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DAS GESETZ
Frédéric Bastiat, La Loi (1848)
www.bastiat.de
Die Veröffentlichung des folgenden Auszugs erfolgt in Abstimmung mit dem Ott-Verlag, Thun.
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Über den Author:
Claude Frédéric Bastiat (* 30. Juni 1801 in Mugron (Departement Landes) † 24. Dezember 1850 in Rom)
war ein französischer Ökonom und Journalist.
Nach Schule und Studium in Saint-Sever und Sorrèze übernahm Bastiat zunächst das großväterliche
Geschäft. 1825 kehrte er nach Mugron zurück, wo er durch den Tod seines Großvaters ein beträchtliches
Anwesen geerbt hatte. Nach der Julirevolution von 1830 wurde er zum Friedensrichter von Mugron ernannt.
Infolge seines großen Interesses an politischer Ökonomie gab er sich diesem Amt mit voller Kraft hin und trat
dabei für die Freihandel ein. 1841 veröffentlichte er seinen ersten Essay Le fisc et la vigne.
Nachdem er von der Freihandelsbewegung (Manchesterliberalismus, die in England von Richard Cobden
angeführt wurde, gehört hatte, begann er eine langandauernde Korrespondenz mit diesem.
Mit seinem 1844 veröffentlichten Aufsatz L'influence des tarifs anglais et francais im Journal des Economistes
begann sein ruhmvoller Weg als Ökonom. In kurzer Folge erschienen weitere Schriften von ihm, u.a. die
ironische Pétition des marchands de chandelles, die sich gegen die Sonne richtete, weil diese in das Geschäft
der Kerzenhändler eingreife.
1846 gehört Bastiat zu den Mitbegründern der Vereinigung für den Freihandel in Bordeaux und wird Sekretär
des Verwaltungsrates.
Nach der Februarrevolution 1848 wurde er in die konstituierende Versammlung gewählt, später in die
gesetzgebende Versammlung. Hier wurde er zum unerbittlichen Feind des Sozialismus, gegen den er in
mehreren Schriften (u.a. Propriété et loi, Capital et rente, Justice et fraternité, Protectionisme et communisme)
ankämpfte. 1849 veröffentlichte er das Buch Harmonies économiques, das er aus Krankheitsgründen nicht
mehr beenden konnte.
Bastiat war ein Vertreter des Liberalismus und widmete sein Leben der Aufklärung über ökonomische Mythen.
Frédéric Bastiat und seine Schriften sind heute sehr in Vergessenheit geraten, wie folgende Anekdote es
bestens veranschaulicht: Margeret Thatcher hatte bei einer Frankreichreise Bastiat als ihren
Lieblingsökonomen gepriesen, natürlich auch mit der Intention, den französischen Gastgebern zu
schmeicheln. Doch die Schmeichelei verfehlte ihr Ziel, denn Frédéric Bastiat war zu diesem Zeitpunkt völlig
aus dem Bewusstsein der Franzosen geraten.
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Das Gesetz - pervertiert! Das Gesetz - und mit ihm alle kollektiven Gewalten der Nation - das Gesetz, sage
ich, nicht nur von seinem Ziel abgebracht, sondern dazu gebraucht, ein direkt entgegengesetztes Ziel zu
verfolgen! Dass Gesetz als Instrument aller Begehrlichkeiten, anstatt ihr Zügel zu sein! Das Gesetz selbst als
Vollzieher der Ungerechtigkeit, welche zu bestrafen seine Aufgabe war! Sicher, dies ist ein schwerwiegender
Tatbestand, falls er besteht, weswegen es mir erlaubt sein muss, die Aufmerksamkeit meiner Mitbürger auf ihn
zu lenken.
Was ist das Gesetz
Wir erhalten von Gott das Geschenk, das für uns alle anderen einschließt, das Leben - das körperliche,
geistige und moralische Leben. Aber das Leben unterhält sich nicht von selbst. Der es uns gegeben hat, hat
uns die Sorge überlassen, es zu erhalten, es zu entwickeln, es zu vervollkommnen.
Dafür hat er uns mit einer Menge wunderbarer Fähigkeiten versehen; er hat uns in eine Umgebung
unterschiedlichster Elemente geworfen. Durch die Anwendung unserer Fähigkeiten auf diese Elemente
vollzieht sich das Phänomen der Aneignung, des Erwerbs, wodurch das Leben seinen ihm bestimmten Kreis
durchläuft.
Existenz, Fähigkeiten, Aneignung - mit anderen Worten: Persönlichkeit, Freiheit, Eigentum. Siehe: der
Mensch.
Diese drei Dinge sind es, von denen man - abseits von aller demagogischen Gewandtheit - sagen kann, dass
sie aller menschlichen Gesetzgebung vorhergehen und darüber stehen.
Nicht weil die Menschen Gesetze erlassen haben, gibt es Persönlichkeit, Freiheit und Eigentum. Im Gegenteil,
weil Persönlichkeit, Freiheit und Eigentum vorherbestehen, erlassen die Menschen Gesetze.
Was ist also das Gesetz? Wie ich es schon anderswo gesagt habe, ist es die gemeinsame Organisation des
individuellen Rechtes auf legitime Verteidigung.
Jeder von uns hat sicherlich von Natur - von Gott - das Recht, seine Person zu verteidigen, seine Freiheit, sein
Eigentum. Denn dies sind die drei grundlegenden oder bewahrenden Elemente des Lebens, Elemente, die
einander ergänzen, und die man nicht getrennt von einander verstehen kann. Denn was sind unsere
Fähigkeiten, wenn nicht ein Ausfluss unserer Persönlichkeit, und was ist das Eigentum, wenn nicht ein
Ausfluss unserer Fähigkeiten?
Wenn jeder Mensch das Recht hat, seine Person, seine Freiheit, sein Eigentum sogar mit Gewalt zu
verteidigen, so haben mehrere Menschen das Recht, sich abzusprechen, sich zu verständigen, eine
gemeinsame Gewalt zu bilden, um geregelt für diese Verteidigung zu sorgen.
Das kollektive Recht hat daher sein Prinzip, seine Daseinsberechtigung, seine Legitimation im individuellen
Recht; und die gemeinsame Gewalt kann vernünftiger Weise kein anderes Ziel, keine andere Aufgabe haben,
als die isolierten Kräfte, die es ersetzt.
Ebenso wie die Gewalt eines Individuums nicht legitim auf die Person, die Freiheit, das Eigentum eines
anderen Individuums übergreifen kann, kann aus dem selben Grund die gemeinsame Gewalt nicht legitim
angewendet werden, um die Person, die Freiheit, das Eigentum von Individuen oder Klassen zu zerstören.
Denn diese Perversion der Macht wäre, in dem einen wie dem anderen Fall, im Widerspruch mit unseren
Prämissen. Wer wird zu sagen wagen, dass uns die Gewalt gegeben ist, nicht um unsere Rechte zu
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verteidigen, sondern um die gleichen Rechte unseren Brüdern zu verweigern? Und wenn dies für jede
individuelle Gewalt, die isoliert handelt, nicht richtig ist, wie könnte es bei der kollektiven Gewalt wahr sein, die
nur die organisierte Vereinigung isolierter Gewalten ist.
Gerechtigkeit
Wenn also etwas klar ist, dann das Folgende: Das Gesetz ist die Organisation des natürlichen Rechtes auf
legitime Verteidigung, es ist die Ablösung der individuellen Gewalt durch eine kollektive Gewalt, um in dem
Bereich zu handeln, wo die individuelle Gewalt das Recht hat zu handeln, um das zu tun, was jene tun darf,
um Personen, Freiheiten, Eigentum zu garantieren, um jedem sein Recht zu wahren, um zwischen allen die
GERECHTIGKEIT herrschen zu lassen.
Und existierte ein Volk, das auf dieser Basis gegründet ist, dann scheint mir dort Ordnung zu herrschen, in
Taten wie in Gedanken. Es scheint mir, dies Volk hätte die einfachste Regierung, die billigste, am wenigsten
drückende, am wenigsten spürbare, am wenigsten verantwortliche, die gerechteste, und folglich stabilste, die
man sich vorstellen kann, was auch immer im Übrigen ihre Staatsform wäre.
Denn unter einer solchen Herrschaft verstünde jeder wohl, dass er die ganze Fülle wie auch die ganze
Verantwortung seiner Existenz innehat. Wenn nur die Person respektiert wäre, die Arbeit frei und die Früchte
der Arbeit gegen jeden ungerechten Zugriff gesichert, hätte niemand mit dem Staat zu schaffen. Im Glück
freilich hätten wir nicht ihm für unseren Erfolg zu danken, das ist wahr; aber im Unglück rechneten wir unsere
Niederlagen genauso wenig ihm zu, wie unsere Bauern ihm den Hagel oder den Nachtfrost zuschreiben. Wir
würden ihn nur durch das unschätzbare Gut der SICHERHEIT kennen.
Man kann auch versichern, dass sich - weil der Staat nicht in die privaten Angelegenheiten eingreift - die
Bedürfnisse und Befriedigungen in natürlicher Weise entwickeln würden. Man würde keine armen Familien
nach literarischer Unterrichtung streben sehen, bevor sie Brot haben. Man würde nicht die Stadt sich auf
Kosten des Landes oder das Land sich auf Kosten der Städte bevölkern sehen. Man würde nicht diese großen
Fehlleitungen von Kapital, von Arbeit, von Bevölkerung sehen, die durch gesetzliche Maßnahmen
hervorgerufen werden, Fehlleitungen, die selbst die lebenswichtige Versorgung so unsicher, so heikel machen
und dadurch die Regierungen mit so außerordentlich schwerer Verantwortung belasten.
Unglücklicherweise hat sich das Gesetz nicht auf seine Rolle beschränkt. Es hat sich davon nicht einmal nur in
neutraler und diskutabler Absicht entfernt. Es hat Schlimmeres getan: Es hat seinem eigenen Zweck entgegen
gehandelt; es hat sein eigentliches Ziel zerstört; es hat sich verwenden lassen, die Gerechtigkeit zu
verweigern, die es zur Geltung bringen sollte, jene Grenze zwischen den Rechten auszulöschen, der es
Respekt verschaffen sollte; es hat die kollektiven Gewalt denen dienstbar gemacht, die ohne Risiko und ohne
Skrupel die Person, die Freiheit oder das Eigentum der anderen ausbeuten wollen; es hat den Raub in Recht
verwandelt, um ihn zu schützen, und die legitime Verteidigung in ein Verbrechen, um es zu bestrafen.
(Es folgen Ausführungen über die Perversion des Gesetzes, den primitiven Egoismus, das allgemeine
Wahlrecht und gesellschaftliche Zerrüttung, welche aus dem pervertierten Gesetz hervorgeht.) ...
Fehlgeleitete Philanthropie
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[... ] Gibt es abseits der Gerechtigkeit - die, wie wir gesehen haben, nur eine wahrhafte Negation ist - eine
gesetzliche Regelung, die nicht das Prinzip des Raubes einschlösse?
Sie sagen: "Da sind Arme," - und Sie wenden sich an das Gesetz. Aber das Gesetz ist keine Brust, die sich
von selbst füllt, oder deren Milchdrüsen sich anderswo als in der Gesellschaft füllen. Es fließt nichts in den
Staatshaushalt, zu Gunsten eines Bürgers oder einer Klasse, als was andere Bürger und andere Klassen
gezwungen waren dort hineinzugeben. Wenn jeder nur das Äquivalent dessen entzöge, was er hineingetan
hat, dann ist Ihr Gesetz freilich nicht räuberisch, aber es tut nichts für die Armen, es tut nichts für die
Gleichheit. Es kann nur insoweit Instrument der Gleichstellung sein, als es den einen nimmt, um anderen zu
geben, und dann ist es ein Instrument des Raubes. Untersuchen Sie aus diesem Gesichtspunkt den
Schutzzoll, die Förderungsprämien, das Recht auf Gewinn, das Recht auf Arbeit, das Recht auf
Unterstützung, das Recht auf Bildung, die progressive Steuer, den Gratiskredit, Genossenschaftswerkstätten,
immer werden Sie auf dem Grund den legalen Raub finden, die organisierte Ungerechtigkeit.
Sie sagen: "Da sind Menschen ohne Bildung," - und Sie wenden sich an das Gesetz. Aber das Gesetz ist
keine Fackel, die weithin ein ihr eigenes Licht verbreitet. Es beruht auf einer Gesellschaft, wo es Menschen
gibt, die wissen, und andere, die nicht wissen; Bürger, die das Bedürfnis haben zu lernen, und andere, die
bereit sind zu lehren. Es kann von zwei Dingen nur eines tun: entweder diese Art von Transaktionen sich frei
vollziehen lassen, sich diese Art Bedürfnisse frei befriedigen lassen; oder den Willen der Menschen
bezwingen, und von den einen nehmen, um die Lehrer zu bezahlen, die man einstellt, die anderen zu
unterrichten. Aber es kann im zweiten Fall nichts tun, was nicht ein Angriff auf Freiheit und Eigentum wäre, ein
gesetzmäßiger Raub.
Sie sagen: "Da sind Menschen ohne Moral und Religion," - und Sie wenden sich an das Gesetz. Aber das
Gesetz ist die Gewalt, und muss ich noch sagen, was für ein grausames und wahnsinniges Unternehmen es
ist, Gewalt in diese Dinge eingreifen zu lassen?
Am Ende seiner Systeme und seiner Bemühungen scheint der Sozialismus, wie selbstgefällig er auch sein
mag, nicht umhin zu können, das Monströse des legalen Raubes zu sehen. Aber was macht er? Er verkleidet
es geschickt für alle Augen, selbst für seine eigenen, unter den verführerischen Namen von Brüderlichkeit,
Solidarität, Organisation, Vereinigung. Und weil wir nicht so viel von dem Gesetz erwarten, weil wir von ihm
nur Gerechtigkeit verlangen, so unterstellt er, dass wir die Brüderlichkeit zurückweisen, die Solidarität, die
Organisation, die Vereinigung und wirft uns das Schimpfwort Individualisten an den Kopf.
Wisse er also, dass wir nicht die natürliche Organisation zurückweisen, sondern die erzwungene; nicht die
freiwillige Vereinigung, sondern die Formen der Vereinigung, die er uns auferlegen will; nicht die spontane
Brüderlichkeit, sondern die gesetzlich vorgeschriebene Brüderlichkeit; nicht die Solidarität der Vorsehung,
sondern die künstliche Solidarität, die nur ein ungerechter Ersatz für Verantwortung ist.
Der Sozialismus, wie die alte Politik, aus der er hervorgegangen ist, vermengt die Regierung und die
Gesellschaft. Darum schließt er jedesmal, wenn wir nicht wollen, dass die Regierung etwas tut, dass wir
wollen, dass es überhaupt nicht getan wird. Wir weisen die staatliche Bildung zurück, also wollen wir keine
Bildung. Wir weisen eine Staatsreligion zurück, also wollen wir keine Religion. Wir weisen die staatliche
Gleichmacherei zurück, also wollen wir keine Gleichheit; usw. Dies ist, als ob er uns anklagte, wir wollten
nicht, dass Menschen essen, weil wir den staatlichen Weizenanbau ablehnen.
Wie hat sich in der politischen Welt die verschrobene Idee durchsetzen können, aus dem Gesetz abzuleiten,
was nicht darin ist: Das Wohl, positiv definiert, der Reichtum, die Wissenschaft, die Religion?
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Die Publizisten
Die modernen Publizisten, besonders die der sozialistischen Schule, gründen ihre verschiedenen Theorien auf
eine gemeinsame Hypothese - sicherlich die merkwürdigste, die abstruseste, die einem Menschen in den Sinn
kommen kann.
Sie teilen die Menschheit in zwei Teile. Die Gesamtheit der Menschen minus eins bildet den ersten Teil, der
Publizist ganz allein den zweiten und bei weitem wichtigsten Teil.
Als erstes nehmen sie tatsächlich an, dass die Menschen in sich weder Initiative noch Erkenntnis haben. Sie
sind ohne Antrieb, sie sind träge Masse, passive Moleküle, Atome ohne Spontaneität, bestenfalls ein gegen
die eigene Lebensweise gleichgültiges Gewächs, fähig unter einem äußeren Willen und einer äußeren Hand
unendlich viele mehr oder weniger symmetrische, künstliche, perfekte Formen anzunehmen.
Daraufhin nimmt jeder von ihnen ohne weiteres an, dass er selbst, unter den Namen des Organisators,
Aufklärers, Gesetzgebers, Vorstehers, Gründers, jener Wille und jene Hand ist, jene allgemeine Antrieb, jene
schaffende Kraft, deren erhabene Aufgabe es ist, diese verstreute Materie - die Menschen - in einer
Gesellschaft zu vereinigen.
Ausgehend von dieser Voraussetzung schneidet - wie jeder Gärtner nach Laune seine Bäume in Pyramiden,
in Sonnenschirme, in Würfel, in Kegel, in Vasen, in Spaliere, in Spindeln, in Fächer schneidet - der Sozialist
nach seiner Chimäre die arme Menschheit in Gruppen, in Serien, in Zentren, Unterzentren, in Zellen, in
Genossenschaftswerkstätten, harmonische, kontrastierende, usw., usw.
Und ebenso wie der Gärtner, um die Bäume zu beschneiden, Äxte, Sägen, Rebmesser und Scheren braucht,
braucht der Publizist, um seine Gesellschaft zurechtzustutzen, Gewalten, die er nur in den Gesetzen finden
kann - Zollgesetz, Steuergesetz, Sozialfürsorgegesetz, Bildungsgesetz.
So selbstverständlich betrachten die Sozialisten die Menschheit als Material für soziale Kombinationen, so
dass, wenn der Erfolg dieser Kombinationen nicht ganz sicher scheint, sie zumindest eine Parzelle der
Menschheit als Experimentierfeld fordern: Es ist bekannt, wie populär unter ihnen die Idee ist, alle Systeme
auszuprobieren. Einer ihrer Führer forderte sogar ernsthaft von der verfassungsgebenden Versammlung eine
Gemeinde mit allen ihren Einwohnern, um seinen Versuch zu durchzuführen.
Ebenso baut jeder Erfinder seine Maschine im Kleinen, bevor er sie im Großen baut. Ebenso opfert der
Chemiker einige Reagenzien, der Bauer einige Samen und eine Ecke seines Ackers, um eine Idee zu
erproben.
Aber welch unmessbarer Abstand zwischen dem Gärtner und seinen Bäumen, dem Erfinder und seiner
Maschine, dem Chemiker und seinen Substanzen, zwischen dem Bauern und seinen Samen! - Der Sozialist
glaubt allen Ernstes, dass ihn derselbe Abstand von der Menschheit trennt.
Kein Wunder, dass die Publizisten des neunzehnten Jahrhunderts die Gesellschaft für das künstliche
Erzeugnis des Genies des Gesetzgebers halten.
Diese Idee, Frucht der klassischen Erziehung, hat alle Denker, alle großen Schriftsteller unseres Landes
beherrscht. Alle haben zwischen der Menschheit und dem Gesetzgeber das selbe Verhältnis gesehen, wie es
zwischen Lehm und Töpfer besteht.
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Die Klassiker
Mehr noch, wenn sie zugaben, im Herzen des Menschen eine Initiative zu erkennen, in seiner Intelligenz
Urteilsfähigkeit, haben sie gedacht, dass Gott ihm damit eine verhängnisvolle Gabe beschert hätte, und dass
die Menschheit unter dem Einfluss dieser beiden Antriebe schicksalhaft zu ihrem Verfall neige. Sie haben
tatsächlich vorausgesetzt, dass die Menschheit, ihren Neigungen überlassen, sich nur mit Religion
beschäftige, um zum Atheismus abzugleiten, mit der Wissenschaft, um zur Unwissenheit zu gelangen, mit
Arbeit und Tausch, um im Elend zu vergehen.
Glücklicherweise - nach diesen selben Schriftstellern - gibt es gewisse Menschen, Regierende und
Gesetzgeber genannt, die vom Himmel nicht nur für sich selbst sondern für alle anderen entgegengesetzte
Neigungen empfangen haben. Während die Menschheit zum Übel neigt, streben sie zum Guten, während die
Menschheit in die Finsternis schreitet, erstreben sie das Licht, während die Menschheit zum Laster
hingezogen ist, werden sie von der Tugend angezogen. Und auf Grund dieser Voraussetzung fordern sie
Gewalt, die es ihnen ermöglichen soll, ihre eigenen Neigungen an die Stelle der Neigungen der Menschheit zu
setzen.
Man braucht nur beinahe zufällig ein Buch über Philosophie, Politik oder Geschichte zu öffnen, und man wird
sehen, wie tief in unserem Land die Idee verwurzelt ist - Tochter klassischer Studien und Mutter des
Sozialismus -, dass die Menschheit eine leblose Masse sei, die von der Macht das Leben, die Organisation,
die Moral und den Reichtum empfängt; oder, was noch schlimmer ist, dass die Menschheit von sich aus zu
ihrem Verfall neigt und auf dieser schiefen Bahn nur durch die mysteriöse Hand des Gesetzgebers
aufgefangen wird. Immer zeigt uns der klassische Konventionalismus hinter der passiven Gesellschaft eine
okkulte Macht, die unter den Namen Gesetz, Gesetzgeber, oder unter jenem bequemeren und vageren
Ausdruck MAN, die Menschheit bewegt, bereichert, und moralisiert.
BOSSUET. "Eines der Dinge, die MAN (wer?) dem Geist der Ägypter am stärksten einprägte, war die Vaterlandsliebe... Es war nicht
erlaubt, unnütz für den Staat zu sein; das Gesetz wies jedem seine Arbeit zu, die sich vom Vater auf den Sohn übertrug. Man konnte
weder zwei haben noch die Arbeit wechseln... Aber es gab eine Beschäftigung, an der alle teilhaben mussten. Dies war das Studium
der Gesetze und der Weisheit. Die Unkenntnis der Religion und der Staatsordnung wurden in keinem Stande entschuldigt. Im
Übrigen hatte jeder Berufsstand seinen ihm zugeordneten Bezirk (von wem?)... Unter guten Gesetzen war das Vorzüglichste, dass
jedermann in der Gesinnung aufgezogen war (von wem?), sie zu befolgen... Ihre Merkuren haben Ägypten mit wunderbaren
Erfindungen erfüllt und haben es im Lande an fast nichts fehlen lassen, was das Leben angenehm und ruhig machen könnte."
So zogen die Menschen nach Bossuet nichts aus sich: Patriotismus, Reichtum, Tätigkeit, Weisheit,
Erfindungen, Arbeit, Wissenschaften, alles kam ihnen aus der Betätigung der Gesetze oder der Könige. Sie
mussten sich nur gehen lassen. Sogar an dem Punkt, wo Diodor die Ägypter anklagte, den Kampf und die
Musik zurückzuweisen, verbessert ihn Bossuet. Wie kann das sein, sagt er, wo doch diese Künste von
Trismegistus erfunden worden sind?
...
MONTESQUIEU. "Um den Geschäftsgeist zu erhalten, müssen alle Gesetze ihn begünstigen; müssen dieselben Gesetze, durch
ihre Verfügungen die Vermögen in dem Maß aufteilen, wie der Handel sie vermehrt, indem sie jedem armen Bürger ein
hinreichendes Auskommen geben, damit er arbeiten kann wie die anderen, und jeden reichen Bürger in solcher Mittelmäßigkeit
halten, dass er arbeiten muss, um zu bewahren oder dazuzugewinnen..."
So verfügen die Gesetze über alle Vermögen.
" Wenn auch in der Demokratie die reale Gleichheit die Seele des Staates ist, ist sie gleichwohl so schwierig zu etablieren, dass eine
extreme Genauigkeit hierin nicht immer angebracht ist. Es genügt, dass MAN einen Grundzins einrichtet, der die Unterschiede
vermindert oder in einem gewissen Grad hält. Danach kommt es besonderen Gesetzen zu, die Ungleichheit durch Zahlungen, die
sie den Reichen auflasten und Erleichterungen, die sie den Armen zugestehen, sozusagen auszugleichen..."
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Da ist sie wieder, die Angleichung der Vermögen durch das Gesetz, durch die Gewalt.
...
"Wer ähnliche Institutionen einrichten will, wird die Gütergemeinschaft der Platonischen Republik einrichten: den Respekt, den er für
die Götter forderte; die Trennung von den Fremden zur Wahrung der Sitten; dass die Stadt den Handel macht und nicht die Bürger.
Er wird uns Künste geben ohne unseren Luxus und unsere Bedürfnisse ohne unsere Begierden."
Die volksübliche Schwärmerei mag noch so sehr schreien: Das ist von Montesquieu, also ist es großartig! Das
ist erhaben! Ich habe Mut zu meiner Meinung und zu sagen:
Was! Sie haben die Stirn das schön zu finden!
Aber das ist abstoßend! scheußlich! Und diese Auszüge, die ich vervielfachen könnte, zeigen, dass nach der
Vorstellung von Montesquieu Personen, Freiheiten, Besitztümer, die ganze Menschheit nur geeignete
Materialien sind, die Weisheit des Gesetzgebers anzuwenden.
ROUSSEAU. Obwohl dieser Publizist, die höchste Autorität der Demokraten, das soziale Gebäude auf dem
Allgemeinen Willen gründet, hat niemand so vollständig wie er die gänzliche Passivität der Menschheit
gegenüber dem Gesetzgeber vorausgesetzt.
"Wenn es wahr ist, dass ein großer Fürst ein seltener Mensch ist, wie verhält es sich erst mit einem großen Gesetzgeber? Der
erstere muss nur dem Modell folgen, dass der andere vorschlagen muss. Der eine ist der Ingenieur, der die Maschine entwirft, der
andere nur der Arbeiter, der sie montiert und zum Laufen bringt."
Und was sind die Menschen bei alldem? Die Maschine, die man montiert und die läuft, oder eher das
Rohmaterial, aus dem die Maschine gemacht ist!
So besteht zwischen dem Gesetzgeber und dem Fürsten, zwischen dem Fürsten und den Untertanen das
selbe Verhältnis, wie zwischen dem Landwirtschaftsexperten, dem Bauern und der Ackerscholle. In welcher
Höhe über der Menschheit schwebt also der Publizist, der die Gesetzgeber regiert und sie in diesen
befehlerischen Worten ihr Gewerbe lehrt:
"Wollen Sie dem Staat Zusammenhalt geben? Nähern sie die Extreme an, soweit es möglich ist. Dulden Sie weder Steinreiche noch
Lumpenpack.
Ist der Boden uneben oder unfruchtbar oder das Land zu eng für die Einwohner, dann wendet Euch der Industrie und den Künsten
zu, deren Produktion Ihr gegen die Waren, die Euch fehlen, tauschen werdet... Fehlen Euch auf gutem Boden die Einwohner, dann
wendet Eure Sorgen der Landwirtschaft zu, die die Menschen vermehrt, und verjagt die Künste, die nur die Entvölkerung des
Landes vollenden... Hat Euer Land ausgedehnte und leicht zugängliche Ufer, so bedeckt das Meer mit Schiffen, Ihr werdet eine
glänzende und kurze Existenz haben. Umspült das Meer an Euren Küsten nur schroffe Felsen, bleibt barbarisch und nährt Euch von
Fischen. Ihr werdet dabei ruhiger leben, besser vielleicht, und ganz sicher glücklicher. Mit einem Wort, außerhalb der Maximen, die
allen gemeinsam sind, hat jedes Volk eigene Bedingungen, die es in einer besonderen Weise ordnen und seiner Gesetzgebung ihre
Besonderheit nur für dieses Volk geben. So hatten einstmals die Hebräer und neulich die Araber die Religion zum ersten Prinzip, die
Athener die Bildung, Karthago und Tyrus den Handel, Rhodos die Marine, Sparta den Krieg und Rom die Tugend. Der Autor vom
Geist der Gesetze hat gezeigt, durch welche Kunst der Gesetzgeber die Institution zu jedem dieser Ziele lenkt... Aber wenn der
Gesetzgeber sich in seinem Ziel täuscht und ein anderes Prinzip verfolgt als aus der Natur der Sache hervorgeht: dass das eine zur
Knechtschaft neigt und das andere zur Freiheit; das eine zu Reichtümern, das andere zur Bevölkerung; das eine zum Frieden, das
andere zu Eroberungen, - so wird man die Gesetze sich unmerklich abschwächen sehen, die Verfassung sich ändern, und der Staat
wird mehr und mehr erschüttert werden, bis er zerstört ist oder verändert, und bis die unbesiegbare Natur ihr Reich zurückgewonnen
hat."
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Aber wenn die Natur hinreichend unbesiegbar ist, ihre Herrschaft zurückzugewinnen, warum gibt Rousseau
nicht zu, dass sie keinen Gesetzgeber braucht, um von Anfang an zu herrschen? Warum gibt er nicht zu, dass
die Menschen, wenn sie ihrer eigenen Initiative folgen, sich von selbst an ausgedehnten und zugänglichen
Ufern dem Handel zuwenden werden, ohne dass sich ein Lykurg, ein Solon, ein Rousseau einmischen auf das
Risiko, sich zu täuschen?
Wie dem auch sei, man versteht die schreckliche Verantwortung, die nach Rousseau auf den Erfindern,
Organisatoren, Führern, Gesetzgebern und Manipulatoren der Gesellschaften lastet. Er ist auch gegen sie
sehr anspruchsvoll.
"Wer zu unternehmen wagt, ein Volk zu regeln, muss sich in der Lage fühlen, sozusagen die menschliche Natur zu ändern, jedes
Individuum, das für sich ein vollkommenes und einzigartiges Ganzes ist, zum Teil von einem größeren Ganzen umzubilden, von dem
dieses Individuum, im Ganzen oder zum Teil, sein Leben und sein Sein empfängt; die menschliche Verfassung zu ändern, um sie zu
stärken; eine teilweise und moralische Existenz anstelle der körperlichen und unabhängigen Existenz zu setzen, die wir alle von der
Natur empfangen haben. Er muss, mit einem Wort, dem Menschen seine eigenen Kräfte nehmen, um ihm fremde zu geben..."
Arme Menschheit, was wollten die Anhänger von Rousseau aus deiner Würde machen?
...
Aber, Ihr erhabenen Schriftsteller, lasst Euch herab, Euch gelegentlich zu erinnern, dass dieser Lehm, dieser
Sand, dieser Mist, über den ihr so beliebig verfügt, aus Menschen besteht, Euch ebenbürtig, intelligente und
freie Wesen wie Ihr, die von Gott, wie Ihr, die Fähigkeit erhalten haben, zu sehen, vorzusorgen, für sich selbst
zu denken und zu urteilen!
...
Es gab eine Epoche, wo sich - unter dem Einfluss solcher Lehren, die die Grundlage der klassischen
Erziehung sind - jeder außerhalb und über die Menschheit stellen wollte, um sie nach seiner Laune zu
arrangieren, zu organisieren und einzurichten.
CONDILLAC. "Erhebt Euch, mein Herr, zu einem Lykurg oder Solon. Bevor Ihr die Lektüre dieser Schrift weiterverfolgt, gönnt Euch
das Vergnügen, irgendeinem wilden Volk Amerikas oder Afrikas Gesetze zu geben. Macht diese irrenden Menschen sesshaft; lehrt
sie, Herden zu füttern...; arbeitet daran, die sozialen Qualitäten zu entwickeln, die die Natur in sie gelegt hat... Verordnet ihnen,
anzufangen, die Pflichten der Menschen auszuüben... Vergiftet durch Züchtigungen die Vergnügen, die die Leidenschaften bieten
und Ihr werdet diese Barbaren mit jedem Artikel Eurer Gesetzgebung ein Laster verlieren und eine Tugend annehmen sehen."
...
Es ist nicht überraschend, dass das siebzehnte und achtzehnte Jahrhundert die Menschheit als eine träge
Masse angesehen haben, die alles, Form, Gestalt, Antrieb, Bewegung und Leben von einem großen Fürsten,
einem großen Gesetzgeber, einem großen Genie erwartet und erhält. Diese Jahrhunderte waren erfüllt vom
Studium der Antike, und die Antike bietet uns tatsächlich überall, in Ägypten, in Persien, in Griechenland, in
Rom das Schauspiel einiger Männer, die die Menschheit nach Gutdünken manipulieren, die mit Gewalt oder
Betrug dienstbar gemacht ist. Was beweist das? Eben weil sich Mensch und Gesellschaft vervollkommnen
können, muss sich der Irrtum, die Unwissenheit, der Despotismus, die Sklaverei, der Aberglauben eher zu
Beginn der Zeit häufen. Das Unrecht der Schriftsteller, die ich zitiert habe, ist nicht, das Tatsächliche
festgestellt zu haben, sondern es als Regel vorgeschlagen haben zur Bewunderung und Nachahmung für
zukünftige Völker. Ihr Unrecht ist, unverzeihlich kritiklos und in kindischem Konventionalismus für wahr
genommen zu haben, was undenkbar ist, nämlich die Größe, die Würde, die Moralität und das Wohlbefinden
dieser künstlichen Gesellschaften der alten Welt; nicht verstanden zu haben, dass die Zeit Aufklärung bringt
und verbreitet; dass in dem Maße, wie sich die Aufklärung ausbreitet, die Gewalt vor dem Recht zur Seite tritt
und die Gesellschaft sich selbst in die Hand nimmt.
Und welcher Art ist in der Tat die politische Arbeit, an der wir teilhaben? Sie ist nichts anderes als das
instinktive Streben aller Völker nach Freiheit. Und was ist die Freiheit, dieses Wort, das die Macht hat, alle
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Herzen höher schlagen zu lassen und die Welt zu bewegen, wenn nicht die Gesamtheit aller Freiheiten:
Freiheit des Gewissens, der Lehre, der Vereinigung, der Presse, der Wahl des Wohnsitzes, der Arbeit, des
Handels; mit anderen Worten, die freimütige Ausübung aller harmlosen Fähigkeiten für alle; in noch anderen
Worten, die Zerstörung aller Despotismen, sogar der gesetzmäßigen Despotie, und die Zurückführung des
Gesetzes auf seine einzige vernünftige Zuständigkeit, nämlich die, das individuelle Recht auf legitime
Verteidigung zu regeln oder Ungerechtigkeit abzuwehren.
Dieses Streben der Menschheit ist freilich besonders in unserer Heimat gänzlich behindert von der
verhängnisvollen Neigung aller Publizisten - Frucht klassischer Erziehung - sich außerhalb der Menschheit zu
stellen, um sie zu arrangieren, zu organisieren, und nach ihrer Laune einzurichten.
Denn während die Gesellschaft sich bewegt, um die Freiheit zu verwirklichen, denken die großen Männer, die
sich an ihre Spitze setzen - durchdrungen von den Prinzipien des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts nur daran, sie unter den philanthropischen Despotismus ihrer sozialen Erfindungen zu beugen und sie Rousseaus Ausspruch - fügsam das Joch öffentlicher Glückseligkeit tragen zu lassen, so wie sie es sich
ausgedacht haben.
Die Revolutionäre
Man sah es gut 1789. Kaum war das gesetzmäßige Ancien Regime zerstört, beschäftigte man sich damit, die
neue Gesellschaft anderen künstlichen Einrichtungen zu unterwerfen, immer mit jenem Konsens: der Allmacht
des Gesetzes.
SAINT-JUST. "Der Gesetzgeber gebietet der Zukunft. An ihm liegt es, das Gute zu wollen. An ihm liegt es, die Menschen so zu
machen, wie er sie haben will."
ROBESPIERRE. "Die Aufgabe der Regierung ist es, die körperlichen und moralischen Kräfte der Nation auf das Ziel ihrer Institution
zu lenken."
BILLAUD-VARENNES. "Man muss das Volk neu schaffen, das man der Freiheit überlassen will. Denn man muss alte Vorurteile
zerstören, alte Gewohnheiten ändern, verderbte Emotionen bessern, überflüssige Bedürfnisse beschneiden, eingefleischte Laster
ausrotten. Es braucht also eine starke Tat, einen heftigen Anstoß... Bürger, die unbeugsame Strenge Lykurgs wurde in Sparta zur
unerschütterlichen Basis der Republik, der schwache und vertrauende Charakter Solons stürzte Athen wieder in die Sklaverei. Diese
Parallele enthält die ganze Wissenschaft des Regierens. "
LEPELLETIER. "Wenn ich bedenke, wie entartet die Menschheit ist, bin ich von der Notwendigkeit überzeugt, sie gänzlich
aufzufrischen und sozusagen ein neues Volk zu erschaffen. "
Man sieht, die Menschen sind nur minderwertiges Material. Es ist nicht an ihnen, das Gute zu wollen - sie
können es nicht - es ist Sache des Gesetzgebers, nach Saint-Just. Die Menschen sind nur, was er will, dass
sie sind.
Nach Robespierre, der wörtlich Rousseau kopiert, beginnt der Gesetzgeber damit, der Institution der Nation
das Ziel vorzugeben. Dann brauchen die Regierungen nur noch alle körperlichen und moralischen Kräfte auf
dieses Ziel zu lenken. Die Nation selbst bleibt bei all dem stets passiv, und Billaud-Varennes lehrt uns, dass
sie nur die Vorurteile, Gewohnheiten, Gefühle und Bedürfnisse haben darf, die der Gesetzgeber erlaubt. Er
geht soweit zu sagen, dass die unbeugsame Strenge eines Mannes die Basis der Republik ist.
Wir haben gesehen, dass Mably, falls das Übel so groß ist, dass die gewöhnliche Verwaltung ihm nicht
abhelfen kann, die Diktatur empfiehlt, um die Tugend blühen zu lassen. "Zieht", sagt er, "eine außerordentliche
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Verwaltung heran, deren Amtszeit kurz und deren Macht beträchtlich ist. Die Vorstellungskraft der Bürger
muss dann angestoßen werden." Diese Lehre ist nicht verloren gegangen. Hören wir Robespierre:
"Das Prinzip der republikanischen Regierung ist die Tugend, und ihr Mittel, während sie sich festigt, der Schrecken. Wir wollen in
unserem Land den Egoismus durch Moral ersetzen, die Ehre durch Rechtschaffenheit, die Gewohnheiten durch Prinzipien, die
Wohlerzogenheit durch Pflichten, die Tyrannei der Mode durch das Reich der Vernunft, die Verachtung des Unglücks durch die
Verachtung des Lasters, die Unverschämtheit durch Stolz, die Eitelkeit durch Seelengröße, Geldbegierde durch Ruhmbegierde, gute
Kumpanei durch Rechtschaffenheit, Intrige durch Verdienst, Schöngeist durch Genie, Aufsehen durch Wahrheit, die Langeweile der
Lust durch den Zauber des Glücks, die Kleinlichkeit der Großen durch die menschliche Größe, ein liebenswertes, frivoles, elendes
Volk durch ein großzügiges, mächtiges, glückliches Volk - das heißt alle Laster und Lächerlichkeiten der Monarchie durch alle
Tugenden und Wunder der Republik."
Wie hoch über den Rest der Menschheit hebt sich hier Robespierre! Und bemerken Sie die Umstände unter
denen er spricht. Er beschränkt sich nicht darauf, den Wunsch nach einer großen Erneuerung des
menschlichen Herzens auszudrücken; er hält sich nicht einmal dabei auf, dass sie aus einer geregelten
Regierung hervorgehen soll. Nein, er will sie selbst hervorbringen - und zwar durch Schrecken. Die Rede, aus
der diese kindisch zusammengestoppelte Flut von Antithesen genommen ist, hat zum Ziel, die moralischen
Prinzipien herauszustellen, die eine revolutionäre Regierung leiten müssen. Bemerken Sie, dass Robespierre
nicht nur die Diktatur fordert, um das Ausland zurückzuweisen und die Parteien zu bekämpfen. In Wahrheit will
er durch den Schrecken und - bevor die Verfassung ins Spiel kommt - seine eigenen Prinzipien von Moral
durchsetzen. Sein Anspruch geht nicht weniger weit, als im Lande durch Terror den Egoismus auszurotten,
die Ehre, die Gewohnheiten, die Wohlerzogenheit, die Mode, die Eitelkeit, die Geldgier, die gute Kumpanei,
die Intrige, den Schöngeist, die Lust und das Elend.
Erst nachdem er, Robespiere, diese Wunder vollbracht hat - wie er sie mit Recht nennt -, wird er den
Gesetzen erlauben ihre Herrschaft wiederzugewinnen. - Ach Elende! Ihr glaubt Euch so groß, die Menschheit
so klein, wollt alles reformieren. Reformiert Euch selbst, diese Aufgabe reicht für Euch. ...
Der Glaube an die Unfehlbarkeit des Organisators
Die Ansprüche der Organisatoren rufen eine andere Frage hervor, die ich ihnen oft gestellt habe, und auf die
sie, soweit ich weiß, nie geantwortet haben. Wenn die natürlichen Neigungen der Menschheit so schlecht sind,
dass man ihr die Freiheit nehmen muss, wie kommt es dann, dass die Neigungen der Organisatoren gut sind?
Gehören die Gesetzgeber und ihre Vertreter nicht zur Menschheit? Sind sie denn aus anderem Lehm geknetet
als der Rest der Menschen? Sie sagen, die Gesellschaft müsse, sich selbst überlassen, schicksalhaft in den
Abgrund laufen, weil ihre Instinkte pervers sind. Sie geben vor, sie auf diesem Hang aufzuhalten und ihr eine
bessere Richtung aufzuzwingen. Sie haben also vom Himmel eine Intelligenz und Tugenden bekommen, die
sie außerhalb und über die Menschheit stellen - sollen sie ihre Titel vorweisen. Sie wollen Hirten sein, sie
wollen, dass wir die Herde sind. Dieses Verhältnis setzt bei ihnen eine überlegene Natur voraus, für die wir
wohl das Recht haben, im vorhinein einen Beweis zu fordern.
Beachten Sie: Ich streite ihnen nicht das Recht ab, soziale Kombinationen zu erfinden, sie zu verkünden, zu
ihnen zu raten, sie bei sich selbst, zu ihrem Gewinn und auf ihr Risiko, auszuprobieren. Aber ich streite ihnen
wohl das Recht ab, sie uns über die Vermittlung des Gesetzes - das heißt der öffentlichen Gewalten und
Gelder - aufzuerlegen.
Ich fordere, dass die Cabétisten, Fouriéristen, Proudhonier, Akademiker, Protektionisten nicht ihre besonderen
Ideen aufgeben, sondern jene Idee, die ihnen gemeinsam ist, uns gewaltsam in ihre Gruppen und Klassen zu
zwingen, in ihre Genossenschaftswerkstätten, ihre Gratisbank, ihre griechisch-römischen Moral, ihre
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Fesselung des Geschäftslebens. Was ich von ihnen fordere, ist uns die Möglichkeit zu lassen, ihre Pläne zu
beurteilen und uns nicht in ihre Pläne direkt oder indirekt hineinzuziehen, wenn wir finden, dass diese unsere
Interessen verletzen, oder wenn sie unserem Gewissen zuwiderlaufen.
Denn die Anmaßung, Macht und Steuer eingreifen zu lassen, unterdrückt und raubt nicht nur, sie setzt auch
wieder jenes Vorurteil voraus: Die Unfehlbarkeit des Organisators und die Unfähigkeit der Menschheit.
Und wenn die Menschheit unfähig ist, für sich selbst zu urteilen, was redet man uns dann von allgemeinem
Wahlrecht? …
Was ist das Gesetz
Ich nehme meine These wieder auf und sage: Unmittelbar nach der Ökonomie und am Beginn der Politologie
stellt sich eine beherrschende Frage. Das ist diese:
Was ist das Gesetz? Was muss es sein? Was ist sein Bereich? Was sind seine Grenzen? Wo hören folglich
die Zuständigkeiten des Gesetzgebers auf?
Ich zögere nicht zu antworten: Das Gesetz ist die organisierte kollektive Gewalt, um der Ungerechtigkeit
Widerstand zu leisten; oder kurz: DAS GESETZ IST DIE GERECHTIGKEIT.
Es ist nicht wahr, dass der Gesetzgeber über unsere Personen und unsere Besitztümer absolute Gewalt hat,
denn sie existierten vorher und seine Aufgabe ist es, sie mit Garantien zu umgeben.
Es ist nicht wahr, dass das Gesetz zur Aufgabe hat, unsere Gewissen zu regieren, unsere Ideen, unseren
Willen, unsere Bildung, unsere Gefühle, unsere Arbeit, unseren Handel, unsere Gaben, unsere Genüsse.
Seine Aufgabe ist, zu hindern, dass in einer dieser Angelegenheiten das Recht des Einen in das Recht des
Anderen übergreift.
Das Gesetz, weil es als notwendige Sanktion die Gewalt hat, kann keinen anderen legitimen Bereich haben,
als den legitimen Bereich der Gewalt, nämlich: die Gerechtigkeit.
Und wie jedes Individuum nur das Recht hat, im Falle legitimer Verteidigung auf Gewalt zurückzugreifen, kann
die kollektive Gewalt, die nur eine Vereinigung individueller Gewalten ist, vernünftigerweise nicht zu einem
anderen Zweck angewendet werden.
Das Gesetz ist also nur die Organisation des vorherbestehenden Rechtes zur legitimen Verteidigung.
...
Das Gesetz ist die Gerechtigkeit.
Sehen Sie, was so klar ist, einfach, perfekt definiert und eingegrenzt, jeder Intelligenz zugänglich, jedem Auge
sichtbar, denn die Gerechtigkeit ist eine gegebene Größe, unwandelbar, unveränderbar, die weder mehr noch
weniger zulässt.
Gehen Sie darüber hinaus, machen Sie das Gesetz religiös, brüderlich, angleichend, philanthropisch,
industriell, literarisch, künstlerisch, sofort sind sie im Unendlichen, im Ungewissen, im Unbekannten, in einer
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aufgezwungenen Utopie, oder, was schlimmer ist, in der Vielzahl der Utopien, die darum kämpfen, sich des
Gesetzes zu bemächtigen und sich umzusetzen. Denn die Brüderlichkeit, die Philanthropie haben nicht wie
die Gerechtigkeit feste Grenzen. Wo machen Sie halt? Wo macht das Gesetz halt? Der eine, wie Herr de
Saint-Cricq, wird seine Philosophie nur auf einige industrielle Klassen anwenden, und er wird vom Gesetz
fordern, dass es über die Konsumenten zu Gunsten der Produzenten verfügt . Der andere, wie Herr
Considérant, wird das Anliegen der Arbeiter in die Hand nehmen, und er wird für sie vom Gesetz ein
garantiertes MINIMUM fordern, Kleidung, Wohnung, Nahrung und alle zum Unterhalt notwendigen Dinge . Ein
Dritter, Herr L. Blanc, wird mit Recht sagen, dass dies nur der Anfang der Brüderlichkeit ist und dass das
Gesetz allen Arbeitsmittel und Ausbildung geben muss. Ein vierter wird zur Geltung bringen, dass ein solches
Arrangement noch Ungleichheit Raum lässt und dass das Gesetz in die abgelegensten Weiler Luxus, Literatur
und Künste bringen muss. Sie werden so bis zum Kommunismus kommen, oder eher wird die Gesetzgebung wie sie es jetzt schon ist - das Schlachtfeld aller Träumereien und aller Begehrlichkeiten sein.
...
Das Gesetz ist die Gerechtigkeit.
Und es wäre ganz merkwürdig, wenn es billigerweise etwas anderes sein könnte! Ist nicht die Gerechtigkeit
das Recht? Sind die Rechte nicht gleich? Warum greift dann das Gesetz ein, um mich den sozialen Plänen
der Herren Mimerel, de Melun, Thiers, Louis Blanc zu unterwerfen, statt diese Herrn meinen Plänen zu
unterwerfen? Bin ich denn nicht von der Natur mit genug Vorstellungsvermögen ausgestattet worden, um auch
eine Utopie zu entwerfen? Ist die Rolle des Gesetzes, eine Wahl zu treffen zwischen so vielen Chimären und
die öffentliche Gewalt einer von ihnen dienstbar zu machen?
Das Gesetz ist die Gerechtigkeit.
...
Und unter dem Gesetz der Gerechtigkeit, unter der Herrschaft des Rechts, unter dem Einfluss der Freiheit, der
Sicherheit, der Stabilität, der Verantwortung, wird jeder Mensch zu seinem vollen Wert kommen, zur vollen
Würde seines Wesens, und die Menschheit wird mit Ordnung, mit Ruhe - ohne Zweifel langsam - aber mit
Gewissheit den Fortschritt vorantreiben, der ihre Bestimmung ist.
Freiheit
Es scheint mir, dass die Theorie auf meiner Seite ist. Denn jede Frage, die ich zur Erwägung stelle, ob sie
religiös ist, philosophisch, politisch, ökonomisch; ob es sich um den Wohlstand handelt, um Moral, um
Gleichheit, um Recht, um Gerechtigkeit, um Fortschritt, um Verantwortung, um Solidarität, um Eigentum, um
Arbeit, um Handel, um Kapital, um Löhne, um Steuern, um Bevölkerung um Kredit, um Regierung; an welchen
Punkt am wissenschaftlichen Horizont ich auch den Ausgangspunkt meiner Untersuchungen lege, immer ende
ich unverändert dabei: die Lösung des sozialen Problems liegt in der Freiheit.
Und habe ich nicht auch die Erfahrung für mich? Werfen Sie einen Blick auf den Globus! Welches sind die
glücklichsten Völker, die moralischsten, die friedlichsten? Diejenigen, wo das Gesetz am wenigsten in die
private Tätigkeit eingreift, wo sich die Regierung am wenigsten fühlbar macht, wo die Individualität den
größten Spielraum hat und die öffentliche Meinung am meisten Einfluss, wo die Räderwerke der Verwaltung
am wenigsten zahlreich und am unkompliziertesten sind, die Steuern am wenigsten drückend und am
wenigsten ungleich, die Unzufriedenheiten des Volkes am wenigsten heftig und am wenigsten zu
rechtfertigen, wo die Verantwortung der Individuen und der Klassen am regsamsten ist und wo folglich die
Sitten, wenn sie nicht perfekt sind, unfehlbar danach streben, sich richtigzustellen, wo Transaktionen,
Konventionen, Vereinigungen am wenigsten beschränkt sind, wo die Arbeit, das Kapital, der Glaube an Gott
am meisten in den Erfindungen der Menschen vorwiegt, diejenigen mit einem Wort, die die folgende Lösung
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am besten annähern: in den Grenzen des Rechts, alles über die freie und vervollkommnungsfähige
Spontanität des Menschen, nichts über das Gesetz oder die Gewalt außer der universellen Gerechtigkeit.
Man muss es einmal sagen: Es gibt zu viele bedeutende Männer auf der Welt; es gibt zu viele Gesetzgeber,
Organisatoren, Einrichter von Gesellschaften, Führer des Volkes, Väter der Nation, etc. Zu viele Menschen
stellen sich außerhalb der Menschheit, um sie zu regieren, zu viele Menschen machen einen Beruf daraus,
sich um sie zu kümmern.
...
Gott hat auch in die Menschheit alles gelegt, was sie braucht, um ihre Bestimmung zu erfüllen. Es gibt eine
gesellschaftliche Physiologie der Vorsehung wie es eine menschliche Physiologie der Vorsehung gibt. Die
gesellschaftlichen Organe sind auch ausgelegt, um sich harmonisch zu entwickeln unter der großartigen Luft
der Freiheit. Zurück also Empiriker und Organisatoren! Zurück ihre Ringe, ihre Ketten, ihre Haken, ihre
Zangen! Zurück ihre künstlichen Mittel! Zurück ihre Genossenschaftswerkstätten, ihre kommunistische
Produktionsgemeinschaft, ihr Regulierungswahn, ihre Zentralisierung, ihre Zölle, ihre Beschränkungen, ihre
Moralisierung oder ihre Angleichung durch Steuer! Und da man vergeblich dem gesellschaftlichen Körper so
viele Systeme auferlegt hat, möge man da enden, wo man hätte beginnen sollen, möge man die Systeme
zurückweisen, möge man endlich die Freiheit auf die Probe stellen - die Freiheit, die ein Akt des Glaubens an
Gott und sein Werk ist.
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