Untitled - Universitatea din București

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Untitled - Universitatea din București
21. Jg.
Heft 2 (42) 2012
ZEITSCHRIFT DER GERMANISTEN
RUMÄNIENS
Herausgeber:
GESELLSCHAFT DER GERMANISTEN RUMÄNIENS /
GGR-ZWEIGSTELLE BUKAREST
(SOCIETATEA GERMANIŞTILOR DIN ROMÂNIA / S.G.R. FILIALA BUCUREŞTI)
INSTITUT FÜR GERMANISTIK DER UNIVERSITÄT BUKAREST
(DEPARTAMENTUL DE LIMBI ŞI LITERATURI GERMANICE
AL UNIVERSITĂŢII DIN BUCUREŞTI)
IN DIESEM HEFT:
* IX. Internationaler Kongress der
Germanisten Rumäniens, Bukarest
4.-7. Juni 2012. Eine Dokumentation
* LITERATUR- UND KULTURWISSENSCHAFT
(T. SÖDER, L. CHEIE, K. KILZER, B. NICORIUC,
A. SZELL, L. PERRONE-CAPANO, Y. GÜRSOY)
* SPRACHWISSENSCHAFT
(E. CODARCEA, M. DRAGANOVICI, E. KAKZANOVA)
* IN MEMORIAM YVONNE LUCUŢA
(1936-2012)
* BUCHBESPRECHUNGEN, BERICHTE
Bucureşti, 2012
Herausgeber:
- GESELLSCHAFT DER GERMANISTEN RUMÄNIENS - ZWEIGSTELLE BUKAREST
(SOCIETATEA GERMANIŞTILOR DIN ROMÂNIA - FILIALA BUCUREŞTI)
- DEPARTAMENTUL DE GERMANISTICĂ AL UNIVERSITĂŢII DIN BUCUREŞTI
(INSTITUT FÜR GERMANISTIK DER UNIVERSITÄT BUKAREST)
Anschrift der GGR, des Instituts für Germanistik und der Redaktion:
Str. Pitar Moş 7-13
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(Sowie: www.ggr.ro; www.ggr.ro/zgrOnline.htm)
SCHRIFTLEITER: George G u ţ u
|| Redaktion: Ruxanda COSMA (Bukarest), Ioana CRĂCIUN-FISCHER (Bukarest), Cornelia CUJBĂ
(Iaşi/Jassy), Cosmin Ionuţ DRAGOSTE (Craiova), Lucia GORGOI
(Cluj/Klausenburg), George GUŢU (Bukarest) Mariana LĂZĂRESCU (Bukarest),
Carmen Elisabeth PUCHIANU (Braşov/Kronstadt), Maria SASS
(Sibiu/Hermannstadt), Elena VIOREL (Cluj/Klausenburg)
|| Wissenschaftlicher Beirat: Anil BHATTI (New Delhi), Ludwig M. EICHINGER (Mannheim),
Dietmar GOLTSCHNIGG (Graz), Jacques LE RIDER (Paris), Ioan LĂZĂRESCU
(Bukarest), Roxana NUBERT (Timişoara/Temeswar), Stefan SIENERTH (München)
|| Peer Review: Peter ERNST (Wien), Camilla MIGLIO (Rom), Peter MOTZAN (München), Otto WOLF
(Bayreuth), Hermann SCHEURINGER (Regensburg)
©
GGR & Editura Paideia – Bucureşti 2012
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TEXTEINGABE UND -VERARBEITUNG: REDAKTION DER ZGR
GELD- UND SACHSPENDEN VON: DAAD, BONN; INTENS-PREST, PITEŞTI; CANAD SYSTEMS, BUKAREST;
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Zeitschrift der Germanisten Rumäniens
21. Jahrgang
Heft 2 (42) 2012
Inhalt:
IX. Internationaler Kongress der Germanisten Rumäniens
Bukarest, 4.-7. Juni 2012 (George Guţu).................................................................................5
BEITRÄGE AUF DEM IX. INTERNATIONALEN KONGRESS DER GERMANISTEN
RUMÄNIENS, BUKAREST, 4.-7. JUNI 2012: ................................................................7
LITERATUR- UND KULTURWISSENSCHAFTEN....................................................................7
THOMAS SÖDER: Jakob Michael Reinhold Lenz: „Anmerkungen
übers Theater“........................................................................................................ ..9
PETER GÖHLER: Motivisches Erzählen bei Anna Seghers,
erläutert besonders am Beispiel der Erzählung “Steinzeit“.................................27
LAURA CHEIE: „Inventur 96“. Robert Gernhardts dialogische
Bestandsaufnahme.................................................................................................35
KATHARINA KILZER: Der Schriftsteller als Grenzgänger zwischen Sprache
und Kultur am Beispiel von Esther Kinsky, Arno Geiger,
Cătălin Dorian Florescu.........................................................................................52
BEATRICE NICORIUC: Raumordnung und Raumfigur im Roman
„Der Fuchs war damals schon der Jäger“
von Herta Müller.................................................................................................... 67
SZÉLL ANITA ANDREA: Interkulturelle Rezeption von Hans Bergels
Leben und Werk im 21. Jahrhundert.....................................................................79
LUCIA PERRONE-CAPANO: Schreiben in Kontakt-und Konfliktzonen –
Marica Bodrožić und Anna Kim............................................................................93
YÜKSEL GÜRSOY: Die Entstehungsbedingungen und inhaltlichen
Schwerpunkte der deutschtürkischen Literatur.................................................108
SPRACHWISSENSCHAFTEN........................................................................................... 121
EMILIA CODARCEA: Kognitives und kontextuelles Wissen in der
Valenzbeschreibung deutscher und rumänischer Adjektive...............................123
MIHAI DRAGANOVICI: Die europäischen Schlüsselkompetenzen
im Berufsbild des professionellen Translators....................................................144
EUGENIA KAKZANOVA: Rolle der Termini in der angewandten Linguistik
und deren lexikographische Fixierung................................................................155
Inhalt
IX. INTERNATIONALER KONGRESS DER GERMANISTEN RUMÄNIENS.............................161
DOKUMENTATION zum IX. Internationalen Kongress der Germanisten
Rumäniens, Bukarest, 4.-7. Juni 2012: Ansprachen von George Guţu (164),
Andreas von Mettenheim (168), Margret Wintermantel (170) und
Stefan Sienerth (172)............................................................................................ 163
Das Programm des IX. Kongresses.......................................................................191
IN MEMORIAM YVONNE LUCUŢA (1936-2012).......................................................193
NACHRUF DER GESELLSCHAFT DER GERMANISTEN RUMÄNIENS...............................................195
KARLA LUPŞAN: Prof. Dr. Yvonne Lucuţa - Persönlichkeit
der Temeswarer Germanistik..............................................................................197
YVONNE LUCUŢA: Das lexisch-semantische Feld der Geräuschverben
im Deutschen und Rumänischen.........................................................................207
BUCHBESPRECHUNGEN, BERICHT..............................................................................219
Dagmar Dusil: Hermannstädter Miniaturen. Johannes Reeg-Verlag,
Bamberg 2012. ISBN 978-3-937320-18-2. 104 Seiten. (HANS DAMA)...................221
Veronica Alina Buciuman: „Sinceritas”: Der poetologische Begriff
in Hermann Hesses Prosawerk (Studien zur deutschen und
europäischen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts), Band 63,
Peter Lang, Internationaler Verlag der Wissenschaften. Frankfurt am
Main. Berlin. Bern. Bruxelles. New York. Oxford. Wien, 2010,
196 Seiten (LOREDANA-ILEANA BARBU)......................................................................222
Gabriel H. Decuble: „Und es immer schlimmer machen...“ Nietzsches
philosophischer Entbildungsroman. Editura Universităţii din Bucureşti /
Editura Paideia. Bucureşti 2012. 242 Seiten. Reihe „GGR-Beiträge
zur Germanistik“ Bd. 27 ISSN: 1843-0058-27 (GEORGE GUŢU).............................225
Ein Sandwich mit germanischen Zutaten und nicht nur... –
Ein Tagungsbericht zur 4. Konferenz der Reihe „A Germanic
Sandwich“, Leuven, 11.-12. Januar 2013 (ADRIANA IONESCU)..................................227
Goethe in Bukarest: Ein zweisprachiges Jahrbuch rund um den Meister
deutscher Dichtkunst. Rumänisches Goethe-Jahrbuch, 1/2011. Hrsg. v.
George Guţu. Paideia Verlag, Bukarest 2011, 370 Seiten (VASILE V. POENARU).....232
Goethe in Rumänien: Ein Jahrbuch und eine Ausgabe erscheinen.
Rumänisches Goethe-Jahrbuch, 1/2011, und Goethe: Opere Alese.
Scrieri autobiografice III, vol./Bd. 15 (JOCHEN GOLZ)...........................................235
DIE AUTORINNEN UND AUTOREN DES HEFTES...........................................................239
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ZGR 2 (42) / 2012
IX. Internationaler Kongress der Germanisten Rumäniens
und die Publikationen der GGR
Im Rektoratsgebäude der Universität Bukarest fand vom 4.-7. Juni 2012 der IX. Internationale Kongress der Germanisten Rumäniens statt. In den 7 Sektionen des Kongresses wurden
etwa 200 Vorträge gehalten. Die 230 Kongressteilnehmer wirkten nicht nur bei den Vorträgen
und Diskussionen, sondern auch in den Veranstaltungen des auch bei den vorherigen Kongressen üblichen Rahmenprogramms der international angesehenen wissenschaftlichen Tagung einer aktiven Auslandsgermanistik mit. Das Rahmenprogramm bestand aus Lesungen
von bedeutenden Autoren der Gegenwart aus Rumänien, Deutschland und der Schweiz, aus der
traditionell gewordenen landeskundlichen Tagesexkursion, die diesmal in einer eindrucksvollen Stadtrundfahrt und einem locker-erholsamen Stadtrundgang in der Altstadt von Bukarest
ihren Höhepunkt erreichte, sowie aus einem glanzvollen offiziellen Empfang aller Kongressgäste in den Räumen des Intercontinental-Hotels Bukarest. Der Empfang wurden vom Rekto rat der Universität Bukarest und von der Gesellschaft der Germanisten Rumäniens (GGR)
gegeben.
Nun beginnen wir mit der Veröffentlichung der auf dem Kongress gehaltenen Vorträge.
Während die meisten Großveranstaltungen dieser Art die Vorträge in geschlossenen dicken
und schwerfälligen Bänden veröffentlichen, zogen wir vor, die Vorträge thematisch zu gruppieren und in den Publikationen der Gesellschaft der Germanisten Rumäniens herauszugeben. In gewissen Fällen wurden sogar thematische Bände gesondert veröffentlicht, so im Falle
der vom Institut für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas (IKGS) an der LMU
München betreuten Sektion 3 auf den internationalen rumänischen Germanistenkongressen.
Die Vorträge werden in der „Zeitschrift der Germanisten Rumäniens“ (ZGR) veröffentlicht,
die bereits auf eine zwanzigjährige Geschichte (1992-2012) zurückblickt, in der gemeinsamen
Publikation der Gesellschaft der Germanisten Rumäniens und des Deutschen Akademischen
Austauschdienstes (DAAD) in Bonn „transcarpathica. germanistisches jahrbuch rumänien“
sowie im jüngsten Periodikum der von der GGR in Zusammenarbeit mit der GoetheGesellschaft in Rumänien und mit Unterstützung der Geothe-Gesellschaft in Weimar zweisprachig herausgegebenen „Rumänischen Goethe-Jahrbuch“ / „Anuarul Românesc Goethe“
den Lesern zugänglich gemacht. Ein gemeinsamer Band GGR/IKGS ist auch in Vorbereitung.
Als gesonderte Kongressbände erschienen: Deutsche Regionalliteraturen der Zwischenkriegszeit in Rumänien. Positionsbestimmungen, Forschungswege, Fallstudien. Internationale Tagung - III. Kongress der rumänischen Germanisten, Neptun/Schwarzmeerküste.
Hrsg. v. P. Motzan u. S. Sienerth), München 1997; Karl Kurt Klein (1897-1971). Stationen des
Lebens - Aspekte des Werkes - Spuren der Wirkung. [IV. Kongress der Germanisten Rumäniens, Sinaia, 1997]. Hrsg. v. Peter Motzan, Stefan Sienerth u. Anton Schwob. Verlag SOKW,
München 2001. Darin wurde die Problematik der deutschen Literaturen in und aus Rumänien
thematisch gebündelt.
Unlängst wurde die Digitalisierung der „Zeitschrift der Germanisten Rumäniens“ abgeschlossen.
Die bisher erschienenen Bände sind über den Server der Universität Bukarest abrufbar. Die
Internet-Adresse lautet: http://www.unibuc.ro/n/resurse/zgr/index.php.
Wir haben vor, auch die bisher herausgegebenen Bände von „transcarpathica. germanistisches
jahrbuch rumänien“ zu digitalisieren und online zugänglich zu machen. Dieses Jahrbuch erfreut sich einer verdienten Aufmerksamkeit und Wertschätzung in den Fachkreisen. Der
DAAD sorgt auch für den Vertrieb der auf Papierträger gedruckten Fassung, deshalb werden
wir die neuen Bände etwas später nach ihrem Erscheinen zugänglich machen.
Nicht zuletzt stellen wir demnächst auch das „Rumänische Goethe-Jahrbuch“ / „Anuarul
Românesc Goethe“ ins Internet.
Somit wird dafür Sorge getragen, dass die publizistische Tätigkeit der Gesellschaft der Germanisten Rumäniens auch über die modernen Vermittlungsmöglichkeiten zugänglich gemacht
wird.
George Guţu
Vorwort / Prefaţă
Al IX-lea Congres Internaţional al Germaniştilor din România
şi publicaţiile S.G.R.
În clădirea Rectoratului Universităţii din Bucureşti a avut loc între 4-7 iunie 2012 cel de al IXlea Congres Internaţional al Germaniştilor din România. În cele 7 secţii au fost prezentate cca.
200 de comunicări ştiinţifice. Cei 230 de participanţi şi-au adus contribuţia atât prin co municări şi discuţii, cât şi la derularea programului suplimentar al congresului, continuând o
tradiţie a acestei prestigioase manifestări germanistice dinafara spaţiului germanofon, care se
bucură de o frumoasă reputaţie pe plan mondial. Programul suplimentar a constat din lecuri
ale unor scriitori din România, Germania şi Elveţia, din excursia de o zi devenită tradiţională
şi destinată contactelor interpersonale şi cunoaşterii Bucureştiului în cadrul unui tur de oraş
agreabil şi relaxant. Punctul culminant a fost marcat de o plimbare prin centrul vechi al
oraşului şi de o frumoasă recepţie oficială oferită în cinstea participanţilor în saloanele Hotelului Intercontinental din Bucureşti. Recepţia a fost dată de către Rectoratul Universităţii
din Bucureşti şi Societatea Germaniştilor din România (S.G.R.).
Cu numărul de faţă începem publicarea comunicărilor ştiinţifice de la acest Congres.
În timp ce manifestările similare îşi publică materialele în opusuri voluminoase, greoaie, am
preferat să edităm comunicările în toate publicaţiile S.G.R., în grupaje tematice şi pe domenii.
În anumite cazuri au fost şi vor fi publicate şi volume separate, realizate de germaniştii români
în colaborare cu Institutul pentru Istoria şi Cultura Germanilor din Europa de Sud-Est (IKGS)
din cadrul Universităţii din München, care a organizat şi îndrumat secţia 3 dedicată literaturii
germane din România la toate cele 7 congrese de până acum.
Comunicările se publică în „Zeitschrift der Germanisten Rumäniens“ (ZGR), care apare de 20
de ani (1992-2012), în publicaţia bilingvă editată în comun de S.G.R. şi de Serviciul German
pentru Schimburi Academice (DAAD) din Bonn „transcarpathica. germanistisches jahrbuch
rumänien“, precum şi în cel mai recent periodic realizat de S.G.R. împreuncă cu Societatea
Goethe din România, cu sprijinul Societăţii Goethe din Weimar „Rumänisches Goethe-Jahrbuch“ / „Anuarul Românesc Goethe“. În lucru se află şi un nou volum realizat în comun de
S.G.R. şi IKGS München.
Volume cu comunicări de la congresele germaniştilor din România au apărut în editura IKGS:
Deutsche Regionalliteraturen der Zwischenkriegszeit in Rumänien. Positionsbestimmungen,
Forschungswege, Fallstudien. Internationale Tagung - III. Kongress der rumänischen Germanisten, Neptun/Schwarzmeerküste. Ed. P. Motzan, S. Sienerth), München 1997; Karl Kurt
Klein (1897-1971). Stationen des Lebens - Aspekte des Werkes - Spuren der Wirkung . [IV.
Kongress der Germanisten Rumäniens, Sinaia, 1997]. Ed. Peter Motzan, Stefan Sienerth,
Anton Schwob. Verlag SOKW, München 2001. În aceste volume au fost grupate studii despre
literatura germană din România.
Nu de mult a fost finalizată digitalizarea revistei „Zeitschrift der Germanisten Rumäniens“.
Volumele apărute până acum pot fi accesate în întregime pe serverul Universităţii din Bucureşti la adresa: www.unibuc.ro/n/resurse/zgr/index.php.
Ne-am propus ca în curând să punem la dispoziţia cititorilor, prin acelaşi procedeu, şi volumele din „transcarpathica. germanistisches jahrbuch rumänien“. Acest anuar se bucură de un
frumos prestigiu în rândul specialiştilor şi este finanţat şi difuzat pe suport de hârtie cu spriji nul DAAD.
Nu în ultimul rând intenţionăm să digitalizăm şi publicaţia „Rumänisches Goethe-Jahrbuch“ /
„Anuarul Românesc Goethe“.
În felul acesta vom asigura răspândirea publicaţiilor Societăţii Germaniştilor din România
prin intermediul modern şi eficient al internetului.
George Guţu
6
ZGR 2 (42) / 2012
BEITRÄGE AUF DEM IX. INTERNATIONALEN KONGRESS DER GERMANISTEN
RUMÄNIENS, BUKAREST, 4.-7. JUNI 2012
LITERATUR- UND KULTURWISSENSCHAFTEN
JAKOB MICHAEL REINHOLD LENZ:
Anmerkungen übers Theater 1
Thomas Söder
Der Verfasser der Anmerkungen übers Theater mag heißen wie er
will, traun! der Kerl ist‘n Genie, und hat bloß für Genien, wie er ist,
geschrieben, wie wohl Genien nicht solches nötig haben. [...] – Sein
Ton ist ein so fremder Ton, seine Sprache ein so wunderbares Rotwelsch, daß die Leute dastehen unds Maul aufsperren.
Christoph Martin Wieland, Teutscher Merkur
Autoren unterschiedlicher Gewichtung und verschiedener Epochen wie
Hugo von Hofmannsthal, Bertolt Brecht, Paul Celan, Peter Huchel, Heinar
Kipphardt und Peter Schneider berufen sich auf Lenz. Goethes Aufzeichnungen in ‚Dichtung und Wahrheit‘ bezeugen eine unerschöpfliche Kraft an der
Produktivität von Lenz, verweisen aber auch das Kranke und Selbstzerstörerische bei diesem Dichter. Romantiker wie Tieck oder Brentano achteten und
bewunderten Lenz.
Die ersten literarischen Versuche von Lenz, vornehmlich Gedichte und Dramenentwürfe, fallen in die Jahre 1766/67. Besonders hervorheben muss man
Die Landplagen. Hierin zeichnet sich, zwar in Anlehnung an das zweite Buch
Moses, überaus bemerkenswert für einen Sechzehnjährigen, eine eigentümliche Virtuosität der Sprache („Und die Hügel und Haine beginnen zu lächeln;
die Teiche / Schwellen empor und die stillen Flüsse murmeln von neuem:
[...] Die von neuem an Tafel, beladen mit Missbrauch und Wollust, / Den
verkennen, der Tau an Spitzen der Gräschen und Tropfen / An die Kronen
der Ähren hängt und die Erde befruchtet. [...] So leicht mähet der Tod die
nicht befahrenden Halmen / Blüht und prahlet ihr Blumen, ihr seid beim
Morgenlicht / Asche […].“ (Bd. 3, S. 53ff) 2 und eine Intensität der einzelnen
Szenen ab. Die religiös gefärbten Dichtungen wie das Gedicht Der Versöhnungstod Christi oder das verschollen gegangene Stück Dina dominieren
weitgehend die erste Phase seines Schaffens.
Die Lehren Kants und der Einfluss Rousseaus wirken auf ihn, besitzen eine
übergreifende und nachhaltige Wirkung für sein Werk. Unübersehbar die
Huldigung in dem Gedicht, unüberhörbar die Würdigung für den neuen Pro1 Der Aufsatz wurde uns schriftlich eingereicht, da der Verfasser nicht nach Bukarest zum
Kongress kommen konnte. (Die Red. der „ZGR“.)
2 Zitiert wird nach der Ausgabe von Sigrid Damm, Jakob Michael Reinhold Lenz, Werke und
Briefe in drei Bänden, München, Wien 1987. Die Seitenangaben finden sich in Klammern.
Thomas Söder
fessor für Logik und Mathematik, Kant:
Schon vielen Augen hat er Licht gegeben,
Einfalt im Denken und Natur im Leben
Der Weisheit Schülern, die er unterwiesen,
Mit Ernst gepriesen:
Mit reiner Lust ihr Leben angedüllet,
Weil sie den Durst nach Weisheit, den er stillet,
Doch nimmer löschet, glücklicher als Fürsten,
Zeitlebens dürsten:
Ihr Söhne Frankreichs! schmäht denn unser Norden,
Fragt ob Genies je hier erzeuget worden:
Wenn Kant noch lebet, werdt ihr diese Fragen
Nicht wieder wagen.
(Bd. 3, S. 84)
Was Herder für Goethe, war Goethe für Lenz, dies ist unbestritten. Herder
hatte Goethe auf Homer, Pindar, Ossian verwiesen, es sei nur an Die Leiden
des jungen Werther oder auch an Shakespeare erinnert, Namen, die zeitlebens eine Wirkung auf Goethe hatten.
Lenz als Dichter und Intellektueller, der sich ein Wissen über die Kantische
Moralphilosophie, die Pädagogik und das Soldatenwesen angeeignet hat,
sieht seine Situation auch kritisch. In dem am 14. März 1776 an Merck geschriebenen Brief erkennt er deutlich seine Grenzen:
Meine Gemälde sind alle noch ohne Styl, sehr wild und nachlässig aufeinander gekleckt, haben bisher nur durch das Auge meiner Freunde gewonnen.
Mir fehlt zum Dichter Musse und warme Luft und Glückseeligkeit des Herzens das bei mir tief auf den kalten Nesseln meines Schicksals halb im
Schlamm versunken liegt und sich nur mit Verzweiflung emporarbeiten
kann. (Bd. 3, S. 406)
Subjektive, ausschließlich dem Schreiben vorbehaltene Ambitionen stehen
objektiven Notwendigkeiten gegenüber, die Möglichkeiten offen legen, jederzeit scheitern zu können, da er seine bis aufs äusserste gesteigerten moralischen Anforderungen nicht immer einlösen kann. Diese sind schon fast kontraproduktiv zu den „wild und nachlässig gekleckten Gemälden“, wie Lenz
sich über seine Schriften äussert und Goethe es in Dichtung und Wahrheit
bemerkt. Unbedingter Schaffensdrang und prometheische Überschwänglich-
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ZGR 2 (42) / 2012
Jakob Michael Reinhold Lenz: „Anmerkungen übers Theater“
keit lassen bei Lenz auch immer wieder das Zaudernde und Zweifelnde aufscheinen, demzufolge schreibt er im September 1772 an Salzmann: „Dann
noch über die Glückseligkeit philosophieren, wenn ich von ihr nichts als das
Nachsehen habe?“ (Bd. 3, S. 276)
Die Ansprüche, die er selber an sich stellt, und die gesellschaftliche Realität,
die er theoretisierend wahrnimmt, können nicht, wie es bei Goethe auffallend war, in Einklang gebracht werden. Wunschdenken steht hier gesellschaftlichen Einschränkungen gegenüber, so heisst es in Der Landprediger:
Er las dannenhero zu seiner Gemütsergötzung alles, was jemals über Staatswirtschaft geschrieben worden war, schickte auch Verbesserungsprojekte
ohne Namen, bald an den Premierminister, bald an den Präsidenten von der
Kammer, auf welche er noch niemals Antwort erhalten hatte. Indessen
schmeichelte er sich doch in heiteren Stunden mit der angenehmen Hoffnung, daß sie für beide nicht könnten ohne Nutzen gewesen sein und daß
unbemerkt zum Wohl des Ganzen mitzuwirken der größte Triumph des Weisen wäre. Dabei befand er sich um nichts desto übler. Das ewige Anspornen
des allgemeinen Wohls machte ihn desto aufmerksamer auf sein Privatwohl,
welches er als den verjüngten Maßstab ansah, nach welchem er jenes allein
übersehen und beurteilen konnte. (Bd.2,S. 414/415)
Dichtung und Selbstbiographie, idealistisch gefärbte Vorstellungen, das Mitwirken am Gemeinwohl, was eine Verbesserung der sozialen und gesellschaftlichen Verhältnisse einschliesst, steht die Hoffnungslosigkeit der Realisierung derselben entgegen. Sie sind inkommensurabel. Lenz' Bemühen,
durch seine Schriften eine andere, in seinem Sinne bessere Wirklichkeit anzustreben, misslingt. In Skizzen und Traktaten, wie zum Beispiel Über die
Soldatenehen, konstruiert er eine Wirklichkeit, die an der gesellschaftlichen
Realität des Feudalabsolutismus vorbeigeht. Was reformerisch gedacht ist,
entlarvt sich als imaginäres Gebilde, als idealisiertes Wunschbild:
[…] diesen Offizier sah ich ganz der Würde seines Standes gemäss als einen
der ersten Personen im Staat, wie er zu sein verdient, sich betragen und
hochgeschätzt werden, ohne daß er diese Achtung durch Hochmut oder Unarten zu erzwingen sucht, ich sah ihn in den Armen der reizendsten Gemahlin, die nur für ihn so sorgfältig erzogen worden, des höchsten Glücks edler
Gemüther, nach Würde angebethet zu werden […] ihn festentschlossen für soviel
Schönheit in tausend bloße Schwerter zu stürzen, sie durch den hohen Grad ihres
Schmerzes und ihrer Besorgnis ihn zu dem höchsten Grad der Tapferkeit und des
Muts spannen, um so viel Liebe würdig zu werden. (Bd.2, S.800/01)
ZGR 2 (42) / 2012
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Thomas Söder
Der Offizier und Ehemann – idyllisch klingen diese Sätze, geschönt wirken
die Aussagen, die Adjektive erhöhen noch den Reiz der Aussagen, unterstreichen vehement das Anliegen, spiegeln eine Art harmonisierende Idealvorstellung. Dichterisches und Utopisches vermischen sich hier miteinander,
was aber die konkrete, sich an bestehende Verhältnisse orientierende Wirklichkeit in keiner Weise berührt. Der Dichter Lenz ist bemüht, die auffallenden
Missstände innerhalb der sozialen Wirklichkeit zu benennen, zu deuten und
auch Vorschläge für andere Lösungen zu machen, jedoch bleiben sie eher an
fiktiven Konstrukten hängen, als dass sie durchgreifende Lösungen bewirken.
Seine Forderungen sind berechtigt, der Reformwille ist spürbar, unübersehbar auch die Legitimation seiner Ansichten, sein Stil ist ungewöhnlich agitatorisch. Im weiteren Verlauf der Schrift verschärft Lenz seine Anklage, der
Tonfall wird ungewöhnlich deutlich:
[…] der Handel stockt, da die Befriedigung der Brutalität selbst zum Luxus
keine Kosten mehr übrig lassen will, die Künste liegen: wie sollte in solche
Menschen göttliche Begeisterung kommen, und wenn sie in einen käme, wo
würde er Kenner finden: die Gelehrsamkeit wird verspottet, der Ackerbau
nur aus Verzweiflung getrieben, etwa wie eine Festungsarbeit, alle Stände
seufzen, alle Bande des Staats gehen auseinander […]. (Bd. 2, S. 805)
Lenz bedenkt zwar gesellschaftliche Verhältnisse, als Bedingung für Veränderung sozialer Missstände kann dies aber nicht gewertet werden. Poetische
Wirklichkeit hat wenig oder nichts mit der gesellschaftlichen Realität zu tun.
Oftmals vermischen sich in Lenz' Werk historische Faktizität und dichterische Fiktionalität. Sie lassen sich keineswegs zur Deckung bringen. Vielfach
entsteht so lediglich eine „Projektmacherei“, die historische Faktizität zwar
erwägt, sie aber durch dichterische Fiktion als haltlos erscheinen lässt. Wirklichkeit als Fiktion in dem Werk von Lenz ist das Wahre als Dichtung, eine
gedichtete Wahrheit; in Wirklichkeit ist es die Konstruktion der Realität.
Zeilen höchster Spannung, Verse klarster Besonnenheit durchziehen das Gedicht Abschied vom Kochberg. Das Gedicht ist ein vorgezogenes Vermächtnis des fünfundzwanzigjährigen Lenz: Sehnsucht und Verzweiflung, Entsagung und Beruhigung weisen die Strophen aus. Ohne jeglichen Vorbehalt
nimmt Lenz sich auf, bedenkt das Vergangene ebenso wie das Zukünftige.
Das Gedicht ist die Vorwegnahme eines Lebensweges, vergegenwärtigt auch
sein bisheriges Leben. Der Abschied vom Kochberg mit seinem resignierenden Ausgang liest sich wie ein Selbstentwurf von Jakob Michael Reinhold
Lenz:
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ZGR 2 (42) / 2012
Jakob Michael Reinhold Lenz: „Anmerkungen übers Theater“
Indessen wird die weise Hand
Des Jünglings Ungestüm beschränken
Und wenn die Seele schon auf blassen
Lippen stand
Die Lust zum Leben wiederschenken
Ich aber werde dunkel sein
Und gehe meinen Weg allein.
(Bd. 3, S. 206)
Seine Lyrik vereinigt Mystisches und Religiöses wie auch spannungsreiche
Selbstzeugnisse, die nicht selten in eine rein persönliche Erlebnislyrik münden, in der vorwiegend Natur und Liebe als Motive vorkommen und somit
subjektive Erfahrung mit schwankenden Stimmungszuständen ausdrücken,
zweifellos unter besonderer Berücksichtigung einer Selbstreflexion. Die
Selbstreflexion als literarische Art findet bei Lenz einen ersten Höhepunkt.
Dies gilt im höchsten Masse für die Lyrik der Strassburger Zeit. Nach 1771
ändert sich der Tonfall. Immer häufiger skizziert Lenz nun ein satirisches,
fast schon sarkastisches Bild der Welt.
Die dramatische Welt von Lenz ist vielperspektivisch angelegt: Plautus, – er
hat Lustspiele nach Plautus übertragen und sie erweitert, freilich nach seiner
Art; – und Shakespeare sind vom dramatischen Ansatzpunkt die unmittelbaren Vorläufer. An Plautus erkannte er die Komik, an Shakespeare die Vereinigung von Tragischem und Komischem.
Im dramatischen Werk von Lenz finden sich immer wieder eruptive Ausbrüche der Gestalten wie auch ihr mechanisches Verharren in den Situationen.
Das Leidenschaftliche wie das Marionettenhafte in den Figuren wird bei
Lenz simultan gefasst. Oftmals vereinigen sie den Ausdruck des Grotesken
mit der Unabänderlichkeit des Schicksalhaften. Lähmend wirkt fast jede ihrer Bewegungen. Bezüge zur Bibel, Übernahme aus der Commedia dell'arte,
das Verstummen vor der Sprache, die Ohnmacht der Worte, ein Dramatisieren der Sprachlosigkeit bei drängenden individuellen Gefühlslagen, ähnlich
wie es bei Kleist zu sehen ist, verdichtet Lenz. Das Drama als Pantomime, als
eine Gebärdenakustik, wie es bei Becket und lonesco sichtbar wird, faltet
Lenz schon früh aus. In den Stücken von Lenz ist das „Absurde Theater“
bereits vollkommen angelegt.
Kein anderer Dramatiker erfuhr so viel Abweisung und Vorbehalte, zugleich
aber auch Bewunderung und Bestätigung in der Beurteilung seines Werkes
wie Jakob Michael Reinhold Lenz. Tragikomödien und Prosadichtungen, kriZGR 2 (42) / 2012
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Thomas Söder
tische Studien zur Ästhetik und Gesellschaftspolitik finden sich in dem Werk
Lenz genauso wie eine umfangreiche Lyrik.
Die im Winter 1771/72 angefangene Schrift Anmerkungen übers Theater3 ist
Lenz` Auslegung über das Theater schlechthin. Sie muss als seine Poetik betrachtet werden, nicht aber als die Poetik des Sturm und Drang. Grundzüge
einer Poetologie scheinen auf, verlieren sich nicht selten in ein kurios angelegtes Gedankenspiel.
Der Essay wirkt durch seine assoziativ verknüpfbaren Gedanken; eine durchgreifende Systematik, im Sinne einer Neubestimmung des Theaters, lässt
sich hingegen in ihm schwerlich finden, und dennoch stehen die Anmerkungen in der gleichen Rangordnung wie Herders Shakespeare-Aufsatz und
Goethes Shakespeare-Rede. Ihre Radikalität ist offenkundig, zwingend
scheint nicht alles zu sein, was Lenz notiert. Sophistische Anmerkungen,
provokante Thesen, satirische Anspielungen ersetzen in der Schrift häufig
definitive Erkenntnisse, sie vermitteln keine Ergebnisse:
Die Anmerkungen enthalten nicht Resultate, sie sind vielmehr eine Sprache
des Suchens, der noch unklaren und unvollkommenen Entstehung von Gedanken. Sie sind Experimente ihrer Formulierung.4
Aphoristisches steht neben längeren Ausführungen, die Lenz polemisch vorträgt. Vieles erscheint plakativ, manche Äusserungen sind nur angedeutet
und entbehren jeglicher konsequenter Auseinandersetzung. An einigen Stellen karikiert er eigenwillig und höchst willkürlich die Auffassung des früheren Theaters, seltsam wirken einige Auslegungen, merkwürdig auch bestimmte Ansichten.
Deutung und Deutbarkeit der Anmerkungen ergeben sich aus ihrem Versuch. Sie sind das, was sie evozieren: subjektive Anmerkungen, und implizieren eine recht persönliche Darstellung des Theaters. Sie leben aus ihrem
Entwurfcharakter.5 Die Anmerkungen lassen eine Ganzheit erahnen, zeigen
3 In einer Randnotiz zu den Anmerkungen bezeichnet Lenz sich selbst als einen „unparteiischen Dilettanten.“ (Bd. 2, S. 641)
4 Martini, Fritz, Die Einheit der Konzeption in J.M.R. Lenz Anmerkungen übers Theater. In:
Martini, Fritz, Geschichte im Drama, Drama in der Geschichte. Stuttgart 1979, S. 254
5 Vgl. Martini, a.a.O., S. 253 „Die Anmerkungen sind als eine aktuelle Poetik, als ein Manifest
und Entwurf gemeint, bezogen auf die gegenwärtige Bewusstseinslage und Gesellschaftsverfassung und auf eine Zukunft, die sich aus ihr heraus und ihr entgegen vorbereiten soll. Lenz
tritt als der Anwalt und Propagandist des neuen Dramas auf – zwischen einer abgelebten Ver-
14
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Jakob Michael Reinhold Lenz: „Anmerkungen übers Theater“
aber keine einheitliche Konzeption, sie bestimmen sich durch poetologische
Standpunkte, manifestieren verschiedene Abbreviaturen von dramaturgischen Ansichten. Ihre Einheit liegt aber gerade in dem Entwurf.
Eine gewisse Unmittelbarkeit des Ausdrucks ist ihnen anzumerken, wobei
die Gedankenführung nicht immer stringent ist. Lenz wechselt plötzlich die
Perspektive seiner Ausführungen und setzt sich bisweilen über inhaltliche
Grenzen literaturgeschichtlicher Epochen hinweg. Ziel der Anmerkungen ist
das Bewusstmachen einer dichterischen Fiktionalität des Dramas, in der er
Rechtfertigung und Erklärung für seine Dramen sieht. Durch die Rezeption
der Weltgeschichte des Dramas, – was zweifellos eine ästhetische Reduktion
zur Folge hat, – antizipiert er seine Auffassung von einem modernen Drama,
so daß die Antizipation eine Art Legitimation für seine eigenen Dramenentwürfe bildet.
Lenz beginnt seine Ausführungen, indem er in seiner Einbildung „ein
ungeheures Theater vorbeiziehen“ lässt. Wunsch und Imagination kündigen
sich hier schon an. Es ist ein gedichtetes Theater, eine erfundene Skizzierung
für ein mögliches, neues Drama. In diesem Theater treten Schauspieler der
Alten auf. Es ist Lenz` Darstellung des griechischen und römischen Theaters.
Lenz fasst die bisherige Geschichte des „Welt-Theaters“ zusammen, – über
Aulus Gellius, Ovid, Plautus, Terenz, Roscius und Cicero, Aristoteles bis zum
gegenwärtigen Theater. Es ist eine Kosmologie des bisherigen Theaters. Rezeptiv und mit einem satirischen Unterton werden die einzelnen Positionen
vorgetragen und in unterschiedliche Departemente eingeteilt. Mit Kritik am
französischen Theater spart er genauso wenig wie mit Polemik gegen Lessing, die Bewunderung für Shakespeare ist hingegen offenkundig. Die Textsorten Komödie und Tragödie werden gleichsam auf eine eigentümliche Art
kommentiert.
Nach Lenz ist das Wesen der Poesie:
[...] die Nachahmung der Natur, das heißt aller der Dinge, die wir um uns
herum sehen, hören etcetera, die durch die fünf Tore unsrer Seele in derselben hineindringen, und nach Maßgabe des Raums stärkere oder schwächere
Besatzung von Begriffen hineinlegen, [...]. (Bd. 2, S. 645)
Nachahmung bedeutet nicht ein 'Nachmachen' der inneren oder äusseren
gangenheit und einer geforderten Zukunft, die vorzubereiten das neue und damit sein eigenes
Drama mithelfen soll.“
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Thomas Söder
Welt, sie ist auch keine Idealisierung von Welt, vielmehr ist sie in dieser
Konstellation eine Wahrnehmung der Natur ausschliesslich über die Sinnlichkeit. Erst durch die Sinne wird Welt erfahrbar. Und dieses Nachahmen
ist ein Grundtrieb jedes Menschen; jedoch ist dieses Nachahmen nur aufgrund eines „unendlich freihandelnden Wesen(s)“ (Bd. 2, S. 645), das Gott
ist, möglich. Lenz geht davon aus, dass ein Kunstschaffender analog zu einem schaffenden Gott ist, insofern ist die Aufgabe des Künstlers: „[...] seine
Schöpfung ins Kleine zu schaffen.“ (Bd. 2, S. 645) Was sich hier in einem religiösen Bild zu erkennen gibt, ist keineswegs eine neue Poetik der Dichtkunst, sondern vergegenwärtigt lediglich Lenz’ subjektive Auffassung, die in
seinem theologischen Verständnis gründet. Der Dichter ist in Anlehnung an
Shaftesbury der ‚second maker’.
Der Weltschöpfer und der Welten-schöpfende, d.i. Gott und der Dramatiker
stehen in einem ambivalenten Verhältnis zueinander. Dadurch ist dann der
Dramatiker ein Handelnder, insofern,
[…] daß handeln, handeln die Seele der Welt sei, nicht genießen, nicht empfindeln, nicht spitzfündeln, daß wir dadurch allein Gott ähnlich werden, der
unaufhörlich handelt und unaufhörlich an seinen Werken sich ergötzt: das
lernen wir daraus, daß die in uns handelnde Kraft, unser Geist, unser höchstes Anteil sei, daß die allein unserm Körper mit allen seinen Sinnlichkeiten
und Empfindungen das wahre Leben, die wahre Konsistenz, den wahren
Wert gebe, daß ohne denselben all unser Genuß all unsere Empfindungen,
all unser Wissen doch nur ein Leiden, doch nur ein aufgeschobener Tod
sind. Das lernen wir daraus, daß diese unsre handelnde Kraft nicht eher
ruhe, nicht eher ablasse zu wirken, zu regen, zu toben, als bis sie uns Freiheit
um uns her verschafft, Platz zu handeln, guter Gott Platz zu handeln und
wenn es ein Chaos wäre das du geschaffen, wüste und leer, aber Freiheit
wohnt nur da und wir könnten dir nachahmend drüber brüten, bis was herauskäme – […]. (Bd. 2, S. 638)
Nachdem Lenz sein Ansicht über das Wesen der Poesie dargestellt hat,
kommt er auf die Mimesis von Aristoteles zu sprechen. Lenz sieht wohl, dass
die Poetik Aristoteles` ausschliesslich unter den damals gegeben geistes- und
kulturgeschichtlichen Hintergründen möglich war. Einen wesentlichen Kritikpunkt bei Aristoteles sieht Lenz darin, dass dieser vom Dichter forderte,
„[...] Begebenheiten nicht vorstellen, wie sie geschehen sind, sondern geschehen sollten“ (Bd. 2, S. 651) Jede dramatische Figur hat nach Lenz in ihrer
Sinngebung individuell - autonome Charaktereigenschaften zu repräsentieren und darf nicht wie bei Aristoteles gebunden sein an gegebene, aufgestell-
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te Prinzipien, vornehmlich idealen Gegebenheiten. Hier ist Lenz der Aufklärer schlechthin: Die Schicksalsgebundenheit der Menschen im aristotelischen Drama, besonders in der Tragödie, entspricht nicht dem Bewusstsein
des neuzeitlichen Ansatzes.
Die aristotelische Dramentheorie wird von Lenz sarkastisch in Frage gestellt.
Er spricht sich eindeutig gegen die Lehre von der Einheit 6 der Zeit, des Ortes
und der Handlung aus. Zwar soll der Zuschauer eine Ganzheit in den einzelnen Stücken erkennen können, die Einhaltung der Regeln ist jedoch nicht
zwingend notwendig:
Was heißen die drei Einheiten? hundert Einheiten will ich euch angeben, die
alle immer doch die eine bleiben. Einheit der Nation, Einheit der Sprache,
Einheit der Religion, Einheit der Sitten − ja was wird's denn nun? Immer
dasselbe, immer und ewig dasselbe. Der Dichter und das Publikum müssen
die eine Einheit fühlen aber nicht klassifizieren. Gott ist nur Eins in allen
seinen Werken, und der Dichter muß es auch sein, wie groß oder klein sein
Wirkungskreis auch immer sein mag. Aber fort mit dem Schulmeister, der
mit seinem Stäbchen einem Gott auf die Finger schlägt.“ (Bd. 2, S. 655)
Jede Art der Klassifikation oder Reglementierung wird von dem Dichter Der
Hofmeister verworfen. Und selbst in dem 1773 erschienen Stück Der Neue
Menoza greift Lenz das Thema von den drei Einheiten in Bezug auf Zeit und
Ort erneut auf.7
6 Ähnliches bedenkt auch Goethe in seinem Shakespeare-Aufsatz, wenn er notiert: „Ich zweifelte keinen Augenblick, dem regelmäßigen Theater zu entsagen. Es schien mir die Einheit des
Ortes so kerkermäßig ängstlich, die Einheiten der Handlung und der Zeit lästige Fesseln unsrer Einbildungskraft. Ich sprang in die freie Luft und fühlte erst, daß ich Hände und Füße
hatte.“ Johann Wolfgang von Goethe, Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, Textkritisch durchgesehen und kommentiert von Erich Trunz. München 1981, Bd. 12, S. 225.
7 Ganz ungewöhnlich in der deutschsprachigen Literatur ist Der Neue Menoza. In der 2. Szene des 5. Aktes mischt Lenz in den Handlungsverlauf ein Gespräch über ein formalästheti sches Prinzip der Theatergeschichte. Wieder ist es die Rückbesinnung auf das griechische
Theater. „Bürgermeister: So? und was sind denn das für Regeln? Das ist wahr, ich denke immer dabei, das wird nur so vorgestellt. Zierau: Ja, aber das müssen Sie nicht denken, wenn
das Stück nur mittelmäßig sein soll. Zu dem Ende sind gewisse Regeln festgesetzt worden,
ausser welchen dieser sinnliche Betrug nicht statt findet, dahin gehören vornehmlich die so
sehr bestrittenen drei Einheiten, wenn nämlich die ganze Handlung nicht in Zeit von vier und
zwanzig Stunden aufs höchste an einem bestimmten Ort geschieht, so kann ich sie mir nicht
wohl denken und da geht denn das ganze Vergnügen des Stücks verloren. Bürgermeister:
Wart! Das will ich doch heut examinieren, ich begreif, ich fang an zu begreifen, drei Einheiten,
das ist so viel als dreimal eins. Und zweimal vier und zwanzig Stunden darf das ganze Ding
nur währen? Wie aber, was? Es hat ja sein Tag noch nicht so lang gewährt. Zierau: Ja Vater!
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Aristoteles. Die Einheit der Handlung. Fabula autem est una, non ut aliqui
putant, si circa unum sit. Er sondert immer die Handlung von der handelnden Hauptperson ab, die bongré malgré in die gegebene Fabel hineinpassen
muss, wie ein Schiffstau in ein Nadelöhr. Unten mehr davon, bei den alten
Griechen war's die Handlung, die sich das Volk zu sehen versammlete. Bei
uns ist's die Reihe von Handlungen, die wie Donnerschläge auf einander folgen, eine die andere stützen und heben, in ein großes Ganzes zusammenfließen müssen, das hernach nichts mehr und nichts minder ausmacht, als die
Hauptperson, wie sie in der ganzen Gruppe ihrer Mithändler hervorsticht.
Bei uns also fabula est una si circa unum sit.“ (Bd. 2, S. 655/6)
Kausale Handlungsschemata werden von Lenz aufgebrochen zugunsten von
dramatisch gestalteten Handlungsabläufen. Sah Aristoteles in der Einheit
der Handlung noch jenes Prinzip, so dass eine eindeutige Kausalität in den
einzelnen Handlungsschritten manifest war, so ist bei Lenz das Situative der
Handlung entscheidend, die aber nie ‚gezwungen’ wirken darf, denn:
Der große Wert einer dramatischen Ausarbeitung besteht also immer in der
Erregung des Interesse, Ausmalung großer und wahrer Charaktere und Leidenschaften, und Anlegung solcher Situationen, die bei aller i h r e r N e u h e i t
nie unwahrscheinlich noch gezwungen ausfallen. (Bd. 2, S. 745)
Die unabdingbare Folgerichtigkeit einer Handlungsteleologie ist nach Lenz
nicht zwingend.8 Jeder Akt der Handlung ist insofern autonom. Urplötzlich,
wie die von Lenz erwähnten ‚Donnerschläge’, kann dadurch eine andere, somit auch divergierende Handlung einsetzen. Die Simultaneität von Handlungssträngen gibt sich hierin zu erkennen, eine Simultaneität, die verschiedene Ansatzschwerpunkte in der Handlungsführung deutlich macht. Das
Eindimensionale von Handlungsschritten führt dann schließlich zu einer
Das ist nun wieder ein ganz ander Ding, ich muß mir einbilden, daß es nur vier und zwanzig
Stunden gewährt hat. Bürgermeister: Na gut, gut, so will ich mir`s einbilden – willst du nicht
mitkommen? Ich will doch das Ding heut einmal untersuchen, und verstehn sie mir ihre Sachen nicht, so sollen die Kerls gleich aus der Stadt.“ (Bd.1,S.188/89)
8 Vgl. dazu besonders Von Shakespeares Hamlet: „Wer kann es aushalten bei Szenen die nun
einmal aneinanderhängen s o l l e n und m ü s s e n, eine Liebhaberin hereintreten, wimmern
und jammern zu sehen, ihre Freundin zu sagen, le voici, um deswillen ich hier aufgetreten bin
in dem Augenblick ihn als eine Drahtpuppe herbeigewinkt oder herbeigezogen zu sehen und
all die schönen Verse von ihr abzuholen, wer kann es aushalten die jämmerlich gezwungene
Marionettenszene da der Vater in ebendem Augenblick kommen und sich mit langsamen
Schritten nähern muß um das Wort aus seinem Munde aufzuhaschen, mon père – le voici –
wo um aller Götter willen bleibt da Wahrscheinlichkeit, die erste unverletzlichste, heiligste
Grundregel aller Poeterei aller Täuschungen und alles Vergnügens.“ (Bd. 2, S. 741/42)
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Mehrdimensionalität der dramatischen Handlung.
In der 1773 erschienenen Schrift `Von deutscher Art und Kunst` notiert Herder wegweisende Ansichten über das Theater der damaligen Zeit, zugleich ist
es auch eine kulturelle Auseinandersetzung der beiden Theaterformen, indem Herder den Unterschied des klassizistisch tektonischen Dramas und der
shakespeareschen Form beschreibt:
In Griechenland entstand das Drama, wie es im Norden nicht entstehen
konnte. In Griechenland wars, was es im Norden nicht sein kann. Im Norden
ists also nicht und darf nicht sein, was es in Griechenland gewesen. Also Sophokles Drama und Shakespeares Drama sind zwei Dinge, die in gewissem
Betracht kaum den Namen gemein haben. Ich glaube diese Sätze aus Griechenland selbst beweisen zu können, und eben dadurch die Natur des nordischen Drama, und des größten Dramatisten in Norden, Shakespeares sehr
zu entziffern.9
Herder verfolgt hier eine theatergenetische Analyse, vor dem Hintergrund
einer kulturgeschichtlichen Auseinandersetzung, die sowohl den Griechen
als auch Shakespeare gerecht wird. Es ist eine Genese, die differenziert und
aufzeigt, dass verschiedene kulturelle Bedingungen für die Schaffung eines
9 Herder, Johann Gottfried, Von deutscher Art und Kunst, Stuttgart 1999, S. 67. Vgl. dazu
weiter: „Die griechische Tragödie entstand gleichsam aus Einem Auftritt, aus dem Impromptu
des Dithyramben, des mimischen Tanzes, des Chors. Dieser bekam Zuwachs, Umschmelzung:
Äschylus brachte statt Einer handelnden Person zween auf die Bühne, erfand den Begriff der
Hauptperson, und verminderte das Chormäßige. Sophokles fügte die dritte Person hinzu, erfand Bühne – aus solchem Ursprunge, aber spät, hob sich das griechische Trauerspiel zu seiner Größe empor, ward Meisterstück des menschlichen Geistes, Gipfel der Dichtkunst, den
Aristoteles so hoch ehret, und wir freilich nicht tief gnug in Sophokles und Euripides bewundern können.“ Man siehet aber zugleich, daß aus diesem Ursprunge gewisse Dinge erklärlich
werden, die man sonst, als tote Regeln angestaunet, erschrecklich verkennen müssen. Jene
Simplizität der griechischen Fabel, jene Nüchternheit griechischer Sitten, jenes fort ausgehaltne Kothurnmäßige des Ausdrucks, Musik, Bühne, Einheit des Orts und der Zeit – das Alles lag ohne Kunst und Zauberei so natürlich und wesentlich im Ursprunge griechischer Tragödie, daß diese ohne Veredlung zu alle Jenem nicht möglich war.“ Herder, a.a.O. S. 67f und
weiter: „Shakespear fand keinen Chor vor sich; aber wohl Staats – und Marionettenspiele –
wohl! er bildete also aus diesen Staats- und Marionettenspielen, dem so schlechten Leim! das
herrliche Geschöpf, das da vor uns steht und lebt! Er fand keinen so einfachen Volks- und Vaterlandscharakter, sondern ein Vielfaches von Ständen, Lebensarten, Gesinnungen, Völkern
und Spracharten – der Gram um das Vorige wäre vergebens gewesen; er dichtete also Stände
und Menschen, Völker und Spracharten, König und Narren, Narren und König zu dem herrli chen Ganzen!, Herder, a.a.O., S. 76f.
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Theaterstückes entscheidend sind.
Besonderes Augenmerk richtet Herder in seiner Darstellung auf die Einheit
der Zeit:
Sollte es denn jemand in der Welt brauchen demonstriert zu werden, daß
Raum und Zeit eigentlich an sich nichts, dass sie die relativste Sache auf Dasein, Handlung, Leidenschaft, Gedankenfolge und Maß der Aufmerksamkeit
in oder außerhalb der Seele sind? Hast denn du, gutherziger Uhrsteller des
Dramas, nie Zeiten in deinem Leben gehabt, wo dir Stunden zu Augenblicken,
und Tage zu Stunden, Gegentheils aber auch Stunden zu Tagen und Nachtwachen zu Jahren geworden sind?10
Nicht die Kategorie der Zeit ist entscheidend für die Theaterstücke, vielmehr
die Handlung, die den Zuschauer affizieren soll. Damit ist nach Herder diese
Kategorie überflüssig.
Der Einfluss Shakespeares auf die Stürmer und Dränger ist unübersehbar.
Wieder ist es Herder10, der einen wichtigen Anstoss für die Rezeption gibt.
An seinen Stücken erkennt er, dass sie durch und durch geschichtlich sind
und voller Leben stecken. Nichts ist hierin geprägt von einer Pragmatik oder
Weltfernheit, in ihnen ist das pulsierende Leben realistisch abgebildet, basierend auf individuellen Ereignissen und Zuständen. Goethes Götz von Berlichingen ist das dokumentarische Aufgreifen der Lebensgeschichte und deren
objektive Umsetzung, losgelöst von allen Bemühungen einer ästhetischen
10 Herder, a.a.O., S. 86.
10 Vgl. dazu Herder „Man lasse mich als Ausleger und Rhapsodisten fortfahren: denn ich bin
Shakespeare näher als dem Griechen. Wenn bei diesem das Eine einer Handlung herrscht: so
arbeitet jener auf das Ganze eines Eräugnisses, einer Begebenheit. Wenn bei jenem ein Ton
der Charaktere herrschet, so bei diesem alle Charaktere, Stände und Lebensarten, so viel nur
fähig und nötig sind, den Hauptklang seines Konzerts zu bilden. Wenn in jenem eine singende
feine Sprache, wie in einem höhern Äther tönet, so spricht dieser die Sprache aller Alter, Menschen und Menscharten, ist Dolmetscher der Natur in all ihren Zungen – und auf so verschie denen Wegen beide Vertraute einer Gottheit? – Und wenn jener Griechen vorstelle und lehre
und rühre und bildet, so lehre, rührt und bildet Shakespeare nordische Menschen! Mir ist,
wenn Ich ihn lese, Theater, Akteur, Kulisse verschwunden! Lauter einzelne im Sturm der Zeiten wehende Blätter aus dem Buch der Begebenheiten, der Vorsehung der Welt! – einzelne
Gepräge der Völker, Stände, Seelen! die alle die verschiedenartigsten und abgetrenntest handelnden Maschinen, alle – was wir in der Hand des Weltschöpfers sind – unwissende, blinde
Werkzeuge zum Ganzen eines theatralischen Bildes, einer Größe habenden Begebenheit, die
nur der Dichter überschauet. Wer kann sich einen größern Dichter der nordischen Menschheit und in dem Zeitalter! denken!“ a.a.O. S. 77/78.
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Konstruktion und Form der Idealisierung. Dies war ganz im Sinne Shakespeares, in dessen Werken sich uneingeschränkt wirklichkeitsnahe Verhältnisse spiegelten, Menschen, die sich vorbehaltlos durch ihre Leidenschaften
und Nöte zu erkennen gaben, die ihr Da-Sein repräsentieren; eine Welt, die
durch eine genau objektive Darstellung beschrieben wird; eine Welt aber
auch, in der die verschiedenartigen Individuen zu ihrem Recht kommen; so
folgert Lenz in einem Brief an Salzmann aus dem Jahre 1772:
[…]; bedenken Sie, daß die Welt ein Ganzes ist, in welches allerlei Individua
passen; die der Schöpfer jedes mit verschiedenen Kräften und Neigungen
ausgerüstet hat, die ihre Bestimmung in sich selbst erforschen und hernach
dieselbe erfüllen müssen; sie sei welche sie wolle. (Bd. 3, S. 288)
Die Begeisterung für Shakespeare stützt sich auch darauf, dass er gesellschaftliche Unterschiede genauso wie die daraus resultierenden sozialen
Missstände in seinen Stücken beschrieb, eine totale Welt, in der der Narr
gleichberechtigt neben einem König bestehen kann. Jakob Michael Reinhold
Lenz folgt diesem Beispiel. Seine Shakespeare-Aneignung und -Verehrung
kommen in den folgenden Zeilen zum Ausdruck:
Seine Sprache ist die Sprache des kühnsten Genius, der Erde und Himmel
aufwühlt, Ausdruck zu den ihm zuströmenden Gedanken zu finden. Mensch
in jedem Verhältnis gleich bewandert, gleich stark, schlug er ein Theater fürs
ganze menschliche Geschlecht auf, wo jeder stehen, staunen, sich freuen,
sich wieder finden konnte, vom oberen bis zum untersten. Seine Könige und
Königinnen schämen sich so wenig als der niedrigste Pöbel, warmes Blut in
schlagenden Herzen zu fühlen, oder kützelnder Galle in schalkhaftem Scherzen Mut zu machen, denn sie sind Menschen, auch unterm Reifrock, kennen
keine Vapeurs, sterben nicht vor unsern Augen in müßiggehenden Formularen dahin, kennen den tönenden Wohlstand nicht. Sie werden hier nicht ein
Stück sehen, das den und den, der durch Augengläser bald so, bald so verschoben, drauf losguckt, allein interessiert, sondern wer Lust und Belieben
trägt, jedermann, bringt er nur Augen mit und einen gesunden Magen, der
ein gutes spasmatisches Gelächter […]. (Bd. 2, S.670/71)
Shakespeare gilt Lenz als Kronzeuge für die Gestaltung des Theaters. Er erfindet Geschichten, die voller Leben stecken, Leben, das sich abspielt in der
Wirklichkeit und nicht auf leeren ‚Formularen’. Hier sind keine konstruierten Welten, keine hohlen Phrasen.
Am Beispiel von Cäsar macht Lenz den Unterschied zwischen dem Französischen und Englischen Theater – personifiziert an Voltaire und Shakespeare
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– deutlich. Für Voltaire und das Französische Theater 11 hat er nur Spott und
Verachtung übrig. Voltairesche Figuren wirken merkwürdig abgezogen und
konstruiert, sie wirken immer wie ausgeschlossen aus dem Leben und handeln wie Marionetten. Hierin liegt eine radikale Ablehnung des Französischen Theaters denn: „So sind Voltairens Helden fast lauter tolerante Freigeister, Corneillens lauter Senecas.“ (Bd. 2, S. 662) Was Lenz in diesen Zeilen zusammenfasst, unterstreicht noch einmal sein Anliegen, macht aber
auch deutlich, dass die Franzosen ‚leblose’ Figuren geschaffen haben.
Shakespeare entwirft keine konstruierten Welten, keine hohlen Phrasen, die
um ihretwillen gesprochen werden, keine Personen, die aufgrund von Regieanweisungen agieren und reagieren müssen, sondern die agieren und reagieren aufgrund einer Situation; die sich mitteilen durch Mimik und Gestik, die
aus ihnen kommen, oftmals ostentativ heraus brechen, nicht zwanghaft, sondern der Situation entspringen, angemessen, mit der Kraft oder Schwäche
ihrer Individualität; die Personen bei Shakespeare werden selbst zu Episoden, die nicht sezessiv zum Geschehen sind, vielmehr aufs Innigste damit
verbunden sind; jede Figur ist schon eine Abbreviatur des Ganzen, worin
sich allgemeine Bedingungen und persönliche Verhältnisse spiegeln, historisch-objektive, faktisch nachvollziehbare, mit gesellschaftlichen Hintergründe, genauso wie individuelle Schicksale finden: „Cäsar ist in Rom so nie bedauert worden, als unter den Händen Shakespears.“ (Bd. 2, S. 658)
An Shakespeare erkennt Lenz, dass er „ein Theater fürs ganze menschliche
Geschlecht“ (Bd. 2, S. 670) geschaffen hat. Shakespeare hat das Theater der
11 Vgl. dazu „Man braucht nicht lange zu beweisen, daß die französischen Schauspiele den
Regeln des Aristoteles entsprechen, sie haben sie bis zu einem Punkt hinausgetrieben, der jedem Mann von gesunder Empfindung Herzensangst verursacht. Es gibt nirgend in der Welt
so grübelnde Beobachter der drei Einheiten: der willkürliche Knoten der Handlung ist von
den französischen Garnwebern zu einer solchen Vollkommenheit bearbeitet worden, daß man
an ihrem Witz in der Tat bewundern muß, als welcher die simpelsten und natürlichsten Begebenheiten auf so seltsame Arten zu verwirren weiß, daß noch nie eine gute Komödie außer
Landes ist geschrieben worden, die nicht von fünfzigen ihrer besten Köpfe immer wieder in
veränderter Gestalt wäre vorgezeigt worden. Sie setzen, wie Aristoteles, den ganzen Unterschied des Schauspiels darin, daß es vierundzwanzig Stunden währt und suavi sermone, siehe
seine Definition. Das Erzählen im Trauerspiel und in der Epopee ist ihnen gleichgültig und sie
machen mit dem Aristoteles die Charaktere nicht nur zur Nebensache, sondern wollen sie
auch wie Madame Dacier gar schön auseinandergesetzt hat, gar nicht einmal im Trauerspiel
leiden. Ein Unglück, daß die gute Frau bei Charakteren sich immer Masken und Fratzen dachte, aber wer kann davor?“ (Bd. 2, S. 659)
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Renaissance unter dem Diktum formaler Bedingungen und Möglichkeiten
verändert. Lenz hingegen fordert das Gleiche für den Sturm und Drang. Insofern beinhalten die Anmerkungen übers Theater Maxime, die eine programmatische Realisierung unter veränderten politischen und sozialen Verhältnissen zum Ziel haben. Für beide – Shakespeare und Lenz – gilt, daß das
Individuum mit seinen Fähigkeiten wie auch Unzulänglichkeiten als dominierendes Element gewertet wird. Keine Spekulation ‚über etwas’, keine
schablonenartige Darstellung der Wirklichkeit, kein künstlicher Manierismus, vielmehr ein Individualismus, so betont er im Brief an Salzmann „[...];
bedenken Sie, daß die Welt ein Ganzes ist, in welches allerlei Individuen passen, die der Schöpfer jedes mit verschiedenen Kräften und Neigungen ausgerüstet hat, die ihre Bestimmung in sich selbst erfahren und hernach dieselbe
erfüllen müssen; sie seie welche sie wolle.“ (Bd. 3, S. 288), der das Natürliche der Personen zeigt: „Glauben Sie mir aber, daß die menschliche Einbildungskraft lange nicht so viel erdichten kann, als das menschliche Leben erfahren muß.“ (Bd. 3, S. 268), wie es Lenz am 2. September 1772 an seinen
Vater schreibt, steht im Vordergrund. „Es kommt izt darauf an, was beim
Schauspiel eigentlich der Hauptgegenstand der Nachahmung: der Mensch?
oder das Schicksal des Menschen?“ (Bd. 2, S. 650) Die Figuren werden in
ihre individuellen Eigenschaften aufgesplittert, damit ihr Charakter sichtbar
wird, denn zur Beschreibung einer Person gehört mehr, als „an einem Ideal
der Schönheit zu zeichnen, das endlich doch nur in den Hirnen des Künstlers“ (Bd. 2, S. 653) besteht. Dadurch vollzieht Lenz die Abkehr von den
Idealdichtern.
Den Abschluss der Anmerkungen bildet die Unterscheidung Komödie und
Tragödie: „Meiner Meinung nach wäre immer der Hauptgedanke einer Komödie e i n e S a c h e, einer Tragödie e i n e P e r s o n.“ (Bd. 2, S. 669) Äus serst befremdlich wirken diese Aussagen und können nur als einen weiteren
Affront gegen Aristoteles gewertet werden. Die poetologische Auffassung
Aristoteles' über Komödie und Tragödie wird in der Aussage des Dichters
von Die Soldaten umgekehrt. Nach Lenz ist es in der Tragödie der Charakter,
der sinnstiftend die Handlung antreibt; die Komödie hingegen hat nur einen
funktionalen Aspekt, die Sache oder die Situation ist also Mittel. „Ich nenne
durchaus Komödie nicht eine Vorstellung, die bloss Lachen erregt, sondern
eine Vorstellung, die für jedermann ist.“ (Bd. 2, S. 703) Komödien waren
schon immer für das Volk bestimmt. Lenz unternimmt hier eine bildungsgenetische Abstufung, das Possenhafte und Lustige unterstellt er dem Volk,
denn: „Komödie ist Gemälde der menschlichen Gesellschaft, und wenn die
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ernsthaft wird, kann das Gemälde nicht lachend werden.“ (Bd. 2, S. 703) Die
sich hierin manifestierende Ansicht bezeugt einen bildungstheoretischen
Aspekt mit einem eindeutig bildungssoziologischen Hintergrund: Das Volk
soll zum Ernsthaften erzogen werden, denn: „Daher müssen unsere deutschen Komödienschreiber komisch und tragisch zugleich schreiben, weil das
Volk, für das sie schreiben, oder doch wenigstens schreiben sollten, ein solcher Mischmasch von Kultur und Rohigkeit, Sittigkeit und Wildheit ist. So
erschafft der komische Dichter dem tragischen sein Publikum.“ (Bd. 2, S.
703/704) Die Komödie ist nur Mittel für die Tragödie und ist zugleich Abbild
der Gesellschaft in all ihren Nuancen.
Der an Plautus geschulte Leser Lenz – Plautus hat in der Vorrede zu seinem
Amphytrio durch Gott Mercurius den Begriff der Tragikomödie erstmals eingeführt – sieht gerade in der Ungleichheit der Bildung des Volkes die Legitimation für die erwähnte ‚Mischform’ des Theaters: die Tragikomödie. Lenz
geht in seiner Abhandlung keineswegs auf formale oder inhaltliche Prinzipien der Tragikkomödie ein, sondern reklamiert für sich den Bildungsstand
des Volkes als Ansatzpunkt für diese Form des Theaters.
Gemäss seiner eigenen Forderung, die als Gesetz seiner Dichtung gewertet
werden muss, gestaltet Lenz in seinen Stücken „Gemälde der menschlichen
Gesellschaft“ (Bd. 2, S. 703). In diesen ‚Gemälden’ überzeugen die Figuren
durch ihre individuellen Züge, durch Wirkungen, die sie erleben und Gegenwirkungen, die sie ertragen müssen. Lenz gestaltet Personen, die durch lebendige Spannungen und Widersprüche gekennzeichnet sind. Er entwirft
‚Gemälde‘, deren Ursprünge in der Nachahmung der Natur liegen. Dadurch
erreicht die ‚gedichtete Wirklichkeit’ faktische Glaubwürdigkeit. Durch die
Sublimierung des Faktischen in eine poetische Wirklichkeit entsteht bei Lenz
eine Lebensfülle der Personen. In dem erwähnten 'Gemälde' zeichnet Lenz
seine Figuren genau nach der Natur, hält sie aber ständig offen. Es sind keine „hingekleckten Charaktere“ (Bd. 2, S. 653), vielmehr vereinigen sich in ihnen individuelle Eigenschaften mit allgemeinen Bedingungen. Sinn und
Zweck des ‚Gemäldes’ liegen in der Schaffung eines Bewegungsspielraums:
es ist ein Gemälde, das zum einen Persönliches in den Vordergrund stellt,
zum anderen die Notwendigkeit des Alltäglichen einfängt. Tragisches und
Komisches vereinigt der Dichter in seinen Gestalten, ohne die realistische
Darstellung zu verlieren. Die ‚menschliche Gesellschaft’ in all ihren Unterschieden und Schattierungen wirkt von Lenz naturgetreu nachgestellt. Das Gesetz,
‚Gemälde der menschlichen Gesellschaft’ zu zeichnen, wird von Lenz durchgän-
24
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Jakob Michael Reinhold Lenz: „Anmerkungen übers Theater“
gig befolgt. Damit löst er die Anmerkungen übers Theater vorbildlich ein.
Lenz entfaltet in seiner theaterästhetischen Schrift teilweise unstrukturiert
und unsystematisch seine Gedanke über das Theater; sie sind keineswegs als
eine umfassende Theorie für das Theater zu betrachten. Aufschlussreich ist,
dass er durch die Theatergenese die Legitimation für seine Dramenentwürfe
implicite mit anspricht. Das Theater bei Lenz ist auf dem Weg zu einem gedichteten Seelentheater.
Die Anmerkungen über das Theater sind das, was sie implizieren: Bemerkungen über das Theater der damaligen Zeit. Sie sind ein wesentlicher Beitrag für die Auffassung der Stürmer und Dränger. In ihnen finden sich weder
eine Poetik noch eine Poetologie für eine Dramentheorie.
Literatur:
1.
2.
3.
4.
LENZ, Jakob Michael Reinhold: Werke und Briefe in drei Bänden. Hrsg. Sigrid Damm.
München/Wien 1987.
MARTINI, Fritz: Die Einheit der Konzeption in J.M.R. Lenz' „Anmerkungen übers Theater“. In: Martini, Fritz, Geschichte im Drama, Drama in der Geschichte. Stuttgart 1979.
GOETHE, Johann Wolfgang: Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, Textkritisch durchgesehen und kommentiert von Erich Trunz. München 1981.
HERDER, Johann Gottfried: Von deutscher Art und Kunst. Stuttgart 1999.
Zusammenfassung:
Die „Anmerkungen über das Theater“ sind Bemerkungen über das Theater der damaligen Zeit. Sie sind ein wesentlicher Beitrag für die Auffassung der Stürmer und
Dränger. In ihnen finden sich weder eine Poetik noch eine Poetologie für eine Dramentheorie. Lenz entfaltet in seiner theaterästhetischen Schrift teilweise unstrukturiert und unsystematisch seine Gedanken über das Theater. Aufschlussreich ist, dass
er durch die Theatergenese die Legitimation für seine Dramenentwürfe implicite mit
anspricht.
Schlüsselwörter: Anmerkung, Theater, Entwurfcharakter, Aristoteles, Shakespeare, Herder, Goethe
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MOTIVISCHES ERZÄHLEN BEI ANNA SEGHERS,
erläutert besonders am Beispiel der Erzählung “Steinzeit“
Peter Göhler
Seghers’ lapidarer, dichter, sehr auf das Detail achtender Erzählstil wird wesentlich durch die Verwendung von Motiven verschiedener Art und Funktion
geprägt, deren Wahrnehmung durch den Leser erheblich zum Verständnis
Seghersscher Texte beiträgt. Die Erzählerin selbst wahrt oftmals große Distanz zu ihren Figuren, hält sich mit Wertungen oder Hinweisen zu ihrem
Verständnis weitgehend zurück. Genaues Lesen ist gefragt.
Ich gebe ein Beispiel: Die schönsten Sagen vom Räuber Woynok 1 erzählen
das schwierige Verhältnis zwischen einem Einzelgänger und einer Gemeinschaft. Bei Anna Seghers sind es oft winzige Lichtpünktchen in den Augen
von Figuren, die Lebenswillen signalisieren. Woynoks Augen, die klar sind und
dem Gegenüber keinen Zugang zum Inneren Woynoks gestatten (S. 27, 37, 42),
trüben sich, wenn die Figur innerlich zerrissen erscheint (S. 39). Es handelt
sich hierbei um den weit verbreiteten Typ des Charakterisierungsmotivs.
Ein in der Handlungsebene angesiedeltes Motiv setzt den Schlusspunkt der
Erzählung: Der gescheiterte Einzelgänger kehrt, den Kern seines verfehlten
Lebens bezeichnend, als Toter zur Gruppe zurück, aus der er geflohen war.
Es handelt sich hier mit dem Motiv der Totenwiederkehr um ein tradiertes
Motiv, das das Unerfüllte eines Lebens ausdrückt.2
Ein von Anna Seghers mehrfach verwendetes Motiv ist das der Flucht eines
Gefangenen, eines Verfolgten. Elemente des Motivs finden sich in Der Kopflohn. Roman aus einem deutschen Dorf im Spätsommer 1932 (1933).
Das Fluchtmotiv organisiert den Roman Das siebte Kreuz. Der Stoff und das
1 Die Erzählung entstand 1936; sie erschien 1938 in der Exilzeitschrift „Das Wort“. Sie wird zitiert nach: Anna Seghers, Werkausgabe. Das erzählerische Werk II/2, Erzählungen 19331947, Bandbearbeitung von Silvia Schlenstedt, Berlin 2011, S. 27-46. Zu den Details der Er zählung vgl. Peter Göhler: Zum Phantastischen im Erzählwerk von Anna Seghers. In: „Neue
Literatur“, Bukarest 1980/10, S. 48-57. Dort ist die Erzählung anlässlich des 80. Geburtstags
der Autorin auch nachgedruckt worden.
2 Vgl. etwa: Gottfried August Bürger Lenore, Goethe Die Braut von Korinth, Gogol Der Mantel. Dieses Motiv der Totenwiederkehr wird von Anna Seghers bereits 1924 in ihrer ersten Erzählung (in eigenwilliger Weise) verwendet: Die Toten auf der Insel Djal. Erstveröffentlichung
in: Frankfurter Zeitung und Handelsblatt, Jg. 69, 25.12.1924, Sondernummer Weihnachten
1924. Wiederabdruck in: Anna Seghers, Über Kunstwerk und Wirklichkeit, IV Ergänzungsband, hrsg. v. Sigrid Bock, Berlin 1979, S. 205-209;
Peter Göhler
titelgebende Symbol wurden der Autorin, die seit 1933 im Exil lebte, durch
Erzählungen von Flüchtlingen vermittelt. Die Anregung für die Komposition
des Romans lieferte Alessandro Manzonis Roman Die Verlobten (erschienen
1840-42). Anna Seghers gab hierüber 1967 in einem Gespräch aufschlussreich Auskunft.
[…] dieser Roman hat thematisch, ohne dass das irgend jemand vermuten
möchte, auf dieses ‚Siebte Kreuz’ eingewirkt. … Es wird nämlich in diesem
Roman an einem Ereignis die ganze Struktur eines Volkes aufgerollt, und da
hab ich mir gedacht, diese Flucht ist das Ereignis, an dem ich die Struktur
des Volkes aufrollen kann.3
Der Handlungs- und Figurenreichtum wird im Siebten Kreuz durchgängig
auf die Flucht von sieben Gefangenen und besonders eines derselben, Georg
Heislers, bezogen. Damit wird ein vielschichtiges, differenziertes Bild der
Gesellschaft des faschistischen Deutschland am Vorabend des Krieges 4 erzählt. Zugleich durchläuft Georg Heisler im Verlauf der sieben Tage seiner
Flucht in der Vielzahl der Begegnungen einen Lernprozess, der eine wesentliche Voraussetzung für das Gelingen der Flucht ist.5
In deutlichem Kontrast zu Das siebte Kreuz gestaltet Anna Seghers in der
Erzählung Das Ende (1946) die Flucht eines KZ-Aufsehers nach dem Ende
des Faschismus. Anna Seghers verfolgte gern Figurenschicksale über mehrere Dichtungen hinweg.6 Zillich spielt als SA-Schläger bereits in Der Kopflohn
eine Rolle. Dem Schicksal dieses Zillich aus dem Siebten Kreuz geht Anna
Seghers in der Erzählung Das Ende nach. Sie schildert seine Flucht nach
dem Ende von Krieg und Faschismus. Ihm wird (sehr im Gegensatz zu Georg
Heisler im Siebten Kreuz) keine Hilfe zuteil; er geht zugrunde.
3 Sinn und Form, 1967/Heft 5; erneut in: Anna Seghers, Über Kunstwerk und Wirklichkeit,
III, bearb. und eingeleitet von Sigrid Bock, Berlin 1971, S. 34.
4 Anna Seghers schrieb den Roman noch vor Ausbruch des Krieges.
5 Das hat Inge Diersen gezeigt: Anna Seghers: Das siebte Kreuz, in: Weimarer Beiträge 12/
1972, S. 96-120.
6 In einem Gespräch mit Christa Wolf sagte Anna Seghers 1965: „Die Personen sind mir,
wenn ich über sie schreibe, allmählich so bekannt wie Mitmenschen, so dass ich das Bedürfnis
habe, mit ihnen zusammenzubleiben. Ich mache mir klar, wie ihr Leben weitergeht ..,“ in:
Anna Seghers, Über Kunstwerk und Wirklichkeit, Bd. II, hrsg. von Sigrid Bock, Berlin 1971, S.
43.
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Motivisches Erzählen bei Anna Seghers, erläutert besonders am Beispiel der Erzählung “Steinzeit“
In Steinzeit (1975)7 erzählt Anna Seghers – möglicherweise im Anschluss an
einen authentischen Vorfall8 – den Weg eines ehemaligen amerikanischen
Soldaten, der nach seinem Ausscheiden aus dem Vietnam-Krieg durch eine
Flugzeugentführung eine große Geldsumme erpresst hat und entkommen ist.
Seine Flucht ist der Gegenstand des Erzählens. Bei Anna Seghers finden sich
also verschiedene Möglichkeiten das (besonders in der Kriminalliteratur)
verbreitete Fluchtmotiv literarisch zu nutzen.
In der Erzählung Steinzeit geht es bei der Vielzahl von durch die Flucht verursachten Begegnungen des Flüchtigen nicht um ein Gesellschaftspanorama,
sondern um ein Bild von dem Fliehenden und seiner Individualitätsproblematik. Dies steht im Zentrum. Die Handlung der Erzählung setzt mit dem erfolgreichen Abschluss der kriminellen Aktion ein und endet nach verschiedenen Rückblendungen, die stichwortartig Voraussetzungen für die Erpressung
und für den Verlauf der Flucht sowie für die Individualität des Helden beisteuern, mit dem Tod des Helden. Gary stürzt beim Überqueren eines Gebirgszugs aus felsiger Höhe ab. Zwei Epiloge schließen sich an. Die Handlung
der Erzählung erstreckt sich etwa über vier Jahre. Es sind die letzten Jahre
des Vietnam-Krieges, der als Hintergrund des erzählten Geschehens stichwortartig präsent ist.
Betrachtet man die Erzählanlage genauer, so erweisen sich einige Momente
offenbar als bedeutsam:
• Die Erzählung setzt mit der gelungenen kriminellen Aktion ein. Es fällt auf, dass
Anna Seghers der Darstellung der kriminellen Aktion selbst nur wenige Zeilen
widmet und ihren Verlauf sehr im unklaren lässt. Offenbar interessiert die krimi7 Die Erzählung erschien zuerst In Sinn und Form 1975 /Heft 4, sodann als Separatdruck:
Anna Seghers, Steinzeit. Wiederbegegnung. Zwei Erzählungen, Berlin 1977, S. 7-53. Es folgten: Anna Seghers, Werke in Einzelausgaben, Bd. XII. Erzählungen 1963-1977, Berlin 1977, S.
531-582; Anna Seghers, Werkausgabe. Das erzählerische Werk II/6, Erzählungen 1967-1980,
Bandbearbeitung Eva Kaufmann, Berlin 2005, S. 205-253. Nach dieser Ausgabe wird zitiert.
Die Seitenangaben des Einzeldrucks von 1977 und der Erzählungen 1963-1977 von 1977 wer den zur leichteren Orientierung (in dieser Reihenfolge) hinzugefügt.
8 Eva Kaufmann weist darauf hin, dass ein Luftpirat namens Dan Cooper am 24.11.1971 eine
Maschine der Northwest Airlines auf dem Flug von Portland/Oregon nach Seattle/Washington gekapert und mit der Zündung einer Bombe gedroht hatte. „Ob Anna Seghers von diesem
Fall erfahren hatte, ist nicht belegt.“ Anna Seghers, Werkausgabe (wie Anm. 7) S. 442. Mög lich ist dies durchaus.
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nelle Tat als solche wenig; es geht um anderes.9
• Die Erzählung hat mit Gary, alias José Hernández, eine zentrale Figur. Aus-
schließlich ihrem Weg folgt die Erzählung, wenn man einmal von den beiden Epilogen absieht. Das hat zur Folge, dass der Leser nicht mit Deutlichkeit darüber
ins Bild gesetzt wird, ob Gary verfolgt wird. (Auch damit wahrt Anna Seghers
große Distanz zur Gestaltungsart der Kriminalerzählung, wie ja auch die kriminelle Aktion selbst nur angedeutet worden ist und in manchem unwahrscheinlich
anmutet.) Das aber bedeutet: Es geht nicht um die Flucht, es geht um den Flüchtenden. Die Analyse der Erzählung hat also vor allem nach dem Wesen dieser Figur zu fragen.10
• Ob Gary tatsächlich verfolgt wird, das erfährt man nicht, denn die Erzählerin
bleibt immer in der Nähe von Gary, erzählt nie Dinge, die sich in der Ferne zutragen und an denen Gary nicht direkt beteiligt ist. Wenn Fernes einbezogen wird,
dann aus der Perspektive Garys, indem dieser davon erfährt.
• Interessant ist, dass Anna Seghers ursprünglich plante, die Verfolger des Luftpiraten in den Schluss der Erzählung einzubinden. 11 Diese ergänzende Handlungslinie ließ sie später fallen.
• Die Vorgeschichte Garys, die ihn auf den kriminellen Weg gebracht hat, wird
durch kurze Rückblenden, die Figurenerinnerungen oder Figurenerzählungen
darstellen, nachgetragen.
• Die Flucht wird in ihrer chronologischen Abfolge dargeboten. Dabei ergibt sich
ganz natürlich, dass eine große Zahl von Nebenfiguren in die Erzählung einbezogen wird. Alle diese Figuren haben jedoch für den Fortgang der Handlung nur
episodische Bedeutung. Sofern sie Handlung in Bewegung setzen, nämlich Gary
auf seiner Flucht vorantreiben, tun sie das unbeabsichtigt, indem ihr eigentlich
nebensächliches Tun von Gary missverstanden wird, als Zeichen von Gefahr aufgefasst wird und ihn damit zu erneuter Flucht veranlasst. Diese Nebenfiguren
sind jedoch für die Entstehung eines Bildes von Gary von geradezu entscheidender Bedeutung. Sie ermöglichen es der Autorin, Gary in seiner Beziehung zu sei-
9 Vielleicht sollte man anmerken, dass in Die schönsten Sagen vom Räuber Woynok die einzelnen Aktionen Woynoks ebenfalls nicht Gegenstand des Erzählens sind. Insofern halten beide Erzählungen große Distanz zu üblichen Kriminal- bzw. Räubergeschichten.
10 Dieser Frage geht eine Analyse der Erzählung ausführlicher nach, die für Argonautenschiff, das Jahrbuch der Anna-Seghers-Gesellschaft, vorbereitet wird.
11 Vgl. Marion Brandt, Vorfassungen zu Anna Seghers’ Erzählung „Steinzeit“ – Beschreibung
und Kommentar in Bezug auf eine mögliche Interpretation, in: Zeitschrift für Germanistik,
1992, S. 138-148.
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Motivisches Erzählen bei Anna Seghers, erläutert besonders am Beispiel der Erzählung “Steinzeit“
ner Umwelt vorzuführen. Sie tragen damit erheblich zum Aufbau der zentralen
Figur bei. Die Beziehung der zentralen Figur zu den übrigen Figuren ist von
grundlegender Bedeutung für den Gehalt der Erzählung. Die eine oder die andere
Nebenfigur könnte man sich eventuell aus der Erzählung wegdenken. Ohne die
Nebenfiguren in ihrer Summe fiele die Erzählung jedoch in sich zusammen.
Tragend ist also das Motiv der Flucht. Erzählt Anna Seghers mit einem Seitenblick auf den Roman Das siebte Kreuz? Anna Seghers hat das verneint.12
Aber auch wenn eine solche Beziehung bei der Entstehung der Erzählung
keine Rolle gespielt hat, wird ein beträchtlicher Teil der Leser – vielleicht
auch nur unbewusst – Assoziationen in dieser Richtung Raum geben.
Ein zweites Motiv ist für die Zeichnung der zentralen Figur von Belang. Das
Motiv „der letzten, jemandem verweigerten Zigarette“. Es ist in dem Geschehen, das in der Rückschau gegeben wird, verankert.
Gary begegnet nach seinem Ausscheiden aus der Armee dem ehemaligen
Kriegskameraden Henry Maxwell (an den sich Gary im Verlauf der Erzählung noch häufiger erinnert): „Gary dachte nach. Er griff nach seiner Zigarettenschachtel. Nur eine einzige war noch drin. Er kaufte eine neue Schachtel
und bot sie Henry an, und er rauchte die letzte selbst. Dabei zog er die Brauen zusammen. Henry lachte. ‚Man könnte glauben, die sei dir ganz besonders
heilig’. Darauf erwiderte Gary nichts.“ (208f/10/537, vgl. auch 249/49/578)
Es handelt sich hier zunächst nur um ein Detail, das eine Figur in einer bestimmten Situation charakterisiert. Durch die Wiederholung wird es zum literarischen Motiv: Früher hatte Gary bereits einmal seinem jüngeren Bruder
eine letzte Zigarette verweigert, wie er später Tom Hilsom, einem amerikanischen Anthropologen, zu dem er im Verlauf eines längeren Zusammenseins
langsam ein engeres Verhältnis aufbaut, gesteht. (232/33/561) Und kurz vor
seinem Tod taucht diese Szene mit dem Bruder erneut in Garys Erinnerung
auf. (250f/50/580)
Hier handelt es sich um ein autoreigenes, nur auf diese eine Erzählung bezogenes Charakterisierungsmotiv. Es gewinnt dadurch erheblich an Bedeutung, dass sich Gary jener zweimal erfolgten Handlungsweise (besonders der
dem Bruder gegenüber) erinnert und diese Verhaltensweise – nun sie bedauernd – hinterfragt. Dadurch wird eine innere Wandlung vorsichtig angedeutet, eine Distanz zu einer nicht mehr korrigierbaren Verhaltensweise sicht12 Anna Seghers, Gesammelte Werke in Einzelausgaben, XIV, Aufsätze, Ansprachen, Essays
1954-1979, Berlin 1980, S. 479.
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bar. Es wird eine innere Wandlung angedeutet, die die Figur in ihrem Kern
aber nicht mehr verändert. Frühe Textentwürfe der Erzählung tragen den Titel „Die Zigarette“.13 Das unterstreicht die Bedeutung, die die Autorin diesem
Detail beimaß.
Ein Drittes ist wichtig: Es ist zunächst ein Begriff, der im Titel genannt wird
und die Aufmerksamkeit des Lesers steuert: „Steinzeit“. Dann wird direkt an
die berühmt-berüchtigte Äußerung des amerikanischen Generals Curtis Le
May erinnert: Gary sagt zu Henry Maxwell: „Jetzt schickt man schon eine
Masse Leute zurück, die nicht mal `ne Schramme abbekamen. Erinnerst du
dich an den General, der ganz groß angab, wir würden Vietnam in die Steinzeit zurückbombardieren?“ (208/10/536) Später gelangt Gary zu Uhreinwohnern im Urwald, die unter primitiven Verhältnissen leben, die an die
Epoche der Steinzeit erinnern. Und schließlich kommt Gary im Hochgebirge
in einer steinernen Welt ums Leben. Er stürzt ab. Sein letzter Gedanke ist:
„Der Fallschirm, verdammt, geht nicht auf.“ (251/51/580) – ein Gedanke,
der zum Schluss bloßlegt, wie stark das Vietnamerlebnis als Trauma in der
Figur wurzelt.
Stark abgewandelt ist viertens das Raskolnikow-Motiv in die Erzählung eingegangen. Es ist bekannt, dass sich Anna Seghers mehrfach und intensiv mit
Tolstoi und Dostojewski beschäftigt hat. Dabei interessierte sie sich u. a. für
das Verhältnis Andrei Bolkonskis (Krieg und Frieden) und Raskolnikows
(Schuld und Sühne) zur napoleonischen Macht- und Größe-Ideologie. 14 Raskolnikow glaubt sich im Interesse seiner Entwicklungsmöglichkeit dazu berechtigt, „eine menschliche Laus“ zu zertreten. Im Falle Garys entfallen solche Motive der Persönlichkeitsentfaltung eines erhofften schöpferischen Lebens oder eines gesellschaftlichen Aufstiegs. Das Raskolnikow-Motiv ist wenn vorhanden - hier reduziert auf das individuelle – Einfach-lebenwollen.15 Auch sonst gibt es viele Unterschiede zu Dostojewski. Gary reflek13 Vgl. Marion Brandt (wie Anm. 11); Christiane Zehl Romero, Anna Seghers. Eine Biographie, Bd. II, Berlin 2003, S. 419.
14 Vgl. die beiden Aufsätze von Anna Seghers: Fürst Andrei und Raskolnikow, Die napoleonische Macht-Ideologie in den Werken Tolstois und Dostojewskis, in: Anna Seghers, Über
Kunst und Wirklichkeit, II, hrsg. v. Sigrid Bock, Berlin 1971, S. 148-151 und 152-158.
15 „Schon auf diesem Heimweg hatte er Sehnsucht bekommen nach Wildnis und Spannung,
nach dem freiwillig verscherzten, unbändigen Leben. … ‚Ich meine, ich hätte mir was anderes
verdient in Vietnam als die paar lausigen Scheine. Ein gutes Leben, ein saftiges Leben hätte
ich mir verdient.’“ (207f/9f/535f)
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Motivisches Erzählen bei Anna Seghers, erläutert besonders am Beispiel der Erzählung “Steinzeit“
tiert kaum über seine Tat, lediglich: „Des Raubes wegen verfolgt man mich,
wegen der paar Beutel von Dollars. Davon sind die nicht ärmer geworden.
Was alles in Vietnam passiert ist, das kam ihnen ehrlich vor.“ (236/36/565)
Auch wird keine Übermenschphilosophie als Rechtfertigungsversuch herangezogen, und Gary empfindet keine Reue bezüglich der erpresserischen Flugzeugentführung.
Und noch ein Fünftes – ein Problemmotiv: Es handelt sich um einen Gedanken, der leitmotivisch die Flucht begleitet und dessen Richtigkeit durch den
Fortgang der Handlung evident wird. Hilsom, der amerikanische Anthropologe, formuliert es einmal (nicht wissend, dass er damit Garys Problem sehr
präzis benennt, aber für den Leser natürlich hörbar): „Verfolgung macht immer misstrauisch und isoliert.“ (22930/558)
Das trifft eine wesentliche Seite Garys: Gary ist allein und er bekennt sich
(aus der Fluchtsituation heraus!) zu dieser Form des Lebens, zum Alleinsein.
(Übrigens: das ist – in anderer Weise – ein zentrales Thema in den schönsten Sagen vom Räuber Woynok):
Er war mutterseelenallein, er war immer, immer allein gewesen. Wenn es im
Krieg auch Kameraden gegeben hatte, darunter den Henry Maxwell, gegen
Alleinsein kam das nicht auf. So ist es am besten. Wer etwas wagt, muss allein sein. Das bedachte er jetzt, weil er Zeit hatte, manches zu bedenken.
Aber schon der nächste Absatz zeigt, dass zum Leben, zur Freude 16 einer allein nicht ausreicht: Gary findet Frauen, mal diese, mal jene. Aber:
Er fand keine, die in ihrem Beruf gelernt hätte, die kurze Stunde Zusammensein, nach der man sich für immer trennte, dem Mann so froh zu machen,
als bleibe man für immer zusammen. Ihm wurde bang, er könne sich nie
seines Lebens freuen, wie er es gewünscht hatte. (210f/12/538f)
Das Zusammensein mit Eliza Mendez bringt hier offenbar eine Veränderung.
Hier scheint Gary eine dauerhafte Beziehung anzustreben und auch herstellen zu können. Denn er wünscht sich von Eliza ein Kind. Aber als er Gefahr
vermutet, trennt er sich rasch und relativ leicht von ihr.
Der Erzählschluss ist nicht mit dem Tod Garys gegeben. Anna Seghers lässt zwei
Epiloge folgen, die eine Art Resonanz der Umwelt auf Garys Leben vorführen.
16 Ein wichtiges Fahnenwort in vielen Dichtungen von Anna Seghers.
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Der erste Epilog schließt sich unmittelbar an Garys tödlichen Absturz an. Der
Ranchero Gomez nimmt die Habe Garys an sich und verleugnet den Verunglückten aus Eigennutz. (252/51/581)
Der amerikanische Anthropologe Tom Hilsom, den Gary zufällig bei Eingeborenen im Urwald trifft, ist die vielleicht wichtigste Nebenfigur der Erzählung. Zu ihm gewinnt Gary zaghaft ein vertrauensvolleres Verhältnis, um
dann doch wieder seine Flucht fortzusetzen. Diesem Hilsom weist Anna
Seghers den zweiten, abschließenden Epilog zu.
Der zweite Epilog, der die an Gary gebundene Handlungslinie in gewisser
Weise aufbricht, führt die für das Individuum beklemmende Konsequenz vor
Augen:17 Hilsom denkt nach dem Abschluss seiner Forschungsarbeit im Urwald bei der Durchsicht seines Tagebuches über Gary nach. Noch einmal
wird Garys Problem beleuchtet.
Er wollte allein sein, dachte Hilsom, soll er. Hilsom strich die Worte, die die
Begegnung schilderten. Dann sah er sein Notizbuch gründlich durch und
machte jedes Wort unlesbar, das sich auf den Mann bezog. Als könne jemand in diesem Heft ihn doch noch aufstöbern, löschte er jede Spur für jetzt
und immer. (253/53/582)
Trostloser, sinnloser kann kaum ein Menschenleben enden.
Abstract:
The late story „Steinzeit“ (Stone Age) from 1975 is one of the important works of
Anna Seghers. Its great effect is mainly caused by the use of the motif of flight which
is often found in the literature. Here Anna Seghers uses it to shed light on the mental
state of an American Vietnam veteran who had pressed money by hijacking an airplane. His getaway is the theme of the story. The analysis follows the motivation
structure of the story and connects this with a look at other works by the author.
Schlüsselwörter: Fluchtmotiv, Vietnamkrieg, Krieg und Kriminalität, Vereinsamung, Sinnlosigkeit eines Leben
17 „Gary widerfährt das Gegenteil von dem, was den Seghersschen Helden und Heldinnen gewährt wird: So hart ihr Leben und Sterben sein mag, sie bleiben in der Erinnerung anderer
bestehen und damit auch das, wofür sie jenseits ihrer selbst eingetreten sind.“ Christiane Zehl
Romero (wie Anm. 13), S. 305.
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INVENTUR 96
Robert Gernhardts dialogische Bestandsaufnahme
Laura Cheie
Gottfried Benns Postulat vom modernen Gedicht als monologischer Lyrik,
die „lediglich an die Muse“, d.h. „an niemanden“ gerichtet sei 1, wurde vielfach von der Poesie nach 1945 widersprochen, nicht nur von der engagierten,
politischen, sondern sogar von der verschlossensten lyrischen Gattung überhaupt, der hermetischen. So verweist z.B. Paul Celan auf eine grundlegend
dialogische Disposition der Dichtung in seiner Meridian-Rede, wo er diese
als Gestaltungsform einer besonderen „Begegnung“, eines „Gesprächs“ mit
dem Anderen2 beschreibt. Wenn sich demnach sogar die moderne Chiffrenlyrik gerne mitteilen möchte, den Gestus des Dialogs aber vielmehr verdeckt
als offenbart, so versteht sich das postmoderne Gedicht sehr offen als „Stille
Post [...] die von Dichtermund zu Dichterohr wandert“3, so Robert Gernhardt, der Dichter der ironischen Hochkomik in der deutschsprachigen Literatur der vor allem letzten drei Jahrzehnte. Mit der Postmoderne geschieht
ebenfalls eine Wende in der literarischen Beziehung zur Tradition. Hatte die
Moderne, vor allem in der radikalisierten Form der Avantgarde, einen neuen
Ausdruck oft durch Kontrast, Widerspruch oder zumindest intendierte Abkoppelung von der Tradition gefunden, so sucht die Postmoderne erneut
nach Anschluss und zelebriert diesen, unter anderem, in virtuosen, zum Teil
unterhaltenden und dadurch auch erfolgreichen Textsorten der Intertextualität, wie die Nachdichtung.
Für den postmodernen Dichter Robert Gernhardt ist Dichtung die auf Dichtung reagiert eine der wichtigsten, genuinen Formen von Lyrik und stellt
eine intertextuell festgehaltene Sozialisation der Dichter dar. Poesie ist, so
Gernhardt, ein „Gesellungsmedium für Poeten“, denn „Dichter dichten mit
Dichtern, nach Dichtern, für Dichter, gegen Dichter“ 4. Im Zeitalter der Kommunikation scheint die aristokratisch-romantische Vorstellung vom Dichten
als edles aber einsames Geschäft ausgedient zu haben und von einer weniger
1 BENN (1990), S. 362.
2 CELAN (1990), S. 388: „Das Gedicht will zu einem Anderen, es braucht dieses Andere, es
braucht ein Gegenüber. Es sucht es auf, es spricht sich ihm zu. [...] Das Gedicht wird [...] Gespräch – oft ist es verzweifeltes Gespräch“.
3 GERNHARDT, (2010), S. 17.
4 GERNHARDT (2010), S. 63.
Laura Cheie
weltfernen, dialogisch-kollegialen, ja sogar gemeinschaftlichen ersetzt worden zu sein. Zwar verweist Gernhardt darauf, daß schon die Klassiker Goethe
und Schiller in den Genuß gemeinschaftlichen Dichtens in ihren „Xenien“
gekommen waren, doch sind es trotzdem die späteren Kollegen, ihre „Antworter“ und Nachdichter jene, welche die dialogische Dimension der Lyrik
voll ausschöpfen. Zitate aus bekannten Texten, die „weitergereicht“, übernommen, weitergeschrieben werden, entwickeln sich für postmoderne Autoren wie Robert Gernhardt und Peter Rühmkorf zu „Kommunikationsmagneten“5. In dieser, gattungsmäßig betrachtet, dauernden Selbstwahrnehmung
der Lyrik liegt für ihre postmodernen Autoren ein nahezu unerschöpfliches
Potenzial an Kommunikation und Kreativität, an Provokation innerhalb der
Tradition, was allerdings, wie Gernhardt meint, immerhin für die bleibende
Brisanz der letzteren spricht:
[...] vermag es mitunter eine einzige Zeile eines älteren Gedichts, ein neues
Gedicht zu stimulieren oder zu provozieren – ein Vorgang, der natürlich
ganz und gar für das Original spricht, für die Originalzeile, die Originalstrophe oder das Originalgedicht – sie sind der Sprach-, Kunst- und Denkköder,
nach dem die Nach-Dichter schnappen, in manchen Fällen gleich rudelweise
bzw. in ganzen Schwärmen6.
Sprach- und Denkköder wittert Robert Gernhardt vor allem bei Poeten von
„Hammerversen“, so wie Günter Eich. In seinen Poetik-Vorlesungen lobt er
den Kahlschlagdichter folgenderweise:
[...] er ist einer der raren Dichter der Nachkriegszeit denen – von Benn und
Brecht einmal abgesehen – noch echte Hammerzeilen gelungen sind -, worunter ich Zeilen verstehe, die sich dem lyriklesenden Publikum, vor allem
aber den lyrikschreibenden Dichtern eingehämmert haben, letzteren derart,
daß sie es nicht lassen konnten, sie aufzugreifen, abzuklopfen, anzuverwandeln, umzumodeln oder zu konterkarieren7.
Manchmal ist es ein ganzes Gedicht, das sich einem oder sogar mehreren
5 Vgl. GERNHARDT (2010), S. 65.
6 GERNHARDT (2010), S. 39.
7 GERNHARDT (2010), S. 38.
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INVENTUR 96. Robert Gernhardts dialogische Bestandsaufnahme
Dichtern „einhämmert“ und kreativitätsfördernd wirkt. In einem eklatanten
und teilweise auch merkwürdigen Fall trifft das auf das Kanongedicht des
deutschen literarischen Kahlschlags nach 1945, genauer auf Inventur von
Günter Eich zu.
Entstanden 1945/46, wahrscheinlich während Eichs Inhaftierung als amerikanischer Kriegsgefangener in einem Lager bei Sinzing am Rhein oder kurz
danach, erschien der Text zum ersten Mal 1947 in Hans Werner Richters Anthologie Deine Söhne Europa. Gedichte deutscher Kriegsgefangener. Ein
Jahr später wurde er dem ersten Gedichtband Eichs nach 1945, Abgelegene
Gehöfte, einverleibt. Das Gedicht der sogenannten „Stunde Null“ entdeckte
die nackte, lakonische Bestandsaufnahme als mögliche und authentische Beschreibungsrhetorik und Perspektive für die deutschsprachige Nachkriegslyrik. Es entsprach quasi archetypisch der pathetischen Forderung der vierziger Jahre nach „Wahrheit“ statt „Schönheit“ 8 und wurde durch Wolfgang von
Weyrauch zum Inbegriff der neuen Literatur des Kahlschlags erklärt 9. Die
vielgepriesene „kahl geschlagene“ Sprache der Inventur Günter Eichs wurde
zum repräsentativen Ausdruck eines tiefliegenden kollektiven Traumas im
Hinblick auf die Grausamkeiten des Zweiten Weltkrieges, insbesondere die
des Dritten Reiches10, wie auch zur linguistischen Form einer (ironischen)
Rebellion gegen ausgediente rhetorische und mentale Klischees 11. Es zeigte
8 Im Sinne der programmatischen Verse Wolfdietrich SCHNURRES (1948): „zerschlagt eure
Lieder / verbrennt eure Verse / sagt nackt / was ihr müsst.“
9 Die Literatur des Kahlschlags sollte sich prinzipiell, so Weyrauch im Nachwort seiner 1949
herausgegebenen Anthologie Tausend Gramm, der Methode der Bestandsaufnahme bedienen
und der Intention der Wahrheit folgen.Wolfgang von Weyrauch: „Wo der Anfang der Existenz
ist, ist auch der Anfang der Literatur. [...] Die Schönheit ist ein gutes Ding. Aber Schönheit
ohne Wahrheit ist böse. Wahrheit ohne Schönheit ist besser.“ Zit. nach BORMANN (1994), S.
78. Eich selbst meinte in einem 1947 verfassten Text, dass der Dichter zwar nicht zum Journalisten zu werden bräuchte, aber „alles was er schreibt, sollte fern sein jeder unverbindlichen
Dekoration, fern aller Verschönerung des Daseins“, denn: „Ich will nicht sagen, dass es keine
Schönheit gibt, aber sie setzt Wahrheit voraus. Der Zwang zur Wahrheit, das ist die Situation
des Schriftstellers.“ EICH (1973), S. 393 – 394.
10 Vgl. SCHAFROTH (1976), S. 51: Er bezeichnet die „Inventur“ Eichs al ein Dokument der
Sprachlosigkeit jener, „denen es die Sprache verschlagen hat“.
11 Vgl. KAISER (2003), S. 278, zur Präzision der Eichschen Bestandaufnahme: „Ausdruck einer Art von Katharsis, denn in dieser Nüchternheit vollzieht sich innerpoetisch die Ausnüch terung falscher Gefühle und Ideale, aus denen gelebt worden ist und mit deren Hilfe eine Ge neration verraten worden ist. Falscher politischer Gefühle und Ideale. Falscher, nämlich propagandistisch missbrauchter poetischer Gefühle und Ideale von Hölderlin bis Rilke. Und die
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37
Laura Cheie
sich damit eine, wie man meinte, neuartige Poetik, die durch ihr nüchternes,
sachliches Sagen, auf die verbliebenen Restbestände der Wirklichkeit und
Sprache verwies:
Dies ist meine Mütze,
dies ist mein Mantel,
hier mein Rasierzeug
im Beutel aus Leinen.
Konservenbüchse:
Mein Teller, mein Becher,
ich hab in das Weißblech
den Namen geritzt.
Geritzt hier mit diesem
kostbaren Nagel,
den vor begehrlichen
Augen ich berge.
Im Brotbeutel sind
ein Paar wollene Socken
und einiges, was ich
niemand verrate,
so dient es als Kissen
nachts meinem Kopf.
Die Pappe hier liegt
Zwischen mir und der Erde.
Die Bleistiftmine
Lieb ich am meisten:
Tags schreibt sie mir Verse,
die nachts ich erdacht.
Dies ist mein Notizbuch,
Genauigkeit und Nüchternheit der Sprache zielt letztendlich indirekt doch auch auf Genauigkeit und Nüchternheit des Lebens als Individuum.“ Hermann Korte hingegen spricht von einer ironischen Handhabung dieser nüchternen Präzision bei Eich als „Spiel mit karikierenden
Elementen, mit heroischen Bilderresten und Traditionalismen aller Art“ auch mit der „Bilanz“
der Kahlschlag-Zeit. Vgl. KORTE (1989), S. 13 – 14.
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INVENTUR 96. Robert Gernhardts dialogische Bestandsaufnahme
dies meine Zeltbahn,
dies ist mein Handbuch,
dies ist mein Zwirn.
Der deiktische Gestus führt Regie, zählt Gegenstände auf, allerdings in einer
nur scheinbar beliebigen und trockenen Addition. Denn in Eichs Inventur
gibt es keine einfache Nebeneinanderstellung, sondern eine affektive Hierarchie der Objekte, in der es Dinge gibt, die einfach gezeigt oder die zugleich
gezeigt und, weil besonders „kostbar“, „vor begehrlichen Augen“ geborgen
werden, dann Gegenstände, die nicht gezeigt werden, sondern bei denen lediglich, wahrscheinlich aus Angst oder Scham, auf ihre Existenz und Funktion verwiesen wird, und schließlich gibt es noch ein Lieblingsding an oberster
Stelle dieser affektiven Bilanz. Die mehr oder weniger diskreten Zuordnungen der besessenen Objekte sprechen somit nicht nur von deren subjektivem
Wert für das lyrische Ich, sondern auch von der gefühlsbetonten Natur dieser angeblich trockenen, unlyrischen Bestandsaufnahme und ihrer Lakonik 12.
Auch die spröde Form dieses Gedichts ist bei genauerer Untersuchung nicht
so prosaisch, wie angenommen. Eichs Inventur hat noch einen klar erkennbaren alternierenden Rhythmus, wie in der tradierten liedartigen Reimdichtung, es hat Spuren von Reim (z.B. „Mein Teller, mein Becher“; „Dies ist
mein Notizbuch, /.../ dies ist mein Handbuch“) und weist Harmonisierungsversuche durch Alliterationen (z.B. „meine Mütze /.../ mein Mantel“; „Kissen
/.../ Kopf“; „meine Zeltbahn /.../ mein Zwirn“) und Assonanzen (z.B. „Geritzt hier mit diesem“; „Im Brotbeutel sind /ein Paar wollene Socken“) auf,
wie in der von Kahlschlag-Anhängern heftig bekämpften Poesie.
Inzwischen stellte sich auch heraus, dass Eichs poetische „Inventur“-Rhetorik nicht voraussetzungslos neu war. Eich selbst scheint mit „Inventur“ eine
Nachdichtung vorgelegt zu haben. Die mögliche Vorlage, die er jedoch vor
oder auch während der Niederschrift seines Gedichts zu kennen bestritt, obwohl die strukturellen und stilistischen Übereinstimmungen der beiden Texte, mit Peter Horst Neumann gesprochen, „äußerst frappant“ sind 13, stammt
vom tschechischen Dichter Richard Weiner. Sie wurde in deutscher
Übersetzung schon 1916 in der von Franz Pfemfert herausgegebenen
12 Die Bestandsaufnahme entwickelt sich bei Eich zu einer poetischen Konstante, die sein
ganzes Werk in verschiedenen formalen Variationen durchzieht. Vgl. diesbezüglich CHEIE
(2010), S. 79 – 100.
13 NEUMANN (1981), S. 62.
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Anthologie Jüngste tschechische Lyrik publiziert und trägt als Titel den
Namen eines Stilllebenmalers des 18. Jahrhunderts:
Jean Baptiste Chardin
Dies ist mein Tisch,
Dies ist mein Hausschuh,
Dies ist mein Glas,
Dies ist mein Kännchen.
Dies ist meine Etagère.
Dies ist meine Pfeife,
Dose für Zucker,
Großvaters Erbstück.
Dies ist mein Esszimmer,
Dies meine Ecke,
Dies ist mein Hund,
Dies meine Katze.
Hier ist mein Wedgewood,
Dort ist mein Sèvres.
Das lustige Bildchen,
Fragos Geschenk.
Bläuliche Schalen
Hab’ ich sehr gern.
Blumen im Fenster
Liebe ich sehr.
Fuchsien aber
Seh ich am liebsten,
Meine Charlotte
Liebet den Flieder.
Täglich um elfe
Frühstücken wir.
Abends um achte
Deckt man zu Tisch.
Esse am liebsten
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Spargel mit Sauce
Wildbrett auf Pfeffer,
Erdbeer mit Crème.
Und die Charlotte
Liebt ihre Austern,
Hühnchen auf Schwammerln,
Hummerragout.
Gut ist’s zu Hause,
Sehr gut zu Hause.
Dies meine Ecke,
Dies meine Handschuh.
Glattes Email
Glanzüberquillt.
Dies ist mein Weib.
Dies ist mein Bild.
Im Unterschied zur vieldeutigen Bestandsaufnahme Eichs ist allerdings die
Absicht der Inventur Richard Weiners deutlicher, nämlich das Zur-SchauStellen eines erfüllten, luxuriösen Lebens14, „das behagliche Lob spießbürgerlicher Saturiertheit“15, in der aber „der Spaltzpilz melancholischen Substanzverlusts“16 nisten kann. Ob Eich seine „Inventur“ als eine „literarische
Replik“ auf Weiner17 oder als Kontrafaktur der Weinerschen Verse18 gedacht
hat, muß aufgrund seines Bestreitens, den Text von Weiner gekannt zu haben, dahingestellt bleiben.
Eichs Gedicht andererseits bot tatsächlich jenen Sprach- und Denkköder,
nach dem, mit Robert Gernhardt gesprochen, eine Reihe von Dichtern offensichtlich geschnappt haben. In den sechziger Jahren der ehemaligen BRD
schrieb Hans Magnus Enzensberger eine Nänie auf den Apfel im bekannten,
14 NEUMANN (1981), S. 63 – 65 passim.
15 ZENKE (1982), S. 73.
16 DRÜGH (2001), S. 145.
17 Vgl. MÜLLER-HANPFT (1972), S. 36 – 37.
18 NEUMANN (1981), S. 63 – 67.
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Laura Cheie
quasi manifestartigen „Inventur“-Stil19:
Hier lag der Apfel
Hier stand der Tisch
Das war das Haus
Das war die Stadt
Hier ruht das Land.
Dieser Apfel dort
ist die erde
ein schönes Gestirn
auf dem es Äpfel gab
und Esser von Äpfeln.
Aber auch in der ehemaligen DDR der achtziger Jahre fand die Eichsche Bestandsaufnahme mindestens einen Nachdichter. Kurt Drawert widmet Günter Eich seine Zweite Inventur:
Zweite Inventur
für Günter Eich
Ein Tisch.
Ein Stuhl.
Ein Karton für altes Papier, Abfälle,
leere Zigarettenschachteln, Briefe,
die keiner Antwort bedürfen.
3 Meter entfernt: Ein Schrank.
Ein Tisch.
Ein Stuhl.
Ein Karton
für Notizen, Belege, Rechnungen.
Das Bett.
2 Meter entfernt: Ein Schrank.
19 Vgl. HIEBEL (2006), S. 447: „Rhythmus und Klang dieses Gedichts machen einen glauben,
Enzensberger habe bei der Niederschrift dieses Reihengedichts Eichs Kahlschlag-Gedicht Inventur im Ohr gehabt. [...] Nackt und wortkarg, lakonisch und schmucklos, völlig unrhetorisch (!) werden – wie bei Eich – deiktische Partikeln, schlichte Substantive und simpelste Indikative aneinander gereiht“.
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für Manuskripte.
Ein Tisch.
Zwei Sessel.
Eine Ablage
Auf dem Fensterbrett stehen Bücher,
Bücher stehen auf der Erde,
auf den Tischen 1 und 2.
Unter den Tischen Körbe
mit schmutziger Wäsche.
Zwischen den Körben, im Koffer,
der auf dem Fußboden steht,
wo gebrauchte Fahrscheine liegen,
zerknüllte Seiten, begonnene und verlorene
Sätze, die Schreibmaschine.
Das ist mein Zimmer.
Allein ich weiß, wo etwas
zu finden ist.
Sobald ich mich bewege,
überzeugend zwischen den Dingen,
die ich kenne, bin ich überzeugt,
mich zu bewegen.
Das ist mein Vorteil.
Mein Vorteil ist die Anwesenheit
von Gegenständen, die mir vertraut sind,
die mir vertraut sind wie die Erfahrung,
sie wieder verlieren zu können,
endgültiger.
Der Reiz dieses zum Kanontext und gleichzeitig Manifest avancierten Gedicht des literarischen Neubeginns wirkte umso eindringlicher auf die spielerisch-dialogische Postmoderne der neunziger Jahre. Michael Bauer schrieb
eine explizit intendierte Nachdichtung der Eichschen Inventur:
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Inventur
Nach Günter Eich
Hier meine Wohnung
Da unten mein Auto
Das der Hifi-Turm
mit 80er Boxen
Da mein Computer
Software, Disketten.
Speichre noch schnell
Die Adreßdatei ab.
So. Gespeichert.
Geheimer Befehl.
Niemand, nur ich
kommt da jetzt noch dran
Der Tennisschläger
mit frischer Bespannung
die passende Tasche
Geheimfach ganz hinten
Fühl mal: Ganz leichtes
Material.
Könnte man notfalls
als Kissen benutzen
Das Geilste der Drucker
der druckt dir
in paar Sekunden
echt alles aus
Das ist mein Surfbrett
Das der Recorder
Hier meine Karte
Und das ist mein Fax.
Es ist bereits eine mehr oder weniger gelungene Bestandsaufnahme des Informationszeitalters, in dem es nicht mehr um Restbestände der Wirklichkeit geht, auch nicht um kryptische, lakonisch-bittere Verweise auf ein Wel-
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tende, wie bei Enzensberger, oder auf die beklemmende Atmosphäre hinter
dem Eisernen Vorhang, wie bei Drawert. Ganz im Gegenteil, die Inventur
Michael Bauers nähert sich durch das gegenständlich widerspiegelte Lebensgefühl eher dem Gedicht Weiners, wobei aber der Überfluss mit unterschwelligem Überdruss einhergehen kann20. Drei Jahre später greift Robert
Gernhardt auf das „Programmpoem der sog. Kahlschlaglyrik“ 21 zurück und
antwortet Eich, 50 Jahre später, mit seiner Inventur 96 oder Ich zeig Eich
mein Reich:
Dies ist mein Schreibtisch,
dies ist mein Drehstuhl,
hier mein Computer,
darunter der Drucker.
Telefonanlage:
Mein Hörer, mein Sprecher.
After the beep
You can leave a message.
Sie können die Nachricht
natürlich auch faxen.
Ich rufe Sie so bald wie
möglich zurück.
Im Hängeschrank sind
Die Korrespondenzen
und einiges, was ich
niemand verrate,
sonst kostet dies Wissen
noch mal meinen Kopf.
Der Kelim hier liegt
20 Vgl. GUNTERMANN (1999), S. 25, zu diesem „remake“: „Aufschlussreich erscheint die
Differenz („nach Günter Eich“) zwischen Armut und Luxus, Löffel und Tennisschläger, aufschlussreich sind aber auch die Parallelen („nach Günter Eich“) zwischen der Lakonie der
Trümmerliteratur und der Sprachlosigkeit der ausdifferenzierten Informationsgesellschaft. In
ihr begegnet uns Literatur des gewünschten Neuanfangs nicht mehr als lakonisch-selbstgewisser Kahlschlag, sondern als beredte Ratlosigkeit. Eichs Liste des Mangels hat einer
Liste des Überdrusses Platz gemacht“.
21 Robert Gernhardt, zit. nach EILERS (2011), S. 318.
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zwischen mir und den Dielen.
Das Kopiergerät dort
ist mir am liebsten.
Tags kopiert es die Texte,
die nachts ich getippt.
Dies ist mein Notizbuch,
dies sind meine Tagebücher,
dies ist meine Bibliothek,
dies ist mein Reich.
Robert Gernhardts Nachdichtung reproduziert bis auf die feinsten Details
(Enjambement, Reime, die durch Alliterationen und Assonanzen konstruierte Versmelodie) die genaue metrisch-strophische Form der nun bereits klassischen „Inventur“ von Günter Eich. Der deiktische Gestus, der beide Texte
dominiert und sich quasi zur rhetorischen Signatur der Kahlschlag-Lakonik
etabliert hat, wird jedoch bei Gernhardt um eine neue grundlegende Dimension ergänzt, einer transtextuellen. Das Zeigen weist nicht nur auf Gegenstände hin, sondern, explizit sogar („Ich zeig Eich mein Reich“), auch auf
einen Autor, einen Dichterkollegen und seinen Text als Objekt, auf Eichs Gedicht. Durch seine virtuose Kontrafaktur thematisiert Gernhardt also bereits
im Titel nicht eigentlich die konfortable, sozusagen postmoderne High-techStube im Unterschied zur kargen Umwelt des Kriegsgefangenen, sondern ein
Gedicht, die Struktur eines Gedichts. Die Abbildung dieser Struktur im eigenen Text wirkt stellenweise geradezu centoartig durch die raffiniert eingeflochtenen Zitate: „und einiges, was ich / niemand verrate“, „Dies ist mein
Notizbuch“ oder durch leicht abgewandelte Übernahmen: „nochmal meinen
Kopf“; „Der Kelim hier liegt / zwischen mir und den Dielen“. Doch die Präzision, die man gerne Eich ebenfalls bescheinigt, spiegelt bei Gernhardt nicht
wirklich den Reiz der Bestandsaufnahme, sondern eher jenen des permanenten Dialogs mit dem Dichterkollegen und die Freude der Lyrik auf Lyrik zu
reagieren. D.h. allerdings keine abstrakte Selbstreflexion der Gattung zu betreiben, sondern an einem modellhaften Text des lyrischen Kanons nach
1945 mit einem kollegialen Schmunzeln weiterzuschreiben22.
22 Tobias Eilers tut u. E. gut, in seinem Buch zu Gernhardts Lyrik, wo diese Nachdichtung un ter der Bezeichnung „Einzeltext-Parodien“ behandelt wird, deren parodistische Funktion
nicht zu verabsolutieren. Seinem zusammenfassenden Befund können wir zustimmen: „Weni-
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Beiden Dichtungen ist das Spiel von Zeigen und Verstecken eine ordnende
Konstante, doch Gernhardt geht nonchalanter damit um: Auch Tagebücher
werden gezeigt, die Dimension der Kommunikation, der ständigen Disposition zum Dialog ist immer wieder präsent: Telefon, Fax, Briefe, Computer. Die
Kommunikationsgeräte in Gernhards Inventur, meint Tobias Eilers, „stehen
für den Kontakt nach außen und den erklärten Willen, die Texte zu verbreiten. Das moderne Ich produziert für den Gebrauch und den Rezipienten.
Sein Schreibanlass ist Eichs Inventur und ein dazu konträres Konzept von
Dichtungsproduktion. Als pars pro toto bildet das die Gegenüberstellung von
‚Bleistiftmine‛ und ‚Kopiergerät‛ ab (V. 21)“23. Das Schreiben sei somit kein
autoreflexiver Prozess mehr, wie bei Eich, sondern ein grundsätzlich dialogischer. Die zwei Bestandsaufnahmen vermitteln tatsächlich verschiedenes:
Eich skizziert den Restbestand einer seelischen und weltanschaulichen
Trümmerlandschaft und macht darüber hinaus die karge, minimalistische
Form der Lyrik tonangebend auch im eigentlichen Sinne des Wortes in der
deutschsprachigen Nachkriegslyrik. Gernhardts Inventur hingegen verwendet die Bestandsaufnahme eher als Prätext, um auf die kommunikative
Funktion der Lyrik zu verweisen. Diese postmodern begriffene Dichtung mag
sich gerne unterhalten und auch eine unterhaltende Dimension zu entwickeln. Sie spricht mehrere Sprachen, weiß um den Reiz und die Gefahren der
Öffentlichkeit („sonst kostet dies Wissen / noch mal meinen Kopf“), ist gerne
bereit mit der (Post-)Moderne aber auch mit der Tradition zu „reimen“.
Ob dadurch ein ironisches Gegengedicht, eine Parodie zu Eich entsteht? Von
Robert Gernhardt, einem der Meister der gegenwärtigen deutschprachigen
„Hochkomik“, dürfte man eine humorvolle Neuschöpfung der Inventur sehr
wohl erwarten. Die Lust, altbewährte Formen von Lyrik auf ihre Aktualität
und Tragfähigkeit hin zu testen, hat sich bei Gernhardt als eine Spielart der
Hochkomik behauptet, so zum Beispiel im Falle des Sonetts (Materialien zu
einer Kritik der bekanntesten Gedichtform italienischen Ursprungs). Wie
sieht es nun im Falle des viel jüngeren aber dennoch viel zitierten und bewunderten Kahlschlag-Gedichts aus? Gernhardt nimmt Eich zunächst sehr
ernst bei der Nachbildung der Struktur der Poesie. Er dichtet rhythmisch,
ge der Einzeltext-Parodien richten sich ausschließlich gegen die literarische Vorlage. Im Gegenteil: Es stellt sich der Eindruck ein, für Gernhardt sei es eine Notwendigkeit, mit der Tradition umzugehen und sich stimmimitierend in den Reihen der vorherigen Lyriker-Generationen zu bewegen, zu bedienen – und sie fortzuschreiben“. EILERS (2011), S. 324.
23 EILERS (2011), S. 318.
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verszeilenmäßig sehr nah an der Vorlage und paßt sogar peinlich genau auf
gleiche oder sehr ähnlich lautende Endungen wie im Original (Eich: Konservenbüchse / Gernhardt: Telefonanlage; Eich: Mein Teller, mein Becher /
Gernhardt: Mein Hörer, mein Sprecher; Eich: Im Brotbeutel sind / ein Paar
wollene Socken / Gernhardt: Im Hängeschrank sind / die Korrespondenzen;
Eich: so dient es als Kissen / nachts meinem Kopf / Gernhardt: so kostet dies
Wissen / nochmal meinen Kopf; Eich: Tags schreibt sie mir Verse / Gernhardt: Tags kopiert es die Texte). Doch gerade die extreme Akribie der Nachdichtung könnte einen ambivalenten Gestus bergen: die Weiterführung eines
Models und seine humorvolle Persiflage als Spiel mit der Form. Schaut man
sich die Texte genau an, so stellt man fest, dass die „Füllung“ der InventurForm bei Gernhardt nicht jene Eichs verzerrt. Der postmoderne Dichter
schreibt somit keine Parodie, kein ironisches Gegengedicht auf Eich oder auf
die Kahlschlag-Dichtung. Vielmehr entspricht die Inventur 96 dem Glauben
Gernhardts an die magnetische Kraft von „Hammerzeilen“, an denen man
sich messen möchte, indem man sie übernimmt, transformiert, auf eigene
Weise weiterschreibt und in diesem textlichen Dialog deren kreativitätsfördernde Aktualität erneut bestätigt. Dadurch entsteht eine humorvolle Hommage an den Kahlschlag-Dichter und an eine erfolgreiche Form der deutschsprachigen Lyrik, wie auch ein eklatantes Dokument der Intertextualität.
Wie wäre nun das Phänomen der Intertextualität hier genauer zu beschreiben? Nachdichtungen als Neubearbeitungen einer meistens bekannten literarischen Vorlage sind ein Spezialfall der Intertextualität, denn sie bauen
nicht lediglich auf einzelne Hinweise, Anspielungen, direkte oder verkappte
Zitate, sondern inszenieren den gesamten Text als einen mehr oder weniger
expliziten Dialog mit der ausgewählten Vorlage. Nach der von Renate Lachmann und Schamma Schahadat vorgeschlagenen theoretischen Beschreibung der Intertextualität24 gebe es drei grundsätzliche Erklärungsmodelle,
die allerdings nicht auf abstrakte Beziehungen zwischen Texten, sondern auf
den auktorialen Umgang mit Texten abzielen:
1. Ein Modell der Partizipation, der „dialogische(n) Teilhabe an der Kultur“ 25
durch das Verwenden von Zitaten und Anspielungen, im Rahmen einer „Poetik der Berührung, der Kontiguität“.
24 LACHMANN / SCHAHADAT (51997), S. 677 – 686.
25 Ebenda, S. 679.
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2. Ein Modell der Transformation, der „Usurpation des fremden Wortes“ 26,
wobei Textübernahmen einer anderen Poetik, einer anderen Einstellung
einverleibt werden und andere Akzente erfahren.
3. Ein Modell der Tropik, der „Abwendung des Vorläufertextes“ 27, das an den
Tropus-Begriff Harold Blooms anschließt und den Versuch einer „Wendung
gegen den Prätext“28 bedeutet und folglich zur Entstehung eines Gegentextes
zur Vorlage führt.
In der Praxis selbst sind diese Modelle, wie die Autorinnen zu Recht einräumen, schwer voneinander abzugrenzen. Vielmehr kann man von der Dominanz des einen oder des anderen Modells sprechen. Gernhardts Nachdichtung würde laut der obigen Theorie dem Modell der Partizipation, durch das
Verwenden von Zitaten und Anspielungen und dem Modell der Transformation entsprechen, durch die Usurpation einer Form und das Umfunktionieren des deiktischen Gestus, das in der Auslegung des Gedichts zu anderen
Akzenten und neuen Interpretatiosrichtungen führt.
In seinen Überlegungen zur Poetik doziert Gernhardt über die Risiken des
Umgangs mit Anleihen bei den Dichterkollegen:
Wer sich als Dichter Zeilen oder Verse eines anderen Dichters einverleibt,
tut das auf eigene Gefahr. Ist der Köder bekannt genug, ist sein Fang als Zitat, Paraphrase oder Hommage geadelt, und er selber darf sich poeta doctus
nennen; kennt ihn die Mehrzahl der Leser nicht, dann wird der Kritiker
nicht auf sich warten lassen, der des Dichters Schnäppchen als geistiges
Diebstahl und ihn selber als Plagiator anzeigt.29
In dem besprochenen Fall legt Gernhardt seine Quelle offen, doch weder um sich
selbst damit zu schmücken, noch weil diese zu bekannt sei. Er konstruiert an einer
Beziehung, die zugleich Spiel, Kontinuität, Dialogizität aber auch einen Versuch,
sich und seine Welt neu zu definieren einschließt. Damit schreibt auch Gernhardt
an einer „zweiten Inventur“, welche aber keine Gegenstände in Bestand aufnimmt,
sondern Möglichkeiten des „Gesellungsmediums“ Lyrik.
26 Ebenda, S. 681.
27 Ebenda, S. 682.
28 Ebenda, S. 683.
29 GERNHARDT (2010), S. 39.
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Literatur:
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22. ZENKE, Jürgen, Poetische Ordnung als Ortung des Poeten. Günter Eichs Inventur, in: HINCK, Walter (Hg.): Gedichte und Interpretationen. Gegenwart I,
Stuttgart: Reclam 1982 (Bd. 6.), S. 72-82.
Abstract
Adaptations as a revision of a well-known literary text are a special case of intertextuality, because they don’t rely on just a few direct or hidden references pointing at
the original poem or prose. They rather stage the text as a more or less explicit dialog
with the source. The present paper tries to explore the possibilities of such a dialog.
It investigates on Günter Eich’s poem Inventur (Inventory) and the fifty years later
written and published inventory Robert Gernhardt’s Inventur 96 oder ich zeig Eich
mein Reich (Inventory 96 or I show Eich my kingdom) if the revision of a textual
prototype, the perfect, meticulous reconstruction of poetical structures, by changing
however the message of the poem, is leading to a homage, an artificial resuscitation
of the tradition or to an ironic, humorous, comical reinterpretation of the original.
Schlüsselwörter: Intertextualität, Inventur, Nachdichtung, Kahlschlag, Postmoderne
ZGR 2 (42) / 2012
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DER SCHRIFTSTELLER ALS GRENZGÄNGER
zwischen Sprache und Kultur am Beispiel von Esther
Kinsky, Arno Geiger, Cătălin Dorian Florescu
Katharina Kilzer
1. Einleitung. Die ersten Grenzgänger: Romantiker
1799 hielt Novalis seine „Europa“-Rede beim Jenaer Romantikertreffen im
Hause Schlegel. Eine emphatische Rede, die das Politische, das Christliche
und das Katholische zu verbinden versucht und vorausschauend die Idee einer europäischen Einheit mit der Idee eines jüdisch-christlichen Subjekts
vereint, die einen inneren europäischen Zusammenhang fördert und die nationalen Egoismen bändigen soll. Wie der Literaturwissenschaftler Wolfgang
Braungart in seinem Essay „Subjekt Europa. Europas Subjekt“ 1 in der Literaturzeitschrift „Sinn und Form“ darstellt, ist diese Rede Novalis auch auf aktuelle Gegebenheiten anzuwenden. Später wurde die Europa-Rede unter
dem Titel Die Christenheit oder Europa bekannt, viel diskutiert, bewundert,
aber auch kritisiert. Jene Jenaer intellektuelle Geselligkeit, die in der deutschen Literatur einzigartig ist bis heute, deren „romantische Keckheit“ 2
schon Goethe störte, weswegen er auch die Veröffentlichung der Novalis
Rede im „Athenäum“ zuerst verhinderte, sprach bei ihren Treffen über Zukunftsthemen.
Das gemeine Volk wurde recht mit Vorliebe aufgeklärt, und zu jenem gebildeten Enthusiasmus erzogen, und so entstand eine neue europäische Zunft:
die Philantropen und Aufklärer. Schade dass die Natur so wunderbar und
unbegreiflich, so poetisch und unendlich blieb, allen Bemühungen sie zu
modernisieren zum Trotz. Duckte sich ja irgendwo ein alter Aberglaube an
eine höhere Welt und sonst auf, so wurde gleich von allen Seiten Lärm geblasen, und wo möglich der gefährliche Funke durch Philosophie und Witz
in der Asche erstickt; dennoch war Toleranz das Losungswort der Gebildeten, und besonders in Frankreich gleichbedeutend mit Philosophie…3
Novalis, der für das „Eine“ spricht, das Europa eint, der christliche Ursprung, sah zwar in der Bekennung zum Christentum „ohne Rücksicht auf
1 Braungart, Wolfgang: In „Sinn und Form“: Subjekt Europa. Europas Subjekt. Novalis' katholische Provokation ,Die Christenheit oder Europa'", in: „Sinn und Form“, Jg. 63, Heft 4, 2011.
2 Ebda. Zitiert nach Wolfgang Braungart.
3 Novalis: Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs. Herausgegeben von Paul Kluckhohn und Richard Samuel, Band 1: 3., nach den Handschriften ergänzte, erw. und verb. Auflage, Band 2-4: 2. nach den Handschriften ergänzte, erw. und verb. Auflage, Stuttgart: Kohl hammer, 1960-1977.
Der Schriftsteller als Grenzgänger zwischen Sprache und Kultur am Beispiel von E. Kinsky, A. Geiger, C. D. Florescu
Landesgränzen“ die Erfüllung für ein vereintes Europa, aber „dennoch war
Toleranz das Losungswort…“. Die zweite europäische Einigkeit ist die der
Poesie. Novalis’ christliches Europa-Utopia ist anziehend aber auch befremdlich, weil es modern ist, und herkunftstreu bleiben soll. Religion ist im
Sinne Novalis im Gefolge Schleiermachers die Entwicklung eines Sinnes für
das Unendliche verbunden mit Geschmack für das Schöne. Europa ist für
den Romantiker kein gemeinsames Haus, wie es heute fast täglich in der Politik beschworen wir, sondern ein Bildungssubjekt und in diesem Sinne ein
Gebilde gemeinsamer Traditionen (die für Novalis im christlich-katholischen
liegen). Wenn Europa in großer Freiheit seine inneren Anlagen entfalten
will, soll es sich auch auf seine gemeinsamen Traditionen beziehen. Gemeinsamkeit liegt in der Ästhetik.
Die Romantik kann als Geistesbewegung betrachtet werden, die wie keine
andere bis in die Gegenwart wirkt. Auch Johann Wolfgang Goethe wurde als
Europäer gesehen, da seine Empathie für Weltliteratur einherging mit der
Erfindung der Philologie, und so vielfältige Reaktionen zeitigte. Kein Wunder aber, dass eben im romantischen Geist sich einer der ersten Grenzgänger
der deutschen Literatur behauptete: Adelbert von Chamisso (Louis Charles
Adélaïde de Chamissot de Boncourt, 1781-1838), von dem 1911 Thomas
Mann meinte: Das „Erstaunlichste" an Chamisso sei, „dass das poetische
Werk eines Ausländers im Erdreich der deutschen Sprache so glücklich Wurzeln zu schlagen vermochte".4
Wurzel schlagen vermochten in den letzten Jahrzehnte zahlreiche Autoren
ausländischer Herkunft mit ihren Werken in deutscher Sprache. Sie thematisieren Migration, Vergangenheitsbewältigung, Identitätssuche, Verlust der
Heimat, Aufarbeitung der Geschichte, Grenzgehen, die Suche nach einer
neuen Ästhetik und verbindende Werte in der Fremde mit der Kultur der eigenen Herkunft, jener Eltern und Großeltern - alles Themen der Belletristik
oder belletristischen Sachbücher.
1. Deutsche Gegenwarts-Grenzgänger
Die deutsche Gegenwartsliteratur ist selbst zum Grenzgänger geworden, da
sie viele Dichter als Grenzgänger zwischen Sprache und Literatur versam4 Zitiert nach Katrin Hillgruber: Raus aus dem Migrantenstadl, In: „Tagesspiegel“ vom 1.12.
2009, S. 21.
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melt. Werke von deutschen Autoren wie Esther Kinsky, Feridun Zaimoglu,
Lena Gorelik, Zsuzsa Bank, Michael Stavarič, Terezia Mora, Asfa-Wossen Asserate, Rafik Schami, Marica Bodrožić, Catalin Dorian Florescu, Aglaja Veteranyi, Arno Geiger, Ilja Trojanow, György Dalos, Ota Filip und viele andere
feiern große Erfolge und finden zahlreiche Leser. Sie haben die Blickwinkel
der deutschen Literatur erweitert, vergrößert und globalisiert. Die aus Ländern wie Ungarn, Türkei, Russland, Bulgarien Jugoslawien, Rumänien, Polen, Tschechische Republik, Schweiz u.a. stammende Autoren schreiben auf
Deutsch. Sie wurden so zu Grenzgänger zwischen zwei Sprachen und damit
auch zu Grenzgänger zwischen zwei Kulturen.
„Die gut erzählte Geschichte ist das Zuhause der Reflexion“, schreibt Arno
Geiger in Grenzgehen5. Sind die zahlreichen Grenzgänger der deutschen Literatur die Folge der Osterweiterung nach dem Fall der Mauer 1989? Jedenfalls hat dieses Phänomen in den letzten Jahren an Beschleunigung gewonnen. Im Einwanderungsland Deutschland leben heute 15 Millionen Migranten. Dazu zählen auch die aus den osteuropäischen Ländern ausgesiedelten
Deutschen. Von Migrantenliteratur spricht man jedoch erst seit einigen Jahren. Dieser Begriff hat sich nun in der deutschen Gegenwartsliteratur eingeprägt, obwohl er noch keinen Weg in das Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft von 2007 gefunden hat bisher, jedoch im Metzler Lexikon
der Literatur in der dritten überarbeiteten Auflage von 2007 mit „Migrantenliteratur“ als „Sammelbegriff, der auch für die nicht immer scharf abgrenzbaren Alternativbezeichnungen ‚Ausländerliteratur’, ‚Immigrantenliteratur’, ‚interkulturelle (mehrkulturelle) Literatur’ steht und teilweise auch
Exilantenliteratur oder Exilliteratur miteinschließt.“6 Die Definition zeigt
uns, dass es bisher noch keine entschiedene Eingrenzung der Migrantenliteratur gibt. Die interkulturelle Germanistik, die seit den neunziger Jahren
entstand, entwickelt eine Hermeneutik der Pluralität kulturdifferenter Perspektiven auf deutsche Literatur. Begriffe wie Migrantenliteratur, Gastarbeiterliteratur erfahren verschiedene Definitionen. Die Migranten (soziologisch
gelten als Migranten Nachkommen bis in die dritte Generation) fordern eine
Neukonzeption dieses Faches, Begriffes.
5 Arno Geiger: Grenzgehen, Drei Reden, Edition Akzente, Hanser-Verlag, München, S. 7.
6 Aus: Metzler Lexikon der Literatur, J.B. Metzler Verlag 2007, 3. Auflage, Weimar Stuttgart,
S. 498 ff.
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Der Schriftsteller als Grenzgänger zwischen Sprache und Kultur am Beispiel von E. Kinsky, A. Geiger, C. D. Florescu
2. Sprachgrenze und die Überwindung der Grenze
Die erste Überwindung der Grenze ist die Überwindung der Sprachgrenze.
Die Themen dieser deutschen fremdsprachigen Autoren sind jedoch nicht
eingegrenzt. In letzter Zeit erscheinen immer mehr Bücher, die nicht nur die
Erfahrungen der Schriftsteller mit einem anderen Kulturkreis, einer anderen
Identität und Herkunft schildern, sondern auch individuelle und sozialpolitische Probleme (Arno Geigers erfolgreicher Roman über seinen dementen
Vater Der alte König im Exil oder Rafik Schami mit Die Frau, die ihren
Mann auf dem Flohmarkt verkaufte, Ilja Trojanow, den Weltreisenden in
Die Versuchungen der Fremde: Unterwegs in Arabien, Indien und Afrika
im Malik Verlag, München 2011, oder sein Roman eines Glaziologen [Gletscherforscher] EisTau im Carl Hanser Verlag, München, 2011 und andere).
Die zweite Überwindung beim Grenzgehen ist die Grenze selbst, das können
politische Grenzen, also Landes- oder Staatsgrenzen, psychologische Grenzen oder auch die religiösen und kulturellen Grenzen sein. Dem Begriff hafteten im letzten Halbjahr des vorigen Jahrhunderts, zur Zeit des Kalten Krieges, Negativismen an und nach dem 11. September 2001 auch Grenzen setzen gegenüber dem Fremden, einer fremden Religion und Kultur.
Für die Tatsache, dass dem Menschen Grenzen gesetzt sind, bin ich in den
vergangenen Jahren sensibler geworden und hellhörig dafür, dass das Wort
Zugang in unserer Gesellschaft immer mehr an Bedeutung gewinnt. Das
heißt, dass auch Wörter wie versperrt und verwehrt, ausgeschlossen und abgeschottet stille Konjunktur haben. Es gibt Sieger und Besiegte, Elite und
Übergangene, es gibt Drinnen und Draußen.7
Und somit wären wir bei den Grenzgängern bei den sozialpolitischen Bezügen, die von den heutigen Autoren hergestellt werden.
Das Gemeinsame all dieser Grenzgänger-Autoren ist die Sprache, in der sie
schreiben. Wenn auch manche Regionalismen, Modernismen, Fremdwörter
oder einfach eine Verballhornung des Deutschen (wie im Buch Kanak-Sprak
1995 von Feridun Zaimoglu beschrieben) Einzug hielt in der deutschen Sprache, so erheben alle jedoch den Anspruch, ihre Ich-Erfahrungen oder ihren
Subjektivismus, ihre Betrachtungen der Öffentlichkeit mitzuteilen. Sie haben
in Essays, Interviews und Publikationen in Zeitungen, Zeitschriften den
Anspruch, dass die Schilderungen des eigenen Ichs repräsentativ sind. Obwohl dies ein klassisches Motiv der Romanliteratur ist, treffen wir in den Bü7 Geiger, Arno: Grenzgehen, Carl Hanser Verlag, München 2011, S. 11.
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chern dieser Autoren auf eine gewaltige Sprache, fremdländische Einsprengsel, die Neugier und Aufmerksamkeit erreichen bei den Lesern.
3. Autobiographie und das Ich der Autoren
Die autobiographischen Details so mancher Autoren aus dem Kreise der Migranten, interessieren deutsche und deutschsprachige Leser, erstens wegen
der Exotik, Fremdheit und Unbekanntheit und zweitens wegen Anteilnahme
und Widerspiegelung eigener Erfahrungen. Das führt zum Erfolg. Andreas
Maier z.B. nannte seine Frankfurter Poetikvorlesung den Titel Ich8, ein
Selbstgespräch des Autors mit elitären Zügen, aus dem man über Literatur
und Autorschaft viel lernen kann:
Wenn ich heute die Literatur um mich herum lese, lese ich interessante Gespräche intelligenter Leute über ausgefallene Dinge. Das ist, was die Leute
interessiert, aber für mich ist es eine Verschönerung. Dass man sich quasi
eine Welt erschreibt, wie man sie gern hätte, auch im Negativen. [...] 9
Auch die Banaterin Herta Müller reüssierte mit ihren biographischen Geschichten bis hin zur Verleihung des Nobel-Literaturpreises. Wenn sie in ihrer Dankesrede 2009 in Stockholm vom Taschentuch sprach, definiert sie
mit „Hast Du ein Taschentuch?“ das Motiv der Einsamkeit des Menschen
und fragt am Ende der Rede: „Kann es sein, dass die Frage nach dem Taschentuch seit jeher gar nicht das Taschentuch meint, sondern die akute Einsamkeit des Menschen.“10
Einsamkeit wird jedoch von Schriftstellern verschieden betrachtet. So
schreibt Ana Blandiana in ihrem Essay Fragmente über mich selbst:
Sehr früh erkannte ich den Unterschied zwischen Alleinsein und Alleingelassensein. Da ich nicht alleingelassen wurde, kämpfte ich darum, allein zu
bleiben. Ich verstehe sehr gut die Bemerkung Dostojewskis, der im „Haus
der Toten“, die Unmöglichkeit für einen Moment allein zu sein, im Lauf einiger Jahre und Jahrzehnte als die schwerste aller Torturen der Deportation
8 Maier, Andreas: Ich, Frankfurter Poetikvorlesungen, Suhrkamp Taschenbuch, Frankfurt am
Main 2006.
9 In: „FAZ“ vom 15. März 2012, Feuilleton, S. 27, Das Ich als Unverschämtheit von Edo
Reents.
10 In: „FAZ“ vom 12. Dezember 2009, Feuilleton, S. 31: „Jedes Wort weiß etwas vom Teufelskreis“.
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Der Schriftsteller als Grenzgänger zwischen Sprache und Kultur am Beispiel von E. Kinsky, A. Geiger, C. D. Florescu
empfand. Die Einsamkeit ist die Voraussetzung für die Meditation und das
Nachdenken und kann dadurch zu einer Waffe und einer Gefahr werden für
jene, die versuchen, dich zu beherrschen, da sie statt deiner denken. Diese
selbst gewählte und freiwillige Einsamkeit ist wesentlich verschieden von
der Einsamkeit inmitten der modernen Welt, welche ihrerseits Entfremdung
nicht nur von anderen, sondern auch vor dir selbst, bedeutet.11
Ana Blandiana benennt den Unterschied zwischen der Einsamkeit, dem Alleinsein und der Entfremdung. Meinte also Herta Müller mit ihrer Einsamkeit des modernen Menschen, die Entfremdung!
Herta Müller nimmt den Leser in moralischer Haftung mit ihren fiktionalen
Geschichten. Ist es in dem Roman Atemschaukel12 Leon Auberg, das männliche Alter Ego der Schriftstellerein, so finden wir jedoch in Barfüssiger Februar, Herztier und Niederungen ihr eigenes Ich widerspiegelt.
Eine andere deutschsprachige Autorin aus Rumänien, Grenzgängerin Aglaja
Veteranyi schreibt in Warum das Kind in der Polenta kocht, Das Regal der
letzten Atemzüge (2002) und Vom geräumten Meer, den gemieteten Socken
und Frau Butter (2005) aus der Perspektive einer Kindlichkeit heraus, ein
Ich, das in seiner Sehnsucht nach Erlösung, zugrunde geht. Die aufgesetzte
Verspieltheit des Ichs trügt und der Leser gelangt erst mit Verzögerung zur
Einsicht, dass dieses rumänische Zirkuskind in der Schweiz zuviel Last mit
sich trägt, zu große Sehnsüchte ausbreitet, die unerfüllt bleiben und frappierend sind. Die Geschichten sind faszinierend tragikomisch und lassen den
Leser am Innenleben der Autorin teilhaben, wenn sie erzählt: „Mein Vater
starb an Abwesenheit. Meine Mutter lebt in Ohnmacht. Aufgewachsen bin
ich allmählich. Und Kinder will ich keine.“ 13 in kurzen, knappen Sätzen, Ausdrücken, surrealistisch anmutenden Bildern und Dialogen.
Die neue Lesergeneration in Deutschland, aber auch in Europa ist neugierig
auf neue Themen, die grenzübergreifend die Sicht der Autoren auf die Welt
in den Mittelpunkt stellen. Rafik Schamis - der Damaszener Freund, Pseudonym des deutschen Schriftstellers arabischer, syrischer Herkunft, der Suhail Fadil heißt - Erzählungen schildern in der Ich-Form die Probleme arabi11 Blandiana, Ana: In einer spanischen Herberge. Essays (Hg. Katharina Kilzer), Noack &
Block-Verlag, Berlin 2012, S. 13 ff.
12 Müller, Herta: Atemschaukel, Carl Hanser Verlag, München 2009.
13 Veteranyi, Aglaja: Vom geräumten Meer, den gemieteten Socken und Frau Butter, Geschichten, Dtv-Verlag, Stuttgart 2005, S. 113.
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scher Menschen in der deutschen Diaspora und bringen dem Leser die Welt
Arabiens in alter und neuer Zeit nahe. Schamis Geschichten sind nicht so
existentiell zugespitzt wie jene Aglaja Veteranyis, sie sind der Versuch einer
Gratwanderung im Schnittfeld von zwei verschiedenen Literatur- und Kulturgeschichten. Im semi-fiktionalen Raum literarischer Texte wird die Konstituierung einer hybriden Identität beschworen, die nationale Kanonbegriffe
sprengt. Schami, Veteranyi, Florescu, Kinsky, auch Herta Müller füllen ihre
Geschichten mit Metaphern aus einer anderen Sprache entlehnt oder Übersetzungen, die als fremde Einsprengsel eingeführt werden, sei es auch in
Dialogen und rhetorischen Elementen. Aglaja Veteranyi erzählt in Das Lied
von einer Frau, die ihr Haar kämmt: „Mein Haar ist lang, sagt die Frau. Ich
habs gekämmt. Ich habe ihm Eigelb gegeben. Das Haar hat das Ei gegessen.
Jetzt bringe ich den Schnee, sagt die Frau". Die Wortschöpfungen und Einsprengsel Herta Müllers bleiben hängen: Herztier, Atemschaukel, Herzschaufel, Diktandoheft. Fremde, die in die deutsche Literatur getragen und
das dort ansässig wurden, wurden nicht nur zu Grenzgängern, sondern auch
ihre Literatur wurde zum Grenzgängertum (obwohl Herta Müller bei ihren
Interviews stets betont, dass sie eine deutsche Autorin sei).
4. Identitätssuche und das Fremde
Esther Kinsky, geboren 1956 in Bad Honnef lebt in Berlin und in Battonya/Ungarn, nahe der Grenze zu Rumänien und Serbien, ist eine deutsche
Schriftstellerin, Übersetzerin aus dem Polnischen, Russischen und Englischen. 2009 war sie für den Übersetzerpreis der Leipziger Buchmesse nominiert und erhielt den Paul-Celan-Preis. 2004 erschien ihr Roman Sommerfrische und 2011 veröffentlicht sie den Roman Banatsko, der auf der Longlist
für den Deutschen Buchpreis 2011 stand. Bei dieser Autorin mit ungarischem Hintergrund ist die Grenze zwischen Fiktion und Reisereportage fließend. Esther Kinsky, Tochter ungarischer Eltern kehrt mit ihren Geschichten
in die Heimat der Vorfahren zurück, geht auf Spurensuche und schafft sich
eine neue Identität. In Banatsko, dem Roman in losen Geschichten, die miteinander durch Ereignisse und Personen verbunden sind, geht sie auf Identitätssuche und Identitätsspuren ins Banat, dem Ort ihrer Großeltern.
[…] hier sprach man nicht nur eine, sondern etliche Sprachen. Man sprach
mit den Augen, den Händen und dem Mund, und eine Geste, beispielsweise
ein kurzes Zuschlagen des einen Augenlids, mochte in der einen Sprache et-
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was Bestimmtes und in einer anderen etwas ganz Ungefähres oder gar das
Gegenteil des Bestimmten bedeuten.
Lebenserfahrungen rücken in den Mittelpunkt: Nachbarn, ein Akkordeonspieler, ein Melonenwächter, ein Fleischer, den Pferdekutscher, den Zimmermann, die Zigi-Frauen, den Zirkusdompteur, den Spezialisten für
„Grenzsteine“ – allgemeingültige Schicksale wurden von der Autorin in Dörfer wie Battonya, Grabatz, Lenauheim, Großsanktnikolaus, Aranca, Gottlob,
Gertianosch, Banatsko, Mezöhegyes, Granica im ungarischen, serbischen
und rumänischen Banat erzählt nach 1989. Über die historische Vergangenheit der Orte erfährt man wenig, den Leitfaden bilden Schicksale aus dem
Banat und die Orte definieren die Menschen.14
Am Bahnhof in Mezöhegyes standen mehrere Züge, rotgelbe Waggons, die
einzeln durch die Landschaft pendeln, Grenzen streifen, in Grenzorten halten würden. Die spärlichen Reisenden sahen immer erschöpft aus, ausgelaugt von Hitze, Kälte, Weite, Licht oder Dunkelheit.15
Ich fuhr aus dem Dorf hinaus nach Süden, ließ die letzten Häuser hinter mir
und die letzten dunkelwelken Sonnenblumenfelder. In der Ferne stand eine
Baumgruppe, fast am Horizont ein Gebäude, grau und flach, unscharfe Bilder, auf die Krümmung der Erde gezeichnet. Quer über das Feld am Weg zogen sich Telegraphenmasten, die sirrten, schwaches Hundegebell schnarrte
in der Luft … ein paar Schritte weiter ragte ein Schild aus dem Riedgras:
Grenze. Hier war nichts. Niemand lag zwischen Schilf und Gras und wachte
über die Wahrung von Hüben und Drüben. Niemand kam, niemand ging,
hier war das leere Land.16
Ist das Banat ein Niemandsland und kein Grenzland? Die Grenze war einst
ein Landstrich, der unberührt, unbetreten und verbotenes Land war; nur die
Flüchtlinge und die Grenzsoldaten waren dort. Sie besucht das Haus ihrer
Großeltern, ging auf Friedhöfe, in Kneipen, ins „Mosi“, spricht mit Nachbarn, so folgt dem Sommer der Winter, der diese morbide Landschaft mit
Einsamkeit überzieht. Eine Zukunft scheinen die Menschen dort nicht zu haben, sie leben so vor sich hin. Träumen von vergangenen Zeiten. Morbidität
und Stillstand dominieren in Prosaminiaturen über Arad, Großsanktnikolaus, Lenauheim, Gottlob, Grabatz, Jimbolia, Covasint oder Granica, Jimbolia „das kleine Leben der verschlafenen Lust“, die sich aus den vielen „brö14 Kinsky, Esther, Banatsko, Mathes & Seitz Verlag, Berlin 2010, S. 24.
15 Ebda., S. 44.
16 Ebda., S. 51.
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ckelnden, blätternden, schwankenden, dämmernden Schichten der Kleinstadt“ nährt.17 In Carpinis und Iecea Mare und Iecea Mica findet sie „kleine
Dörfer mit langen baumgesäumten Wegen zum Horizont, zwischen den Dörfern holprige Alleen mit ihrem Zubehör aus Pferdchen, Wagen und den wanderäugigen Reisenden darauf […]“18 Die dichte Erzählweise über „Grenzgehen“ enthält viele geflügelte, wenn die Autorin ins pathetische Schwärmen
abgleitet und über „Heimweh“ nachdenkt (so auf Seite 150 bei ihrem Besuch
in Gottlob):
[…] ein schönes Wort, […] Heimweh […], ein Verlangen nach einem Ort,
dem man zugehört, dessen Vertrautheit alles andere in den Schatten stellt,
ein Verlangen, das jedes andere Verlangen augenblicksweise verzehrt und
nur noch dieser Zughörigkeit gilt.
Die Vergangenheit dominiert, die Zukunft der Banater Dörfer scheint aussichtslos. Die neuen Einsiedler fühlen sich im Banat nicht zuhause, sie sind
Flüchtlinge aus dem Norden oder Süden des Landes, die Grundstimmung ist
Traurigkeit, Einsamkeit, Vergänglichkeit in der Zeit und Morbidität beherrscht. Optimismus kommt kaum auf.
„Ebene, wo sich wenig ereignet und das Dasein sich langsam abspielt, wo
jede Fortbewegung nicht nur größere Mühe, sondern auch stärkeren Entschluss erfordert als andernorts“19, diese heiter-traurigen Geschichten hinterlassen Bilder in unserem Kopf, Vorstellungen von jenen Orten, Landschaften, Flüssen, Feldern, Wiesen und den dort lebenden Menschen. Sie
verzaubern und lassen staunen über eine sanfte, schnörkellose Poesie, in der
eine große Empathie und Liebe zu dem Beschriebenen steckt.
Die Fremde sucht nach Erklärungen jener Banater Welt des Stillstands nach
der Wende:
Wir haben hier nie viel von der Welt mitbekommen. Das Werk war unsere
Welt, und die Ereignisse zwischen uns Arbeitern erfüllten uns. Wenn unsere
Hände einander unversehens streiften, unsere Augen sich begegneten, wenn
es zu kurzen heftigen Wortwechseln kam, weil jemand eine Handreichung
versäumt oder falsch ausgeführt hatte, wenn die Gleichmäßigkeit unseres
Handelns unterbrochen wurde, nur dann geriet etwas in uns in Wallung und
Bewegung […] Auch als die Umwälzungen kamen, merkten wir erst wenig
17 Ebda., S. 168.
18 Ebda., S. 151.
19 Ebda., S. 16.
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davon. Ringsum brandete Unruhe, wie heute jedermann weiß, doch hier auf
dieser von allen Seiten her einsehbaren Ebene, war es still […]“, meinte eine
Fabrikarbeiterin aus Arad.20
Diese „von allen Seiten her einsehbare Ebene“, die so still vor sich hinexistiert, lässt die Jahreszeiten vorbeiziehen, lässt Geschichte passieren und die
Menschen umsiedeln. Die Erzählungen Kinskys brennen sich in die Landschaft ein und lassen diese unvergesslich werden, ob gestern, heute oder
morgen: das Banat – ein Memoirenbuch. So bleibt am Ende dennoch die alles beherrschende Frage nach dem Banat bestehen:
Wie fand man sich zurecht in einem so unwägbaren Landstrich? Wo ließ das
Herz sich nieder zwischen so Namenlosem, wo hielt sich das Auge fest, zwischen Staub und Sumpf, wenn nicht am Horizont, der aber doch unweigerlich das Nicht-hier ist. Vor dem die Ruhe und die Ruhelosigkeit zu einem
wurde?21.
Kinsky ist es gelungen, das Banat, das schon durch Herta Müller in der deutschen Literatur einen Namen und ein fester literarischer Schauplatz wurde,
anders zu beleuchten.
Auch Cătălin Dorian Florescu, 1967 im rumänischen Temesvar geboren,
der seit 1982 in der Schweiz lebt, lässt seine Romane im Banat spielen. Er
studierte an der Universität Zürich und arbeitete von 1995 bis 2001 als Psychotherapeut. Seit der Veröffentlichung seines ersten Romans Wunderzeit22
über einen gehbehinderten rumänischen Knaben, der aus medizinischen
Gründen mit seinem Vater in den Westen darf, hat er weitere Romane veröffentlicht. Seine Geschichte Jacob beschließt zu lieben23, eine Erzählpanorama, das sich bis zum Dreißigjährigen Krieg ausdehnt, schildert eine Banater
Dorfgeschichte voller Gewalt, Flucht und Vertreibung. Es handelt sich um
eine Familiensaga aus dem Dorf Triebswetter, deren Geschichte von mehreren Generationen in einer Familie von Dorfbewohnern, von Einwanderern,
Deportierten, Zigeunern, Einheimischen und dem Fremden, dass die Generationen der Dorffamilien in verschiedenen sozialen Systemen erleben, die
Florescu bunt und derb und gelegentlich auch heiter und humorvoll schildert.
20 Ebda., S. 85.
21 Ebda., S. 148.
22 Florescu, Cătălin Dorian: Wunderzeit, Pendo Verlag, München 2001.
23 Florescu, Cătălin Dorian: Jacob beschließt zu lieben, CH Beck Verlag, München 2011.
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Kaum einer erzählt mit so viel Kraft, Sinnlichkeit, Wärme, mit einem so
großen, Jahrhunderte umfassenden Atem, so ruhig und furchtlos, vor Brutalität und Grausamkeit so wenig zurückschreckend wie vor leiser Zärtlichkeit
und Wehmut. Was für ein Erzähler!
schreibt Elke Heidenreich in ihrem Artikel Was wir uns schuldig sind in der
Literaturbeilage24 der „FAZ“ zu Florescus Roman.
Das Fremde des Romans liegt begraben im Irrsinn eines nicht zu begreifenden Jahrhunderts, im Dschungel von Willkür und Gewalt und dazwischen
ist Jacob, ein Nachfahre der lothringischen Einwanderer ins Banat: Jacob
liebt, weil die Liebe zu seinem Wesen gehört:
Er liebt das armselige, harte bisschen Leben, das er hat; er lernt, seinen Vater zu lieben, der ihn doch immer wieder verrät; er liebt Katica, das Serbenmädchen, und Ramina, die dicke Zigeunerin, die er beide nicht lieben darf
und die ermordet werden. Jacobs Geschichte ist eine Geschichte von Härte,
Armut, Brutalität, eine fremdbestimmte Geschichte: ihm bleibt fast nichts,
was er wirklich selbst entscheiden kann. Aber ob er liebt oder nicht, das
kann er entscheiden, und das lässt ihn am Ende dieses bewegenden und
spannenden Buches einfach nur noch über das nächste aberwitzige Elend lachen…25
Florescus Banat Geschichte hat jedoch nicht alle Kritiker überzeugt. Jörg
Magenau hat in seiner Kritik Wenn in jedem Gewitter ein Teufel steckt ihm
einen
[…] Hang zur Folklore vorgehalten. Das trifft auch auf diesen Roman zu. Das
Folkloristische besteht darin, Geschichte zu benutzten, um damit erzählerische Effekte zu erzielen. Geschichte löst sich dann in Geschichten auf.26
Eine Grenzgeschichte von Catalin Dorian Florescu ist schon in seinem Roman Der blinde Masseur27 zu lesen. Schauplatz: Grenzübergang, kurz vor
24 In „FAZ“: Elke Heidenreich: Was wir uns schuldig sind, 12.03.2011 Literaturbeilage, L 10.
25 Ebda.
26 Jörg Magenau: Wenn in jedem Gewitter ein Teufel steckt, In: „Süddeutsche Zeitung“,
5.09.2011, S.16.
27 Florescu, Cătălin Dorian: Der blinde Masseur, Pendo Verlag, München 2006.
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Der Schriftsteller als Grenzgänger zwischen Sprache und Kultur am Beispiel von E. Kinsky, A. Geiger, C. D. Florescu
der rumänischen Grenze, wo ein müßiger Reisender, ein aus Rumänien
stammender Schweizer in feinem englischen Anzug aus dem Auto steigt und
die Verunglückten, ein junges Paar auf dem Weg zur Hochzeit, entdeckt: „In
den Armen der Polizisten sahen die Leichen schwerelos aus, fast wie Kinder
in den Armen ihrer Mütter.“ So beginnt die Rückkehr Teodor Moldovans in
sein Heimatland, aus dem er zwanzig Jahre zuvor mit seinen Eltern geflohen
war - ein Wiedersehen mit schlechten Vorzeichen in ein eindrückliches Bild
gefasst. Die autobiographische Geschichte eines Entwurzelten beschreibt
eine Rückkehr in die rumänische Heimat; ein immer wiederkehrendes Thema in Florescus Geschichten.
Ein anderer Grenzgänger ist der Österreicher Arno Geiger, der 1968 in
Bregenz am Bodensee geboren ist, im Vorarlberg, aufwuchs und deutsche
Philologie und Geschichte in Innsburck und Wien studierte, hat mit seinen
Büchern das Grenzgehen an witzigen Familienchroniken versucht. Auch er
bringt autobiographische Einsprengsel in seinen Romanen unter, und wenn
er seinen Roman von 2005 Es geht uns gut nennt, so ist das eine ironische
Anspielung auf das Leben, den Alltag. Auch Geiger erzählt an einer Familienchronik über drei Generationen die Geschichte einer österreichischen Familie in Wien. Aber was heißt schon Geschichte! Geiger konzentriert sich auf
das, was die Essenz eines einfachen Lebens ausmacht.
Wie sieht, so lautet die Frage, die im Untergrund ständig rumort, Geschichte
aus, wenn man sie nicht an den Daten eines Staates, an den Errungenschaften der Politik, am Wellenschlag der herausragenden Ereignisse dingfest
macht, sondern an den Alltagskämpfen von Menschen, die sich mit ihren
Familienmitgliedern herumschlagen müssen? Wie ist die Identität eines
Landes beschaffen, wenn man sie über die Alltagsverflechtungen seiner Bewohner erfahren möchte? Jede Lebenswirklichkeit ist von ganz und gar eigenständiger Prägung, und doch sind die Irrungen und Wirrungen, die ein
einzelnes Leben durchmacht, repräsentativ für eine Generation.28
Der Roman Es geht uns gut29 von Arno Geiger war im Jahr 2005 ein Überraschungserfolg. In der dramatisierten Fassung von Andreas Jungwirth und
Lars-Ole Walburg, kam die sehr österreichische Familiengeschichte des
Philipp Erlach im Wiener Schauspielhaus als Koproduktion mit den Wiener
Festwochen als ein eher „sperriges Ding“ daher. Philipp erbt das Haus der
28 In „FAZ“, 5.09.2009.
29 Geiger, Arno: Es geht uns gut, Carl Hanser Verlag, München, 2005.
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Großeltern - zur Strafe, wie man erfährt, und mit dieser Immobilie auch die
Erinnerungen. Arno Geiger, Jahrgang 1968, legt den geschichtsskeptischen
Roman seiner Generation vor ohne Illusionen, verwirft aber die Geschichte
nicht respektlos wie sein Protagonist Philipp, um unbehelligt weiterleben zu
können. Er sichtet die Vergangenheit nüchtern wie ein Dokumentarist, um
seine Schlüsse zu ziehen.
Schlussfolgerung
Das Fremde bei den Autoren aus anderen Ländern, die aber deutsch schreiben, liegt nicht im Leiden an Deutschland, sondern Leiden an der Vergangenheit, an autoritären Vätern, an Pubertätsproblemen, an unerfüllter Liebe
und freudlosem Sex, an anderen Ausländern, am Älterwerden, an Alkohol
und Fettsucht, an Trost- und Orientierungslosigkeit. Die Erzählungen, Geschichten handeln von Menschen, nicht von Ausländern, und sind deshalb
für deutsche Leser genauso spannend wie für kroatische, spanische, rumänische oder türkische. Ihre Hauptschauplätze sind interkulturell, ohne nationale Tönung, Orte wie Stadt- und Dorf-Kneipen, Discos, Partys, Schwimmbäder, Feten aller Art, oder Landschaften länderübergreifend definiert, wie
das Banat, Lothringen, Elsass, Tiefebenen, Seen, Wälder Gebirgswege, Bahnhöfe, Dörfer, usw. Die Interkulturalität der Autoren drückt sich eben nicht in
dem geografischen Raum, der Zuordnung zu einer Nation, sondern in der
Thematik aus,
[…] alle schreiben ein vorzügliches Deutsch, pflegen diese Sprache und halten sie für ein ausgezeichnetes Instrument, das ihnen Distanz zu ihren Gefühlen erlaubt und zugleich ein Präzisionswerkzeug in die Hand gibt, mit
dem sie ihre Empfindungen ausdrücken können
schreibt Hermann Kurze zur Herausgabe des Buches Feuer, Lebenslust mit
Geschichten von eingewanderter deutscher Autoren. 30 Das Fremde bereicherte die deutsche literarische Tradition! Deswegen wäre es nicht ganz gerecht von Migrantenliteratur, Einwandererliteratur, Fremdenliteratur zu
sprechen, sondern einfach von guten Romanen, Geschichten, Novellen,
Prosaminiaturen oder Reiseromanen und Road-Movie-Erzählungen.
30 In: „FAZ“: Hermann Kurzke: Ich will da bleiben, wo ich bin, Literaturbeilage vom 18.03.
2003, S L11.
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Literatur:
Primärliteratur:
1.
2.
3.
BLANDIANA, Ana: In einer spanischen Herberge. Essays (Hg. Katharina Kilzer), Noack
& Block-Verlag, Berlin 2012.
FLORESCU, Cătălin Dorian: Jacob beschließt zu lieben, CH Beck Verlag, München 2011.
GEIGER, Arno: Grenzgehen, Carl Hanser Verlag, München 2011.
4.
5.
GEIGER, Arno: Es geht uns gut, Carl Hanser Verlag, München, 2005.
KINSKY, Esther: Banatsko, Mathes & Seitz Verlag, Berlin 2010.
6.
MAIER, Andreas: Ich, Frankfurter Poetikvorlesungen, Suhrkamp Taschenbuch, Frankfurt am Main 2006.
7.
MÜLLER, Herta: Atemschaukel, Carl Hanser Verlag, München 2009.
8.
VETERANYI, Aglaja: Vom geräumten Meer, den gemieteten Socken und Frau Butter,
Geschichten, Dtv-Verlag, Stuttgart 2005.
Sekundärliteratur:
1.
2.
3.
BRAUNGART, Wolfgang, Subjekt Europa, Europas Subjekt. Novalis' katholische Provokation „Die Christenheit oder Europa", in: „Sinn und Form“, Jg. 63, Heft 4, 2011.
NOVALIS: Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs. Herausgegeben von Paul
Kluckhohn und Richard Samuel, Band 1: 3., nach den Handschriften ergänzte, erw. und
verb. Auflage, Band 2–4: 2. nach den Handschriften ergänzte, erw. und verb. Auflage,
Stuttgart: Kohlhammer, 1960–1977
METZLER LEXIKON DER LITERATUR, J.B. Metzler Verlag 2007, 3. Auflage, Weimar
Stuttgart
Zeitungen:
1.
2.
3.
4.
5.
6.
„FAZ“: Hermann Kurzke: Ich will da bleiben, wo ich bin, Literaturbeilage vom 18.03.
2003, S L11.
„Süddeutsche Zeitung“: Jörg Magenau: Wenn in jedem Gewitter ein Teufel steckt, 5.09.
2011
„FAZ“: Elke Heidenreich: Was wir uns schuldig sind, 12.03.2011 Literaturbeilage, L10.
„Tagesspiegel“: Katrin Hillgruber: Raus aus dem Migrantenstadl, In: „Tagesspiegel“ vom
1.12.2009, S. 21.
„FAZ“ vom 15. März 2012, Feuilleton, S. 27, Edo Reents: Das Ich als Unverschämtheit.
„FAZ“ vom 12. Dezember 2009, Feuilleton, S. 31: Jedes Wort weiß etwas vom Teufelskreis.
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Katharina Kilzer
Abstract
The writer as border-crosser between language and literature on the
example of the German writers Esther Kinsky, Arno Geiger, Cätalin
Dorian Florescu
The first migrant literature-writers can be find in the German romanticism, starting
with Novalis, who defined 1799 the idea of an European Union in Jena at the reunion in the house of Schlegel. The French Louis Charles Adelaide de Chamisso de
Boncourt, known in the literature as Adelbert von Chamisso can be called one of the
first German border-cross writers. Even Goethe and later on Thomas Mann admired
him, calling the poetic work of this foreigners “the most amazing thing, that the poetic work took root in the German language”.
Today's “migrant literature” focuses on different themes on their country of origin
even as well as on social and political problems of the country where they live: Germany. After 1989 writers from Hungary, Russia, Romania, Bulgaria, Poland, Czechia, Yugoslavia, Switzerland, Turkey, Iran and other countries became well known in
Germany. Esther Kinsky with roots in Hungary, Arno Geiger from Switzerland and
Catalin Dorian Florescu from Romania are three prominent German writers.
Themes as the search for identity, experiences with other cultures, rootlessness and
cultural diversity are the main focuses of their novels, stories and essays.
Schlüsselwörter: Migrantenliteratur; Grenzgänger; Grenzgehen; Novalis' Europa-Rede; Entfremdung; Interkulturelle Literatur; Arno Geiger.
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RAUMORDNUNG UND RAUMFIGUR IM ROMAN
Der Fuchs war damals schon der Jäger
von Herta Müller
Beatrice Nicoriuc
Die Stadt, der urbane Raum, wird permanent durch Wünsche, Träume,
Ängste und Hoffnungen und durch Handlungen und Verhaltensweisen verändert, die Änderungen werden an Straßen, Gebäuden, Häusern sichtbar.
Diese Materialisierung erfolgt durch die schöpferische Kraft, die das Individuum bzw. das Ich besitzt. Das Städtische ist ein kultureller Komplex, das Ergebnis vieler Handlungen, andererseits ist es selbstschöpferisch, es produziert
etwas Überindividuelles und bildet die Grundlage für eine Natur anderer Art.1
Die Stadt ist zugleich ein sozialer Raum, der symbolisch aufgeladen ist und
sich somit auf das Alltägliche auswirkt. Bei Herta Müller sind die Menschen
und die Natur der Form der Stadt oder des Raumes untergeordnet. Zwar ist
die Stadt keine geschlossene Einrichtung, denn das eine Ende geht in die
Felder und ins Dorf hinein, doch stellt sie eine Enge dar, aus der es offenbar
keinen Ausweg gibt.
Die Stadt erscheint in der Literatur und im Film oft als organische, mechanische oder morphologische Metapher, das heißt als Körper, als Maschine oder
als Netz. Sie ist immer ein Symbol, ein Raummotiv oder sogar ein Mitspieler
in der Erzählung bzw. in der erzählten Realität. Das Problem liegt im Verhältnis zwischen der dichterischen Imagination und der Erzählbarkeit der
Städte. In wie fern lässt sich eine Stadt erzählen, in wie weit lässt sich die
Realität durch Symbole herüberbringen, ohne dass man ein verfremdetes
Bild bekommt, das vom Imaginären überholt wird.2 Die literarische Konstruktion der Städte ist nicht nur von der Erfahrung geprägt, sondern es ist
eben die Literatur, die uns die Art und Weise, wie wir eine Stadt erleben, angibt. Stadterlebnisse und Erfahrungen werden von der Literatur vorkonstruiert. Städte erzählen an sich keine Geschichte, sondern sie sind da, um Augen
zu öffnen, sie „können sie sichtbar machen oder [...] verbergen“. 3
1 VÖCKLER, Kai, Die Stadt und ihr Imaginäres. Raumbilder des Städtischen. Von der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig zur Erlangung des Grades eines Doktors der Philosophie
– Dr. phil. – genehmigte kumulative Dissertation.11 Januar 2012. S.11.
2 Großstadt in der Literatur. Onlinedokumentation der Konrad-Adenauer-Stiftung Zusammenfassung der Beiträge, die auf der Fachtagung „Großstadt in der Literatur“ für Lehrerinnen
und Lehrer vom 21.-23. Sept. 2003 in Eichholz gehalten wurden. S. 5.
3 WENDERS, Wim, The Act of Seeing. Essays, Reden, Gespräche. Verlag der Autoren, Frankfurt
am Main: 1992.
Beatrice Nicoriuc
Im 19. bzw. 20. Jahrhundert erfolgte die Strukturierung des Erzählens einer
Stadt nach sichtbaren Oppositionen. Die ländliche Idylle wurde der entfremdeten Stadt gegenübergestellt, das Individuum gegen die Massen, Arme gegen Reiche. Die Realität untergeht einer grotesk- imaginativer Transformation, wo das Ziel die Kritik an die sozialen Umstände ist. Anhaltspunkte im
städtischen Raum werden Alkoholismus, Plündrerei, Prostitution, angereichert mit der fantastischen Motivik. Bei Herta Müller finden wir diese klare
Abgrenzung zwischen das Ländliche und Städtische nicht. In ihren Werken
verwischen sich diese Grenzen, die Stadt ist nicht klar definierbar, man weiß
nicht wo sie anfängt und wo sie endet. Im Roman Der Fuchs war damals
schon der Jäger haben wir eine Stadt, die an beiden Enden offen ist, an die
die Vorstadt „mit Drähten und Rohren […] gehängt“ ist. An einem Ende der
Stadt steht die Fabrik, am anderen die Felder mit dem Dorf im Anschluss.
Als Verknüpfung zwischen Stadt und Dorf „hingen Schafe“ und „fraßen den
Weg.“4 Die Lotmanschen semantischen Räume fließen ineinander, es gibt
keine sichtbare Trennlinie dazwischen.
Das semiotische System, das auch die Raumordnung im Roman bestimmt,
bildet sich aus der Zusammensetzung verschiedener Elemente. Der Raum
gestaltet sich also aus dem Wechselspiel dieser Elemente, die gleichzeitig
Ergebnis und Voraussetzung sind für die Gestaltung des Raumes. Die
kreative Hauptaktivität lagert sich auf die Seite des Rezipienten. Die semantischen Felder und die Raumordnung der Elemente (sowohl der Stadtelemente als auch der Textelemente) ergänzen sich, die Grenze zwischen diesen
ist permeabel. Eben diese Permeabilität ermöglicht dem Leser eine immer
wieder neue Interpretation. Die Gegenstände und Personen werden verschiedenen semantischen Räumen zugeordnet, weisen keine speziellen
Raumbindungen auf. An diesen Wechselstellen entsteht die Wahrnehmung,
die Sinngebung durch den Leser. Das Leseerlebnis erschließt den Sinn aus
der Verflechtung der Bilder, wo er seinen eigenen semantischen Raum in den
Text hineinliest, die Elemente dadurch neu ordnet und seine eigene erfundene Wahrnehmung produziert. Dieser Wahrnehmung des Stadtbildes wollen
wir im Roman Der Fuchs war damals schon der Jäger von Herta Müller
nachgehen.
Stadtbild und Sinnbild. Der Fuchs war damals schon der Jäger
4 Alles in MÜLLER, Herta, Der Fuchs war damals schon der Jäger, Fischer Verlag Frankfurt, M.
2009. S.12.
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Raumordnung und Raumfigur im Roman „Der Fuchs war damals schon der Jäger“ von Herta Müller
Die Begriffe Stadtbild und Sinnbild stehen in engem Zusammenhang. Man
versucht im Film und auch in der Literatur einer Stadt durch Bilder einen
Sinn zu geben. Wie das gelingt, ist auch die Frage, die sich die vorliegende
Arbeit stellt. Die Akteure der Stadt, die Gebäude, die großen Plätze, die breiten und engen Straßen und ihre Einwohner gestalten das Geflecht verschiedener Elemente, die als Ganzes die Bilder der Stadt liefern. Unsere Wahrnehmung dieser Stadt provoziert die Entstehung neuer Bilder, indem wir unsere Erinnerungen und Erfahrungen dazu addieren. Eine Stadt bzw. ein
Stadtbild soll so konstruiert werden, damit dem Wahrnehmer die Möglichkeit der Sinngebung, des Verstehens erhalten bleibt. Wim Wenders, ein bekannter deutscher Filmregisseur formuliert das sehr passend. Wichtig ist in
der Stadtdarstellung „nicht nur Gebäude zu konstruieren, sondern Freiräume zu schaffen, um Leere zu bewahren, damit das Volle nicht unsere Sicht
versperrt“[…].5 „Es müssen Pausen geben, zum optischen Luftholen, zur Besinnung, zur Sinngebung, zur Verdauung, zur Anregung“. 6 Durch die Leerstellen, Lücken kann man hindurchschauen, sogar die Zeit überschauen. Die
Leere, die offenen Flächen des Horizonts, schafft das Gefühl eines zeitlosen,
eines freien Raumes.
In der Stadt, die wir im Roman von Herta Müller Der Fuchs war damals
schon der Jäger finden, fehlen die großen, offenen Flächen, die Raumgestaltung folgt der Form von Dosen, Schubladen und Behältern, woraus man nur
durch ein Fenster hinausblicken kann. Diese Raumdarstellung wird auch auf
die narrative Form des Romans übertragen, in dem wir nie ein ganzes, einheitliches Bild der Stadt oder der Geschehen bekommen, sondern nur Sequenzen. Als hätten wir einen großen Schrank mit vielen und verschiedenen
Schubladen, die wir nacheinander ausziehen und hineinstöbern. Hineinsehen können wir aber nie ganz.
Im ganzen Roman erleben wir eigentlich die Stadt als einen dekonstruierten,
mythischen Ort. Die Stadt verliert ihre eigentliche Funktion. Es fehlt an Kultur, es gibt nur eine einzige Stelle, wo die Rede von Kultur ist, und das ist ein
Konzert. Das Gefühl des Schönen wird aber gleich abgebaut, indem Polizisten das Gebäude stürmen und die Musiker zum Verhör verordnen. 7
Die Stadt, von der wir bei Herta Müller erfahren, zeigt ein völlig entgegenge5 WENDERS, Wim, The Act of Seeing. Essays, Reden, Gespräche. Verlag der Autoren, Frankfurt
am Main: 1992.
6 Ebd.
7 MÜLLER, Herta, Der Fuchs war…, S. 128. (Anm. 4.)
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Beatrice Nicoriuc
setztes Bild zu dem, was wir als Stadtbild kennen. Sie besteht aus Angst,
Staub, Schlamm, Geräuschen, triebhaftem Treiben, Menschen, denen die
einzige wahre Geschichte der Aberglaube ist. Bildung ist längst durch die
Stadttore hinausgerast oder war scheinbar gar nicht vorhanden. Die Schule
ist auch kein Ort der Bildung, Schüler werden zur Feldarbeit gezwungen, die
Lehrer unter sich schwätzen auch nur. Das Einzige, was als Tätigkeit der
Stadtbewohner erscheint, ist das ständige Knabbern und Spucken von Sonnenblumenkernen, sinnlose, reglose Tätigkeiten. Wir erleben eine totale
Gleichschaltung unter Ausschaltung jeglicher Vernunft. An ihre Stelle treten
Angst und Verfremdung.
Im Roman Der Fuchs war damals schon der Jäger entsteht das Stadtbild
aus Teilmotiven wie Geräuschen, einzelnen Gegenständen, Pflanzen, Läden,
Straßenbahnen, Brücke, Fluss, Flussbett, Fabrik. Wir sehen das kaputte,
heillose Gesicht der Stadt, das eine rohe, griffige Oberfläche bietet, woran
sich die Erinnerungen und Ängste festhalten können. In der Stadtbeschreibung verwischen sich Imaginäres, Traumhaftes mit Realitätszügen, die Kontrastlinie zwischen Außen- und Innenwelt droht sich aufzulösen. Dem Leser
ist es ununterscheidbar, wo es sich um reale oder traumhafte Ereignisse handelt, die durch Angst generiert werden.
Im Land läuft der Sehnerv. Städte und Dörfer, mal zusammengetrieben, mal
auseinandergerissen, Wege verirren sich auf den Feldern, hören an Gräben
ohne Brücken auf, oder vor Bäumen. Und Bäume, wo keiner sie gepflanzt
hat, würgen sich. Hunde streunen. Wo kein Haus ist, haben sie das Bellen
längst verlernt. […] Sie haben Angst und treten sich beim Laufen durch die
Stirn, bevor sie beißen. Und Menschen, da wo das licht aus dem Schwarzen
im Auge fällt, stehen sie im Land und haben Orte unter den Füßen, die an
den Kehlen steil hinauf und an den Rücken steil hinunter gehen. 8
Die Stadt teilt sich auf verschiedene Stadtteile, wie die Vorstadt mit der Fabrik, das Wohngebiet, wo der Wohnblock steht, das Stadtzentrum mit dem
Platz und der Oper.
Als Gegenpol zur Vorstadt stehen die „Stillen Straßen der Macht“ 9 – ein
Wohngebiet der Offiziere, Geheimdienstler und ihrer Familien – da.
Die Straßen der Stadt
8 MÜLLER, Herta, Der Fuchs war…, S. 28. (Anm. 4.)
9 MÜLLER, Herta, Der Fuchs war…, S. 31. (Anm. 4.)
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Raumordnung und Raumfigur im Roman „Der Fuchs war damals schon der Jäger“ von Herta Müller
In der Stadt gibt es einige Straßen, die hervorgehoben werden, die Restlichen
sehen wir nur als Masse, oder gar nicht. An vielen Straßen riecht man nur
den Hunger, man sieht den Staub und hört Geräusche.
Das ganze Gebiet der Offizierstraßen, der „stillen Straßen“, ist durch eine
unheimliche Stille getränkt. Niemand ist auf der Straße, nicht einmal der
Wind weht dort. Die Angst hängt überall. In den Gärten um die Häuser stehen große Steinlöwen, Hunde aus Stein, Engel aus Stein. Die Atmosphäre
hier ist trotz der Ruhe eher drohend und kaum einschätzbar. Man weiß zuerst nicht, wie das Leben hinter den Mauern der Häuser läuft. Etwas später
erfahren wir aus den Berichten der Tochter einer Dienstbotin über die frustrierten, gestörten Beziehungen der Offiziere.
Hinter der Fabrik, wo nur Laster fahren, gibt es eine krumme, abgefahrene
Straße, sie heißt STRASSE DES SIEGES. Natürlich ist dieses Bild der Straße
des Sieges ironisch gemeint, das Einzige, das hier gesiegt hat, ist die zerstörerische Kraft der kommunistischen Diktatur. Diese Straße führt zu einem Lagerraum, in dem der Verwalter Grigore sitzt, ein IM der Securitate.
Die Stadt hat kein Zentrum, die Demarkationslinie zwischen den zwei Hälften der Stadt wird durch den Fluss und die Straßenbahn gesetzt. Manchmal
sieht dieser Fluss so aus, als hätte er kein Wasser, als wäre ihm diese einzige
Funktion der Trennung auch entnommen. Auf die Rolle des Flusses werden
wir noch zu sprechen zurück kommen.
Die Bewegung in der Stadt wird durch die Straßenbahn sichtbar gemacht. Sie
ist ebenso wie der Fluss auch eine Trennlinie. Die Straßenbahn bewegt die
Menschen in der Stadt, manche Bildsequenzen der Stadt spiegeln sich in den
Fenstern der Straßenbahn. Die Beweglichkeit und damit das Lebendige wird
aus den Passagieren in das Gegenständliche, in die Straßenbahn hinübergelagert. Die Passagiere fahren nicht, sie werden von der Straßenbahn gefahren.
Der Roman – ein „geschriebener“ Film
Das m.E. am besten geeignete Medium einer Stadtdarstellung ist der Film
und die dabei benutzten Techniken wie Großaufnahme, Montage, Schnitt,
Perspektivenwechsel.
Herta Müller greift in ihrer Stadtbeschreibung nach den Techniken, die wir
aus dem Filmbereich kennen. Die dargestellten Aufnahmen, Bilder ergeben
sich nicht aus einem großen, umfangreichen Bild, sondern aus kleinen Elementen, die sich nach einer neuen fremden, imaginären Ordnung neu zu eiZGR 2 (42) / 2012
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Beatrice Nicoriuc
nem großen Bild zusammenfügen. So entsteht eine Verflechtungsstruktur,
die nicht nur den Text gestaltet, sondern auch die im Roman vorkommende
Räume. Großaufnahmen zerlegen Motive in sehr kleine Bilder, sogar in Fragmente, lebendige Elemente werden mit Gegenständen verflochten. Dadurch
vermitteln sie einen stillgestellten / lahmgelegten Eindruck. Die Struktur der
kurzen Aussagesätze und der häufig wiederholten Satzteile reflektieren genau das, wovon im Text die Rede ist. 10 Ein gutes Beispiel dafür ist die Sequenz im Pförtnerhaus in der Fabrik:
Der Pförtner spuckt Sonnenblumenschalen in den Nachmittag[…] Im Pförtnerhaus läutet das Telefon. Der Pförtner horcht mit der Schläfe in das Läuten. Er dreht den Kopf nicht[…]Die Pförtnerin hebt die Stricknadel an den
Mund und steckt den Nadelkopf in die Zahnlücke[…]Sie kratzt sich zwischen
den Brüsten. Die Katze zuckt die Ohren und sieht zu[…]. Das Läuten des Telefons ist schrill. Es hängt im Wollfaden, der Faden steigt der Pförtnerin in
die Hand. Das Läuten steigt der Katze in den Bauch. Die Katze steigt über
den Schuh der Pförtnerin und läuft in den Fabrikhof. Die Pförtnerin nimmt
den Hörer nicht ab.11
Die Textstruktur ist nicht linear, sie besteht aus vielen konzentrischen Kreisen, die Beschreibung der Räume beginnt mit einer weiteren Perspektive, die
immer näher aufs Detail fokussiert wird. Der Raumerlebnis wird dadurch
zur Enge, wir empfinden eine Behinderung durch Wände, Zäune, Fenster,
Behälter. Die Hähne „tranken[…] aus Konservenbüchsen in den Innenhöfen
und schliefen in der Nacht in Schuhschachteln. In diese Schachteln krochen,
wenn nachts die Bäume kalt wurden, die Katzen.“ 12 In dieser Szene und in
der Entgegensetzung der Hähne mit den Katzen wird die Essenz des ganzen
Romans zusammengefasst.
Die Gesellschaft teilt sich in zwei große Gruppen auf, Täter und Opfer, sie legen sich aber meistens in die gleichen Büchsen, so sind sie von einander nur
schwer zu unterscheiden.
Ganz am Anfang des Romans wird die Perspektive, Sichtweise klargemacht
und vermittelt das Grundgefühl, das den ganzen Roman begleitet. Die Kamera scheint durch den Raum zu schweben, filmt mal von unten, mal von oben,
10 JOHANNSEN, Anja K., Kisten, Krypten, Labyrinthe. Raumfigurationen in der Gegenwartsliteratur: W.G. Sebald, Anne Duden, Herta Müller. Transcript Verlag Bielefeld 2008. S. 172.
11 MÜLLER, Herta, Der Fuchs war…, S. 87. (Anm. 4.)
12 MÜLLER, Herta, Der Fuchs war…, S. 13. (Anm. 4.)
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Raumordnung und Raumfigur im Roman „Der Fuchs war damals schon der Jäger“ von Herta Müller
mal von der Seite, fokussiert unterschiedliche Details, wechselt zwischen
scharfe und unscharfe Aufnahmen, oder taucht alles in das Licht der Angst.
Sie richtet sich auf eine Ameise, die auf dem Rücken eine Fliege trägt. Die
Ameise ist verirrt, die Fliege ist tot. Die Ameise „kriecht, doch sie lebt nicht,
sie ist für das Auge kein Tier [...]. Die Fliege lebt, weil sie dreimal größer ist
und getragen wird, sie ist für das Auge ein Tier“. 13 Die Metapher der Ameise,
als Tragende und die Fliege als Getragene, Lebendige und Tote, Opfer und
Täter kommt im Roman öfters vor. Die Rollen werden vertauscht, das normale, alltägliche Leben der Stadtbewohner wird unerträglich, weil der künstlich geschaffene Überwachungsapparat darauf liegt. Das Individuum hat
kein Leben mehr, es ist so gut wie tot.
Die erste Szene spielt auf dem Dach eines Wohnblocks, wo zwei Freundinnen
sich sonnen, die eine, Clara, näht. Es könnte auch ein idyllisches Bild sein,
aber dieser Eindruck zerfetzt gleich in dem Moment, wo die Pappeln erscheinen. Die Pappeln „sind höher als alle Dächer der Stadt [...] sie tragen keine
einzelnen Blätter, nur Laub. Sie rascheln nicht, sie rauschen.“14. Die Pappeln
symbolisieren durch den ganzen Roman die Macht, die Bedrohung und die
Überwachung, die über der ganzen Stadt hängt und omnipräsent ist. Sie stehen um das Wohnhaus, sie stehen am Straßenrand. Sie bilden sozusagen
einen Zaun um die ganze Stadt, sie engen die Stadt ein. Es gibt nirgendwo
eine Zuflucht. Der Pappelzaun aus Laub könnte auch Schutz bedeuten, und
so wäre das Dach des Wohnblocks ein Ort, wo man unbeobachtet verweilen
könnte, doch diese Illusion wird schnell abgebaut. Die Pappeln sind scharf,
sie rauschen. Dieses Geräusch der Bäume ist unheimlich und mit negativer
Bedeutung beladen. Pappeln werden oft als Messer beschrieben, sie „zerschneiden [...] die heiße Luft“.15
Die lange Ansicht der Pappeln verursacht Angst, Adina empfindet diese
Angst im Hals, als würde jemand ihr ein Messer im Hals drehen.
Es ist Nachmittag, die Sonne schein eben nicht, sie blendet und sticht. Adina
schaut lange in das Licht und spürt oben, am Himmel, wo die Pappeln nicht
mehr hinreichen, einen Faden. An diesem Faden hängt das Gewicht der
Stadt. Die Stadt hat Gewicht, ist belastet durch die angsteinflößende Macht,
durch die Gesetze, durch müde und lebensmüde Menschen, „ausgemergelten
13 MÜLLER, Herta, Der Fuchs war…, S. 7. (Anm. 4.)
14 MÜLLER, Herta, Der Fuchs war…, S. 9. (Anm. 4.)
15 Ebd.
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Beatrice Nicoriuc
Männer“16
Von oben hört man nur Geräusche, wie Teppichklopfen, das Rauschen des
Laubs, Adinas Fluchen. Die Atmosphäre der ersten Szene setzt sich aus Blendung, Rauschen, Fluchen und Klopfen zusammen.
Das Fenster in der Stadt – das Auge über der Stadt
Die Räume, die bei Herta Müller vorkommen, stellen eine Enge dar, wo sich
das Individuum eingesperrt fühlt. An diesen versperrten Behältern (Wände,
Häuser, Ateliers) befinden sich immer Löcher, Fenster, wo das beobachtende
Auge durchschauen kann.
Das Fenster ist einerseits Symbol der Distanzierung, der Trennung, der
Grenzüberschreitung, aber gleichzeitig auch der Öffnung, Durchlässigkeit
und der Imagination.17 Das Fenster bildet eine Trennung zwischen Innenund Außenraum und zugleich auch eine Verbindung zwischen all diesen eäumen. Der Blick nach Außen und nach Innen spaltet sich im Roman Der
Fuchs war damals schon der Jäger nach dem dualen Symbolgebrauch. Die
visuelle Wahrnehmung eines Raumes oder einer Person geschieht meistens
durch eine Öffnung, meistens ein Fenster, wodurch das Geschehen oder die
Person nie als Ganzes zu sehen ist, sondern nur durch einen Rahmen. Der
Beobachter bzw. der Leser soll den Rest des Gemäldes spekulativ ergänzen.
An einer Stelle wird am Anfang des Romans Der Fuchs war damals schon
der Jäger das Haus der Schneiderin beschrieben. Die Fenster des Hauses
„sahen in den Innenhof und an einem der Fenster lehnte ein Blechschild,
darauf stand GENOSSENSCHAFT DER FORTSCHRITT.“18 Das Fenster wird
dieser Funktion der Öffnung und der Grenzüberschreitung völlig beraubt,
obwohl es, natürlich völlig ironisch, die Öffnung in Richtung Fortschritt ist.
Im Schaufenster des Spenglers steht dasselbe Schild. Durch dieses Fenster
kann man auch nur nach Innen schauen. Durch die Fensterscheibe erkennt
man den Spengler an dem Ehering an seinem Hals und an seiner Lederschürze hängen. Es sind die Gegenstände, die ihn bezeichnen. Im Schaufenster spiegeln sich die Gesichter der Passagiere in der Straßenbahn, diese Gesichter prägen sich tief in die Blechgegenstände, die im Schaufenster stehen.
16MÜLLER, Herta, Der Fuchs war…, S. 12. (Anm. 4.)
17 BUTZER, Günter [Hrsg.]; JACOB, Joachim [Hrsg.], Metzler-Lexikon literarischer Symbole, 2.
erw. Aufl., Metzler Stuttgart; Weimar: 2012, Stichwort: Fenster.
18 MÜLLER, Herta, Der Fuchs war…, S. 14. (Anm. 4.)
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Raumordnung und Raumfigur im Roman „Der Fuchs war damals schon der Jäger“ von Herta Müller
In diesem Sinn ist die Scheibe ein durchlässiges Membran zwischen Innenund Außenwelt, aber die Überschreitung aus der einen in die andere Welt ist
eine Aussichtslose, die Gesichter knallen auf die Blechkannen.
Die Fabrik
Die Fabrik für Wäscheklammern und Nachttöpfe stellt im Roman eine Welt,
sogar eine verfallene, mythische Welt für sich dar. Sie spielt eine zentrale
Rolle im Roman, mehr als das Stadtzentrum. Die Fabrik bestimmt das Leben
der Gesellschaft, sie teilt die Menschen in Männer und Frauen und Täter und
Opfer auf, bestimmt die Zeit, prägt die Gesichter, beraubt den Einzelnen seiner Individualität des Einzelnen. Sie ist Schauplatz der menschlichen Kontakte, der körperlichen Kontakte (die Frauen lassen sich auf Geschlechtsverkehr mit dem Verwalter ein, damit sie am Tore der Fabrik nicht durchsucht
werden.) Am Tor tönt morgens Musik, als Aufruf zur Arbeit, diese aber ist als
solche nicht wahrnehmbar.
Der Pförtner und der Verwalter haben das Sagen in der Fabrik, sie bestimmen, wer kontrolliert wird oder nicht.
In der Fabrik lebt eine Katze, sie ist die einzige, die alles sieht und alles hört.
Die Katze ist eine mythische Figur, ein Medium, durch welches die Fabrikarbeiter über einander Dinge erfahren. Die Katze kommt durch alle Türe hindurch, in ihren Augen spiegeln sich die Vorgänge in der Fabrik. Sie ist immer
dabei, wenn Grigore, der Verwalter die Frauen vergewaltigt.
Die Stadtbewohner
Das Leben in der Stadt wird von der Maschine bestimmt, sie bestimmt das
Leben aller Lebewesen, die sich in der Stadt befinden – Menschen, Pflanzen,
Tiere. Die große Maschine ist die Diktatur, mit allen ihrer Mitteln und Formen (Auge, Stirnlocke, Schatten, Krawatte). Die Gesetze, die das Stadtleben
verwalten, sind auch nur eigennützig und einschränkend (z.B. Strom wird
auf den Straßen abgeschaltet, wenn es richtig dunkel wird, um dadurch der
Überwachung zu dienen). Niemand soll sich außerhalb dieser Maschinerie
bewegen, sonst fällt man auf, geriet ins Blickfeld der Überwachung.
Die Bewohner der Stadt leben in Elend, die Straßen sind staubig, die Menschen sehen immer müde und verwahrlost aus.
Im Roman Der Fuchs war damals schon der Jäger begegnen uns verschieZGR 2 (42) / 2012
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Beatrice Nicoriuc
dene Personen aus den mittleren bzw. unteren Schichten der Gesellschaft.
Die Protagonisten des Romans, die zwei Freundinnen Adina und Klara, erscheinen als Individuen, sonst gibt es noch ein paar relevante Figuren, der
Rest wird als Masse dargestellt, meist namen- und gesichtslos.
Die Stadtbewohner sind mit ihrem Umfeld verschmolzen, die Gesichter sind
auf die Gießkannen geprägt, ihr ganzes Leben klebt an den alltäglichen Gegenständen. Über das Leben der Menschen erfahren wir meist unmittelbar
aus den Erzählungen der Anderen, sie existieren nur, wenn sie erzählt werden. Das Erzählte wirkt an vielen Stellen unrealistisch, fantastisch und gehört in den Bereich des Aberglaubens.
Die Angler reden miteinander, sie leben nur, wenn sie reden. Sie Sprechen
über den Krieg – über die Vergangenheit, über ihre Beziehungen mit den
Frauen. Diese Beziehungen sind nur auf den Geschlechtsakt oder Gewalt reduziert, Gefühle fehlen gänzlich. Die Angler träumen vom Fliehen 19, doch
dieser Traum ist nicht zu verwirklichen, da wir als Gegenpol zu den Anglern
am anderen Ufer des Flusses die Offiziere des Geheimdienstes sehen. Die
Überwachung hat den Fluss aus der Natur herausgerissen, an seiner Oberfläche spiegeln sich das Auge und die Stirnlocke, die schwarzen Pappeln.
Die Angler leben am Fluss, sie sind auch eins mit ihrem Umfeld, mit dem
Fluss. Der Fluss hat auch seine ursprüngliche Funktion und positive Konnotation verloren, er wird bei Herta Müller aus seinem Bett gerissen, einem
verfremdeten semantischen Feld zugeordnet. Das Wasser, der Fluss sind
kein Symbol mehr für das Leben oder für das Vergehen der Zeit. Wenn die
Glocke in der Turmuhr läutet und eine Stunde vergeht, spürt das niemand
am Fluss.
Mehr wird der Fluss zum Ort des Sterbens, der Flucht oder des Selbstmordes20.
Oft erscheint er als Fluss ohne Wasser, wenn er kein Wasser hat, steht er
nicht mehr für das Leben. Die Zeit steht am Fluss still, die Atmosphäre ist
starr und lahm.
Die Angler fischen keine Fische, sondern nur Kleiderfetzen der im Fluss verstorbenen, ertrunkenen Menschen.
Der Frisör und die Schneiderin gelten als Hellseher und eine Art Medium
zwischen dem Jenseits und dem Diesseits. Sie wissen, wie lange noch ein
Mensch leben wird. Der Frisör sammelt die abgeschnittenen Haare der Men19 MÜLLER, Herta, Der Fuchs war…, S. 43f. (Anm. 4.)
20 MÜLLER, Herta, Der Fuchs war…, S. 40. (Anm. 4.)
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Raumordnung und Raumfigur im Roman „Der Fuchs war damals schon der Jäger“ von Herta Müller
schen in einen Sack. Wenn der Sack voll ist, wird der Mensch sterben. Die
Schneiderin misst das Menschenleben auch an dem verbrauchten Stoff für
die Kleider der Kundschaft.
Der Spengler erhängt sich21 und wird in seinem Elend auch noch gedemütigt,
indem ihm jemand den Strick klaut. Der Spengler lebt allein, wir wissen von
seinem Leben auch nur durch das Erzählte. Als er noch lebte und in seinem
Atelier arbeitete, hatte er einen Ring an seinem Hals hängen. Nachdem er
starb, war dieser Ring auch verschwunden. Dem Menschen wird durch diese
Taten auch die letzte Ehre genommen.
Am Ende des Romans erleben wir den Fall des Diktators. Die geflüchteten
Adina und Paul kehren in die Stadt zurück, der Diktator flieht mit dem Hubschrauber. Normalerweise würde man hier auf eine Erlösung hoffen, doch
die kommt leider nicht. Die Karten werden neu vermischt und geteilt, die
Menschen wechseln nur die Ämter und die Schreibtische: „Grigore ist Direktor, der Direktor ist Vorarbeiter, der Pförtner ist Lagerverwalter, der Vorarbeiter ist Pförtner“22 Es gibt keine Hoffnung auf eine bessere Zukunft, die Fabrik steht leer, es tönt keine Musik, die Stille ist starr und totgefroren.
Literatur:
1.
BUTZER, Günter [Hrsg.]; JACOB, Joachim [Hrsg.]: Metzler-Lexikon literarischer Symbole, 2.
erw. Aufl., Metzler Stuttgart ; Weimar : 2012
2.
Großstadt in der Literatur. Onlinedokumentation der Konrad-Adenauer-Stiftung Zusammenfassung der Beiträge, die auf der Fachtagung „Großstadt in der Literatur“ für Lehrerinnen und Lehrer vom 21. -23. Sept. 2003 in Eichholz gehalten wurden.
HALLET, Wolfgang; NEUMANN, Birgit (Hg.): Raum und Bewegung in der Literatur : die Literaturwissenschaften und der spatial turn. Transcript Verlag, Bielefeld: 2009
JOHANNSEN, Anja K.: Kisten, Krypten, Labyrinthe. Raumfigurationen in der Gegenwartsliteratur: W.G. Sebald, Anne Duden, Herta Müller. Transcript Verlag, Bielefeld: 2008.
MÜLLER, Herta: Der Fuchs war damals schon der Jäger, Fischer Verlag Frankfurt, M.
2009.
VÖCKLER, Kai: Die Stadt und ihr Imaginäres. Raumbilder des Städtischen. Von der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig zur Erlangung des Grades eines Doktors der
Philosophie – Dr. phil. – genehmigte kumulative Dissertation.11 Januar 2012.
WENDERS, Wim: The Act of Seeing. Essays, Reden, Gespräche. Verlag der Autoren Frankfurt am Main: 1992
3.
4.
5.
6.
7.
21 MÜLLER, Herta, Der Fuchs war…, S. 50. (Anm. 4.)
22 MÜLLER, Herta, Der Fuchs war…, S. 280. (Anm. 4.)
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Beatrice Nicoriuc
The Urban Space in the Novel
Der Fuchs war damals schon der Jäger
from Herta Müller
The semiotic system, which determines the spatial planning in the novel, is formed
from the combination of various elements. The people and objects associated with
different semantic spaces, have no special room bondage. At these interfaces
between the semantic spaces arises the invented perception.
The urban space in this novel consists of motif parts such as noise, individual objects, plants, shops, tram, bridge, river, river bed and factory. We only see the broken
face of the city, which offers a raw surface, where memories and fears can stick on.
In the city’s description the imaginary and dreamlike are blurring with reality trains,
the contrast line between outside and inside world disappears. It is indistinguishable
for the reader, where the real and fantastic events begin or end. The basic emotions
are fear and threat, which hang over the city.
The text has non-linear structure, it consists of several concentric circles, the description of the rooms starts with a broader perspective, which is focused closer to
detail. We experience the space as narrowness; we feel an obstruction by walls,
fences, windows and containers.
Schlüsselwörter: Raum, Raumkonstruktion, Raumfigur, Stadtbild, Behälterstadt,
Filmtechnik
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INTERKULTURELLE REZEPTION
von Hans Bergels Leben und Werk im 21. Jahrhundert
Anita Andrea Széll
1. Einleitende Bemerkungen über die Begriffe Kultur, Interkulturalität und Multikulturalität
Die Forschung der von zweisprachigen Autoren aus Siebenbürgen geschriebenen Werken ist ein häufiges Thema in der deutschen und ausländischen
Fachliteratur der letzten Jahrzehnte; unterschiedliche Wissenschaftszweige
beschäftigen sich mit dieser Form von Forschung aufgrund der unterschiedlichen Kriterien der Textanalyse, welche die Werke der deutschen Schriftstellern aus Siebenbürgen beschreiben. Dieses intensive Interesse1 kann auf der
einen Seite dadurch erklärt werden, dass die deutschen Autoren aus Siebenbürgen eine neue Forschungsdirektion für die Forschungen, die die deutsche
Literatur umfassen, darstellen, und auf der anderen Seite dadurch, dass in
unserem Jahrhundert2 die vergleichende Forschung der literarischen Werke
sehr beliebt ist.3
Das Ziel meines Referats ist die Analyse dessen, wie die schriftstellerische
Tätigkeit von Hans Bergel auf Grund der Theorien der Interkulturalität im
21. Jahrhundert besprochen werden kann; ich suche Antworten auf die Frage, wie sich die Fachliteratur über seine Werke strukturiert, und ob sie mit
einem Publikum einer multiethnischen und multikulturellen4 Region rechnet
1 Die Werke mit zusammenfassenden Charakter über die deutsche Literatur aus Siebenbürgen
wurden sowohl aus rumänischer als auch aus deutscher (in einigen Fällen aus
österreichischer) Hinsicht unterstützt; siehe dazu mehr im Vorwort des Bandes Die Deutsche
Literatur Siebenbürgens. Von den Anfängen bis 1848, Band 1, Hg. von W ITTSTOCK, Joachim –
SIENERTH, Stefan. München, Südostdeutsches Kulturwerk, 1997. Das Vorwort befindet sich im
ersten Band auf den Seiten 7-10.
2 Ich verstehe darunter das 21. Jahrhundert, aber die letzten drei Jahrzehnte des 20.
Jahrhundert zählen hier auch dazu.
3 Die vergleichenden Forschungen können auch im Fall anderer Wissenschaftszweige (Vergleichende Linguistik, Religion, Jura, Anatomie) angewendet werden, aber diese Möglichkeit
wurde insbesondere im Bereich der Literatur benutzt. Vgl. Der Begriff Komparatistik In:
Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Hg. von Harald FRICKE, Band 2, Berlin –
New York, Walter de Gruyter, 2000, S. 313-315.
4 „... feltételezhetjük, hogy a multikulturalizmus válaszreakcióként keletkezett a globalitás
által diktált homogenizáció ellen. Az univerzálisként erőltetett normákat, szabályrendszereket,
kultúrákat az egyén, a közösség nehezen viseli el, éppen ezért saját kultúráját, identitását
megőrzésének érdekében naponta szem előtt tartja. Ha ezt sikerül társadalmi szinten
Anita Andrea Széll
oder nicht. Eine Analyse aus dem Standpunkt der Interkulturalität, Multikulturalität durchzuführen ist immer eine schwere Aufgabe. Erstens 5: Damit wir
über Interkulturalität sprechen können, sollten wir die Bedeutung des Wortes „Kultur“ im Kontext unserer Arbeit erklären. Die Bestimmung des Begriffs Kultur6 ist keine leichte Aufgabe. In der Fußnote habe ich eine mögliche Bestimmung vermerkt, aber ich glaube, dass man wegen der Komplexität
des Begriffs mehrere Sichten berücksichtigen sollte. Ansgar Nünning kann
als einer der wichtigsten deutschen Forscher des 21-sten Jahrhunderts in Bezug auf den Begriff der Kultur und die Bezeichnung der Eigenschaften der
Kultur betrachtet werden; die Studien in dem Buch Kulturwissenschaftliche
Literaturwissenschaft7, geschrieben von ihm und Roy Sommer, suchen die
Verhältnisse zwischen Kultur und Literatur aufgrund der Bewertung mehrerer Faktoren. Die erste Studie mit einführendem Charakter 8, welche von den
zwei oben erwähnten Schriftstellern stammt, ist aus dieser Hinsicht sehr
wichtig, weil sie den gemeinsamen Punkt der Literatur- und Kulturstudie
megvédeni, érvényesíteni, akkor jó esély van arra, hogy az interkulturalitás, multikulturalitás
megvalósuljon.” In: SZIGETI, L. László: A multikulturalizmus esztétikája (Die Ästhetik der Multikulturalität). In: „Helikon“, 2002, Nr. 4, S. 401. „Wir können vermuten, dass die Multikulturalität als eine Antwortreaktion auf eine von der Globalisierung verursachte Verallgemeinerung entstanden ist. Normen, Regelsysteme und Kulturen, die als allgemeingültig gelten, werden wegen ihres strengen Charakters weder vom Individuum, noch von einer Gemeinschaft
im Allgemein als leicht annehmbar empfunden, eben deswegen sind sowohl das Individuum
als auch die Gemeinschaft bestrebt, ihre eigene Kultur, ihre Identität sowie ihre Sitten und
Gebräuche zu bewahren. Wenn diese Bestrebungen auf gesellschaftlicher Ebene zur Geltung
kommen und echte Unterstützung finden, birgt dies eine gute Möglichkeit für die Verwirklichung der Interkulturalität und Multikulturalität.” [übersetzt von Sz. A.]
Nach der Meinung von Szigeti László gibt es auch eine andere Auffassung, nach der die
Multikulturalität eben als Folge der Globalisierung entsteht, weil diese Grenzen auflöst und
Kulturen miteinander in Beziehung bringt.
5 Das zweite Problem der Beschreibung bespreche ich im 2-ten Kapitel meines Referats.
6 Die Benennung Kulturwissenschaft deckt sich eigentlich mit dem Begriff Geisteswissenschaften. „Kulturwissenschaften im Plural ist die zusammenfassende Bezeichnung für die Fächer der alten Philosophischen Fakultät; der Terminus wird inzwischen nahezu deckungsgleich mit Geisteswissenschaften verwendet.“ In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, B.2., S. 356.
7 Kulturwissenschaftliche Literaturwissenschaft. Hg. von NÜNNING, Ansgar – SOMMER, Roy, Tübingen, Gunter Narr, 2004.
8 NÜNNING, Ansgar – SOMMER, Roy: Kulturwissenschaftliche Literaturwissenschaft: Disziplinäre Ansätze, theoretische Positionen und transdisziplinäre Perspektiven. In: Kulturwissenschaftliche Literaturwissenschaft. Hg. von NÜNNING, Ansgar – SOMMER, Roy, Tübingen, Gunter
Narr, 2004, S. 9-29.
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Interkulturelle Rezeption von Hans Bergels Leben und Werk im 21. Jahrhundert
sucht und ferner auch den Kontakt zwischen Germanistik und Literatur der
anderen Sprachen (insbesonders Englisch) bespricht. Die andere Studie des
Buches fasst die Forschungen von Dietmar Rieger 9 aus der Sicht des Experten der Literaturtheorie zusammen, die den allgemeinen Charakter der einführenden Studie um den Begriff der Literatur vertieft und Literaturwissenschaft als einen Zweig der Wissenschaften, welche sich mit der Kultur beschäftigen, berücksichtigt.10 Der amerikanische Ethnologe Ward H. Goodenough gibt eine ältere, trotzdem aber durchaus praktikable Definition der
Kultur, welche sich aus unserem Standpunkt der Analyse als sehr wichtig bewiesen hat.11
Anhand der Definitionen von Forscher, wie Ansgar Nünning, Dietmar Rieger
oder sogar den englischen Ward Goodenough suche ich praktikable Definitionen der Kultur. Diese Definitionen heben allgemeine Charakteristika des
Begriffs aus und stellen fest, dass alle literarischen Texte Teil der Kultur
sind, in der sie geschrieben wurden, d.h. dass alle Autoren eines bestimmten
literarischen Werks Kulturvermittler sind. Innerhalb des Rahmens eines
Textes sind alle Daten relevant, die über die Intention des Senders, über den
kulturellen Hintergrund, über den Ort oder die Zeit der Textproduktion Aufschluss geben können. Um ein Individuum, einen Autor in eine Gemeinschaft einordnen zu können, müssen sowohl jene Wesenszüge festgestellt
werden, die Individuum und Gemeinschaft miteinander teilen, als auch das
Selbstbild des Individuums. Die Durchsetzung dieses Prinzips ist das immer
wiederkehrende, wohl utopistische, idealistische Bestreben aller Bergel-Romane.
Die Findung der eigenen Identität innerhalb mehreren Kulturen ist ein vielschichtiger Vorgang und impliziert die Bezugnahme auf die andere Person,
9 RIEGER, Dietmar: Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft – aus der Perspektive eines
Literaturwissenschaftlers. In: Kulturwissenschaftliche Literaturwissenschaft, Hg. von
NÜNNING, Ansgar – SOMMER, Roy, Tübingen, Gunter Narr, 2004, S. 97-114.
10 Vgl. ebd. S. 105.
11 „… culture is not a material phenomenon; it does not consist of things, people, behavior, or
emotions. It is rather an organization of these things. It is the form of things that people have
in mind, their models for perceiving, relating, and otherwise interpreting them. As such, the
things people say and do, their social arrangements and events, are products or by-products of
their culture as they apply it to the task of perceiving and dealing with their circumstances.”
GOODENOUGH, Ward H.: Cultural Anthropology and Linguistics. In: Report of the Seventh Annual Round Table Meeting on Linguistics and Language Study. Georgetown University
Monograph Series on Languages and Linguistics, Nr. 9, Hrsg. v. P.L. GARVIN, 1957, S. 168.
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die Identifizierung des Gegenübers und das vom Gegenüber identifiziert
Werden; Identität, Identitätsgefühl ist das Ergebnis komplizierter Vergleichsvorgänge. Die wichtigste Frage ist, wie kann die harmonische, zueinander parallele Entwicklung von unterschiedlichen Gemeinschaften gewährleistet werden, obwohl ihre Werteskala, ihre Interessen, ihre Pläne unterschiedlich oder gar gegensätzlich sind. Infolge zahlreicher Psychologiestudien hat sich die Ansicht verbreitet, dass eines der wesentlichen Charakteristika der Identität und des Zugehörigkeitsgefühls des Individuums die von ihm
gesprochene Sprache darstellt. Demnach hängt die Identifizierung einer
Gruppe oder eines Individuums in ausschlaggebendem Maße von der gewählten Sprache ab (diese Theorie wird selbst von Hans Bergel akzeptiert,
darauf wird im Referat später hingewiesen, siehe Fußnote 19), vor allem bei
Gruppen, die die Sprache einer Minderheit sprechen. Als ethnische Minderheiten lebende Individuen und Gemeinschaften sind zumeist zwei- oder
mehrsprachig und echte Interkulturalität setzt die Kenntnis der Sprache der
anderen Gemeinschaft voraus. Es kann sehr wohl vorkommen, dass ein Individuum nicht Träger von nur zwei, sondern von drei, oder gar noch mehr
Kulturen ist, wie z.B. Hans Bergel. Ein zweisprachiger Schriftsteller kann
zwischen zwei oder auch mehreren Kulturen Brücken schlagen und das wirkt
sich sowohl auf beide Kulturen als auch auf die Gemeinschaften, die diese
Kulturen tragen, positiv aus.
2. Hans Bergel als bewusster Förderer der Interkulturalität
Die Interpretation interkultureller Werke erfolgt auf mehreren Ebenen
gleichzeitig, und ist oftmals nicht leicht, denn es handelt sich zumeist um
vielfach kodifizierte Texte, die sich von Lesern außerhalb des Kulturkreises
des Autors selten in vollem Umfang entschlüsseln lassen. Denken wir hier
nur an die Regionalismen, an die Namensgebung, die Sitten und Gebräuche
der mittel- und osteuropäischen Völker, an die historischen Ereignisse mit
Bezug auf die gegebene Region (wie z.B. bei Hans Bergel). In solchen Texten
sind mehrere Kulturen gleichzeitig gegenwärtig, und das färbt auch auf die
Sprache ab. Es gibt aber eine wichtige Frage, vielleicht die wichtigste des Referats: sieht sich der Autor der Texte als „bewusster Förderer der Interkulturalität“ oder nicht?12 Die literarische Analyse trägt die Verantwortung der
12 Fortführung der Problematik einer interkulturellen Analyse, wie ich in der Fußnote 5 angedeutet habe.
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Interkulturelle Rezeption von Hans Bergels Leben und Werk im 21. Jahrhundert
Wahrheit und ich befinde mich in der privilegierten Lage der Wahrheit, sogar literarischen Wahrheit, wenn wir das so nennen möchten, nämlich es
handelt sich um einen Autor der Gegenwart, wer seine eigene Meinung über
diese Frage äußern kann.13 Hans Bergel schreibt über Interkulturalität folgenderweise:
So ist mir z.B. meine Interkulturalität – die in der Tat mein ganzes erzählerisches Œuvre beherrscht (nicht allein die Romane, sondern ebenso die Geschichten und Novellen) – nicht in dem Maße bewußt wie Ihnen bei der Untersuchung der Arbeiten.14
Es kann also vorkommen, dass der Analytiker so etwas sieht, was der Autor
fühlt, aber sich selbst noch nicht formuliert hat. Der Text trägt immer die
Verantwortung der Verständlichkeit und Klarheit, sowohl beim Lesen, als
auch bei der Interpretation. Die interkulturelle Einstellung ist überall in
Hans Bergels Schaffen zu erkennen, er verflicht in seinen deutschsprachigen
Texten rumänische und ungarische Wörter, manchmal sogar ganze Sätze;
zahlreiche Romane Bergels haben eine typisch siebenbürgische Thematik, in
dem Roman Wenn die Adler kommen zum Beispiel finden wir eine detaillierte Beschreibung der siebenbürgischen Landschaft. 15 Die handelnden Personen der Romane sind Vertreter der verschiedenen Ethnien Siebenbürgens,
wie das im Roman Der Tanz in Ketten zu beobachten ist. Im Roman mag
zwar die Darstellung des friedlichen Zusammenlebens 16 der Völker Sieben13 Aus den Texten kann der Forscher sehr viel auslesen, aber im Falle von nicht gegenwärtigen Autoren hat er immer einen unangenehmen Gefühl der Unsicherheit, was die Wahrheit
betrifft.
14 BERGEL, Hans: Brief an die Verfasserin vom 21.08.2012, S.1.
15 In seinem Brief vom 24 Mai 2008, an Manfred Winkler erklärt Hans Bergel, wie er mit Naturschilderungen in seinen Werken umgeht: „Die sogenannten Naturschilderungen in meinen
Texten sind das Ergebnis um Kenntnis bemühter Beobachtung [...] Die Chemie des Menschen
ist jener der Fauna und Flora nahe verwandt ... An den Energiestrom des Lebens sind wir alle
angeschlossen – der Mensch ebenso wie das Mineral.“ In: Manfred Winkler – Hans Bergel.
Wir setzen das Gespräch fort... Briefwechsel eines Juden aus der Bukowina mit einem Deutschen aus Siebenbürgen. Hg. von Renate Windisch-Middendorf. Berlin: Frank & Timme,
2012, S.250.
Man hat den Eindruck, dass diese Beschreibungen nicht nur ein Resultat der genauen Beobachtung sind, sondern eine besondere Form der Beziehung zwischen Mensch und Natur darstellen.
16 In einem Interview aus dem Jahre 2001, für die Zeitschtift Meridian aus Tübingen, berichtet Bergel über seine kulturelle Verankerung: „Ştiu doar că mă trag de pe meleaguri unde multiculturalitatea era ceva firesc. Ieşeam în stradă, iar vecinul meu era român. Peste câteva case
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bürgens etwas idealisiert scheinen, die Darstellungsweise der Charakter ist
aber mehr realitätsgetreu in dem Roman Die Wiederkehr der Wölfe. Hans
Bergel schildert alles vom Standpunkt des Humanitas, in seinen Werken
versucht er sogar den abscheulichsten Charakter zu verstehen, er forscht für
die Gründe der Unmenschlichkeit in jedem Menschen und versucht jeden zu
verstehen.
Selbstverständlich ist beim Schreiben mein unumstößliches Prinzip, alle Gestalten nach Maßgabe des Humanen als leitende Idee aufzufassen... Wir haben nur eine Möglichkeit, Krisen und Gewalttätigkeiten zu verhindern: die
Position der Humanitas [...] Ich denke, dass diese Haltung am eindeutigsten
und in breiter Auffächerung im Roman Die Wiederkehr der Wölfe ihren Niederschlag fand.17
Hans Bergel erläutert mehrmals seine interkulturelle Sichtweise, trotzdem
betont er, dass er ein deutscher Autor ist, ebenso, wie Siegfried Lenz oder
Heinrich Böll, und bundesdeutsche Leser diese Tatsache dankbar zur Kenntnis nehmen und seine Werke als Panorama deutscher Geschichte wahrnehmen.18 Interessant ist, dass Bergel sich nicht als rumäniendeutscher Autor
sieht. Als Kind mindestens zweier Kulturen hat er im Rumänischen eine zusätzliche geistige Dimension kennengelernt, seine Kulturzugehörigkeit ist sowohl deutsch als auch rumänisch, das Zugehörigkeitsgefühl seines Individuums aber möchte er selbst feststellen, denn nur so eröffnet sich die Möglichkeit des Verständnis von interkulturellen Beziehungen.
Ich habe mich niemals als einen rumäniendeutschen Autor empfunden, sonde noi stătea o familie de maghiari. De ţigani nu mai vorbesc, erau destul de mulţi la marginea
satului. Acest spaţiu multicultural, multietnic a însemnat, analizând retrospectiv – un câştig
pentru mine, belşug de inspiraţie. Eu cred că tocmai de aceea nu am avut probleme cu întâl nirea altor culturi, diferite de a mea. Pentru mine alte culturi au însemnat trezirea unei sete de
cunoaştere.” In: BOJOGA, Eugenia: Interviu cu Hans Bergel - ("Interview mit Hans Bergel").
In: “Meridian”. Tübingen, 2001, S. 3-6.
„Ich weiß nur, dass ich aus einem Land komme, wo Multikulturalität eine Selbstverständlichkeit ist. Ich ging auf die Straße, und mein Nachbar war Rumäne. Ein paar Häuser weiter
wohnte eine ungarische Familie. Geschweige denn Zigeuner. Am Rande des Dorfes wohnten
ziemlich viele. Dieser multikulturelle, multiethnische Raum war für mich - wenn ich das im
Rückblick betrachte - Bereicherung, ein Füllhorn der Inspiration. Ich denke, eben deshalb ist
es mir die Begegnung mit anderen Kulturen, die sich von der meinigen unterschieden, niemals schwer gefallen. Bei mir erweckt die Begegnung mit fremden Kulturen jedes Mal den
Wissensdurst." [übersetzt von der Verfasserin]
17 BERGEL, Hans: Brief an die Verfasserin vom 21.08.2012, S. 1.
18 Vgl. BERGEL, Hans: Brief an die Verfasserin vom 21.08.2012, S. 2-3.
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Interkulturelle Rezeption von Hans Bergels Leben und Werk im 21. Jahrhundert
dern immer als einen deutschen, der – da er diese Materie gut kennt – vorzugsweise südosteuropäische Stoffe behandelt [...] Meine Geburtsheimat
war und ist die deutsche Sprache – die Geografie ist unerheblich. 19
Bergel identifiziert sich also durch seine Muttersprache, und rechnet Geografie zu den Zufällen. Und tatsächlich fühlt er sich irgendwie weder in Rumänien, noch in Deutschland zu Hause. 20 In dem Bierfwechsel mit Manfred
Winkler können wir diese Idee finden: auf einen früheren Brief von Bergel
antwortet Winkler und spricht von der literarischen Darstellung des Heimkehrs, während er feststellt, dass Literatur und Kunst nichts ohne die Illusion der ewigen Heimkehr seien.21 Heimkehr und Heimat erscheinen hier also
als eine Illusion und keine fassbare Sicherheit und Erlebnis der Seele. 22
3. Betrachtungen über das Werk und Leben von Hans Bergel im
Spiegel der Sekundärliteratur
Die bisherigen Feststellungen in Betracht ziehend und eine Reihe von Interviews, vor allem von derjenigen aus dem Jahre 2002, analysierend, entwickelt sich langsam ein komplexes Bild der Interkulturalität. In Der „Neuen
Kronstädter Zeitung“ aus München erscheint im Jahre 2002 ein Interview
mit dem Titel Wir sprachen mit Hans Bergel. Der siebenbürgische Autor
sagt hier folgendes:
Ich hatte und habe rumänische Freunde, deren Zuverlässigkeit sich unter
harten Bedingungen mehr bewährte als manche meiner Freundschaften mit
Sachsen. Außerdem brachten mich Literatur und Musik, die zu meinen Lebensinhalten gehören, früh auch mit Juden, Ungarn, Griechen zusammen.23
Die idyllische Beschreibung einer multikulturellen Gesellschaft können wir
auch hier beobachten, der Autor sagt sogar später in diesem Interview, dass
19 BERGEL, Hans: Brief an die Verfasserin vom 21.08.2012, S. 2-3.
20 Auf diese Tatsache wird später ausführlicher hingewiesen, siehe Fußnote 24.
21 Vgl. Brief vom 8. Juli 1995, an Hans Bergel. In: Manfred Winkler – Hans Bergel. Wir setzen das Gespräch fort ... S. 49.
22 Die Idee wird Bergel noch später quälen. In seinem Brief vom 7. Oktober 2004 schreibt er
folgendes an Winkler: „Auch bei uns hält der Herbst Einzug ... Mich durchweht ein Gefühl der
Heimkehr. Wohin?“ In: Manfred Winkler – Hans Bergel. Wir setzen das Gespräch fort ... S.
212.
23 Wir sprachen mit Hans Bergel. Gespräche über unsere Zeit (11). In: „Neue Kronstädter
Zeitung“, München, 20. September 2002.
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das Bild der deutschen Politik, Medien, Schule ihm zutiefst fremd sei. Vielleicht deshalb suchte Bergel in seinen siebziger Jahren eine neue Heimat in
Italien. Darüber äußert er sich in einem Interview für die Kronstädter Wochenschrift Karpatenrundschau folgenderweise:
Wie nicht wenige meiner siebenbürgischen Landsleute, bin ich ein anderer
Deutscher als es die Deutschen in Deutschland sind. Mich formte und profilierte der Südosten... Ich fühle mich in Italien in mancherlei Hinsicht mehr
daheim als unter Deutschen.24
Hans Bergels Leben und Werk ist von der Perspektive der rumänischen und
deutschen Sekundärliteratur noch leichter und klarer zu besprechen. Als Beispiel der deutscher Sekundärlitartur möchte ich Den Mann ohne Vaterland.
Hans Bergel, ein Buch von Renate Windisch-Middendorf ausheben. Das
Buch ist ein wertvolles Zeugnis der Bergel-Forschung aus bzw. über Siebenbürgen, das die deutsche Fachliteratur über siebenbürgische Autoren mit
neuen Erkenntnissen bereichert. Die Autorin versucht das Leben und Werk
von Hans Bergel aus mehreren Perspektiven zu erforschen; dabei konzentriert sie sich im Wesentlichen auf die wichtigsten Etappen des umfangreichen dichterischen und publizistischen Lebenswerks in Beziehung zu historischen und interkulturellen Zusammenhängen dieser in Deutschland kaum
bekannten Kultur- Landschaft. Bergels Biographie steht unter den Vorzeichen historischer und ideologischer Wirren des 20. Jahrhunderts, deshalb ist
die Vorstellung der Erfahrungen von Flucht und Verrat, Haft und Zwangsinternierung nötig. Die Autorin stellt das literarische und publizistische Werk
Bergels anhand der früheren und späteren Romane des Autors auf dem Hintergrund seiner wichtigsten Lebensstationen und seiner literarischen Beziehungen zu zeitgenössischen Autoren vor, einschließlich der Biographie über
seinen jüngeren Bruder, Erich Bergel. Mit Hilfe dieser Forschungsmethodik
versucht Renate Windisch-Middendorf ein Gesamtbild der Weltauffassung
und literarischen Tätigkeit von Bergel zu malen, so dass das Gesamtwerk des
Autors auch für die einheimische deutsche Literatur in Rumänien erreichbarer wird.
Die für unsere Forschung wichtigsten Kapitel sind der dritte und der vierte.
Im dritten Kapitel lesen wir über die späten Romane von Hans Bergel: Wenn
die Adler kommen und Die Wiederkehr der Wölfe. Anhand des ersten Romans untersucht die Verfasserin Erzählmuster, Leitmotive und Paradigmen
24 DROTLEFF, Dieter: Wir stehen täglich vor unserer Vergangenheit. Gespräch mit dem
Schriftsteller Hans Bergel. In: „Karpatenrundschau“, Kronstadt, Jg. 34, 13. April 2002.
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Interkulturelle Rezeption von Hans Bergels Leben und Werk im 21. Jahrhundert
der südöstlichen Welt bzw. das Eindringen völkisch-nationaler, faschistischer und antisemitischer Tendenzen in Gesellschaft, Schule und Kirche aus
Siebenbürgen in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts. Im vierten Kapitel
erfahren wir von literarischen Beziehungen Bergels zu zeitgenössischen Autoren. Hans Bergel wird von der Autorin des Buches der letzte der bedeutenden, in Deutschland lebenden und publizierenden deutschen Autoren der
Zwischenkriegsgeneration aus Rumänien genannt. Seine persönlichen Kontakte zu großen siebenbürgischen Erzählern, wie Adolf Meschendörfer und
Erwin Wittstock, haben sein eigenes literarisches Schaffen beeinflusst. Ebenso fühlt sich Bergel sich dem Schriftsteller und Hochschullehrer Georg
Scherg bis heute dankbar verpflichtet, weil er ihn als jungen Autor mit unendlicher Geduld auf die Erfordernisse des schriftstellerischen Berufs hingewiesen hat. Alfred Margul-Sperber und Manfred Winkler, aber auch Oskar
Pastior gehörten zum Kreis jener Autoren und Dichter, mit denen Bergel
persönliche Kontakte pflegte. Das Buch beinhaltet auch einen Epilog, in dem
die Rolle von Hans Bergel als Grenzgänger zwischen zwei Kulturen besprochen und analysiert wurde. Renate Windisch-Middendorf wollte den vielen
Lesern Hans Bergels in Rumänien ein Wegweiser anbieten, vielleicht ein
Werk, in dem der – deutsche, rumänische und ungarische Leser – Bekanntes
wieder entdeckt und Unbekanntes erfährt.
Auf der Ebene sowohl deutscher als auch rumänischer, sogar ungarischer literarischer Rezeption gibt es zahlreiche Interpretationen von Hans Bergels
Leben und Werk. Die Popularität von Bergels Werken war in Fachkreisen
aus Siebenbürgen und Rumänien stets stabil, aber immer noch besteht die
Notwendigkeit, diesen Werken sowohl im Heimatland des Autors, als auch
in Deutschland größere Anerkennung zu verschaffen. Eben das versucht der
Sammelband mit dem Titel „…dass ich in der Welt zu Hause bin.” Hans Bergels Werk in sekundärliterarischem Querschnitt. Der Band wurde von George Guţu herausgegeben, unter Mitarbeit von Mariana Lăzărescu und Raluca
Rădulescu. Der Sammelband beinhaltet viele wichtige Referate, Interviews
und Rezensionen über das Leben und Werk von Hans Bergel. Für unsere Arbeit gelten als wichtig folgende: Skizze eines Kulturhorizonts. Südosteuropa
im literarischen Werk Hans Bergels, von George Guţu, Identitäts-und Kulturkonzept in Hans Bergels essayistischem Werk, von Mariana Lăzărescu,
Gewissen und Erinnerung. Hans Bergel als Kultureller Sachwalter, von Renate Windisch-Middendorf, Die Kunst vereint die Menschen, die Politik
trennt sie, Bergels Gespräch mit Mihaela Stroe aus dem Jahre 2000, und
selbstverständlich viele Rezensionen, wie diejenigen von Rudolf Brüning
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über Hans Bergels Porträt Rumäniens, von Harald Niederkopf über den
ersten deutschsprachigen Roman über den rumänischen Kommunismus
(Aus wilden Landschaften), oder von Claus Klüwer über Hans Bergels eminent europäisches Buch, Gestalten und Gewalten.
Diese Referate, Rezensionen oder Interviews betonen interkulturelle Charakterzüge vom Werk Hans Bergels.
Eine bedeutende Rolle auf rumänischer Ebene spielt die Dissertation von
Raluca Rădulescu, mit dem Titel Europäertum eines Inseldaseins Identitätsund Alteritätsbewusstsein im Werk Hans Bergels. Für meine Arbeit war das
zweite Kapitel mit dem Titel Identität und Interkulturalität. Ein theoretischer Abriss besonders lehrreich. Die umfangreiche und fachlich einwandfreie Dissertation von Raluca Rădulescu werde ich jetzt wegen Ortsmangel
nicht beschreiben, ich beschränke mich auf einige Forschungspunkte des
zweiten Kapitels. Überlegungen über theoretische Fragen wie Identität und
Kultur, Sonderformen der Identität, soziologische Modelle der Identitätsbildung und der zwischen menschlichen Kommunikation bilden den Großteil
des Kapitels, während die Frage von Ethnie, nationale Minderheit und Multikulturalität am Ende des Kapitels behandelt wurde. Die Begriffe Globalisierung, Multikulturalität, Interkulturalität und Transkulturalität wurden hier
erörtert, und die Autorin sagt, dass diese Begriffe „heute mehr als je zuvor
bei der Identitätsdefinierung von zentraler Bedeutung sind.“ 25 In den Schlussfolgerungen der Dissertation spricht die Autorin über den Humanitasgedanken von Hans Bergel: „Im Werk Hans Bergels erweist sich der Aspekt der
Humanitas als ausschlaggebend; sowohl in den literarischen als auch in den
essayistischen Texten weist der Schriftsteller der Meschlichkeitsproblematik
als einer „übernationalen Bewusstseinskategorie“ eine zentrale Bedeutung
zu, wobei sie als „Basis der schöpferischen Denkens“ gilt. 26
Fazit
Die vorliegende Arbeit bezweckt eine allgemeine Beschreibung vom Leben
und Werk von Hans Bergel aus der Perspektive der Interkulturalität und der
Mehrsprachigkeit. Nach der Abfassung des Kapitels Theorie der Interkultu25 RĂDULESCU, Raluca: Europäertum eines Inseldaseins Identitäts-und Alteritätsbewusstsein
im Werk Hans Bergels. GGR-Beiträge zur Germanistik, Bd. 21, Bucureşti: Paideia, 2009. S. 54.
26 Ebd., S. 234.
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Interkulturelle Rezeption von Hans Bergels Leben und Werk im 21. Jahrhundert
ralität ließ sich feststellen, dass die vielschichtige Untersuchung eine Reihe
von weiterführenden Fragen aufwirft, da aufgrund unserer Analyse mehrere
Schlussfolgerungen gezogen werden können. Zuerst aus der Perspektive der
Muttersprache: Hans Bergel schreibt in seiner Muttersprache, nicht in Siebenbürgen, sondern in Deutschland, sein Werk gehört zur deutschen Literatur, wie ich das schon in meinem Referat erwähnt habe, d.h. er schreibt fern
seiner Geburtsheimat, aber in seiner Muttersprache. Hans Bergel benutzt bewusst bestimmte Personennamen, Regionalismen in seinen Werken, doch
der Siebenbürger Sachse verwendet diese Regionalismen mit Maß, aus ihrer
Gebrauchsweise ist ersichtlich, dass der Autor sich dessen bewusst ist: Ein
Übermaß solcher Wendungen könnte die Verständlichkeit des Werkes negativ beeinflussen.
Andererseits muss bei der Untersuchung der Werke von Hans Bergel auch in
Betracht gezogen werden, dass im Siebenbürgen des 20. Jahrhunderts hervorragende Bedingungen zur Entstehung und Entwicklung der Mehrsprachigkeit bestanden und das Erlernen einer fremden Sprache beinahe selbstverständlich auf der Hand lag. Der Sachse Hans Bergel sprach einerseits hervorragend Deutsch, andererseits Rumänisch, trotzdem hat er niemals versucht, in einer Fremdsprache zu schreiben, da der Wortschatz, die Struktur
der literarischen Werke mehr als nur durchschnittliche Sprachkenntnis erfordern. Bergels literarische Versuche in rumänischer Sprache hätten in seiner Heimat bestimmt großen Anklang gefunden, doch selbstverständlich hat
der Siebenbürger Sachse keine literarischen Texte in rumänischer Sprache
verfasst. Die Gründe dafür nennt Bergel in einem rumänischsprachigen Interview für den Monitorul de Braşov:
Mă paşte gândul de multe ori să scriu o carte direct în limba română, dar
mereu mă lovesc de obstacole de ordin interior, şi asta pentru că dimensiunea spirituală germană, în care eu am învăţat să fiu scriitor, este alta decât
cea română. Aş putea, cred, să scriu articole în limba română, dar nu cred că
m-aş descurca cu o carte.27
Was die Sekundärliteratur betrifft. Es ist äußerst bemerkenswert, dass die
Werken von Bergel beinahe immer aus der Perspektive der Interkulturalität
oder Mehrsprachigkeit beschrieben wurden, aber vor allem von einheimischen Referenten. Die Forscher aus Deutschland finden dagegen immer etwas anderes interessant, sie beschäftigen sich mit einer werkimmanenten
27 BĂHNEANU, Lidia: Dans în lanţuri. Am avut parte de durerea de a fi fost privat de libertate,
alături de români, în anii de dictatură. In: „Monitorul de Braşov“, Kronstadt, 5. April 2002.
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Analyse und nicht mit den Entstehungsbedingungen oder Hintergründe der
Werken. Welche die sinnvollere, wertvollere oder wichtigere Variante wäre,
das kann man nicht fest stellen und vielleicht darf man auch nicht fest stellen. Vom siebenbürgischen Standpunkt ist selbstverständlich, dass man auch
die Hintergründe erforscht, sogar ist es nötig diese Aspekte zu beschreiben,
würde ich behaupten. Deutsche Interpretationen stützen sich am meisten
nur auf Texten, das ist auch eine Methode, welche der Literaturwissenschaft
und den Werken von Hans Bergel einen wertvollen Beitrag leisten kann.
Eben deswegen finde ich solche umfangreiche Bänder der Sekundärliteratur,
wie der Sammelband von George Guţu sehr wichtig: Aus diesen Zusammenfassungen kann man sich leicht ein Bild darüber malen, anhand welcher
Theorien und mit welchen Forschungsschwerpunkten man heute, im 21.
Jahrhundert die Werke von Hans Bergel interpretiert.
Literatur:
1.
2.
3.
4.
BERGEL, Hans: Der Tanz in Ketten. Innsbruck: Wort und Welt. 3.Aufl.1995.
BERGEL, Hans: Dans în lanţuri. Braşov: Arania, 1994.
BERGEL, Hans: Hajdútánc vasban. Budapest: Alterra, 1999.
BĂHNEANU, Lidia: Dans în lanţuri. Am avut parte de durerea de a fi fost privat de li bertate, alături de români, în anii de dictatură. In: „Monitorul de Braşov“, Kronstadt, 5.
April 2002.
5. BOJOGA, Eugenia: Interviu cu Hans Bergel - ("Interview mit Hans Bergel"). In: „Meridian“, Tübingen, 2001, S. 3-6.
6. „…dass ich in der Welt zu Hause bin.” Hans Bergels Werk in sekundärliterarischem
Querschnitt. Hrsg. George Guţu, GGR-Beiträge zur Germaistik, B.18, Bucureşti: Paideia,
2009.
7. Die Deutsche Literatur Siebenbürgens. Von den Anfängen bis 1848, Band 1, Hg. von
WITTSTOCK, Joachim – SIENERTH, Stefan. München, Südostdeutsches Kulturwerk,
1997.
8. Die Karpathen. Halbmonatschrift für Kultur und Leben. Kronstadt. Zeidner. 4. Jg. Nr.2.
9. DROTLEFF, Dieter: Wir stehen täglich vor unserer Vergangenheit. Gespräch mit dem
Schriftsteller Hans Bergel. In: „Karpatenrundschau“, Kronstadt, Jg. 34., 13. April 2002.
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11. Kulturwissenschaftliche Literaturwissenschaft. Hg. von NÜNNING, Ansgar – SOMMER, Roy,
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Interkulturelle Rezeption von Hans Bergels Leben und Werk im 21. Jahrhundert
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Tübingen, Gunter Narr, 2004.
LIPIANSKY, Edmond-Marc: L`identité personelle. In: Comment se forme l`identité des
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Manfred Winkler – Hans Bergel. Wir setzen das Gespräch fort ... Briefwechsel eines Ju den aus der Bukowina mit einem Deutschen aus Siebenbürgen. Hg. von Renate Windisch-Middendorf. Berlin: Frank & Timme, 2012.
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NÜNNING, Ansgar – SOMMER, Roy (Hrsg.): Kulturwissenschaftliche Literaturwissenschaft: Disziplinäre Ansätze, theoretische Positionen und transdisziplinäre Perspektiven
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und Werk. Cluj-Napoca (Klausenburg): Rumänische Akademie. Zentrum für Siebenbürgische Studien, 2009. 127 Seiten und Bilder.
Wir sprachen mit Hans Bergel. Gespräche über unsere Zeit (11). In: Neue Kronstädter
Zeitung, München, 20. September 2002.
Abstract:
The work seeks the modality of possible description concerning the analysis of interculturality based on the German and especially the Romanian secondary literature
on the life and work of Hans Bergel. The goal of my work is the analysis of the way in
which the intercultural activity of Hans Bergel can be discussed based on the theories of secondary literature works. I seek an answer to the question of how the German and Romanian authors structure their works on Bergel, on which criteria they
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Anita Andrea Széll
analyze Bergel's work and which is the audience they rely on.
Although the specified works can’t be taken for granted as a general view, this study
shows that there is a cultural and thematic structure to be identified and described
in the works of the secondary literature about Hans Bergel.
Schlüsselwörter: Mehrsprachigkeit, Hans Bergel, Förderer der Interkulturalität,
Rezeption, Sekundärliteratur
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SCHREIBEN IN KONTAKT- UND KONFLIKTZONEN:
Marica Bodrožić und Anna Kim
Lucia Perrone Capano
1. Zum Konzept der Kontaktzone
Der Begriff Contact Zone/Kontaktzone ist eigentlich ein Neologismus, dessen Bedeutung sehr weit ausgelegt ist, der aber zur Diskussion über mögliche Beschreibungen interkultureller Begegnungen und transkultureller Interaktionen beitragen kann. Als „gesellschaftliche Räume, in denen unterschiedliche soziale und kulturelle Positionen aufeinandertreffen und miteinander – mehr oder weniger konfliktuell – auskommen müssen“ 1, werden die
Contact Zones/Kontaktzonen von den postkolonialen Theoretikern Mary
Louise Pratt und James Clifford2 beschrieben. Eine wichtige Ebene der Kontaktzone ist also immer jene des Konflikts, wobei auch im Konflikt der Kontakt nicht abgebrochen wird oder werden muss: „Contact zones – places of
hybrid possibility and political negotiation, sites of exclusion and struggle – “3.
In der Contact Zone konstituieren sich Subjekte und Akteure in der Interaktion und im Verhältnis zueinander, wodurch es zu selektiven Transferprozessen kulturell heterogener, ethnischer oder nationaler Gruppen kommt.
Die Texte, die ich in diesem Beitrag behandeln möchte, nehmen die Räume
1 Nora Sternfeld, Erinnerungskulturen in einer geteilten Gegenwart. Gedenkstätten als Kontaktzone, in http://eipcp.net/policies/sternfeld/de.
2 Nach Pratt stammt der Begriff eigentlich aus der Linguistik: „I borrow the term‚contact’ here
from linguistics, where the term contact language refers to an improvised language that develops among speakers of different tongues who need to communicate with each other consistently, usually in the context of trade. Such languages begin as pidgins, and are called creoles
when they come to have native speakers of their own. Like the societies of the contact zone,
such languages are commonly regarded as chaotic, barbarous and lacking in structure (Ron
Carter has suggested the term ‚contact literatures’ to refer to literatures written in European
languages from outside Europe)“ (Mary Louise Pratt, Imperial Eyes. Travel Writing and
Transculturation, Routledge, New York 2008, S. 8). Clifford präzisiert den Begriff folgendermaßen: „The notion of a contact zone, articulated by Pratt in contexts of European expansion
and transculturation, can be extended to include cultural relations within the same state, region, or city – in the centers rather than the frontiers of nations and empires. The distances at
issue here are more social than geographic. For most inhabitants of a poor neighborhood, located perhaps just blocks or a short bus ride from a fine-arts museum, the museum might as
well be another continent. Contact perspectives recognize that‚natural’ social distances and segregations are historical/political products“ (James Clifford, Routes, Travel and Translation
in the Late Twentieth Century, Harvard UP, Cambridge 1997, S. 204).
3 Clifford, Routes, zit. S. 212-213.
Lucia Perrone-Capano
und Dynamiken des Kontakts in dem balkanischen Krisen- und Konfliktgebiet der letzten Jahrzehnte in den Blick. Die Romane stammen von zwei zeitgenössischen deutschsprachigen Autorinnen, Marica Bodrožić, die in Dalmatien geboren ist und in Deutschland lebt, und von der in Südkorea geborenen Anna Kim, die seit ihrem zweiten Lebensjahr in Deutschland und vor
allem in Österreich aufgewachsen ist. Marica Bodrožićs Das Gedächtnis der
Libellen (2010)4 und Anna Kims Die gefrorene Zeit (2008)5 beziehen sich
aus unterschiedlichen Gesichtspunkten auf die balkanischen Gebiete und
lassen die verwirrenden Fluchtlinien der Balkankriege und ihrer MigrantInnen sichtbar werden, wobei eine neue andersartige Poetik der Migration entsteht, in der die binären Oppositionen zwischen Nationalitäten und Ethnien,
Eigen und Fremd zurückgewiesen und ungewohnt ausgelegt werden 6 .
Die Texte gehen beide den Weg der Narration, die eine besondere zeitliche
und räumliche Dimension der Wahrnehmung von Kriegsgeschehnissen erlaubt, vom letzten europäischen Krieg eben, wie Marica Bodrožić ihn im Gedächtnis der Libellen definiert, von einem Krieg, der ihr Leben und „das Leben aller, die ich gekannt habe, verändert hat, ein Krieg, der am Ende des
zwanzigsten Jahrhunderts noch einmal in Rohform etwas über das zwanzigste Jahrhundert erzählt hat. Der Balkan ist der Brennofen Europas, sein unbewusstes Feuer, seine alte Scham“ (GL, 135). So eröffnen diese literarischen Texte eine verschiedenartige Sichtweise auf die Kontakt-und Konfliktzonen, stets aber eingedenk der Begrenzungen, die sich aus der Frage des Beobachtungsstandpunktes ergeben. Denn nicht nur die narrativen Figuren,
auch die Autorinnen können sich diesem Konstruktionsprozess nicht entziehen7.
4 Marica Bodrožić, Das Gedächtnis der Libellen, Luchterhand, München 2010. Dieser Titel
wird im Folgenden mit der Sigle LG und der Seitenzahl zitiert.
5 Anna Kim, Die gefrorene Zeit, Droschl, Wien 2008. Dieser Titel wird im Folgenden mit der
Sigle GZ und der Seitenzahl zitiert.
6 Wie es in einem Essay von Marica Bodrožić treffend ausgedrückt wird: „Wörter wie ‘eigen’
und ‘fremd’ werden gesagt, schnell dahin und getrennt voneinander, als seien sie nicht eigent lich Wörtergeschwister, die zueinander gehören, ganz ähnlich wie man als Mensch zu sich
selbst gehört. Unsere Identitäten sind dabei, Lieder zu werden, die lernen, durch Dissonanzen
hindurchzugehen. Sie erhalten neue Körper“ (Wunden haben keine Grenzen, in „Europa Revue“ 2006, http://www.sine-causa.com/er/politik/marcia.htm).
7 Dazu wird in Das Gedächtnis der Libellen Folgendes angemerkt: „Ich habe mein Leben mit
dem einer Zuschauerin verwechselt, bin aber eine Zeugin, ich muss reden, ich kann nicht nur
eine Beobachterin sein. Das Beobachtete verändert sich aber ohnehin. Noch während man es
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Schreiben in Kontakt- und Konfliktzonen: Marica Bodrožić und Anna Kim
Die Themen Dislokation, Fremdheit, Migration, Erinnerung und das, was
Azade Seyhan als „geographies of memory“8 bezeichnet hat, werden vielfältig
verarbeitet, diskutiert und verhandelt. Unter Bezugnahme auf Seyhans Ausführungen könnten wir auch Bodrožićs und Kims Texte als „investigation of
stories and histories that recuperate losses incurred in migration, dislocation, and translation, those deeply felt signs and markers of our age“ 9 betrachten. Es sind Erzählungen über den Kulturkontakt/Kulturkonflikt, die der
deutschsprachigen Geschichte und Literatur neue Konfigurationen der interkulturellen Erfahrung einschreiben und dabei auch die ethnischen Stereotypen bezüglich der Balkan-Migranten zu zerstören versuchen.
Diesen Autorinnen geht es jedoch nicht um die Aufrechterhaltung des nostalgischen Traums von einem anderen Europa, welches in Dalmatien, Kroatien, Bosnien etc. verloren gegangen und in Deutschland oder Österreich wieder zu errichten sei, sondern vielmehr darum, uns zur Reflexion über unsere
Position als Beobachter, Leser und Akteure einer zugleich nahen und fernen
Geschichte anzuregen, die in den literarischen Texten in die Bewegungen des
individuellen und kollektiven Gedächtnisses eingeschrieben wird 10. Die
durch Literatur möglichen Einsichten übersteigen auf diese Weise die Erkenntnismöglichkeiten der Theorie, wie Azade Seyhan anmerkt: „Literary expressions of contemporary sociopolitical formations offer critical insights
into the manifold meanings of history and take us to galaxies of experience
where no theory has gone before“11.
Dabei spielt zum einen der Prozess der selektiven Erinnerung und des selektiven Vergessens eine maßgebliche Rolle, denn durch das aktive Erinnern,
Auswählen und Artikulieren wird eine oftmals unterbrochene Lebensgeschichte rekonstruiert12 und dies in der Konfrontation mit einer oder mehreren neuen Sprachen, einer anderen Geschichte und anderen kulturellen
in Augenschein nimmt, wird es schon etwas anderes. Die Unschuld des Zuschauens gibt es
nicht“ (GL, 85).
8 In ihrem Buch Writing Outside the Nation, Princeton University Press, Princeton 2000, S.
17.
9 Ebd., S. 4.
10 Ebd., S. 16.
11 Ebd., S. 5. „Ultimately, every theory of postcolonial, transnational, or diasporic literature
and art is most convincingly articulated and performed by works of literature and art themsel ves“ (S. 7).
12 Ebd., S. 4.
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Lucia Perrone-Capano
Räumlichkeiten. Bodrožićs und Kims Texte, die einen Gedächtnis- und Erfahrungsraum zugänglich und verfügbar machen, der noch nicht da war, präsentieren auch damit Krise und Konjunktur der Erinnerung, indem sie der literarischen Erinnerung neue Wege angesichts der Migrations-, Kontakt- und
Konflikterfahrungen des 20. und des anbrechenden 21. Jahrhunderts aufweisen.
2. Marica Bodrožiæ: Das Gedächtnis der Libellen
„Deutsch als zweite Muttersprache“13: in dieser Formulierung Marica Bodrožićs könnte man gut die neue interkulturelle Dimension der ‚MigrationsLiteratur‘14 kondensieren. Die deutsche Sprache ist keine fremde Sprache
mehr, sondern eine transnationale Kultursprache. Sie ersetzt nicht die Muttersprache, aber sie übersetzt sie im Sinne eines kulturellen Wandels, so dass
das ,Eigene’ im ,Fremden‘ sichtbar wird und umgekehrt:
Nur im Deutschen läβt es sich denken, dass Engel auch etwas mit Enge zu
tun haben müssen, einer Enge, die sich in den Buchstaben der Liebe ausdehnt [...], und dass diese Enge zum Menschsein dazugehört, ergänzt und
beschirmt vom Buchstaben L, dem sich das Licht von oben her zuspricht,
sich aus der Senkrechten in die Waagerechte legend, um der Erde etwas ihr
Zugehöriges zu bringen. [...] In meiner ersten Muttersprache heisst das Wort
fur Liebe ljubav, auch hier bringt der Buchstabe L es ins Sichtbare, [...] hinüber in das Land des Buchstabens J, der zu groβen Teilen in der Erde lebt
[...] Dieser Buchstabe begibt sich ins Erdige wie eine Suppenkelle, um später
wieder etwas Neues zu werden. Liebe und das Neue sind mir dadurch immer
als ein und dasselbe erschienen […]15.
13 Vgl. Michael Thielen, Laudatio auf Marica Bodrožic. Verleihung des Bruno-Heck-Wissenschaftspreises, 30. Oktober 2009, in: http://www.kas.de/upload/veranstaltungen/2009 /
10/ 091030_thielen.pdf
14 „Ihre Literatur ist eine Migrations-Literatur, keine Migranten-Literatur, ein Einwandern in
die deutsche Sprache, die sie wie ein ,wärmendes Kleidungsstück‘ um sich legt und mit der sie
sich wie mit einem zweiten Blick an eine von ,Sonne durchtränkte‘ Kindheit erinnern kann“
(Ebd.).
15 Sterne erben, Sterne färben. Meine Ankunft in Wörtern, Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2007,
S. 14-15. In dem Buch dringt die Autorin in dieses neue Gebiet der heutigen Literatur vor, aus
dem (gerade aufgrund der Auswanderungen, Migrationen, Versetzungen von Völkern und
Staaten, die die jüngste Geschichte charakterisieren) viele SchriftstellerInnen hervorgegangen
sind, die zu AutorInnen einer Literatur geworden sind, die sich von der ihres Herkunftslandes
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Schreiben in Kontakt- und Konfliktzonen: Marica Bodrožić und Anna Kim
Es ist in der deutschen Sprache, wo die begrabene Zeit wieder auftaucht und
Wirklichkeit wird, eine Vergangenheit, die zu einem wesentlichen Bestandteil der Person wird, indem sie Form und Ausdruck verändert. Nur in der
deutschen Sprache wird für Marica Bodrožić ihr Aufenthaltsort in der Welt
vernehmbar, die Art und Weise, wie sie sich zu Hause fühlt. Der Prozess des
Schreibens ist so eng mit der ‚Ankunft‘ in der deutschen Sprache verbunden,
durch die es ihr gelingt, in narrativer Form ein Land zu rekonstruieren, das
der Balkan-Krieg von der Landkarte getilgt hat.
Der grausame und sinnlose Krieg, der Jugoslawien zerstört, wird durch die
deutschen Worte erlebt und erzählt, die uns Einblicke – von außen und von
innen, untrennbar – in die jugoslawische Tragödie gewähren, in jene Menschen, die sich im eigenen Land massakrieren und im Ausland (in Deutschland) jedoch zusammen jugoslawische Lieder singen können. Bodrožićs Texte in Sterne erben, Sterne färben, sowie der Roman Das Gedächtnis der Libelle, sind von den Linien des Krieges auf dem Balkan und der Flucht vom
Balkan nach Deutschland durchzogen und offenbaren eine transkulturelle
Poetik der Migration, die die Identitäten nur im Plural erfassen kann, als
„mehrspurige“16 Identitäten. „[…] ich bin verwoben mit der dalmatinischen
Stadt Split und mit der bosnischen Stadt Sarajevo, ich habe diese verdammten Wurzeln von meinen Großvätern und Großmüttern. Sie haben den
ewigen Plural in mich eingesetzt, sie haben mich mit dem Plural eingesalzen
und jetzt kann ich gucken, wie ich das alles in mir ordne“ (GL, 135), sagt die
Ich-Erzählerin des Romans.
Die poetische Sprache, die Ursprung und Gegenwart miteinander verbindet,
hält das zusammen, was Migration und Dislokation getrennt haben. Gleichzeitig ermöglicht der Autorin die Spannung zwischen der zweiten Muttersprache, der Sprache ihrer Wahl, und der Sprache der Kindheit einen kritiunterscheidet.
16„Für mich persönlich ist diese mehrspurige Identität eigentlich immer etwas normales gewesen und ist es auch immer noch. […] Und für mich war das größere meiner Identität eben
diese Gemeinschaft, das Jugoslawische. Und dennoch wusste ich immer, ich bin ein katholisches Kind vom Dorf, und meine Eltern sind Kroaten. Das war also kein Widerspruch für
mich. Die Idee ist tragisch gescheitert. Ich glaube aber dennoch, dass man einiges davon lernen kann. Die Mehrsprachigkeit war da ja auch vorhanden, die verschiedenen Religionen.
Man kann aus dieser Struktur vieles, vieles en miniature, aber auch en grande lernen“ (Marica Bodrožić im Gespräch mit Stephan Karkowsky, in: http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/thema/1644409/)
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Lucia Perrone-Capano
schen Blick auf die Vergangenheit und die ethnischen Konflikte, die unter
der Oberfläche von Titos Jugoslawien versteckt waren. Bodrožićs literarisches Werk – von der Kurzgeschichten-Sammlung Tito ist tot (2002), in der
der Verlust der Heimat Jugoslawien verarbeitet wird, bis hin zu Das Gedächtnis der Libellen17 – stellt die Erzählung einer Migration in einem transkulturellen Europa dar. Mit Neologismen, Synästhesie, traum- und märchenhaften Bildern schafft Bodrožić Landschaften der Erinnerung zwischen den
Kulturen, aus denen „Geographien der Erinnerung“18 entspringen können.
Aber die Erinnerung will sich nicht einer ungenauen Sprache bedienen, sondern fordert „ein sprachgenaue[s] Wissen“, jenes präzise Sprachwissen, das
es der Autorin erlaubt, über ein Gedächtnis zu verfügen: „Das sprachgenaue
Wissen um diese Welt hat mich zu einem Menschen mit Gedächtnis gemacht. Das Gedächtnis ist es, das mich als Mitarbeiterin braucht, als Geherin
in den Ecken und Bauchgebieten meines eigenen Sterns“19. Dank der deutschen Sprache durchlebt sie zwar ihre erste Sprache wieder, das Kroatische,
aber es ist die deutsche Sprache, mittels der es ihr gelingt, ihre Gedanken
über die Vergangenheit auszudrücken. „In unserer ersten Muttersprache“ –
schreibt Bodrožić in Das Gedächtnis der Libellen – „die sich in der Zwischenzeit als ein bemerkenswert hybrides Wesen und als ein erstaunlich formungsfähiges Erpressungsmittel in der Kriegsführung dreier Staatsmänner
erwiesen hatte, kannte ich das Denken nicht“ (GL, 29).
Die Erzählung, die sich im Roman entwickelt, verknüpft verschiedene Motive zu einer Geschichte über Migranten – alle Figuren haben ihre Wurzeln im
ehemaligen Jugoslawien – auf völlig andere Weise. Die Erinnerung, von der
die Rede ist, ist die der Protagonistin, die die Erinnerung an die Libellen
hierdurch motiviert: „Mein Vater ist der Mörder vieler Libellen geworden, so
jedenfalls wurde immer wieder mal bildhaft darüber gesprochen“ (GL, 135).
Die Erzählerin sieht sich gezwungen, eine Vergangenheit zu betrachten, die
nicht als real erscheint. Die Libellen, die in das Album eingeklebt worden
sind, sind offensichtlich auch eine Metapher oder ein stummes Zeugnis von
Ereignissen, die sich nicht erzählen lassen, so dass bis zum Ende offen bleibt,
17 2012 ist ihr neuer Roman Kirschholz und alte Gefühle (auch im Luchterhand-Verlag) erschienen, der sich als zweiter Teil einer Trilogie versteht, die mit der Arbeit an Das Gedächtnis der Libellen eingesetzt hat.
18 Siehe Anm. 8.
19 Ebd., S. 40.
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Schreiben in Kontakt- und Konfliktzonen: Marica Bodrožić und Anna Kim
ob es sich um eine private und kollektive Katastrophe handelt 20 oder ob diese
auch auf im jugoslawischen Krieg begangene Gräueltaten verweisen will.
Angesichts dessen, was man vielleicht als eine „Poetik der Latenz“ 21 auffassen
könnte, lassen sich die Spuren der traumatischen Ereignisse weder richtig
erinnern noch vergessen.
Im Vordergrund der Geschichte, die die Protagonistin erzählt, die sich den
Namen Nadeshda gibt, steht ihre Liebe für Ilya („ein geborener Fremder,
dem Sarajevo die Gravur seines Lebensmusters eingeritzt hat“, GL, 225). Das
Buch setzt ein mit Nadeshdas Reise zu Ilja nach Amsterdam. Das, was eine
normale Busreise sein könnte, entpuppt sich von Beginn an als eine Reise in
die Seele, in die Erinnerungen, in die Gefühle und Empfindungen. Auf diese
Weise nimmt die Ich-Erzählerin schmerzhaft und mühsam Abschied von der
unmöglichen Beziehung mit Ilja, um sich der Geschichte ihrer Familie auf
dem Balkan zuzuwenden, mit ihren Eltern, die nach Amerika ausgewandert
sind, als die Tochter fünf Jahre alt war.
Langsam stöβt die Protagonistin in versteckte, schmerzhafte Erinnerungen
vor, in die nicht verarbeiteten Traumata. Die Beziehung zu ihrem Vater und
seinen Verbrechen, an deren Verbindungen und Zusammenhänge sie sich
mühsam zu erinnern versucht, gerinnen um die Erinnerung an die Libellen
auf dem Album herum; eine Erinnerung, die ihr keine Ruhe lässt und sie antreibt, tiefer in ein Gedächtnis voller Leerstellen und unüberbrückbarer
Lücken vorzudringen. Der Text wendet sich offenbar zweitrangigen Details
zu, aber für den Skandal des Poetischen, könnte man mit Handke sagen, sind
„die stummen Dinge, das Beiwerk“ 22 wichtig, die vielleicht von den schwerwiegenden Ereignissen ablenken oder fernhalten können, doch im Kleinen
und im Kontrast zwischen den Bildern des Idylls und denen der Gewalt
einen (noch) größeren Skandal aufdecken können.
Das Jugoslawien des Romans ist hier – wie in Texten anderer Autoren und
Autorinnen mit Migrationsgeschichte – ein Ort der Kindheit, einer Kindheit
zur Zeit Titos, ein Land, das die Erzählerin aufgibt, um auf eine innere und
20 „Vater hat einfach alles mit der Axt zerhackt. Mein Vater war ein bekannter Kindermörder,
vor dem sich alle in den umliegenden Dörfern und Weilern gefürchtet hatten“ (GL, 136).
21 Vgl. Anselm Haverkamp, Figura cryptica.Theorie der literarischen Latenz, Suhrkamp,
Frankfurt a. M. 2002.
22 Peter Handke, Sommerlicher Nachtrag zu einer winterlichen Reise, Suhrkamp, Frankfurt
a. M. 1996, S. 191.
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Lucia Perrone-Capano
äußere Reise23 (Amsterdam, Paris, Berlin) zu gehen. Auch ihre beste Freundin Arjeta, die in Berlin lebt, hat die Belagerung von Sarajevo überlebt („sie
ist eines jener typischen jugoslawischen Kinder, die nach dem Krieg wie
kleine Vogelkinder in der Heimatlosigkeit der Luft fliegen lernten“, GL, 25).
Auffällig ist, dass in BodrožićsTexten - sowohl in der autobiographischen
Prosa als auch im Roman Das Gedächtnis der Libellen - oft Freundschaften
zwischen Jugoslawen vorkommen, die im Ausland eine gemeinsame Diaspora erleben: „Das Merkwürdige an den Völkern Jugoslawiens ist immer das
geblieben: während sie sich zu Hause stritten, bekriegten und ermordeten,
waren sie im Ausland unzertrennlich […]“24.
Die erzählte Geschichte wird aber nicht auf nackte realistische Fakten reduziert, sondern entfaltet sich in einer hellen und zugleich poetischen Sprache,
in der die Wirklichkeit aus der Erfindung hervorgeht: „Müssen wir uns die
Wirklichkeit nicht erst ausdenken, bevor sie das wird, eine Wirklichkeit?“
(GL, 182), fragt sich die erzählende Protagonistin, die mit ihren Beobachtungen, ihren Träumen und kleinen Geschichten scharfsinnig in das große
Zeitgeschehen vordringt.
Das Verschwinden eines Landes bringt auch den Untergang einer Wirklichkeit mit sich. Es kommt zu irrealen Effekten, Störungen in der Wahrnehmung, die die Erzählerin nicht verheimlicht und den Lesern zu vermitteln
versucht. Der Literatur wird hier ein Potenzial der Wahrnehmung und Ausarbeitung der Realität zugesprochen, die jener stereotypisierten Wahrnehmung der Wirklichkeit entgegentritt, die von den Massenmedien dargeboten
wird.
Die Landschaft wird durch körperliche Erinnerungen evoziert, die sich in
kulturelles Gedächtnis verwandeln. Die Vergangenheit ist gegenwärtig im
Hier und Jetzt des Lebens dieser Figur, das sich in deutscher Sprache vollzieht. In den verschiedenen europäischen Städten, in denen sich die Erzählerin aufhält, interagieren Praktiken, Materialität, Diskurse und Repräsentationen der Vergangenheit und der Gegenwart in einem neuen transkulturellen Raum, der sich durch das Schreiben und Erzählen dieser neuen Geschichten abzeichnet. Und die Transkulturalität schafft wiederum ungewohnte Kontakt- und Interaktionszonen, wird zu einem relationalen Kon23 Vgl. das Interview mit der Autorin in Oliver Seppelfricke, Unglückliche Liebe (17.01.2011),
http://www.dradio.de/dlf/sendungen/buechermarkt/1366997/
24 Bodrožić, Sterne erben, zit. S. 33.
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Schreiben in Kontakt- und Konfliktzonen: Marica Bodrožić und Anna Kim
zept, das auch die Bildungsprozesse der kulturellen Identität wieder in Bewegung setzt. Die Themen der Entfremdung, der Entwurzelung, der Erinnerung, des Traumas werden auf diese Weise durch gedankliche und poetologische Begehungen entfaltet, die gleichzeitig existenzielle Fragen darstellen.
3. Anna Kim: Die gefrorene Zeit
Auch Anna Kims Roman Die gefrorene Zeit25 wendet sich nicht der direkten
Darstellung des Krieges, sondern seinen Folgen für die einzelnen Personen
zu, und der Problematik sprachlicher Darstellung von Erfahrungen und Ereignissen von einer Kriegs- und Krisenregion. Die Frage, mit der sich der
Text– in dessen Titel Ingeborg Bachmanns erster Lyrikband, Die gestundete
Zeit (1953), anklingt26 – beschäftigt, könnte synthetisch folgendermaßen ausgedrückt werden: Wie kann man ein Geschehnis wie den Krieg und seine
greulichen Folgen in Sprache fassen, wie kann man über die Reste des Lebens und des Krieges überhaupt erzählen? Der Blick wird auf ein Individualschicksal gerichtet, auf die Figur eines in Österreich lebenden Kosovo-Albaners, dessen Ehefrau entführt, vermisst und tot aufgefunden wird.
„Seit dem Ende des Krieges im ehemaligen Jugoslawien wurden dem Internationalen Komitee des Roten Kreuzes mehr als 30.000 Menschen als vermisst gemeldet. Bis heute konnten nur 15.000 Personen identifiziert
werden“, kann man auf dem Buchcover lesen. Der Kosovo, nach dem Krieg
und kurz vor seiner Unabhängigkeit 2008, ist der Hintergrund und dann
der Schauplatz der Erzählung, eine Konfliktzone, über die eine Autorin 27 erzählt, die 1977 in einem Land geboren ist, Südkorea, das sich auch mit
schwerwiegenden historischen Konfliktlagen konfrontieren musste. Und der
Kosovo-Krieg betrifft in Österreich, wo die Autorin heute lebt, stark die Le25 Die gefrorene Zeit ist ihr zweiter Roman. Ihr Debütband Die Bilderspur erschien 2004 bei
Droschl und 2012 wurde ihr dritter Roman Anatomie einer Nacht im Suhrkamp Verlag veröffentlicht.
26 Vgl. Nicole Streitler, Ein Leben in der Endlosschleife, in
„Falter“ . Buchbeilage 42/2008
vom 15.10.2008, S. 30.
27Anna Kim betont so wie viele andere AutorInnen mit Migrationserfahrung zurecht, dass sie
eine deutschsprachige Autorin ist. In einem Interview mit Christa Stippinger sagt sie: „Schreiben bedeutet für mich, die Begrenztheiten, in der ich mich im Grunde befinde, zu sprengen“
(Christa Stippinger, Hg. fremdLand. das buch zum literaturpreis schreiben zwischen den
kulturen 2000, edition exil, Wien 2000, S. 15-20, hier S. 15).
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Lucia Perrone-Capano
bensrealität vieler Migranten, von denen einer in der narrativen Fiktion die
männliche Figur des Kosovo-Albaners ist.
Das Buch beginnt mit der Nachricht von einer gefunden Leiche und bringt
uns sodann ein halbes Jahr zurück in das Wiener Rote Kreuz-Zentrum, wo
die Ich-Erzählerin Nora den Kosovaren Luan für einen Suchauftrag interviewt:
Der Ante-Mortem-Fragebogen: Zweiundzwanzig Kapitel, die die Kennzeichen einer vermissten Person, Merkmale, die jene zu Lebzeiten, ante mortem, besaß, festhalten mit dem Ziel, durch Analyse und Vergleich mit Gebeinen, Knochenstücken, Daten post mortem, fündig zu werden. Der Fund ist
nicht die Person, sondern ihr Rest. (GZ, 14)
Luan, der seit Jahren in Österreich arbeitet, sucht seine verschwundene Frau
Fahrie, die höchstwahrscheinlich tot ist, eine Tatsache, die er nicht glauben
kann und will. Am Ende wird er Fahrie finden und begraben und seinerseits
Selbstmord begehen.
Luan, der sich nicht richtig erinnern und auch nicht vergessen kann, ist paralysiert, hat keine Sprache, um seinen Ängsten und Fragen Ausdruck zu geben, die dann von Nora – im Text Du-Anrednerin Luans – übernommen
und ausgehandelt werden: „du deutest, zeichnest ihren Körper in der Luft,
hältst abrupt inne. Du seufzt, unterdrückst, kaum hörbar und doch. Zeigst
an, dass es keine passenden Wörter mehr gibt, gleichzeitig suchst du, hangelst nach richtigen Sätzen“ (GF, 20). Erzählt wird also aus der IchPerspektive Noras, für die die Suche nach Fahrie auch zu einer Reise in die
eigene Vergangenheit wird, als sie ein Jahr als Volontärin beim Suchdienst
in Prischtina gearbeitet hat. So entfaltet sich eine Dynamik im Spannungsfeld zwischen der Kontaktzone, die die Erzählerin in den Wahrnehmungsraum zwischen den Kulturen versetzt, und dem Schreibprozess, wodurch
Wahrnehmungen diskursiv und literarisch geformt und die Bedingtheiten
der Vermittlung zwischen den Kulturen ausgelotet werden.
Die literarische Arbeit, die Kims Roman leistet, wird zu einer verzwickten
Erinnerungsarbeit, in einer Spannung aus Sprache und Stille, in der ständigen Reibung zwischen Gegenwart und Vergangenheit. Indem oft auch auf
das Ausgeschlossene und das schwierig Ansprechbare rekurriert wird, regt
sie zu einer kritischen Revision über Erinnertes und Vergessenes an:
Oder es leben in dir zwei Zungen, eine vergangene und eine gegenwärtige,
sie nähren sich von zweierlei Gedächtnissen, Identitäten. Das Zwiegespalte-
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Schreiben in Kontakt- und Konfliktzonen: Marica Bodrožić und Anna Kim
ne artikuliert sich in Sprachbrüchen, Hybridsätzen: im Seufzen. So entsteht
ein Kauderwelsch aus der Bemühung, den Kontakt zu jener untergangen
Sprache nicht zu verlieren, indem du ständig Exkursionen ins Heute unternimmst. Vergeblich sind sie, die Übersetzungen; eindeutig hat sich dein
Sprechen am Ende der Sprache verankert. (GZ, 21)
Die Konfliktlage erscheint noch komplizierter, da der kosovarische Migrant
selber den Krieg aus Österreich verfolgt hat. Es gibt also kein chronologisches, lineares Erzählen, vielmehr könnte man von einer kreisenden Suchbewegung sprechen:
[…] Gegenwart und Zukunft sind aus dir amputiert. Reste sind noch da,
Phantomexistenzen, sie beschweren sich, wann immer du, und es sei auch
nur für einen Augenblick, auf den Schmerz vergisst, dein Leben eingefroren
in dem Moment, als du Fahries Verschwinden entdecktest, ach nein, es ist
nicht dein Leben, das eingefroren ist, sondern deine Zeit, gefrorene Zeit, die
nicht zählt, von der du dir wünschst, sie würde endlich vergehen, dabei vergeht sie, da gefroren, unendlich langsam. (GZ, 32)
Die gefrorene Zeit ist die Zeit, in der eigentlich die Zeit aufgehoben wird, in
der man sein altes Leben nicht weiterführen und kein neues anfangen kann.
Die gefrorene Zeit ist auch die Zeit, in der die Leichname in Kühlhäusern
aufbewahrt werden, und die Gesichtszüge der Verschollenen auf Suchbildern
eingefroren sind.
Die Rückkehr Luans in den Kosovo ist Rückkehr in eine Konfliktzone, wo die
Konflikte gar nicht gelöst sind und alte Sippenregeln das Zusammenleben
streng bestimmen:
Regeln, erklärst du mir später, sind im Kosovo allgegenwärtig, alles ist festgelegt: Wie man Probleme innerhalb der Familie zu lösen hat, wie ein Haushalt geführt gehört, wie Hunde zu behandeln sind, welche Pflichten jedes Familienmitglied übernehmen muss, in welcher Reihenfolge gegessen werden
kann... Das Besondere ist, dass Bräuche und Konventionen einen Gesetzesstatus haben, sagst du, sie sind Ligj, somit unhinterfragbar. (GZ, 84)
Das Heimatdorf wird für Luan zu einem traumatischen Ort, der die Virulenz
der vergangenen Ereignisse festhält. Er tritt in die Leichenhalle von Rahovec
ein, wo Noras ehemaliger Freund Sam als forensischer Anthropologe arbeitet, dem das Denken vergangen ist (GZ, 121), und sieht ein Skelett, das ihn
„abstößt“ (GZ, 128), wobei sich der Ich-Erzählerin neue unerhörte Fragen
nach Identität und Zugehörigkeit aufdrängen:
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Lucia Perrone-Capano
Mir scheint es fast sinnlos, ich wage kaum es auszusprechen, das Knochengebilde identifizieren zu wollen, kein Mensch, aber auch kein Gegenstand,
ein Zwitter, blicklos, hautlos, seelenlos, bedingte Ähnlichkeit mit Wurzeln,
Ästen oder Großvaters Wanderstab: besitzt eine Leiche Identität, besitzen
Leichenteile Identität, das ist doch ein Widerspruch. Tod bedeutet den völligen Verlust der Identität […] (GZ, 117)
So problematisiert der Roman die Bedeutsamkeit der Literatur als eine Herangehensweise zur Erzählung von Extremsituationen und zur Verhandlung
von Konflikten28. Mittels der Narration und der Literatur, könnte man sagen,
entsteht im Text selbst eine neue Kontaktzone, in der die Konflikte aufgearbeitet und neue Bilder generiert werden können. Mit einer Art Gegenbilder
zwingt der Text zu veränderten Wahrnehmungsmustern, weniger als Gegengewicht, vielmehr, um andere Bilder in ihr Recht zu setzen 29.
Mit grosser Sorgfalt hat Anna Kim nicht nur Daten und Fakten recherchiert,
sondern auch Mythen und Geschichten über den Kosovo zusammengetragen, und so liest sich denn Die gefrorene Zeit streckenweise wie eine Reportage, deren Realitätsnähe freilich durch das Alternieren von Beschreibung
und Reflexion, von Erinnerung und Erinnerungsverlust gebrochen wird. Somit gelingt dem Roman etwas, was der Realität abgeht. Er stellt Fragen, die
auch sehr dringend erscheinen, will aber keine vorgefertigten Antworten geben,
eher die Notwendigkeit der Leerstellen hervorheben, die zur weiteren notwendigen Reflexion anregen: „Die Pause bleibt, weil sie eine Leerstelle ist. Solange es
keine wahren Worte gibt, muss diese Stelle ausgelassen bleiben“ (GZ, 20).
Schlusswort
Zuvor klar getrennte Geschichten werden in Bodrožićs und Kims Texten miteinander verwoben, womit die Fremden, die mit der konfliktreichen Verarbeitung unterschiedlicher Erinnerungskulturen umgehen müssen, zu beson28 „Insofern kann Literatur meiner Ansicht nach auch etwa Anti-Kriegsarbeit leisten. Sie ar beitet im Unsichtbaren bzw. im erst allmählich sichtbar Werdenden. Sie leistet politische Arbeit, indem sie zur eigenen Meinung anstiftet“ (Anna Kim, Experiment und Krieg. Erfahrungsbericht und Fragen, in „Trans. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften“, 15, September 2004, http://www.inst.at/trans/15Nr/11_2/kim15.htm)
29 Vgl. dazu die interessanten Ausführungen von Antonia Rahofer, Kriegsinhalt-Textgewalt?
Die Verschränkung von Erinnern und Erzählen in Anna Kims Die gefrorene Zeit, in Carsten
Gansel, Heinrich Kaulen (Hg.) Kriegsdiskurse in Literatur und Medien nach 1989, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2011, S. 165-181, hier S. 168.
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Schreiben in Kontakt- und Konfliktzonen: Marica Bodrožić und Anna Kim
deren Trägern eines noch zu konstituierenden kollektiven Gedächtnisses
werden. Die Figuren der Suchenden und Fragenden ihrer Romane leben in
einem geografischen Transitraum, in dessen Hintergrund die balkanische
Herkunft, die Zerstörung der Heimat und der Verlust geliebter Menschen
durch Krieg steht. Vor ihnen die Herausforderung, sich in der Fremde der
Gegenwart und der Vergangenheit zu stellen, wobei weiterführende Kontexte und Verbindungen entstehen können, die dem individuellen und kollektiven Gedächtnis einen anderen Rahmen geben.
Hier vermischen sich die Historien, jene der neuen, jene der verlassenen
Heimat, jene der Wanderung und der Suche. Indem sie alternative Sichtweisen und einen kreativen Zugang zur Sprache und zum Umgang mit Sprache
bieten, führen diese Texte auch zu neuartigen Konzepten und schaffen jenes
„conceptual framework“, das Sehyans Erinnerungsarbeit evoziert hat, „for
the complex relationship between cultural displacement, memory, and language, where the nuances and inflections of a community’s experience of
loss, trauma, and eventual recovery are recorded“30.
Die transkulturell ausgerichteten Räume, in denen sich die neuen Migrantensubjekte bewegen, erscheinen als Orte der Auslotung und Ausarbeitung
von Konfliktpotenzialen. So entwickeln sich die ungewöhnlichen kulturellen
Kontaktzonen, die sich bei der Migration herausbilden, zu wichtigen Zentren
literarischer und im Allgemeinen von ästhetischer Innovation, die einen
Raum für die Infragestellung, Durchkreuzung und Unterwanderung der nationalen Geschichtsschreibung und Geschichtsvermittlung eröffnen. Sie zeigen, in welchen Prozessen sich die wechselseitige literarische Imagination
tatsächlich entfaltet und werden zum Diskurs, in dem die Spannungen Ausdruck finden und verhandelt werden können.
Literatur:
1.
2.
3.
4.
Marica Bodrožić, Sterne erben, Sterne färben. Meine Ankunft in Wörtern, Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2007.
Marica Bodrožić, Das Gedächtnis der Libellen, Luchterhand, München 2010.
Marica Bodrožić, Wunden haben keine Grenzen, in „Europa Revue“ 2006,
http://www.sine-causa.com/er/politik/marcia.htm
Marica
Bodrožić
im
Gespräch
mit
Stephan
Karkowsky,
in
30 Sehyan, Writing Outside the Nation, zit., S. 17.
ZGR 2 (42) / 2012
105
Lucia Perrone-Capano
http://www.dradio.de/ dkultur/sendungen/thema/1644409/
5.
James Clifford, Routes, Travel and Translation in the Late Twentieth Century, Harvard UP, Cambridge 1997
6. Peter Handke, Sommerlicher Nachtrag zu einer winterlichen Reise, Suhrkamp,
Frankfurt a. M. 1996, S. 191.
7. Anselm Haverkamp, Figura cryptica. Theorie der literarischen Latenz, Suhrkamp,
Frankfurt a. M. 2002.
8. Anna Kim, Experiment und Krieg. Erfahrungsbericht und Fragen, in „Trans. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften“, 15, September 2004, http://www.inst.at
/trans/ 15Nr/11_2/kim15.htm
9. Anna Kim, Die gefrorene Zeit, Droschl, Wien 2008.
10. Mary Louise Pratt, Imperial Eyes. Travel Writing and Transculturation, Routledge,
New York 2008.
11. Antonia Rahofer, Kriegsinhalt-Textgewalt? Die Verschränkung von Erinnern und
Erzählen in Anna Kims Die gefrorene Zeit, in Carsten Gansel, Heinrich Kaulen (Hg.),
Kriegsdiskurse in Literatur und Medien nach 1989, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2011, S. 165-181.
12. Oliver Seppelfricke, Unglückliche Liebe (17.01.2011), in http://www.dradio.de/dlf
/sendungen/buechermarkt/1366997/
13. Azade Seyhan, Writing Outside the Nation, Princeton University Press, Princeton
2000.
14. Nora Sternfeld, Erinnerungskulturen in einer geteilten Gegenwart. Gedenkstätten
als Kontaktzone, in http://eipcp.net/policies/sternfeld/de
15. Christa Stippinger, Hg. fremdLand. das buch zum literaturpreis schreiben zwischen
den kulturen 2000, edition exil, Wien 2000.
16. Nicole Streitler, Ein Leben in der Endlosschleife, in „Falter“. Buchbeilage 42/2008
(vom 15.10.2008).
17. Michael Thielen, Laudatio auf Marica Bodrožic. Verleihung des Bruno-Heck-Wissenschaftspreises, 30. Oktober 2009, in http://www.kas.de/upload/veranstaltungen/2009/10/091030_thielen.pdf
Writing within conflict and contact zones:
Marica Bodrožić and Anna Kim
In my contribution attention is focused on writings that develop within or upon areas of intercultural contact and conflict, in particular the territory of the former
Yugoslavia which has recently been theatre of war. In the novels of two german
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Schreiben in Kontakt- und Konfliktzonen: Marica Bodrožić und Anna Kim
language writers, Marica Bodrožić, born in Dalmatia and currently living in
Germany, and Anna Kim, born in South Korea and grown up from the age of two
first in Germany then in Austria, themes of cultural contact and conflict, migration,
and displacement
are revised, discussed and renegotiated, outlinig new
“geographies of memory”.
Marica Bodrožićs Das Gedächtnis der Libellen (2010) and Anna Kims Die gefrorene Zeit (2008) offer new configurations of the intercultural experience in german
history and literature and create a different poetics of migration, refusing the binary
oppositions between nationalities and ethnic groups and subverting at the same
time stereotypical images of the Balkan immigrants. These writers are not so much
interested in developing a nostalgic dream of another Europe, lost in Dalmatia,
Croatia or Bosnia etc; or to rebuild in Germany or Austria, but in allowing us to
think about our position of observers, readers, actors of both a near and far history.
Schlagwörter: Konflikt- und Kontaktzonen; Geographien der Erinnerung; Erinnerungsarbeit, Migration, Dislokation.
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ENTSTEHUNGSBEDINGUNGEN UND INHALTLICHE
SCHWERPUNKTE
der deutschtürkischen Literatur
Yüksel Gürsoy
Mitte der 50’er Jahre begann die jüngste Migrationsbewegung in Deutschland. Wie in den anderen europäischen Ländern brauchte Deutschland nach
dem zweiten Weltkrieg viele Arbeitskräfte. Trotz der 10 Millionen DDRFlüchtlinge wurde der Bedarf nicht gedeckt1, deshalb unterzeichnete damals
die Bundesrepublik Deutschland 1961 nach Italien, Spanien und Griechenland auch mit der Türkei ein bilaterales Sozialabkommen. Dieses Abkommen
sollte die Voraussetzungen von türkischen Arbeitskräften nach Deutschland
regeln. 1964 wurden mehr als 100.000 Türken vermittelt und 1973 waren es
schon über 1,5 Millionen Türken, die in Deutschland wohnten. 2 Im November desselben Jahres begann der Anwerbestop, trotzdem stieg die Zahl der
Türken in Deutschland. Die wichtigsten Faktoren waren die Familienzusammenführung, Asylgewährung und die hohen Geburtenrate der Türken. Heute
bilden sie die größte ethnische und religiöse Minderheit in Deutschland. Sie
unterscheiden sich am stärksten von den Einheimischen nach Religion,
Sprache und Brauchtum.
Die angeworbenen Männer und Frauen mussten jung und gesund sein. Erol
S., 1965 als Arbeiter nach Deutschland gekommen, war vorher in der Türkei
Student an der Technischen Hochschule Istanbul. Er erzählt über die Bedingungen der medizinischen Untersuchungen in der deutschen Verbindungsstelle Istanbul.
[...] splitterfasernackt ausgezogen, von unserem männlichen Glied, entschuldigen Sie bitte, bis zu unserem hinteren Anus, durch deutsche Ärzte untersucht. Die Regierung der Türkischen Republik hat uns an Europa wie das
Vieh auf dem Viehmarkt verkauft. Wir wurden sehr detailliert untersucht,
angefangen von unseren Zähnen in unseren Mündern bis zu Operationsstellen an unseren Körpern, von A-Z. Und sie nahmen 25 Personen in ein Zimmer und alle 25 mussten sich zusammen splitternackt ausziehen: Zum ersten Mal habe ich daran gedacht, wie die schwarzen Sklaven in Afrika verkauft wurden, so sind wir auch durch einen Sklavenmarkt geschleust wor1 Vgl. Monika Frederking: Schreiben gegen Vorurteile, Express Edition GmbH Berlin 1985, S.
9-10.
2 Vgl. Yüksel Pazarkaya: Türkiye-Mutterland, Almanya-Bitterland, in: „LiLi, Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik“, 56, Göttingen 1985, S. 101.
Entstehungsbedingungen und inhaltliche Schwerpunkte der deutschtürkischen Literatur
den.”3
“Man habe Arbeitskräfte bestellt, es sind aber Menschen gekommen”, sagte
Max Frisch.
Sie wurden in innenbetriebliche Wohnheimen untergebracht, was für die
Unternehmen kostengünstig war. Diese Menschen kamen mit dem anatolische Staub an der Sohle, an ihrem Rücken hatten sie ein kragenloses Hemd,
eine anatolische Mütze hatten sie aufgesetzt, in ihrer Hand oder in ihrer Tasche hatten sie die Gebetskette, in ihren Säcken hatten sie Raki Flaschen,
Rosenwasser, weiße Bohnen oder auch Weizengrütze, in den Innentaschen
der Jacken hatten sie die Fotos ihrer Frauen, Kindern und Verwandte, die sie
auf den Weg nach Deutschland sich mehrmals anschauten und danach glattgestrichen wieder in die Jacke steckten. Woher sollten sie wissen, dass sie
ihre Familie nach einigen Jahren nach Deutschland kommen lassen würden.
Manche von den Gastarbeitern hatten von der Türkei die Saz4 mitgebracht,
für die Deutschen war das neu und sehr interessant. Die Türken brachten
ihre Kultur und Tradition mit sich nach Deutschland. Viele der entstandenen
Probleme waren die blinden Ignorierung dieser Identität. 5 Die türkischen
Gastarbeiter spielten am Wochenende und an besonderen Tagen mit der Saz.
Mit der Saz wurden nicht nur Lieder aus der Türkei, sondern neue Lieder,
die in Deutschland entstanden, gesungen.
Diese neuen Lieder wurden Deutschlandslieder genannt, ihre Texte waren
3 Zur Geschichte der Arbeitsmigration aus der Türkei, Ministerium für Arbeit und Soziales,
Qualifikation und Technologie des Landes Nortrhein-Westfalen, Köln 2000, Arbeitsblatt 9a.
4 Saz bezeichnet eine Gruppe von Langhalslauten, die vom Balkan bis Afghanistan verbreitet
sind und in der Musik der Türkei, der kurdischen, iranischen, aserbaidschanischen und
afghanischen Musik gespielt werden. Der Hauptvertreter dieser Zupfinstrumente in der
Türkei ist die mittelgroße Bağlama. Die Bağlama ist das am meisten gespielte traditionelle
Begleitinstrument der türkischen Barden, die man in Anatolien und im Kaukasus Aşık („der
Liebende“) nennt. Wie bei einer Laute oder Gitarre hat der Hals Bünde, wobei allerdings
zusätzliche für die Vierteltöne der Makams vorhanden sind. Die Saz wird heute meist mit
einem kleinen, länglich geformten Plektrum (Mızrap oder Tezene) gespielt, das entweder aus
Kirschholz oder aus einer Gummi-Plastikmischung besteht. Die früher übliche Şelpe-Technik
(şelpe dt. „streichen, zupfen“), bei der die Saiten mit den Fingern zum Schwingen gebracht
werden, wird seit einigen Jahren wiederbelebt und weiterentwickelt. Mittlerweile gibt es auch
eine Saz-Variante die man streicht.
5 Vgl. Pazarkaya, 1985, S.103 aus: Anhegger, Robert: Lieder über Gastarbeiter, Lieder von
Gastarbeitern, in: Aesthetik und Kommunikation, 44, 1981, S. 83-89.
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Yüksel Gürsoy
sozusagen die ersten Werke der deutschtürkischen Literatur. In diesen Liedern wurde viel gejammert. Heimweh, Sehnsucht, Freude, Angst, Fremdheit
und Liebe wurde besonders in den Liedern behandelt. Einer der ersten türkischen Gastarbeiter, der nach Deutschland kam, war Metin Türköz in Köln.
Er sang in der Mitte der sechziger Jahre ein Lied, mit dem er das Gastland
Deutschland kritisierte.
“Alemanien, Alemanien einen dümmeren als ich kannst du nicht finden”. 6
Das war einer der ersten Kritiken am Gastland. Aber in ihren ersten Briefen
berichteten sie den Daheimgebliebenen von ihrem Leben in Deutschland
und beschönigten dabei so manches. Statt über die Ausbeutung am Arbeitsplatz, den Rassismus der Deutschen oder über die Einsamkeit zu klagen,
priesen sie lieber die deutsche Sauberkeit und Ordnung, und malten ihr Los
in den schönsten Farben aus. Ihre Briefe wurden so zu einem »Deutschlandmärchen«, das später in den Satiren von Sinasi Dikmen zu einer eigenen
Form wurde: genussvoll werden da die angeblich paradiesischen Zustände so
übertrieben, dass es fast schon wehtut: In der Literatur gelang das einfacher
als im wirklichen Leben. Die eigentliche Last ihres Schicksals in »Bitterland
Almanya« gossen die Gastarbeiter der ersten Stunde lieber in selbstverfasste
Gedichte: unzählige solcher Gedichte entstanden in den ersten Jahren. Diese
Briefe waren mit den Deutschlandsliedern die ersten literarischen Werke
und Dokumente dieser Literatur.
Ihre Erlebnisse, Gedichte und Erfahrungen schrieben sie auch in den Gedicht Ecken der türkischen Zeitungen und Illustrierten. Außerdem gründeten sie Vereine mit eigenen Mitteilungsblättern. Diese Information und Daten bestimmen das Schreiben der Gastarbeiter, Schriftsteller und Einwanderer, die sich mit dem Thema Migration auseinandersetzen, wie Yüksel Pazarkaya, Aras Ören, Nevzat Üstün und Bekir Yıldız haben schon bereits 1963
und 1966 die ersten türkischsprachigen literarischen Werke in Deutschland
veröffentlicht. Der Turkologe Wolfgang Rieman bezeichnete sie als Pioniere
der deutschtürkischen Literatur.7
Nach einem langen Schweigen fingen die Türken wieder an zu schreiben.
1980 war ein Wendepunkt. Wegen dem Militärputsch in der Türkei flohen
6 Anhegger, 1981, S. 89.
7 Vgl. Horst Hamm: Fremdgegangen - Freigeschrieben, Würzburg 1988, S. 40.
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Entstehungsbedingungen und inhaltliche Schwerpunkte der deutschtürkischen Literatur
viele türkische Autoren egal ob Rechts- oder Links-Anhänger nach Deutschland, weil die meisten Türken im Ausland in Deutschland wohnten. Außerdem war die zweite Generation in Deutschland herangewachsen, sie beherrschten die Deutsche Sprache besser als die türkische, also hatten sie keine Sprachschwierigkeiten. Somit begannen sie auch zu schreiben. Durch diese Faktoren gab es sozusagen eine Explosion in dieser Literatur. 8 Das Interesse der deutschen Medien über diese Literatur stieg ständig, es wurden Beiträge gehalten. Nicht das literarische Niveau, sondern die Themen waren interessant für die Deutschen. Damit hatten sie die Chance, die türkische Kultur besser kennenzulernen. Die türkischen Autoren, die in Deutschland
schreiben, dienen als Brücke zwischen der türkischen und deutschen Literatur und Kultur. In diesen Jahren gründeten Autoren vorwiegend aus den
Mittelmeerländern die Südwind-Gruppe, damit sie leichter publizieren
konnten und 1981 wurde von der Universität München der erste Preisausschreiben mit dem Motto: “Als Fremder in Deutschland”, veranstaltet. 9 Ab
1985 gibt es auch den Adelbert-von-Chamisso-Preis und seit der ersten
Preisverleihung 1985 an Aras Ören und Rafik Schami sind insgesamt 46
Schriftsteller aus über zwanzig Herkunftsländern ausgezeichnet worden.
Wie schon erwähnt, wagten sich ab 1980 mehr Türken an die Deutsche Sprache. Es erschien eine Anthologie: Täglich eine Reise von der Türkei nach
Deutschland, hier fand die zweite Generation eine Chance sich zu zeigen. Jugendliche, die in Deutschland geboren oder im jungen alter nach Deutschland gekommen waren, nahmen jetzt die Feder in die Hand. In der deutschen Sprache fühlten sie sich wohler als in der türkischen Sprache, sie war
sozusagen eine Fremdsprache für sie geworden. Einige der bekanntesten
jungen Autoren in diesen Jahren sind: Levent Aktoprak, Zafer Şenoçak, Akif
Pirinçci, Ihsan Atacan, Özgür Savaşçı, Alev Tekinay, Emine Sevgi Özdamar,
und Osman Engin.
Die deutschtürkische Literatur in Deutschland lässt sich in zwei verschiedene Gruppen von Autoren einteilen. Zu der ersten Gruppe gehören Autoren,
die als Gastarbeiter nach Deutschland gekommen sind oder auch in der Türkei als Autoren bekannt waren. Ihre Gemeinsamkeiten sind:
8 Vgl. Şeref Ateş: Almanya’da Türk Göçmen Edebiyatı, In: Gündoğan Edebiyat Dergisi, Band
7, 1983, S. 47.
9 Alev Tekinay: Türkische Literatur in Deutschland. In: „Muttersprache“, 1989, S. 322-327.
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Yüksel Gürsoy
1. Die literarischen Widerspiegelung der Migration.
2. Die Werke entstehen in türkischer Sprache und später werden sie ins
deutsche übersetzt.
Die zweite Gruppe bilden junge Autoren, die in Deutschland geboren oder
ohne wirtschaftliche Ziele nach Deutschland gekommen sind. Diese Autoren
haben in Deutschland angefangen zu schreiben, der größte unterschied zwischen den beiden Gruppen ist, dass die zweite Gruppe direkt in der deutschen Sprache schreibt. Sie schreiben in deutscher Sprache, nicht für praktische Erfordernisse, sondern sie halten schriftlich in der deutschen Sprache
fest, was sie bewegt, was sie weiter geben möchten. Sie schreiben direkt für
deutsche Leser und zugleich für Ausländer. Sie beherrschen die deutsche
Sprache fast so gut wie oder sogar besser als ihre Muttersprache.
Die Literatur, der in Deutschland lebenden Türken, hatte sich zu einer Strömung entwickelt, aber eine gute Bezeichnung für diese Strömung hatte man
noch nicht gefunden. Der Begriff Gastarbeiterliteratur hat sich eine Weile
durchgesetzt, weil am Anfang die meisten Autoren als Arbeiter nach
Deutschland kamen. Der Begriff Gastarbeiter wird auch über Deutschland
hinaus erkannt, dass es sich über ausländische Arbeiter handelt, deshalb
weiß der Leser sofort Bescheid, auf welche Zeit und welchem Raum dieser
Begriff sich konzentriert. Aber wenn wir die Literatur unter einem Langzeitaspekt uns betrachten, so kommen wir zu der Meinung, dass die Gastarbeiterliteratur nur eine Anfangsphase der Literatur von Ausländern ist. Der Begriff
hat in der Pionierzeit eine gewisse Nützlichkeit gehabt, aber heute wird sie
nicht mehr weiter benutzt, der Begriff ist historisch geworden. Die Gastarbeiterliteratur hat sich zu einem bestimmten Grade abgeschlossen und ist
zur Literaturgeschichte geworden, weil Deutschland ein Einwanderungsland
und kein Gastland mehr ist. Die Autoren, die heute schreiben, sind nicht als
Gastarbeiter nach Deutschland gekommen, sondern sind hier geboren oder
sind im jungen Alter nach Deutschland gekommen. Bei der Gastarbeiterliteratur wurde die Qualität nicht beachtet, mit Vorurteilen nährte man sich an
diese Literatur. Die Bezeichnung Ausländerliteratur ist negativ belastet, deshalb akzeptieren viele Autoren diese Bezeichnung nicht, weil sie von der
deutschen Gesellschaft nicht abgeschlossen werden möchten. So hat sich im
Laufe der Zeit eine Vielzahl äusserst unterschiedlicher und widersprüchlicher Bezeichnungen entwickelt, die von den Autoren nicht ganz ohne Kritik
aufgenommen wurden. Die versuchten Typologisierungen bieten eine grosse
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Entstehungsbedingungen und inhaltliche Schwerpunkte der deutschtürkischen Literatur
Bandbreite von Formulierungen wie Gastarbeiterliteratur, Ausländerliteratur, Literatur der Betroffenen, Immigrantenliteratur, Emigrationsliteratur,
Migrationsliteratur, Literatur der Fremde, deutsche Literatur von aussen, Literatur mit dem Motiv der Migration, nicht nur deutsche Literatur, Minderheitenliteratur, deutsche Gastliteratur, Randliteratur, Chamisso Literatur,
Migrantenliteratur, interkulturelle Literatur und multikulturelle Literatur.
Von den alternativen Bezeichnungen Migrantenliteratur und multi- oder interkulturelle Literatur abgesehen, ist für diese Strömung kein guter Oberbegriff gefunden worden. Meiner Meinung nach sollte man diese Literatur
heutzutage nur als deutschtürkische Literatur ohne Oberbegriff ansehen.
Diese Literatur ist weder Deutsch oder noch Türkisch oder etwas anderes. Es
ist eine Kultursynthese zwischen zwei Ländern, die am besten von den etwa
3 Millionen türkischen Einwohnern in Deutschland verstanden werden kann.
Lutzt Tantow sagte über diese Literatur folgendes: “Literarische Kunstwerke
oder grossen Lesegenuss sollte man also nicht erwarten. Interessant ist in
erster Linie der verarbeitete Stoff.”10
Einer der wichtigsten Literaturkritiker, Marcel Reich-Ranicki, sieht diese Literatur als eine Randliteratur. Seine Antwort auf die Frage: Was halten Sie
von der Migrantenliteratur?, ist sehr interessant und bedenklich: “Ich bitte
um Entschuldigung, aber sie interessiert mich nicht. Ich weiss ein wichtiges
Thema, für die Bundesrepublik wichtig, und überhaupt, ist nicht mein Problem, meine Sache.“11
In der jetzigen Entwicklung der deutschtürkischen Literatur wird sie in
Deutschland langsam wahrgenommen, weil die Türken ein Teil von Deutschland geworden sind. Die Vorurteile können erst nur dann abgebaut werden,
wenn man sich gut kennt. Außerdem schaffen immer mehr junge Autoren
mit türkischem Migrationshintergrund den Durchbruch, ihre Werke sind
von allen Seiten her betrachtet ganz gut. Viele stellen die Frage, ob diese Literatur in Deutschland eine Zukunft hat. Die meisten sind der Meinung,
dass das eine Modeerscheinung ist, die mit der Zeit vergehen wird. Das goldene Zeitalter der Anthologien ist vorüber, sagen sie. Eine andere Meinung
10 Frederking, 1985, S. 45 aus: Tantow, Lutz: In den Hinterhöfen der deutschen Sprache, Ein
Streifzug durch die deutsche Literatur von Ausländern, In: „Die Zeit“ vom 6.4.1984.
11 Gürsel Aytaç: Almanca yazan kadın yazarlarımız, In: „Cumhuriyet Kitap“, sayı 322,
18.04.1996, S. 10, aus: Jose, F.A. Oliver, in: „Üniversitas“, 1995, Nr. 594, S. 1158.
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Yüksel Gürsoy
ist, dass die Migrantenliteratur ihre Besonderheit verlieren und mit der deutschen Literatur verschmelzen wird. Eine andere Anschauung, ist viel optimistischer. Diese Literatur wird mit der deutschen Literatur zusammen ohne
ihre Besonderheit zu verlieren sich entwickeln, denn immer mehr junge Autoren mit türkischem Migrationshintergrund publizieren neue Werke und in
den deutschen Massenmedien lassen sie von sich mehr reden als früher.
Das Hauptthema der ersten Generation der deutschtürkischen Literatur in
Deutschland war die Arbeitswelt. Z.B. die Diskriminierung am Arbeitsplatz
im Roman Wenn Ali die Glocken läuten hört von Güney Dal. Die Arbeitswelterzählung von Fakir Baykurt und Fethi Savaşçı sind auch über dieses
Thema. Die Benachteiligung der türkischen Kinder in der Schule im Kurzgeschichtenband In der Dunkelheit des Flures von Yusuf Ziya Bahadınlı. Konflikte mit Deutschen in den Satiren Wir werden das Knoblauchkind schon
schaukeln von Şinasi Dikmen und von Fakir Baykurt Der Geschichte aus
dem Revier. Für Aysel Özakin geht es nicht um die Identität des türkischen
Menschen, sondern um den Emanzipationskampf und um die Identität der
türkischen Frau in der Türkei und in der Fremde. Besonders die schwierige
Situation türkischer Mädchen und Frauen in den Falldarstellung Frauen, die
sterben, ohne dass sie gelebt hätten und Drei Zypressen von Saliha Scheinhardt sowie in den Kurzgeschichten Soll ich hier alt werden? von Aysel Özakin. Die bekanntesten Autorinnen Saliha Scheinhardt, Aysel Özakin und Melek Baklan u.a. schrieben wie schon erwähnt, die vielfache Verlorenheit der
muslimischen Frau und Arbeitsmigration. Ihre Werke zeigen manchmal eine
irreale türkische Welt, aber sie gehören zu den besten was diese Literatur bis
heute herausgebracht hat.
Ein anderes wichtiges Thema ist die enttäuschende Erwartung von Deutschland. Deutschland als Paradies ist eine viel benutzte Metapher, die aber
meistens eine Illusion bleibt. Deutschland als Paradies lockten in den 60’er
Jahren viele Arbeiter, aber für viele war das ein Schreckensbild. Deutschland
ist ein Ungeheuer, das aus dem einem Maul Geld ausspuckte und mit dem
anderen die Arbeiter verschluckte. Die bitteren Erfahrungen waren mühselige Arbeit, Stress, Einsamkeit, Heimweh, fehlende Menschenwärme und
Fremdheit. Je höher die Erwartung und Sehnsucht nach einem besserem Leben war, desto größer war die Enttäuschung. Bei den türkischen Arbeitern
und Autoren war die Enttäuschung größer, weil sie in der Heimat von der
Deutsch-Türkischen Freundschaft viel gehört hatten, die Freundschaft war
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Entstehungsbedingungen und inhaltliche Schwerpunkte der deutschtürkischen Literatur
durch die deutsche Militärmissionen im Osmanischen Reich , den Bau der
Bagdadbahn und durch den ersten Weltkrieg sehr stark. Somit entstand eine
Jammerliteratur nach dem Motto: Oh, du meine schöne Heimat Türkei, du
kaltes Deutschland. Die Deutschen werden als verständnislos, kommunikationslos, kalt, humorlos, ausländerfeindlich, opportunistisch und sexbesessen
beschrieben. Die Deutschen kennen die Türkei zu wenig, obwohl die Türken
die größte Kontaktbereitschaft zu den Deutschen zeigen. Nach den Türken in
den 70’er Jahren, haben die Deutschen Werte wie Freundschaft und Liebe
schon längst vergessen, was für sie gilt ist nur Geld. Aras Ören bezeichnet
Deutschland sogar als ein Sklavenhandelsniederlassung.12
Die zweite Generation bearbeitet besonders die Zerrissenheit und die Identitätsfrage. Sie selber definieren sich selbst als die zweite Generation, die
krank ohne Heimat ist. Andere Themen sind die schulischen und beruflichen
Chancen, Deutsch-Türkische Beziehung, Konflikte zwischen den Eltern, die
in ihren Traditionen verhaftet sind und die deutsche Außenwelt, die mit Elternhaus nicht übereinstimmt. Es ist eine Literatur, die sanft und scharf, aggressiv und einfühlsam ist. Obwohl es viele Probleme gibt, darf man Träumen und Schwärmen. Die politische und kulturelle Fehlentwicklung beider
Länder werden z.B. bei Osman Engin mit einer leichten Ironie kritisiert. Die
Freundschaft zu anderen Ausländern ist auch ein wichtiger Schwerpunkt
dieser Literatur. Die sogenannte Ausländerproblematik wurde mit dem Themen Liebesbeziehung und Freundschaften durchbrochen. Tränen sind immer das Ende ein Roman von Akif Pirinçci handelt fast nur über Liebe. Auch
die Einsamkeit ist für die Autoren ein oft behandeltes Thema.
Die Jugendlichen sind zwischen zwei Kulturen und stellen sich die unaufhörliche Frage: Wohin gehöre ich eigentlich? Typisch für dieses Problem sind
die zitierten Verse von Zafer Şenoçak:
Ich habe meine Füße auf zwei Planeten
wenn sie sich in Bewegung setzen
zerren sie mich mit
ich falle
ich trage zwei Welten in mir
aber keine ist ganz
sie bluten ständig
12 Mustafa Çakır: Symbiose zweier Kulturen in der deutschsprachigen Migrantenliteratur:
Der türkisch-deutsche Lyriker Nevfel A. Cumart. In: „Dialog“, 2, 1994, S. 158.
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die Grenze verläuft
mitten durch meine Zunge13
Es ist bei vielen mehr das Gefühl des Dazwischenseins, was in ihren Werken
den Grundton angibt und mit Hilfe von verschiedenen Bildern dargestellt
wird. Bei Alev Tekinay ist es in ihrem Gedicht Grenzgängerin das Bild des
Schmerz-Baumes:
Ich bin ein Baum
mit Wurzeln in anatolischer Erde
und mit Blüten
unter Deutschlands Eisdecke,
die dennoch glutrot bluten
wie die orientalischen Rosen.
Wäre ich dort geblieben,
würde ich vielleicht vertrocknen,
aber ohne die Wurzeln
gäbe es auch keine Blüten.
Ein Baum, der Schmerzen hat,
weil er sich biegen muss
über 2000 Kilometer14
Besonders in den Krisenzeiten befürchten viele Deutsche eine Verschlechterung ihrer Lebensbedingungen, anstatt politische und ökonomische Faktoren für ihre Ängste verantwortlich zu machen, suchen sie sich einen Sündenbock aus. Außerdem reden die Politiker vom Türken- und Ausländerproblem bzw. Asylantenflut immer mit großen Worten und lenken damit, die eigentlichen Hintergründe der Wirtschaftlichen Krisen ab und unterstützen
indirekt die Aggressivität auf die Migranten, deshalb wird das Thema Ausländerfeindlichkeit behandelt. Ein häufiges Motiv in dieser Literatur ist die
deutsche Tierliebe. Tiere, besonders Hunde werden besser behandelt als
Türken. Die Tierliebe der Deutschen sei größer als die Menschenliebe. „Gastarbeiter beisst einen wehrlosen Schäferhund“, zitiert Osman Engin in seiner
Satire. Natürlich gibt es auch Autoren, die das aktuelle Thema zu verpacken
wissen. Wie z.B. Osman Engin, Alev Tekinay, Renan Demirkan, Emine Sevgi
Özdamar, Feridun Zaimoğlu und Nevfel Cumart, sie greifen das politisch13 Zafer Şenocak: Du bist ein Arbeitsknochen. In: Türken deutscher Sprache. Hrsg. Irmgard
Ackermann, München, 1984, S. 39.
14 Karl Esselborn, Über Grenzen, DTV, München 1987, S. 259.
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Entstehungsbedingungen und inhaltliche Schwerpunkte der deutschtürkischen Literatur
soziale Tagesgeschehen auf, ob Golfkrieg, Rechtsradikalismus, Ehe Konflikte, Hollywoodszenen oder Bürokratie. Die Zahl der Autorinnen/Autoren der
Deutsch-Türkischen Literatur ist unsicher, eine vorsichtige Schätzung für
das Jahr 2012 beläuft sich ungefähr 300 Personen. Global betrachtet, handelt es sich um weit höhere Zahlen. Die Literatur von Migranten in Deutschland sollte eigentlich als ein wichtiger Teil der deutschen Literatur gesehen
werden, aber bis heute hat man sie und versucht sie heute noch in eine Ecke
zu verdrängen. Es dauerte mehr als zehn Jahre bis die deutsche Gesellschaft
bemerkt hatte, dass die Türken auch etwas publizieren. Das Bild der Türken
war für die Deutschen nur auf Kultur und Exotika beschränkt. Bauchtanz
und Kebab, sollte man ihnen lassen. Aber die Türkischen Autoren bereichern
die deutsche Literatur mit neuen Metaphern, Begriffen und Sprecharten. Der
ungewohnte Stil der türkischen Autoren bringt viel neues in sich über das
Bild der Deutschen und über Deutschland, erweckt langsam das Interesse
der Deutschen Leser. Im Roman Tränen sind immer das Ende von Akif Pirinçci, sehen wir eine selbst-ironische und flotte Redeweise eines Jugendlichen Autors.
Es gibt eine Reihe von jungen Autoren, die sich türkische sprachliche und
stilistische Merkmale in die deutsche Texte einbetten. Es werden manchmal
sogar direkte Übertragung vom türkischen gemacht, besonders wenn es sich
um türkische Atmosphären handelt. Z.B. in den Kindheitserfahrungen von
Saliha Scheinhardt im Roman Träne für Träne werde ich heimzahlen.
Seit Monaten hast du keine Gebetskette in die Hand genommen, glaub ja
nicht, dass ich es nicht merke, wie ein Vagabund streifst du durch die Gegend und schämst dich nicht einmal, was die Leute über dich reden. Ich
brech dir die Knie, wenn du nochmals […]. Auf den Bäumen hast du nichts
verloren, knicke deine Beine unterm Rock und bewege deine Finger, deine
Alltagsgenossinnen haben Truhen voller Aussteuer und du streifst in der Gegend herum […].15
Osman Engin geht ein Schritt weiter und lässt die türkischen Wörter unübersetzt im Text: “Wie schon das berühmte türkische Sprichwort sagt: Ne oldum
deme, ne olacağım de.”16
15 Saliha Scheinhardt: Träne für Träne werde ich heimzahlen, Reinbeck bei Hamburg, Rororo 1987, S. 89.
16 Osman Engin: Alles Getürkt, Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbeck bei Hamburg Dezember 1992, S. 26. Auf Deutsch übersetzt könnte es so heissen: Sage nicht, was bin ich gewor-
ZGR 2 (42) / 2012
117
Yüksel Gürsoy
Diese türkischen Einlagen verleihen der deutschtürkischen Literatur einen
besonderen Reiz und erwecken Interesse daran:
•
•
•
•
Die Formulierung der Gefühle mit Überbetonung
Die eindrucksvollen Stimmungsbilder
Die reiche Bilderfülle und der Adjektivschmuck
Die verschlüsselte Metaphorik und der Symbolreichtum
Mit diesen Symbolen und Faktoren entsteht unter dem Einfluss der zeitgenössischen deutschen Literatur ein eigenständiger Stil für diese Literatur.
Deshalb dürfen wir die deutschtürkische Literatur mit der herkömmlichen
Literatur nicht vergleichen, z.B. ist das Wort Heimat im Deutschen durch die
faschistische Geschichte negativ belastet, obwohl es im türkischen ganz positiv angesehen wird. Eine Brücke bildet die Literatur der türkischen Migranten auch in einem anderen Sinne. Sie holt nämlich vieles von der türkischen
Denk- und Literaturtradition hinüber in diese neu entstehende Literatur und
eröffnet damit dem deutschen Leser eine neue Welt. Unterschiedliche Verhaltensmuster, eine andere Denkart, andere Tradition und Gewohnheit, die
in der türkischen Kultur verwurzelt sind, führen zu einer Grenzerweiterung
der deutschen Denkweise. In Zusammenhang hiermit kommen neue fremdkulturelle Ausdrücke in die deutsche Sprache und somit tritt eine Bereicherung der deutschsprachigen Literatur durch neue Inhalte und neue Ausdrucksformen. Inwieweit dies wirklich eine Bereicherung der deutschen
Sprache und der Literatur bedeutet, werden die nächsten Jahrzehnte zeigen.
Nämlich ob die neuen Ausdrücke und Bilder tatsächlich in die Alltags- oder
Literatursprache eingehen oder sie mit der Zeit aus der Sprache verschwinden, wird ausschlaggebend für die Folgen dieser Literatur sein.
Literatur:
1.
Anhegger, Robert: Lieder über Gastarbeiter, Lieder von Gastarbeitern, in: Aesthetik und
Kommunikation 44, 1981
2.
Ateş, Şeref: Almanya’da Türk Göçmen Edebiyatı, In: Gündoğan Edebiyat Dergisi, Band
den, sage, was werde ich. / Es ist dem deutschen Sprichwort Wer zuletzt lacht, lacht am besten ähnlich.
118
ZGR 2 (42) / 2012
Entstehungsbedingungen und inhaltliche Schwerpunkte der deutschtürkischen Literatur
3.
4.
7, 1983
Aytaç, Gürsel: Almanca yazan kadın yazarlarımız, In: Cumhuriyet Kitap, sayı 322,
18.04.1996
6.
Çakır, Mustafa: Symbiose zweier Kulturen in der deutschsprachigen Migrantenliteratur: Der türkisch-deutsche Lyriker Nevfel A. Cumart, In: Dialog 2, 1994
Ekiz, Tevfik: Avrupa Türk Edebiyatı ve bir temsilcisi: Emine Sevgi Özdamar, in: Çankaya Üniversitesi Fen-Edebiyat Fakültesi, Journal of Arts and Sciences, Sayı 7, Mayıs 2007,
S.33-47
Engin, Osman: Alles Getürkt, Rowohlt Taschenbuch Verlag, Hamburg 1992
7.
Esselborn, Karl: Über Grenzen, DTV, München 1987
8.
Frederking, Monika: Schreiben gegen Vorurteile, Express Edition GmbH Berlin 1985
9.
Gürsoy, Yüksel: Migrantenliteratur und Osman Engin als zeitgenössischer Satiriker,
Magisterarbeit, Selçuk Universität, Konya 1997
5.
10. Hamm, Horst: Fremdgegangen-Freigeschrieben, Würzburg 1988
11. Kara, Sibel: Migrationsliteratur, Eine neue deutsche Literatur?, Heinrich Böll Stiftung,
März 2009
12. Pazarkaya, Yüksel: Türkiye-Mutterland, Almanya-Bitterland, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 56, Göttingen 1985
13. Robert, Anhegger: Lieder über Gastarbeiter, Lieder von Gastarbeiter, In: Ästhetik und
Kommunikation, 44/ 1981
14. Sakallı, Cemal: Der Beitrag der türkischen Germanisten zur interkulturellen Literaturwissenschaft, vorgetragen auf der internationalen germanistischen Fachtagung, Universität Veszprem Ungarn 2004
15. Scheinhardt, Saliha: Träne für Träne werde ich heimzahlen, Reinbeck bei Hamburg, Rororo 1987
16. Şenocak, Zafer: Du bist ein Arbeitsknochen, In: Türken deutscher Sprache. Hrsg. Irmgard
Ackermann, München, 1984
17. Tantow, Lutz: In den Hinterhöfen der deutschen Sprache, Ein Streifzug durch die deutsche Literatur von Ausländern, In: Die Zeit, 6.4.1984
18. Tekinay, Alev: Türkische Literatur in Deutschland, In: Muttersprache, 1989
19. Zengin, Dursun: Alman Edebiyatı, 19. Yüzyıldan günümüze kadar, Pelikan Yayıncılık,
Ankara 2011
20. Zur Geschichte der Arbeitsmigration aus der Türkei, Ministerium für Arbeit und Soziales, Qualifikation und Technologie des Landes Nortrhein-Westfalen, Köln 2000
ZGR 2 (42) / 2012
119
Yüksel Gürsoy
Abstract:
It can be said that the emigrants in Germany laid the foundation of German-Turkish
Literature. Germany which had been decisively defeated in the Second World War
experienced problems by losing its educated manpower. Therefore Germany tried to
make up the lack of it by the emigrants to employ them especially in heavy industry.
While the only men had attended into wave of migration for two years between 19651970 in conformity with the arrangements made with the Turkish Republic the families involved to stay for long time in the following years. Lively, multilingual and
cultural life-style belonging to Turkish culture started to form in the countries
people immigrated as a result of the Turkish migration made to Germany at first and
later especially to Central and Western Europe. Naturally, this diversity had reflection on the works of the writers and poets living in that region. Lots of writer and poets grown up among the children of the families who had settled there after migration contributed to the “Labor Literature” according to some people or Emigrant Literature for some ones to rise with the aid of Turkish culture and literature.
Schlüsselwörter: Deutschtürkische Literatur, Migrantenliteratur, Türkische Kultur, Interkulturalität, Migration, Gastarbeiter, Osman Engin
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ZGR 2 (42) / 2012
BEITRÄGE AUF DEM IX. INTERNATIONALEN KONGRESS DER GERMANISTEN
RUMÄNIENS, BUKAREST, 4.-7. JUNI 2012
SPRACHWISSENSCHAFT
KOGNITIVES UND KONTEXTUELLES WISSEN
in der Valenzbeschreibung deutscher und rumänischer Adjektive
Emilia Codarcea
Einleitende Bemerkungen
Die neuere Valenzforschung charakterisiert sich durch intensive Anstrengungen einer umfassenden Valenzbeschreibung durch stärkere Betonung der
kommunikativ-pragmatischen Komponente und einer gleichwertigen Behandlung aller Valenzebenen. Diese als notwendig zu betrachtende Entwicklung der Forschungsrichtung widerspiegelt einerseits die dynamische Sprachevolution und -verwendung, andererseits signalisiert sie die Schwierigkeit
einer strengen Erfassung eines Regelapparats zur systematischen Beschreibung der syntaktischen, semantischen und kommunikativ-pragmatischen
Valenz und Kombinatorik der Wörter. Vorliegende Arbeit problematisiert
diese Aspekte am Beispiel der Adjektivvalenz im Hinblick auf eine kontrastive Beschreibung deutsch-rumänisch, u. zw. ausgehend von der Frage nach
der minimalen Satz- und Sinnnotwendigkeit, nach der Art des aktivierten
kognitiven und kontextuellen Wissens, bzw. des notwendigen Umfangs des
Kontextes für eine überprüfbare Valenzanalyse. Ziel ist die didaktische und
praktische Anwendbarkeit für eine möglichst breite Palette aller Benutzergruppen.
Kommunikation und Valenz. Ebenen der Valenzbeschreibung
Kommunikation als Verständigung zwischen Menschen, als Ausdruck von
Mitteilungen, Interaktion und gegenseitige Information wurde in der Literatur ausführlich untersucht und beschrieben, ausgehend von der Zweiteilung
verbale und nonverbale Kommunikation, weiterhin differenziert nach Untersuchungsgegenstand (akustisch, optisch, taktil, geschrieben- gesprochen,
elektronisch-audiovisuell) und in der Linguistik nach verschiedenen Kriterien in eine Sprachvarietät eingeordnet (meist Gruppenzugehörigkeit, Frequenz, Gebrauch; Soziolekte in der Soziolinguistik für die Erklärung und Beseitigung der Kommunikationsbarrieren).
In der Valenztheorie und -lexikographie dient die Untersuchung und Beschreibung der Kommunikation auf verschiedenen Ebenen zuerst der Fehlervermeidung durch Darbietung eines Regelapparats zur richtigen Sprachaneignung und -verwendung (im Fremd- und Muttersprachenunterricht),
danach der linguistischen Analyse der Dependenzbeziehungen und Struktur
Emilia Codarcea
einer Sprache, und schließlich der kontrastiven Sprachbetrachtung hinsichtlich der interkulturellen Verständigung und Erklärung der Interferenzen,
Gemeinsamkeiten und Unterschiede. Im Laufe der Zeit wurde der Valenzbegriff unterschiedlich aufgefasst und definiert, je nach dem betrachteten
Standpunkt: ausgehend von Tesnières syntaktisch fundiertem Valenzbegriff
wird die Valenz als ein Ebenenmodell beschrieben und in den 70er und 80er
Jahren um die logisch- semantische und pragmatische Ebene erweitert. Einige
Linguisten schreiben die Valenz nicht nur dem Verb und allen Wortarten zu,
sondern allen sprachlichen Elementen (syntaktische, semantische, phonologische und morphologische Valenz, „potentielle Verknüpfbarkeit von gleichartigen Sprachelementen“ bei Sassorina/ Berkow). Im weiten Sinne beziehe sich
die Valenz auch auf die Wortbildung (Phonem- und Morphemebene): innere
Valenz (lexikalisierte, statische Einheiten/ Wortneubildungen, Verknüpfbarkeit von Morphemen bei der Wortbildung), und äußere (kreative) Valenz
(satzsyntaktische Verhältnisse, bei jedem Kommunikationsakt erneuert, vgl.
Stepanowa/Helbig 1978:9). Valenz steht somit im Schnittpunkt von lexikalischer Semantik und Syntax (Wechselwirkung) und nicht zuletzt in Beziehung
zur Kommunikation:
Kommunikativ
Semantische Ebene
↓
→
Syntaktische Ebene
Pragmatische
↓
→
(Morphologische Ebene)
↓
Ebene
→
Phonologische Ebene
→
Bedeutung
Zuordnung
Laute
Ausgangspunkt für die Unterscheidung der Valenzebenen (verschiedene Valenzdarstellungen eines Wortes) war der Versuch der generativen Grammatik,
das Verhältnis von Form und Bedeutung durch die Zuordnung von Ebenen zu
analysieren, begründet durch die unreflektierte Übernahme der Valenzauffassung Tesnières und die Interpretation der Valenz in der Folgezeit nach verschiedenen Gesichtspunkten bezüglich der Valenzebene (formale/ begriffliche
Erscheinung der Ausdrucks-/ Inhaltsebene). Für einige Valenzforscher ist Valenz ein universales logisches Phänomen (Heger), für andere ein syntaktisches
(Erben, Heringer, Helbig/Schenkel) oder ein semantisches Phänomen (Bond-
124
ZGR 2 (42) / 2012
Kognitives und kontextuelles Wissen in der Valenzbeschreibung deutscher und rumänischer Adjektive
zio, Welke, Fillmore). Mit der Entwicklung der Valenztheorie stellte man jedoch fest, dass Valenz ein komplexes Phänomen mit verschiedenen Ebenen ist
(Multimodulkonzept, syntaktische, semantische, kommunikativ-pragmatisch
Valenz), zwischen denen keine 1:1-Beziehung besteht. In den neueren Valenzuntersuchungen werden sogar zwei weitere Ebenen erkannt, die Mikro- und
Makrovalenz, und es wird zwischen Valenzpotenz und Valenzrealisierung unterschieden. In der Valenzforschung hat sich die mehrdimensionale Beschreibung auf verschiedenen Ebenen durchgesetzt, die Valenzbegriffe „Ergänzung“/ „Angabe“, ihre Abgrenzung und Bestimmung als obligatorisch, fakultativ oder frei hinzufügbar bilden jedoch weiterhin einen umstrittenen Diskussionspunkt.
Die Bedeutung, die der Valenz anderer Wortarten gewidmet wurde, machte
zum einen den Vergleich der Verbvalenz mit der Valenz des Adjektivs und
Substantivs, die Feststellung der Ähnlichkeiten und Unterschiede auf den
Valenzebenen und Veranschaulichung der Ergebnisse anhand exemplarischer Beschreibungen in entsprechenden Valenzwörterbüchern, z.B. DAW,
WVevW zum Gegenstand der Valenzuntersuchungen, zum anderen lassen
die bisherigen Untersuchungen und Beschreibungen der Adjektivvalenz eine
Reihe problematischer Aspekte und Schwierigkeiten in der Valenzbeschreibung erkennen, die teilweise von den Valenztheoretikern geklärt wurden,
teilweise noch offene Fragen sind und daher die theoretische Grundlage für
eine kontrastive deutsch-rumänische Adjektivvalenzbeschreibung nicht in
ausreichendem Umfang sichern. So z.B. ist die Erfassung und Darstellung
der kommunikativ-pragmatischen und kognitiven Aspekte der Kommunikation in einer Valenzbeschreibung und lexikographischen Veranschaulichung
eine schwierige Aufgabe der Valenzforschung, zumal die nonverbalen Aspekte der Kommunikation, die semantische Tiefenstruktur und das kontextuelle
Wissen sprechergebunden sind, z.T. auch kultur- und sprachspezifisch.
Kognitives und kontextuelles Wissen in der Valenzbeschreibung
Die Unterscheidung der pragmatischen Valenz(ebene) resultierte aus dem
verstärkten Interesse der Linguistik für die Kommunikation und Pragmatik
Ende der 70er Jahre. Es handelt sich dabei um die freie Wahl des Sprechers,
in einer konkreten Kommunikationssituation Aktanten auf der syntaktischen
Oberfläche zu realisieren oder nicht; die pragmatische Valenz entscheidet
über die Weglassbarkeit (syntaktisch fakultativer) Aktanten in der jeweiligen
ZGR 2 (42) / 2012
125
Emilia Codarcea
Kommunikationssituation (Zusammenhang zwischen pragmatischer und
syntaktischer Valenz, vgl. Ruzicka 1978). Die Beziehung zwischen Valenz und
Kommunikation charakterisiert sich durch zwei weitere Aspekte: Valenz
und Textsorten bzw. Szenen (vgl. Helbig 1985, 1992). 1
Der erste Aspekt ergibt sich aus der Unterscheidung der Textsorten, die an
bestimmte Kommunikationssituationen gebunden sind: je nach Textsorte
(z.B. Dialog, Votrag, Schlagzeile, Diskussion usw.) werden Elemente von Äußerungen nicht realisiert, wobei die Auslassung von Äußerungsgliedern
(auch obligatorische Aktanten) bestimmten textsortenspezifischen Regularitäten folgt (z.B. eine Äußerung gilt in der Standardsprache als ungrammatisch, innerhalb einer Textsorte aber als normal). Da Textsorten nach kommunikativen Faktoren unterschieden werden, sind auch die Bedingungen für
die Eliminierung von Äußerungsgliedern kommunikativ bedingt (pragmatisches Wissen und pragmatische Bedingungen der Weglassbarkeit, z.B. die
Griceschen Konversationsmaximen, vgl. Schwitalla 1985, Simmler 1994,
1995).
Den zweiten Aspekt der Beziehung zwischen Valenz und Kommunikation
sieht Helbig (1992) in Anlehnung an Heringer (1984) und Polenz (1988) als
Ausdruck einer „pragmatischen Umkehr der bisherigen Betrachtungsweise“,
in deren Mittelpunkt nicht mehr die Frage nach der Zahl und Art der Aktanten steht, sondern nach „den vorsprachlichen Wissensvoraussetzungen“, da
man erst durch Reduktionen zum Satz gelangt. Es ist die sog. kognitive Valenz, die teilweise der pragmatischen Valenz zugeordnet wird, u. zw. handelt
sich dabei um die Verbindung der Valenz mit dem Konzept der (situativen
1 Unter Valenz und Kommunikation verstehen Abramow (1988) und Helbig (1992) die auf die semantisch- syntaktische Struktur angewandten pragmatischen Regeln. Für Schubert (1988) ist pragmatische Valenz die Möglichkeit einer Präzisierung der semantischen/ syntaktischen Kombinierbarkeit (Wahrscheinlichkeitsgrad, dass es zu einer bestimmten Aussage auch eine entsprechende Situation gibt). Schwitalla (1988) richtet sich gegen die Annahme einer pragmatischen Valenz und postuliert
eine „allgemeingültige Systembeschreibung eines Verbs“; erst wenn „enge Beziehungen zwischen bestimmten Verben und bestimmten thematisch definierten Texttypen“ vorliegen, lässt er eine pragmatische Ebene der Beschreibung zu. Für Sommerfeldt (1995) ist die Beschreibung von textsortenspezifischen sprachlichen Mitteln nur ein Weg der funktionalen Sprachbeschreibung, den anderen Weg
bilden Versuche, semantisch geordnete und beschriebene sprachliche Elemente zu Handlungstypen
in Beziehung zu setzen (Valenz gilt als Bindeglied). Ausgehend von textbezogenen Geschehenstypen
werden ihre Relationen durch sprachliche Elemente (Verb, Substantiv, Adjektiv) realisiert und aufgrund der Valenz perspektiviert; semantische Satzmodelle sind wesentliche Mittel zur Textsortenrealisierung.
126
ZGR 2 (42) / 2012
Kognitives und kontextuelles Wissen in der Valenzbeschreibung deutscher und rumänischer Adjektive
und kognitiven) Szenen bzw. Skripten : die Bedeutungen werden bestimmten Szenen zugeordnet und mit Hilfe bestimmter Kasus werden bestimmte Elemente eines Sachverhalts „in Perspektive gebracht“ (vgl. Storrer
2003). Mit Szenen als prototypische Handlungen, Ereignisse oder Zustände
werden Rahmen (frames) verbunden, d.h. Leerstellen als Erwartungen in bezug auf Rollenverteilungen. Kasusrollen sind dann die Ergänzungen derjenigen Verben, die diese Szenen sprachlich realisieren können. Die Kasusrahmen setzen zum einen die vollständige Kenntnis der gesamten Aktivität in
der Szene voraus, determinieren zum anderen eine bestimmte Perspektive
unter den „Mitspielern“ der Szene. Die semantische Valenz wird durch pragmatische Interpretation der semantischen Kasus in prototypische, im enzyklopädischen Wissen verankerte Szenen eingebunden; „pragmatische Kasus“
betreffen „die Realisierung der Valenz in Texten und in der Kommunikation,
sie erfassen prototypische Handlungen und Situationen und bringen damit
bestimmte Elemente eines Sachverhalts ‘in Perspektive’“ (Helbig 1992:42,
51). Die semantischen und pragmatischen Kasus unterscheiden sich darin,
dass die ersteren abstrakte Beziehungen in der Struktur sprachlicher Bedeutungen darstellen und somit einzelsprachlich sind, während sich die letzteren auf eine Kommunikationssituation beziehen und somit unabhängig von
einer konkreten Sprache sind. 2
Sprache und Kognition stellen natürliche kognitive Repräsentationsbeziehungen für die Valenz dar, u. zw. eine „Repräsentation von Konzepten im
menschlichen Gedächtnis, Unterscheidung von stationärem und prozeduralem Wissen, Art der Speicherung von Wissen im Gedächtnis, Rolle von Assoziationen oder Gegenüberstellung von logischem vs. heuristischem Funktionieren der Kognition“ (; Heringer 1984, 1985, Gänsel 2006: 437ff.).
WELKE (1988) verbindet die pragmatische Valenz mit dem Begriff „Grundvalenz“, bezogen auf pragmatische und kommunikative Bedingungen (v.a.
Perspektivierung), die Abweichungen von der Grundvalenz verursachen (si2 „Szene“ und „Perspektive“ sind Begriffe der Kasustheorie: Szenen werden „mit Hilfe von Äußerungen geschaffen oder aktiviert“ und je nach der Verbwahl bei der sprachlichen Realisierung unterschiedlich perspektiviert (Fillmore 1977:31). Die Aktanten, die eine Szene realisieren können, sind
Rollen (semantische Kasus), die Verben („Kasusrahmen“) entscheiden über die Rollenverteilung in
der Szene und über die Perspektive der Szene. Danes (1988: 12-21) bezweifelt die Anwendbarkeit der
Verbindung von Valenz und Szenen, für Welke (1988:58) aber gehört sie zum Wesen der pragmatischen Valenz (denotative und signifikative Kasus, d.h. Sachverhalt als solcher und Perspektive, aus
der ein Verb einen Sachverhalt darstellt).
ZGR 2 (42) / 2012
127
Emilia Codarcea
gnifikativer Valenzbegriff). Pragmatische Valenz ist keine weitere Valenzebene, sondern „der eigentliche Ort, aus dem sich Valenz als syntaktisches Phänomen begründet. (...) Die sprachliche Form ist der ausgezeichnete [perspektivierte] Gegenstand, nach dessen funktionaler Begründung gefragt
wird“. (S. 50) Perspektivierte, usuell assertierte Ergänzungen sind stark präsupponiert und gehören zur Grundvalenz, nicht perspektivierte hingegen
schwach präsupponiert (graduelle Abstufungen); die Erweiterung oder Reduktion der Grundvalenz bedeutet eine Erweiterung oder Einschränkung der
Perspektive des Verbs (Rangfolge der Ergänzungen und „unterschiedliche
Stärke, mit der ein Verb seine Komplemente präsupponiert“; Welke 1988:5,
89, vgl. auch Bluhm 1978).3
3 Den Begriff der Grundvalenz übernimmt Welke (1988: 63, 139) von Korhonen (1977) und Tarvainen (1981), und verbindet ihn mit dem funktionalen Ansatz und der Perspektive: “Grundvalenz ist die
übliche lexikalisierte Perspektivierung des Valenzträgers (Verbs) (…) sie repräsentiert das Wissen der
Sprecher/Hörer über das übliche Argumentenpotential (…) und damit über die übliche (usuelle) signifikative Bedeutung der Verben.” Gänsel (1996: 120f.) verwendet in Anlehnung an Welke den Begriff „Grundvalenz“ als Systemvalenz (übliche Zahl der Ergänzungen, semantische und syntaktische
Valenz, in der Semantisches und Syntaktisches als Pragmatisches verankert sei) und Valenz im Text
(die systemimmanente Grundvalenz, orientiert nach einer konzeptuellen Struktur, einer Textsortenspezifik sowie am aktuellen Kontext, lässt Variationen zu und wird u.a. unter Einwirkung von pragmatischen Bedingungen in konkreten Texten verschieden realisiert).
128
ZGR 2 (42) / 2012
Kognitives und kontextuelles Wissen in der Valenzbeschreibung deutscher und rumänischer Adjektive
STORRER (1992) schlägt in Anlehnung an Mudersbach (1988), Jacobs
(1994) und Fillmore (1977) eine Pragmatisierung der Valenzbeschreibung
vor, die „Systemebene“ bildet nicht mehr die ausschließliche Grundlage der
Darstellung, folglich wird nicht mehr zwischen Ergänzungen und Angaben oder
zwischen obligatorischen und fakultativen Ergänzungen unterschieden. Die
praktische Durchsetzung ihres Modells der Situationsvalenz hängt von verschiedenen Voraussetzungen ab, nicht zuletzt davon, ob der Fremdsprachenlerner bereit ist, die bisherige überschaubare und leicht didaktisierbare Betrachtung auf
der Systemebene zugunsten der Einbeziehung des Situativen aufzugeben.
NIKULA (1995) führt den Begriff „Skript “ ein, ausgehend vom Zusammenhang zwischen Valenz und Bedeutung: Der Valenzträger ist durch seine Bedeutung mit dem Skript- und Szenenwissen verbunden, die Unterscheidung
zwischen Bedeutungs- und Sachwissen erfolgt nicht immer leicht und erschwert auch die Abgrenzung der Ergänzungen und Angaben („Bedeutungswissen ist u.a. Sachwissen in einer bestimmten Funktion“). Bei Skripten handelt es sich um „Wissen über prototypische Abfolgen von Ereignissen, Handlungen usw.“ (Sachwissen), sie werden durch den Valenzträger aktiviert.
Durch die Assertion bestimmter Rollen des aktivierten Skripts und durch
Perspektivierung werden die Rollen einer Szene zugeordnet; eine Szene ist
ein „durch einen Valenzträger perspektiviertes Skript“ (vgl. auch Wotjak
1988). Valenzträger mit vielen Merkmalen aktivieren genau spezifizierte
Skripts, solche mit wenigen Merkmalen hingegen abstrakte, allgemeine
Skripts. Ergänzungen bedeutungsärmerer, abstrakterer Bedeutungsvarianten polysemer Valenzträger sind im Vergleich zu denen bedeutungsreicherer
bzw. konkreterer Bedeutungsvarianten eher obligatorisch. 4
Je reicher an analytischen Merkmalen ein Valenzträger ist und je mehr Argumente er besitzt, desto strikter sind seine Verwendungsbedingungen. Eine
4 “Sinnvoll oder kohärent kann ein Text nur in der Interpretation eines bestimmten Textproduzenten
oder Rezipienten sein, weshalb hier auch eindeutig kommunikativ-pragmatische Aspekte aktualisiert
werden (Zusammenspiel zwischen Valenz und Textkohärenz). (...) Die Valenz ist nur in der Verwendung beobachtbar, wobei nicht immer genau genug versucht wird, zwischen System und Verwendung zu unterscheiden; ebenso werden theoretisch und praktisch orientierte Zielsetzungen bei der
Valenzbeschreibung nicht deutlich genug auseinander gehalten, wobei aus diesem Grund scheinbare
Widersprüche entstehen, die möglicherweise vorschnell zur Annahme einer Ebene der pragmatischen Valenz führen können. Eine Beschreibung der Lexeme im Lexikon einer Sprache kann
natürlich nicht gleichgesetzt werden mit der Beschreibung von Wörtern in Wörterbucheinträgen,
weshalb es denkbar sei, dass es bei einer Beschreibung der Valenz als Eigenschaft von Lexemen im
Lexikon sich als berechtigt erweist, die Zahl der Ergänzungen sehr niedrig zu halten; in Wörterbüchern
erweist sich für praktische Zwecke sogar günstiger, sämtliche situationstypische Rollen als Ergänzungen
zu beschreiben.” (Nikula 2006:505f.)
ZGR 2 (42) / 2012
129
Emilia Codarcea
minimalistische Bedeutungshypothese bezüglich der analytischen Merkmale
und der Zahl der Argumente scheint deshalb die adäquateste zu sein. (...) die
kategoriale semantische Valenz besteht vor allem aus varianten prototypischen,
nicht kontextlos inferierbaren Selektionsmerkmalen [...]; vielleicht können auch
semantische Kasus prototypisch-variant sein. (Nikula 1995: 140)
Die Kognitive Psychologie greift auf die Proposition, Valenz und semantische
Rollen, um Gedächtnisprozesse beim Textverstehen und bei der Begriffsbildung zu erklären. Sprache und Kognition stehen in einem Verhältnis der Differenzierung von Wissensarten, der „Repräsentation von Konzepten im
menschlichen Gedächtnis, der Unterscheidung von stationärem und prozeduralem Wissen, Art der Speicherung von Wissen im Gedächtnis, Rolle von
Assoziationen oder Gegenüberstellung von logischem vs. heuristischem
Funktionieren der Kognition“ (natürliche kognitive Repräsentationsbeziehungen für die Valenz, vgl. Heringer 1984, 1985, Gänsel 2006: 437ff.). Im
Falle der kognitiven Valenz wird die Proposition in einer binären hierarchischen Struktur dargestellt: die Knoten innerhalb des Baumes repräsentieren
Ideen, die Pfeile zwischen den Knoten bilden Relationen/ Assoziationen zwischen den Ideen (Kontext-Ereignis, Ort-Zeit, Subjekt-Prädikat, Relation-Objekt, Begriff-Beispielwort- Assoziation, vgl. Gänsel 2006: 441ff.). Semantische Relationen werden nicht nur vom semantischen Kern eines Geschehenstyps determiniert, auch die Besetzung der Relationspartner kann zu einer Variation semantischer Relationen führen. Wird der Geschehenstyp auf
einer mittleren Abstraktionsebene angesetzt, steht die Frage, ob er nicht eher
von Feldinvarianten gebildet wird (Archilexemen, Archisememen, vgl. Wotjak 1989). Der kognitive Vergleich des Geschehenstyps mit einer aktuellen
Situation führt zu einer den Geschehenstyp perspektivierenden vebalen Benennung, die einen entsprechenden Relationsrahmen eröffnet. Die E/A- Differenzierung beruht auf graduellen Assoziationsunterschieden, was aber zugleich die Festlegung exakter, verifizierbarer Kriterien zu ihrer Abgrenzung
äußerst erschwert (vgl. Gänsel 1996, 2006:436ff.).5
LEHMANN (1983, 1992) fasst die Valenz ist „Erscheinungsform von Relationalität“ bei sprachlichen Zeichen (syntagmatische Relationalität) mit au5 Mit dem kognitiven Aspekt der Valenz hängen auch die Geschehenstypen mit einem „semantische
Kern“ zusammen (z.B. Handlungsträger, Aktor, Lokalisation, Instrument, Objekt, Finalität). Die Geschehenstypen sind Formen der Speicherung begrifflicher Zusammenhänge im Gedächtnis, konzeptuelle Verbindungen zwischen Begriffen, die charakteristische Zusammenhänge zwischen Ereignissen widerspiegeln. Der funktionale Ansatz geht von der Form aus und untersucht, wie die sprachlichen Formen einen gedanklichen Inhalt in der Kommunikation übermitteln bzw. im Denken strukturieren; der generativ-semantische Ansatz geht von der Bedeutung als außersprachlich gegebene universelle kognitive Einheit (Bewusstseinsinhalt) aus und untersucht primär die Zuordung von Form
und Bedeutung. (Vgl. Bierwisch 1987: 645-667)
130
ZGR 2 (42) / 2012
Kognitives und kontextuelles Wissen in der Valenzbeschreibung deutscher und rumänischer Adjektive
ßereinzelsprachlicher begrifflicher bzw. kognitiver Basis auf. Das Funktor
(x)-Argument (y)-Verhältnis gilt als Dependenzrelation der complements (E)
und modifiers (A) zum Zeichen, Government (Kasusrektion) liegt zwischen
Verb und Objekt, präpositionalem Komplement, Adposition und Komplement vor, Modifikation (Kasuskongruenz) zwischen Nominal und Determinator, Nominal und adjektivischem Attribut, Verb und Adjunkt. Komplexe
Zeichen sind nur dann aus einfacheren herstellbar, wenn bestimmte einfache
(relationalen) Zeichen bereits relational angelegt sind, also „slots“ oder LS
für die Einfügung von anderen (absoluten) Zeichen enthalten. Valenz befinde sich „zwischen Rektion und Modifikation“ im Falle der modifikativen, für
den nominalen Kopf reservierten Leerstellen von Adjektiven, des Subjekts
bei Sätzen mit Prädikatsnomen, der Maß- und Behälterkonstruktionen, z.B.
ein Pfund Zucker (vgl. Zifonun 2006).6
ENGELKAMP (1991) geht in seiner multidimensionalen Theorie von der
Rolle der Verben für die Gedächtnisleistungen und die unterschiedlichen Gedächtnisrepräsentationen aus (Unterschiede in der mentalen Repräsentation
von Objekten und Handlungen): Substantive beziehen sich auf zeitlich relativ stabile natürliche Wahrnehmungseinheiten, sind relativ sprachunabhängig und interkulturell konstant; Verben sind zeitlich instabil, unscharf, interkulturell verschieden und sprachabhängig; die Wahrnehmungseinheiten, auf
die Verben verweisen, sind ein Produkt kognitiver Prozesse, die von den kulturellen Gewohnheiten einer Sprachgemeinschaft abhängen. Verbkonzepte
bilden komplexe relationale Konzepte, in denen sich ein Kern mit Teilkonzepten, entsprechenden Nominalkonzepten, verbindet. Ihre Struktur wird
als Proposition dargestellt, in der die Handlung durch das Prädikat, die Mitspieler durch die Argumente repräsentiert werden. Je nach „Implikationsstärke“ legen die Verbkonzepte ihre Argumente fest, eine hohe Implikationsstärke bedeutet, dass die Argumentkonzepte mit dem Prädikatskonzept stark
assoziiert sind. Der Zusammenhang zwischen Valenz und Implikationsstärke
besteht darin, dass sich „bei hoch implikativen Verben die Valenz wenig auswirkt, bei niedrig implikativen fällt die Behaltensleistung mit zunehmender
Wertigkeit, hoch implikative Verben aktivieren bereits automatisch ihre Ar6 „Weist das dependenziell übergeordnete Zeichen x eine Leerstelle auf, die durch das abhängige Zeichen y zu füllen ist, so liegt „government“, also Rektion eines Komplementes vor, weist das dependentiell abhängige Zeichen y eine Leerstelle auf, die durch das dependentiell übergeordnete Zeichen x
zu füllen ist, so liegt Modifikation vor. Beide Dependenzrelationen werden-aufgrund der Leerstellenhaltigkeit eines der beiden Zeichen- als Valenz gefasst, wenn auch Lehmann mehrfach auf den engeren Begriff der nur „rektionalen“ Valenz verweist.” (Zifonun 2006: 366) Die Tatsache, dass ein Verb
VT für seine Objekte, aber valenzgebunden von seinen Adjunkten ist, scheint unverträglich mit Lehmanns Annahme der Übergänglichkeit von rektiven/modifikativen Anteilen an der Valenz, “da notwendigerweise die Valenzträgerschaft zwischen x und y wechselt.”
ZGR 2 (42) / 2012
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Emilia Codarcea
gumente (kontrollierte Aktivation). Im Satzkontext nivellieren sich alle Behaltensunterschiede“ (automatischen Enkodierung der Argumente), z.B
niedrig implikative Verben mit steigender Wertigkeit: einschlafen, ausbleiben - einwertig, erproben, beschädigen - zweiwertig, einflößen, verbindendreiwertig; hoch implikative Verben: verjähren, kentern - einwertig, versigeln, ernten - zweiwertig, abstatten, vermachten- dreiwertig (vgl. Engelkamp 1991:441.ff., Gänsel 2006:432).
Laut GÄNSEL (2006) erfassen die Geschehenstypen Wirklichkeitsereignisse
mit ihren prototypischen Merkmalen, die im Gedächtnis verallgemeinert gespeichert sind. Der Unterschied zwischen psychischer und sprachlicher Abstraktion besteht darin, dass nicht alle zu einem Geschehenstyp gehörenden
mental gespeicherten zwischenbegrifflichen Relationen/ Assoziationen auf
der Stufe der sprachlichen Abstraktion im Sprachsystem konventionalisiert
werden. Ihre sprachliche Aktualisierung hängt von der Perspektive ab, aus
der eine Kommunikationsgemeinschaft generell oder der einzelne Sprecher
in einer konkreten Kommunikationssituation das Geschehen betrachtet. Perspektivierungen sind prozedural in Bezug auf einen Geschehenstyp, stationär
konventionalisiert in der Bedeutung der Verben, die zur Aktivierung eines
entsprechenden Satzmodells führt (Prozedurales und Stationäres sind als
konventionell Eingetragenes vereinigt). Differenziert werden Objekt-, Ereignis- und Ereignisfolgebegriffe, innerbegriffliche semantische Relationen
(Unter-Oberbegriffe, Nebenordnung, Synonym, Antonym, Komparativ, sinnleer) und zwischenbegriffliche semantische Relationen. Semantische Relationen höherer Ordnung (z.B. Kausalität, Konditionalität, Wissensbesitz über
die zeitliche Abfolge von Ereignissen) sind von den Ereignisbegriffen zu unterscheiden, deren Struktur als Eintragung im Langzeitgedächtnis angesehen
wird (dynamisches Wirken von Prozeduren und Operationen, z.B. Vergleichen, Selektieren, Inferieren, Projizieren). Der Ereignisbegriff (Geschehenstyp) als Teil des enzyklopädischen Wissens und das semantische Satzmodell
als Teil des sprachlich-semantischen Wissens stehen im Zusammenhang mit
dem Prozess des Perspektivierens, d.h. Wahl und Kombination der sprachlichen Mittel (Gänsel 2006: 433ff.).
Da sich aber diese Aspekte der Valenz schwer beschreiben lassen, gibt es immer mehr Stimmen, die eine Rückkehr zur syntaktischen Valenz postulieren.
Als Vorschlag gilt die Valenzbeschreibung in einem komplexeren Modell mit
verschiedenen Ebenen, die in modularer Weise interagieren (interdependent) und als relative autonome Module bei der Bildung und Interpretation
sprachlicher Äußerungen zusammenwirken.
Deutsche und rumänische Adjektive im Vergleich. Bedeutung und
Valenz in Wörterbüchern – Beispiele:
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ZGR 2 (42) / 2012
Kognitives und kontextuelles Wissen in der Valenzbeschreibung deutscher und rumänischer Adjektive
bekannt 1 Partizip Perfekt; ↑
bekennen [etw., sich zu, als jd./
irgendwie b.] 2 Adj; im Gedächtnis
vieler Menschen vorhanden <ein Lied,
ein Schauspieler; allgemein b. sein> 3
Adj; als j-d/ etw. b. sein den Ruf
haben, etw. zu sein: Er ist als Lügner b;
Der Ort ist als Ferienparadis b. 4 Adj;
für etw. b. sein wegen e-r best.
Eigenschaft geschätzt/ nicht geschätzt
sein: für seinen Fleiß, für seine
Unehrlichkeit b. sein; Sie ist b. dafür,
dass sie sehr geizig ist/ Sie ist b. dafür,
sehr geizig zu sein 5 Adj; (j-m) b.
(etw. ist) so, dass j-d es kennt od. davon
gehört hat <etw. wird b.; etw. als b.
voraussetzen>: Mir ist nichts von e-r
neuen Regelung b. (= Ich habe noch
nichts von e-r neuen Regelung gehört);
Ist Ihnen b., dass Ihr Nachbar
geheiratet hat? (= wissen Sie schon,
dass...); Die Entführung wurde bald b.;
Es darf nicht b. werden, dass... 6 Adj;
(j-m) b. <Personen> so, dass sie j-d seit
längerer Zeit kennt: auf der Party sah
ich lauter bekannte Gesichter (= viele
Leute, die ich kenne) 7 Adj; j-d/ etw.
kommt j-m b. vor e-e Person/ Sache
macht auf j-n den Eindruck, dass er sie
bereits kennt: Der Mann an der Theke
kommt mir b. vor 8 Adj; mit j-m b.
sein/ werden j-n kennen gelernt
haben/ kennen lernen <mit j-m gut, erst
seit kurzem b. sein> 9 Adj; mit etw.
b. sein geschr; über etw. (genau)
informiert sein: mit dem Inhalt e-s
Schreibens b. sein 10 Adj; etw. b.
geben etw. (z.B. durch Presse) der
Öffentlichkeit mitteilen <etw. im
Fernsehen, Rundfunk b.>: Der Minister
gab seinen Rücktritt bekannt 11 Adj;
etw. b. machen etw. der Öffentlichk.
mitteilen ≈ b. geben: Er machte
bekannt, dass, ... 12 Adj; j-n/ sich mit
etw. b. machen j-n/ sich über etw.
informieren 13 Adj; j-n mit j-m b.
machen (als Dritter) j-n j-m vorstellen:
Darf ich Sie mit meiner Frau b.
machen? || zu 2 Bekanntheit die;
nur Sg; zu 10 Bekanntgabe die; nur
Sg (S. 138f.).
ZGR 2 (42) / 2012
bekannt <Adj.; vorw. präd. (mit
sein); ↑auch Bekannte> 1.1.
<Steig.reg.> ‘von der Art, dass
viele, alle es, ihn kennen’: eine~e
Melodie, ein ~er (‘angesehener’)
Künstler; etw. ist allgemein ~;
etw., jmd. ist für etw.~: Das
Hotel ist für seine gute Küche ~
(‘man weiß, dass in diesem Hotel
gutes Essen angeboten wird’);
Sie ist für ihre Hilfsbereitschaft
~; etw., jmd. ist als etw., jmd.~
‘etw., jmd. gilt als etw., jmd.,
steht im Ruf, etw., jmd. zu sein’:
Dieses Haus ist als Treffpunkt
junger Leute~; er ist als
Aufschneider ~ 1.2. <o.Steig.>/
jmd., etw./ jmdm.~ sein ‘jmdn.,
etw. kennen’: Er war noch nicht
allen Mitarbeitern ~ (‘ihn
kannten noch nicht alle
Mitarbeiter’); Davon ist mir
nichts ~ (‘davon weiß ich
nichts’); Ich habe dort viele ~e
Gesichter (‘viele Personen, die
ich schon lange kenne’) gesehen
1.3. <o. Steig.> jmd., etw.
kommt jmdm.~ vor: Diese Frau,
Melodie kommt mir ~ (ANT
fremd (2) vor (‘glaube ich zu
kennen’) 1.4. <nur präd. (mit
sein); o. Steig.>/ jmd./ mit
jmdm., etw. <Dat.> ~ sein
‘jmdn., etw. näher kennen, mit
ihm, damit vertraut sein’: Sie
sind seit langem gut
miteinander ~;Ich bin gut mit
ihr, mit dem Inhalt des Briefes~
1.5. <nur bei Vb.; o. Steig.>/
jmd./ jmdn., sich mit etw. ~
machen ‘sich über etw.
informieren, sich mit etw.
vertraut machen’: Sie hat mich,
ich habe mich mit dieser Theorie
~ gemacht 1.6. <nur bei Vb.; o.
Steig.>/ jmd./ jmdn. mit jmdm. ~
machen: er hat uns mit ihr ~
gemacht (‘hat sie uns vorgestellt’);
vgl. bekannt machen * ↑ kennen
(bekannt geben, S. 126).
I. Part. trec. de la bekennen. II. Adj.
cunoscut, ştiut; allgemein~
notoriu, cunoscut de toţi; Er ist
hier~ a). cunoscut pe aici, îl cunosc
oamenii; b). cunoaşte acest loc
această localitate; ~ machen a
face cunoscut; sich ~ machen
sau ~ werden (mit jm.) a face
cunoştinţă (cu cineva); sich mit
etw. ~ machen a se familiariza
cu ceva; ~ sein (mit) a). a cunoaşte (pe cineva); b). a fi competent (într-o problemă); mehr als
~arhicunoscut; (fam.) ~ wie ein
bunter Hund cunoscut ca un cal
breaz. (Acad., 146); cunoscut, ştiut;
~ sein mit+D a cunoaste pe:
Er ist hier gut~ el este bine cunoscut aici; Würden Sie mich mit
diesem Herrn ~ machen ? Puteţi
să mă prezentaţi acestui domn?
(Savin, 75); cunoscut, allgemein ~
notoriu; mit j-m ~ werden a face
cunoştinţă cuiva; sich mit etw.~
machen a se familiariza cu ceva
(Isbăşescu, 50) bekannt
vorkommen: a părea cunoscut:
Jmd/ etw. kommt mir bekannt
vor- cineva/ ceva mi se pare
cunoscut; bekannt geben: a
publica, a declara, a face cunoscut,
a aduce la cunoştinţa publică
(Acad., 146); a face cunoscut
(Savin, 75); bekannt machen: 1.
a publica, a face cunoscut, a
anunţa. 2. a divulga; ein Geheimnis ~ a dezvălui un secret. 3. a
prezenta (o persoană alteia), a face
cunoştinţă (Acad., 146), 1. a face
cunoscut, a aduce la cunoştinţa
(publică) 2. a face cunoştinţă cu;
Maria macht ihren Vater mit
ihrem Freund bekannt Maria îi
face cunoştinţă tatălui cu prietenul
ei. (Savin, 75); jn/ sich mit etw.
bekannt machen: a (se)
familiariza cu ceva; jn. mit jm.
bekannt machen: a face
cunoştinţă cuiva cu cineva;
bekannt werden: a deveni
cunoscut; (d. zvonuri) a se răspândi
(Acad., 146).
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Emilia Codarcea
Beispiele aus dem Internet bzw. aus der Chatsprache:
- bekannt worden oder bekannt geworden
(http://forum.wordreference.com/showthread.php?t=1402582)
'n Abend. X ist immer mehr bekannt worden oder bekannt geworden?
- Re: bekannt worden oder bekannt geworden
Vielleicht: X ist immer bekannter geworden oder X wurde immer bekannter.
- Er ist immer bekannter geworden.
"Xerxes wurde immer bekannter; er ist immer bekannter geworden."
(http://konjugator.reverso.net/konjug...rb-werden.html).
- Es hängt vom Kontext ab. Im vorhandenen Kontext muss es heißen: "Xerxes wurde immer
bekannter; er ist immer bekannter geworden." (He became more and more famous.) In
anderem Kontext gilt aber die andere Form: Die Sünde ist bekannt worden. Die Sünden sind
bekannt worden. (The sins have been confessed.)
- Gelobt worden ist er nie.
Steht 'werden' als Hauptverb, so heisst das Partizip II 'geworden'.
"Er ist Soldat geworden." (sein = Hilfsverb, werden = Hauptverb)
Steht 'werden' als Hilfsverb 2, so verwendet man beim Partizip II des Hauptverbs das 'ge-',
und beim Hilfsverb 2 'werden' fällt das 'ge-' weg.
"Du bist gelobt worden." (sein = Hilfsverb 1, loben = Hauptverb, werden = Hilfsverb 2).
Demnach ist Xerxes tatsächlich bekannt geworden; aber gelobt worden ist er nie.
(http://www.textlog.de/38347.html)
CUNOSCÚT adj. 1. ştiut. (Lucruri ~.) 2. v. consacrat. 3. curent, frecvent, obişnuit,
răspândit, uzual. (O expresie ~.) 4. familiar, ştiut. (Locuri ~.) 5. v. anumit.
(http://www.webdex.ro/online/dictionar/cunoscut)
Vorschlag einer lexikographischen Valenzbeschreibung
Cunoscut: „1. care se cunoaşte, care este ştiut; care a mai fost văzut, care poate fi uşor recunoscut,
2. (d. oameni) care a legat cunoştinţă cu cineva, pe care cineva îl cunoaşte; care se bucură de o
anumită reputaţie, renumit“ (DEX, 250), ştiut: „1. care este bine cunoscut; p.ext. vestit, renumit.2.
care ştie multe; învăţat“ (DEX, 1062), renumit: „cu renume; celebru, vestit, faimos, strălucit,
ilustru“ (DEX, 915), competent (ungebr.): „1. care este bine informat într-un anumit domeniu;
care este capabil, care este în măsură să judece un an. lucru (DEX, 203).
V1 bekannt (von vielen gekannt, allgemein bekannt): cunoscut, ştiut, notoriu
I. (1): I. (Edat/ Eprp (in, aus)/ Esit (in, bei, über-hinaus/ Adj/ Adv)/ Egr/ Evg/ Enrm)- (C.ind (dat)/
C. ind. prep (în, din)/C.c.loc/ mod/ comparativ/ consecutiv), II. Hum (Mensch, Kollektiv, Inst), Abstr
(Bereich, Quelle, Ort, Eigenschaft, Norm)/ Erkenntnis-träger, Benefaktiv, GeltB, Lokativ, Grad,
VergleichsG, III. prädikativ, attributiv:
(Den Griechen) ist die gesundheitfördernde Wirkung des Olivenöls seit langem bekannt.Efectul benefic al uleiului de măsline este de mult cunoscut (grecilor/de către greci); Diese
Erkenntnisse sind (in der Medizin)/ (aus umfangreichen Untersuchungen)/ (bei uns)
(ausreichend)/ (weniger) bekannt (als in der Psychologie).- Aceste lucruri sunt (mai puţin)/
(suficient de) cunoscute, ştiute (în medicină)/ (din numeroase cercetări)/ (la noi)/ (decât în
psihologie); eine (international)/ (in Deutschland)/ (weit über Bukarest hinaus)/ (hier)
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ZGR 2 (42) / 2012
Kognitives und kontextuelles Wissen in der Valenzbeschreibung deutscher und rumänischer Adjektive
bekannte Melodie - o melodie (internaţional) cunoscută, notorie (în Germania)/ (dincolo de
graniţele Bucureştiului)/ (aici); Der Künstler ist (zu) bekannt, (als dass er noch vorgestellt
werden muss).- Artistul este arhicunoscut/ (atât de) cunoscut (încât nu mai are nevoie de
prezentare).
V2 bekannt (für, als etw.): renumit, cunoscut
I. 1+(1): Eprp (pS für)/ Eadj (als)/ Enom (als, unter)+ (Edat/ Esit/ Egrp/ Evgp/ Enrm)- C.
ind. prep (pentru+ac)/ c.c.cauză (datorită+D)/ e.p.s. la adj. (drept, ca) + (c.ind. (dat)/ c.c.loc/
c.c.mod/ comparativ/ consecutiv), II. Hum, Abstr (Act, Intell, Eigenschaft, Beruf/ Kausativ,
Gleichsetzungsgröße+ Hum, Abstr (Ort, Eigenschaft)/ Erkenntnisträger, Lokativ Grad,
Vergleichsgröße, Maß, III. prädikativ, attributiv:
Er ist für seine Karrikaturen/ als Künstler/ unter diesem Namen (dem Publikum) (äußerst)/
(international)/ (auch im Ausland) bekannt.- El este (foarte)/(internaţional)/ (şi în
străinătate) cunoscut, renumit pentru caricaturile sale/ datorită caricaturilor sale/ ca
artist/ sub acest nume; Er ist als pflichtsbewusst, tüchtig bekannt/ (derart bekannt, dass
sich viele auf ihn verlassen).- El este cunoscut, renumit ca responsabil, harnic/ (atât
de...încât mulţi se bazează pe el); Er ist als Maler (zu) bekannt, (als dass man seinen Namen
übersehen kann)/ (so bekannt wie kein zweiter).- El este (prea) cunoscut, renumit ca pictor
(ca să poată fi trecut cu vederea)/ (ca nimeni altul).
V3 bekannt (jn/etw. kennen, von jm./etw. hören, wissen): cunoscut, ştiut, a (se)
cunoaşte, a (se) şti
I. 1+(1): Edat/ NS(dass)/Eprp (von, über, bei)+(Eprp (von, aus)/Egrp/Evgp)- C.ind. (dat)/C.
ind. prep. (despre)/ C.de agent (de către) + (C. ind. prep. (despre, din)/ C.c. mod/ comp.), II:
Konkr (Hum, Inst)/ Erkenntnisträger, Konkr (Hum, Inst), Abstr (Ereignis, Quelle,
Eigenschaft)/ Erkenntnisträger (bei), Erkenntnisgegenstand, Source, Grad, VerglG, III.
prädikativ, attributiv:
Die Nachricht ist mir (aus den Medien) bekannt.- Ştirea mi-e cunoscută (din massmedia);
(Von diesem Angebot) ist mir nichts bekannt.- (Despre această ofertă) nu-mi este nimic
cunoscut/ nu ştiu nimic; Der Fall ist mir (weniger) bekannt/(genauso) bekannt (wie den
anderen).- Cazul îmi este (mai puţin) cunoscut/ (la fel de cunoscut ca şi celorlalţi); (Über den
Holocaust)/ (Von seiner Biographie) ist alles bekannt.-(Despre Holocaust)/ (despre biografia sa) se ştie/ se cunoaşte totul/ Biografia sa este cunoscută, notorie.
Anm: Grund, Ursache: Er ist der Polizei/ polizeilich wegen Drogenkonsum bekannt.-El este
cunoscut poliţiştilor/la poliţie datorită consumului de droguri; 3. jmdm. bekannt werden- a
afla: Das wurde mir durch eine Rezension bekannt.- Am aflat acest lucru dintr-o recenzie; (a
cunoaşte, a şti)
V4 bekannt (mit jm./etw. sein, werden): a face cunoştinţă cu cineva, a cunoaşte
pe cineva/ ceva, a se familiariza cu ceva, a fi competent în ceva. Ich bin mit dem
Schriftsteller/mit seinen Werken gut bekannt. – Eu sunt familiarizat cu operele sale/ Îl cunosc
bine pe scriitor; der mit uns/ mit unseren Werken bekannte Mann- bărbatul care ne
cunoaşte/ familiarizat cu operele noastre (cu+Ac).
V5 bekannt (Part. Perfekt von bekennen): a mărturisi, a recunoaşte, a (se) declara: Der
Angeklagte hatte sich (für, als) schuldig/zu diesem Verbrechen bekannt- Inculpatul şi-a recunoscut
vinovăţia/fapta, s-a declarat vinovat.
ZGR 2 (42) / 2012
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Emilia Codarcea
BEWUSST Adj; 1 nur attr od
adv; so, dass man dabei die
Konsequenzen voraussieht u. mit
ihnen rechnet ≈ absichtlich <e-e
Tat, e-e Handlung; etw. b. tun>:
e-e b. falsche Anschuldigung 2 in
e-m Zustand, in dem man alles
klar versteht: Er war zu jung, um
den Krieg b. zu erleben 3 j-d ist
sich (Dat) etw. (Gen) b.; j-m ist
etw. b. etw. ist j-m klar <sich
seiner/ keiner Schuld b. sein>:
Ein Chirurg sollte sich seiner
großen Verantwortung b. sein;
Ich bin mir völlig (dessen) b., dass
dies ein Fehler war 4 j-d wird
sich (Dat) etw. (Gen) b.; j-m
wird etw. b., j-d erkennt etw. klar,
das er vorher nicht gewusst hatte:
Er wurde sich seines egoistischen
Verhaltens zu spät b.; Mir wurde
b., wie schädlich das Rauchen ist
5 nur attr, nicht adv; von etw. fest
überzeugt u. mit dem Wissen,
welche Konsequenzen es hat: ein
bewusster Atheist/ Katholik/
Anhänger des Marxismus 6 nur
attr, nicht adv; verwendet, um
sich auf e-e Person/ Sache zu
beziehen, die schon bekannt ist
od. bereits erwähnt wurde ≈
besagt: An jenem bewussten Tag
geschah dann der Unfall; bewusst im Adj, begrenzt
produktiv; drückt aus, dass das
im ersten Wortteil Genannte als
sehr wichtig anerkannt wird;
gesundheitsbewusst, modebewusst, naturbewusst,
umweltbewusst <denken,
handeln, leben>
bewusst machen (jmdm. etw.
b. machen): jm. etw. klarmachen:
jm. b. machen, dass er durch
seine Faulheit sich selbst schadet
(S. 164).
136
bewusst <Adj.; o. Steig.> 1.1. <nur
präd. (mit sein)>/jmd./sich <Dat.>
etw. <Gen.> ~ sein ‘etw., was einen
selbst betrifft, was man als Eigenschaft
hat od. was man bedenken sollte, klar
erkannt haben und sich danach
richten’: sich einer Sache, seines
Verhaltens, seiner Verantwortung,
Fehler ~ sein; sich keiner Schuld ~
sein (‘sich unschuldig fühlen, wissen’);
ich bin mir dessen~, dass das
geändert werden muss; ich bin mir
dessen, dieser Vorgänge nicht mehr~
(‘ich kann mich nicht mehr daran
erinnern’); etw. ist jmdm.~ <+NS>:
ihm war ~ (‘ihm war klar, er wusste’),
welche Folgen seine Tat haben
könnte, würde 1.2. <nur präd. (mit
werden)> jmd./ sich <Dat.> etw.
<Gen.>~ werden ‘Klarheit darüber
gewinnen, was einen selbst betrifft,
was man als Eigenschaft hat od. was
man bedenken sollte, damit man sich
danach richten kann’: er wurde sich
allmählich, schließlich seiner Schuld,
Verantwortung~ 1.3. <nur bei Vb.>
sich <Dat.>, jmdm. etw. ~ machen
‘bewirken, dass einem, jmdm. etw.
bewusst (1.2) wird’: er machte sich ~,
wie schädlich das Rauchen ist; jmdm.
seine Lage ~ machen 2. <nur bei
Vb.> ‘im Zustand klarer Erkenntnis,
mit Bewusstsein (2)’: Ich war noch zu
müde, um die Vorgänge ~
aufzunehmen, zu erkennen, zu
durchdenken; Sie hat den Krieg noch
~ erlebt 3. <nicht präd.> ‘in vollem
Wissen, mit voller Absicht handelnd,
vogehend’; SYN absichtlich,
vorsätzlich, wissentlich: Er hat uns ~
belogen; eine ~e Irreführung,
Kränkung, Verdrehung der
Tatsachen; Das habe ich wirklich
nicht ~ getan 4. <nur attr.>/ bez. das
Genannte nicht näher, drückt aber aus,
dass Sprecher u. Hörer darüber
informiert sind/: Sie trafen sich an dem
~en Tag, Ort; In dem ~en Brief schrieb
sie, dass...; Das ist die ~e Person, von
der wir gesprochen haben! * ↑
wissen; -bewusst ‘sich des im ersten
Bestandteil Genannten bewusst seiend’:
verantwortungs~ (S. 160).
I. Adj. 1. conştient;
intenţionat; sich seiner
Fähigkeiten ~ sein a fi
conştient de posibilităţile sale;
ich bin mir meiner Schuld ~
sunt conştient de vina mea; ich
bin mir keines Fehlers ~nu-mi
dau seama să fi făcut vreo
greşeală; es ist jedem ~ este
cunoscut tuturor; soweit es
mir ~ ist în măsura în care îmi
este cunoscut; es ist mir wohl
~ îmi dau bine seama, sunt pe
deplin conştient; es ist mir
nicht mehr ~ nu mai ştiu...;
mit ~er Verantwortung
conştient de răspundere; ~
oder unbewusst, das kommt
auf eins conştient sau nu,
totuna e; ~ e Haltung atitudine
conştientă; ~e Lüge minciuna
intenţionată. 2. cunoscut,
ştiut; anumit; ein ~er
Mensch un anumit om; das ~
Buch cartea ştiută; die ~e
Sache chestiunea cunoscută;
an dem ~en Tag în ziua ştiută,
stabilită. II. Adv. (în mod)
conştient, intenţionat.
(Acad., 169); adj. (+D +G)
conştient (de): ich bin mir
dessen ~, dass ich mehr
arbeiten muss sunt conştient
de faptul că trebuie să lucrez
mai mult; ich bin mir keines
Fehlers ~ nu-mi dau seama să
fi făcut vreo greşeală (Savin,
84); 1. conştient; intenţionat
sich (=dat.) ~ sein a fi
conştient; es ist mir (wohl) ~
îmi dau (bine) seama. 2.
cunoscut, anumit; ştiut ein ~er
Herr un anumit domn.
(Isbăşescu, 57).
bewusst machen: a face (pe
cineva) să-şi dea seama, să
devină conştient (de ceva)
(Acad., 169).
ZGR 2 (42) / 2012
Kognitives und kontextuelles Wissen in der Valenzbeschreibung deutscher und rumänischer Adjektive
BEWUSST (1) (WVDA, S. 88)
V1= „um etwas wissend“
1.1. → 2
1.2. →B, Sg
1.3. →attr (der sich seiner Aufgabe bewusste
Kämpfer)
präd (Der Kämpfer ist sich seiner Aufgabe
bewusst.)
2.B→Hum (ein..bewusster Student/ Neuerer/
Staatsmann)
Sg→Abstr (bewusst seiner Kraft/ Verantwortung)
Hierzu auch: „Ihm ist bewusst, dass die Antwort
falsch war.“- „Ihm wird bewusst, was er versäumt
hat.“
V2= „wissentlich“
1.1. →1 1.2. →B
1.3. →attr (die bewusste Lüge); adv (Er log bewusst.)
2.B→Abstr/Geschehen (bewusst kränken/
verdrehen, eine bewusste Entstellung)
V3= „überzeugt“, „sich einsetzend für seine
Klasse“
1.1. →1
1.2. →B
1.3.→attr (der bewusste Arbeiter); adv (Er handelt
bewusst.)
2.B→1. Hum (ein bewusster Antifaschist/
Funktionär)
2.Abstr/ Geschehen (b. handeln/ auftreten, ein b.
Eintreten)
BEWUSST (2) 1.1. →1
1.2. →B
1.3. →attr (der bewusste Film)
2.B→1. +Anim (der bewusste Schriftsteller/
Vorkämpfer, das bewusste Tier); 2. –Anim (das
bewusste Buch); 3. Abstr (die bewusste Rede, das
bewusste Problem)
Anm.: In jedem Fall muss der bestimmte Artikel
stehen.
BEWUSST1 (nicht komparierbar)
(Erkenntniseinstellungen, DAW, S. 100)
Der Beamte (a) ist sich (a) seiner Verantwortung
(b) bewusst.
1. „Bewusstheit“, „auf einen Gegenstand od.
Sachverhalt bezogen“
2. a- Erkenntnisträger/ Mensch (Kollektiv,
Institution)/ Sn+ Reflexivum (Sd)
b- Erkenntnisgegenstand/ Abstr/Sg, NS
(dass, w)
3. präd.: Das Mädchen/ die Gruppe/ das Team
ist sich bewusst, welche Folgen ihre/ seine Tat
haben kann.-Der Mann war sich der drohenden
Gefahr/ seines Irrtums/ seiner Schuld bewusst.
Er war sich bewusst, dass er einen Fehler
gemacht hatte/ was er falsch gemacht hatte.
attrib.: der sich seiner Verantwortung
bewusste Meister
BEWUSST2 (nicht komparierbar, nur
prädikativ)
Dem Bewerber (a) war/ wurde bewusst,
welches Risiko er einging (b).
1. „Bewusstheit oder Bewusstwerden“, „eines
Sachverhalts“
2. a- Erkenntnisträger/ Mensch/ Sd
b-Erkenntnisgegenstand/Vorgang, Zustand/NS
(dass, ob, w)
3. prädikativ: Dem Lehrer war/ wurde
bewusst, dass die Schüler großes Vertrauen
in ihn setzten/ was der Direktor von ihm
erwartete. Der jungen Frau wurde bewusst,
dass sie sich in ihren Trainer verliebt hatte.
Dem Kind war nicht bewusst, ob es auf dem
richtigen Wege war/ wie lange es schon
wartete.
attributiv: nicht möglich
Vorschlag einer lexikographischen Valenzbeschreibung:
BEWUSST: Conştient: „1. (d. oameni) care îşi dă seama de realitatea înconjuratoare, care are conştiinţă. 2. care îşi dă seama de posibilităţile sale, de rolul
care-i revine în societate; care realizează scopuri dinainte stabilite; care acţionează pe baza cunoaşterii legilor obiective ale vieţii sociale şi îşi dă seama de
consecinţele sociale ale acţiunilor sale“ (DEX, 216), convins: „care a dobândit o
convingere, care are convingerea că...; încredinţat; ferm, hotărât“ (DEX, 223),
cunoscut: adj. (adesea substantivat) „1. care se cunoaşte, care este ştiut; care a
mai fost văzut, care poate fi uşor recunoscut. 2. (d. oameni) care a legat cuZGR 2 (42) / 2012
137
Emilia Codarcea
noştinţă cu cineva, pe care cineva îl cunoaşte; care se bucură de o anumită reputaţie; renumit“ (DEX, 250), ştiut: „care este bine cunoscut; p. ext. vestit, renumit.
2. care ştie multe; învăţat“ (DEX, 1062), anumit: „1. care a fost hotărât, precizat.
O anumită zi. O anumită casă; deosebit, special, aparte. Se uită într-un anumit
fel. 2. unul, oarecare. Anumiţi oameni“ (DEX, 50).
V1 sich/ D etw. (G) bewusst sein/ werden: a fi/ deveni conştient
de, a şti, a-şi da seama
I. 1+(1): Egen/ Eprp (pS über)+ (Egrp/ Evgp)- C. ind. prep. (de+ac)/ prop.sec. +(c.c.mod/ comparativ/ consecutiv), II. Abstr (Act, Sent, Intell)/ ErkG,
Poss, Obj. +Hum, Abstr (Eigenschaft)/ Grad, VerglG, III. prädikativ, attributiv: Ich bin mir meiner Mängel/ über meine Chancen (durchaus) bewusst/
(genauso bewusst wie ihr).- Sunt pe deplin conştient de lacunele/ şansele
mele/ la fel de conştient ca şi voi; Wir sind uns dessen/ darüber (ausreichend) bewusst, dass wir mehr arbeiten müssen/ wie viel wir noch arbeiten
müssen.- Suntem (suficient de) conştienţi că trebuie să lucrăm mai mult/ cât
de mult mai trebuie să lucrăm; der sich seiner Tat (weniger) bewusste Verbrecher- infractorul (mai puţin) conştient de fapta sa.
V2 jm. (D) bewusst sein/ werden: a-i fi cunoscut, a-şi da seama, a
fi conştient
I. 1+(1): Edat+(Egrp/ Evgp)- C. ind. (dat)/ C. ind. prep. (de)+ C.c.mod/ comparativ/ consecutiv, II. Hum/ Erkenntnisträger (log. Subjekt) +Hum, Abstr
(Eigenschaft)/ Grad, Vergleichsgröße, III. prädikativ:
Mir war/ wurde die Gefahr bewusst.- Eram conştient de pericol/ Pericolul
îmi era cunoscut/ Mi-am dat seama de pericol; Es war/wurde ihm (ziemlich)
bewusst/ (genauso) bewusst (wie uns), dass er die Probleme nicht allein bewältigen kann.- Era (destul de) conştient/ (la fel de) conştient (ca şi noi) ca
nu poate să facă faţă singur problemelor (Îi era cunoscut faptul că .../ Şi-a
dat seama că...).
Anm: 1. grammatisches Subjekt: Sn/ NS (dass, w-, ob)/ Abstr/ Erkenntnisgegenstand.
V3 bewusst (wissentlich, absichtlich): intenţionat, conştient: I. 0, II.
Beziehungswort: Hum, Abstr/ Possessiv, III. attributiv, adverbial: die bewusste Lüge/ Kränkung- o minciună/ ofensă intenţionată; Er schätzt die Gefahr bewusst ein. - El apreciază conştient pericolul; Er log bewusst. - El a
minţit intenţionat.
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ZGR 2 (42) / 2012
Kognitives und kontextuelles Wissen in der Valenzbeschreibung deutscher und rumänischer Adjektive
Anm: Hierzu u.U. auch conştiincios („(d. oameni) care îşi face datoria; serios,
corect, scrupulos; (d. acţiuni ale oamenilor) executat cu seriozitate, cu conştiinciozitate, făcut cu scrupulozitate“, DEX, 217): Ein bewusster Arbeiter arbeitet
immer bewusst. -Un muncitor conştiincios lucrează mereu responsabil, conştiincios.
V4 bewusst (überzeugt): convins: I. 0, II. Beziehungswort: Hum, Abstr
(Intell)/ Possessiv, III. attributiv: ein bewusster Katholik- un catolic convins.
V5 bewusst (nämlich, betreffend): ştiut, cunoscut, anumit
I. 0, II. Beziehungswort: Konkr (Hum,Obj ), Abstr (Zeit, Ort u.a.)/Possessiv,
III. attributiv: Wir trafen uns an dem bewussten Tag mit dem bewussten
Schrifsteller.- Ne-am întâlnit în ziua ştiută (stabilită) cu scriitorul cunoscut/
ştiut (ungebr., eher: într-o anumită zi cu un anumit scriitor).
Anm: 1. Fakultativ auch mit Eprp (de): ziua ştiută, cunoscută de noi; 2.
„(sich) bewusst machen“: „a face (pe cineva) să-şi dea seama, să devină conştient (de ceva)“ (Acad, 169): Er machte sich/ uns bewusst, wie schädlich das
Rauchen ist.- El a devenit conştient de/ ne-a făcut să ne dăm seama, cât de
dăunător e fumatul.
Beispiele aus dem Internet bzw. aus der Chatsprache:
bewusst (comparative bewusster, superlative am bewusstesten): conscious,
intentional
(Retrieved from "http://en.wiktionary.org/wiki/bewusst")
- lebe bewusst, Bier bewusst genießen, bewusst sein (Spiritualität und Ganzheitliches Leben), bewusst kärnten (Energie Website), bewusst trauern für
Dummies (Greg Harvey, PhD, Hartmut Strahl)
conştient - CONŞTIÉNT, -Ă, conştienţi, -te, adj. 1. (Despre oameni) Care îşi
dă seama de realitatea înconjurătoare, care are conştiinţă. 2. Care îşi dă seama de posibilităţile sale, de rolul care-i revine în societate; ♦ Care realizează
scopuri dinainte stabilite; care acţionează pe baza cunoaşterii legilor
obiective ale vieţii sociale şi îşi dă seama de consecinţele sociale ale
acţiunilor sale. [Pr.: -şti-ent] – Din fr. conscient (după şti). (http://www.dexonline-ro.ro/search.php?cuv=constient)
intenţionat - INTENŢIONÁT, -Ă, intenţionaţi, -te, adj. Cu intenţie, cu un
ZGR 2 (42) / 2012
139
Emilia Codarcea
anumit gând; anume plănuit, voit, deliberat. ♢ Expr. Bine (sau rău) intenţionat = (despre oameni) cu intenţii bune (sau rele), urmărind scopuri bune
(sau rele). [Pr.: -ţi-o-] – V. intenţiona. Cf. fr. intentionné. INTENŢIONÁT, -Ă
adj. cu atenţie, voit, anume plănuit. o bine (sau rău) ~ = cu intenţii bune (sau
rele). (< intenţiona) Intenţionat ≠ involuntar, neintenţionat INTENŢIONÁT
adj., adv. 1. adj., adv. deliberat, voit, liber-consimţit, (rar) precugetat. (O
acţiune ~; a procedat ~astfel.) 2. adv. v. anume. (http://www.dex-onlinero.ro/search.php?cuv=intentionat)
Schlussbemerkungen
Ziel der Arbeit war eine Problematisierung der Schwierigkeiten, die eine umfassende Valenzbeschreibung im Hinblick auf die kommunikativ-pragmatischen und kognitiv-kontextuellen Aspekte stellt, begründet durch die
(fremd)sprachendidaktische Benutzerorientierung und kontrastive lexikographische Darstellung. Sprache, Kognition und Valenz stehen in wechselseitiger Beziehung zueinander, die Erklärung und Beschreibung bzw. der Vergleich der Struktur einer oder mehrerer Sprachen setzt die Berücksichtigung
sowohl der grammatischen als auch der kognitiven Informationen, des Sachwissens und Bedeutungswissens, der Text- und Kontextebene voraus. In diesem Sinne sind die Untersuchungen der Grundvalenz und der Präsuppositionen bzw. Perspektivierungen und Assoziationen auf kommunikativ-pragmatischer und kognitiver Ebene grundlegend für die Darstellung der sprachlichen Beziehungen auf Satz- und Textebene. Die Erkenntnisse der neueren
Valenzforschung führten somit zur Durchsetzung einer multidimensionalen
Valenzbeschreibung in komplexen Modellen, die auf verschiedenen Ebenen
eine graduelle Valenzbindung mit unterschiedlicher Implikationsstärke illustrieren und folglich den Verzicht auf die dichotomische, streng grammatische Festlegung der Valenz (Ergänzungen und Angaben) rechtfertigen.
Unter dem Gesichtspunkt der Adjektivvalenz kann festgestellt werden, dass
viele deverbale Adjektive, ähnliche oder gemeinsame Valenz mit dem Grundverb aufweisen, sowohl syntaktisch als auch semantisch und kommunikativpragmatisch. Feindifferenzierungen sind aber kontext- und sprechergebunden, umso mehr im Falle der Polysemie oder Homonymie im elliptischen
Gebrauch. Die Erfassung dieser Unterschiede erfolgt jedoch schwer, da Kognition und Kontext nicht in ein Regelapparat erfasst werden können, darüber hinaus, nicht vom Prinzip der Universalität als übereinzelsprachlich
140
ZGR 2 (42) / 2012
Kognitives und kontextuelles Wissen in der Valenzbeschreibung deutscher und rumänischer Adjektive
gültig ausgehend beschrieben werden können. Die kontrastive Darstellung
der Valenz deutscher und rumänischer Adjektive bedarf also einer empirischen korpusgestützten Fundierung und einer gemeinsamen theoretischen
Beschreibungssprache.
Es bleibt eine Aufgabe der Linguistik und Valenzforschung, die kognitiven
und pragmatischen Valenzinformationen, hier des Adjektivs, näher zu untersuchen, empirisch zu überprüfen und die Ergebnisse theoretisch, wie auch
lexikographisch in Wörterbüchern zu veranschaulichen und zusammenzufassen. Besonders im Hinblick auf eine ausführliche multidimensionale kontrastive Valenzbeschreibung, die Anwendung im Sprachunterricht und Lexikographie finden soll und der richtigen Sprachaneignung und -verwendung
dient, ist das Abdecken der noch als offenen Fragen gebliebenen Aspekte und
Schwierigkeiten erstrebenswert und notwendig zugleich.
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Kognitives und kontextuelles Wissen in der Valenzbeschreibung deutscher und rumänischer Adjektive
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Abstract
The recent researches in the valency theory underline the importance of complex
descriptions, including the influence of the communicative-pragmatic component
and the analysis on all valency levels. This aspect reflects the dynamic evolution of
the language and its use, but also the difficulty it implies regarding a set of rules for
the systematic description of the valency on a syntactic, semantic and pragmatic level. The present paper focuses on the cognitive and communicative-pragmatic
aspects when describing the valency of adjectives (also contrastive german-romanian), i.e. the minimal sentence and semantic structure, the art of the activated
cognitive and contextual knowledge, the necessary extent of context for an empirical,
valid and exhaustive valency description. The purpose is an efficient didactic and
practical use of the valency theory and representation in grammars, dictionaries and
manuals, for all user types (from beginners to advanced german learners and researchers).
Schlüsselwörter: Valenztheorie, Kommunikation, Kognition, kommunikativ-pragmatische Ebene, Assoziationen, Adjektive
ZGR 2 (42) / 2012
143
DIE EUROPÄISCHEN SCHLÜSSELKOMPETENZEN
im Berufsbild des professionellen Translators
Mihai Draganovici
Einleitung
Im Laufe der Geschichte hat sich das Arbeitsfeld der Übersetzer radikal geändert: während die übersetzerische Tätigkeit in den frühen Epochen fast
gänzlich mit der literarischen Übersetzung gleich gestellt wurde, ist sie im
letzten Jahrhundert wesentlich im Umfang gewachsen. Die professionellen
Übersetzer werden mit immer komplexeren Aufgaben konfrontiert, was die
Arbeitsbedingungen, aber auch was die Thematik ihrer Arbeit anbelangt. Dadurch sind auch die Anforderungen an den Übersetzer und an seine Fachlichen und fachlich übergreifenden Kompetenzen gestiegen. Ein Translator
muss somit nicht nur der Ausgangs- und Zielsprache mächtig sein, wie das
früher verlangt wurde, sondern muss hauptsächlich in den beiden kulturellen Milieus der zwei Sprachen gut bewandert sein und dazu auch noch über
andere spezialisierte und außerfachliche Fähigkeiten verfügen, wie zum Beispiel das Arbeiten unter Zeitdruck, die Fähigkeit zur Recherche mit verschiedenen Mitteln, inklusive im Internet, also auch Computerkompetenzen,
Kommunikationsfähigkeit und nicht zuletzt, die Fachkenntnisse über die er
verfügen muss, wenn Fachtexte aus verschiedenen Bereichen vor ihm liegen.
Die Schlüsselkompetenzen stellen ebenfalls eine fachübergreifende Kombination aus Wissen, Fähigkeiten und Einstellungen dar, die an das jeweilige
Umfeld angepasst sind. Sie spielen eine wichtige Rolle im professionellen Leben und garantieren eine große Flexibilität und eine gute Wettbewerbsfähigkeit. Sie haben in der letzten Zeit eine immer wichtigere Stelle in der allgemeinen und fachlichen Ausbildung eingenommen und immer mehrere
Hochschulanstalten binden die Schlüsselkompetenzen in ihrem Lehrangebot
ein.
In der vorliegenden Arbeit nehme ich mir vor, einen Blick auf die Schlüsselkompetenzen und ihren Stellenwert in der europäischen Bildungspolitik und
im professionellen Leben zu werfen. Ebenfalls habe ich vor, die Kompetenzen eines professionellen Translators, ihre Entwicklung und Erweiterung in
der heutigen Welt zu untersuchen und die Notwendigkeit einer Aneignung
der Schlüsselkompetenzen in diesem komplexen Beruf zu unterstreichen.
Dabei werde ich mich auf die translatorischen Kompetenzen, die von den
Fachleuten in Betracht gezogen wurden, beziehen.
Die europäischen Schlüsselkompetenzen im Berufsbild des professionellen Translators
Schlüsselkompetenzen als Voraussetzung für den Erfolg im
professionellen Leben heute
In der heutigen Welt müssen die Menschen sich immer komplexeren Anforderungen stellen und sie dabei auch entsprechend bewältigen. Dafür benötigen sie eine Reihe von Kompetenzen, die in einem bestimmten Kontext psychosoziale Ressourcen – wie kognitive Eigenschaften, ein gewisses Verhalten
oder bestimmte Einstellungen – aktivieren. Es kann dabei um Sprachkenntnisse, Computerwissen oder kommunikative Kompetenzen gehen. Wie man
leicht feststellen kann, handelt es sich in diesem Fall nicht um Fachkompetenzen, die Kenntnisse, Fähigkeiten und Methoden voraussetzen, die vom
wissenschaftlichen Ausbildungsprofil eines Studienganges bestimmt werden,
sondern um bestimmte Kompetenzen, die in unterschiedlichen Fächern von
Bedeutung und insofern fachübergreifend sind. In den letzten Jahren hat die
Forderung nach diesen Kompetenzen im professionellen Leben stark zugenommen, wobei Hochschulabsolventen neben den fachlichen Fähigkeiten
auch diese überfachlichen Schlüsselkompetenzen besitzen müssen.
In der Empfehlung des Europäischen Parlaments und des Rates vom 18. Dezember 2006 zu Schlüsselkompetenzen für ein lebensbegleitendes Lernen,
dass im Amtsblatt L 394 vom 30.12.2006 veröffentlicht wurde, werden die
Schlüsselkompetenzen als „eine Kombination aus Wissen, Fähigkeiten und
Einstellungen definiert, die an das jeweilige Umfeld adaptiert sind. Schlüsselkompetenzen sind diejenigen Kompetenzen, die alle Menschen für ihre
persönliche Entfaltung, soziale Integration, Bürgersinn und Beschäftigung
benötigen.“1 In der gegenwärtigen Wissensgesellschaft sind Schlüsselkompetenzen für alle Personen von grundlegender Bedeutung. Sie sind wichtig für
den Arbeitsmarkt und bringen Flexibilität, Anpassungsfähigkeit, Zufriedenheit und Motivation.
Der Übergang von der Ausbildung in das Berufssystem wird individuell bestimmt und ist mit Risiken verbunden. Man kann nicht mehr von einem normalen professionellen Lebenslauf sprechen, denn die Arbeitsbedingungen
haben sich grundsätzlich geändert. Heute spricht man von einer Destandardisierung des Lebenslaufes (Kohli) und von so genannten Patchwork-Biographien (Kell),2 denn es gibt keine Übergangsmuster mehr. Diese Viel1 Schlüsselkompetenzen für die Wissensgesellschaft, in: http://www.bmukk.gv.at/
europa/test/eu-bk/doss.xml (Zugriff am 10.04.12)
2 Die beiden Begriffe stammen aus dem Vortrag, den Prof. Ulrich Heyder beim
ZGR 2 (42) / 2012
145
Mihai Draganovici
fältigkeit einer professionellen Biographie, aber auch der schnelle technische
Wandel relativiert die erforderlichen Fachkompetenzen. Die Schlüsselkompetenzen bleiben aber während des ganzen Lebens wie berufsübergreifende
Universalien gültig.
Das Ende 1997 von der OECD gestartete DeSeCo-Projekt 3 hatte das Ziel,
einen soliden konzeptuellen Rahmen für die Bestimmung von Schlüsselkompetenzen zu entwickeln. An diesem Projekt beteiligten sich Expertinnen und
Experten aus unterschiedlichen Fachrichtungen sowie Interessenvertreter
aus Wirtschaft und Politik, um gemeinsam einen relevanten Kompetenzrahmen zu entwickeln. Das Konzept hat die Schlüsselkompetenzen zuerst in drei
Makrokategorien eingeteilt:
1. Interaktive Anwendung von Medien und Mitteln
2. Interagieren in heterogenen Gruppen
3. Autonome Handlungsfähigkeit4
Im ersten Fall geht es um eine Individualkompetenz, die die eigene Verhaltensweise steuert und beeinflusst. Der Mensch sollte dadurch in der Lage
sein, die Sprache (seine Muttersprache oder Fremdsprachen) oder die vorhandenen Medien und die Informationstechnologie wirksam einzusetzen.
Bei der zweiten Kategorie handelt es sich um eine Sozialkompetenz, die Fähigkeiten zum Umgang mit anderen Personen verleiht. Dabei geht es darum,
in verschiedenen Arbeitszusammenhängen zu kommunizieren, zu kooperieren und zu führen. Wichtig ist dabei auch die Interaktion mit Menschen aus
verschiedenen Kulturen.
Letztens haben wir es mit einer Systemkompetenz zu tun, die auf das (Arbeits-) Verhalten des Individuums in Organisationen ausgerichtet ist und
den Umgang mit den dort relevanten Regeln sichert.
Diese drei Bereiche, jeder mit seiner Spezifik, entfalten sich aber nicht Unabhängig voneinander, sondern greifen ineinander und bilden somit die
Bilanztreffen des Projektes „Schlüsselkompetenzen in SO-Europa“ gehalten hat, an
der Universität Hamburg, Jan. 2010.
3 DeSeCo - Definition and Selection of Competencies (Definition und Auswahl von
Kompetenzen)
4 Definition und Auswahl von Schlüsselkompetenzen, S. 7, http://www.oecd.org
/dataoecd/ 36/56/35693281.pdf (Zugriff am 10.03.12)
146
ZGR 2 (42) / 2012
Die europäischen Schlüsselkompetenzen im Berufsbild des professionellen Translators
Grundlage für die Bestimmung der einzelnen Schlüsselkompetenzen.
Innerhalb des Europäischen Referenzrahmens für Schlüsselkompetenzen
wurden die grundlegenden Fähigkeiten, Kenntnisse und Einstellungen, die
jeder europäische Bürger im Hinblick auf die wissensbasierte Gesellschaft
und Wirtschaft verfügen sollte, festgelegt. Es wurden dabei 8 wichtige
Schlüsselkompetenzen definiert:
4. Dank der muttersprachlichen Kompetenz kann man Konzepte, Gedanken, Gefühle, Tatsachen und Meinungen sowohl mündlich als auch
schriftlich ausdrücken und interpretieren (hören, sprechen, lesen und
schreiben) und angemessen in allen gesellschaftlichen und kulturellen
Kontexten darauf reagieren.
5. Die fremdsprachliche Kompetenz erfordert, wie auch die muttersprachliche, dieselben Grundfähigkeiten. Hinzu kommen noch die
Vermittlungsfähigkeit und das kulturelle Verständnis. Die Beherrschung
einer Fremdsprache ist von der Summe der 4 sprachlichen Fähigkeiten –
Hören, Sprechen, Lesen und Schreiben – gegeben.
6. Die Mathematische Kompetenz erscheint zusammen mit der grundlegenden naturwissenschaftlich-technischen Kompetenz. Mathematische
Kompetenz stellt die Fähigkeit dar, mathematisches Denken zu entwickeln und anzuwenden, um Probleme in Alltagssituationen zu lösen. Die
Grundlegende naturwissenschaftlich-technische Kompetenz beinhaltet
die Beherrschung und Anwendung von Wissen und Methoden, um die
natürliche Welt zu erklären.
7. Durch Computerkompetenz ist der Mensch fähig, die Informationstechnologie sicher und kritisch anzuwenden und die Kommunikationstechnologie zu beherrschen.
8. Die Lernkompetenz ist die Fähigkeit zu lernen und das eigene Lernen sowohl alleine als auch in der Gruppe gemäß der eigenen Vorstellung zu organisieren und sich dabei der Methoden und Möglichkeiten bewusst zu
sein.
9. Die Soziale Kompetenz (interpersonelle und interkulturelle) und Bürgerkompetenz umfassen einerseits, als soziale Kompetenz, persönliche, zwischenmenschliche und interkulturelle Kompetenzen und betreffen alle
Formen von Verhalten, die es Einzelpersonen ermöglichen am gesellZGR 2 (42) / 2012
147
Mihai Draganovici
schaftlichen und beruflichen Leben teilzuhaben. Andererseits beruhen
sie, als Bürgerkompetenz, auf der Kenntnis der sozialen und politischen
Konzepte und Strukturen (Demokratie, Gerechtigkeit, Gleichberechtigung, Staatsbürgerschaft und Bürgerrechte) und rüsten den Einzelnen für
eine aktive und demokratische Beteiligung am staatsbürgerlichen Leben.
10. Durch Eigeninitiative und unternehmerische Kompetenz ist die Fähigkeit
vorhanden, Ideen in Taten umzusetzen. Dies erfordert Kreativität, Innovation und Risikobereitschaft sowie die Fähigkeit, Projekte zu organisieren und durchzuführen, um bestimmte Ziele zu erreichen. Unternehmerische Kompetenz ist die Grundlage für die besonderen Fähigkeiten und
Kenntnisse, die diejenigen benötigen, die eine gesellschaftliche oder gewerbliche Tätigkeit begründen oder dazu beitragen.
11. Kulturbewusstsein und kulturelle Kompetenz beinhalten die Anerkennung der Bedeutung des künstlerischen Ausdrucks von Ideen, Erfahrungen und Gefühlen durch verschiedene Medien (Musik, darstellende
Künste, Literatur und visuelle Künste).
Wie man feststellen kann, gehören viele der oben beschriebenen Kompetenzen zu den heute von einem Translator geforderten Kompetenzen. Im folgenden Kapitel werde ich auf diese Kompetenzen näher eingehen und sie im
Kontext des Europäischen Rahmens der Schlüsselkompetenzen analysieren.
Positionierung der Schlüsselkompetenzen im Berufsbild des
Translators
Zu Beginn der theoretischen Auseinandersetzung mit der Übersetzungswissenschaft sprach man lediglich über eine wichtige Kompetenz des Übersetzers, nämlich über seine Bilingualität. Heute betrachtet man die AS(ausgangssprachliche)- und ZS(zielsprachliche)-Sprachkompetenz, so Sandrini,
zunehmend als Voraussetzung für die Übersetzerausbildung. 5 Im 20. Jahrhundert, vor allem in seiner zweiten Hälfte, kam immer klarer auch die bikulturelle Kompetenz zum Vorschein, die mit dem Vorschreiten der Untersuchungen dieses Thema betreffend sogar die Hauptstelle in der übersetzerischer Ausbildung einnahm. So wie Kautz unterstreicht, geht es schon in der
Ausbildung von Translatoren nicht nur um Sprachkenntnisse und die der
Translation spezifischen Fertigkeiten, sondern „um die Berücksichtigung der
5 Sandrini, S. 2.
148
ZGR 2 (42) / 2012
Die europäischen Schlüsselkompetenzen im Berufsbild des professionellen Translators
kulturellen Einbettung der Sprachmittlung“.6 Er muss zum „Experten der interkulturellen Kommunikation“ ausgebildet werden, wie Reiß/Vermeer 7 ihn
nennen, und die Fähigkeit besitzen, den AT (Ausgangstext) zu analysieren,
um ihn nachher Skoposadäquat in die ZS bzw. in die ZK (Zielkultur) zu
transferieren, so dass die Rezipienten den Text auch dementsprechend verstehen. Ein qualifizierter Übersetzer soll entscheiden können, ob und was er
am ZT (Zieltext) ändern muss, damit er dem Erwartungshorizont des Rezipienten entspricht, ob er lokalisieren oder den Text ins Allgemeine heben
muss. Diese „klassischen“ Fähigkeiten eines Translators decken fast drei der
acht Schlüsselkompetenzen; die muttersprachliche und fremdsprachliche
Kompetenz und die interkulturelle, im Rahmen der sozialen Kompetenz. Dabei können wir auch über eine Art interpersoneller Kompetenz sprechen,
denn, obwohl der Translator nicht direkt mit anderen Personen interagiert,
fungiert er als Bindeglied zwischen Menschen verschiedener Kulturen und
ermöglicht eine Kommunikation auf dieser Ebene. Ebenfalls dieser übersetzerischen Fähigkeit können wir auch die achte Schlüsselkompetenz unterordnen und zwar das Kulturbewusstsein und die kulturelle Kompetenz.
Die naturwissenschaftlich-technische Kompetenz ist vor allem bei den Fachübersetzern von Bedeutung, da sie in ihrem speziellen Fachgebiet bewandert
sein sollen. Im Sachfach Technik zum Beispiel müssen naturwissenschaftlich-technische Kenntnisse als Sachkenntnisse erworben werden, wobei auch
die mathematische Kompetenz in diesem Fall eine wichtige Rolle spielt. Der
Translator muss sowohl die technischen Zusammenhänge verstehen, als
auch die Fähigkeit entwickeln, technisch zu denken.
Man kann aber nicht über Fachwissen sprechen und nicht über die Aneignung der fachspezifischen Terminologie sprechen, denn, so Horn-Helf, die
„Wissensvermittlung im technischen Sachfach ist zwangsläufig an die Vermittlung der […] Terminologie des Fachgebietes gebunden“ 8. Das bedeutet,
dass der Übersetzer terminologische Recherche betreiben muss, terminologische Glossare in seinen Arbeitssprachen haben muss und diese computergestützt verwalten. Die Verwendung von Datenbanken oder Fachglossaren ersparen bei der Übersetzung Rechercheaufwand und zusätzliche Zeit.
Auch Sandrini unterstreicht die Wichtigkeit des Wissens bezüglich des Fach6 Kautz, 2000, S. 417.
7 Reiß/Vermeer, 1991.
8 Horn-Helf 1999, S. 301.
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Mihai Draganovici
bereichs, in dem übersetzt werden soll. Der Übersetzer sollte fachlich in einem oder zwei Bereichen, in denen er über eine grundlegende Sachkenntnis
verfügt, spezialisiert sein, während er das fehlende Fachwissen recherchieren
können muss.9
Im Falle des Fachwissens habe ich über die Notwendigkeit der Verwendung
von Datenbanken und über computergestützte Recherche geschrieben. Damit komme ich zur nächsten Fähigkeit, heute bei einem professionellen
Translator als Grundkompetenz betrachtet, die Bedienung des Rechners. So
wie das in der vierten Schlüsselkompetenz beschrieben wird, muss auch der
Übersetzer mit spezifischer Software arbeiten können, sowohl bei der Textverarbeitung, als auch bei der Recherche in Terminologiedatenbanken und
im Internet und bis zum maschinellen Übersetzen hin. Der Translator muss
die elektronischen Werkzeuge effizient nutzen, denn er arbeitet oft unter
Zeitdruck, den er dementsprechend auch in Griff bekommen muss. Ebenfalls
per Computer funktionieren immer öfter die Kommunikation mit dem Auftraggeber und die Rücksprache mit demselben nach Versendung des Translats.
Die Bedienung des Computers spielt neben der Verwendung der Lexika, Enzyklopädien und anderen Werken derselben Art eine essentielle Rolle im
Meistern einer Grundkompetenz in diesem Bereich, die Recherchierkompetenz.10 Die Korrektheit und Akkuratheit seiner Arbeit hängt oft von dieser
Hauptfähigkeit ab, da die Verwendung von qualitativen und adäquaten Quellen und Webseiten und die Anwendung von effizienten Suchstrategien, in
hohem Maße zum Gelingen des übersetzerischen Auftrages beitragen kann.
Nicht zuletzt spielt die Kenntnis über die Hardware eine unverzichtbare Rolle für den Translator, der sich über die Funktion von Modem, Drucker und
sonstigen Medien im Klaren sein muss, um die Funktionierung des Systems
zu sichern, falls eines dieser Geräte ausfallen sollte.11
Die professionelle Recherche und der einwandfreie Umgang mit den technischen Arbeitsmitteln werden von Tödtling unter dem allgemeinen Begriff
„technische Kompetenzen“ als Schlüsselkompetenzen eines Translators zusammengefasst.12
9 Sandrini, S. 2.
10 Siehe dazu Horn-Helf 1999, S. 304f und Kautz 2000, S. 428 ff.
11 Höflich zit. in Tödtling, S. 46.
12 Tödtling, S. 44.
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Die europäischen Schlüsselkompetenzen im Berufsbild des professionellen Translators
Die Lernkompetenz ist in der Tätigkeit eines Übersetzers nicht wegzudenken, denn die Weiterbildung und das lebenslange Lernen sind Grundkompetenzen in der professionellen Laufbahn eines Translators. Vor allem die
Kompetenzen, die zu seinem Berufsprofil hinzugekommen sind, wie zum
Beispiel das Sachwissen in seinem Fachbereich, die computergestützte Arbeit oder Recherche u.a., alles bedarf einer Weiterbildung. Das Lernen zusammen mit den anderen mentalen Fähigkeiten, wie Reflexion und Abstraktion, bilden, ebenfalls bei Tödtling, eine andere Gruppe der übersetzerischen
Schlüsselkompetenzen, und zwar die mentalen Kompetenzen.13
Die Übersetzer und vor allem die Dolmetscher arbeiten und interagieren
ständig mit der Gesellschaft, mit den Nutznießern ihrer Arbeit. Sie müssen
adäquat kommunizieren können, nicht nur mit dem Auftraggeber, sondern
beim Dolmetschen auch bei ihrer tatsächlichen Arbeit, denn sie müssen auf
der Stelle die angemessene Ausdruckweise finden, damit die Botschaft gut
durchkommt.
Desgleichen sind die Translatoren auf die Kooperation mit den anderen im
Übersetzungsprozess involvierten Teile angewiesen, sei es der Autor des AT
oder die Fachleute, falls es um einen Sachtext geht, oder sogar seine Kollegen, falls er sich mit ihnen Beraten möchte. Selbstverständlich trägt er auch
die Verantwortung für seine geleistete Arbeit. Diese Fähigkeiten werden sowohl auf europäischer Ebene aber auch auf Ebene der Fähigkeiten eines
Übersetzers den sozialen Kompetenzen subsumiert.
Die letzte Kompetenz, die ich hier besprechen möchte, ist die Eigeninitiative
und die unternehmerische Kompetenz. In seiner Arbeit muss ein Translator
ständig Entscheidungen treffen, denn er ist der Experte, der weiß, wie das
Produkt aussehen muss. Auch wenn er einen expliziten Auftrag bekommt,
und somit das Ziel seiner Arbeit kennt, muss er trotzdem über die Art und
Weise der Durchführung entscheiden. Oft bekommt der Translator gar keinen Auftrag und dann hat er sämtliche wichtige Entscheidungen selbst zu
treffen: wer sind die Rezipienten, warum wird der Text übersetzt, welche soll
seine Funktion sein, welches ist das Ziel der Übersetzung, oder wie wird der
Text übersetzt (Wortwahl, Satzwahl, sprachliches Register u.a.).14
Die unternehmerische Kompetenz kommt vor allem bei den freiberuflichen
Übersetzern zum Vorschein, denn in diesem Fall brauchen sie Eigeninitiati13 Ebd.
14 Siehe dazu auch Nord, 1988, S. 41.
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Mihai Draganovici
ve, das Wissen über Projektaufstellung und Projektmanagement und nicht
zuletzt den Mut Risiken einzugehen, um seine Ziele zu erreichen.
Fazit
Die Schlüsselkompetenzen wurden deshalb festgelegt, um die Arbeitsqualifikation zu ergänzen und sie neu zu definieren. Diese Kompetenzen ersetzen
nicht das Fachwissen, sondern helfen bei dessen Entwicklung, Aneignung
und Anwendung des Fachwissens und unterstützen die selbstständige Handlungsfähigkeit des Menschen in seiner Arbeitssituation. Schlüsselkompetenzen stellen ein anwendbares Wissen dar, das fachübergreifend in verschiedenen Situationen benutzt werden kann. Eine arbeitstätige Person kann in einem Arbeitsverhältnis ohne diese Schlüsselkompetenzen fast nicht mehr zurechtkommen. Nur Fachwissen reicht nicht mehr.
Auch das heutige Berufsprofil eines Translators hat sich geändert. Die
sprachlich-linguistische Fähigkeit und die kulturelle Expertise reichen nicht
mehr aus, um die Aufträge akkurat zu erledigen. Es werden neue Qualifikationen nötig, die die klassischen ergänzen und den Übersetzerberuf den heutigen Arbeitsbedingungen anpassen. In der vorliegenden Arbeit habe ich eine
Parallele zwischen den wichtigsten acht Schlüsselkompetenzen auf europäischer Ebene und den Kompetenzen des heutigen Berufsprofils eines Translators gezogen. Ich konnte feststellen, dass diese Schlüsselkompetenzen fast
vollständig als Fähigkeiten eines Übersetzers erscheinen, viele von ihnen sogar als Grund- oder Schlüsselqualifikationen. Die Entwicklung dieses Berufes macht somit aus dem professionellen Translator eine vielfach ausgebildete Person, die ohne Beherrschung der Schlüsselkompetenzen seinen Beruf
fast nicht mehr ausüben kann. Die Zweisprachigkeit, Interkulturalität, die
Computerkompetenz und die Verwendung der neusten Kommunikationsmittel, das Fachwissen, die Recherchierfähigkeit, die Beherrschung des Zeitmanagements, das Projektmanagement, die Sozialkompetenz mit all ihren
Facetten und, nicht zuletzt, die unternehmerische Kompetenz sind heute
auch für den professionellen Translator zu Schlüsselkompetenzen geworden,
die aus seinem Beruf nicht mehr wegzudenken sind.
Literatur:
1.
HEYDER, Ulrich – Schlüsselkompetenzen und beruflicher Kontext, Vortrag
152
ZGR 2 (42) / 2012
Die europäischen Schlüsselkompetenzen im Berufsbild des professionellen Translators
beim Bilanztreffen des Projektes „Schlüsselkompetenzen in SO-Europa“, an der
Universität Hamburg, Jan.2010
2. HORN-HELF, Brigitte – Technisches Übersetzen in Theorie und Praxis, Francke
Vlg., Tübingen und Basel, 1999
3. KAUTZ, Ulrich – Handbuch Didaktik des Übersetzens und Dolmetschens, Iudicium Vlg., München, 2000
4. NORD, Christiane – Textanalyse und Übersetzen, Groos Vlg., Heidelberg, 1988
5.
REISS, Katharina/VERMEER, Hans – Grundlegung einer allgemeinen Translationstheorie, Niemeyer Verlag, Tübingen, 1991
6. SANDRINI, Peter – Die Rolle des Übersetzers im Mehrsprachigen Umfeld, in:
http://homepage.uibk.ac.at/~c61302/publik/rolle.pdf (Zugriff am 15.03.12)
7.
TÖDTLING, Martina - Weiterbildung und lebenslanges Lernen im Bereich der
Translation, in: http://itat2.uni-graz.at/pub/diplomarbeiten/dafiles/da2568.
pdf (Zugriff am 10.04.12)
8. WILLS, Wolfram – Übersetzungsunterricht. Eine Einführung, Narr Vlg., Tübingen, 1996
9. BDÜ (Bundesverband der Dolmetscher und Übersetzer) – Berufsbild Übersetzer, Dolmetscher und andere Fremdsprachenberufe, in: http://www.bdue.de
/util/download.php?art=pdf&dokument=392 (Zugriff am 14.03.12)
10. BDÜ (Bundesverband der Dolmetscher und Übersetzer) – Übersetzen und Dolmetschen. Berufsbilder im Wandel, in: http://www.bdue.de/util/download.
php?art=pdf&dokument=395 (Zugriff am 14.03.12)
11. BMUKK (Bundesministerium für Unterricht, Kunst und Kultur) – Schlüsselkompetenzen für die Wissensgesellschaft, in: http://www.bmukk.gv.at/europa/
test/eu-bk/doss.xml (Zugriff am 10.04.12)
12. Europa – Schlüsselkompetenzen für lebenslanges Lernen, in: http://europa.eu/
scadplus/leg/de/cha/c11090.htm (Zugriff am 8.04.12)
13. FH Köln – Schlüsselkompetenzen, in: http://www1.fh-koeln.de/zaq/
wir_ueber_uns/schluesselquallifikationen (Zugriff am. 8.04.12)
14. OECD (Organisation for Economic Cooperation and Development) – Definition
und Auswahl von Schlüsselkompetenzen, in: http://www.oecd.org/dataoecd/
36/56/35693281.pdf (Zugriff am 10.03.12)
15. TU Chemnitz – Schlüsselkompetenzen, in: http://www.tu-chemnitz.de/studium/kompetenzen (Zugriff am 8.03.12)
ZGR 2 (42) / 2012
153
Mihai Draganovici
16. VHS in NRW (Landesverband der Volkshochschulen in NRW) – Schlüsselkompetenzen für lebenslanges Lernen, in:http://www.dvv-vhs.de/servlet/is/Entry .
32101.Display (Zugriff am 08.03.12)
The European Key Competencies within the Professional Profile of a
Translator
Throughout history, the vocational field of the translators has changed a lot. While
in the earlier times the work of a translator was associated mainly with literary
translations, nowadays translators are confronted with much more complex tasks.
These tasks require from the professional translator further specialized and extraprofessional abilities, such as working under time constraints, the ability of research
with different instruments or the ability of communication. All these new skills are
summarized by the so called European Key Competencies which are actually
required in all job descriptions nowadays. In this paper I will show their importance
for the professional profile of a translator.
Schlüsselwörter: Schlüsselkompetenzen, translatorische Kompetenzen, Translator,
Fachwissen, Fachübergreifend
154
ZGR 2 (42) / 2012
ROLLE DER TERMINI IN DER ANGEWANDTEN LINGUISTIK
und deren lexikographische Fixierung
Eugenia Kakzanova
In der russischen linguistischen Schule laufen die angewandten Aspekte der
Linguistik vor allem auf ein Hauptproblem hinaus – Problem der Verarbeitung der Information. Im Zusammenhang mit der Entstehung der maschinellen Übersetzung, Erstellung von Elektronenwörterbüchern und Thesauren wurde in der zweiten Hälfte des XX. Jahrhunderts das Problem der Unifizierung und Standardisierung der Terminologie besonders akut. Es ist sowohl mit der scharf zugenommenen Anzahl von wissenschaftlichen und
technischen Termini, die verschiedene Wissenssphären bedienen, als auch
mit der Erscheinung von neuen Disziplinen und Subsprachen verbunden. Eines der Hauptprobleme ist der Reichtum von Eponymen in der wissenschaftlichen Literatur und im wissenschaftlichen Diskurs, insbesondere in
der medizinischen Fachliteratur, was nicht nur den Linguisten, sondern auch
den Medizinern Sorgen macht.
Eponym ist der Terminus, der bei der Bezeichnung eines wissenschaftlichen
Begriffs in seinem Bestand einen Eigennamen, und zwar einen Anthroponym, einen Toponym oder einen Mythonym, sowie ein Apellativum enthält,
z.B. Krohn Morbus, Alzheimer-Krankheit. Auch kann der Eponymterminus
mit dem affixlosen Verfahren von einem Eigennamen (Anthroponym, Toponym oder Mythonym) mit Hilfe der Metonymie gebildet sein (z.B. Röntgen).
Zur dritten Gruppe gehören affixale Derivate von einem Eigennamen (Anthroponym, Toponym oder Mythonym) (z.B. Ulexit).
Bekannt sind einige Standpunkte [Nosov 1981, S. 33], laut denen medizinische Eponymtermini im Bereich der Infektionskrankheiten durch nicht eponymische Termini zu ersetzen sind. Dabei berufen wir uns auf die Meinung
des ehemaligen Stellvertreters des Vorsitzenden der Terminologischen Kommission bei der Akademie der medizinischen Wissenschaften der UdSSR [Lidov 1981, S. 12], die wir auch teilen, es gebe eine Gruppe von Eponymtermini, die ein unerlässlicher Bestandteil der medizinischen Lexik seien. Die Bedeutung dieser Termini sei für jeden Arzt klar. Es lohne sich nicht, solche
Eugenia Kakzanova
Eponymtermini wie „Eustachische Röhre“, „Highmores Höhle“, „DouglasRaum“, „Kocherklemme“ und ähnliche zu ersetzen. Die Kocherklemme bedeutet anders „1:2-Zähnenklemminstrument“. Es ist schwer, sich vorzustellen, dass ein Chirurg in einem Operationssaal um ein „1:2-Zähnenklemminstrument“ bitten wird, statt um „Kocherklemme“ zu bitten.
Wir sehen, dass die Eponymtermini in der Fachsprache der Medizin eine
große Rolle spielen.
Ingried Wiese betont, dass die Benennung von Krankheiten – und vor allem
von Syndromen – mit Eigennamen in der Medizin seit der Mitte des 19.
Jahrhunderts stark genutzt wird [Wiese 1998, S. 1281]. Bei der Analyse der
englischen medizinischen terminologischen Wortverbindungen mit den Eigennamen (am Material der Termini, die die Krankheiten benennen) kommen 1763 Beispiele mit dem Anthroponym durch die Methode der durchgängigen Auswahl aus dem amerikanischen medizinischen Bedeutungswörterbuch (Stedman’s Medical Dictionary. N.Y., 1974) vor, die mit den Angaben
der Gesundheitsweltorganisation bei der UNO (International Classification
of Diseases. Jeneva, 1967) verglichen waren [Dubrovina 1978, S. 142].
Zurzeit erschien eine große Menge von Wörterbüchern der medizinischen
Eponymtermini, dabei oft für jede medizinische Fachrichtung extra. Lexikographisch fixiert waren Eponyme aus dem Bereich der Anatomie und Physiologie, einschließlich der Histologie, Embryologie und physiologischen Chemie (R. Herrlinger, 1949), orthopädische Eponyme (T. Albrecht, 1990), Eponyme im Bereich der Psychiatrie (V.М. Bleicher, 1984; D. Arenz, 2001), anatomische Eponyme (D. Dobson, 1962; R. Olry, 1995), Eponyme aus dem Bereich der Neurologie und Psychiatrie (D. Draaisma, 2008), mythologische
Gestalten in den medizinischen Eponymtermini (A. Karenberg, 2005), klinische Eponyme (B. Leiner и Т. Olbert, 1968, А. Winkelmann, 2009), dermatologische Eponyme (К. Löser и G. Plewig, 2008), angiologisch-phlebologische Eponyme (E. Wormer, 1991). 1997 erschien in der deutschen
Sprache das Wörterbuch der gebräuchlichsten medizinischen Eponymtermini, die zur Fachprüfung erforderlich sind (B. Erbrich, D. Grundmann, A.
Gruner, R. Hafemann). 1986 erschien das eponymische Wörterbuch „The
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ZGR 2 (42) / 2012
Rolle der Termini in der angewandten Linguistik und deren lexikographische Fixierung
Man behind the Syndrome“ (P. Beighton, G. Beighton), und 1997 dieselben
Verfasser haben die Fortsetzung veröffentlicht – „The Person behind the
Syndrome“.
Es wäre aber falsch zu vermuten, dass die Eponymtermini nur für Mediziner
oder Linguisten vom Interesse sind, die medizinische Fachtexte oder den
medizinischen Diskurs untersuchen. Die Verfasser der terminologischen
Wörterbücher konnten dieses linguistische Phänomen nicht außer Acht lassen. Bekannt sind eponymische Wörterbücher im Bereich der Psychologie
(L. Zusne, 1987), der organischen Chemie (T. Laue u. A. Plagens, 1998). Der
australische Wissenschaftler R. Trahair hat 1990 das Wörterbuch der in Australien besonders bekannten allgemein wissenschaftlichen Eponymtermini
erstellt, einschließlich der medizinischen. 1999 erschien in der deutschen
Sprache das Wörterbuch der allgemein wissenschaftlichen Eponymtermini
von T. Lewinsky. 2000 war die abgekürzte Variante des Wörterbuches von T.
Lewinsky in der englischen Sprache veröffentlicht (A. Sholl, 2000), was vom
universellen Charakter der Eponymtermini zeugt.
2001 erschien in der englischen Sprache das Wörterbuch der Eponymtermini aus dem Bereich der Wirtschaft, Geschichte, Religion, Kultur, Wissenschaft und Technik, Politik, des Sports und der anderen Bereiche (R.A. Letusé La O., 2001).
Das neue Wörterbuch der allgemein wissenschaftlichen Eponymtermini in
der englischen Sprache erschien 2002 (M. S. Freeman). 1984 war eine interessante Untersuchung durchgeführt, infolge deren das Wörterbuch der
Mondkrater erschien, die nach den Namen der bekannten Ärzte benannt waren (S. und L. Domin). 2004 erschien in der deutschen Sprache das Wörterbuch der Eponymtermini aus dem Bereich der antiken Mythologie und Geschichte, aus dem Alten und Neuen Testament, aus dem Bereich der Wissenschaft und Technik (H. Caspar). 2003 war in der englischen Sprache das
Wörterbuch der eponymischen Vogelnamen veröffentlicht (B. Beolens и M.
Watkins), und 2009 haben dieselben Verfasser das Wörterbuch der eponymischen Namen von Tieren herausgegeben (B. Beolens, M. Watkins и M.
Grayson). 2001 erschien das eponymische Wörterbuch in der spanischen
ZGR 2 (42) / 2012
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Eugenia Kakzanova
Sprache (S. García-Castañón, 2001), wo verschiedene gebräuchlichste Eponyme aus dem Bereich der Politik (gongorismo, krausismo, leninismo), eponymische physikalische Einheiten und chemische Elemente (curio, einstenio, fermio), eponymische Mechanismen und Einrichtungen (colt, guillotina, diésel), interessante Lexik, deren Etymologie den eponymischen Charakter entdeckte (bigote – bi Gott, estraperlo – Perlowitz, lona – Olonne),
Wortverbindungen (línea Maginot, estar en Babia), medizinische Eponyme
(Ogino, Alzheimer, Down), Eponyme aus dem Bereich des Handels (fayolismo – Henri Fayol, limusina, óscar – Oscar Pierce), mythologische Eponyme
- erótico, mathematische Termini - Urysohn, theorema de vorkommen.
Es sei erwähnt, dass mathematische Eponymtermini lexikographisch praktisch gar nicht fixiert sind, obwohl laut unserer Untersuchung sie absolut in
jedem mathematischen Fachtext vorkommen. Wir haben der durchgängigen
Auswahl 5 mehrsprachige, 14 zweisprachige und ein einsprachiges mathematisches Wörterbuch unterzogen (insgesamt 20 Wörterbücher) und festgestellt, dass die Eponymtermini hier überhaupt nicht vertreten sind.
Unter Berücksichtigung der großen Anzahl von medizinischen eponymischen
Wörterbüchern, des Fehlens von mathematischen eponymischen Wörterbüchern, der Häufigkeit des Vorkommens der Termini mit der onomastischen
Komponente in den mathematischen Fachtexten und des Fehlens der Kriterien für die Einführung solcher Termini in die mathematischen Wörterbücher haben wir das Wörterbuch der mathematischen Termini mit der onomastischen Komponente erstellt: „Mathematisches terminologisches Wörterbuch: Mathematik und alles, was damit verbunden ist, Deutsch, Englisch
und Russisch“. Insgesamt gehören in unser Wörterbuch etwa 5000 mathematische Eponymtermini und ungefähr 1500 Wissenschaftler aus verschiedenen Ländern, deren Familienname der Bestandteil dieser Termini ist. Es
sei erwähnt, dass darunter zwei rumänische Mathematiker vorkommen –
Gheorghe Marinescu, geboren 1919, mit dem mathematischen Terminus
Marinescu-Limiterung, und Dimitrie Pompeius (1873-1954) mit dem Terminus Pompeiusscher Satz.
Wir haben festgestellt, dass in mathematischen, medizinischen, chemischen
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ZGR 2 (42) / 2012
Rolle der Termini in der angewandten Linguistik und deren lexikographische Fixierung
Fachtexten die Eponymtermini hauptsächlich in Form der terminologischen
Wortverbindungen vorkommen. Als nächster Schritt haben wir Einworteponyme analysiert (z.B. Röntgen, Amnesie, Magnesit) und sind zu der Schlussfolgerung gekommen, dass solche Eponyme hauptsächlich Internationalismen sind. In diesem Zusammenhang haben wir ein neues Wörterbuch zusammengestellt unter dem Arbeitsnamen: „Wörterbuch der eponymischen
Internationalismen: Deutsch, Englisch und Russisch“. Das Wörterbuch zählt
Einworteponyme aus verschiedenen Bereichen des Fachwissens, insgesamt
über 300 Einheiten.
Zum Schluss kann man den russischen Linguisten S. G. Barchudarov [Barchudarov 1976, S. 12] zitieren: „Wir glauben, dass die terminologischen Wörterbücher zusammen mit Enzyklopädien bald einander mit eigenen Errungenschaften bereichern werden“.
Literatur:
1.
BARCHUDAROV, S. G.: Aktualnyje sadatschi lexikographii v oblasti terminov //Problema opredelenij terminov v slowarjach rasnych tipov. L.: Nauka, 1976, S. 5-12
2.
DUBROVINA, L. V.: Anglijskije medizinskije terminologitscheskoje sotschetanija s imenem sobstwennym (na materiale terminov-naswanij bolesnej)//Stil nautschnoj retschi.
М.: Nauka, 1978, S. 142-148
3.
LIDOV, I. P.: Sostojanije, problemy i sadatschi uporjadotschenija otetschestwennoj medizinskoj terminologii// Aktualnyje woprosy uporjadotschenija medizinskoj terminologii.
М.: Sowjetskaja enzyklopaedia, 1981, S. 10-18
4.
NOSOV, S. D.: O razionalisazii medizinskoj klinitscheskoj terminologii//Aktualnyje woprosy uporjadotschenija medizinskoj terminologii. М.: Sowjetskaja enzyklopaedia, 1981.
– S. 32-35
5.
WIESE, I.: Die neuere Fachsprache der Medizin seit der Mitte des 19. Jahrhunderts unter
besonderer Berücksichtigung der Inneren Medizin//Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft. Band 14.1 „Fachsprachen. Ein internationales Handbuch zur
Fachsprachenforschung und Terminologiewissenschaft“, 1. Halbband. Berlin/New York:
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Eugenia Kakzanova
Walter de Gruyter, 1998. - S. 1278-1285
Abstract:
The article deals with the dictionaries of eponym terms. There are many dictionaries
of eponym terms in the medicine and in other sciences. After our analyze there are
many eponym terms in the mathematical science but there is not a lexicographical fixation of eponym terms in the mathematical dictionaries.
Key words: eponym terms, dictionaries, medicine, mathematic, applied linguistics.
160
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IX. INTERNATIONALER KONGRESS DER GERMANISTEN
RUMÄNIENS, BUKAREST, 4.-7. JUNI 2012
- DOKUMENTATION -
IX. Internationaler Kongress der Germanisten Rumäniens
(Bukarest, 4.-7. Juni 2012)
Dokumentation
Vom 4.-7. Juni 2012 tagte der IX. Internationale Kongress der Germanisten Rumäniens im Rektoratsgebäude der Universität Bukarest in folgenden Sektionen:
1) Theoretische und angewandte Linguistik: - Untersektion 1 A: „Deutsch im
Fokus, Deutsch im Kontrast“; - Untersektion 1 B: „Deutsch in Rumänien – Rumäniendeutsch“;
2) Literaturwissenschaft: - Untersektion 2 A: „Interreferenzialität: Literatur
im intertextuellen, interkulturellen, intermedialen und interlingualen Dialog“; Untersektion 2 B: „Goethes Wirken und Wirkung daheim und in der Fremde / Opera şi impactul lui Goethe acasă şi în străinătate“ (zweisprachig); - Untersektion 2 C:
„Wahrnehmungen und Erfahrungen in der Literatur der Jahrhundertwende“; Untersektion 2 D: „Die Fremde als Ort der Geschichte in der deutschsprachigen Migrantenliteratur“; - Untersektion 2 E: "Interreferenzielle Bezüge von Religion und
Literatur";
3) Deutschsprachige Literatur in und aus Ostmittel- und Südosteuropa
(in der Betreuung des Instituts für deutsche Kultur und Geschichte Südsteuropas IKGS an der Universität München);
4) Didaktik des Deutschunterrichts (DaF, DaM, DaU): - Untersektion 4 A:
„Deutschunterricht - Methoden, Medien, Motivation”; - Untersektion 4 B: „Agieren
und Studieren – wie geht denn das? Alternative Unterrichtsmethoden im Umgang
mit Literatur“;
5) Interculturalitate în acţiune. Interreferenţialităţi cultural-terare (Interkulturalität in Aktion. Kulturell-literarische Interreferenzialität); in rumänischer
Sprache;
6) Translationswissenschaft;
Nachwuchsforum für Studierende und Doktoranden.
145 rumänische und 70 ausländische Kongressgäste reisten an, um sowohl an der
wissenschaftlichen Tagung als auch am reichhaltigen Rahmenprogramm mit Lesungen bedeutender Schriftsteller, offiziellem Empfang und Bukarester Stadtrundfahrt
und -rundgang teilzunehmen. Gewichtige und international renommierte WissenschaflerInnen wurden zu Vorträgen im Plenum verpflichtet.
IX. Internationaler Kongress der Germanisten Rumäniens 2012 - Dokumentation
Eröffnungsrede
des Präsidenten der Gesellschaft der Germanisten Rumäniens,
Prof. Dr. George Guţu
Eure Magnifizenz, sehr geehrter Herr Rektor der Universität Bukarest, Prof.
Dr. Mircea Dumitru,
Eure Exzellenz, sehr geehrter Herr Botschafter der Bundesrepublik Deutschland in Rumänien Andreas von Mettenheim,
Sehr geehrter, lieber Herr Direktor des Instituts für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas an der Universität München, Prof. h.c. Dr. Stefan
Sienerth,
Sehr geehrte Frau Susanne Lüdtke, Vertreterin des Deutschen Akademischen Austauschdiensts, Bonn
Sehr geehrte, liebe Kollegin Frau Christianne Cosmatu, Unterstaatssekretärin im Department für Interethnische Beziehungen der Rumänischen Regierung,
Sehr geehrter Herr Gesandter Botschaftsrat der Österreichischen Botschaft
in Rumänien, Jürgen Heissel,
Sehr geehrte, liebe Kollegin Frau Prof. Silvia Florea, Präsidentin des Rumänischen Deutschlehrerverbandes,
Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen aus Nah und Fern,
Sehr verehrte Damen und Herren,
Mit dem Dank für Ihre aller Anwesenheit in der ehrwürdigen Aula Magna der traditionsreichen Universität Bukarest verbinde ich die große Freude darüber, dass ich
heute den IX. Internationalen Kongress der Germanisten Rumäniens in der Hauptstadt unseres Landes eröffnen darf. Seine besonders freundliche Gastgeberin ist
diesmal unsere geliebte Universität Bukarest.
Nach den sechs großen ähnlichen Veranstaltungen in Neptun an der Schwarzmeerküste 1994, Sinaia 1997, Iaşi/Jassy 2000, Sibiu/Hermannstadt 2003, Timişoara/Temeswar 2006 und Cluj/Klausenburg 2009 ist der jetzige Kongress die natürliche
Fortsetzung einer gemeinsamen Riesenanstrengung aller Zweigstellen der 1990 gegründeten Gesellschaft der Germanisten Rumäniens und der Germanistik-Lehrstühle des Landes in Anknüpfung an die Tradition unserer Vorfahren aus der
Zeit zwischen den beiden Weltkriegen. Dass es uns sogar gelungen ist, einen öffentlichen Platz in Bukarest mit dem Namen von Prof. Dr. Simion C. Mândrescu, dem ers-
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ZGR 2 (42) / 2012
IX. Internationaler Kongress der Germanisten Rumäniens 2012 - Dokumentation
ten Leiter des Germanistiklehrstuhls in Bukarest und Präsidenten der Societatea
Germaniştilor Români, zu benennen, gehört auch zu der von uns eingegangenen
Verpflichtung, die einheimischen germanistischen Traditionen nicht in Vergessenheit geraten zu lassen und auf der Stufe der heutigen Aufgaben entsprechend zu entwickeln und auszubauen, an die gewandelten Bedingungen, Forderungen und Herausforderungen unserer Zeit anzupassen.
Ich freue mich heute noch viele Kolleginnen und Kollegen wieder zu sehen, mit denen wir 1994 den III. Kongress in Neptun organisiert und durchgeführt haben, den
ersten nach einer 62 Jahre langen Unterbrechung. Bei der Zusammenstellung und
beim Betrachten der hier im Foyer der Universität zu sehenden Dokumentarausstellung zum 20. Jubiläum unseres Fachorgans, der „Zeitschrift der Germanisten Rumäniens“, zogen und ziehen Gestalten und Umstände, Korrespondenz und Pressestimmen an mir, an uns vorbei und lassen Bilder aus jenen und den späteren Jahren lebendig aufkommen. Frau Professor Roxana Nubert, Frau Professor Elena Viorel,
Herr Professor Peter Kottler, Frau Prof. Ioana Crăciun-Fischer, Frau und Herr Professor Mariana und Ioan Lăzărescu, sowie die Professoren Anton Schwob, Peter
Motzan und Stefan Sienerth, um nur einige zu nennen, haben all die Kongresse mitgestaltet und wissenschaftlich mit hoher fachlicher Kompetenz begleitet. Ihnen gesellten sich im Laufe der zwei Dezennien ganze Scharen von hervorragenden jungen
Wissenschaftlern und Lehrkräften sowie von Deutschlehrern, die der Germanistischen Schule in Rumänien zu Ehren gereichen.
Von Anfang an haben wir als Mitveranstalter an unserer Seite die Kollegen vom Institut für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas (IKGS) an der Universität
München, die in der Fachwelt geschätzten und mit Rumänien dauerhaft verbundenen Herren Professoren Peter Motzan und Stefan Sienerth, die Historikerin Krista
Zach sowie der Schriftsteller Hans Bergel, die ich stellvertretend nenne für die zahlreichen aus Rumänien stammenden deutschen Fachkolleginnen und -kollegen, Germanisten, Schriftsteller, Übersetzer, die mit der alten Heimat weiterhin verbunden
blieben und die bilateralen, grenzüberschreitenden Beziehungen in entscheidendem
Maße mitgestaltet und mitgeprägt haben. Zusammen mit ihnen schlugen wir kulturvermittelnd Brücken der Annäherung und Verständigung zwischen den Menschen
aus dem deutschsprachigen Raum und aus Rumänien.
Der erste Kongress überhaupt fand im Jahre 1929 statt und stand ganz im Zeichen
des Protestes gegen die stiefmütterliche Behandlung des Deutschunterrichts im damaligen Rumänien. Um mehr Beachtung und Unterstützung für den Deutschunterricht aller Stufen des Bildungssystems in Rumänien hat sich in unserer Zeit die GGR
ebenfalls verdient gemacht. Zeitweilige Erfolge ermutigten uns, Rückschläge kamen
jedoch immer wieder, ohne uns davon abbringen zu können, für die Förderung des
Deutschunterrichts in Rumänien beharrlich zu kämpfen. An dieser Front haben wir
mit dem Rumänischen Deutschlehrerverband sowie mit den Vertretern der deut-
ZGR 2 (42) / 2012
165
IX. Internationaler Kongress der Germanisten Rumäniens 2012 - Dokumentation
schen Minderheit, des Demokratischen Forums der Deutschen in Rumänien in solidarischer Verbundenheit zusammengewirkt. Dafür sei den zwei hier anwesenden
Kolleginnen, Christianne Cosmatu und Silvia Florea, ganz herzlich gedankt.
Wie unsere Dokumentarausstellung zeigt, ist die GGR 22 Jahre jung geworden, ihr
Fachorgan, die „Zeitschrift der Germanisten Rumäniens“ erscheint seit 20 Jahren,
so dass wir Ihnen nun als Präsent den neuen Band mit dem Register aller in den 20
Jahren erschienenen Beiträgen in der Kongressmappe überreichen konnten. Auch
die vor 10 Jahren auf Initiative der GGR ins Leben gerufene und mit dem DAAD herausgegebene Publikation „transkarpathica. germanistisches jahrbuch rumänien“
wartet mit ihrem 10. Band auf. Beide Publikationen genießen in der Fachwelt einen
beachtenswerten Ruf. Sie bieten allen Kolleginnen und Kollegen aus dem In-, aber
auch aus dem Ausland die Möglichkeit, sich germanistisch zu behaupten und in
Fachkreisen bekannt zu werden.
Auf dem diesjährigen Kongress haben wir als Novum die Idee aufgegriffen, auf Vorschlag von unseren KollegInnen auch thematisch genauer definierte Themen vorzuschlagen und dementsprechende Sektionen zu schaffen, was die Teilnahme rumänischer und ausländischer Germanisten sichtbar anregte. Ganz besonders ist das auch
in diesem Jahr eingerichtete Nachwuchsforum hervorzuheben. Die hohe Zahl der
Studierenden, die sich daran mit eigenen wissenschaftlichen Beiträgen beteiligen,
zeigt das große Interesse der jungen Generation für das Studium und die Erforschung der deutschen Sprache, Literatur und Kultur. Dies lässt hoffen, dass die bisherigen Traditionen der Germanistik in Rumänien erfolgreich fortgesetzt werden
können.
Es gilt dem Deutschen Akademischen Austauschdienst in Bonn besonders zu danken
für die ständige Förderung unserer auslandsgermanistischen Bemühungen, für das
ständige Vertrauen in uns, für die Wertschätzung, die der DAAD unseren vielfältigen
Aktivitäten entgegenbringt. Wir werden ihn nicht enttäuschen. Als der damalige
Präsident des DAAD und Dr. h.c. der Universität Bukarest, Prof. Dr. Theodor Berchem, das Erscheinen des ersten Heftes der „ZGR“ begrüßte, äußerte er die Hoffnung, dass dem Heft weitere Hefte folgen mögen. Das ist in der nun zwanzigjährigen
Geschichte der „ZGR“ reichlich geschehen, wie aus dem hier im Haus ausgestellten
kompletten Satz dieser Publikation ersichtlich ist. Dass dieses Periodikum nun auch
übers Internet (http://www.unibuc.ro/n/resurse/zgr/index.php) vollständig abrufbar geworden ist, stellt eine weitere beachtenswerte Leistung der GGR dar.
Die Erforschung der jahrhundertealten Traditionen der in Rumänien entstandenen
Kultur, Literatur und Geschichte der in unserem Land lebenden oder aus unserem
Land stammenden Deutschen war, ist und wird auch weiterhin eine bedeutende Forschungsaufgabe der Germanistik in Rumäniens sein. Auf diesem Gebiete interferierten glücklich unser Interesse und der Aufgabenbereich des IKGS in München, so
dass wir gemeinsam ein gutes Stück Weg in der Erforschung und Bewahrung bedeu-
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IX. Internationaler Kongress der Germanisten Rumäniens 2012 - Dokumentation
tender kultureller und interkultureller Leistungen erfolgreich gegangen sind. Die
Sektion 3 befasste sich auf all unseren Kongressen mit den verschiedensten Aspekten dieser Problematik, und wir können auf die konkreten gemeinsamen Leistungen
– Tagungen und Publikationen – echt stolz sein. Wir hoffen, dass diese Tradition
fortgeführt werden wird – als wichtiger Bestandteil der deutsch- bzw. österreichischrumänischen Kulturbeziehungen, die zur europäischen Einigung wesentlich beitragen können. Die hier ebenfalls zu sehende Ausstellung über den Bukarester AlfredMargul-Sperber-Nachlass sowie de legendäre Anthologie „Die Buche“ bilden nur
einen Bruchteil von den beachtlichen Ergebnissen gemeinsamer Forschungstätigkeit
und gemeinsamer Projekte.
Meine Damen und Herren, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, es sei an dieser
Stelle all denen ganz herzlich gedankt, die sich für die Vorbereitung und Durchführung auch dieses Kongresses eingesetzt haben. Die Kongresse waren und sind Ergebnisse einer vielfältigen jahrelangen Zusammenarbeit aller Germanistik-Lehrstühle
des Landes und aller Mitglieder der GGR. Als im vorigen Jahr auf der Beratung der
Germanistk-Lehrstühle in Rumänien mit dem Vertreter des DAAD, Dr. Roman
Luckscheiter, in Rosenau von deutscher Seite die Frage gestellt wurde, wann denn
der nächste Kongress stattfinden werde, atmeten wir erleichtert auf, denn wir wussten, dass dieses Interesse von Seiten des DAAD die beste und deutlichste Anerkennung unserer Aktivitäten bedeutet.
Es ist mir ein inneres Bedürfnis, an dieser Stelle den Studierenden unseres Instituts
ganz herzlich zu danken, deren Begeisterung und Einsatzbereitschaft bei der Vorbereitung des Kongresses auch mich, den nun nicht mehr Jüngeren, regelrecht angesteckt und um ein übriges Mal motiviert haben.
Nun beginnt dieser Kongress, und ich kann, ich darf es nicht versäumen, den diplomatischen Vertretungen Deutschlands und Österreichs, in den letzten Jahren immer
mehr auch der Schweiz, dem Bukarester Goethe-Institut, insbesondere aber dem
DAAD ganz herzlich zu danken für die ständige Unterstützung und Förderung der
Bemühungen der Germanistik Rumäniens. Denn unsere Germanistik verstand sich
seit ihren Anfängen und versteht sich bis heute als Kulturvermittler und als interkulturellen Brückenbauer.
Den auf diesem Kongress anwesenden 200 rumänischen und ausländischen Kolleginnen und Kollegen aus 15 Ländern darf ich im Namen der GGR für ihre Teilnahme
an diesem Kongress herzlichst danken und dabei meiner Überzeugung Ausdruck
verleihen, dass ihre Vorträge wichtige Beiträge zur Erforschung der deutschen Sprache, Literatur und Kultur sein und zur weiteren Vernetzung unserer ohnehin vielfältigen Beziehungen führen werden.
Für seine uns ehrende Anwesenheit auf unserem Kongress sei Seiner Exzellenz,
Herrn Botschafter Andreas von Mettenheim, unser ganz großer Dank ausgespro-
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IX. Internationaler Kongress der Germanisten Rumäniens 2012 - Dokumentation
chen. Auch allen anderen Ehrengästen sei nun mit gleicher Achtung und in Dankbarkeit gedankt.
Herzlichen Dank gilt vor allem aber der Leitung unserer Alma Mater Bucurestiensis,
seinem Rektor, Prof. Dr. Mircea Dumitru, für die großzügige Unterstützung des
Kongresses, der zugleich auch mit einem sehr reizvollen Rahmenprogramm – Lesungen, Stadtrundfahrt, Empfang – aufwartet.
[Ihre Grußworte an den IX. Kongress der Germanisten Rumäniens 2012 in
Bukarest richteten: Prof. Dr. Mircea Dumitru, Rektor der Universität Bukarest; S. E. der Botschafter de Bundesrepublik Deutschland in Rumänien
Andreas von Mettenheim; Prof. h.c. Dr. Stefan Sienerth, Direktor des
IKGS an der LMU München; Susanne Lüdtke, die die Grußbotschaft der
Präsidentin des DAAD, Frau Prof. Dr. Margret Wintermantel, verlas (siehe
hier Seite 170); Christianne Cosmatu, Unterstaatssekretärin im Department
für Minderheitenfragen der rumänischen Regierung; Jürgen Heissel, Gesandter Botschaftsrat der Österreichischen Botschaft und Prof. Silvia
Florea, Präsidentin des Rumänischen Deutschlehrerverbandes.]
Meine Sehr geehrte KollegInnen und Kollegen, die offizielle Eröffnungsveranstaltung ist zu Ende. Wir wünschen dem Kongress gutes Gelingen. Auf dem Abschlussplenum am Donnerstag, den 7. Juni, werden wir – dessen bin ich überzeugt – die
gute Bilanz des Kongresses ziehen.
*
*
*
Grußwort von Andreas Mettenheim,
Botschafter der Bundesrepublik Deutschland in Rumänien
Sehr geehrter Herr Prof. Guţu,
sehr geehrte Damen und Herren Professoren,
verehrte Kongressteilnehmer,
Ich bedanke mich für die Einladung.
Ich finde es sehr erfreulich, dass der Verband der Germanisten in Rumänien unter
Ihrer Leitung mit Unterstützung des DAAD in diesem Jahr bereits zum 9. Mal den
Internationalen Kongress der Germanisten Rumäniens veranstaltet. Professor Guţu
und seinem Team, ebenso wie dem DAAD, der Universität Bukarest und allen anderen Förderern und Unterstützern der Veranstaltung gebührt unser Dank.
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ZGR 2 (42) / 2012
IX. Internationaler Kongress der Germanisten Rumäniens 2012 - Dokumentation
Der Kongress verwirklicht den Gedanken des fachlichen und zum Teil auch durchaus fachübergreifenden Gedankenaustauschs über die Grenzen hinweg. Das ist mir
bewusst. Bitte haben Sie aber Verständnis dafür, dass ich mich bei dem, was ich jetzt
sage, auf ROU beschränke, wohl wissend, dass das Thema der deutschen Sprache in
ganz Südosteuropa von großer Bedeutung ist.
Wir alle wissen, dass die deutsche Sprache in ROU sehr lebendig ist. Sie wird in 73
deutschsprachigen Studiengängen und für 20.000 Schüler in DaM-Schulen als Unterrichtssprache verwendet. Mehr als 146.000 Schülerinnen und Schüler lernen
Deutsch als Fremdsprache und 12 Lehrstühle an universitären Einrichtungen pflegen das Fach Germanistik als Haupt- oder Nebenfach.
Das ruht auf dem Traditionsfundament der deutschen Minderheit, aber auch auf
den geistigen Einflüssen der deutschen Kultur, die ROU Ende des 19. und Anfang
des 20. Jh.s aus eigenem Willen aufgenommen hat. Es wird bis in diese Tage fortgesetzt durch die enge, hoffentlich nicht nur wirtschaftlich empfundene sehr enge
deutsch-rumänische Partnerschaft. Dazu zählt auch die immer noch sehr lebendige
Zugehörigkeit von Teilen des Landes zum deutschsprachigen Literaturraum.
Es wäre aber gefährlich, diese Situation – neudeutsch – als “Selbstläufer“' zu betrachten. Wir haben uns deshalb zum Ziel gesetzt, die breite Bildungsinfrastruktur in
deutscher Sprache in ROU zu erhalten, für deutschsprachige Studiengänge zu werben und zusammen mit den Mittlern ganz generell die deutsche Sprache intensiv
und öffentlichkeitswirksam so zu stützen, dass die hohe Qualität des Deutschunterrichts erhalten werden kann.
Die Entsendung von 33 Lehrern an rumänischen Schulen mit deutscher Unterrichtssprache trägt dem ebenso Rechnung wie das Goethe-Institut und die fünf Kulturzentren mit ihren Lehrerfortbildungs- und Sprachkursangeboten und der DAAD
mit seinen 10 Lektoren, 5 Sprachassistenten und einem Langzeitdozenten und einem
Informationszentrum hier in Bukarest.
Damit nehmen wir in Osteuropa – alles in allem – eine Spitzenstellung ein. Das ist
keine Selbstverständlichkeit und Hoffnungen, dass wir unsere Bemühungen noch
weiter deutlich steigern, muss ich redlicherweise dämpfen.
Die Botschaft hat im letzten Jahr zusammen mit dem DAAD und dem GoetheInstitut die Sprachkampagne „Deutsch – Sprache der Ideen“ gestartet. Eine Wanderausstellung war in Kooperation von zahlreichen Institutionen bereits in 9 rumänischen Städten zu sehen. Durch den bisherigen Zuspruch ermutigt, möchten wir sie
jetzt noch in weiteren 6 Städten zeigen. Im übrigen bemühen wir uns darum, die
deutsche Wirtschaft in ROU in unsere Sprachförderung, beispielsweise durch Praktika-Börsen oder Sponsoring einzubinden.
Im Jahr 2013 wird Deutschland zudem Ehrengast der Buchmesse „Bookfest“ sein,
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IX. Internationaler Kongress der Germanisten Rumäniens 2012 - Dokumentation
wobei wir einen gemeinsamen Auftritt mit Österreich und der Schweiz anstreben.
Meine Bitte an Sie ist: Behalten Sie die deutsche Sprache gut im Auge.
Die Distanz zwischen geschriebenem und gesprochenem Deutsch vergrößert sich
durch den Einfluss anderer gesprochener Sprachen rapide.
Sprachen verändern sich, und so auch das Deutsche. Elemente, Wörter, Neologismen oder ganze Grammatikstrukturen verändern sich. Was nicht mehr in die Zeit
passt, schleift sich in der Sprache schnell ab.
Sie, als Vertreter der rumänischen Germanistik, können diese Herausforderung vielleicht sogar besser meistern. Sie sind in Ihrer täglichen Arbeit seit vielen Jahren mit
„Interpretatio Romana“, konfrontiert. Diese Expertise ist in Deutschland nicht immer im gleichen Maße entwickelt und hier könnte die Germanistik Rumäniens
durchaus Impulse geben.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
*
* *
Grußbotschaft der Präsidentin des Deutschen Akademischen
Austauschdienstes, Prof. Dr. Margret Wintermantel
Sehr geehrter Herr Rektor,
sehr geehrter Herr Botschafter,
sehr geehrter Herr Professor Guţu,
sehr geehrte Damen und Herren,
es freut mich, Sie auch im Namen des Deutschen Akademischen Austauschdienstes
(DAAD) und seiner Präsidentin, Frau Prof. Dr. Margret Wintermantel, zum IX. Kongress der Germanisten Rumäniens begrüßen zu können.
Das umfangreiche Tagungsprogramm, das Themen aus der Sprachwissenschaft in
ebenso beeindruckender Breite auffächert wie Themen aus der Literaturwissenschaft, zeigt, wie stark die Germanistik Rumäniens in der Forschung aktiv ist. Die
Sektionen zum Rumäniendeutschen, zur Literatur des südosteuropäischen Kulturraums oder zur Migrantenliteratur machen zugleich deutlich, wie wichtig es ist,
Sprache und Kultur auch in ihren räumlichen, geschichtlichen und politischen Bezügen zu erfassen. Das macht die germanistische Forschung, wie sie hier zum Ausdruck kommt, zu einem attraktiven Fundament einer Wissenschaft, die sich aus einem europäischen Selbstverständnis speist und die ihrerseits das Verständnis der
europäischen Kulturen und ihrer vielfachen wechselseitigen Einflüsse, Impulse und
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IX. Internationaler Kongress der Germanisten Rumäniens 2012 - Dokumentation
Abhängigkeiten befördert.
Der rumänische Germanistentag ist aber auch ein Ort, an dem sich die Fachgemeinschaft zusammen mit ihren internationalen Kollegen über die zentralen Herausforderungen verständigt, vor denen das Fach in Rumänien und vielen anderen Ländern
steht und die vor allem die Lehre betreffen. Es gilt, sich auf veränderte Rahmenbedingungen der Deutschvermittlung einzulassen, die mit einer veränderten Nachfrage, aber auch mit veränderten Vorkenntnissen zu tun haben. Am „Runden Tisch“,
den der DAAD mit zahlreichen Institutsvertretern Rumäniens 2011 veranstaltet hat,
wurden diese Herausforderungen ausführlich erörtert: die Heterogenität der sprachlichen Kompetenzen der Studierenden, z.T. die Sorge um den Fortbestand von Master-Programmen aufgrund geringer Nachfrage etc. An diesem Runden Tisch wurde
aber auch deutlich, was in der täglichen Praxis der Deutschvermittlung alles unternommen werden kann und unternommen wird, um die Attraktivität der akademischen Deutschvermittlung mit neuen, berufsorientierten Curricula zu erhöhen und
um Werbung für die germanistischen Angebote zu machen. Dass das allgemeine Interesse an Deutsch hoch ist, belegen die Zahlen der Deutschlerner in nichtphilologischen Fächern, die je nach Standort in die Hunderte gehen.
In dieser Situation, in der es darum geht, die Vermittlung der deutschen Sprache
und Kultur auch in der Lehre stark zu halten, sind wir alle, die wir uns für die Förderung des Deutschen engagieren, auf Kooperation, Erfahrungsaustausch und gute
Ideen angewiesen. So ist es dieser Tagung sehr zu wünschen, dass sie den Teilnehmerinnen und Teilnehmern, den Nachwuchssissenschaftlern ebenso wie den Professoren die Gelegenheit bietet, die am Runden Tisch besprochenen Themen und
Handlungsfelder weiter gemeinsam zu bereden und die Kooperationen auszubauen.
Es ist daher Grund zur Freude, dass sich zu dieser Tagung über 200 Teilnehmer angemeldet haben, die aus den unterschiedlichsten Richtungen nach Bukarest reisen.
Der DAAD hat daher auch dieses Mal gerne die finanzielle Unterstützung aus Mitteln des Auswärtigen Amts zugesagt. Sie steht im Kontext zu weiteren Maßnahmen
der Deutschförderung in Rumänien: So fördert der DAAD aktuell neun Lektoren, die
an rumänischen Universitäten Deutsch bzw. Fächer mit Deutschlandbezug unterrichten, hinzu kommt das Germanistische Jahrbuch ‚Transcarpathica‘, eine Germanistische Institutspartnerschaft zwischen Cluj und Gießen – und nicht zuletzt fünf
deutschsprachige Studiengänge, in denen die deutsche Sprache auch im nichtphilologischen Kontext, nämlich in Europastudien, Bauingenieurwesen oder Biowissenschaften, eine relevante Rolle in der akademischen Zusammenarbeit spielt.
Zum Schluss möchte ich noch die gelungene Initiative erwähnen, die im vergangenen Jahr sehr öffentlichkeitswirksam für die deutsche Sprache geworben hat und bei
der rumänische und deutsche Akteure, aber auch die deutschen Mittlerorganisationen beispielhaft kooperierten.
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IX. Internationaler Kongress der Germanisten Rumäniens 2012 - Dokumentation
2010 hatte das Auswärtige Amt zur Kampagne „Deutsch – Sprache der Ideen“ aufgerufen, und in diesem Rahmen wurde in Rumänien unter dem Titel „Germana limba
marilor idei“, getragen von Deutscher Botschaft, DAAD und Goethe-Institut, ein
ganz besonders schönes Projekt realisiert: Die meisten von Ihnen kennen sicherlich
die 2011 landesweit ausgehängten Plakate, in denen bekannte rumänische Persönlichkeiten, die das Deutsche erlernt haben, porträtiert werden – mit Fotos und präg nanten Aussagen zu der Bedeutung der deutschen Sprache in ihrem eigenen Leben
und Werdegang. Die Teilnehmer der Kampagne kamen aus ganz unterschiedlichen
Bereichen des öffentlichen Lebens – aus Philosophie und Musik ebenso wie aus
Wirtschaft und Sport: Sie verdeutlichen mit ihren Lebensgeschichten und Lernerfahrungen, wie sehr die Beschäftigung mit der Sprache Deutsch vielfältige Bereiche
der anderen (und im Spiegel auch der eigenen) Kultur erschließt und in wie unterschiedlichen Domänen sie neue Zugänge und Möglichkeiten eröffnet.
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen allen eine erfolgreiche und anregende Tagung.
*
*
*
Grußwort von Prof. h.c. Dr. Stefan Sienert,
Direktor des IKGS an der LMU München
Eure Exzellenz,
Magnificenţa Voastră,
doamnelor şi domnilor,
liebe Kolleginnen und Kollegen,
meine sehr verehrten Damen und Herren!
De aproape două decenii ne întâlnim periodic fie într-un centru universitar românesc de prestigiu, fie într-o staţiune turistică cunoscută pentru a discuta probleme
legate de domeniul nostru de cercetare. De la prima noastră întâlnire în anul 1994 la
staţiunea balneară “Neptun” de lângă Mangalia, căreia le-au urmat cele de la Sinaia,
Iaşi, Sibiu, Timişoara şi Cluj, Institutul pentru Studiul Istoriei şi Culturii Germane
din Sud-Estul Europei (IKGS) de pe lângă Universitatea “Ludwig Maximilian” din
München, pe care am onoarea de a-l reprezenta la această manifestare, a participat
la toate simpozioanele organizate de Societatea Germaniştilor Români, în fruntea
căreia se află profesorul George Guţu de la această prestigioasă universitate.
Sunt bucuros că şi de data aceasta ni se oferă prilejul de a discuta într-un cadru academic probleme legate de cercetările noastre. Mă bucur că pe lângă teme legate de
limba şi literatura din spaţiul lingvistic german, cele referitoare la literatura şi limba
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IX. Internationaler Kongress der Germanisten Rumäniens 2012 - Dokumentation
minorităţii germane de pe teritoriul României precum şi cele referitoare la legăturile
cărturarilor români şi ale celor din sud-estul Europei cu metropelele culturale din
Europa centrală ocupă un loc bine determinat la această sesiune.
Ca si colegii George Guţu şi Peter Motzan, iniţiatorii acestor întâlniri şi ai multor
proiecte comune, am avut fericita ocazie să particip de la bun început la aceste sesiuni ştiinţifice. De aceea, aflându-mă în pragul pensionării, îmi permit să afirm că
aceste sesiuni ştiinţifice, la care au participat numeroşi germanişti şi romanişti de
prestigiu, au impulsionat cercetarea din domeniul nostru, au contribuit la realizarea
unor proiecte comune, la editarea mai multor volume, dintre care două – îmi permit
să vi le arăt acum – am reuşit să le edităm în preajma acestui congres.
Dar realizarea noastră majoră cred că fost alta; a fost, după părerea mea, cadrul pe
care am reuşit să-l creăm in jurul preocupărilor şi instituţiilor noastre, a fost formarea unui cerc de cercetători tineri de la universităţi româneşti şi străine, care prin lucrările lor de diplomă, de doctorat şi prin studiile şi articolele publicate fie în România, fie în străinatate, au îmbogăţit substanţial literatura de specialitate.
Ca unul care a cunoscut situaţia învăţământului românesc şi înainte de anul 1990
sunt bucuros că am avut posibilitatea de a dialoga cu foştii şi noii colegi din sud-estul
Europei într-un spaţiu comun, în care ne-am putut angaja in apărarea unor valori
intelectuale comune.
Vă rog să primiţi, stimate domnule rector Mircea Dumitru, mulţumirile noastre pentru găzduire şi frumoasa primire colegială. Vă asigur, că toţi colegii noştri germani
au venit cu mare plăcere în România şi în acest minunat oraş, de care personal, în
calitate doctorand şi profesor honoris causa al Almei Mater Bucurestensis, mă leagă
atâtea amintiri plăcute. Sunt convins că legăturile dintre instituţia noastră din München şi Departamentul de Limbi şi Literaturi Germanice, condus de mulţi ani cu succes de colegul şi prietenul nostru George Guţu, vor fi continuate şi de generaţiile care
ne vor urma.
*****
Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Es sind fast zwei Jahrzehnte vergangen, seit 1994 der erste Kongress der Germanisten Rumäniens im Freibad Neptun an der Schwarzmeerküste veranstaltet wurde.
Das Institut für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas an der LudwigMaximilians-Universität in München hat seit damals an all den weiteren Veranstaltungen teilgenommen und vertritt auch auf diesem 9. Kongress mit zahlreichen Referenten seinen Forschungsbereich.
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IX. Internationaler Kongress der Germanisten Rumäniens 2012 - Dokumentation
In der von unserem Kollegen René Kegelmann vorbereiteten Sektion geht es diesmal
um Differenzen und Überschneidungen im gemeinsamen ostmittel- und südosteuropäischen Raum während des 19. und 20. Jahrhunderts. Gemeinsam möchten wir die
Vielschichtigkeit der Literaturen und die Sprachenvielfalt dieses Raumes erkunden,
in dem das Deutsche und die in dieser Sprache verfassten Werke eine nicht unwesentliche Rolle gespielt haben. Wir hoffen hierdurch den thematischen Rahmen des
Kongresses, der den gesamten germanistischen Themenbereich in den Blick nimmt,
mit gehaltvollen Erkenntnissen erweitern zu können.
Ich danke allen Kolleginnen und Kollegen aus Rumänien, aus Deutschland, aus Österreich, Ungarn, Slowenien und Tschechien, die der Einladung unseres Institutes
gefolgt sind, ich freue mich auf die Referate, die Lesungen und die Diskussionen
während und am Rande der Tagung und wünsche unserer Tagung einen guten Verlauf.
Wenn man, liebe Kolleginnen und Kollegen, wie ich über mehrere Jahrzehnte an
wissenschaftlichen Veranstaltungen teilgenommen hat, drängt sich dann irgendwann mal auch die Frage eines Generationswechsels auf. Da ich das Amt, das ich
jetzt bekleide, während der nächsten rumänischen Germanistenkongressen, aus Altersgründen nicht mehr ausüben werde, möchte ich die Gelegenheit wahrnehmen,
mich bei den vielen Bekannten, Freunden, Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen für
die gute und ergebnisreiche Zusammenarbeit zu bedanken.
Ich tue dies auch im Namen meines langjährigen Freundes und Mitstreiters Peter
Motzan, des Stellvertretenden Direktors unseres Instituts, der schon seit einem Jahr
sein Rentnerdasein genießt. Wir verabschieden uns zwar von unseren Ämtern, doch
nicht von unserer germanistischen Tätigkeit, der wir uns, insofern wir gesund und
am Leben bleiben, auch hinfort widmen wollen. Wir sind nämlich der Meinung, dass
es gerade auf dem Gebiet der regionalen Literaturwissenschaft noch eine Menge zu
tun gibt, und an diesen Diskussionen wollen wir noch eine Weile partizipieren.
Wir sind uns bewusst, dass auf die jüngere Generation in den nächsten Jahren und
Jahrzehnten im Zeitalter der Globalisierung, der Marginalisierung der Geisteswissenschaften und der Verdrängung der nationalen Philologien eine ganze Reihe von
Herausforderungen zukommen wird, doch wir sind überzeugt, dass sie all diese Herausforderungen meistern werden.
Es ist mir unmöglich hier all jenen zu danken, mit denen sich im Laufe einer mehr
als 40jährigen germanistischen Laufbahn meine Wege gekreuzt haben. Ich sehe im
Saal eine Reihe ehemaliger Kolleginnen, Kollegen aus Hermannstadt, wo ich längere
Zeit gelebt habe, ich sehe die vielen Freundinnen und Freunde aus den anderen rumänischen Universitätszentren und von den Universitäten aus Ungarn, Slowenien,
Österreich und Deutschland. Ich freue mich, dass die Kollegen, die den Leitungsgremien unseres Münchner Instituts angehört haben bzw. ihm jetzt angehören, an dieser Tagung ebenfalls teilnehmen.
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IX. Internationaler Kongress der Germanisten Rumäniens 2012 - Dokumentation
Besonders erfreut bin über die zahlreichen ehemaligen Stipendiaten unseres Instituts, deren wissenschaftlichen Werdegang wir eine Zeitlang begleiten durften und
die sich in unserem Forschungsbereich einen Namen gemacht haben.
Und last but not least möchte ich mich beim Leiter des Rumänischen Germanistikverbandes, beim Kollegen und Freund George Guţu bedanken, mit dem wir besonders intensiv zusammengearbeitet haben und dessen Leistungen für die rumänische
Germanistik immens sind.
Rămâneţi cu bine, lebt wohl und Dankeschön!
Links: Dr. René Kegelmann, Prof. h.c. Dr. Stefan Sienerth, Prof. h.c. Dr. Peter Motzan
im Stoicescu-Saal der Rechtsfakultät der Universität Bukarest
(Sektion 3)
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IX. Internationaler Kongress der Germanisten Rumäniens 2012 - Dokumentation
PROGRAMM
IX. Internationaler Kongress der Germanisten Rumäniens
Bukarest, 4.-7. Juni 2012
PLENUM
Raum: Aula Magna (Rechtsfakultät), Bd. M. Kogălniceanu 36-46
Montag, 04. Juni 2012
9.00-11.15 Uhr Eröffnung und Vorträge
9.00-10.00 Uhr: Eröffnungsveranstaltung
1. Prof. Dr. George Guţu, Präsident der Gesellschaft der Germanisten Rumäniens: Begrüßung
2. Prof. Dr. Mircea Dumitru, Rektor der Universität Bucureşti / Bukarest: Grußwort
3. S.E. Andreas von Mettenheim, Botschafter der Bundesrepublik Deutschland in Rumänien:
Grußwort
4. Prof. h.c. Dr. Stefan Sienerth, Direktor des Instituts für deutsche Kultur und Geschichte
Südosteuropas (IKGS) an der Ludwig-Maximilians-Universität München: Grußwort
5. Grußbotschaft der Präsidentin des Deutschen Akademischen Austauschdiensts (DAAD), Bonn,
Prof. Dr. Margret Wintermantel, überbracht von Susanne Lüdtke, Mitarbeiterin des
Referats Auslandsgermanistik und Deutsch als Fremdsprache im DAAD
6. Prof. Silvia Florea, Präsidentin des Deutschlehrerverbandes Rumäniens: Grußwort
10.00-10.40 Uhr: 1. PLENARVORTRAG:
Prof. Dr. Irmela von der Lühe (Freie Universität Berlin): Zwischen Maskerade und Demontage.
Literaturgeschichte weiblicher Autorschaft
10.40-11.15 Uhr: 2. PLENARVORTRAG:
Dr. h.c. Hans Bergel (Gröbenzell u. Costermano): Fragen des innereuropäischen Dialogs. Gedanken und
Perspektiven
Dienstag, 05. Juni 2012
9.00-9.45 Uhr: 3. PLENARVORTRAG:
Dr. Jochen Golz (Präsident der Goethe-Gesellschaft in Weimar): "Wer sich mit der Administration
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IX. Internationaler Kongress der Germanisten Rumäniens 2012 - Dokumentation
abgibt ...". Goethe und die Politik
9.45-10.30 Uhr: 4. PLENARVORTRAG:
Prof. Dr. Hermann Scheuringer (Universität Regensburg): Research in Progress zum Banater
Berglanddeutschen
10.30-11.15 Uhr: 5. PLENARVORTRAG:
Prof. Dr. Orlando Grossegesse (Universität Minho / Portugal): Braucht die Großstadt Berlin den großen
Roman? Antworten auf eine Frage der Literatur- und Kulturgeschichte
Mittwoch, 06. Juni 2012
9.00-10.00 Uhr: 6. PLENARVORTRAG:
Prof. Dr. Dr. h.c. Ludwig M. Eichinger (Direktor des Instituts für Deutsche Sprache – IdS, Mannheim):
Die deutsche Sprache – Ansichtssache
Donnerstag, 07. Juni 2012
13.15 – 14.00 Uhr (Raum: Aula Magna oder Amfiteatrul I „Paul Negulescu“)
Plenarsitzung – Abschluss des Kongresses
LESUNGEN
Raum: Aula Magna (Rechtsfakultät, Bd. M. Kogălniceanu 36-46)
Montag, 04. Juni 2012
Moderation: Peter Motzan
20.00-20.45 Uhr:
Mircea Cărtărescu
(Rumänien)
20.45-21.30 Uhr:
Matthias Buth (Deutschland)
Mittwoch, 06. Juni 2012
Moderation: Ioana Crăciun-Fischer
20.00-20.45 Uhr:
Jan Koneffke (Deutschland/Österreich)
Moderation: George Guţu
20.45-21.30 Uhr:
Peter K. Wehrli (Schweiz)
*****
STADTRUNDFAHRT BUKAREST
Mittwoch, 06. Juni 2012, 10.30 Uhr: Abfahrt / Treffpunkt: vor der Rumänischen Staatsoper.
Stadtrundfahrt, Mittagessen im Restaurant Hanul Berarilor (Herberge der Bierbrauer), Besuch und
Spaziergang im Dorfmuseum, Rückkehr gegen 19.00 Uhr.
*****
A U S S T E L L U N G E N (im Foyer der Rechtsfakultät)
• 20 Jahre Zeitschrift der Germanisten Rumäniens, 22 Jahre Gesellschaft der Germanisten Rumäniens
sowie 10 Jahre transcarpathica. germanistisches jahrbuch rumänien (1990 – 1992; 2002 – 2012).
Zusammengestellt von George Guţu
• Der Alfred-Margul-Sperber-Nachlass im Nationalen Museum für Rumänische Literatur.
Zusammengestellt von George Guţu
*****
E M P F A N G (Einlass nur mit individueller Einladung!)
Dienstag, 05. Juni 2012, 20.00-22.00 Uhr: Hotel INTERCONTINENTAL Bukarest, Saal FORTUNA,
ZGR 2 (42) / 2012
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IX. Internationaler Kongress der Germanisten Rumäniens 2012 - Dokumentation
im 21. Stockwerk (Stadtmitte, gegenüber dem Alten Universitätsgebäude)
Sektion 1 - Untersektion 1 A Deutsch im Fokus, Deutsch im Kontrast
Leitung: Ruxandra Cosma, Thomas Schares
Raum: Amfiteatrul I „Paul Negulescu”
Montag, 04. Juni 2012
Block I: Deutsch im Kontrast
Moderation: Kristel Proost
11.45-13.45 Uhr
1. Stefan Engelberg: Psychverben kontrastiv. Eine quantitative Korpusstudie zum Deutschen
und Rumänischen
2. Rodica-Ofelia Miclea: Funktionale Äquivalenzen und formale Vielfalt: Die Diminution im
Übersetzungsvergleich Deutsch-Rumänisch
3. Thomas Schares: Deutsch-rumänische Lexikographie – eine Bestandsaufnahme
Montag, 04. Juni 2012
Block II: Deutsch im Fokus, Deutsch im Kontrast
Moderation: Stefan Engelberg
15.00-17.00 Uhr
1. Kristel Proost: Die deutsche SUCH-Konstruktion als eine Familie von Konstruktionen
2. Alexandra Cornilescu, Ruxandra Cosma: Zur Modalität des rumänischen Supinums und
der Infinitivkonstruktionen im Deutschen
3. Peggy Katelhön: Kontinuativkonstruktionen im deutsch-italienischen Sprachvergleich
4. Evgenya Kakzanova: Die Rolle der Termini in der angewandten Linguistik und deren
lexikografische Fixierung
5. Casia Zaharia: Phraseologismen in der Werbesprache
Dienstag, 05. Juni 2012
Block III: Deutsch im Fokus: Text und Pragmatik
Moderation: Evgenya Kakzanova
15.00 – 17.00 Uhr
1. Nicoletta Gagliardi: Italianismen in der deutschen Gegenwartssprache. Eine korpusbasierte
Studie
2. Marta Lupica Spagnolo: Morphologische Produktivität in Texten deutschsprachiger
interkultureller Autoren. Eine korpuslinguistische Analyse
3. Cecilia Vârlan: Zur Funktion metasprachlicher Marker der Kommentierung in
Wirtschaftstexten
4. Ionela Duduţă: Gesichtsbedrohende Akte und Höflichkeitsstrategien in der Kinder-ElternBeziehung
178
ZGR 2 (42) / 2012
IX. Internationaler Kongress der Germanisten Rumäniens 2012 - Dokumentation
Sektion 1 Untersektion 1 B Deutsch in Rumänien – Rumäniendeutsch
Leitung: Ioan Lăzărescu, Hermann Scheuringer Saal: Amfiteatrul I „Paul Negulescu”
Montag, 04. Juni 2012
Block I: Sprachen im Vergleich aus synchroner und diachroner Sicht (I)
Moderation: Ioan Lăzărescu
17.30-19.00 Uhr
1. Carmen-Cayetana Castro Moreno: Verwandtsprachen im Vergleich
2. Ioana Hermine Fierbinţeanu: Das deutsche, rumäniendeutsche und rumänische
Anredeverhalten in der Familie
3. Åsa Apelkvist: Idiome aus dem semantischen Feld Tod und Sterben. Ein kleiner schwedischdeutsch-rumänischer Vergleich
4. Ronny F. Schulz: Das ‚Rumäniendeutsche’ im sprachgeschichtlichen Lehrbuch
Dienstag, 05. Juni 2012
Block II: Sprachen im Vergleich aus synchroner und diachroner Sicht (II)
Moderation: Peggy Katelhön
11.45-13.45 Uhr
1. Vlad Cucu-Oancea: Lexikologische und etymologische Bemerkungen zu den Bildungen auf -a,
-i und -o im Deutschen und Rumänischen
2. Mihai-Ionuţ Crudu: Zu den rumänischen Archaismen deutschen Ursprungs: semantische
Überlieferung
3. Adriana Ionescu: ‚Falsche Freunde‘ in den Überschneidungsbereichen unterschiedlicher
linguistischer Phänomene
4. Thilo Herberholz: Modalpartikeln und Interaktion
5. Adina-Lucia Nistor: Österreichische Schimpfwörter in Siebenbürgen
6. Cornelia Pătru: Zur Rolle des fachsprachlichen bzw. pseudofachsprachlichen Wortschatzes in
der Werbesprache. Kontrastive Aspekte Deutsch-Rumänisch
Dienstag, 05. Juni 2012
Block III: Rumäniendeutsch – Deutsch in Rumänien (I)
Moderation: Sigrid Haldenwang
17.30-19.00 Uhr
1. Alwine Ivănescu / Mihaela Şandor: Lautgeographische Erschließung der Banater deutschen
Mundarten. Überlegungen zu einem Sprachatlas
2. Johannes Sift: Der Audio-Atlas Siebenbürgisch Sächsischer Dialekte (ASD)
3. Peter Kottler: Die Wechselwirkung zwischen grammatischem und phonetischem System bei
den Ausgleichsprozessen innerhalb der Banater Mischmundarten westmitteldeutscher Prägung
4. Sorin Gădeanu: Zum Zustand der gehobenen Fremdsprachlichkeit im dreisprachigen Umfeld.
Eine Fallstudie an den deutschsprachigen Schulen im Sathmargebiet
Donnerstag, 07. Juni 2012
Block IV: Rumäniendeutsch – Deutsch in Rumänien (II)
ZGR 2 (42) / 2012
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IX. Internationaler Kongress der Germanisten Rumäniens 2012 - Dokumentation
Moderation: Hermann Scheuringer
9.00-11.15 Uhr
1. Georg Schuppener: Zahlenangaben in Toponymen
2. Sigrid Haldenwang: Lehnlexikate sowie Wortbildungen mit Lehnlexikaten im SiebenbürgischSächsischen, bezogen auf: Berufsbezeichnungen im Wandel der Zeit, bestimmte Handwerke
und Verwaltung (Beamtenstand mit Funktionen und Würdenträger)
3. Maria Muscan: Auf den Spuren der Deutschen in der Dobrudscha. Ein Projekt mit
Studierenden
4. Julianne Thois: Die Anfänge der Beziehung Hochsprache – Mundart im siebenbürgischen
Burzenland
5. Ileana Ratcu / Ioan Lăzărescu: „…Und verharre, in geduldiger Erwartung meiner
demütigsten Bitte, Euer Excellens, Meines Gnädig Hochgebietenden Herrn Herrn geringster
Diener…“ Devote, autohumiliante und blandiloquente Formulierungen in siebenbürgischsächsischen Briefen und Bittschriften des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit
Donnerstag, 07. Juni 2012
Block V: Rumäniendeutsch in der Presse – Zeitungsdeutsch
Moderation: Sorin Gădeanu
11.45-13.15 Uhr
1. Clara Herdeanu: Revolutions-Diskurs in deutschsprachigen Zeitungen Rumäniens
2. Doris Sava: Stellenangebote in deutschsprachigen Zeitungen aus Rumänien
3. Kinga Gáll: Ein anderes Rumäniendeutsch. Bemerkungen zum Wortschatz der „Temesvarer
Zeitung“
4. Ana Iroaie: Deutsche präpositionsvalente Substantive und deren Äquivalenzen im
Rumänischen. Korpusgestützte Typologisierungsmuster anhand deutscher und
rumäniendeutscher Pressebeispiele
Sektion 2 Untersektion 2 A (I. Teil): Interreferentialität: Literatur im intertextuellen,
interkulturellen, intermedialen und interlingualen Dialog
Saal: 114 Leitung: Ioana Crăciun-Fischer, George Guţu
Montag, 4. Juni 2012
Moderation: Ioana Crăciun-Fischer
11.45 – 13.45 Uhr
1. Anton Schwob: Der Dichter zwischen Mäzen und Publikum in der mittelalterlichen deutschen
Literatur
2. Orlando Balaş: Die partielle Christianisierung des nibelungischen Sagenstoffs im
Nibelungenlied
3. Delia Eşian: Jakob als Chiffre: Hans Sachs und Christian Weise
4. Cristina Ivanov: Identitätssuche und narrative Sequenzen in Till Eulenspiegel
Montag, 4. Juni 2012
Moderation: Anton Schwob
180
2012
ZGR 2 (42) /
IX. Internationaler Kongress der Germanisten Rumäniens 2012 - Dokumentation
15.00 – 17.00 Uhr
1. Elisa Lopatta: Sprachpragmatische Figurencharakterisierung aus Emilia Galotti und die
Bedeutung paraverbaler Mittel in Inszenierungen
2. Berta Raposo: Flatterhafte Franzosen, freisinnige Engländerinnen. Nationale Stereotype und
kulturelle Andersartigkeit in deutschen Dramen des 18. Jahrhunderts
3. Klaus F. Gille: Fallada und Rotbart. Zur Verwertung und Funktionalisierung von Sagen und
Märchen in Heines Deutschland. Ein Wintermärchen
4. Ana-Maria Dascălu-Romiţan: Der Einfluss von E. T. A. Hoffmann auf die „Scapigliatura“
Montag, 4. Juni 2012
Moderation: Laura Cheie
17.30 – 19.00 Uhr
1. Ingrid García-Wistädt: Ida Hahn-Hahns Reisen in den Süden: Ein Dialog mit der eigenen
Kultur
2. Isabel Gutiérrez-Koester: Die Darstellung deutsch-spanischer Stereotype in den Medien der
Franco-Zeit
3. Jana Hrdličková: Hermetik und Dialogizität am Beispiel von Paul Celan und Nelly Sachs
Dienstag, 5. Juni 2012
Moderation: Ingrid García-Wistädt
11.45 – 13.45 Uhr
1. Peter Göhler: Motivisches Erzählen bei Anna Seghers, erläutert besonders am Beispiel der
Erzählung Steinzeit
2. Oana Gorbănescu: Christoph Heins und Christa Wolfs utopischer Sozialismus
3. Laura Cheie: Inventur 96. Robert Gernhardts dialogische Bestandsaufnahme
4. Alexandra Chiriac: Das Motiv der Suche und die Utopie der Liebe. Julian Schüttings
Auseinandersetzung mit Richard Wagners Parsifal
Dienstag, 5. Juni 2012
Moderation: Raluca Dimian-Hergheligiu
15.00 – 17.00 Uhr
1. Rolf Stolz: Das KUNSTGEFECHT als künstlerisches Entwicklungsprinzip – seine konkrete Gestalt
zwischen Rhein und Donau, jenseits provinzieller Enge und globalistischer Entgrenzung
2. Katharina Kilzer: Der Schriftsteller als Grenzgänger zwischen zwei Sprachen und Kulturen.
(Esther Kinsky, Catalin Dorian Florescu, Arno Geiger)
3. Lucia Nicolau: Walter Gronds Odyssee-Rezeption
4. Mihaela Zaharia: „Wir Zigeuner sind nicht rachsüchtig“ – Philomena Franz und der unendliche
Weg nach Innen
Dienstag, 5. Juni 2012
Moderation: Isabel Gutiérrez-Koester
17.30 – 19.00 Uhr
1. Johann Holzner: Erzählen, Erinnern, Nachprüfen. Über Franz Tumler
ZGR 2 (42) / 2012
181
IX. Internationaler Kongress der Germanisten Rumäniens 2012 - Dokumentation
2.
3.
Petra Kory: Vom Erlebnisbericht zur Belletristik. Reinhold Messner und Christoph Ransmayr auf
der Suche nach der Wahrheit einer Geschichte
Dragoş Carasevici: Der Dramatiker und die Bühne. Neue Einblicke in Friedrich Dürrenmatts
Theaterdenken und -praxis
Donnerstag, 7. Juni 2012
Moderation: Johann Holzner
9.00 – 11.15 Uhr
1. Isabelle von Zitzewitz: Die (literarische) Antwort auf den Terrorismus
2. Raluca Dimian-Hergheligiu: Modelle fotografischer Visualität in der Literatur: Thomas Mann,
Marcel Proust
3. Ioana Crăciun-Fischer: Die Darstellung der Homosexualität im klassischen deutschen
Stummfilm
4. Ana-Maria Pălimariu: Der Journalist Mihai Chisanovici: Zur Selbstinszenierung eines
rumänischen Intellektuellen in der „(Bukowiner) Freien Lehrerzeitung“ (1901-1912)
Donnerstag, 7. Juni
Moderation: Petra Kory
11.45 – 13.15 Uhr
1. Daniela Lieb: Identitäts- und Alteritätskonstruktionen im Roman Neubrasilien des Luxemburger
Schriftstellers Guy Helminger
2. Gheorghe Nicolaescu: Berlin als Ort der Erinnerung in Cees Nootebooms Roman Allerseelen
3. Maria Irod: Trauer, Lyrik und Intertextualität. Überlegungen zu Johannes Bobrowskis Trauer um
Jahnn, Hubert Fichtes Ich bin ein Löwe und Thomas Böhmes Trauer um Hubert Fichte
Sektion 2 Untersektion 2 A (II. Teil): Interreferentialität: Literatur im intertextuellen,
interkulturellen, intermedialen und interlingualen Dialog
Saal: 120 Leitung: Ioana Crăciun-Fischer, George Guţu
Montag, 4. Juni 2012
Moderation: Klaus F. Gille
11.45 – 13.45 Uhr
1. Agnieszka Rajewska-Perzyńska: Rolf Bongs: Porträt eines jungen Mannes oder die
Emanzipation eines Sohnes – die Autobiografie
2. Beatrice Nicoriuc: Stadt – Großstadt bei Herta Müller
3. Alexa Stoicescu: Heideggers Begriff ‚Heimat’ in Herta Müllers Roman Reisende auf einem Bein
4. Anita Szell: Interkulturelle Rezeption vom Leben und Werk Hans Bergels im 21. Jahrhundert
Montag, 4. Juni 2012
Moderation: Daniela Lieb
15.00 – 17.00 Uhr
1. András Gabor Toth: ‚Die verlorene Generation’ in der siebenbürgisch-deutschen Literatur der
Zwischenkriegszeit
182
ZGR 2 (42) / 2012
IX. Internationaler Kongress der Germanisten Rumäniens 2012 - Dokumentation
2.
3.
Anamaria Florentina Ion: Die deutsche literarische Gesellschaft in der Zwischenkriegszeit in Bukarest
Eva Spanier: Das Lexikon der mittelalterlichen Literatur in Ungarn und Rumänien – ein
interkulturelles Projekt
Montag, 4. Juni 2012
Moderation: Berta Raposo
17.30 – 19.00 Uhr
1.
Liliana-Emilia Dumitriu: Interkulturelle Aspekte der Rezeption des Gral-Motivs in Rumänien
2.
Ioan-Mirel Hăbean: Religionswissenschaft und Literatur. Anmerkungen zu Mircea Eliades
deutscher Rezeption
3.
Barbara Mendel: Erinnerungsorte zwischen Zerfall und Konservierung – Bukarest in Christian
Hallers Roman Die verschluckte Musik
Dienstag, 5. Juni 2012
Moderation: Anita Szell
11.45 – 13.45 Uhr
1.
Andreea-Roxana Ghiţă: Fiktive Autobiographie und postmoderne Auseinandersetzung mit der
Geschichte – Perspektiven auf die Wende 1989 bei Thomas Brussig und Mircea Cărtărescu
2.
Bogdan Mihai Dascălu: Titu Maiorescu und die Entdeckung Europas
3.
Maria Trappen: Ertrag und Nachhaltigkeit der Kulturvermittlung am Beispiel der Pro-HelvetiaAntenne in Bukarest
Sektion 2 Untersektion 2 B: Goethes Wirken und Wirkung daheim und in der Fremde
Saal: 215 Leitung: George Guţu, Elena Viorel, Vasile Voia
Dienstag, 5. Juni 2012
Moderation: Elena Viorel
11.45 – 13.45 Uhr
1.
Eugen Christ: Jedermann als Faust – Fritz Hochwälders Donnerstag aus Sicht einer
phänomenologischen Untersuchung des literarischen Stoffes des Dr. Faust
2.
Veronica Buciuman: Hermann Hesse im Dialog mit dem ‚unsterblichen’ Goethe. Zur
Problematik der Aufrichtigkeit und der literarischen Authentizität
3.
Mihai Stroe: Goethe versus Spengler şi Campbell: Epoca faustică şi moştenirea lui Frankenstein
4.
Cornelia Eşianu: „Gefühl ist alles“: Das Goethe-Zitat bei Schlegel und Hegel
5.
Carmen Iliescu: J. W. Goethes frühe Ansätze zu subjektreflexiven Kindheitskonstruktionen
Dienstag, 5. Juni 2012
Moderation: Cornelia Eşianu
15.00 – 17.00 Uhr
ZGR 2 (42) / 2012
183
IX. Internationaler Kongress der Germanisten Rumäniens 2012 - Dokumentation
1.
Gabriella-Nóra Tar: Goethe im Theater
2.
Anca Rădulescu: Aspekte der Italienreisen in der rumänischen Literatur
3.
Sorin Toma: Zu Goethes Anleitung zur Bildung einer Theorie des Lichts
4.
Elena Viorel: Goethes Plädoyer für Übersetzen und Fremdsprachenlernen
5.
Orlando Grossegesse: Im Garten der Lüste und Texte. Bedeutungspotential des WertherRomans als Problem der Übersetzungspraxis
Dienstag, 5. Juni 2012
Moderation: Elena Viorel, George Guţu
17.30 – 19.00 Uhr
Rundtischgespräch: Zur neuen rumänischen Goethe-Ausgabe
Claudiu Baciu Gabriel H. Decuble, Evemarie Draganovici, Mihai Draganovici, George Guţu, Carmen Iliescu,
Lucia Nicolau, Matei Pleşu, Dragoş Popescu, Anca Rădulescu, Anca Vasas
Sektion 2 Untersektion 2 C Wahrnehmungen und Erfahrungen in der Literatur der
Jahrhundertwende
Leitung: Mariana-Virginia Lăzărescu Saal: 215
Montag, 04. Juni 2012
11.45 – 13.45 Uhr
Moderation: Mariana-Virginia Lăzărescu
1.
Alina Elena Chirilă: Massenliteratur um die Jahrhundertwende
2.
Waldemar Gakan: Die deutschsprachige Literatur in und aus Osteuropa: Rezeption des
Werkes von Rainer Maria Rilke in Polen 1910 - 2010
3.
Lucia Irina Gorgoi: Geschlechterentwürfe im literarischen Werk von Lou Andreas-Salomé
4.
Vilma Göte-Mihaly: Der mythische Raum in Joseph Roths Hiob
5.
Matjaž Birk: Zu Inszenierungen der habsburgischen Metropole in der slowenischen Literatur
der Moderne
6.
Diskussionen zu den Vorträgen
Montag, 04. Juni 2012
15.00 – 17.00 Uhr
Moderation: Dagmar Lorenz
184
1.
Petra Kramberger: Autorinnen in der Sonntags-Beilage der Marburger Zeitung (1886 - 1898)
2.
Roland Kamzelak: Gefährlicher Schiller oder Quelleneditionen kommentieren: Klabunds
„Silvesterpost 1920“
3.
Tatjana Kuharenoka: „Frei sein. Im Denken, Fühlen und Sehen“. Sinnlichkeit und Identität
im Frauentagebuch der Wiener Moderne
4.
Tanja Žigon: Die Rezeption der deutschen Autoren und Autorinnen im slowenischen Gebiet
ZGR 2 (42) / 2012
IX. Internationaler Kongress der Germanisten Rumäniens 2012 - Dokumentation
Ende des 19. Jahrhunderts
5.
Cristina Spinei: Bukowinisches Zeitungswesen im habsburgischen Kulturkreis: Mobilität,
kollektives Gedächtnis und Aufklärung
6.
Diskussionen zu den Vorträgen
Montag, 04. Juni 2012
17.30 – 19.00 Uhr
Moderation: Roland Kamzelak
1.
Dagmar Lorenz: Tradition und (chinesischer) Exotismus bei Hugo von Hofmannsthal
2.
Ana Karlstedt: Vernetzung und Kontrastierung in der Vermittlung von literarischen
Epochenumbrüchen
3.
Jaroslav Lopuschanskyj: Stefan Zweigs ambivalente Wahrnehmung Galiziens um die
Jahrhundertwende
4.
Iulia Elena Zup: Der Unheilige, Gesetz und Strafe in Leo Perutz’ Der Judas des Leonardo
5.
Diskussionen zu den Vorträgen
Sektion 2 Untersektion 2 D Die Fremde als Ort der Geschichte in der deutschsprachigen
Migrantenliteratur
Leitung: Raluca Rădulescu Saal: 120
Dienstag, 5. Juni 2012
Moderation: Raluca Rădulescu
15.00 – 17.00
1.
Lucia Perrone-Capano: Schreiben in Kontakt- und Konfliktzonen
2.
Andrea Meixner: Wer ‚wir’ sind – Räumliche und kulturelle Selbstverortung in ausgewählten
Werken der deutschsprachigen ‚Migrationsliteratur’
3.
Sunhild Galter: Transkulturell bedingtes Genderbewusstsein in einigen Romanen europäischer
Imigrantinnen
4.
Diskussionen zu den Vorträgen
Dienstag, 5. Juni 2012
Moderation: Lucia Perrone-Capano
17.30 – 19.00
1.
Yüksel Gürsoy: Die Entstehungsbedingungen und inhaltlichen Schwerpunkte der deutschtürkischen Literatur
2.
Johanna Domokos: Interkulturalität aus normalismustheoretischer Perspektive
in Werken deutscher Autoren mit dem Fokus „Finnland/finnische Frauen“
3.
Raluca Rădulescu: Narrative Verfahren bei der Darstellung kultureller Alterität im
‚Migrationsroman’. Marica Bodrožićs Der Spieler der inneren Stunde
ZGR 2 (42) / 2012
185
IX. Internationaler Kongress der Germanisten Rumäniens 2012 - Dokumentation
4.
Diskussionen zu den Vorträgen
S e k t i o n 3 : Differenzen und Überschneidungen. Deutschsprachige Literatur in und aus
Ostmittel- und Südosteuropa und kulturelle Differenz
Saal: Stoicescu (ehemals Bibliothek)
Montag, 04.06.2012
Moderation: Jürgen Lehmann
11.45 – 13.45 Uhr
1.
Begrüßung und Einführung - René Kegelmann
2.
George Guţu: Zum Briefwechsel von Hans Bergel und Manfred Winkler
3.
Joachim Wittstock: Südöstliche Lebenswelten in Andreas Birkners (1911-1998) Sicht und
Gestaltung
4.
Stefan Sienerth: Die literarische Gruppe um Oscar Pastior in den 60er Jahren. Moderne und
interkulturelle Einflüsse
5.
András Balogh: Nation, Nationalität und Migration bei Adam Müller-Guttenbrunn
6.
Diskussion der Vorträge
Montag, 04. Juni 2012
Moderation: Peter Motzan
15.00 – 17.00 Uhr
1.
Maria Sass: „Öffnung zum Andersartigen, Annäherung an den Nachbarn!“ Interkulturelle
Aspekte im essayistischen Werk Joachim Wittstocks
2.
Alice Buzdugan: Oskar Walter Ciseks Imaginationen über die Stadt zwischen Text-Rand und
„aufmerksamem Blick“
3.
Grazziella Predoiu: „Der Nullpunkt der Existenz“: Dieter Schlesaks Roman Capesius, der
Auschwitzapotheker
4.
Silvia Petzoldt: Kulturelle Differenz und kulturelle Identität in literarischen Texten von Pál
Bodor (*1930) und Paul Schuster (1930-2004)
5.
Diskussion der Vorträge
Montag, 04. Juni 2012
Moderation: Maria Sass
17.30 – 19.30 Uhr
186
1.
Roxana Nubert: Pendler zwischen Literatur und Politik: Richard Wagner
2.
Daniela Ionescu-Bonanni: Das interkulturelle Potenzial der Prosa rumäniendeutscher
Autoren nach 1990 am Beispiel Franz Hodjaks
3.
Róbert Gabriel Elekes: Ein Jahrzehnt zwischen geliebter und ungeliebter Moderne.
Rumäniendeutsche Literatur zwischen 1970 und 1980
4.
Cosmin Dragoste: „Ich bin da […] ich bin immer da”. Die Frau als „Grenzüberschreiter“ und
ZGR 2 (42) / 2012
IX. Internationaler Kongress der Germanisten Rumäniens 2012 - Dokumentation
verbindendes Mittel der Kulturen im Krähensommer von Balthasar Waitz
5.
Diskussion der Vorträge
Dienstag, 05. Juni 2012
Moderation: Erika Hammer
11.45 – 13.45 Uhr
1.
Mariana-Virginia Lăzărescu: Gregor von Rezzoris „Lolitaland“ als innere Reise des Autors
zwischen der Alten und der Neuen Welt
2.
Réka Santa-Jakábházi: Identität, Gattung und Form im Werk von Franz Hodjak
3.
Szilvia Ritz: Gregor von Rezzori: Denkwürdigkeiten eines Antisemiten. Kulturelle Differenzen
am Schnittpunkt von Ost und West
4.
Zoltán Szendi: Spiel und Ironie in der Lyrik des ungarndeutschen Dichters Josef Michaelis
5.
Diskussion der Vorträge
Dienstag, 05. Juni 2012
Moderation: Szilvia Ritz
15.00 – 17.00 Uhr
1.
Jürgen Lehmann: Subversive Sprachspiele: Dialogizitätsstrukturen in Texten der "Sächsischen
Dichterschule" und der "Aktionsgruppe Banat"
2.
Erika Hammer: Konstruierte Enge bei Herta Müller und Terézia Mora
3.
René Kegelmann: Raumkonzeptionen in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur aus
Südosteuropa (Müller, Mora, Nadj Abonji)
4.
Gabriela Şandor: Tatarenfiguren in der rumäniendeutschen Literatur
5.
Diskussion der Vorträge
Dienstag, 05. Juni 2012
Moderation: Silvia Petzoldt
17.30 – 19.00 Uhr
1.
Ulrich van Loyen: „Kleine Literatur“ oder „Weltliteratur“: Kanonisierungsstrategien bei
Norman Manea und Herta Müller im Vergleich
2.
Renate Cornejo: „Die Heimat heißt Babylon“. Dialogizität als ästhetische Qualität in
ausgewählten Gedichten von Jiří Gruša
3.
Eszter Propszt: Prozesse der Differenzierung in Zsuzsa Bánks Der Schwimmer
4.
Diskussion der Vorträge
Donnerstag, 07. Juni 2012
Moderation: René Kegelmann
09.30 – 11.15 Uhr
1.
Günther Guggenberger: Die Repräsentation von kultureller Differenz in frühen Erzähltexten
ZGR 2 (42) / 2012
187
IX. Internationaler Kongress der Germanisten Rumäniens 2012 - Dokumentation
des Czernowitzer Autors Georg Drozdowski
2.
Andrei Corbea-Hoişie: Zur Figur der Amme bei den Bukowiner Schriftstellern
3.
Nora Chelaru: Literaturrezensionen in der „Czernowitzer Allgemeinen Zeitung“ 1918 - 1933
4.
Diskussion der Vorträge
Sektion 4: Didaktik des Deutschunterrichts (DaF, DaM, DaU) :
Saal: 124 Leitung: Marianne Koch, Carmen Elisabeth Puchianu, Ioana Velica
Dienstag, 05. Juni 2012
Moderation: Marianne Koch
11.45 – 13.45 Uhr
1.
Carmen Elisabeth Puchianu: Agieren und Studieren – wie geht denn das? Alternative
Unterrichtsmethoden im Umgang mit Literatur.
2.
Silvia Florea: Erlebte Sprache – Kreatives Schreiben
3.
Ioana Andreea Diaconu: Haben literarische Texte einen Platz im handlungsorientierten DaFUnterricht?
4.
Georgeta Ţoţea: Einsatz von literarischen und nonliterarischen Texten in einem
handlungsorientierten Deutschunterricht (DaF / DaM / DaZ)
5.
Mihaela Zografi: Training interkultureller Kommunikationskompetenz im fachbezogenen
Fremdsprachenunterricht. Körpersprache und Proxemik
6.
Diskussion der Vorträge
Dienstag, 05. Juni 2012
Moderation: Ioana Velica
15.00 – 17.00 Uhr
1.
Djamel Eddine Lachachi: Wortarten und Wortbildung im DaF2-Unterricht
2.
Arben Djemailoski: Deutsche nomina agentis und der mazedonische DaF-Lerner
3.
Maria Muscan: Grammatikunterricht in virtuellen Unterrichtsräumen
4.
Mirela Ioniţă: Tabu-Topics im DaF-Unterricht. Fallstudie: DaF für rumänische Soldaten
5.
Lora Constantinescu: Der diskrete Charme der Präsentation im Wirtschaftsdeutschunterricht
6.
Diskussion der Vorträge
Dienstag, 05. Juni 2012
Moderation: Carmen Elisabeth Puchianu
17.30 – 19.00 Uhr
188
1.
Ioana Velica: Ausbildung der GrundschullehrerInnen und KindergärtnerInnen für DaM an der
Universität „Babeş-Bolyai“ – Außenstelle Sibiu / Hermannstadt
2.
Florentina Alexandru: Die interkulturelle Dimension der Fremdsprachenlehrerausbildung
ZGR 2 (42) / 2012
IX. Internationaler Kongress der Germanisten Rumäniens 2012 - Dokumentation
3.
Marianne Koch: Franz Obert als Schulmann und Lehrerfreund
4.
Diskussion der Vorträge
Sektion / Secţia 5 Interculturalitate în acţiune. Interreferenţialităţi literar-culturale
Sala: 212 Coordonare: Constantin Geambaşu, Vasile Morar, Maria Irod
Luni, 4 iunie 2012
Moderatoare: Antoaneta Olteanu
Orele 11.45 – 13.45
1.
Ligia Maria Fodor: Din istoria învăţământului secundar de stat în Bucovina habsburgică.
Gimnaziul Superior de Stat din Coţmani (1904-1918)
2.
Anca Irina Ionescu: Contribuţia intelectualilor cehi din Austria la făurirea statului modern
bulgar
3.
Maria Niculiu: Cultură-agricultură, interreferenţialităţi esenţiale pentru schimbarea paradigmei
de la intensiv la durabil
4.
Carmen Popa: Receptarea culturii germane prin intermediul traducerilor publicate în gazetele
sibiene “Tribuna” şi “Telegraful Român” în cea de-a doua jumătate a secolului al XIX-lea
5.
Melania Ilea: Lucian Blaga în spaţiul lingvistic și cultural german. Un studiu comparat al
traducerilor de poezie
6.
Discuţii pe marginea comunicărilor
Luni, 4 iunie 2012
Moderator: Constantin Geambaşu
Orele 15.00 – 17.00
1.
Ecaterina Morar: Influenţe germane asupra gândirii antropologice româneşti: cazul Mircea
Vulcănescu
2.
Vasile Morar: Etica lui Kant în concepţia lui Niculae Bellu
3.
Antoaneta Olteanu: Tema lagărului la A. Soljeniţân şi Herta Müller
4.
Alexandru Ronay: Motivul Apocalipsei în literatura expresionistă germană şi română
5.
Discuţii pe marginea comunicărilor
Luni, 4 iunie 2012
Moderator: Vasile Morar
17.30 – 19.00
1. Armand Guţă: Imaginea germanilor în jurnalele de călătorie româneşti publicate între 19001940
2. Constantin Geambaşu: Imaginea Germaniei în jurnalul de călătorie al lui Jerzy Stempowski
3. Camelia Dinu: Viziunea asupra Germaniei în proza lui Vladimir Nabokov
4. Discuţii pe marginea comunicărilor
ZGR 2 (42) / 2012
189
IX. Internationaler Kongress der Germanisten Rumäniens 2012 - Dokumentation
Marţi, 5 iunie 2012
Moderator: Armand Guţă
Orele 11.45 – 13.45
1.
Gheorghe Schwarz: Iniţiative culturale româneşti în spaţiul german
2.
Alexandru Popescu: Relaţii româno-germane. Între influenţe şi interferenţe
3.
Xenia Crasovschi: Rudolf Steiner şi Marina Ţvetaeva: abordări poetice în lumina antroposofiei
4.
Duşiţa Ristin: Prezenţa şvabilor în Banat, între istorie şi memorie colectivă
5.
Discuţii pe marginea comunicărilor
6.
Concluzii
Sektion 6 Translationswissenschaft
Saal: 124 Leitung: Gabriel H. Decuble, Mihai Draganovici
Montag, 04. Juni 2012
Moderation: Gabriel H. Decuble
11.45 – 13.45 Uhr
1.
Carl Alexander Mohr: Die Bedeutung der übersetzungstheoretischen Ansätze Eugen Coserius
für die Übersetzungspraxis
2.
Evemarie Draganovici: Das Unbekannte in der Zielkultur. Zum Transfer kultureller Einheiten
in der Translation
3.
Karla Lupşan: Ist „das“ ein Übersetzungsproblem?
4.
Mihai Draganovici: Die europäischen Schlüsselkompetenzen im Berufsbild des professionellen
Translators
5.
Diskussion der Vorträge
Montag, 04. Juni 2012
Moderation: Mihai Draganovici
15.00 – 17.00 Uhr
190
1.
Enikö Gocsman: Kulturelle Transfers durch Literaturübersetzung. Am Beispiel der
deutschsprachigen Karriere des Gedichtes Gruß an Thomas Mann von Attila József
2.
Gabriel H. Decuble: Formale Bedingungen und lexikalische Freiräume in der Übertragung
experimenteller Lyrik (Ernst Jandl)
3.
Ioana Constantin: „Sturmbannführer, Schutzstaffel, Siegheil“ – Bemerkungen zur
Űbersetzungssproblematik der NS-Realia
4.
Oana-Nora Căpăţână: Caragiale in deutschen Übersetzungen
5.
Diskussion der Vorträge
ZGR 2 (42) / 2012
IX. Internationaler Kongress der Germanisten Rumäniens 2012 - Dokumentation
Sektion 7 NACHWUCHSFORUM
Saal 213 Leitung: Ioana Hermine Fierbinţeanu, Alexa Stoicescu
Montag, 04. Juni 2012
Moderation: Ioana Hermine Fierbinţeanu
11.45 – 13.45 Uhr
1.
Naomi Achim: Klassischer sächsischer Humor – Leben und Werk von Schuster Dutz
2.
Anna Ciungu: Einige Bemerkungen über Zlatna von Martin Opitz
3.
Elena Rădoi: Siebenbürgisch-sächische Denkmäler heute (und gestern)
4.
Petra Antonia Sârb: Die Anfänge der Schule bei den Siebenbürger Sachsen
5.
Ioana Maria Cusin: Selma Meerbaum-Eisingers Poetik jenseits der Grenzen
6.
Ana Buculei: Der Raum als Ort transkultureller Vertextung von Kulturen
7.
Traian Ion Geană: Tropismus der Essenzen
8.
Adelaida Ivan: Welche Kulturstandards reflektiert die Sprache und wie?
9.
Alexandra Greavu: Die moralische Anstalt mit Pointe – Kabarett als Abnorm des Theaters
10. Diskussion der Vorträge
Montag, 04. Juni 2012
Moderation: Daniela Ionescu-Bonanni
15.00 – 17.00 Uhr
1.
Roxana Ilie: “Masken runter!“ Glauben und geheime Ritualien in der Traumnovelle und Eyes
wide shut
2.
Andrei Nae: Leidenschaften in den Gedichten Emily Dickinsons
3.
Roxana Neacşu: Das Parfüm als Quintessenz des Lebens und des Todes in Patrick Süskinds
Roman und in dessen Verfilmung durch Tom Tykwer
4.
Alexandra Nicolaescu: Hugo Bettauers Roman Die Stadt ohne Juden und dessen Verfilmung
durch Hans Karl Breslauer
5.
Ileana Panţu: Dualitätsbilder in der Lyrik von Rolf Bossert
6.
Florin Stroe: Die Dracula-Gestalt und ihre zeitgenössische Rezeption
7.
Anca Şerban: „welche maus wiederum durch selbstbegattung “. Probleme der Übersetzung in
Vintilă Ivănceanus Gedichten
8.
Rosana-Magdalena Jica: Unterhaltung durch Literatur im deutschen Mittelalter
9. Diskussion der Vorträge
Montag, 04. Juni 2012
Moderation: Alexa Stoicescu
17.30 – 19.00 Uhr
1.
Janina Anton: Eine übersetzungsrelevante Analyse von deutschen und rumänischen
ZGR 2 (42) / 2012
191
IX. Internationaler Kongress der Germanisten Rumäniens 2012 - Dokumentation
Kochrezepten unter Berücksichtigung der Äquivalenzbeziehungen
2.
Ioana-Daniela Chivoiu: Organisierung und Zensur der Presse in der DDR – Anwendung der
Scenes and Frames Semantik bei der Übersetzung eines themenorientierten Textes
3.
Izabela-Raluca Paraschiv: Prinzipien der sozialen Marktwirtschaft in Deutschland – Analyse
einer themenbezogenen Übersetzung
4.
Victoria Teodora Săuleanu: Die Europapolitik Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg bis
heute – Relevanz des Skopos beim Übersetzungsauftrag. Eine praktische und theoretische
Analyse
5.
Roxana Vasile: Sonderpädagogik des Lernens – Übersetzung eines themenspezifischen
Textes mit Hilfe von Parallel- und Hintergrundtexten
6.
Hong Vi Pham: Vergleich zwischen den Anredeformen in der Familie im gesprochenen
Deutsch und Vietnamesisch
7.
Daria Elena Munteanu: Der Einfluss des deutschen Qualitätsklischees in der rumänischen
Werbung
8.
Diskussion der Vorträge
AUF WIEDERSEHEN 2015 !
(Zusammengestellt von George Guţu.)
192
ZGR 2 (42) / 2012
IN MEMORIAM YVONNE LUCUŢA
1936-2012
IN MEMORIAM YVONNE LUCUŢA
(1936-2012)
Nachruf
der Gesellschaft der Germanisten Rumäniens und des Instituts für
Germanistik der Universität Bukarest
Erschüttert durch die traurige Nachricht vom Ableben unserer hochverehrten,
verdienstvollen Kollegin, Prof. Dr. Yvonne Lucuţa, weist das Landeskomitee
der GGR auf die Würdigung ihrer Verdienste durch die Temeswarer KollegInnen
hin:
Anul 1961 marchează absolvirea primei promoţii de germanişti timişoreni:
Yvonne Lucuţa, Cristina Stanciu şi Peter Kottler au fost angajaţi pe post de
preparator.
Între anii 1977-1981 Catedra de Limbi germanice a fost condusă de confe-
In Memoriam Yvonne Lucuţa (1936-2012)
renţiar univ. dr. Yvonne Lucuţa. În această perioadă, conferenţiar univ. dr.
Yvonne Lucuţa a contribuit la realizarea primei Gramatici contrastive
româno-germane în cadrul unui proiect de cooperare ştiinţifică germanoromân coordonat de profesor dr. Ulrich Engel de la Institut für Deutsche
Sprache din Mannheim şi de profesor dr. Mihai Isbăşescu de la Universitatea
din Bucureşti. Ulterior doamna conferenţiar dr. Yvonne Lucuţa a extins cercetarea contrastivă în domeniul semanticii.
Zugleich finden auch ihre Leistungen als hervorragende Persönlichkeit des Germanistiklehrstuhls in Temeswar besondere Anerkennung, an dem sie zur Gründung einer Schule für die Theorie und Praxis der Übersetzung, für die deutschrumänische kontrastive Linguistik sowie für Semantik und Lexikologie beitrug.
(Quelle: http://www.litere.uvt.ro/vechi/documente_pdf/catedre/istoric_germ.pdf)
In Anerkennung der Leistungen von Prof. Mihai Isbăşescu veröffentlichte sie im
Fachorgan der GGR, der "Zeitschrift der Germanisten Rumäniens", Heft 13-14,
1998, S. 319-327, einen informativen gründlichen Beitrag unter dem Titel 40
Jahre kontrastive Linguistik in Temeswar. (http://www.e-scoala.ro/germana/
yvonne_lucuta. html)
Prof. Yvonne Lucuţa unterstützte von Anfang an die Tätigkeit der 1990 gegründeten Gesellschaft der Germanisten Rumäniens. 1993 gehörte sie in Bonn auf
dem Treffen der Germanisten aus Rumänien, Bulgarien und Deutschland zu den
Befürwortern der Initiative von George Guţu im Hinblick auf die Veranstaltung
eines internationalen Kongresses der Germanisten Rumäniens, der sich der damalige Referatsleiter im DAAD, Dr. Werner Roggausch, begeistert anschloss.
Seitdem wurden sieben Kongresse veranstaltet, doch an keinem von ihnen war
es ihr gegönnt, sich direkt zu beteiligen - aus gesundheitlichen Gründen.
Dennoch stand sie uns per E-Mail sowie durch ihre MitarbeiterInnen stets mit
Rat und Tat zur Seite und erfreute uns mit Ihrer kollegialen, intelligenten und
fachkundigen Präsenz.
Frau Prof. Dr. Yvonne Lucuţa werden die Germanisten in und aus Rumänien ein
stets ehrendes Andenken bewahren.
[Quelle: http://www.ggr.ro/Celan_Zentrum_Nachruf_Yonne_Lucuta.htm]

196
ZGR 2 (42) / 2012
In Memoriam Yvonne Lucuţa (1936-2012)
PROF. DR. YVONNE LUCUŢA
NAMHAFTE PERSÖNLICHKEIT DER TEMESWARER GERMANISTIK1
Karla Lupşan
Professor Dr. Yvonne Lucuţa hat die Entwicklung der Germanistik in Temeswar, wo sie insgesamt 44 Jahre gelehrt hat, maßgeblich beeinflusst und entscheidend geprägt. Deshalb wird sie in der vorliegenden Arbeit zu ihrem 70.
Geburtstag geehrt.
Biographische Daten
Yvonne Lucuţa wurde am 3. Mai 1936 in Arad geboren und ist bei den Großeltern mütterlicherseits in Temeswar aufgewachsen. Von der lieben Omi hat
sie nicht nur Geschichten über das Leben „zu Hause in Wien“ gehört, sondern auch gelernt, die deutsche und die österreichische Kultur zu lieben und
zu schätzen.
Sie besuchte von 1943 bis 1950 die deutsche Notre-Dame-Klosterschule in
Temeswar, die allerdings 1948 in Şcoala Pedagogică de fete (die Pädagogische Mädchenschule) umbenannt wurde. Von 1950 bis 1954 besuchte sie das
Mädchenlyzeum Nr. 3, heute Carmen-Sylva-Lyzeum, wo sie 1954 auch das
Abitur ablegte. Danach studierte sie von 1955 bis 1956 Mathematik am Temeswarer Pädagogischen Institut (Dieses Institut wurde 1962 zur Universität). Ab 1956 studierte sie Germanistik und Rumänistik und gehörte 1961 zur
ersten Absolventengruppe der Philologischen Fakultät Temeswar.
1 In: Fassel, Horst / Nubert, Roxana (Hrsg.) 50 Jahre Temeswarer Germanistik. Eine Dokumentation. Arbeiten des Wissenschaftlichen Kolloquiums vom 24. Mai 2006 in Temeswar,
Ebner: Deggendorf/ Tübingen 2008, S. 78-86. Das Kolloquium fand im Rahmen des VII. Internationalen Kongresses der Germanisten Rumäniens, Temeswar, 22.-25. Mai 2006, statt.
Die Würdigung erfolgte aus Anlass des 70. Geburtstages von Yvonne Lucuţa im Jahre 2006.
Wir danken Kollegin Karla Lupşan dafür, dass sie uns diesen Beitrag zur Verfügung gestellt
hat. (Anm. der ZGR-Redaktion.)
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197
In Memoriam Yvonne Lucuţa (1936-2012)
1975 promovierte sie bei Prof. Dr. Jean Livescu mit dem Thema Das Feld der
Aktionalität im Neuhochdeutschen. Das sechsmonatige DAAD-Forschungsstipendium in Leipzig unter der Betreuung von Professor Dr. Walter Flämig
(1968) und das Stipendium an der Humboldt Universität Berlin (1974)
haben dazu beigetragen, dass die junge Sprachwissenschaftlerin das Prädikat
magna cum laude erhielt.
Die Unterrichts- und Forschungstätigkeit an der West-Universität
Eine 44-jährige Unterrichtstätigkeit knapp zu fassen, ist kein leichtes Unterfangen, zumal ich die letzte persönlich von Lucuţa geförderte Nachfolgerin
bin. Trotzdem hoffe ich, die wichtigsten Forschungs- und Lehrleistungen zuverlässig wiederzugeben, auch wenn in den letzten zehn Jahren sich aus unserer Meister-Lehrlings-Beziehung eine Mutter-Tochter-Beziehung entwickelt hat. Als geistige Mutter steht sie mir heute in allen wichtigen privaten
Angelegenheiten zur Seite, als Mentorin auch im Beruf. Trotz meiner Zuneigung zu ihr versuche ich frei von jeder subjektiven Parteinahme über die
akademische Laufbahn der Frau Professor zu berichten.
Der wissenschaftliche Werdegang beginnt an der heutigen West-Universität
Temeswar, wo Lucuţa 36 Jahre unterrichtet hat. Gleich nach Studienabschluss (1961) wurde sie an den Germanistik-Lehrstuhl berufen. Hier wirkte
„die schöne Lu“, wie die Studenten sie nannten, von 1961 bis 1964 als Hilfsassistentin (preparator), von 1964 bis 1971 als wissenschaftliche Assistentin,
von 1971 bis 1978 als Hochschullektorin und von 1978 bis 1997 als Dozentin
(conferenţiar). Von 1978 bis 1981 war sie Lehrstuhlinhaberin und von 1978
bis 1989 Mitglied des Fakultätsrates. Nach ihrem Werdegang befragt, würde
sie antworten: „Die berufliche Entwicklung verdanke ich Herrn Professor Dr.
Wolf“, und es mag auch stimmen, denn sie spricht von niemandem mit so
viel Anerkennung wie von Johann Wolf.
Anfangs wurden ihr Literaturseminare und „Praktische Kurse“ (Übungsstunden), später sprachwissenschaftliche Seminare zugeteilt. Ab 1968 hielt sie
Pflichtvorlesungen über Teilbereiche der Linguistik: Einführung in die deutsche Philologie, die Geschichte der deutschen Philologie (von ihren Anfängen bis zur Gegenwart), Phonetik und Phonologie, Lexikologie, Wortbildung,
lexikalische Semantik, traditionelle Syntax, Morphosyntax, Dependenzgrammatik, Textlinguistik u.a. Die Vielfalt ihrer veröffentlichten Vorlesungen wird
durch den Anhang belegt. Besonderen Wert legte sie auch auf die solide
198
ZGR 2 (42) / 2012
In Memoriam Yvonne Lucuţa (1936-2012)
sprachliche Grundausbildung ihrer Studenten. Deshalb gibt es heute noch
Germanist(inn)en die stolz behaupten: „Deutsch haben wir von Lucuţa gelernt”.
Wesentlich für ihre gesamte Entwicklung war wohl eine Geste von Dr. Johann Wolf. Am Anfang ihrer Laufbahn bekam sie, bereits nach Beginn des
Semesters, die Vorlesung zur Geschichte der deutschen Philologie zugeteilt,
einen Stoff, den sie selbst nie gehört hatte und für den sie auch gar keine wissenschaftlichen Unterlagen besaß. Dr. Johann Wolf gab ihr eine Mappe und
sagte schlicht: „Das gehört dir“. Es waren Notizen aus den Sechzigern, eine
Skizze dessen, was man zum Thema vortragen konnte und sollte. Daraus ist
dann die Vorlesung erwachsen, später das Buch, das sie auch heute noch mit
Stolz erfüllt, denn sie ist die einzige Mitautorin von Johann Wolf.
Yvonne Lucuţas Lieblingsfächer waren die von ihr selbst eingeführten. Zum
Beispiel die kontrastive lexikalische deutsch-rumänische Semantik. Sie hatte
sich mit dem damals beliebten Thema intensiv beschäftigt und eine eigene
Feldtheorie entwickelt, die in Form von Preprints und wissenschaftlichen Arbeiten veröffentlicht wurde. Ihre Feldtheorie fand internationale Anerkennung, weil sie eine neue Methode für die Anwendung der Semanalyse vorschlug, und weil die beiden Sprachen noch nie aus dieser Perspektive verglichen wurden. Ausgehend von dieser Feldtheorie wurden auch viele Staatsexamensarbeiten geschrieben. Auch heute lesenswerte Arbeiten sind die von
Ecaterina Rastätter-Neumann, Ana Lucaci-Cleţiu, Kinga Gall.
Yvonne Lucuţa befasste sich nicht nur mit der kontrastiven lexikalischen
deutsch-rumänischen Semantik, sondern auch mit der kontrastiven deutschrumänischen Grammatik. Als Beleg dafür gilt ihre aktive Mitarbeit am internationalen Projekt zwischen dem Institut für deutsche Sprache Mannheim
und der Universität Bukarest: Kontrastive Grammatik deutsch-rumänisch
(1993). Zusammen mit Germanist(inn)en aus anderen rumänischen Universitätszentren und betreut von Ulrich Engel, damals Direktor des IDS, hat sie
beträchtliche Teile zum Verb und Verbalkomplex beigesteuert. Diese Grammatik in zwei Bänden bleibt die wichtigste kontrastive Untersuchung für das
deutsch-rumänische Sprachpaar.
Als in den 90er Jahren die Grenzen geöffnet wurden, verfügte Lucuţa jährlich über Forschungsstipendien, die meistens vom DAAD, von der Österreichischen Gesellschaft für Literatur, vom Goethe-Institut usw. gefördert wurden. Der Kontakt mit den deutschen und österreichischen Universitäten hat
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199
In Memoriam Yvonne Lucuţa (1936-2012)
dazu beigetragen, 1991 ein neues Fach am Temeswarer GermanistikLehrstuhl einzuführen, und zwar die Vorlesung zur Theorie und Praxis des
Übersetzens. Dieses Forschungsgebiet hat sie bis zur „Entdeckung“ der Kommunikationswissenschaft besonders gemocht. Die internationale Anerkennung erfolgte im Jahre 2000, als Lucuţa als Moderatorin einer Sektion zur
Übersetzungswissenschaft am X. Internationalen Germanistenkongress in
Wien 2000 fungierte und den 11. Band der Kongressakten betreute.
Professor Dr. Lucuţa hat nicht nur viele Lehrkräfte des heutigen Germanistiklehrstuhls für das Fach begeistert und gewonnen, sondern auch ganze
Germanistengenerationen ausgebildet. In ihrer Sicht beruht die gesamte wissenschaftliche Tätigkeit auf der Zusammenarbeit mit den Studenten, denen
sie Anregungen vermittelte, aber deren Gedanken sie gleichzeitig als Impulse
für sich selbst aufnahm. Darüber hinaus hatte sie Verständnis für die Belange des anderen und bemühte sich, ihre Mitmenschen nach den sich bietenden Möglichkeiten durch Rat und Tat zu unterstützen. Daraus erwuchs über
die Jahre ein äußerst weites Netzwerk von Beziehungen, das ihr viele Türen
öffnete.
Die Unterrichts- und Forschungstätigkeit an der Tibiscus-Universität
1997, als Yvonne Lucuţa von der West-Universität in Rente geschickt wurde,
nahm sie die Einladung der Tibiscus-Universität Temeswar an und wirkte
dort am Lehrstuhl für Angewandte Moderne Sprachen bis zu ihrer Emeritierung im Jahre 2005. Von 1998 hatte sie die Professur für Germanistik inne.
Ihre Aufgabe war es, eine deutsche Abteilung aufzubauen. Mit Zähigkeit, Geschick und Organisationstalent gelang es ihr, die Abteilung buchstäblich aus
dem Nichts zu schaffen. Sie scheute keine Mühe, um Wissenschaftler aus
Deutschland und Österreich, mit denen sie jahrelang Kontakt gepflegt hatte,
das Goethe-Institut oder die österreichischen Botschaft Bukarest um Buchgeschenke zu bitten. Außerdem gewann sie das Vertrauen der Studierenden
und überzeugte sie von den Vorteilen einer Privatuniversität, was nicht leicht
war. Als die deutsche Abteilung schon über 50 Studenten zählte, bot sie ihnen in persönlichen Gesprächen Anleitungen und Hilfe, ohne aber Abstriche
vom wissenschaftlichen Niveau zu erlauben. Frau Professor Dr. Lucuţa war
immer bereit Verantwortung zu übernehmen, so dass sie gleich nach ihrer
Berufung an die Tibiscus-Universität Prodekanin wurde (1998-1999) und
von 1999 bis 2005 Lehrstuhlinhaberin und Mitglied des Fakultätsrates.
200
ZGR 2 (42) / 2012
In Memoriam Yvonne Lucuţa (1936-2012)
Bemerkenswert sind ihre nachhaltige Lernfähigkeit und ihr Wissensdurst. So
passte sie sich der Studienrichtung der Fakultät an und bot jährlich außer
den Vorlesungen und Seminaren zur Übersetzungswissenschaft und zur
deutschen Grammatik und Literatur, ein neues Fach an. An der TibiscusUniversität unterrichtete sie sieben neue Fächer: Werbung, Marketing, Public Relations, Terminologie, Fachsprachen, Management-Rhetorik, Body
language. Als Beleg ist das Buch Marketing und Public Relations, das in zwei
Auflagen erschien.
Nach der Emeritierung hat Lucuţa sich aber keineswegs in den wissenschaftlichen Ruhestand begeben. Zu ihren großen Plänen gehört ein Traktat zur
Werbung, an dem sie seit drei Jahren arbeitet. Hoffentlich wird dieses Projekt nicht mehr aus finanziellen Gründen scheitern, wie zuvor das von Akademiemitglied Ion Coteanu betreute Wörterbuch der linguistischen Termini,
das sie zusammen mit ihrer langjährigen Mitarbeiterin Silvia Gruber erarbeitete.
Wie schon festzustellen war, lässt sich die akademische Laufbahn von Frau
Professor Lucuţa in wenigstens zwei Gebiete gliedern: Linguistik und Kommunikationswissenschaft. Das wissenschaftliche Werk von Yvonne Lucuţa
könnte auch so dargestellt werden: fast 50 Publikationen in Fachzeitschriften und Tagungsbeiträgen, die ihren Namen tragen, außerdem ist sie Verfasserin von insgesamt 21 Büchern, veröffentlichten Vorlesungen und Preprints,
ebenso Betreuerin von unzähligen Diplomarbeiten. Nicht nur durch die Anzahl der Arbeiten, sondern auch die thematische Auffächerung der Lehr- und
Forschungsgebiete, zeichnen sie aus.
Lucuţa ist Mitglied zahlreicher internationaler und nationaler wissenschaftlicher Gesellschaften: seit 1969 im Internationalen Deutschlehrerverband, seit
1972 in der Gesellschaft für Deutsche Sprache, seit 1978 in der Societatea de
Ştiinţe filologice din România und in der Internationalen Vereinigung für
Germanistische Sprachen und Literaturwissenschaft, seit 1990 in der Gesellschaft der Germanisten Rumäniens. Von 1993 bis 2000 war sie Vizepräsidentin der Gesellschaft der Germanisten Rumäniens.
Alle aufgeführten Aktivitäten und Leistungen haben Lucuţas Liebe und Hingabe für den Beruf zur Grundlage. Intelligenz, Fleiß, Disziplin und Pflichtbewusstsein, sowie das Gespür für das Wesentliche zeichnen sie aus. Sie strahlt
sowohl Menschenliebe und Respekt, als auch Durchsetzungskraft aus und ist
deshalb für manche die Polemische, für andere aber die Einsichtige und
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201
In Memoriam Yvonne Lucuţa (1936-2012)
Fürsorgliche. Yvonne Lucuţa ist und bleibt eine starke Persönlichkeit, eine
kompetente und international anerkannte Temeswarer Germanistin, die
jederzeit große Herausforderungen gesucht und angenommen hat. Hiermit
spreche ich den öffentlichen Dank, den Frau Professor Dr. Yvonne Lucuţa
seitens der Temeswarer Germanistik verdient und wünsche ihr zu ihrem 70.
Geburtstag Gesundheit und Wohlergehen.
Anhang:
Bücher, Vorlesungen, Preprints (nach dem Erscheinungsjahr):
1999
Grundfragen der Verben in Texten, 2. Bde, Timişoara.
1999
Marketing und Public Relations. Zweite durchgesehene und ergänzte
Auflage, Timişoara.
1998
Marketing und Public Relations, Timişoara.
1997
Übunen zu Verben in Texten, Timişoara.
1996
Deutsche Philosophie im 19. Jh. (von Fichte bis Nietzsche), Timişoara.
1994
Philosophie. 1. Teil. Fachdeutsch für Fortgeschrittene, Timişoara.
1993
Kontrastive Grammatik, deutsch-rumänisch, 2 Bde. (Zus. mit U. Engel,
M. Isbăşescu, S. Stănescu, O. Nicolae u.a.), Heidelberg.
1988
Culegere de texte pentru traducere (rumänisch-deutsch) (Zus. mit S. Miculescu), Timişoara.
1987
Textsammlung zur Übersetzung (deutsch-rumänisch) (Zus. mit S. Miculescu), Timişoara.
1986
Transformationsübungen im Deutschunterricht Timişoara.
1985
Übungen zur Semantik. Zweite Auflage, Timişoara.
1984
Einführung in die lexikalische Semantik. Zweite durchgesehene und ergänzte Auflage, Timişoara.
1982
Einführung in die lexikalische Semantik, Timişoara.
1980
Zum Tempussystem im muttersprachlichen Deutschunterricht (Zus. mit
F. Itu), Timişoara.
1978
Zur Valenz des Verbs (Zus. mit F. Itu), Timişoara.
202
ZGR 2 (42) / 2012
In Memoriam Yvonne Lucuţa (1936-2012)
1978
Einführung in die Semantik, Timişoara.
1978
Übungen zur Semantik, Timişoara.
1976
Übungstexte zur Morphologie, Timişoara.
1975
Das Feld der Aktionalität im Neuhochdeutschen, Timişoara.
1974
Morphologie. Das Verb, Timişoara.
1973
Einführung in die deutsche Philologie. 1. Teil: Technik der wissenschaftlichen Arbeit und Arbeitsweisen der Philologie im engeren Sinn (Zus. mit
J. Wolf), Timişoara.
Betreuung von Bänden:
2003
Übersetzung und Übersetzungswissenschaft, Akten des X. Internationalen
Germanistenkongresses Wien 2000, „Zeitwende – Die Germanistik auf
dem Weg vom 20. ins 21. Jahrundert”, 11. Band (Zus. mit Ohrgard, Per und
Kim, Rae-Hyeon).
Aufsätze in Fachzeitschriften (nach dem Erscheinungsjahr):
2003
Übersetzungsarbeit an der österreichischen Gegenwartsliteratur in Temeswar (Arbeit mit Germanistikstudenten). In: Akten des X. Internationalen Germanistenkongresses Wien 2000, Band 11, S. 75-83.
1999
Interkulturelle Aspekte im Übersetzungsprozeß: Das Textverständnis.
In: Temeswarer Beiträge zur Germanistik, S. 154- 162.
1998
40 Jahre kontrastive Linguistik in Temeswar. In: Zeitschrift der Germanisten Rumäniens (hrsg. v. George Guţu), Heft 13-14, S. 250 - 260.
1998
Modalitätsverbkomplexe mit „sein“ und „haben“ und ihre Entsprechungen im Rumänischen. In: „Die Sprache ist das Haus des Seins.“ Sprachwissenschaftliche Aufsätze. Hrsg. v. George Guţu und Speranţa Stănescu.
Unter Mitarbeit von Doina Sandu. Editura Paideia - D.O.R. GmbH, Bucureşti, S. 119 -134.
1998
Kontrastive Linguistik in Temeswar. In: Hochschulgermanistik in Temeswar, S. 36-38.
ZGR 2 (42) / 2012
203
In Memoriam Yvonne Lucuţa (1936-2012)
1997
Das semantische Feld der Geräuschverben im Deutschen und Rumänischen. In: Seminarul de Lingvistică, 61, S. 1-25.
1996/
Die Semantik von „wollen/a vrea“ als Hauptverb. In Analele Universităţii
Timişoara 35/36, S. 67-76.
1997
1995
Lücken in den lexisch-semantischen Feldern des Deutschen und Rumänischen. In: Tohăneanu 70, S. 301-313.
1994
Überschneidungen zwischen den lexisch-semantischen Feldern im Deutschen und Rumänischen (Zus. mit Silvia Gruber) In: Analele Uuniversităţii din Timişoara, S. 31- 41.
1994
Eine neue Leseart von Johann Wolfs “Sprachgebrauch - Sprachverständnis”. In: Johann Wolf – Erzieher – Forscher - Förderer, S. 151-159.
1993
Zur aktionalen Markierung deutscher Präfixverben. In: Germanistische
Linguistik in Rumänien, S. 221-229.
1991
Aus der werkstattlichen Arbeit am “Wörterbuch linguistischer Termini”:
2. Auszug: (Gammazismus - Graduierung). In: SL, 54, S. 1-20.
1991
Aus der werkstattlichen Arbeit am “Wörterbuch linguistischer Termini”: 1.
Auszug (Fachdidaktik - Frikativlaut). In: Seminarul de Lingvistică, 53, S.
1-16.
1991
Semantische Vagheit im Wortfeld “Sitzgelegenheit”. In: Studii de limbi şi
literaturi străine, S. 115-127.
1990
Funktional-kommunikative Felder im Deutschunterricht. In: Studii de
limbi şi literaturi moderne, S. 115-126.
1990
Zum semantischen Feld der Positionsverben im Deutschen und Rumänischen (Konstituentenanalyse). In: Contribuţii lingvistice, S. 57- 72.
1989/
1990
Idiomatizität im Deutschen und Rumänischen (Zus. mit S. Miculescu). In:
Studii de limbi şi literaturi moderne, S. 55-62.
1988
Theoretische Bemerkungen zu einer Translationslinguistik. In: Studii de
limbi şi literaturi străine, S. 23-29.
1988
Der modale Infinitiv im Deutschen und seine Entsprechungen im Rumänischen (2. Teil). In: Contribuţii Lingvistice, S. 80-91.
1987
Zur Konstituentenanalyse des adjektivischen ‘Intellektualfeldes’ im Deutschen und Rumänischen. In: Studii de semantică, S. 48-59.
1987
Sprachtheoretische Überlegungen zu einem lexikalischen Minimum im
Deutschunterricht. In: Studii de limbi şi literaturi moderne, S. 158-164.
204
ZGR 2 (42) / 2012
In Memoriam Yvonne Lucuţa (1936-2012)
1987
Relationen auf der Ebene des Textes. Versuch eines Vergleichs zwischen
dem Deutschen und dem Rumänischen. In: Contribuţii Lingvistice, S. 67-74.
1987
Das Gerundivum im Deutschen u. seine Entsprechungen im Rumänischen. In: Filologie XXX, S. 118-131.
1987
Über die gegenwärtigen Grenzen einer kontrastiven Lexikologie. In: Lexicologia didactica, S. 87-94.
1987
Zur Relation der Hyponymie im Deutschen und Rumänischen. In: Studii
de limbi şi literaturi moderne, S. 1-8.
1986
Ansätze zu einer kombinatorischen Klassifikation der Verben im Deutschen und Rumänischen (Zus. mit S. Miculescu). In: Analele Universităţii
din Timişoara, S. 86-92.
1986
Zur kontrastiven Analyse semantischer Felder im Deutschen und Rumänischen. 3. Teil: Die Konstituentenanalyse - Fortsetzung (Zus. mit S. Miculescu). In:Seminarul de lingvistică, 32, S. 1-22.
1986
Zur kontrastiven Analyse semantischer Felder im Deutschen und Rumänischen. 1. Teil: Die Struktur der semantischen Felder. In: Seminarul de
lingvistică, 24, 1986, S. 1-19.
1985
Zur kontrastiven Analyse semantischer Felder im Deutschen und Rumänischen. 2. Teil: Die Konstituentenanalyse. In: Seminarul de lingvistică, 31,
1985, S. 1-22.
1983
In memoriam Johann Wolf (1905-1982). In: Analele Universităţii din Timişoara, S. 105-106.
1983
Der modale Infinitiv im Deutschen und seine Entsprechungen im Rumänischen (1. Teil). In: Contribuţii Lingvistice, S. 111-121.
1981
Bemerkungen zu einer kontrastiven Analyse im Bereich der semantischen
Felder (Zus. mit E. Rastätter). In: Beiträge zur DRKG, Bd. 4, S. 175-189.
1981
Zur semantischen Klassifikation der Verben im Deutschen und Rumänischen. In: Beiträge zur DRKG, Bd. 4, S.191-196.
1981
Versuch einer Einteilung der Aktionsarten für eine DRKG. In: Beiträge zur
DRKG, Bd. 4, S. 19-24.
1981
Semantik und Gebrauch von Verbal I im Deutschen und Rumänischen. In:
Beiträge zur DRKG, Bd. 3, S. 7-25.
1979
Dependenzielle und lineare Anordnung im deutschen und rumänischen
Verbalkomplex. In: Beiträge zur DRKG, Bd. 1, S. 29-37.
ZGR 2 (42) / 2012
205
In Memoriam Yvonne Lucuţa (1936-2012)
1979
Zur kontextuellen Beeinflussung der Aktionalität im Neuhochdeutschen.
In: Analele Universităţii din Timişoara, S. 137-149.
1978
Zur Partizipialkonstruktion im Deutschen und Rumänischen. In: Studii de
lingvistică, S. 101-108.
1977
Das Feld der Aktionalität im Neuhochdeutschen. In: Studii de lingvistică,
3, S. 1-16.
1975
Zur aktionalen Markierung deutscher Präfixverben. In: Analele Universităţii din Timişoara, S. 81-89.
1973
Die Rolle der Modalwörter im Feld der Modalität. In: Analele Universităţii
din Timişoara, S. 249-254.
1972
Das Indefinitpronomen ‘man’ im Deutschen und seine Entsprechung im
Rumänischen. In: Analele Universităţii din Timişoara, S. 231-243.
1972
Das Feld der Aktionsarten im Neuhochdeutschen. In: Analele Universităţii din Bucureşti, S. 59-66.
1969
Die grammatische Struktur der Sprache – ein System von Beziehungen.
In: Analele Universităţii din Bucureşti, S. 135-147.
Die wichtigsten Rezensionen (nach dem Erscheinungsjahr):
1976
“Kleines Wörterbuch sprachwissenschaftlicher Termini”, Leipzig 1975. In:
Analele Universităţii din Timişoara, S. 213.
1974
Johann Wolf “Sprachgebrauch - Sprachverständnis. Ausdrucksformen
und -gefüge im heutigen Deutsch”, Bucuresti. In: Analele Universităţii din
Timişoara , S. 163-164.
1974
Thea Schippan “Einführung in die Semasiologie”, Leipzig 1972. In: Analele Universităţii din Timişoara, S. 147-148.
1972
Mario Wandruszka “Interlinguistik. Umrisse einer neuen Sprachwissenschaft”. In: Studii şi Cercetări Lingvistice, S. 337 – 338.
1971
“Sprachnorm, Sprachpflege, Sprachkritik”, Düsseldorf 1968. In: Analele
Universităţii din Timişoara, S. 337-338.
1967
“Satz u. Wort im heutigen Deutsch. Probleme u. Ergebnisse neuerer Forschung”, Jahrbuch, Düsseldorf 1967. In: Studii şi Cercetări Lingvistice, 4,
1967, S. 438-440.

206
ZGR 2 (42) / 2012
DAS LEXISCH-SEMANTISCHE FELD DER
GERÄUSCHVERBEN IM DEUTSCHEN UND
RUMÄNISCHEN1
Yvonne Lucuţa
1. 0. Bekannt ist schon seit geraumer Zeit die Tatsache, dass der Wortschatz
einer Sprache - zumindest in vielen seiner Bereiche - nicht isomorph ist, dass
manchmal bestimmte lexisch-semantische Felder dieser Sprachen sogar auf
differenzierte Weise strukturiert sein können. Wollte man diese und ähnliche
Sachverhalte knapp und treffend mit den Worten Ferdinand de Saussures
zusammenfassen, so hieße es: Jede Sprache drückt der a priori undifferenzierten Substanz der Inhaltsebene eine spezifische Form auf. (zit. nach Lyons, 19722, 439)
Daraus ergeben sich eigentlich für die Gegenüberstellung von sprachlichen
Erscheinungen zweier Sprachen die bereits tradierten Arbeitsphasen, die folgende grundlegende Aspekte zu erfassen haben:
(1) Zunächst werden die unterschiedlichen Formen bezüglich ihrer inhaltlichen bzw. semantischen Struktur in der jeweiligen Einzelsprache untersucht,
(2) dann werden die Unterschiede zwischen den beiden Sprachen herausgestellt, wie auch die manchmal vorhandenen Gemeinsamkeiten.
1. 1. „Geräusche“ werden generell in das Wortfeld (oder Begriffsfeld) ‘Schall’
eingegliedert. Allerdings hat sich die nun seit über einem Jahrhundert erstreckende Forschung immer wieder auf das substantivische Feld beschränkt
und der verbalen Form kaum Aufmerksamkeit geschenkt.
Obwohl Nominales und Verbales in diesem semantischen Bereich viele gemeinsame Züge aufweisen, sind dennoch relevante Differenzen zu verzeichnen zwischen der nominalen und der verbalen Form wie auch zwischen den
ihnen entsprechenden Inhalten. Deswegen - und auch vollständigkeitshalber
- soll die Geschichte der aufgeworfenen Problematik kurz skizziert werden.
1. 2. Schon in der Mitte des 19. Jahrhunderts (1856) hat K. W. L. Heyse es
versucht, das Wortfeld „Schall“ zu untersuchen, ohne aber explizit von einem
Wortfeld und dessen Struktur zu sprechen, denn seine Absicht war eigentlich
eine völlig andere: er wollte das Wesen von Sprachlauten abgrenzen. Demnach war sein Ausgangspunkt - wie es auch heute noch der Fall ist - der deut1 An dieser Stelle veröffentlichen wir einen Aufsatz von Yvonne Lucuţa, den sie leider nicht
mehr zu Ende schreiben konnte, da sie der Tod ereilte. (Anm. der ZGR-Redaktion.)
Yvonne Lucuţa (1936-2012)
sche Sprachgebrauch. Definiert und abgegrenzt wurden in seinen Untersuchungen die substantivischen Lexeme Klang, Schall, Hall, Widerhall, Geräusch, Laut.
Etwa ein Jahrhundert später hat Eugenio Coseriu (1979 3, 149ff.) nachgewiesen, dass der Gedankengang Heyses bereits ein struktureller war, denn
durch die Gegenüberstellung der von ihm beschriebenen Begriffe kommen
mehr oder minder explizit bestimmte Merkmale zur Geltung. Diese durch
Oppositionen gewonnenen Züge könnten heute auch als differenzierende
Seme verstanden werden und für die betreffenden Feldkonstituenten als distinktiv gelten. Eugenio Coseriu hat die oppositiven Seme folgendermaßen
zusammengefasst:
(1) ‘hörbar’ (a);
(2) ‘selbsttätig erzeugt’ (b) / ‘nicht selbsttätig erzeugt’ (-b);
(3) ‘fortgepflanzt’ (c) / ‘nicht fortgepflanzt’ (-c);
(4) ‘zurückgeworfen’ (d);
(5) ‘homogen’ (e) / ‘nicht homogen’ (-e);
(6) ‘qualifiziert’ (f).
Da Eugenio Coseriu auch methodologische Übereinstimmungen zwischen
dem Arbeitsverfahren von K. W. L. Heyse und der strukturellen Semantik
herausstellen konnte, faßte er dessen Untersuchungen in der Form eines
Strukturgraphen zusammen (153),
SCHALL
Laut
·
·
·
Geräusch
208
Klang

Ton
Hall

Widerhall
ZGR 2 (42) / 2012
Das lexikalisch-semantische Feld der Geräuschverben im Deutschen und Rumänischen
wobei die Punkte (·) die in der Sprache fehlenden Lexeme markieren sollen.
Aus den Ausführungen geht auch hervor, dass es sich bei K. W. L. Heyse
nicht nur um die genannten Lexeme handelt, sondern um eine Gruppe von
Wörtern, die sich den genannten Lexemen angliedern und unterordnen, die
sich also um das betreffende Feld einbauen lassen (z. B. Krach und Lärm als
Arten von Geräusch). Erwähnt sei noch, dass E. Coseriu in seiner Studie sowohl die hierarchische Darstellungsweise von A. J. Greimas (1966, 33) als
auch die Matrixbeschreibung von B. Pottier (1963, 16 und 1964, 124f.) auf
das gegebene sprachliche Material anwendet, wohl um von der Adäquatheit
der strukturellen Methode zu überzeugen.
Demnach wäre die inhaltliche Definition des Lexems Geräusch (neben
Schall, Laut, Hall, Widerhall, Klang und Ton) nach den festgelegten Semen
(a -b -c und -e) zu lesen als ‘hörbar’, ‘nicht selbsttätig erzeugt’, ‘nicht fortgepflanzt’, und ‘nicht homogen’. Dasselbe Ergebnis ist sowohl aus der Hierarchisierung als auch von der Matrix abzulesen. Allerdings wird in der Matrix
zusätzlich die Irrelevanz der Seme ‘zurückgeworfen’ und ‘qualifiziert’ eingetragen bzw. durch (0) Null markiert.
1. 3. Weit interessanter und wichtiger ist die Darstellungsform des Begriffsfeldes Schall, so wie sie E. Coseriu - im Sinne der Analyse von K. W. L. Heyse
- konzipiert:
-b
+b
-c
SCHALL
-e
Geräusch
+e
Klang
+c
Hall
+f
Ton
Laut
+d
Widerhall
Einerseits wird evident, dass sich ‘Geräusch’ in den Begriff ‘Schall’ eingliedert, dass es folglich ein Teilfeld des Begriffsfeldes markieren kann. Andererseits - und dies ist wohl das Wichtigste - ist auch zu bemerken, dass die Heysesche Analyse weder eine gegenseitige Definition, noch eine sich überlagernde Definition enthält in Gegensatz zu dem, was in den erläuternden
ZGR 2 (42) / 2012
209
Yvonne Lucuţa (1936-2012)
Wörterbüchern oder in jenen der Synonyme anzutreffen ist. Hier wird oft ein
Inhalt A durch B und B durch A definiert, und ein Inhalt C wird zugleich
einem Inhalt A und einem Inhalt B untergeordnet.
1. 4. Untersucht man die erläuternden Wörterbücher der deutschen Gegenwartssprache nach der Begriffsbestimmung des Lexems „Geräusch“, so ergibt sich etwa folgendes Bild:
(1) „Tongewirr, Lärm“ (Mackensen, 19675 , 361);
(2) „Ton, Laut, Schall, Klang; (Akustik) durch unperiodische Schwingungsvorgänge hervorgerufene, in Stärke und Höhe stark wechselnde Schwingungen“ (Wahrig, 1974,1487);
(3) „unbestimmter (aus mehreren Tönen gemischter) Schall“ (Duden. Bedeutungswörterbuch, 1970,283);
(4) „etwas, was akustisch mehr oder weniger stark wahrgenommen wird
(und was ohne bewusste Absicht durch etwas in Bewegung Beförderliches
oder Gesetztes entstanden ist)“ (Duden. Universal-Wörterbuch A-Z, 1989,
283);
(5) „eine Anzahl Töne“ (häufig i.S. v. Lärm )“ (Paul, 1992, 338)
(6) „etwas, das man hören kann (ein lautes, leises, dumpfes, durchdringendes, störendes, unangenehmes G.)“ (Langenscheidt. Deutsch als Fremdsprache, 1993, 393).
Diese knappe Aufzählung von Wörterbuch-Belegen bestätigt E. Coserius Ansicht vollauf. Einerseits wird als übergeordneter Begriff ‘Schall’ gesetzt, andererseits werden Begriffe impliziert wie ‘Ton’, ‘Klang’ und ‘Laut’, wobei oft
von der Synonymie Gebrauch gemacht wird. Es sollte sich jedoch um eine
auf der Diskussionsebene durchaus brauchbare Begriffsbestimmung handeln, die von allen verständlich und nicht irreführend, die in alltäglichen
Kommunikationsakten auch anwendbar ist. Eine auf Definition beruhende
Determinierung wäre allerdings ebenso wenig angebracht. Sie mag zwar in
Fachtexten spezifischen Gepräges auftreten, denn dort hindert sie den Verständigungsprozess nicht, aber für die Kommunikation im Alltag eignet die
Definition sich nicht, sie ist inadäquat.
Im für den Kommunikationsakt notwendigen - und folglich im erwünschten
210
ZGR 2 (42) / 2012
Das lexikalisch-semantische Feld der Geräuschverben im Deutschen und Rumänischen
- Sinne scheint auch heute noch die alte Inhaltsdeterminierung von K. W. L.
Heyse die treffendste für das Deutsche zu sein, da er vom „Geräusch“ als von
einem „unstetigen, verworrenen Schall“ spricht und diesen im optischen Bereich mit dem Geflimmer vergleicht. (Coseriu, 19793, 157f.)
2. 1. Die rumänischen erläuternden Wörterbücher vermitteln kein eindeutigeres Bild als die deutschen, deshalb verzichten wir auf die Belege bezüglich „Schall“/“sunet“. Auch hier wird ein Begriff durch den nächstliegenden definiert, oder es wird am häufigsten von der Synonymie Gebrauch gemacht.
2. 2. Für das Rumänische hat Angela Bidu-Vrânceanu (1981, 289ff.) die entsprechende Analyse der „Schallbezeichnungen“ durchgeführt, wobei sie sich
auf die einschlägigen Wörterbücher stützt. Zwar spricht die Autorin von Untermengen oder Subsystemen, die sie als lexisch-semantische Paradigmen
deutet, aber im wesentlichen kann man diese eher als „Feldstrukturen“ verstehen, die durch das bereits klassisch gewordene Verfahren der semantischen Analyse ermittelt werden. (Dass die Verfasserin der Studie das Wort
„Feld“ meidet, ist insofern erklärbar, als in den letzten Jahrzehnten diesem
Begriff sehr unterschiedliche Deutungen zugekommen sind.)
Was die Abgrenzungsfragen betrifft, schließt sich Angela Bidu-Vrânceanu
partiell den Ansichten von Mario Alinei (1974) an und gliedert auf folgende
Weise:
I. das Subsystem allgemeiner Bezeichnungen für lautliche Erscheinungen;
II. das Subsystem der von Menschen erzeugten Laute;
III. das Subsystem der Tierlaute;
IV. das Subsystem der von Gegenständen erzeugten Laute. In diesem Bereich
wird weiter unterteilt in natürliche und künstliche Laute, wobei allerdings
zugegeben wird, dass die Charakterisierung „künstlich“ nicht die treffendste
sei.
Wichtiger als diese übernommene Klassifikation scheint uns in dieser Abhandlung die Tatsache, dass die polysemantischen Lexeme in ihrer differierenden Distribution angeführt werden, also in variablen Kontexten. Das
führt zu dem Schluss, dass ein und dasselbe Lexem mehreren Subsystemen
angehören kann. Für Angela Bidu-Vrânceanu ergibt sich aus diesem TatbeZGR 2 (42) / 2012
211
Yvonne Lucuţa (1936-2012)
stand eine „künstliche Homonymie“, die sie dann auch dementsprechend
markiert als sunet1 und sunet2 (etwa: Laut1 und Laut2 ).
Ferner ist hervorzuheben, dass die Verfasserin der Studie sowohl die Substantive als auch die Verben in die Untersuchung einbezieht, was immerhin
eine Erweiterung des bisherigen Forschungsbereiches bedeutet, auch wenn in unserer Sicht - daraus andere Probleme erwachsen. Dabei stellt sie neben
den Gemeinsamkeiten zwischen Nomen und Verb, die sie aus der Sememstruktur ableitet, auch erhebliche Unterschiede zwischen den beiden Wortarten des Rumänischen heraus, wobei die kontextuelle Bindung die Hauptrolle
spielt.
Durch das angeführte Belegmaterial möchte die Autorin wenigstens teilweise
die These von Mario Alinei widerlegen, dass die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Wortart die grundlegenden Seme nicht modifizieren könne. Laut
dieser These müssten Nomina und Verben, die z. B. „Geräusche“ bezeichnen,
eine zumindest annähernde, wenn nicht identische Sememstruktur aufweisen.
Zur Ermittlung der distinktiven Züge - wie Angela Bidu-Vrânceanu die Seme
nennt - werden teilweise die von Eugenio Coseriu angeführten Seme berücksichtigt, nachdem die Autorin jedes einzelne Sem eingehend analysiert und
auf seine Adäquatheit hin überprüft hat. In der zusammenfassenden Matrix
werden aufgrund von 18 distinktiven Zügen (folglich eine höhere Anzahl als
die von E. Coseriu festgelegte) 15 substantivische und 10 verbale Lexeme
charakterisiert. Relevant scheint uns diesbezüglich einerseits die Erweiterung durch semantische Merkmale wie ‘Intensität’ und ‘Dauer’, andererseits
durch Konnotationen wie ‘assoziiertes Gefühl’; auch wenn dieses Merkmal
ziemlich vage erscheint.
3. 1. Da lexisch-semantische Felder mehrere Stufen der Strukturierung zulassen (Lucuta, 1977 und 1985, Lucuţa/Miculescu, 1986), und zwar in dem Sinne, „dass ein Feld eine bestimmte Stufe als Einheit in einem Feld einer höheren Stufe integriert wird“ (Coseriu, 197733, 49f.), kann das Feld der Geräuschverben als Teilfeld des Gesamtfeldes ‘Schall’ gelten. Unsere Untersuchungen - von denen nur einige Ergebnisse hier angeführt werden sollen basieren auf 193 Geräuschverben, und zwar sind es 81 für das Deutsche und
112 für das Rumänische, was allerdings nicht bedeuten soll, dass alle diesbezüglichen Verben erfasst wurden.
212
ZGR 2 (42) / 2012
Das lexikalisch-semantische Feld der Geräuschverben im Deutschen und Rumänischen
3. 2. Das lexisch-semantische Feld der Geräuschverben beinhaltet, wie alle
anderen Felder gleicher Art, einen einheitlichen semantischen Wert, der
gleichzeitig als semantische Dominante des Feldes (Lucuţa, 1977) angesehen
werden kann. Diese semantische Dominante für die Geräuschverben ergibt
folgende hierarchisierte Sememstruktur:
‘hörbar’

‘nicht selbsttätig erzeugt’

‘nicht fortgepflanzt’

‘nicht homogen’
Zum Sem ‘nicht fortgepflanzt’ wäre zu bemerken, dass wir es auf der Tradition beruhen lassen, bzw. auf das Verständnis des Durchschnittssprechers, um
es von Lexemen wie hallen zu unterscheiden, die wohl durch das Merkmal
‘fortgepflanzt’ gekennzeichnet sind. In dieser Deutung verzichten wir folglich
auf die von der Physik formulierten Einwände, dass alles Hörbare durch
Schallwellen propagiert wird. Angebracht ist also noch die Bemerkung, dass
terminologisch Definiertes in die Untersuchung nicht einbezogen wird.
Kurz gefasst wird im Folgenden die semantische Dominante des Feldes - mit der
oben angeführten Sememstruktur - ganz einfach als ‘Geräusch’ bezeichnet.
3. 3 Auf der Ausdrucksebene entspricht der semantischen Dominante ein
Zentralwort, d. h. das „archilexematische Wort“, wie es Eugenio Coseriu
nennt (19732, 49). Dieses Zentralwort eines Feldes ist semantisch homogen
und somit mit fast allen anderen Feldkonstituenten austauschbar, wenn die
Opposition der distinktiven Merkmale für den betreffenden Kontext irrelevant
ist. Es kann vorkommen - vor allem bei komplex strukturierten Feldern mit
mehreren eingegliederten Teilfeldern -, dass das Zentralwort (oder sogar mehrere Zentralwörter von Teilfeldern) fehlt (fehlen). Dies zeigt sich auch im Falle des
verbalen Feldes ‘Geräusch’, das sich von seiner substantivischen Entsprechung
eben dadurch unterscheidet, dass es auf der Ausdrucksebene kein Verb *geräuschen bzw. *a zgomoti gibt. Sowohl das Deutsche als auch das Rumänische
können lediglich von der Paraphrase Gebrauch machen, um den entsprechenden
Inhalt auszudrücken: Geräusch machen oder verursachen / a face zgomot.
ZGR 2 (42) / 2012
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Yvonne Lucuţa (1936-2012)
‘hörbar’
↓
schallen
‘nicht selbsttätig erzeugt’

‘nicht fortgepflanzt’
‘nicht homogen’
↓
?
‘zurückgeworfen’
↓
widerhallen
‘selbsttätig erzeugt’
↓
lauten

‘fortgepflanzt’
↓
hallen
‘homogen’
↓
klingen
‘qualifiziert’
↓
tönen
Das Zentralwort ist „keine notwendige Voraussetzung für die Existenz eines
semantischen Feldes“ (Coseriu 19732, 49), aber sein Fehlen schränkt häufig
die gegenseitige Ersetzbarkeit zwischen den Konstituenten stark ein, weil die
hohe Anzahl der spezifizierenden Seme den möglichen Konstituenten starke
Grenzen setzt:
(1) Der Kessel dröhnt unter den Hammerschlägen.
(2) *Der Kessel donnert / kracht / pumpert / tuckert unter den Hammerschlägen.
(3) Focul duduie în sobă.
(4) * Focul pocneşte / vuieşte / scârţâie în sobă.
Selbst wenn man geneigt wäre, einige der Aussagen unter besonderen kontextuellen Umständen gelten zu lassen, so müsste mann dennoch zugeben,
dass die „Art“ des Geräusches jeweils ein anderes ist, dass in jeder der Aussagen andere differenzierende Seme aktualisiert werden, dass somit die Opposition zwischen den verschiedenen Verben nicht als aufgehoben gelten kann.
3. 4 Aus unseren bisherigen Untersuchungen im Bereich der lexisch-semantischen Felder verbaler Art geht hervor, dass die Geräuschverben eine sehr
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ZGR 2 (42) / 2012
Das lexikalisch-semantische Feld der Geräuschverben im Deutschen und Rumänischen
kleine Distributionsfähigkeit besitzen im Vergleich zu anderen Verben. Der
Grund ist darin zu sehen, dass es Geräuschverben gibt, die lediglich 2-3
Kontextpartner als Subjekt zulassen. Es besteht sozusagen eine „idiomatische Verbindung zwischen dem Subjekt und dem Prädikat“, schreibt Birgit
Stolt (1972, 148) und vergleicht diese Bindung, die von der DudenGrammatik (§4990) als „feste Sinnkopplung“ bezeichnet wird, mit den Tierlauten (Schlangen zischen, Bienen summen, Elefanten trompeten). Auf ähnliche sprachliche Gegebenheiten hat bereits 1934 Walter Porzig im Rahmen
seiner „wesenhaften Bedeutungsbeziehungen“ verwiesen (PBB 58, 70ff.),
etwa bei Verben wie bellen oder blühen.
Diese stark eingeschränkte Kollokation, die genauso verbindlich ist wie die
Flexion in der Grammatik, wurde im Bereich der Geräuschverben noch zu
wenig untersucht. Eines der möglichen Verfahren, um die möglichen Kontextpartner zu determinieren - allerdings nicht das einzige und auch nicht
das beste -, ist jenes der Austauschbarkeit, so wie es im obigen Beispiel skizziert wurde.
Unseres Erachtens ist allerdings nur dann eine partielle Austauschbarkeit
zwischen den Feldkonstituenten möglich, wenn zwischen ihnen eine Relation der strikten Inklusion oder aber der Überschneidung vorliegt (Vgl. Lucuţa, 1994 und 1995). Diese Ansicht wollen wir durch zwei knapp gefasste
Beispiele belegen:
wummern
I1
‘Geräusch’

‘laut’

‘dumpf’
dröhnen
I2
‘Geräusch’

‘laut’
I2 inkludiert I1 , folglich kann „wummern“ auch ‘dumpf dröhnen’ bedeuten:
(5) Die Musik dröhnt mir in den Ohren.
(5) Die Musik wummert mir in den Ohren.
Wird jedoch das Sem ‘schlagen’ in manchen Texten zusätzlich aktualisiert, so
wird die Neutralisation der betreffenden Opposition unmöglich:
ZGR 2 (42) / 2012
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Yvonne Lucuţa (1936-2012)
(7) Der Mann wummert mit den Fäusten an das Portal.
(8) * Der Mann dröhnt mit den Fäusten an das Portal.
Für das Rumänische kann Ähnliches bemerkt werden:
I1
a ciocăni
‘Geräusch’

‘durch Schlagen erzeugt’

‘mit/auf hartem Gegenstand’

‘leise’
I2
a bocăni
‘Geräusch’

‘durch Schlagen erzeugt’

‘mit/auf hartem Gegenstand’

‘laut’
I1 und I2 stehen zueinander in einer symmetrischen Relation der Überschneidung, deswegen ist die Austauschbarkeit der beiden Lexeme möglich und
folglich auch gestattet.
(9) La uşă se ducea şi-n uşă ciocănea.
(10) La uşă se ducea şi-n uşă bocănea.
Der eigentliche Beleg, einem rumänischen Volksritual entnommen, lautet:
(11) La uşă se ducea, şi-n uşă ciocănea şi bocănea.
In dieser Aussage werden beide Seme realisiert, sowohl ‘leise’ als auch ‘laut’,
so dass dadurch eine Steigerung in der Intensität des Geräusches zur Geltung kommen kann.
Texte (und Kontexte), wo bestimmte Konstituenten des lexisch-semantischen Feldes der Geräuschverben untereinander austauschbar wären, kann
man nur höchst selten antreffen. Das führt zu der Tatsache, dass sich äußerst
schwer eine Gruppenbildung von Konstituenten nachweisen lässt, die
eigentlich im Falle anderer Felder evident ist. Die Erklärung dafür ist relativ
einfach: Mit Ausnahme des generellen Sems ‘Geräusch’, das im Feld als
semantische Dominante fungiert und dessen konstituierende Seme einen
hohen Grad an Abstraktion und Verallgemeinerung besitzen, sind fast alle
das Feld bildenden Lexeme durch spezifizierende Seme markiert, die in der
Hierarchisierung viel tiefer liegen und somit den Verben eine sozusagen
einmalige und stark spezifische Bedeutung verleihen.
216
ZGR 2 (42) / 2012
Das lexikalisch-semantische Feld der Geräuschverben im Deutschen und Rumänischen
3. 5. Aus diesem Grunde ist beinahe jedes Beschreibungsverfahren für die
Geräuschverben fast unmöglich, sei dies die Merkmalsmatrix oder der Strukturgraph. Die Matrix ist nur partiell adäquat, weil sie die stark differierenden
Seme kaum in der Horizontalen fassen kann. Folglich kann von dieser Beschreibung nur für eine kleine Gruppe ausgesonderter Lexeme Gebrauch gemacht werden, und zwar geht es um diejenigen Lexeme, die eventuell identische Seme beinhalten, bzw. eine ähnliche Sememstruktur haben. Der
Stammbaum seinerseits könnte nur zur Beschreibung von einzelnen Verben
dienen, bzw. zur Herausstellung von Bedeutungsoppositionen zwischen zwei
Verben (wie es weiter oben angeführt wurde), allerdings nur in wenigen
möglichen Fällen.
Folglich ist das einzige den Feldkonstituenten adäquate Beschreibungsverfahren das verbale, d. h. also die Paraphrase, die aber neben Vorteilen auch
Nachteile mit sich bringt. Als Vorteil dürfte gelten, dass der jeweilige Text, in
dem die Feldkonstituenten eingebettet sind, angeführt und in der Beschreibung berücksichtigt werden muss. Als Nachteil muss angeführt werden, dass
die Analyse einer stärkeren Subjektivität ausgesetzt ist als im Falle anderer
verbalen lexisch-semantischen Felder, wo sich die Lexeme oft aufgrund eines differenzierenden Sems in Gruppen zusammenschließen.
Diese und ähnliche Erwägungen haben dazu geführt, dass in den verschiedenen Arbeitsetappen der Untersuchung unterschiedliche Verfahren eingesetzt
wurden, um der Empirie und der Subjektivität bestimmte Grenzen setzen zu
können, was wohl dennoch nicht vollständig gelungen ist.
4. 1. Wie bereits eingangs gesagt, wurden für das Deutsche 81 Geräuschverben ausgesondert mit ihren möglichen Kollokationen. Die wichtigsten sollen
hier aufgezählt werden, und zwar in alphabetischer Ordnung: ächzen, ballern, blaffen, blubbern, böllern, brausen, brodeln, brüllen, brummen, brutzeln, bumsen, donnern, dröhnen, gellen, gluckern, glucksen, grollen, gurgeln, hämmern, klappern, klatschen, klicken, klimpern, klirren, knabbern,
knacksen, knallen, knarren, knattern, knirschen, knistern, knuspern, kollern, krachen, murmeln, pfeifen, platschen, plätschern, platzen, plautzen,
plumpsen, pochen, poltern, prasseln, prusten, pumpern, puppern, quietschen, rappeln, rascheln, rasseln, ratschen, rattern, rauschen, rollen, rumpeln, säuseln, sausen, sirren, summen, sumsen, surren, schmettern, sprudeln, strudeln, stürmen, toben, tosen, tuckern, tututen, wetter, wummern,
zischen. Aus dieser einfachen Aufzählung wird schon ersichtlich, dass auch
ZGR 2 (42) / 2012
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Yvonne Lucuţa (1936-2012)
jene Verben in das lexisch-semantische Feld der Geräuschverben eingegliedert wurden, die Begleitgeräusche anderer Geschehen darstellen. Diese Feldkonstituenten sind entweder an der Peripherie des Feldes gelagert, oder aber
sie stellen die Übergangssphäre zu Nachbarfeldern dar. Der Text weist dann
die Zugehörigkeit zu dem einen oder anderen Feld aus. So ist das Lexem
„knabbern“ primär dem Feld der ‘Nahrungsaufnahme’ zuzuweisen. Zumal
aber in manchen Texten das implizierte Begleitgeräusch in den Vordergrund
rückt, ist es an der Grenze zwischen den beiden Feldern situiert.
knabbern1 - ‘kleine Stücke von etwas essen’
(12) Vor dem Fernseher knabberte Fritz gern Schokolade.
knabbern2 - ‘von etwas Hartem geräuschvoll abbeißen’
(13) Fritz knabberte laut an seinen Keksen.
4. 2. Die Kollokationen der Geräuschverben sind fast immer stabil, die Kontextpartner minimal im Vergleich zu anderen Verben: “knistern“ bedeutet z.
B. “etwas macht das (leichte) Geräusch, das entsteht, wenn z. B. Holz brennt
(Papier, Seide); das Feuer knistert im Ofen. (Langenscheidt 1997, 553). Klar
ist diese Begriffsbestimmung nicht. Demnach kann der Kreis der Kontextpartner erweitert werden:
(14) Käthes Haar knistert in meinen Ohren.
(15) Unter meinem schmalen Körper knistert der Strohsack.
(16) Hinter der schwarzen Tür knistert das Bett.
(17) Hinter der Falltür knistert das Heu.
(18) Vaters Schenkel knistern im Heu. (Herta Müller - „Faule Birnen“)
Das Verb „säuseln“ bedeutet (laut Langenscheidt 1997, 821): ’etwas rauscht
sehr leise (die Blätter, das Schilf)’; ein leiser Wind säuselt in Zweigen.
(19 ) Käthes Atem säuselt im Schlaf. (Herta Müller - „Faule Birnen“)
Diese Erweiterung des Kreises von Kontextpartnern macht die Zugehörigkeit
der Verben zu einem bestimmten Feld noch komplizierter.
4. 3. Für die Geräuschverben kämen neben dem bereits angeführten Semem
der Dominante noch etwa folgende (oppositive) Seme in Frage: [...] 2
2 An dieser Stelle bricht leider der Aufsatz ab. (Anm. der ZGR-Redaktion)
218
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BUCHBESPRECHUNGEN, BERICHT
DAGMAR DUSIL: Hermannstädter Miniaturen. Johannes Reeg-Verlag,
Bamberg 2012. ISBN 978-3-937320-18-2. 104 Seiten.
Die gebürtige, seit 1985 in Deutschland lebende Hermannstädterin Dagmar Dusil,
studierte in Klausenburg (Cluj-Napoca) Anglistik und Germanistik, veröffentlicht
Lyrik und Prosa.
Ihr Prosaband Hermannstädter Miniaturen sind eine Liebesbezeugung an ihre Heimatstadt, jenes Hermannstadt, das vom Mittelalter bis in die frühe Neuzeit als die
bedeutendste Stadt zwischen Wien und Konstantinopel gegolten hat.
Das von der Autorin gewählte Motto „Orte der Zuflucht. In Worten geortete Fluchtwege“ ist typisch für „Flucht“ und „Rückkehr“ an jene vertrauten Orte, die uns – und
vor allem der Autorin – viel bedeuten: Fluchtwege – in Worten geortet – ermöglichen, wenn überhaupt, die Rückkehr vom/zum Ort der Flucht im Sinne des Ausgangs/Ziels. Wir sind doch alle Flüchtende – vor dem eigenen Ich, um unseren
Asylort „geistig“ niemals und nirgends zu finden.
Die typischen wie herrlichen Aquarellen von Sigrid Weinrich, ebenfalls Hermannstädterin und seit 1984 in Deutschland ansässig geworden, begleiten den Leser andächtig in/durch ein lebendiges, wem, bislang unbekannt, nun lieb zu gewinnenden
Hermannstadt. Erinnerungen, auf zahlreichen, seit Jugend her aufgefangenen
Erzählungen fußend, beleuchten das Werden und Gedeihen, das Erblühen, aber
auch das seit dem Abgang der deutschen Bevölkerung ins Ausland nostalgisch
anmutende Hermannstadt, Kulturhauptstadt Europas anno 2007.
Wiederholte Besuche der Autorin in die Heimatstadt führen zu tiefgreifenden, seelischen Aufwühlungen, aber auch zu neuen Erlebnissen mit nachhaltigen Eindrücken:
Jedes Plätzchen, jedes Gebäude, jeder Stein wird mit viel Liebe und Sorgfalt aufs
neue zu Entdeckendem bestimmt.
Vertrauliche Fremdheit und fremde Vertraulichkeit ergänzen einander auf Spaziergängen durch die Stadt am Zibin, durch die Fleischergasse (S. 39), die Heltauergasse (S. 48), über den Krautplatz („mit der ersten Aufführung des neu gegründeten
deutschen Theaters“, S. 56), über Treppen (S. 26), in die Schatten der Kindheit (S.
29), durch das Tor in die Ober- und Unterstadt, (S. 77), zur Kreuzkapelle, (S. 83),
zum Erlenpark und Jungen Wald (S. 86).
Alle diese Spuren (S. 98), klammern die Friedhofsszenen (S. 95), nicht aus und führen zum Bahnhof (S. 80): Ankunfts- und Ausgangspunkt von der /in die große Welt,
wo Heimkehr wie Weggang seinen Zenit erfährt. Dabei bleibt so mancher Topos in
Erinnerung: Der Große Ring (S. 14), das Generalloch (S. 17), Die Lügenbrücke (S.
20). Sie gewähren einen Blick in die Kindheit (S. 23) und werfen den nicht zu lichtenden Anker in die innere Welt der Autorin, die stadtverliebt und erinnerungsgebunden durch den alten Durchgang am kleinen Ring über die Fingerlingstreppe (S.
79) scheinbar stets in einen sich ihrem Blick und ihrem Geist neu öffnenden urbanen, geschichtsträchtigen Mikrokosmos eintaucht, um hier andächtig, doch illusionslos zu verharren.
Buchbesprechungen, Bericht
Die Zeit historischer Blüte ist vorbei, selbst wenn johannistische Bestrebungen ein
neues Erblühen voranzutreiben bemüht sind: Es fehlen die Blüten, die ausgezogen
sind, und der Stamm alleine vermag nicht das Edelbild vergangener Jahrhunderte
zurückzubringen.
Das weiß Dagmar Dusil; deshalb ist sie bestrebt, in diesem herrlichen Blütenkranz
die Brücke zwischen Gewesen und Sein für eine neue Zukunft zu schlagen: mit Worten voller Liebe und Begeisterung für ein kulturelles städtisches Juwel, dem viele
nachtrauern, doch aus Tränen wachsen auch Leidenschaft, Kraft und Selbstvertrauen.
Allen, die diese Stadt lieben oder liebgewinnen wollen, deren Schnuppergeist die
Komplexität erfüllter Größe von einst (und hoffentlich erneut sich aufzubäumender)
sei dieses, in sprachlicher Brillanz gehaltene Kleinod wärmstens empfohlen.
Hans Dama
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VERONICA ALINA BUCIUMAN: „Sinceritas”: Der poetologische Begriff in
Hermann Hesses Prosawerk (Studien zur deutschen und europäischen
Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts), Bd. 63, Peter Lang, Internationaler Verlag der Wissenschaften. Frankfurt am Main / Berlin / Bern /
Bruxelles / New York / Oxford / Wien 2010, 196 S.
Die vorliegende Arbeit wurde 2008 als Dissertation zur Erlangung des Doktortitels
an der Universität Mainz vorgelegt. Sie stellt sowohl für die Inlands- als auch für die
Auslandsgermanistik einen originellen Beitrag zur Erforschung von Hesses Prosawerk unter poetologischem Aspekt dar. Im Mittelpunkt der Untersuchung steht der
poetologische sinceritas-Begriff, Aufrichtigkeit und Authentizität, in Hermann Hesses Prosawerk, vor allem in den Romanen: Demian, Siddhartha, Der Steppenwof
und Narziss und Goldmund.
Es ist das Verdienst der Autorin diesen Begriff, den sie mit Recht als Kern der hesseschen Poetik betrachtet, zum ersten Mal definiert und umrissen zu haben. Frau Buciuman bekräftigt durch ihre Recherche die Überzeugung des Schriftstellers , dass er
„ Seelenbiographien und Bekenntnisse, keine Romane schreibe“, indem sie von“
autobiographischen Fiktionen“ im Falle der genannten Romane von Hermann Hesse
spricht. Die akribisch durchgeführte wissenschaftliche Analyse bleibt nicht bei der
Oberfläche, sondern geht in die Tiefe, um das als Ziel der Untersuchung festgelegte
Konzept der sinceritas literaturwissenschaftlich und philosophisch herauszuarbeiten. Nach einer semantisch- historischen Analyse des Bedeutungsfeldes von sinceritas wird der Gebrauch des Terminus im Bereich der Poetologie definiert und konkret auf das ausgewählte Corpus angewendet.
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ZGR 2 (42) / 2012
Buchbesprechungen, Bericht
Die Arbeit von Frau Buciuman ist in drei große Kapitel mit Unterkapitel nach der
Dezimalklassifikation gegliedert, gefolgt von Schlussfolgerungen und einem umfangreichen Literaturverzeichnis.
In der Einleitung setzt sich die Autorin mit Definitionen des Begriffs sinceritas aus
literarischer, philosophischer und philologischer Perspektive auseinander.Hier werden
auch die theoretischen Modelle, die Vorgehensweise und der Forschungsstand skizziert.
Im ersten Kapitel, „Begriffsdefinitionen“, wird der Begriff sinceritas ausführlicher
erläutert und von synonymen Termini wie veritas und authentikos abgegrenzt.Verfolgt wird dieser Begriff in der Epoche des deutschen Idealismus (Aufklärung,
Weimarer Klassik, Romantik) und in der Moderne sowie die Beschreibung grundsätzlicher Aspekte, die mit ihm verbunden sind: Wahrnehmungsproblematik, Einsinnigkeitsproblematik und das Ins-Werk-Setzen. Hier wird auch auf literaturwissenschaftliche und poetologische Studien bekannter Autoren: Gottfried Willems,
Jaques Le Rider, Umberto Eco und Julia Kristeva unter Einbeziehung der Poetik von
Hermann Hesse eingegangen. Des Weiteren werden die Faktoren genannt, die zu einem historischen Wandel des sinceritas-Begriffs geführt haben.
Das zweite Kapitel, „Poetik der sinceritas in Hermann Hesses Prosawerk“, knüpft an
das erste an und wurde als Pendant des folgenden Kapitels konzepiert, mit dem Ziel,
die wesentliche Unterscheidung zwischen den hesseschen fiktionalen und nichtfiktionalen Diskursen zu veranschaulichen.Um die Komplexität der Problematik zu
durchleuchten, erstreckt sich die hermeneutische Textanalyse auf mehreren Ebenen
und berücksichtigt außer der Thematik der oben genannten Romane von Hesse auch
den Stil und die narrative Textgestaltung. Die Autorin nimmt die bereits eingeführten Begriffe wieder auf und bespricht die Wahrnehmungsproblematik in der
Themenentfaltung der hesseschen Romane, die diskursive Aufrichtigkeit und
existenzielle Authentizität in Demian und Der Steppenwolf, die Inszenierung der
sinceritas durch memoria (Demian und Der Steppenwolf), die Maske des Fiktiven in
Siddhartha und Narziss und Goldmund sowie die Analyse der sinceritas als Eigensinnpoetik. Hinzu kommen Aspekte der intersubjektiven Spannungen und Erfahrungen der Grenze-sinceritas und die Spannungsrhetorik. In den folgenden
Unterkapiteln werden Spannungen zwischen sinceritas-Auffassungen veranschaulicht, indem auf die Vater-Sohn-Spannungsverhältnisse in Demian, Der Steppenwolf, Siddhartha und Narziss und Goldmund eingegangen wird. Unter Spannung
versteht Buciuman eine andere Authentizitätsstrategie bei der Personengestaltung,
denen eine Dynamik zugrunde liegt, eine Gestaltungstechnik, die viel auf psychoanalytischen Kenntnissen des Schriftstellers aufbaut. In diesem Kontext wird auch auf
die Spannungen der weiblichen und männlichen Figuren oder diejenigen zwischen
Vater-Sohn-Beziehungen hingewiesen.
Durch die Vielfalt der diskutierten Aspekte, den interdisziplinären Ansatz und die
streng wissenschaftliche Arbeitsweise stellt dieses Kapitel den Kern der Arbeit dar
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Buchbesprechungen, Bericht
und ist das ausschließliche Verdienst der Autorin. Dafür spricht etwa auch die Erweiterung des Themas aufgrund der Corpus-Analyse auf Begriffe aus dem Bereich
der Gender Studies, wodurch einige Vorurteile über Hermann Hesses Bevorzugung
männlicher Protagonisten abgebaut werden.
Das dritte Kapitel, „Hermann Hesses Legitimationsstrategien“, ist dem nicht-fiktionalen Diskurs des Schriftstellers gewidmet. Analysiert werden hier Briefe und Tagebuchblätter, in denen Hesse direkten Bezug auf die untersuchte Problkematik
nimmt sowie einige Aspekte aus seinem Leben, die mit den Begriffen der Aufrichtigkeit und Authentizität zusammen hängen. Es geht in diesem Kapitel um die Auseinandersetzung mit der Autorität, um den Begriff sinceritas und den Aufbau der Nationalidentität oder um die Poetologie des Pseudonyms „Emil Sinclair“ sowie um Publikumsreaktionen und Überlegungen zur Poetik dieses Pseudonyms. Hier wird auch
der anfangs gestellten Frage, warum Hermann Hesse seine Romane als „Bekenntnisse“
betrachtet nachgegangen. In seinen Briefen und autobiographischen Schriften versucht
Hesse den poetischen Diskurs zu ergänzen und zu korrigieren, um dadurch die
Rezeption seiner Romane auf eine bestimmte Weise zu beeinflussen.
Sehr aufschlussreich sind auch die Schlussfolgerungen der Autorin betreffend des
analysierten sinceritas-Begriffes im Prosawerk von Hesse. Zitiert sei hier eine, die
die Kernproblematik umfasst: „Hermann Hesses Werk relativiert die These über die
Illusion der sinceritas im Kontext seines Zeitalters. Zugleich wird gezeigt, wie die
Illusion der Aufrichtigkeit und Authentizität durch den unverrückbaren Glauben an
diese menschlichen Werte zum Lebensideal werden kann. [...] Der Schriftsteller Hermann
Hesse sucht jedoch den reinen Ausdruck und die wahrhafte Anerkennung für seinen
literarisch ausgedrückten Glauben an die Möglichkeit einer existenziellen Authentizität
und versteht, zugleich als Voraussetzung und conditio sine qua non für dieses Lebensideal
eine sittliche und poetische Aufrichtigkeit zu kultivieren.“ (S. 183-184)
Die als Buch vorgelegte Dissertation der Frau Veronica Alina Buciuman vom Lehrstuhl für deutsche Sprache und Literatur der Universität in Oradea steht beispielhaft
für eine gründliche interdisziplinäre Untersuchung des Begriffs sinceritas in Hermann Hesses Prosawerk und ist das Resultat jahrelanger Forschung in Rumänien
und in Deutschland. Wir begrüßen in dieser Erscheinung eine wichtige Leistung der
rumänischen Germanistik, die sich durch solche Arbeiten auch in die Inlandsgermanistik mit Erfolg einbinden und sich sehen lassen kann.
Das in dem namhaften Peter-Lang-Verlag erschienene Buch ist nicht nur denen zu
empfehlen, die an Hesses Poetik interessiert sind, sondern auch jungen Forschern
und Studenten, die an literaturwissenschaftlichen, philosophischen und ästhetischen
Theorien, an Gender Studies interessiert sind.
Loredana-Ileana Barbu
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Buchbesprechungen, Bericht
G ABRIEL H. D ECUBLE: „Und es immer schlimmer machen...“ Nietzsches
philosophischer Entbildungsroman. Editura Universităţii din Bucureşti
/ Editura Paideia. Bucureşti 2012. 242 Seiten. Reihe „GGR-Beiträge zur
Germanistik“ Bd. 27 ISSN: 1843-0058-27
Band 27 der Buchreihe „GGR-Beiträge zur Germanistik / Contribuţii de Germanistică ale S.G.R.“ bietet dem Leser die Untersuchung “Und es immer schlimmer machen”. Nietzsches philosophischer Entbildungsroman, dessen Verfasser Herr Univ.Lektor Dr. Gabriel H. Decuble ist. Der Forscher bündelt hier die Ergebnisse seiner
jahrelangen Recherchen und Bemühungen um das Werk des deutschen Philosophen
Friedrich Nietzsche. Die rumänischen germanistischen Periodika veröffentlichten
bereits einige wissenschaftliche Aufsätze des Verfassers, die der in diesem Band gedruckten längeren Untersuchung vorausgegangen sind: Des Werkes Regiment - Die
Meuterei der Werke. Typologisierendes zum autobiographischen Stil Goethes und
Nietzsches, in: „Zeitschrift der Germanisten Rumäniens“, Heft 1-2 (13-14) / 1998, S.
67-72; Realismus, Naturalismus, Expressionismus. Die Philosophie Friedrich Nietzsches in Echos und Kontrasten, in: „Zeitschrift der Germanisten Rumäniens“, Heft
1-2 (19-20) / 2001, S. 57-64, und Wir Parzivale, in: „transcarpathica. germanistisches jahrbuch rumänien“, Bd. 3-4/ 2004-2005, S. 50-64.
Der Verfasser des Bandes 27 unterbreitet eine neue Sicht des Werkes von Nietzsche,
indem er den Akzent von der Metaphysik auf die Rhetorik, Ästhetik und vor allem
auf die Epistemologie der Schriften Nietzsches verlagert. Der Titel selbst deutet auf
ein gesamtes interpretandum für den Untersuchungsgegenstand hin: Nietzsches
Werk wird neben der Biografie als ein einheitliches Kontinuum aufgefasst und als
antiinitiatorischer Roman wahrgenommen, der auf ideeller Ebene durch eine Reihe
negativer, in der Tradition der apophatischen Sprache der Mystik verankerter, den
Kritizismus von Nietzsches Philosophie bestätigender Determinanten (Entsubjektivierung, Entpersonalisierung, Entsprachlichung, Enträumlichung, Entzeitlichung
etc.), und auf der praktischen Ebene durch literarische Formen (Aphorismus, Fragment, Pseudoautobiografie etc.) unterstützt ist, die den Diskurs eher destrukturieren, anstelle ihn zu strukturieren.
Die Kapiteleinteilung des Bandes spiegelt die Bemühung des Verfassers wider, die
innere Dynamik des untersuchten philosophischen Werkes Schritt für Schritt nachvollziehbar zu machen. Die Einführung lässt eine Auswahl relevanter Studien dieses
Forschungsbereichs Revue passieren, was eine notwendige, aber zugleich auch
schwierige Aufgabe ist, wenn man die internationale Vielfalt der Nietzsche-Exegese
berücksichtigt, und durchleuchtet die wichtigsten Ausrichtungen der einschlägigen
Forschung. Das nächste Kapitel (Nietzsche das Kunstwerk) bringt die eigene Sicht des
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Buchbesprechungen, Bericht
rumänischen Wissenschaftlers auf den Forschungsgegenstand zum Ausdruck, die
überzeugend argumentiert und durch eine akribische Dokumentation belegt wird.
In den folgenden Kapiteln werden schrittweise mögliche Interpretationsvorschläge
zu den analysierten Schriften unterbreitet, wobei der Verfasser methodologisch so
vorgeht, dass er verschiedene Stellen aus verschiedenen Schriften in die Argumentation heranzieht. Decuble relativiert mit Argumenten den heuristischen Wert jeglichen Versuchs, Nietzsches Werk strikt zu periodisieren. Zugleich weist er nach, dass
manche Fragmente auch in anderen Schriften des Philosophen vorkommen und dass
die verschiedenen Schriften um einige rekurrierende thematische Kerne kreisen, wobei
dadurch ein interessantes Phänomen der Intratextualität sichtbar werden kann. Das
Verhältnis Ursache – Wirkung wird in Nietzsches Epistemologie ohnehin problematisiert, so dass der Verfasser nachweist, dass dieser Typus von Schriften die Narrativierung der Themen unmöglich mache, was sich aus der Dekonstruktivierung traditioneller literarischer Formen, einschließlich des traditionellen deutschen Bildungsromans
ergibt.
Schließlich stellt das letzte Kapitel den Versuch dar, den Mechanismus der Nietzsche-Rezeption und den Grund für den großen Erfolg von Nietzsches Werk aufzuzeigen. Dabei wird in diesem Kapitel auch die Schlussfolgerung des gesamten Deutungsversuchs des rumänischen Germanisten synthetisch artikuliert.
Der wissenschaftliche Apparat (die gründlich gedachten Fußnoten und die reichhaltige Bibliografie) stellt die umfangreiche Beherrschung der Fachliteratur durch die
Heranziehung bedeutender einschlägiger Leistungen in die Analyse unter Beweis.
Das darf aber auch nicht wundernehmen, wenn man berücksichtigt, dass der Verfasser in den Genuss mehrerer Forschungsaufenthalte im Ausland gelang, wo er im
Laufe der Jahre diesen erfreulichen Band ausarbeiten konnte. Von dieser erfreulichen Tatsache sprechen der Informationsreichtum und die beachtliche wissenschaftliche sowie sprachliche Leistung des Bandes.
Die Untersuchung von Gabriel H. Decuble stellt zweifelsohne einen wertvollen, begrüßenswerten rumänischen Beitrag zur unaufhörlichen Entschlüsselung von Friedrich Nietzsches philosophisch-literarischem Werk dar.
George Guţu
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Buchbesprechungen, Bericht
Ein Sandwich mit germanischen Zutaten und nicht nur...
Ein Tagungsbericht zur 4. Konferenz der Reihe „A Germanic
Sandwich“, Leuven, 11.-12. Januar 2013
Alles passte prima und lud zur enthusiastischen Teilnahme ein: der Ort – eine idyllische Ecke der Erasmustuin, des Universitätsviertels in Leuven; der Zeitpunkt – ein
Wochenende (Freitag, der 11. Januar und Samstag, der 12. Januar 2013), an dem
man sich gern der komparativen Linguistik des germanischen Raums widmete; die
Vorträge – eine Fülle von frischen Rechercheresultaten sandwiched zwischen zwei
Plenumvorträgen, die eine dynamische Debatte versprechen ließen.
Die Begrüßungsworte erinnerten uns, dass der Sandwich Geschichte gemacht hat: diese
Tagung, die vierte der Reihe, sicherte die Kontinuität einer weitreichenden akademischen
Debatte, die 2006 mit einer Festtagung in Berlin zum Gedenken des bahnbrechenden
Werkes Nederlands tussen Duits en Engels (Niederländisch zwischen Deutsch und Englisch) (1956) des bekannten Linguisten C. B. van Haeringen begonnen hat und mit Tagungen in Sheffield (2008) und Oldenburg (2010) weiter ging. Diese Tradition wird mit ei nem künftigen Germanic Sandwich in Nottingham, voraussichtlich 2015, fortgeführt.
Als Vorgeschmack galt der einführende Hauptvortrag der Forscher JOHANN VAN DER
AUWERA (Antwerpen) und DANIËL VAN OLMEN (Antwerpen): On West Germanic comparative indefinites (Über die Westgermanischen Vergleichsindefiniten). Die dreifach
orientierte Distributionsanalyse der Indefiniten zulk und zo’n in den Sandwichsprachen (EN, NL und DE) zeigte, auf der einen Seite, die variierenden Funktionen dieser Wörter und ihrer Äquivalenten in den anderen zwei Sprachen und, auf der anderen Seite, die Evolutionstendenz der niederländischen Items, die laut der Rechercheergebnisse, schneller durch einen Univerbierungsprozess 1 zu gehen scheinen als ihre
Entsprechungen in Englisch und Deutsch. Für Germanisten wäre auch ein weiteres
Ergebnis interessant: das Auftauchen der neuen, scheinbar univerbierten Form
„son, -e“ (stammend aus so ein, so eine), derer Existenz noch nicht in der Standardsprache attestiert sei, die aber in der mündlichen und neulich schriftlichen deutscher
Umgangssprache vorkomme. Die Nachbesprechung im Plenum hat wichtige Fragen
zur Debatte gestellt, z. B. die Geschwindigkeit, mit der das Niederländische sich im
Bereich der Bestimmungswörter verändert. Einige vertraten die These, dass „Dutch
is ahead of English in recruiting determiners“ 2, es gebe jedoch keine Hinweise,
1 Laut DUDEN ONLINE, bezieht sich der Begriff Univerbierung auf das Zusammenwachsen zweier Wörter zu einem einzigen, meist ohne Bedeutungsspezialisierung (z.B. obschon
aus ob und schon): http://www.duden.de/rechtschreibung/Univerbierung. Die Terminologie kann variieren, z. B. Bauer, 2011 nennt das gleiche Phänomen Wortgebildetheit (S. 486),
doch aufgrund der internationalen Form, scheint der Begriff Univerbierung sich auch auf
Deutsch durchzusetzen.
2 So Freek Van de Velde, Universität Leuven.
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Buchbesprechungen, Bericht
warum diese Evolution stattfindet.
Nach dem einleitenden Vortrag im Plenum, kam die oft schwere Wahl zwischen zwei
höchst interessante Sektionen, und, weil die Veranstalter gewiss auch an das Sprichwort „Wer die Wahl hat, hat die Qual“ gedacht haben, haben sie für Mobilität gesorgt, indem sie die zwei Sektionen in benachbarten Räumen beherbergt haben.
Die weiteren Vorträge trugen zur Veranstaltung nicht nur durch eine breite Methodologien- und Themenpalette, sondern auch durch eine Reiche der analysierten Sprachen bei:
die Lage des Niederländischen als Füllung des germanischen Sandwichs wurde durch die
bekanntlich lange Liste der Varianten ein noch komplexerer Analysengegenstand: Afrikaans, Flämisch, Limburgisch und andere regionale Variationen innerhalb und außerhalb
des westgermanischen Dialektkontinuums durften nicht außer Betracht bleiben.
Die Arbeiten der ersten Sektion stellten Beiträge im Bereich der komparativen Morfologie dar: MARGOT KRAAIKAMP (Amsterdam) und THOMAS GERLA (Amsterdam) untersuchten das semantische Genus im Niederländischen und Deutschen. Ihre Studie zum
Genus der Personalpronomina basierte auf der Individuationsthese: je höher ein
Konzept in der Individuationshierarchie stehe, desto wahrscheinlicher sei die Verwendung des semantischen Genus. Das Thema der semantischen Genuskongruenz
war auch für JAN KLOM (Münster) und GUNTHER DE VOGELAER (Münster) von Interesse.
Die Forscher aus Münster vertraten die Idee, dass „gender is governed by the animacy
hierarchy“ im Niederländischen. Die Münsteraner Studie hat keine sozio-linguistischen
Faktoren eingeschlossen, doch derer Bedeutung erkannten die Autoren im Laufe der Debatte, da die dialektale Dimension nicht übersehen werden könne: laut der Forscher aus
Münster sei die flämische Varietät ein Zwischenfall; das belgische Niederländisch sahen
sie als sandwiched zwischen dem Hochdeutschen und dem Standardniederländischen,
was die Evolution des semantischen pronominalen Genus betrifft.
(Perugia) und CHIARA SEMPLICINI (Perugia) haben die Genusproblematik
aus dem Sichtpunkt des Nomens im Rahmen ihres Vortrages Multi-gender nouns in
Old English and Contemporary Dutch: an attempt at explaining the past with the
present betrachtet. Die sprachhistorische Analyse von ELZBIETA ADAMCZYK (Poznan) bezog sich auf die nominale Flexion im Altniederfränkischen im Lichte der im Altenglischen und im Althochdeutschen identifizierten Änderungen.3 Die Kategorie des Nomens hat auch den Vortrag von FRAUKE HELLWIG (Düsseldorf), betitelt Noun plurals in
English, German and Dutch, inspiriert.
LETIZIA VEZZOSI
Parallel mit den Konferenzarbeiten im Bereich der Morfologie, verliefen in der zweiten Sektion Diskussionen zur Soziolinguistik; Gelegenheit dafür war der Beitrag von
ULRIKE VOGL (Wien) und JANNEKE DIEPEVEEN (Berlin), der einen innovativen Ansatz zur
Plurizentrizität des Niederländischen umfasste: [...] we propose a different approach to pluricentricity where the focus goes beyond national centres of (written)
standard norms. [...] we shift the focus from national differences within an „ideal“
3 Bei allen Hinweisen dieser Art ist der genaue Titel im Konferenzprogramm verfügbar.
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Buchbesprechungen, Bericht
standard norm to differences in practice.4 Anschließend ging in dieser Sektion die
wissenschaftliche Debatte in die Richtung Wortbildung, ein Domäne, der von vier
Forschern abgedeckt worden ist: ARINA BANGA, ESTHER HANSSEN, ROBERT SCHREUDER und
ANNEKE NEIJT (Nijmegen), die zur linguistischen Relativität aufgrund einiger Beispiele
von Zwischenphonemen in Niederländisch vorgetragen haben.
Viele erwähnenswerte Beiträge, die im beigefügten Programm genau zu identifizieren sind, erkundeten Aspekte des Verbalbereichs: MELITTA GILLMANN (Hamburg) bestimmte die Zwischenposition des Niederländischen, sandwiched, laut ihres Titels,
zwischen dem Frühneuenglischen und dem zeitgenössischen Deutsch. Ihre Analyse
baut auf der Telizitätsannahme, die für DE und NL eine wichtige Rolle in der Verteilung der Hilfsverben haben/hebben und sein/zijn spiele. Die allgemeine Schlussfolgerung dieser Analyse beweise den Zwischenstatus des Niederländischen, im Sinne,
dass das es telizitätsempfindlicher als das Deutsche sei, folglich befinde es sich auf
halber Strecke zwischen dem Englischen, wo das Hilfverb be telische Dimension aufweise, und dem Deutschen, wo das Hilfsverb sein atelisch agiere, d.h. für ereignisoder ergebnisgebundene Bedeutungen stehe.
Auch der Vortrag von LUKASZ JEDRZEJOWSKI (Berlin) und MARLEEN VAN DE VATE (Berlin),
How might we want to explain them or how to deal with double modal verbs in
Dutch and German?, hatte Modalverben als Thema. Der Berliner Beitrag erzielte
eine detaillierte, reichlich mit Beispielen illustrierte Beschreibung des Verhaltens der
doppelten niederländischen Modalverben im Vergleich zu der Verhaltensweise der
deutschen Doppelmodalen. Die Schlussfolgerung dieser Analyse widersprach die
Sandwich-These: [...] despite different modal verbs paradigms (Dutch, for example,
lacks the epistemic subjunctive form dürfte, [...]), different semantic developments
of modal verbs in the history of both languages (cf. Dutch mogen and German
mögen), and some very small interpretation differences, German and Dutch
DMV5 does [sic!] not differ from one another and in the end the grammar of Dutch
cannot be positioned in between the grammars of English and German, but should
rather be brought under one roof with German.6
Weitere Beiträge mit dem Fokus Verb wurden von LIESBETH AUGUSTINUS (Leuven) und
FRANK VAN EYNDE (Leuven), zu den Verben, die Ersatzinfinitive anstelle des Partizips
einleiten, von CAITLIN MEYER (Amsterdam) und FRED WEERMAN (Amsterdam), aus der
Perspektive der Sprachbildung – The acquisition of „red“ and „green“ word order –
und von EVIE COUSSÉ (Göteborg) über die variable Verbfolge in der Geschichte des Niederländischen und des Deutschen.
4 Vogl/Diepeveen, 2013, Beitragszusammenfassung, abrufbar unter www.ling.arts.kuleuven.be
/nedling/germanicsandwich2013/abstracts/Vogl_Diepeveen.pdf
5 dual modal verb constructions.
6 Jedrzejowski/van de Vate, 2013, Beitragszusammenfassung, abrufbar unter www.ling.
arts.kuleuven.be/nedling/germanicsandwich2013/abstracts/Jedrzejowski_van_de_Vate.pdf.
ZGR 2 (42) / 2012
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Buchbesprechungen, Bericht
Die fonetisch-fonologisch gesinnten Vorträge haben im späteren Teil des ersten Nachmittages für einen spannenden Ideenaustausch gesorgt. ARJEN VERSLOOT (Leeuwarden/Amsterdam) untersuchte die seltsame Situation der niederländischen Sprache am Beispiel des
proto-germanischen */ai/, während BENINA KNOTHE (Münster) die jüngsten Selbslautenvariationen in NL, DE und EN aufgrund von langfristigen Echtzeitdaten verglich.
Der zweite Konferenztag bot, in seinem ersten Teil, den Lexikologen Gedankenanstöße an. FILIP DEVOS (Gent) und BEATRIJS VERNIERS (Gent) berichteten über Phraseologismen der drei Sandwichsprachen, die Körperteile enthalten, indem sie gezielt die Distribution von fünf Körperteilen – hoofd (Kopf/Haupt), oog (Auge), hart (Herz),
hand (Hand) und voet (Fuß) – in Betracht gezogen haben. Die kontrastive Analyse
orientierte sich nach drei Sprachverhältnissen: NL↔DE, NL↔EN und EN↔DE.
Daraus resultierte eine Inventur der Konvergenz- und Divergenzfälle für jedes Sprachenpaar. Höchst interessant und vielleicht das Thema einer spezifischen Studie ist
die 100%-ige Konvergenz beim Lexem nl. hart im Verhältnis zu dem de. Herz.
DAVID HUNTERs
(London) Beitrag konzentrierte sich auf die Problematik der Französismen und deren Inzidenz in EN, DE und NL in 4 geschichtlichen Zeitspannen: im 17.,
19., 20. und 21. Jh. Seine Feststellungen relativieren van Haeringens These zur
Sandwichposition des Niederländischen.
Parallel zu den lexikologischen Debatten, in der zweiten Sektion, wurden weitere
zwei Vorträge präsentiert, die die Reihe der morfo-syntaktischen Themen fortgesetzt
haben: HENDRIK DE SMET (Leuven), mit seiner Studie, The development of adverbial
downtoners in Dutch and English, und ANN MARYNISSEN (Köln), mit einem Beitrag zum
Genus der italienischen Lehnwörter in NL und DE.
Die Spezifika der Verbkongruenz im Kinderniederländischen und Kinderdeutsch
stellten den Interessenpunkt der Forscher SIMONE BUIJS (Amsterdam), SABINE VAN REIJEN
(Amsterdam) und FRED WEERMAN (Amsterdam), die zur Schlussfolgerung gelangt sind,
dass die Wahl der Flexionsendungen sowohl im NL, als auch im EN möglicherweise
vom Vorteil der Endposition des Verbs beeinflusst werde. AD FOOLEN (Nijmegen) und TON
VAN DER WOUDEN (Amsterdam) behandelten komparativ die Adjektivintensivierung in
ihrem Beitrag Adjektivintensivering in het Nederlands, Duits en Engels.
Afrikaans war das Hauptthema zweier Vorträge am späteren Vormittag des zweiten
Konferenztages: ADRI BREED (Nord-West-Universität Südafrika) und FRANK BRISARD
(Antwerpen) verglichen die periphrastischen progressiven Konstruktionen, indem
sie die Daten des Taalkommisiekorpus (2010) für Afrikaans und die einschlägige Literatur für Niederländisch, meist Lemmens (2005), Booij (2008), Mortier (2008)
und Geleyn (2010), in Betracht zogen. Die Forscher interessierten Aspekte wie Häufigkeit, Zusammenstellungsvariationen, Objektstellung in transitiven Konstruktionen und die Kompatibilität mit anderen Konstruktionen. TIMOTHY COLLEMAN (Gent)
sprach über three cases of English influence on the grammar of Afrikaans. So wie
der Forscher selbst im Abstract des Beitrags erklärte, versuchte er die Sandwich-Idee
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ZGR 2 (42) / 2012
Buchbesprechungen, Bericht
auf die Dreiersprachgruppe Niederländisch-Afrikaans-Englisch anzuwenden: I will
discuss three ongoing grammatical shifts in which Afrikaans seems to be moving
away from Dutch in the direction of English.7
Am Nachmittag konnten die Teilnehmer noch 4 Beiträge genießen, drei deren das
Verhältnis DE↔NL bevorzugten. KRISTEL VAN GOETHEM (Leuven) und MATTHIAS HÜNING
(Berlin) haben das Phänomen des Debondings8 im Falle der niederländischen und
deutschen zusammengesetzten Adjektive und Adverbien untersucht, SASKIA SCHUSTER
(Berlin) beobachtete die Univerbierungsprozesse in den zwei Sprachen (Processes of
univerbation in German and in Dutch: AN-constructions), während STEFAN SUDHOFF
(Utrecht) sich mit den deutschen Äquivalenten der Partikel wel befasste.
Jeder dieser 3 Beiträge warf ein neues Licht auf das Verhältnis NL↔DE, indem die
Gemeinsamkeiten und Unterschiede in den gewählten Bereichen analysiert wurden. So
waren die von KRISTEL VAN GOETHEM (Leuven) und MATTHIAS HÜNING (Berlin) als Beispiele angegebenen Adjektive nl. reuze (enorm, gewaltig, riesig etc.), nl. klasse, de. klasse, und de.
spitze aber auch das attributiv gebrauchte de. hammer (wie in de. ein Hammerkonzert/
das Konzert war hammer.)9 aussagekräftig für die Illustrierung des Phänomens.
Auch für die Translationswissenschaftler interessant, sind die Ergebnisse der Recherche von STEFAN SUDHOFF (Utrecht), die aufgrund der analysierten Daten in dem
Korpus Lit-Text10 sowie eines Übersetzungskorpus, umfassend 8 niederländische
Romane (1981-1998) und ihre Übersetzungen, entstanden sind. SUDHOFF betrachtete
wel in 4 Funktionsfällen: als Adjektiv/Adverb, als Modal-, Fokus- und Polaritätspartikel und kam zu der Schlussfolgerung, dass es viele potentielle Äquivalente zwischen NL und DE gebe; es sei aber notwendig eine tiefer eingehende Analyse zur
Ausgrenzung der verschiedenen Funktionen von wel im NL durchzuführen.
Die Veranstalter haben das Sandwich-Modell konsequent beachtet und legten als
7 Colleman, 2013, Abstract zum Beitrag. Die drei grammatischen Verschiebungen sind auch
im Abstract zu finden, abrufbar unter www.ling.arts.kuleuven.be/nedling/germanicsandwich2013/abstracts/Colleman.pdf.
8 Debonding is a type of grammaticalization defined by Norde as a „composite change
whereby a bound morpheme in a specific linguistic context becomes a free morpheme“ (Norde, 2009, 186). It typically involves processes such as severance (i.e. decrease in bondedness), flexibilization (i.e. increase in syntactic freedom), scope expansion and recategorialization. (Van Goethem/Hüning, 2013, Abstract des Beitrags, abrufbar unter
http://wwwling.arts.kuleuven.be/nedling/germanicsandwich2013/abstracts/Van_Goethem_
Huning.pdf).
9 Van Goethem/Hüning, 2013, Abstract zum Beitrag, abrufbar unter www.ling.arts. kuleuven.be
/nedling/germanicsandwich2013/abstracts/Van_Goethem_Huning.pdf.
10 Niederländische Philologie, Freie Universität Berlin, http://neon.niederlandistik.fu-berlin.de
/de/corpus/zoek?bereich=LitText.
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Buchbesprechungen, Bericht
obere Scheibe des germanischen Brotes eine nicht-germanische Schnitte, in Form
des Plenumbeitrags von BÉATRICE LAMIROY (Leuven), diesmal zu einem romanistischen
Sandwich: A Romance Sandwich überzeugte das Publikum, dass auch die Sprachen
FR, ES und IT Bestandteile eines Sandwichs seien. In ihrem Abstract versprach
LAMIROY Beweise aus mehreren Analysenniveaus, die sie tatsächlich zur Überzeugung
der Zuhörer gebracht hat: I will provide ample evidence [...] by taking data from
various domains, ranging from phonetics (erosion) and morphology (deflection) to
syntax (grammaticalization) and pragmatics (pragmaticalization). 11 Die untersuchten Daten zeigten, dass Französisch sich schneller verändere als die anderen
zwei Sprachen, Spanisch sei das langsamste, was das Italienische in Mittelposition
lasse. Dieser letzte Beitrag der Konferenz hat nicht nur eine gewisse Frische und Variation der Perspektive gesichert, sondern auch zur Parallelreflexion über die sprachübergreifenden Prozesse, die für germanische, romanistische oder ja auch andere
Sandwichs gelten können, eingeladen.
Literatur und Hinweise:
1.
2.
3.
4.
BAUER, Laurie (2011): Compounds and minor word-formation types. In „The Handbook of
English Linguistics“, hrsg. v. Bas Aarts und April McMahon. London: Blackwell, S. 483–506.
VAN HAERINGEN, Coenraad Bernardus (1956): Nederlands tussen Duits en Engels. Den Haag:
Servire.
Programm der Tagung unter: www.ling.arts.kuleuven.be/nedling/germanicsandwich2013/programme.htm
Geschichte und Publikationen der Sandwich-Tagungsreihe unter: http://www.ling.arts.kuleuven.be/nedling/germanicsandwich2013/links.htm
Adriana Ionescu
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Goethe in Bukarest: Ein zweisprachiges Jahrbuch rund um den
Meister deutscher Dichtkunst. Rumänisches Goethe-Jahrbuch,
1/2011. Hrsg. v. George Guţu. Paideia Verlag, Bukarest 2011, 370 Seiten
Und eine Zueignung. Und ein Anzapfen. Und ein fröhliches Weiterzaubern – von
fleißigen Lehrlingen gewährleistet: jetzt, da der Urworte-Beschwörer gerade mal
kurz weg ist; hier, wo einst Klingsors Töne verhallten – in jener mythischen Zeit, als
Dichterkämpfe noch angemessen poetisch in ihrer ganzen semantischen Pracht ausgetragen wurden. Weil es ohne nicht geht. Und weil Deutsch in Rumänien immer
11 Lamiroy, 2013, Abstract zum Beitrag, abrufbar unter www.ling.arts.kuleuven.be/nedling
/germanicsandwich2013/abstracts/Lamiroy.pdf.
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noch groß geschrieben wird.
Aber Goethes Zeit ist ja nicht mythisch oder etwa orphisch, sondern im weitesten
Sinne unzeitgemäß (nein, das ist gar nicht unser Goethe, das ist Nietzsches Goethe),
sie ist aus heutiger Sicht befremdend umständlich, mit dem Hauch des Monumentalen behaftet, gleichsam ins Unfassbare entrückt, vielfach verschränkt, sie wird immer wieder aufs Neue peinlichst beleuchtet, unter die Lupe genommen, erläutert,
fingiert, erfunden, ins Unendliche reflektiert. Deswegen wollen wir es mal ruhig mit
einem dem rumänischen Moment der Forschung dienlichen, opportunistisch zeitgemäß umgedrehten Goethe-Wort versuchen, um den ersten Band des von George
Guţu und seinen starken Germanisten in den Raum gestellten rumänischen GoetheJahrbuchs anzupacken: Et in Arcadia ego! Auch ich in Rumänien!
Die Frage drängt sich auf: Dürfen wir überhaupt im Namen des Meisters sprechen?
Dürfen wir mit seinen Worten, die jetzt uns gehören, schaffen, schuften, zaubern,
tricksen, sie ihm in den Mund legen? Grünes Licht aus Weimar: Ja, wir dürfen!
„Goethe, der seinem Begriff von Weltliteratur vor allem eine kommunikative, wechselseitiges Verständnis fördernde Bedeutung zusprach, hätte das neue Jahrbuch als
Zeugnis weltliterarischen Transfers dankbar begrüßt.“ (Jochen Golz, Präsident der
Goethe-Gesellschaft in Weimar, http://www.ggr.ro/Rum%20Goethe_Jahrbuch_
Vorwort.htm )
Ein schlichtes Nicken vom Zentrum. Die Mutter-Gesellschaft gibt sozusagen dem rumänischen Goethe ihren Segen, und dieser wächst dann über sich selbst hinaus und
überragt bald den Schatten seines gängigen Erwartungshorizonts einer mutmaßlichen Auslandsgermanistik. „Eine solche Gründung kann nur dort stattfinden, wo auf
dem fruchtbaren Boden und der reifenden Saat einer qualitätsvollen Goetheforschung Ernte gehalten werden kann.“ (ebd.)
Saat, Ernte, fruchtbarer Boden, Goethe, Gartenarbeit: Freilich fällt es schwer, ein literarisches, ein literaturwissenschaftliches, ein im engeren wie im weitesten Sinne
auch translationswissenschaftliches Denkmal zu Ehren des alten Geheimrats so ganz
ohne Gemeinplätze anschaulich zur Sprache zu bringen. Dementsprechend bekundet auch der Herausgeber die „Hoffnung, dass dieser zarte Spross einer soliden Goethe-Tradition in der rumänischen Kultur lange leben und der zukünftigen Forschung
unseres Landes eine tragfähige Plattform für die Erforschung des Werkes des Weimarer Titanen bieten wird“.
Zum Hintergrund der Initiative: Die Goethe-Gesellschaft in Rumänien (GoGR) wurde 1998 von Professor George Guţu ins Leben gerufen, anders gesagt von einem
Goethe-Liebhaber, der heute – u. a. auch als Träger des Österreichischen Ehrenkreuzes für Wissenschaft und Kunst – mit Stolz auf vieles zurückblicken darf, was er
für seine Fachrichtung geleistet hat. Rumänien ist ein Land, wo Goethe „im Gegen-
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satz zu nicht wenigen Ländern Westeuropas“, so Jochen Golz im Newsletter der
Goethe-Gesellschaft in Weimar e.V. (Ausgabe 3. November 2011, http://www.Goethe-gesellschaft.de/download/pdf-newsletter-3-2011.pdf), „noch immer als Lebensmacht, als Teil einer lebendigen Kultur“ begriffen wird. „Goethe in Rumänien“ heißt
denn auch sinngemäß bedeutungsstiftend die Überschrift seiner Mitteilung.
Aus der Sicht eines Betroffenen: Dass sich Goethe gefreut hätte, diese schöne spekulative Vorstellung klingt zwar nicht originell, dafür jedoch immerhin so durch und
durch erfreulich. Wir Nachkommen, die Beiträger des Jahrbuchs und andere in den
Bann des Titanen gezogene Zeitgenossen mit Karpatenluft in den Lungen, freuen uns
ganz gewiss nicht wenig, ein Teil jener Kraft zu sein, die aus dem Innersten der rumäni schen Goethe-Propfreiser mehr Licht (besser: ein anderes Licht) auf den Rahmen des
Bildes wirft, innerhalb dessen sich ein Originalgenie bewegt, das wir unser nennen.
Ein Aufruf zu Beiträgen für den nächsten Band ging längst in die vier rumänischen
Winde deutschsprachiger Ausdrucksweise – und diese wehen bekanntlich auch in
den Alpen, über das Flachland und die Deiche hinweg, bis weit hinaus ins Transatlantische. Auf! Hinaus ins weite Land! hatte schließlich schon der Meister selbst –
freilich in einem anderen Kontext – gesagt.
Eine rumänische Goethe-Ausgabe in 18 Bänden hat Professor Guţu, der Präsident der
Goethe-Gesellschaft in Rumänien (GoGR) und weiterer angesehener Vereine, ebenfalls bereits in Angriff genommen (Band 15 erschien 2009 im Bukarester RAO-Verlag).
Eine Definition des Begriffs Wahlverwandtschaft: „Eduard – so nennen wir einen
reichen Baron im besten Mannesalter – Eduard hatte in seiner Baumschule die
schönste Stunde eines Aprilnachmittags zugebracht, um frisch erhaltene Propfreiser
auf junge Stämme zu bringen.“ So auch hier. „Kulturtransfers“ heißt der letzte Abschnitt des Bandes; darin darf man die von George Guţu persönlich erstellten rumänischen Fassungen der „Metamorphose der Pflanzen“ und der „Metamorphose der
Tiere“ lesen. „Rezeptionsreflexe“, „Naturwissenschaftliche Streiflichter“ und „Skizzen zum Ganzen“ lauten die weiteren Überschriften. Das thematische Spektrum?
„Weit gespannt und klug disponiert“, so lautet das wohlverdiente Lob des Präsidenten der Goethe-Gesellschaft in Weimar.
Alle Wissenskraft und Samen: in Bukarest problemlos zur Schau getragen. Wir kramen nicht in den Worten des Meisters, wir lassen sie in uns verhallen, sich entfalten,
wundersam wirken, immer wieder aufs Neue entstehen, in höheren Gefilden wehen,
dialogisch zugrunde gehen, das Schwarze treffen, das Eigentliche, das Selbst. Von
Goethe weg? Nicht gut möglich. „Denn überall in seinem Werk ist von ihm die Rede,
d. h. von dir.“ (Constantin Noica, „Abschied von Goethe / Despărţirea de Goethe“,
nach Guţu zitiert.)
In diesem Sinne noch ein allerletztes, erbauliches Wort: Der große Meister deutscher
Dichtkunst lebt in uns fort. Und falls ihn, den Uferlosen, dieser schlichte, redliche
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Reim ein bisschen einengen sollte, so widerspiegelt das vielleicht lediglich die Art
und Weise, in der wir heutzutage noch mit dem Zauber des Wortes, das einst war,
mit den Farbtönen der Dichtung, mit dem Münzwert der Wahrheit, mit dem Prometheus’schen Feuer und seinen genussvollen wie lehrreichen Bedeutungstransfers
umgehen.
Vasile V. Poenaru
[„Algemeine Deutsche Zeitung für Rumänien“ / Freitag, 08. Juni 2012]
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Goethe in Rumänien: Ein Jahrbuch und eine Ausgabe
erscheinen. Rumänisches Goethe-Jahrbuch, 1/2011, und
Goethe: Opere Alese. Scrieri autobiografice III, vol./Bd. 15
Seit die Spaltung der Welt in zwei verfeindete Blöcke überwunden ist, hat sich in den
ehemals sozialistischen Staaten Ost- und Südosteuropas ein reges geistiges Leben
entfalten können, in dem die Beschäftigung mit Goethe einen besonderen Stellenwert besitzt, denn sie zeichnet sich durch Intensität und Nachhaltigkeit aus. Im Gegensatz zu nicht wenigen Ländern Westeuropas wird Goethe dort noch immer als
Lebensmacht, als Teil einer lebendigen Kultur begriffen.
Jüngstes Zeugnis einer solchen Beschäftigung ist das in diesem Jahr erstmals er-
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schienene rumänische Goethe-Jahrbuch. Gestützt auf eine deutschsprachige Bevölkerungsgruppe, hatte sich in den vergangenen Jahrzehnten in Rumänien eine intensive Goethe-Forschung entwickeln können, die heute in der 1998 gegründeten rumänischen Goethe-Gesellschaft ihr organisatorisches und kreatives Zentrum besitzt.
Zusammen mit der Gesellschaft der Germanisten Rumäniens und dem Forschungsund Exzellenzzentrum „Paul Celan“ der Universität Bukarest gibt sie das Jahrbuch
heraus. Das Spektrum der Autoren ist international. Deutsche Germanisten sind
darunter, aber auch Wissenschaftler aus den Niederlanden und aus Schweden. Den
Löwenanteil aber haben die rumänischen Germanisten, die teils auf Deutsch, teils
auf Rumänisch publizieren. Die gut gewählten essayistischen Kapitelüberschriften
machen Appetit auf die Lektüre des Jahrbuchs. „Skizzen zum Ganzen“ ist der erste
Teil überschrieben, in dem Abhandlungen zu Goethes Werk versammelt sind. Die
Themen des zweiten Teils sind unschwer aus dem Sammeltitel „Naturwissenschaftliche Streiflichter“ zu erschließen. Ein dritter Teil bündelt, für die rumänische Germanistik essentiell, „Rezeptionsreflexe“, und unter der Überschrift „Kulturtransfers“
finden sich Übersetzungen, darunter die von Goethes Gedichten „Die Metamorphose
der Pflanzen“ und „Metamorphose der Tiere“ aus der Feder von Prof. George Guţ,
dem Präsidenten der rumänischen Goethe-Gesellschaft und Gründer des Jahrbuchs.
Aufs Ganze gesehen lässt sich das Jahrbuch als substantieller Beitrag zu dem heute
so notwendigen grenzüberschreitenden kulturellen Diskurs verstehen. Wünschen
wir ihm eine gute, kontinuierliche Zukunft.
Anzuzeigen ist ein weiteres editorisches Unternehmen, das die erstaunliche Leistungskraft der rumänischen Germanistik dokumentiert.
2009 kam (mit der Bandzahl 15) der erste Band einer Goethe-Ausgabe heraus, die
dereinst einmal 18 Bände umfassen wird. In den ersten neun Bänden enthält sie
Goethes poetische Werke, es folgen drei Bände naturwissenschaftliche Schriften,
vier Bände autobiographische Schriften sowie abschließend Bände mit den „Maximen und Reflexionen“ und einer Auswahl von Briefen. Der vorliegende Band enthält
den dritten Teil der autobiographischen Schriften, darunter die „Kampagne in
Frankreich“ und die „Belagerung von Mainz“. Herausgeber ist Prof. George Guţu,
dem unser Ehrenpräsident Prof. Werner Keller und ich beratend zur Seite stehen.
Nicht nur darum ist die rumänische Goethe-Ausgabe als schönes Zeugnis einer
rumänisch-deutschen Kooperation anzusehen.
Eine Reihe deutscher Germanisten haben sich bereit erklärt, unentgeltlich bei der
Auswahl bestimmter Werkkomplexe mitzuwirken und auch Nachworte beizusteuern. Im vorliegenden Band hat unser Vorstandsmitglied Prof. Jeßing aus Bochum
das Nachwort geschrieben. In Druck und Papier ist die neue Ausgabe eine Augenweide – ein großes Kompliment dem rumänischen Verlag, der das Wagnis einer solchen Ausgabe auf sich genommen hat. Weit mehr noch verdienen George Guţu und
sein Team unseren Respekt und unsere Bewunderung. Wir können nur erahnen,
welcher Arbeitsleistung es bedarf, um 18 Bände Goethe größtenteils neu zu überset-
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zen und mit wissenschaftlichen Kommentaren zu versehen.
Eine rumänische Goethe-Ausgabe in 18 Bänden ist eine Investition in die Zukunft,
denn sie setzt das Vertrauen in Goethes ungebrochene Attraktivität, in das Interesse
von Benutzern und Lesern in Rumänien voraus. Damit ist auch ein Anspruch an die
deutsche Germanistik formuliert. Wir dürfen nicht müde werden, dem Unternehmen unseren wissenschaftlichen Beistand zuzuwenden. Besser und wirkungsvoller
noch wäre es freilich, wenn einer so wichtigen Unternehmung aus privater oder öffentlicher Hand in Deutschland jene finanzielle Förderung zuteil würde, die in Rumänien nur unter größter Kraftanstrengung möglich ist.
Zu: Rumänisches Goethe-Jahrbuch / Anuarul românesc Goethe. 1/2011. Hrsg. v. George
Guţu. Paideia Verlag, Bukarest 2011, 370 Seiten; J. W. Goethe: Opere Alese. Scrieri
autobiografice III. Bd. 15. Hrsg. v. George Guţu et al. RAO-Verlag, Bukarest 2009,
475 Seiten.
[„Newsletter der Goethe-Gesellschaft in Weimar“ - Ausgabe 3/2011, Seite 7-8]
Presseberichte:
u “Newsletter Universität Bukarest“, Nr. 17/2011, 10.05.2011
u “Newsletter der Goethe-Gesellschaft Weimar“, 3/2011, S. 7-8.
u “Allgemeine Deutsche Zeitung für Rumänien“, Online-Ausgabe, 8. Juni 2012.
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Autorinnen und Autoren des Heftes
1. Barbu Loredana-Ileana – Assist., Philologische Fakultät, Universität
„Babeş-Bolyai” Cluj-Napoca / Klausenburg
2. Cheie Laura – Lekt. Dr., Germanistik-Lehrstuhl, West-Universität
Timişoara / Temeswar
3. Codarcea Emilia – Lekt. Dr., Lehrstuhl für Germanistik, Universität
„Babeş-Bolyai” Cluj-Napoca / Klausenburg
4. Dama Hans – Schriftsteller, Lekt. Dr. em., Institut für Romanistik,
Universität Wien
5. Draganovici Mihai – Lekt. Dr., Institut für Germanistik, Universität
Bukarest
6. Göhler, Peter – Prof. Dr. em., Germanistisches Institut, HumboldtUniversität Berlin
7. Golz Jochen – Dr. habil., Präsident der Goethe-Gesellschaft e.V.,
Weimar
8. Gürsoy Yüksel – Lekt. Dr., Institut für Germanistik, Selçuk
Universität Konya / Türkei
9. Guţu George – Prof. Dr., Institut für Germanistik, Universität
Bukarest
10. Ionescu Adriana – Assist. Dd., Institut für Germanistik, Universität
Bukarest
11. Kakzanova Eugenia – Prof. Dr. habil., Institut für Sprachwissenschaft
Moskau / Russland
12. Kilzer, Katharina – Journalistin, „Frankfurter Allgemeine Zeitung“,
Wiesbaden
Autorinnen und Autoren des Heftes
13. Lucuţa Yvonne – Prof. Dr. em., Lehrstuhl für Germanistik der WestUniversität sowie Lehrstuhl für Fremdsprachen der Universität
Tibiscum Timişoara / Temeswar
14. Lupşan Karla – Lekt. Dr., Germanistik-Lehrstuhl, West-Universität
Timişoara / Temeswar
15. Mettenheim Andreas von – Botschafter der Bundesrepublik
Deutschland in Rumänien, Bukarest
16. Nicoriuc Beatrice – MA, Institut für Germanistik, Universität
Bukarest
17. Perrone-Capano Lucia – Prof. Dr., Germanistischer Lehrstuhl,
Universität Salerno / Italien
18. Poenaru V. Vasile – Journalist, Dd., Institut für Germanistik,
Universität Toronto
19. Sienerth, Stefan – Prof. h.c. Dr., Institut für deutsche Kultur und
Geschichte Südosteuropas an der Ludwig-Maximilians-Universität
München
20. Söder, Thomas – Doz. Dr., Pädagogische Hochschule Freiburg
21. Széll Anita Andrea – Lekt. Dr., Lehrstuhl für Germanistik,
Universität „Babeş-Bolyai” Cluj-Napoca / Klausenburg
22. Wintermantel, Margret – Prof. Dr., Präsidentin des Deutschen
Akademischen Austauschdienstes, Bonn
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