1 La Malinche in der Literatur der Chicana/os
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1 La Malinche in der Literatur der Chicana/os
Universität Leipzig: Institut für Romanistik HS: Discursos de la hibridez: La conquista de México Seminarleiter: Prof. A. de Toro Referenten: Kristin Döhler, Katja Zilinski SS 06: 15.06.06 La Malinche in der Literatur der Chicana/os: Carmen Tafolla „Yo soy la Malinche“ ; Gloria Anzaldúa „Borderlands/ La Frontera“ 1. Einführung: eine Definition des Terminus „Chicana/o“: „Chicana/o“ 1.) Bezeichnung der Einwohner der ehemaligen mexikanischen Gebiete, die nach dem Krieg zw. Mexiko und Texas seit 1848 zur USA gehören 2.) Bezeichnung der mexikanischen Einwanderer, die nach der mexikanischen Revolution (1910) oder wegen Arbeit nach dem II. WK in die USA gingen (sog. „wet backs“, die durch den Rio Grande schwammen um auf den Großfarmen im Süden der USA zu arbeiten; von den älteren mexikanisch- stämmigen Gruppen nun als Schimpfwort gegen diese benutzt) - bis zur Zeit des Chicano Movement in den sechziger Jahren hatte der Begriff peorative Bed. Æ Während der Chicano- Bewegung von Bürgerrechtsgruppen und Studenten neu im Sinne einer ethnischen Selbstidentifikation umgewertet 2. Literatur und Sprache der „Chicanas/os“: - Die Chicano- Literatur steht im engen Zusammenhang mit der historischen wirtschaftlichen und sozialen Unterdrückung der Mexiko- Amerikaner seit 1848 - wichtigster Anstoß in den sechziger Jahren durch die Freiheitsbewegungen der Afro- Amerikaner Æ Chicano – Bewegung. o Politische Zielsetzungen der Chicanobewegung: Protest gegen die prekäre Lebenssituation der Mexikoamerikaner (v.a. aufgrund wirtschaftlicher Ausbeutung, sozialer Missstände, Rassismus; Segregierung, Ghettoisierung) + Formulierung einer selbstbestimmten Identität - Æ Literatur als Sprachrohr der Chicanobewegung Æ Beherrschende Themen waren die Formulierung einer eigenen Identität und Kritik an gesellschaftlichen Missständen. Æ Die Sprache: Chicano- Spanisch und code-switching: Das Chicano- Spanisch ist das Ergebnis zweier Sprachen im täglichen Kontakt, in der selben Umgebung und doch zwei unterschiedlichen Lebenswirklichkeiten. Æ Entwicklung von verschiedenen Chicano- spanischen- Dialekten (Tex- Mex: Texas; Californio: Califonien). Aber: Die Mexikoamerikaner leben in der einzigartigen Situation, dass ihnen die Zweisprachigkeit negativ angerechnet wird. Die Zweisprachigkeit selbst enthält für die Chicanos mehrere Funktionen: o Als Reflexion ihrer kulturellen Situation als Ausdruck ihrer Erfahrung als „Außenseiter“ Zweisprachigkeit erlaubt den Chicanos ihre doppelte Identität zu bestätigen Nach langen Jahren mit Englisch als literarischer Sprache griffen die Schriftsteller der Chicanos in den 80-er Jahren durch neugefundenes Selbstbewusstsein auf das Spanisch zurück. Æ code-switching wird zu einem literarischen Instrument Æ Sprache als interkultureller Identitätsfaktor ► Einteilung der Chicana/o- Bewegung und deren literarisches Schaffen: 1. Assimilation: Anpassung an amerikanische Verhältnisse, Andersheit führte zur Abwertung, mexikan. Tradition nur auf häuslichen Bereich beschränkt 2. Extreme Abgrenzung als Gruppe: Kein Wert auf Hybridisierung gelegt, kämpferische Auseinandersetzungen Æ militante Schriftdokumente : 1 ¾ Bedeutsam: Rudolfo „Corky“ Gonzales „I am Joaquín/Yo Soy Joaquín“ (1967): s. Material Mobilisierungsaufruf + Plädojer für militanten Ethnonationalismus o Die Zeit seit den späten siebziger Jahren : steigende Zahl von Autorinnen o Æ Neubestimmung der mexikoamerikanischen Literatur aus feministischer Perspektive ein > Themen: Körperlichkeit; Liebe, familie; Geburt und Tod + Diskussion über die aus sozialer Klasse, Ethnizität, religiösen und patriarchalischen Strukturen erwachsenden Diskriminierungen der Frau. ¾ Æ Sie zeigen die „chicana“ als politische Aktivistin und Außenseiterin der Gesellschaft, aber auch als neue emanzipierte Frau mit alternativen Identitätsmodellen, welche geschlechtsspezifische und strukturelle Grenzen mehrfach aufzubrechen versteht. kulturelle, ↔ steht in Gegensatz zu den Darstellungen von chicanos: „La Malinche“ = „Mujer Mala“, sie steht in Opposition zur „Virgen de Guadalupe“ und ist mit dem Stigma Verräterin belegt. (vrgl. Armando Rendón „Chicano Manifesto“) > Abbild des stereotypen Glauben der Mexikaner an weibliche Negativität und Verrat der Frauen an Mexiko (↔ biblische Eva) ¾ Bedeutsam: Carmen Tafolla „Yo soy la Malinche“ (1978): (als Reaktion auf „Yo Soy Joaquín“ von Gonzales), s. Material ¾ ↔ Die Texanerin C. Tafolla versucht mit dem Gedicht „La Malinche“ eine feministische Korrektur der traditionellen Malinche einzuleiten, indem sie Malinche als Partnerin und Dolmetscherin des Eroberers H. Cortés rehabilitiert und sie von der bisherigen Stigmatisierung „Chingada“ befreit.: Malinche als Identifikationsmodell, dessen Anpassungsfähigkeit und Sprachtalent positiv interpretiert werden, die ihr bei ihrer Strategie nützlich sind, der zufolge sie sich selbst zur Gründerin der neuen Mestizokultur, La Raza, macht. Æ neuere Forschung : „La Malinche“ = Kultfigur, zentrale Figur in der Genderdiskussion und Metapher des Entstehens einer neuen hybriden Welt - Weitere Autorinnen: Lucha Corpi: „The Marina Poems“, Alicia Gaspar de Alba: „Malinche’s Rights“, Estela Portillo-Trambley „The Day of the Swallows“, Isabella Ríos „Victuum“, Alma Luz Villanueva, Lorna Dee Cervantes, Bernice Zamora, Pat Mora,... 3. Überschreitung des militanten Weges; Tendenz zur Hybridisierung: Öffnug gegenüber den weißen Amerikanern ¾ Bedeutsam: Gloria Anzaldúa „Borderlands / La Frontera The New Mestiza“ Kurze Biographie: - 1942 in Texas – im Rio Grande Valley geboren - im „Grenzgebiet“ aufgewachsen - „chicana“, Feministin, bekennende Homosexuelle - Schriftstellerin, Dichterin, Wissenschaftlerin und Aktivistin - bilinguale Texte (eine Idee, die ihr durch ihre Abstammung kam) Æ Position von einer multiplen Identität - starb 2004 an den Folgen ihrer Diabetes-Erkrankung Das Buch: - zweigeteiltes Buch: 1. Teil – Prosa, weitestgehend essayistisch 2. Teil – Lyrik, ein Gedichtband 2 beide Teile verlaufen inhaltlich parallel, gleiche Themen, gleiche Motive werden in beiden Teilen aufgegriffen Essays sind nach den Gedichten entstanden, weil die Gedichte laut Anzaldúa einer weiteren Erklärung bedurften - hybrider Text: zwei- bzw. mehrsprachiger Text (Englisch, Spanisch, Nahuatl) - Hybridisierung des Genres: Überschreitung von Genregrenzen (essayhaft, poetisch, teilweise auch wissenschaftlich) Mischung von fiktionalen und nichtfiktionalen Elementen Eindruck, als stünden sich essayistische Prosa und Poesie kontrastiv gegenüber es entsteht eine Opposition diskursive (erklärende, erörternde) Sequenzen überwiegen gegenüber den narrativen Æ Essays haben erklärenden Charakter - code-switching: unregelmäßiger Wechsel zwischen den genannten Sprachen Æ Kritik an der normativen Dominanz des Englischen - Inhalt: Vermischung von authobiographischer Erinnerung, ethnographischer Erforschung und der Tradition der Kulturen Æ kein homogenes Selbstporträt, sondern fragmentarische Einheiten - Thema: Grenzgebiete verschiedenster Art (geographisch, kulturell, sexuell, ethnisch, genretechnisch, sprachlich, religiös/spirituell) - Aufforderung an die Nordamerikaner, „sich der Präsenz der Mexikaner als Doppelgänger ihrer Psyche, des Verdrängten ihres Zivilisations- und Okkupationsprozesses also, gewahr zu werden, und sie aus ihrem Schattendasein treten zu lassen“ - Ziel: Blick auf die Borderlands als negativ definiertes Gebiet aufgeben und als Grundlage neu zu entwickelnder Identität zu begreifen; Erfindung eines Bewusstseins eines Typus von Frau „die neue Mestiza“ Malinche als Identifikationsfigur: - Malinche ist eine der wichtigsten Identifikationsfiguren für Literatur der Chicanas - Schriftstellerinnen identifizieren sich vor allem mit ihrer Tätigkeit als Übersetzerin und dem ständigen Wechsle von einer Sprache und Kultur zur anderen - Übersetzten ist die Vorraussetzung, um sich in zwei Kulturen gleichzeitig bewegen zu können Æ Sprache - die Auseinandersetzung mit der vom Gastland vorgegebenen Sprache ist immer wieder nötig - Anzaldúa kritisiert neben Landraub auch die nordamerikanische Sprachpolitik o verschiedene Sprachen: "Some of the languages we speak are: 1. Standard English, 2. Working class and slang English, 3. Standard Spanish, 4. Standard Mexican Spanish, 5. North mexican Spanish dialect, 6. Chicano Spanish (...), 7. Tex-Mex, 8. Pachuco (called caló)." (S. 77) - Situationen in denen verschiedene Sprachen gesprochen werden, machen einen Wechsle der Identitäten nötig, die Frage „Was bin ich?“ wird dadurch erschwert - Überlegung zum Chicano-Spanisch, um zu einem generellen Stellenwert von Sprache für Identität von Chicano/as zu gelangen Sexualität, “Rasse“, Begehren und Körper bei Anzaldúa: - coming-out als Bekehrungsgeschichte als ein zentrales Verfahren der Identitätsstiftung - sexuelles Begehren aus Ausgangspunkt - Erzählung von der eigenen Körpererfahrung eingebettet, in die Beschreibung und Inzinierung kultureller Praktiken im Umgang mit dem weiblichen Körper in der katholisch geprägten mexikanischen Kultur - Dichotomie zwischen Göttlichem und Nichtgöttlichem: Trennung zwischen Körper und Geist - Verknüpfung von Körper, Geschlecht, Sexualität und Ethnizität, die in der mexikanisch-amerikanischen Kultur eine Kontrolle über den weiblichen, homosexuellen Körper ermöglicht 3 - Coatlicue sowohl als Symbol weiblicher Sexualität im Allgemeinen als auch von Homosexualität im Besonderen, die beide die traditionellen Normen der Chicano-Kultur bedrohen Æ Sexualität als das Übernatürliche - weibliche Sexualität stellt offenbar das/die Andere dar, auf das/die sich das homosexuelle Begehren der Protagonistin richtet - Anzaldúa inszeniert die Verdrängung von Homosexualität in mexikanischer und Chicano-Kultur - 3 Positionen des „lesbischen Begehrens“: Auseinandersetzung mit der Sexualität im eigenen Ich privilegiert völlige Verwerfung der eigenen Sexualität einerseits und die Konfrontation mit deren patriarchalischen Aspekten - Zärtlichkeit, als das erstrebenswerte Ziel, als Utopie Anzaldúa entwirft lesbisches Begehren im Sinne eines politischen Lesbianismus, als radikal alternative Lebensweise - Körper der Mestiza ist die Geschichte mehrerer Rassen, mehrerer Eroberungen, Schauplatz von Verrat und Beschämung Welche Rolle spielt die Geschichte der Chicana/os bei Anzaldúa?: - Rekonstruktionsversuch der US-amerikanischen Nationalgeschichte und Geschichte aus der Perspektive der Chicano/as, Anzaldúa versucht die Diskrepanzen aufzudecken - Geschichte als Identitätsstiftender Diskurs, die Entwicklung, die der Entwurf der New Mestiza durchläuft - Mythos und Geschichte stehen in engem Zusammenhang - Geschichte ist Kampf um Raum, Orte, Territorium: Aztlán als zentrales Bild im kulturellen Gedächtnis der Chicanos - historiographische Berichte von Migrationsbewegungen aus dem mythischen Heimatland Aztlán in Richtung - Individuelle des heutigen Mexikos und zurück Familienerinnerungen, persönliche Wertungen der historischen Ereignisse, Zitate, Gedichtssequenzen werden zu einer kollektiven Chicano/a-Geschichte gruppiert - Aztlán wird als geopolitisches Realität und Heimatland der Chicanos eingeführt - Grenzgebiet als heterogener Raum: Grenze trennt einerseits Aztlán von seiner Realisierung, andererseits ermöglicht sie erst dessen Existenz als mythisches Konzept der Chicanos Æ Auslöser und Ort von Migrationsbewegungen, sozialen, politischen und kulturellen Zusammenstößen, Marginalisierung, Verdrängung und Auslöschung - Grenzgebiet als instabiler Raum mit einer Grenze, die quer durch die Identitäten und Körper verläuft und die - Grenze, die nicht nur eine topographische Trennungslinie darstellt, sondern zugleich die Spaltung des eigenen aktuelle Existenz der Chicanos prägt Körpers und der eigenen Identität anzeigt - Das geographische Territorium wird auf den Körper und die Existenz einer Person übertragen Æ Grenze als offene Wunde Anthropologie: - die Chicana-Bewegung hinterfragt die Präsenz machistischer, patriarchaler Figuren in Chicanodiskurs bzw. Chicanoliteratur äußerst kritisch und fordert die Präsenz weiblicher Symbolfiguren - zwei Ebenen: 1. Aneignung der Symbole im Sinne einer Rebellion gegen die dominante Kultur 2. kritischen Aneignung dieser kulturellen Metaphern hinsichtlich ihrer patriarchalischen Grundlagen - hier: Figur der Coatlicue als signifikantes Beispiel für die Integration präkolumbischer Motive in Chicanatexten 4 - Coatlicue als Teil eines kulturellen Gründungsmythos und als ein mesoamerikanisches Symbol und Modell weiblicher Ganzheit - Leitfigur zur Inzinierung einer weiblichen Geschichte: Doppeldeutigkeit, Lebensspendende und todbringende Göttin - nach Anzaldúa wurde das Gleichgewicht zwischen Männern und Frauen in der aztekischen Hochkultur aufgehoben und die mächtigen weiblichen Gottheiten in den Untergrund gedrängt - im Gegensatz dazu: Guadalupe, Malinche und Llorona - im Ergebnis ist eben nicht eine für die Chicana-Identität so zentrale Figur wie die Malinche schuld am Untergang des aztekischen Reiches, sondern vielmehr wird die Geschlechterproblematik in eine Klassenproblematik umgedeutet, und den Oberschichten des Aztekischen Reiches die eigentliche Verantwortung für dessen Untergang zugewiesen - die Figur der Malinche, und damit auch die Chicanas, werden von der Verantwortung für Eroberung und Kolonialisierung freigesprochen __________________________________________________________________ Anzaldúa, Gloria. Borderlands / La Frontera The New Mestiza. San Francisco: Aunt Lute Books, 1999. Bandau, Anja. Strategien der Autorisierung. Hildesheim: Georg Olms Verlag, 2004 Gonzales, Rodolfo „Corky“. ((1964)/1975). I am Joaquin. An epic poem. New York: Bantam Books). Ikas, Karin. (2002). Chicana Ways: Conversations with Ten Chicana Writers. Reno & Las Vegas: University of Nevada Press. Rendón, Armando. (1971). Chicano Manifesto. New York.: Collier. Scholl, Sabine. Malinche in Japangles. http://www.inst.at/trans/6Nr/scholl.htm Tafolla, Carmen. La Malinche, in: Tey Diana Rebolledo / Eliana S. Rivero. (1993). (eds.). Infinite Divisions. Tucson: The Univ. of Arizona Press. Thelen- Schäfer, Irene. (1996). Mythos und Realität der Chicanos. Dissertationen der Universität Salzburg, Band 47. Wien: Österreichischer Kunst- und Kulturverlag. pp.198-199. 5