mit Jean Starobinski, Gerd Mattenklott, Wolf
Lepenies und dann mit Hans-Jürgen Schings die Melancholieforschung auch in
Deutschland aufgekommen ist, sind immer neue Melancholiker entdeckt worden – bis
hin zu Bölls Ansichten eines Clowns. Dieter Borchmeyer (Macht und Melancholie. Schillers
Wallenstein, Frankfurt am Main 1988) hat den alten Knochen nun noch einmal nach
allen Regeln einer antiquarischen Auslegesophistik benagt. Wallenstein – erneut und
wieder – als Sternengläubiger und Zauderer? Der Kritiker des Klerikalismus als Bruder
Hamlets? Die Geschichtstragödie als Drama der schwarzen Galle? Der Verkünder der
Idee des neuen Lebens mit „Spuren der Geisteskrankheit“ behaftet, weil er seit seiner
Absetzung ein „Regensburg-Trauma“ mit sich herumträgt? Wallenstein gleichzeitig (!)
als enger Verwandter des erblindeten Faust und Tassos und der Reihe der „KünstlerSaturnkinder von der deutschen Romantik über Baudelaire und Verlaine bis zu Thomas
Manns Leverkühn“? Dieser Trittbrettfahrt durch ganze Jahrhunderte darf man vielleicht doch wie „die Zeitgenossen und konventionell eingestellten Nachgeborenen
140
Schiller und Kleist
verbunden, das dort zum Durchbruch komme, den Tod als Katharsis
verstanden, das Drama als Läuterungs-, Mysterien- und Erlösungsspiel.
Aber Maria geht unter, kein Zweifel, und wenn sie ihren eigenen Tod
auch als einen Sühnetod für einen früheren Mord interpretiert: das ist
keine Wiederherstellung, darin sind weder Theodizee noch Teleologie
anwesend. Wird der eine Mord gesühnt, so bleibt der an Maria Stuart
doch das Letzte, was in diesem Drama gezeigt wird, und was für Maria
als Läuterung interpretiert worden ist, ist in Wirklichkeit, lassen wir uns
da nicht von den erbaulichen Interpretationen einiger selbstsicherer
Germanisten täuschen, Untergang und Ende, Zerstörung und Tod.
Man wird einwenden, daß die Jungfrau von Orleans mit ihrer spektakulären Himmelfahrt alle Untergangsgedanken hinwegscheuche – aber hier
ist poetisches Wunder, was, nicht nur den Zeitgenossen bewußt, in
Wirklichkeit ebenfalls bitterer Tod war. Die Interpretation der SchillerKenner hat mit diesem Drama nicht viel anfangen können: auch der
Hinweis auf das Legendäre hilft uns nicht weiter. Legendäre Himmelfahrt oder sakrales Wunder: der überirdische Schluß ist und bleibt ein
poetischer Schluß, weit weg von der Wirklichkeit. Die Braut von Messina
– Zerstörung einer Familie, eine moderne Ödipodie, und wenn das
Schicksal auch nicht mehr als theatralische Macht über den Wolken
regiert, die Tragödie ist doch nicht aufzuhalten. Lassen wir uns nicht
blenden von Don Cesars Todesmonolog: das Pathos der inneren Freiheit steht auf tönernen Füßen, es klingt hohl genug. „Wirklich ein
Trauerspiel“, soll Schiller gesagt haben, und er hatte, auch wenn er
selbst nur die gelungene Tragödienform rühmte, nur zu sehr recht.
Goethe hat vom „Bild einer solchen mit furchtbarer Consequenz und
doch zwecklos handelnden Macht“ gesprochen, und Sinn wird man
dieser Geschichte tatsächlich kaum abgewinnen können, jedenfalls
nicht, wenn man an eine sinnvolle Weltordnung und an einen halbwegs
vernünftigen Gang der Geschichte zu glauben geneigt ist. Wilhelm Tell
ein Tyrannenmord, zum Vergnügen des Zuschauers vollzogen, der hier
die Hybris endlich einmal bestraft sieht: auf der Bühne, wie sich versteht, was sich nach der Französischen Revolution sonderbar genug
ausnehmen mochte. Aber bedenken wir, daß das Drama mit Parricidas
Untat endet, mit Vatermord und Kaisermord – es wäre zu fragen, ob
hier nicht doch mehr zur Sprache gebracht wird als nur ein etwas
verständnislos“ gegenüberstehen – es sei denn, man nähme sie als reichlich sonderbaren Nachhilfeunterricht im Fach Geschichte.
Schiller und Kleist
141
plumper Rechtfertigungsversuch der Tellschen Befreiungstat, denn die
Ermordung des Kaisers ist etwas anderes als die Ermordung eines kleinen Landvogts. Damit soll das dramatisch-tragische Geschehen auf
Tells Bühne nicht heruntergespielt werden. Aber daß jenes andere möglich ist, daß dadurch die Geschichte in weit größerem Ausmaß verändert wird, daß die Geschichte überhaupt von Kräften geprägt wird, die
sich einer Rechtfertigung durch Theodizee-Vorstellungen so restlos
entziehen, eben das bestimmt dieses Drama auch, und wenn wir bedenken, daß im Demetrius dann Legitimationsfragen hochkommen, daß
falsche Geschichte gemacht wird, dann kann von Harmoniegedanken
nicht mehr die Rede sein, von klassischer Synthese nicht, von Idealismus nicht und nicht von dem ganzen interpretatorisch-philosophischen
Budenzauber, mit dem man Schillers Spätwerk eingedeckt hat. Die
pessimistischen Züge in Schillers letzten Dramen kann man nur dann
übersehen, wenn man vom Bazillus einer unbedingt optimistisch argumentierenden Klassizismusvorstellung angesteckt ist. Wird im Wilhelm
Tell das Recht des politischen Mordes verteidigt? Da wäre doch noch
sehr die Frage, ob es so zu verteidigen ist. Tell als „leibhaft gegenständlicher Träger des sittlich oder gar religiös Guten“, wie Klaus Ziegler
einmal formuliert hat?39 Sehr fragliche Interpretationen, und wir mögen
einen Moment an Börnes Charakteristik denken, der Tell als Kleinbürger beschrieben hatte: „er hat eine schnelle Hand und einen langsamen
Kopf, und so bringt ihn endlich seine gutmütige Bedenklichkeit dahin,
sich hinter den Busch zu stellen und einen schnöden Meuchelmord zu
begehen, statt mit edlem Trotze eine schöne Tat zu tun. – Tells Charakter ist die Untertänigkeit“.40 So weit muß man nicht unbedingt gehen,
aber man darf die düsteren Züge in Schillers Geschichte nicht übersehen. Der Weltlauf mag noch nicht chaotisch sein, aber weit ist er nicht
mehr davon entfernt. Das Düstere, Rätselhafte, Unverständliche und
Sinnlose: in Schillers Dramen vom Wallenstein an ist es durchaus zu
finden, sehr viel eher vielleicht, als es seine Interpreten in Kleists Charakter zu finden glaubten.
Nehmen wir Kleists kleine Schriften zur Kunst- und Weltbetrachtung ernst, so ist, gerade in jenem Aufsatz, den sichern Weg des Glücks
zu finden, der Fortschrittsglaube des 18. Jahrhunderts, dessen TugendSchiller und das Drama, in: Wirkendes Wort 5, 1954/55, S. 205-215, hier S 210.
Ludwig Börne: Sämtliche Schriften […], hg. von Inge und Peter Rippmann, Bd. 1,
Düsseldorf 1964, S. 398.
39
40
142
Schiller und Kleist
lehre und Glückserwartung, damit aber auch die Vorstellung von der
endlichen Gerechtigkeit auf dieser Welt und einer vernünftigen Sinnhaftigkeit in einem Ausmaß präsent, wie das in diesen Jahren schlechterdings verwunderlich ist. Wer so sehr an die Vernünftigkeit der Welt
und der Weltgeschichte glaubt, der bereitet sich seine intellektuelle
Katastrophe gewissermaßen selbst und zwangsläufig vor. Kleist hatte,
wie wir wissen, seine perfektibilistischen Weltanschauungen von Wieland, nicht etwa von Schiller, und zwar von dessen Sympathien, 1758.
Wir wollen mit keinem Gedanken bezweifeln, daß die Vorstellungen
von einer nicht nur möglichen, sondern unbedingt zu erreichenden
Perfektibilität der Welt durch die Kant-Krise gründlich zerstört worden
sind. Kant ist wie ein Ungewitter in die teleologischen Ideen des jungen
Kleist hineingefahren, und wem derart der Boden unter den Füßen
weggezogen wird, der kann wohl nur so reagieren, wie Kleist reagiert
hat, wenn er davon sprach, daß ein innerlicher Ekel seinen Willen
überwältigt habe41 – so in seinem Brief an Wilhelmine von Zenge. Äußerer Tumult, glühende Angst, das sind die Charakteristika, die Kleist
sich selbst gibt. Hat es mit jeglicher teleologischer Geschichtsdeutung
von da an ein Ende? Schiller hätte ihn mit seinen Tragödien bestätigen
können, weniger was die Relevanz der Wahrheitssuche anging als vielmehr, was die Zerstörungskraft der Geschichte betraf. Teleologie war
auch bei Schiller nicht mehr zu finden. Doch es sieht so aus, als habe
Kleist sich damit ebensowenig abfinden wollen wie mit Schillers Versuch, auf der Bühne das zu restituieren, was der Wirklichkeit ermangelte. Nehmen wir Geschichten wie Michael Kohlhaas, den Zweikampf, die
Marquise von O …, selbst Das Erdbeben in Chili, so vermindert sich doch
der Katastrophencharakter der Geschichte erheblich: Kleist beschreibt
Vorgänge, die zwar zerstörerisch sind, die aber am Ende auf die Restitution weniger einer Ordnung als vielmehr der Ordnungsbegriffe hinauslaufen. Mit anderen Worten: in Kleists Erzählungen, aber auch im
Prinz von Homburg oder im Käthchen von Heilbronn wird die Geschichte
umgeschrieben, nicht zur Legende oder zur Heils- und Erlösungsgeschichte, nicht zur Verklärung oder zum Läuterungsdrama: aber die
Sinnlosigkeit, die scheinbare, wird ihr genommen, indem sie zur letztlich sinnvollen Geschichte wird. Kleist hat versucht, wider den Augenschein zu argumentieren, gegen die Erfahrung des „als ob“ anzuschreiben, und am Ende triumphiert die Geschichte selbst, da sie mit den
41
SW 2, S. 634.
Schiller und Kleist
143
Krisen fertig wird, die ihr drohen. Ist das ein neuer Versuch einer Teleologie? Das mag zu kühn formuliert sein, aber Rechtfertigungsgeschichte ist die Geschichte gewiß. Am Ende herrscht Ordnung, mag
auch sie das sein, was man am letzten und wenigsten hinter den Vorgängen vermuten würde. Und: Kleist schreibt in eine jeweilige Zukunft
hinein. In Schillers Dramen gab es vom Wallenstein an eine solche im
Grunde genommen nicht mehr, und Wilhelm Tell ist kein Gegenbeweis.
Schiller hat eine Gegenwartsanalyse versucht, und die Gegenwart kam
nicht sehr glänzend davon. Kleist operiert so gut wie immer mit der
Zukunft, denn in ihr erfüllt sich, was in der Gegenwart gefährdet schien
oder zerstört war. Ein Drama widerspricht freilich dieser optimistischen Geschichtserwartung: Penthesilea. Stirbt Penthesilea, weil sie nur
auf diese Weise eine Ordnung wiederherstellen kann, die sie selbst verletzt hat? Ihr letztes Wort „Nun ists gut“42 könnte man mit einiger Vorsicht so interpretieren. Dieses Drama ist das zweifellos schillernächste
Stück Kleists, bei dem die Wiederherstellung der Geschichte aufs äußerste reduziert ist, unter den größten Opfern erkauft werden muß.
Doch bei den meisten anderen Erzählungen und Dramen ist der Glaube an die restitutive Kraft der Geschichte erheblich. Von der Idee der
Perfektibilität ist freilich nichts geblieben, und ob man diesen Wechsel
auf die Zukunft als teleologisch beschreiben will, mag auch zweifelhaft
bleiben. Aber wie immer man auch die Erzählungen und Dramen lesen
will: sie liefern eine Korrektur Schillerscher Untergangsvorstellungen,
und die Kant-Krise hat daran am Ende nichts ändern können. Was im
18. Jahrhundert teleologische Heilsbotschaft war, ist bei Kleist freilich,
wir wissen es, mehr als einmal in die Instanz des Gefühls verlegt. Dieses ist verwirrbar, aber das Gefühl blieb allein wohl übrig, nachdem das
Wissen von Kant so kräftig in Zweifel gezogen war. Auch das ist ein
Protest, wenn auch kein sehr haltbarer. Denn am Ende hat Kleist sich
gewissermaßen selbst in Frage gestellt: in jenem Brief am Schluß seines
Lebens, in dem er sagt, daß ihm auf Erden nicht zu helfen war. Hat er
damit und mit seinem Freitod den Glauben an die unzerstörbare Macht
leitender Ideen widerlegt? Wir wissen es nicht, und so bleibt zu vermuten, was auch hier nur als Vermutung über die eigentliche Beziehung
Kleists zu Schiller vorgetragen wurde.
42
SW 1, S. 427.
E I N M E N S C H HE I T S T R A U M A U S G E T RÄ U M T .
K LE I S T S D A S E RD B E B EN IN C H I L I U N D D A S E N D E
A U F K LÄ RU N G
DER
Nichts ist in Kleists Erzählungen normaler und selbstverständlicher als
der Zufall. Es ist Zufall, daß in der Geschichte von Michael Kohlhaas der
Kämmerer, der ein altes Trödelweib aufgegriffen hat, in diesem ausgerechnet jene geheimnisvolle Zigeunerin traf, die Kohlhaas das Wissen
um das Ende des sächsischen Hofes vermacht hatte – der Kämmerer
hatte „den ungeheuersten Mißgriff begangen“,1 der sich denken ließ, so
heißt es, aber es war genau besehen nichts anderes als ein Zufall. Zufällig ist der alte Hoango, der allen Weißen den Krieg erklärt hat, nicht
anwesend, als in der Geschichte von der Verlobung in St. Domingo ein
weißer Offizier an die Tür klopft. Ein Zufall löst in der Erzählung vom
Findling eine ganze Kette verhängnisvoller Begebenheiten aus. In den
Dramen geht es ähnlich zu. Zufälle regieren das Weltgeschehen; Zufälle
bestimmen über Leben und Tod des Menschen – so auch in der Geschichte vom Erdbeben in Chili. Es ist augenscheinlich nichts anderes als
Zufall, daß in den Augenblick, in dem Jeronimo sich an einem Pfeiler
des Gefängnisses erhängen will, die Erde bebt; und es ist nicht weniger
Zufall, daß das einstürzende Gebäude in seinem Fall dem des gegenüberstehenden Gebäudes begegnet, so daß sich eine „zufällige Wölbung“ (146) ergibt, die den potentiellen Selbstmörder rettet. Es ist Zufall, daß in dem Augenblick, als ein Nachbeben den Rest der Stadt in
Trümmer reißt, Jeronimo sich bereits im Freien befindet. Zufälle auch
schon vorher; als Jeronimo von seiner Geliebten getrennt worden war,
hatte er „durch einen glücklichen Zufall“ (144) die Verbindung mit
Josephe wieder von neuem anzuknüpfen gewußt. Ähnlich war auch
Josephe davongekommen; sie war, zum Tode verurteilt, dem Richtplatze schon ganz nahe gewesen, als der irdische Erdbeben-Zufall sie befreite. Und zufällig finden die beiden, die dem Tod schon so nahe ge-
1
Heinrich von Kleist: Sämtliche Werke und Briefe, hg. von Helmut Sembdner,
2 Bde., München 71977 (= SW), Bd. 2, S. 96. Im Folgenden Seitenangaben von SW 2
im Text.
146
Kleists „Das Erdbeben in Chili“
wesen waren, einander wieder. Dreimal ist in Kleists Text expressis
verbis vom Zufall die Rede.
Die Betroffenen freilich sehen das ganz anders. Was sie erlebt haben,
ist die „zerstörende Gewalt der Natur“ (147), aber weil sie wider alle
Wahrscheinlichkeit davongekommen sind, sehen sie in dem Geschehenen ein „Wunder des Himmels“, ihre „wunderbare Errettung“. Jeronimo hatte ernsthaft den Tod gesucht, seine Bewußtlosigkeit war quasi
dessen Vorwegnahme; doch als ihm ein Westwind „sein wiederkehrendes Leben anwehte“ (146), war das fast eine Wiederauferstehung, der
Beginn eines neuen Daseins, und eine Art Wiedergeburt hatte auch
Josephe mitsamt dem „Knaben, den ihr der Himmel wiedergeschenkt
hatte“ (148), erlebt. Da war also nicht nur die zerstörende Gewalt der
Natur auf der einen Seite und das Wunder des Himmels, die wunderbare Rettung auf der anderen; die Davongekommenen stellen einen Bezug dazwischen her, wenn sie dachten, „wie viel Elend über die Welt
kommen mußte, damit sie glücklich würden!“ (150). Das Unglück der
Welt also aufgerechnet gegen das Glück zweier Menschen. Daß das
nicht ein sporadischer Gedanke der beiden Liebenden war, sondern
ihre ernsthafte Erklärung für das, was geschehen war, ist der Novelle
selbst zu entnehmen: denn noch zweimal wird darauf aufmerksam gemacht, daß das Elend der Welt noch so groß gewesen sein mochte –
für sie war das „eine Wohltat, wie der Himmel noch keine über sie
verhängt hatte“ (152), und noch ein drittes Mal ist von diesem konditionalen Zusammenhang die Rede, wenn Josephe meint, daß das allgemeine Wohlsein auf der einen Seite zwar abgenommen habe, aber auf
der anderen Seite um ebensoviel gewachsen sei. Die Geretteten unterstellen dem zerstörerischen Geschehen des Erdbebens also mehrfach
einen eindeutigen Sinn, sehen im Zufall des Erdbebens etwas vom
Himmel Bewirktes, und so machen sie denn eine für sie völlig stimmige
Rechnung auf: der Untergang der Welt hier, das Glück der Liebenden
dort – und das eine war quasi die Bedingung des anderen.
Aus der Sicht der so überraschend Geretteten mag das alles verständlich sein. Und diese Interpretation der Ereignisse ist auch vor dem
Hintergrund des aufgeklärten Denkens, wie es ja die Jahre Kleists noch
bestimmte, gar nichts Ungewöhnliches, sondern verträgt sich sehr gut
mit einem Denken, demzufolge es spektakuläre Ereignisse oder zufällige Begebenheiten quasi aus dem Nichts heraus eigentlich gar nicht
geben konnte. Hinter der Rechtfertigung des allgemeinen Unglücks, das
Kleists „Das Erdbeben in Chili“
147
über die Welt gekommen war, um so die eigene Rettung zu ermöglichen, steht ein Denken, das Sinnlosigkeiten, Zufälle, Überraschungen
nicht zuläßt. Kannte Kleist das Wort Voltaires: Zufall ist das Pseudonym Gottes? Vermutlich. Angesichts der außerordentlichen Abhängigkeit Kleists von Schiller kannte er aber ohne jeden Zweifel die Rede des
Marquis Posa aus dem Don Karlos: „Den Zufall giebt die Vorsehung –
Zum Zwecke/ Muß ihn der Mensch gestalten“.2 Und sicherlich auch
Wallensteins Wort: „Es gibt keinen Zufall;/ Und was uns blindes Ohngefähr nur dünkt,/ Gerade das steigt aus den tiefsten Quellen“.3 Kleist
ist der Konstrukteur von Zufällen, die keine sind. Wenn dem so ist,
kann auch das Erdbeben kein Zufall sein.
Natürlich kannte man Naturkatastrophen. Aber man nahm sie entweder nicht wahr oder ordnete sie ein in aufgeklärte Vorstellungen vom
Lauf der Welt. Der war zu verstehen, wie Kant gelehrt hatte, nämlich
als „die Vollziehung eines verborgenen Plans der Natur“.4 Die Natur
war nicht blind, erbarmungslos, zerstörerisch, chaotisch oder unberechenbar, sondern ihr Wirken letztlich sinnvoll. Anders gesagt: was immer geschieht, dient einem Zweck – das Denken in den Kategorien
von Ursache und Wirkung, Ereignis und Folge gehört zu den Grundvorstellungen der Aufklärung. Nichts ist selbstbezogen, sondern alles
eingebettet in einen Funktionalismus, für den die Zeit damals auch den
Begriff des „Systems“ hatte. Wir könnten auch sagen: Die Orientierung
an der Zweck-Mittel-Relation dominiert das Denken grundsätzlich;
alles hat ein Ziel, ist eingebunden in einen geordneten, planvollen Zusammenhang. Die „stille Hand der Natur“, wie Schiller das einmal genannt hat,5 brachte einen Sinn selbst in das scheinbar Sinnlose. Diese
Überzeugungen stehen auch im Hintergrund jenes Satzes, daß das
Elend über die Welt kommen mußte, damit sie, die Liebenden, glücklich würden. Zweckorientiertes Aufklärungsdenken, ein Argumentieren
in den Kategorien von Ursache und Wirkung, von Bedingung und Folge, von Absicht und Erfüllung: mochten spektakuläre Ereignisse auf
den ersten Blick hin noch so unbegreiflich scheinen, so wurden sie
2
Friedrich Schiller: Schillers Werke. Nationalausgabe, hg. von Julius Petersen (†) und
Gerhard Fricke, Weimar 1943ff. (= NA), Bd. 7,1, S. 505f.
3
NA 8, S. 213.
4
Kant’s gesammelte Schriften, hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, 1. Abtheilung, Werke, Bd. VIII: Abhandlungen nach 1781, Berlin 1923, S. 27.
5
NA 17, S. 375.
148
Kleists „Das Erdbeben in Chili“
doch eingeordnet und auf das Zweckmäßige an ihnen ausgedeutet.
Anders gesagt: hinter dem angesichts der ungeheuren Untergangskatastrophe an sich ebenso selbstverständlichen wie befremdlichen Satz,
daß sie sehr gerührt waren, „wenn sie dachten, wie viel Elend über die
Welt kommen mußte, damit sie glücklich würden“, steht mehr als nur
das Empfinden zweier Einzelner, nämlich eine ganze Geschichtsphilosophie. Hier ist die Wirklichkeitsinterpretation der Aufklärung präsent,
ist die alte Vorstellung von der Zweckgerichtetheit aller Dinge und
Geschehnisse in die Deutung einer Naturkatastrophe übersetzt. Es
sieht fast wie nach einer Kosten-Nutzen-Rechnung im Gewand des 18.
Jahrhunderts aus: was anderen geschadet hat, ist zum Vorteil dieser
beiden so unverhofft Geretteten ausgeschlagen. Die Rechnung, daß
ebensoviel Elend über die Welt kommen mußte, „damit sie glücklich
würden“, ist also vom Denken der Zeit her nicht im geringsten zu beanstanden, denn sie ist von einer aufklärerischen Interpretation des
Weltgeschehens her durchaus verständlich, und mehr als das: sie ist
eigentlich selbstverständlich.
Doch dieser Satz vom eigenen Glück, auch wenn es das Unglück anderer bedeutet, enthält zugleich noch etwas anderes, was ebenfalls zum
Denken der Aufklärung gehört: Glückserwartung. Der Mensch hat im
aufgeklärten Zeitalter ein Anrecht auf Glück; Glück ist Teil seiner
menschlichen Bestimmung. Was ist Glück? Im 18. Jahrhundert ist
Glück vor allem eine Begleiterscheinung der Tugend; der Weg der Tugend wiederum, so schrieb Kleist im Brief an seinen Lehrer Christian
Ernst Martini vom 18./19. März 1799, sei der direkte, „kein schönerer
und edlerer Weg zum Glücke denkbar“ (475).
Aber Glück ist nicht nur eine theoretische oder abstrakte Erwartung.
In diesem Brief heißt es auch:
Ein Traum kann diese Sehnsucht nach Glück nicht sein, die von der Gottheit
selbst so unauslöschlich in unserer Seele erweckt ist und durch welche sie
unverkennbar auf ein für uns mögliches Glück hindeutet. Glücklich zu sein ist
ja der erste aller unsrer Wünsche […] (477).
Ähnliche Gedanken finden sich in dem kleinen Aufsatz, den sichern Weg
des Glücks zu finden und ungestört – auch unter den größten Drangsalen des Lebens – ihn zu genießen!, der wohl noch vor dem Brief an Martini entstanden ist. Sehnsucht nach Glück also etwas ureigen Menschliches. Und
wenn die beiden durch das Erdbeben Geretteten bedenken, wieviel
Elend über die Welt kommen mußte, damit sie glücklich wurden, dann
Kleists „Das Erdbeben in Chili“
149
sagen sie damit zugleich: Glück ist eine so wichtige Erfahrung, daß es
das Elend, das über die Welt kommen kann, durchaus aufwiegt. Und so
erleben sie denn das Glück in jenem Tal, das nicht irgendein Tal ist,
sondern ein Tal, „als ob es das Tal von Eden gewesen wäre“ (149): das
grenzenlose Unglück, das mit dem Erdbeben über die Menschen gekommen ist, ist wie weggewischt, zum grenzenlosen Glück zweier
Menschen geworden. Der „prachtvolle Granatapfelbaum“, das Liebessymbol, ist nicht zufällig erwähnt, so wenig wie das „wollüstige Lied“
der Nachtigall. Und so bestätigt sich, was sie voller Rührung bedachten:
daß das über die Welt gekommene Elend Voraussetzung ihres nächtlichen Glücks gewesen war. Ihre Glückserwartung hat sich erfüllt. So ist
für Jeronimo und Josephe wahr geworden, was Kleist im Aufsatz
schrieb:
die Gottheit wird die Sehnsucht nach Glück nicht täuschen, die sie selbst unauslöschlich in unsrer Seele erweckt hat, wird die Hoffnung nicht betrügen,
durch welche sie unverkennbar auf ein für uns mögliches Glück hindeutet.
Denn glücklich zu sein, das ist ja der erste aller unsrer Wünsche, der laut und
lebendig aus jeder Ader und jeder Nerve unsers Wesens spricht, der uns durch
den ganzen Lauf unsers Lebens begleitet […] (301).
Fast wörtlich steht das auch in dem Brief an Martini (477f.).
*
Das 18. Jahrhundert reicht auch unter anderer Beleuchtung in die
Glücks-Szenerie unserer Erzählung hinein. Nach dem Erdbeben
scheint sich in jenem Tal, das den beiden Seligkeit versprach, „als ob es
das Tal von Eden gewesen wäre“, gewissermaßen die ganze Menschheit
erneuert zu haben; eine quasi klassenlose Gesellschaft hat sich dort
versammelt, oder, wie es in Kleists Text heißt:
Auf den Feldern, so weit das Auge reichte, sah man Menschen von allen Ständen durcheinander liegen, Fürsten und Bettler, Matronen und Bäuerinnen,
Staatsbeamte und Tagelöhner, Klosterherren und Klosterfrauen: einander
bemitleiden, sich wechselseitig Hülfe reichen, von dem, was sie zur Erhaltung
ihres Lebens gerettet haben mochten, freudig mitteilen, als ob das allgemeine
Unglück alles, was ihm entronnen war, zu einer Familie gemacht hätte (152).
Hier hat sich nicht nur das Unglück zum Glück gewandelt; eine Idylle
ist Wirklichkeit geworden, die Menschheit hat sich noch einmal zu einer
Familie zusammengeschlossen – das war der große Traum des 18.
Jahrhunderts gewesen, wie er in Schriften wie Lessings Erziehung des
150
Kleists „Das Erdbeben in Chili“
Menschengeschlechts deutlich geworden war, auch in Nathan der Weise, wo
sich am Schluß die anfangs so wirren Personal-Verhältnisse alle gelöst
hatten und die familiären Bindungen sichtbar geworden waren: beispielhaft zu verstehen, die Menschheit als große Verwandtschaft. Auch
in jenem Tal, als ob es das Tal von Eden gewesen wäre, ist die Menschheit quasi neu erschaffen worden. Und das war Folge jener Naturkatastrophe: sie hat denen, die überlebt hatten, eine neue Welt eröffnet, in
der ein Zusammenleben, das vorher nur aufgeklärtes Ideal gewesen
war, Wirklichkeit wurde. Standesunterschiede spielen jetzt keine Rolle
mehr, die wechselseitige Hilfsbereitschaft ist grenzenlos, der menschliche Geist geht, wie Kleist das in ein großartiges Bild gefaßt hat, „wie
eine schöne Blume“ auf – und Josephe dünkt sich „unter den Seligen“.
In der Tat, das ist ein himmlischer Zustand, der sich auf der Erde ausgebreitet hat, und noch einmal sagt Josephe jenen Satz vom Glücklichwerden der beiden Liebenden durch das Elend der Anderen: „Ein Gefühl, das sie nicht unterdrücken konnte, nannte den verfloßnen Tag, so
viel Elend er auch über die Welt gebracht hatte, eine Wohltat, wie der
Himmel noch keine über sie verhängt hatte“ (152). Und noch ein drittes Mal spricht aus ihr Glücksgefühl: da sie den „Schmerz in jeder Menschenbrust mit so viel süßer Lust vermischt“ sieht. In diesen Betrachtungen erschöpfen sich Jeronimo und Josephe und fassen, so in Sicherheit gewiegt und vom Himmel scheinbar bestätigt, einen verhängnisvollen Entschluß: sie wollen bleiben, sich nicht nach Spanien begeben, um
„daselbst ihr glückliches Leben zu beschließen“ (150). Denn sie leben ja
nach der Naturkatastrophe, so meinen sie, in einer neugeborenen
Menschheit: „Es war“, so hatte es in der Erzählung geheißen, „als ob
die Gemüter, seit dem fürchterlichen Schlage, der sie durchdröhnt hatte, alle versöhnt wären“. Das Paradies wiederhergestellt, alles irdische
Verhängnis abgewendet, die Gesellschaft eine schranken- und ständelose, der glückliche Urzustand der Natur Wirklichkeit geworden.
*
Doch es war nur ein Traum, oder mehr noch: es war ein Irrtum, ein
schrecklicher, und wie sehr es das war, zeigt das Folgende. Der Zufall
des Erdbebens hatte sie gerettet – aber das Treiben der Gesellschaft
vollzieht die Todesurteile, die über sie gefällt worden waren, dennoch.
Es ist der Prediger in der Dominikanerkirche, der das Erdbeben als
Vorboten des Weltgerichts deutet und dafür die „Sittenverderbnis der
Kleists „Das Erdbeben in Chili“
151
Stadt“ verantwortlich macht; es ist das Geschehen im Klostergarten der
Karmeliterinnen, das seinen priesterlichen Zorn erregt, und so übergibt
er Jeronimo und Josephe „allen Fürsten der Hölle“ (156), zunächst
rhetorisch, dann aber in Wirklichkeit. Die Menge droht zwar zunächst
mit Don Fernando und dem kleinen Sohn, von Josephe gehalten, die
Falschen zu steinigen, aber der eigene Vater identifiziert Jeronimo als
den Schuldigen, und am Ende ist alles Glück dahin, der paradiesische
Zustand abrupt beendet, schließlich Josephe und Jeronimo und mit
ihnen die unschuldige Donna Constanze ermordet, und die „noch ungesättigte Mordlust“ verschont auch eines der Kinder nicht.
Die Epitheta und Vergleiche, die Kleist gebraucht, um das Handeln
der aufgebrachten Menge als das zu bezeichnen, was es ist, sind eindeutig: es ist Mordlust. Der Himmel ist eingestürzt; der Prediger, der die
Seelen der Täter, „wörtlich genannt, allen Fürsten der Hölle übergab“,
wird selbst zur teuflischen Figur, der Mörder der Donna Constanze
zum „fanatischen Mordknecht“, zum „Fürst der satanischen Rotte“.
Josephe ruft vor ihrem Tode noch aus: „hier mordet mich, ihr blutdürstenden Tiger!“. Die Mörder sind „Bluthunde“ und „Ungeheuer“, die
ihr „steinigt sie! steinigt sie!“ schreien. Unmenschen sind ihrer Mordlust
verfallen, und am Ende dieses Kampfes des Himmels gegen die Hölle
siegt die Hölle. Fernando, der sie vergebens zu verteidigen suchte, erscheint als „dieser göttliche Held“. Aber er unterliegt. Das Paradies ist
verloren, das Glück beendet. John Milton, der große englische Dichter
des 17. Jahrhunderts, schrieb erst sein Paradise Lost, Jahre später sein
Paradise regained. Hier ist es umgekehrt.
*
Wie ist das alles zu deuten? Ist die von Kleist erzählte Geschichte erklärlich, läßt sich in dem auf großartige Weise Schrecklichen irgendein
Sinn finden? Ist es eine antiklerikale Erzählung, „gegen römisches
Priestertum und Kuttenmoral“ gerichtet? So hat ein berühmter Interpret diese Novelle gelesen; kein anderer als Thomas Mann sprach von
einer prachtvollen Erzählung, worin alles Glück und Verzeihen, alle Güte,
seelische Reinigung und Menschenverbrüderung, die aus der gemeinen Heimsuchung, der fürchterlichen Naturkatastrophe „wie eine schöne Blume aufge-
152
Kleists „Das Erdbeben in Chili“
hen“, zerstört und in mörderische Sühn- und Strafwut verkehrt werden durch
den Fanatismus eines Dominikaner-Predigers.6
Aber das war nicht alles, und vor allem: darin erschöpft sich nicht die
Novelle. Auch nicht für Thomas Mann; er hat hinzugesetzt: „Man
kommt beim Lesen dieser Geschichten aus dem Schrecken, der Aufregung, der Bangigkeit vor dem Ungeheuerlichen, aus dem Bann geteilten
Gefühls nicht heraus“.7 Aber was dann?
Die Geschichte hat viele Federn in Bewegung gesetzt, und die Interpreten haben nichts ausgelassen. Einige haben die Weltordnung hier
nicht angezweifelt, sondern verteidigt gefunden, höhere Werte hätten
sich gerade dort bewahrheitet, wo sie durch das niedrige Weltgeschehen
so nachdrücklich in Frage gestellt zu sein schienen. Andere haben hier
ein blindes Schicksal am Werk gesehen, wieder andere die Unbegreiflichkeit des göttlichen Wirkens, Gott also als deus absconditus; wieder
andere meinten, hier sei das Unvorhersehbare des Weltlaufs dokumentiert, die Fragwürdigkeit menschlicher Verhältnisse, die Ungewißheit
des Lebens, die Schöpfung undurchschaubar, das Dasein ein furchtbares Rätsel. Das alles sind letztlich metaphysische Deutungen – recht
befriedigen will keine von ihnen.
Den Metaphysikern steht die Front der Realisten gegenüber. So hat
man hier eine Anklage gegen soziale Ungerechtigkeit und die Sinnlosigkeit der Standesunterschiede gesehen; ein anderer wollte hier demonstriert wissen, „wie die Brutalität der Masse durch demagogische Manipulation hervorgerufen wird“8 – dagegen habe Kleist den Naturzustand
einer Gemeinschaft ausgemalt, die alle zu einer Familie macht, in der
der Mensch seine individuelle Freiheit dadurch verwirklicht, daß er sich
in allen Individuen, die ihn umgeben, vervollständigt, und nicht
dadurch, daß er sich von aller Menschengemeinschaft isoliert. Also ein
herrschaftsfreier und in positivem Sinne anarchistischer Zustand einer
klassenlosen Gesellschaft, entgegengesetzt der unheiligen Allianz von
Staat und Kirche, die sich in der Herrschaft des Mobs austobt. Aber
auch das will alles so recht nicht überzeugen. Am ehesten einsichtig
scheint noch die These zu sein, daß Kleist sich hier kritisch mit Rous6
Thomas Mann: Gesammelte Werke in dreizehn Bänden, Frankfurt am Main 1974,
Bd. IX, S. 836f.
7
Ebd., S. 838.
8
So Peter Horn: Heinrich von Kleists Erzählungen. Eine Einführung, Königstein/Ts.
1978, S. 114.
Kleists „Das Erdbeben in Chili“
153
seau auseinandergesetzt habe: die Rückkehr zum einfachen Leben, zur
Natur, von Rousseau zum Ideal erhoben, sei hier gescheitert – im Hintergrund stehe Kleists Auseinandersetzung mit dem Ideengut des Predigers vom einfachen Landleben und seine Kritik an dessen Utopie von
einem idealen Naturzustand. Das Erdbeben in Chili sei nichts anderes als
eine Widerlegung des Mythos vom ursprünglichen Dasein in der Natur.9
Das klingt halbwegs plausibel, sagt aber noch nichts über das Naturgeschehen dieser Erzählung, also über das Erdbeben aus. Daß eine
Naturkatastrophe erst die Möglichkeit schafft, einen idealen Naturzustand wiederzugewinnen, wie das in jenem Tal geschieht, das nicht
zufällig mit dem Tal von Eden verglichen wird, mag ja sein; aber das
würde jene Lügen strafen, die darin einen Sinn oder sogar einen himmlischen Zweck erkennen wollen. Oder war das Erdbeben gleichsam
sinnlos, da ja der dadurch gewonnene, möglich gewordene Naturzustand in kürzester Zeit wieder zerstört wird? Am Ende also doch nur
das Erdbeben als etwas Unerklärliches?
Natürlich kann man sagen: da ist etwas Unbegreifliches geschehen,
ist die Sinnlosigkeit eines Geschehens dokumentiert, da jeder dem Erdbeben gegebene Sinn sich als Täuschung erweist. Also die Rätselhaftigkeit des Daseins überhaupt dargestellt? Aber das würde bedeuten,
daß man Kleist quasi mit Kafkas Augen läse. Vor allem aber: eine solche Stellungnahme ist anachronistisch. Denn zu Kleists Zeiten wäre
niemand auf die Idee verfallen, eine Geschichte nur um ihrer Unbegreiflichkeit wegen zu schreiben. Im übrigen hat Kleist in seinen Novellen oft von rätselhaften Fakta berichtet, aber die Rätsel der Fakta wurden in jeder Erzählung aufgelöst – häufig durch die Vorgeschichte. Das
ist hier nicht der Fall. Aber Wiederholung ist ein Strukturmerkmal fast
aller Erzählungen Kleists: was geschieht, geschieht so gut wie immer
noch einmal, wenn auch unter veränderten Vorzeichen. Auch in unserer Erzählung geht es ähnlich zu.
Auch ein Blick auf literarisch Benachbartes zeigt, daß eine Geschichte nicht erzählt wurde, weil sie unbegreiflich war. Die Zeit der moralischen Erzählungen ist zu Kleists Zeiten eigentlich ja noch gar nicht
vorbei, jener kurzen Geschichten, die zwischen Recht und Unrecht
9
So Harry Steinhauer: Heinrich von Kleists Das Erdbeben in Chili, in: Goethezeit. Studien zur Erkenntnis und Rezeption Goethes und seiner Zeitgenossen. Festschrift für Stuart Atkins, hg. von Gerhart Hoffmeister, Bern/München 1981, S. 281-300.
154
Kleists „Das Erdbeben in Chili“
scharf zu unterscheiden wußten und die eine Moral im Sinne von Lebenslehren, die es zu befolgen galt, verkünden wollten. Kleists Erzählung mag zeitlos sein, sie verlangt aber zunächst einmal danach, von
den Vorstellungen der Zeit her ausgelegt zu werden. Kleist will unter
den Voraussetzungen gelesen werden, die das auslaufende Aufklärungszeitalter bot. Die Erzählung wurde ein Jahr nach Schillers Tod
beendet, erst fast ein Menschenalter später starb Goethe. Die Frühromantiker hatten sich zwar schon literarisch etabliert, aber auch in ihrem
Werk war die aufgeklärte Tradition noch lebendig. Auf die Dichtung
bezogen hieß das: eine ohne Sinn erzählte Geschichte widerlegte sich
selbst, das reine Anschauen unerklärlicher Ereignisse war nicht darstellenswert. Das schloß nicht aus, daß Geschichten allegorisch zu lesen
waren: das Denken in Bildern war in der Zeit des ausgehenden 18.
Jahrhunderts und in den ersten Jahren des neunzehnten weit verbreitet,
manche Lebenslehre wurde in gleichnishafter Verkleidung vorgetragen.
Aber ohne irgendeine Aussage hätte sich eine Dichtung selbst aufgegeben. Wir müssen also einen Sinn in die Geschichte hinein- oder vielmehr: aus der Geschichte herauslesen, auch wenn er offenkundig nicht
sofort zu erkennen ist.
Hier verlassen wir die schon oft ausgetretenen Pfade der Deutung
und versuchen uns an einer neuen Erklärung, und zwar vor dem Hintergrund dessen, was wir gerade skizziert haben, also vor dem Hintergrund des 18. Jahrhunderts. Eine von diesem Kontext her mögliche
Deutung bietet sich an, wenn man den Blick auf das richtet, was mit
dem Liebespaar unmittelbar zu tun hatte. Anders gesagt: Erdbeben und
davongekommenes Liebespaar – wie vertrug sich das? Die Erzählung
hatte ursprünglich den Titel Jeronimo und Josephe. Beide werden zunächst
gerettet: das Erdbeben verhilft Jeronimo zur Freiheit und bewahrt Josephe im letzten Moment vor dem Scharfrichter. Ein Zufall also hat sie
verschont, nämlich der Zufall des Erdbebens. Tatsächlich wird ihre
Rettung nur von ihnen als wunderbar bezeichnet, wird der „zerstörenden Gewalt der Natur“ das „Wunder des Himmels“ gegenübergestellt.
Und sie machten ja auch eine Rechnung auf: es war die, daß soviel
Elend über die Welt kommen mußte, „damit sie glücklich würden“.
Damit war das Geschehen in das Denken der Aufklärung gebracht, da
hier für die Liebenden das Prinzip von Ursache und Wirkung, von
Ereignis und Folge auf so sichtbare Weise gewahrt war.
Kleists „Das Erdbeben in Chili“
155
Aber gerade in dieser Erfüllung aufgeklärter Forderung nach Sinngebung des offensichtlich Sinnlosen scheint sich die Aufklärung selbst ad
absurdum zu führen: denn die Rechnung vom Glück weniger Einzelner
auf Kosten vieler läßt sich so nicht aufmachen. Die Schlußfolgerung,
die die Liebenden aus dem Geschehen ziehen, grenzt an Vermessenheit: denn ein namenloses Unglück vieler, wie es das Erdbeben mit sich
gebracht hatte, kann, mit aufgeklärter Vernunft betrachtet, nicht das
Glück einiger weniger rechtfertigen. Hier ist jede Verhältnismäßigkeit
außer acht gelassen, wird das Geschehene auf groteske Weise zur Sinnhaftigkeit umgebogen und dem Erdbeben ein Zweck unterlegt, der ihm
von Haus aus nicht innewohnen kann. Wiegt das Glück zweier Menschen tatsächlich das Unglück Tausender auf? Und ist nicht verräterisch, wenn hier als Wunder des Himmels erscheint, was zur Rettung
beider geführt hatte? Denn Wunder waren in der aufgeklärten Weltinterpretation nicht vorgesehen – sie standen jenseits aller Vernünftigkeit.
Hier hat sich, genau besehen, ein schrankenloser Subjektivismus eröffnet, und nur so war möglich, daß jemand sich auf Kosten des Elends
der Welt glücklich fühlen konnte – vom Recht eines jeden Menschen,
das Glück für sich einzufordern, ist nichts geblieben außer einem persönlichen Glücksanspruch, der nur durch das Unglück der Anderen zu
erfüllen war. Glück nur als Glück des Einzelnen: das ist romantischer
Solipsismus, ist gegen das Menschenverständnis der Aufklärung gesagt.
Was wir in Kleists Geschichte vor uns haben, ist die Unabhängigkeitserklärung des Individuums, einiger Individuen. Ein altruistisches Denken gibt es hier nicht mehr, nicht mehr die Vorstellung, daß der Einzelne sich nicht „insuliren“ dürfe, wie Lessing das einmal genannt hat.
Vereinseitigung und Außenseitertum waren im Denken des 18. Jahrhunderts nicht vorgesehen, es gab keine „Trennungen, wodurch die
Menschen einander so fremd werden“, wie Lessing das auch gesagt hat;
was immer dem Einzelnen geschah, geschah allen, und was allen geschah, spiegelte sich im Schicksal des Einzelnen. In Kleists Novelle
hingegen meldet sich das zu Wort, was den Beginn der Moderne prägen
wird: die neue Erfahrung der Subjektivität, die Erkenntnis, daß das
Individuum nicht mehr fragloser Teil eines großen Ganzen sei, sondern
seine eigene Welt. Die sichernden Netze einer Allgemeinheit, in der
sich jeder für jeden verantwortlich fühlte, sind zerrissen: das zeichnet
sich hier schon fast überdeutlich ab. Kann sich der Einzelne ausgliedern aus dem größeren Ganzen? Er kann es nicht. Die Überzeugung,
156
Kleists „Das Erdbeben in Chili“
daß das Unglück der Welt das Glück des Einzelnen bedeuten kann,
verträgt sich nicht mit der Forderung, daß der Einzelne sich so verhalten müsse, daß sein Tun Vorbild für alle anderen sein könne. Wer so
denkt wie die beiden durch das Erdbeben Geretteten, nimmt ein PrivatRecht für sich auf Kosten der Allgemeinheit in Anspruch, erklärt sich
in grenzenloser Verkennung der Verantwortung gegenüber dem Ganzen als Individuum zum Herrn der Welt. Was zählt, ist hier nur noch
das eigene Glück.
Aber das darf nicht sein. Und so gesehen ist ihr Tod am Ende der
Geschichte nicht ein grausamer Mord an Unschuldigen, die der Himmel selbst quasi freigesprochen hat, sondern die gerechte Quittung für
eine egoistisch-subjektive Interpretation eines Weltunterganges zugunsten einer individuellen Glückserfahrung. Hier ist das Denken der Aufklärung, das alles auf Sinn und Zweck hin funktionalisiert hatte, ist auch
die Glückserwartung des 18. Jahrhunderts mißbraucht, herabgewürdigt,
zur nicht mehr zu rechtfertigenden Rechtfertigung des eigenen Überlebens geworden. Der Hybris folgt die Nemesis. Glück ist nicht möglich,
wenn es das Unglück aller anderen ist. Nein, es darf nicht sein, daß die
Menschheit zugrunde geht, um das Glück Einzelner zu ermöglichen;
mögen sie darin nun eine wunderbare Rettung des Himmels sehen oder
auch einen puren Zufall. Aber Zufälle gibt es nicht bei Kleist, oder
besser: gibt es nicht in der aufgeklärten Weltordnung. Hier aber rechnen sich zwei zugute, was der Menschheit an Schrecken widerfahren ist.
Das darf, nach aufgeklärtem Denken, nicht sein. Würde man diese
Einstellung verallgemeinern, wäre die Welt letztlich beherrscht von
schrankenlosem Egoismus. Natürlich könnte der Himmel das auch
zulassen – aber er tut es in diesem Falle nicht. Und so ereilt denn Josephe und Jeronimo am Ende doch noch die Nemesis, auch wenn es
eine blutige Rotte von Mördern ist, die das Urteil an ihnen schließlich
vollstreckt. Nicht die Liebe im Klostergarten wird bestraft; bestraft
wird ein Denken, das im schlechten Sinne schrankenlos geworden ist.
Anders gesagt: so darf eine Naturkatastrophe nicht interpretiert werden, wie Josephe und Jeronimo das tun, und der Erzähler, der allmächtige, darf nicht zulassen, daß sie mit heiler Haut entkommen und sich in
La Conception – der Name ist natürlich doppeldeutig – nach Spanien
einschiffen, um „daselbst ihr glückliches Leben zu beschließen“. So
leicht kommt in der Zeit der Aufklärung niemand davon.
Kleists „Das Erdbeben in Chili“
157
Die Interpretation des Weltgeschehens, wie sie Jeronimo und Josephe geben, ist Hybris und ist dem Geist des 18. Jahrhunderts alles
andere als angemessen. Was in jener Zeit dem Einzelnen geschah, geschah der Allgemeinheit, das Besondere galt nur insoweit, als das Allgemeine sich darin spiegelte, und die Vorstellung, daß um des Glückes
zweier Menschen willen die gesamte Welt ringsumher in Trümmer
fallen mußte, hätte den, der so argumentiert hätte, wohl ins Tollhaus
gebracht. Die moralisch legitimierte Weltordnung ließ keine Nischen,
Aussonderungen oder Einzelvergünstigungen zu; die brüderlichmenschheitliche Gesinnung umfaßte jeden, und das bedeutete auch:
Altruismus war eine selbstverständliche Forderung an jeden, das Wohlleben eines Einzelnen auf Kosten anderer in jedem Fall verwerflich.
Eben dieser Grundsatz, der zu den Selbstverständlichkeiten des aufgeklärten Zeitalters gehörte, ist eindeutig verletzt. Kleist ist hier wie auch
in seinen anderen Erzählungen ein aufgeklärter Moralist. Was Jeronimo
und Josephe über das Unglück der Welt und über ihr eigenes Glück
dachten, kündete eine neue Zeit an, in der das Allgemeine keine Rolle
mehr spielte oder doch nur als Möglichkeit gesehen wurde, dem Einzelnen zum eigenen Glück zu verhelfen. Solch eine Welt konnte nicht
Bestand haben – sie durfte auch nicht Bestand haben. Und so überlebten die, die zu überleben hofften, nicht – auf welche Weise sie auch zu
Tode kamen, sie kamen zu Tode, und mit ihnen war ihre Hoffnung auf
ein Privatglück ein für allemal begraben.
Das Ende eines aufgeklärten Denkens, das Grenzen überschritten
hatte, die nicht überschritten werden durften. Glück konnte eingefordert werden – aber nicht auf Kosten anderer. Und die ungeheuerlichen
Dimensionen des Untergangs einer ganzen Stadt standen in keinem
Verhältnis zum eingeforderten Glück zweier Einzelner. Das Aufklärungsdenken also auf absurde Weise mißbraucht, der Untergang
vieler gerechtfertigt, ein Sinn in die Katastrophe hineinkonstruiert, der
sich nur dann ergab, wenn man Ursache und Wirkung so sah, wie Josephe und Jeronimo: da war das aufgeklärte Denken geradezu an einen
Abgrund geraten. Kein anderer als Kleist bestätigt diese Lesart. In seinem Aufsatz, den sichern Weg des Glücks zu finden, heißt es unmißverständlich:
Wenn das Glück nur allein von äußeren Umständen, wenn es also vom Zufall
abhinge, mein Freund, und wenn Sie mir auch davon tausend Beispiele aufführten; was mit der Güte und Weisheit Gottes streitet, kann nicht wahr sein.
158
Kleists „Das Erdbeben in Chili“
Der Gottheit liegen die Menschen alle gleich nahe am Herzen, nur der bei
weiten kleinste Teil ist indes der vom Schicksal begünstigte, für den größten
wären also die Genüsse des Glücks auf immer verloren. Nein, mein Freund, so
ungerecht kann Gott nicht sein, es muß ein Glück geben, das sich von den
äußeren Umständen trennen läßt, alle Menschen haben ja gleiche Ansprüche
darauf, für alle muß es also in gleichem Grade möglich sein (302).
Und es heißt noch einmal unmißverständlich: „Auch scheint es, als ob
die Summe der glücklichen und der unglücklichen Zufälle im ganzen
für jeden Menschen gleich bleibe; [...] wir werden unser Glück zum Teil
in der Gründung des Glücks anderer finden, und andere bilden, wie wir
bisher selbst gebildet worden sind“ (309f.).
*
Aber Kleists Erzählung ist ja nicht nur auf zwei Menschen hin orientiert, sondern hat die Gemeinschaft der Menschen in Chili, also die
Gesellschaft, ebenfalls als Thema. Das Erdbeben hat nicht nur die Rettung der beiden Liebenden ermöglicht, sondern auch für wenige Stunden eine neuen Gesellschaft erstehen lassen, eben jene Gesellschaft im
Tal, als ob es das Tal von Eden wäre. In jenem Tal stellt sich eine klassenlose Gesellschaft her, die der menschliche Geist der Hilfsbereitschaft, des Mitleids, der tätigen Nächstenliebe wie eine schöne Blume
aufblühen läßt: die Menschheit als eine große Familie. Auch das war
eine Folge des Erdbebens. Im Sinne unserer Deutung aber konnte sie
keinen Bestand haben: da war etwas mißbraucht worden, was nicht
hätte mißbraucht werden dürfen. Und so werden Jeronimo und Josephe noch einmal verurteilt, der „geschärfteste Prozeß“, den man
Jeronimo und Josephe gemacht hatte, wird ihnen noch einmal gemacht,
und zwar in der Predigt des Chorherrn, und die Enthauptung, zu der
Josephe verurteilt worden war, wird durch den Keulenschlag des Schusters doch noch vollzogen; und nicht weniger entgeht Jeronimo seinem
– selbstgesprochenen – Urteil. Die „ungeheure Wendung der Dinge“ in
der Vorgeschichte wiederholt sich in der Geschichte selbst: wie sich das
Geschehen damals langsam zugespitzt hatte, so gerät es hier erneut in
einen Strudel, aus dem es kein Entkommen gibt. Der „rasende Haufen“
auf dem „erfüllten Vorplatz“ gleicht den Gefängnismauern, die nicht zu
durchbrechen sind. Und so nimmt das Verhängnis denn doch noch
seinen Lauf. Der Traum vom Einzelglück auf Kosten anderer ist ausge-
Kleists „Das Erdbeben in Chili“
159
träumt, auch der Menschheitstraum von einer neuen Gesellschaft, wie
er nach der Erdbebenkatastrophe für kurze Zeit geträumt worden war.
*
Kleist hat mehrere Schilderungen von Erdbeben gekannt. Er dürfte
Voltaires Bericht im 5. Kapitel seines Romans Candide oder der Optimismus (deutsch 1776) gelesen haben, auch Kants Geschichte und Naturbeschreibung der merkwürdigsten Vorfälle des Erdbebens, welches an dem Ende des
1755sten Jahres einen großen Theil der Erde erschüttert hat, von 1756. Kant
hatte geschrieben:
Alles, was die Einbildungskraft sich Schreckliches vorstellen kann, muß man
zusammennehmen, um das Entsetzen sich einigermaßen vorzubilden, darin
sich die Menschen befinden müssen, wenn die Erde unter ihren Füßen bewegt
wird, wenn alles um sie her einstürzt, wenn ein in seinem Grunde bewegtes
Wasser das Unglück durch Überströmungen vollkommen macht, wenn die
Furcht des Todes, die Verzweifelung wegen des völligen Verlusts aller Güter,
endlich der Anblick anderer Elenden den standhaftesten Mut niederschlagen. 10
Und hatte damals hinzugesetzt:
Eine solche Erzählung würde rührend sein, sie würde, weil sie eine Wirkung
auf das Herz hat, vielleicht auch eine auf die Besserung desselben haben können. Allein ich überlasse diese Geschichte geschickteren Händen. Ich beschreibe hier nur die Arbeit der Natur, die merkwürdigen natürlichen Umstände, die die schreckliche Begebenheit begleitet haben, und die Ursachen derselben.
Kleist könnte sich entschlossen haben, diese „Geschichte“ zu schreiben, Kants Vorschlag also in die Wirklichkeit umzusetzen. Ihn dürfte
vor allem interessiert haben, daß das Erdbeben, wie Kant sagte, auch
eine Wirkung auf das Herz hat, auf die Besserung des Menschen hin
erlebt wird. Aber es gab auch noch andere Erdbebenbeschreibungen,
die Kleist wohl gekannt hat, auch wenn sie sich nicht auf das Erdbeben
in Chili, sondern auf das große Lissaboner Erdbeben bezogen: so ein
Buch mit dem Titel Beschreibung des Erdbebens, welches die Hauptstadt Lissabon und viele andere Städte [...] umgeworfen (Danzig 1756). Vielleicht hat er
auch den Stoff aus einem Schauerroman mit dem Titel The Monk (1796;
als Der Mönch, 1797) von Matthew G. Lewis benutzt: dort ist von der
10 Kant’s gesammelte Schriften (wie Anm. 4), Bd. I: Vorkritische Schriften I. 1747-1756,
Berlin 1910, S. 434.
160
Kleists „Das Erdbeben in Chili“
Liebesgeschichte einer Nonne die Rede und einer Rebellion in einer
Kirche. Das Erdbeben von Lissabon war ein Naturereignis gewesen,
das vor allem die philosophische Auseinandersetzung um den Sinn
eines Erdbebens beflügelt hatte. Voltaires Poème sur le désastre de Lisbonne
löste eine große Diskussion aus; Rousseau hat sich mit seinem Brief an
Herrn von Voltaire (deutsch 1779) daran beteiligt.
Das Erdbeben von Lissabon machte einen Strich durch die Rechnung derer, die glaubten, daß diese Welt die beste aller möglichen Welten sei. Das hatte Leibniz behauptet in seinen Essais de théodicée sur la
bonté de Dieu, la liberté de l’homme et l’origine du mal. Und der Aufklärungsglaube war nicht nur durch das Erdbeben von Lissabon erschüttert
worden, sondern nicht weniger durch die Französische Revolution von
1789. Liest man Kleists Erzählung auch in diesem Sinne allegorisch,
bekommt sie eine neue Dimension. Dafür spricht manches; es gab
Zeitgenossen Kleists, die diese Revolution ebenfalls schon als Erdbeben beschrieben hatten. So hatte Wilhelm Heinse 1792 in sein Tagebuch notiert: „Das bürgerliche Gebäude befindet sich bis dato noch in
einem Erdbeben; ein Stück fällt nach dem andern, und was neu gebaut
wird, und worden ist, desgleichen. Alles muß dem Erdboden gleich
gemacht werden; alles nackter Mensch werden“.11 Kritisch hatte Jean
Paul in seinem Freiheits-Büchlein 1804 geschrieben:
Das stumme Frankreich bekam plötzlich eine Zunge, wie der stumme Sohn
des Krösus; nur anders, theils vor einem Morde des Vaterlands, theils zu einem
eines Vaterlandsvaters. Aber desto schlimmer, wenn die ungestüme Nothwendigkeit spricht, nicht die lange sanfte Freiheit; wenn nicht der fromme Kirchner, sondern ein Erdbeben die Glocken läutet. 12
Das Erdbeben ist auch in Kleists Erzählung als Chiffre für die Französische Revolution zu deuten, gleichsam als Allegorie. Kleist war bekanntlich ein Kritiker der Französischen Revolution, oder genauer gesagt: er war ein Kritiker der Revolutionsfolgen. Was er im Juli 1801 in
Paris erlebte, war alles andere als angetan, für das neue Frankreich
Sympathie zu empfinden. Er schrieb am 18. Juli an Karoline von
Schlieben:
Wilhelm Heinse: Sämmtliche Werke, hg. von Carl Schüddekopf, Bd. 8/II: Aphorismen, hg. von Albert Leitzmann, Leipzig 1925, S. 426.
12 Jean Paul: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe, hg. von der Preußischen
Akademie der Wissenschaften, Bd. I/12: Freiheits-Büchlein, Weimar 1937, S. 38.
11
Kleists „Das Erdbeben in Chili“
161
Seit 8 Tagen sind wir nun hier in Paris, und wenn ich Ihnen alles schreiben
wollte, was ich in diesen Tagen sah und hörte und dachte und empfand, so
würde das Papier nicht hinreichen, das auf meinem Tische liegt. Ich habe dem
14. Juli, dem Jahrestage der Zerstörung der Bastille beigewohnt, an welchem
zugleich das Fest der wiedererrungenen Freiheit und das Friedensfest gefeiert
ward. Wie solche Tage würdig begangen werden könnten, weiß ich nicht bestimmt; doch dies weiß ich, daß sie fast nicht unwürdiger begangen werden
können, als dieser. Nicht als ob es an Obelisken und Triumphbogen und Dekorationen, und Illuminationen, und Feuerwerken und Luftbällen und Kanonaden gefehlt hätte, o behüte. Aber keine von allen Anstalten erinnerte an die
Hauptgedanken, die Absicht, den Geist des Volks durch eine bis zum Ekel
gehäufte Menge von Vergnügen zu zerstreuen, war überall herrschend […]
(664).
Und am 15. August 1801 an Wilhelmine von Zenge:
Wohin das Schicksal diese Nation führen wird –? Gott weiß es. Sie ist reifer
zum Untergange als irgend eine andere europäische Nation. Zuweilen, wenn
ich die Bibliotheken ansehe, wo in prächtigen Sälen und in prächtigen Bänden
die Werke Rousseaus, Helvetius’, Voltaires stehen, so denke ich, was haben sie
genutzt? Hat ein einziges seinen Zweck erreicht? Haben sie das Rad aufhalten
können, das unaufhaltsam stürzend seinem Abgrund entgegeneilt? 13
Kleists Kommentare sind eindeutig. Und im allegorischen Sinne eindeutig ist auch das, was seine Geschichte vom Erdbeben in Chili zu
erzählen weiß. Wer das Erdbeben nur als Naturkatastrophe betrachtet,
hat den allegorischen Charakter des Katastrophenberichts nicht erkannt. Das eigentliche Erdbeben fand in Paris statt, im Jahre 1789.
Auch die Französische Revolution hatte zu den schönsten Hoffnungen
Anlaß gegeben. Der Menschheitstraum als Traum des 18. Jahrhunderts
von einer neuen Gesellschaft, in der wirklich Freiheit, Gleichheit und
Brüderlichkeit herrschen, schien lebendig zu werden. Es war die Gesellschaft, die ihn zerstörte.
Einen Vizekönig von Chili gab es nicht mehr, der Erzbischof war erschlagen worden, nahezu alle Kirchen eingestürzt, auf den Feldern aber
„Menschen von allen Ständen“, eine ideale Menschengesellschaft, die
das allgemeine Unglück zu einer einzigen großen Familie gemacht hatte. Der „Umsturz aller Verhältnisse“ hatte zu einer „Summe des allgemeinen Wohlseins“ geführt, und im Tal, als ob es das Tal von Eden
gewesen wäre, wird ein Gesellschaftstraum wahr: ein Ausnahmezu13
Ebd., S. 681.
162
Kleists „Das Erdbeben in Chili“
stand, ein erreichtes Ideal, die aufgeklärten Vorstellungen von einer
freien Gesellschaft freier Menschen nach der Katastrophe verwirklicht.
Aber was dann kommt, ist die Restauration; die zerstörerischen Kräfte,
die die Welt vor dem Erdbeben beherrscht hatten, setzen sich wieder
durch, und wenn der Prediger von Sodom und Gomorrha spricht und
von den Fürsten der Hölle, dann weiß der aufmerksame Leser: Sodom
und Gomorrha, das war nicht das Geschehen im Klostergarten, sondern Sodom und Gomorrha finden hier statt, in der Kathedrale, und
die Fürsten der Hölle: hier sind sie versammelt. Es will nicht zufällig
scheinen, daß die Zerstörung der schönen Idylle in der Kirche an einem
Nachmittag beginnt und daß schließlich von der Finsternis der einbrechenden Nacht die Rede ist. Es ist die Nacht der Restauration, die böse
Umkehr der Französischen Revolution. Damit war auch der Traum von
der besten aller möglichen Welten ein für allemal ausgeträumt.
Liest man in Kleists Politischen Schriften des Jahres 1809, was er über die
Deutschen gesagt hat, dann wäre nicht undenkbar, daß er mit seiner
Geschichte vom Erdbeben in Chili kurz zuvor ein warnendes Beispiel,
was deutsche Verhältnisse angeht, hat aussprechen wollen. Im Katechismus der Deutschen werden jene gerühmt, die ihrer Freiheit wegen sterben
und jene verdammt, die als Sklaven leben (360). Will er hier sagen, wie
es um eine ideale Gesellschaft bestellt sein müßte? Die Einleitung zur
Zeitschrift Germania spiegelt seinen ungebrochenen Patriotismus –
Diese Zeitschrift soll der erste Atemzug der deutschen Freiheit sein. Sie soll
alles aussprechen was, während der drei letzten, unter dem Druck der Franzosen, verseufzten Jahre, in den Brüsten wackerer Deutscher, hat verschwiegen
bleiben müssen: alle Besorgnis, alle Hoffnung, alles Elend und alles Glück.
[…] Jetzt, oder niemals, ist es Zeit, den Deutschen zu sagen, was sie ihrerseits
zu tun haben […] (375f.)
Die Schrift Was gilt es in diesem Kriege?, von Kleist gedacht, um seine
Landsleute zu einem Befreiungskrieg zu motivieren, beschwört ein
Ideal der „Gemeinschaft“, wie es in diesen Jahren nicht selten vertreten
wurde, unter anderem auch von Fichte und in anonymen antinapoleonischen Flugblättern und Propagandaschriften.
Eine Gemeinschaft gilt es, deren Wurzeln tausendästig, einer Eiche gleich, in
den Boden der Zeit eingreifen; deren Wipfel, Tugend und Sittlichkeit überschattend, an den silbernen Saum der Wolken rührt; deren Dasein durch das
Dritteil eines Erdalters geheiligt worden ist. Eine Gemeinschaft, die, unbekannt mit dem Geist der Herrschsucht und der Eroberung, des Daseins und
Kleists „Das Erdbeben in Chili“
163
der Duldung so würdig ist, wie irgend eine; die ihren Ruhm nicht einmal denken kann, sie müßte denn den Ruhm zugleich und das Heil aller übrigen denken, die den Erdkreis bewohnen; deren ausgelassenster und ungeheuerster
Gedanke noch, von Dichtern und Weisen, auf Flügeln der Einbildung erschwungen, Unterwerfung unter eine Weltregierung ist, die, in freier Wahl, von
der Gesamtheit aller Brüder-Nationen, gesetzt wäre. Eine Gemeinschaft gilt es,
deren Wahrhaftigkeit und Offenherzigkeit, gegen Freund und Feind gleich
unerschütterlich geübt […] (378).
Eine hochidealisierte Gemeinschaft als Wunschbild eines neuen Staates:
die dem Menschengeschlecht nichts, in dem Wechsel der Dienstleistungen,
schuldig geblieben ist; die den Völkern, ihren Brüdern und Nachbarn, für jede
Kunst des Friedens, welche sie von ihnen erhielt, eine andere zurückgab; eine
Gemeinschaft, die, an dem Obelisken der Zeiten, stets unter den Wackersten
und Rüstigsten tätig gewesen ist: ja, die den Grundstein desselben gelegt hat,
und vielleicht den Schlußblock darauf zu setzen, bestimmt war. […] Eine
Gemeinschaft mithin gilt es, die dem ganzen Menschengeschlecht angehört.
(378f.)
Kleist hat in diesen kleinen politischen Schriften ein eigenes Pathos
entwickelt. Sie sind Agitationsliteratur, gegen Frankreich gerichtet, aber
vor allem auch auf die Deutschen gemünzt. Wenn man sich entschließt,
Das Erdbeben in Chili politisch zu lesen, dann wird man folgern dürfen:
nicht nur die Wirkungsgeschichte der Französischen Revolution, sondern auch der Weg in die Restauration ganz allgemein wird in Kleists
Novelle beschrieben, während die kleine Lebensgemeinschaft in jenem
Tal einerseits zwar ein Wunschbild bleibt, andererseits aber wenigstens
entfernt auch das Wunschbild eines vereinten und freien Deutschland
sein könnte. Und für solch eine politische Lesart spricht manches.
Schiller, von dem Kleist so unendlich viel übernommen hat, war noch
der Meinung gewesen, daß eine ästhetische Erziehung den schönen
Staat, die reine Republik garantieren könne. Ungefähr zehn Jahr später
hatte sich das als Illusion erwiesen. Die Folgen der Französischen Revolution hatten widerlegt, was die Revolution selbst als Möglichkeit
hatte erscheinen lassen. Ein Menschheitstraum war ausgeträumt.
Wir haben eine letzte Lücke zu schließen: wie paßt die Liebesgeschichte zur politischen Revolution? Gemeinsam ist ihnen, daß sie beide scheitern. Aber nicht allein das verbindet sie: in der Privatgeschichte
scheitern die zunächst Davongekommenen, weil sie ihr Privatglück auf
Kosten des Unglücks vieler erleben, und wir haben gesehen: das darf
164
Kleists „Das Erdbeben in Chili“
nicht sein. Die Französische Revolution scheiterte, weil sich auch dort
Egoismus, der Geist der Herrschsucht und der Eroberung durchsetzten.
Und der eigene Traum vom Glück? Auch Kleist hat ihn geträumt.
Wie hatte es im Brief an seinen Lehrer Martini geheißen? „Ein Traum
kann diese Sehnsucht nach Glück nicht sein, die von der Gottheit
selbst so unauslöschlich in unserer Seele erweckt ist und durch welche
sie unverkennbar auf ein für uns mögliches Glück hindeutet. Glücklich
zu sein ist ja der erste aller unsrer Wünsche […]“ (477). Aber er wußte
zu der Zeit, als die Erzählung vom Erdbeben in Chili entstand, auch
schon um dessen Vergeblichkeit: Sein Lebenstraum war, wie der
Menschheitstraum, ausgeträumt.
Was blieb, was blieb Kleist selbst? Er wußte schon 1799: „Dem einen Ruhm, dem andern Vergessenheit, dem einen ein Szepter, dem
andern ein Wanderstab!“ (478). Aber das Erdbeben hatte hier wenigstens einen Augenblick des Glücks beschert, jene „schönste Nacht“
ermöglicht, zeitlos und unwirklich, „wie nur ein Dichter davon träumen
mag“ (149) – im Widerspruch zu allem, was vorher geschehen war und
zu dem, was darauf noch geschehen sollte. „Das Leben nennt der Derwisch eine Reise/ Und eine kurze“ spricht der Prinz von Homburg,
„Von zwei Spannen/ Diesseits der Erde nach zwei Spannen drunter“.
Das Glück nur ein Dichtertraum, und nur ein kurzer. Auch er was ausgeträumt. Aber einmal war er geträumt worden. „Was ist Wahrheit“?
fragt Pilatus. Er wußte es nicht. Aber es gibt ja auch eine Wahrheit der
Träume. Daß sie irgendwann ausgeträumt sind, widerlegt sie nicht.
K LE I S T S „ S C HN E L LE R S T I L “.
Z U R M O D E RN I T Ä T S E I N E S S C H RE I B E N S
Achilles hatte einen schlechten Tag. Als er sich Penthesilea zur Gefangenen machen will, hat er sich gräßlich verrechnet: seine Geliebte enthüllt sich als eine Mörderin. Die rasende Penthesilea hebt ihren Bogen
auf, zielt und schießt, jagt ihm den Pfeil durch den Hals – aber damit
nicht genug. Wir lesen:
Jetzt gleichwohl lebt der Ärmste noch der Menschen,
Den Pfeil, den weit vorragenden, im Nacken,
Hebt er sich röchelnd auf, und überschlägt sich,
Und hebt sich wiederum und will entfliehn;
Doch, hetz! schon ruft sie: Tigris! hetz, Leäne!
Hetz, Sphinx! Melampus! Dirke! Hetz, Hyrkaon!
Und stürzt – stürzt mit der ganzen Meut, o Diana!
Sich über ihn, und reißt – reißt ihn beim Helmbusch,
Gleich einer Hündin, Hunden beigesellt.1
Sehr viel dramatischer kann ein Bericht über die Hetzjagd auf den zu
Tode Verwundeten kaum ausfallen.
Es war, wie wir etwas später zu unserer Verwunderung erfahren,
gleichsam ein Mord aus Versehen. Der arglose Achill, der sich Penthesilea ergeben hatte und von ihr ermordet wurde, hat offenbar im Zustand unverantwortlichen Leichtsinns gehandelt, sie hingegen im Zustand der Unzurechnungsfähigkeit. Sie wird nachträglich über ihre Tat
aufgeklärt, und sie entgegnet:
Was! Ich? Ich hätt ihn –? Unter meinen Hunden –?
Mit diesen kleinen Händen hätt ich ihn –?
Und dieser Mund hier, den die Liebe schwellt –?
Ach, zu ganz anderm Dienst gemacht, als ihn –!
Die hätten, lustig stets einander helfend,
Mund jetzt und Hand, und Hand und wieder Mund –?2
1
Heinrich von Kleist: Sämtliche Werke und Briefe, hg. von Helmut Sembdner, 2 Bde.,
München 71977 (= SW), Bd. 1, S. 413.
2
SW 1, S. 424f.
166
Kleists schneller Stil
Ja, so war es. Penthesilea ist noch nicht recht davon überzeugt, daß das,
was ihr vorgehalten wird, wirklich geschehen ist. Sie hält alles für Lüge,
wundert sich, daß Achilles sich nicht gewehrt habe, bekommt als Erklärung, daß er sich ihr, weil er sie liebte, als Gefangener habe ergeben
wollen, und dann folgt ein kurzer Wortwechsel zwischen Penthesilea,
der Oberpriesterin und Prothoe:
PENTHESILEA. So, so –
DIE OBERPRIESTERIN. Du trafst ihn –
PENTHESILEA.
Ich zerriß ihn.
PROTHOE. O meine Königin!
PENTHESILEA.
Oder war es anders?
MEROE. Die Gräßliche!
PENTHESILEA.
Küßt ich ihn tot?
DIE ERSTE PRIESTERIN.
O Himmel!
PENTHESILEA. Nicht? Küßt ich nicht? Zerrissen wirklich? sprecht?
DIE OBERPRIESTERIN. Weh! Wehe! ruf ich dir. Verberge dich!
Laß fürder ewge Mitternacht dich decken!
PENTHESILEA. – So war es ein Versehen. Küsse, Bisse,
Das reimt sich, und wer recht von Herzen liebt,
Kann schon das eine für das andre greifen.3
Dann folgt die Szene an der Leiche des Achill: Penthesilea küßt ihn;
weil sie der raschen Lippe Herr nicht sei, so habe sie sich bloß versprochen – jetzt aber sage sie ihm deutlich, wie sie es meine: „Dies, du Geliebter, wars, und weiter nichts“.4 Dann folgt das „Schafft sie hinweg!“
der Oberpriesterin, denn sie ist offensichtlich endgültig dem Irrsinn
verfallen, und was die Dramatik des Folgenden angeht, so steht die der
kurz rekapitulierten Szene zuvor nicht nach. Sie folgt Achilles in den
Tod.
Die Ereignisse überschlagen sich, oder besser: der Bericht über das
Geschehen scheint sich zu überschlagen. In abgerissener Kürze wird
berichtet, was da vorgegangen sein muß, und zur Beschleunigung des
Ganzen trägt bei, daß wir zweimal hören, was geschehen ist: einmal als
Bericht, dann quasi als Rechenschaftsbericht. Die Tat einer Wahnsinnigen offensichtlich, und wenn wir auch mitbekommen, was da passierte,
so wirken beide Berichte doch eigentümlich lückenhaft; sie sparen aus,
sind eigentlich eine Reihe von Bildeindrücken, so wie denn überhaupt
3
4
SW 1, S. 425.
SW 1, S. 426.
Kleists schneller Stil
167
das Visuelle überwiegt. Aber dieser Blick ist kein ruhiger Blick über das
Geschehene hin; es geht in der Schilderung hochdramatisch zu, und das
Ganze wird dadurch noch verwirrender, daß an den Bericht vom Mord
der von der Hetzjagd der Meute angeschlossen wird, und was passiert,
als die Hunde über Achill herfallen, wird in ganzen zweieinhalb Zeilen
berichtet. Wir hören noch, daß die Hunde den rechten Teil der Brust
zerreißen, Penthesilea den linken – und dann gibt es Brüche; Meroe
überspringt, was danach geschah, berichtet in der folgenden Zeile erst
wieder, daß Penthesilea Blut von Mund und Händen herabgeträuft sei,
und dann kommt, was nur zu verständlich ist, eine „Pause voll Entsetzen“.
Dies alles ist zweifellos das, was man als „schnellen Stil“ bezeichnen
könnte. Es geht rasant zu in diesen sich wiederholenden Berichten,
geradezu sprunghaft, auch wenn man nur beim genauen Lesen merkt,
wieviel übersprungen ist; die Bilder drängeln sich beinahe ineinander,
drohen sich zu überlagern – und wenn sie das nicht tun, so nur, weil
der Bericht auf das Nacheinander verpflichtet ist, es sei denn, mehrere
sprächen gleichzeitig oder so gut wie gleichzeitig – was hier und da
auch geschieht, aber die Dramatik der Ereignisse nicht etwa bremst,
sondern nur noch stärker befördert. Wir sehen uns einer Bildtechnik
konfrontiert, die manchmal geradezu bruchstückhaft wirkt; abgerissene
Wörter, verstümmelte Sätze, kaum etwas ins Einzelne ausgemalt, das
Ganze eher ein Feuerwerk rhetorischer Raketen, dabei alles aufs äußerste verknappt: wir müssen einen Teil unserer Imagination und unserer Verständniskraft mitinvestieren, sonst bliebe das Geschehen in
seinem inneren Zusammenhang auch für uns so brüchig und abrupt,
wie das alles auf den ersten Blick zu lesen ist. Ob sich auch das Lesetempo angesichts des „schnellen Stils“ erhöht, läßt sich natürlich nicht
sagen – aber dieser Text reizt zum schnellen Lesen, denn die Dynamik
der Sätze teilt sich eigentlich unwillkürlich dem Leser (oder dem Hörer)
mit, und man kann sich nicht vorstellen, daß das alles langsam gesprochen wäre.
Unser Beispiel mag als erste und vorläufige Charakteristik einer nun
allerdings hochdramatischen Szene dienen, und wollte man diesen Stil
als „schnellen Stil“ Kleists charakterisieren, könnte man sofort einen
Einwand erheben, der nur zu naheliegt: hier spreche oder schreibe der
Dramatiker, der in seine Vorgänge Tempo hineinbringen möchte. Einen solchen Einwand kann man schlecht widerlegen, aber er beweist
168
Kleists schneller Stil
auch noch nicht viel. Und sicherlich nicht das Gegenteil: daß der
„schnelle Stil“ nichts anderes sei als der Normalstil eines Dramatikers,
der von kriegerischen Vorgängen zu berichten habe, denn das kann
man, wie Schillers Wallenstein mit dessen ewigem Zaudern und Zögern
lehrt, auch ganz anders machen. Es kommt hinzu, daß die Dramatik
der äußeren Vorgänge einer Seelendramatik entspricht, und betrachten
wir diese, wird das abrupt, nur unzusammenhängend Berichtete, ja
kaum Nachvollziehbare noch deutlicher – in welchem Ausmaß, dokumentieren die auf der Bühne Beteiligten selbst, denn sie verstehen so
gut wie nichts mehr und halten für Wahnsinn, was sich als psychischer
Reflex Penthesileas abspielt. Das ist es wohl auch, aber es wird kein
Versuch einer Erklärung gemacht, sondern es bleibt bei der Beteuerung
der Unverständlichkeit des Geschehens, und das alles gibt dem Ganzen
noch mehr Rätsel auf, als der Zuschauer oder Leser im Augenblick zu
lösen vermag – hinterher freilich wird ihm klar, was da vorgegangen
sein muß. Aber es ist viel zu viel ausgespart, als daß er das im Taumel
der Worte und Sätze sofort mitvollziehen könnte – es sei denn, er befleißige sich auch eines „schnellen Stiles“ beim Hören oder Lesen.
Kurzum: mit den Erfordernissen einer dramatischen Sprache läßt sich
das alles allein nicht erklären; hier ist jemand am Werk, der nur das
Nötigste an Informationen gibt, der, mehr als das, die gleiche Geschichte zweimal, aus sehr unterschiedlichen Blickwinkeln, erzählt, der
zugleich andeutet, daß da noch eine dritte Ebene ist, nämlich das Seelendrama, das dahinter abläuft – und so oft Kleist auch in den Vergleich verfällt, den man im Erzählstil einen epischen Vergleich zu nennen pflegt, so sind die Vergleiche doch meistens auf ein oder zwei Zeilen beschränkt, wirbeln gleichsam neue Farben auf, die in das Gemälde
neue Vielfalt hineinbringen. Es bleibt schließlich als Ganzes der Eindruck eines außerordentlich rapiden Erzählens, eines sehr raschen Ablaufs von Bildern und Vorgängen, die gleichsam nur angedeutet werden; nichts wird zu Ende gebracht, keine Ausführlichkeit, schon gar
nicht bei psychischen Reaktionen oder Intentionen: uns bleibt nur in
Erinnerung, daß sie, Penthesilea, ihren Pfeil in den Hals des Achill geschossen hat und daß die Hunde, zusammen mit ihr, ihn zerreißen. Wir
wollen Kleist dankbar sein, daß er letzteres nicht in aller Ausführlichkeit beschrieben hat. Das Bild der Penthesilea, der das Blut von Mund
und Händen herabläuft, reicht aus.
Kleists schneller Stil
169
Kleists Hermannsschlacht ist voll weiterer Beispiele für den „schnellen
Stil“. Der Auftritt von Teuthold und den zwei anderen Männern im
fünften Auftritt des vierten Aktes könnte es belegen. Es gibt eine Reihe
anderer Szenen, die das gleiche demonstrieren. Der fünfte Auftritt des
fünften Aktes etwa bietet ein rasches Gespräch zwischen Varus, dem
ersten und dem zweiten Feldherrn. Es lautet:
VARUS. Sieh da!
ERSTER FELDHERR. Beim Jupiter, dem Gott der Welt!
ZWEITER FELDHERR. Was war das?
VARUS.
Wo?
ZWEITER FELDHERR. Hier, wo der Pfad sich kreuzet!
VARUS. Saht ihr es auch, das sinnverrückte Weib?
ERSTER FELDHERR. Das Weib?
ZWEITER FELDHERR.
Ob wirs gesehn?
VARUS.
Nicht? – Was wars sonst?
Der Schein des Monds, der durch die Stämme fällt?
ERSTER FELDHERR. Beim Orkus! Eine Hexe! Halt’ sie fest!
Da schimmert die Laterne noch!
VARUS niedergeschlagen.
Laßt, laßt!
Sie hat des Lebens Fittich mir
Mit ihrer Zunge scharfem Stahl gelähmt!5
Das ist ein überaus rasches Frage- und Antwortspiel, die Zwischenfragen der Feldherren zerstören den Redefluß eines kontinuierlichen Berichtes, sie verunsichern alles, und der rhetorisch schnellen Bewegung
entspricht am Schluß der kurzen Szene der Entschluß, der Hexe rasch
nachzugehen und sie festzuhalten – eine Bewegung, die nur von Varus’
niedergeschlagenen Worten gestoppt wird: „Sie hat des Lebens Fittich
mir/ Mit ihrer Zunge scharfem Stahl gelähmt!“. Schnelligkeit wird hier
durch das rasche Gespräch erreicht, aber zugleich wird die Wirklichkeit
diaphan: am Ende ist den Beteiligten unklar, ob es die Laterne der Hexe
war oder der Schein des Mondes, der durch die Stämme fällt. Eines
mag an dieser kleinen Szene besonders deutlich werden: daß ein schneller Stil häufig konform geht mit einer Auflösung der Wirklichkeit, mit
einer Doppelbödigkeit, die dem Leser hier und da den festen Boden
unter den Füßen wegzuziehen scheint.
Alle Dramen Kleists sind voll von Beispielen des „schnellen Stils“.
Zuweilen ist es schon die Mehrstimmigkeit, die in eine dramatische
5
SW 1, S. 604.
170
Kleists schneller Stil
Handlung, in eine dramatische Situation Tempo hineinbringt. Dann
werden die Satzgefüge aufgesprengt, und manche Szene wird so zu
einem schnell geführten Verhör. Als Dorfrichter Adam im Zerbrochenen
Krug vom Gerichtsrat Walter ermahnt wird, nicht vor der Session mit
den Parteien zu sprechen, da ist er nicht bei der Sache, sondern denkt
an die verlorengegangene Perücke. Schreiber Licht schreckt ihn auf und
fragt ihn:
„Herr Richter! Seid Ihr –?“
– und Adam entgegnet:
LICHT.
ADAM:
LICHT.
ADAM.
LICHT.
ADAM.
LICHT.
Ich? Auf Ehre nicht!
Ich hatte sie behutsam drauf gehängt,
Und müßt ein Ochs gewesen sein –
Was?
Was?
Ich fragte – !
Ihr fragtet, ob ich – ?
Ob Ihr taub seid, fragt ich.
Dort Seiner Gnaden haben Euch gerufen.
Ich glaubte – ! Wer ruft?
Der Herr Gerichtsrat dort.6
Was sich vordergründig als Zustand der Verwirrtheit bei Dorfrichter
Adam abzeichnet, enthüllt sich bei näherem Zusehen als sprachlich
hochartistisches Spiel, das auf Beschleunigung des dramatischen Vorgangs aus ist. Die Sätze sind reduziert auf einzelne Wörter, aber es ist
nicht in erster Linie das zerstreute Unverständnis des Dorfrichters, das
hier an den Pranger gestellt werden soll, es ist die Beschleunigung der
Sprache in dem Augenblick, als der Vorgang selbst ins Zögern zu geraten scheint, weil Dorfrichter Adam nicht bei der Sache ist. Der kurze
Dialog gewinnt noch dadurch an Schnelligkeit, daß mit Wiederholungen gespielt wird. Auf das fragende „Was?“ von Schreiber Licht antwortet Adam seinerseits mit einem fragenden „Was?“, und auf Lichts
Antwort „Ich fragte“ entgegnet Adam „Ihr fragtet, ob ich – ?“. Daraus
zu schließen, daß sich das Spiel verlangsame, wäre irrig; die Verdoppelungen verdoppeln gleichsam auch das szenische Tempo, zumal Schreiber Licht alles daransetzt, Dorfrichter Adam aus seinen wirren Rückerinnerungen aufzurütteln. Der Stil wirkt um so schneller, als zuvor Ge6
SW 1, S. 196.
Kleists schneller Stil
171
richtsrat Walter nicht in Abbreviaturen spricht, sondern in einem zwar
nicht sonderlich kunstvollen, aber doch ausgewogenen, klaren Satzgefüge. Das Ineinanderstolpern kurzer Ausrufe folgt noch mehrfach in
diesem Drama, etwa dort, wo Frau Marthe aufgefordert wird, sich vor
dem Dorfrichter zu legitimieren – und das „Wes Namens, Standes,
Wohnorts, und so weiter.“ von vornherein ad absurdum geführt wird
durch das „Wer seid Ihr?“ des Dorfrichters und das scheinbare Unverständnis der Frau Marthe, die „Wer – ?“ entgegnet, worauf Adam wiederum sagt: „Ihr“ und Frau Marthe erneut: „Wer ich – ?“ und Adam
dann dieses kleine Rätsel des „Wer“ und „Ihr“ und „Wer ich“ auflöst in
ein „Wer Ihr seid!“.7 Auch das verzögert nicht; diese Persiflage auf das
wohlgeordnete Ausfragen von Amts wegen bringt vielmehr ein Beschleunigungsmoment in die Verhörsituation, wie es sonst schwerlich
zu erreichen gewesen wäre.
Im novellistischen Bereich gibt es Vergleichbares. Ein bekanntes
Beispiel: Das Erdbeben in Chili. Jeronimo steht an einem Wandpfeiler
und befestigt den Strick, mit dem er sich aufhängen will, an einer Eisenklammer im Gesimse, als plötzlich der größte Teil der Stadt mit
einem Gekrache einstürzt, als ob das Firmament zugrunde gehen wolle:
Jeronimo Rugera war starr vor Entsetzen; und gleich als ob sein ganzes Bewußtsein zerschmettert worden wäre, hielt er sich jetzt an dem Pfeiler, an
welchem er hatte sterben wollen, um nicht umzufallen. Der Boden wankte
unter seinen Füßen, alle Wände des Gefängnisses rissen, der ganze Bau neigte
sich, nach der Straße zu einzustürzen, und nur der, seinem langsamen Fall
begegnende, Fall des gegenüberstehenden Gebäudes verhinderte, durch eine
zufällige Wölbung, die gänzliche Zubodenstreckung desselben. Zitternd, mit
sträubenden Haaren, und Knieen, die unter ihm brechen wollten, glitt Jeronimo über den schiefgesenkten Fußboden hinweg, der Öffnung zu, die der Zusammenschlag beider Häuser in die vordere Wand des Gefängnisses eingerissen hatte.8
Da wird zwar kohärent erzählt, aber was passiert, der Untergang einer
ganzen Stadt, wird in drei Sätzen berichtet. Die sind von einiger Länge,
doch man wird nicht sagen können, daß Kleist in Einzelheiten ginge.
Was wir lesen, ist die Beschreibung einer sich akzelerierenden Bewegung, oder genauer: es sind zwei Bewegungen, nämlich die der beiden
einstürzenden Wände aufeinander zu, und wenn sich das auch als
7
8
SW 1, S. 197.
SW 2, S. 145f.
172
Kleists schneller Stil
„langsamer Fall“ vollzogen hat, so wird es doch so erzählt, daß wir im
nächsten Satz bereits der Flucht des Jeronimo folgen. Wir lesen auch
nur vom gegenseitigen Fall der Mauern: wir hören nichts von den Geräuschen, erfahren nichts von der Staubwolke, erblicken nichts von
herabstürzenden einzelnen Steinen, bekommen nichts gesagt über den
Neigungswinkel der einander gleichsam stützenden, abstützenden Mauern, und wenn sich der Untergang dieser Welt auch in syntaktisch
wohlgeordneten Sätzen vollzieht: wir wissen nur Bruchstückhaftes. Wie
es draußen in der Stadt aussieht, hören wir freilich auch:
Hier stürzte noch ein Haus zusammen, und jagte ihn, die Trümmer weit umherschleudernd, in eine Nebenstraße; hier leckte die Flamme schon, in
Dampfwolken blitzend, aus allen Giebeln, und trieb ihn schreckenvoll in eine
andere; hier wälzte sich, aus seinem Gestade gehoben, der Mapochofluß auf
ihn heran, und riß ihn brüllend in eine dritte. Hier lag ein Haufen Erschlagener, hier ächzte noch eine Stimme unter dem Schutte, hier schrieen Leute von
brennenden Dächern herab, hier kämpften Menschen und Tiere mit den Wellen, hier war ein mutiger Retter bemüht, zu helfen; hier stand ein anderer,
bleich wie der Tod, und streckte sprachlos zitternde Hände zum Himmel. 9
Eine rasante Bildfolge, wiederum eine Art erzählerischer Fetzentechnik,
Eindruck neben Eindruck gesetzt, unverbunden alles, Momentaufnahmen, gleichsam ein suggestiver Impressionismus, der sich da breitmacht. Das ist ebenfalls „schneller Stil“, ein Stil ohne erzählerische
Reflexion oder irgendeinen Versuch der Sinngebung. Der Blick geht
rundum: am Ende haben wir so etwas wie eine Totale, aber eine aus
unterschiedlichen, inkohärenten Eindrücken. Sie ergeben ein fragmentarisches Ganzes – und Kleist braucht einen einzigen Satz, um das
Chaos, das sich so vielfältig in Einzelbildern präsentiert, einzufangen.
Natürlich mag das ein besonders prägnantes Beispiel sein – aber nahezu
in jeder Geschichte finden sich vergleichbare Schnelligkeiten im Erzählen, spüren wir etwas von der Atemlosigkeit, mit der hier berichtet wird,
wird gleichsam ohne Punkt und Komma erzählt, obwohl wir ja wissen,
daß Kleist reichlichen Gebrauch davon macht, das Semikolon eingeschlossen. Der „schnelle Stil“ prägt freilich nicht alles – Idyllisches wird
in der Regel langsam erzählt. Aber umso rascher laufen die „schnellen“
Erzählpartien ab.
9
SW 2, S. 146.
Kleists schneller Stil
173
Alles das gilt gesteigert für einige Anekdoten. Das mag insofern auf
den ersten Blick hin verständlich sein, als ja wenig Erzählraum zur Verfügung steht, Vorgänge also gerafft werden müssen, Handlungsabläufe
oft nur skizziert werden können. Aber in manchen Anekdoten ist die
Zeit geradezu thematisiert, so etwa in der Anekdote aus dem letzten preußischen Kriege. Der einzelne preußische Reiter, abgeschnitten von seiner
Armee und das Dorf fast schon von den Franzosen umzingelt, verlangt
nach einem Glas Branntewein und bekommt dort schon gesagt: „will er
machen, Freund, daß er wegkömmt?“.10 Retardierende Momente kommen ins Spiel, wenn der Reiter erklärt, daß er den ganzen Tag noch
nichts genossen habe, aber immer noch nicht weiterreitet, als er eine
ganze Flasche Danziger bekommt. Die Zeit, die er zur Flucht noch zur
Verfügung hat, läuft immer rascher aus, und er bestätigt das noch,
wenn er sagt: „denn ich habe keine Zeit!“. Der Reiter trinkt den
Branntwein gegen die verrinnende Zeit, ein zweites und ein drittes Mal,
und als er dann wirklich aufs dringlichste genötigt wird, doch endlich
loszureiten, verlangt er noch Feuer für seinen Pfeifenstummel. Als die
Franzosen ihn dann tatsächlich umzingelt haben, da übersetzt sich die
im Dialog so sichtbarlich-rasch verfließende Zeit in Handlung, und die
Anekdote endet mit einem langen Satz:
„Bassa Manelka!“ ruft der Kerl, und gibt seinem Pferde die Sporen und
sprengt auf sie ein; spengt, so wahr Gott lebt, auf sie ein, und greift sie, als ob
er das ganze Hohenlohische Korps hinter sich hätte, an; dergestalt, daß, da die
Chasseurs, ungewiß, ob nicht noch mehr Deutsche im Dorf sein mögen, einen
Augenblick, wider ihre Gewohnheit, stutzen, er, mein Seel, ehe man noch eine
Hand umkehrt, alle drei vom Sattel haut, die Pferde, die auf dem Platz herumlaufen, aufgreift, damit bei mir vorbeisprengt, und: „Bassa Teremtetem!“ ruft,
und: „Sieht er wohl, Herr Wirt?“ und „Adies!“ und „auf Wiedersehn!“ und:
„hoho! hoho! hoho!“– –.11
Das Tempo der Zeit spiegelt sich, bei aller syntaktischen Wohlorganisiertheit, gleichsam in der Zerrissenheit des Satzes, der die sich geradezu überstürzende Handlung auf direkte Weise im „schnellen Stil“ dieser
Anekdote ausdrückt.
*
10
11
SW 2, S. 264.
SW 2, S. 265.
174
Kleists schneller Stil
„Schneller Stil“ ist kein terminus technicus der Kleist-Forschung. Aber
er ist ein Begriff aus der Zeit Kleists. Er begegnet etwa bei Leopardi,
der fast noch sein Zeitgenosse ist, in dessen Zibaldone, unter dem 3.
November 1821:12 da ist von der „rapidità“ und der „concisione“ die
Rede, also von der Schnelligkeit und Präzision des Stils; Leopardi
spricht sich bewundernd dafür aus, weil der Seele damit eine Fülle von
gleichzeitigen oder so rasch aufeinander folgenden Ideen präsentiert
werde, daß sie simultan wirken. Das Übermaß von Gedanken oder von
Bildern und gleichzeitigen Empfindungen lasse die Seele schwanken, sie
könne sie kaum alle erfassen und das Einzelne selten völlig ausschöpfen, aber die Geschwindigkeit des Erzählens zeuge von Lebendigkeit
und Energie. Das Erregen simultaner Ideen, so schreibt Leopardi, könne durch ein einzelnes Wort, von einer Gruppe von Wörtern oder von
einem Satzbogen bewirkt werden, aber es könnten auch Wörter oder
Sätze unterdrückt werden, um diesen Effekt zu erreichen. Er hat ein
Beispiel, das weit zurückreicht: Horaz. Der schreibe einen „sehr schnellen Stil“, einen Stil voller Bilder. Dort sei die Seele in dauernder und
lebhafter Bewegung, Horaz lenke brüsk von einer Idee auf eine andere,
die oft weit weg sei, und Leopardi bemerkt dazu: „Das Denken hat viel
zu tun, um alles zu erreichen“. Das ist für Leopardi ein kraftvoller Stil,
kraftvoll deswegen, weil in den Inversionen und Sprüngen und in der
Kühnheit des Satzbaus Leben und Engagement geradezu fühlbar würden. Das Gegenbeispiel: Ovid, ein schwacher Stilist, weil die Bilder aus
einer Menge von Wörtern und Versen bestehen, die das, was gezeigt
werden soll, nur in langen Umschweifen hervorrufen und die deshalb
nichts von Gleichzeitigkeit haben.
Das ist nicht etwa antiquarische Philologie. Italo Calvino hat in seiner zweiten Vorlesung der Lezioni americane auch von „rapidità“ des Stils
gesprochen; die Sei proposte per il prossimo millennio13 wurden postum
erstmals im Mai 1988 veröffentlicht. In einem gut erzählten Text, so
Calvino, gebe es ein Netz von unsichtbaren Beziehungen; Ereignisse
seien gleichsam punktförmig und unabhängig von ihrer wirklichen
12 Giacomo Leopardi: Zibaldone di Pensieri. Edizione critica e annotata a cura di G.
Pacella, Milano 1991. In der traditionellen Seitenzählung des Manuskripts Zib. 20412043, 2049-2057 von Anfang November 1821 mit Nachtrag vom 9. Dezember 1821 in
Zib 2239.
13 Italo Calvino: Lezioni americane. Sei proposte per il prossimo millennio, Milano 1995, in:
Saggi 1945-1985, Bd. 1, S. 656-676.
Kleists schneller Stil
175
Dauer im Erzählen miteinander verbunden: das Zickzack des Erzählens
führe zu einer unaufhaltsamen Bewegung; diese rufe schließlich den
Eindruck von Unabwendbarkeit hervor. Wie im Märchen gebe es zwar
gelegentlich auch Wiederholungen, die in der Prosa gleichsam einen
Reimeffekt bewirkten. Doch auch im Märchen seien Sprünge, die nicht
begründet würden; alles diene schließlich der rapidità, der Proliferation,
der „velocità mentale“.14 Das Gegenbeispiel: ein Erzähler mit Digressionen, einer, der das festina lente beherzige. Sternes Tristram Shandy ist
das Allerweltsexempel, das einen Gegentypus verkörpert: das umständliche Abschweifen und immer wieder in Seitenwege sich verlagernde
Erzählen, das nichts unbesprochen läßt, alles im Übermaß motiviert,
erklärt, begründet, wo also sozusagen nichts verlorengeht, und wir wissen, wohin das führt: zu einem Auf-der-Stelle-Treten des Erzählens,
weil die Vor- und Rückblicke, die noch hinzukommen, das verhindern,
was bei Calvino „velocità“ heißt und bei Leopardi „rapidità“. Kurz vor
Leopardi begegnet das Phänomen „rapidità dello … stile“ übrigens
auch bei Ugo Foscolo (und, weit davor, als „style […] rapide“ bei
Boileau, dort freilich in anderem Sinne).15
Einige Mißverständnisse könnten sich auftun und sollen von vornherein abgewehrt werden. Ein „schneller Stil“: das bedeutet nicht, daß
es ein syntaktisches Durcheinander gibt, spricht also nicht für abgerissene Satzteile oder für ein Übermaß an Elisionen. Wir wissen, wie lang
und gleichzeitig wie wohlgebaut Kleists Sätze sind, zumindest im Bereich der Literatur, und der „schnelle Stil“ darf also keineswegs mit der
Technik der „Seelensprache“ etwa von Sturm und Drang-Autoren verwechselt werden. Kleists Stil ist noch von den kunstvollen Satzgefügen
der Aufklärungszeit mitgeprägt, die Diktion von Schillers ästhetischen
Schriften läßt sich unschwer aus den langen Satzperioden heraushören.
Für Kleist ist charakteristisch, daß unendlich viel in einen Satz hineingepackt werden kann, oder vielmehr: daß ganze Ketten von Beobachtungen, von Abläufen, von Bildern sich in ein einziges Satzgebilde fügen können. Die Dynamik des Erzählens ist denn auch nicht eine syntaktisch begründete, sondern zeigt sich in der außerordentlich schnellen
Abfolge von Eindrücken, Vorgängen, Geräuschen, was freilich seltener
vorkommt, und von Gedanken, weniger von Gefühlen. Anders gesagt:
Ebd., S. 665.
Ich verdanke diesen Hinweis auf Foscolo und Boileau Reinhard Pabst, Frankfurt am Main.
14
15
176
Kleists schneller Stil
es geschieht mehr in einem Kleistschen Satz als in Sätzen anderer Erzählungen anderer Autoren aus dem gleichen Zeitraum, und eben das
vermittelt den Eindruck der Schnelligkeit. Der „schnelle Stil“ ist also
nicht so sehr eine Sache des erzählerischen Aktionismus, sondern es
wird, durchaus in komplizierten Satzgebilden, eine Fülle von oft scheinbar zusammenhanglosen Einzelheiten mitgeteilt. Der „schnelle Stil“
schließt im übrigen nicht aus, daß auf begründete Weise erzählt wird,
d. h.: daß Kleist nicht darauf verzichtet, Ursache und Wirkung zu nennen. In der Verlobung in St. Domingo lesen wir, nachdem wir von der
Ankunft des Fremden im Hause des Congo Hoango in einer stürmischen und regnigten Nacht gehört haben, folgenden Satz:
Inzwischen war auf das Gebell einiger Hofhunde ein Knabe, namens Nanky,
den Hoango auf unehelichem Wege mit einer Negerin erzeugt hatte, und der
mit seinem Bruder Seppy in den Nebengebäuden schlief, erwacht; und da er
beim Schein des Mondes einen einzelnen Mann auf der hinteren Treppe des
Hauses stehen sah: so eilte er sogleich, wie er in solchen Fällen angewiesen
war, nach dem Hoftor, durch welches derselbe hereingekommen war, um es
zu verschließen.16
Ein kleines Netz von Ursache und Folge ist hier in den Satz eingespannt: wenn die Hunde nicht gebellt hätten, wäre Nanky nicht wach
geworden. Und wenn er nicht den einzelnen Mann gesehen hätte, wäre
er nicht zum Hoftor geeilt, um es zu verschließen. Wer die Geschichte
zu Ende liest, weiß, daß der Knabe Seppy, der hier scheinbar zusammenhanglos eingeführt wird, noch seine erzählerische Rolle spielen
wird, da er ja als Geisel dient. Gedrängte Wirklichkeit wird auf höchst
gedrängte Weise erzählt, natürlich auch anderswo. Nach dem Kampf
im Hause des Hoango tritt Toni mit dem Knaben Seppy auf dem Arm
an der Hand Herrn Strömlis in das Zimmer, und wir hören:
Gustav wechselte bei diesem Anblick die Farbe; er hielt sich, indem er aufstand, als ob er umsinken wollte, an den Leibern der Freunde fest; und ehe die
Jünglinge noch wußten, was er mit dem Pistol, das er ihnen jetzt aus der Hand
nahm, anfangen wollte: drückte er dasselbe schon, knirschend vor Wut, gegen
Toni ab. Der Schuß war ihr mitten durch die Brust gegangen; und da sie, mit
einem gebrochenen Laut des Schmerzes, noch einige Schritte gegen ihn tat,
und sodann, indem sie den Knaben an Herrn Strömli gab, vor ihm niedersank:
16
SW 2, S. 162f.
Kleists schneller Stil
177
schleuderte er das Pistol über sie, stieß sie mit dem Fuß von sich, und warf
sich, indem er sie eine Hure nannte, wieder auf das Bette nieder.17
Zwei Sätze, in denen außerordentlich viel passiert. Gustav handelt, ehe
die Jünglinge ahnen, was mit der Pistole geschieht, er drückt sie blind
vor Wut gegen Toni ab – und dann heißt es: „Der Schuß war ihr mitten
durch die Brust gegangen“. Dazwischen ist zwar nicht sehr viel, aber
doch ein Bruchteil von Zeit vergangen, und der plötzliche Wechsel
vom Imperfekt zum Plusquamperfekt und wieder zurück zum Imperfekt zeigt, daß da etwas ausgespart worden ist, ohne daß der Fluß des
Erzählens gestoppt worden wäre, und anschließend haben wir es mit
der Gleichzeitigkeit von Vorgängen zu tun: während Toni noch einige
Schritte auf Gustav zugeht und vor ihm hinsinkt, schleudert er, im
selben Augenblick, die Pistole über sie und stößt sie mit dem Fuß von
sich. Kleist ist natürlich an das Nacheinander des Erzählens gebunden,
aber die Gleichzeitigkeit der Vorgänge könnte nicht besser zum Ausdruck gebracht werden, und auch darin, sozusagen im Aufheben der
Konsekutivzeit des Erzählens, wird ein weiteres Mittel des „schnellen
Stils“ sichtbar, so wie die Kausalitätsverhältnisse in jenem Satz, in dem
die Hofhunde bellen und damit eigentlich alles weitere auslösen, auch
eine der Möglichkeiten sind, den „schnellen Stil“ zu verwirklichen. Die
Vorgänge durchkreuzen, überschneiden sich gleichsam.
Eine dritte Möglichkeit, den Stil zu beschleunigen, soll noch erwähnt
werden. Das sind die Vergleiche. Wer je, um ein unzeitgemäßes, aber
extremes Gegenbeispiel zu nennen, die langatmigen epischen Vergleiche eines Milton in seinem Paradise Lost, die sich über zwanzig, dreißig
Zeilen hinziehen können, gelesen hat, der weiß, daß ein Vergleich eigentlich zum Mittel des digressiven Erzählens gehört, daß er einen Text
nicht schlank macht, sondern ihn aufschwellt, aber bei Kleist ist das
anders. Im Prinzen von Homburg, so wissen wir, werden ihm am Ende die
Augen verbunden, dann wird er durch das untere Gartengitter geführt,
und während man in der Ferne Trommeln des Totenmarsches hört,
spricht er seine Verse:
Nun, o Unsterblichkeit, bist du ganz mein!
Du strahlst mir, durch die Binde meiner Augen,
Mir Glanz der tausendfachen Sonne zu!
Es wachsen Flügel mir an beiden Schultern,
17
SW 2, S. 192.
178
Kleists schneller Stil
Durch stille Ätherräume schwingt mein Geist;
Und wie ein Schiff, vom Hauch des Winds entführt,
Die muntre Hafenstadt versinken sieht,
So geht mir dämmernd alles Leben unter:
Jetzt unterscheid ich Farben noch und Formen,
Und jetzt liegt Nebel alles unter mir.18
Während Homburg äußerlich nichts sieht, sieht er mit seinen inneren
Augen dennoch etwas, und während sich sein Geist „durch stille Ätherräume schwingt“, wird das Schiff vom Wind entführt und versinkt die
muntere Hafenstadt. Da sind mindestens drei Vorgänge parallelisiert,
ins Nebeneinander gebracht: die geistigen Flüge durch die Ätherräume,
das Schiff, das sich entfernt, die Hafenstadt, die versinkt. Zu den drei
Vorgängen, die, so gut es die Sprache überhaupt erlaubt, als gleichzeitige Vorgänge erscheinen, kommen noch Zeitverschränkungen. Die
letzten beiden Zeilen
Jetzt unterscheid ich Farben noch und Formen,
Und jetzt liegt Nebel alles unter mir.
deuten an, daß es da schon ein Nacheinander gibt, aber das ist aufs
äußerste zusammengeschrumpft. Es sind zwei Augenblicke, die einander abrupt abwechseln, auf das eine Jetzt folgt sofort das andere Jetzt.
Kleist hat darauf verzichtet, ein Nacheinander darzustellen, sondern
beschreibt diese beiden Augen-Blicke – sie sind es im wörtlichsten
Sinne – unmittelbar als fast gleichzeitige, so daß die Fahrt in den Äther
dem, dessen Augen zugebunden sind, unerhört beschleunigt erscheint.
Er kann noch Farben und Formen unterscheiden – „und jetzt“, nahezu
im gleichen Augenblick, liegt das alles als Nebel unter ihm. Schneller
hinauf geht es nicht – schneller kann dieser Höhenflug auch gar nicht
beschrieben werden. Mit Impressionismus hat das nichts zu tun, wohl
aber mit der rapidità des Stils, mit dem, was bei Leopardi, dem fast
noch Zeitgenossen, das Erregen simultaner Ideen genannt ist, mit der
Schnelligkeit und der Präzision des Stils.
*
Woher begründet sich der „schnelle Stil“ bei Kleist? Es ist der Stil eines
raffenden Darstellens, und es kommt einem irgendwann der Verdacht,
daß dieser Stil mit einer Erfahrung zu tun haben könnte, die die Epo18
SW 1, S. 707.
Kleists schneller Stil
179
che um 1800 und kurz danach entscheidend mitgeprägt hat: die Erfahrung einer ungewöhnlichen Beschleunigung der Zeit. Wir haben mannigfache Zeugnisse darüber, daß die Zeit anders erfahren wurde, daß
sie kurz nach 1800 schneller verflog, und das Erlebnis einer beschleunigten Zeit war auch die Erfahrung einer gleichsam beschleunigten
Realität. Möglicherweise ist diese veränderte Zeiterfahrung nur eine
Sekundärerfahrung, und sie könnte sich begründet sehen in jenem
Urerlebnis der Moderne, nämlich der Französischen Revolution, also in
dem Wissen um die plötzliche, rasche Veränderbarkeit der Dinge und
damit um ein an dem des 18. Jahrhunderts gemessenes instabil gewordenes Zeitbewußtsein. Die Uhren laufen einfach schneller. Es ist kein
Zufall, daß das Uhrensymbol so häufig in Texten der Romantiker auftaucht, daß die angehaltenen Uhren, die stehengebliebenen Uhren für
die alte Zeit stehen, für Unveränderlichkeit, Überlebtheit, Lebensabgewandtheit. Die Inschrift auf der Schuluhr in Recanati, dem Geburtsort
Leopardis, bringt das veränderte Zeitbewußtsein gleichsam in eine
Formel, die die Zeiterfahrung des frühen 19. Jahrhunderts einfängt:
„volat irreparabile tempus“. Wenig später wird dann die Technik dem
brüchig gewordenen Zeitbewußtsein noch weitere Risse und Sprünge
versetzen. Eichendorff hat in einem Vorwort zu dem Textkonvolut Aus
den Papieren eines Einsiedlers die Dampffahrten auf der Eisenbahn in komischer Verzweiflung als wahre Foltern dargestellt:
Diese Dampffahrten rütteln die Welt, die eigentlich nur noch aus Bahnhöfen
besteht, unermüdlich durcheinander wie ein Kaleidoscop, wo die vorüberjagenden Landschaften, ehe man noch irgend eine Physiognomie gefaßt, immer
neue Gesichter schneiden, der fliegende Salon immer andere Sozietäten bildet,
bevor man noch die alten recht überwunden. 19
Überall herrsche so große Eilfertigkeit, daß man vor lauter Eile mit
nichts fertig werden könne, so kommentiert er das aufkommende technische Zeitalter mit seinen Beschleunigungserlebnissen eigener Art.
Und Chamisso wird noch wenig später in seinem Gedicht Das Dampfroß
die Beschleunigung der Zeit, mittels Technik erreichbar, satirisch aufs
Korn nehmen, wenn er im Dampfroß, „Muster der Schnelligkeit“, ein
19 Joseph von Eichendorff: Vorwort. <Aus den Papieren eines Einsiedlers> 1841-1856, in:
Bd. V/4: Erzählungen. Autobiographische Fragmente. Text und Kommentar, hg. von Dietmar
Kunisch, Tübingen 1998, S. 88 (= Sämtliche Werke des Freiherrn Joseph von Eichendorff. Historisch-Kritische Ausgabe, begründet von Wilhelm Kosch und August Sauer,
fortgeführt von Hermann Kunisch (†) und Helmut Koopmann).
180
Kleists schneller Stil
Instrument sieht, das die laufende Zeit hinter sich läßt. Das Dampfroß
überholt sich schließlich selbst, denn zu seiner Fähigkeit gehört das,
was Chamisso in zwei Zeilen steckt:
Und nimmt’s zur Stunde nach Westen den Lauf,
Kommt’s gestern von Osten schon wieder herauf.20
– und so wird die Zeit schließlich rückwärts gedreht, bis der Großvater
als glücklicher Bräutigam erscheint, und in einer Art umfunktionierter
Zeitmaschine sucht der Held des Gedichtes Napoleon erst auf Helena
und dann beim Krönungsfest.
Bei Kleist ist davon natürlich noch nichts zu merken, aber von modernen Maschinen, die den Raum spielend überwinden und damit auch
die Zeit verkürzen, findet sich gelegentlich schon etwas, so in den Berichten über die verschiedenen Ballonreisen. Kleists Zeitbewußtsein
scheint irgendwo zwischen den Veränderungen, die die Französische
Revolution auslöste, und den technischen Veränderungen der folgenden Jahrzehnte angesiedelt zu sein; von statischen Verhältnissen kann
bei ihm nicht mehr die Rede sein, weder in seinem Wirklichkeitsverständnis noch in seinem Zeitbewußtsein. Und sein „schneller Stil“ läßt
erkennen, daß er gewiß nicht das ist, was die Jungdeutschen später als
„Stabilitätsnarren“ verhöhnten. Im übrigen hat Kleist von der Mobilitätserfahrung der Moderne, die durch das Reisen schon zu seiner Zeit
befördert wurde, bereits einiges mitbekommen, oder vielmehr: die
Schnelligkeit des Reisens kristallisiert sich auch bei ihm als neue Erfahrung aus. Wir können das seinen Reisebriefen hier und da entnehmen.
Am 5. September 1800 schreibt er an Wilhelmine von Zenge: „Was das
Reisen hier schnell geht, das glaubst Du gar nicht. Oder ist es die Zeit,
die so schnell verstreicht?“.21 Die Zeit verstrich in der Tat schnell, und
Kleist gibt gleich ein anschauliches Exempel:
Fünf Uhr war es als wir von Oderan abfuhren, jetzt ist es ½ 11, also in 5 ½
Stunde 4 Meilen. Jetzt geht es gleich weiter nach Zwickau. Wir fliegen wie die
Vögel über die Länder. Aber dafür lernen wir auch nicht viel. Einige flüchtige
Gedanken sind die ganze Ausbeute unsrer Reise.
Adelbert von Chamisso: Sämtliche Werke, Bd. 1: Prosa. Dramatisches. Gedichte. Nachlese der Gedichte, Darmstadt 1975, S. 209.
21 SW 2, S. 550. Auch diesen Hinweis verdanke ich Reinhard Pabst, Frankfurt am
Main.
20
Kleists schneller Stil
181
Sind Sie in Dresden gewesen? – „Ja, durchgereist.“ – Haben Sie das grüne Gewölbe gesehen? – „Nein.“ – Das Schloß? – „Von außen.“ – Königsstein? –
„Von weitem.“ – Pillnitz, Moritzburg? – „Gar nicht.“ – Mein Gott, wie ist das
möglich?
Die späteren Eisenbahnfahrten, die noch einmal zu Beschleunigungserlebnissen führten, boten da nur graduelle Steigerungen.
Natürlich ändert sich damit nicht überall der Erzählstil eines Zeitalters. Es gibt ein altertümliches, genau motivierendes, langsames, überall
erklärendes und behutsames Erzählen, das nicht von der Stelle kommt,
auch im 19. Jahrhundert. Aber man würde umgekehrt Schwierigkeiten
haben, schnelles Erzählen, einen „schnellen Stil“ im 18. Jahrhundert zu
lokalisieren. Bei Sturm und Drang-Texten zeigt sich auf den ersten
Blick hin ähnliches – aber hier geht es nicht um Beschleunigungserfahrungen, auch nicht um den „schnellen Stil“, sondern um die Sprache
des Gefühls, das sich deswegen abrupt ausspricht, weil der Verstand
wohlgeordnet redet. Kleist hingegen ist zumindest ein Vorläufer „moderner“ Texte, wobei wir den Begriff der Modernität gar nicht weiter
definieren wollen. Aber zwanzig Jahre nach ihm gibt es Vergleichbares.
Nur manchmal, wenn der Sturm das Gewölk in die Thäler warf, und es den
Wald herauf dampfte, und die Stimmen an den Felsen wach wurden, bald wie
fern verhallende Donner, und dann gewaltig heran brausten, in Tönen, als
wollten sie in ihrem wilden Jubel die Erde besingen, und die Wolken wie wilde
wiehernde Rosse heransprengten, und der Sonnenschein dazwischen durchging und kam und sein blitzendes Schwert an den Schneeflächen zog, so daß
ein helles, blendendes Licht über die Gipfel in die Thäler schnitt; oder wenn
der Sturm das Gewölk abwärts trieb und einen lichtblauen See hineinriß, und
dann der Wind verhallte und tief unten aus den Schluchten, aus den Wipfeln
der Tannen wie ein Wiegenlied und Glockengeläute heraufsummte, und am
tiefen Blau ein leises Rot hinaufklomm, und kleine Wölkchen auf silbernen
Flügeln durchzogen und alle Berggipfel scharf und fest, weit über das Land hin
glänzten und blitzten, riß es ihm in der Brust […]22
– der Satz ist noch lange nicht zu Ende, aber wir wissen natürlich
längst, woher er stammt: aus Büchners Lenz. Auch das ist „schneller
Stil“, gedrängte Fülle von Bildern und akustischen Eindrücken, unvergleichlich expressiv dieser Text, voller Dynamik – der Blick des Lesers
22 Georg Büchner: Lenz, in: Sämtliche Werke und Briefe. Historisch-Kritische Ausgabe mit
Kommentar, hg. von Werner R. Lehmann, 1. Bd.: Dichtungen und Übersetzungen. Mit Dokumentationen zur Stoffgeschichte, Hamburg 1967, S. 79.
182
Kleists schneller Stil
kann, wenn er sich imaginiert, welche Welt dort beschrieben ist, eigentlich kaum folgen. Keine Psychologie – jedenfalls keine ausgesprochene,
wie auch bei Kleist. Moderne Texte verzichten weitgehend darauf,
wenn sie sich des „schnellen Stils“ befleißigen, was nicht heißen soll,
daß jeder realistische Roman, der auf altertümliche Weise erzählt wird,
auch psychologisch motiviere und argumentiere. Aber moderne Texte
wie die Büchners laufen schneller ab als Stifter-Texte. Sie sind auf andere Weise artistisch als die Texte Kleists; doch sie haben mit ihnen eben
die „rapidità“ gemeinsam.
Veränderte Zeiterfahrungen könnten also im Hintergrund des
„schnellen Stils“ stehen – veränderte Wirklichkeitserfahrungen sind es
aber auch, und es wäre müßig, zu fragen, was zunächst da war, das
veränderte Zeitempfinden oder das veränderte Wirklichkeitsbewußtsein. Beides sind korrelative Ereignisse, sie prägen das Bild der Moderne um 1800 und kurz danach viel tiefer als alle Proklamationen von
seiten der Frühromantiker oder später dann aus der Generation der
Heine, Börne, der Jungdeutschen, die das Wort „Moderne“ als Schlagwort in ihre Titel hineinbringen. Wir haben uns angewöhnt, von
Schwellensituationen zu sprechen, und die Zeit um 1800 ist sicherlich
eine solche: es ist auch eine Schwellensituation in bezug auf diese
Grunderfahrungen. Und: eine Schwellensituation in bezug auf die literarischen Herauskristallisationen solcher Beschleunigungserlebnisse
und Realitätsveränderungen.
Im Grunde begegnet bei Kleist schon so etwas wie eine fragmentarisierte Realität – oder, vorsichtiger formuliert: seine Sprache reflektiert
vielfach nicht eine gleichsam ungebrochene Wirklichkeit, sondern partikularisiert sie, und das rasche Nebeneinander der Partikel bewirkt den
Eindruck eines schnellen Stils. In dem bereits erwähnten Brief vom 5.
September 1800 findet sich die Fragmentarisierung der Welt als Reisebeobachtung: „Wenn ich so im offnen Wagen sitze […], guter Weg,
und immer rechts und links die Erscheinungen wechseln, wie Bilder auf
dem Tuche bei dem Guckkasten“.23 Natürlich begründet das nicht die
Fragmentarisierung der Welt, aber das Wechseln der Erscheinungen
von Einzelbild zu Einzelbild konnte nur auffallen, weil eben ein Wirklichkeitskontinuum nicht mehr gegeben war. Das Ergebnis sind geradezu „proto-cinematographische Effekte“.24 Eine Theorie dieses Darstel23
24
SW 2, S. 549.
So eine Formulierung von Reinhard Pabst, Frankfurt am Main.
Kleists schneller Stil
183
lungsstils gibt es bei Kleist nicht, wohl aber bei den Frühromantikern,
insbesondere bei Friedrich Schlegel. Doch der Theorie des Fragments
entspricht nichts in der poetischen Realität der Frühromantiker, es gibt
weder ein fragmentarisches Erzählen noch einen „schnellen Stil“. Erst
später, eben bei Büchner, finden sich dichterische Realisationen dessen,
was wir hier als schnellen Stil bezeichnet haben. Ähnlichkeiten lassen
sich sonst nur etwa in den Nordseegedichten bei Heine feststellen –
aber da stiftet das Ich die nötige Kohärenz.
Man kann natürlich nur Vermutungen darüber anstellen, warum auf
die Kleistschen Stilexperimente so lange nichts folgte – es könnte, das
sei allerdings mit aller Vorsicht gesagt, der Geist des Restaurationszeitalters sein, der dem zuwider war. Modern-Revolutionäres kam erst
später auf, etwa in Gutzkows Theorie vom Roman des Nebeneinander.
Was Kleist aus der Erzähltradition des ausgehenden 18. Jahrhunderts
hat ausscheren lassen, darüber kann man wiederum nur spekulieren. Ist
es sein Entschluß zur Selbstbestimmung, wie er ihn im Brief an Martini
im März 1799 niederlegt? Es sei „wenigstens weise und ratsam […], in
dieser wandelbaren Zeit so wenig wie möglich an die Ordnung der
Dinge zu knüpfen“, schreibt er ebenfalls in diesem Brief,25 und daraus
könnte man schließen, daß jetzt, auch im Erzählerischen, eine neue
Ordnung der Dinge nötig sei, da die alte nicht mehr tragfähig war.
Wenn Kleist als Vorläufer der Moderne genommen werden sollte – hier
wäre eine solche Behauptung wohl am ehesten noch zu begründen.
Sein Erzählen hat Parallelen zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Wo
wird ähnlich erzählt, ähnlich gedrängt, beschleunigt, schnell? „Wir sollen einzig das Meckern, Paffen, Rattern, Heulen, Näseln der irdischen
Dinge imitieren, das Tempo der Realität zu erreichen suchen, und dies
sollte nicht Phonographie, sondern Kunst […] heißen?“26 Das ist nicht
das Manifest oder ein Manifest der Moderne, sondern ein fragender
Satz – Döblin richtet ihn in einem offenen Brief an Marinetti und dessen Futurismus-Programm. Döblin schließt mit dem erfrischenden
Satz: „Pflegen Sie Ihren Futurismus. Ich pflege meinen Döblinismus.“27
Aber wie sieht der aus? Am auffälligsten ist der Verzicht auf „psycholoSW 2, S. 485.
Alfred Döblin: Futuristische Worttechnik. Offener Brief an F. T. Marinetti, in: Schriften
zu Ästhetik, Poetik und Literatur, hg. von E. Kleinschmidt, Olten/Freiburg i Br. 1989
(= Ausgewählte Werke in Einzelbänden), S. 113-119, hier S. 115.
27 Ebd., S. 119.
25
26
184
Kleists schneller Stil
gische Manier“, und das zweite wichtige Kennzeichen ist: man habe
von der Psychiatrie zu lernen. Die „beschränkt sich auf die Notierung
der Abläufe, Bewegungen, – mit einem Kopfschütteln, Achselzucken
für das Weitere und das ‚Warum‘ und ‚Wie‘.“28 Der Hinweis auf die
Psychiatrie ist bei Döblin natürlich berufsbezogen, aber da gibt es einige Sätze, die geradezu das theoretische Fundament für manche schnellen Texte, für den „schnellen Stil“ der Moderne bilden könnten. Döblin
schreibt im sogenannten Berliner Programm von 1913:
Die Darstellung erfordert bei der ungeheuren Menge des Geformten einen
Kinostil. In höchster Gedrängtheit und Präzision hat „die Fülle der Gesichte“
vorbeizuziehen. Der Sprache das Äußerste der Plastik und Lebendigkeit abzuringen. Der Erzählerschlendrian hat im Roman keinen Platz; man erzählt
nicht, sondern baut. Der Erzähler hat eine bäurische Vertraulichkeit. Knappheit, Sparsamkeit der Worte ist nötig; frische Wendungen. Von Perioden, die
das Nebeneinander des Komplexen wie das Hintereinander rasch zusammenzufassen erlauben, ist umfänglicher Gebrauch zu machen. Rapide Abläufe,
Durcheinander in bloßen Stichworten; wie überhaupt an allen Stellen die
höchste Exaktheit in suggestiven Wendungen zu erreichen gesucht werden
muß. Das Ganze darf nicht erscheinen wie gesprochen sondern wie vorhanden.29
Natürlich ist das nicht eine Beschreibung von Kleists „schnellem Stil“,
denn vom Durcheinander in bloßen Stichworten kann bei ihm (noch)
nicht die Rede sein. Aber manches andere steht doch in unmittelbarer
Nachbarschaft dessen, was wir an Kleists „schnellem Stil“ zu zeigen
versuchten. Döblin will Bewegung, will Tempo, und sein Berlin Alexanderplatz zeigt, wie das zu verstehen ist, wenn der Erzähler seine Kamera
herumschwenkt und von Litfaßsäulen, Geschäftsauslagen, vorüberratternden Straßenbahnen Realitätspartikel aufnimmt und zu einer neuen
Realität zusammenmontiert. Immerhin hat Döblin Kleist als sein Vorbild bezeichnet und noch 1949 erklärt: „Kleist und Hölderlin wurden
die Götter meiner Jugend“.
Natürlich sind hier keine stringenten Verbindungslinien zu ziehen,
und von Abhängigkeiten ist schon gar nicht zu reden. „Modern“ kann
auch ein extrem digressives Schreiben sein, wie Prousts A la recherche du
temps perdu zeigt – wer je Manuskriptseiten von ihm in der „Biblio28 Alfred Döblin: An Romanautoren und ihre Kritiker. Berliner Programm, in: ebd.,
S. 119-123, hier S. 121.
29 Ebd., S. 121f.
Kleists schneller Stil
185
thèque Nationale“ sah, bekam augenfällig demonstriert, wie seine Texte
auswucherten. Kleists „schneller Stil“ ist also nur eine Möglichkeit des
modernen Stils.
Gewisse Eigenheiten des Kleistschen Stils in den Dramen, in seinen
Erzählungen sollten hier vorläufig charakterisiert werden, und es sollte
gefragt werden, woher der Kleistsche Darstellungsstil sich begründen
läßt. Man könnte andere Argumente ins Feld führen: Kleists Faszination für den Tanz als einer Möglichkeit, der „Trägheit der Materie“ entgegenzuwirken,30 seine erzählerischen Versuche, den bloßen Gesetzen
der Schwerkraft gewissermaßen entgegenzuarbeiten. Auch sein „schneller Stil“ ist antigrav, so wie die Schwerkraft für die Marionette ebenfalls
aufgehoben ist. In der Bärengeschichte des Marionettentheaters kommt es
natürlich in erster Linie darauf an, daß die Tricks als solche erkannt
werden und daß das – wir würden sagen – Unbewußte besser und
schneller reagiert als alles mit dem Verstand Erfaßbare. Der Fechter ist
zweifellos ein schneller Fechter: er versucht, den Bären durch Finten zu
verführen, fällt ihn mit einer „augenblicklichen Gewandtheit“ an. Der
Stich würde „eines Menschen Brust […] ohnfehlbar getroffen haben“,31
lesen wir – aber der Bär ist schnell, schneller als der Fechter, und pariert den Stoß. Auch der Bär bedient sich sozusagen eines „schnellen
Stils“.
Es gibt noch, jenseits aller Philologie, eine andere Erklärung für den
„schnellen Stil“. Sie liegt im Metaphysischen, im Existentiellen, Anthropologischen – oder wie immer man das Transliterarische hinter
dem „Stil“ bezeichnen will. Eigentlich hat sie ursprünglich eher mit
dem Gegenstück des „schnellen Stils“ zu tun, nämlich mit dem Erzählen, das sich reichlich der Digressionen bedient, also einer Darstellungsart, bei der das Erzählen gleichsam immer wieder stockt, weil
Abschweifendes, nur ungefähr oder gar nicht zur Sache Gehöriges
miteingebracht wird. Es ist der Erzählstil des bereits erwähnten Lawrence Sterne. Warum erzählt Sterne so digressiv? Carlo Levi hat in seiner Einleitung in Sternes Tristram Shandy32 eine Erklärung gegeben, die
philosophischer Natur ist. Die Digression, so hat Levi das Erzählprinzip Sternes charakterisiert, sei eine Strategie, um den Schluß aufzuheben, es möglichst gar nicht zu einem Schluß kommen zu lassen. Die
30
31
32
SW 2, S. 342.
SW 2, S. 345.
Zitiert bei Calvino (wie Anm. 13), S. 54.
186
Kleists schneller Stil
Digression sei eigentlich eine fortwährende Flucht. Eine Flucht wovor?
Wenn der Schluß immer wieder hinausgeschoben werde, dann sei es
eigentlich eine Flucht vor dem Tod. So kennen wir das auch aus Tausendundeiner Nacht.
Es reizt, diese Idee, so sonderbar sie anmuten mag, auf Kleist zu beziehen: er wäre dann geradezu der Todessüchtige, der einen schnellen,
weitgehend digressionsfreien Stil schreibt, weil da nichts hinauszuschieben ist. Es ist eine gewagt-fragwürdige spekulative Idee, die da hochkommt. Aber für Kleist paßt sie. „Die Schnelligkeit des Stils und des
Gedankens bedeutet vor allem Behendigkeit, Beweglichkeit […] disinvoltura“,33 hat Italo Calvino auch noch gesagt. Mag die Vorstellung
vom auf den Tod zueilenden Stil allenfalls in einem loseren Sinne richtig sein, so ist der Begriff der disinvoltura allerdings geeignet, Kleists Stil
noch zutreffender zu beschreiben als mit dem Begriff des „schnellen
Stils“. Disinvoltura – in der Schrift über das Marionettentheater entspricht dem der Begriff der „Grazie“. Im übrigen richtet Kleist an die
Kunstfertigkeit der Marionette die Forderungen, die als Charakteristika
des „schnellen Stils“ dienen: „Ebenmaß, Beweglichkeit, Leichtigkeit“.34
So ließe sich denn am Ende mit einigem Recht sagen, daß es doch so
etwas wie eine Kleistsche Poetik des „schnellen Stils“ gibt: es ist die
Schrift über das Marionettentheater, in der als höchstes Ziel des Lebens
propagiert wird, was im Felde des Stils der „schnelle Stil“ verspricht. Es
ist, in der Sprache Kleists, ein „antigraver“ Stil. Er kennt nichts, im
übertragenen Sinne, von der Trägheit der Materie. Eben ihr möchte
auch der „schnelle Stil“ entkommen.
33 „La rapidità dello stile e del pensiero vuol dire soprattutto agilità, nobilità, disinvoltura“; Calvino (wie Anm. 13), S. 53.
34 SW 2, S. 341.
HEINES
„A P HO RI S M E N “
„F RA G M E N T E “ 
V E R KA N N T E
UND
Literarische Fehlurteile und Überlegungen zu deren Revision
Literarische Fragmente haben es, wie jedermann weiß, in Deutschland
nie leicht gehabt: sie haben in einer wesentlich an der Klassik orientierten Literaturwissenschaft als etwas vermeintlich nur Vorläufiges und
Unabgeschlossenes häufig nur ein Schattendasein führen können. Gelegentlich hat man zwar vom „echten“ oder „notwendigen“ Fragment
gesprochen und damit Texte bezeichnet, in denen „das Fragmentarische unabdinglich und gleichsam organisch ist, zur dichterischen Form
selber gehört.“1 Aber derartige Würdigungen sind Ausnahmen. Im
Zeitalter einer organologisch, an ganzheitlichen Strukturen orientierten
Kunst- und Literaturauffassung galt ein Fragment, also etwas anscheinend Unabgeschlossenes, halb oder gar nicht Fertiges, wenig oder
nichts, und man mußte es von seinem Organismuscharakter her rechtfertigen, wenn es trotzdem diskutabel bleiben sollte. Ein Ausbruch aus
dem Erbbegräbnis, das den Fragmenten vor allem seit der Klassik bereitet worden war, gelang gelegentlich nur dann, wenn Fragmente gewissermaßen in Rudeln auftraten: in der Frühromantik etwa. Aber auch
dort sind sie häufig nur als sichtbare, fragmentarische Äußerungen
eines unsichtbaren Gedankensystems gesehen worden und damit indirekt doch wieder unter der Lupe, die alle Teile immer nur als Partikel
eines höheren Ganzen erkennen möchte. Bedeutsamer als diese Mißachtung der Fragmente war aber noch, daß überhaupt kleinformatige
Äußerungen, auch wo sie offensichtlich gar nicht Fragmentcharakter
trugen, nicht sonderlich hoch angesehen waren. Das gleiche Zeitalter,
das etwa eine Handschrift des Wilhelm Tell in kleine Teile zerschnitt, um

Einige Vorüberlegungen finden sich in meinem Beitrag: Heines sogenannte „Gedanken und Einfälle“. Versuch einer Neubewertung, in: Die Nachlaßedition. La publication de
manuscrits inédits, hg. von Louis Hay und Winfried Woesler, Bern u. a. 1979, S. 206-211
(= Jahrbuch für Internationale Germanistik, A, Bd. 4).
1
So Benno von Wiese: Die deutsche Novelle von Goethe bis Kafka. Interpretationen II,
Düsseldorf 1961, S. 106, in seiner Interpretation von Büchners Lenz.
188
Heines verkannte „Aphorismen“ und „Fragmente“
Schillers moralische und patriotische Sätze einzeln verkaufen zu können, strafte Fragmente, also kleinformatige Äußerungen, als eklektisch,
zufällig, zweitrangig ab. Fragmente führen seit dem 19. Jahrhundert ein
Schattendasein. Eine gewisse Bedeutung wurde Fragmenten in der
Regel nur unter einer Bedingung zugestanden: wenn sie auf ein abgeschlossenes Werk hinführten oder zumindest im Zusammenhang damit
standen. Die mit schichtengenetischen Vorstellungen arbeitende neuere
Editionspraxis hat diese Vorstellungen auch in die textkritischen Ausgaben hineingebracht – damit aber die Fragmente, sofern sie eben nicht
schichtengenetische Bedeutung haben, endgültig herabgewürdigt. Aber
daß es damit nicht getan war, zeigen die unausgeräumten Definitionsprobleme, die weder von einer organologisch orientierten Literaturkonzeption noch von der landläufigen Editionstheorie gelöst worden sind.
Ist ein Fragment ein „Gedankensplitter“ oder ein kleiner literarischer
Kosmos für sich? Ist es ein sichtbares Zeichen eines Ausbruchsversuches aus einem überkommenen System, sozusagen auch von der Form
her ein Protest gegen traditionelle Gattungen und größere literarische
Formen, oder ist es ein erster Gedankenkeim, Prospekt eines zukünftigen Werkes in nuce? Kristallisiert sich hier eine Lebensweisheit in der
Form eines formlosen Sprichwortes aus, oder ist das Fragment ein
Gedankenblitz, der besser gar nicht schriftlich aufgezeichnet worden
wäre, weil er nur Versuchscharakter hat und das von seiner unvollkommenen Form her auch deutlich zu erkennen gibt? Zu den Folgen
der klassischen und nachklassischen Abwertung des Fragments gehört
zweifellos auch die Verunsicherung in der Grenzziehung zu anderen
Kleinformen, vor allem zum Aphorismus: schon im 19. Jahrhundert ist
reichlich viel Zweifel darüber hochgekommen, was das Eine vom Anderen trenne. Was unterscheidet den Aphorismus, da er schon vom
Fragment nicht genau abgetrennt werden kann, von der Maxime, von
der Sentenz, vom Apophthegma?
Alles das läßt ein wenig von dem Hintergrund erkennen, vor dem
sich die Geschichte dessen, was man Heines „Fragmente“ und „Aphorismen“ genannt hat, abgespielt hat. Heine hat im Laufe seines Lebens,
vor allem aber vermutlich in den 30er und 40er Jahren, nahezu 360
kürzere oder längere Gedanken, Einfälle, Notizen, Aphorismen, Fragmente, Skizzen, Bemerkungen, Beobachtungen (oder wie immer man
diese Aufzeichnungen auch benennen will) niedergeschrieben und gesammelt. Sie sind – und das deutet schon auf ihre Geringschätzung von
Heines verkannte „Aphorismen“ und „Fragmente“
189
seiten der Heine-Forschung hin – bis heute aber weder in ihrer literarischen noch in ihrer zeitgeschichtlichen Bedeutung gewürdigt und zudem nicht in zureichender Weise ediert worden; die formgeschichtlichen Probleme, die sich mit dieser Sammlung stellen, sind sogar völlig
außer acht gelassen worden. Veröffentlicht wurden Heines kleine Texte
erstmals 1869 von Adolf Strodtmann als Gedanken und Einfälle,2 kommentarlos, nach Themenbereichen gegliedert. Ein unverbindlicherer
und auch einfallsloserer Titel als Gedanken und Einfälle läßt sich tatsächlich kaum denken, und entsprechend willkürlich hat Strodtmann die
Texte innerhalb dieser Edition nach Gruppen geordnet: wir finden
„Persönliches“ neben Bemerkungen zur „Religion und Philosophie“,
Notizen zu „Kunst und Literatur“, einiges zu „.Staat und Gesellschaft“,
ebenfalls einiges zu „Frauen, Liebe und Ehe“, und am Schluß folgt das,
was von dem sammelnden Herausgeber nicht anderswo untergebracht
werden konnte, unter dem Titel „Vermischte Einfälle“. Der erste unter
dieser Überschrift gesammelte Einfall lautet: „Weise erdenken die neuen Gedanken, und Narren verbreiten sie“ – und man kann nicht umhin,
diesen Ausspruch auf Heine selbst und die Geschichte der Verbreitung
seiner sogenannten Gedanken und Einfälle zu beziehen. Ein letzter Abschnitt in dieser Edition der Gedanken und Einfälle ist überschrieben mit
„Bilder und Farbenstriche“, und das ist eine endgültige editorische
Bankrotterklärung. Unverbindlicheres ist schlechthin nicht mehr denkbar. Sicherlich betrifft in dieser Sammlung manches nur Alltägliches.
Aber es gibt nicht einen einzigen unvollendeten Einfall, also bloß hingeworfene, unverständliche Stichworte – es sei denn, sie fänden sich in
einem ausdrücklich als solchem gekennzeichneten Plan zu einem literarischen Werk. In der Regel sind die Gedanken und Einfälle in eine sehr
zugespitzte Form gebracht; die Subjektivität der Feststellungen darf
nicht darüber hinwegtäuschen, daß wir es hier durchaus nicht mit beliebigen persönlichen Bemerkungen zu tun haben. Gesehen worden ist
das jedoch in der Regel nicht, und die weitere Wirkungsgeschichte der
von Strodtmann erstmals veröffentlichten Gedanken und Einfälle zeigt
ausgesprochene Einfalls- und Gedankenlosigkeit: Ernst Elster hat diese
Gedanken und Einfälle noch vor der Jahrhundertwende unkritisch und
nur spärlich kommentiert in den letzten Band seiner siebenbändigen
2
Adolf Strodtmann: Letzte Gedichte und Gedanken von Heinrich Heine. Aus dem Nachlasse des Dichters zum ersten Male veröffentlicht, Hamburg 1869.
190
Heines verkannte „Aphorismen“ und „Fragmente“
historisch-kritischen Ausgabe übernommen,3 als eine Art von Kuddelmuddel, wie Heine selbst Fragmentarisches bezeichnet hat, womit er
allerdings nicht seine Gedanken und Einfälle meinte; und nach dieser
Edition haben Oskar Walzel4 und Fritz Strich5 ebenfalls die Gedanken
und Einfälle abgedruckt, kommentarlos und ohne weitere Diskussion der
von Strodtmann völlig willkürlich hergestellten und unbegründeten
Ordnung. Nur ein einziges Mal danach sind die 360 Notizen noch in
anderer Anordnung ediert worden: 1915, von Erich Loewenthal, der
den Prosa-Nachlaß Aphorismen und Fragmente nannte.6 Das Prinzip seiner
Neuordnung ist im wesentlichen aber auch wieder nur die Assoziation:
so bauen sich künstliche Gedankenbrücken und Gedankenketten auf,
die letztlich aber alle nicht tragfähig sind, und gaukeln eine Ordnung
vor, die Heines Aufzeichnungen durchaus nicht haben. Auch Loewenthal scheint zumindest indirekt von der Vorstellung vom größeren
Ganzen eines literarischen Werkes und von organologischen Vorstellungen mitbestimmt gewesen zu sein, denn seine assoziative Neuordnung läßt unausgesprochen den Wunsch erkennen, hier Bruchstücke
größerer Werkzusammenhänge zu sehen, die bei Heine aber über den
fragmentarischen Charakter nicht hinausgekommen sind. Erstmals
taucht freilich auch, ein Lichtblick, der Begriff Aphorismus auf: und
damit sind die Gedanken und Einfälle Strodtmanns zweifellos entschieden
aufgewertet; Loewenthal hat erkannt, daß diesen angeblichen Gedanken
und Einfällen ein eigener Formcharakter zugrunde liegt, und er hat
ebenfalls gesehen, daß Heine sich einer literarischen Form bedient, die
schließlich ihre lange Tradition hatte. Aber daneben findet sich eben
auch wieder die fatale Vorstellung vom Fragment, und so regt sich
erneut der Verdacht, daß hier etwas Fragment genannt wurde, das einfach nur klein war, eine Miniaturform, die nicht zuletzt deswegen in
Verruf geraten war, weil sie neben den literarischen Großformen sich in
der Tat sehr zwergenhaft ausnehmen mußte. Es gibt allenfalls einen
einzigen weiteren Rechtfertigungsgrund für die Bezeichnung „Frag3
Heinrich Heines Sämtliche Werke, hg. von Ernst Elster, Leipzig/Wien o. J. [18871890]. Elster bemerkt lapidar: „Abgedruckt aus Letzte Gedichte und Gedanken“ und stellt
fest: „Anordnung und Überschrift rühren höchst wahrscheinlich von ihm [Strodtmann]
her“ (Bd. 7, S. 611).
4
Sämtliche Werke, hg. von Oskar Walzel, Bd. 10, Leipzig 1915.
5
Sämtliche Werke, hg. von Fritz Strich, Bd. 10, München 1925.
6
Der Prosa-Nachlaß von H. Heine. Neu geordnet, gesichtet und eingeleitet von
Erich Loewenthal, Hamburg/Berlin [1926].
Heines verkannte „Aphorismen“ und „Fragmente“
191
mente“: die Tatsache, daß sich thematische Parallelen zwischen einzelnen Aphorismen und einzelnen Stellen in veröffentlichten Werken
finden. Aber diese Parallelität besagt allein noch gar nichts. Dennoch
hat Loewenthals Edition des Prosa-Nachlasses unter der Überschrift
Aphorismen und Fragmente ihrerseits weiter Schule gemacht. Die gleichen
Texte erscheinen ebenfalls als Aphorismen und Fragmente in der vielbenutzten ost- und westdeutschen Ausgabe der Werke Heines von Hans
Kaufmann;7 und in der neuesten umfangreicheren Edition, der von
Briegleb, erscheinen sie als etwas noch Geringeres, nämlich nur noch
als Aufzeichnungen.8
Die Geschichte dieser Editionen illustriert noch einmal die Geschichte des Aphorismus und des Fragments im 19. und 20. Jahrhundert; sie ist zugleich die Geschichte eines Mißverständnisses, zumindest
die eines tief eingewurzelten Vorurteils. Denn man schloß von der
fragmentarischen Form auch auf einen fragmentarischen Entstehungsprozeß. Schon Adolf Strodtmann hat Heines kleine Notizen zu einer
bloßen Sammlung von Gedanken und Einfällen degradiert, „wie die
Stunde sie brachte, zu gelegentlicher Verwendung“,9 und die Mißachtung drückt sich auch in der negativen Beschreibung der Arbeitsmaterialien aus: Heine habe sie „heute auf einem abgerissenen Papierfetzen,
morgen auf der Rückseite einer Visitenkarte oder eines Einladungsbilletts, ein andermal am Fuße eines Briefes oder auf dem leer gebliebenen
Raume eines Gedichtbrouillons“ notiert. Dazu ist zu sagen, daß die
abgerissenen Papierfetzen, die Visitenkarte oder das Einladungsbillett
die Ausnahmen in der Wahl der Materialien darstellen; häufig sind die
Texte auf großformatige Blätter geschrieben, wie Heine sie auch zur
Niederschrift seiner übrigen Werke benutzte. Dennoch hat sich innerhalb der Heine-Philologie auch die Fama bewahrt, obwohl sie sich auf
nichts gründet als auf ein Vorurteil, das von einem Blick auf das tatsächliche Material sofort widerlegt werden kann. Die gleiche Charakteristik Strodtmanns, der die negative Wirkungsgeschichte dieser sogenannten Gedanken und Einfälle in Gang brachte, findet sich nahezu hundert Jahre später fast unverändert in dem Kommentar von Briegleb, der
7
Sämtliche Werke, Bd. XIV, München 1964: „Unser Text folgt der Loewenthalschen Anordnung“ (S. 231).
8
Heinrich Heine: Sämtliche Schriften, hg. von Klaus Briegleb, 6 Bde., München
1968-1976, Bd. VI, 2, S. 332f.
9
Strodtmann (wie Anm. 2), S. XIII.
192
Heines verkannte „Aphorismen“ und „Fragmente“
neuesten und umfangreichsten kommentierten Ausgabe. Dort heißt es:
„Auf losen Blättern und Papierstücken, die gerade zur Hand sind, bis
zur Visitenkarte, Rechnung oder Einladung, hält er Bilder, Gedankenkerne, Zitate, Gesprächsfetzen, Wortspiele und ansetzende Charakteristiken oder Analysen fest und hebt sie auf“.10 Die Ähnlichkeiten in der
Formulierung sind nicht zufällig, so wenig zufällig sich die Vorstellung
gehalten hat, es handele sich hier vielfach um Entwürfe oder später
überflüssig gewordene Vorstufen, die gelegentlich Aufschlußreiches,
letztlich aber doch Sekundäres für Heines Arbeitsweise erkennen ließen. Strodtmann ist seinerzeit sogar noch einen Schritt weitergegangen.
Er hat nämlich das, was später in einer anderen Werkform erschien, „in
der Regel“ sogar ausgeschieden oder, falls er „die Mittheilung aus irgend einem Grunde für wünschenswerth hielt, mit einem Hinweis auf
die betreffende Stelle der sämmtlichen Werke“ begleitet.11 Auch hier
argumentiert Briegleb noch ganz ähnlich, wenn er eine „Auflösung der
Aufzeichnungen und ihre Notierung als ‚Paralipomena‘ zu den Texten,
zu denen sie die größte oder eine klar entscheidbare Vorstufennähe
haben“, empfiehlt; das trage zur „Einübung in stufengenetisches und
montagebewußtes Lesen bei“.
Nach solchen Urteilen wird deutlich, warum es nie eine Interpretation, eine zusammenhängende Darstellung oder auch nur eine Würdigung dieser kleinformatigen Arbeiten gegeben hat. Sie sind das Opfer
des traditionellen poetologischen Werkverständnisses geworden, von
dem eingangs die Rede war. Und man kann hier sehen, wie fatal Editionen wirken können: die Geschichte der Mißachtung der Heineschen
Aphorismen beginnt mit ihrer ersten Edition, und sie wurde später
nachhaltig durch eine Editionsauffassung gestützt, die das vollendete
Werk in den Mittelpunkt ihrer Argumentation stellte und die vor allem
in kleinformatigen Texten, in den Elementarteilchen poetischer Produktionen, nur vorbereitende Arbeit sah oder eben Ausgeschiedenes,
später nicht Verwandtes. Selbst moderne Editoren erweisen sich da
noch als Anhänger klassischer Kunstdoktrinen, die eben nur den Weg
zu oder den Abfall von einem Werk sehen konnten. Die editorische
Schichtentheorie ist schuld daran, daß auch in neuester Zeit die herausgeberische Verurteilung dieser kleinformatigen Texte auf dem Fuße
folgte: Heines kleine Texte, von Anfang an als Auswahl veröffentlicht,
10
11
Heine (wie Anm. 8), S. 332.
Strodtmann (wie Anm. 2), S. XIV.
Heines verkannte „Aphorismen“ und „Fragmente“
193
wurden auch später immer wieder nur zu mehr oder weniger willkürlich
thematisch begründeten Gruppen zusammengestellt und galten als
literarisch zweitrangig, weil es eben, wie Strodtmann das schon so klar
zum Ausdruck gebracht hatte, angeblich nur Einfälle waren, „wie die
Stunde sie brachte“. Auch die historisch-kritische Düsseldorfer HeineAusgabe, die Manfred Windfuhr herausgibt, folgt diesen Bahnen: die
sogenannten „Fragmente“ und „Einfälle“ werden als Paralipomena behandelt, also als Vorläufer zu einem größeren Werk – oder allenfalls
entstehungsgeschichtlich relevanter Abfall. Es heißt im Herausgeberbericht:
In den Anhängen jedes Bandes wird der Gesichtspunkt der genetischen oder
inhaltlichen Zusammengehörigkeit beibehalten. Denn hier erscheinen alle
Textteile, die Heine bei der endgültigen Fixierung seines Werkes entweder
ausgeschieden oder nicht aufgenommen hat, also Gedichte, Artikel, Vorreden,
außerdem öffentliche Erläuterungen zu den eigenen Werken und größere
Bruchstücke. Heine hat die Endform seiner Werke meist erst nach mehreren
Anläufen erreicht, dabei aber interessante Zwischenstadien hinterlassen, die
nicht wie in früheren Ausgaben in den Apparat, sondern in den Textanhang
gehören. Dies gilt auch für größere, nur handschriftlich überlieferte Paralipomena von eigenem Gewicht.12
Zu letzteren zählten offenbar auch die umfangreicheren Gedanken und
Einfälle bzw. Aphorismen. Zur Rechtfertigung der Gesamtgliederung
dieser Ausgabe ist bemerkt: „Diese Gliederung vermeidet es, Zusammengehöriges auseinanderzureißen oder Nachlesebände in Kauf zu
nehmen, in denen so oft der Ausschuß einer zu weit getriebenen editorischen Systematik übrigbleibt.“ (DHA I, 1260) Aber wird nicht gerade
dann, wenn die „Aphorismen“ und „Fragmente“, wo immer es nur
möglich ist, den „jeweiligen Hauptwerken“ zugeordnet werden, eben
eine editorische Systematik zu weit getrieben, da sich die Frage des
Eigenwertes dieser kleinen Texte gar nicht stellt, sondern stillschweigend das, was von ihnen eine thematische Verwandtschaft mit größeren
Texten erkennen läßt, als „Vorstufe“ oder „Paralipomenon“ interpretiert wird?
Vom Befund her läßt sich eine solche Auffassung kaum halten. Nahezu die Hälfte der knapp 360 kleinen Texte umfaßt zwar nur drei bis
12 Heinrich Heine: Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke, hg. von Manfred Windfuhr (= DHA), Bd. I/2: Buch der Lieder. Apparat bearbeitet von Pierre Grappin, Hamburg 1975, S. 1260f.
194
Heines verkannte „Aphorismen“ und „Fragmente“
vier Druckzeilen, aber beinahe 45 % der Texte sind zwischen fünf und
mehr als zwanzig Zeilen lang; weniger als 10 % sind rein autobiographisch motiviert. Für die These, daß es sich bei Heines kleinformatigen
Prosatexten wesentlich um Augenblickseinfälle oder um Vorarbeiten zu
größeren Werken handele, spricht eigentlich nur, daß Heine sie nirgendwo zu veröffentlichen versucht hat. Angesichts des permanenten
Publikationswillens scheint er damit selbst über ihre Zweitrangigkeit
entschieden zu haben. Aber auch dieses Argument ist nicht stichhaltig.
Denn Heine hat seine Memoiren, über deren publikationswürdigen
Wert nie auch nur der geringste Zweifel bestanden hat, ebenfalls nur
fragmentarisch publiziert. Der mögliche Einwand, daß Heines Publikationswille oder hier vielmehr der Unwille zugleich eine automatische
Dualisierung seines Werkes und eine indirekte Abwertung seiner eigenen Texte impliziere, läßt sich noch zusätzlich dadurch abschwächen,
daß Heine möglicherweise ihre öffentliche Wirkung und das öffentliche
Interesse daran unterschätzt hat. Es kam hinzu, daß sich diese kleinen
Texte der Integration etwa in den Rahmen eines weiteren Salonbandes,
also einer größeren publizistischen Einheit, ihrer Materie nach von
vornherein zu widersetzen schienen; weiterhin wäre zu bedenken, daß
Campe vermutlich niemals einer Veröffentlichung zugestimmt hätte, da
auch er natürlich an großformatigen Arbeiten interessiert war, das allerdings mehr aus wirtschaftlichen Interessen als aus Gründen einer poetologischen Konfession. Außerdem muß man noch anführen, daß Heine schon von den 30er Jahren an zu immer größeren Werkeinheiten bis
hin zur Gesamtausgabe seiner Schriften tendierte und hier vermutlich
keine adäquate Form einer Separatedition gefunden hätte. Doch es
lassen sich auch positive Argumente finden für die Bedeutung, die Heine seinen späteren Editoren und Interpreten zum Trotz seinen kleinen
Texten zuerkannt hat. Zunächst einmal spricht dafür die Tatsache, daß
er sie, sofern sie für ihn angebliches Vorstufenmaterial für etwas anderes gewesen sind, nicht nach ihrer vermeintlichen Auswertung vernichtet hat; es ist nicht einzusehen, warum Heine sich ein Leben lang mit
seinen Materialien herumgeschleppt haben sollte, nachdem er sie längst
benutzt hatte. Ein anderes Argument ist bedeutsamer: daß er seine
Texte, wie die Manuskripte in aller Deutlichkeit zeigen, teilweise stilistisch stark oder stärker noch als andere veröffentlichte Prosa durchgearbeitet hat. Das ist für Heine immer ein werkimmanentes positives
Bewertungskriterium; uninteressante Texte hat er in einem Zug nieder-
Heines verkannte „Aphorismen“ und „Fragmente“
195
geschrieben, Texte, die er stilistisch präzisiert hat und die in zwei oder
drei ineinandergeschriebenen Fassungen vorliegen, enthalten damit
Hinweise darauf, daß sie zumindest von seiner Seite aus ernstzunehmen
sind, weil er sich mit ihnen Mühe gegeben hat. Nicht weniger bedeutsam ist, daß er zur Niederschrift in aller Regel eben nicht zufälliges oder
beliebiges Papiermaterial benutzt und seine Notizen vermutlich zu
Heften zusammengefaßt hat. Dieses Argument hat dabei besonderes
Gewicht. Die große Masse der kleinen Prosatexte ist nicht unzusammenhängend überliefert worden; die Mehrzahl der für die Niederschrift
genutzten Blätter trägt Heftspuren, die erkennen lassen, daß mindestens
vier Hefte existiert haben. Jedes Heft hat etwa 25-30 Blätter enthalten.
Die Texte eines Heftes sind auf relativ große, durchweg ganz erhaltene
Blätter geschrieben; ein weiteres Heft ist offenbar von mittelgroßem
Format gewesen, in einem dritten Heft finden sich nur Teile von Blättern mit Einzelnotizen zusammengeheftet, ein viertes Heft besteht im
Format ebenfalls aus ungleichartigen Blättern.
Natürlich ist wiederum denkbar, daß die kleinen Prosatexte erst
nachträglich geheftet worden sind, etwa von Nachlaßverwaltern, die
Ordnung schaffen wollten. Aber auch dieses Argument ist reversibel,
und die Umkehr erhält sogar mehr Wahrscheinlichkeit. Die Tatsache,
daß die Prosatexte in vier Heften überliefert sind, macht wahrscheinlich, daß sie nicht erst nachträglich geheftet worden sind, sondern daß
Heine diese vielmehr zur Niederschrift seiner Texte benutzte und nicht
etwa auf „abgerissene Papierfetzen“, wie Strodtmann es meinte, geschrieben hat. Denn es ist nicht recht einzusehen, warum die Notizen,
hätte sie der Nachlaßverwalter nur geordnet, auf mehrere Hefte verteilt
zusammengeheftet worden wären; selbst wenn das aber der Fall gewesen wäre, spräche die relativ geschlossene Überlieferung der kleinen
Prosatexte dafür, daß Heine diese bereits zu Lebzeiten als etwas Eigenständiges gesammelt hat. Unter diesem Aspekt aber ist die Annahme,
daß Heine Hefte zur Niederschrift seiner kleinen Prosatexte benutzte,
wiederum wahrscheinlicher als das Gegenteil, oder vielmehr: wahrscheinlicher ist, daß er Sammlungen angelegt hat, die durchaus ihren
eigenen Ganzheitscharakter hatten. Diese Argumente lassen sich noch
durch weitere sekundäre Feststellungen stützen. Der erste Nachlaßverwalter, Julia, hatte an der Prosa ein relativ schwaches Interesse und hat
sich vor allem mit der Lyrik befaßt; dieses Desinteresse an der Prosa
aber macht es ebenfalls unwahrscheinlich, daß die kleinen Prosatexte
196
Heines verkannte „Aphorismen“ und „Fragmente“
Heines erst nach seinem Tode in mehrere, mindestens vier Hefte zusammengeheftet wurden. Von Alfred Meißner, seinem Freund, stammt
diese Einteilung aber auch wohl nicht, weil Strodtmann in seiner Erstveröffentlichung von einem „bunt durch einander gewirrten Haufen
von Manuskripten“ spricht,13 den er vorgefunden habe. Wäre das wörtlich zu verstehen und hätte Strodtmann diese Blätter erst zusammengeheftet, so wäre die Ordnung in den Heften vermutlich weitgehend mit
der seiner Ausgabe identisch; er hätte wohl auch nicht in jedes Heft
jenen Anteil thematisch nicht klassifizierbarer Texte hineingebracht, der
sich nun einmal dort findet und der nicht zu leugnen ist, auch wenn das
letztlich eher für als gegen Heines Sammel- und Ordnungsintentionen
spricht. Die gelegentlich gegebene Antwort, daß sie erst im Nachhinein
geheftet worden seien, ist aller Wahrscheinlichkeit nach zu widerlegen:
Heine hatte geheftete Materialien, und erst im Nachlaß sind sie auseinandergerissen worden; schon Strodtmann hatte eben nicht mehr vor
sich als den „bunt durch einander gewirrten Haufen von Manuskripten“. Schließlich gehört in die Reihe der Argumente noch die Bemerkung, daß auch die Überlieferungsträger einige Beweiskraft haben. Die
zum größten Teil heute in New York befindlichen Manuskripte14 sind
nicht etwa isoliert überliefert worden; 70 % der Texte finden sich mit
anderen Texten auf einem Blatt oder mehreren Blättern. Das widerlegt
ebenfalls die zitierte Angabe Strodtmanns zur Niederschrift der kleinen
Prosa, also die Meinung, Heine habe vorwiegend lose Blätter oder Papierstücke benutzt, die gerade zur Hand gewesen seien, Visitenkarten,
Rechnungen und ähnliches. Heine hat für seine Texte also keinen
zweitrangigen Überlieferungsträger gewählt, sondern den gleichen wie
für andere poetische Texte. Und die Überlieferungsgeschichte zeigt,
daß Heines kleine Prosatexte über Jahrzehnte hin relativ geschlossen
weitergegeben wurden. Das könnte natürlich auch aus Desinteresse an
dieser Sammlung geschehen sein. Aber die Annahme, daß schon Heine
diese Texte nicht nur gesammelt, sondern von vornherein zusammenhängend bewahrt hat, wird angesichts der weitzerstreuten Überlieferung
der übrigen Texte noch wahrscheinlicher. Damit aber wird die These,
daß es sich bei den kleinen Prosatexten um irgendwo beliebig festgehalStrodtmann (wie Anm. 2), S. XII.
Pierpont Morgan Library, New York. Einige Manuskripte befinden sich in der
Houghton-Library der Harvard-University, einzelne an anderen Orten in den USA und
in der UdSSR.
13
14
Heines verkannte „Aphorismen“ und „Fragmente“
197
tene Augenblickseinfälle handele, in sich noch brüchiger. Für den autochthonen Charakter der kleinen Prosatexte spricht zudem, daß sie
überlieferungsgeschichtlich nicht als Paralipomena zu größeren Werken
überliefert worden sind, sondern separat. Die größere Einheit, der sie
zuzuordnen sind, ist nicht der endgültig fixierte Text, sondern überall
dort, wo die Texte überhaupt inhaltliche Relationen aufweisen, der
Kontext der mitüberlieferten kleinen Prosatexte. Zwar finden sich einzelne Parallelen durch Heines gesamtes Werk zwischen 1816 und 1854.
Aber man kann genausogut andersherum argumentieren und feststellen, daß sich auch innerhalb der veröffentlichten Heineschen Werke
überall Parallelen und Entsprechungen finden und daß ein gelegentlich
etwa in der Schrift über Kahldorf nur angedeuteter Sachverhalt in dem
Buch über Börne dann acht Jahre später ausführlich behandelt worden
ist.15 Doch die Parallelen sind hier ohnehin in der Minderzahl, gemessen
am Korpus der Texte überhaupt, und die Behauptung, daß die kleinen
Prosatexte im wesentlichen nur Vorstufen der Werke seien, läßt sich
nicht halten. Um die Vorstellung von der Einheitlichkeit und strengen
Durchkomposition des Heineschen Gesamtwerkes plausibel zu machen, hat man sich gelegentlich der Sätze bedient, die Heine zur zweiten Auflage des Buches der Lieder niedergeschrieben hatte:
Bescheidenen Sinnes und um Nachsicht bittend, übergebe ich dem Publikum
das Buch der Lieder; für die Schwäche dieser Gedichte mögen vielleicht meine
politischen, theologischen und philosophischen Schriften einigen Ersatz bieten.
Bemerken muß ich jedoch, daß meine poetischen, eben so gut wie meine politischen, theologischen und philosophischen Schriften, einem und demselben
Gedanken entsprossen sind […].16
15 Vgl. dazu etwa DHA, Bd. XI mit Hinweis auf das Krähen des gallischen Hahnes
in Paris – eine Anspielung auf die Französische Revolution, die Heine 1831 in der
Einleitung zu Kahldorf über den Adel und dann ausführlicher 1840 in der Denkschrift
über Börne verwendet (Erläuterungen zu 52,8-9 bzw. 134,6 dieses Bandes).
16 DHA I, 1, S. 565f. Der Herausgeber dieses Bandes, Pierre Grappin, hat daraus
den Schluß gezogen, daß Heine 1837 das Buch der Lieder nicht mehr so wertvoll wie die
Prosawerke der ersten Pariser Zeit erschienen sei (DHA I, 2, S. 1236) – eine plausible
Erklärung. Der Gesamtherausgeber, Manfred Windfuhr, hat diese Sätze allerdings
anders gedeutet, nämlich als Hinweis auf „die Zusammenhänge in seinem verstreut
gedruckten Werk“ und daraus gefolgert, daß Heine sich der „Strukturierung seines
Gesamtwerkes durchaus bewußt“ gewesen sei. Ebd., S. 1260.
198
Heines verkannte „Aphorismen“ und „Fragmente“
Aber Heine betont hier nur die Einheitlichkeit seines Werkes und seines Denkens und hat damit noch keine Gliederungsvorschrift gegeben.
Da er hier so sehr auf der Einheitlichkeit seines Denkens besteht, ist es
editorische Willkür, die kleinen und kleinsten Texte nur als Vorstufenmaterial zu betrachten und ihnen damit einen Eigenwert innerhalb
dieser einheitlichen Gedankenwelt abzusprechen. Es gibt von Heine
ebensowenig Äußerungen über den zweitrangigen Wert seiner „Fragmente“ und „Aphorismen“ wie über ihre bloß schichtenspezifische
Bedeutung.
Wenn aber die Vorstufentheorie für diese kleinen Texte höchst fadenscheinig und fragwürdig ist – was waren sie dann, wofür waren sie
bestimmt? Sicher ist, daß Heine seine kleinen Prosatexte ohne Zweifel
lange beisammengehalten und sie ständig noch kumuliert hat. Und
ebenso sicher ist auch, daß er sie nicht wahllos auf seine Blätter brachte.
Friedrich Hirth hat bereits darauf aufmerksam gemacht, „daß die auf
demselben Zettel befindlichen Aphorismen […] immer inhaltlich zusammengehören, so wenig geschlossen gelegentlich der Zusammenhang erscheinen mag“. Und von Friedrich Hirth ist ebenfalls schon
richtig festgestellt worden, „daß ein Plan des Schriftstellers, einzelne
isolierte Gedankensplitter niederzuschreiben, nicht bestand, sondern
die einzelnen Sätze immer in bestimmte Zusammenhänge zu bringen
sind“.17 Seine Bemerkung, daß Heine beabsichtigt habe, die Notizen
später zu neuen Einheiten zusammenzufügen, bestätigt sich in gewisser
Weise vom Befund der überlieferten, früher einmal zusammengefaßten
Hefte. Ein erstes Heft hat in der Mehrzahl politische Kurztexte im
weitesten Sinne enthalten, etwa 50 von insgesamt 90 Notierungen. Der
Rest entfällt auf religiöse Aussagen, allgemeine zeitkritische Feststellungen und lebensphilosophische Bemerkungen. Der Vorrang politischer
Texte und Hinweise auf die Julirevolution lassen den Schluß zu, daß
dieses Heft wahrscheinlich in den 30er Jahren angelegt worden ist und
allenfalls bis in die frühen 40er Jahre hineingereicht hat. Ein zweites
Heft enthält in der Mehrzahl literarische Texte, einige wenige allgemeine politische Aussagen sowie ebenfalls Lebensphilosophisches, ein
drittes Heft allgemeinere Texte mit persönlichen Erfahrungen vermischt, generelle Aussagen zur Welt und zur Geschichte; hier stehen
17 Friedrich Hirth: Heinrich Heines Aphorismen, in: F. H.: Heinrich Heine. Bausteine zu
einer Biographie, Mainz [1950], S. 175 bzw. 179. Hirths Aufsatz enthält im Grunde genommen bis heute die einzige ernsthafte Auseinandersetzung mit Heines Aphorismen.
Heines verkannte „Aphorismen“ und „Fragmente“
199
Politisches und Literarisches deutlich im Hintergrund. Ein viertes Heft
hat offenbar allgemeine theologische Bemerkungen enthalten, allerdings
auch wieder Generelles und einige zeitgenössische politische Kommentare. Eine völlig eindeutige Zuordnung der Hefte zu klar eingrenzbaren
Themenbereichen wäre angesichts der assoziativ-aphoristischen Denkweise Heines aber auch nicht zu erwarten. Doch die Tendenzen lassen
erkennen, daß Heine seine Hefte offenbar nicht willkürlich und wahllos
mit Notizen gefüllt hat, sondern gewisse inhaltlich-gedankliche
Schwerpunkte beachtete. Und das läßt die vorsichtige Schlußfolgerung
zu, daß Heine bei einer möglichen endgültigen Ordnung nicht nach
chronologischen, sondern eindeutig nach thematischen Einteilungskriterien verfahren wäre.
Was läßt sich aus alledem festhalten? Sicher scheint zu sein, daß es
sich hier um eigenständige Texte handelt, nicht um Vorarbeiten oder
literarischen Abfall. Denn selbst wenn man hier einen Teil der genannten Gründe anerkennen würde, so gilt doch, daß alle diese kleinen Texte auch jenseits der stilistischen Argumente die Kriterien einer für Heine hochwertigen literarischen Leistung aufweisen. Dazu gehört der
Variantenreichtum in der Formulierung, also das Ausfeilen der Sprache
bis zu einer letztmöglichen knappen Formulierung hin, die relative
Geschlossenheit der Texte, die Konzentration auf ein Faktum oder ein
bestimmtes Leitwort, auf einen Fall oder einen historischen Vorgang;
wir haben dennoch auch hier, wie bei Heine so oft, Mehrdeutigkeiten,
Mehrschichtigkeiten, gedankliche Polarisierungen und Konzentrationen, fast nie nur einen Sachverhalt, sondern fast immer auch seine
Exegese. Die kleinen Prosatexte lassen ebenso wie die großformatigen
Arbeiten durchaus etwas von der Struktur und den Formen des Heineschen Denkens sichtbar werden: der Einfall als kleinste Denkeinheit
Heines spiegelt ebenso wie die größeren Formen die produktiv gewordene Spannung zwischen subjektiver Beobachtung und objektiver Aussage, und sie läßt Heines Neigung zur Konzentration auf den paradigmatischen Einzelfall ebensogut erkennen wie seine Tendenz, eine Aussage bis ins äußerste Extrem zu führen, sie in ein Spannungsfeld zu
bringen, nicht linear zu denken, sondern das Gemeinte gleichsam von
allen Seiten zu umzingeln, um es mit einem blitzschnellen Zugriff seines Denkens zu fassen. Heines kleine Texte, neben den tradierten Gattungen fast zum Verschwinden gebracht, gehören nicht in den Bereich
der Vorarbeiten zu größeren Einheiten, sondern in den Kontext der im
200
Heines verkannte „Aphorismen“ und „Fragmente“
frühen 19. Jahrhundert so stark genutzten literarischen Kleinformen,
wie sie uns in den damals überall verfaßten Skizzen, Charakteren, Bildern, Studien, Notizen, Aphorismen, Arabesken entgegentreten.
Wichtiger aber noch ist die Frage nach der Funktion der kleinen
Texte: warum hat Heine sie überhaupt in dieser Fülle niedergeschrieben? Mehrere Antworten sind möglich. Manche Notiz enthält soviel
politische Konterbande, daß sie in dieser Form nie hätte veröffentlicht
werden können – man kann einer Reihe von Aphorismen politische
Radikalität nicht absprechen, und es kann kein Zweifel sein, daß Heine
hier eigenste Gedanken denkt. Ihm ist bei aller Vertrautheit mit den
französischen Zuständen der Blick für eine deutsche Revolution, ihre
Eigentümlichkeit und Notwendigkeit nicht abgegangen, auch wenn er,
scheinbar nur witzig, vom Pöbel schreibt: „Wenn ich von Pöbel spreche, nehme ich davon aus: erstens alle die im Adreßbuch stehen, und
zweitens alle die nicht drin stehen“.18 Der Scherz hat eine sehr ernste
Kehrseite. Denn Pöbel sind damit alle – aber Heine will nicht alles als
Pöbel abtun, sondern er wertet den Begriff des Pöbels damit indirekt
und doch nachdrücklich auf. Pöbel sind alle, das Volk, und indem er
sich auf den ersten Blick gesehen vom Pöbel distanziert, zählt er sich
eigentlich diesem, dem Volk, zu: die durch das Adreßbuch geschaffene
hierarchische Ordnung ist falsch, fabulös, irreführend.
Andere Angriffe auf die politisch-staatlichen Verhältnisse sind noch
schärfer. Aber Heine hat die Aphorismen doch wohl nicht als geheimes
Tagebuch betrachtet, das deswegen angelegt wurde, weil diese politischen Bemerkungen das Licht der Öffentlichkeit nicht erblicken konnten. Die „Aphorismen“ und „Fragmente“ und „Einfälle“ sind keine
Tarnkappen – zumal der Anteil des nicht unmittelbar Politischen, Religiösen und Philosophischen hoch ist. Gerade für diese kleinen Texte
gilt der Satz aus der zweiten Auflage des Buches der Lieder, daß seine
poetischen, politischen, theologischen und philosophischen Schriften
„einem und demselben Gedanken“, also einem einheitlichen Denken
„entsprossen sind“, ganz besonders: die kleinen Texte sind ein Spiegelbild der schriftstellerischen Existenz Heines in nuce. So ist denn auch
die Unterteilung, die Strodtmann und in seinem Gefolge Elster und
andere Editoren vornahmen, also die Trennung zwischen Politischem,
Religiösem und Literarischem und innerhalb dessen eine mehr oder
weniger assoziativ geleitete Anordnung schon deswegen unsinnig, weil
18
Loewenthal (wie Anm. 6), S. 152f.
Heines verkannte „Aphorismen“ und „Fragmente“
201
sie Grenzen setzt, wo Heine gar keine gesehen hat. Der geradezu unendliche Raum der von Heine abgeschrittenen Themen ist aber auch
nicht als willkürliche Raisoniererei über alles mögliche zu erklären, sondern zeigt, welche Bedeutung der Summe der kleinen Texte zukommt:
sie sind so etwas wie ein Systemersatz, treten an die Stelle großer Kompendien und haben eigentlich nichts Geringeres als den gesamten Weltlauf zum Inhalt. Nichts ist ausgenommen aus der kommentierenden
Berichterstattung, alles kann Gegenstand sein: dahinter verbirgt sich der
nicht geringe Anspruch, tatsächlich über alles in der Welt sprechen zu
können. Das beleuchtet einerseits den immer noch vorhandenen Glauben an die Allmacht des Dichters, der schreiben kann, über was er will,
zum anderen aber auch den ungeheuren Anspruch der kleinen Texte:
sie treten gewissermaßen an die Stelle großer Welterklärungsbücher, an
die Stelle auch von Weltsystemen, wie Goethe sie etwa in seiner organologischen Kunstbetrachtung eingeführt hat. Auch das sagt etwas
über die Bedeutsamkeit dieser kleinen Texte aus, die eben ein traditionelles Betrachtungssystem ersetzen sollen. Mindestens ebenso bedeutsam aber ist die radikale Tendenz. Man hat das alles immer wieder mit
Heines Witz in Verbindung bringen wollen, mit seiner Neigung zur
Pointe, seinem ironischen Sprechen. Aber das ist zu kurz gesehen, denn
was wir hier vor uns haben, ist eine radikalisierte Weltansicht, die sich
nicht im witzigen Spiel erschöpft, sondern die gerade in ihrer Radikalität die Wahrheit vermitteln will. So sind Heines kleine Texte Bruchstücke einer Aufklärung im 19. Jahrhundert, die ihrem Wahrheitsanspruch nachkommt. Die Ansicht, daß diese Welt unvollkommen sei,
teilt Heine mit seinem bewunderten Vorbild Lessing. Ebenso charakteristisch aber ist für seine Fragmente ein progressiver Zug, die Suche
nach einer besseren Welt und der Wahrheit, wobei darunter nicht die
Wirklichkeit naturgesetzlicher Kausalitäten zu verstehen ist, sondern
das, was das eigentliche Wesen der Dinge ausmacht. Das soll freilich
nicht heißen, daß Heine nicht auch einen Blick für technische Entwicklungen und für die Moderne des 19. Jahrhunderts gehabt habe. Er notiert einmal:
Die höchste Blüthe des deutschen Geistes: Philosophie und Lied – Die Zeit ist
vorbei, es gehörte dazu die idyllische Ruhe, Deutschland ist fortgerissen in die
Bewegung – der Gedanke ist nicht mehr uneigennützig, in seine abstrakte Welt
stürzt die rohe Thatsache – der Dampfwagen der Eisenbahn gibt uns eine
zittrige Gemütserschüttrung, wobei kein Lied aufgehen kann, der Kohlen-
202
Heines verkannte „Aphorismen“ und „Fragmente“
dampf verscheucht die Sangesvögel und der Gasbeleuchtungsgestank verdirbt
die duftige Mondnacht.19
Aber auch die Erkenntnis dieser Lebensbedingungen ist Aufklärung, so
wie die Radikalität des Blicks und die Unbeirrbarkeit der Formulierung.
Hier schwingt auch noch ein bißchen von der Göttin Irascibilität mit,
der Lessing gehuldigt hat – auch Heines Texte sind im Grunde genommen streitbare Texte.
So ist der Aphorismus, das Fragment, sind die kleinen Texte der Gedanken und Einfälle in mehrfacher Hinsicht aufklärerische Instrumente.
Daß Aufklärung auch politische Aufklärung für Heine beinhaltet, versteht sich von selbst. Aber auf der anderen Seite zeichnet sich hier, im
Heineschen Aphorismus, noch eine andere Bewegung ab, die für das
frühe 19. Jahrhundert mindestens ebenso charakteristisch ist. Und dieses unterscheidet letztlich die Aufklärung des frühen 19. Jahrhunderts
von der des 18. Jahrhunderts. Was ist die Basis, wer liefert das Fundament, von dem her Aufklärung auch im radikalen Sinne des Wortes
möglich ist? Im 18. Jahrhundert waren es große menschheitliche Konzepte – von alledem ist zu Heines Zeiten nichts mehr geblieben, und es
kann kein Zweifel sein, daß in diesem Sinne die Aufklärung eher eine
Rückzugsposition bezogen hat. Aber zugleich werden hier Entwicklungen des neuen Jahrhunderts sichtbar, die nicht weniger bedeutsam sind
als das Ende der alten Aufklärung des 18. Jahrhunderts. Denn der einzige Bezugspunkt, von dem Heine aus argumentiert, ist sein eigenes
Ich, und seine direktesten Verlautbarungen und Äußerungen sind seine
Gedanken und Einfälle. So sind diese eigentlich Zeugnisse einer fortdauernden Ich-Philosophie, und mit ihnen beginnt in gewisser Weise die
Entdeckung des Ich im 19. Jahrhundert, der Individualismus, das Aufsich-gestellt-Sein eines jeden trotz aller Traditionen. Das Jahrhundert
der Einzelnen dämmert herauf, und es ist Heine, der sich als einer der
ersten von seiner Individualität her begreift. So urteilt er denn aus seiner Sicht, von der er aber überzeugt ist, daß sie die wahre sei – wenn
Aufklärung verbreitet werden kann, dann nur noch von Individuen,
nicht mehr von Religionen, Menschheitskonzepten oder Weltanschauungen. In dieser Spätphase der Aufklärung ist das Ich die einzige Aufklärungsinstanz, und es kann kein Zweifel sein, daß es sich deswegen
auch der ganzen Welt bemächtigen kann, weil er eines Korrektivs von
19
Ebd., S. 195.
Heines verkannte „Aphorismen“ und „Fragmente“
203
außen nicht mehr bedarf. So wird also auch von hierher verständlich,
warum die große Zahl seiner Aphorismen an die Stelle eines Welterklärungssystems tritt. Was begonnen hat, ist die Zeit der Einzelnen, und es
ist vor allem seit den dreißiger Jahren nicht mehr ein romantisch verklärter, sondern ein desillusionierter Blick, den Heine an die Dinge legt.
Auch von hierher ist die Radikalität seiner Aussagen verständlich und
legitimiert. Die Enthüllungen machen übrigens vor der eigenen Person
nicht halt. Einmal heißt es: „Da und da hatte ich einen großen Gedanken, hab’ ihn aber vergessen. Was mag es wohl sein? Ich plage mich mit
Erraten.“20 Was Heine beschreibt, ist ein allgemeiner Weltniedergang,
mehr jedenfalls als ein fröhlicher Blick in die Zukunft; wenn er einmal
feststellt: „Wie vernünftige Menschen oft sehr dumm sind, so sind die
Dummen manchmal sehr gescheut“,21 so ist ein solcher Satz mehr als
nur eine rhetorische Pointe, nämlich Ausdruck fast schon des Nihilismus, wie er sich ungefähr gleichzeitig auch bei Büchner durchsetzt. Die
großen Konzeptionen gelten nicht mehr, weder was den Lauf der Geschichte noch was den Sinn des einzelnen Lebens angeht, aber um so
deutlicher wird ins Blickfeld gerückt, was tatsächlich ist. So treffen sich
in Heines sogenannten Aphorismen und Fragmenten auf eindrucksvolle Weise das 18. und das 19. Jahrhundert, die Aufklärung und die Desillusionierung, die großen Entwürfe der Menschheit und die Ernüchterung, Skepsis, die Einsicht, daß das Ich allein noch übriggeblieben ist.
Heine hat gelegentlich über seine Exilsituation geschrieben, besonders,
was seine Existenz in Frankreich angeht, wenn er etwa sagt: „Mein
Geist fühlt sich in Frankreich exiliert, in eine fremde Sprache verbannt.“22 Zugleich ist das aber auch das Exil des Ich, das im 18. Jahrhundert nicht mehr heimisch sein kann und in ein sehr unwirtliches 19.
Jahrhundert hinausgetreten ist. Eine gehörige Portion Sarkasmus ist
freilich auch in der Ich- Philosophie Heines vertreten. Er schreibt:
Friedliche Gesinnung. Wünsche: bescheidene Hütte, Strohdach, aber gutes
Bett, gutes Essen, Milch und Butter, sehr frisch, vor dem Fenster Blumen, vor
der Türe einige schöne Bäume, und wenn der liebe Gott mich ganz glücklich
machen will, läßt er mich die Freude erleben, daß an diesen Bäumen etwa
sechs bis sieben meiner Feinde aufgehängt werden – Mit gerührtem Herzen
werde ich ihnen vor ihrem Tode alle Unbill verzeihen die sie mir im Leben
20
21
22
Heine (wie Anm. 3), Bd. 7, S. 448.
Loewenthal (wie Anm. 6), S. 183.
Ebd., S. 170.
204
Heines verkannte „Aphorismen“ und „Fragmente“
zugefügt – ja, man muß seinen Feinden verzeihen, aber nicht früher als bis sie
gehenkt worden.23
Das ist zynisch, aber irgendwo spricht sich auch in dieser Feststellung
die unbeschränkte Herrschaft des Ich aus. Dieses absolute Ich wird hier
geboren, und bei aller friedlichsten Gesinnung ist es doch auch ein
militantes Ich, das sich hier ausstellt. So ist die Aufklärung des 18. Jahrhunderts oder besser der Weg vom 18. ins 19. verbunden mit einer
Reduktion der aufklärerischen Fundamente bis auf das Ich hin als letzte
Einzelgröße, die allein noch imstande ist, Aufklärung zu leisten. Aber
Heine betreibt sie um so radikaler, schonungsloser und gründlicher.
Heine, der späte Aufklärer im 19. Jahrhundert, das absolute Ich, das
aber den Sinn seines Lebens in der Aufklärung sieht, hat mit ähnlicher
Hellsichtigkeit auch etwas über seine eigene Situation gesagt, wenn er
seinen Standort selbst so beschrieb: „Um meine Wiege spielten die
letzten Mondlichter des achtzehnten und das erste Morgenrot des
neunzehnten Jahrhunderts“.24 Nichts könnte klarer Heines Position
bezeichnen, nichts aber letztlich auch deutlicher machen, warum Heine
es bei den Elementarteilchen der Selbstdarstellung, bei Gedanken, Einfällen und Aphorismen, belassen mußte. Und damit ist am Ende vielleicht die richtige Antwort auf die Frage nach Sinn und Bedeutung der
kleinen Prosatexte gefunden: Strodtmann, der sie so willkürlich ediert
hat, hat doch eine richtige Idee gehabt, wenn er vermutete, daß der
„weitaus größte Teil“ der in Heines Nachlaß vorgefundenen Papiere für
den Nachlaßband in der Werkausgabe bestimmt gewesen sei, von dem
im Briefwechsel mit Campe mehrfach die Rede ist. Geht man davon
aus, daß die Mehrzahl der Prosatexte etwa zwischen 1830 und 1847
niedergeschrieben worden ist, dann hätten wir hier tatsächlich nichts
Zweit- oder Drittrangiges vor uns, sondern nichts Geringeres als eine
fragmentarische Geschichte des Heineschen Denkens selbst, ein Komplementärunternehmen zu seinen immer gewollten und nie abgeschlossenen Memoiren, die ihm jahrzehntelang sein wichtigstes Werk waren.
Sagen wir getrost noch schärfer: es sind seine gedanklichen Memoiren,
die sich anders kaum schreiben ließen, die Memoiren eines modernen
Ich, das letztlich, was sein Schreiben und Denken anging, auch eine
moderne, gleichsam fragmentarische Existenz führte.
23
24
In gegenüber Elster etwas geänderter Fassung ebd., S. 202f.
Ebd., S. 187.
H E I N E S ‚M I L LE N N I U M ‘
U N D E I CH E N D O R F FS ‚ A LT E
S CH Ö N E Z E I T ‘.
Z U R U T O PI E I M F RÜ H E N 19. J A H RHU N D E RT
Was Heine und Eichendorff miteinander gemeinsam haben, ist auf den
ersten Blick nicht viel anderes als das, was Gegensätze miteinander
verknüpft. Eichendorff ist neun Jahre vor Heine geboren und ein Jahr
nach ihm gestorben. Was ihn darüber hinaus mit Heine verbindet, ist
außer einigen wechselseitigen Erwähnungen, die von Heines Seite aus
direkt und sehr freundlich, von seiten Eichendorffs indirekt und sehr
wenig freundlich sind, und allgemein Spätromantischem, das weder für
den Einen noch für den Anderen sonderlich spezifisch ist, nur eines,
nämlich die beiderseitige offensichtliche Vorliebe für den PygmalionStoff. Heine hat in seinen Elementargeistern den Mythos von der lebendig
gewordenen Marmorstatue in einiger Ausführlichkeit beschrieben und
die Geschichte von dem jungen Ritter nacherzählt, der in Italien, dem
gewöhnlichen Schauplatz derartiger Aventiuren, von den „schönen
Unholden“, den verbannten Heidengeistern, mit allerlei lieblichen Listen umgarnt wird und der nächtlicherweise (soweit ist auch Heine
noch Romantiker) in eine Villa gerät, wo er einer schönen Dame begegnet, die eben der marmornen Bildsäule gleicht, die ihn unter den
Trümmern des Heidentums, unter denen er gerne wandelt, mit Magie
umgeben und ihn verzaubert hat. Er folgt der Einladung der schönen
Fremden, aber dann fällt er in wüste Träume und schlägt, immer noch
im Traum, der schönen Unbekannten, die sich in ein häßliches Ungeheuer verwandelt hat, das Haupt ab; als er morgens erwacht, sieht er
sich zwar in seinen wohlbekannten Ruinen wieder, aber die schöne
Bildsäule, die er so sehr geliebt, ist von ihrem Postamente herabgestürzt, ihr abgebrochenes Haupt liegt zu seinen Füßen. Das ist, mit
einigen Variationen, zugleich Florios Geschichte, Eichendorffs Marmorbild, die lebendig gewordene Venusstatue, die als „schöne Herrin des
Gartens“ erscheint.1 Es sind romantische Versionen der Venusbergge1
Sämtliche Werke des Freiherrn Joseph von Eichendorff. Historisch-Kritische Ausgabe […],
hg. von Hermann Kunisch (†) und Helmut Koopmann (= HKA), Bd. V/1, Tübingen
1998, S. 53.
206
Heines ‚Millennium‘ und Eichendorffs ‚alte schöne Zeit‘
schichte; die Fabel vom „bösen Trug“ und der Zaubermacht der längst
totgesagten Antike, die hier für Eichendorff und für Heine aus ihrem
Grabe wieder heraufgestiegen ist, gleicht sich bei beiden nur zu sehr,
auch wenn bei Heine bloß in Abbreviaturen wiedergegeben wird, was
Eichendorff in seiner so mäandrisch verschlungenen Geschichte bis ins
vieldeutige Detail hin erzählt hat.
Eichendorffs Marmorbild war 1819 erschienen, Heines Elementargeister
wurden 1837 im dritten Teil des Salon veröffentlicht. Natürlich kannte
Heine Eichendorffs Novelle, und er hat sich sogar sehr lobend über
Eichendorffs Bearbeitung dieser Geschichte ausgelassen: „Der Freyherr
von Eichendorff“, so heißt es bei ihm, „ein neuerer deutscher Schriftsteller, hat sie zu einer schönen Erzählung aufs anmuthigste benutzt“.2
Aber das ist auch alles. Sonderlich enge Gemeinsamkeit schafft es natürlich nicht, und die Gemeinsamkeiten zerrinnen uns schon wieder
unter den Fingern, kaum daß wir sie gefunden haben. Denn der Stoff
war im 19. Jahrhundert überaus beliebt: Immermann hat ihn in seinem
Neuen Pygmalion ebenso genutzt wie Willibald Alexis in seiner Novelle
Venus in Rom. Es ist ja zugleich das Tannhäusermotiv, von Tieck in Der
getreue Eckart und der Tannenhäuser ebenso bearbeitet wie von Brentano in
seinen Romanzen vom Rosenkranz. Dazu gehören auch Heines eigenes
Tannhäuser-Gedicht und ebenfalls Die Göttin Diana, der VenusbergNachtrag zu den Göttern im Exil, auch Geibels Ballade, von Wagners
gesamtkunstwerklichem Musikdrama ganz zu schweigen. Der Stoff ist
im 19. Jahrhundert dutzendfach variiert, ausgeweitet und neu inszeniert
worden bis hin zu Jensens Gradiva, über die Sigmund Freud dann psychoanalytisch gehandelt hat. Übrigens hat Heine nicht einmal den Stoff
von Eichendorff, sondern von dritter Seite, von Heinrich Kornmanns
Mons Veneris, Fraw Veneris Berg, schon 1614 in Frankfurt erschienen,
„die wichtigste Quelle für das ganze Thema“, wie Heine selbst erklärt.3
Heine druckt in seinen Elementargeistern auch Brentanos WunderhornGedicht ab und die Vorlage für sein eigenes Tannhäuser-Gedicht von
2
Heinrich Heine. Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke, hg. von Manfred Windfuhr (= DHA), Bd. 9, Hamburg 1987, S. 51 – Das ist von Heine ungenau oder zumindest unzureichend festgestellt. Über die Beziehungen der Eichendorffschen Erzählung
zu Happels Denkwürdigkeiten und zu Novalis’ Heinrich von Ofterdingen sowie zu dem von
Kind herausgegebenen, heute so gut wie unbekannten 7. Band der Tulpen und zur
Gespenstergeschichte Der Fremde in Lucca vgl. Gerhard Möbus: Der andere Eichendorff,
Osnabrück 1960, S. 78-101.
3
Ebd., S. 51.
Heines ‚Millennium‘ und Eichendorffs ‚alte schöne Zeit‘‘
207
1836, und er erwähnt ebenfalls ein absurdes Zauberbuch, Disquisitionum
magicarum libri sex, auctore Martino Del Rio von 1608, wo er den Stoff
ebenfalls gefunden habe. Das alles schafft aber selbstverständlich noch
keine Gemeinsamkeiten zwischen Eichendorff und Heine, sondern
zeigt nur, daß beide unter Dutzenden anderer sich über einen Stoff
hergemacht haben, der zu den Lieblingsstoffen des 19. Jahrhunderts
gehörte, weil er als romantisch galt.
Sonst gibt es eben nur wenig an Beziehungen, an Äußerungen übereinander oder zu Dritten: sie haben nebeneinander hergelebt, aber nicht
sehr viel miteinander zu tun gehabt. Heine hat sich über Eichendorff
zwar immer nur lobend ausgelassen. In der Romantischen Schule ist über
ihn zu lesen:
In der That, welch ein vortrefflicher Dichter ist der Freyherr von Eichendorff;
die Lieder die er in seinem Roman Ahnung und Gegenwart eingewebt hat, lassen
sich von den Uhlandschen gar nicht unterscheiden, und zwar von den besten
derselben. Der Unterschied besteht vielleicht nur in der grüneren Waldesfrische und der kristallhafteren Wahrheit der Eichendorffschen Gedichte.4
Aber Heine lobt die Romantiker reihenweise, und er sagt auch deutlich,
daß hier der Ort sei, wo er noch manchen von der Romantischen Schule rühmen könne. Und das tut er auch in ausführlichster Oberflächlichkeit: sein Maßstab ist Uhland, Erzromantiker schlechthin für Heine, ein
Jugenderlebnis, romantisch, weil Uhland schon damals „das alte Lied
von der alten Zeit“ sang.5 Und hinter Uhland stellen sich für Heine
eigentlich dann auch fast alle anderen Romantiker: außer Eichendorff
Justinus Kerner und Gustav Schwab, Wilhelm Müller und Brentano,
Chamisso und Wetzel: in Uhland, so heißt es, „resumiren sich die meisten seiner lyrischen Gespielen von der romantischen Schule“.6 Das ist
Heines Romantik-Bild, wenn man von den Auslassungen über Tiecks
chamäleonhafte Fertigkeiten, über Brentanos Merkwürdigkeiten, Arnims Phantasmen und einige romantische Verrücktheiten und von den
kritisch-boshaften Tiraden über den altgewordenen Ludwig Tieck, den
„Hund, der einst gehört zu den Bessern“, wie es im Tannhäuser heißt,
einmal absieht, und in diesem Bild ist Eichendorff nicht sehr viel mehr
als ein freundlicher Statist.
4
5
6
DHA 8/I, S. 237.
DHA 8/I, S. 234.
DHA 8/I, S. 239.
208
Heines ‚Millennium‘ und Eichendorffs ‚alte schöne Zeit‘
Aber dieses harmlose und freundliche Porträt trügt, zumindest aus
der Sicht Eichendorffs. Von literarischer Gegenliebe keine Spur; eher
vom Gegenteil. Namen hat Eichendorff selten genannt; doch seine
Meinung war nur zu deutlich. In seiner Schrift Ueber die Folgen von der
Aufhebung der Landeshoheit der Bischöfe und der Klöster in Deutschland liest
man von „fader Schwärmerey oder politischem Wahnsinn“, der alle
ernsten Verhältnisse verwirrend unter Wasser setzte, und vom falschen,
lügenhaften Leben.7 Das dürfte sich nur zu eindeutig auf Literatur und
Wirken des Jungen Deutschland beziehen. Es ist kein Einzelurteil.
Denn auch in seiner Schrift Der deutsche Roman des 18. Jahrhunderts in
seinem Verhältniß zum Christenthum stand etwas über „Journalisten, Touristen, Magister der freien Künste u. dgl. m.“.8 Das war deutlich genug,
selbst wenn man nicht Heines Satz „Die Journale sind unsere Festungen“ gelesen und Börnes Formel vom „Zeitschriftsteller“ nicht gehört
hatte. Wer könnte mit den Touristen anders gemeint gewesen sein als
die Verfasser der zahllosen und endlosen Reiseberichte, vor allem aus
Paris, allen voran Börnes Schilderungen aus Paris und Heines Reisebilder,
beides auffälligste Dokumente eines literarischen Tourismus, den es
vorher in der Form tatsächlich noch nicht gegeben hatte? Und mit den
„Magistern der freien Künste“ dürfte Eichendorff wiederum die Jungdeutschen und deren Begeisterung für den Saint-Simonismus gemeint
haben, die allzufreien Künste, die anrüchige Philosophie der Fleischwiedereinsetzung und die Verteidigung der „freien Ehe“, die offenen
und versteckten zahlreichen Angriffe auf das Christentum und die Sensualismusphilosophie. Alle diese Kombattanten der Säkularisation leben, so meint Eichendorff, „von der endlosen Bewegung und Negation“, und man braucht sich nur jungdeutscher Schlagwörter wie „Bewegungsliteratur“ und „Bewegungsparteien“ zu erinnern, um zu wissen,
was Eichendorff gemeint haben dürfte. Das Bild vom welt- und zeitabgewandten Romantiker Eichendorff ist eine zwar liebgewordene, aber
allzu trügerische Vorstellung. Eichendorff hat die „politische Poesie“
seiner Zeit, wie er sie nannte,9 nur zu genau gekannt. Heine kommt
nicht allzugut weg.
Heine war der Erste, der in diesem verwilderten Feldzuge das sauve qui peut!
öffentlich ertönen ließ, und mit zweischneidiger Ironie, von dem in der eige7
8
9
HKA X/1, S. 47.
HKA VIII/2, S. 217.
HKA VIII/2, S. 214f.
Heines ‚Millennium‘ und Eichendorffs ‚alte schöne Zeit‘‘
209
nen Phantasterei steckengebliebenen Munitionskarren der Romantik rasch die
letzten Gurten und Stränge durchschneidend, mit Sattel und Zeug zu dem
schon lange schadenfroh gegenüber lauernden Heidenthum Reißaus nahm.
Eine ganze Freischar romantischer Trainknechte, Nachzügler und Marodeurs,
ja Alles, was inzwischen am Glauben Schiffbruch gelitten, folgte ebenso frech,
aber weniger witzig als Heine seinem willkommenen Signalrufe […].10
Auch wenn wir nicht wüßten, welch scharfes Urteil Eichendorffs Begriff des Verwilderns enthält, wären wir sicher, wie Eichendorff auf den
letzten Romantiker zu sprechen war. Heine erscheint als eben einer
jener wetterwendischen und unzuverlässigen Gaukler, als die ihm, Heine, die meisten der altgewordenen Frühromantiker erschienen waren, in
direkter Umkehr des Urteils. Daß Heine Eichendorff gelobt hatte,
konnte diesen nicht bestechen. Heine blieb für ihn der durchgebrannte
Romantiker, und „frech“ blieb, was er sagte: in der Geschichte der
Heinewirkung ein nur zu bekanntes und beliebtes Urteil.11 Eichendorff
ist kein sonderlich einfallsreicher Heine-Kritiker gewesen.
Um so auffälliger ist die eigentümliche Militanz der Argumentation.
Eichendorff operiert mit Kriegsbegriffen, nicht zufällig, denn in seinen
Augen geht es um einen allgemeinen Feldzug der guten Literatur gegen
die schlechte und um den der „Poesie der Wahrheit“ gegen die „Poesie
der Lüge“12 – auch das übrigens ein Hinweis darauf, wie wenig Eichendorff der unbeschwerte Romantiker ist, den die Zeit nichts angeht. Sein
Urteil über das Junge Deutschland und damit auch über Heine als einen
seiner Chorführer war so scharf, weil er hier ein Prinzip am Werke sah,
das er bekämpfen mußte, wollte er sich selbst nicht verleugnen:
Jene antichristliche Poesie nennt sich selbst die jungdeutsche, eine ganz unhistorische Anmaßung, die wir durchaus nicht gelten lassen können. Sie ist nicht
deutsch, denn wir Alle haben ihre Großväter Rousseau und Voltaire in Frankreich und ihren englischen Vater Byron noch recht gut gekannt, und jung ist
10 HKA VIII/2, S. 232f. Weitere Anspielungen Eichendorffs auf Heine finden
sich in Eichendorffs Entwürfen zum Puppenspiel Das Incognito in Bemerkungen über
den Anführer der Liberalen Freimund (dazu Hugo Häusle: Eichendorffs Puppenspiel ‚Das
Incognito‘. Deutsche Quellen und Studien, Heft 6, Regensburg 1910, S. 59 und S. 42).
11 Zur Heine-Rezeption in Deutschland, insbesondere im 19. Jahrhundert vgl.
Eberhard Galley: Heine im Widerstreit der Meinungen 1825-1965. Schriften der Heinrich-HeineGesellschaft Düsseldorf 3, Düsseldorf 1967 und Verf.: Heinrich Heine in Deutschland. Aspekte
seiner Wirkung im 19. Jahrhundert, in: Nationalismus in Germanistik und Dichtung, Berlin
1967, S. 312-333.
12 HKA VIII/2, S. 230.
210
Heines ‚Millennium‘ und Eichendorffs ‚alte schöne Zeit‘
sie auch nicht, wenn man unter Jugend nicht Juvenilität, sondern nur Das
verstehen will, was wirklich frische Triebkraft zeigt. Sie hat aber, wie wir oben
gesehen, nichts Neues erfunden, sondern nur dem längstvorbereiteten Unglauben poetischen Ausdruck, und somit allerdings eine verschärfte und allgemeinere Wirksamkeit gegeben; sie hat die alte Negation, die weder mehr leben
noch sterben konnte, endlich in allen ihren Variationen zu Tode gespielt.13
Hier finden sich für Eichendorff sehr entscheidende Vokabeln: das
Antichristliche, Unglauben, die alte Negation. Die alte Negation ist
natürlich für Eichendorff die Aufklärung und dahinter jede Form des
Protestantismus, der, indem er reformieren wollte, „vielmehr gegen die
Ueberlieferung schlechthin protestirte“:14 für Eichendorff die Erscheinung des Nihilismus schlechthin. Daß das Junge Deutschland so als der
letzte Ausläufer der Aufklärung erschien, war nicht nur Eichendorffs
Sicht: die jungdeutsche Bewegung selbst und allen voran Heine haben
in den Aufklärern und in Lessing insbesondere ihre Ahnherren gepriesen und als deren Vorläufer wiederum Luther erkannt. Eben das aber
machte sie zum zwangsläufigen Feind und Eichendorff zu einem unbedingten Gegner, und so zog er gegen sie aus in Kampfeslust und „Pulverdampf“, mit „ästhetischer Bravour“ und in kämpferisch „aufgewirbelten Staubwolken“, in einem „allgemeinen Krieg“,15 in „Getümmel“16
und militärischen Manövern. Das ist Eichendorffs Sprache, die Sprache
eines militanten Moralisten, der hier nur noch den Kampf kennt und
nichts Versöhnliches.
Eichendorff hat sich in leicht verschlüsselter Form so noch häufiger
geäußert. Nur harmlose Gemüter können seine Erzählung Auch ich war
in Arkadien! als das verstehen, als was der Untertitel sie ausweist: „Eine
Phantasie“. Der Untertitel stammt auch gar nicht von Eichendorff
selbst, sondern von seinem Sohn. Es ist eine Literatursatire, in bester
Tradition dieser Gattung, alles andere als harmlose Einbildung, vielmehr boshafteste Ironie. Das beginnt mit der Beschreibung der Situation des Reisenden, der wieder hinter seinem Pulte sitzt, um den Reisebericht abzustatten – nochmals ein Hieb auf die Reisebilderliteratur.
Der Berichtende hat allerdings nicht sonderlich viel zu erzählen, da er
wie ein Einsiedler lebte, der „von der Welt und ihrer Juli-Revolution
13
14
15
16
HKA VIII/2, S. 243.
HKA VIII/2, S. 38.
HKA VIII/2, S. 231.
HKA VIII/2, S. 6.
Heines ‚Millennium‘ und Eichendorffs ‚alte schöne Zeit‘‘
211
leider wenig Notiz genommen“.17 Er findet, dennoch zur Deutschtümelei entschlossen, daß „die Deutschen […] unterdeß französisch, die
Franzosen deutsch, beide aber wiederum ein wenig polnisch geworden“. Ob das ein Hieb ist auf Heines Schrift Ueber Polen, ist nicht sicher.
Aber folgendes bezieht sich sicher auf ihn und seine Nachfolger. So
kehrt er in den Gasthof „Zum goldenen Zeitgeist“ ein, wo es früher
allerdings stiller herging, „denn wir hatten alle mehr Witz als Geld“.
Neben der Frechheit galt nichts als charakteristischer für Heine als der
skrupellose und zu allem entschlossene Witz: das alles war mehr als
anspielungsreich, so wie die satirische Schilderung eines Lesekabinetts
(bei Börne gibt es ähnliches; aber natürlich nicht ernsthaft) ebenfalls auf
die Jungdeutschen abzielte; man äußert, gleichsam als Losung, dort nur
kurze Worte wie „Preßfreiheit“, „Garantie“ oder „Konstitution“.
Schließlich wandelt sich die Szene zum Blocksberg-Ritt. Dort, auf dem
Blocksberg, saßen „sieben Pfeiffer […] zur Seiten auf einem Stein und
bliesen das ça ira von Anfang bis zu Ende und wieder und immer wieder von vorn“.18 Philipp Jakob Siebenpfeiffer, von Heine in den Französischen Zuständen und später in seiner Denkschrift über Ludwig Börne
ausführlicher erwähnt, gehörte zu den bekannteren Republikanern und
war eine der führenden Figuren des Hambacher Festes. Daß mit den
sieben ça ira blasenden Pfeifern Siebenpfeiffer gemeint ist, steht zwar
expressis verbis nirgendwo, aber es ist eine unabweisliche, zwingende
Assoziation. Eichendorff verlangt gerade in seinen Skurrilitäten aufmerksame Leser: das Phantastische hat nur zu oft einen realistischen
Boden. Auf den Satz von den sieben Pfeifern folgt:
Auf der Tribüne der Restauration aber stand der Wirth und schrie mitten
durch das Geblase mit durchdringender Stimme seine Wunderbüchsen und
Likör-Flaschen aus: Konstitutionswaßer, doppelt Freiheit! u.s.w. Unten schoßen Kinder Burtzelbäume und warfen jauchtzend ihre rothen Mützchen in die
Luft, das Volk war wie beseßen, sie würgten einander ordentlich, jeder wollte
sein Geld zuerst los seyn.19
HKA V/3, S. 159.
HKA V/3, S. 166. Näheres über die satirische Szenerie schon bei Reinhold Wesemeier: Joseph von Eichendorffs satirische Novellen, Marburg/Lahn 1915, S. 22ff. und im
Eichendorff-Kommentar von Ansgar Hillach und Klaus-Dieter Krabiel, Bd. I, München
1971, S. 152ff.
19 HKA V/3, S. 166f.
17
18
212
Heines ‚Millennium‘ und Eichendorffs ‚alte schöne Zeit‘
Mehr als die roten Mützchen verrät der Wirt, was hier auf dem Blocksberg vorgeht. Mit dem Wirt auf der Tribüne der Restauration (Eichendorff spricht hintersinnig von einem Restaurationsbetrieb) ist der Doktor Wirth, der Die Deutsche Tribüne herausgab, gemeint: das ist kein Zufall. Zu allem Überfluß befindet sich die Restauration unter einem dreifarbigen Zelt (wir müssen gar nicht gesagt bekommen, welche Farben
es sind), und auf ihm sitzt ein fuchsroter alter Hahn, der unaufhörlich
kräht. Auch in Heines Börnebuch wird es wenige Jahre später ähnlich
vieldeutig und zugleich eindeutig wie bei Eichendorff heißen: „In Paris,
lieben Freunde, hat der Hahn gekräht; das ist alles was ich weiß“.20
Auch wir brauchen nicht mehr zu wissen, denn das alles ist mehr als
deutlich. Arkadien: das ist eigentlich der Blocksberg, und das Blocksbergfest, das Hambacher Fest, ist vermengt mit nahezu unaufhörlichen
Anspielungen auf die Julirevolution und den rotmützigen Republikanismus, und das Ganze ist durchzogen von Eichendorffs eindeutig
scharfer Meinung dazu. „Im Hintergrund“, so heißt es,
aber schien sich ein seltsames Wolkengerüst mit Logen und Gallerieen langsam aufzubauen, alles Grau in Grau; dazwischen pfiff ein heftiger Zugwind,
daß ich meinen Hut mit beiden Händen auf dem Kopfe festhalten mußte, und
die Fackeln warfen wilde rothe Streiflichter zwischen die Wolkengebilde, überall ein chaotisches Dehnen und Wogen, als sollte die Welt von neuem erschaffen werden.21
Es ist die alte Gewittermetapher Eichendorffs, wie wir sie aus der Revolutionsgeschichte vom Schloß Dürande kennen; das sinnbildliche
Unwetter, der politische Weltenbrand, erfaßt dort schließlich die ganze
Welt. „Als der Tag anbrach“, heißt es dort gegen Ende der Erzählung,
war der ganze Himmel gegen Morgen dunkelroth gefärbt; gegenüber aber
stand das Gewitter bleifarben hinter den grauen Thürmen des Schlosses Dürande, die Sterbeglocke ging in einzelnen abgebrochenen Klängen über die
stille Gegend, die fremd und wie verwandelt in der seltsamen Beleuchtung
heraufblickte.22
Das Gewitter ist die Revolution, und die allgemeine Revolutionsangst,
der tiefe Revolutionspessimismus, wie er sich um 1830 im konservativen Lager überall breitmachte, bei Niebuhr in seiner Römischen Geschichte
20
21
22
DHA 11, S. 52, S. 134 in der Einleitung zu Kahldorf über den Adel.
HKA V/3, S. 171f.
HKA V/1, S. 310.
Heines ‚Millennium‘ und Eichendorffs ‚alte schöne Zeit‘‘
213
so gut wie beim alten Goethe, bei Görres so gut wie bei Eichendorff,23
er könnte sich kaum besser symbolisiert haben als in diesem Bild elementarer Zerstörung.24 Eben dieses Revolutionsgewitter droht auch
hier, im satirisch verstandenen Arkadien, dem Hambacher Blocksbergfest. Vielleicht hat Eichendorff auch noch auf anderes angespielt.25
Aber wie dem auch sei: Eichendorff hat sich auf mehr als deutliche
Weise und wiederholt von den Julirepublikanern distanziert, vom
Hambacher Fest und den Jakobinermützen, dem Revolutionsgejubel
und dem jungdeutschen Emanzipationswahn. Und nichts könnte den
Gegensatz deutlicher bezeichnen als Heines im Börnebuch mehrfach
enthusiastisch wiederholte Formel „Lafayette, die dreifarbige Fahne, die
Marseillaise“ und Eichendorffs Satz, ausgesprochen im Jahr der Julirevolution: „Vor allem behüte uns Gott vor einem deutschen Paris“.
*
Jeder Eichendorff-Leser weiß, was Eichendorff den zerstörerischen
Zeitkräften entgegenzusetzen hat: die „alte schöne Zeit“. Sie ist ein
Gegenbereich zur Welt der Revolution, und Eichendorff hat sie poe23 Über Goethes und Niebuhrs Revolutionspessimismus berichtet Ranke (Sämtliche
Werke, Bd. 49/50, Leipzig 1887, S. 171); Görres hat in seinen Revolutionsschriften die
Gefahren ebenso nachdrücklich beschrieben, wie die Jungdeutschen, teilweise wenigstens, hier ihre Hoffnungen sahen. Auch Hegel sprach von den „ewig unruhevollen
Zeiten des Fürchtens und Hoffens“ (Brief an Creuzer vom 30. Oktober 1819): eine
Stellungnahme, die sich in dieser Zeit nur zu häufig wiederholt. Vgl. zu diesem Problem
Karl Löwith: Von Hegel zu Nietzsche. Der revolutionäre Bruch im Denken des 19. Jahrhunderts,
Stuttgart 1958, S. 40ff.; Joachim Ritter: Hegel und die Französische Revolution,
Köln/Opladen 1957, S. 15ff. und Theodor Schieder: Das Problem der Revolution im 19.
Jahrhundert, in: Historische Zeitschrift 170, 1950, S. 233ff.
24 Eichendorff hat es übrigens oft verwandt. Auch in Robert und Guiscard erscheint
die Revolution „wie’n feurig Wetter“. Eichendorffs Versepos Julian endet ähnlich. „Die
Blitze werden zielen nach den Kronen,/ Die Stürme rastlos fegen durch die Gauen“,
heißt es in dem Gedicht Kein Pardon von 1848. Eichendorff dürfte das Bild vom Revolutionsgewitter von Görres übernommen haben; dort findet es sieh schon, in der
Schrift über Teutschland und die Revolution, 1819, und ähnlich noch einmal 1821 in der
zweiten Revolutionsschrift, Europa und die Revolution.
25 Börne war auf dem Hambacher Fest die Uhr gestohlen worden; in Eichendorffs
Arkadien kommt dem Tyrannen in Pantoffeln und Schlafrock, der Philisterdraperie der
Zeit, der Tabaksbeutel abhanden. In einem großen Schlafrock wiederum „wohnt“
Börne, wie Heine in seiner Denkschrift über Börne satirisch anmerkt, als er ihn in Paris
besucht und Börne ihm dann ausführlich von Hambach und der gestohlenen Uhr
berichtet. Auch dort können Beziehungen verborgen sein; hier kann es sich allerdings
in der Tat auch um Zufälle handeln.
214
Heines ‚Millennium‘ und Eichendorffs ‚alte schöne Zeit‘
tisch vielfach verifiziert. Die alte schöne Zeit ist die Kehrseite seiner
Gegenwartskritik, das wahre Arkadien, immer wieder poetisch beschworen, allerdings immer nur als etwas in Wirklichkeit längst unwiederbringlich Verlorenes – wenn irgendwo, dann zeigt sich hier die restitutive Macht der Dichtung, die noch für wirklich nehmen kann, was
eigentlich für immer dahin ist. Die „alte schöne Zeit“ ist dabei für Eichendorff zunächst einmal die nur noch poetisch realisierbare Welt der
Kindheit. Den dichterischen Gestalten Eichendorffs vergeht manchmal
der Atem „vor Erinnerung an die alte schöne Zeit“.26 Selbst noch der
Taugenichts träumt sich in die Väter- und Kindheitswelt zurück, auf
eine einsame grüne Wiese, über die ein warmer Sommerregen sprüht.
In der Entführung weht die Gräfin Diana die Erinnerung an „wie einzelne Klänge eines verlorenen Liedes, es hielt ihr fast den Athem an, sie
bedeckte die Augen mit beiden Händen und sann und sann“.27 Das
verlorene Lied, das auch hier bezeichnenderweise Diana fast den Atem
nimmt – kein physiologischer Reflex, sondern Chiffre für die Überwältigung durch die verlorene Zeit, die bei Eichendorff häufiger auftaucht
– ist natürlich wieder das alte Kindheitslied, Lied der verlorenen Kindheit: kaum irgendwo anders kommt die Vergangenheit stärker ins Bewußtsein als gerade hier. Eichendorff hat die alte schöne Zeit auch im
Gedicht beschrieben; in den Romanzen findet sich das Gedicht vom
alten Garten, das auch in die Entführung eingegangen ist:
Kaiserkron’ und Päonien roth,
Die müssen verzaubert sein,
Denn Vater und Mutter sind lange todt,
Was blühn sie hier so allein?
Der Springbrunn plaudert noch immerfort
Von der alten schönen Zeit,
Eine Frau sitzt eingeschlafen dort,
Ihre Locken bedecken ihr Kleid.
Sie hat eine Laute in der Hand,
Als ob sie im Schlafe spricht,
Mir ist, als hätt’ ich sie sonst gekannt –
Still, geh vorbei und weck’ sie nicht!
26
27
HKA V/1, S. 292.
HKA V/1, S. 352.
Heines ‚Millennium‘ und Eichendorffs ‚alte schöne Zeit‘‘
215
Und wenn es dunkelt das Thal entlang,
Streift sie die Saiten sacht,
Da giebt’s einen wunderbaren Klang
Durch den Garten die ganze Nacht.28
Das ist die Welt der Kindheit – Hofmannsthal wird wenige Jahrzehnte
später von der verlorenen Präexistenz sprechen, Rilke in seinem MalteRoman von seiner Kindheit aus der Sicht des verlorenen Sohnes, und
für Thomas Mann wird es familiäre Vorzeit sein, die alte schöne Zeit
liegt in den Buddenbrooks vier Generationen zurück; für George ist es
Hellas, von dem er wünscht, daß ein Schein davon auf uns fallen möge
– es ist ein überaus bedeutsames Thema der Jahrhundertwende, das
sich hier präformiert. Für Eichendorff ist die „alte schöne Zeit“ freilich
noch nichts Weltbewegendes, nicht einmal ein epischer Stoff, sondern
nur ein kleines Gartenparadies, ein alter Garten, der alte Garten. Die
Verbindung der alten schönen Zeit mit dessen Beschreibung (es ist, das
merken wir bald, immer der gleiche Garten) ist dabei so sinnfällig und
so eng, daß das Eine im Grunde als nur topographische Verdeutlichung
und Versinnlichung des Anderen, der temporalen Bestimmung, erscheinen will. T. S. Eliot hat derartige Entsprechungen einmal als „objective correlative“ bezeichnet, Objektivierungen eigentlich transrealer
Verhältnisse; so erscheint hier der alte Garten für die alte schöne Zeit.
Es ist, rein biographisch gesehen, sicherlich auch der Kindheitsgarten
von Lubowitz. Im Bilderbuch aus meiner Jugend heißt es in Andeutungen
darüber: „Das uralte Lubowitz – Lage des Schlosses und Gartens, Hasengarten, Tafelzimmer usw. […]. Damalige Zeit und Stilleben. Wie der
Papa im Garten ruhig spazieren geht, der Großpapa mit keinem König
tauschen möchte.“29 Eichendorff hat die graziöse ländliche Idylle wiederholt beschrieben, für die der alte Garten bei ihm so oft stellvertretend steht, die Karnevalszeit und die Jagdsaison, die harmlosen Feste
und Tanzvergnügen. Als Eichendorff das alles verlassen muß, weil er
nach Halle auf die Universität soll, notiert er in sein Diarium: „Ein
quälendes Erwachen. – Traurig öffneten sich meine Blicke zum letztenmale allen den umgebenden Schönheiten Lubowitzens […]“.30 Aber
das alles ist nur die gute alte Zeit im biographischen Sinn. Poetisch war
das allenfalls Anlaß und Stoff; die dichterische alte schöne Zeit bedeu28
29
30
HKA I/1, S. 368; V/1, S. 353f.
HKA V/4, S. 65.
HKA XI/1, S. 138.
216
Heines ‚Millennium‘ und Eichendorffs ‚alte schöne Zeit‘
tet mehr als Lubowitz, und sie steht darüber hinaus auch nicht nur für
die alte schöne Zeit als etwas temporal Ausmeßbares. Mit der alten
schönen Zeit, die der alte Garten verdeutlicht, ist eigentlich etwas Metatemporales gemeint; auch die alte schöne Zeit ist ein Sinnbild. Wie
wir die Formel vom alten Garten und der alten schönen Zeit eigentlich
zu verstehen haben, lehrt uns die Erzählung Friedrichs in Ahnung und
Gegenwart:
Meine frühesten Erinnerungen verlieren sich in einem großen, schönen Garten. Lange, hohe Gänge von gradbeschnittenen Baumwänden laufen nach
allen Richtungen zwischen großen Blumenfeldern hin. Wasserkünste rauschen
einsam dazwischen, die Wolken ziehen hoch über die dunkeln Gänge weg, ein
wunderschönes kleines Mädchen, älter als ich, sizt an der Wasserkunst und
singt welsche Lieder, während ich oft Stundenlang an den eisernen Stäben des
Gartenthors stehe, das an die Strasse stößt, und sehe, wie draussen der Sonnenschein wechselnd über Wälder und Wiesen fliegt, und Wagen, Reuter und
Fußgänger am Thore vorüber in die glänzende Ferne hinausziehen. Diese
ganze stille Zeit liegt weit hinter alle dem Schwalle der seitdem durchlebten
Tage, wie ein uraltes, wehemüthig süßes Lied, und wenn mich oft nur ein
einzelner Ton davon wieder berührt, faßt mich ein unbeschreibliches Heimweh, nicht nur nach jenen Gärten und Bergen, sondern nach einer viel ferneren und tieferen Heimath, von welcher jene nur ein lieblicher Wiederschein zu
seyn scheint.31
Über den Sinn dieser Beschreibung kann es keinen Zweifel geben.
Friedrich meint eine „fernere und tiefere Heimat“ als die alte Zeit der
Kindheit, und in eben diesem Sinne ist seine Erzählung ein Gleichnis.
Derartige Blicke zurück waren allerdings auch anderswo romantische
Heilmittel gegen die Krankheiten der eigenen Zeit; Eichendorff ist
nicht der einzige gewesen, der sich einer größeren Vergangenheit versichert hat, um der Gegenwart auszuweichen oder ihr etwas entgegenzusetzen, getreu der Parole Friedrich Schlegels, daß es „kein besseres
Gegengewicht gegen den Andrang des Zeitalters“ gebe „als die Erinnerung an eine große Vergangenheit“.32 So haben viele gedacht – von
Tieck bis Görres, von Novalis bis zu den Brüdern Grimm. Aber wir
haben in der Kindheitsvision Eichendorffs, wie sie als poetische Vergegenwärtigung der alten schönen Zeit erscheint, mehr als nur den privaHKA III, S. 46f.
Friedrich Schlegel: Kritische Ausgabe, Bd. 7/1, hg. von Ernst Behler, München
u. a. 1966, S. 272.
31
32
Heines ‚Millennium‘ und Eichendorffs ‚alte schöne Zeit‘‘
217
ten Kindheitskult eines Spätromantikers und die Verherrlichung einer
privaten Vorzeit. Denn wenn auch der Kindheitsgarten von Lubowitz
Eichendorff zu seiner so spezifischen Darstellung der alten schönen
Zeit als einer Gartenlandschaft stimuliert haben mag, so scheint hinter
dem Kindheitsgarten, da er nun einmal als Gleichnis zu verstehen ist,
schließlich nichts Geringeres als der Garten Eden sichtbar zu werden
als die „viel fernere und tiefere Heimat“.33 So ist denn die Chiffre von
der alten schönen Zeit eigentlich eine Paradiesesformel, das Zurückliegende damit aber zugleich etwas Vorausliegendes, auch wenn dieser
Aspekt bei Eichendorff expressis verbis keine Rolle spielt. Die Gartenvisionen sind für ihn poetische Anamnesen, die in die Zeit jenseits aller
Zeit zurückführen. Aber da das Paradies zugleich eine Verheißung ist,
entschlüsselt sich die nach außen hin so private Kindheitserinnerung als
subjektivierte Heilserinnerung und Heilserwartung zugleich.
Die Eichendorffsche Frühzeit- und Paradiesesutopie, die beides in
einem enthält, Kindheitsgarten und Paradiesesgarten, kann den Zeitpunkt ihrer Abfassung freilich nicht verleugnen. Die alte schöne Zeit
hat bei Eichendorff einen weiteren, für die Situation im frühen 19.
Jahrhundert sehr charakteristischen Aspekt. Zwischen die Kindheitserinnerung und die Vorstellung vom Garten Eden (die in dieser Zeit
übrigens ziemlich verbreitet ist: auch Kleist handelt im Erdbeben in Chili
ja von ähnlichem, vom Tal, „als ob es das Tal von Eden gewesen wäre“) schiebt sich eine historische Dimension, die für Eichendorff um so
bedeutsamer ist, als sie das subjektive Moment, das in der Darstellung
des Kindheitsparadieses so sehr dominiert, begrenzt und ergänzt durch
einen überindividuellen Sachverhalt. Das läßt mehrere Erklärungen zu.
Ist es eine historische Neigung, die er mit seiner Zeit und Generation
gemeinsam hat, daß es ihn drängt, seine Utopie, die so jenseits aller Zeit
liegt, doch noch historisch zu verwurzeln, sie wiederzufinden in einem
geschichtlich durchaus genau zu fixierenden goldenen Zeitalter? Weiß
Eichendorff, daß private Utopien nur schwer zu vermitteln sind, auch
wenn sie sich alter Formeln und Vorstellungen bedienen, oder hat er
33 Ähnlich über den Garten, in den Florio im Marmorbild findet, als Paradiesesgarten Josef Kunz: Eichendorff. Höhepunkt und Krise der Spätromantik, Darmstadt 21973,
S. 169; über Victors Garten in Dichter und ihre Gesellen als Paradiesesgarten vgl. Hans Jürg
Lüthi: Dichtung und Dichter bei Joseph von Eichendorff, Bern/München 1966, S. 128. Über
Reisen und Wandern als Reisen ins Himmelreich, ins Paradies vgl. Möbus (wie Anm. 2),
S. 177.
218
Heines ‚Millennium‘ und Eichendorffs ‚alte schöne Zeit‘
seine eigene Erfahrung der alten schönen Zeit als Späterfahrung historisch lange schon zurückliegender Epochalerfahrungen begriffen? Wie
dem auch sei: Eichendorff hat die alte schöne Zeit auch in ihrer geschichtlichen Realisation gesehen, und es spricht manches dafür, daß es
sein realistischer Hang war, der ihn seine Utopie von der alten schönen
Zeit in der Realzeit verankern ließ. Wir wissen, wie eminent historisch
Eichendorff bei aller tiefeingewurzelten Skepsis der Geschichte gegenüber gedacht hat und daß das Klischee vom zeitlosen romantischen
Sänger vielleicht auf die gefährlichste aller falschen Interpretationen
hinausläuft. Eichendorffs Paradies ist kein privates Vorzeitparadies,
sondern ist für ihn zugleich schon einmal historische Wirklichkeit gewesen: natürlich nicht im alten Rokoko-Garten, wie er verschiedentlich
bei Eichendorff erscheint – als Bild der Zopfperiode, einer eingeschlafenen, ja verlassenen Zeit, die aus dem Geschichtsprozeß gewissermaßen herausgefallen ist –, sondern in einer Epoche, deren Ende für Eichendorff zugleich den Beginn der Neuzeit markierte. Diese Zeit liegt
für ihn noch jenseits der Reformation, im Mittelalter, der Ritterzeit, die
heiter und versöhnend in ihren Poesien war. Es ist sicher kein Zufall,
daß Eichendorff auch das, was von jener Zeit auf seine Gegenwart
überkommen ist, im Bilde eines alten Gartens beschreibt:
Das sind die Trümmer der alten ritterlichen Poesie; halbzerfallene Ruinen, die
alte Herrlichkeit nur noch in kühnen Bogen und Pfeilern andeutend, von
Epheu und Waldblumen überrankt; in dem verwilderten Burggarten weiden
die Ziegen, aber Hirten und Jäger freuen sich noch bis heute daran, und lauschen den noch wie damals durch die Wildniß gehenden Bächen, die träumerisch von der untergegangenen Welt und Schönheit erzählen. 34
Das ist die alte schöne Zeit, der alte Garten in historischer Großdimension, das Mittelalter als lang zurückliegende, halb verschüttete Kindheit
des Menschen, und die Gleichartigkeit des privaten und des historiographischen Gartenbildes spricht vielleicht am stärksten für die Analogie zwischen geschichtlicher und persönlicher Vorzeit und schließlich
auch für das bei aller historischen Fixierung eigentümlich Ungeschichtliche dieses Geschichtspanoramas, das mehr Abglanz des Paradieses
enthält, als es der strenge Historiker zugeben dürfte. Um so bestürzender ist der Abbruch dieser Zeit, der Zerstörungsvorgang zu Ausgang
des Mittelalters, der ihre Poesien in Eichendorffs Bild zertrümmert. Ihr
34
HKA VIII/2, S. 35.
Heines ‚Millennium‘ und Eichendorffs ‚alte schöne Zeit‘‘
219
Ende ist das Ende aller ursprünglichen Einheit; für Eichendorff kommt
mit dem Protestantismus eine Prädominanz des Verstandes auf, „welchem daher hiermit eine unverhältnismäßige Bedeutung und Macht
über Phantasie, Gefühl und die andern für eine harmonische Bildung
gleich unentbehrlichen Seelenkräfte zuerkannt wurde“.35 Das ist noch
milde geurteilt, denn im Grunde ist das alles für Eichendorff schon
gleichbedeutend mit dem selbstzerstörerischen Prozeß der Subjektivierung, der jetzt einsetzte und den unrühmlichen Beginn der Moderne
markierte. Eichendorff hat das in seiner Geschichte des deutschen Romans in aller Ausführlichkeit beschrieben. Aus dem, was damals begann, läßt sich mühelos rekonstruieren, was damit verlorenging; eine
ursprüngliche Einheit von Seele und Verstand, „Harmonie“, wie Eichendorff altväterlich noch ganz im Sinne des 18. Jahrhunderts sagt, so
wie auch seine etwas grobschlächtige historische Periodisierung eher an
das 18. als an das 19. Jahrhundert erinnert. Aber im Mittelalter, der Zeit
der ritterlichen Dichtung, sieht Eichendorff eben das, was er in poetischer Analogie als „alte schöne Zeit“ beschrieben hat: historische
Äquivalente der subjektiven, im Grunde zeitlosen Erfahrung der „alten
schönen Zeit“, die eigentlich eine Paradieseserfahrung in effigie war,
vermittelt durch Sinnbilder und Gleichnisse vom alten Garten. Das
Mittelalter war für Eichendorff etwas ähnliches; das geschichtliche
Sinnbild eines ungeschichtlichen Heilszustandes. Den Abfall davon, das
Herausfallen aus der ursprünglichen Einheit des Menschen, hat Eichendorff mit „Verwilderung“ bezeichnet. Verwilderte Figuren begegnen häufig bei Eichendorff: die Gräfin Diana gehört zu ihnen ebenso
wie Romana in Ahnung und Gegenwart. Verwilderung ist im poetischen
Bereich eben das, was Eichendorff in seinen literarischen Schriften als
„revolutionäre Emancipation der Subjectivität“ bezeichnet hat:36 ein
unheilvolles Streben nach Vereinseitigung, die hemmungslose Verselbständigung einzelner Kräfte und damit die Zerstörung der menschlichen Totalität. Oder wie Eichendorff es einmal formuliert hat: „Denn
jede maaßlose Ausbildung einer einzelnen Kraft, weil sie nur auf Kosten der anderen möglich, ist Krankheit, u. so geht oft eine geistige
Verstimmung durch gantze Generationen und giebt der Geschichte
unerwartet eine abnorme Richtung“.37 Daß dieser dreihundertjährige
35
36
37
HKA VIII/2, S. 37.
HKA VIII/1, S. 5f.
HKA X/1, S. 128.
220
Heines ‚Millennium‘ und Eichendorffs ‚alte schöne Zeit‘
geschichtliche Prozeß der „Verwilderung“ in säkularen Dimensionen
für Eichendorff ein historisches Problem ersten Ranges war, läßt sich
aus der großen Zahl der Äußerungen ablesen, die sich darauf beziehen.
Bezeichnenderweise hat Eichendorff sich über die ideale Welt davor nie
ausführlicher ausgesprochen. Aber wir dürfen sicher sein, daß sie von
der „Harmonie“ aller Kräfte des Menschen gekennzeichnet war. Die
Situation der Moderne ist für Eichendorff aber eben die, die er in Gedichten wie In der Fremde so oft beschrieben hat. Die alte schöne Zeit ist
nicht nur im temporalen, sondern auch im existentiellen Sinne verloren,
und aus der Sicht des Spätlings, der sich in der Fremde weiß, erscheint
sie als ebenso unwiederbringlich dahin, wie sie in Bewußtsein und Darstellungskraft des Dichters aufgehoben ist: wenn es eine Legitimation
der Dichtung gibt, dann liegt sie hier. Und wie eine düstere Untergangsvision der Zeit, in romantischen Abbreviaturen gegeben, lesen
sich die ersten Zeilen des Gedichtes Sängerglück:
Herbstlich alle Fluren rings verwildern,
Und unkenntlich wird die Welt.
Dieses Scheidens Schmerzen sich zu mildern,
Wenn die Zauberei zerfällt,
Sinnt der Dichter, treulich abzuschildern
Den versunknen Glanz der Welt.38
*
Von Heine trennt ihn eine Welt. Das drückt sich nicht nur in der so
rigorosen Ablehnung der Französischen Revolution bei Eichendorff
aus, in seinem so entsetzten „Vor allem behüte uns Gott vor einem
deutschen Paris“ und der fast panischen Furcht vor einem weiteren
Ausbreiten des Revolutionsfiebers und Republikanerwahns, sondern
mindestens ebenso stark in der Einschätzung der jahrhundertealten
Vorgeschichte der Französischen Revolution, die für Eichendorff
schon mit dem Protestantismus als dem ersten Akt der Aufklärung
begann. Heine interpretiert die Geschichte ebenso großräumig; auch
für ihn setzt die Moderne mit Luther ein, aber nicht als damit beginnende Zerstörung der Welt, sondern als Befreiung, als Ende des mittelalterlichen Sklavendaseins und der früheren gewaltsamen Verfinsterung
des Verstandes. Darüber kann man in Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland alles im einzelnen nachlesen: daß Luther der Vor38
HKA I/3, S. 277.
Heines ‚Millennium‘ und Eichendorffs ‚alte schöne Zeit‘‘
221
läufer Lessings gewesen sei und Lessing wiederum der Kants auf dem
unvergleichbaren Siegeszug der Aufklärung. Für Eichendorff war das
alles eine einzigartige Insurrektion des Verstandes, die auf eine irrevokable Zerstörung der alten Traditionen, der menschlichen Totalität
hinauslief, für Heine aber ein wilder Triumphzug, eine philosophische
Revolution ohnegleichen, die der mittelalterlichen Dunkelmännerherrschaft endlich den Garaus macht. Bei Heine ist viel die Rede von der
Geistesfreiheit, die man schon dem teuern Doktor Martin Luther zu
verdanken habe;39 das 18. Jahrhundert arbeite nur aus, was damals begonnen. Wo Eichendorff aber die diabolische Epiphanie des modernen
Ungeistes sieht, die Heraufkunft des Antichrists und die Zerstörung
einer alten, eigentlich nie wiederherzustellenden Ordnung, da sieht
Heine den „Kampf der Reformazionsinteressen und Ansichten mit der
alten Ordnung der Dinge“,40 und das ist positiv verstanden. Sein Triumph über die Befreiung des Verstandes aus der normgebenden Vorherrschaft alter Ordnungen ist unüberhörbar. Er schreibt voller Frohlocken: „Der allgemeine Charakter der modernen Litteratur besteht
darinn, daß jetzt die Individualität und die Skepsis vorherrschen. Die
Autoritäten sind niedergebrochen; nur die Vernunft ist jetzt des Menschen einzige Lampe, und sein Gewissen ist sein einziger Staab, in den
dunkeln Irrgängen dieses Lebens“.41 Das ist Zug um Zug die genaue
Umkehrung der Eichendorffschen Position, und hier ist ins Enthusiastische gekehrt, was dort zu einem bitteren Pessimismus geworden ist.
Heine hat diesen Prozeß der Emanzipation des Individuums mit unverhohlener Begeisterung, fast triumphierend, geschildert; das Christentum hat er für zu Unrecht so übermächtig erklärt und eine Religion der
Freude ausgerufen, von der er hoffte, daß sie die Religion der Zukunft
sein und das Christentum endgültig zurückdrängen werde in den Schatten, den es jetzt, nach seiner jahrhundertelangen finsteren Vorherrschaft, verdiene. Kernstück seines Gegenwartsoptimismus aber war die
Emanzipationsidee, „Geistesfreiheit“, von der er glaubte, daß er sie
Luther zu verdanken habe. Das war zugleich Kernidee der Revolutionsphilosophie, und die Befreiung des Individuums ging für Heine
durch die zwei Stadien, die er ausführlich genug beschrieben hat: durch
39
40
41
DHA 8/I, S. 42.
DHA 8/I, S. 44.
DHA 8/I, S. 45.
222
Heines ‚Millennium‘ und Eichendorffs ‚alte schöne Zeit‘
die große religiöse Revolution Luthers und durch die philosophische
Revolution Kants und seiner Zeit.
Die These von der Subjektivierung allen Lebens, von Heine so zustimmend wie von Eichendorff ablehnend vertreten, war natürlich
nicht neu. Sie ist frühromantisches Gedankengut, und Friedrich Schlegel hat ausführlich davon schon in seiner Schrift Über das Studium der
griechischen Poesie gehandelt. Schon Schlegel hat sich eine Überwindung
des Individuellen erhofft, wie Eichendorff später. Zur Signatur der
Moderne gehörte auch für ihn das Individuelle und damit die Herrschaft des Interessanten und Charakteristischen und der Mangel an
„Allgemeingültigkeit“ als habitueller Zug hinzu, und schon Schlegel
erhoffte sich eine „dritte Periode“,42 in der das alles überwunden werde.
Bei Eichendorff ist aus der „wohltätigen Krise des Interessanten“43
allerdings ein lebenszerstörerischer Prozeß geworden; was für Schlegel
noch unmittelbar erreichbar schien, war für Eichendorff endgültig in
der Vergangenheit versunken und allenfalls noch poetisch bewahrt –
eben in den Berichten von der „alten schönen Zeit“, der Grundformel
für die verlorene Vollkommenheit der Welt. An der Bewertung des
zeitgenössischen Individualitätsenthusiasmus schieden sich endgültig
die Geister: an der Emanzipation des Subjekts maß Heine den Fortschritt, Eichendorff den Rückschritt der Zeit. Im frühen 19. Jahrhundert und in der Romantik insbesondere werden gerne Lichtmetaphern
gebraucht, und für Heine war Morgenröte, was für Eichendorff
Abenddämmerung war, letzter Widerschein und Abglanz einer besseren
Welt. Die Geschichte ist zur Verheißung oder zur Flucht geworden, sie
hat in einer Katastrophe – der Revolution – geendet oder, bei Heine, in
der Befreiung. Für Eichendorff ist nicht mehr, was für Heine noch ist.
So erklärt sich denn auch nur zu gut die Bewertung der Französischen
Revolution, des wichtigsten, am meisten diskutierten Ereignisses im
frühen 19. Jahrhundert. Für Eichendorff beschließt sie vorerst die Geschichte des Menschen, und ihre Bedeutung wird in der Novelle vom
Schloß Dürande als eben das beschrieben, was sie nicht nur in metaphorischem, sondern in tatsächlichem Sinne ist: ein Weltenbrand. Feuer und
Erdbeben sind auch bei Heine die Begleiterscheinung der Revolution.
Aber Heine spricht von „flammenden Sternen, die aus der Höhe herab42
21964,
43
Friedrich Schlegel: Kritische Schriften, hg. von Wolfdietrich Rasch, München
S. 222.
Ebd., S. 152.
Heines ‚Millennium‘ und Eichendorffs ‚alte schöne Zeit‘‘
223
schießen und die Paläste verbrennen und die Hütten erleuchten“. Und
„unter der Erde aber kracht es und klopft es, der Boden öffnet sich, die
alten Götter strecken daraus ihre Köpfe hervor, und mit hastiger Verwunderung fragen sie: ‚was bedeutet der Jubel, der bis ins Mark der
Erde drang? Was giebt’s neues? dürfen wir wieder hinauf?‘“ Die Julirevolution ist für Heine ein griechisches Feuer, das kein Wasser löscht;
alle seine Gedanken brennen lichterloh.44 Für Eichendorff aber verbrennt in ihr endgültig die „alte schöne Zeit“. Heine hat allerdings nach
seiner Übersiedelung nach Paris nur zu schnell gemerkt, „daß die Dinge
in der Wirklichkeit ganz andre Farben trugen, als ihnen die Lichteffekte
meiner Begeisterung in der Ferne geliehen hatten“. Für Heine ist das
vielleicht die bedeutsamste Wende in seinem Revolutionsverständnis: je
desillusionierter und trivialer ihm die Ereignisse der Julirevolution aus
der Nähe erschienen, desto größer wurden seine Erwartungen an die
wirkliche, eigentliche Revolution. Und desto deutlicher wird für ihn
auch, was sie tatsächlich zu leisten hat. Sie ist alles andere als ein bloß
politisches Ereignis. Heine hat sich in seiner Geschichte der Religion und
Philosophie in Deutschland in aller Ausführlichkeit darüber ausgelassen.
Was er sich erhoffte, war nichts Geringeres als die Versöhnung zwischen Sensualismus und Spiritualismus – oder Hellenentum und Nazarenertum, Heidentum und Christentum, Materialismus und Idealismus,
dem Platonischen und dem Aristotelischen, Natur und Geist. Alle diese
Formulierungen finden sich bei ihm selbst. Das darf man nicht mißverstehen als bloße Sprachartistik; es sind immer neue Versuche, Kräfte zu
benennen, die das Weltgeschehen überhaupt bestimmen; und Heine
nimmt denn auch Zuflucht zu einer Mythe, die eben das beschreibt,
was er sich von der Weltgeschichte erhoffte, nachdem das Nazarenertum seit dem Mittelalter eine so einseitige Herrschaft über das Heidentum angetreten hatte:
Der nächste Zweck aller unseren neuen Instituzionen ist solchermaßen die
Rehabilitazion der Materie, die Wiedereinsetzung derselben in ihre Würde, ihre
moralische Anerkennung, ihre religiöse Heiligung, ihre Versöhnung mit dem
Geiste. Purusa wird wieder vermählt mit Prakriti. Durch ihre gewaltsame
Trennung, wie in der indischen Mythe so sinnreich dargestellt wird, entstand
die große Weltzerrissenheit, das Uebel.45
44
45
DHA 11, S. 50, S. 56.
DHA 8/I, S. 59f.
224
Heines ‚Millennium‘ und Eichendorffs ‚alte schöne Zeit‘
Spätestens hier sollte deutlich werden, daß Heine auf alles andere aus ist
als auf einen gründlichen Umsturz der politischen Verhältnisse. Die
Schriften Heines im unmittelbaren Gefolge der Julirevolution sind metapolitisch, transreal orientiert, auf die Formulierung utopischer Ziele
aus und nicht auf den unmittelbaren Umsturz der Gesellschaft. Die
Formel von der „Politisierung nach der Julirevolution“ ist eine sicherlich viel zu einfache, ja falsche Formel; bereits Sengle hat diese Feststellung Windfuhrs kritisiert.46 Im Rückblick erscheint die Französische
Revolution nicht als bloß politisches Ereignis, sondern geradezu als
sensualistische Korrekturmaßnahme der Geschichte selbst, um die
Suprematie des Nazarenertums zu brechen. Das alles ist sicherlich nicht
vorrangig politisch gedacht, es ist nicht einmal geschichtlich. Heine
erwartet sich von einer Zukunft, die jenseits aller geschichtlichen Zeit
liegt, nichts Geringeres als das, was er im Börnebuch die „harmonische
Vermischung der beiden Elemente“ nannte: Spiritualismus und Sensualismus sollen sich aufheben, und das sieht er als „die Aufgabe der ganzen europäischen Civilization“. Was Heine im Börnebuch nur als Frage
formuliert, ist tatsächlich seine Erwartung an die Geschichte, die
dadurch zur Heilsgeschichte wird. Eben diese coincidentia oppositorum wird für Heine schließlich auch die irdische Geschichte durchkreuzen und sie beenden, da dann eintreten wird, was er als „das Reich der
ewigen Freude“ bezeichnet oder, kürzer, als „Millennium“.47 Im zweiten Buch der Denkschrift über Börne, niedergeschrieben einige Wochen nach der Julirevolution, ist davon ausdrücklich die Rede, und die
starke Durchsetzung dieser Revolutionsschrift mit theologischen Überlegungen hätte an sich schon warnen müssen, hier eine „Politisierung
nach der Julirevolution“ zu finden. Das Gegenteil ist richtiger. Und
gewiß nicht zufällig beschreibt Heine Christus als „Sonne“: „Christus
liebt die Menschheit, jene Sonne umflammte die ganze Erde mit den
wärmenden Stralen seiner Liebe“.48 Das ist natürlich eine alte Christusmetapher, aber an ihr ist hier auffällig, daß Heine ja mit Sonnenmetaphern auch die Revolution beschreibt. Was er sich von der wirkliFriedrich Sengle: Biedermeierzeit, Bd. 2, Stuttgart 1972, S. 59.
DHA 11, S. 42.
48 DHA 11, S. 43. Von den Sonnenstrahlen der Revolution ist bei Heine kurz darauf (S. 50) die Rede, ebenfalls in der Einleitung zu Kahldorf über den Adel (ebd., S. 134).
Entsprechend erscheint die Vergangenheit, die Zeit vor der Französischen Revolution,
als Nacht.
46
47
Heines ‚Millennium‘ und Eichendorffs ‚alte schöne Zeit‘‘
225
chen, eigentlichen, wahren Revolution erwartet, ist der Anbruch des
Millenniums. Eichendorffs „alte schöne Zeit“ war eine metahistorische
Formel, der alte Garten der Garten Eden, die eigentlichere, „fernere
und tiefere Heimat“ hinter der Kindheit, wie sie Friedrich in Ahnung und
Gegenwart beschreibt, das Paradies. Eichendorff und Heine trennt gewiß
eine Unendlichkeit; was der Eine pries, hat der Andere verurteilt. Aber
Heines Formel vom Millennium ist im Grunde genommen nur die
futuristische Projektion der Formel von der alten schönen Zeit. Beides
sind Versuche, den Bereich der Geschichte, den Eichendorff als zerstörerisch empfand und von dem Heine sich zu viel versprochen hatte, zu
transzendieren. Die alte schöne Zeit ist geschichtslos, außerhalb des
Zeitflusses und damit ebenso Utopie wie zugleich überall dort allgegenwärtig, wo sie beschworen wird, und es ist der Dichter, der eben das
leistet – auch wenn die alte schöne Zeit im Mittelalter schon einmal
Wirklichkeit gewesen war. Heines Millennium ist gleicherweise ein Zustand der Geschichtslosigkeit, seine Konzeption einerseits Folge enttäuschter Revolutionshoffnung, andererseits Frucht messianischer Erwartung von der Geschichte. Das „Millennium“ ist wie die „alte schöne
Zeit“ letztlich ein Traumbild: beides enthält eine Absage an die Zeit
und eine verborgene, aber außerordentlich endgültige Absage an die
Geschichte. Das spricht sich am deutlichsten und zugleich am nachdrücklichsten in der Überwindung der Dualismen im Millennium und
in der alten schönen Zeit aus: Christentum und Heidentum sollen bei
Heine wieder versöhnt werden. Oskar Seidlin hat darauf aufmerksam
gemacht,49 daß aber auch Eichendorffs Formel von der alten schönen
Zeit in der Novelle Eine Meerfahrt einen ebenso paradiesischen wie
heidnischen Klang habe; auch hier steht beides außerhalb der Zeit.
Sind es Versuche der Überwindung der Geschichte, mitten im Zeitalter des Historismus, die sich hier ereignen? Sind es Bemühungen,
Regionen außerhalb der für absolut gehaltenen Macht der Geschichte
zu gewinnen? Sind es verborgene Selbstrechtfertigungen der eigenen
Dichtung? Auch Heine hat in der Kunst eines der großen Heilmittel
gesehen, um die Welt aus ihrem Zwiespalt zu befreien und damit das
Millennium antizipatorisch herbeizuführen. Ist es ein Ungenügen an der
Geschichte und ihren Theorien? Heine hat sich ausführlicher mit der
Vorstellung auseinandergesetzt, daß in allen irdischen Dingen nur ein
49 In der schönen und tiefsinnigen Deutung der „Zeitlichen Perspektiven“ in seinen Versuchen über Eichendorff, Göttingen 1965, S. 121f.
226
Heines ‚Millennium‘ und Eichendorffs ‚alte schöne Zeit‘
trostloser Kreislauf herrsche, ein Wachsen, Blühen, Welken und Sterben: Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Es waren die Weltweisen
der historischen Schule, die für Heine so dachten50 – ein Geschichtsverständnis, das im frühen 19. Jahrhundert weitverbreitet war. Eichendorff kennt ähnliches. Er hat die Lehre von der ewigen Wiederkehr des
Gleichen chiffrierter, aber doch nicht weniger nachdrücklich beschrieben, etwa im Kreislauf der Natur: Frau Venus symbolisiert ihn im Gegeneinander von märchenhafter Gegenwart und toter Statuenhaftigkeit.
Das versunkene Reich der Venus wird ihm wieder lebendig, aber ebenso sicher wird es erneut verschüttet. Es gibt vielleicht kein eindrucksvolleres Bild für den Kreislauf von Zeit und Welt als die Auferstehung
der toten Marmorstatue und ihre Rückkehr ins Tote. Eichendorff hat
die Venusberg-Mythe zum Sinnbild der Welt, der geschichtlichen Welt
gemacht: ihre Lebendigkeit ist Schein, ihr Tod im Leben beschlossen,
übrig bleiben versunkene Säulen und künstlich behauene Statuen.51 Wir
wissen um Eichendorffs Angst vor den Uhren – im Schloß Dürande
sind sie Symbole der Zeit, und nichts versinnbildlicht den für Eichendorff so bedrohlichen Kreislauf der Welt deutlicher als sie. Die alte
schöne Zeit aber steht außerhalb der Zeit; sie ist der sichere Punkt jenseits der Geschichte, so wie es für Heine das Millennium ist. Es sind
zugleich Positionen einer überwundenen Geschichte, und Eichendorff
ist sich seiner „alten schönen Zeit“ ebenso sicher wie Heine des „Millenniums“.
So lehnen beide eine Zeit ab, die nur den Kreislauf kennt und nur
die immer bloß erneuerte sinnlose Spannung zwischen Antinomien;
Paradies und Millennium sind die religiösen Kategorien außerhalb des
sinnlos gewordenen Kreislaufs der Geschichte. Eichendorff und Heine
bedienen sich zur Formulierung ihrer utopischen Vorstellungen zwar
50 DHA 10, S. 301. Heine meint Savigny (Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und
Rechtswissenschaft, 1814) und Ranke.
51 Heine hat interessanterweise später, im Romanzero, ähnlich von den Larven der
Welt gesprochen, die nach alledem für ihn übriggeblieben seien – „Der Himmel ist
öde,/ Ein blauer Kirchhof, entgöttert und stumm./ Ich gehe gebückt im Wald herum.// Im Walde sind die Elfen verschwunden,/ Jagdhörner hör’ ich, Gekläffe von
Hunden;/ Im Dickicht ist das Reh versteckt/ Das thränend seine Wunden leckt“
(DHA 3/I, S. 83). Sind es nicht letztlich identische Situationen, auch wenn das Bild von
der zerstörten Gartenlandschaft hier die Geschichte meint und dort, in fast schon
expressionistisch anmutender Bildlichkeit, Heines Ernüchterung nach dem Zusammenbruch der romantischen Welt?
Heines ‚Millennium‘ und Eichendorffs ‚alte schöne Zeit‘‘
227
durchaus gängiger Chiffren – aber beide verteidigen damit doch eigenste Vorstellungen. Heine scheint freilich seine Ideen vom kommenden
tausendjährigen Reich unabhängig von sich selbst zu entwickeln: im
Börnebuch ist es die Beschäftigung mit dem Alten Testament, die ihn
zum Millennium bringt – „Wie lange Karavanenzüge zog die heilige
Vorwelt durch meinen Geist“, heißt es, und so scheint nur theologisch
vermittelt, was bei Eichendorff seine zunächst einmal biographischen
Wurzeln hat. Aber auch Heines Millenniums-Hoffnung ist zumindest
partiell biographisch motiviert. Schon aus der Mitte der 20er Jahre,
nach dem Besuch Heines in Weimar, sind Äußerungen überliefert, die
von seiner eigenen Zwiespältigkeit zeugen. Lebensgenuß und Schwärmerei sind die Pole, zwischen denen er sich bewegt, und es sind zugleich die Gegensätze seiner eigenen Natur. Schwärmerische Neigung
einerseits und Lebemenschentum andererseits: das sind Nazarenertum
und Hellenismus in seiner eigenen Person. Sah er nun in der Geschichte den gleichen Antagonismus, den er auch in sich lebendig wußte,
übertrug er die invariablen Konstanten seines eigenen Wesens auf die
Historie, und war die Hoffnung auf den Eintritt des Millenniums letztlich nur die auf einen Ausgleich im eigenen Inneren?
Überlegungen dieser Art sind so wenig von der Hand zu weisen, wie
sie sich eindeutig stützen lassen. Aber zumindest ist auffällig, daß sich
diese persönlichen Hintergründe beidemale finden, wenn auch in kontroverser Art: Eichendorff hat in seiner Kindheit eben jenen Zustand
einer zeitlosen inneren Einheit erfahren, den Heine zeitlebens gesucht
hat. Doch beidemale entwickelt sich das utopische Denken auch aus
Persönlichem heraus, und hier liegt wohl zugleich ein Erklärungsversuch für das Eigentümliche der poetischen Utopie im frühen 19. Jahrhundert. Es sind Versuche, sich außerhalb der Zeit zu stellen, Gegenschläge zum scheinbar grenzenlosen und alles überflutenden Historismus mit seinen Lehren von der Abhängigkeit des Einzelnen vom Ganzen der Geschichte und der Nationen. Individualerlebnis und utopische
Hoffnung parallelisieren sich hier ebenso, wie sich auf der anderen Seite
auch Geschichtsverständnis und Individualerlebnis ausgleichen. Es ist
der Aufstand des Individuums gegen die alles zerstörende Zeit, ein
Versuch, sich herauszuretten ebenso aus ihrem sinnlosen Kreislauf wie
aus ihrer saturnalischen Macht. Die Geschichte ließ sich nicht von neuen Systemen her widerlegen, zumal ja gerade ihre verborgene Systematik philosophisch demonstriert worden war. Ihr war nur von der Kraft
228
Heines ‚Millennium‘ und Eichendorffs ‚alte schöne Zeit‘
des Individuums her beizukommen, das sich zwar einbezogen wußte in
den Gang der Geschichte, das sich aber zugleich doch auch an Positionen jenseits der Zeit erinnerte, die ein Entkommen aus der Geschichte
ermöglichten oder sie vorausentwarf, als regulative Idee gleichsam. Und
so berührt sich Eichendorffs alte schöne Zeit und die Vorstellung vom
Garten Eden über alles Kontroverse hinweg mit Heines Erwartung des
Millenniums.
Ein paar flankierende Bemerkungen abschließend. Der Entwurf einer Position außerhalb von Geschichte und Gegenwart mutet in seinem
Vorhaben durchaus noch klassisch an. Schiller kannte ähnliche Fluchtpunkte außerhalb der Zeit; sie lagen wesentlich im Bereich des Ästhetischen. Vor allem seine Formel von der Schönheit als Freiheit in der
Erscheinung gehört in diesen Zusammenhang, aber auch das, was er
über die Autonomie des Künstlers im 9. seiner Briefe Ueber die ästhetische
Erziehung des Menschen gesagt hat. Doch das Reich der autonomen
Kunst, der Kunst als einer unabhängigen zweiten Welt, ist um 1830
unweigerlich zu Ende; Heine hat es vielleicht am deutlichsten gesehen.
An deren Stelle sind neue Unabhängigkeiten getreten; sie werden von
Heine und von Eichendorff bezeichnenderweise jeweils theologisch
markiert (und durchaus nicht etwa politisch). Und an die Stelle allgemeinverbindlicher Anschauungen, wie sie sich im klassischen Begriff
des Stils, des Objektiven, des Schönen etwa niederschlagen, sind individuelle Entwürfe gerückt: das Zeitalter der Privatutopien beginnt.
Überall kommt jetzt Individuelles ins Blickfeld; Objektives, Wahrheiten „an sich“ sind dahin. Im frühen 19. Jahrhundert mehren sich flutartig die Autobiographien; sie verdrängen allmählich die Memoiren, die
Darstellungen ganzer Zeitläufe; an ihre Stelle treten die Individualgeschichten, die Lebensläufe Einzelner. Ähnlich gibt es im Bereich des
Romans, vor allem des Zeitromans, geradezu ein Auswuchern von
Individualerfahrungen. Zeitromane des frühen 19. Jahrhunderts stellen
die Zeit aus subjektiver Optik dar, monoperspektivisch, von Immermanns Epigonen bis zu Mundts Madonna und den Modernen Lebenswirren,
den Brief- und Zeitabenteuern eines Salzschreibers. Die fast grenzenlose Subjektivierung der Literatur zeigt sich gerade im Bereich des Jungen
Deutschland im ungehemmten Hervordringen subjektiver Literaturformen: der Briefe, Reiseberichte, Schilderungen, Charakteristiken,
Tagebücher und Erinnerungen. Aber Eichendorffs Dichtungen sind
nicht weniger subjektiv orientiert und haben gewiß nicht den Anspruch
Heines ‚Millennium‘ und Eichendorffs ‚alte schöne Zeit‘‘
229
objektiver Darstellungen. Der Verlust objektiver Vorstellungen kennzeichnet Eichendorffs Position ebenso wie die Heines. Beide haben im
einzelnen höchst unterschiedlich, im Grunde genommen aber gleichartig darauf reagiert: im Bewußtsein der Widersprüchlichkeit und Zerrissenheit der Zeit ebenso wie mit dem Entwurf von Privatutopien.
Es gehöre zu den perennierenden Zügen in der literaturwissenschaftlichen Physiognomie des frühen 19. Jahrhunderts, daß sich die Literatur
nach Goethe und Schiller in ein nachklassisches Diadochentum aufgespalten habe, in „Biedermeier“ und „Romantik“ hier, „Junges Deutschland“ und „Vormärz“ dort; um 1930 hat man sich bis zur Verzweiflung
bemüht, das Eine sorgfältig gegen das Andere abzugrenzen. Aber die
Gemeinsamkeiten sind doch so groß, daß man allenfalls von feindlichen Brüdern sprechen kann. Manches spricht für die zumindest partiell enge Verwandtschaft der scheinbar so opponenten Strömungen, als
deren Exponenten auch Eichendorff und Heine gelten. Neben einigen
Klassizismen im Bereich der Jungdeutschen und der romantischen
Literatur zeigt sich das nicht zuletzt im Wissen um die problematisch
gewordene, rasch verfließende Zeit und in dem, was Heine als das neuerdings angebrochene Reich der „wildesten Subjektivität“ bezeichnet
hat,52 Eichendorff als rechthaberische Ungebundenheit des menschlichen Verstandes und Souveränität des Subjekts.53 Alle diese Faktoren
aber haben mitgewirkt bei der dichterischen Fixierung dessen, was Eichendorff die alte schöne Zeit nannte und Heine das Millennium. Was
sie strukturell letztlich unterscheidet, ist allein der Doppelsinn des Wortes „einst“.
52 In seiner Rezension von Wolfgang Menzels Die deutsche Literatur von 1828, in:
DHA 10, S. 247.
53 HKA VIII/2, S. 37f.
E I CH E N D O RF F
UND DIE
A U F K LÄ R U N G
In Eichendorffs Panoptikum sonderbarer und verschrobener Figuren,
das von vagierenden Glücksrittern, verbummelten Studenten und
nichtstaugenden Frohsinnsburschen nur so wimmelt, in dieser Kolossallandschaft ebenso erfreulicher wie fragwürdiger Sonderlinge begegnet uns gelegentlich auch ein Geselle, der als trocken und hochfahrend
charakterisiert wird, als rechthaberischer Ordnungsfanatiker, mit einem
ebenso unstillbaren Eifer zum Aufräumen wie mit einem maßlosen
Überlegenheitsgefühl ausgestattet. Die lieben Mitmenschen sieht er
stets nur unter sich, nicht aber neben sich; und er duldet erst recht keine Götter über sich, zumal er sich als Bilderstürmer bereits einen beachtlichen Namen gemacht hat. Idolatrien sind ihm ungemein verhaßt,
und so schlägt er in Stücke, was ihm im Sektor der Sakralmodellierungen begegnet, so wie er sich überhaupt als Spezialist für Ikonoklasmen
bereithält. Alles Abergläubische ist ihm tief verdächtig, er schwört auf
klare Begrifflichkeit. Manchmal hat er päpstliche Allüren – dann hält er
sich für unfehlbar.
Jener „absolutistische, trockene und hochfahrende Gesell“ begegnet
uns nicht in Eichendorffs Erzählerwelt. Er tritt gleichsam theoretisch
auf – in Der deutsche Roman des 18. Jahrhunderts in seinem Verhältniß zum
Christenthum können wir nachlesen, daß es sich bei ihm um niemand
anderen als um den menschlichen Verstand handelt, genauer: um den
aufgeklärten Verstand, und wir wissen, ohne danach gefragt zu haben,
was Eichendorff von ihm hält: gar nichts.1 Eichendorffs Aufklärungs1
Sämtliche Werke des Freiherrn Joseph von Eichendorff. Historisch-Kritische Ausgabe […],
hg. von Hermann Kunisch (†) und Helmut Koopmann (= HKA), Bd. VIII/2, S. 37.
Soweit ich sehe, ist Eichendorffs Beziehung zur Aufklärung noch nicht in einer eigenen
Studie zureichend gewürdigt worden. Vereinzelte Bemerkungen zu diesem Thema bei
Peter Krüger: Eichendorffs politisches Denken, 2. Teil, in: Aurora 29, 1969, S. 50ff. Aus
pädagogischer Sicht vgl. Christoph Lüth: Arbeit und Bildung in der Bildungstheorie Wilhelm
von Humboldts und Eichendorffs. Zur Auseinandersetzung Humboldts und Eichendorffs mit dem
Erziehungsbegriff der Aufklärung, in: Eichendorff und die Spätromantik, hg. von Hans-Georg
Pott, Paderborn 1985, S. 181ff. Die einzige größere Studie, die sich thematisch mit der
hier vorliegenden berührt, stammt von Hans-Jürg Lüthi: Josef von Eichendorff und die
Aufklärung, in: Aurora 35, 1975, S. 7-20. Lüthi referiert im wesentlichen nur Eichen-
232
Eichendorff und die Aufklärung
kritik ist so rigoros wie unerbittlich, und wer ihr nachgeht, stößt immer
wieder auf die Urteile eines moralischen Scharfrichters. Das fragwürdige Wesen der Aufklärung enthüllt sich ihm schon in ihrer Geschichte,
und Eichendorff hat diese Geschichte der Aufklärung, die für ihn in die
Französische Revolution mündete, sogar zweimal geschrieben: in Halle
und Heidelberg als selbsterlebte Geschichte, in den literarhistorischen
Schriften als allgemeine Religions- und Geistesgeschichte. Beide Geschichten hängen natürlich zusammen, und zwar bereits dadurch, daß
Eichendorff in seinen eigenen Erfahrungen quasi ontogenetisch erleben
zu müssen meinte, was das Jahrhundert als ganzes entwickelt hatte.
Eichendorff, weit davon entfernt, eine halbwegs neutrale Geschichte
der Aufklärung schreiben zu wollen, hat also gleich zweimal ein Bild
des 18. Jahrhunderts geliefert, das die simplifizierenden wie die karikierenden Linien seines Malers nicht verleugnen kann und auch gar nicht
verleugnen will: und darin spricht sich die Aufklärung ihr Verdikt
selbst. Wie sehen diese Geschichten aus?
Für Eichendorff stellt sich die selbsterlebte Geschichte der Aufklärung in einer autobiographisch bedingten Verkürzung dar, die in sich
bereits deswegen wie eine gewollte Verzeichnung wirkt. Kant erscheint
dorffs Urteile über die Aufklärung und Dichter der Aufklärung; Eichendorff erscheint
als Gegner der Aufklärung, wenngleich er etwa in Das Marmorbild in seiner „Verkündigung des klar leuchtenden christlichen Geistes“ seinerseits zu einem Aufklärer sui
generis wird. Aber es fragt sich doch wohl, ob Eichendorffs Verhältnis zur Aufklärung
als einem Phänomen der Geistesgeschichte nicht zugleich eindeutiger und differenzierter ist. – Über einen einzelnen aufklärerischen Autor, nämlich Friedrich Nicolai, sehr
erhellend Wolfgang Martens: Zu Eichendorffs Nicolai-Bild, in: Aurora 45, 1985, S. 106-120;
die Auseinandersetzung mit Nicolai erscheint hier als Auseinandersetzung des Romantikers mit dem Aufklärer, dessen Wirkung bis in Eichendorffs Zeit hineinragte: nämlich
bis in die Dichtung des Jungen Deutschland. Über Eichendorffs Kritik der Sentimentalität und seine Auseinandersetzung mit der Literatur des 18. Jahrhunderts vgl. John
Neubauer: „Liederlichkeit der Gefühle“: Kritik der Subjektivität in Eichendorffs Studie zum
deutschen Roman des achtzehnten Jahrhunderts, in: Aurora 45, 1985, S. 149-162. Vgl. zum
Thema auch noch die ältere Arbeit von Hans-Egon Hass: Eichendorff als Literaturhistoriker, in: Jahrbuch für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft 2, 1952-54, S. 103-177; ebenfalls Alexander von Bormann: Natura loquitur. Naturpoesie und emblematische Formel bei
Joseph von Eichendorff, Tübingen 1968, passim. Vergleichend mit Heines Sicht des 18.
Jahrhunderts hat Alfred Riemen Eichendorffs Kritik an Nicolai, Lessing, Hamann,
Goethe und Schiller auf wenigen Seiten klar dargestellt: Heines und Eichendorffs literarhistorische Schriften. Zum geistesgeschichtlichen Denken in der Restaurationszeit, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 99, 1980, S. 532-559, bes. S. 541-546. Riemen betont zu Recht, wie sehr
sich Eichendorffs Urteil in seinen späteren Schriften verschärft.
Eichendorff und die Aufklärung
233
in dieser persönlich erfahrenen Geschichte der Aufklärung nämlich
nicht etwa als ihr Vollender, sondern steht am Anfang jener in Eichendorffs Augen fatalen Aufklärung, die er schließlich als Katastrophengeschichte beschrieben hat. Eichendorff begegnet der Aufklärung vor
allem in den Schülern Kants, und diese radikalisierten, was Kant begonnen hatte. Das Urteil über sie ist in ihrer Charakteristik enthalten,
wenn Eichendorff feststellt: „Sie setzten daher nun ihren lichtseligen
Verstand ganz allgemein als alleinigen Weltbeherrscher ein; es sollte
fortan nur noch einen Vernunftstaat, nur Vernunftreligion, Vernunftpoesie u. s. w. geben.“2 Das Geheimnisvolle und Unerforschliche sei als
störend und überflüssig abgetan worden, und als Folge dessen sei –
Eichendorff denkt da sehr universalistisch – „das deutsche Leben und
das deutsche Reich, das grade auf diesen unsichtbaren Fundamenten
vorzugsweise geruht“, aufs Lebensgefährliche bedroht gewesen. Endpunkt der Aufklärung ist für Eichendorff die Französische Revolution;
er hat sie als Ungewitter empfunden, das der Idyllik des 18. Jahrhunderts ein jähes Ende bereitete. So sehr Eichendorff die Geschichte der
Aufklärung in seinen biographischen Schriften subjektiv als einen völlig
einsichtigen Vorgang beschrieben hat, so sehr hat er das Ende der Aufklärung als irrationales Ereignis dargestellt, so, als habe die Aufklärung
schon vor dem Ausbruch der Revolution ihre analytisch-klärende Kraft
völlig verloren. Schon in den letzten Dezennien des Jahrhunderts, so
meinte Eichendorff, habe jeder gefühlt, „daß irgend etwas Großes im
Anzuge sei, ein unausgesprochenes banges Erwarten, man wußte nicht
von was, hatte mehr oder minder alle Gemüther beschlichen“.3
Rechnen wir seine Angaben um, so begann das unheimliche Ende
der Aufklärung also etwa schon ab 1780. Eichendorff führt, um die
Aura des Unheimlichen anschaulich zu machen, jene seltsamen Gestalten und unerhörten Abenteurer an, die damals die Welt bevölkerten:
den Grafen Saint Germain, Cagliostro, die Rosenkreuzer, die Illuminaten, Geheimbündler jeglicher Couleur – der Revolutionsgegner Goethe
hält die gleichen Namen parat. Nichts mehr von Rationalität – der Spuk
überwuchert alles. Der Boden, so meinte Eichendorff,
war längst von heimlichen Minen, welche die Vergangenheit u. Gegenwart in
die Luft sprengen sollten, gründlich unterwühlt, man hörte überall ein spuk-
2
3
HKA V/4, S. 139.
HKA V/4, S. 125.
234
Eichendorff und die Aufklärung
haftes unterirdisches Hämmern u. Klopfen, darüber aber wuchs noch lustig
der Rasen, auf dem die fetten Heerden ruhig weideten. Vorsichtige Grübler
wollten zwar schon manchmal gelinde Erdstöße verspürt haben, ja die Kirchen
bekamen hin u. wieder bedenkliche Riße, allein die Nachbarn, da ihre Häuser
u. Krämerbuden noch ganz unversehrt standen, lachten darüber […]4
Aber das Lachen sollte ihnen bald vergehen. So endete also die Aufklärung in Dunkelmännertum und subversiver Empörung – kaum daß sie
begonnen hatte. Eichendorff schließt seine Übersicht über die Geschichte der Aufklärung mit den Worten: „Und so war denn in der Tat
der ganze alte Bau schon im Anfange unseres Jahrhunderts in sich zusammengebrochen; der Sturm der französischen Revolution und der
nachfolgenden Fremdherrschaft hat nur den unnützen Schutt auseinandergefegt“.5
Haben wir recht gehört? Wir haben – aber irgendetwas stimmt unbehaglich. Es ist die hier aufgemachte Zeitrechnung, und sie fordert
zum Nachdenken auf. Kants Schrift Was ist Aufklärung? erschien bekanntlich 1784, fünf Jahre vor der Französischen Revolution. Kants
Kritik der reinen Vernunft wurde zwar schon 1781 publiziert; wirkungsgeschichtlich wichtiger ist jedoch die zweite veränderte Auflage von 1787.
Die Kritik der praktischen Vernunft erschien 1788, die Kritik der Urteilskraft
erst 1790. Selbst wenn wir davon ausgehen, daß die Kritik der reinen
Vernunft in der Fassung von 1781 von Eichendorff gemeint gewesen
sein sollte, so bleiben für Kants Arbeit, für die angebliche Depravation
der Kantischen Ideen durch seine Schüler und deren Reden von Vernunftstaat, Vernunftreligion und Vernunftpoesie sowie für den Zusammenbruch dieses Ideenreiches durch die Negation des „Geheimnisvollen“ und „Unerforschlichen“ weniger als acht Jahre: denn der Sturm
der Französischen Revolution hat ja, Eichendorff zufolge, nur noch
unnützen Schutt auseinandergefegt. Der Zusammenbruch der Aufklärung hat sich, mit anderen Worten, in dieser sonderbaren Chronologie
etwa schon um 1787 ereignet, also fünf oder sechs Jahre nach der Proklamation der Kantischen Ideen. Das Reich der Vernunft war zusammengestürzt, bevor es recht errichtet war, die Nachfolger und Schüler
Kants waren auf dem Plan, bevor er die zweite seiner Kritiken geschrieben hatte, und so fallen denn der Anfang, der tatsächlich gesehen
keiner war, und das Ende, das noch lange nicht erreicht war, in Eichen4
5
HKA V/4, S. 126.
HKA V/4, S. 140.
Eichendorff und die Aufklärung
235
dorffs autobiographischer Darstellung, die sich nichtsdestoweniger den
Anschein einer neutralen Berichterstattung gibt, nahezu zusammen.
Das ist Demagogie. Das ist mehr als Zahlenakrobatik, das ist eine
Aufklärungskritik, die sich listigerweise eines Demonstrationsmittels
bedient, das – wie das der Chronologie nun einmal eigen ist – unwiderleglich zu sein scheint. Daß sich dem alternden Eichendorff das Zeitgefüge so ineinandergeschoben habe, daß er auf sehr abenteuerliche Weise verkürzte, was Entwicklungsgeschichte eines ganzen Jahrhunderts
war, ist als Argument zu vordergründig und damit nicht brauchbar.
Sehr viel wahrscheinlicher ist, daß hier unter der Flagge der autobiographischen Freiheit ein Geschichtsprozeß so zurechtgestutzt wurde, daß
er in seiner Darstellung sich gleichsam selbst verurteilte. Kaum jemand
anders hat der Aufklärung weniger Raum zugebilligt als Eichendorff,
der Halle und Heidelberg immerhin mit dem Satz einleitet: „Das vorige
Jahrhundert [das 18. also] wird mit Recht als das Zeitalter der Geisterrevolution bezeichnet.“ Hat Eichendorff die Aufklärung und ihr Ende
je wirklich so erlebt? Man darf die Frage wohl getrost verneinen, was
die weitere aufwirft, warum Eichendorff denn so aberwitzig die Chronologie verändert hat. Aber davon später.
Sosehr sich die Geschichte der Aufklärung in Eichendorffs autobiographischer Sicht verkürzt, sosehr überdehnt ist sie in seinen literarhistorischen Schriften dargestellt. Begann sie dort erst mit Kant, so hier
bereits mit der Reformation. Eichendorff denkt durchaus noch universalgeschichtlich: bereits die Reformation erscheint als Krankheitssymptom der Neuzeit, deren Beginn mit der Kritik der Renaissance an
der Kirche markiert ist. Eichendorff erwähnt auch die „Subjektivierung
der Religion“, der eine Haltung entsprach, die als Protestantismus im
Zeitalter der Reformation erstmals deutlich auf den Plan trat. Protestantismus ist für ihn bekanntlich eine „Negation“ und zugleich „eine
Demonstration des Verstandes“,6 und die Suprematie des Verstandes
über die „andern für eine harmonische Bildung gleich unentbehrlichen
Seelenkräfte“ ist für Eichendorff die Krankheit der Moderne, die in der
Aufklärung und schließlich in der Französischen Revolution zum Ausbruch und zur Krise kommt. Eichendorff verurteilt die Reformation
aber nicht nur, weil sie für ihn den Beginn der Vernunftherrschaft dokumentiert, sondern auch deswegen, weil der Protestantismus „gegen
6
HKA VIII/2, S. 37.
236
Eichendorff und die Aufklärung
die Ueberlieferung schlechthin protestirte“;7 auch die Reformation war
schon Revolution, setzte sie sich doch „über das Bestehende und seine
innere Berechtigung hinweg“. An die Stelle der überlieferten Religion
setzte sich die „Freigeisterei“.8 Schiller hielt drei Jahre vor der Französischen Revolution die Freigeisterei für einen heilsamen Fieberparoxismus und sah darin einen wichtigen Schritt der ganzen Menschheit. Für
Eichendorff proklamierte ein tollgewordener freisinniger Rationalismus
„in seiner praktischen Anwendung eine Religion des Egoismus“ und
bereitete damit nichts Geringeres vor als den Untergang des Abendlandes.
Sosehr es naheliegt, hier nur den Traditionalisten zu sehen, der gegen
jegliche Weltveränderung anschrieb, so hatte Eichendorff doch seine
ideologischen Gründe. Denn er zog vor allem deswegen gegen den
Protestantismus zu Felde, weil sich damit für ihn ein Grundverhältnis
im Menschen selbst verschoben hatte: der Verstand bekam damals
erstmals „eine unverhältnißmäßige Bedeutung und Macht über Phantasie, Gefühl“9 und hatte den „lebendigen Verkehr mit der höheren Geisterwelt abgeschlossen“. Ein schlimmes, ein vernichtendes Urteil. Eichendorff hat die Geschichte des Verstandes, die für ihn dann zur Geschichte der Aufklärung wurde, immer unter dem Begriff der Usurpation gesehen und damit das eigentlich Illegitime der Aufklärung gebrandmarkt. Von daher erklären sich die zahlreichen Hinweise auf den
frechen Tyrannen, der sich sein Amt unrechtmäßig angeeignet habe.
Von daher erklärt sich für ihn aber auch der Krankheitszustand der
Moderne. In Preußen und die Konstitutionen hat Eichendorff noch einmal
zusammengefaßt, daß sich ihm die Geschichte der Aufklärung als
Symptom von Krankheit darstellte.10 Und Krankheit ist für Eichendorff
nur eine andere Formel für Revolution. So gibt es also zwei Geschichten
der Aufklärung: eine persönlich erlebte, die eigentlich nur die Geschichte ihres Unterganges ist, und eine universalhistorische, in der die Aufklärung als Protestantismus verketzert wird. Sie laufen freilich beide auf
das gleiche hinaus: auf die Zerstörung der alten Welt. Eichendorff hat
uns vorgerechnet, wann und warum das so kommen mußte. Daß diese
7
8
9
10
HKA VIII/2, S. 38.
HKA V/4, S. 128.
HKA VIII/2, S. 37.
HKA X/1, S. 123ff.
Eichendorff und die Aufklärung
237
Rechnung so haarsträubend falsch war, war am Ende dann wohl sogar
Absicht.
Aber auch wir haben falsch gerechnet: es gibt nicht nur diese beiden
Aufklärungsberichte. Denn Eichendorff hat die Geschichte der Aufklärung, die für ihn zugleich die Vorgeschichte des Ausbruchs der Französischen Revolution war, noch ein drittes Mal und dort, wenn Steigerungen möglich sind, noch viel radikaler dargestellt: auf poetischem Terrain, nämlich in der Erzählung Das Schloß Dürande. Von ihr muß hier
ebenfalls die Rede sein, denn sie enthält die wohl schärfste Aufklärungskritik Eichendorffs. Wir kennen die Erzählung – sie endet bekanntlich mit dem Ausbruch jenes Gewittersturms der Französischen
Revolution, der sich schon so lange ankündigte, so wie Eichendorff das
ja in seinen autobiographischen und theoretischen Schriften ebenfalls
beschrieben hat. Aber man läse diese Revolutionserzählung einseitig
und unzulänglich, sähe man hier nur die äußeren Ereignisse in eindrucksvollen Bildern dokumentiert, die den verspäteten Zuhörer noch
nachträglich das Gruseln lehren können. Das Wesentliche ist das, was
damals tatsächlich passierte. Anders gesagt: die wichtigere Geschichte
ist die, die sich im Innern der Figuren abspielt, und so berichtet die
Novelle denn nicht nur von historischen Begebenheiten, sondern erzählt noch etwas anderes, nämlich die eigentliche Geschichte der Revolution. Es ist die Geschichte eines seelischen Verfalls. Es ist nicht Eichendorffs Absicht, das Revolutionsgeschehen und dessen Vorgeschichte zu einer tellurischen Urgewalt zu erklären, der die Menschen
hilflos gegenüberstanden. Erst recht spielt der Aufruhr der damaligen
Habenichtse keine Rolle. Eichendorffs Erklärung für das Aufkommen
der Revolution ist anderer Art, und er gibt sie im letzten Satz seiner
Erzählung, in dem er Resümee und Warnung zugleich ausspricht: „Du
aber hüte dich, das wilde Thier zu wecken in der Brust, daß es nicht
plötzlich ausbricht und dich selbst zerreißt“. Sosehr die Revolution
nach außen hin als Naturkatastrophe erscheint, so ist sie doch eigentlich das Ergebnis einer seelischen Ausartung, Endstadium eines psychischen Ausnahme- und Krankheitsfalles, Ausbruch des Wahnsinns, das
Zutagetreten des Bösen in der Welt. Die Erzählung Das Schloß Dürande
will vor allem demonstrieren, wie es zum Ausbruch des wilden Tiers
kommen konnte. Damit ist weit mehr als die unmittelbare Vorgeschichte der Französischen Revolution erzählt; dargestellt ist zugleich die
Geschichte der Aufklärung, wie sie aus Eichendorffs Sicht erscheint.
238
Eichendorff und die Aufklärung
Eichendorff hat sie hier vielleicht sogar noch schärfer verurteilt als in
seinen theoretischen Arbeiten und zugleich das wirkliche Übel der Aufklärung beim Namen genannt – und weil hier also nichts Geringeres als
eine Geschichtsexegese der gesamten Neuzeit geliefert wird, verlohnt
die Erzählung noch einige Aufmerksamkeit, zumal sie auch prospektive
Züge enthält. Denn Eichendorff hat sich nicht auf die Zeitdiagnostik
beschränkt – er hat sich zugleich als Therapeut versucht und das Heilmittel angegeben, das der modernen Weltvergiftung allein abhelfen
kann.
*
Wie sieht das nun aus? Vor allem: die Revolution ist im Grunde keine
Revolution, denn es fehlen die Revolutionäre. Es geht in Eichendorffs
Geschichte durchaus nicht um ein plötzlich ausbrechendes Rebellentum oder um den Aufstand derer, die sich zukurzgekommen wähnen.
Denn Renald, der unglückselige Held der Geschichte, ist, das sei ausdrücklich betont, alles andere als ein blutgieriger Sozialwüterich. Er ist
im Grunde genommen eine konservative Natur, und nichts liegt ihm
ferner als ein endlich möglich gewordener Aufstand gegen seine Obrigkeit; er will die feudale Ordnung nicht zerstören, sondern bemüht sich
so lange wie möglich und so verzweifelt wie kein anderer, ihr zu genügen. Die Fundamente dieser alten Ordnung sind für ihn Liebe und
Vertrauen, die beide im Glauben verankert sind – und Renald denkt
nicht im Traum daran, an ihnen zu rütteln. Es sind Werte, die, wie wir
wissen, auch für Eichendorff selbst die Ordnung der Welt ausgemacht
haben. Aber das wilde Tier in der Brust des Menschen, das zeigt die
Geschichte, kann das alles, den gesamten Bau der sittlichen Welt, wie
Schiller das genannt hätte, zerstören. Was meint Eichendorff damit?
Für Eichendorff ist dieses Bild vom wilden Tier in der Brust des
Menschen ein Schlüsselbild, was seine Interpretation der Aufklärung
angeht. Es kommt bekanntlich noch an zwei anderen Stellen vor: am
Schluß des Versepos Julian, wo vom Dämon in der Brust die Rede ist,
der, wenn er plötzlich ausbricht, den Menschen selbst zerreißt, und
sodann in der Charakteristik Kleists in der Geschichte der poetischen Literatur Deutschlands, wo Eichendorff in fast wörtlicher Wiederholung der
Dürande-Zeilen warnt: „Hüte jeder das wilde Thier in seiner Brust, daß es
Eichendorff und die Aufklärung
239
nicht plötzlich ausbricht und ihn selbst zerreißt!“11 Kleist ist für Eichendorff durch den „gänzlichen Mangel an religiösem Glauben“ charakterisiert, durch eine „wüste phantastische Leere, die Vorliebe für das
blos Seltsame und Unerhörte, die unbezwingbare Lust, anstatt der natürlichen Grundlage religiöser Motive einen oft trivialen und widerwärtigen Aberglauben zum Angelpunkt seiner dramatischen und novellistischen Katastrophen zu machen“. Kleist ist Vertreter einer Literatur der
Zerrissenheit, der Phantasterei und des Hasses: Stigmata der Moderne,
die Eichendorff hier brandmarkt. Letztlich also ist es eine Mangelerscheinung, die das wilde Tier loskommen läßt; das gänzliche Fehlen
eines religiösen Glaubens kann ein übersteigertes Rechtsgefühl, mag es
auch alles für sich haben, zum wahnsinnigen Fanatismus ausarten lassen. Auch bei Renald ist der Glaube an Liebe und Vertrauen, an die
Fundamente jeder Weltordnung gestört, ja zerstört, und weil dem so ist,
kann das wilde Tier in seiner Brust losgebunden werden. Aber damit ist
nicht eine numinose Macht gemeint, sondern etwas Einfacheres und
zugleich viel Komplizierteres: das, was bei Eichendorff beziehungsvoll
„Zweifel“ heißt – und das Heraufkommen dieses Zweifels ist nicht nur
das eigentliche Spannungsmoment der Erzählung, sondern zugleich die
in die Fiktion integrierte Geschichte der Aufklärung, wie Eichendorff
sie sah. Die Geschichte zeigt, wie der Zweifel an die Stelle des Glaubens tritt und damit die Welt in Frage stellt. Mit dem Zweifeln beginnt
die Zerstörung der überkommenen Welt; was übrigbleibt, ist am Ende
der Trümmerhaufen des Schlosses Dürande, der zugleich der Trümmerhaufen der alten Welt ist. Der Zweifel ist für Eichendorff das eigentlich Böse in der Welt: der Verstand, derart losgebunden, muß irregehen; gibt man ihm nach, endet alles im Untergang. Eichendorff schildert die Erzählung hindurch alle Phasen des wachsenden Zweifels, der
zu irreparablen Vertrauenskrisen führt, und nichts könnte die diabolische Kraft des Verstandes, der sich an die Stelle des gläubigen Gefühls
gesetzt hat, besser verdeutlichen als die Weltgeschichte der Französischen Revolution, die hier zum Weltgericht wird.
Es ist unschwer zu sehen, daß Eichendorffs Erzählung eine Replik
auf Kleists Kohlhaas-Geschichte ist. Beidemale begründet sich die Suprematie des Verstandes in der Durchsetzung eines vermeintlichen
11 HKA IX/3, S. 429. Ausführlichere Deutung der Erzählung in dem Band des
Verfassers: Freiheitssonne und Revolutionsgewitter. Reflexe der Französischen Revolution im literariscben Deutschland zwiscben 1789 und 1840, Tübingen 1989.
240
Eichendorff und die Aufklärung
Rechtsanspruches. Rechtskollisionen sind in der Literatur des frühen
19. Jahrhunderts keine Ausnahme, sondern eher die Regel; Kleist hat
derartige Kollisionen bekanntlich wiederholt geschildert, und so auch
Büchner, die Droste, Immermann, Heine. In Kleist sieht Eichendorff
jedoch die eigentliche Krise der Subjektivität, der Selbstemanzipation,
des Glaubensverlustes: Subjektivität und Verstandesherrschaft sind für
Eichendorff nur verschiedene Erscheinungsformen der gleichen
Krankheit, die hier, unbehandelt, zwangsläufig zum Tode führt.
Renald zweifelt also – er zweifelt wie Kohlhaas an der Rechtmäßigkeit der überkommenen Ordnung und Autorität. In Eichendorffs Geschichte aber hätte Renald diesem Zweifel nicht nachgeben dürfen,
denn in dem Augenblick, wo er ihm folgt, ist das altehrwürdige System,
das die Welt bis dahin in Ordnung gehalten hat, in Unordnung geraten
und dem Untergang geweiht. Eine Weile lang will er noch die alte Ordnung bewahren, da nichts dafür spricht, daß diese sich auf ein Unrecht
gegründet habe, zumal sie ihm bislang immer noch als Spiegel der
himmlischen Ordnung erschienen war – aber zunehmend gibt er Zweifeln in seiner Brust Raum, läßt das Mißtrauen vordringen, begräbt damit die Ordnungselemente, an denen er doch festhalten möchte. Am
Ende setzt Renald das irdische Recht höher als den Glauben, oder
vielmehr: Renald setzt sich in seinem Rechtsdenken an die Stelle der
göttlichen Gerechtigkeit, wenn er seinem Gegenspieler „im Namen
Gottes“ seine Bedingungen stellt, er verabsolutiert seinen eigenen, auf
Zweifel gegründeten Rechtsanspruch – und bereitet so seine eigene
Katastrophe vor.
Eben damit hat Eichendorff zugleich seine Geschichte der Aufklärung geschrieben. Denn auch sie endet mit dem Sieg des vorwitzigen
Verstandes, mit dem Triumph der Rationalität, der Herrschaft des
Zweifelns über den Glauben, mit der Verabsolutierung des eigenen Ich.
So gliedert sich die Erzählung vom Ausbruch der Französischen Revolution jenen anderen Ereignissen an, die Eichendorff als sichtbare
Zeichen einer Negativ-Geschichte der Neuzeit genannt hat: den Bauernkriegen, dem „Skandal der Münster’schen Wiedertäufer“ und der
„wüsten Raserei des Dreißigjährigen Krieges“.12 Eichendorffs Erzählung demonstriert in Bildern und Geschehnissen, daß die Geschichte
der Aufklärung eigentlich ein Kapitel aus der Seelengeschichte der
12
HKA VIII/2, S. 39.
Eichendorff und die Aufklärung
241
Menschheit ist. Das Antidot gegen die zerstörerischen Verhältnisse der
Moderne ist denn auch nur in der Seele zu finden.
*
Die Geschichte der Aufklärung als die Geschichte einer verwildernden
Seele: das ist Eichendorffs Interpretation der Neuzeit. Vom Ende der
Novelle her erschließt sich auch die literarische Kategorie, der sie zugeordnet werden muß: die Aufforderung an den Leser macht unmißverständlich klar, daß es sich um eine moralische Erzählung in der Tradition der moralischen Erzählungen des 18. Jahrhunderts handelt; die Geschichte vom Jäger Renald ist ein Beispielfall. Zwar ist er ins Extreme
geraten, aber gerade der extremen Situation wegen kann um so deutlicher gezeigt werden, was zur Zerstörung der Welt führt. Mochte am
Anfang auch ein Übermaß an Trivialelementen den Leser hineinlocken
in eine Erzählung, die sehr in die Nähe der Kolportage zu geraten
schien, so verblaßt das Triviale allmählich; dafür wird jener seelische
Prozeß sichtbar, der an und in Renald aufgezeigt wird und der der eigentliche Gegenstand dieser Erzählung ist. Wie jede moralische Erzählung des 18. Jahrhunderts ist Eichendorffs Geschichte auch ein Gleichnis, da an einem Einzelfall demonstriert wird, was generell gilt.
Aber die eigentliche Leistung des Dichters, des Schriftstellers ist
nicht die, die Weltgeschichte als Psychohistorie zu beschreiben. Er hat
sie auch zu deuten, das heißt: er hat die Vorgänge symbolisch zu verstehen, und das nicht nur in dem Sinne, daß sich die Geschichte eines
ganzen Jahrhunderts, ja die Geschichte der Moderne von der Reformation bis zur Französischen Revolution in die Geschichte weniger Wochen verkürzen kann, sondern auch in jenem, daß die Geschichtskräfte,
die eigentlich Seelenkräfte sind, benannt werden. Im Grunde haben wir
es in dieser scheinbar so stimmungsvollen, bilderreichen und mit Natursymbolik nicht sparenden Geschichte vom Aufkommen der Französischen Revolution mit einer Allegorie zu tun, in der die Figuren nicht
nur das Schreckenstheater der Revolution inszenieren, sondern zugleich
eine Metaebene bevölkern. Es lohnt sich, noch einen Moment bei
ihnen zu verweilen.
Wir sagten schon, daß hier nicht das Proletariat gegen den Adel aufsteht, damit nicht das Schlechte gegen das Gute (oder das Gute gegen
das Schlechte, je nach der Beleuchtung des Falles). Eindeutig kritisiert
wird nur die Welt des alten Grafen Dürande; er ist in Eichendorffs
242
Eichendorff und die Aufklärung
Erzählung geradezu die Inkarnation einer negativ zu bewertenden Restauration. Was an ihr gezeigt wird, ist die Depravation der „alten schönen Zeit“, und wenn der alte Schloßherr mit „einer geputzten Leiche“
verglichen wird, so spricht das für sich und enthält Eichendorffs ganze
Kritik an einem Adel, der die Zeichen der Zeit nicht erkannt hat. Das
Festhalten an einer vorrevolutionären feudalen Haltung ist in Eichendorffs Augen identisch mit einem Ignorieren der Geschichte, und er
geißelt die Unglaubwürdigkeit dieser Haltung, indem er ihren Vertreter
untergehen läßt. Im Grunde bedarf es gar nicht einmal der Revolution,
um den alten Dürande aus dem Spiel der Mächte herauszunehmen.
Aber selbst für ihn gibt es bei Eichendorff noch so etwas wie Erlösung:
wenn ihm in seinen Todesphantasien seine längst verstorbene Frau in
Gestalt der Himmelskönigin entgegenkommt, dann wandelt sich die
Vergangenheit für ihn zur Zukunft, was doch wohl besagen will, daß
auch ein derartig Irregehender wie der alte Graf Dürande noch erlöst
werden kann. Der junge Dürande ist von Eichendorff nicht negativ
gesehen, so wenig wie Renald, sein Gegenspieler; es sind erst Mißverständnisse, es ist der Zweifel, der sie zu Kontrahenten macht. Eichendorff hat den jungen Grafen Dürande mit hochrangigen Werten
ausgestattet, und wenn er ihn als Gegner der Revolution erscheinen
läßt, so deswegen, weil er die Revolution als Mittel der Durchsetzung
von Sozialreformen ablehnt. Im Grunde steht er für ein in ihm wiederbelebtes altes ritterlich-christliches Ethos, und so, wie der junge Graf
Dürande Symbol des wahren Adels ist, so ist Renald der Vertreter des
guten Volkes. Die wichtigste Figur aber ist Gabriele; gerade sie ist mit
allegorischen Zügen vielleicht noch deutlicher ausgestattet als die anderen Figuren der Erzählung. Nicht nur, daß sie die entscheidende, verbindende Gestalt zwischen Adel und Volk ist; sie erscheint als Verkörperung von Liebe und Treue, und sie hätte die Spannungen zwischen
den Ständen und Gesinnungen mildern und ausleben können, wäre
nicht der Zweifel in Renald so mächtig geworden. Wird aber Gabriele
als Inkarnation des entscheidenden Bandes zwischen Adel und Volk,
nämlich der (christlichen) Liebe, verstanden, so leuchtet ein, daß Eichendorff in dieser Geschichte vom Untergang eines alten Staates zugleich das Idealbild von Staatsverhältnissen entwirft, wie er sie für die
Zukunft erhoffte – im Sinne einer konservativen Revolution, deren
evolutionistische Tendenzen überwiegen, im Sinne auch eines aufgeklärten Adelsdenkens, einer idealen Harmonie zwischen dem Alten und
Eichendorff und die Aufklärung
243
dem Neuen. Die allegorische Bedeutung dieser Geschichte, in der hinter den Familienkonflikten Staatskonflikte stehen, belegt im übrigen
eine Stelle aus der Eichendorffschen Schrift Über preußische Verfassungsfragen, wo es heißt: „Gleichwie es sich aber in einer unentarteten Familie
gantz von selbst versteht, daß der Vater den Sohn liebreich zum Besten
leite und der Sohn den Vater ehre, so bedarf auch jenes gesunde StaatsVerhältniß zu seiner Bürgschaft nicht des Vertrages, dieser Artzenei
erkrankter Treue“.13 Daß das prospektiv gedacht war, zeigt der Zusatz:
„Und dieser Geist wechselseitiger Liebe, Mäßigung und Gerechtigkeit
[…] wird in dem Sturme einer tiefbewegten Zeit ferner schirmend über
uns walten“. Einen Vertrag wollte auch Renald mit dem jungen Dürande machen – da aber war, wie uns die Erzählung lehrt, die Treue ja
schon erkrankt. Daß in der Geschichte vom Schloß Dürande Vater und
Sohn sich nicht mehr verstehen, beleuchtet andererseits die Mißverhältnisse in jener bereits entarteten Familie. Der junge Graf Dürande
und Gabriele hingegen hätten sich sehr wohl verstanden, wären sie
nicht durch Zweifel und Argwohn daran gehindert worden. So haben
wir denn im Grunde genommen eine zeitkritische Novelle vor uns, in
der auf allegorische Weise die Wurzeln der Krankheit ebenso aufgedeckt werden, wie Rezepte zur Heilung angeboten sind. Und eben von
daher erklärt sich der moralische Satz am Schluß.
*
Ein moralischer Satz am Schluß der Erzählung eines Romantikers?
Eine allegorische Geschichte, was sich auf den ersten Blick wie ein
Stimmungsbild aus der Zeit der Französischen Revolution liest? Spätestens hier zeigt sich, daß Eichendorffs Verhältnis zur Aufklärung
durchaus nicht von einseitiger Kritik bestimmt ist. Eichendorff selbst
bedient sich aufklärerischer Mittel, die moralische Erzählung ist eine
seiner stärksten Waffen. Mit einer Einschränkung freilich: was er aufklärend mitzuteilen hat, ist nicht durch den Verstand zu leisten. Der,
von ihm so außerordentlich kritisch betrachtet, darf hier nicht tätig
sein, aber das hindert Eichendorff nicht, in aufklärerischer Absicht zu
schreiben. So erklärt sich, warum er ganze Bildreihen aufbaut, um mit
deren Hilfe zu überzeugen, da die Aufklärung bei ihm gewissermaßen
über Bild, ursprüngliche Einsicht und Gefühl gehen muß, nicht über
13
HKA X/1, S. 119f.
244
Eichendorff und die Aufklärung
die Vernunft. Aber auch von hier aus gesehen gibt es keine überzeugendere Verteidigung der Poesie und ihrer Möglichkeiten als gerade
diese Aufgabe: zu verdeutlichen, wo der Verstand nicht mehr verdeutlichen kann. So haben wir denn in der Erzählung Das Schloß Dürande
auch einen bewußten Rückzug aus der intellektuellen Sphäre, keine
Erklärung der Revolution mit Hilfe kühner Thesen und philosophischer Spekulationen, wie sie etwa bei Heine immer wieder begegnen,
sondern eine Exegese gleichsam unterhalb der Verstandesebene, in
einer Bild- und Figurenwelt, die oft allerdings dazu verführt hat, diese
nur als solche zu betrachten und nicht den Sinn dahinter zu erkennen,
mit dem bei Eichendorff alles so eindeutig befrachtet ist. Eichendorff
setzt als Überzeugungselement Bilder ein; was er betreibt, ist eine Art
pikturaler Aufklärung, und das Belehren durch Vorbilder und Gleichnisse ist darin eingeschlossen. Er wußte offenbar genau, daß ein
Gleichnis sehr viel wirkungsvoller unterrichten kann als jeder noch so
klar argumentierende Aufruf, und wenn sich die Geschichte vom Schloß
Dürande auch scheinbar naiv liest, eben als bloße Sittenschilderung aus
der Zeit der Französischen Revolution, so ist gerade das ungefähr das
einzige, was sie nicht sein will, da sie eben auf einer Ebene unterhalb
oder vielmehr, nach Eichendorff, oberhalb des Verstandes operiert, um
dem Leser im wahrsten Sinne des Wortes die Augen zu öffnen. Eichendorff will aufklären, aber nicht nach Art der rationalen Überzeugungsdidaktiker, sondern indirekter, oder sagen wir besser: direkter.
Hat man sich über das allegorische Schreiben Eichendorffs erst einmal verständigt, so folgt daraus der aufklärerische Grundzug dieses
Schreibens fast von selbst. Denn die Aufklärung hatte kaum eine stärkere Waffe als die Allegorie. Für Bodmer war sie zwar nur eine „doppelsinnige Schreibart“, eigentlich ein Angriff auf die „abstracté“.14
Georg Friedrich Meier warnte sogar noch vor dem „ewigen Allegorisiren“, da das nur „einen Eckel“ verursachen könne.15 Aber seit
Winckelmanns Versuch einer Allegorie und seiner Feststellung, daß sie
„durch sich selbst verständlich seyn“ könne,16 ist die Allegorie als auf14 Johann Jacob Bodmer: Critische Betrachtungen über die poetischen Gemählde der Dichter,
Zürich 1741, S. 601. Zum allegorischen Schreiben im 18. Jahrhundert vgl. Verf.: Denken
in Bildern. Zu Schillers philosophischem Stil, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 30,
1986, S. 218-250.
15 Georg Friedrich Meier: Anfangsgründe aller schönen Wissenschaften, Zweyter Theil,
Halle/S. 1749, S. 372.
16 Johann Joachim Winckelmann: Versuch einer Allegorie, Dresden 1766, S. 2.
Eichendorff und die Aufklärung
245
klärerisches Instrument anerkannt. Christian Ludwig Hagedorn hat
festgestellt: „Ein allegorisches Bild kann uns gleichwohl belehren, wie
eine Sentenz“.17 In der Erzählung vom Schloß Dürande wirkt Eichendorff als Aufklärer, der seinen moralischen Satz schon vorher, im Verlauf des Erzählens, mit so viel bildlicher Beweiskraft ausstattet, daß er
nicht nur als subscriptio und notwendige Schlußfolgerung, sondern
zugleich als längst ausgesprochener Appell an die Zukunft verstanden
werden muß. Eichendorffs Geschichten sind dabei nur vordergründig
frei von Intellektualität: in Wirklichkeit ist dieses Erzählen ein raffiniertes Spiel mit Vorstellungen, die, wie es einer Allegorie zukommt, als
Gleichungen benutzt werden können.
Aufklärungskritik mit Hilfe aufklärerischer Praktiken: darin zeigt sich
Eichendorffs ambivalente Haltung zur Aufklärung, das eigentümlich
Gegenreformatorische, der Feldzug, den er gegen sie führt, um sie listigerweise mit ihren eigenen Waffen zu schlagen. Eichendorffs Revolutionserzählung hat wie seine autobiographische Darstellung der Aufklärung ebenfalls etwas von erzählerischer Demagogie an sich, das
Wort ohne alle negativen Konnotationen verstanden. Eichendorff ist
ein durchaus militanter Gegenaufklärer, dem die Mittel der Aufklärung
nur recht sind, um sie zu bekämpfen. In seinen autobiographischen
Schriften hat er andere gewählt und dort die Zeitverhältnisse so manipuliert, daß die Geschichte der Aufklärung schon ins Absurde geriet.
Eindringlicher freilich ist seine Aufklärungskritik hier, in der Erzählung
Das Schloß Dürande. Eichendorff hat aufklärerische Praktiken und Taktiken gelegentlich sogar noch stärker eingesetzt: in seinen Satiren nämlich. Dieser Begriff ist nicht sehr hilfreich, um jene Texte zu verstehen,
die damit bezeichnet werden; tatsächlich handelt es sich auch hier um
Allegorien, und die Zielscheibe dieses allegorisierenden Erzählens ist
wieder die Aufklärung und ihr in Eichendorffs Augen so bösartiges
Ende, die Revolution. In Auch ich war in Arkadien! ist es freilich nur die
Julirevolution, die Eichendorff aber, wie fast alle seine Zeitgenossen, als
Fortsetzung der Französischen Revolution verstanden hat. Der Ritt auf
den Blocksberg spricht in seiner allegorischen Komposition für sich
und soll hier nicht im einzelnen noch einmal nachgeritten werden. Nur
ein Beispiel für Eichendorffs Art des sinnbildlichen Erzählens: die Partie zum Blocksberg erreicht endlich eine
17 Christian Ludwig von Hagedorn: Betrachtungen über die Mahlerey, Erster Theil,
Leipzig 1762, S. 493.
246
Eichendorff und die Aufklärung
Restauration, die, ziemlich geschmacklos, sich unter einem dreifarbigen Zelte
befand, auf welchem ein fuchsrother alter Hahn saß und unaufhörlich krähte.
Sieben Pfeiffer saßen zur Seiten auf einem Stein und bliesen das çaira von
Anfang bis zu Ende und wieder und immer wieder von vorn, so langweilig, als
bliesen sie schon auf dem letzten Loche. Auf der Tribüne der Restauration
aber stand der Wirth und schrie mitten durch das Geblase mit durchdringender Stimme seine Wunderbüchsen und Likör-Flaschen aus: Konstitutionswaßer, doppelt Freiheit! u. s. w. Unten schoßen Kinder Burtzelbäume und
warfen jauchtzend ihre rothen Mützchen in die Luft, das Volk war wie beseßen.18
Nichts ist hier ohne allegorischen Bezug. Die Farben des dreifarbigen
Zeltes bedürfen keines Kommentars, daß der gallische Hahn sich
fuchsrot auf dem Dach präsentiert, ebenfalls nicht. Wer aber sind die
sieben Pfeifer, die das ça ira blasen? Die Zeitgeschichte gibt Aufschluß:
das ist eine boshafte Vervielfachung eines Einzigen, nämlich von Philipp Jakob Siebenpfeiffer, der die Einladung zum Hambacher Fest 1832
verfaßt hatte. Wir kennen auch den Wirt, der seine Wunderbüchsen
und Likörflaschen ausruft: Johann Georg August Wirth war Redakteur
eines liberalen Blattes in München, und wenn er in Eichendorffs Erzählung auf der Tribüne der Restauration steht, so wußte der Zeitgenosse,
daß er von 1831 an eine Zeitschrift herausgegeben hatte mit dem Titel
Die deutsche Tribüne. Ein constitutionelles Tagblatt. Wenn der Wirt sein Konstitutionswasser verkaufen will, so sei daran erinnert, daß auch Siebenpfeiffer 1830 eine Zeitschrift herausgab mit dem Titel Rheinbayern. Eine
vergleichende Zeitschrift für Verfassung, Gesetzgebung, Justizpflege, gesamte Verwaltung und Volksleben des constitutionellen In- und Auslandes, zumal Frankreichs. Der Hinweis auf die roten Mützen, chapeau rouge, ist fast schon
zu dick aufgetragen; wir wissen ohnehin, wo wir uns befinden. Auch
die subscriptio, der verborgene moralische Satz fehlt in diesem Revolutionsgemälde nicht. Es ist der Schlußsatz: „das Volk war wie beseßen“,
Resümee und Urteil Eichendorffs zugleich.
Dergleichen findet sich häufiger. Wenn in Libertas und ihre Freier „die
ganze gute alte Zeit gründlich reparirt u. neu übergoldet worden“,19 so
wissen wir, wie auch diese Geschichte zu lesen ist. Ob andere Erzählungen wie etwa die Taugenichtsnovelle auf ähnliche Weise zu verstehen sind, sei hier nur als Frage gestellt. Es empfiehlt sich, schon Ahnung
18
19
HKA V/3, S. 166f.
HKA V/3, S. 340.
Eichendorff und die Aufklärung
247
und Gegenwart mit einem geschärften Blick für allegorische Szenerien zu
lesen. Daß die Sonne eben prächtig aufgegangen war, ist eine Feststellung, die derart deutlich einen allegorischen Inhalt hat, daß es schwer
fällt, diesen Satz als bloßen Natureingang zu bewundern. Daß noch auf
der nächsten Seite des Romans das hohe Kreuz „Trost- und Friedenreich“ auf die Szenerie und die Fahrt der studentischen Argonauten
herabblickt, ist zumindest topographisch nicht belegt, verlangt also
nach einer anderen Erklärung: Brentanos Rheinmärchen liefern sie. Und
daß der Strom, auf dem die Studenten fahren, der Strom des Lebens ist,
bedarf keines Kommentars – so wie ja auch der Schluß des Romans
eben nur allegorisch zu deuten ist. Zweifellos handhabt Eichendorff
hier virtuos die „doppelsinnige Schreibart“, von der Bodmer gesprochen hatte, und daß auch Ahnung und Gegenwart Aufklärungskritik enthält, da ein düsteres Zeitbild entworfen wird, das den optimistischen
Geschichtsvorstellungen der Aufklärung völlig zuwiderläuft, ist offenkundig. Auch hier wird die Aufklärung mit Hilfe aufklärerischer Mittel
entlarvt wie in den späten theoretischen Schriften. Daß Eichendorff in
seiner Aufklärungskritik freilich einen Popanz bekämpfte, den er selbst
so zurechtgestutzt hatte, steht auf einem anderen Blatt. Sein universalistisches Geschichtsverständnis ließ ihn diese Epoche von ihrem Ende,
wie ihm schien, her beurteilen, und er sah als Untergang, was den liberalen Köpfen seiner Zeit als Aufgang erschien.
Aber sein Verhältnis zur Aufklärung erschöpft sich nicht in der Anwendung aufklärerischer Praktiken bei gleichzeitiger Ablehnung der
Aufklärung als eines den Menschen denaturierenden Prozesses. Eichendorff geht weiter: er sucht die Aufklärung zu überwinden, indem er
aufklärerisches Denken in seine eigenen Geschichtsdarstellungen integriert. Eichendorff, der Gegenaufklärer, führt die Geschichte der Aufklärung und die Aufklärung über das Wesen der Geschichte an ihr eigentliches Ende – wohl wissend, daß man sich der gedanklichen Macht
eines Kontrahenten am sichersten bemächtigt, indem man sie für seine
eigenen Absichten umfunktioniert. Er konnte die evolutionistische
Geschichtstheorie der Aufklärung bruchlos übernehmen und zugleich
gleichsam wortlos widerlegen, da sie in heilsgeschichtliche Vorstellungen umzumünzen war. Dabei störte allenfalls das Ereignis der Revolution. Er ist denn auch nicht müde geworden, diese in allen ihren Erscheinungsformen gewissermaßen als einen Umschlag der Evolution in
ihr tödliches Gegenteil zu interpretieren. Sie beunruhigte ihn am meis-
248
Eichendorff und die Aufklärung
ten von allem, was im 18. Jahrhundert geschehen war, und die Linearität seiner Geschichtsvorstellungen, die er mit den Aufklärern gemeinsam hatte und gegen sie nutzte, führte dazu, daß er von hier aus eben
dieses seiner Ansicht nach falsch aufgeklärte 18. Jahrhundert beurteilte
und verurteilte. Aber seine eigene Verurteilung wäre nicht sinnvoll gewesen ohne jenes Evolutionsdenken, das ihn in den Stand setzte, das
fehlgeleitete Aufklärungspotential wieder auf den rechten Weg zu bringen, die Heilsgeschichte an die Stelle einer politischen Hoffnungsgeschichte zu setzen, und von daher leuchtet ein, warum in Ahnung und
Gegenwart Friedrich „beruhigt und glückselig“ in den „stillen Klostergarten“ hinaustritt, in der Erzählung Das Schloß Dürande am Ende der Geschichte ebenfalls „alles still“ wird, als die Opferflamme zum gestirnten
Himmel aufsteigt – anders als im 18. Jahrhundert, wo dessen Ende mit
dem Gepolter der Französischen Revolution die Geschichte, die dahin
geführt hatte, zur Unheilsgeschichte erklärte, während Eichendorffs
Geschichten im gegenaufklärerischen Sinne alle Heilsgeschichten sind.
Sie widerlegen die Aufklärung, indem sie sie auf eigentliche Weise ans
Ziel führen: der vielleicht geschickteste Schachzug Eichendorffs bei
allen seinen Bemühungen, die für ihn so gefährliche Gewalt des aufklärerischen Denkens zu bändigen.
Das alles betrifft nicht nur die abstrakte Geschichte der Aufklärung.
Eichendorff hat sie derart auch in seinen literarhistorischen Schriften
zu neutralisieren gesucht. Es ist ebenso irrig wie leichtfertig, in ihnen
nur eine Altersbeschäftigung an der Grenze zum Sklerotischen zu sehen, weil sie voller Wiederholungen stecken und auf den ersten Blick
hin Zeugnisse einer immer einfallsloser werdenden Seniorenstarrheit
sind. Wiederholungen gehören zur Arbeitstechnik Eichendorffs; er ist
nie ganz frei davon gewesen, und in der Lyrik finden sie sich zeitweise
derart gehäuft, daß man hier schon fast serielle Verfahrensformen zu
finden meint. Im übrigen scheint es auch wieder für die Hartnäckigkeit
der aufgeklärten Gegenaufklärung zu sprechen, mit der Eichendorff die
Geschichte der Aufklärung umschreibt. Denn auf nichts anderes laufen
die literarhistorischen Darstellungen hinaus. Sie sind, wenn man so will,
nach der autobiographischen, der geistesgeschichtlichen und der erzählerischen Geschichte der Aufklärung eine vierte Bemühung um die
Korrektur gängiger, aber falscher Vorstellungen. Auch sie lohnen einen
abschließenden Blick.
Eichendorff und die Aufklärung
249
Eichendorffs Periodisierungen wirken auf den ersten Blick freilich
willkürlich bis zum Absurden und fast indiskutabel: so, wenn Kant als
„der eigentliche Philosoph der Reformation“ bezeichnet wird. Aber
Eichendorff nutzt seine Kategorien nicht temporal, sondern hat sachliche Kriterien. Kant ist Reformator in dem Sinne, daß er „die einmal
emancipirte menschliche Vernunft nun auch ganz folgerecht zum waltenden Princip erhob“. Fichte ist in Eichendorffs Augen sogar ein noch
radikalerer Reformator, geht er doch „bis zur Vergötterung des reformatorisch emancipirten Subjects“.20 Das grenzt in Eichendorffs Sicht
freilich schon an eine Selbstverurteilung. Die eigentlichen Integrationsversuche Eichendorffs werden aber erst in den Abschnitten über Lessing sichtbar. Auch hier widerlegt er, indem er integriert. Weit davon
entfernt, den Aufklärer Lessing zu verurteilen, sieht er ihn als bedenkenswerten Protestanten, der den Zweifel als Waffe nutzt, „um sich zu
positiver Ueberzeugung durchzuhauen“.21 Eichendorff interpretiert ihn
gerade darin allerdings als tragischen Charakter, da der Wahrheitssucher
„an der Schwelle des Allerheiligsten unbefriedigt untergeht“:22 Lessing
also als Suchender, ohne dem Ziel nahegekommen zu sein. Eichendorff
hat sich geschickt Lessings Wahrheitsdurst zu eigen gemacht und ihn in
seinem tatsächlich entscheidenden Charakteristikum beschrieben, aber
Lessings unendlichen Zug zur Wahrheit in seiner Literaturgeschichte
gleichsam finalisiert; seine Geschichtssicht ließ eine aufklärerische Unendlichkeit nicht zu, sondern sah in ihr gerade die wesentliche Mangelerscheinung des aufgeklärten Skeptikers. Lessing konnte nicht sagen,
wohin der Argonautenzug seiner Wahrheitssuche ging; dieses positive
Merkmal der Aufklärung aber münzt Eichendorff um, sieht darin die
entscheidende Schwäche: er hingegen gibt der aufgeklärten Geschichtssicht ein Ziel. In seinem Haß auf den „flachen Rationalismus“ erscheint
Lessing so schließlich geradezu als Vorläufer Eichendorffs: ein Meisterstück kritischer Anverwandlung. Der prozessuale Charakter der Lessingschen Wahrheitssuche hat ein Eschaton bekommen. Lessing hätte
sich allerdings doch wohl sehr gewundert ob solcher Inanspruchnahme.
Daß Lessing und Eichendorff in ihren Darstellungen es beide oft mit
der Göttin Irascibilität halten, daß Eichendorff darin sogar von Lessing
gelernt haben könnte – auch das schafft ja allenfalls äußerliche Ge20
21
22
HKA IX/3, S. 187.
HKA IX/3, S. 226.
HKA IX/3, S. 227.
250
Eichendorff und die Aufklärung
meinsamkeiten. Aber Eichendorff wollte mehr, er war auf Landnahmen
in den Provinzen des 18. Jahrhunderts aus, um den verhaßten Feind
noch auf dessen eigenem Gebiet zu besiegen.
Eichendorffs Geschichtsdarstellungen sind Geschichtsberichtigungen. Er korrigiert die Reformationsidee, die auf die „revolutionäre
Emanzipation der Subjektivität“ hinauslief: mehrfach und ohne Kompromisse. Eichendorff stellt sich dabei durchaus nicht als Aufklärungsgegner dar; in seiner Schrift über den deutschen Roman heißt es ausdrücklich: „Es ist gewiß nichts so natürlich, edel und christlich, als das
menschliche Streben nach Licht, ein reformatorischer Gebrauch der
Vernunft“.23 Aber das ist die List des gegenreformatorischen Rattenfängers, denn nichts liegt ihm ferner als ein Preislied auf die Reformation. Eichendorff trennt denn auch sogleich die wahre Aufklärung von
der bekämpfenswerten falschen Aufklärung, und die stammt, wie wir
schon wiederholt erfahren haben, aus dem „allgemeinen Protestantismus der menschlichen Natur“, und wir wissen, wie Eichendorff über
den denkt.
Eichendorff und die Aufklärung: seine Beziehung zu ihr illustriert
am Ende also Eichendorffs Verhältnis zur Geschichte überhaupt, und
er spricht darüber in einer Zeit, in der das Gespenst des Nihilismus der
Moderne schon längst am düsteren Horizont der Geschichtserwartungen aufgetaucht war und in der die Lehre von der mehr oder weniger
sinnlosen Kreisbewegung der Geschichte einen immer größeren Raum
gewann – von Büchner bis zu Ernst von Lasaulx. Das könnte erklären,
warum Eichendorff sich so vehement der Aufklärung zuwandte, denn
da, aber auch nur da war noch etwas zu retten. Eichendorff konnte der
aufgeklärten Geschichtsphilosophie, die von der Idee der unendlichen
Perfektibilität geleitet war, ein Telos geben und somit die Aufklärung an
ein Ende bringen: ein Bollwerk gegen jeglichen zeitgenössischen Geschichtspessimismus. Dabei hat er sich geschickt Vorstellungen zunutze
gemacht, die nicht nur der Aufklärung, sondern auch der Frühromantik
vertraut waren: daß die Geschichtsschreibung sich der menschlichen
Ursprünge versichern könne und daß diese Ursprünge gut seien. Eichendorff spricht von der „ursprünglich vorgesehenen Harmonie“ und
macht sich im Zeitalter eines wachsenden Kulturpessimismus eben
diesen Pessimismus zunutze, indem er dem Endzeitbewußtsein eine
erfreuliche Botschaft und den Trostbedürftigen eine Harmonie vorhält,
23
HKA VIII/2, S. 66.
Eichendorff und die Aufklärung
251
die er als gleichzeitig verlorenes und wiederzugewinnendes Paradies
identifiziert. So verheißt er jenen ein Ziel, die am Sinn ihres Daseins
zweifeln, und denen Erlösung, die der unendlichen Heerstraße der
aufgeklärten Wahrheitssuche müde geworden sind. Und er gibt seine
Sicht der Dinge als wahre Aufklärung aus, da er den Weg der Wahrheitssuche uminterpretiert zur Sehnsucht nach christlicher Erlösung.
Eichendorff hat bei alledem ungläubigen Scholaren gegenüber nicht mit
Drohungen gespart und war weit davon entfernt, der von ihm bekämpften Aufklärung ihren eigenen Weg zuzugestehen. Er hat seinen
Vorstellungen mehrfach sogar durch Schreckbilder nachgeholfen – und
hier wird etwas von der Militanz des Gegenaufklärers deutlich, der sich
nicht ganz sicher ist, ob seine Inbesitznahme der Aufklärung aus gegenaufklärerischen Absichten heraus genügte. So schrieb er, Angst und
Abscheu beschwörend, von der Anarchie, die hinter den letzten
Trümmern einer tausendjährigen Kultur lauere: „die Anarchie, die Barbarei, und der Kommunismus; der Proletarier hat an der willkommenen
Bresche, wie zur Probe, schon die Sturmleiter angelegt“.24 Da ist der
Kinderschreck und Alarmprophet Eichendorff tätig.
Eichendorff war sich seiner Beziehung zur Aufklärung offenbar nie
ganz sicher – so schrieb er immer wieder gegen sie an, um sie einzugemeinden. Ihre produktive Kraft hat er ebenso gekannt wie gefürchtet –
nicht umsonst spielt der Protestantismus eine derart große Rolle in
seinen Überlegungen. Er sah aber hier nicht nur Gefahren, sondern
zugleich Interpretationsmöglichkeiten, die von der Natur der Aufklärung selbst vorgegeben waren. Das Suchen nach Wahrheit war im
Grunde genommen nicht revolutionär – und eben darin mag Eichendorff seine gegenaufklärerische Chance gesehen haben. Das Prinzip
aufklärerischen Denkens war evolutionär, und evolutionär dachte auch
Eichendorff: so sah er sich von der aufklärerischen Praxis des Denkens
offenbar ermutigt, diese fortzusetzen, um dem entgegenzuwirken, was
er vor allem fürchtete: der Revolution. In sie hatte, seiner Sicht nach,
die falsche Aufklärung geführt. Die richtige Aufklärung führte, so
meinte Eichendorff, in die Katholizität zurück und in der Menschheitsgeschichte zugleich voran. Und so glaubte er den gefährlichen Bazillus
eines allzu freimütigen Denkens am Ende überwunden, und dazu hatte
er beizutragen versucht, indem er die Aufklärung, wie er meinte, mit
24 Vgl. dazu Günther Schiwy: Eichendorff. Der Dichter in seiner Zeit. Eine Biographie,
München 2000, S. 595.
252
Eichendorff und die Aufklärung
ihren eigenen Waffen schlug. Daß ihm das gelungen sei, dessen war er
sich sicher – während die Aufklärung sich nur sicher war, daß man sich
nicht sicher sein könne.
Aber eines verband ihn bei aller Kritik an der Aufklärung und bei allen Umfunktionierungsversuchen dennoch mit ihr: das ist die Idee der
historischen Selbstbestimmung. Ist die Weltgeschichte eigentlich Seelengeschichte, so verliert sie etwas von ihrer Unveränderbarkeit. Der
Lauf der Geschichte erscheint vielmehr dann bestimmbar, wenn die
seelischen Kräfte, die Geschichte erst machen, aktiviert werden. Das
hat zur Folge, daß die Geschichte zu einer vom Menschen zu verantwortenden Geschichte wird: von einer Überwältigung durch eine blinde
Macht kann nicht die Rede sein. Die Rechnung wird den in sie Verwickelten aufgemacht, und die Erzählung Das Schloß Dürande zeigt vielleicht am sinnfälligsten, wie das revolutionäre Ende der Aufklärung zu
bewerten ist. Es ist die Dichtung, die in diesem Fall jene Rechnung
präsentiert; so wie sie es ist, der es zukommt, die Weltgeschichte als
Geschichte der Innerlichkeit zu zeigen. Daß der Dichter das Herz der
Welt sei, ist eine oft gedankenlos nachgesprochene Formel. Ihren eigentlichen Sinn bekommt sie erst dort, wo dem Dichter die Rolle zugewiesen wird, die Weltgeschichte als vom Einzelnen zu verantwortende Geschichte zu begreifen, und so nähert sich Eichendorff hier wieder
dem aufklärerischen Ethos an, wenngleich die Instanzen, vor denen
Verantwortung abzulegen ist, höchst unterschiedlicher Natur sind.
Nähe und Ferne – das mag noch einmal auf das ambivalente Verhältnis
Eichendorffs zur Aufklärung hindeuten, die er mit ihren eigenen Waffen zu schlagen gedachte und die er doch wie kaum eine andere Zeit
brauchen konnte, um seine Geschichtssicht zu verdeutlichen. Er hätte
ihr eigentlich dankbar sein müssen. – Doch das wäre wohl zuviel verlangt gewesen.
K O N S T RU I E RT E W I R K LI CH KE I T E N .
Z U E I C HE N D O R F FS L Y RI K
Unser landläufiges Eichendorff-Bild, das sich mit ihm, seit er schrieb,
fest verbunden hat, ist nicht das Bild eines modernen Dichters. Eichendorff war eigentlich von Anfang an und bis heute hin in den Augen der Öffentlichkeit nichts anderes als ein romantischer Sänger, der
sein waldesgrünes Schlesien vielmals besungen hat, und das meist in
Versen, die auf naive Weise volkstümlich zu sein schienen oder auch
auf volkstümliche Weise naiv: Verständnisschwierigkeiten gab und gibt
es bei ihm nie und nirgendwo. Denn was sich da präsentiert, ist nur zu
oft immer wieder das Gleiche: auf irgendeiner glänzenden Landstraße
sind sie unterwegs, die Spielleute, die Reiter, die Wandergesellen, die
jungen Burschen, die in die Fremde Verschlagenen, und glänzend wie
die Landstraße ist meist auch deren Innenleben: im Gemüt herrscht
ewiger Sonntag, gewandert wird ohne Ziel und Zweck, das Fernweh
gehört zu den habituell gewordenen Schmerzen, die man mit Lust in
sich spürt, aber vor allem wird geschwärmt, und wo geschwärmt wird,
von den Lauben und von Palästen im Mondenschein, da klingt das so,
als ob die Wanderer das wirklich selbst erlebt hätten – aber dabei ist
alles nur Gesang. Wer nicht mitmacht auf diesem trunkenen Siegeszug
durch die Welt, gilt als Philister – ein schlimmeres Schimpfwort ist in
Eichendorffs Zeit kaum denkbar. Das wahre Leben liegt jenseits des
Philisteriums, liegt bei denen, die wie der Taugenichts, der romantische
Trittbrettfahrer, auf einer Postkutsche mit dem Zielort Wien unterwegs
sind: wie er wollen sie alle nichts lieber als ins Weite hineinstreichen,
voll unbestimmter Erwartung, die sich gar nicht zu erfüllen braucht,
aber mit einem tiefen Vertrauen darin, daß man dann richtig lebt, wenn
man nutzlos lebt, und nutzlos möchte der Taugenichts als exemplarische Figur dieses romantischen Herumvagabundierens auch alles andere haben, will in seinem Gärtchen Blumen statt Kartoffeln und Gemüse. Aber lange hält es ihn ja auch da nicht. Es drängt ihn wieder hinaus,
und die Landstraßen sind erneut Brücken ins Unendliche, wie es sich
vor ihm am Rande einer schillernden Landschaft ausbreitet. Die Kornfelder wogen leise, Lerchen schrauben sich über ihm in den Himmel,
254
Zu Eichendorffs Lyrik
und gerade, wenn ihm die Welt so bunt und verlockend erscheint,
wenn er sein Vagantentum so recht genießt, dann weiß er: „Unser
Reich ist nicht von dieser Welt!“1 Auch die anderen Götterkinder leben
ihr poetisches Leben. Und so schwärmen auch sie denn herum, fahren
die Donau entlang wie in dem schon 1810 begonnenen Roman Ahnung
und Gegenwart. Lebenskünstler sind sie alle, die sprichwörtliche ewige
Jugend im Herzen und irgendein Wanderlied auf den Lippen. Die Signale stehen immer auf Ausfahrt, am nächtlichen Himmel scheinen
unentwegt die Sterne, ewig rauschen die Brunnen und die Wälder, und
wem das an akustischen Eindrücken noch nicht genug ist, der kann hin
und wieder das Posthorn vernehmen: kein Verkehrssignal, sondern aus
romantischer Produktion stammend; was dieses Posthorn entläßt, ist
immer ein Lebensruf, der sich an den nächtlichen Berghängen bricht
und der auch gehört wird, vorausgesetzt, Studenten ziehen zufällig
vorbei. Und selbst wenn vom stillen Land die Rede ist, ist Gesang in
der Luft, manchmal auch Lautenklang, bis dann im Morgengrauen die
Vögel erwachen zu musikalischen Darbietungen anderer Art und den
Posthornklang und das Brunnenrauschen ablösen.
So hat man Eichendorff wieder und wieder gelesen, und kein Geringerer als Thomas Mann hat das Bild vom derart romantischen Eichendorff nachhaltiger geprägt. Seine Charakteristik, nicht zufällig 1918 in
einem schlimmen Kriegsjahr niedergeschrieben, kann es, was sprachlichen Glanz angeht, durchaus mit Eichendorffs Taugenichtsprosa aufnehmen. Der kleine Roman, so heißt es bei Thomas Mann, ist wie sein
Held „nichts weniger als wohlerzogen, er entbehrt jedes soliden
Schwergewichts, jedes psychologischen Ehrgeizes, jedes sozialkritischen
Willens und jeder intellektuellen Zucht“2; aber dieses Manko werde
weit aufgewogen durch das, was dieser kleine romantische Roman biete. Thomas Manns Sätze aus den Betrachtungen eines Unpolitischen haben
sich lange schon mit dem Eichendorff-Bild ebenso untrennbar wie
nachhaltig verbunden: der Taugenichts sei
nichts als Traum, Musik, Gehenlassen, ziehender Posthornklang, Fernweh,
Heimweh, Leuchtkugelfall auf nächtlichen Park, törichte Seligkeit, so daß
einem die Ohren klingen und der Kopf summt vor poetischer Verzauberung
Sämtliche Werke des Freiherrn Joseph von Eichendorff. Historisch-Kritische Ausgabe […],
hg. von Hermann Kunisch (†) und Helmut Koopmann (= HKA), Bd. V/1, S. 110.
2
Thomas Mann: Gesammelte Werke in dreizehn Bänden, Bd. XII, Frankfurt am Main
1974, S. 376.
1
Zu Eichendorffs Lyrik
255
und Verwirrung. Aber er ist auch Volkstanz im Sonntagsputz und wandernde
Leierkasten, ein deutsch-romantisch gesehenes Künstler-Italien, fröhliche
Schiffahrt einen schönen Fluß hinab, während die Abendsonne Wälder und
Täler vergoldet und die Ufer von Waldhornklängen widerhallen, Sang vazierender Studenten, welche ,die Hüt’ im Morgenstrahl schwenken‘, Gesundheit,
Frische, Einfalt, Frauendienst, Humor, Drolligkeit, innige Lebenslust und eine
stete Bereitschaft zum Liede, zum reinsten, erquickendsten, wunderschönsten
Gesange… Ja, die Weisen, die da erklingen, die überall eingestreut sind, als sei
es nicht weiter viel damit, – es sind nicht solche, die man nur eben in Kauf
nimmt, es sind Kleinode der deutschen Lyrik, hochberühmt, unserm Ohr und
Herzen alt und lieb vertraut […].
Und dann zitiert er als „non plus ultra, eine betörende Essenz der
Romantik“, die Zeilen:
Schweigt der Menschen laute Lust:
Rauscht die Erde wie in Träumen
Wunderbar mit allen Bäumen,
Was dem Herzen kaum bewußt,
Alte Zeiten, linde Trauer,
Und es schweifen leise Schauer
Wetterleuchtend durch die Brust.3
Als Thomas Mann einmal gefragt wurde, was denn sein Lieblingsgedicht sei, da nannte er Eichendorffs „Es war, als hätt’ der Himmel die
Erde still geküßt“ – es war für ihn „die Perle der Perlen“.4
Aber dieses Eichendorff-Bild ist, bei allem Respekt vor dem, der es
ausgemalt hat, revisionsbedürftig, und das in mehrfachem Sinne. Zum
einen: Eichendorff ist auch so etwas wie ein politischer Dichter gewesen. In seiner Gedichtsammlung findet sich eine Rubrik Zeitlieder, und
deren Existenz allein schon widerlegt den Eindruck vom träumerischen
Vor-sich-hin-Dichten des Romantikers. Zeitgedichte waren damals
modern, sie waren auf breiter Front in den unruhigen Zeiten nach der
Französischen Revolution aufgekommen, sie fanden sich vermehrt in
den Jahren der Freiheitskriege, und Eichendorff war nur einer unter
vielen – Max von Schenkendorff, Ernst Moritz Arndt, Uhland und
andere Vaterlandssänger priesen das Deutsche, vor allem dort, wo es
sich mittelalterlich gerierte, und auch bei Eichendorff ist von Feldwacht, von alten Waffen und gekreuzten Schwertern die Rede, und
3
4
Ebd., S. 376f.
Ebd., Bd. X, S. 922.
256
Zu Eichendorffs Lyrik
selbst wenn häufig nur getrommelt, gepfiffen und geblasen wird, die
Hörner singen und die Trompeten werbend klingen, so wird doch immer wieder das blanke Schwert gezogen, und wenn es manchmal auch
nur ein Degen ist, so ist das doch keine Galanteriesache, sondern meist
„von den Vätern alt“ überliefert und so mit einem Gütesiegel ganz
besonderer Art versehen. Manchmal fliegen sogar Pfeile durch das
Dunkel; das mutet allerdings beinahe steinzeitlich an, während das
Schwertergeklirr eher mittelalterliche Lautmalerei ist: Faustwaffen und
Reitergewehre sind seit dem 15. und 16. Jahrhundert in Gebrauch, aber
kein einziges Modell ist bei Eichendorff erwähnt. Wenn dennoch immer wieder nur Schwerter vorkommen, so ist das militärtechnisch gesehen also ein wilder Anachronismus, aber wir haben es ja nicht mit
Produkten der Rüstungsindustrie zu tun, sondern mit symbolischen
Gegenständen, die zumeist auch, ebenfalls symbolischerweise, in gefalteten Händen gehalten werden, aber das ist kein Militärimpressionismus, sondern hochpathetische Lyrik, patriotisch bis in die letzte Verszeile durchgefärbt, und zu allem Überfluß wird oft auch der Himmel
beschworen, selbst bei Eichendorff: „Gott stand in der Noth uns bei“,
heißt es einmal in dem Gedicht Der Friedensbote.5 Das ist die Gott-mituns-Lyrik des 19. Jahrhunderts, Eichendorff schwimmt mit im großen
Strom der Vaterländerei, auch wenn seine eigenen Kriegserfahrungen
mehr als bescheiden waren, da er meist zu spät kam: die Schlachten
waren beendet, in Torgau hatte man gerade kapituliert, und sein
Wunsch, doch noch zu einem Regiment zu stoßen. „das entweder bereits vor dem Feind stände, oder doch unverzüglich dahin abgehen
sollte“,6 erfüllte sich nicht – zum Glück.
Aber Eichendorff hat sich dann doch relativ schnell von dieser lyrischen Säbelrasselei befreit. Er wußte, daß auch der Heldentod ein blutiges Ereignis war, und er hat sich ironisch besonders von den Altdeutschen distanziert, von deren outfit mit schwarzem Rock und langen
Haaren, dem offenen Kragen und den gewaltigen Stiefeln, und es ist
der Sänger der Zeitlieder von 1810, der sich bekehrt hat und der schon
1815 den nationalpoetischen Budenzauber entlarvt: Eichendorff wird
zum Dissidenten, und er weiß, daß die Satire die wichtigste Waffe ist
gegen einen falschen Nationalismus, den außer ihm kaum jemand sonst
angeprangert hat, Heine vielleicht ausgenommen. Auch um 1848 herum
5
6
HKA I/1, S. 167.
HKA XII, S. 32.
Zu Eichendorffs Lyrik
257
hat Eichendorff noch einmal politische Lyrik geschrieben, hat damit
das Bild vom nur seinen romantischen Sehnsüchten hingegebenen
Sänger erneut widerlegt. Aus dem martialischen Verfechter einer
Deutschtümelei mit Mittelalter-Beigeschmack, der damals „Deutschen
Landes Kronen“ verteidigen wollte, wurde fast so etwas wie ein Untergangsprophet, der Deutschland von „Ungewittern“ umdroht sah: „Die
Blitze werden zielen nach den Kronen,/ Die Stürme rastlos fegen
durch die Gauen,/ All’ Thürme brechend, wo die Stoltzen wohnen“
schrieb er,7 und: „Die Welt vergeht im schauernden Verwildern“.8 Hinter den letzten Trümmern einer tausendjährigen Kultur sah er die
Anarchie lauern, „die Barbarei, und der Kommunismus; der Proletarier
hat an der willkommenen Bresche, wie zur Probe, schon die Sturmleiter
angelegt“.9 Er war nicht weltfremd; 1847 war in London der Bund der
Kommunisten gegründet worden, im Februar 1848 veröffentlichten
Marx und Engels in London das Kommunistische Manifest.
Doch von der Wirklichkeit sind wir dennoch weit entfernt. Wenn
Eichendorff in seinen Zeitgedichten an den alten Heerschild schlägt,
der Degen gezogen wird, die von den Vätern überkommenen Waffen
gepriesen werden, so wissen wir sofort: das ist symbolisch oder allegorisch zu verstehen. Die kriegerischen Instrumente haben lyrische Realität, keine wirkliche, bei aller Gegenständlichkeit ist es doch eine entgegenständlichte Poesie, und wenn wir uns auch nicht zwischen Allegorie
und Symbol entscheiden können, so dürfen wir doch wohl sagen: es
sind Zeichen. Und Zeichen ist mehr oder weniger auch alles andere,
was gegenständlich zu sein scheint, und nichts wäre falscher, als wenn
man auch die romantischen Berichte als solche über eine wirklich erlebte romantische Welt deuten würde. Anders gesagt: auch die schönsten
romantischen Gedichte sind keine Erlebnisgedichte aus einer wirklich
erfahrenen Welt; sie sind trennscharf von der Realität abgegrenzt. Eichendorff ist frei von jener Erlebnisdichtung, in der sich ein inniges
Gefühl in einer Sprache Bahn brach, die die Einzigartigkeit des wirklich
Empfundenen auf eine einzigartige Weise auszudrücken versuchte −
jedenfalls weitgehend. Er hat vielmehr an einer Grundbewegung des
19. Jahrhunderts teil, die auch seine Lyrik, die romantischen Lieder wie
HKA I/3, S. 8f.
HKA I/3, S. 9.
9
Vgl. dazu Günther Schiwy: Eichendorff. Der Dichter in seiner Zeit. Eine Biographie,
München 2000, S. 595.
7
8
258
Zu Eichendorffs Lyrik
seine Zeitgedichte, prägt: es ist der Weg vom Erlebnis weg und zum
Zeichen hin. Im Grunde gilt schon für seine Lyrik, was Stefan George
einmal in eine einzige Zeile eines Gedichtes brachte: „Kein ding sei wo
das wort gebricht“.10 Das will sagen: nur im Wort existiert die Sache, es
gibt keine Dingwelt hinter der Sprache, und wenn es auch manchmal so
aussieht, als beziehe sich Eichendorff auf etwas wirklich Erlebtes, dann
ist dieses Täuschung. Oder anders gesagt: die im Gedicht dargestellte
Welt hat nichts zu tun mit der, die sie, so scheint es jedenfalls auf den
ersten Blick, so deutlich abbildet. Viele Gedichte Eichendorffs beschreiben, paradox gesagt, etwas, das es so, also in Wirklichkeit, gar
nicht gibt und nie gegeben hat. Und so ist denn auch nichts im landläufigen Sinne erlebt und danach in gefühlvolle Verse gefaßt.
Das kann man an einem Gedicht demonstrieren, das zu den bekanntesten und vielleicht auch zu den schönsten Gedichten Eichendorffs
gehört: Der alte Garten. Es ist eingepaßt in die Erzählung Die Entführung
– nichts Ungewöhnliches, Eichendorff hat bekanntlich viele Gedichte
in seine Erzählwerke integriert.
Kaiserkron’ und Päonien roth,
Die müssen verzaubert sein,
Denn Vater und Mutter sind lange todt,
Was blühn sie hier so allein?
Der Springbrunn plaudert noch immerfort
Von der alten schönen Zeit,
Eine Frau sitzt eingeschlafen dort,
Ihre Locken bedecken ihr Kleid.
Sie hat eine Laute in der Hand,
Als ob sie im Schlafe spricht,
Mir ist, als hätt’ ich sie sonst gekannt –
Still, geh vorbei und weck’ sie nicht!
Und wenn es dunkelt das Thal entlang,
Streift sie die Saiten sacht,
Da giebt’s einen wunderbaren Klang
Durch den Garten die ganze Nacht.11
10 In: Stefan George: Gesamt-Ausgabe der Werke. Endgültige Fassung, Bd. IX, hg. von
Georg Bondi, Berlin 1928, S. 134.
11 HKA I/1, S. 368.
Zu Eichendorffs Lyrik
259
Ein monologisches Gedicht, auch wenn Diana in der Erzählung, nachdem sie ihr Lied geendigt hat, sagt: „Ich weckte sie doch […], wenn ich
sie so im Garten fände, und spräch’ mit ihr“.12 Aber das Gedicht ist in
seiner raffinierten Einfachheit hintergründiger, als es zuerst erscheinen
mag. Denn auch aus dem Monolog der Sängerin wird unversehens ein
Dialog, wenn sie, Diana, singt: „Still, geh vorbei und weck’ sie nicht!“
Das Ich spricht mit sich selbst, redet sich selbst als Du an, und damit ist
es nicht um die Deutlichkeit, wohl aber um die Eindeutigkeit geschehen. Aber auch sonst lösen sich die Konturen der Realität auf. Das
einst Gewesene wuchert geradezu in die Gegenwart hinein, denn die
enthält, versteinert, die hier wiederauferstehende Vergangenheit. Doch
die Realität wird auch noch auf andere Weise diaphan: der Garten steht
lange schon verwildert, aber der Springbrunnen rauscht noch immerfort; eine Frau sitzt dort eingeschlafen, aber sie scheint im Schlaf zu
sprechen; sie, die nicht aufgeweckt sein soll, streift dennoch nachts über
die Saiten ihrer Laute, und der Klang verhallt nicht etwa, sondern tönt
die ganze Nacht hindurch, und so sind denn das Frühere und das Gegenwärtige, das Traumhafte und das Wirkliche, das Momentane und
das immerfort Dauernde, das Fremde und das Bekannte in diesem
einen Gedicht höchst kunstvoll miteinander versammelt: es ist in vielfacher Hinsicht mehrdimensional, lebt vom Ineinanderspiel der Zeiten,
bewegt sich in einer doppelten Gegenwart, bringt die Koordinaten des
Raumes in ein Durcheinander, kennt Stimme und Gegenstimme.
Nimmt man noch den erzählerischen Rahmen hinzu, vervielfachen sich
die Brechungen und verschwimmen die Ebenen noch stärker ineinander als im Gedicht ohnehin. Wenn zur Moderne das Desintegrierende
gehört, wie man gelegentlich mit Recht gesagt hat, dann ist dieses romantische Gedicht unerhört modern: die Zeiten sind geradezu ineinander verwirbelt, das Wirkliche und das Mögliche sind nicht mehr klar
voneinander zu trennen, die Realien, die hier genannt sind, bekommen
ihren mehrfachen Sinn, und bedenkt man, daß der alte Garten für Eichendorff wie für den Leser auch als Hinweis auf den Garten Eden
gelesen werden kann, dann wird das Gedicht noch hintergründiger. Das
Imaginierte und das Wirkliche vermischen sich dabei in einem einfachen Formelwort, im „als ob“. Die Frau, von der wir nicht wissen, ob
es eine Steinfigur ist oder eine wirklich dort Eingeschlafene – es ist dem
Betrachter, „als ob sie im Schlafe spricht“, und dieses „als ob“, dieser
12
HKA V/1, S. 354.
260
Zu Eichendorffs Lyrik
kleine sprachliche Gestus reicht schon aus, um der Wirklichkeit einen
doppelten Boden zu geben. Robert Musil wird später vom Wirklichkeitssinn und vom Möglichkeitssinn sprechen. Aber wir kennen ein
solches „als ob“ auch von Kleist, dem vielleicht modernsten Dichter
des 19. Jahrhunderts. Der Begriff der Moderne ist nicht zeitlich fixierbar, aber das Moderne begreift sich in jedem Fall aus dem Gegensatz
zum Überkommenen, indem es dieses erweitert, negiert, auflöst, transparent macht. Am sichersten zeigt sich das in dem Gegeneinander und
Durcheinander von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Das mag
in gewissem Sinne traditionell sein – wenn Schiller in seiner Elegie seinen poetischen Spaziergang macht, dann ist es auch nicht nur ein solcher durch die schwäbische Landschaft, sondern zugleich einer durch
die Zeiten bis tief in die Antike hinein. Aber Schiller kennt in seinem
Gedicht keine Zeitdistanzen – die Antike wohnt sozusagen gleich nebenan. Die Verwandtschaft Eichendorffs mit Autoren des 20. Jahrhunderts ist ungleich enger. „Time present and time past/ Are both perhaps present in time future,/ And time future contained in time past,“
heißt es bei T. S. Eliot einmal in seinen Four Quartets.13 Fest fixierte
Zeitgrenzen gibt es dort nicht mehr, aber auch schon nicht mehr bei
Eichendorff. Darin mag Eichendorffs Modernität vielleicht besonders
deutlich werden. Aber zugleich, bei allem Ernst, auch etwas vom
Spielcharakter dieses Gedichtes und der Eichendorffschen Lyrik
schlechthin.
Wer nur dieses Gedicht kennt, kann nicht wissen, daß etwas anderes
auffällig ist, was Eichendorffs Lyrik ebenso stark bestimmt wie die so
charakteristische Verwirbelung der Zeitebenen und der Wirklichkeitsdimensionen. Die alte schöne Zeit begegnet vielfach in Eichendorffs
Lyrik, auch das „als ob“, vor allem aber der Garten, doch nicht weniger
das dunkle Tal und die klingende Nacht. Es sind, um es grob zu sagen,
Versatzstücke – Werner Kohlschmidt, der große Schweizer Germanist,
hat schon vor Jahrzehnten höflicher von der symbolischen Formelhaftigkeit bei Eichendorff gesprochen und damit auf etwas aufmerksam
gemacht, was für seine Lyrik so außerordentlich charakteristisch ist,
aber auch in seinen Romanen und Erzählungen immer wieder begegnet.14 Was als Gegenständliches erscheint, ist zumeist Formel. Zur
Four Quartets, by T. S. Eliot, London 91952, S. 7.
Werner Kohlschmidt: Die symbolische Formelhaftigkeit von Eichendorffs Prosastil. Zum
Problem der Formel in der Romantik, in: W. K.: Form und Innerlichkeit. Beiträge zur Geschichte
13
14
Zu Eichendorffs Lyrik
261
Formel aber gehört die Wiederkehr, oder umgekehrt: ständig wiederkehrende Bilder machen diese schließlich zur Formel. Und selbst wer
auch nur ein wenig mit Eichendorffs Lyrik vertraut ist, kennt dergleichen „Formeln“: der Springbrunnen, die Laute. Sie begegnen uns in
dem Gedicht vom alten Garten, aber eben dutzendfach auch noch
anderswo. Da ist das am Abgrund grasende Reh, das aus der Tiefe
kommende Rauschen des Waldes, das Schloß und der stille Garten und
immer wieder die „alte schöne Zeit“, da sind die Flügel der Sehnsucht,
die Lerchen und das Morgenrot, der blitzende Strom und die Abendglocken – das alles kehrt in einem endlosen Zug immer wieder. Aber
der Hauch von Unwirklichkeit, der sich damit verbindet, verstärkt sich,
wenn der Leser merkt, daß die Landschaften einander zum Verwechseln ähneln, weil es nicht individuell gesehene Landschaften sind. Eichendorff montiert die Elemente seiner poetischen Welt zu immer
neuen Gebilden zusammen, die also gleichsam synthetisch entstehen,
nicht organisch aus einem Eindruck oder einer Beobachtung entwickelt
wurden. Montage ist ein Kunstprinzip der Moderne, ohne jede Frage:
wir kennen die Bildmontagen des jungen Picasso, aber Montage ist
auch ein Erzählmodus etwa Thomas Manns, den er jahrzehntelang in
einer ausgefeilten Technik praktiziert hat. Montage auch hier. Sie
nimmt vielen Gedichten Eichendorffs zweifellos ihre Individualität,
bereichert sie aber um etwas spezifisch Artistisches, Konstruktivistisches, und manchmal sieht es so aus, als experimentiere Eichendorff
jahre- und jahrzehntelang mit seinen Elementen herum. Was auf den
ersten Blick so tief empfunden scheint, ist also in Wahrheit wohlorganisiert, und wie sehr Eichendorff sich um eine solche Organisierung bemüht hat und nicht etwa aus dem Stegreif heraus einer Intuition folgend schreibt, das zeigt sein wenig bekannter und noch weniger ausgeschöpfter lyrischer Nachlaß: dort kann man studieren, wie er mit ersten
Entwürfen umgeht, sie umschreibt, sie mit Formeln und lyrischen
Floskeln ausstattet, um sie zu einem Gedicht zu machen. Eine gewisse
Beliebigkeit ist im Konstrukteursbüro dabei durchaus anzutreffen. Ein
Beispiel: die erste Zeile eines Gedichtes, „Ueber dem Wald hinter den
Blitzen roth“15 könnte alles Mögliche einleiten: eine Revolutionserzählung, einen Bericht über eine verworrene Nacht, eine Unglücksgeund Wirkung der deutschen Klassik und Romantik, Bern 1955, S. 177-209 [zuerst in: Orbis
Litterarum, Kopenhagen 1950].
15 HKA I/3, S. 206.
262
Zu Eichendorffs Lyrik
schichte. Aber in diesem Liedchen, wie es sich im Nachlaß Eichendorffs
fand, ist die erste Zeile nur die in einem Gedicht, das von seinem Verlust der Poesie spricht; die sei, so das Gedicht, auf dem Steg verloren,
deren Stimme komme nur noch manchmal durchs Waldrauschen her –
und dann die Reflexion: „aber mag ich dich immerhin verlieren, der
Morgen steigt ringsumher, ich brauch’ dich nicht mehr“. Daß er die
Stimme der Poesie verloren hat, aber darüber nicht verzweifelt ist, mag
so etwas wie ein sehr persönliches Bekenntnis sein, aber die Zwischenzeile „der Morgen steigt ringsumher“ hat damit nichts zu tun – genau
so wenig wie das rote Blitzen über dem Wald. Versatzstücke, Naturelemente, eingesprengt in ein autopoetisches Gedicht. Es gibt Dutzende anderer Beispiele einer gelungenen oder manchmal auch einer mißlungenen, also unglaubwürdigen, nicht recht überzeugenden oder in
sich nicht kohärenten Konstruktion. Aber wie dem auch sei: die Bilder,
die Klänge vermitteln keine Erfahrung mehr, sie sind das Bau- und
Spielmaterial des Dichters. Dadurch, daß sie immer wieder auftauchen,
kommt sogar etwas Serielles in die Lyrik hinein: die gleichen Situationen oder Vorgänge werden dutzendfach und mehr beschrieben. So
etwa auch in dem Gedicht Frühling:
Was weckst du, Frühling, mich von neuem wieder?
Wenn vom Gebirg der Quell kommt hell geschossen,
Die schöne Mutter grüßen tausend Lieder.
So schauend auch in deiner Brust das Sprossen,
Und tiefe Sehnsucht will die Seele schwellen,
Blick auf! Schon schweifen Paradiesesvögel.
Auch ich seitdem wuchs stille fort, wie du
Noch einmal grüß ich aus der Ferne wieder.
Wie in der Heimat klingen diese Glocken,
Der Fluß glitt einsam hin und rauschte,
Vergangen ist der lichte Tag.
O stille Schauer, wunderbares Schweigen.
Dieses Gedicht stammt von Eichendorff – und ist doch gänzlich falsch,
weil es nirgendwo so in einer seiner Gedichtsammlungen zu finden ist.
Authentisch aber ist es dennoch, denn authentisch sind die einzelnen
Zeilen – aber sie sind hier aus einem halben Dutzend verschiedener
Gedichte neu zusammengesetzt. Originär ist also alles – oder, genau
besehen, nichts. Eine Fälschung aus Echtem. Eine konstruierte Wirklichkeit. Aber von dieser Qualität sind auch die „echten“ Gedichte.
Zu Eichendorffs Lyrik
263
Originalität zählt nicht bei Eichendorff, und das um so weniger, als
manche Formeln ja eine lange Vorgeschichte haben, der Garten an das
Rokoko verweist und der Wanderer als homo viator bis in die barocke
Bildsprache zurückreicht. Damit wird noch deutlicher, daß Eichendorff
nichts individuell gesehen haben möchte. Wer Eichendorffs Gedichte
als ganze liest, der sieht, wie leicht einzelne Elemente ausgewechselt
werden können, und sie können es, weil sie einander bis zur Ununterscheidbarkeit gleichen. Keine Landschaft ist unbestimmter als die
Eichendorffs, weil sie nicht zu konkretisieren ist, aber zugleich ist keine
Landschaft bestimmter, da sie aus einem Arsenal genau bekannter Details aufgebaut ist.16 Kompositionsfolge und Zuordnung mögen wechseln – der Gesamteindruck bleibt. Eine montierte Kunstwelt, mit viel
Experiment beladen, Serielles, wie wir das aus der Zeit des Impressionismus kennen, aus den Serienbildern eines Monet etwa, etwas eigentümlich Abstraktes bei aller Bildhaftigkeit und Plastizität der Landschaftsschilderungen, und wenn wir auch wissen, daß der alte Garten,
biographisch gesehen, der von Schloß Lubowitz war – im Gedicht ist
dieser alte Garten nicht mehr lokalisiert, oder vielmehr: überall zu denken.
Eine zeichenhafte Welt. Im Grunde sind seine scheinbar so direkt
erfahrenen Landschaften Weltkonstruktionen, die jedes Eigenlebens
verlustig gegangen sind, weil sie nur durch das Wort und im Wort existieren. Nehmen wir alles zusammen, so haben wir in diesem dichten
Netz von Beziehungen und Bedeutungen, von immer neu zusammengesehenen, zusammengesetzten Landschaften und Vorgängen, vor
allem aber in der Bildhaftigkeit der lyrischen Welt frühes Anschauungsmaterial für etwas, was sich wenige Jahre später in Europa etablieren sollte: es ist der Symbolismus, eine der letzten großen gesamteuropäischen Erscheinungen in der Literatur. In Eichendorffs Todesjahr
erschienen in Paris Baudelaires Les Fleurs du Mal. Das wurde die Bibel
des Symbolismus, das Gedicht Correspondances enthielt dessen Programm, und es gibt für Eichendorffs Symbolismus keine bessere Beschreibung als jene erste Strophe der berühmten Correspondances von
Baudelaire:
16 Vgl. dazu den noch immer gültigen Aufsatz von Richard Alewyn: Eine Landschaft
Eichendorffs, in: Euphorion 51, 1957, S. 42-60 [auch in: Eichendorff heute. Stimmen der Forschung mit einer Bibliographie, hg. von Paul Stöcklein, München 1960, S. 19-43].
264
Zu Eichendorffs Lyrik
La Nature est un temple où de vivants piliers
Laissent parfois sortir de confuses paroles;
L’homme y passe à travers des forêts de symboles
Qui l’observent avec des regards familiers.
Die Natur ist ein Tempel, wo aus lebendigen Pfeilern zuweilen wirre Worte
dringen; der Mensch geht dort durch Wälder von Symbolen, die mit vertrauten
Blicken ihn beobachten.17
Wenn hier von Wäldern von Symbolen (forêts de symboles) die Rede
ist, dann kann man sich nicht des Eindrucks erwehren, als habe Eichendorff schon der symbolistischen Dichtung vorgearbeitet. Das zeigt
sich auch, wenn man das berühmte Manifest des Symbolismus dagegen
hält, das von Moréas in Le Figaro am 18. September 1886 veröffentlicht
wurde:
La poésie symboliste cherche à vêtir l’Idée d’une forme sensible qui, néanmoins, ne serait pas son but à elle-même, mais qui, tout en servant à exprimer
l’Idée, demeurerait sujette. L’Idée, à son tour, ne doit point se laisser voir
privée des somptueuses simarres des analogies extérieures, car le caractère
essentiel de l’art symbolique consiste à ne jamais aller jusqu’à la conception de
l’Idée en soi.
Die symbolistische Dichtung sucht die Idee mit einer sinnlich wahrnehmbaren
Form zu bekleiden, die gleichwohl nicht ihr Ziel in sich selbst, sondern eine
untergeordnete Bedeutung hat, indem sie ausschließlich dazu dient, die Idee
auszudrücken. Die Idee ihrerseits darf nicht ohne den prachtvollen Schmuck
äußerer Entsprechungen erscheinen, denn das wesentliche Merkmal der symbolistischen Kunst besteht darin, niemals bis zum Erfassen der Idee an sich
vorzudringen!18
Es gibt eben Verwandtschaften, die manchmal erst im Nachhinein
deutlich werden und von denen diejenigen, die so verbunden sind, zu
Lebzeiten nicht einmal etwas ahnten. Eichendorff wußte natürlich noch
nichts von seinem Symbolismus, der 1857 nur vorläufiges Programm
war; erst dreißig Jahre später wurde er poetische Wirklichkeit. Im
deutschsprachigen Raum ist Conrad Ferdinand Meyer eigentlich der
erste bewußt schreibende Symbolist, der wie Eichendorff mit Zeichen
arbeitet. Aber auch Eichendorff hat schon Jahrzehnte vor der JahrhunCharles Baudelaire: Die Blumen des Bösen. Les Fleurs du Mal. Vollständige zweisprachige Ausgabe. Deutsch von Friedhelm Kemp, München 1986 [zuerst 1975], S. 22f.
18 Nach Paul Gerhard Klussmann: Stefan George. Zum Selbstverständnis der Kunst und
des Dichters in der Moderne, Bonn 1961, S. 5, S. 134.
17
Zu Eichendorffs Lyrik
265
dertwende und deren Symbolismus-Vertretern so geschrieben, wie jene
es im Gefolge Baudelaires versuchten. Bei beiden ist die Realität nicht
um ihrer selbst willen interessant, sondern nur als Zeichensprache für
Unsichtbares, für Ideen, die hinter der Welt der Erscheinungen existieren und – das trifft für Eichendorff ebenso zu wie für Meyer – gleichsam einen Zusammenhang des Seins herstellen. Gängige Bilder, oft in
der Tradition verwurzelte Zeichen, ein mehr oder weniger künstliches
Spiel mit dem Material der kulturellen Überlieferung: das hat Eichendorff mit Meyer und den folgenden Symbolisten gemeinsam. Sie waren
zum Teil auch Romantiker, aber umgekehrt war Eichendorff als Romantiker auch einer der ersten Symbolisten. Eine innere Verwandtschaft mit symbolistischen Kunstarbeiten, das Spiel mit der Sprache,
die artistischen Zeichensysteme hinter scheinbar erlebten Schilderungen
und Erfahrungen: Eichendorff hat das mit den Symbolisten in auffälliger Weise gemeinsam. Es genügen Baudelaire immer nur einzelne Formelworte, um das zu evozieren, was das Gedicht benennen will. Niemand wird bezweifeln, daß es bei Eichendorff (und Meyer) ähnlich ist.
Die genannten Dinge stehen für etwas, sind Teile einer Zeichensprache
für Unsichtbares, und es ist der Blick für die Hintergründigkeit des
Sichtbaren, der sich in Eichendorffs Gedichten überall Bahn bricht.
Und für Eichendorff gilt, was auch für die Symbolisten später gelten
wird: seine poetische Welt ist zwar eine Welt aus Zeichen, aber viele
seiner Symbole sind „Dingsymbole“, also Gegenstände, die im Zusammenhang eines Gedichtes ihren Doppel- und Hintersinn bekommen. Symbolisten sind immer auch ein wenig Realisten – und sie sind
zugleich mehr, weil sie zu erkennen geben, daß ihre poetische Welt
eben aus Chiffren besteht, die über sich hinausweisen. Im übrigen gibt
es noch eine Gemeinsamkeit, die die Nähe von Eichendorffs Lyrik zu
der der späteren Symbolisten sogar noch auffälliger macht als anderes:
es ist die Vorliebe für bewegte Bilder. Symbolistische Bilder sind nicht
mehr repräsentativ, sondern wollen nur andeuten, und das gelingt am
besten, wenn Bilder bewegt sind, da sie gleichsam nur punktuell etwas
zu erfassen erlauben, denn der Blick auf bewegte Bilder läßt sich nicht
fixieren: das nächste wartet schon darauf, erfaßt zu werden. Das gilt für
Mallarmé wie für Baudelaire, nicht weniger aber auch für Stefan George, dem wohl bedeutendsten deutschen Symbolisten. Vor den Symbolisten aber hat niemand anders als Eichendorff sich der Technik der
bewegten Bilder aufs Gründlichste bedient: alles ist in ständiger Bewe-
266
Zu Eichendorffs Lyrik
gung, die Wolken ziehen, der Strom blitzt herüber, in der Ferne kommt
ein Wetterleuchten auf, Licht funkelt vorüber, der Morgen leuchtet
herrlich über die ganze Gegend hin, eine wunderbare Nacht steigt sachte von den Bergen hernieder, die Strahlen der Morgensonne schießen
über die Fläche. Auch die Landschaften sind in unendlicher Bewegung,
und so gibt es denn keinen festen Punkt, von dem man aus alles in
Ruhe betrachten könnte. Das muß an sich noch nicht modern sein,
aber es wird modern, wenn man etwa eine Landschaftsschilderung
Stifters dagegen hält. Mit den akustischen Sinneseindrücken verhält es
sich ähnlich: auch da unendliche Bewegung. Der Spielmann singt den
Lenz aus, die Morgenglocken klingen nicht etwa nur, sondern sie klingen herauf, und wir hören auch, woher sie kommen: von fern aus den
Tälern über den Garten hin. Die Nachtigallen schlagen und die Wälder
rauschen durch die Nacht, das Waldhorn tönt, die Wandergäste jubeln
im Baum, die alten Lieder schallen herüber, und wenn die Vögel über
die Wälder hinziehen, so klingt es wie in Frühlingstagen.19 Wenn das
Geschaute klingt, wenn die Klänge zu betrachten sind, so sind das synästhetische Erfahrungen, wie die Romantik sie kannte und liebte. Aber
sie kennzeichnen auch die symbolistische Dichtung.
*
Wie kommt Eichendorff in die Nähe der Symbolisten und zum Rang
einer Vorläuferschaft? Die (mögliche) Antwort führt zurück in die literarische Vergangenheit und zur Neubewertung der literarischen Umgebung Eichendorffs. Man hat das 19. Jahrhundert das große Jahrhundert
der Realisten genannt. Aber Eichendorff gehört zu den Anti-Realisten,
ist ein Nachbar Heinrich Heines. Man hat, was diesen angeht, lange
angenommen, daß im Hintergrund seines Buchs der Lieder eine wirkliche
Geliebte gestanden habe, oder vielleicht sogar deren zwei. Aber so
etwas kann nur fanatisch nach biographischem Material suchenden
Germanisten einfallen. Wir wollen es nicht besser wissen, aber wir wissen, daß Heine anakreontische Bilder ebenso genutzt hat wie Formeln
des Petrarkismus, jener lyrischen Tradition, die in Europa jahrhundertelang die Lyrik bestimmt hat.20 Bei Eichendorff ähnliches: anakreontische Traditionen finden sich bei ihm genauso wie eine bis ins Barock
Vgl. etwa das Gedicht Trennung, in: HKA I/1, S. 245.
Dazu grundlegend Manfred Windfuhr: Die barocke Bildlichkeit und ihre Kritiker.
Stilhaltungen in der deutschen Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts, Stuttgart 1966.
19
20
Zu Eichendorffs Lyrik
267
zurückreichende Bildlichkeit, wenn vom Hirsch an der Quelle oder
vom Reh am Abgrund die Rede ist. Für Heine und Eichendorff zählt
das eigene Erlebnis überhaupt nicht, in der Lyrik selbst konstituiert sich
erst jene Wirklichkeit, die dann als die eigentliche Realität des Lyrikers
gilt. Das ist ein außerordentlich modernes Verfahren, dieses Spielen mit
alten Bauelementen, die den Stempel des Realismus, den man so oft
dieser Literatur des 19. Jahrhunderts aufgedrückt hat, als Fälschung
erweisen. Bei Eichendorff kommt noch etwas anderes hinzu: die Tradition des Kirchenliedes und deren Nutzung. Vor allem in seiner Jugendlyrik finden sich Marienlieder, formelhafte Wendungen aus dem
Kirchenlied, und es ist kein Zufall, daß Eichendorff selbst ein solches
Kirchenlied gedichtet hat.21 Eine Zeile wie „Es ging Maria in den Morgen
hinein“22 hat Kirchenliedcharakter; zumindest wird ein solches hier
kunstvoll und gleichzeitig doch scheinbar naiv imitiert. Kirche und
Blume, die Jungfrau als Jungfrau Maria, die Engel und feste Formeln
wie „So walte Gott!“, Verse, wie sie in jedem Gesangbuch beiderlei
Konfessionen stehen könnten wie „O laß die Sehnsucht ganz dein
Herz durchdringen!“23 – das alles weist auf die unmittelbare Präsenz
religiöser Lyrik beziehungsweise des Kirchenliedes in Eichendorffs
Gedichten, auch in den weltlichen, hin. Gedichtüberschriften wie Morgengebet, Morgenlied, Gottes Segen, Nachtgebet, Marienlied und das kapriziöse
Memento mori („Schnapp’ Austern, Ducaten,/ Mußt dennoch sterben!/
Dann tafeln die Maden/ Und lachen die Erben.“)24: es wimmelt auch
sonst von überkommenen Devotionalformeln und traditionellen Gebetsvorstellungen. Dann noch der Herr als Hirte, die Abendkühle als
der herankommende Tod – das Feld religiöser Begriffe und Bilder ist
außerordentlich groß, bis hin zum Kindlichen, ja zum Kitschigen.
„Droben wird der Herr nun bald/ An die Sterne zünden“, heißt es in
Abschied 25 – ein gewollter Primitivismus, wie er sich in der religiösen
Lyrik nicht nur dieser Zeit findet: Eichendorff gleicht sich ihr an. So
gelingt es ihm, den Eindruck des Volkstümlichen zu wahren. Der
Wächter schließlich als geistlicher Wächter, sein Ruf „Wacht auf, wacht
auf“, das jedermann an „Wachet auf, ruft uns die Stimme“ erinnert, das
21
22
23
24
25
HKA I/1, S. 301f.
HKA I/1, S. 290.
HKA I/1, S. 298.
HKA I/1, S. 338.
HKA I/1, S. 327.
268
Zu Eichendorffs Lyrik
alles ist ebenfalls ein Fundus an Bildern und Formeln, der noch größer
ist als der der Natur. Beide Bereiche können sich im übrigen überlagern. Wenn von der Nachtigall die Rede ist, dann ist es nicht nur der
Liebesvogel, sondern auch ein religiöses Symbol: Friedrich von Spee
lehrt das zur Genüge. Das Schiff, das in katholischen Kirchenliedern als
Sinnbild des menschlichen Lebens begegnet, ist bei Eichendorff in
seinem ersten Roman zwar zunächst einmal ein Fortbewegungsmittel
der studentischen Argonauten, und zugleich ist es mehr. Ähnlich verhält es sich mit Rosen und Lilien, dem Himmel mit seinen Strahlen und
dem nächtlichen Sternentanz: in Friedrich von Spees Trutznachtigall ist
ähnliches zu finden. Jedenfalls ist die katholische Gesangbuchlyrik in
ihrem Einfluß auf Eichendorffs Lyrik nicht zu unterschätzen, und auch
da ist es wieder das Formelwesen, die Fähigkeit, die irdische Welt als
Gleichnis zu sehen, ist es die Konzentration auf einige Zentralsymbole
wie Sonne, Rosen, Nacht, die die Verwandtschaften herstellt. Schwer
denkbar, daß Eichendorff nicht Jacob Böhmes Aurora oder Morgenröte im
Aufgang gekannt haben sollte; das Buch hat ja auch Baader, Schelling,
Novalis, Tieck, Görres beeinflußt. Über das Kirchenlied hat Eichendorff aus profundem Wissen heraus einen längeren Abschnitt in seiner
Geschichte der poetischen Literatur Deutschlands geschrieben; Hinweise auf
das protestantische Kirchenlied lassen vermuten, daß er auch damit
relativ gut vertraut war. Schließlich wußte er um die Nähe des Kirchenliedes zum Volkslied, wußte, daß das Kirchenlied oft Melodien und
Liedanfänge aus dem Volkslied entlehnt hat, und umgekehrt. Über
Friedrich von Spee schrieb er:
Kein Dichter hat wohl so innig, wie Spee im ‚güldenen Tugendbuch‘ und in
seiner ‚Trutz-Nachtigall‘, die verborgenen Stimmen der Natur belauscht und
verstanden: wie die Ströme und Wälder und Bächlein emsig zu Gottes Lobe
rauschen, und die Vögel von Ihm singen, und die geheimnißvolle Sommernacht von Ihm träumt; als ob der Finger Gottes leise über die unsichtbaren
Saiten der Schöpfung glitte.26
Kurzum: Eichendorffs Dichtung steht dem Kirchenlied, der überlieferten religiösen Poesie, den Kuhlmanschen Psalmen nahe, Abraham a
Santa Clara ist bereits in Eichendorffs Tagebüchern erwähnt, und es
dürfte wohl nicht zuletzt das eigentümlich Serielle in der Kirchenlieddichtung sein, das ihn bewogen haben könnte, ähnlich zu dichten: in
26
HKA IX/3, S. 180f.
Zu Eichendorffs Lyrik
269
Reihen geradezu, in denen die Partikel der religiösen Lyrik, wie sie in
der Tradition überliefert worden sind, immer wieder neu zusammengesetzt werden. Auch das bedeutet eine Entrealisierung der Wirklichkeit,
verstärkt die Vermutung, daß Eichendorff an ihr gar nichts gelegen war,
wenig auch an der wirklichen Natur. Alles das aber lief letztlich auf den
Symbolismus hinaus, nimmt ihn vorweg. Man mag das Alexandrinismus nennen. Aber auch das ist ja, wie wir wissen, ein Kennzeichen der
Moderne: also die Nutzung der literarischen Überlieferung und ihrer
Kombinationsmöglichkeiten.
*
Eichendorff hat aber noch eine andere Erfahrung gemacht, die ihn
ganz unabhängig vom Konstruktivismus seiner Lyrik der Moderne
zuschlägt. Es ist die Erfahrung der Fremde, oder, wie man existentialistisch zu sagen pflegte, die Erfahrung der Unbehaustheit. Sie hängt
zusammen mit der Erfahrung der abbrechenden Zeit, dem Kontinuitätsbruch um 1800, den er radikaler als die übrigen Romantiker erfahren hat. Viele seiner Gedichte handeln vom Zwielicht, von der Dämmerung, aber es geht in solchen Gedichten nicht um den Wechsel vom
Tag zur Nacht, sondern hintergründig auch um das Zwielichtige der
Zeit, um das Zwielichtige der Gegenwart. Sie ist, so Eichendorff, wenig
haltbar und verläßlich. Die gute alte Zeit ist vergangen, sie ist gleichsam
statisch geworden – die Gegenwart aber erlebt sich als in unendlich
rascher Bewegung befindlich. „Die Zeit fliegt heut entsetzlich“, ruft der
Graf Hippolyt in seiner Erzählung vom Schloß Dürande. Sie verunsichert den Menschen wie nichts anderes. Zu der Erfahrung der rasenden
Zeit gibt es eine korrelierende andere: daß auch die Räume fremd geworden sind. Zwielicht ist nicht nur eine Zeiterfahrung, sondern auch
eine solche des Raumes, oder anders gesagt: Eichendorff weiß, daß er
in der Fremde ist. Es ist eine Elementarerfahrung Eichendorffs, und er
hat sie in seiner Lyrik immer wieder zur Sprache gebracht. „Mir graut
im fremden Land“, heißt eine Zeile im Gedicht Heimweh. An meinen
Bruder.27 In der Fremde ist ein anderes überschrieben mit der bewegenden
Zeile: „Ich weiß nicht, wo ich bin“.28 Die Fremde spielt selbst in ein
Gedicht wie Liebe in der Fremde hinein.29 Zur Erfahrung der Fremde
27
28
29
HKA I/1, S. 103.
HKA I/1, S. 33.
HKA I/1, S. 40.
270
Zu Eichendorffs Lyrik
gehört komplementär das Heimweh, auch wiederholt bei Eichendorff
beschrieben. Aber die Erfahrung der Fremde ist dominanter. Der irre
Spielmann – so die Überschrift eines Gedichtes – singt:
Aus stiller Kindheit unschuldiger Hut
Trieb mich der tolle, frevelnde Muth.
Seit ich da draußen so frei nun bin,
Find’ ich nicht wieder nach Hause mich hin. 30
Es ist nicht nur das verlorene Paradies, es ist die Erfahrung der Fremde
als immerwährende existentielle Bedrohung. Die Koordinaten seines
Lebens verwirren sich für ihn. Die zweite Strophe des Gedichtes vom
irren Spielmann beginnt mit den Zeilen
Durch’s Leben jag’ ich manch trüg’risch Bild,
Wer ist der Jäger da? wer ist das Wild?
Hugo von Hofmannsthal wird fünfzig Jahre später tief verunsichert die
gleiche Frage stellen. Wer seine Heimat verlassen hat, unwiederbringlich, wird zum homo viator im eigentlichen Sinne, zum Wanderer, und
Eichendorffs Wanderlieder sind alles andere als Wirtshausgesänge, sie
künden vom Dasein in der Fremde. Die Erfahrung der Fremde ist ein
Gegenerlebnis zu den Aufbrüchen der Romantiker, wie sie von Eichendorff auch beschrieben worden sind. „Thun All’ so fremde schauen“, heißt es in dem Gedicht Klage.31 Glückliche Fahrt, gewiß,32 und:
„Hoch Aurora flammend weht“,33 Frühlingslieder und Zauberei der
Nacht 34 – aber die Erfahrung der Fremde ist die tiefere. Im Garten vor
dem Schloß gehen jetzt „fremde Leute“,35 und was bleibt, ist Einsamkeit. In der Fremde ist ein Gedicht aus dem Zyklus Todtenopfer überschrieben: „Aber Vater und Mutter sind lange todt,/ Es kennt mich dort
Keiner mehr.“36
Welch ein Wandel im Selbstverständnis der Dichter! Als Eichendorff
geboren wurde, war Schiller gerade in Weimar angekommen, und ein
Zweifel an der fast göttergleichen Stellung des Dichters wäre ihm nie
30
31
32
33
34
35
36
HKA I/1, S. 52.
HKA I/1, S. 226.
HKA I/1, S. 106f.
HKA I/1, S. 9.
HKA I/3, S. 17.
HKA I/3, S. 262.
HKA I/3, S. 280.
Zu Eichendorffs Lyrik
271
gekommen. Im Oktober 1788 entstand Schillers Gedicht Die Künstler;
von Fremde ist mit keinem Wort die Rede, wohl aber wird variationsreich die Existenzberechtigung für Dichter genannt: „Der Menschheit
Würde ist in eure Hand gegeben,/ bewahret sie!“37
Es blieb nicht so, wie wir nur zu gut wissen; genau fünfzig Jahre
nach Eichendorffs Tod, 1907, veröffentlichte Hugo von Hofmannsthal
seinen Essay Der Dichter und diese Zeit. Da war der Dichter längst in die
Fremde geraten, ja in eine noch tiefere Fremde, als Eichendorff sie ihm
zugeschrieben hatte. „Seltsam wohnt er im Haus der Zeit, unter der
Stiege, wo alle an ihm vorüber müssen und keiner ihn achtet“, heißt es
bei Hofmannsthal. Er gleiche, so Hofmannsthal, dem fürstlichen Pilger
aus der alten Legende, dem auferlegt war, „sein fürstliches Haus und
Frau und Kinder zu lassen und nach dem Heiligen Lande zu ziehen;
und er kehrte wieder, aber ehe er die Schwelle betrat, wurde ihm auferlegt, nun als ein unerkannter Bettler sein eigenes Haus zu betreten und
zu wohnen, wo das Gesinde ihn wiese. Das Gesinde wies ihn unter die
Treppe, wo nachts der Platz der Hunde ist“.38 So wohnt er denn als
Fremder im eigenen Haus, „unter der Stiege“, „fremd und doch daheim“. Und: „Er ist da, und es ist niemandes Sache, sich um seine Anwesenheit zu bekümmern“.39 Das ist gleichsam ein Göttersturz – Eichendorff steht ungefähr in der Mitte dieser gewaltigen Bewegung hinab, von den Zeiten Schillers bis ins frühe 20. Jahrhundert.
Der Dichter als Fremder im eigenen Land. Auch das ist wohl eine
Erfahrung der Moderne, und andere seiner Zeit haben sie mit Eichendorff geteilt. Etwas vor ihm fragt Kleist in der Hermannschlacht: „Wo
komm ich her? Wo bin ich? Wohin wandr’ ich?“40 Auch bei ihm ist der
Mensch ein homo viator, unterwegs. Und wer das maßlose Erstaunen
Eichendorffs über die fliegende Zeit hört, der erinnert sich vielleicht an
Kleists Prinz Friedrich von Homburg und dessen „Das Leben nennt der
Derwisch eine Reise,/ Und eine kurze“.41 Es ist, wie wir nur zu gut
37 Schillers Werke. Nationalausgabe 1776-1799, hg. von Julius Petersen (†) und
Gerhard Fricke, Weimar 1943ff. (= NA), Bd. 1, S. 213.
38 Hugo von Hofmannsthal: Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden, hg. von Bernd
Schoeller in Beratung mit Rudolf Hirsch. Reden und Aufsätze I. 1891-1913, Frankfurt am
Main 1979, S. 66.
39 Ebd., S. 67.
40 Heinrich von Kleist: Sämtliche Werke und Briefe, hg. von Helmut Sembdner, Bd. 1,
München 1984, S. 603.
41 Ebd., S. 686.
272
Zu Eichendorffs Lyrik
wissen, auch bei Kleist die Reise eines Fremden. Aber eine noch erstaunlichere Verwandtschaft tut sich bei einem Blick auf das Spätwerk
Heinrich Heines auf. Sechs Jahre vor Eichendorffs Tod erschien Heines Romanzero, und im Zweiten Buch, den Lamentazionen, heißt es in
dem Gedicht Waldeinsamkeit (Élégie romantique in der französischen
Übersetzung) über ihn, den Dichter und seine verlorene Romantik:
Ich hab’ in meinen Jugendtagen
Wohl auf dem Haupt einen Kranz getragen;
Die Blumen glänzten wunderbar,
Ein Zauber in dem Kranze war.
[…]
Der Kranz ist mir vom Haupt genommen,
Ich weiß es nicht, wie es gekommen;
Doch seit der schöne Kranz mir fehlt,
Ist meine Seele wie entseelt.
Es glotzen mich an unheimlich blöde
Die Larven der Welt! Der Himmel ist öde,
Ein blauer Kirchhof, entgöttert und stumm.
Ich gehe gebückt im Wald herum.42
Auch er hat die Erfahrung der Fremde gemacht, und es war zugleich
die Erfahrung der Vereinzelung, die auch Eichendorff gekannt hat,
wenn er sich in der Fremde wußte. Es war die Erfahrung eines Exilanten. Eichendorff ist ebenfalls eigentlich im Exil, wenn er in der Fremde
ist. Seine Heimat ist eine rekonstruierte Wirklichkeit.
Auch Fremde ist eine moderne Erfahrung, ohne Frage. Oder genauer: eine Erfahrung bereits des 19. Jahrhunderts. Sicher ist das Erleben
einer „Fremde“ ein Urerlebnis der Menschheit, aber lange Zeit hatte die
Differenz von Heimat und Fremde keine Rolle gespielt. Im 18. Jahrhundert war, wie Lessing es einmal genannt hatte, „in der Welt nichts
insulieret“,43 der Mensch seinem Selbstverständnis nach überall zuhause. Er war Weltbürger, und in diesem Weltbürgertum gab es nicht den
Unterschied zwischen Fremde und Heimat, es gab keine Vereinzelung
42 Heinrich Heine: Romanzero. Gedichte 1853 und 1854. Lyrischer Nachlaß. Text bearbeitet von Frauke Bartelt und Alberto Destro [= Heinrich Heine. Historisch-kritische
Gesamtausgabe der Werke […], hg. von Manfred Windfuhr, Bd. 3/1], Hamburg 1992,
S. 79 u. 83.
43 Gotthold Ephraim Lessing: Werke […], hg. von Herbert G. Göpfert, 8 Bde.,
München 1970-79, Bd. 7, S. 187.
Zu Eichendorffs Lyrik
273
und keine Außenseiter, keine Aussonderungen und keine Fremde. Lessing schrieb für eine menschliche Welt ohne jene „Trennungen,
wodurch die Menschen einander so fremd werden“.44 Nathan der Weise
war ein Menschheitsdrama, Manifest einer brüderlich-menschheitlichen
Gesinnung, die jeden umfaßte, und wenn Nathan selbst auch Gefahr
lief, ausgegrenzt zu werden, weil er Jude war, so ging Lessings Appell
doch dahin, weder ein äußeres noch ein inneres Exil zuzulassen, am
wenigsten einem Juden gegenüber. Bei Schiller klang es ein Jahr nach
Eichendorffs Geburt, 1789, in seiner Antrittsvorlesung Was heißt und zu
welchem Ende studiert man Universalgeschichte? ähnlich: „Alle denkenden
Köpfe verknüpft jetzt ein weltbürgerliches Band“,45 und: „zwischen
denkenden Köpfen gilt eine innige Gemeinschaft aller Güter des Geistes; was Einer im Reiche der Wahrheit erwirbt, hat er Allen erworben“.46 Zwar gibt es bei Schiller ein Gedicht mit dem Titel Das Mädchen
aus der Fremde – doch das ist eine Allegorie der Poesie, Fremde ist bei
Schiller der göttliche Ursprungsort der Dichtung; aber Fremde ist jetzt,
bei Eichendorff, das Andersartige, das nicht mehr Verständliche oder
nicht Geheure. Im aufgeklärten Jahrhundert gab es Fremde weder im
geographischen noch im temporalen Sinn. Doch die Fremde meldete
sich zu Worte, als diese schöne Welt zerbrach. In der Krisensituation
um und nach 1800 zerrissen die sichernden Netze, die das Leben des
Einzelnen aufgefangen hatten, die Philosophie verlor 1830, nach dem
Tod Hegels, ihre dominante Position, die Orientierungssysteme der
Religion versagten ebenfalls zunehmend. So kam denn nicht zufällig die
Erfahrung der Fremde auf. Und es sind die deutschen Romantiker,
allen voran Eichendorff, die Fremde jetzt gleichsam als „Verlust der
mythischen Heimat“ erleben, wie Nietzsche das in seiner Schrift über
Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik einmal genannt hat.47
Jener Satz des Novalis: „Wo gehen wir hin? Immer nach Hause“ hat in
Eichendorffs Zeit seinen Sinn verloren. Die Geschichte des Taugenichts ist nur die heitere Variante der Suche nach einer Heimat, die
längst aufgehört hat zu existieren.
Ebd., Bd. 8, S. 466.
NA 17, S 366.
46 NA 17, S. 363.
47 Friedrich Nietzsche: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, hg. von
Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Bd. 1: Die Geburt der Tragödie. Unzeitgemäße Betrachtungen I-IV. Nachgelassene Schriften 1870-1873, München 1999, S. 146.
44
45
274
Zu Eichendorffs Lyrik
Ist der Gedanke zu kühn, daß sich dieses exilante Dasein, das Wissen
um die Fremde des Lebens auch auf die poetische Wirklichkeitskonstitution ausgewirkt hat? Wer Zeit und Raum als etwas zutiefst Unbeständiges, wenig Verläßliches erlebt, der ist wohl nicht mehr imstande, in
sich geschlossene Welten abzubilden, naive Wirklichkeiten − er kann
die Wirklichkeit wohl nur noch als etwas aus diversen unverbundenen
Partialitäten Zusammengesetztes erleben, als etwas sich rasch Wandelndes zudem − und er kann sie wohl auch nur so darstellen: er konstruiert zusammen, was ihm an Einzelheiten begegnet. Auch das erklärt,
warum es zu jenen konstruierten Wirklichkeiten kommt, die uns in
Eichendorffs Dichtung begegnen. Und da nichts zeitlos-beständig ist,
fliegen die Räume vorbei, wandern die Studenten, ist alles in unendlicher Bewegung. Der homo viator erlebt seine Wirklichkeit, im eigentlichen und im uneigentlichen Sinne, als vorübergehend.
*
Haben wir Eichendorff richtig gelesen? Vor etwa fünfzig Jahren las
man ihn ganz anders. Am 22. November 1957 fand im Großen Saal des
Kölner Gürzenich eine Eichendorff-Feier statt; der damalige deutsche
Bundeskanzler Konrad Adenauer hatte ein Grußwort geschickt, in dem
es hieß: „ich halte es gerade in der heutigen Zeit für bedeutungsvoll,
sich dieses berühmten deutschen Romantikers zu erinnern. Aus Schlesien stammend und seiner schlesischen Heimat zutiefst verbunden, hat
er in seinen Werken doch allen Stämmen unseres Volkes die Liebe zur
großen deutschen Heimat nahegebracht“.48 Nun, das war ein Grußwort, wie es derer viele gibt. Damals hatten sich viele Gäste versammelt, zahlreiche Vertreter des diplomatischen Korps, hohe Beamte der
deutschen Bundesregierung und der Länderregierungen, Ordinarien der
Germanistischen Institute vieler deutscher Universitäten, Würdenträger
beider christlicher Kirchen und der Jüdische Zentralrat, und Grüße
wurden überbracht von den Universitäten in Oxford, Bristol, Paris und
Wien, Toulouse, Rom und Bologna, Mailand, Graz und Fribourg,
Nimwegen, Kopenhagen, Stockholm und Oslo. Der Festredner war
Wilhelm Emrich, seinerzeit einer der bekanntesten deutschen Germanisten, und er holte weit aus und gründelte tief in Eichendorffs Welt,
gab, so ist dem Bericht von damals zu entnehmen, „eine philosophisch
48 Karl Schodrok: Rückblick auf das Eichendorff-Gedenkjahr 1957, in: Aurora. Eichendorff-Almanach 18, 1958, S. 104.
Zu Eichendorffs Lyrik
275
vertiefte Deutung des Dichters, indem er auf den metaphysischen Urgrund von Eichendorffs Dichtung hinwies“, und dann meinte er noch,
daß die tiefste Bedeutung dieser Dichtung noch gar nicht erschlossen
sei, „sie ist mehr als das frohe Lied von Sonne, Wind und Wald, mit
ihren Sinnbildern von Heimat und Glaube führe sie die Menschen in
wahrhaft prophetischer Poesie zu dem Urgrund alles Lebens und Denkens“.49 Starke Worte. Es war ein Fest mit nationalen Dimensionen.
Feste auch anderswo, selbst Bayern beteiligte sich: eine EichendorffBüste wurde in die Walhalla aufgenommen, und König Ludwigs I.
Worte zur Gründung der Walhalla wurden zitiert. Auch da versammelte
sich „eine glänzende Festgesellschaft“. Man hatte übrigens auf der anderen Seite Deutschlands 1952 aus Anlaß von Eichendorffs 95. Todestag schon ähnlich Rühmendes lesen können: „Eichendorff ist der Entdecker der unendlichen Schönheiten der deutschen Landschaft in der
modernen Lyrik. Seine Gedichte sind das hohe Lied auf das Bild unserer Heimat. Darin gerade besteht sein großer, echter Patriotismus“.50
Doch dann wurde er östlicherseits als antikapitalistischer Frontsoldat
empfohlen: er habe das „gefährdete unverstellte Empfinden der deutschen Heimat“ gegen die prosaische Herrschaft des Geldes verteidigt.
Im Westen aber betonte der Festredner fünf Jahre später ganz anderes.
Seine Laudatio kulminierte in den Sätzen:
Seine Poesie will Erlösung, Erlösung von allen Entstellungen, die der Mensch
dem Menschen, die der Mensch sich selber antut. Erst in solcher Poesie kann
die Bedeutung des Ganzen offenbar werden, wird die Grundmelodie hörbar,
die jeder vergeblich auszudrücken sucht. Solche Poesie aber ist Wissen, Wissen
um die irdischen Verfehlungen, Wissen aber auch um Überwindung. 51
Das waren, mit anderen Worten, die berühmten „ewigen Werte“.
Aber uns überkommt heute Unbehagen. Jener prominente deutsche
Germanist, dem 1957 in Köln über tausend Leute zuhörten, schnitzte
an einem zeitlosen Eichendorff-Denkmal herum; daß Eichendorffs
Ebd., S. 105.
So in der SED-Zeitung Neues Deutschland am 27. 11. 1952; [unvollständig] zitiert
bei Bolko Frhr. von Richthofen: Eichendorff in kommunistischer Sicht, in: Aurora. EichendorffAlmanach 14, 1954, S. 122f. Vgl. auch Eberhard Lämmert: Zur Wirkungsgeschichte Eichendorffs in Deutschland, in: Romantikforschung seit 1945, hg. von Klaus Peter, Meisenheim
1980, S. 203-228; hier S. 216 [zuerst 1967].
51 Wilhelm Emrich: Dichtung und Gesellschaft bei Eichendorff, in: Aurora. EichendorffAlmanach 18, 1958, S. 16.
49
50
276
Zu Eichendorffs Lyrik
Poesie reiner Gesang sei, ist sicherlich schön gesagt, aber so furchtbar
weit ist der Schritt nicht zu Eichendorff als „Sänger des deutschen
Waldes“ und als „Erwecker beseligender lyrischer Verzauberungen“:
Feiertagsrhetorik, unschwer zu hören, Eichendorff so etwas wie ein
gehobener Heimatdichter, seine Lyrik für jeden erreichbar, schön im
Nacherleben des vorgeblich bei Eichendorff Vorgelebten, im Kern
eben auf romantische Weise zeitlos, und, wie sich damals herausstellte,
so recht etwas für patriotische Feierstunden, denn Eichendorff war ja
nicht nur derjenige Romantiker, der noch jedem etwas sagen konnte,
sondern er war vor allem auch ein deutscher Dichter.
War er das wirklich, war er nur das? Andere Zeiten, andere Lesarten.
Es gibt keine richtige und keine falsche Interpretation, es gibt nur veränderte Akzentuierungen. Emrichs Deutung war vielleicht nicht ganz
falsch, aber sie war vielleicht auch nicht ganz richtig. Eichendorffs historische Bedeutung ist doch wohl anders zu bestimmen: in seinem
Vorläufertum, was den Symbolismus betrifft, in seinen lyrischen Experimenten, in seiner überall konstruierten Wirklichkeit und in seiner
ausgiebig genutzten Montage. Und in seiner Beschreibung einer im 19.
Jahrhundert sehr neuen Erfahrung, auch wenn sie eine sehr alte ist: der
der Fremde, der Heimatlosigkeit, der tiefen Verunsicherung, vor der
ihn auch sein Katholizismus nicht bewahren konnte. Sie aber brachte
ihn dazu, „Heimat“ zu rekonstruieren.
*
Dagegen kann man durchaus setzen, daß Eichendorffs Poesie „in
wahrhaft prophetischer Poesie zu dem Urgrund alles Lebens und Denkens“ führe. Oder daß Eichendorff eben doch vor allem, und das in
manchmal betörend schönen Versen, der Sänger des deutschen Waldes
sei. Aber wie dem auch sei: gelesen wurde er und wird er, nicht nur im
deutschsprachigen Raum, auch wenn er unserem Verständnis nach
manchmal auf sonderbare Weise falsch gelesen wurde. Was hätte Eichendorff wohl gesagt, wenn er die Rückübersetzung einer Übertragung seiner Erzählung vom Taugenichts, dem wanderlustigen Müllerburschen, ins Chinesische gekannt hätte? Dort ist der liebenswürdige Held,
der uns ja wie eine Märchenfigur vorkommt, ein „leistungsunwilliger
Freßsack“ und ein „Volksschädling, der sich außerhalb der maoistischen Gesellschaft befindet“. Die Übertragung des Titels in chinesische
Charaktere läuft in etwa auf „Aufzeichnung von Genüßlichkeit im Le-
Zu Eichendorffs Lyrik
277
ben eines Freßsacks“ hinaus. Eine absurde Überschrift. Aber die
Schwierigkeiten sind im Chinesischen im wahrsten Sinne des Wortes
buchstäblicher Natur: chinesische Schriftzeichen sind bekanntlich traditionell so beladen, daß sie durchaus mißverständlich gelesen werden
können; das beginnt schon beim Wort „Freiherr“ und endet noch lange
nicht beim „Taugenichts“. Eichendorff selbst ist es im Chinesischen
ähnlich ergangen wie seinem Helden: der Name des Dichters ist wiedergegeben mit Zeichen, die auf deutsch etwa lauten würden: „Sein
Hang zur Freude war immerdar groß“. Nun, je nach mehr philosophischen oder mehr gefühlsbetonten Assoziationen kann es eben überall
Mißverständnisse geben, aber die maoistische Gesellschaft hat nicht
gezögert, auch ihre Kritik an jenem treuherzigen homo viator, der mit
seiner Geige durch die Landschaft streicht und dessen Reich nicht von
dieser Welt ist, schon in der Übersetzung des Titels so unmißverständlich wie nachhaltig auszudrücken. Dennoch gibt es trotz des uns so
absurd übertragenen Taugenichts Tröstliches: die Erzählung gilt auch in
China als Werk der Weltliteratur, und deutlichster Hinweis darauf ist
die Aufnahme des Taugenichts in die Jedermann’s Bibliothek, ein chinesisches Gegenstück zur englischen Everyman’s Library-Reihe. Das hätte
Eichendorff mit seinem in chinesischer Lesart namentlichen „Hang zur
Freude“ am Ende wohl tatsächlich Vergnügen bereitet, hätte er davon
gewußt.
„… I M M E R FE S S E L N D E L E KT Ü RE , W E N N A U C H V I E L
D E KO RA T I O N U N D D I E G E FÜ H LE Ü B E RI N S Z E N I E R T .“
Zu Hebbels Tagebüchern
„Ich lese in Hebbels Tagebüchern, es ist immer fesselnde Lektüre,
wenn auch viel Dekoration und die Gefühle überinszeniert“, so heißt es
in Brechts Tagebuch vom 21. August 1920. Und dann folgen noch
einige scharfsinnige Beobachtungen zu diesem Tagebuchschreiber
Hebbel. Brecht fährt fort:
Das Pflichtgefühl drin ist mir widerlich, auch die Ordnung, die einer ungeheuren Einbildung gleichkommt: im Grunde ist Hebbel eben Sammler. Er hat eine
beschränkte Teleologie in allen Gedankengängen, es scheint, er ist eitel darauf,
überall da noch einen Sinn zu entdecken, wo die Dümmeren keinen mehr
entdecken, und Leute, die es weit gebracht haben, sind selten dazu zu bringen,
es noch weiter bringen zu wollen.
Ein Fremder für Brecht, dieser Hebbel, aber einer von der interessanteren Sorte, und nicht zuletzt jemand, an dem er, Brecht, sich selbst messen, mit dessen Hilfe er sich profilieren kann. Nicht als Tagebuchschreiber, wohl aber als Dramatiker, und kein Zweifel: hier schreibt
einer, der Hebbel zwar zu verstehen glaubt, den er aber doch ablehnt.
Denn er hält Hebbels Weg letztlich für eine Sackgasse:
Nicht die Großartigkeit der Geste, mit der das Schicksal den großen Menschen
zerschmettert, ergreift uns, sondern allein der Mensch, dessen Schicksal ihn
nur zeigt. Sein Schicksal ist seine Chance. Es gilt also nicht, große, ideelle Prinzipiendramen zu schaffen, die das Getriebe der Welt und die Gewohnheiten
des Schicksals darstellen, sondern einfache Stücke, die die Schicksale von Menschen schildern, Menschen, die die Gewinne der Stücke sein sollen. 1
Also einiges an Hebbels Dramen hat Brecht auch bereits gelesen, und
er findet offenbar in den Tagebüchern das gleiche, was er schon in den
Stücken fand: eine bis ans Äußerste getriebene scholastische Dialektik,
aber auch einen Hauch von Prinzipienreiterei, von Idealismus fernab
1
Bertolt Brecht: Tagebücher 1920-1922. Autobiographische Aufzeichnungen 1920-1954,
hg. von Herta Ramthun, Frankfurt am Main 1975, S. 30.
280
Zu Hebbels Tagebüchern
der Wirklichkeit. Und eine Suche nach Sinnhaftigkeit, also so etwas wie
den unausrottbaren Wunsch, die Welt zu erklären, selbst dort, wo man
nichts mehr erklären kann. Aber, bei alledem: immer fesselnde Lektüre.
Am Anfang sah alles noch etwas spielerisch aus. Am 23. März 1835
beginnt Hebbel sein Tagebuch, und schon seine Überschrift enthält ein
Programm, das so weit formuliert ist, daß wirklich alles hineinpaßt, mit
einem leisen Zweifel, ob das Tagebuch denn wirklich als Form die richtige sei. Der Titel lautet bekanntlich: Reflexionen über Welt, Leben und
Bücher, hauptsächlich aber über mich selbst, nach Art eines Tagebuchs, von K. F.
Hebbel. Angefangen den 23. März 1835.2 Welt, Leben und Bücher als Gegenstände, er selbst als Zentrum: ungenauer und gleichzeitig besser,
treffender könnte das gar nicht bezeichnet worden sein. Am Anfang
noch ein Schuß Selbstironie in seinem ersten Satz:
Ich fange dieses Heft nicht allein meinem künftigen Biographen zu Gefallen
an, obwohl ich bei meinen Aussichten auf die Unsterblichkeit gewiß seyn
kann, daß ich einen erhalten werde. Es soll ein Notenbuch meines Herzens
seyn, und diejenigen Töne, welche mein Herz angiebt, getreu, zu meiner Erbauung in künftigen Zeiten, aufbewahren.
Also Lektüre für später, er selbst der aufmerksamste Leser seiner Niederschrift – vielleicht auch der einzige wirklich gemeinte Adressat?
Doch ein wenig denkt er ja auch ans Künftige, an den späteren Biographen: da war er, wenn auch aus verständlicher Eitelkeit, durchaus weitblickend.
Natürlich gibt es Pausen in diesem Tagebuch, das über weite Partien
hin wie ein Selbstgespräch anmutet, aber immer wieder nimmt Hebbel
sich in die Pflicht. Es sollte ein nulla dies sine linea sein, und im großen
und ganzen hat er seine sich selbst gesetzte Aufgabe bestanden: tausende, viele tausende von Eintragungen! Was am Anfang eher beiläufig
niedergeschrieben war, wird im Laufe der Jahre zum selbstauferlegten
Zwang. Es ist das weiße Papier, was ihn zwingt, es mit Schrift zu füllen,
und irgendwann schreibt er nicht mehr auf lose Blätter, die er nachträglich zusammennähen muß, sondern tatsächlich in ein Buch. Manchmal
sagt er auch etwas über sein Tagebuchschreiben selbst, so am 19. August 1843:
Die Tagebücher werden zitiert nach: Friedrich Hebbel. Sämtliche Werke. Historischkritische Ausgabe besorgt von Richard Maria Werner. Zweite Abteilung: Tagebücher Bd. IIV, Hamburg u. a. 1865, Nachdruck Bern 1970. Die Notatzahlen in Klammern im
Text.
2
Zu Hebbels Tagebüchern
281
Ich werde meinen Gewohnheiten ungetreu. Ein gebundenes Tagebuch! Vier
und zwanzig Bogen auf einmal! Ein starker Wechsel, auf die Zukunft gezogen!
Sonst beschrieb ich Blatt nach Blatt und heftete nachher Alles mühsam mit der
Nadel zusammen. Doch, man reis’t nach Paris und Italien steht in Aussicht.
Da ist es vielleicht vernünftig, daß man sich durch eine solche Masse weißen
Papiers die Pflicht, es zu beschreiben, immer gegenwärtig erhält. Im Allgemeinen haben meine Tagebücher freilich sehr geringen Werth: Zustände und
Dinge kommen kaum darin vor, nur Gedanken-Gänge, und auch diese nur, so
weit sie unreif sind. Es ist, als ob eine Schlange ihre Häute sammeln wollte,
statt sie den Elementen zurück zu geben. Aber man sieht doch einigermaßen,
wie man war, und das ist sehr nothwendig, wenn man erfahren will, wie man
ist. Das ganze Leben ist ein verunglückter Versuch des Individuums, Form zu
erlangen; man springt beständig von der einen in die Andere hinein und findet
jede zu eng oder zu weit, bis man des Experimentirens müde wird und sich
von der letzten ersticken oder aus einander reißen läßt. Ein Tagebuch zeichnet
den Weg. Also fortgefahren! (2756).
Da drückt sich ein fast manischer Zwang zur Niederschrift aus, eben
jenes Brecht so fatale Pflichtgefühl, aber ebenfalls die Unsicherheit des
Ich: er will erfahren, wer er ist, und zwar aus dem, was war, was er war.
Hebbel spricht vom Experimentieren: das ist ein Schlüsselwort, zutreffend für alle Tagebücher. Im Experiment mischen sich bekanntlich
Neugier auf noch nicht Erfahrenes und Unzufriedenheit mit dem bis
dahin Feststehenden, aus dem Experimentieren spricht aber auch das
Ungenügen an sich selbst, der Wunsch, endlich einen Zustand zu erreichen, in dem alles Experimentieren überflüssig wird, sich seiner selbst
ein für allemal sicher zu sein.
Eine altes jiddisches Sprichwort sagt: Wenn wir uns erinnern, wo wir
herkommen, werden wir auch immer wissen, wo wir hin müssen. Es
könnte hinter Hebbels Tagebüchern stehen, da es so etwas wie ein
Grundsatzbekenntnis des Tagebuchschreibers enthält, das ihn vor sich
selbst legitimiert, seinen Weg in eine ihm offenbar dunkle Zukunft ein
wenig erhellt. So schreibt er also weiter, weiterhin „nach Art eines Tagebuchs“, aber immer mischen sich persönliche Eindrücke mit seinen
Reflexionen. Das Schreiben war zugleich ein Heilmittel gegen die Ermüdung und Langeweile, die sich immer wieder einstellten, und ein
Stimulanz, um dem gefürchteten Verstummen zu entkommen. Am 1.
Januar 1847 trägt er ein:
Ich will dieses Jahr, wie ich es mir schon oft vornahm, einmal regelmäßig
Tagebuch führen, bloß, um zu sehen, ob etwas dabei heraus kommt, und was.
282
Zu Hebbels Tagebüchern
Hoffentlich brauche ich nicht zu dem Mittel jenes holsteinischen Candidaten
der Theologie, dessen Tagebuch ich als Knabe in Händen hatte, meine Zuflucht zu nehmen, daß ich nämlich die Blätter mit ewig wiederholten Berichten
über mein Waschen, Haarkämmen, Kaffeetrinken und Pfeifestopfen fülle, um
sie nicht weiß lassen zu müssen. Was mir fehlt, ist der Zwang zum Schreiben,
ich meine nicht zum Dichten, sondern zum bloßen schriftlichen Aussprechen
meiner Gedanken, denn die Form fängt an, mich zu tyrannisiren und mich
selbst in gleichgültigen Aeußerungen des geistigen Lebens zu hindern. Freilich
glaube ich, daß jeder Dichter an dieser Krankheit leiden muß, wenn er das
dreizigste Jahr zurückgelegt und sein individuelles Verhältniß zur Sprache
kennen gelernt hat, aber eine Krankheit bleibt immer Krankheit, wenn sie auch
nur edlere Organisationen befällt, und es muß gegen sie gekämpft werden.
Vielleicht wird das Tagebuchführen gute Dienste leisten (3875).
Da ist alles versammelt, Lust und Leid des Diaristen, das als Zwang
empfundene Schreibbedürfnis und der Wunsch, diesem nachzukommen, notfalls gegen alle Widerstände. Der Zwang zum Schreiben: fast
eine Krankheit, aber doch etwas, dem er folgen muß, das Tagebuch im
Grunde ein Tyrann, der ihm hinderlich ist, alles andere als eine mit
Leidenschaft betriebene Geisteswerkstatt und ein Schreiblabor, und
doch: Tagebuch führen, so hofft er, wird ihm gute Dienste leisten. Es
sind die guten Dienste, die er sich für sein Schreiben, für sein eigentliches Schreiben erhofft, es ist die Schreibwut, nicht die Schreiblust, die
ihn vorantreibt: Krankheit, Kampf, Hindernisse, der Drang, das Tagebuch zu schreiben und gleichzeitig der fehlende Wille zum Abschluß:
das Tagebuch also Ausdruck eines schwierigen Lebens, wohl auch einer
immer wieder eintretenden momentanen Ermattung und Müdigkeit –
aber Hebbel schreibt weiter, wenn auch nur, um zu sehen, was dabei
herauskommt.
Es ist auch das Experiment mit einer noch neuen Form, mit einem
literarischen Medium, dem er nicht so recht traut und dem er sich doch
gleichzeitig bis in seine geheimen Gedanken hin anvertraut. Er weiß,
daß sein Tun nicht unproblematisch ist, daß sein Schreiben ein lebenslanges Experimentieren bleiben wird – aber er kann nicht anders, und
deswegen heißt es: „Also fortgefahren!“ Er will die Sprache, die sich
ihm zu entziehen droht, zwingen, und er will sich vor allem selbst
zwingen, zu produzieren, auch wenn es nur Alltäglichkeiten sind, die er
zu Papier bringt – was er fürchtet. Zweifel an sich selbst, abwertender
Sarkasmus seinem Schreiben gegenüber spricht sich hier aus, das Tagebuch ist ihm manchmal so etwas wie ein Provisorium, nie zu Ende
Zu Hebbels Tagebüchern
283
geführt, soviel er auch schreibt, es bietet keine Lebenslösungen und läßt
allenfalls Rechenschaftsberichte zu, meist über Nicht-Erlangtes. Irgendwo laboriert Hebbel auch zwischen Gedanken und Gefühlen herum, aber vielleicht macht auch das den Reiz der Tagebücher aus, hat
vielleicht sogar den Reiz für Brecht ausgemacht.
Bis zum Ende hin freilich Zweifel, ob das alles überhaupt einen Sinn
habe. Am 24. November 1859 fängt er sein sechstes Tagebuch an und
schreibt: „Noch ein Tagebuch und bald 47 Jahr! Lohnt sich’s der Mühe? Eben legt meine liebe Frau mir’s auf den Tisch. In ihrem Namen
sey’s denn angefangen“ (5769). Manchmal gerät das Tagebuch in die
Niederungen des Lebens hinein, aber das war wohl unvermeidlich. Am
31. Dezember 1859 schreibt er:
Ehemals lächelte ich wohl, wenn ich in fremde Tagebücher oder Briefe, besonders in solche, die aus älterer Zeit stammten, durch Zufall hinein sah und
fand, daß sie gewöhnlich mit Gesundheitsberichten anfingen. Jetzt mache ich
es ebenso und freue mich unendlich, in diesem Augenblick nieder schreiben zu
können: es steht mit uns Allen wohl! (5777).
Und dann folgt ein langer Bericht über die Beschwernisse des vergangenen Jahres, über Rheumatismus, über den Fuß, an dem er gelitten
hat, über Magenbeschwerden und eine Erkältung bis zu einer Geschwulst, bis zum „finsteren Gemütszustand“. Ein Leidensbericht in
folio! Aber zum Glück bleibt es nicht dabei, die folgenden Notate zeigen ihn wieder auf der Höhe philosophischer Spekulationen und Reflexionen, wobei er relativ scharf zwischen seinem Tagebuch und seinem
dichterischen Werk trennt: von letzterem ist allerdings nur wenig die
Rede. 1863, im 6. Tagebuch, werden die Notate länger, die Zeit dringt
wohl noch etwas stärker hinein als früher, aber es bleibt vielfach auch
bei Oberflächlichkeiten. Manchmal beobachtet er sich selbst, verfolgt,
wie aus einem Einfall, einem Eindruck eine Assoziation, ein Vergleich
entsteht, wie es bei ihm zu Bildern kommt, wie Ideenassoziationen eine
Brücke schaffen von der physischen zur intellektuellen Welt. Der Analytiker ist tätig, der Selbstbeobachter, der gewissermaßen seine eigene
Produktivität begutachtet. Die Tagebücher enden euphorisch: „Eine
große Leidens-Periode, die noch nicht vorüber ist, so daß ich sie erst
später fixiren kann. Aber seltsam genug, hat seit 14 Tagen der poetische
Geist angefangen, sich in mir zu regen“ (6176). „Fixiren“: auch das ist
ein Begriff, der sich auf seine Tagebücher bezieht, er fixiert tatsächlich,
hält fest, macht es unveränderbar, fügt das Beobachtete, fügt einen
284
Zu Hebbels Tagebüchern
Vorgang in seine Lebensbahn ein, indem er notiert, was wert ist, festgehalten, fixiert zu werden. Am Schluß ein Erstaunen über seine wiedererwachte Leistungsfähigkeit: „Wunderlich-eigensinnige Kraft, die
sich Jahre lang so tief verbirgt, wie eine zurückgetretene Quelle unter
der Erde, und die dann, wie diese, plötzlich und oft zur unbequemsten
Stunde, wieder hervor bricht!“ So am 25. Oktober 1863. Keine zwei
Monate später stirbt er.
*
Schon als Hebbel am 23. März 1835 mit Eintragungen beginnt, schreibt
er bereits eine bunte Mischung aus Berichten über sich selbst, seinen
Tageserlebnissen, Träumen, Dramenplänen, witzigen Aperçus, Beobachtungen und literarkritischen Urteilen. Diese unendliche Flut läßt
über fast dreißig Jahre in ihrer Intensität und Breite nicht nach. Die
Tagebucheintragungen sind nicht Ersatz für eine Autobiographie – sie
sind eine, aber sie sind weit mehr, sie enthalten sein Leben und sein
Denken, seine Träume und sein Dichten, und wenn sie auch etwas
Gestaltloses an sich haben, ungeordnet wirken bis zum Durcheinander,
banal oder kleinlich sind sie nur selten. Aber warum schreibt er so pausenlos? Steckt dahinter ein protestantisches Rechtfertigungsbedürfnis,
was Tagebuchschreibern aus dem Norden nicht selten zu eigen ist, oder
ein geradezu pietistisches Sich-selbst-Behorchen? Wirkt hier ein Registrator, der es nicht lassen kann, seine eigene innere Welt unablässig in
Worte zu fassen? Nimmt er sich nicht doch ein wenig zu wichtig, wenn
er über das sprichwörtliche „Gott und die Welt“ schreibt, literarische
Ereignisse ebenso kommentiert wie weltgeschichtliche Augenblicke? Ist
in diesen Belehrungen, die sich nicht selten finden, nicht auch ein
Hauch von Oberlehrerhaftigkeit und der Anspruch, ein unbestechlicher
Richter über das Tagesgeschehen zu sein? Ist darüber hinaus auch ein
Zensor am Werke, was die zeitgenössische Literatur angeht, da er unbarmherzig zu Gericht sitzt über alles, was halbwegs lesens- und bedenkenswert ist? Überschreitet hier der Tagebuchschreiber nicht ständig die Grenzen der Bescheidenheit und der Selbstkritik, sieht er letztlich nicht die ganze Welt zu seiner Verfügung und möchte daran auch
nichts ändern? Oder schreibt hier ein Einsamer, der immer wieder in
ein Gespräch mit sich selbst gerät, ein Monologist, dem die Zuhörerschaft fehlt, die er doch so gerne hätte? Ist Hebbel ein GettoBewohner? Lotet hier ein Unsicherer sich selbst aus, sucht er sich
Zu Hebbels Tagebüchern
285
gleichsam Wegezeichen zu setzen, damit sein Ich nicht in die Irre geht?
Oder strömt sich hier ein Geist aus, der unablässig in Bewegung ist, um
festzuhalten, was er sieht, zu notieren, was er denkt, zu kritisieren, was
er nicht leiden kann? Ungehemmte Schreiblust, ein ungebremstes Räsonieren über alles und jedes? Er scheint alles zu wissen, und vor allem:
er scheint alles besser zu wissen. Aber waren das noch Tagebücher?
Diarien im üblichen Wortsinn sind die Hebbelschen Niederschriften
nicht. Ein Tagebuch ist persönlichkeitsorientiert, und selbst wenn Weltereignisse erwähnt werden: das Ich ist Ausgangspunkt der Mitteilungen,
aber in ihm, mit ihm enden diese auch. Tagebücher sind auf den Einzelnen bezogene Rechenschaftsberichte, sie beschäftigen sich eo ipso
mit dem Vergangenen, dieses wird registriert, protokolliert, im besten
Fall auch analysiert. Das Gewesene ist das Gegebene, verändern läßt
sich nichts mehr, ein Tagebuch hat immer abschließenden Charakter.
Nicht selten dient ein Tagebuch auch der Selbstbehauptung, der Identitätssicherung, und im Extremfall empfindet ein Tagebuchschreiber sein
Leben gelegentlich sogar als Dauerkrise, der er nur entkommen kann,
wenn er sich davon schreibend befreit.
Das trifft für Hebbel in gewisser Hinsicht zu. Er hätte sagen können,
was Robert Musil zu seinem Tagebuch-Unternehmen schrieb: „Mich zu
rechtfertigen und mir selbst zu erklären“. Doch der Anteil an Aphorismen, an Maximen, an Gedanken und Einfällen ist viel zu groß, als daß
man noch von einem Tagebuch im herkömmlichen Sinne sprechen
könnte. Keine Seite ist frei von aphoristischen Bemerkungen, die nicht
selten aufs Allgemeinste zielen, generelle Gültigkeit beanspruchen.
Sätze wie „Der Gedanke ist das Product der Individualität“ (1636) oder
„Leben heißt partheiisch sein“ (2613) oder „Gott ist gebundene, Natur
ungebundene Kraft“ (1963) – Tausende solcher Bemerkungen finden
sich in den Hebbelschen Tagebüchern, und damit sprengen sie gründlich den herkömmlichen Rahmen eines Tagebuchs: über diesen Tag,
über diese Stunden im Leben eines Einzelnen zu berichten. Hebbels
Gedanken-Niederschriften beanspruchen generelle Gültigkeit, und
damit entwickelt sich in seinen Tagebüchern eine Schicht, die gegenläufig ist zu den tatsächlichen Tagesnotaten. Hier Berichte über wirklich
Vorgefallenes, Begegnungen, Finanzprobleme, Lektürereminiszenzen,
Wetterberichte, über den Ankauf von ein paar Stiefeln, Briefe, ins Tagebuch kopiert, und daneben eben jene quasi philosophischen Einfälle,
manchmal Donnerworte, gelegentlich aber auch Banalitäten, Spitzfin-
286
Zu Hebbels Tagebüchern
digkeiten und Selbstverständlichkeiten – eine oft reichlich bunte Mischung. „Bei den ersten Menschen gab’s keine Blutschande“ (3690),
lesen wir – natürlich nicht. Manchmal auch extremistisch zugespitzte
Anschauungen der Zeit, ins fast schon Unglaubwürdige generalisiert:
„Des Weibes Natur ist Beschränkung, Gränze, darum muß sie in’s Unbegränzte streben; des Mannes Natur ist das Unbegränzte, darum muß
er sich zu begränzen suchen“ (2309). Das wird ergänzt durch eine
(scheinbare) Haarspalterei, die ihresgleichen sucht: „was die Uhr zur
Uhr macht, hält sie zugleich ab, etwas Anderes, als Uhr zu seyn“. In der
Tat – aber diese Erkenntnis ist weder neu noch originell. Sie ist richtig
und bei aller Richtigkeit doch banal. Aber dann wieder Aphorismen, die
vor Brillanz funkeln: „Die Welt ist Gottes Sündenfall“ (3031), oder
auch: „Viele glauben Nichts, aber sie fürchten Alles“ (2614), „Ein
Feind, der so groß und dick ist, daß sein Gegner in seinem Schatten
kämpfen kann“ (2422). Oder: „Allegorie entsteht, wenn der Verstand
sich vorlügt, er habe Phantasie“ (2002). Das kommt durchaus an Nietzschesche Aphorismen heran, nicht nur in ihrer fast gewalttätigen Schärfe, sondern auch in ihrer aperçuhaften Zuspitzung.
Aphorismen waren zu Zeiten Hebbels alles andere als neu, Aphorismen kennt vor allem die französische Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts, für sie stehen Namen wie La Rochefoucauld oder Chamfort
und in deren Hintergrund wiederum die Aphorismoi des Hippokrates,
ursprünglich medizinische, später wissenschaftliche Stellungnahmen,
Bemerkungen und Regeln. Zwischen Hippokrates und den Aphoristikern des 17. und 18. Jahrhunderts: Francis Bacon. Erwähnenswert bei
ihm schon das Bemühen, das Freie, Ungebundene, Regellose, Systemferne dieser Art Philosophie abzugrenzen gegen jede Regelhaftigkeit, also der Versuch, gegen die scholastische traditio methodica eine
traditio per aphorismos zu etablieren, vor allem aus dem Mißtrauen gegen
ein abgeschlossenes systemintegriertes Wissen, gegen nicht mehr verrückbare Zusammenhänge – dagegen schreibt ein Aphoristiker an, und
er formuliert so scharf, weil er nicht mit seiner Bemerkung etwas abschließen will, sondern zum Weiterdenken auffordert: der Systematiker
beschränkt sich auf seine wohlgeordnete Welt, der Aphoristiker zielt
über sie hinaus. Wenn die Aphorismen in sich auch zusammenhanglos
zu sein scheinen, ein wirrer Schwarm von Gedankensplittern, jeder für
sich richtig und zu akzeptieren, obwohl der nächste Aphorismus den
vorhergehenden zu widerlegen scheint, so mißverstünde man sie, sähe
Zu Hebbels Tagebüchern
287
man in ihnen nur Ausgeburten eines regellosen Philosophierens – sie
wollen nur jeder Systematik, jeder geordnet-sinnvollen Zusammenfassung widersprechen.
Eine längere deutsche Literaturtradition hat es für diese aphoristische Kunst nicht gegeben – mag sein, daß das systematische Denken
der Aufklärung eine solche verhindert hat. Es fehlt auch bezeichnenderweise an einem rechten Begriff, um diese kleinen Gedankeneinheiten zu charakterisieren und zu benennen, oder vielmehr: es gibt eine
Fülle von Bezeichnungen. Lichtenberg hat seine Notate in Sudelbücher
zusammengefaßt; seine Aphorismen wurden als Bemerkungen vermischten
Inhalts aber erst aus dem Nachlaß veröffentlicht mit dem Hinweis, daß
diese Sammlung nur einzelne Gedanken über ganz verschiedene Gegenstände enthalte. Einen rechten Namen für diese in Deutschland
neue Gattung hatte man damals nicht. Goethe nannte seine berühmten
Sprüche Maximen und Reflexionen, doch was unter diesem Titel heute
firmiert, ist von ihm durchaus nicht so konzipiert gewesen – sein Titel
bezieht sich nur auf einen Teil der Sammlung, und andere Abschnitte
hat Goethe mit eigenen Überschriften versehen: „Aus Ottiliens Tagebuch“, „Eigenes und Angeeignetes“, „Betrachtungen im Sinne der
Wanderer“, „Aus Makariens Archiv“. Das zeigt, wie brüchig der Obertitel war. Jean Paul spricht hingegen von Aphorismen, aber das war
eher verwirrend als klärend. Denn bereits Nietzsche, dem der Begriff
zu allgemein war, unterschied kurz darauf den Aphorismus, der eine
Einsicht aus einem Besonderen in etwas Allgemeines bringe, von der
Maxime, die nichts anderes sei als ein Prosaspruch, bis hin zur Volkstümlichkeit und Banalität. Erst Marie von Ebner-Eschenbach hat dann
Aphorismen in ihrer Sammlung von 1880 populär gemacht, doch noch
Robert Musil hat gefragt: „Was ist ein Aphorismus? Eine Notiz oder
ein Fragment?“ Er sei „Teil eines Ich-Romans“, wie er auch gelegentlich sagte.3 Eine rechte Antwort hatte er ebenfalls nicht, und wenn er
einmal auch den Aphorismus definierte als eine „isolierte Notiz“ (das
sind diese Hebbelschen Notizen ja auch), dann hat er auf der anderen
Seite angemerkt: „Aphorismus. Nicht Fisch und nicht Fleisch. Nicht
Epigramm und nicht Entdeckung. Es fehlt ihm anscheinend an der
Ganzheit, Einprägsamkeit, Reduzierbarkeit odgl. Bloß Bewegung ohne
3
S. 558.
Tagebücher, Aphorismen, Essays und Reden, hg. von Adolf Frisé, Hamburg 1955,
288
Zu Hebbels Tagebüchern
Ergebnis, Knotenpunkt“.4 Den Begriff „Gedankensplitter“ lehnte er
freilich als „widerlich“ ab. Karl Kraus wiederum nutzte den Titel Sprüche und Widersprüche und stellte lapidar fest: „Der Aphorismus deckt sich
nie mit der Wahrheit; er ist entweder eine halbe Wahrheit oder anderthalb“.5 Das sind im Grunde späte Auswirkungen eines Streites um die
rechte Begrifflichkeit, wie er eben vor allem seit den dreißiger Jahren
des 19. Jahrhunderts geführt worden ist, also in der Zeit der Hebbelschen Tagebücher. Damals hatte sich, zumindest in der romantischen
Literatur, vorübergehend der Begriff „Fragment“ durchgesetzt; besonders der junge Novalis und Friedrich Schlegel präferierten diese Bezeichnung. Aber auch sie setzte sich nicht durch. Friedrich Schlegel hat
einmal hübsch gesagt: „Ein Fragment muß gleich einem kleinen
Kunstwerke […] in sich selbst vollendet sein wie ein Igel“. Doch wie
dem auch sei: eine eindeutige Bezeichnung gab es nicht – obwohl es
seit 1800 geradezu eine Fragmenten- und Aphorismenflut gab. Gleichzeitig mit Hebbel schrieb etwa auch Heine Bemerkungen von jener Art,
die Hebbels Tagebücher so nachhaltig bestimmen. Heine hatte überhaupt keinen Namen für seine kleinen Einfälle, erst spätere Herausgeber haben sie etwas willkürlich und hilflos als Gedanken und Einfälle betitelt; der erste Editor einer historisch-kritischen Ausgabe, Ernst Elster,
hat alles dann noch einmal untergliedert und das, was er am Ende nicht
unter „Persönliches“, „Staat und Gesellschaft“ oder anderes subsumieren konnte, noch einmal „Vermischte Einfälle“ genannt – eine Armuts-, eine Bankrotterklärung eines Gliederungswütigen; Ordnung ließ
sich in eine von vornherein ungeordnete, willentlich und absichtlich
zusammengewürfelte Sammlung von Einfällen eigentlich nicht bringen.
Heines Niederschriften sind, was das Aphoristische angeht, geradezu
ein Parallelunternehmen zu Hebbels Tagebüchern, und auch hier finden sich Banalitäten neben brillanten Boshaftigkeiten. Ein Fragment
lautet: „Wie vernünftige Menschen oft sehr dumm sind, so sind die
Dummen manchmal sehr gescheit“.6 Ganz recht, kann man dazu nur
sagen. Oder auch: „De mortuis nil nisi bene – man soll von den Lebenden
Ebd., S. 423.
Zitiert nach: Franz H. Mautner: Der Aphorismus, in: Prosakunst ohne Erzählen. Die
Gattungen der nicht-fiktionalen Kunstprosa, hg. von Klaus Weissenberger, Tübingen 1985,
S. 14.
6
Heinrich Heines Sämtliche Werke, hg. von Ernst Elster, Leipzig/Wien o. J., Bd. 7,
S. 446.
4
5
Zu Hebbels Tagebüchern
289
nur Böses reden“.7 Mit Hebbel teilt Heine literaturgeschichtliche Äußerungen über Zeitgenossen – Gutzkow etwa ist von beiden avisiert, und
bei beiden kommt er schlecht weg. Einmal schreibt Heine übers Geld:
Die Hauptarmee der Feinde Rothschilds besteht aus allen, die nichts haben; sie
denken alle: was wir nicht haben, hat Rothschild. Hinzu fließt die Masse derer,
die ihr Vermögen verlieren; statt ihrer Dummheit diesen Verlust zuzuschreiben, glauben sie, die Pfiffigkeit derer, die ihr Vermögen behalten, sei daran
schuld. Sowie einer kein Geld mehr hat, wird er Rothschilds Feind. 8
Ums liebe Geld geht es auch Hebbel immer wieder, vor allem, weil
auch er nichts davon hat. Doch solch ein ironischer Kopf wie Heine ist
Hebbel nicht. Es gibt bei ihm zuviel Tiefsinn und gedankliche Erdenschwere, und wenn der Aphorismus bei Heine die halbe Wahrheit ist,
so ist er bei Hebbel eben die anderthalbfache, um mit Karl Kraus zu
reden. Witzige Einfälle: höchst selten bei Hebbel, man muß mit der
Lupe danach suchen. Aber dafür bei ihm die vielen kurzen Notate, in
denen sich ein Stück Welterklärung versteckt, und während bei Heine
der Witz manchmal etwas Unverbindliches hat, eine Bemerkung gesagt
ist um der schönen Formulierung willen, hat man bei Hebbel zuweilen
das Gefühl, daß die Sprache kaum ausreicht, um das zu verdeutlichen,
um was es ihm geht. Heine zieht sich selbst oft zurück aus seinen Gedanken und Einfällen, um diesen Titel doch noch einmal zu gebrauchen, und heraus kommen Allgemeinheiten, denen man nicht widersprechen kann, die aber auch nicht die Überzeugungsmacht einer individuellen Einsicht haben. Dennoch sind Hebbel und Heine sich
manchmal verblüffend nahe. Einmal schreibt Heine: „Jeder, wer heiratet, ist wie der Doge, der sich mit dem Adriatischen Meere vermählt –
er weiß nicht, was drin, was er heiratet: Schätze, Perlen, Ungetüme,
unbekannte Stürme“.9 Das sagt Hebbel anders, obschon er das Gleiche
sieht. Hebbel schreibt:
Jedes neue Verhältniß ist, wie ein Spiel. Man weiß nicht, ob man gewinnt, oder
verliert, aber man muß den Einsatz wagen, denn sonst kann man überhaupt
nicht spielen. Der Einsatz besteht darin, daß man ohne den Anderen zu kennen, seine Ansichten und Gedanken bloß geben muß. Wer klug ist – ich bin es
nicht – der hält sich dabei möglichst im Allgemeinen (3014).
7
8
9
Ebd., S. 445.
Ebd., S. 432.
Ebd., S. 443.
290
Zu Hebbels Tagebüchern
Mit Verhältnis ist nicht eine Liebesbeziehung gemeint, sondern allgemein das Eingehen auf einen anderen Menschen – bei Heine ist das
wohl um des witzigen Einfalls willen reduziert auf die Heirat, sozusagen
die ultimative Bindung. Aber den Transfer ins Allgemeine leistet Hebbel auch – eben das macht den Charakter des Aphorismus in diesen
Jahren aus. Eines hat Hebbel Heine sicherlich voraus: Heine ist mit
seinen Bemerkungen immer irgendwie „fertig“; da ist nichts vorläufig,
nichts anzugreifen, nichts zu verbessern. Anders Hebbel: seine Gedanken, Einfälle und Aphorismen wirken oft wie Laboratorien, in denen er
mit einem Einfall, einem Gedanken herumexperimentiert. Manches
sieht fertig aus, und doch ist es ein gleichsam gerade erst herausgedachtes Ergebnis, kein endgültig formulierter Einfall wie bei Heine. Fast
überall ist die Versuchsanordnung noch erkennbar in diesen Gedankenexperimenten, vieles ist bloß Hypothese, nur wenig gesicherte
Erkenntnis. Denn das Unfertige, auch das Paradoxe gehört in dieses
Laboratorium der Gedanken ebenso hinein wie eine kühne Hypothese.
Das Auf-den-Punkt-Bringen einer Sache, eines Problems, einer Erkenntnis ist nicht Hebbels Art: daran hindern ihn vor allem die Spontaneität und das Unabgeschlossene seines Denkens. So abgeschlossen
sich die kleinen Niederschriften auch geben, sie sind immer nur Partikel
innerhalb seines Gedankenstromes, der in ihnen nicht zu Ende kommt,
sondern der geradezu endlos weiterfließt. Was bei Hebbel freilich weitgehend fehlt, ist Sozialkritik, auch ein Mitdenken für andere – dazu ist
seine Konzentration auf das eigene Ich zu groß. Hebbel empfindet sich
nicht als Glied im Ganzen, sondern er ist das Ganze, er der Mittelpunkt
seines Weltsystems, was nicht heißen muß, daß er blind sei für Anderes
und Fremdes. Aber er bezieht es nicht auf eine soziale Weise mit ein, ist
eher Vertreter einer Ich-Philosophie, die dennoch den Anspruch hat,
generell zu gelten.
Peter Altenberg hat einmal gesagt: „Richtige Aphorismen kommen
nicht aus dem Gehirn, sondern aus dem Leben! “10 Für Hebbel gilt das
nicht, das Umgekehrte ist richtiger. Hebbels Aphorismen klären etwas
im einzelnen ab, bringen auf Reflexionsebene, was vielleicht ursprünglich Erfahrung oder Gefühl gewesen sein mochte, was sich aber zu
einem Gedanken auskristallisiert hat. Doch Hebbel, der in seinen
Aphorismen die oft vorläufigen Ergebnisprotokolle seines Denkens in
Abbreviaturen vorlegt, muß zuweilen erfahren, daß es auch noch eine
10
Zitiert bei Mautner (wie Anm. 5), S. 13.
Zu Hebbels Tagebüchern
291
Welt jenseits seiner Gedanken gibt: die Welt der Träume. Im Grunde
genommen beunruhigen sie ihn, weil da das Irrationale sich ungehemmt Bahn bricht. Welche Botschaften bringen sie? Hebbel notiert
einmal: „Der Traum ist der beste Beweis dafür, daß wir nicht so fest in
unsere Haut eingeschlossen sind, als es scheint“ (3045). Der Traum
mag willkürlich, subjektiv, ungeordnet oder vielleicht sogar unverständlich gewesen sein – aber er läßt erkennen, daß es jenseits der rationalen
Welt eine andere gibt, die der Verstand nicht leugnen kann, über die er
aber keine Macht hat. Der Traum erweitert die Grenzen des Ich, er
öffnet Türen in völlig anderes – bedeutet das, daß sich im Traum das
Ich nicht in seinem Überfluß erfährt, sondern eher als etwas Eingeschlossenes, Begrenztes, als Gefangener einer Bewußtseinsfestung, aus
der dieses Ich zuweilen herausdrängt – in seine Träume hinein? Die
große Bedeutung der Träume in seinen Tagebüchern spricht dafür, und
wenn er seine Subjektivität als etwas Endliches gesehen hat, so erfuhr
er immer wieder, daß Träume sie aufsprengten. Hebbel hat sie nicht
geleugnet oder gar unterdrückt. Bei allem Deutungsbemühen bleibt hier
für ihn ein Rest an Unerklärlichkeiten. Denn die Träume überfallen ihn
mit geradezu urtümlicher Gewalt. Einmal notiert er: „Wahnsinnige,
verrückte Träume, die uns selbst im Traum doch vernünftig vorkommen: die Seele setzt mit einem Alphabet, das sie noch nicht versteht,
unsinnige Figuren zusammen, wie ein Kind mit den 24 Buchstaben; es
ist aber gar nicht gesagt, daß dies Alphabet an und für sich unsinnig ist“
(2889). Eingemeinden in seine Gedankenwelt lassen die Träume sich
nicht. Sie bleiben beunruhigend, ihnen läßt sich nicht beikommen. Liegen sie jenseits dessen, was er immer wieder umkreist, die „Wahrheit“
nämlich? Welche Art von Wahrheit enthalten die Träume, wenn sie sich
schon dem Alltagsverständnis, dem gedanklichen Zugriff und der Ausdeutung so rigoros entziehen? Einmal schreibt er: „Es ist eine Sünde,
heißt es, den Menschen die Wahrheit vorzuenthalten. Mag seyn“. Aber
dann setzt er hinzu: „Aber es ist eine größere, es ist ein Frevel, die
Wahrheit einem Individuum gegenüber, das kein Organ für sie hat,
Preis zu geben“ (3049). Er weiß, die Wahrheit könnte einen erschlagen.
Banaler gesagt: Nicht alles ist für alle gut. Der egalitäre Charakter des
Menschen, im 18. Jahrhundert von jedem philosophischen Hinz und
Kunz propagiert, hat sich verflüchtigt, Hebbel sieht die Unterschiede,
weiß um das Problematische des einzelnen Fassungsvermögens, nicht
nur in philosophischer Hinsicht. Aber er hat wohl auch gewußt, daß
292
Zu Hebbels Tagebüchern
Träume eine andere Art von Wahrheit verkünden, die ihm letztlich
nicht zugänglich ist: da ist der Wahrheitssucher an die Grenzen seiner
Explikations- und Deutungskunst gekommen, auch an die Grenzen
seiner Rationalität.
Alles in allem: die Tagebücher Hebbels enthalten weit mehr als Tagebuchnotate, und der Titel ist dennoch gerechtfertigt, weil es in den
Jahren, in denen er schrieb, einen Begriffswirrwarr gab, weil sich kein
zureichender Name für diese neu ausgestaltete literarische Form finden
wollte. Was sich auf den ersten Blick als Gattungsvermischung, als
Durcheinander und ungeordnetes Ineinander verschiedener literarischer Gattungen darzustellen scheint, das ist in Wirklichkeit eigentlich
etwas sehr Neues: ein Versuch nämlich, Individuelles, Persönliches, am
Tag Erlebtes und nachts Geträumtes mit Allgemeineinsichten zu verbinden, nicht bruchlos, aber wohl mit Zusammenhang. Hebbels Tagebücher sind auch darin ein Experiment, ein Versuch, die alte diaristische Form mit Grundsätzlichkeiten zu beschweren, andererseits einer
Sentenzensammlung Alltagswirklichkeit, die schreibende Persönlichkeit
hinzuzufügen. Jedenfalls machen die Briefe, die literarkritischen Urteile,
die Bemerkungen über Andere, die grundsätzlichen Gedanken, die
Träume, die Berichte über Begegnungen, auch über Alltägliches, über
religiöse Themen und Verlegersorgen in dieser einzigartigen Mischung
die Tagebücher tatsächlich zu dem, als was der junge Brecht sie kennenlernte, nämlich zu einer „immer fesselnden Lektüre“. Fesselnd ist
für Brecht offenbar selbst noch das gewesen, was ihn abgestoßen hat,
also die Sammlermentalität hinter den zahllosen Notaten, seine Ordnungssucht, die nicht im wohlüberlegten Nacheinander seiner Niederschriften zu suchen ist, sondern in seinen Weltvorstellungen, die Chaotisches, Unordentliches, Beliebig-Zufälliges in der Welt nicht recht
wahrhaben wollen. Und dann das Pflichtgefühl, wie Brecht es nennt –
er fand es widerlich, aber es brachte Hebbel dazu, zu schreiben und mit
der Niederschrift nicht mehr aufzuhören.
Die Weltbetrachtungen im Tagebuch: sie tragen unverkennbar Hebbels Handschrift – aber was ist mit dem anderen, größeren Teil, den
persönlichen Notaten, also dem, was wirklich „Tagebuch“ ist? Wo ist
Hebbels Ich, wo spiegelt er sich selbst und nicht nur die Welt? Eines ist
sicher: sein Diarium ist kein Siegeszug. Tagebücher sind das meistens
nicht. „Auf was für einem schwachen oder gar nicht vorhandenen Boden ich lebe“, bemerkt ein anderer Diarist, Franz Kafka, und das gehört
Zu Hebbels Tagebüchern
293
direkt zu Hebbels Vergleich des Menschen mit schwankenden Pendeln,
die dazu bestimmt seien, „den Schwerpunct nie zu finden“.11 „Unaufhörliches Denken an mich selbst und das, was ich erfahre und tue“ –
das ist auch nicht Hebbel, sondern Novalis, aber Hebbel könnte das
ebenfalls gesagt haben. Aus dieser Not heraus scheint Hebbel eine Tugend zu machen, wenn er sich selbst darstellt, und er hat es auch deutlich gesagt: „Übrigens ist der Mensch mit Nothwendigkeit Egoist, denn
er ist ein Punct und der Punct vertieft sich in sich selbst“. Kafka scheint
in manchem aber tatsächlich so etwas wie ein geheimer Wahlverwandter zu sein, was seine Ansichten zum Tagebuch angeht. „Ich werde das
Tagebuch nicht mehr verlassen. Hier muß ich mich festhalten, denn
nur hier kann ich es“, schreibt Kafka,12 und auch: „Alles erscheint mir
als Konstruktion. […] Ich bin unsicherer, als ich jemals war, nur die
Gewalt des Lebens fühle ich.“ Das Tagebuch also quasi als Rettungsanker, als Kompaß, der den Lebenskurs stabilisiert, der den Weg in die
Zukunft hinein möglich macht, und zwar durch den Blick zurück auf
das Gewesene und das gelebte Leben? Dahinter steht ein tiefes Mißtrauen der Wirklichkeit gegenüber, die Unsicherheit, wie sie zu verstehen und zu begreifen sei, ja letztlich: ob es sie wirklich gebe. Natürlich
gibt es sie, aber Wirklichkeit ist nicht objektiv zu erfahren, sondern nur
subjektiv, die Wirklichkeit ist, wie Hebbel sagt, „durch die Subjektivität
[…] gespalten“. Wer Wirklichkeit und Welt so sieht, dem bleibt eigentlich nicht sehr viel mehr übrig als das Tagebuch, um dennoch mit ihr
fertig zu werden. Auch Hebbel scheint sich damit zu behaupten, daß er
Tagebuch schreibt – und vielleicht ist das der tiefere Anlaß für das, was
er als Pflicht, als Pflicht sich selbst gegenüber empfand.
Die Tagebuchschreiber: im 19. und 20. Jahrhundert kommen sie wie
aus einem Stamm, notieren Vergleichbares, Ähnliches, zum Verwechseln Austauschbares. Das sind mehr als nur Familienähnlichkeiten.
„Das Tagebuch von heute an festhalten! Regelmäßig schreiben!“.13 Das
könnte bei Hebbel stehen, steht auch fast wörtlich so irgendwo. Vielleicht nicht das, was der Schreiber dieser Notiz hinzufügte: „Sich nicht
aufgeben! Wenn auch keine Erlösung kommt, so will ich doch jeden
Augenblick ihrer würdig sein“. Es ist wiederum ein Kafka-Notat, den
Zitiert bei Claus Vogelgesang: Das Tagebuch, in: Prosakunst ohne Erzählen (wie
Anm. 5), S. 187. Ich verdanke dem Beitrag viele Hinweise.
12 Ebd. S. 191
13 Ebd., S. 197.
11
294
Zu Hebbels Tagebüchern
letzten Satz hätte Hebbel in dieser Form wohl nicht geschrieben. Aber
für Hebbel gilt, was auch für Kafka gilt und was Canetti niedergeschrieben hat: das Tagebuch „hält einen wach“.14 Gewiß ist Selbstbespiegelung darin, also das, was Brecht in seiner kritischen Bemerkung
Dekoration nannte und die Gefühle überinszeniert. Was die Form angeht, dieses Gemisch und diese Gemengelage aus persönlichen Berichten, welthistorischen Bemerkungen, Sentenzen und literarkritischen
Verurteilungen, so gilt das, was Charles Ferdinand Ramuz an 7. Januar
1906 einmal notierte: „Vielleicht besteht das ganze Geheimnis der
Kunst darin, daß sie ungeordnete Erregungen zu ordnen versteht, aber
so zu ordnen, daß das Ungeordnete dadurch noch fühlbarer wird“.15
Wer Tagebuch schreibt, will etwas fixieren – wie Hebbel das gesagt hat.
Manchmal schimmert die Angst vor der verfließenden Zeit hindurch –
nicht nur bei Hebbel, bei allen Tagebuchschreibern. Daß das Leben
chaotisch sei, ist eine Erfahrung nicht nur von Diaristen. Aber daß es
dennoch Möglichkeiten gibt, es zu ordnen, es einzupassen in Zusammenhänge, die weit jenseits des Einzelnen liegen, das ist, mehr oder
weniger stark, wohl die Hoffnung aller Tagebuchschreiber – die Hebbels jedenfalls gewiß. Was Brecht Überinszenierung nennt, könnte man
auch als Stilisierung bezeichnen, und ob diese Stilisierung die Wirklichkeit verfälscht oder sie erst recht zum Ausdruck bringt: eine offene
Frage, kein Tagebuchschreiber ist um sie herumgekommen, aber auch
keiner hat sie jemals ergiebig und zureichend genug beantwortet.
Hebbel bleibt ein Patient, vor allem sich selbst gegenüber, und der
Arzt in ihm kann diesem Patienten in ihm nicht immer aufhelfen.
Manchmal fällt die Beschreibung der Zeit mit der Charakteristik der
eigenen Situation zusammen. Am 31. Dezember 1849 notiert er:
Wieder ein Jahr zu Ende. Im Allgemeinen dieselbe Unsicherheit der Zustände,
wie im vorigen Jahr; nirgends eine Hoffnung auf endliche Lösung des ungeheuren gesellschaftlichen Räthsels; nirgends auch nur ein ernstlicher Versuch;
dagegen wieder überall die Furcht, die Krankheit bei’m rechten Namen zu
nennen und die Wunden zu sondiren; überall der alte Haß gegen die Männer,
die als redliche Aerzte das thun. Man lebt so hin und genießt, wie am Abend
vor einer Schlacht, was sich eben bietet; selbst dem Künstler wird es schwer,
sich in seiner Mongolfiére über den Dunst-Wolken zu halten. […] In mir
14
15
Ebd.
Ebd., S. 196.
Zu Hebbels Tagebüchern
295
selbst regt sich das Leben immer noch mächtig, so viele Steine man mir auch
auf den Kopf wirft. Voilà tout! (4659).
Man mißverstünde sein Tagebuch, sähe man darin auch wieder nur
einen Narziß, der sich selbst bespiegelt, der auch Geschichtsereignisse
nur auf sich bezieht, der eigentlich über sich spricht, wenn er über andere handelt. In vielen Eintragungen ist von der Form die Rede, und
wenn auch der Formbegriff hier und da unklar bleibt, Form Lösung für
ihn ist und Stoff Aufgabe, wie er einmal schreibt (1395), dann aber
auch wieder Form als „der höchste Inhalt“ erscheint (1625), so ist doch
sicher, daß Form das Andere ist. Manchmal sagt er dafür auch Gestalt –
das hat nichts mehr mit ihm selbst zu tun, sondern ist seine Gegenwelt,
ist die Herausforderung an ihn, ist sein dichterisches Problem und wohl
auch sein Lebensproblem. Denn er lebt nicht in Übereinstimmung mit
seiner Welt und Umwelt, aber auch nicht in Distanz zu ihr, sondern in
einem Spannungsverhältnis, das immer wieder nach einem Ausgleich
verlangt, den er aber nie endgültig findet. Im Tagebuch stehen Formulierungen, die das verdeutlichen, etwa: „Die Widersprüche des Poeten“
sind „die Widersprüche der Welt“ (5841). Oder 1844: „Der Mensch
kann nicht mit sich allein seyn, d. h. er kann nicht leer und todt seyn,
und aller Unterschied zwischen den Geistern beruht darauf, ob sie den
Gegensatz in sich selbst hervor rufen können oder ihn draußen aufsuchen müssen“ (3047). Das Ich, mit sich allein gelassen, würde in absoluter Einsamkeit enden, im Nichts. So sehr im Tagebuch sich die Monologe häufen, der Verfasser der Notate steht in einem beständigen
Dialog – mit sich, mit der Welt, mit anderen Schriftstellern, und er
bedarf eigentlich gar nicht des wirklichen Dialogs, da er ihn im Tagebuch selbst führt: er hat aus der Not eine Tugend gemacht.
Ein schwieriges Verhältnis zu sich, zur Welt. Gelegentlich hat Hebbel seinen Dialog mit sich und mit dem oder auch den anderen als Dialektik bezeichnet, etwa wenn er schreibt: „Jede Erscheinung ruft unmittelbar in und durch sich selbst ihren Gegensatz hervor.“ Oder: „Welt
und Leben sind selbst dialektisch“. Hebbel lebt, das zeigen gerade die
Tagebücher fast überdeutlich, in einer Spannung zwischen Ich und
Welt, obwohl für ihn die Welt andererseits nur im Bewußtsein des Ich
existiert oder, andersherum gesehen, das Ich nur Teil der Welt ist. Die
Tagebücher sind in alledem nicht frei von Widersprüchen. Einerseits ist
die Wirklichkeit also eigentlich gar nicht existent, sondern „gleißender
Schein-Realismus“ (6086), andererseits stehen sich in den Tagebüchern
296
Zu Hebbels Tagebüchern
immer wieder das Ich und etwas Allgemeines gegenüber – unvereinbare
Positionen, eine nicht aufhebbare Spannung. Aber sie allein macht ihn
produktiv, im Denken und auch als Dichter. Er entwickelt eine eigentümliche Relativitätstheorie, wenn er etwa sagt: „Die einzige Wahrheit,
die das Leben mich gelehrt hat, ist die, daß der Mensch über Nichts zu
einer unveränderlichen Ueberzeugung kommt und daß alle seine Urtheile Nichts, als Entschlüsse sind, Entschlüsse, die Sache so oder so
anzusehen“ (3713). Wir bewegen uns im Rahmen dessen, was wir erkennen können, und kommen darüber niemals hinaus. Hebbel hat das
in ein schönes Bild gebracht, als er schrieb: „So sind wir Lichter, die
eigentlich nur sich selbst erleuchten“ (1692).
Ein Leben in Gegensätzen, ein Denken in dialektisch aufeinander
bezogenen Dualismen. Wer ist das Andere, das doch nur im Umkreis
des eigenen Bewußtseins erscheinen kann? Hebbel nennt es gelegentlich den Weltgeist, das Universum, die Idee, die Materie: Stichworte in
einem unendlichen Reflexionsprozeß, der diesen Dualismus nie aufheben, wohl aber immer wieder bewußt werden lassen kann.
*
Man hat gesagt, daß die großen Realisten des 19. Jahrhunderts allesamt
in einem Spannungsverhältnis leben, daß die Spannung zwischen dem
Einzelnen und einem Ganzen das Grundthema des Jahrhunderts gewesen sei, und ob es nun das widerspruchsvolle Verhältnis des Einzelnen
zur Kunst ist wie bei Keller, die Beziehung des Einzelnen zu einem
mythischen Ganzen wie bei Grillparzer, der Gegensatz zwischen dem
Einzelnen und der Gesellschaft wie bei Fontane, die Spannung zwischen dem Möglichen und dem Wirklichen wie bei Stifter: es gibt wohl
tatsächlich dieses Grundthema, und es gibt dieses Thema sicherlich
auch bei Hebbel, vor allem in seinen Dramen. Da ist, um es etwas
schablonenhaft zu benennen, auf der einen Seite die Unbedingtheit des
eigenen Ich, der Wunsch nach Selbstverwirklichung, nach eigenem
Leben, wie etwa in Agnes Bernauer, aber da ist auf der anderen Seite das
Ganze, schlecht zu benennen, nicht irgend etwas partial Wichtiges,
sondern letztlich etwas Gesetzliches, eine metaphysisch begründete
Weltordnung, ein Unbedingtes, mit dem das Individuum mit seinem
irrationalen Wunsch nach Selbstbestimmung in Konflikt gerät. Wer ist
das Andere? In diesem Konflikt zwischen dem Einzelnen und einem
Größeren spricht sich ein Urgegensatz aus. Von einem einfachen Dua-
Zu Hebbels Tagebüchern
297
lismus kann aber dennoch nicht die Rede sein, also nicht von einem
bloß spannungsvollen Gegensatz zwischen dem Ich und dem Allgemeinen, der Welt, denn da der Einzelne Teil dieser Welt ist, bedeutet
das, daß der Widerspruch in das Individuum selbst hineingetragen wird:
in den Tragödien entwickeln sich die Konfliktsituationen nicht nur aus
dem Zusammenprall des Einzelnen mit der Welt, sondern auch in dem
Sinne, daß sich im Einzelnen quasi eine Spaltung vollzieht, da er sich
nicht mehr mit sich selbst völlig identisch ist insofern, als er sich zugleich als Teil des Ganzen begreifen muß. Das aber bedeutet, daß ein
ausgeglichenes Verhältnis zwischen Ich und Welt unmöglich ist.
Dahinter steht eine etwas verquere Theologie, die auch in den Tagebüchern immer wieder durchscheint. Es gibt über der Welt nicht ein
unbezweifelbares Walten Gottes; in Gott ist der Widerspruch, der in
der Welt ist, gewissermaßen eingeschlossen, und die Geschichte ist so
etwas wie ein Prozeß, in dem sich nicht nur die tragische Diskrepanz
zwischen dem Einzel-Ich und der Welt abzeichnet, sondern auch der
Prozeß einer Entfernung Gottes von sich selbst, die eben dort deutlich
wird, wo das Ich leidet. Das sind schwierige Überlegungen innerhalb
der Hebbelschen Theologie, aber sie sind zum Verständnis seiner Dichtungen und letztlich auch seiner Tagebücher unabweisbar. Gott braucht
gewissermaßen die Welt, so wie die Welt Gott braucht; Gott ist nicht
ein deus absconditus, ein verborgener Gott, sondern er ist in der Welt
anwesend. Hebbel schreibt einmal den Satz: „Gott braucht die Welt
und den Schmerz des Menschen, um sich selbst vollenden zu können“.
Das ist auch Theologenkritik, dahinter steckt eine Attacke auf die naive
Vorstellung vom immer nur guten Gott. Fast ans Paradoxe grenzt der
Satz „Gott braucht die Existenzschuld menschlicher Vereinzelung, um
seines eigenen Wesens in der Gespaltenheit inne zu werden“. Von
christlicher Gnade und Erlösung ist bei Hebbel keine Rede, das Einzelne, der Einzelne wird vernichtet, aber weil durch Gott derartiges, also
Spaltung, Auflösung, Feindschaft und Untergang überhaupt in die Welt
gekommen ist, ist gerade dieser Vorgang der Vernichtung des Einzelnen so etwas wie ein Existenzbeweis Gottes. Das ist eine paradox formulierte Theologie, aber sie legitimiert die Tragödie, die nicht mit dem
Verlust der individuellen Existenz an das Ganze endet, sondern die in
der Auseinandersetzung des Einzelnen mit dem Ganzen eine Notwendigkeit sieht, die die Selbstaufhebung des Einzelnen zugunsten des
Allgemeinen fordert und damit das Tragische entschärft. Einfacher
298
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gesagt: für Hebbel entschließt sich der tragische Held bewußt und willentlich zum eigenen Untergang – und nimmt ihm damit das nur Zerstörerische.
Hebbel kennt die tragische Versöhnung, die den Untergang des Einzelnen quasi legitimiert. 1843 hat er geschrieben: „Die Versöhnung im
Tragischen geschieht im Interesse der Gesammtheit, nicht in dem des
Einzelnen, des Helden, und es ist gar nicht nöthig, obgleich besser, daß
er sich selbst ihrer bewußt wird“ (2664). Anders gesagt: Der Einzelne
muß untergehen und sich opfern, damit er wieder Teil des Ganzen
werden kann, dem er ursprünglich zugehörte und von dem er gewissermaßen abgespalten worden ist. Hebbel hat das einmal in ein Bild
gefaßt, als er schrieb: „Das Leben ist der große Strom, die Individualitäten sind Tropfen, die tragischen aber Eisstücke, die wieder zerschmolzen werden müssen und sich, damit dies möglich sei, aneinander abreiben und zerstoßen“. Das sind Überlegungen, die der Philosophie
Schopenhauers nicht sehr fern stehen, der auch seine Zweifel am Sinn
des Einzelnen hatte und das Leben quasi als Gefängnis betrachtete, aus
dem die Seele sich befreien müsse. Hebbel hat das Leiden des Einzelnen dadurch legitimiert, daß er es als Entfernung Gottes von sich selbst
erklärte. Es ist ein theologisch nicht unproblematischer Gottesbeweis,
aber es ist sein Versuch, auch noch das Leiden sinnvoll, verständlich
und akzeptabel zu machen. Derartige Überlegungen stehen sicherlich
nicht im Zentrum der Tagebücher, aber die Tagebücher grenzen immer
wieder an sie, denn sie gehören in den Prozeß der ständigen Selbstvergewisserung, der sich durch die Tagebücher hindurchzieht.
Seine philosophischen Reflexionen, seine Aphorismen sind alles andere als bloße Gedankensplitter, sie sind vielmehr, um es etwas überspitzt zu sagen, Form gewordene Philosophie. In ihnen vollzieht sich
wie in seinen Tragödien ein ständiger Prozeß der Auseinandersetzung
des Einzelnen mit einem Ganzen, und sie zeigen diesen Prozeß als
einen nicht zu beendenden. Der Einzelne als Teil eines Ganzen und
zugleich im Gegensatz, ja im Widerspruch dazu: das ist letztlich Hebbels Generalthema. Dieses hochproblematische Verhältnis des Einzelnen zu jenem Anderen und auch zu sich ist nie ausbalanciert – und so
schreibt Hebbel weiter und immer weiter. Eine Versöhnung mit der
Welt und mit dem Anderen ist nur eine regulative Idee: ein Ziel, das er
nie erreicht, aber immer vor Augen hat. Das hat Brecht wohl auch mit
seinem Hinweis auf die „beschränkte Teleologie“ bei Hebbel gemeint.
Zu Hebbels Tagebüchern
299
Wer seines Zieles sicher ist, zweifelt nicht. Hebbel aber zweifelte
immer, und vielleicht ist der Zweifel der eigentliche Motor des Schreibens, Zweifel an der Welt, Zweifel an der Wirklichkeit, nicht zuletzt der
Zweifel an sich selbst. Die Tagebücher sind Dokumente des Zweifelns
und zugleich seine Antwort auf sein ständiges Zweifeln. Hebbel zitiert
häufig Lessing, den Vater des Zweifelns; und wie bei Lessing ist bei
Hebbel der Zweifel zum produktiven Prinzip geworden. Eigentlich
hatte er ja, wie er 1847 schrieb, sein Tagebuch nur angefangen, „bloß,
um zu sehen, ob etwas dabei heraus kommt, und was“. Er hat einmal
spöttisch über jemand gesagt: „Ein Mensch, der ein Tagebuch führt
und manches nur deshalb tut, um manches hinein zu schreiben zu haben“. Hebbel aber hatte immer hineinzuschreiben, überreich und andauernd, aber nirgendwo hat man beim Lesen seiner Tagebücher das
Gefühl, daß irgend etwas herausgekommen, vollendet, abgeschlossen,
zu einem befriedigenden Ausgleich gebracht worden wäre.
Hebbels Tagebücher sind vielleicht nicht das, was Canetti 1968 von
Lichtenbergs Sammlung von Gedanken und Einfällen meinte, nämlich
„das reichste Buch der Weltliteratur“. Aber sehr reiche Bücher sind sie
sicherlich. Kein geringerer als Thomas Mann hat vom „großen Hebbel“
gesprochen, als er im Mai 1904 in dessen Tagebüchern las.
VON
DER
FRITZ REUTER.
A KT U A L I T Ä T E I N E S U N Z E I T G E M Ä S S E N .
Wenn es irgendwo im 19. Jahrhundert ein zerstörtes, geknechtetes,
zutiefst verunsichertes und geschundenes Leben gegeben hat, ein über
viele Jahre hin völlig auswegloses Dasein, bedroht von Gefängnis und
Tod, verfolgt von einer erbarmungslosen Justiz, der daran gelegen war,
einen Menschen aufs gründlichste zu zerstören, bis zu einem besinnungslosen, stumpfen und dumpfen Dasein herabzuwürdigen, dann
war es wohl das Schicksal Fritz Reuters. Es sieht so aus, als sei er nicht
nur in eine falsche Gesellschaft, sondern auch in eine falsche Zeit hineingeboren worden. Der Vater: kein Tyrann, aber ein Patriarch mit
allen Ansprüchen eines solchen; die Mutter: ein Wrack, auch wenn sie
sich und ihr bedauernswertes Dasein im Rollstuhl verteidigte, so gut es
eben ging; dazu anfangs eine schlichte, um nicht zu sagen: eine schlechte Schulbildung, erst mit vierzehn Jahren ein halbwegs akzeptabler
Gymnasialunterricht in Friedland, doch später dann der Zwang, sich in
eine Laufbahn fügen zu müssen, für die er nun wirklich nicht geeignet
war, und der daraus resultierende permanente Konflikt mit dem Vater,
der den Sohn anhielt, das zu werden, was er, der Vater, sich vorstellte.
Reuter versuchte, sich dem zu entziehen und vermochte es nicht, er
wollte sich nicht einfügen und fügte sich doch. Hier ist wohl der Grund
gelegt worden für Reuters späteres Selbstverständnis, aber auch für sein
Schreiben und die eigentümliche Signatur seines Schreibens.
Derartige Konflikte sind eigentlich immer auch solche zeittypischer
Natur, und wir wollen zunächst einen Blick werfen auf die generelle
Bedeutung dieses Konfliktes. Der war, wenn man so argumentieren
darf, geistesgeschichtlich schon großräumig vorbereitet worden: hatten
die Väter im 18. Jahrhundert, zumindest in den ersten beiden Dritteln,
noch uneingeschränktes Ansehen, so kam die neue, die Protestgesellschaft gegen die Väter, mit dem Sturm und Drang hoch: also in den
siebziger Jahren des 18. Jahrhunderts. Das war Protest gegen eine patriarchalische Ordnung, die den Menschen an dem hinderte, was seit der
Aufklärung eine erste Forderung war, an jenem „Bestimme dich aus dir
selbst“, wie Kant das formuliert hatte und wie Schiller das dankbar als
302
Fritz Reuter
größtes Wort, das je ein sterblicher Mensch gesprochen, 1793 zitiert
hatte. Der junge Goethe kannte noch keinen ausdrücklichen Protest
gegen die Väterwelt, der junge Schiller aber schon in seinem Kampf
gegen gleich drei Väter: den leiblichen (der es freilich gut mit ihm meinte), den württembergischen Herzog, der von einer Selbstbestimmung
des Menschen nichts wissen wollte, und gegen Gottvater, der immer
dann schnell bemüht wurde, wenn der wirkliche Vater oder auch der
Landesherr sich legitimieren wollten. Ein Drama wie Schillers Räuber
scheint denn auch die erste Phase einer späteren vaterlosen Gesellschaft
zu markieren − aber auffällig (und in unserem Zusammenhang von
großer Bedeutung) ist, daß diese vom Vater dennoch nicht lassen kann.
Denn da ist der wachsende Protest gegen ihn, aber da ist auch noch die
alte Autoritätengläubigkeit mit ihrer biblisch fundamentierten Liebe
zum Vater, und diese sonderbare Mischung aus Opposition und einem
innerlichen Sich-Fügen, dieses double bind, wie es die Psychologen nennen würden, gab es häufig und lange. Aber vor allem gab es das auch
bei Fritz Reuter in seinem mehr oder weniger stillschweigenden Aufbegehren, das aber dann doch nicht durchgehalten wurde und schließlich
in Schuldbewußtsein endete. Darin spiegelte sich wohl auch noch das
religiöse Gebot: „Du sollst Gott fürchten und lieben“. Dieses Ineinander von Verehrung und Kritik durchzog, wie wir wissen, noch das ganze 19. Jahrhundert bis hin zu Heinrich Manns Untertan, der seinen Erzeuger, getreu dem christlichen Gebot, zugleich fürchtet und liebt. Er
erlebt Prügel dankbar noch als väterliche Zuwendung: ein Prototyp
menschlichen Verhaltens in der Zeit des Wilhelminismus, eben aus
Untertanenmentalität. Da war zwar der Aufstand gegen die Väter beim
Jungen Deutschland, also bei Heine, bei Börne, Gutzkow, Laube,
Mundt und Wienbarg einige Jahrzehnte zuvor schon geprobt, aber
durch das Verbot dieser Bewegung schon 1835 niedergeschlagen worden; und auch die Vormärzgruppierungen, die Turnbewegung um Vater
Jahn waren letztlich erfolglose Versuche gewesen, der Dominanz des
Patriarchalischen erfolgreich entgegenzutreten. Die unheilvolle Rolle
der Väter, selbst wenn sie das Beste wollten − kaum anderswo kann
man das im übrigen besser studieren als an Hebbels Maria Magdalena,
und wie schrecklich ein Vater wüten konnte, wenn er im Schatten der
traditionellen Vaterrolle blieb, zeigt etwa auch Theodor Storm mit seiner Novelle Hans und Heinz Kirch: Vater und Sohn unversöhnlich bis
zum bitteren Ende, die Geschichte einer Lebenstragödie von apokalyp-
Fritz Reuter
303
tischen Ausmaßen, auch wenn alles in kleinem norddeutschen Rahmen
passiert. Wenn wir sehen wollten, wie es weiter ging, brauchten wir nur
zu einigen Erzählungen Kafkas zu greifen: der Vater dort nur noch als
Übervater, lebensgefährlich in seiner Zuwendung zum Sohn. Natürlich
war da, was Reuter anging, auch die Burschenschaft mit ihren höchst
fragwürdigen Riten und wirkungslosen Revolutionswünschen, gab es
zeitweise wenigstens eine saufbrüderliche Gruppenmentalität, aber es
sieht doch so aus, als sei der Einfluß des Väterlichen, die Selbstverständlichkeit, mit der die patriarchalische Ordnung in den Köpfen der
älteren Generation aufrechterhalten wurde, das eigentlich Zerstörerische auch für den jungen Fritz Reuter gewesen. Der Vater hält den
Sohn für einen Taugenichts, aber keinen von der liebenswürdigen Art
der Eichendorffschen Erzählung, sondern für einen Versager, einen
Bummelanten, einen Trunkenbold und Lebensuntüchtigen. Was tat der
Sohn? Er wußte, daß er geknechtet wurde, er hat den Vater in dessen
letzten Lebensjahren geradezu gehaßt – und hat doch nicht gegen ihn
aufbegehrt; sein Haß war Privathaß, und dabei blieb es, von einem
offenen Aufstand keine Rede, der Sohn beugte sich – und damit war
sein Scheitern eigentlich endgültig vorprogrammiert. Aber er tat noch
mehr: er hat dem Vater schließlich verziehen, hat sein eigenes Verhalten bereut, hatte Schuldgefühle und ein schlechtes Gewissen: ein unausgetragener Konflikt, ein Sich-Fügen in die Verhältnisse, und wir
fragen uns heute noch: warum? War er nicht stark genug, es mit dem
Vater und der Väterwelt aufzunehmen? War er schon so zerbrochen
worden, daß er alles akzeptierte, seine eigene Zerstörung eingeschlossen? Wir werden es nie endgültig wissen, wir wissen nur, daß sein Psychogramm zugleich das Psychogramm seiner Zeit war, daß er sich eigentlich nicht sehr viel anders verhalten konnte, daß die Zeit des erfolgreichen Aufbegehrens auf breiter Front, die eines erbarmungslosen
Gerichts über die Väter erst später kam: als die Gründerzeit begann
und als massive Kritik losbrach nicht nur an der Zeit, sondern auch an
denen, die sie zu verantworten hatten, eben an den Vätern. Da ist es
eigentlich kein Wunder, daß Reuter sich so verhielt, wie das viele seiner
Zeit taten: dem Vater, später auch der Obrigkeit gegenüber. So kam es
zur manchmal uneingestandenen, aber vielfach auch bewußten Ablehnung der väterlichen Welt, die aber paradoxerweise deren Anerkennung
fast immer mit einschloß.
304
Fritz Reuter
Davon befreit hat Reuter sich erst sehr spät. Soviel ist jedoch sicher:
Reuters frühe Geschichte reicht mit ihren unausgeräumten Widersprüchlichkeiten weit in sein Leben und letztlich auch in sein literarisches Werk hinein. Und wenn er später davon sprach, daß er das Feld
der Politik und das der Religion meiden wolle, dann ist auch das nicht
nur, aber auch noch ein Reflex auf eine zerstörte Jugend. Selbst als er
sich zeitweise vom Vater gelöst zu haben schien, ging es ihm nicht
besser. Alkoholismus, Quartalssäuferei, tief depressive Phasen, Angst
vor dem Versagen, das ewige Wollenmüssen und das ständige Nichtvollbringen-Können: schlimmer hätte es gar nicht kommen können. Da
war ein mehrfach gebrochenes Selbstverständnis, da war schließlich ein
Dreißigjähriger, der angehalten war, mit zehn Jahre Jüngeren gemeinsam noch einmal zu studieren, da sollte einer in die Landwirtschaft,
obwohl er nichts von ihr verstand. Die Zukunft war verbaut, und zwar,
so schien es, für immer. Reuter empfand das aber durchaus nicht nur
als sein ganz privates Schicksal: in einem Brief an seine Braut schrieb er
damals: „Diese Zeit ist für jeden denkenden Menschen verderbensschwangerer als das brausende Meer, als der tückische Vulkan“.1 Reuters Schicksal war sicherlich ein extremes, aber kein gänzlich einzigartiges. Viele haben damals die eigenen Jahre so gesehen, so schon Kleist,
aber diese Sicht setzte sich fort, von Eichendorff bis Heine, von Börne
bis zu Büchner: Untergänge allenthalben. Nicht nur Reuter war krank −
die Zeit war es auch. Sie krankte nicht zuletzt an ihren Vätern, wie Reuter an seinem immer wieder vereitelten Aufbegehren. Wir dürfen sicher
sein, daß er bereits während seiner Haftzeit einen Schuldkomplex ausgebildet hat, und wir haben jenen späten Brief vom 5. März 1862 an
Pastor Lierow, in dem er bekannte: „Ich hatte schuld – wiewohl eine
andere, als mir das Kammergericht in Berlin aufgebürdet hat – und
mußte dafür büßen“.2 Worin bestand die Schuld? Reuter hat sich darüber nie genauer ausgelassen, aber vermutlich war es weniger eine politische Schuld als vielmehr sein Leben, das ihn hatte schuldig werden
lassen; als er dreißig war, machte er eine Bestandsaufnahme von sich
und schrieb: „Wat was ick? Wat wüßt ick? Wat kunn ick? −Nicks −Wat
hadd ick mit de Welt tau dauhn? − Rein gor nicks. − De Welt was eh-
1
Fritz Reuter: Gesammelte Werke und Briefe, hg. von Kurt Batt, Rostock 1967,
Bd. 8, S. 250 (Brief vom 10. 5. 1847).
2
Ebd., S. 394.
Fritz Reuter
305
ren ollen scheiwen Gang ruhig wider gahn, ahn dat ick ehr fehlt hadd“.3
Das frühe Scheitern setzte sich fort: 1845, als er fünfunddreißig war,
sah er sich erneut in schreckliche Verzweiflung gestürzt, Wahnsinn
schien in ihm aufzulodern – an seinen Lehrherrn Franz Rust schrieb er
zu Weihnachten:
Ich weiß nicht, ob Sie sich jemals in einer Stimmung befunden haben, worin
man dem Wahnsinn nahe ist − ich glaube nicht; ich weiß aber, daß ich es bin,
daß mein Unheil und mein Unrecht mich in diese schreckliche Verzweiflung
gestürzt haben; ich glaube an nichts mehr als an eines, und dieses kann ich nie
erreichen. Körperlich unwohl, geistig krank, von Reue zerrissen, von einem
Plan zu meinem Glück auf den andern übergehend und dann alle als unausführbar von mir stoßend, bin ich ein Spielball der schrecklichsten Gedanken
und Befürchtungen.4
Aber er fing sich auch diesmal wieder, und dann begann, eigentlich
unbegreiflich für ein solches Schicksal, sein Schreiben, und es war das
Schreiben eines Außenseiters: in die hohe Literatur konnte sich das,
was er zu sagen hatte, auf keinen Fall einfügen, eigentlich war er wirklich ein Unzeitgemäßer mit seinen plattdeutschen Geschichten, denn
eine Mundartdichtung oder eine Tradition der Mundartdichtung gab es
noch nicht. Unzeitgemäß waren auch viele andere, die im 19. Jahrhundert schrieben: Raabe so gut wie Storm, Hebbel so gut wie Büchner, die
Droste so gut wie Fontane. Doch niemand schrieb aus solcher Verzweiflung heraus.
Warum aber schrieb er so, wie er schrieb? Die Antwort, daß er damit
Geld machen wollte, ist natürlich richtig, aber sie ist zugleich auch banal. Es lag zunächst einmal nahe, satirisch Rache zu nehmen, und die
Satire ist Reuter nicht fremd: Die Feier des Geburtstages der regierenden Frau
Gräfin rechnet ab, auch die Einzugsfeierlichkeit rechnet ab mit einem
Adel, der ebenso verrottet wie uneinsichtig, ebenso hochmütig wie
unmoralisch war. Doch seine Attacke im Hakensterz-Manuskript auf
den „hochwohlgeborenen dummstolzen Junker“ und den „wohlgebornen, bürgerlichen Geldbeutel“5 geht eigentlich in Rhetorik unter. Und
wir kennen ja vor allem jenen anderen Reuter, den Erzähler komischer
Schnurren, in der tölpelhafte Bauern die erste Geige spielen, der das
Unterhaltungsblatt für beide Mecklenburg und Pommern herausgibt und der
3
4
5
Reuter (wie Anm. 1), Bd. 4, S. 535.
Reuter (wie Anm. 1), Bd. 8, S. 240f.
Reuter (wie Anm. 1), Bd. 1, S. 58.
306
Fritz Reuter
1855 ein Manuskript ablehnt, weil es politisch sei, er hingegen es für
notwendig hält, „in diesen Zeitläuften die Politik und die obligate Religion aus unserm Blatt zu exkludieren“.6 Reuter hat damals zwar hinzugesetzt, daß er durchaus nicht ernstlich gesonnen sei, nicht mehr auf
dem sozialen Feld zu wirken und den Edelmann, den Priester, den
Philister nicht mehr zu attackieren. Aber in der ersten Ausgabe seines
Blattes schrieb er unmißverständlich:
Der Zweck […] würde Unterhaltung sein, wie der Titel es anzeigt, und zwar
Unterhaltung, die sich durchaus fern von politischen und religiösen Fragen hält,
die jeden Angriff auf Personen, der über den Scherz hinausgeht und mehr den
Träger als die etwaige Lächerlichkeit der Sache trifft, aus ihrem Kreise verbannt und als Hintergrund, soviel als möglich, lokale Verhältnisse benutzt.7
Hat er klein beigegeben, hat er sich wieder einmal angepaßt? Oder war
die Welt der Schwänke und der humoristischen Erzählungen eine Gegenwelt zu dem, was er erlebt hatte, war sein Schreiben also ein gleichsam selbsttherapeutisches Schreiben, ein langandauernder Befreiungsschlag, um die Schatten der Vergangenheit loszuwerden?
Idyllen waren auf jeden Fall unverfänglich. Sie gibt es auch bei Reuter. Hanne Nüte un de lütte Pudel: das war eine Biedermeier-Idylle, wie sie
im Buche steht, da gab es „die natürliche Seite unseres Landlebens“ in
großer Harmlosigkeit, und Reuter erfüllt dort alle Klischees, die sich
mit der Vorstellung eines heiteren Landlebens verbinden: eine glückliche Kindheit, das Lob der Heimat, das Symbol der Eiche, „muntere
Szenen aus dem Tierleben“, wie er schrieb, „die lustige Vogelwelt“, und
am Schluß, wie könnte es anders sein, „die Vereinigung der Liebenden“.8 Die Liebe wird selbst noch von den Tieren beschützt: und wenn
man dazu noch die Illustrationen sieht, dann weiß man: das ist Biedermeier in seiner damals beliebtesten und zugleich fragwürdigsten Form.
Die Idylle war bei Reuter, war in seiner Zeit sicherlich eine Möglichkeit, sich in der Welt konfrontationslos einzurichten; sie bildete sich
gerade im mittleren und späteren 19. Jahrhundert sehr viel stärker aus
als etwa in der Zeit des Jungen Deutschland, also der Jahre der Börne
und Heine und ihrer jüngeren Gefolgsleute. Idyllen sind gewissermaßen
Reuter (wie Anm. 1), Bd. 8, S. 296.
Unterhaltungsblatt für beide Mecklenburg und Pommern, Nr. 1, Neubrandenburg, 1.
April 1855, S. 1 (zitiert bei Kurt Batt: Fritz Reuter. Leben und Werk, Rostock 1974,
S. 173).
8
Reuter (wie Anm. 1), Bd. 8, S. 353 (Brief vom 25. 1. 1860).
6
7
Fritz Reuter
307
Sehnsuchtsprogramme des 19. Jahrhunderts, und niemand von den
großen Autoren dieses Jahrhunderts ist ganz frei vom Idyllischen: Fontane so wenig wie Raabe, Keller so wenig wie Stifter, Fontane so wenig
wie C. F. Meyer. Aber wir wissen nur zu gut: die Idylle ist sehr häufig
bloß Oberfläche, darunter brodelt es, lodert ein geradezu vulkanisches
Feuer. Man muß etwa nur Raabes Horacker-Geschichte lesen, um diesen
Vulkanismus durch die idyllische Kruste hindurchzuspüren: da kommen die Verunsicherungen des gutbürgerlichen 19. Jahrhunderts hoch,
da wird die Krise der bürgerlichen Gesellschaft sichtbar; gerade in der
scheinbaren Idyllik großer Romanautoren scheint sich zu bewahrheiten,
daß das 19. Jahrhundert ein permanentes Revolutionsjahrhundert gewesen ist, wie Jacob Burckhardt das einmal nach dem deutsch-französischen Krieg von 1870/71 als Einleitung in eine Vorlesung über das
Zeitalter der Französischen Revolution gesagt hat; „im Grunde lauter
Revolutionszeitalter“, so hat er seine eigene Epoche bezeichnet.9 Nach
der Französischen Revolution, nach der Revolution von 1830 war es
um die alte Ordnung geschehen. Und soziale Sprengkraft war zur Genüge vorhanden.
Reuter hat auch ihr Worte gegeben. Er schreibt Kein Hüsung, jenes
Drama in Versform, das so etwas wie eine Abrechnung mit seinem
eigenen Schicksal war, ein Befreiungsschlag, ein gnadenloses InsGericht-Gehen mit einer Gesellschaft, die unmenschlich war. Es ist
nahezu unbegreiflich, daß kein geringerer als Friedrich Hebbel dieses
große Gedicht eine „Idylle“ genannt hat und sogar kritisierte, daß Reuter sich damit auf das Gebiet der Tragödie begeben habe – zu seinem
Nachteil, meinte er überdies, denn damit habe er alle Harmonie zerstört. Sollte sich ausgerechnet bei Hebbel dahinter noch die alte Vorstellung finden, daß es in der Dichtung harmonisch zugehen müsse, in
der Idylle allemal? Und das vor allem dort, wo es ums Landleben ging?
Ja, so etwas gab es auch bei Reuter, es war wohl sein Tribut an die Zeit,
Reuter konnte eben auch so schreiben. Aber der andere Reuter lebt in
seiner Schilderung zweier zerstörter Leben in Kein Hüsung, und es ist
schwer begreiflich, daß man auch später noch dieses Versepos unter die
„realistische Idylle“ gerechnet hat,10 denn da ist schlechthin nichts IdylJacob Burckhardt: Historische Fragmente, Sonderausgabe, S. 200; zitiert bei: Theodor
Schieder: Das Problem der Revolution im 19. Jahrhundert, in: Historische Zeitschrift, Bd. 170,
1950, S. 233-271, hier S. 233.
10 So Renate Böschenstein: Idylle, Stuttgart 1967, S. 69.
9
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lisches, und wir sehen plötzlich: die alten gattungstypischen Klischees
wollen nicht greifen. Kurt Batt, gewiß einer der besten, wenn auch
nicht unumstrittenen Kenner, hat Kein Hüsung andererseits in die Nähe
der Volksballade mit ihren Schauereffekten rücken wollen, und seine
Begründung: „fraglos weisen die Formelhaftigkeit der Sprache, die
Sinnfälligkeit der Kontraste und die zu Typen gleichermaßen überhöhten wie reduzierten Figuren auf die Volksballade zurück“.11 Aber das ist
eine ebenso fragwürdige Verwandtschaft, wie es die mit der Idylle ist.
Reuters auch heute noch bewegendes Versepos gehört eigentlich ganz
woanders hin, nämlich in den Bereich des sozialen Romans und der
sozialen Novelle in Deutschland, wie sie sich in den vierziger und fünfziger Jahren in Deutschland ausbreiteten. Diese soziale Literatur war
damals der Obrigkeit zwar unbequem, aber durchaus populär; und wir
wollen nur einige Namen und Titel nennen, um zu zeigen, daß Reuters
„Versroman“, wenn man Kein Hüsung einmal auch so bezeichnen will,
hier seine literarischen Geschwister hatte und in der Nähe der Idylle
oder der Volksballade nichts zu suchen hat. Carl Arnold Schloenbach
etwa hat 1848 zwölf Erzählungen mit dem unverfänglichen Titel Das
deutsche Bauernbuch oder: so lebt das Volk. Dorfgeschichten herausgegeben:
Frühnaturalismus, was die verheerenden sozialen Umstände angeht,
Wirklichkeitsreportagen. Vier dieser zwölf Erzählungen befassen sich
mit Frauenschicksalen. Neben Reuters Kein Hüsung sind ebenfalls Gottfried und Johanna Kinkels Erzählungen zu stellen, vor allem Gottfried
Kinkels Die Heimatlosen (1849). Luise Otto schrieb Ein Bauernsohn. Eine
Erzählung für das Volk aus der neuesten Zeit (1849); und in die unmittelbare
Nähe gehören auch von Fanny Lewald Kein Haus, eine Dorfgeschichte von
1853 und Ernst Dronke mit dessen Polizeigeschichten von 1846, darunter
besonders Vom heimatlosen Vaterland und Polizeiliche Ehescheidung, und zu
dieser sozialen Literatur rechnet ebenfalls Jodocus Donatus Hubert
Temme mit seiner Erzählung Die schwarze Mare, eine litauische Dienstmagd,
1854, und mit den fünf Bänden Die Verbrecher, 1855; Robert Prutz beschreibt die Zustände unter der Landbevölkerung in seinem dreibändigen Roman Oberndorf, 1862.
Das kennt heute fast niemand mehr. Es ist eine andere, entschieden
ungemütlichere Literatur als die der leichten Dorfgeschichten, die das
Leben auf dem Lande dem Publikum in fröhlicher Lesart präsentierten.
11 Fritz Reuters Werke in drei Bänden. Ausgewählt und eingeleitet von Kurt Batt, Berlin/Weimar 1981, Bd. 1, S. XXV.
Fritz Reuter
309
Die damals so zahlreich geschriebenen sozialen Romane und Novellen
beleuchten die Schattenseiten des Landlebens, und in diesen Kontext
gehört Reuters Kein Hüsung. Es war der Beitrag eines poetisch Unzeitgemäßen, gemessen an den alten, vielfach noch klassischen Standards
der Dichtung, aber eben das macht, nicht nur von heute her gesehen,
seine Aktualität aus. Man hat gesagt, daß Reuter mit seiner Gesellschaftskritik weit hinter der Radikalität eines Heinrich Heine oder
Ludwig Börne zurückgeblieben sei,12 doch uns will das heute eher gegenteilig erscheinen: die größere Radikalität ist bei Reuter, das gemütliche Holpern seiner Verse darf darüber nicht hinwegtäuschen. Man
kann sich allenfalls fragen, ob das Ende von Kein Hüsung nicht schließlich doch eine gewisse „Harmonie“ in dieses Bild hineinträgt, da die
Zukunft bringen soll, was die Vergangenheit nicht bringen konnte: das
„Fri sall hei sin!“ ist ein Wechsel auf eine bessere Zeit, die versöhnlich
erscheinen läßt, was eigentlich im tiefsten unversöhnlich ist. Der Schluß
gibt Wasser auf die Mühlen derer, die bei Reuter die Wendung von der
„Sozialkritik zur harmlosen Unterhaltungsliteratur“ sehen13 − wie auch
in seinen Polterabendgeschichten und in De Reis’ nah Bellingen, eine Verserzählung, die zwar noch satirisch angelegt ist, aber den zeitgeschichtlichen Kontext meidet und sich auf komische Situationen zu beschränken scheint. Aber was blieb damals anderes als die Hoffnung auf eine
freundlichere Zukunft?
Reuters wesentlicher Beitrag zur Literatur des 19. Jahrhunderts waren nicht die humorigen Schnurren und Idyllen. Er hat das Chaotische
dieses Jahrhunderts, das sich nach außen hin so bürgerlich und ordentlich gab, am eigenen Leibe erfahren müssen, und er hat es beschrieben in seinem Gefangenenbuch Ut mine Festungstid, aber auch in
Ut mine Stromtid und in Ut de Franzosentid. Man könnte zwar meinen, daß
auch hier eigentümliche Verdrängungsprozesse stattgefunden haben:
denn da war zum Freundlich-Komischen geworden, was eigentlich
grauenhafte Lebenserfahrung gewesen war, und das unterlief nicht nur
so, sondern war durchaus Absicht; die Arbeit an Ut mine Festungstid
wurde begonnen, so Reuter selbst, mit dem festen Willen, „die abscheuliche Festungszeit ins Humoristische zu übersetzen“.14 War das
So Michael Töteberg in seiner verdienstvollen Darstellung: Fritz Reuter, Reinbek
bei Hamburg 1978, S. 68.
13 Ebd., S. 84.
14 Reuter (wie Anm. 1), Bd. 8, S. 384 (Brief vom 8. 11. 1861).
12
310
Fritz Reuter
Schönfärberei? Jedenfalls war es eine von vornherein gewollte, denn
eine Vorstufe der Festungstid ist schon 1855 unter dem Titel Eine heitere
Episode aus einer traurigen Zeit im Unterhaltungsblatt erschienen.15 Es gab
freilich daneben genug, was Reuter ausblendete, weil es sich dem Humor so völlig entzog: so finden wir nichts über die Untersuchungshaft
in Berlin und nichts über die Festung Silberberg mit ihren schikanösen
Verhältnissen, beschrieben ist nur etwa die Hälfte der sieben Festungsjahre. Und Ut de Franzosentid: das liest sich wie eine absurd-komische
Groteske, Reuter nutzt alle Tricks der Komödie, sogar die der Commedia dell’arte, Sprachkomik mischt sich mit Verwechslungsszenen, und
am Ende ist alles, alles gut. Wirklich? „Kein Mensch kann mir nun
verdenken, daß ich beim Erzählen einer lustigen Geschichte keine Lust
habe, grauliche Geschichten einzumengen“, sagt Reuter, und darum
erzählt er so gut wie nichts über die Hinrichtung des französischen
Chasseurs. Doch als dessen blutiger Leib auf dem Sande lag, habe
„wohl keiner daran gedacht, daß die Kugeln weit hinten in Frankreich
ein Herz viel grausamer getroffen haben als sein eigenes − ich meine
das Herz seiner alten Mutter“.16 Und da zucken wir plötzlich zusammen und wissen, daß die treuherzige Biedermeier-Geschichte einen
unheimlichen, verstörenden Boden hat. Das Weltall des Humors hat
einen tiefen, unüberbrückbaren Riß bekommen.
*
Warum der Humor? Wie ist er zu verstehen? Man kann ihn wohl nicht
einfach abtun mit der Raabeschen Formel vom „Heiteren Darüberstehn“, auch nicht mit Fontanes Plaudereien vergleichen, die selbst
schlimme Lebenserfahrungen in Beredbares, in durch die Sprache zu
Bewältigendes umformen. Es ist – vielleicht – eine Form des literarischen Protestes. Einen offenen Protest gibt es bei ihm nicht; das mag
Vgl. Töteberg (wie Anm. 12), S. 141.
Ut de Franzosentid. Hochdeutsche Ausgabe, Leipzig 1933, S. 191, in: Fritz Reuter: Gezeiten des Lebens. Autobiographische Romane. Aus der Franzosenzeit, Meine Vaterstadt Stavenhagen, Aus meiner Festungszeit, Drei Aufsatzentwürfe aus der Zeit um 1848. Hochdeutsche Übertragung von Friedrich und Barbara Minssen, mit Erläuterungen und einem Nachwort
[München 1980], S. 122 [Kap. 17, Das Affenjäckchen]. Ursprünglich: „[…] un as sin
bläudig Liw up de Sand lagg, hett woll keiner doran dacht, dat de Kugeln wid hinnen in
Frankrik vel harter in en Hart flogen as in sin eigen − ick mein in sin olle Moder ehr.“
Reuters Werke […] neubearbeitet und ergänzt von Wilhelm Seelmann und Heinrich
Brömse […] 3. Bd., Leipzig [1936], S. 166.
15
16
Fritz Reuter
311
letztlich ein Reflex auf seine frühe doppeldeutige, eigentümlich widerspruchsvolle Haltung der Väterwelt gegenüber sein. Es ist wiederum ein
Sich-Fügen, aber dieses Mal ist es eines der Überlegenheit. Das Leben,
das Reuter durchlitten hatte, war alles andere als so gewesen, daß es
Anlaß zum Humor hätte geben können. Hat er verdrängt, was da über
ihn hereingebrochen war? Wohl kaum, dazu waren die Erfahrungen zu
grauenhaft gewesen, aber mir scheint, sein humoristisches Schreiben ist
Widerstand, überlegener Widerstand gegen die deplorablen Verhältnisse
dieser Welt, und es ist auch ein Stück Freiheit, sich die eigene Welt, die
erzählte nämlich, so zurechtzubiegen, daß sie mit eben jenem Maß an
Ausgeglichenheit, Heiterkeit, humoriger Harmonie ausgestattet ist, das
der wirklichen Welt so sehr fehlt. Sein Weg geht, wenn man so will, von
der Satire in den Humor: es ist auch der Weg zu einer Überwindung der
Widerwärtigkeiten des realen Lebens mit Hilfe der Komik, ist darin
Kritik des Lebens und zugleich sehr viel mehr. Und wenn sich Idyllisches einschleicht, dann ist es nicht die Idylle als Schönfärberei, sondern ist als eine subtile Form der Lebenskritik zu verstehen. Bei Raabe
glimmt unter der beschaulichen Oberfläche fast immer so etwas wie
eine eruptive Gewalt, Reuter aber hat die Schrecken des Daseins, von
denen er wahrlich genug mitbekommen hatte, in seiner Kunstwelt
neutralisiert, überspielt, verwandelt in etwas, das man als innere Freiheit
bezeichnen könnte. Daß das andere, das Leben der geplagten Pächter,
der gebeutelten Inspektoren und der von Amts wegen zu Heimatlosen
Erklärten, das der Parias der bürgerlichen Gesellschaft durchaus existiert, das merkt jeder Leser. Es gibt die Welt der Herren und die der
Knechte; Herr und Knecht war ja der ursprüngliche Titel von Kein Hüsung.
Aber es sind gerade die kleinen Leute, die Lebenszuversicht behalten
haben, es ist die Provinz, in der sich Humanität etablieren kann.
Manchmal nimmt die Kritik sogar die Form des Närrischen an; wieder
und wieder wird das an Onkel Bräsig sichtbar, jener komisch-tragischen
Figur, in der die Zeitkritik am deutlichsten zum Humor geworden ist, in
der der Humor aber zugleich am sichtbarsten Gesellschaftskritik ist,
auch wenn er − doch das liegt in der Eigenart des Humors − alles relativiert. Humor ist das Gegenteil von Fanatismus, aber er ist ebenfalls
die Einsicht, daß das Ich alles andere als eine Allmacht ist; Humor enthält auch das Eingeständnis der eigenen Unzulänglichkeit, aber gerade
mit der Einsicht in die eigene Schwäche wird diese zu einer Position
der Stärke. Reuter liefert im großen Bereich des sozialen Romans und
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Fritz Reuter
der sozialen Novelle die humoristische Variation; Humor und Sozialkritik schließen sich nicht aus, der Humor ist vielleicht die überlegenste
Form der Sozialkritik, die vor allem die späten Werke Reuters durchzieht. Und wir finden in diesen Werken auch etwas, was später dann in
der Literatur des deutschen Naturalismus, besonders bei Gerhart
Hauptmann, zum zentralen Thema wird: Mitgefühl, Mitleid. „Für wen
nimmt der Poet Partei?“ fragt Reuter einmal. „Für die Konquistadores
oder für die Inkas? Die Poesie fällt stets mit dem rein menschlichen
Erbarmen für den Unterliegenden zusammen, sie steht auf der Seite des
Hektor gegen den Sieger Achilleus“.17 Angesichts der weithin deplorablen Lebensverhältnisse war der Humor Reuters eigentlich unzeitgemäß,
humorvolle Sozialkritik gab es nirgendwo sonst, Raabe vielleicht ausgenommen. Aber so konnte die Wirklichkeit vielleicht am besten gemeistert werden.
*
Ist Fritz Reuter mit Läuschen un Rimels, mehr noch mit De Reis’ nah Belligen aber nicht doch ein Unterhaltungsschriftsteller gewesen, der denn
auch als solcher, mehr oder weniger nur als solcher einen so großen
literarischen und buchhändlerischen Erfolg hatte? War er darin ein
Zeitgemäßer? Ja, wohl auch, auch ein wenig. Die erste Fassung der Reis’
nah Belligen war ein plattdeutsches Gedicht mit dem Titel Hans Dumm,
der kluge Bauer, 1847 in Raabes Jahrbuch erschienen − eine komische
Reiseerzählung und nicht mehr, unterhaltsam, aber belanglos? Dazu ist
allerdings zu sagen: Unterhaltungsliteratur muß nichts literarisch Verwerfliches sein, alle gute Literatur ist immer auch Unterhaltung: von
Homers Odyssee bis zu Grimmelshausens Simplicissimus oder Grass’ Blechtrommel. Aber das Unzeitgemäße, das eigentlich Moderne ist ganz woanders zu finden − in seiner „Poetik“, wenn man das einmal so nennen
darf, also in seiner literarischen Formgebung, die so vieles auf den
Kopf stellte, was erst im 20. Jahrhundert wieder auf die Füße kam.
Bezeichnend ist schon, daß man Reuters Kein Hüsung, wie wir gesehen
haben, nicht recht zu fassen vermochte: Ist es eine Idylle? Ist es eine
Ballade? Ist es beides oder keines von beidem? Wie immer die Antwort
auch sein wird: sie ist letztlich beliebig. Viel wichtiger ist, daß sich da
Auflösungen alter Formen abzeichnen, traditionelle Vorstellungen lok17
S. 473.
Zitiert bei Fritz Martini: Deutsche Literatur im bürgerlichen Realismus, Stuttgart 1962,
Fritz Reuter
313
kern; vieles in seinem Werk gehört Zwischengattungen an. Auffällig ist
zudem, daß er auch den Leser miteinbezog und ansprach. Das hatten
vor ihm gelegentlich zwar auch schon andere getan, Wieland so gut wie
Laurence Sterne; Jean Paul gehörte ebenfalls zu denjenigen, die so die
alte geschlossene Form des Romans durchbrachen. Aber bedeutsamer
als dieses (und wir wollen gleich hinzusetzen: zukunftsträchtiger) ist die
Auflösung der Handlung in eine lockere Reihung von Geschehnissen −
die eigentliche erzählerische Einheit Reuters ist die Episode,18 die Vorstellung vom Roman als einem in sich geschlossenen Werk muß man
beiseitelegen. Ein buntes Kaleidoskop tut sich auf, und so wie sein
Werk im Thematischen irgendwo zwischen Idylle (diese freilich nicht
im landläufig-harmlosen Sinne verstanden) und Sozialkritik beheimatet
ist, so ist sein Erzählen zwischen dem Typus aneinandergereihter Abenteuer und der Darstellung vor allem von Figuren angesiedelt: Menschen
sind die eigentlichen Zentren seiner Romane und Verserzählungen und
nicht Handlungen, und Reuter ist ihr Souverän. Eine geschlossene
Form im Sinne eines Ganzen gibt es so gut wie nirgendwo mehr, sie
würde der Heterogenität der Welt nicht mehr entsprechen.
Und weil dem so ist, verstehen wir auch die starke Dialogisierung
seiner Romane. Was immer geschieht, geschieht quasi im Gespräch, die
Grenzen zwischen Drama und Erzählung sind überall durchlöchert,
seine Romane sind, wenn man so will, Gesprächsromane, seine Domäne ist das Kolloquiale, was freilich nicht besagen soll, daß da nicht auch
noch ein traditionelles Erzählen zu finden wäre. Aber für Reuter ist das
Dialogische viel charakteristischer. Es kommt überall darauf an, was
besprochen und wie gesprochen wird. Im Gespräch sind die einzelnen
sozialen Schichten anwesend, da werden die Beziehungen zwischen
ihnen zu Geschichten, da erscheinen höchst unterschiedliche Zeitgenossen mit ihren Stärken und in ihren Schwächen, da sind die Besitzenden und da sind die Habenichtse − sie treten gegeneinander an, und
hier und da zeichnet sich eine mögliche Konfrontation ab. Aber sie
schlagen nicht aufeinander los: die Welt der Kunst ist nicht die Welt
sozialer Auseinandersetzungen. Die Welt bleibt widerspruchsvoll, aber
18 Zum Episoden-Stil des Reuterschen Erzählens schon Martini: Bürgerlicher Realismus, S. 470 und ausführlich Gerhard Schmidt-Henkel: Zwei Kapitel Fritz Reuter: Episodisches und bildhaftes Erzählen. Niederdeutsche Literatur zwischen bürgerlicher Idylle und Leidensgeschichte, in: Germanistische Streifzüge, Festschrift für Gustav Korlén, hg. von Gert Mellbourn u. a., Stockholm 1974 [= Acta Universitatis Stockholmiensis 16], S. 222-237.
314
Fritz Reuter
die Kunst relativiert, und vieles ist eigentlich nur in doppelter, manchmal sogar in vielfacher Optik zu betrachten. Das war nicht Reuters
ausdrückliches Programm einer literarischen Modernität, aber es will
uns heute so scheinen, als sei er auch darin einer ihrer Vorreiter gewesen. Denn was die doppelte Optik angeht: da war nicht nur Nietzsche,
da war auch Reuter ein Lehrer desjenigen, der dieses Erzählen später
aufs virtuoseste praktiziert hat: Thomas Mann. Aber nicht einmal der
hat zu einer Formulierung gefunden wie Onkel Bräsig, der die doppelte
Optik selbst sprachlicher Wendungen unnachahmlich auf seine Art
kommentiert, wenn er zu Fremd- und Lehnworten sagt: „Mit die ausländschen Wörter ist das was besonders, der eine benennt sie so, der
andere so“. Onkel Bräsig weiß freilich um das Kuriose seines Sprachgebarens, und Reuter sagt über ihn: „Bräsig wüßt recht gaud, dat hei
allerlei dummes Tüg mit de Frömdwürd’ anrichten ded“.19
Die ältere Literatur hat Reuter festgelegt auf das „GenrehaftZuständliche, Idyllisch-Komische“, auf seine „witzigen Pointen“ − da
habe seine Begabung gelegen, „nicht im Erfinden von Fabel und Handlung“20 − dabei „intime Lebensnähe und unliterarische Volkstümlichkeit, die sich am Einfältigen freute und mit ihm spielte“.21 Und was
Reuter dem „Eigenstil der Sprache“ hinzugefügt habe, das seien
„Stimmung, Humor, das Idyllisch-Behagliche, der Witz der Situationsund Sprachpointen“ gewesen, sei „schließlich die humane Grundstimmung, die ein Maß zwischen Ernst und Scherz, Rührung und Witz,
Humor und Traurigem, Derbheit und Zartem, Drastischem und Lyrischem hielt“.22 Das mag nicht ganz falsch sein, aber darum ist es noch
lange nicht richtig: denn da wird Reuter wieder eingemauert in die Idyllen-Welt, in die Behaglichkeit des 19. Jahrhunderts, ins Biedermeierliche. Und wir lesen mit einigem Unbehagen, daß seine „Naivität, die
sich mittels der Mundart abschirmte, auch eine sehr deutliche Grenze,
eine Verengung im Provinziellen oder Subjektiven, im nur Sentimentalen oder nur Humorigen“ bedeutet habe.23 Doch da sehen wir heute
schärfer hin. Reuter war in politicis gewiß kein Revolutionär, aber befreit
man ihn vom Zuckerguß einer wohlwollenden, harmonisierenden Deu19
20
21
22
23
Reuter (wie Anm. 1), Bd. 5, S. 316.
Martini (wie Anm. 18), S. 470.
Ebd., S. 471.
Ebd., S. 475.
Ebd., S. 473.
Fritz Reuter
315
tung, kommt durchaus Revolutionäres, tief Beunruhigendes, Verrätseltes zutage, oder sagen wir vielleicht besser: etwas außerordentlich Modernes. Von Naivität kann keine Rede sein. Auch literarisch ist er ein
stiller, aber hartnäckiger Revolutionär: da hat er kühn alte Grenzen
niedergerissen, überalterte, lebensunwahr gewordene Aussageformen
aufgesprengt − ganz unpathetisch, aber um so glaubwürdiger. Und mit
Langzeitwirkung.
Sich selbst hat Reuter in kleinerem Format gesehen, er schrieb zu Ut
mine Stromtid:
Ich bin kein Dichter, der Epoche macht, kein genialer Mann, der Einfluß auf
die Fortbildung der deutschen Literatur ausübt; mein ganzes Geheimnis besteht in dem Glück, den Ton getroffen zu haben, der unten und oben, beim
Volk und bei den Gebildeten, zugleich anklingt.24
Da hat er sich aber doch gründlich unterschätzt. Kein geringerer als
Thomas Mann hat ihn genannt, wenn von Einflüssen die Rede war: er
hat zu den Buddenbrooks gesagt: „Der deutsche Einfluß ist wunderlich
zusammengesetzt: aus dem niederdeutsch-humoristischen und dem
episch-musikalischen Element, − er kam von Fritz Reuter und Richard
Wagner“.25 Die Mutter, so berichtet er aus seiner Kindheit, habe aus
Reuters Erzählungen vorgelesen, „und mit unendlichem Vergnügen
folgte ich den Kapiteln des ersten Romans, der sich, breit und humoristisch, vor meinem inneren Auge aufbaute: der ‚Stromtid‘. Die ‚Buddenbrooks‘ lassen, glaube ich, merken, daß ich damals gut zugehört
habe“.26 Zu den Buddenbrooks hat er später noch einmal bekräftigend
bemerkt, daß deren Quellen und Ingredienzien nicht allein Schopenhauer und Wagner, der französische, russische und englische Roman
gewesen seien, „sondern nicht zuletzt der niederdeutsche Humor, der
sich ausdrückt in dem Werk Fritz Reuters, einem der ersten literarischen Eindrücke, der mir überhaupt zuteil wurde und der in diesem
Buch sehr stark nachwirkt“.27 Und man darf vermuten, daß es noch
mehr Reuter im Werk seines Bruders Heinrich gibt: von den plattdeutschen Redewendungen im Professor Unrat bis zur Dialogisierung des
Erzählens, stärker noch und durchgängiger als bei Thomas Mann. DarReuter (wie Anm. 1), Bd. 8, S. 403 (Brief vom 31. 10. 1862).
Thomas Mann: Gesammelte Werke in dreizehn Bänden, Frankfurt am Main 1974,
Bd. XII, S. 89.
26 Thomas Mann (wie Anm. 25), Bd. XI, S. 421.
27 Ebd., S. 803.
24
25
316
Fritz Reuter
über hat sich noch niemand hergemacht, aber es wäre eine Untersuchung wert. So wie es sich wohl auch lohnen würde, nach inneren Beziehungen Reuters zum großen Analysten der Wirklichkeit im 19. Jahrhundert, zu Schopenhauer, zu fragen.
Thomas Mann hat Fritz Reuter noch verschiedentlich erwähnt, vor
allem Ut mine Stromtid, aber eine ganz besondere kleine Huldigung findet sich in einer Erzählung Thomas Manns, in Herr und Hund. Thomas
Manns Hund heißt Bauschan, und Bauschan begegnet uns in Ut mine
Stromtid als Hund Jochen Nüßlers. Gäbe es eine schönere kleine Hommage als diese Namensnennung? „Transliterarizität“ pflegt man das
heute ebenso modern wie großspurig zu nennen. Aber es ist nur und
vor allem eine versteckt-offene Reverenz eines großen deutschen Erzählers, der auch Humorist war, vor einem großen Humoristen, der
auch ein Erzähler war, ein Erzähler aus Mecklenburg.
V E RZ E I CH N I S
DER
E R S T V E R Ö F F E N T LI CH U N G E N
Goethe, Faust und die Aufklärung. Zur Klärung einiger zentraler Begriffe,
in: Translation as cultural Praxis. Goethe Society of India, Yearbook
2007, S. 156-182.
Marschländer vor Sandgebirge? Zu Fausts letzter Vision. In: Hermenautik −
Hermeneutik. Literarische und geisteswissenschaftliche Beiträge zu
Ehren von Peter Horst Neumann. Hg. von Holger Helbig u. a., Würzburg 1996, S. 85-93.
Der Dichter als Kunstrichter. Zu Schillers Rezensionsstrategie. In: Jahrbuch der
Deutschen Schillergesellschaft 20, 1976, S. 192-216.
Denken in Bildern. Zu Schillers philosophischem Stil. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 30, 1986, S. 218-250.
Schiller. Die Dämonie der Natur und die Kehrseite des aufgeklärten Denkens. In:
Schillers Natur. Leben, Denken und literarisches Schaffen. Hg. von
Georg Braungart und Bernhard Greiner [= Zeitschrift für Ästhetik und
Allgemeine Kunstwissenschaft. Sonderheft 6], Hamburg 2005, S. 177189.
Schiller und Kleist. In: Aurora. Jahrbuch der Eichendorff-Gesellschaft 50,
1990, S. 127-143.
Ein Menschheitstraum ausgeträumt. Kleists „Das Erdbeben in Chili“ und das
Ende der Aufklärung. In: Festschrift für Hans Vilmar Geppert. Hg. von
Werner Frick, Fabian Lampart und Bernadette Malinowski, Tübingen
2006, S. 141-154.
Kleists „schneller Stil“. Zur Modernität seines Schreibens. In: Grenzgänge.
Studien zur Literatur der Moderne. Festschrift für Hans-Jörg Knobloch. Hg. von Helmut Koopmann und Manfred Misch, Paderborn
2002, S. 39-57.
318
Verzeichnis der Erstveröffentlichungen
Heines verkannte ‚Aphorismen‘ und ‚Fragmente‘. Literarische Fehlurteile und Überlegungen zu deren Revision. In: Heine-Jahrbuch 1981,
S. 90-107.
Heines ‚Millennium‘ und Eichendorffs ‚Alte schöne Zeit‘. Zur Utopie
im frühen 19. Jahrhundert. In: Aurora. Jahrbuch der EichendorffGesellschaft 37, 1977, S. 33-50.
Eichendorff und die Aufklärung. In: Aurora. Jahrbuch der EichendorffGesellschaft 48, 1988, S. 27-42.
Konstruierte Wirklichkeiten. Zu Eichendorffs Lyrik. In: Aurora. Jahrbuch der
Eichendorff-Gesellschaft 70/71, 2010/2011, S. 35-54.
„ … immer fesselnde Lektüre, wenn auch viel Dekoration und die Gefühle überinszeniert“. Zu Hebbels Tagebüchern. In: Hebbel-Jahrbuch
2003, S. 91-112.
Fritz Reuter. Von der Aktualität eines Unzeitgemäßen. In: Fritz Reuter − in
seiner und in unserer Zeit. Hg. im Auftrag der Fritz Reuter Gesellschaft
von Christian Bunners, Ulf Bichel und Jürgen Grote, Rostock 2011,
S. 20-34.
*
Die Aufsätze folgen den hier angegebenen Erstdrucken; Zitate wurden
auf neuere maßgebende Ausgaben umzitiert, Fehler wurden verbessert.