Lebenserinnerungen Peter Niehuis
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Lebenserinnerungen Peter Niehuis
Familie Niehuis in Groothusen Auszüge aus den Lebenserinnerungen des Peter Niehuis (1926-1996), zusammengestellt von Hermann Niehuis-Schwiertz Mein Opa Menno Dreesmann auf der Arche (in Oldendorp) hatte zunächst 7 Geschwister: Temmo, Ailt, Gebhard, Bouwine, Gepkea, Elsine und Schwanette. Dann starb seine Mutter Antje Siemens, und sein Vater Tobias Temmen Dreesmann heiratete wieder. Dann bekam Opa Menno noch zwei weitere Geschwister dazu: Tobias und Johanne. Diese Johanne, die kleine Halbschwester von Opa Menno, heiratete später den Kaufmann Jan Bley in Groothusen. Jan Bley war ein tüchtiger Geschäftsmann und anscheinend nicht ganz unbetucht. Das Geschäft umfasste außer dem Laden in der Dorfmitte auch die Gastwirtschaft, die Poststelle und eine Kohlenhandlung. Diese Kohlenhandlung, mit Kutsche, Pferde und Wagen, führte Johannes' Bruder Tobias. Ihre Wohnung hatten Onkel Jan und Tante Hanni (Jan Bley und Ehefrau Johanne) in „de oal Börg“ in Groothusen. Das ist ein uraltes, großes, wunderschönes, total verbautes Haus mit einem großen Garten, das aus Trümmerteilen der mittelalterlichen „Middelburg“ erbaut sein mochte (die Trümmer reichten offenbar auch noch für die heutige „Middelburg“). Onkel Jan und Tante Hanni hatten zwei Töchter: Bia (Tobia) und Henni. Soviel über die Dreesmanns in Groothusen. Mein Großvater Peter Niehuis (geboren am 29.07.1866 in Ihrhove) wurde Lehrer, und das auf die ganz alte Art. Nach seinem eigenen Schulabschluss half er bei seinem Lehrer in der Schule mit, die jüngeren Jahrgänge zu unterrichten und zu beaufsichtigen. Privatstunden in Musik, Latein und Religion (das waren die wichtigsten Fächer) gab ihm derweil der Pastor von Visquard, dem Mutter Geerdje den Haushalt führte. Dann besuchte Peter das Lehrerseminar in Aurich und bekam eine Stelle in Jennelt. Dort lernte er seine Frau, die Pastorentochter Isidore (Dora) Lüpkes kennen und heiratete sie. Nach einer weiteren Stelle in Uttum wurde er 1911 nach Groothusen versetzt, und dort haben wir ja schon einige Bekannte. Opa Peter und Oma Dora brachten 3 Kinder mit nach Groothusen: Gerhard, Marie (Mimi) und Richard. Der kleine Habbo war in Uttum an einer Hirnhautentzündung (Tante Mimi meint, an einem Tumor) gestorben. Die Familie wohnte für eine Übergangszeit (die neue Schule mit Lehrerwohnung war noch nicht ganz fertig) in der Middelburg, dann in der neuen Schule. Dort, keine 50 Meter von Jan Bleys Laden entfernt, wuchsen Gerhard, Mimi und Richard auf. Sie gingen in Groothusen zur Schule, später in Emden zum Gymnasium bzw. zum Lyceum. Familie Niehuis 1911 in Groothusen. Von links: Richard, Marie, Gerhard, Dora, Peter Das Studium der drei Kinder konnte Opa aus eigener Tasche nicht bestreiten, zumal er einen Hausbau angefangen hatte und dann vorzeitig pensioniert werden musste. So nahm er bei einem befreundeten Gönner (Konsul Groenewold) ein Darlehen auf, mit dessen Hilfe Tante Mimi und Onkel Richard studieren konnten. Gerhard, der das Abitur bestanden hatte, war am 24.11.1922 als Landmesser bestallt und am 16.01.1923 als solcher vereidigt worden. Er kann also nur 6 Semester studiert haben, und ich schätze, dass ihn das bei aller Tüchtigkeit in seinem späteren Fortkommen behindert hat. Als Gerhard aber nun nach Abschluss seiner Ausbildung zu Hause war, fiel seiner Mutter sein ungewöhnliches Verhalten auf: er fragte immer wieder, ob sie denn gar nichts zu besorgen, d.h. einzukaufen hätte; und solche Hilfsbereitschaft kannte seine Mutter nicht von ihm. Der Grund seines Verhaltens wurde ihr bald klar: Im Hause von Jan und Johanne Bley war eine junge Verwandte zu Besuch, eine Nichte von Johanne, die älteste Tochter ihres großen Bruders Menno Dreesmann von der „Arche“ in Oldendorp. Sie hieß Anna, war eine hübsche junge Frau von nicht ganz 21 Jahren, und es machte ihr Spaß, in Jan Bley's Lebensmittelladen als Verkäuferin auszuhelfen. Wie mir scheint, verlief die Entwicklung dieser Kontakte schneller, als es Anna recht war. Sie war sich – offenbar zur Silbernen Hochzeit von Peter und Dora Niehuis eingeladen – ihrer Gefühle wohl nicht ganz sicher. Am 24.1. war ihr 21. Geburtstag gewesen. Für den 3.2.1923 war die Feier der Silbernen Hochzeit vorgesehen. Trotz ihrer zwiespältigen Gefühle ist Anna der Einladung gefolgt. Auf dem Familienfoto ist sie jedenfalls dabei. Diese Silberne Hochzeit muss ein ereignisreicher Tag gewesen sein. Zum festlichen Mittagessen kam jedenfalls der größere der beiden Jungens (am linken Flügel des Fotos) mit der Meldung herein „Franz Albert ist in eine Pfütze gefallen.“ „Oh“, sagte man belustigt, „da wird er ja schön aussehen.“ Als der gleiche Junge nach 10 Minuten wieder hereinkam und vermeldete „er ist immer noch nicht wieder raus“, schwante Gerhard Böses. Er stürzte hinaus und fand, dass Franz Albert in der Dobbe (dem Löschwasserteich) schwamm, d.h. eher trieb. Die Rettung versaute ihm den ganzen Festanzug, aber Franz Albert kam mit dem Leben davon. Vielleicht hat ihm dieses Erlebnis seinen Hang zur Marine vermittelt. Er bastelte später Kriegsschiffe, war bei der MarineHitlerjugend und bei der Kriegsmarine. Als Matrose fiel er in Kiel einem Raubmord zum Opfer, um 20,- RM. Ich mochte ihn sehr und hegte vor allen Dingen viel Bewunderung für seine Modellbaukünste. Eine weitere Überraschung gab es am späteren Nachmittag: Man hatte für die Ablage der Garderobe ein eigenes Zimmer reserviert. Als nun ein Gast sich vorzeitig verabschiedet hatte und seine Garderobe holen wollte, scheiterte er an der von innen abgeschlossenen Garderobentür. Der Silberjubilar, Opa Peter Niehuis, wurde zu Hilfe gerufen. Er ahnte Schreckliches und klopfte energisch gegen die Türe. „Sofort aufmachen! Das könnt ihr nicht machen. Das gehört sich nicht.“ Dass Opa sofort den moralischen Aspekt im Auge hatte, war bezeichnend für ihn. Jedenfalls öffnete sich die Türe und Gerhard verkündete dem erstaunten Vater: „Wir haben uns verlobt.“ „Dann grateleer ik ok“ sagte Opa, und der Inhalt des Festes wurde entsprechend erweitert. Gerhard hatte sich mit gelegentlichen Aufträgen über Wasser gehalten. Auf Norderney hat er die (bescheidenen ) militärischen Einrichtungen vermessen. In Groothusen hatte er in den „Armen Negen“ (Neun Grasen, deren Erträge früher der Armenfürsorge des Dorfes gedient hatten) ein Siedlungsgelände ausgemessen, in dem bald auch Opa Niehuis sein schönes Häuschen bauen konnte. Aber nun hatte er eine sichere Stelle in Aussicht. Er wurde Landmesser der Landeskulturverwaltung beim Kulturamt Trier. Jetzt konnten er und Anna ans Heiraten denken. Die materiellen Voraussetzungen waren allerdings denkbar schlecht. Die bescheidenen Ersparnisse waren durch die Inflation vernichtet. Gerhards Eltern waren beim bauen. Annas Eltern hatten 6 Kinder, eines davon schwer behindert (Syben war Epileptiker). Als Hoferbe hatte Opa Menno noch Verpflichtungen an jüngere Geschwister (Rentenzahlungen an zwei Schwestern in Emden). Während der Inflation, als jeder seine Schulden billig los geworden war, hatte Opa über holländische Banken Dollarkredite aufgenommen, die nun verzinst und getilgt werden mussten. Der Landwirtschaft ging es schlecht. Entsprechend bescheiden fiel mit 4000,- RM die Aussteuer aus. Zur Gründung einer Familie gehörte Mut. Das ist wahrscheinlich nie anders gewesen. Nur die Probleme wechseln. Die Hochzeit fand am 28.12.1925 in Oldendorp statt. Es gibt ein schönes Familienfoto. Alle Archsters sind dabei, von den Groothusern Opa, Oma und Onkel Richard. (Anmerkung von H. Niehuis-Schwiertz: Am 17. April 1926 wurde mein Vater, Peter Niehuis, in Trier geboren. Die junge Familie lebte in Trier. 1928 wurde Anna Niehuis wieder schwanger.) Sie muss die spätere Zeit dieser Schwangerschaft wohl in Ostfriesland verbracht haben. Das hing mit Papas beruflicher Entwicklung zusammen. Bisher war er Landmesser beim Kulturamt Trier gewesen. Um „Regierungslandmesser“ zu werden, musste er wohl einen Kursus und ein Staatsexamen absolvieren. Das geschah beim preußischen Landeskulturamt in Düsseldorf, einer Behörde der dortigen preußischen Provinzialregierung, und genau zu dem Zeitpunkt, für den die Niederkunft zu erwarten war. Was sollte Mutter Anna also alleine mit mir in Trier? Dann ging Mutter Anna mit mir nach Groothusen, anscheinend zunächst mit ihrer Mutter zusammen. Geplant war, rechtzeitig zur Geburt nach Emden zu fahren, denn die Geburt sollte in jedem Fall im Krankenhaus stattfinden. Aber der Winter 1928/29 ist ein „Jahrhundertwinter“. Große Schneemengen und eisige Temperaturen, alles kommt zusammen. (Anmerkung von H. Niehuis-Schwiertz: Wegen Schnee und Glatteis wurde es schwierig, rechtzeitig (in Pewsum) ein Taxi nach Emden zu organisieren. In der Gegend von Freepsum wurde dann im Auto das Kind, ein Mädchen, geboren, und erst am Krankenhaustor in Emden abgenabelt. Die nachfolgende Infektion und Krankheit war wahrscheinlich eine Folge der ungewöhnlichen Geburtsumstände. Das Kind wurde „Waltraud Dora Annemarie Therese Niehuis“ getauft. Mutter Anna Niehuis starb am 26. Februar 1929.) Papa stand vor unlösbaren Problemen. Er stand mitten im Examen, das in Düsseldorf stattfand. Zu Hause in Trier hatte er eine Wohnung. Sein Beruf brachte es aber mit sich, dass er fast die ganze Woche über irgendwo in der Eifel oder auf dem Hunsrück bei Vermessungsarbeiten war und auf den Dörfern übernachtete. Er war praktisch nur an den Wochenenden zu Hause. Nun keine Frau im Hause, aber zwei kleine Kinder. Die Großeltern griffen ein. Oma hat später erzählt, sie hätte meiner Mutter versprochen, sich um mich zu kümmern. Die neugeborene Waltraud kam zu den Großeltern auf die Arche nach Oldendorp. Oma und Opa dort hatten eben ihre Tochter Anna verloren. Nun hatten sie wieder ein Kindchen im Hause und das nannten sie „Anna“ im Andenken an ihre eben verlorene Tochter. Ich blieb bei den Großeltern in Groothusen. Die wohnten noch nicht lange in ihrem neuen Hause. Opa war pensioniert. Tante Mimi machte im Rahmen ihrer Berufsausbildung (zur Gewerbelehrerin) ein Praktikum im Krankenhaus in Emden. Onkel Richard studierte Mathematik in Bonn. Ich schätze, dass der Tod meiner Mutter und „dei arm Jung“ noch eine Zeit lang den Stoff für die Dorfgespräche in Groothusen geliefert haben. Ich war 2 ½ Jahre alt, sprach – wie meine Mutter noch geschrieben hatte – fließend Platt und Hochdeutsch. Ich kann nicht ausschließen, dass ich, von Oma und Opa nach Kräften verwöhnt, bald das Wunderkind und der Star von Groothusen wurde. Die Geschichten, die Tante Mimi oft erzählte, lassen darauf schließen. Da war der etwas kurz geratene Herr, den ich in der Kleinbahn fragte „Kleiner Mann, kleiner Mann, fährst du auch nach Pewsum?“ und der ganz logisch antwortete „Wees du man still, Jung! Dien Ootje (deine Oma) is ja ook so lütjet“, womit er freilich recht hatte. Da war die alte Frau in Groothusen, die ich fragte, ob sie die berühmte Hexe wäre, die im Märchen verbrannt würde. Es muss wohl eine gewisse Ähnlichkeit mit der Hexe in meinem Bilderbuch gegeben haben. Da waren die häufigen „Auseinandersetzungen“ mit Opa, der mir gelegentlich einen besonders glänzenden neuen Groschen schenkte. Mit diesem Groschen zogen wir dann zusammen zum nahegelegenen Bahnhof, um dort am Automaten einen Riegel Schokolade zu ziehen. Dort war mir dann allerdings der schöne, neue, glänzende Groschen zu schade und ich bestand darauf, dass Opa seine „ollen“ Groschen in den „Onkel Maat“ werfen sollte. Die seien nicht so schön wie meiner. Häufig genug mussten wir den „Bahnhofsvorsteher“ Wiechert bemühen, wenn der Automat wieder mal nicht funktionierte oder gar leer war. Und da war die Geschichte mit den beiden buckligen Tanten. Opa Dreesmann hatte zwei Schwestern (denen er übrigens eine Rente zahlen musste), die beide einen Buckel hatten (natürlich jede ihren eigenen). Als die nun einmal in Groothusen zu Besuch kamen, wollten die zwar „lüttje Peiter“ sehen; Oma, Opa und Tante Mimi machten sich aber Sorgen, dass ich unziemliche Äußerungen wegen des Buckels von mir geben könnte. So wurde ich vorher von Tante Mimi belehrt und vergattert, so ein „hoher Rücken“ sei eine traurige Sache und man dürfe nicht davon reden, sonst seien die beiden Tanten sehr traurig. Ich kann vorweg sagen, dass ich mich streng an diese Regeln gehalten habe. Die beiden Buckel wurden mit keinem Wort erwähnt. Allerdings fragte ich nach einiger Zeit Tante Mimi, die mich griffbereit zur Seite genommen hatte, „sag mal, Tante Mimi, warum haben die beiden Tanten keinen Hals?“ „Psst, psst, psst“, sagte Tante Mimi leise, „die haben schon einen Hals.“ Damit war fürs erste alles erledigt. Aber einige Zeit später hatte ich einen erhöhten seitlichen Standort besetzt, von dem aus ich mir ein besseres Bild machen konnte. Und von dort aus verkündigte ich dann mit Stentorstimme das Ergebnis meiner Nachforschung: „Und sie haben keinen Hals!“ Dass diese Formulierung stark an Galileo Galileis „und sie bewegt sich doch“ erinnerte, war mir schon früh bewusst. Ich wurde jedenfalls schnellstens entfernt, damit ich keinen weiteren Schaden anrichtete. Es versteht sich, dass jeder, der zu Oma und Opa zu Besuch kam, seinen Tribut an mich entrichten musste, d.h. dass er mir etwas mitbrachte. Wenn Opa dann sanft abwehrend „das tut aber nicht nötig“ sagte, korrigierte ich ihn: „Das tut wohl nötig!“. Mein Umgang waren im Wesentlichen Erwachsene. Mein erster etwa gleichaltriger Spielgefährte war Otto Schweers, der in dem Siedlungshäuschen schrägt gegenüber wohnte und gelegentlich zu uns in den Garten kam. Ich ging nie hinüber zu Schweers. Die Häuschen in den „Armen Negen“ bildeten eine Art Arbeitersiedlung. Opas und Omas Haus war das einzige mehrstöckige Bauwerk in diesem Teil des Dorfes, wenn man vom Bahnhof absah. Es war auch wohl das einzige Haus, das auf eine raffinierte Art unterkellert war. Wegen des sehr hohen Grundwasserspiegels lag der Keller fast ebenerdig. Wenn man von der Wohnung in den Keller hinunter kam, gelangte man in einen Raum, von dem aus nach rechts eine Türe in den Garten führte. Es ging nur zwei Stufen hinauf. Geradeaus kam man in die Waschküche, wo eine Anzahl von Zinkwannen (Tubkes) herumstanden, auch für mein Bad zum Wochenende. Eine Schaukelbadewanne (damals die große Gesundheitsmode) hat mich immer sehr beeindruckt. Außerdem befand sich in der Waschküche die Regenbacke. Das war die große gemauerte Zisterne, von der die ganze Wasserversorgung abhing. Es gab – das war in allen ostfriesischen Haushaltungen so – nur Regenwasser zum Kochen, zum Waschen, zum Putzen, zum Baden. Kein Wunder, dass das Wasser nur in Gestalt von Tee getrunken wurde. Der war mit dem weichen Regenwasser allerdings auch besonders gut. Der Kellerraum zur Linken war mit Geräten aller Art angefüllt. Am meisten beeindruckte mich das riesige Schießgewehr, das über dem Fenster an der Wand hing. Es mochte wohl eher aus der napoleonischen Zeit als auch dem Kriege 70/71 stammen. Von diesem Keller aus rechts befand sich dann noch der Keller für die Brennstoffvorräte, der in normalen Zeiten mit Torf gefüllt war. Torf ist über Jahrhunderte der einzige Brennstoff in Ostfriesland gewesen. Natürlich gab es auch Kohlen und Briketts für den Ofen in der „Moi Kamer“, die man nur zu Weihnachten und Ostern beheizte. Sonst heizte und kochte man mit Torf. Torf hatte man auch im „Stovke“, dem beheizbaren Fußbänkchen, das Oma gerne benutzte. Das Parterre war schon fast eine erste Etage, die über eine hohe und breite Außentreppe erreicht wurde. Man kam in eine Diele, in der es gleich rechts vorne in den Keller hinabging. Gleich links kam man in das Wohnzimmer. Dort stand das Klavier. Dort wurde der Besuch hereingebeten. Opa gab dort seine Privatstunden. Es gab ein Sofa, einen großen Tisch und Stühle und viele Bilder, meist Drucke, an den Wänden. Nach rechts gab es einen Durchgang zur „Moi Kamer“. Die wurde, wie gesagt, nur zu den hohen Feiertagen benutzt. Dort stand Opas schöner Sekretär. Es gab eine große Uhr aus Messing mit tausend Verzierungen und mit einer Glasglocke abgedeckt. Und an der Wand hing ein Druck „Die Eroberung und Zerstörung Jerusalems“. Das Bild konnte ich stundenlang besehen. Es enthielt 100 Detailszenen, von denen jede aufregend war. Nur warum die römischen Soldaten immer hinter halbnackten Frauen her rannten, konnte ich nicht verstehen. Familie Niehuis 1929 im Wohnzimmer; v.l.n.r.: Richard, Peter (Opa), Mimi, Dora, Gerhard, Peter (Enkel) Das erste Wohnzimmer hatte ein Fenster nach Osten zum Vorgarten hin, die „Moi Kamer“ hatte ein Fenster in der gleichen Richtung und eines in Richtung Süden zum Garten. Die daneben liegende Küche hatte ein Fenster zum Süden – im Vordergrund lagen Hühnerstall und Gemüsegarten – und eins zum Westen hin. Das war die Blickrichtung zum Deich. Man konnte von hier den Campener Leuchtturm sehen, und man hatte bei gutem Wetter den schönsten Blick auf die untergehende Sonne. Oma saß dann abends an diesem Fenster, hatte mich auf dem Schoß und sang „Goldne Abendsonne, wie bist du so schön! Nie kann ohne Wonne deinen Glanz ich sehn“. Ich sang nach Kräften mit. Den Text wandelte ich etwas ab, wie ich es verstand. In der zweiten Strophe sang ich „nach dem Meere Ziegen“ statt „nach dem Meere ziehen“. Unter „Ziegen“ konnte ich mir eher etwas vorstellen. In der Küche stand in einer Ecke die alte Uhr , die jetzt in Tante Mimis Wohnzimmer ihren Schlag tickt, daneben an der Wand ein Sofa, davor der Familientisch und einige Stühle, gegenüber der Küchenschrank. Hier um den Tisch fand das ganze Familienleben statt. Gute Freunde und alte Bekannte kamen in die Küche, nicht ins Wohnzimmer. Neben der Küchentür befand sich auf der Fensterseite eine Art Anrichte, die in ein Spülbecken überging. Dort befand sich die Handpumpe, mit der das Wasser aus der Regenbacke gepumpt wurde. Gegenüber war der große Küchenherd. Den müsst ihr euch wenigstens drei mal so groß wie einen heutigen Elektroherd vorstellen. Er war praktisch den ganzen Tag über in Aktion – mal mehr, mal weniger – und heizte auf diese Weise natürlich die Küche. Die einzelnen Kochstellen, die auf den modernen Elektroherden als solche markiert sind, waren damals durch ein System von eisernen Ringen verschlossen, die mit geeigneten Eisenhaken je nach der Größe des Topfes aus- oder eingehängt wurden. Die wichtigsten Gefäße hatten keinen flachen Boden, sondern ragten mit einer Art von Ausbauchung in die Flamme hinein. Das wichtigste Gefäß, das praktisch ständig auf dem Feuer stand, war der Treppot (Treckpott). Er lieferte nicht nur das kochende Wasser zur Teebereitung. Er nahm auch – der Deckel wurde zu diesem Zweck abgenommen – die ganze Porzellan-Teekanne auf, leer, damit sie vorgewärmt wurde, und gefüllt, damit der Tee ziehen konnte. Tante Mimi pflegt diese Technik unverändert auf ihrem Elektroherd. Wenn man aus der Küche zur Diele ging, hatte man gleich links die Vorratskammer für kleine Speisevorräte (Eisschrank gab es nicht). Einen Schritt weiter begann die Treppe zu den Schlafzimmern. Auf halber Höhe war das Klo (Plumpsklo, aber aus großer Höhe). Die dazugehörige Grube war draußen auf der Gartenseite und wurde mehrmals im Jahre geleert. Die erste Etage enthielt die Schlafzimmer. Wenn man die Treppe hochkam, zur Linken, also nach Osten, war das Elternschlafzimmer, also das Schlafzimmer von Oma und Opa. Es war groß, hell, und hatte zwei Fenster nach Osten, also mit Blick zum Bahnhof, nach Woquard und Pewsum hin, eine wunderschöne Aussicht. Außerdem hatte das Zimmer eine Dachgaube mit zwei Fenstern nach Norden hin, also in Richtung auf Kempes Park. In diesem Winkel stand der Waschtisch mit Wasserkanne und Waschbecken. Fließendes Wasser gab es ja nicht. Am Fußende von Omas und Opas Bett stand mein Kinderbettchen. Gegenüber dem Elternschlafzimmer, also nach Westen hin, lagen je ein kleines Zimmer für Tante Mimi und Onkel Richard, die ja noch in der Berufsausbildung waren. In einem der beiden Zimmer habe ich später oft in den Ferien gewohnt. Dann gab es noch eine steile Stiege zum Speicher hin. Aber die interessierte mich erst viele Jahre später. Ich spielte mit Tante Mimis alten Puppen. Die hatten Porzellanköpfe und merkwürdig alt wirkende Gesichter. Ich weiß nicht, was aus ihnen geworden ist. Für solche Puppen werden heute enorme Preise gezahlt. Ich hatte ein Holz-Pferdchen und einen prächtigen Roller, so groß, dass ich ihn später oft in den Schulferien benutzen konnte. Aber Haus und Garten boten Spielmöglichkeiten mannigfacher Art. Die schmalen Gräben an den Grenzen der Nachbargärten wimmelten den ganzen Sommer über von kleinen Fröschen. Auf den Rinderweiden nebenan sah man Störche oder Reiher, und im Garten wimmelte es von Käfern und Schmetterlingen. Im Garten gab es Erdbeeren, Johannisbeeren und Himbeeren und natürlich Gemüse aller Arten für den Küchentisch. Gleich vor dem südlichen Küchenfenster befand sich der Hühnerstall mit einem großen, völlig eingezäunten Auslauf und einem geschlossenen Teil, der sachgerecht mit Dachpappe überzogen war. Aus der eigenen Eierklappe durfte ich täglich die Eier holen. Von der Arche hatten wir einmal eine Ente mitgebracht, die Tante Mimis Liebling war. Ich bewunderte besonders den prächtigen Hahn, der gute Manieren hatte. Er ließ, wenn Opa das Futter brachte, immer zuerst die Hennen an den Trog, bevor er sich selbst etwas gönnte. Dass er, wie alle Hähne, irgendwann einmal im Kochtopf gelandet war, hat man mir damals verschwiegen. Er war eben nicht mehr da. Vom Dorfleben bekam ich immer einiges mit, wenn ich mit Opa „int Laug“ ging (eigentlich heißt es „Loog“, aber Opa sagte „Laug“). Als ich erfuhr, dass Nachbar Köhlers Kinder Scharlach hatten, spielte ich tagelang nicht mit meinen Puppen. Die hatten „Schgalack“, und mit Kindern, die Schgalack hatten, durfte man nicht spielen. Zeitweise konnte Tante Mimi Oma die schwere Arbeit mit mir erleichtern. Sie sang also „Abendsonne“, badete mich und half mir beim Essen „einen Löffel für den Löwen, einen für den Tiger“ usw. usw.. Zeitweise hatte ich sogar ein Kindermädchen. Es hieß „Etta“. Als das mir einmal nach dem Baden eine nicht farbechte Zipfelmütze aufs nasse Haupt gesetzt hatte, erschrak Tante Mimi entsetzlich, als mir das Blut (die rote Farbe) aufs Gesicht floss. Umweltprobleme gab es damals also auch schon, ich fürchte, eher mehr als weniger denn heute. …............................................................................................................................................................ (Anmerkung von H. Niehuis-Schwiertz: Gerhard Niehuis hatte bei seinen häufigen Besuchen in Ostfriesland Hanna Aits aus Hatzum kennengelernt. Am 09.06.1930 fand in Hatzum die Hochzeit statt. Unmittelbar danach zog sie zu ihrem Mann nach Trier und nahm Peter mit. Wenig später zog die Familie nach Bad Kreuznach; Dort wurde am 21.06.1931 Irmgard (Irmi) Niehuis geboren. Waltraud (Anna) lebte zunächst noch bei ihren Großeltern auf der Arche in Oldendorp und zog erst etwas später nach Bad Kreuznach. Die folgenden Textabschnitte beziehen sich also auf Besuche in Groothusen.) Von der Arche (in Oldendorp) aus fuhr man mit der Kutsche nach Ditzum. Dort ging die Fähre hinüber nach Petkum, die Eisenbahn von Petkum bis Emden West. Dann ging man hinüber zum Bahnhof der Kleinbahn. Meist mussten wir lange warten, bis „Jan Klein“ endlich fuhr. Die Witze über das Verbot, zum Blumenpflücken auszusteigen, sind schon fast Understatements. „Jan Klein“ auf der Fahrt durch Groothusen Ich erinnere mich sehr gut an einen längeren Aufenthalt, weil eine Kuh auf den Gleisen graste und – 10 Minuten später – einen neuen Aufenthalt, weil wir die Kuh wieder eingeholt hatten. Die Signale für die Kleinbahn lauteten „L“ (läuten), „P“ (pfeifen) oder „LP“ (läuten und pfeifen). Die Stationen kann ich heute noch aus dem Gedächtnis hersagen: Harsweg, Hinte, Canum, Freepsum, Woquard, Groothusen, Groothuser Mühle, Manslagt, Pilsum, Greetsiel. Es ging gemütlich zu auf der Kleinbahn. Wenn Tante Mimi am Sonntagabend zurück nach Emden oder Norden fuhr, war ich immer schon einige Minuten vorher am Bahnhof. Dort stand dann der Zug und schnaufte aus allen Ventilen. Und wenn dann jemand fragte „Ja, worum fohr wie denn neit?“, antwortete der Schaffner: „Frooln Nüüß is der noch neit in“. Und so wartete man noch einen Moment, bis die gehbehinderte Tante Mimi richtig eingestiegen war. Die Begrüßung in Groothusen verlief immer nach dem gleichen Ritual. Auf dem Bahnhof stand Opa im dunklen „Überzieher“ dessen oberster Knopf (als einziger) geschlossen war. Der Überzieher stand infolgedessen am unteren Saum weit offen. Und schon, wenn der Zug bei Bleys Kohlenhandlung vorbei fuhr, fing Opa an, mit dem Spazierstock zu winken. Oma erwartete uns oben auf der Außentreppe stehend, in Tränen zerfließend und sagte zu mir: „Oh, wie bist du groß geworden.“ Was für Anna die Arche war, das war Groothusen für mich: ein Paradies. Da ich alles und jeden kannte, genoss ich volle Bewegungsfreiheit. Natürlich machte ich am Tage nach der Ankunft meine Antrittsbesuche bei Tante Hanni und Onkel Jan. später, nach seinem Tode, besuchte ich Tante Hanni in der alten Burg und Tante Henni (natürlich wegen Bia) im Kolonialwarenladen. An Onkel Jan kann ich mich nur wenig erinnern. Da ich noch klein war, blieb ich von seinen derben Scherzen verschont, vor denen in Groothusen niemand sicher war. Tante Mimi hatte als Kind einmal bei ihm Senf gekauft, den man damals noch ins mitgebrachte Glas einfüllen ließ. Er füllte ihr den Senf über den im Glase liegenden Groschen und verlangte Bezahlung. Als Tante Mimi nun nicht zahlen konnte, durfte sie das ganze Glas Senf ausschlecken (was sie gerne machte) und dann mit dem Groschen bezahlen. Die zweite Abfüllung bekam sie gratis. Einer älteren Frau verkaufte er einen Porzellan-Nachttopf nach Maß. Sie konnte ihn also in der zu dieser Tageszeit unbenutzten Gaststube „anprobieren“. Nun hatte er ihr einen angerissenen Topf untergeschoben, der dann unter ihrem Gewicht zusammenbrach. Bezahlen brauchte sie ihn freilich nicht. Onkel Jan war großzügig, wenn er seinen Spaß gehabt hatte. Auf seinen Wegen zur Meede, zum Buschhof oder nach Pewsum zur Sparkasse nahm Opa mich gerne mit. Ich hatte diese langen Wege nicht so gerne. Als Dreijähriger hatte ich offenbar anders gedacht. Da griff man mich einmal auf der Landstraße nach Woquard auf. Ich war alleine unterwegs gewesen nach Pewsum, einen Groschen in der Tasche. Damit wollte ich eine Dampfmaschine kaufen, die ich dort im Schaufenster gesehen hatte. Jetzt „half“ ich Opa lieber im Garten. Zu den schönsten Erinnerungen zählt das tägliche „Elführtje“ in der hintersten Ecke des Gartens. Dort saßen wir auf der von Opa selbst zusammengenagelten Bank und genossen jeder eine Tasse Fleischbrühe aus Maggi-Würfeln, die Oma uns dort kredenzte. Am Nachmittag gab es, wenn es die Jahreszeit erlaubte, kleine Törtchen mit Erdbeeren und Schlagsahne. Die ersten Jahre schlief ich nachts immer noch im Kinderbettchen im Schlafzimmer der Großeltern. Später wohnte ich dann ich Tante Mimis oder Onkel Richards Zimmer. Da Oma und Opa festgestellt hatten, dass ich nachts mit den Zähnen knirschte, bekam ich kleine kegelförmige Bonbons gegen Würmer, denn Zähneknirschen war nach dem damaligen Verständnis ein Kennzeichen für Wurmbefall. Papa und Mama blieben in der Regel nur einen oder zwei Tage in Groothusen. Das war mir recht. Dass das Verhältnis zwischen Oma und Mama recht angespannt war, spürte ich bald Die Leute, mit denen Oma und Opa verkehrten, kannte ich alle von früher her. Ein oder zwei mal in der Woche kam Lehrer Hinderks von Hamswehrum. Der hatte mit Opa zusammen das Lehrerseminar in Aurich besucht, und Opa hatte dem schon reiferen Junggesellen später eine Frau besorgt, die ihn nun versorgte und ihm einmal in der Woche (!) ein frisches Taschentuch genehmigte. Über diese Heiratsvermittlung alleine ließe sich schon eine Komödie schreiben. Hinderks war so was von trocken, dass man es nicht beschreiben kann. Er kannte über Jahrzehnte einen einzigen Witz, den er jedem erzählte, der ihn hören oder nicht hören wollte: „Wie hieß Isaak, als er noch klein war? I-Püt. Hahaha.“ (Sack = Tüte). Vom Buschhof kam mehrfach in der Woche jemand vorbei. Der geistig behinderte Wiard (oder Wiards?) war ja der Eigentümer des Hofes. Der Pächter Peters hatte ihn auf dem Hofe zu versorgen, und Opa hatte darauf zu sehen, dass Wiard gut versorgt wurde und dass die Abrechnungen stimmten. So ging Opa ein- oder zweimal in der Woche zum „Busch“ (gegenüber der Groothuser Mühle) und vom Busch kam öfters jemand mit einer Kanne vom Karmelkbrej vorbei, häufig die Tochter des Hauses, manchmal auch Wiard. Die Tochter war extrem wortkarg. Mehr als „ja“ oder „nein“ war nicht aus ihr herauszubringen und so hatten Papa und Onkel Richard gewettet, dass sie eine halbe Stunde lang abwechselnd nur „ja“ und „nein“ antworten würde. So ergab sich dann folgendes Gespräch: „Moj Weer vandaag“ „Ja“. „Güstern wast neit so moj.“ „Nee“. „Man mörgen sallt wehr mojer wesen.“ „Ja“ usw. usw.. Vor Wiard hatte ich Angst. Er tat keiner Fliege etwas zu leide. Aber er war mir unheimlich. Sein Hauptwort war „kaputtn, kaputtn“. Bevor er fortging, versicherte er sich mit einem sorgfältigen Überblick über die Landstraße, ob auch kein Polizist in Sichtweite war. „Polissei keine Angst!“ erklärte er mir dann überheblich. Aber es konnte passieren, dass er plötzlich sichtlich verstört an der Haustüre erschien, Sturm klingelte und „Polissei, Polissei“ murmelte, wenn man ihn einließ. Wer ihm diese Angst eingeredet hatte, ließ sich nicht mehr feststellen. Jeder kannte ihn ja, und der Ortsgendarm tat ihm sicher nichts. In die Ferienzeit fielen oft auch die Geburtstage von Oma (9. August) und Opa (29. Juli). Dann kamen natürlich auch weitere Familienmitglieder zu Besuch, Professor Lüpke Lüpkes und Frau Marie vielleicht. Tante Marie hieß im Familienmunde die „Queen“. Sie hatte in der Tat etwas von der „Queen Victoria“, einen ausgesprochenen Stich ins Vornehme, sprach auch häufig hochdeutsch, was diesen Eindruck noch verstärkte. Im übrigen war sie schon in Ordnung. Ihr Mann, Professor Lüpkes vom Gymnasium in Emden, war damals natürlich längst pensioniert. Von Papa wusste ich, dass er ein ausgesprochenes Original war. Opas Schwester, Tante Rika, kam öfters mal über einige Zeit zu Besuch nach Groothusen. Sie war nicht sonderlich groß und von etwas magerer Statur, so wie ihre Mutter („lüttje Oma“). Auch Tante Mimi verkörpert diesen Typ. Tante Rika hatte eine schrille und immer etwas rostig klingende Stimme und eine gellende, entsetzlich ansteckend wirkende Art zu lachen. Wenn Tante Rika lachte, konnte niemand ernst bleiben. Dabei hatte sie ein hartes Schicksal. Ihr Mann war früh verstorben. Ihre Tochter Gretchen litt jahrelang bis zu ihrem frühen Tode unter einer schrecklichen Hautkrankheit, die ihr ihr Mann aus den Tropen mitgebracht hatte. Tante Rikas Lieblingsenkel Franz Albert wurde als junger Matrose während des Krieges in Kiel ermordet. Tante Rika war sehr fromm und das im schlichtesten Sinne. Als sie zum ersten Male in ihrem Leben ein Flugzeug sah, soll sie gesagt haben: „Nee, dat will de leive Gott neit hebben, dat se hum so nah komen.“ Mich kränkte sie einmal sehr tief, als sie mir in der besten Absicht den Kosenamen „Peti“ anbot. Ihrem Bruder, also meinem Opa, blieb sie ständig auf der Pelle, sei es, dass er ihr nicht fromm genug war (Opa war ein Christ von der „liberaleren“ Sorte), sei es, dass sie mal wieder die Sauberkeit im Hühnerstall beanstandete: „Ich much bi di geen Haun wesen. Nee, en Haun much ick bi di neit wesen. Ick much ja bi di geen Haun wesen“, usw. usw. war eine stehende Redensart. Dann kam vielleicht noch Dora von der Johannamühle in Emden und einer der Stromann-Jungens von der Mühle in Jennelt zum Geburtstagsbesuch. Wenn dann noch Tante Mimi (in späteren Jahren mit Onkel Hans) und Onkel Richard mit Frau (in späteren Jahren auch mit Kindern) zu Besuch kamen, konnte es eng werden. Dann wurden auch Übernachtungsgelegenheiten bei Bleys (Tante Hanni) und Knoops (Tante Henny) mit in Anspruch genommen. Nur dass ich bei Oma und Opa im Hause blieb, stand von vornherein fest. 1936: v.l.n.r.: Lüpke Lüpkes, Papa Gerhard, Oma Dora, Opa Peter, Marie Lüpkes, Tante Mimi, Almut, Tante Anneliese Außerdem fand in den großen Ferien auch noch eine Familienfeier bei Tante Hanni statt. Das war immer eine größere Sache. Man saß in einem großen Wohnzimmer (fast ein Saal) an einem riesig langen Tisch. Es waren entfernte Verwandte der diversen Dreesmann-Linien zugegen, die ich schon damals nicht einordnen konnte. Mich beeindruckte eigentlich nur Tante Berta, die alljährlich die neuesten Modelle von Hörrohren vorführte. Am eindrucksvollsten war ohne Zweifel ein Mikrophon, welches sie an der Spitze eines langen Stabes befestigt hatte. Sobald am Tische einer den Mund aufmachte, stieß sie dieses Gerät in der Art eines Floretts mitten zwischen den Tischdekorationen hindurch in dessen Richtung. Es war dann für den so Bedrohten gar nicht leicht, seinen Satz unbefangen zu Ende zu bringen. Als sie einmal meinen Tischnachbarn in dieser heftigen Art anpeilte, verschluckte ich mich an meinem Tee, der auch noch sehr heiß war, derart, dass er mir nicht nur an Mund und Nase, sondern auch an den Ohren herauskam. Auch wenn medizinisch gebildete Leute widersprechen, ich war da ganz sicher. Tante Bertas Mann war Onkel Occo, auch er, wie seine Frau, ein Dreesmann. Allerdings sprach er hochdeutsch auf die Solinger Art. Onkel Hans beschrieb das etwa so: “Ja, ich bin ja nun in der chanzen Chemarkung chewesen. Aber das Tausendchüldenkraut, das habe ich immer noch nicht chefunden.“ Für mich stand bei allen Ereignissen im Hause Bley Bia im Mittelpunkt der Dinge. Sie hatte mir früh das Radfahren beigebracht, auf die übliche Weise: Zuerst mitlaufen und festhalten und dann später mitlaufen und loslassen. Ich musste allerdings die ersten beiden Jahre stehend fahren, was auf ihrem Damenfahrrad ja problemlos möglich war. Zu Benutzung des Sitzes waren meine Beine noch zu kurz. Ich bin eigentlich kein „Nasenmensch“, aber die Vorstellung von Tante Hannis Garten ist bei mir fest mit dem Duft blühender Wicken verbunden. Ja, und irgendwann waren dann ja doch die Ferien herum. Der Abschied verlief, ebenso wie die Ankunft, immer nach dem gleichen Schema: Papa holte mich ab, Oma verabschiedete uns unter vielen Tränen. Opa stand auf dem Bahnhof, den obersten Knopf seines Überziehers geschlossen, die anderen offen, und winkte, bis er uns nicht mehr sehen konnte. Dann begann die Rückreise mit dem Einsammeln der anderen Familienangehörigen. -----------------------------------------------------------------------------------------------------------------------(Anmerkung von H. Niehuis-Schwiertz: Mein Vater Peter Niehuis lebte weiterhin in Bad Kreuznach, mit seinem Vater Gerhard Niehuis, der Stiefmutter Hanna Niehuis, der leiblichen Schwester Waltraud „Anna“ und der Stiefschwester Irmi; Hinzu kamen dann noch die Stiefgeschwister Habbo (1934) und Manfred (1944). Besuche (in den Sommerferien) in Groothusen werden in seinen Lebenserinnerungen nur kurz erwähnt. Peter Niehuis geriet (als Reserve-Offiziers-Bewerber) im März 1945 bei Wiesbaden in amerikanische Kriegsgefangenschaft und wurde erst im Januar 1947 entlassen.) Im Frühjahr 1947 starb Opa in Groothusen. Ich liebte ihn. Aber wie soll ich ihn schildern? Er mochte ein strenger Vater gewesen sein und ein strenger Lehrer. Ich habe ihn nur als einen liebevollen Großvater gekannt. Er war groß, schlank, fast dürr. Mich nannte er „Keerli“. „Peter“ mochte er wohl nicht sagen, weil er selber so hieß. Die vielen langen Wege, die er zu gehen hatte, zum Busch-Hof, zur Meede, zur Sparkasse nach Pewsum, ging ich ungern mit, aber unterwegs unterhielten wir uns gut, und ich habe bei ihm, ohne irgendwelchen pädagogischen Druck, ganze Passagen aus dem Wilhelm Tell, aus Fritz-Reuter-Gedichten, aus der „Frommen Helene“ u.a. auswendig gelernt, ganz einfach, weil sie mir einleuchteten oder weil sie lustig waren. Von Papa hatte ich gehört, dass Opa noch nie im Leben gelogen hätte. Das mag übertrieben gewesen sein, aber von Opa konnte ich das glauben. Er war bei allem Charme und aller Fröhlichkeit ein Moralist, wie er im Buche stand, am strengsten gegen sich selbst. Ich hatte mir im Gefangenenlager oft vorgestellt, dass ich mit ihm über alle Probleme unserer Zeit reden würde. Er hatte sich, wie ich, für Hitler begeistert. Er war, wie ich, entsetzt über das, was daraus geworden war. Er stand, anders als ich, im hohen Alter vor den Trümmern seiner politischen Vorstellungen. Es muss ihn schlimm getroffen haben. Seine Beerdigung wurde zum Eklat. Pastor Theine, der ihn nie anders als mit „mein lieber Herr Niehuis“ angeredet hatte, wollte sich nun als „immer schon dagegen gewesen“ profilieren. Er redete davon, dass Opa sich schon frühzeitig von der Kirche distanziert hätte, und von der Trauernden sagte er „da sitzt die Brut“. Die Gemeinde, die Opa geachtet und verehrt hatte, war entsetzt. Papa schrieb böse Briefe. Aber was half das? Als der gleiche Pastor bei Omas Beerdigung alles wieder gut machen wollte, hatte sie schriftlich hinterlassen, dass sie eine Beerdigung durch ihn ablehnte. Dass Opa sich schon frühzeitig von der Kirche distanziert hätte, war ohnehin Unsinn. Er versäumte keinen Sonntag den Gottesdienst, schon weil er die Orgel spielte, bis zu seiner vorzeitigen Pensionierung in Groothusen, danach in Hamswehrum. Und im Grunde seines Herzens war er ein frommer Mensch, auch wenn sein Glaubensbekenntnis weder in den lutherischen, noch in den Heidelberger Katechismus gepasst hätte. „Natürlich ist Jesus Gottes Sohn“, sagte er einmal zu mir, „wir sind alle Gottes Kinder.“ Als Papa von Opas Beerdigung aus Ostfriesland zurückkam, brachte er einige von Opas Kleidungsstücken mit, die mir passten. Für die Ferien war meine Reise nach Ostfriesland vorgesehen. Ich hatte große Sehnsucht und Oma wäre dann nicht ganz alleine. Irmi sollte auch mitfahren. Da Ostfriesland in der Britischen Zone lag, brauchten wir einen Interzonenpass. Der musste mit ausführlicher Begründung für die Notwendigkeit der Reise in französischer Sprache beantragt werden, wozu wir eine Dolmetscherin brauchten. Mein Antrag wurde akzeptiert, Irmis Antrag wurde abgelehnt. An ihren Reiseabsichten änderte das wenig. Wir riskierten Scherereien. Die Reise wurde abenteuerlich. Bis Bingerbrück ging alles problemlos. In Bingerbrück bestiegen wir den „Interzonenzug“ nach Köln. Wenn ich sage, „der Zug war voll“, dann macht man sich falsche Vorstellungen. „Gerammelt voll“ wäre ein Understatement gewesen. Die Menschen standen (an sitzen war gar nicht zu denken) in den Gängen, auf den Sitzen, in den Eingangstüren, in den Toiletten, sie lagen in den Gepäcknetzen, und auf jeder Station stiegen Leute zu. Von Koblenz an wurden sie in horizontaler Lage zu den Fenstern hineingeschoben. Sie sackten dann langsam zwischen den Stehenden bis zum Fußboden durch. Die letzte Station vor der Zonengrenze war Remagen (Andernach war „britisch“). Dort war Passkontrolle. Damit überhaupt Kontrollbeamte den Wagen durchqueren konnten, wurde zuerst eine Partie Passagiere herausgeholt. Irmi war dabei. Denn sie hatte keinen Interzonenpass, und aus Zeitmangel blieben die Ausgestiegenen von der Passkontrolle verschont. Wir schwitzten beide vor Angst, dass sie auch vor der Weiterfahrt wieder in den Wagen hineinkäme. Es ging gut. Wir kamen in der Dunkelheit bis Köln. Von dort fuhr diesen Abend kein Zug mehr. Hotels gab es natürlich nicht. Wir schliefen auf den Steinfliesen der Toiletten-Vorräume zu ebener Erde, den Kopf auf einem Koffer, die Hände durch die Handgriffe geklemmt. Und so wie wir, schliefen viele an diesem Ort. Am nächsten Morgen mussten wir zeitig zum D-Zug nach Emden. Der fuhr aber ab Köln-Deutz und wir befanden uns in Köln Hauptbahnhof. Die Rheinbrücken waren alle gesprengt. Zum anderen Ufer kam man nur mit dem „Waggelböötche“, mit der Fähre. An den D-Zug ließ man uns gar nicht erst ran. Für seine Benutzung gab es Sonderausweise, die wir schon aus Zeitmangel nicht hätten benutzen können. Es existierte eine Regelung für weither Angereiste, die wir ja waren. Aber zu deren Inanspruchnahme hätten wir in den Zug gemusst, und da kamen wir ja nicht hin. Uns blieb ein Personenzug, wohlgemerkt von Köln bis Emden. Gegen Mitternacht kamen wir an der Johannamühle in Emden an. Tante Dora (die Mutter von Reint Dreesmann) verbarg mühsam ihren Ärger über unsere späte Ankunft. Aber was konnten wir dafür? Am nächsten Morgen fielen uns auf dem Weg zur Kleinbahnstation nur noch zwei gewaltige Betonbunker auf. Mehr konnte uns nicht auffallen. Die Innenstadt war platt. Da stand nichts mehr. „Jan Klein“, die alte Kleinbahn, brachte uns nach Groothusen. Wie das Hin- und Herreisen in den nächsten Wochen im Einzelnen vor sich ging, weiß ich nicht mehr genau. Sicher ist wohl, dass Irmi in Groothusen nur „Guten Tag“ sagte. Am nächsten Tag brachte ich sie zur Oma nach Bunde: Kleinbahn bis Emden, Personenzug bis Leer, Omnibus bis Bunde. Nachdem ich Irmi heil in Bunde abgeliefert hatte, fuhr ich zur Arche nach Oldendorp. Dort war Oma Wobbine wenige Wochen zuvor gestorben. Opa schon 1941; Onkel Tobias war seit Frühjahr 1945 vermisst. Der einzige, den ich noch von früher kannte, war Onkel Hinrich. Nachdem auch Walter auf schreckliche Weise (anscheinend bei einer Geiselerschießung) ums Leben gekommen war, blieben Onkel Hinrich und Tante Therese in Völlenerfehn die einzigen überlebenden Geschwister meiner Mutter. Bei Onkel Hinrich konnte ich, wie Papa mir ans Herz gelegt hatte, ein Stück Schinken locker machen. Ich fuhr aber bald wieder nach Groothusen. Ein besonderes Problem bei solchen Reisen beinhaltete die Abrechnung der Lebensmittelmarken. Man bekam „Reisemarken“, die für jeden Tag abgerechnet werden konnten. Es verstand sich, dass man jedem, bei dem man einen Tag verbracht hatte, den entsprechenden Anteil an Lebensmittelmarken zurückließ. Bei Bauern, also beispielsweise auf der Arche, konnte man wohl einen oder mehrere Tage „schinden“, weil diese natürlich zusätzliche Möglichkeiten der Selbstversorgung hatten. Das eigentliche Ziel meiner Reise waren einige Wochen bei Oma in Groothusen gewesen. Die suchte ich jetzt zu genießen. Oma war alt geworden, d.h. aus meiner bisherigen Sicht war Oma schon immer alt gewesen. Aber nun sah ich Details, die ich früher nicht wahrgenommen hatte: Runzeln, Warzen, Barthaare, ihren mühsamen Gang, ihre Probleme, wenn sie vom Stuhl aufstand. Auch ihr Wesen hatte sich verändert. Sie war manchmal bitter, und das hing offenbar nicht nur mit Opas Tod zusammen. Ich wohnte in „Tante Mimis Zimmer“. Das kannte ich von früher. Der Ausblick hatte sich allerdings verändert. Die schöne Baumreihe, die den Garten zu den Rinderweiden hin abgrenzte, war stark eingekürzt, um nicht zu sagen „abgeholzt“. Opa und Oma hatten über mehrere Winter unter dem Mangel an Brennstoff gelitten und oft gefroren. „Onkel Richards Zimmer“ war „vermietet“, d.h. man hatte Oma nicht gefragt, als man ihr eine Flüchtlingsfrau hineinsetzte. Auf ähnliche Weise hatte man ihre „Mooi Kamer“ beschlagnahmt. Ein Zahnarzt (mit entsprechendem Publikumsverkehr) praktizierte darin. Zu meinen Anwesenheiten in Groothusen hatten immer Besuche bei Tante Hanni gehört. Ich fand sie fast unverändert, freundlich und fröhlich, nur ihr Gehör hatte, unüberhörbar, gelitten. Ihre fast luxuriöse Wohnung war natürlich auch an Flüchtlinge vermietet. Diese bekamen häufig die besten Räume, weil man diese im täglichen Gebrauch am wenigsten in Anspruch nahm. In den ehemaligen Küchenräumen, in denen wir als Kinder oft gespielt hatten, wohnte mit Frau und Kind mein ehemaliger Spielgefährte Otto Schweers, der als kleiner Junge gleich gegenüber von Opas und Omas Haus gelebt hatte. Von Tante Hanni war mein Weg immer zu ihrer Tochter Tante Henni gegangen, die den BleyLebensmittelladen samt Gastwirtschaft und Post übernommen hatte. Dass sie mit ihrem Mann nicht immer zurechtkam, hatte man schon bei uns zu Hause gemunkelt. Tante Henni hatte ich nie als sehr herzlich erlebt. Ich hoffte vielmehr, Bia dort anzutreffen. Sie war vielleicht 10 Jahre älter als ich, aber sie war meine erste Jugendliebe, schon als ich 6 war. Sie hatte mir das Radfahren beigebracht, und bei ihr hoffte ich jetzt öfters mal ein Rad ausleihen zu können. Das gelang mir hin und wieder und immer mit einiger Mühe. Die Räder waren alt und klapprig und Ersatzteile waren nicht zu beschaffen, die Straßen schlecht und holprig und seit 10 Jahren nicht repariert. Der Deich war einsam. Das hatte mich früher nie gestört, aber nun fand ich ihn dreckig und in schlechtem Zustand. Groothusen war enttäuschend für beide Teile. Ich hatte gehofft, dort das Paradies meiner Kindheit wiederzufinden. Das konnte aus mehreren Gründen nicht gelingen, und der Hauptgrund lag natürlich in mir selbst. Oma hatte vielleicht gehofft, ihren „lüttje Peter“ wieder begroßmuttern zu können und auch das war natürlich nicht mehr drin. Mein Gefühlsleben war arm und mein Blick kalt und nüchtern geworden, aber das merkte ich alles erst viel später. Zweimal fragte sie mich, ob ich an Opas Grab gewesen sei. Ich war nicht dort gewesen. Dass ich Opas Wege gegangen war, hätte sie nicht verstanden. Abends, wenn der Zahnarzt geschlossen hatte, übte ich manchmal am Klavier. Papa hatte als junger Landvermesser auf einer Auktion ein Klavier ersteigert, dass er in seinem Elternhause aufstellte. Wenn ich als Schüler in die Ferien nach Groothusen fuhr, hatte ich Weisung von Papa, auf dem Klavier zu üben oder mich von Opa am Klavier unterrichten zu lassen, weil ich das später einmal bekommen sollte. Die Anweisung, das Klavier zu benutzen, hatte ich auch jetzt wieder mit. Das war also das Klavier, das ich bekommen sollte und das ich schon damals hasste. Später, als Oma gestorben war, stellte Papa dann fest, dass ich das Klavier geerbt hätte. Aber jetzt war das Klavier zu einer Belastung geworden. Wohin damit nach der Auflösung von Omas Haushalt? Sehr viel war es wohl auch nicht mehr wert. Es landete in der Halle eines Auktionators, der es dann noch einmal einige Monate zu meinen Gunsten für 5 DM im Monat vermieten konnte. Dort mag es schließlich zerfallen und vergammelt sein. Auf dem Schrank in der Küche lag ein Reclamheftchen, der „Faust“. Oma erzählte, dass Opa in seinen letzten Wochen und Tagen viel darin gelesen hätte, und ob ich das Heftchen haben wolle. Ich habe es heute noch und den „Faust“ habe ich seither wohl zehn mal gelesen. Die SchillerBände von 1813, die auch auf dem Küchenschrank standen, hatten es mir angetan. Oma war damit einverstanden, dass ich sie mit nach Hause nahm. Wenn ich nach den Ferien wieder nach Hause fuhr, hatte Oma immer sehr geweint. Diesmal bat ich sie, nicht so sehr zu weinen. Sie weinte tatsächlich nicht. (Anmerkung von H. Niehuis-Schwiertz: Dora Niehuis starb am 4. März 1949. Da kein Angehöriger der Familie Niehuis mehr in Groothusen lebte, wurde das Haus wenige Jahre später verkauft.)