MM_Herr Biedermann und die Brandstifter

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MM_Herr Biedermann und die Brandstifter
Materialsammlung
„Herr Biedermann und die Brandstifter“
Theater St.Gallen 2009/10
Materialsammlung
HERR BIEDERMANN
UND DIE BRANDSTIFTER
von Max Frisch
Theater St.Gallen – Spielzeit 2009/10
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Materialsammlung
„Herr Biedermann und die Brandstifter“
Theater St.Gallen 2009/10
Liebe Lehrerinnen und Lehrer
Diese Materialsammlung gibt Ihnen einen Überblick über Idee und Inhalt der Schauspielproduktion
„Herr Biedermann und die Brandstifter“. Verschaffen Sie sich ein Bild des Stücks und picken Sie die
Materialien raus, die Sie für die Vor- und/oder Nachbereitung mit der Klasse brauchen können.
Am Freitagmorgen 21. Mai 2010 laden wir Schulklassen zu einem Making of…-Probenbesuch mit
Vor- und Nachgespräch ein (bitte anmelden). Ebenso findet am Samstag 22. Mai um 10 Uhr eine öffentliche Probe statt. Am Sonntag 30. Mai gibt es um 11 Uhr im Theaterfoyer eine Einführungsmatinee – sehr empfehlenswert für Lehrpersonen. Freier Eintritt zu den drei Veranstaltungen.
Ausserdem bieten wir zu „Herr Biedermann und die Brandstifter“ eine theaterpädagogische Einführung an. Der Theaterpädagoge Mario Franchi kommt an Ihre Schule. In einem Workshop werden die
SchülerInnen in das Werk und die Inszenierung eingeführt. Hintergrund-Informationen und themenbezogene Übungen ermöglichen es, dass die Klasse vorbereitet in die Vorstellung geht. Dauer: 45 bis
60 Minuten. Buchung per Mail: [email protected]
Bei Fragen stehen wir gerne zur Verfügung:
Susanne Schemschies
Mario Franchi
Leitung Kinder- und Jugendtheater
Theaterpädagoge
[email protected]
[email protected]
071 242 05 18
071 242 05 71
Wir freuen uns auf Ihren Besuch und wünschen Ihnen und Ihrer Klasse einen spannenden Theaterabend!
Freundliche Grüsse
Susanne Schemschies & Mario Franchi
weitere Infos: www.theatersg.ch
Kartenreservationen bitte direkt bei der Theaterkasse:
[email protected] oder 071 242 06 06
Erkundigen Sie sich über die Spezialpreise für Schulklassen.
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Materialsammlung
„Herr Biedermann und die Brandstifter“
Theater St.Gallen 2009/10
Inhaltsverzeichnis
Einleitung und Besetzung
04
Biedermanns Weg durch das Werk von Max Frisch
05
Die Burleske, ein Tagebucheintrag
05
Die Brandstifter, ein Exposé
06
Herr Biedermann und die Brandstifter, ein Hörspiel
06
Biedermann und die Brandstifter, das Theaterstück
08
Nachspiel zu Biedermann und die Brandstifter
09
Die Fernsehfassung
10
Lesehilfe für die St.Galler Fassung „Herr Biedermann und die Brandstifter“
11
Der Beginn des Stücks in den verschiedenen Fassungen
15
Das Hörspiel
15
Das Theaterstück
17
St.Galler Fassung
18
Burleske
20
Interview mit dem Regisseur Martin Schulze
23
Max Frisch: Fragebogen X
26
Max Frisch: Zeittafel
27
Theater St.Gallen, 27. April 2010
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„Herr Biedermann und die Brandstifter“
Theater St.Gallen 2009/10
Herr Biedermann und die Brandstifter
Eine Bearbeitung des Hörspiels für die Bühne
Premiere: 5. Juni 2010 (Wiederaufnahme in der Spielzeit 2010/11)
«Scherz ist die drittbeste Tarnung. Die zweitbeste ist Sentimentalität. Die beste aber ist immer
noch die blanke und nackte Wahrheit. Die glaubt niemand.»
Obgleich sich in der letzten Zeit die Meldungen über Brandstiftungen häufen, gewährt Herr Biedermann dem obdachlosen Schmitz Quartier auf seinem Dachboden. Doch ehe er sich versieht, bringt der
neue Bewohner auch noch seinen Freund Eisenring und ein paar Benzinfässer mit. Die Entdeckung
der Kanister versetzt Biedermann zwar in Angst und Schrecken, doch kann er sich nicht dazu durchringen, sich die Gefährlichkeit der Lage einzugestehen und die Fremden wieder vor die Tür zu setzen.
Stattdessen versucht er, sich den Feind zum Freund zu machen. So trifft die pyromanische Absicht der
Brandstifter auf eine Mischung aus Angst, Höflichkeit, Wunsch nach Anpassung und anhaltender
Ausblendung der Gefahr. Eine Letztlich tödliche Mischung – nicht nur für Biedermann.
Die Geschichte vom Biedermann, der sich den Untergang sehenden Auges ins Haus holt, hat den
grossen Schweizer Autor Max Frisch (1911-1991) über Jahrzehnte begleitet. Immer wieder greift er den
Stoff auf, formuliert ihn um, sucht nach neuen Genres. In der früheren Hörspielfassung „Herr Biedermann und die Brandstifter“ stellt der Autor dem Bühnengeschehen eine Verfasserfigur gegenüber,
die dem späteren Bühnenchor weichen musste: kommentierend, mahnend, die Ereignisse arrangierend und mit einem deutlichen Hang zum Humor. In unserer aktuellen Spielfassung, die sich verstärkt am Hörspiel orientiert, lässt die Texte dieser Figur wieder auf die Bühne kommen, ohne die
Idee eines Chores ganz zu verwerfen.
Besetzung:
Herr Biedermann
Marcus Schäfer
Babette, seine Frau
Diana Dengler
Schmitz
Hannes Perkmann
Eisenring
Nikolaus Benda
Chor
Hans Rudolf Spühler, David Steck
Inszenierung
Martin Schulze
Bühne und Kostüme
Ulrich Leitner
Musik
Dirk Raulf
Dramaturgie
Karoline Exner
Regieassistenz
Teresa Kolbe
Souffleuse
Birgit Limmer
Inspizienz
Veronika Geyer
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Biedermanns Weg durch das Werk von Max Frisch
Kurze Werkeinführung von Schauspieldramaturgin Karoline Exner
Die Geschichte vom biederen Bürger, der die Brandstifter in sein Haus nimmt und entgegen
aller Vernunft nichts gegen sie unternimmt, begleitet Max Frisch über zwanzig Jahre. In dieser Zeit wird sie mehrfach und in höchst unterschiedlichen Varianten von ihm niedergeschrieben. Dabei wandelt sich nicht nur die Intention der Erzählung, auch die Medien, durch
die Herr Biedermann streift, wechseln: vom Tagebucheintrag zum Hörspiel über das Bühnenstück bis hin zum Film.
Die Burleske, ein Tagebucheintrag
Die erste Fassung findet sich unter dem Titel „Burleske“ 1948 im Tagebuch von Max Frisch:
„Eines Morgens kommt ein Mann, ein Unbekannter, und du kannst nicht umhin, du gibst
ihm eine Suppe und ein Brot dazu…“ Weil dem armen Mann Unrecht geschehen ist, fühlt
sich der Leser verpflichtet, ihn in sein Haus zu holen und nicht, wie alle anderen, schlecht
von ihm zu denken. Und mehr noch: nach und nach gibt er dem Fremden in allem recht was
er sagt oder tut - „zuerst nur durch dein Schweigen, später mit Nicken, schliesslich mit Worten.“
Max Frisch spricht seinen künftigen Leser hier mit dem vertraulichen du an. Als kenne er all
seine Gedanken und Ideen, seine Wünsche und Ängste, wenn der namenlose Unbekannte
vor deiner Tür steht und um Einlass drängt. Auch in dieser frühen Fassung wird ein zweiter
Fremder nachkommen; es gibt die herein gerollten Fässlein, nach Benzin stinkend, und das
Abendessen mit der Bitte um Zündhölzer. Doch noch ist das spätere Stück ein Kammerspiel:
Die Handlung kreist um drei Personen – alle namenlos. Der Leser und seine zwei Brandstifter. Das Schicksal aber nimmt seinen unerbittlichen Lauf, vorangetrieben durch den Wunsch
des (Biedermann-)Lesers, nichts als „Ruhe und Frieden“ zu haben. Auf keinen Fall will er
sich mit irgendetwas Unangenehmen auseinandersetzen müssen. Dann schon lieber zwei
Menschen Vertrauen entgegen bringen, die alles andere als vertrauenswürdig sind. Am Ende brennt das eigene Haus und „siehe da, bist du verkohlt und kannst dich nicht einmal über
deine Geschichte verwundern…“.
Das ist wirklich burlesk, im besten Wortsinn! Denn die Burleske ist genau „jene Form des
Komischen, die ohne satirische Absicht, die hohe und erhabene Seite des menschlichen Handelns ins Lächerliche zieht, indem sie ihre natürlich-pysiologische Grundlage herausstreicht.“ (Begriffsbestimmung von Walter Schmitz)
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Die Brandstifter, ein Exposé
Im Februar 1950 reicht Max Frisch den „Entwurf eines Hörspiels“ beim Radio Zürich ein.
Dieses Manuskript umfasst einige wenige Seiten und orientiert sich weiterhin am Tagebucheintrag von 1948. Max Frisch notiert, man habe sich das Hörspiel eigentlich als inneren Monolog von Biedermann vorzustellen. Dennoch kommen einige Figuren hinzu: ein unmittelbar zum Hörer sprechender Spielleiter, der die Katastrophe überleben wird und Biedermann
bekommt neben seinem Namen auch noch eine Frau: Isebill, die ihn mehrfach vor der drohenden Gefahr warnt. Der Verlauf der Dinge aber nimmt seinen Gang, ohne dass Biedermann eines Besseren zu belehren wäre.
Herr Biedermann und die Brandstifter, ein Hörspiel
1952 entsteht dann das Hörspiel mit dem Titel „Herr Biedermann und die Brandstifter“; ein
Auftragswerk des Bayrischen Rundfunks. Max Frisch berichtet später in einem Werkstattgespräch über den Entstehungsprozess:
Zur Arbeitsgeschichte wäre noch etwas anderes zu sagen: Die Geschichte, der Plot, die Idee
steht im ersten Tagebuch als Prosaskizze. Dann gab mir der deutsche Rundfunk den Auftrag
für ein Hörspiel, und ich brauchte die 3000 DM, die angeboten waren, hatte aber keine Idee;
da sagte mir der Mann vom Rundfunk: Aber schauen Sie doch in Ihren Büchern nach, vielleicht ist doch im Tagebuch etwas - er musste mich noch darauf stoßen. Dann habe ich dieses
Hörspiel gemacht, es ist also schon aus einer Verlegenheit entstanden und war eine reine Auftragsarbeit, so eine richtige Geldverdien-Arbeit. Die zweite Stufe war wieder so: Ich hatte einen Roman abgeschlossen und publiziert: den Homo faber, und ich halte es nicht aus, ohne zu
arbeiten - da war ich schon freier Schriftsteller, ich konnte also nicht auf die Baustelle gehen -,
und das Schauspielhaus Zürich sagte: Schreib ein Stück, schreib ein Stück! Ich sagte: Ich habe
keines. Die sagten: Wie wäre es mit diesem Hörspiel? Also das zweite Mal, dass mich einer
darauf aufmerksam machen musste. Und dann habe ich das Stück draus gemacht. Ich erzähle
das nicht als Anekdote, sondern weil diese Art von Arbeit - wenn man einen eigenen Stoff bearbeitet wie einen fremden, der einen nicht mehr als Erfindung interessiert - die handwerklich
viel freiere und souveränere ist.
Tatsächlich geht Max Frisch mit seiner Figur des Biedermann noch einmal ganz neu und frei
um:
Max Frisch baut die Idee des Verfassers aus. Dieser wendet sich direkt zu Beginn des Hörspiels an das Publikum und erzählt die Geschichte des nun folgenden Hörspiels als bereits
vergangenes Ereignis: Nachdem er zu Beginn ein paar Worte über Biedermann gesagt hat,
bittet er ihn zu einem Interview zu sich:
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VERFASSER: Ich sage keineswegs, Herr Biedermann, dass sie die Katastrophe verschuldet
habe. Keineswegs! Ich sage nur, Sie haben sie (wenn ich so sagen darf) ermöglicht.
In insgesamt 11 Ansagen unterbricht der Ansager den Fortgang der Geschichte. Diese Unterbrechungen haben unterschiedliche Funktionen:
Beispielsweise wird mit einem ironischen Unterton die Handlung abgekürzt:
VERFASSER: Hier, liebe Hörer, überspringen wir ein Stück. Eine Kindheit in den Wäldern, die
harte Jugend eines Köhlerbuben, der ein Ringer wird ….
Bisweilen hat der Verfasser auch die Funktion einen Zeitsprung mitzuteilen:
VERFASSER: Weiter, lieber Hörer, ist nichts geschehen, was des Sendens würdig wäre – bis
zur Heimkehr der Frau Biedermann. Zwei oder drei Tage später. Es ist Mitternacht…
Oder einen Ortwechsel, denn der Zuhörer kann ja – im Gegensatz zum Theater – nicht sehen, dass die Szene nun an einem anderen Ort spielt.
VERFASSER: Es ist schade, liebe Hörer, dass Sie dieses Bild nicht sehen können: Eisenring an
der offenen Lukarne, er steht auf den Kanistern und füttert gerade eine weisse Taube… Es
klopft an der Tür. Die Tür zum Dachboden steht offen. Herr Biedermann aber, der Hauseigentümer, klopft trotzdem, wie es sich gehört.
Durch diese Ansagen wird die Illusion, dass das Geschehen gerade stattfindet, immer wieder
unterbrochen. Der Verfasser gibt sich als allwissend zu erkennen: da er selbst die Geschichte
und die Figuren erfunden hat, weiss er wie die Dinge sich weiter entwickeln werden. Und er
kennt die Beweggründe der Handelnden.
Doch der Verfasser hat selbst das Problem, dass die Figuren sich nahezu unbewusst weiterentwickeln. Die Charaktere machen sich selbstständig von ihrem Erfinder. Dieses Problem,
dass viele Schriftsteller in Interviews beschreiben, wird auch von Max Frisch im Hörspiel
thematisiert. Es kommt zu heftigen Diskussionen zwischen der Figur Biedermann und ihrem
Erfinder:
BIEDERMANN: Wären Sie an meiner Stelle gewesen, Herrgott im Himmel, was hätten Sie
denn getan?
VERFASSER: Sie haben vollkommen recht, Herr Biedermann: das ist die Frage, die mich beschäftigt.
BIEDERMANN: Sie sind der Verfasser - Kunststück! Wenn man das Ende voraus weiß ...
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VERFASSER: Sie finden mich überheblich.
BIEDERMANN: Gelinde gesagt!
Manchmal aber ist der Verfasser auch der beste Freund seiner Figuren und berät den armen
Biedermann, wenn er nicht weiss, welchen Wein er zum Gansessen aussuchen soll…
Neben der Figur des Verfassers gibt es noch andere Geschichten, die Max Frisch im Hörspiel
dazu kommen lässt: insbesondere die von dem entlassenen Angestellten, Knechtling. Er und
seine Frau rufen im Verlauf des Hörspiel mehrfach bei Biedermann an, verlangen auch dessen Frau zu sprechen. Knechtling bringt sich im Verlauf der Geschichte um, nun wird über
einen Kranz debattiert zwischen dem Ehepaar Biedermann. Die Geschichte nimmt letztlich
einen fatalen Verlauf: Auftraggeber und Toter werden verwechselt, so dass der Kranz
schliesslich bei Gottlieb Biedermann landet (mit dessen Name auf der Schleife) und die
Rechnung an den toten Knechtling geht.
Die Episoden um Knechtling, die ein schlechtes Gewissen bei Biedermann auslösen, um das
er sich immer wieder zu drücken versucht, werden zum zentralen Aspekt der Geschichte. Sie
treiben Biedermann immer wieder zu Handlungen, mit denen er sich und der Welt beweisen
will, dass er unschuldig ist am Tod des Mannes und daher gar nicht so ein übler Charakter,
wie der Zuhörer des Hörspiels vielleicht denken könnte.
Das Hörspiel wird am 26. Januar 1953 im Bayrischen Rundfunk erstausgestrahlt; im Juni
desselben Jahres produziert das Züricher Radio eine überarbeitete Fassung (mit kleinen Strichen).
„Biedermann und die Brandstifter“, das Theaterstück
Im Jahr 1957 arbeitet Max Frisch das Hörspiel innerhalb von zwei Monaten zu einem Theaterstück um. Im Dezember schickt er das Werk an seinen Verleger Peter Suhrkamp; am 23.
März 1958 fand am Schauspielhaus Zürich die Uraufführung statt.
Die tiefgreifendste Veränderung zwischen Hörspiel und Bühnenfassung ist, dass Max Frisch
den Verfasser durch einen Chor ersetzt hat. Der Chor ist ursprünglich die Keimzelle des antiken Dramas: er besteht aus einer Gruppe von Männern, der in den Frühformen erst ein,
später dann mehrere Schauspieler gegenüber gestanden hat. Der Chor fungierte im antiken
Theater als Betrachter und Kommentator des Bühnengeschehens; später dann wird er zum
Akteur des Geschehens, kann aber selber nicht verändernd in die Handlung eingreifen.
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Die Männer aus dem Chor von Max Frisch bekommen eine klare Berufsbezeichnung zugeordnet: sie sind die Feuerwehrmänner der Stadt, also die Gegenspieler zu den Brandstiftern.
Sie wittern die Gefahr und bedauern, dass Biedermann sie nicht zur Hilfe ruft.
Formal orientiert sich Max Frisch tatsächlich am antiken Chor: diese Feuerwehrmänner sind
unterteilt in einen Chor und ihren Chorführer und sprechen tatsächlich im Versmass. Das
hat der Autor parodistisch gemeint und so klingt es auch:
CHOR: Blinder als blind ist der Ängstliche,
Zitternd vor Hoffnung, es sei nicht das Böse,
Freundlich empfängt er's,
Wehrlos, ach, müde der Angst,
Hoffend das beste...
Bis es zu spät ist.
Die Turmuhr schlägt.
CHOR Wehe!
Der Chor setzt sich.
Einmal sogar spricht der Chor Biedermann direkt an und will ihn zum Handeln bewegen.
Biedermann jedoch ignoriert die mahnenden Worte mit dem Hinweis, er sei ein freier Bürger.
Weitere Veränderungen zum Hörspiel sind, dass die Gruppe der Brandstifter um eine weitere Figuren ergänzt wird: Dr. Phil kommt hinzu. Er ist der intellektuelle Kopf der Brandstifter, wird von diesen jedoch mit Verachtung gestraft. Zudem erhält Frau Biedermann einen
neuen Vornamen – sie heisst jetzt Babette. Und die Geschichte um Knechtling wird reduziert. Dafür tritt Frau Knechtling tatsächlich auf – als schwarze Witwe (im Hörspiel kannten
wir sie nur vom Telefon, wobei nie ihre eigenen Worte zu hören waren, sondern stets nur die
Antworten von Herrn Biedermann).
Nachspiel zu Biedermann und die Brandstifter
Das Stück wurde ein Erfolg. Doch wie Max Frisch fand, durch ein Missverständnis: die Biedermänner von Zürich spendeten ernsthaft Beifall, weil sie dachten, Max Frisch habe ihnen
erzählen wollen, was dabei herauskommt, wenn man die Kommunisten (=Brandstifter) ins
eigene Haus holt.
Das neue Nachspiel trug den Arbeitstitel „Herr Biedermann kommt in den Himmel“, wobei
Herr Biedermann und seine Frau schliesslich in der Hölle sitzen, wo sich auch das restliche
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Personal eingefunden hat. Hier formuliert Max Frisch noch einmal den Gedanken, Täter und
Opfer sind insgeheim Komplizen.
Bald jedoch hat Max Frisch dieses Nachspiel wieder gestrichen. Von 1973-78 hat der Autor es
vollends gesperrt, da er es nicht nur für überflüssig sondern für schädlich hielt. Denn er hatte es insbesondere für das deutsche Publikum geschrieben:
„Herr Biedermann der deutsche Bourgeois, der aus Angst mit den Nazis fraternisiert. Kurz
drauf zog ich dieses Nachspiel zurück, da es die Parabel auf die Vergangenheit bezieht und
auf ein bestimmtes Land, (…)“
Das Stück sollte jedoch ein „Lehrstück ohne Lehre“ bleiben. Mit dem Begriff des Lehrstücks
orientiert sich Frisch an der Theatertheorie und -praxis von Bertolt Brecht (1998-1956), den
Max Frisch auch persönlich kannte. Brecht hatte eine Theaterdramaturgie entwickelt, die
ebenfalls den Illusionscharakter des Bühnengeschehens (= die Dinge geschehen tatsächlich)
aufhob, indem er mit Verfremdungseffekten (=Chor) arbeitete. Auf der Bühne wurde richtiges und falsches Verhalten nebeneinander gestellt und der Zuschauer wurde so darüber belehrt, wie mit bestimmten gesellschaftlichen Dingen umzugehen sei. Die Zuschauer sollten
aus dem Gesehenen eine Lehre ziehen.
Indem Max Frisch von einem „Lehrstück ohne Lehre“ spricht, weist er darauf hin, dass er
sich in Inhalt und Form von Bertolt Brecht hat beeinflussen lassen; jedoch nicht mehr daran
glaubt, dass aus dem Gesehenen wirklich eine Lehre gezogen werden wird. Die Dinge wiederholen sich auch in Zukunft genau so, wie sie hier dargestellt werden: Jede Zeit hat ihre
Biedermänner!
Die Fernsehfassung
Auf die Bearbeitungen, die Max Frisch 1966 für das Fernsehen vorgenommen hat, möchte ich
nicht im Detail eingehen. Interessant zu wissen ist jedoch, dass der Autor sich nicht nur von
dem Nachspiel losgesagt hat; er hat für das Fernsehen auch auf einige Dinge verzichtet, die
er eigens für die Bühne erfunden hatte - der Chor wurde wieder gestrichen. Statt dessen gab
es nun ein Interview, in dem Herr Biedermann nach der Brandkatastrophe zu seinem eigenen Schicksal Stellung nimmt.
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Lesehilfe für die St.Galler Fassung „Herr Biedermann und die Brandstifter“
Die Fassung für das Theater St.Gallen ist entstanden in der Zusammenarbeit des Regisseurs
Martin Schulze und der Dramaturgin Karoline Exner.
Was ein Regisseur ist, werden die meisten wissen: er probt den Text mit den Schauspielern
und trägt für alle künstlerischen Entscheidungen die letzte Verantwortung. Das heisst, der
Bühnenbildner entwickelt das Bühnenbild mit dem Regisseur gemeinsam; ebenso werden
die Kostüme in Absprache mit dem Regisseur konzipiert.
Die Dramaturgin ist für den (Literatur-)wissenschaftlichen Bereich einer Inszenierung zuständig. Sie beschäftigt sich mit dem Autor, der Entstehungsgeschichte des Werks und überlegt, ebenfalls gemeinsam mit dem Regisseur, welche Fassung am interessantesten wäre. In
diesem Fall haben wir uns für das Hörspiel entschieden und nicht für das Bühnenstück!
Dies ist ein ungewöhnlicher Vorgang. Und darum möchte ich ein paar Worte dazu schreiben, warum wir diese Entscheidung getroffen haben und gleichzeitig darauf eingehen, warum wir wiederum an manchen Stellen das Bühnenstück in das Hörspiel hinein montiert
haben:
Wie in der Einführung zu lesen ist, ist das Hörspiel älter als das Theaterstück. Es wäre aber
falsch zu denken, dass eine Autor, indem er einen Stoff neu bearbeitet, die Fassungen immer
besser werden. Nein, sie werden nicht qualitativ besser, sondern sie verändern sich. Bei einem Autor wie Max Frisch bleibt das Niveau dabei gleich hoch. Nun beinhaltet das Hörspiel
jedoch einige interessante Dinge, die Max Frisch dann später für das Theaterstück rückgängig gemacht hat:
-
Der Verfasser ist eine sehr interessante und auch witzige Figur. Er beweist Humor, wenn
er davon spricht, das jetzt eigentlich nichts weiter Interessantes passiert wäre; dann wiederum kommentiert er das Bühnengeschehen in einer Art und Weise, von der wir denken: Ja, diese Frage ist berechtigt!
-
Der Verfasser fordert in seinen Texten den Zuhörer (und bei uns: den Zuschauer) viel
mehr auf über sich selbst nachzudenken, als das der Chor in seinen Passagen tut; dieser
bezieht sich mehr auf das Bühnengeschehen selbst, spricht den Zuseher nicht unmittelbar an.
-
Die Geschichte mit Knechtling ist ein treibendes Element im Hörspiel. Es ist schade, dass
diese Geschichte zwar zu Beginn der Bühnenfassung eine wesentliche Rolle spielt, dann
aber verloren geht.
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„Herr Biedermann und die Brandstifter“
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Wir haben lange überlegt, ob wir die Geschichte von Dr. Phil wirklich brauchen. Er ist
ein Intellektueller, der hier verachtet wird. Diese Geschichte hat mit dem Entstehungskontext der Zeit zu tun; wir hatten nicht den Eindruck, dass wir diese Figur heute zwingend brauchen – im Hörspiel kommt er nicht vor.
-
Manche Figuren sind im Hörspiel etwas interessanter dargestellt als im späteren Bühnenstück. Isebill, die Frau von Biedermann, stellt ihren Gatten im Hörspiel viel drängender zur Rede als sie das später auf der Bühne tut. In der Theaterfassung bildet sie
mehr eine Einheit mit ihrem Mann. Da wir den Namen aber nicht gut finden, heisst Isebill bei uns auch Babette.
Und so gibt es einige Passagen, in denen wir uns auch am Theaterstück orientieren. Beziehungsweise darf man eines nicht vergessen: die beiden Vorlagen unterscheiden sich in vielen
Dialogen auch gar nicht. Der wesentlichste Unterschied ist ja die Frage: Verfasser oder
Chor?
Und genau bei der Beantwortung dieser Frage sind wir einen sehr besonderen Weg gegangen: Es gibt die Texte des Verfassers, aber gesprochen werden sie – von einem Chor!
Das kann man sich folgendermassen vorstellen:
Es gibt am Anfang eine Gruppe von Menschen, die sich direkt an das Publikum wendet und
beschliesst, das Stück nun zu spielen (ebenso wie sich der Verfasser an seine Hörer wendet
und beschliesst, diese unglaubliche Geschichte zu senden).
CHOR:
Liebe Zuschauer, liebes Publikum! Herr Biedermann, der Held unsrer unwahrscheinlichen
Geschichte, wartet bereits auf seinen Auftritt. Sie alle, liebe Zuschauerinnen und Zuschauer,
kennen Herrn Biedermann, wenn auch vielleicht unter anderen Namen. Was ihn außer einem
freundlichen Verzicht auf besondere Merkmale auszeichnet, ist eine rosige Gesundheit, die
ihn dazu bestimmt, stets und nach jeder Katastrophe zu den Überlebenden zu gehören.
Seine Art, sich zu kleiden, erinnert mich – an SIE!
Das heisst – wir haben einen Chor, aber dieser wendet sich ebenfalls unmittelbar an das Publikum und bleibt nicht nur Teil des Bühnengeschehens selbst.
Ebenso, wie der Verfasser sagt, die Figur des Biedermanns sei aus ihm selbst entstanden,
wird aus der Gruppe des Chores schliesslich ein Schauspieler hervor treten, der für diesen
Abend Biedermann spielen wird. Andere Chormitglieder werden alle anderen Bühnenfigu-
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ren des Abends sein: die Hausangestellte Anna, die Witwe Knechtling, Frau Biedermann,
Schmitz und Eisenring.
Im Verlauf des Stücks werden diese Figuren (ausser Biedermann – er besteht schliesslich
darauf, ein freier Mensch zu sein!) sich immer wieder zusammenfinden und als Chor sprechen und spielen. Zum Beispiel:
CHOR:
Weiter, liebe Zuschauer, ist nichts geschehen. Das Haus und die Stadt, siehe da, stehen noch
immer. Von Brandstiftung keine Spur.
Trotzdem zeigt Frau Biedermann immer noch kein Verständnis für die Gastfreundschaft ihres
Gatten. Ihr Bedürfnis Gutes zu tun, ist geringer geworden, und insofern hat sie es natürlich
leichter, vernünftig zu sein.
Das heisst: die Schauspieler kommentieren als Chor ihr eigenes Handeln. Sie kennen, ebenso
wie der Verfasser im Stück , den Fortgang der Geschichte.
Manchmal aber haben wir bewusst Chorpassagen aus dem Theaterstück eingebaut. Das sind
aber eher einzelne Sätze. Da jedoch viele Schweizer das Stück kennen, gehen wir davon aus,
dass unser Publikum diese erkennt. Ein Beispiel:
CHOR:
Sinnlos ist viel, und nichts sinnloser als diese Geschichte.
Wir sind davon überzeugt, dass wir mit dieser Fassung das Stück aus seiner parabelhaften
Distanz heraus nehmen und wieder mehr an den Zuschauer heranrücken. Ohne, dass wir
dabei Max Frisch verbessern wollen oder ganz neue Texte schreiben. Sondern, indem wir
uns einer Fassung zuwenden, in der er selbst eben dieses Ziel verfolgt hat.
Nun kann man Max Frisch nicht mehr fragen, ob er damit einverstanden ist. Aber: es gibt
einen Verlag. In diesem Fall den Suhrkamp-Verlag, der die Rechte des verstorbenen Autors
vertritt. Erst wenn ein Autor 75 Jahre lang tot ist, kann man im Prinzip mit seinem Werk machen was man will. Davor aber haben die Erben ein Recht darauf, dass man das geschriebene
Wort im Sinne des Autors verwendet.
Also habe ich als Dramaturgin des Theaters unsere fertige Fassung an den Suhrkamp-Verlag
nach Deutschland geschickt. Der dortige Lektor hat sich unseren Text genau angeschaut und
uns dann mitgeteilt, dass er uns die Erlaubnis gibt, dieses Stück genauso aufzuführen, da
wohl auch Max Frisch nichts einzuwenden gehabt hätte. Die Bedingung ist nur, dass wir
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deutlich darauf hinweisen, dass wir auf das Hörspiel zurück gegriffen haben. Aus diesem
Grund heisst unser Titel nun korrekterweise:
Max Frisch
Herr Biedermann und die Brandstifter
Eine Bearbeitung des Hörspiels für die Bühne
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Das Hörspiel
VERFASSER Liebe Hörerinnen und Hörer! Herr Biedermann, der Held unsrer unwahrscheinlichen
Geschichte, wartet bereits im Nebenraum, ich sehe ihn hier durch die große Scheibe, aber er kann
mich nicht hören ... Sie alle, liebe Hörerinnen und Hörer, kennen Herrn Biedermann, wenn auch vielleicht unter anderen Namen. Was ihn außer einem freundlichen Verzicht auf besondere Merkmale
auszeichnet, ist eine rosige Gesundheit, die ihn dazu bestimmt, stets und nach jeder Katastrophe zu
den èberlebenden zu gehören. Seine Art, sich zu kleiden, erinnert mich an die Puppen in den Schaufenstern, korrekt vom Scheitel bis zur Sohle. Außer den rosigen Backen, die es übrigens schwer machen, sein Alter zu schätzen, trägt Herr Biedermann eine weithin sichtbare, in der üblichen Blässe
spiegelnde Glatze, was er weiß; doch möchte Herr Biedermann nicht, dass man seine Glatze öffentlich
erwähnt. Das hängt mit seinem Geschäft zusammen. Nämlich Herr Biedermann handelt, wie Sie hören
werden, mit Haarwasser. Wahrscheinlich wird Herr Biedermann, sobald ich ihn vor dieses Mikro bitte,
Ihnen seine Unschuld versichern. Ich möchte aber Ihrem persönlichen Urteil über Herrn Biedermann
in keiner Weise vorgreifen, sondern (solange wir unter vier Augen sind) nur noch beifügen: Ich habe
mit bewusster Absicht eine erfundene Katastrophe gewählt, nämlich den Brand von Seldwyla, um in
den geschätzten Hörern keinerlei Erschütterung auszulösen, keinerlei persönliche Leidenschaft, die
uns nur das Vergnügen einer gelassenen und sachlichen Betrachtung verdirbt, das Vergnügen zu erkennen, dass es auch Katastrophen gibt, die nicht hätten stattfinden müssen.
Er klopft an die Scheibe
Herr Biedermann?!
Er tritt zum Mikrophon zurück
Er kommt sogleich. - Seldwyla, das Sie vermutlich aus der Literatur kennen, dürfen Sie sich natürlich
nicht vorstellen, wie Gottfried Keller es geschildert hat. Seldwyla ist eine heutige Stadt geworden mit
allem, was dazu gehört: mit Kinos, Trolleybus, Stadion, Verkehrspolizei, Kanalisation, TheaterFestspielen, Mangel an Parkplätzen usw.
Biedermann tritt in den Senderaum
VERFASSER Herr Biedermann! Ich habe die Ehre, Herr Biedermann,
mich Ihnen vorzustellen: Ich bin Ihr Verfasser.
BIEDERMANN Guten Abend.
VERFASSER Vorderhand wissen unsere Hörer nur, dass es sich um den Brand von Seldwyla handelt,
noch habe ich nicht gesagt, dass Sie, Gottlieb Biedermann, die Persönlichkeit sind, die unsere Katastrophe ermöglicht hat.
BIEDERMANN Mein Herr, ich bitte Sie -!
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VERFASSER Ich sage keineswegs, Herr Biedermann, dass Sie die Katastrophe verschuldet haben.
Keineswegs! Ich sage nur, Sie haben sie (wenn ich so sagen darf) ermöglicht.
BIEDERMANN Was will man von mir?
VERFASSER Wir möchten Sie kennenlernen, Herr Biedermann.
BIEDERMANN Warum?
VERFASSER Sie sind ein wichtiger Zeitgenosse, Herr Biedermann, weil ohne Sie, glaube ich, die
Weltgeschichte zuweilen ganz anders verlaufen würde.
BIEDERMANN Ich bin unschuldig.
VERFASSER Sicher, Herr Biedermann, sicher.
BIEDERMANN Also.
VERFASSER Sie sind völlig frei, Herr Biedermann, zu sagen, was Sie denken.
BIEDERMANN Ich lasse mich nicht zur Verantwortung ziehenVERFASSER Wer will das denn? Sie irren sich, Herr Biedermann, kein èberlebender zieht Sie zur
Verantwortung, und die Toten sind tot. Wir sind bereit, nicht bloß den Urhebern unsrer Katastrophe
eine volle Amnestie zu gewähren, sondern sogar uns selbst, indem wir alle historischen Katastrophen,
die gewesenen wie die kommenden, als ein schlichtes Schicksal betrachten, als unvermeidlich. Was
wollen Sie mehr, Herr Biedermann? Eben dazu stehen wir ja vor diesem Mikro, um unsern Hörer dahin zu bringen, dass er Sie, Gottlieb Biedermann, versteht und achtet. Wie sollen wir ein neues Seldwyla erbauen ohne Sie? Noch an jenem letzten Abend vor dem großen Brand, Sie erinnern sich, noch
bei jenem gemütlichen Gans-Essen, wie Sie den beiden Brandstiftern das freundschaftliche Du antragen und ihnen endlich sogar die Streichhölzer schenken, soll unser Hörer einfach das Gefühl haben:
Ein guter und anständiger Mensch, dieser Biedermann, eine Seele von Mensch. Also das Gefühl: Hand
aufs Herz, so hätte auch ich gehandelt! Nur dann werden wir finden, Herr Biedermann ist unschuldig;
er tut ja nur, was wir alle tun. Und nur dann, wenn von Verantwortung nicht die Rede sein kann, sind
wir bereit, zu vergessen, wie es zu dieser Katastrophe (in Seldwyla) gekommen ist - und bereit für die
nächste.
Ein Gong ertönt
VERFASSER Herr Biedermann sitzt vor seinem Kamin und liest die Zeitung, die von neuen Brandstiftereien melden; er raucht seine feierabendliche Zigarre, Bajanos, und Anna, das Dienstmädchen,
tritt ein, um zu stören.
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Materialsammlung
„Herr Biedermann und die Brandstifter“
Theater St.Gallen 2009/10
Das Theaterstück
BIEDERMANN
Nicht einmal eine Zigarre kann man heutzutage anzünden, ohne an Feuersbrunst zu denken!... das ist ja widerlich –Biedermann verbirgt die rauchende Zigarre und verzieht
sich, worauf die Feuerwehr vortritt in der Art des antiken Chors. Eine Turmuhr schlägt: ein Viertel.
CHOR
Bürger der Vaterstadt, seht
Wächter der Vaterstadt uns,
Spähend,
Horchend,
Freundlichgesinnte dem freundlichen Bürger –
CHORFÜHRER
Der uns ja schließlich bezahlt.
CHOR
Trefflichgerüstete
Wandeln wir um euer Haus,
Wachsam und arglos zugleich.
CHORFÜHRER
Manchmal auch setzen wir uns, ohne zu schlafen jedoch, unermüdlich
CHOR
Spähend,
Horchend,
Daß sich enthülle Verhülltes,
Eh‘ es zum Löschen zu spät ist,
Feuergefährliches.
Eine Turmuhr schlägt halb.
CHORFÜHRER
Feuergefährlich ist viel, aber nicht alles, was feuert, ist Schicksal, Unabwendbares.
CHOR Anderes nämlich, Schicksal genannt, Daß du nicht fragest, wie's kommt,
Städtevernichtendes auch, Ungeheures,
Ist Unfug,
CHORFÜHRER
Menschlicher,
CHOR
Allzumenschlicher,
CHORFÜHRER
Tilgend das sterbliche Bürgergeschlecht.
Eine Turmuhr schlägt: drei Viertel.
CHOR
Viel kann vermeiden Vernunft.
CHORFÜHRER
Wahrlich:
CHOR
Nimmer verdient es der Gott,
Nimmer der Mensch,
Denn der, achtet er Menschliches so,
Nimmer verdient er den Namen
Und nimmer die göttliche Erde,
Die unerschöpfliche,
Fruchtbar und gnädig dem Menschen,
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Materialsammlung
„Herr Biedermann und die Brandstifter“
Theater St.Gallen 2009/10
Und nimmer die Luft, die er atmet,
Und nimmer die SonneNimmer verdient,
Schicksal zu heißen, bloß weil er geschehen:
Der Blödsinn,
Der nimmerzulöschende einst!
Die Turmuhr schlägt: vier Viertel.
CHORFÜHRER
Unsere Wache hat begonnen.
Der Chor setzt sich, während der Stundenschlag tönt: neun Uhr.
St.Galler Fassung
VORSPIEL
Die Bühne ist finster, es qualmt, sechs Schauspieler betreten die Bühne.
CHOR: Liebe Zuschauer, liebes Publikum! Herr Biedermann, der Held unsrer unwahrscheinlichen
Geschichte, wartet bereits auf seinen Auftritt. Sie alle, liebe Zuschauerinnen und Zuschauer, kennen
Herrn Biedermann, wenn auch vielleicht unter anderen Namen. Was ihn außer einem freundlichen
Verzicht auf besondere Merkmale auszeichnet, ist eine rosige Gesundheit, die ihn dazu bestimmt, stets
und nach jeder Katastrophe zu den Überlebenden zu gehören.
Seine Art, sich zu kleiden, erinnert mich – an SIE!
Wahrscheinlich wird Herr Biedermann, sobald ich ihn auf die Bühne bitte, Ihnen seine Unschuld versichern. Ich möchte aber Ihrem persönlichen Urteil über Herrn Biedermann in keiner Weise vorgreifen, sondern – solange wir unter vier Augen sind – nur noch beifügen: Ich habe mit Absicht eine erfundene Katastrophe gewählt, irgendeine erfundene Katastrophe: in irgendeiner kleinen Stadt, nicht zu
klein, aber auch nicht zu gross, um in Ihnen, dem geschätzten Publikum keinerlei Erschütterung auszulösen, keinerlei persönliche Leidenschaft, die uns nur das Vergnügen einer gelassenen und sachlichen Betrachtung verdirbt, das Vergnügen zu erkennen, dass es auch Katastrophen gibt, die nicht hätten stattfinden müssen.
Herr Biedermann?!
Er kommt gleich. – Die Stadt, unsere „kleine Stadt“, ist eine heutige Stadt mit allem, was dazu gehört:
mit Kinos, Trolleybus, Stadion, Verkehrspolizei, Kanalisation, Theater-Festspielen, Mangel an Parkplätzen und so weiter.
Herr Biedermann?!
Herr Biedermann?!
Ich habe die Ehre, Herr Biedermann, mich Ihnen, Sie dem Publikum, das Publikum uns und uns uns
allen selbst vorzustellen: Ich bin Sie.
CHOR / BIEDERMANN: Guten Abend.
CHOR:Vorderhand wissen unsere Zuschauer nur, dass es sich um eine erfundene Katastrophe irgendwo in irgendeiner kleinen Stadt, nicht zu klein, aber auch nicht zu gross, handelt. Noch habe ich nicht
gesagt, dass Sie, Gottlieb Biedermann, die Persönlichkeit sind, die diese Katastrophe ermöglicht hat.
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Materialsammlung
„Herr Biedermann und die Brandstifter“
Theater St.Gallen 2009/10
CHOR / BIEDERMANN: Meine Herren, ich bitte Sie -!
CHOR: Ich sage keineswegs, Herr Biedermann, dass Sie die Katastrophe verschuldet haben. Keineswegs! Ich sage nur, Sie haben sie, wenn ich so sagen darf, ermöglicht.
CHOR / BIEDERMANN: Was will man von mir?
CHOR DER DARSTELLER: Man möchte Sie kennenlernen, Herr Biedermann.
CHOR / BIEDERMANN: Warum?
CHOR: Sie sind ein wichtiger Zeitgenosse, – weil ohne Sie, glaube ich, die Weltgeschichte zuweilen
ganz anders verlaufen würde.
CHOR / BIEDERMANN: Ich bin unschuldig.
CHOR: Sicher, Herr Biedermann, sicher.
CHOR / BIEDERMANN: Also.
CHOR:
Sie sind völlig frei, Herr Biedermann, zu sagen, was Sie denken.
CHOR / BIEDERMANN: Ich bin unschuldig! –
Pause.
Ich habe Vater und Mutter geehrt, – vor allem Mama. Ich habe mich an die Zehn Gebote gehalten, zeit
meines Lebens. Ich habe nicht gestohlen; wir hatten immer, was wir brauchten. Und ich habe nicht
getötet. Ich habe am Sonntag nie gearbeitet. Ich habe nie das Haus meiner Nachbarn begehrt, oder
wenn ich es begehrte, dann habe ich's gekauft. Kaufen wird man wohl dürfen! Und ich habe nie bemerkt, dass ich lüge. Ich habe keinen Ehebruch begangen, – verglichen mit andern! Und ich habe mir
nie ein Bild von Gott gemacht, das schon gar nicht.
Ich hatte einen einzigen Fehler, ich war zu gutherzig, einfach zu gutherzig.
BIEDERMANN solo: Ich lasse mich nicht zur Verantwortung ziehen –
CHOR: Wer will das denn, Herr Biedermann? Sie irren sich, kein Überlebender zieht Sie zur Verantwortung, und die Toten sind tot. Wir sind bereit, nicht bloß den Urhebern unsrer Katastrophe eine
volle Amnestie zu gewähren, sondern sogar uns selbst, indem wir alle historischen Katastrophen, die
gewesenen wie die kommenden, als ein schlichtes Schicksal betrachten, als unvermeidlich. Was wollen Sie mehr, Herr Biedermann? Eben dazu stehen wir ja auf dieser Bühne, um unsere Zuschauer
dahin zu bringen, dass sie Sie, Gottlieb Biedermann, verstehen und achten.
Noch an jenem letzten Abend vor dem großen Brand, Sie erinnern sich, noch bei jenem gemütlichen
Gans-Essen, wie Sie den beiden Brandstiftern das freundschaftliche Du antragen und ihnen endlich
sogar die Streichhölzer schenken, sollen unsere Zuschauer einfach das Gefühl haben: Der Herr Biedermann: ein guter und anständiger Mensch, eine Seele – von Mensch. Also das Gefühl: Hand aufs
Herz, so hätte auch ich gehandelt! Nur dann werden wir finden, Herr Biedermann ist unschuldig; er tut
ja nur, was wir alle tun. Und nur dann, wenn von Verantwortung nicht die Rede sein kann, sind wir
bereit, zu vergessen, wie es zu dieser Katastrophe gekommen ist – und bereit für die nächste.
Ein Gong ertönt.
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Materialsammlung
„Herr Biedermann und die Brandstifter“
Theater St.Gallen 2009/10
Burleske
Eines Morgens kommt ein Mann, ein Unbekannter, und du kannst nicht umhin, du gibst ihm eine Suppe und ein Brot dazu. Denn das Unrecht, das er seiner Erzählung nach erfahren hat, ist unleugbar, und
du möchtest nicht, dass es an dir gerächt werde. Und dass es eines Tages gerächt wird, daran gebe es
keinen Zweifel, sagt der Mann. Jedenfalls kannst du ihn nicht wegschicken, du gibst ihm Suppe und
Brot dazu, wie gesagt, und sogar mehr als das: du gibst ihm recht. Zuerst nur durch dein Schweigen,
später mit Nicken, schließlich mit Worten. Du bist einverstanden mit ihm, denn wärest du es nicht,
müsstest du sozusagen zugeben, dass du selber Unrecht tust, und dann würdest du ihn vielleicht fürchten. Du willst dich aber nicht fürchten. Du willst auch nicht dein Unrecht ändern, denn das hätte zu
viele Folgen. Du willst Ruhe und Frieden, und damit basta! Du willst das Gefühl, ein guter und anständiger Mensch zu sein, und also kommst du nicht umhin, ihm auch ein Bett anzubieten, da er das
seine, wie du eben vernommen, durch Unrecht verloren hat. Er will aber kein Bett, sagt er, kein Zimmer, nur ein Dach über dem Kopf; er würde sich, sagt er, auch mit deinem Estrich begnügen. Du
lachst. Er liebt die Estriche, sagt er- Ein wenig, noch während du lachst, kommt es dir unheimlich vor,
mindestens sonderbar, beunruhigend, man hat in letzter Zeit gar viel von Brandstiftung gelesen; aber
du willst Ruhe, wie gesagt, und also bleibt dir nichts anderes übrig, als keinen Verdacht aufkommen
zu lassen in deiner Brust. Warum soll er, wenn er will, nicht auf dem Estrich schlafen? Du zeigst ihm
den Weg, den Riegel, die Vorrichtung mit der Leiter und auch den Schalter, wo man Licht machen
kann. Allein in deiner schönen Wohnung, eine Zigarette rauchend, denkst du mehrere Male genau das
gleiche, und es hilft dir nichts, die Zeitung zu lesen, zwischen den Zeilen liest du immer das gleiche:
Man muss Vertrauen haben, man soll nicht immer gleich das Schlimmste annehmen, wenn man einen
Menschen nicht kennt, und warum soll der gerade ein Brandstifter sein? Immerhin nimmst du dir vor,
ihn morgen wieder auf den Weg zu schicken, freundlich, ohne dass ein Verdacht ihn kränken soll. Du
nimmst dir nicht vor, kein Unrecht zu tun; das hätte, wie gesagt, zu viele Folgen. Du nimmst dir nur
vor, freundlich zu sein und ihn auf freundliche Weise wegzuschicken. Du schläfst nicht immer in dieser Nacht; es ist schwül, und die Geschichten von wirklichen Brandstiftern, die dir so beharrlich einfallen, sind zu läppisch, ein Schlafpulver gibt dir die verdiente Ruhe ... Und am andern Morgen, siehe
da, steht das Haus noch immer! - Deine Zuversicht, dein Glaube an den Menschen, selbst wenn er im
Estrich wohnt, hat sich bewährt. Es drängt dich nicht wenig, edel zu sein, hilfreich und gut; beispielsweise mit einem Frühstück. Von Angesicht zu Angesicht, so während ihr einen gemeinsamen Kaffee
trinkt und jeder sein Ei löffelt, schämst du dich deines Verdachtes, kommst dir schäbig vor, und jedenfalls ist es unmöglich, ihn wegzuschicken. Wozu solltest du! Nach einer Woche, wie er noch immer in
deinem Estrich wohnt, hast du vollends das Gefühl, jede Angst überwunden zu haben, und auch als er
eines Tages einen Freund bringt, der ebenfalls in deinem Estrich schlafen möchte, kannst du zwar
zögern, aber nicht widersprechen. Zögern; denn es ist einer, der schon einmal, Gott weiß warum, im
Gefängnis gesessen hat und eben erst entlassen worden ist. Ihn allein hättest du nie in deinen Estrich
gelassen, das ist selbstverständlich. Er ist auch viel frecher als der erste, das macht vielleicht das Gefängnis, und ganz geheuer ist es dir nicht, zumal er, wie er ganz offen gesteht, wegen Brandstiftung
gesessen hat. Aber gerade diese Offenheit, diese unverblümte, gibt dir das Vertrauen, das du gerne
haben möchtest, um Ruhe und Frieden zu haben; am Abend, da du trotz ehrlichem Gähnen nicht schlafen kannst, liest du wieder einmal das Apostelspiel von Max Mell, jene Legende, die uns die Kraft des
rechten Glaubens zeigt, ein Stück schöner Poesie; mit einer Befriedigung, die das Schlafpulver fast
überflüssig macht, schläfst du ein ... Und am andern Morgen, siehe da, steht das Haus noch immer! Deine Bekannten greifen sich an den Kopf, können dich nicht verstehen, fragen jedes Mal, was die
beiden Gesellen denn in deinem Estrich machen, und liegen dir auf den Nerven, so dass du immer
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Materialsammlung
„Herr Biedermann und die Brandstifter“
Theater St.Gallen 2009/10
seltener an den Stammtisch gehst; sie wollen dich einfach beunruhigen. Und ein wenig, unter uns gesagt, ist es ihnen auch gelungen; jedenfalls hast du den bei den Gesellen etwas aufgelauert, und nicht
ohne Erfolg; allein die Tatsache, dass sie kleine Fässlein auf deinen Estrich tragen, kann deinen Menschenglauben nicht erschüttern, zumal sie es in aller Offenheit machen und auf deine eher scherzhafte
Frage, was sie denn mit diesen Fässlein wollten, sagen sie ganz natürlich, sie hätten Durst. In der Tat,
es ist Sommer, und im Estrich, sagst du dir, muss es sehr heiß sein. Einmal, als du ihnen im Wege
gestanden, ist ihnen ein Fässlein von der Leiter gefallen, und es stank plötzlich nach Benzin. Einen
Atemzug lang, gib es zu, warst du erschrocken. Ob das Benzin sei? hast du gefragt. Die beiden, ohne
ihre Arbeit einzustellen, leugneten es auch in keiner Weise, und auf deine eher scherzhafte Frage, ob
sie Benzin trinken, antworteten sie mit einer so unglaublichen Geschichte, dass du, um nicht als Esel
dazu stehen, wirklich nur lachen konntest. Später jedoch, allein in deiner Wohnung, lauschend auf das
Rollen der munteren Fässlein, die nach Benzin stinken, weißt du allen Ernstes nicht mehr, was du
denken sollst. Ob sie deine edle Zuversicht wirklich missbrauchen? Eine Weile, dein Feuerzeug in der
Hand, die feuerlose Zigarette zwischen den trockenen Lippen, bist du entschlossen, die beiden Gesellen hinauszuwerfen, einfach hinauszuwerfen. Und zwar noch heute! Oder spätestens morgen. Wenn
sie nicht von selber gehen. Ganz einfach ist es nämlich nicht, im Gegenteil; wenn sie keine Brandstifter sind, tust du ihnen sehr unrecht, und das Unrecht macht sie zu bösen Menschen. Böse gegen dich.
Das willst du nicht. Das auf keinen Fall. Alles, nur kein schlechtes Gewissen. Und dann ist es immer
so schwierig, die Zukunft vorauszusehen; wer keine Tatsachen sehen kann, ohne Schlüsse zu ziehen,
und wer sich alles bewusst macht, was er im Grunde weiß, mag sein, dass er manches voraussieht,
aber er wird keinen Augenblick der Ruhe haben; ganz zu schweigen von den Ahnungen. Die Tatsache,
dass sie Benzin in deinen Estrich tragen, was heißt das schon. Der eine, der Freund, hat nur gelacht
und gesagt, sie wollen die ganze Stadt anzünden. Das kann ein Scherz sein oder eine Aufschneiderei.
Wenn sie es ernst meinten, würden sie es niemals sagen. Dieser Gedanke, je öfter du ihn wiederholst,
überzeugt dich vollkommen; das heißt: er beruhigt dich. Und der andere sagte sogar: Wir warten nur
auf den günstigen Wind! Es ist läppisch, sich von solchen Reden einschüchtern zu lassen; zu unwürdig. Einen Augenblick denkst du an Polizei. Aber wie du, um dich nicht durch falschen Alarm lächerlich zu machen, dein Ohr an die Zimmerdecke legst, was keine ganz einfache Veranstaltung gekostet
hat, ist es vollkommen still. Du hörst sogar, wie einer schnarcht. Und überhaupt kommt die Polizei
nicht in Frage; schon weil du selber strafbar wärest, dass du solche Leute in deinem Hause hast, wochenlang, ohne sie anzumelden. Aber vor allem sind es natürlich die menschlichen Gründe, die dich
von solchen Schritten abhalten. Warum sagst du den beiden Gesellen nicht einfach und offen, du
möchtest kein Benzin in deinem Estrich haben, Offenheit ist immer das Beste. Und dann, plötzlich,
musst du selber lachen, dass dir dieser Einfall jetzt erst kommt: sie werden doch dein Haus nicht anzünden, wenn sie selber im Estrich sind! Immerhin kletterst du, schon im Pyjama, noch einmal auf den
Sessel, auf die Kommode und den Schrank. Er schnarcht wirklich. Eine halbe Stunde später ruhest
auch du ... Und am andern Morgen, siehe da, steht dein Haus noch immer! - Die Sonne scheint, der
Wind hat gedreht, die Wolken ziehen über die Dächer der Stadt, und gesetzt den Fall, es wären wirklich böse Gesellen, gerade dann ist es nicht einfach, sie einfach hinauszuwerfen; nicht ratsam; denn
solange du ihr Freund bist, werden sie wenigstens dich verschonen. Freundschaft ist immer das Beste!
Und wenn du an diesem Morgen hinaufgehst und sie zum Frühstück bitten willst, so ist das nicht Tücke, nicht Berechnung, sondern eines jener herzlichen Bedürfnisse, die man plötzlich hat und die man,
wie du mit Recht sagst, nicht immer unterdrücken soll. Die Leiter zum Estrich ist bereits gezogen, die
Türe offen, du musst nicht einmal klopfen. Der Estrich, den du aus Rücksicht schon lange nicht mehr
besucht hast, ist voll von den kleinen Fässlein, und der eine, der Freund, der aus dem Gefängnis, steht
eben an der Dachluke, hält den nassen Finger hinaus, um die Windrichtung festzustellen; der andere
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Materialsammlung
„Herr Biedermann und die Brandstifter“
Theater St.Gallen 2009/10
ist leider schon ausgegangen, komme aber wieder. Mit deinem Frühstück ist es also nichts. Er komme
aber bestimmt im Laufe des Tages, sobald er, wie der Freund in seiner immer etwas scherzhaften Art
sagt, die erforderliche Holzwolle beisammen habe. Holzwolle. Es fehlte nur noch, dass er von einer
Zündschnur redete. Einen Augenblick bist du wieder etwas verwirrt, etwas betreten, was du allerdings
nicht zeigen willst. Im Grunde, das weißt du, kann kein Mensch so frech sein, wie dieser sich den Anschein gibt, nur weil er meint, du fürchtest ihn. Ein für allemal entschlossen, dich nicht zu fürchten,
entschlossen, deine Ruhe und deinen Frieden zu erhalten, tust du, als hättest du nichts gehört, und im
übrigen, was das Frühstück betrifft, kann das ja auch ein andermal sein. Deine freundschaftliche Geste
ist schon als solche nicht wertlos. Vielleicht zum Abendbrot? Mit Vergnügen, sagt der Kauz, sofern
sie Zeit hätten und nicht arbeiten müssten; das hänge vom Wind ab. Er ist wirklich ein Kauz. Und
natürlich bist du nun nicht wenig neugierig, ob sie tatsächlich zum Abendessen kommen, ob sie deine
Freundschaft überhaupt wollen. Vielleicht hättest du deine Freundschaft schon früher bekunden sollen.
Aber lieber jetzt, sagst du, als zu spät! Mit Recht vermeidest du ein allzu besonderes, ein auffälliges
Abendessen; immerhin holst du einen Wein aus dem Keller, um ihn für alle Fälle kühlzustellen. Leider
kann man am Abend, als sie gegen neun Uhr endlich kommen, nicht mehr auf der Terrasse sitzen; es
ist zu windig. Ob er Holzwolle gefunden habe? fragst du, um dem Gespräch bald eine persönliche
Note zu geben. Holzwolle? sagt er und schaut den Freund an, wie man einen Verräter anschaut. Dann,
Gott weiß warum, musst du selber lachen, und schließlich lachen sie auch. Holzwolle, nein, Holzwolle
habe er nicht gefunden, aber etwas anderes, Putzfäden aus einer Garage. Gefunden; dass das nichts
anderes heißt als gestohlen, daran kannst du nicht zweifeln. Überhaupt haben sie sehr eigene Ansichten betreffend Recht und Unrecht. Nach der ersten Flasche, du hast den Wein nicht umsonst gekühlt,
erzählst du, dass auch du schon Unrecht begangen hast. Da sie schweigen, erzählst du mehr und mehr,
indem du, ihre Freundschaft ist es dir wert, die zweite Flasche entkorkst. Offensichtlich fühlen sie sich
wie zu Hause; der Freund, der Frechere, dreht deinen Rundfunk an, um den Wetterbericht zu hören.
Dann wünschen sie nur noch eines: Streichhölzer. Nichts wäre verfehlter, als wenn du jetzt wieder
zusammenzucktest; auf Verdacht ist keine Freundschaft aufzubauen. Wozu Streichhölzer? Es gelingt
dir, jedes beleidigende Zittern zu vermeiden und Zigaretten anzubieten, als ginge dir nichts durch den
Kopf, und dann, das ist kein schlechter Einfall, bietest du Feuer mit deinem eignen Feuerzeug, das du
nachher wieder in die Tasche steckst. Das Gespräch geht weiter, das heißt, sie hören zu, sehen dich an
und trinken Wein. Dein ehrliches Geständnis, wie viel Unrecht du begangen hast, rührt sie nicht mehr,
als es die Höflichkeit verlangt; überhaupt wirken sie sehr geistesabwesend. Eine dritte Flasche, die du
schon zwischen den Knien hast, lehnen sie ab. Da du sie trotzdem öffnest, wirst du sie allein trinken
müssen. Nur beim Abschied, als du gewisse Hoffnungen ausdrückst, dass die Menschen einander näher kommen und einander helfen, bitten sie dich nochmals um Streichhölzer. Ohne Zigaretten. Du
sagst dir mit Recht, dass ein Brandstifter, ein wirklicher, besser ausgerüstet wäre, und gibst auch das,
ein Heftlein mit gelben Streichhölzern, und am andern Morgen, siehe da, bist du verkohlt und kannst
dich nicht einmal über deine Geschichte verwundern ...
Max Frisch, Tagebuch 1948
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Materialsammlung
„Herr Biedermann und die Brandstifter“
Theater St.Gallen 2009/10
Interview mit dem Regisseur Martin Schulze kurz nach Probenbeginn zu seiner St.Galler
Inszenierung von „ Herr Biedermann und die Brandstifter“ von Max Frisch
Viele Schweizer Schüler behandeln das Stück im Unterricht. Hast du „Biedermann und
die Brandstifter“ je in der Schule gelesen? – Ich hatte in der 10. Klasse die Aufgabe das
Stück für meine Klasse zu bestellen. Und als es ankam, stellte sich heraus, dass ich aus Versehen das Hörspiel bestellt habe. Vielleicht hat sich auch der Buchhändler vertan. Aber auf
jeden Fall ist das doch eine Ironie des Schicksals. Die Ausgabe steht noch bei mir zu Hause –
wir haben dann tatsächlich das Hörspiel in der Schule durchgenommen. Aufführungen habe
ich dann aber nicht gesehen; jedenfalls nicht zu Schulzeiten. Erst viel später dann mal in
Wien bzw. jetzt in Berlin.
Wie bist du auf die Idee gekommen Marcus Schäfer als Biedermann zu besetzen? – Ich
wollte diese Rolle sofort mit Marcus Schäfer arbeiten. Das hat sicher auch mit unserer Arbeit
am „Volksfeind“ zu tun; da hat Marcus Schäfer ebenfalls die Titelrolle gespielt. Die beiden
Figuren sind in ihrer Position, die sie in der Gesellschaft vertreten, nicht unverwandt.
Ist Biedermanns Weltsicht also nicht altersgebunden? – Das ist die Frage was man erzählen
will. Wenn man ihn alt besetzt, ist die Gefahr noch grösser, dass man in so ein Spiessbürgerklischee rein rutscht. Ich will das Stück aber aus der Mitte der Gesellschaft erzählen. Nicht
nur statusmässig, sondern auch altersmässig. Vielleicht interessiert mich auch die Nähe zum
eigenen Alter: meinen eigenen Begriff von Bürgerlichkeit; der Frage was man sich bis dato
schon aufgebaut hat und was es zu verteidigen gilt und das man das nicht angegriffen und
zerstört haben möchte; und mich zu fragen: Wie lange kann ich mir vormachen, dass ich
mich gegen Angriffe von aussen erhalten kann?
Das heisst, die Position von Biedermann hat für dich eine Nachvollziehbarkeit? – Das
muss sie haben. Sonst kann ich den Abend nicht machen. Er vertritt ja letztendlich auch
Standpunkte, die man als normal zivilisierter Mitteleuropäer unterschreiben kann: dass man
Leute nicht vorverurteilt; dass man seine eigene Haltung behaupten und durchsetzten können darf; dass man sich auf seine eigene Menschenkenntnis verlässt. Das ist dann ja auch das
wo die Brandstifter ihn abholen und erst mal sagen: du bist der letzte Idealist auf Erden. Biedermann ist nur auch extrem selbstgefällig, narzisstisch: Die Motivationen so zu denken das ist die Kehrseite der Medaille. Aber auch das hat Identifikationspotential, wenn man
ganz ehrlich ist.
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Materialsammlung
„Herr Biedermann und die Brandstifter“
Theater St.Gallen 2009/10
Nun kenne ich ja die Kostüme. Diese sind alle sehr bankermässig: graue Hose, weisses
Hemd, auch für die Brandstifter… – Man denkt vielleicht erst mal, dass das falsch ist: graue
Hose, weisses Hemd und Krawatte; das sieht sehr bankermässig aus. Es gibt immer noch
eine gewisse bürgerliche Schicht, in der die Kleidung Dresscode ist. Nun steht Schmitz da
und sieht vom Kleidungsniveau so aus wie Biedermann. Interessant ist, dass viele Dialogstellen durch diese Ähnlichkeit viel gefährlicher werden. Da steht jemand und behauptet, er
ist arbeitslos – aber man sieht ihm das nicht an. Damit kann man zeigen, dass die Kategorisierungen, die ich als Zuschauer möglicherweise habe, nicht so einfach sind. Vielleicht sind
es zudem deren Arbeitsklamotten: Wenn sie superreiche Leute aufsuchen, um ihnen später
den Dachboden abzufackeln, dann ist es wahrscheinlich hilfreich, sich so zu kleiden, dass
man kein Problem hat reinzukommen – statt gleich wie Brandstifter rumzulaufen, die aussehen wie die Obdachlosen von unter der Brücke.
Wer sind denn die Brandstifter für dich? – Mich interessiert in Bezug auf diese Figuren ein
Satz von Dr. phil am meisten – auch wenn diese Figur bei uns gar nicht mehr vorkommt. Er
sagt sinngemäss, er habe die Brandstifter immer verstanden und unterstützt, solange er eine
Ahnung von der zugrunde liegenden Idee, von dem philosophisch-gesellschaftskritischen
Überbau, hatte. Nun aber müsse er Abstand nehmen, weil er das Gefühl habe, die machen
die Brandstiftereien nur aus Lust an der Freude. Genau das ist das Gefährliche und ich denke auch das Moderne an diesen Figuren: dass du ihre Motivation nicht mehr durchschaust.
Sie haben vielleicht einfach Lust an der Zerstörung und sicher auch Interesse an der Frage,
wie weit kann man das System belasten; wie weit gehen Leute um ihren Besitz und ihre Lebensform zu beschützen und dafür vermeintlich zu sorgen, dass sie persönlich nicht angegriffen werden, indem sie sich gemein machen mit den Tätern. Wie weit kann man mit diesen Menschen gehen, die sich selbst entblössen oder klein beigeben, wenn sie glauben, dass
sie damit ihren Besitz, sich selbst oder ihre Lebensphilosophie retten. Das ist eine ziemlich
perfide Veranstaltung.
Was heisst das konkret? – Die Brandstifter sind alle möglichen Leute, die in unterschiedlichen Kontexten moralfrei handeln. Den Bogen kannst du spannen von Leuten, die Gelder
veruntreuen über Leute, die Macht missbrauchen, weil ihnen egal ist, wer dadurch zu Schaden kommt; alle, die also eine Art Systembelastungstest vollziehen zum eigenen Profit bis
hin zu Leuten, die wehrlose Passanten Leute an U-Bahnhöfen zusammenschlagen – ohne
konkreten Grund. Diese Art von Gewaltpotential, die dabei völlig frei ist von sozialem Gewissen – das sind die Brandstifter. Und dadurch kriegt das Stück seine Komplexität. Zumal
den Brandstiftern im Biedermann eine Figur gegenüber steht, die ebenso fragwürdig handelt
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Materialsammlung
„Herr Biedermann und die Brandstifter“
Theater St.Gallen 2009/10
– wenn man an Knechtling denkt. Hier entzieht sich Biedermann ja auch jeder Verantwortlichkeit.
Manchmal hat man doch das Gefühl, dass Biedermann selbst die Bedrohung ist mit seiner
merkwürdig falsch verstandenen Toleranz. Die mehr von Gleichgültigkeit zeugt. – Konfliktvermeidung durch Diplomatie und vorauseilenden Gehorsam – dass man versucht etwas zu entschärfen, indem man einer negativen Energie, die einem entgegen kommt, Raum
gewährt. Toleranz ist überhaupt ein schwieriger Begriff. Die Frage ist ja auch, was man als
seine persönliche Freiheit begreift. Die Brandstifter nehmen sich eine persönliche Freiheit
heraus, die nicht tolerierbar ist. Denn sie wäre das Ende der persönlichen Freiheit aller. Das
meine ich mit Ausweitung der Bedürfnisse.
Es wäre ja auch relativ einfach, das Stück so zu lesen, als sei der Biedermann der klassische
Mitteleuropäer, relativ konfliktscheu, der seinen Garten einzäunt und darauf bedacht ist,
seinen Wohlstand zumindest zu halten und die Brandstifter sind dann diverse Selbstmordattentäter aus anderen Kulturkreisen. Diese Lesart wäre fahrlässig, aber möglich. Ich finde es
jedoch wesentlich interessanter zu sagen, die Positionen entstehen aus der Mitte der Gesellschaft, die uns umgibt: hier entsteht diese Suche nach einem entschiedenen Prinzip wie man
zu leben hat. Und das begegnet einer Idee von „Denk doch was du willst, so lange du mich
damit in Ruhe lässt“.
Damit wären wir eigentlich noch mal bei dem sehr homogen auftretenden Chor. Dennoch
hast du dich für das Hörspiel entschieden, in dem ja eigentlich eine Verfasserfigur, nicht
aber ein Chor auftritt. Wie hängt das zusammen? – Die Entscheidung hängt vor allem mit
den Verfassertexten zusammen. Durch diese Figur ist die Perspektive des Stücks eine Rückschau. Die Ereignisse haben bereits stattgefunden. Das hat etwas leicht Journalistisches. Eine
Geschichte wird erzählt, die wir schon tausendmal erlebt haben und deswegen muss mich
diese auch nicht beunruhigen, zumal ich wahrscheinlich auch nicht gemeint bin. Hinter diesem Ansatz steckt eine grosse Ironie und Bösartigkeit: das Publikum derart in Sicherheit zu
wiegen. Ihnen das Gefühl zu vermitteln, sie müssen nicht denken und nichts hinterfragen.
Und wenn sie wollen, können sie nach Hause gehen hinterher, ihre drei Sicherheitsschlösser
verriegeln, sich ein Bier aus dem Kühlschrank nehmen und alles wird gut. Das finde ich als
Rahmenhandlung eine schöne Sicht auf die Geschichte. Und interessanterweise hat es den
moderneren Ton, auch wenn es früher entstanden ist als das Stück.
Die Fragen stellte Karoline Exner
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Materialsammlung
„Herr Biedermann und die Brandstifter“
Theater St.Gallen 2009/10
Max Frisch: Fragebogen X
1. Können Sie sich erinnern, seit welchem Lebensjahr es Ihnen selbstverständlich ist, daß Ihnen etwas
gehört, beziehungsweise nicht gehört?
2. Wem gehört Ihres Erachtens beispielsweise die Luft?
3. Was empfinden Sie als Eigentum:
a. was Sie gekauft haben?
b. was Sie erben?
c. was Sie gemacht haben?
4. Auch wenn Sie den betreffenden Gegenstand (Kugelschreiber, Schirm, Armbanduhr usw.) ohne
weiteres ersetzen können: empört Sie der Diebstahl als solcher?
5. Warum?
6. Empfinden Sie das Geld schon als Eigentum oder müssen Sie sich dafür irgendetwas kaufen, um
sich als Eigentümer zu empfinden, und wie erklären Sie es sich, dass Sie sich umso deutlicher als Eigentümer empfinden, je mehr Sie meinen, dass man Sie um etwas beneidet?
7. Wissen Sie, was Sie brauchen?
8. Gesetzt den Fall, Sie haben ein Grundstück gekauft: wie lange dauert es, bis Sie die Bäume auf diesem Grundstück als Eigentum empfinden, d. h. dass das Recht, diese Bäume fällen zu lassen, Sie beglückt oder Ihnen zumindest selbstverständlich vorkommt?
9. Erleben Sie einen Hund als Eigentum?
10. Mögen Sie Einzäunungen?
11. Wenn Sie auf der Straße stehenbleiben, um einem Bettler etwas auszuhändigen: warum machen
Sie's immer so flink und so unauffällig wie möglich?
12. Wie stellen Sie sich Armut vor?
13. Wer hat Sie den Unterschied gelehrt zwischen Eigentum, das sich verbraucht, und Eigentum, das
sich vermehrt, oder hat Sie das niemand gelehrt?
14. Sammeln Sie auch Kunst?
15. Kennen Sie ein freies Land, wo die Reichen nicht in der Minderheit sind, und wie erklären Sie es
sich, dass die Mehrheit in solchen Ländern glaubt, sie sei an der Macht?
16. Warum schenken Sie gerne?
17. Wie viel Eigentum an Grund und Boden brauchen Sie, um keine Angst zu haben vor der Zukunft?
(Angabe in Quadratmetern.) Oder finden Sie, dass die Angst eher zunimmt mit der Größe des Grundeigentums?
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Materialsammlung
„Herr Biedermann und die Brandstifter“
Theater St.Gallen 2009/10
18. Wogegen sind Sie nicht versichert?
19. Wenn es nur noch das Eigentum gäbe an Dingen, die Sie verbrauchen, aber kein Eigentum, das
Macht gibt über andere: möchten Sie unter solchen Umständen noch leben?
20. Wie viele Arbeitskräfte gehören Ihnen?
21. Wieso?
22. Leiden Sie manchmal unter der Verantwortung des Eigentümers, die Sie nicht den andern überlassen können, ohne Ihr Eigentum zu gefährden, oder ist es die Verantwortung, die Sie glücklich macht?
23. Was gefällt Ihnen am Neuen Testament?
24. Da zwar ein Recht auf Eigentum besteht, aber erst in Kraft tritt, wenn Eigentum vorhanden ist:
könnten Sie es irgendwie verstehen, wenn die Mehrheit Ihrer Landsleute, um ihr Recht in Kraft zu
setzen, Sie eines Tages enteignen würde?
25. Und warum nicht?
Max Frisch: Zeittafel
1911
Max Frisch wird am 15. Mai in Zürich geboren.
1930
Abitur; Max Frisch beginnt mit einem Germanistik-Studium an der Universität Zürich.
1932
unterbricht er das Studium, um als freier Journalist tätig sein zu können, u.a. bei der NZZ.
1933
unternimmt der Autor verschiedene Reisen, z.B. durch die Tschechei, den Balkan und Südost-
europa. Er verfasst verschieden Reisefeuilletons.
1934
erscheint „Jürg Reinhart“, sein erster Roman.
1936
beginnt Max Frisch mit seinem Architekturstudium an der ETH Zürich.
1937
der Erzählband „Antwort aus der Stille“ erscheint.
1938
erhält Max Frisch den Conrad-Ferdinand-Meyer-Preis, einen Kulturförderungspreis des Kan-
tons Zürich.
1939
beginnt er seinen Dienst als Kanonier. Bis 1945 ist er insgesamt 605 Tage im aktiven Dienst.
1940
erscheinen seine „Blätter aus dem Brotsack“ und er erhält sein Architektur-Diplom. Er beginnt
zunächst in diesem Beruf zu arbeiten.
27
Materialsammlung
1942
„Herr Biedermann und die Brandstifter“
Theater St.Gallen 2009/10
Heirat mit Trudy von Meyenburg. Aus dieser Ehe gehen drei Kinder hervor. Max Frisch ge-
winnt den mit 3000 Schweizer Franken dotierten Architekturwettbewerb der Stadt Zürich für den Bau
des Freibad Letzigraben. Er eröffnete daraufhin sein eigenes Architekturbüro und beschäftigte zeitweise zwei Zeichner. Wegen kriegsbedingter Materialknappheit konnte der Bau jedoch erst 1947 beginnen. Es wurde 1949 eröffnet.
1943
veröffentlichte er seinen Roman „J'adore ce qui me brûle oder Die Schwierigen“, in dem er
die Unvereinbarkeit von künstlerischer und bürgerlicher Existenz betont.
1944
erscheint sein erstes Theaterstück „Santa Cruz“, das 1946 in Zürich uraufgeführt wird. Durch
den Intendanten des Züricher Schauspielhauses, Kurt Hirschfeld, lernt Max Frisch bekannt Dramatiker wie Friedrich Dürrenmatt und Bertolt Brecht kennen.
1946
reist Max Frisch ins Nachkriegsdeutschland; er hält seine Eindrücke in Notizbüchern fest.
1947
veröffentlicht er sein „Tagebuch mit Marion“.
1948
Peter Suhrkamp ermutigte Frisch, das Konzept des „Tagebuchs mit Marion“ weiter auszu-
bauen, und gibt durch persönliche Rückmeldung zu den Texten konkrete Anregungen.
1950
wird im neu gegründeten Suhrkamp Verlag das „Tagebuch 1946–1949“ veröffentlicht, ein
Mosaik aus Reiseberichten, autobiographischen Betrachtungen, politischen und literaturtheoretischen
Essays, sowie literarischen Skizzen. Hier findet sich auch unter dem Titel „Burleske“ die erste Fassung
des Biedermann-Stoffes.
1951
erscheint sein Theaterstück „Graf Öderland“. Mit einem Stipendium der Rockefeller-Stiftung
ausgestattet bereiste Frisch zwischen April 1951 und Mai 1952 die USA und Mexiko.
1954
publiziert Max Frisch seinen Roman „Stiller“ und trennt sich von seiner Familie.
1955
verkauft er sein Architekturbüro und lebt nun als freier Schriftsteller.
1956
folgen weitere Reisen in die USA, nach Mexiko und Kuba.
1957
erscheint sein Roman „Homo Faber“. „Herr Biedermann und die Brandstifter“ wird im Bayri-
schen Rundfunk sowie im Radio Zürich als Hörspiel gesendet.
1958
das Theaterstück „Biedermann und die Brandstifter“ wird im Schauspielhaus Zürich uraufge-
führt. Max Frisch erhält zu dieser Zeit bereits zahlreiche Literaturpreise, u.a. den Georg-Büchner-Preis
und den Literaturpreis der Stadt Zürich.
1960
zieht Max Frisch nach Rom.
1961
erscheint sein Drama „Andorra“.
1964
veröffentlicht er den Roman „Mein Name sei Gantenbein“.
28
Materialsammlung
1962
„Herr Biedermann und die Brandstifter“
Theater St.Gallen 2009/10
begegnete der damals 51-jährige Frisch der 28 Jahre jüngeren Germanistik- und Romanistik-
Studentin Marianne Oellers.
1964
bezieht das Paar eine gemeinsame Wohnung in Rom, später ziehen sie ins Tessin um. Marian-
ne Oellers begleitete ihren späteren Ehemann auf zahlreichen Reisen: 1965 reisten sie anlässlich der
Verleihung des „Man's Freedom Prize“ nach Jerusalem, wo Frisch die erste offizielle deutschsprachige
Rede nach Ende des Zweiten Weltkriegs hielt. Im Bemühen um ein eigenständiges Urteil über das
Leben hinter dem „Eisernen Vorhang“ bereisen sie 1966 die Sowjetunion. Anlässlich eines Schriftstellerkongresses kehrten sie zwei Jahre später dorthin zurück und treffen unter anderem die DDRSchriftsteller Christa und Gerhard Wolf, mit denen sie von nun an eine Freundschaft verbindet.
1968
heiraten Max Frisch und Marianne Oellers. Nach der Hochzeit folgt 1969 eine Reise nach
Japan sowie 1970–72 ausgedehnte Aufenthalte in den USA. Viele Eindrücke dieser Reisen sind in Max
Frischs Tagebuch 1966–1971 wiedergegeben.
1972
nimmt sich das Ehepaar Frisch eine Zweitwohnung in Berlin. In diesen Jahren verstärkte sich
Frischs kritische Haltung gegenüber der Schweiz.
1974 hält Max Frisch anlässlich der Verleihung des Grossen Schillerpreises der Schweizerischen Schillerstiftung die Rede „Die Schweiz als Heimat?“. Auf einer Lesetour in den USA hat er eine Affäre mit
der 32 Jahre jüngeren Amerikanerin Alice Locke-Carey. Diese Begegnung im Dorf Montauk auf Long
Island nahm er als Ausgangspunkt der 1975 erschienenen gleichnamigen Erzählung, sein autobiographischstes Buch, das von allen seinen bisherigen Liebesbeziehungen berichtet, einschließlich der Ehe
mit Marianne. Es kommt zwischen den Eheleuten zu einem offenen Streit über das Verhältnis von
Öffentlichem und Privatem.
1978
hat Max Frisch erstmals ernsthafte gesundheitliche Probleme. Ein Max-Frisch –Archiv wird
geplant und nimmt wenig später seine Arbeit auf.
1979 wird die zweite Ehe von Max Frisch geschieden.
1980
erhält Max Frisch weitere Ehrendoktortitel, diesmal des New Yorker Bard College; er kehrt in
die USA zurück und nimmt seine Liebesbeziehung zu Alice Locke-Carey wieder auf. Die Beziehung
hält wenige Jahre. Die Übersetzung von „Der Mensch erscheint im Holozän“ wird von den Kritikern
der New York Times als beste Erzählung des Jahres ausgezeichnet.
1984
kehrte Frisch nach Zürich zurück, wo er nun bis zu seinem Tode lebt.
1985
beginnt er die Beziehung zu seiner letzten Lebensgefährtin Karin Pilliod.
1989
wird bei Frisch unheilbarer Darmkrebs diagnostiziert. Im selben Jahr erfuhr er im Rahmen der
Fichenaffäre, dass er seit seiner Teilnahme am internationalen Friedenskongress 1948 wie viele andere
Schweizer Bürger von den Behörden bespitzelt worden war. Frisch regelte die Umstände seiner Bestattung, engagierte sich jedoch noch im Rahmen der Diskussion über die Abschaffung der Schweizer
Armee und veröffentlichte den Prosatext „Schweiz ohne Armee? Ein Palaver“.
1991
am 4. April, mitten in den Vorbereitungen für seinen 80. Geburtstag, stirbt Max Frisch.
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