5. Männliche Berufstätigkeit als Passion? Berufliche

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5. Männliche Berufstätigkeit als Passion? Berufliche
5.
Männliche Berufstätigkeit als Passion?
Berufliche Subkulturen von Fernfahrern
zwischen Mythos und Realität
"Frances Routes: La Passion du Camion"
(Titel und Untertitel einer französischen Fernfahrerzeitschrift).
Auf den ersten Blick scheint das ambivalente Verhältnis, das viele Fernfahrer zu
ihrem Beruf empfinden (vgl. Kapitel 2), durch eine erstaunliche Wirklichkeitsnähe gekennzeichnet zu sein. Einerseits finden sich empirische Indizien, um die
Transportarbeit im Straßengüter(fern)verkehr als höchst riskant und belastend
einzustufen. Andererseits betonen viele Fahrer aber die befriedigenden und
lustvollen Momente ihrer Arbeitstätigkeit. Ganz anders, als es das arbeitswissenschaftliche Interesse an einer präzisen und möglichst widerspruchsfreien Haltung
der Arbeitenden zu ihrer Arbeits- und Berufstätigkeit verlangt, begegnen viele
Fernfahrer ihrem Beruf mit einer widersprüchlichen "Haßliebe". Soweit die
Transportarbeit besonders von männlichen Lastkraftwagenfahrern tatsächlich als
eine Passion empfunden wird, birgt der Fernfahrerberuf eine zwiespältige Attraktivität im Spannungsfeld zwischen Last und Lust, die grundsätzlich erklärungsbedürftig ist und deren berufskulturelle Dimensionen im folgenden eingehender zu untersuchen sind.
Im Anschluß an religiöse Quellen steht "Passion" (I) einerseits für Leiden, Erdulden und
Krankheit (zunächst beschränkt auf das "Leiden Christi", vgl. Duden "Etymologie" 1989,
S. 513f.). Doch auch wer arbeitet, muß oft Leid auf sich nehmen und Schweres ertragen, so
jedenfalls die Vorstellungen über die Arbeit als einer unwürdigen und mühevollen Tätigkeit,
die neben der körperlichen Schädigung zugleich auch eine Bedrohung der Ehre (Schmähung)
zum Ausdruck bringt (pe[i] - "schädigen, weh tun, schmähen" - als sprachgeschichtliche
Wurzel von pati - "erdulden, leiden"; vgl. Duden "Etymologie" 1989, S. 181). Die Passivität
(Stammwort: "pati") ist dabei aber insoweit selbstverschuldet, als das erduldende Opfer das in
Betracht kommende Leid "ohne Widerspruch zuläßt" oder "nachsichtig gelten läßt" (vgl. ebd.,
S. 139, 514). Auf der anderen Seite übernimmt die "Passion" (II) im 17. Jahrhundert im
französischen Sprachraum die Bedeutung von Leidenschaft und leidenschaftlicher Hingabe,
von Vorliebe und Liebhaberei (ebd., S. 514). Übertragen auf die Frage nach dem subjektiven
Anteil an der Erzeugung arbeitsbedingter Risiken verbindet sich mit der Passion somit eine
Haltung, bei der die Leidtragenden nicht nur in ihrer Rolle als passiv betroffene Opfer auftreten, sondern auch einen aktiven Part, zumindest als Mit-Täter, spielen.
Die Metapher, in der die männliche Transportarbeit als eine Passion vorgestellt
wird, paßt nicht in das gängige arbeits- und industriesoziologische Klischee
gesellschaftlicher Arbeitswirklichkeit. Beständig darum bemüht, den belastenden
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Charakter industrieller Arbeitstätigkeiten wissenschaftlich nachzuweisen, ist der
Hauptstrom arbeitssoziologischen Denkens unempfindlich geworden für die lustvollen Seiten, die der menschlichen Arbeitspraxis aus subjektiver Sicht - sogar
unter industriekapitalistischen Bedingungen - zugeschrieben werden. Soweit die
Erwerbstätigkeit von Fernfahrern nicht nur Gleichgültigkeit und instrumentelle
Arbeitshaltungen erzeugt, sondern zu einer richtigen Passion wird, einer Leidenschaft, die Lust und Leiden schafft, lassen sich fließende Übergänge aufspüren
zwischen den ansonsten begrifflich streng geschiedenen Sphären der Arbeit und
des Spiels.
Bislang hat die belastungssoziologische Semantik des Leidens an der Arbeit
aber den Zugang zu einer Arbeit am Leiden verstellt, mit dem die subkulturellen
Formen des Umgangs und der Bewältigung arbeitsbedingter Risiken in den Blick
geraten. Der Glaube an die weitverbreitete Legende einer industriellen Arbeit
ohne Spiel-Räume hat die Chance versäumt, die feinen Nuancen aufzuspüren
zwischen den unerträglichen und den noch annehmbaren Schwierigkeiten des Inder-Arbeit-Seins. Kultursoziologische Ansätze scheinen zwar besser dafür geeignet, den spielerischen Umgang der Arbeitenden mit dem "Ernst des Lebens"
zu erkennen und zu verstehen, in der Vergangenheit hat sich die Kultursoziologie
aber meistens als sehr kurzsichtig erwiesen, im Dickicht subkultureller Stilisierungsformen die Konturen ökonomischer Macht und sozialer Herrschaft zu entdecken.
Um die genannten Schwächen zu vermeiden, wird im folgenden versucht, das
versteckte Zusammenspiel zwischen Berufskultur und Herrschaft bei der Reproduktion arbeits- und berufsbedingter Risiken sichtbar zu machen. Meine
These ist, daß sich in den Arbeitsspielen von Fernfahrern berufskulturelle Formen
einer "Verzauberung" der Lohnarbeit andeuten, die die Grenzen zwischen Traum
und Wirklichkeit verwischt (Kapitel 5.1). Die mit dem Spiel verbundene Verkennung der riskanten Realität der geleisteten Transportarbeit läßt sich dabei zugleich als Ausdruck einer symbolischen Herrschaft begreifen, mittels derer die
verborgene, stillschweigende Anerkennung der Hegemonie des Transportkapitals
über die Transportarbeit gesellschaftlich reproduziert wird. Welchen Einfluß die
Verzauberung und Ästhetisierung der Transportarbeit auf die Bewältigung oder
Verstärkung der arbeits- und berufsbedingten Risiken von Fernfahrern gewinnt,
soll am Beispiel der weitverbreiteten Fernfahrermythen untersucht werden. Die
beruflichen Mythen der Fernfahrer bilden hierbei einerseits einen subkulturellen
Bezugspunkt für die soziale Gruppierung von LKW-Fahrern (Kapitel 5.2),
andererseits sind die beruflichen Mythologien auch an der sozialen Reproduktion
der Arbeits- und Berufsrisiken beteiligt (Kapitel 5.3).
Vor dem Hintergrund einer mangelnden gesellschaftlichen Anerkennung des
Fernfahrerberufs und der vergleichsweise geringen Ressourcen zur Risikobewältigung, was die Aneignung ökonomischen, sozialen und kulturellen Kapitals
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betrifft, läßt sich die Mythologisierung der profanen Transportarbeit als ein Versuch werten, "symbolisches Kapital" zu akkumulieren. Der etwas hilflos anmutende Versuch von Berufskraftfahrern, sich und ihre Arbeit gegenüber konkurrierenden Arbeitskraftanbietern mit Hilfe des symbolischen Kapitals maskuliner
Berufsehre aufzuwerten, erzeugt mit der letztlich nur durch hohe Arbeits(zeit)leistungen legitimierbaren sozialen Grenzziehung in paradoxer Weise zugleich
die arbeits- und leistungspolitische Dominanz der Unternehmerseite. Mit der
kollektiven Konstruktion einer eigenständigen, unverwechselbaren berufskulturellen "Sinnwelt" wird aber ein entscheidender Bezugspunkt für die soziale
Gruppierung der LKW-Fahrer gesetzt. Die symbolische Vereinigung der Fernfahrer in der Kapitän- und Trucker-Mythologie ignoriert zwar die Heterogenität
und Unschärfe dieses sozialen Ensembles, verspricht aber eine wenigstens
schwach legitimierte Form sozialer Unterstützung. Inwieweit dieser imaginäre
social support den ungenügenden arbeits- und berufspolitischen Schutz vor
Risiken auch tatsächlich zu kompensieren vermag, darf allerdings bezweifelt
werden.
5.1
Spielen mit dem Ernst des Lebens:
Arbeitsspiele von Fernfahrern an der Grenze zwischen
Traum und Wirklichkeit
"Ist aber das Schwere wirklich schrecklich und das Leichte herrlich?
Das schwerste Gewicht beugt uns nieder, erdrückt uns, preßt uns zu Boden. In der
Liebeslyrik aller Zeiten aber sehnt sich die Frau nach der Schwere des männlichen
Körpers. Das schwerste Gewicht ist also gleichzeitig ein Bild intensivster Lebenserfüllung. Je schwerer das Gewicht, desto näher ist unser Leben der Erde, desto wirklicher
und wahrer ist es.
Im Gegensatz dazu bewirkt die völlige Abwesenheit von Gewicht, daß der Mensch
leichter wird als Luft, daß er emporschwebt und sich von der Erde, vom irdischen Sein
entfernt, daß er nur noch zur Hälfte wirklich ist und seine Bewegungen ebenso frei wie
bedeutungslos sind.
Was also soll man wählen? Das Schwere oder das Leichte?
Parmenides hat sich diese Frage im sechsten Jahrhundert vor Christus gestellt. Er sah
die ganze Welt in Gegensatzpaare aufgeteilt: Licht-Dunkel; Feinheit-Grobheit; WärmeKälte; Sein-Nichtsein. Er betrachtete den einen Pol (Licht, Feinheit, Wärme, Sein) als
positiv, den anderen als negativ. Eine solche Aufteilung sieht kinderleicht aus, bringt
jedoch eine Schwierigkeit mit sich: was ist positiv, das Schwere oder das Leichte?
Parmenides antwortete: das Leichte ist positiv, das Schwere ist negativ.
Hatte er recht oder nicht? Das ist die Frage. Sicher ist nur eines: der Gegensatz von
leicht und schwer ist der geheimnisvollste und vieldeutigste aller Gegensätze" (Milan
Kundera: Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins, Frankfurt/Main 1987, S. 9).
So mysteriös und vieldeutig sich auch der Gegensatz zwischen dem Leichten und
dem Schweren darstellen mag, sobald es um die Arbeit als dem "Ernst des Le233
bens" geht, scheint sich die Attraktivität des Leichten zunächst gegenüber der
Anziehungskraft des Schweren zu behaupten. Kultur- und sprachgeschichtlich
betrachtet, wecken die gebräuchlichen Adjektive, die zur Charakterisierung von
Arbeitstätigkeiten herangezogen werden, höchst negative Assoziationen. So bezeichnet "schwer" - meist synonym verwendet mit "drückend", "beschwerlich"
und "lastend" - neben der Arbeit auch noch die Not, die Krankheit und die Sünde
(vgl. Duden "Etymologie" 1989, S. 659). Demgegenüber präsentiert sich das
Spiel als eine "zwecklose und unterhaltende Tätigkeit", die im Gegensatz zu
Arbeit und Ernst mit dem Begriff des Leichten und Mühelosen, aber auch Wertlosen verbunden ist (vgl. Deutsches Wörterbuch 1905, S. 2280). Das Leichte wird
zwar grundsätzlich dem gegenübergestellt, was Gewicht hat, was schwerwiegend
und wichtig ist, was geachtet und geehrt wird (vgl. Duden "Etymologie" 1989,
S. 413 und 659). Dabei wird es aber nicht nur mit einer oberflächlichen Leichtfertigkeit oder gar mit Schwäche assoziiert, sondern auch mit einer spielerische
Mühelosigkeit, mit der die wahre Meisterschaft dem Gegenstand begegnet.
In vielen sozialwissenschaftlichen Utopien ist ein negatives Bild der Arbeit
unterstützt worden, vor allem dort, wo - vielleicht aus einer arbeits- oder gesellschaftspolitischen Resignation heraus - das "Reich der Freiheit" eher jenseits der
Nöte der Arbeitssphäre lokalisiert worden ist.1 Die klassische Konfrontation
zwischen der Arbeit als dem "Reich der Notwendigkeit" und der Muße2 als dem
Territorium der Freiheit, vermittelt eine einseitige und polarisierende Perspektive
auf das vielschichtige Verhältnis zwischen Arbeit und Spiel, eine Sichtweise, die
zumindest im deutschen Kulturraum in den Ausstiegsphantasien der frühen Ro1
2
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Dies gilt vor allem für die Kritische Theorie der Frankfurter Schule. Bei Marcuse (1968,
S. 15ff.; zuerst 1933) beispielsweise zwingt die Zweckrationalität und Instrumentalität der
Arbeit den Menschen zu einer anerkennenden Auseinandersetzung mit der sachlichen
Wirklichkeit der gegenständlichen Welt. Gerade beim Spielen komme aber der Mensch,
sofern er sich über die "objektive" Sachhaltigkeit und Gesetzmäßigkeit der Gegenstände
hinwegsetze, "zu sich selbst, in eine Dimension seiner Freiheit, die ihm in der Arbeit
versagt ist." Habermas (1969) hat diese Gegenüberstellung von Arbeit und Spiel aufgegriffen und weiterverarbeitet in seiner irreführenden Reduzierung der "Arbeit" auf "zweckrationales" bzw. "instrumentales Handeln" und der "Interaktion" (angemessener wäre
eigentlich der Begriff des Spiels gewesen) auf "kommunikatives Handeln". Die Dualisierung von Arbeit und Interaktion wirkt etwas realitätsfremd, soweit kaum eine Arbeitsform
gänzlich auf Kommunikation und Interaktion zu verzichten vermag und eine zweckfreie,
nur der Verständigung dienende Interaktion einen eher seltenen und untypischen, vielleicht
sogar marginalen Sonderfall zwischenmenschlicher Beziehungen bildet.
Unter dem Einfluß der protestantischen Arbeitsethik werden "Untätigkeit", "freie Zeit" und
"Ruhe" (vgl. Duden "Etymologie" 1989, S. 475), mit der die Zeit der Muße verbunden ist,
unterschiedlich bewertet. Die durch die Erholung von der Arbeit verdiente und ethisch
gerechtfertigte Muße wird dabei vom moralisch verwerflichen Müßiggang ("aller Laster
Anfang") abgegrenzt (vgl. Pankoke 1990, S. 11 und 248).
mantik verwurzelt ist (z.B. Müßiggang als ein Weg zu sich selbst bei Friedrich
Schlegel) und die Modernisierungskritik von Friedrich Nietzsche geprägt hat (vgl.
Pankoke 1990, S. 252ff.).
Die Bedeutungsvielfalt der Arbeitskategorie kann, so meine These, nur unter
Berücksichtigung ihrer Spannung zum Kontrastbegriff des Spiels angemessen
verstanden werden. Der spielerische Umgang vieler Menschen mit ihrer Arbeit
bietet dabei einen wichtigen Ansatzpunkt, um den Zusammenhang zwischen
Arbeit und Belastung zu verdeutlichen und die Möglichkeiten einer entlastenden
Beziehung zur Arbeit auszuloten. Genau dieser Ansatzpunkt ist aber bislang in
der Arbeits- und Industriesoziologie ebenso vernachlässigt worden wie in der
arbeitswissenschaftlichen Belastungsforschung (vgl. Kapitel 3).
Mit bemerkenswerter Übereinstimmung wird in allen europäischen Sprachen eine traditionelle
Unterscheidung getroffen, die den Lastcharakter menschlicher Arbeit von ihrem Werkcharakter
zu trennen sucht (vgl. Arendt 1960). Während der Kontrast zwischen "Arbeiten" und "Herstellen" im Laufe der Zeit schwächer geworden ist, hat im älteren abendländischen Sprachgebrauch noch ein Arbeitsverständnis dominiert, das zwischen der schweren, schmerzverursachenden körperlichen Anstrengung, Mühsal und Plage (molestia) und dem schöpferischen
Werk (opus) differenziert hat (vgl. Deutsches Wörterbuch der Gebrüder Grimm, Erster Band,
Leipzig 1854, S. 539-541). Auch die sozialwissenschaftliche Verwendung des Arbeitsbegriffs
ist gekennzeichnet durch eine Gegenüberstellung von formaler Aktivität und inhaltlicher
Zweckorientierung, d.h. durch die Unterscheidung zwischen der scheinbar gehaltlosen Anstrengung (Last, Not, Mühe) und dem "Werk", das ein gesetztes inhaltliches Ziel offenbar
mühelos zu verwirklichen scheint.3
Seinen sozial klassifizierenden Sinn als eine unwürdige und mühselige Tätigkeit verliert die
Arbeit erst in der Reformation, als Martin Luther der profanen Erwerbstätigkeit über die
göttliche Berufung eine hohe sittliche Wertschätzung zuteil werden läßt; gleichzeitig wird hier
ein ethischer Zusammenhang konstruiert zwischen der sozialen Ehre - dem "Leumund" [beruof], guten "Ruf" oder "Renommee" - und der sozialen Position des Berufenen - dem "Stand
und Amt des Menschen in der Welt" (vgl. Duden "Etymologie" 1989, S. 43, 75 und 417). Die
protestantische Ethik der Arbeit konnte dabei an die Ethik des Rittertums und der mittelalterlichen Mystik anknüpfen (vgl. ebd., S. 43), zweier Quellen, die für die Ehre und Würde
spezifisch maskuliner Arbeitstätigkeiten und für das entsprechende Selbstbild männlicher Arbeitskräfte - zumindest in stark körperbetonten Berufen - sehr bedeutsam sind.
3
Spuren dieser Gegenüberstellung finden sich z.B. bei Karl Marx im "Doppelcharakter" der
in den Waren dargestellten Arbeit (MEW 25, S. 57, 61, 203f., 209f.). Marx unterscheidet
zwischen der gebrauchswertbildenden, zweckmäßig produktiven Tätigkeit oder "nützlichen
Arbeit" (Qualität, Beschaffenheit, Inhalt der Arbeit) und der tauschwertbildenden, abstrakt
menschlichen Arbeit oder bloßen "Verausgabung menschlicher Arbeitskraft" (Quantität
nach Dauer und Zeitmaß, vgl. MEW 23). Auch Max Weber differenziert menschliche Leistungen wirtschaftlicher Art nach disponierenden "Leistungen" und der an Dispositionen
orientierten "Arbeit" (1980, S. 62). Thorstein Veblen schließlich stellt der bloßen "Plackerei" (als unzweckmäßige Aktivität, vergebliches Tun, Vergeudung) die "Heldentat" gegenüber, die als nützliche Leistung einen sichtbaren Erfolg erbringt, da sie einem zweckgerichteten "Werkinstinkt" folgt (1981, S. 28f., 40, 82).
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"Die Institution einer vornehmen Klasse ist (...) das Ergebnis einer frühen Unterscheidung
zwischen verschiedenen Tätigkeiten, einer Unterscheidung, der gemäß die einen Tätigkeiten
wertvoll, die anderen unwürdig sind. Wertvoll sind danach jene Beschäftigungen, die man als
Heldentaten bezeichnen kann, unwürdig hingegen alle jene notwendigen und täglichen
Plackereien, die gewiß nichts Heldenhaftes an sich haben" (Veblen 1981, S. 23; Hervorhebungen durch M.F.) - und die üblicherweise gerne weiblichen Arbeitskräften zugemutet werden.
Thorstein Veblen verweist hier auf ein soziokulturelles Phänomen, das bislang in der arbeitsund berufssoziologischen Tradition weitgehend vernachlässigt worden ist. Die Aufwertung der
Arbeit gilt nur für bestimmte Formen beruflicher Betätigung, von denen angenommen werden
darf, daß sie erstens in einer gewissen vornehmen Distanz zu jenen schweren körperlichen
Verrichtungen rangieren, die als gewöhnliche physische Arbeit von jedermann geleistet werden
können (und die sich deshalb für eine berufsständisch motivierte Disqualifizierung besonders
gut eignen, vgl. Weber 1980, S. 537). Zweitens scheint mit der Institutionalisierung des
geforderten Arbeitskraftmusters und der Habitualisierung des entsprechenden Arbeitsvermögens der Beruf mit den zu ihm Berufenen zu einer Art magischen Einheit zu verschmelzen
(im Sinne einer "Verkörperung" von Erfahrungswissen bzw. Qualifikation), wodurch der
geleisteten Arbeit erst die nötige Weihe verliehen wird, die den Ausführenden von diskontinuierlichen und rein körperlichen Verrichtungen zu fehlen scheint.
Mit der moralischen Aufwertung der Arbeit zu einem "Werk" im (klein)bürgerlichen Weltbild und mit der "Verwandlung der Arbeit in ein erstes Lebensbedürfnis" im marxistischen
(vgl. z.B. Steiner 1971, S. 398) ist schließlich die Voraussetzung für ein modernes Arbeitsverständnis geschaffen worden, das beide Pole - die Anstrengung wie die Zweckmäßigkeit miteinander zu versöhnen sucht. Die mühevolle, anstrengende Verausgabung von Arbeitskraft
ist somit nicht mehr nur noch als bloßes Leid oder als Last erfahrbar, sondern auch als "normale Lebensbetätigung" (MEW 23, S. 61) zu begreifen, ebenso wie die lustvolle Selbstverwirklichung des Individuums in der travail attractif kein "bloßer Spaß, bloßes amusement" ist,
sondern wie jede wirklich freie Arbeit (für die Marx mit dem Komponieren bezeichnenderweise eine künstlerische Betätigung als Beispiel wählt) "zugleich verdammtester Ernst,
intensivste Anstrengung" (Marx 1974, S. 505).
"Du sollst arbeiten im Schweiß deines Angesichts! war Jehovas Fluch, den er Adam mitgab.
Und so als Fluch nimmt A. Smith die Arbeit. Die 'Ruhe' erscheint als der adäquate Zustand, als
identisch mit 'Freiheit' und 'Glück'. Daß das Individuum 'in seinem normalen Zustand von
Gesundheit, Kraft, Tätigkeit, Geschicklichkeit, Gewandtheit' auch das Bedürfnis einer normalen Portion von Arbeit hat, und von Aufhebung der Ruhe, scheint A. Smith ganz fernzuliegen.
Allerdings erscheint das Maß der Arbeit selbst äußerlich gegeben, durch den zu erreichenden
Zweck und die Hindernisse, die zu seiner Erreichung durch die Arbeit zu überwinden. Daß
aber diese Überwindung von Hindernissen an sich Betätigung der Freiheit - und daß ferner
die äußren Zwecke den Schein bloßer Naturnotwendigkeit abgestreift erhalten und als Zwecke,
die das Individuum selbst erst setzt, gesetzt werden - also als Selbstverwirklichung,
Vergegenständlichung des Subjekts, daher reale Freiheit, deren Aktion eben die Arbeit, ahnt
A. Smith ebensowenig. Allerdings hat er Recht, daß in den historischen Formen der Arbeit als
Sklaven-, Fronde, Lohnarbeit die Arbeit stets repulsiv, stets als äußre Zwangsarbeit erscheint
und ihr gegenüber die Nichtarbeit als 'Freiheit und Glück'" (Marx 1974, S. 504f.; kursive Hervorhebungen durch Marx, fettgedruckte durch M.F.).
An der Marxschen Polemik gegen Adam Smith, der sich die menschliche Arbeit unter dem
Eindruck (früh)kapitalistischer Produktionsverhältnisse und aus der wohltemperierten
theoretischen Distanz eines politischen Ökonomen heraus lediglich als eine dem Subjekt
fremde, aufgezwungene Tätigkeit, als Last oder Opfer vorstellen konnte, ist auch heute noch
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zweierlei bemerkenswert. Zum einen bezieht Marx hier ausdrücklich Stellung gegen eine
instrumentalistische, allein negativ bestimmte Arbeitsauffassung, die in der Arbeit selbst nur
eine unpersönliche, entfremdete Aufopferung sehen will, und die dadurch blind bleibt für die
vielschichtige Lebendigkeit der widersprüchlichen subjektiven Beziehungen der Menschen zu
ihrer Arbeit. Dieses Argument wiegt um so schwerer, als gerade die an Marx orientierte
arbeits- und industriesoziologische Forschung den Arbeitenden oft ein instrumentalistisches
Verhältnis zur Arbeit unterstellt und die menschliche Subjektivität als eine "Tabuzone" (Knapp
1981, S. 149) behandelt hat. Andererseits unterschätzt Marx die bereits unter kapitalistischen
Bedingungen aus dem gesellschaftlichen Charakter der materiellen Produktion erwachsenen
Möglichkeiten, zumindest einzelne Komponenten des Produktions- bzw. Transportprozesses
als ein Subjekt kontrollieren zu können und der dabei verausgabten Anstrengung zumindest
ansatzweise den Charakter einer subjektiven Vergegenständlichung und "Selbstverwirklichung" zu verleihen.
Der kurze Streifzug durch den Gebrauch der Sprache zeigt, daß bei der allzu
einfachen Identifizierung von Arbeit mit Leid und Last die gleiche Skepsis
angebracht ist wie bei der simplen Gleichsetzung der Arbeit mit einer, das "erste"
Lebensbedürfnis befriedigenden und der Selbstverwirklichung dienenden,
lustvollen Betätigung. Von Ausnahmen abgesehen, dürfte menschliches Arbeiten
im Normalfall Elemente aus beidem enthalten. Es wäre fatal, diese grundsätzliche
Ambivalenz der Arbeit auf eine Seite hin zu verkürzen.
Sobald die geschlechtsspezifische Aufladung der Erwerbstätigkeit berücksichtigt wird, zeigt sich, daß die vorzugsweise von Männern zu verrichtenden,
schweren körperlichen Arbeitstätigkeiten sich gerne als "verdammtester Ernst"
präsentieren. Die einfachen, von jedermann zu bewältigenden manuellen
Arbeitsaufgaben gewinnen offenbar nur dadurch an würdevoller, heroischer
Größe, wenn sie sich durch die Bewältigung außergewöhnlicher Härte und
Mühsal gegenüber den "leichteren", wenn auch "geschickteren" Tätigkeiten von
Frauenhänden auszeichnen können. Die feinen Unterschiede an der Grenze zwischen der noch annehmbaren und der schon unerträglichen Leichtigkeit des Inder-Arbeit-Seins lassen sich dabei durch eine Bedeutungsnuancierung zwischen
den Begriffen "Arbeitsspiel" und "Spielarbeit" markieren.
Als Ausdruck wahrer Meisterschaft erscheint es durchaus akzeptabel, daß die
Arbeit dort zum Spiele wird, wo sie ihren anstrengenden, ja lästigen Charakter
verliert, um spielend leicht und mit Lust verrichtet zu werden. Umgekehrt läßt
eine Arbeitshaltung aber den nötigen Ernst und Wirklichkeitssinn fehlen, sobald
die Arbeit nur noch ein Spiel ist, eine viel zu leichte, vergnügliche "Spielarbeit"
(vgl. Wörterbuch der deutschen Sprache, 10. Bd., Leipzig 1905, S. 2320), die
aufgrund ihrer geringen qualitativen und geschlechtsspezifischen Anforderungen
von "jedermann" geleistet werden kann.
Die Trennung von Hand- und Kopfarbeit wird aber nicht nur in der alltagskulturellen, sondern auch in der sozialwissenschaftlichen Mythenbildung häufig
radikalisiert. So bedarf es in der tayloristischen Legende über die ausführende
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Arbeit erst einer wissenschaftlichen Anleitung und organisatorischen Disziplinierung, um die physische Arbeitstätigkeit von überflüssiger Schwere und Beanspruchung zu befreien. Den in erster Linie körperlich tätigen Arbeitskräften
wird nur in geringem Maße zugetraut, ihre eigene Arbeitstätigkeit als ein ernsthaftes Spiel zu betreiben, d.h. mit dem "Ernst des Lebens" auf eine spielerische
oder sportliche (und womöglich auch entlastende) Art und Weise umzugehen.4
Worin unterscheiden sich überhaupt Arbeit und Spiel als scheinbar gegensätzliche Grundformen menschlicher Tätigkeit und welche Verbindungslinien lassen
sich zwischen beiden Betätigungsformen finden?
Die Grundzüge für eine moderne Arbeitsauffassung finden sich bereits bei den Gebrüdern
Grimm. Das "Deutsche Wörterbuch" versteht unter Arbeit "bald das arbeiten, bald das gearbeitete, bald das zu arbeitende" (Erster Band 1854, S. 539), d.h. die Kategorie der Arbeit
bezieht sich auf die "Drei-Einheit von Tun, Gegenständlichkeit und Aufgegebenheit", wie
Herbert Marcuse (1968, S. 14) bemerkt. Im Unterschied zu anderen Grundformen menschlichen Handelns (z.B. dem Spielen oder Lernen) gewinnt die menschliche Arbeit - meist etwas
pathetisch formuliert - den Charakter einer aktiven Auseinandersetzung zwischen Mensch(heit) und Natur. Auch ohne die Vorliebe für eine Beschwörung der menschlichen Gattung als
Kollektivsubjekt, wird die Arbeit meistens als eine praktische5, die wirkliche Welt gestaltende
gesellschaftliche Tätigkeit begriffen.
Erstaunlicherweise ist die Grimmsche Trias auch im Marxschen Arbeitsbegriff enthalten,
wie eine klassische Passage aus dem "Kapital" zeigt, an der sich regulationstheoretische
Ansätze in der Arbeitspsychologie zur Charakterisierung der Besonderheiten menschlicher
4
5
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Der spielerische Umgang mit der Arbeit bezieht sich hier gerade nicht auf jene, von der
psychoanalytischen Deutung als "regressiv" interpretierten "Angstlust"-Spiele, von denen
Ute Volmerg (1978, S. 141ff.) berichtet. Die willentliche Gefährdung der eigenen Person
ohne echte Chance auf eine aktive, nur auf die eigene Leistung bauende Auseinandersetzung mit der heraufbeschworenen Gefahr kann sicherlich nicht als Dimension einer sich
über die Gegenständlichkeit hinwegsetzenden Freiheit verstanden werden.
Der Praxis-Begriff bedarf hier einer kurzen Erläuterung. In seiner Bedeutung als "das Tun,
die Tätigkeit; Handlungsweise; Geschäft, Unternehmen; Wirklichkeit, Tatsächlichkeit" (vgl.
Duden "Etymologie" 1989, S. 547) verweist die Praxis auf den Welt- und Wirklichkeitsbezug menschlicher Tätigkeit schlechthin. Im Gegensatz zum Begriff der Theorie bezeichnet die Kategorie "Praxis" dabei eine "tätige Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit und
die daraus gewonnene Lebenserfahrung" (vgl. ebd.). Das Praxisverständnis von Marx und
Engels bezieht sich in erster Linie auf den "gesellschaftlichen Gesamtprozeß der materiellen Umgestaltung der objektiven Realität" (Wittich 1974, S. 965), d.h. auf eine materielle
Auseinandersetzung der Menschheit als "Subjekt" mit der realen Umwelt (Natur als "Objekt") bei der die "objektiv-realen Gegebenheiten" beispielsweise durch Arbeit, politische,
experimentelle und andere materielle Tätigkeiten "tatsächlich" umgewandelt werden (vgl.
ebd.; vgl. Marx 1974, S. 7). Mir ist ein empirisch orientiertes Konzept sympathischer, das
den Praxisbegriff diesseits imaginärer Kollektivsubjekte auf die gegenständliche, d.h. auf
die wirkliche und sinnliche Tätigkeit lebendiger Menschen bezieht und dabei deren praktisches Verhältnis zur Welt zum Forschungsgegenstand erhebt (vgl. z.B. bei Bourdieu 1987,
S. 97ff. oder bei Leontjew 1979, S. 83ff.).
Arbeitstätigkeit orientieren (so z.B. Hacker 1986, S. 57 im Anschluß an ähnliche Überlegungen
bei Rubinstein 1977, S. 707f.): "Am Ende des Arbeitsprozesses kommt ein Resultat heraus, das
beim Beginn desselben schon in der Vorstellung des Arbeiters, also schon ideell, vorhanden
war. Nicht, daß er nur eine Formveränderung des Natürlichen bewirkt; er verwirklicht im
Natürlichen zugleich seinen Zweck, den er weiß, der die Art und Weise seines Tuns als Gesetz
bestimmt und dem er seinen Willen unterordnen muß. (...) Die einfachen Momente des
Arbeitsprozesses sind die zweckmäßige Tätigkeit oder die Arbeit selbst, ihr Gegenstand und ihr
Mittel" (Marx 1974, MEW 23, S. 193; Hervorhebungen von M.F.).
# Mit "Arbeiten" ist erstens eine sinnliche und praktische Tätigkeit verbunden, die in einem
bewahrenden oder verändernden, in jedem Fall aber praktischen Verhältnis zur gegenständlichen Welt steht, eine gegenständliche Tätigkeit, die Anstrengungen und einen zweckmäßigen Willen erfordert, um das ihr Entgegenstehende unter menschliche Kontrolle zu
bringen.
# Das "Gearbeitete" ist zweitens das Ergebnis einer bewußten und zielgerichteten, an der
Verwirklichung eines Resultates orientierten Tätigkeit, wobei das Produkt bereits vor der
Handlung in der Vorstellung des Arbeitenden gegeben ist und durch den Willen, dem
bewußten Ziel entsprechend, reguliert wird (vgl. Rubinstein 1977, S. 707).
# In das "Zu-Arbeitende" (d.h. in den Auftrag oder die Aufgabe) gehen drittens praktische
Notwendigkeiten ein, soweit die Arbeit als Ausführung einer besonderen Aufgabe immer
gesellschaftlich bestimmt ist (vgl. Hacker 1986, S. 57), d.h. ausgerichtet ist auf die
Realisierung eines nach gesellschaftlichen Wertmaßstäben "nützlichen" Ergebnisses, das
unter festgelegten Bedingungen und unter dem ökonomischen Einsatz geeigneter Mittel6
erzielt werden muß (Kriterien: Gebrauchs- und Tauschwert).
"Arbeit" ist somit eine zweckmäßige, unter Verwendung geeigneter Medien auf einen bestimmten Gegenstand7 gerichtete Tätigkeit, die mit der Verwirklichung ihres Zweckes zugleich
auch einen gesellschaftlichen "Auftrag" als Aufgabe zu erfüllen hat.8
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Der Begriff "Arbeitsmittel" muß in einem sehr weiten Sinne verstanden werden als "ein
Ding oder ein Komplex von Dingen, die der Arbeiter zwischen sich und den Arbeitsgegenstand schiebt und die ihm als Leiter seiner Tätigkeit auf diesen Gegenstand dienen" (MEW
23, S. 194). Ob es sich dabei "um gegenständliche Mittel (Werkzeuge), um gesellschaftlich
erarbeitete verbale Begriffe oder um irgendwelche anderen Zeichen" handelt: Arbeitsmittel
dienen grundsätzlich als Medium zur Realisierung von Arbeitsverfahren (vgl. Leontjew
1973, S. 270, 209).
Das Moment der Gegenständlichkeit ist in einem weiten Sinne zu verstehen, der über den
Objektcharakter der materiellen "Natur" hinaus auch die Auseinandersetzung mit der
"Natur" der Gesellschaft mit einschließt. Um ihre Lebensbedürfnisse zu befriedigen und
sich am Leben zu erhalten, müssen die Menschen in die vorgefundenen Naturverhältnisse
und Sozialbeziehungen eingreifen, d.h. ihre Arbeit umfaßt nicht nur die materielle Herstellung von Gütern, sondern zielt auch auf die Erfüllung gesellschaftlicher Funktionen und
Dienstleistungen, auf die Aufrechterhaltung gesellschaftlicher Ordnungen sowie ganz
allgemein auf die Bewältigung gesellschaftlicher Prozesse (Beck et al. 1980, S. 23; zur
"symbolischen Arbeit" vgl. auch Bourdieu 1987, S. 205 und Boltanski 1990, S. 47).
Es darf nicht übersehen werden, daß die triadische Bestimmung der Arbeit nach der
Tätigkeit, dem vergegenständlichten Produkt und der Aufgabe hier noch in ihrer ganzen
anthropologischen Reinheit erscheint. Ihre "Unschuld" verliert die menschliche Arbeit,
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Im Spiel dagegen versuchen die Menschen die Gegenständlichkeit und Wirklichkeit der
gesellschaftlichen Praxis aufzuheben, indem sie eine fiktive Welt konstruieren, in der die
Zwänge und Notwendigkeiten ihres gewöhnlichen Lebens zumindest zeitweilig außer Kraft
gesetzt sind. Ähnlich wie die sakrale Welt unterbricht das Spiel die Homogenität des Raumes
und der Zeit und sondert die Teilnehmer(innen) vom alltäglichen Leben ab, indem es eine
eigene, in sich geschlossene Welt erzeugt ("Enzyklopädisches Stichwort: 'Das Spiel'", in:
Huizinga 1962, S. 205). In "Homo Ludens" (zuerst 1938) hat der niederländische Kulturhistoriker Johan Huizinga (1962, S. 14ff.) einige formale Kennzeichen herausgearbeitet, die das
Spiel von allen ernsthaften Tätigkeiten des "gewöhnlichen" Lebens unterscheidet.9 "Der Form
nach betrachtet, kann man das Spiel (...) zusammenfassend eine freie Handlung nennen, die als
'nicht so gemeint' und außerhalb des gewöhnlichen Lebens stehend empfunden wird und
trotzdem den Spieler völlig in Beschlag nehmen kann, an die kein materielles Interesse
geknüpft ist und mit der kein Nutzen erworben wird, die sich innerhalb einer eigens bestimmten
Zeit und eines eigens bestimmten Raums vollzieht, die nach bestimmten Regeln ordnungsgemäß
verläuft und Gemeinschaftsverbände ins Leben ruft, die ihrerseits sich gern mit einem Geheimnis umgeben oder durch Verkleidung als anders als die gewöhnliche Welt herausheben.
(...) Das Spiel ist ein Kampf um etwas oder eine Darstellung von etwas. Diese beiden Funktionen können sich auch vereinigen, in der Weise, daß das Spiel ein Kampf um etwas 'darstellt'
oder aber ein Wettstreit darum ist, wer etwas am besten wiedergeben kann" (Huizinga 1962,
S. 20).
Roger Caillois (1960) hat diese klassische Definition des Spiels aufgegriffen und durch eine
Typologie verschiedener Spielformen und Spielweisen erweitert. Aus seiner Sicht ist das Spiel:
"1. eine freie Betätigung, zu der der Spieler nicht gezwungen werden kann, ohne daß das Spiel
alsbald seinen Charakter der anziehenden und fröhlichen Unterhaltung verlustig ginge;
2. eine abgetrennte Betätigung, die sich innerhalb genauer und im voraus festgelegter
Grenzen von Zeit und Raum vollzieht;
3. eine ungewisse Betätigung, deren Ablauf und deren Ergebnis nicht von vornherein feststeht, da bei allem Zwang, zu einem Ergebnis zu kommen, der Initiative des Spielers
notwendigerweise eine gewisse Bewegungsfreiheit zugebilligt werden muß;
4. eine unproduktive Betätigung, die weder Güter noch Reichtum noch sonst ein neues Element erschafft und die, abgesehen von einer Verschiebung des Eigentums innerhalb des
Spielerkreises, bei einer Situation endet, die identisch ist mit der zu Beginn des Spiels;
9
240
sobald sich die Ausführung der gesellschaftlichen Aufgabe an den unbarmherzigen, aber
auch unbestechlichen Maßstäben des Gebrauchs- und Tauschwertes messen lassen muß
und sich mit der Hinzuziehung des Arbeitsmittels - als dem vierten Moment des Arbeitsprozesses - auch die schnöde Frage stellen läßt, wem die Arbeitstätigkeiten, die Arbeitsprodukte und die Arbeitsmittel gehören.
Es ist hier nicht der Ort, den kulturhistorischen und -anthropologischen Ansatz von Huizinga kritisch zu bewerten. Seine Grundthese von dem Ursprung der Kultur im Spiel ist
sicherlich für manchen Geschmack zu weit gegriffen, angesichts der kulturbildenden
Funktion, die der menschlichen Arbeit mit Recht zugeschrieben werden kann. Mit Blick auf
den zutiefst symbolischen Gehalt des Spiels dürfte Huizinga einem semiotischen Kulturverständnis noch die geringsten Adaptionsschmerzen bereiten.
5. eine geregelte Betätigung, die Konventionen unterworfen ist, welche die üblichen Gesetze
aufheben und für den Augenblick eine neue, allgemeingültige Gesetzgebung einführen;
6. eine fiktive Betätigung, die von einem spezifischen Bewußtsein einer zweiten Wirklichkeit
oder einer in bezug auf das gewöhnliche Leben freien Unwirklichkeit begleitet wird"
(Caillois 1960, S. 16).
Die entscheidende Differenz der Arbeit gegenüber dem Spiel ist zusammenfassend darin zu
sehen, daß sich Arbeitstätigkeiten auf eine, nach gesellschaftlichen Kriterien und Wertmaßstäben definierte Praxis beziehen, wodurch die Tätigkeit selbst, ihr Resultat und Medium als auch
die im Produkt vergegenständlichte Aufgabe eine spezifische, durch "fremde" gesellschaftliche
Zwecke bestimmte Tönung erhält (vgl. Abb. 19). Vor allem die Distanz zu den wirtschaftlichen und sozialen Zwängen und Notwendigkeiten der gesellschaftlich regulierten Praxis
ermöglicht beim Spiel eine weitgehende Autonomie gegenüber fremden Zwecken und einen
großen Spielraum im zwanglosen Umgang mit der Realität.
Bei allen Unterschieden im Detail, erscheint mir allerdings eine zu strenge
Trennung zwischen Arbeit und Spiel als problematisch. Schon Marcuse hat
darauf hingewiesen, daß das Spiel als Ganzes stets auf die Arbeit bezogen bleibt,
da es für die Erwachsenen prinzipiell ein "Ablassen von der Arbeit und eine
Erholung zur Arbeit" beinhaltet (1968, S. 17) und selbst die verspielten Formen
des kindlichen Spiels meist eine gewisse Affinität zur Arbeit der Erwachsenen
aufzeigen (ebd., S. 173; vgl. auch Hacker 1986, S. 56). Aber dennoch bleibt ein
Spiel eben bloß ein Spiel. Kann deshalb das Spielen mit der maskulinen Noblesse
von Schwere und Härte, die vor allem in den von Männern bevorzugten Sportarten zum Ausdruck kommt, jene tiefe männliche Befriedigung und Selbstzufriedenheit vermitteln, die aus der erfolgreichen Beherrschung der Sachlichkeit
gegenständlicher Herausforderungen resultiert? Oder fungiert gerade die erfolgreiche Kontrolle der sachlichen Gegen- und Widerstände in der wirklichen
Arbeitswelt gleichsam als jene Würze, mittels derer die fade Arbeit für manche
überhaupt erst schmackhaft wird?
"Starcker Männer Spiel, ist krancker Männer Todt" weiß ein altes deutsches
Sprichwort zu berichten (zitiert nach dem "Deutschen Wörterbuch", 10. Band,
Erste Abt., Leipzig 1905, S. 2280). Der Diskurs über Männer-Arbeit10 scheint
10
Auf eine Untersuchung der Unterschiede zwischen geschlechtsspezifischen Spielformen,
die auf eher "weibliche" oder eher "männliche" Arbeitsformen bezogen sind, muß hier
verzichtet werden. Hierzu mag der Hinweis genügen, daß sich bereits die Kinderspiele nach
Auskunft des Wörterbuchs der deutschen Sprache (Bd. 10, Leipzig 1905, S. 2286f.) unterscheiden lassen entweder nach Spielen der anstrengenden, der empfangenden, der
auffassenden und der lernenden Kraft oder nach Spielen der handelnden und gestaltenden
Kraft. Die Lokalisierung der (puren) Anstrengung (Plackerei) und der Empfängnis in der
Kultur des weiblichen Körpers und die Zuweisung der gestaltenden und herstellenden
Aktivität (Heldentat) in der Kultur des männlichen Körpers läßt sich nach Veblen (1981)
kulturgeschichtlich weit zurückverfolgen.
241
Abb. 19: Vergleich einiger Elemente der Vorstellungen über "Spiel" und "Arbeit"
bei Huizinga, Caillois und Marx
SPIEL
Freiheit der Tätigkeit bzw. Handlung:
Selbstbestimmtheit und Lust; Otium (Muße, Ruhe,
Nichts-tun)
ARBEIT
Unfreie Tätigkeit bzw. Handlung: Fremdbestimmtheit und Last, Unruhe; Neg-otium (Geschäft, Beschäftigung, Arbeit; Auftrag, Aufgabe)
Weitgehend "unproduktive" Betätigung: Freiheit
von fremden Zwecken, kein vergegenständlichter
Nutzen, kein dauerhaftes materielles Interesse
Gesellschaftlich "produktive", die (im)materielle
Realität transformierende Tätigkeit:
Konkret nützlich (Gebrauchswertbildend),
Erwerbscharakter (Tauschwertbildend)
Höhere Ungewißheit des Ablaufs und Ergebnisses,
gleichwohl Zwang, zu einem Resultat zu kommen;
oft eine stärkere Abhängigkeit des spielstrategischen Kalküls von Zufällen
Relativ stärkere zweckrationale Kalkulierbarkeit
des Ablaufs und der Ergebnisse mittels Organisation, Technik und Wissenschaft, wobei die zweckmäßige, zielgerichtete und planvolle Tätigkeit als
Element eines gesellschaftlichen Prozesses wirksam wird
Sondierung der Spiel-Welt von den praktischen
Nöten und Zwängen gesellschaftlicher Realität:
Besondere (freie) Zeit und besonderer (freier)
Raum
Vergesellschaftung der Arbeits-Welt vor allem
durch die Ökonomie der Zeit
Fiktive Betätigung:
Zweite Realität oder freie Unwirklichkeit
Wirkliche, praktische Tätigkeit zur Transformation
und Aneignung von "Natur" als Voraussetzung für
die Befriedigung menschlicher Bedürfnisse;
Technisierung, Organisierung, Verwissenschaftlichung
Geregelte Betätigung:
Ordnung und Gemeinschaftsverbände, Regeln und
Konventionen
Gesellschaftliche Regulation durch die gesellschaftliche Bestimmtheit des Nutzens und der
Produktionsverhältnisse sowie durch (betriebliche)
Organisation und Herrschaftsverbände
jedenfalls - besonders auf seiten der körperlich Arbeitenden - immer wieder
darum bemüht, den ernsten und schweren Charakter maskuliner Arbeitstätigkeit
hervorzuheben. Dem, was Gewicht hat und wichtig ist, wird in männlichen
Arbeitskulturen gerne das Leichte gegenübergestellt, das sich mit "Leichtfertigkeit" und "Schwäche" assoziieren läßt und mit unehrenhaften, weil unmännlichen
Attributen versehen ist.11
11
242
Der sarkastische Ton, den Plänitz (1983) mit der Wahl seines Buchtitels "Das bißchen Fahren..." angespielt hat, erinnert ironischerweise an einen Schlager Johanna von Koczians, in
dem die Geringschätzung weiblicher Hausarbeit karikiert wird ("Das bißchen Haushalt ist
doch nicht so schlimm, sagt mein Mann...").
Die bloße Gegenüberstellung von Arbeit und Spiel übersieht somit, daß der
spielerische Umgang mit schwierigen Anforderungen in der Arbeitspraxis einen
anderen Stellenwert gewinnt als dies in der geschlechtsgebundenen Körperkultur
oder in der körperfernen soziologischen Theorie eigentlich vorgesehen ist. Das
genaue Gegenteil von "Belastung", nämlich der spielerische und mühelose Umgang mit den harten Anforderungen der Arbeit erscheint dort weniger suspekt, wo
die kunstvolle, überlegene Beherrschung der Arbeitsaufgaben faktisch eine Form
von "praktischer Meisterschaft" (Bourdieu) hervorbringen kann. Gleiches gilt
auch für jene "Spielräume" in der Arbeit, die von der Humanisierungsforschung
als eine Chance zur Förderung und Selbstverwirklichung der Persönlichkeit
begriffen werden, soweit sie entlastende, das subjektive Wohlbefinden steigernde
"Freiheitsgrade" bei der Bewältigung der Arbeitsaufgabe zulassen.
Die Trennung von Spiel und Arbeit zu kritisieren darf jedoch nicht dazu verführen, ihre Identität zu behaupten. Was Spielarbeit und Arbeitsspiel tatsächlich
voneinander unterscheidet, ist erstens der Modus der Teilnahme, die entweder
durch "Eintritt" oder durch "Geburt" erfolgt, und zweitens das hierbei wirksame
eher "theoretische" oder "praktische" Verhältnis zur gegenständlichen Wirklichkeit der Welt. Ein Spiel ist danach eine in hohem Maße willkürliche und
künstliche soziale Konstruktion, deren Artefakt-Charakter in allem, was die
Selbständigkeit eines Spielfeldes betrifft (wie z.B. Regelhaftigkeit, Begrenztheit
und Außergewöhnlichkeit von Raum und Zeit)12, zum Ausdruck kommt (vgl.
Bourdieu 1987, S. 123), damit die Distanz, die mit dem Eintritt in ein Spiel
gewahrt bleiben muß, nicht auf dem Spiel steht.13 Ganz anders verhält es sich mit
dem "Spiel" in der gesellschaftlichen Arbeitspraxis, an dem man sich üblicherweise meist ohne "kritische" Distanz zu beteiligen pflegt.
"Dagegen entscheidet man sich in sozialen Feldern, die im Ergebnis eines langwierigen und
langsamen Verständigungsprozesses sozusagen Spiele an sich und nicht länger Spiele für sich
selbst sind, nicht bewußt zur Teilnahme, sondern wird in das Spiel hineingeboren, mit dem
12
13
Die Außergewöhnlichkeit der Spiel-Zeit gegenüber der Arbeitszeit kommt als wiederkehrendes Motiv in vielen Kinderfilmen zum Ausdruck, in denen beispielsweise durch den
magischen Akt der Zerstörung von Uhren das strenge Zeitregime der Erwachsenen zumindest vorübergehend gestört oder sogar vernichtet wird (vgl. z.B. "Hook" in der PeterPan-Verfilmung Steven Spielbergs oder auch "Momo" von Michael Ende). Die Besonderheiten des Spiel-Raums werden dabei meist auf die exotischen Schauplätze märchenhafter
Träume verlegt, zu denen wir nur durch Zelebrierung magischer Grenzüberschreitungen
vorzudringen vermögen.
"Mit dem Eintritt in das Spiel schließt man gewissermaßen einen bisweilen explizit formulierten Vertrag (olympischer Eid, Aufruf zum fair play, und vor allem Anwesenheit eines
Schiedrichters) an dessen Einhaltung alle gemahnt werden, die derart im Spiel 'aufgehen',
daß sie vergessen, daß es sich um ein Spiel handelt ('es ist doch bloß Spiel')" (Bourdieu
1987, S. 123).
243
Spiel geboren, und ist das Verhältnis des Glaubens, der illusio, des Einsatzes um so totaler und
bedingungsloser, je weniger es als solches erkannt wird. Das Wort Claudels, 'connaître c'est
naître avec' (erkennen heißt, mit etwas geboren sein), gilt hier uneingeschränkt, und der häufig
als 'Berufung' beschriebene langwierige dialektische Prozeß, durch den man 'sich zu dem
macht', durch das man gemacht wird, 'wählt', was einen wählt, und an dessen Ende die
verschiedenen Felder genau zu den Handelnden kommen, die mit dem für das reibungslose
Funktionieren dieser Felder erforderlichen Habitus ausgestattet sind, verhält sich zum Erlernen
eines Spiels ungefähr wie das Erlernen der Muttersprache zu dem einer Fremdsprache"
(Bourdieu 1987, S. 123f.).14
Auch wenn die Vorstellung eines "reibungslos" funktionierenden Zusammenspiels reproduktionstheoretische Mißverständnisse fördert und die Adäquanzbeziehungen zwischen Habitus und Feld überstrapaziert, muß betont werden, daß
die Spielmetaphorik in erster Linie einen heuristischen Wert hat, der auch zu
einer Untersuchung mikropolitischer Machtspiele (politics) führt. Dieser erkenntnisfördernde Charakter geht allerdings verloren, sobald das Spiel-Konzept
als der allein angemessene Forschungsansatz mißverstanden wird.
"Die Spielmetapher will den schroffen Gegensatz 'Spiel - Arbeit' aufheben. Sie will zeigen,
daß jede organisierte Arbeit Elemente des Spielerischen enthalten muß, auch wenn dies eine
puritanische Arbeitsethik mit ihren zentralen Kategorien von Pflicht, Leistung, Anstrengung,
Rationalität, Planbarkeit, Verläßlichkeit usw. verleugnen möchte" (Neuberger 1988, S. 77).
Die Verwendung der Metapher des Arbeitsspiels soll den ernsten, belastenden
und entfremdeten Charakter, durch den die Arbeitstätigkeit von Fernfahrern
gekennzeichnet ist, weder verharmlosen noch "überspielen". Es geht allerdings
auch nicht darum, das ambivalente subjektive Verhältnis der Fernfahrer zu ihrer
Arbeit nur als ein "falsches Bewußtsein" zu disqualifizieren. Die Vielfalt der
tatsächlichen Beziehungen der Berufskraftfahrer zu ihrer Arbeit lassen sich nicht
aus einer reinen Strukturanalyse der Gesellschaft oder aus der abstrakten ökonomischen Formbestimmung der kapitalistischen Produktionsweise "ableiten" (vgl.
auch Knapp 1981, S. 25). Statt dessen möchte ich Ansatzpunkte und Möglichkeiten aufspüren, wie Fernfahrer ihre belastende und riskante Arbeit spielerisch zu
bewältigen versuchen. Im Anschluß an klassische Definitionen des Spielbegriffs
bei Huizinga und Caillois soll die Annahme plausibel gemacht werden, daß in der
Fernfahrertätigkeit eine Vielfalt spielerischer Elemente enthalten sind und daß die
soziokulturelle Transformation der profanen Arbeit in ein Spiel maskuliner
Herausforderungen und Heldentaten als ein wichtiger Anknüpfungspunkt für die
Bewältigung arbeitsbedingter Anforderungen zu werten ist.
14
244
Eine Erstsprache erlernt man sprechend und lernt damit zugleich in statt mit dieser Sprache
zu denken, während das Erlernen einer Fremdsprache bereits auf der Grundlage einer
Sprachdisposition erfolgt, mittels derer die fremde Sprache als solche wahrgenommen wird,
d.h. als ein willkürliches, explizit in Form von Grammatik, Regeln und Übungen verfaßtes
Spiel (vgl. ebd., S. 24).
"Als geweihte Handlung kann das Spiel dem Wohl der Gruppe dienen, dann aber auf andere
Weise und mit anderen Mitteln als mit den unmittelbar auf das Erwerben des Lebensbedarfs
gerichteten. (...) Das Anderssein und das Geheime des Spiels findet seinen sichtbaren Ausdruck in der Vermummung. In dieser wird 'das Außergewöhnliche' des Spiels vollkommen.
Der Verkleidete oder Maskierte 'spielt' ein anderes Wesen. Er 'ist' ein anderes Wesen. Kinderschreck, ausgelassene Lustigkeit, heiliger Ritus und mystische Phantasie gehen in allem, was
Maske und Verkleidung heißt, unauflösbar durcheinander" (Huizinga 1962, S. 16f. und 20).
Huizinga hat in "Homo Ludens" auf den gemeinschaftsbildenden Charakter des
Spielens aufmerksam gemacht, der vor allem darin zum Tragen kommt, daß das
Spiel eine besondere, außeralltägliche (Sinn-)Welt konstruiert, die sich außerhalb
des gewöhnlichen Lebens abspielt und sich kraft ihrer geheimnisvollen oder
heiligen Außergewöhnlichkeit dem profanen Alltag gegenüberstellen läßt. Die
grundlegende Spannung zwischen der Welt des Sakralen und der profanen
Wirklichkeit wird im Spiel vor allem durch die Konvention bestimmter,
unantastbarer Spiel-Regeln, durch den mit der Teilnahme am Spiel einverleibten
Spiel-Sinn und durch ein Charisma des Außeralltäglichen erzeugt, mit dem
maskiert sich die Spielenden gegenüber der gewöhnlichen Welt hervorzuheben
vermögen.
"Die Regeln eines Spiels sind unbedingt bindend und dulden keinen Zweifel. (...) Der Spieler,
der sich den Regeln widersetzt oder sich ihnen entzieht, ist Spielverderber. Der Spielverderber
ist etwas ganz anderes als der Falschspieler. Dieser stellt sich so, als spielte er das Spiel, und
erkennt dem Scheine nach den Zauberkreis des Spiels immer noch an. Ihm vergibt die
Spielgemeinschaft seine Sünde leichter als dem Spielverderber, denn dieser zertrümmert ihre
Welt selbst. Dadurch, daß er sich dem Spiel entzieht, enthüllt er die Relativität und die Sprödigkeit der Spielwelt, in der er sich mit den anderen für einige Zeit eingeschlossen hatte. Er
nimmt dem Spiel die Illusion, die inlusio, buchstäblich: Die Einspielung - ein bedeutungsschweres Wort" (Huizinga 1962, S. 18f.).
Die Bedeutungsschwere dieser "Einspielung" der Handelnden aufeinander und
auf ein bestimmtes Spiel-Feld scheint auch Pierre Bourdieu (1987) überzeugt zu
haben, der in seinem Habitus-Feld-Konzept immer wieder auf die Spielmetapher zurückgreift, ohne allerdings die Kulturanthropologie der Spiele explizit
als Inspirationsquelle anzuführen (vgl. Kapitel 4.2).
Meine These ist, daß die sozialen Spiele der Fernfahrer erstens durch die
Betonung der außergewöhnlichen Arbeits- und Lebenswelt der Fernfahrer
gegenüber der profanen Welt industrieller Fabrikarbeit gekennzeichnet sind.
Zweitens fungiert der Männlichkeitsmythos, der vor allem von dem zum "letzten
Cowboy" und "Highway-Helden" hochstilisierten nordamerikanischen "Trucker"
verkörpert wird, als ein stilistisches Kernelement dieser Arbeits- und Berufskultur. Drittens unterstützen Kult und Spiele der Trucker die soziale Gruppierung
der LKW-Fahrer, zuweilen sogar die Entstehung von Gemeinschaftsverbänden
(Trucker-Klubs u.ä.), "die (...) sich gern mit einem Geheimnis umgeben oder
durch Verkleidung als anders als die gewöhnliche Welt herausheben" (Huizinga
245
1962, S. 20). Die Arbeits- und Lebenswelt der Fernfahrer bietet genügend
Gelegenheiten für eine weite Palette von Spielchancen, die hier nur in einigen
wesentlichen Zügen vorgestellt werden kann.
Wie jede Partialkultur ist auch die Arbeits- und Berufskultur der Fernfahrer,
sofern man von ihr überhaupt im Sinne eines relativ geschlossenen sozialen
Gebildes sprechen kann, einem historischen und soziokulturellen Wandel ausgesetzt. Aus der Vielzahl möglicher sozialer Spielformen können zahlreiche Spielvarianten an das "Trucker"-Spiel anknüpfen, ganz gleich, ob es sich um Wettkämpfe, um Darstellungen oder um rauschbezogene Spiele der Fahrer handelt.
Bei näherer Betrachtung läßt sich die Spieldefinition von Huizinga auch auf
die Arbeits-Spiele der Lastwagenfahrer anwenden. Zunächst sind die Spiele der
Fernfahrer als freie Handlungen zu bewerten, die in ihrem symbolischen Gehalt
zum Ausdruck bringen, daß sie außerhalb des gewöhnlichen Lebens und Arbeitens stehen und eigentlich auch nicht so gemeint sind. Obwohl das TruckerSpielen die Fahrer an ihren "geheimen" (sprich: vertrauten) Orten zu bestimmten
Zeiten "völlig in Beschlag nehmen" kann, so daß Traum und Wirklichkeit im
Kult und Mythos ineinanderzufließen scheinen, wird in der nüchternen (und
ernüchternden) Befragung kaum ein Trucker ernsthaft darauf bestehen, den
letzten Cowboy unserer Tage auch tatsächlich zu verkörpern oder eine Arbeit zu
verrichten, die wirklich so ist, wie es der Mythos behauptet. Die subtile, spannungsgeladene Ambivalenz von Schein und Wirklichkeit, (Selbst)Täuschung und
Wahrheit, die der unbewußte, "praktische Glaube" (Bourdieu) an den Mythos
ohne Schwierigkeiten auszuhalten scheint, zerbricht in dem Augenblick, wo die
Teilnahme am Spiel mit der Befragung über den "Sinn" des Spiels zerstört wird.
Und dennoch kann die mythische Identifizierung mit den Cowboys weiter unbefragt ihre Analogien und Sinnbilder produzieren (vgl. Abb. 20-22).
Die fundamentale Distanz zu den materiellen Interessen und zum instrumentellen Nutzen des Spiels ist ein weiteres Kennzeichen der Fernfahrerspiele, das
ihre Arbeit in einem anderen Lichte erscheinen läßt als dies die Ökonomie der
Zeit eigentlich verlangt. Besonders bei den "abhängig" beschäftigten Fahrern, die
sich im weiten Sinne des Wortes als selbständige Trucker fühlen, spielt die
Verdrängung des nackten ökonomischen Interesses, das ihrer Verwertung als
Arbeitskraft zugrunde liegt, eine wichtige Rolle. In Anlehnung an Untersuchungen von Pierre Bourdieu (1987, S. 205ff., hier: S. 211f.) über die Bedeutung des
"symbolischen Kapitals" bei den Bauern der kabylischen Gesellschaft, sieht es so
aus, als ob die Fernfahrer, die sich zu selbständigen "Truckern" berufen fühlen,
versuchten, die "Wahrheit" ihrer Transportarbeit durch die Verschleierung des
abhängigen, "ökonomischen" Charakters ihrer (Lohn)Arbeit zu verdrängen.
In seinen zahlreichen Facetten kommt im Trucker-Mythos ein geweihtes
Verhältnis zur Transportarbeit zum Ausdruck. Erstens wird die Arbeit gegenüber
der bloßen "Plackerei" vor allem fabrikmäßiger Arbeitstätigkeiten zu einer
246
Abb. 20: Fernfahrer als Cowboys von heute? Mythische Analogien I
"Fernfahrer - die Cowboys von heute?"
"Wir kennen die Bilder: rauhe, kernig-männliche Cowboys jagen über die Prärie; plötzlich halten sie
ein und genießen - natürlich eine bestimmte Zigarettenmarke. Seit einiger Zeit sieht man in ähnlichen Reklamen statt der Cowboys auch Fernfahrer, im amerikanischen 'trucker' genannt, die mit
starkem Arm hoch über den anderen Verkehrsteilnehmern ihre schweren LKW's selbstbewußt und
überlegen dreinblickend zum Ziel steuern.
Fernfahrer als Cowboys unserer Zeit? Der LKW mit der Kraft von 320 Pferdestärken als Pferd
dieser neuen Cowboys? Vieles ist an dieser Vorstellung übertrieben, eben werbewirksam. Ganz darf
man aber eine gewisse Portion Abenteuer und Freiheit nicht unterschlagen, wenn man sich fragt,
warum Fernfahrer ihren Beruf ausüben. Wenngleich bei nüchterner Betrachtung der damit verbundenen Tätigkeiten die Romantik deutlich zurücktritt. Denn mit dem Fahren allein ist es nicht getan. (...)
Auf der Autobahn überkommt ihn jetzt vielleicht jenes anfänglich angedeutete Gefühl von
Freiheit, denn er kann sehr selbständig arbeiten. Wie er jetzt seine Fahrt gestaltet, hängt ganz alleine
von ihm ab; er trägt aber auch die ganze Verantwortung dafür" (Müller-Kohlenberg 1984, S. 128f.;
Stichwort "Berufskraftfahrer/in").
männlichen Heldentat in Auseinandersetzung mit der Natur aufgewertet. Zweitens wird das Verhältnis zum Arbeitsmittel Lastkraftwagen mystifiziert. Dem
profanen Transportmittel werden dabei entweder magische Kräfte zugeschrieben,
indem der LKW z.B. als eine Art "Totem"15 fungiert oder zu einem lebendigen
Wesen, "Partner" oder "zweiten Ich" verdinglicht wird (vgl. auch Abb. 23). Drittens wird schließlich das Verhältnis zum Arbeitsgegenstand "verzaubert", sofern
die geleistete Transportarbeit jeweils danach bewertet wird, welcher Art die zu
transportierenden Güter sind. Vor allem Nutzviehtransporte scheinen unter
Truckern nicht sonderlich beliebt zu sein, obwohl gerade sie der Arbeitsaufgabe
der legendären Cowboys noch am nächsten kommen. Nutzviehtransporte machen
nicht nur zusätzliche Reinigungsarbeiten erforderlich, sondern gelten als
"schmutzig" und sind oft dem Spott der Kollegen ausgesetzt (vgl. z.B. den Spitz-
15
So habe ich beispielsweise einmal einen gelben Lastkraftwagen gesehen, der in stilechter
Manier des Wilden Westens mit dem Eigennamen "Yellow Eagle" versehen worden ist. Der
Adler als ein Sinnbild für die Freiheit hat vielen indianischen "Naturvölkern" in Nordamerika als Stammeszeichen oder als Totem gedient. Der Adler wurde als ein Beschützer
oder zauberischer Helfer, als ein übernatürliches Wesen, kurz: als ein "Totem" verehrt, das
"als Ahne oder Verwandter eines Menschen, eines Clans oder einer sozialen Gruppe gilt"
(Duden "Fremdwörterbuch" 1974, S. 733). Unter den amerikanischer Fernfahrern ist es
üblich, Tierbezeichnungen als Spitznamen zu verwenden (z.B. "Rubber Duck" im Spielfilm
"Convoy"), was an Traditionen indianischer Namensgebung oder an entsprechende Gepflogenheiten der nordamerikanischen Trapper und Waldläufer erinnert.
247
Abb. 21: Trucks und ihre Reiter - Mythische Analogien II
Rolf Mauer: "Trucks und ihre Reiter"
"Schon immer haben sie mich fasziniert, diese Schlachtschiffe der Highways, die Peterbilts, Macks
und Freightliners, die Kenworths, Whites und GMC's.
Und vom ersten Tag an, auf meiner ersten USA-Reise damals vor vielen Jahren, galt meine
Sympathie den Fahrern und mein Interesse jenen Einrichtungen im Weichbild der großen Städte, die
gleich an der Interstate ausschließlich für die Trucks und ihre Männer geschaffen wurden, den
Truckstops.
Hier, in den Reservaten der stählernen Dinosaurier ist alles zu haben, was ein Truck - und der
kommt immer an erster Stelle noch vor seinem Fahrer - braucht.
Neben Tankstelle und Ölwechsel- und Waschanlage gibt es einen Zubehörladen, in dem alles zu
finden ist, mit dem man einen LKW erst zu einem Fahrzeug macht, das den Namen 'Truck' verdient.
Z.B. CB-Funkanlagen jeglicher Reichweite (...), Windabweiser für die langen Motorhauben der
'Conventionals', die mehr zur Zierde als zur Abwehr von Insekten dienen dürften, und natürlich, 'first
of all', jede Art von Chrombeschlägen für die Eighteenwheeler. (...)
Wenn für den Cowboy das silberbeschlagene Zaumzeug und der über und über mit Ledergravuren überzogene Sattel als höchste Zierde des Mannes gelten, so hat diese Tradition ihre
Entsprechung im Chrombesatz der Trucks. Ganz vernarrte Trucker spendieren ihrem Gefährt sogar
eine Kühlerblende mit echter Goldauflage.
Der Mythos des Cowboys, wie es ihn in Wirklichkeit nicht gibt und auch niemals gegeben hat,
also die Legende vom freien und harten Mann, der einsam über die unendliche Prärie reitet, lebt
weiter mit den Truckern.
Natürlich fährt ein Trucker seinen Truck nicht, sondern er 'reitet' ihn, wie der Cowboy sein
Quarterhorse ('riding a truck'). Und so wie der Cowboy alleine seine Arbeit verrichtet, so lebt auch
der amerikansiche Fernfahrer meist zwangsläufig das Leben eines Einzelgängers.
Insofern unterscheidet er sich in nichts von den anderen Fernfahrern überall auf der Welt.
Und dennoch ist er etwas Eigenes, weil er den 'American Way of Life', den Pioniergeist seiner
Vorfahren, verinnerlicht hat.
Wo sonst auf der Welt, mal abgesehen von Australien oder Sibirien, gibt es diese unendlichen
Weiten eines riesigen Kontinents zu durchqueren?" (Aus: "Truck-Treff" Nr. 2/92, S. 40).
namen "Schweinestall" im Spielfilm "Convoy").16
Die Verzauberung der Transportarbeit trägt dazu bei, dem Fernfahrer die Entdeckung vorzuenthalten, "daß seine Mühsal Arbeit ist" (vgl. Bourdieu 1987,
S. 212, hier allerdings auf das Weiheverhältnis der kabylischen Bauern zu ihrem
Boden bezogen) und daß es sich in vielen Fällen "nur" um "abhängige" (Lohn)Arbeit handelt. In der Mystifizierung der Transportarbeit wird vor allem der
ökonomischer Charakter negiert, der die Transporttätigkeit nüchtern mittels
Geldmaß zu quantifizieren sucht. Auch die Marktgesetze des Gütertausches,
16
248
Die Fahrer solcher Transporte handeln ihrerseits durch eine Aufwertung ihres Transportgutes, z.B. mit dem Aufkleber "Achtung Turnierschweine!", durch den die Transporteure
edlerer Tierarten ("Achtung Turnierpferde!") verspottet werden, die sich als LKW-Fahrer
vom gewöhnlichen gewerblichen Straßengütertransport abzusondern versuchen.
Abb. 22: Der Trucker als Asphalt Cowboy - Mythische Analogien III
Tom Astor - die "Stimme der Trucker": "Ich bin ein Asphalt Cowboy"
"Manches arme Schwein
hockt im Büro 'rum,
blickt nur voll Verzweiflung
auf die Uhr.
Wenn ich so 'nen Job hätt'
müßte ich zur Kur:
Ich brauch so'n bißchen Abenteuer pur.
Vom Achtstundentag kann ich nur träumen,
doch ich hab's ja selber so gewollt.
Bin ich auch mal down,
weil mein Mädchen schmollt,
mein Fehler ist:
Ich bin nicht treu wie Gold.
Ich bin ein Asphalt Cowboy
mir gehört die Straße,
nur so hat mein Leben einen Sinn.
Ich glaub', wenn ich den Truck
mal wirklich stehen lasse,
dann bin ich nach einer Woche hin.
Ich bin ein Asphalt Cowboy,
ich brauch' dieses Leben,
lasse andre gern am Fließband stehn.
Und ich weiß, mancher würde sehr viel
darum geben,
mal mit mir auf große Fahrt zu gehn."
(1987 Ranger Records, Germany)
Tom der Reimer: "Trucker-Erinnerungen an den Nürburgring"
"Eine lebensnahe Brücke
schließt die unscheinbare Lücke,
die mit stillem Kompliment
Trucker von den Cowboys trennt.
Grobe Schraubenschlüssel scheppern,
und an schweren Sattelschleppern
sieht in ölverschmierten Kluften
man die harten Männer schuften. (...)
Sei's der Blick in weite Ferne,
sei's der Wunsch, daß jeder gerne
handelt auf sich selbst gestellt eine gleicht der andern Welt.
Mix von Cowboys und von Truckern;
Mädchen mit den Ohren schlackern,
seufzen schmachtend: 'Die sind super,
wie 'High noon' mit Gary Cooper.' (...)
Sei's, daß beiden teure Wesen
ohne großes Federlesen
sind zur Obhut übergeben auch ein Lkw hat Leben.
Weiblichkeit garniert den Rahmen,
manchmal Tussies, manchmal Damen,
knappe Hös'chen, pralle Schenkel,
leicht frivoles Wortgeplänkel. (...)"
Um die Freundschaft zu erhalten,
hat sich zu den Leitgestalten
eine, teils motorisiert,
Fan-Gemeinde etabliert. (...)
(aus: "Trucker" Nr. 9/91, "Truck-Race Spezial",
S. 61).
denen die Transportarbeit zu gehorchen hat, werden ausgeblendet (Geld gegen
Arbeitskraft pro Zeiteinheit oder gegen selbständige Transportleistungen). Ähnlich wie der LKW, der zu einem lebendigen Wesen verdinglicht wird, gewinnt
auch die Natur menschliche Züge, wodurch sich die Auseinandersetzung mit ihr
als ein Kampf "Mann gegen Mann" darstellt. Will ein Fernfahrer seine höchst
schwierige Aufgabe meistern, muß es ihm gelingen, die widrigen äußeren Um-
249
stände (z.B. Wetter- und Verkehrsverhältnisse) ebenso wie die behindernden
inneren Zustände (z.B. Müdigkeit) zu überwinden, um die äußere und innere
"Natur" in männlicher Art und Weise zu überwältigen und schließlich zu beherrschen. Es scheint so, als gehorchten Natur und Technik ebenfalls den Gesetzen
des Gabentausches, wonach sie nur denen ihre "Wohltaten" erweisen, die ihnen
mit Mühsal (und mit Ehrerbietung, die sich z.B. in der "pfleglichen" Behandlung
der LKW offenbart) Tribut zollen (vgl. Bourdieu 1987, S. 212; vgl. Abb. 23; zur
mythischen Bedeutung vgl. Kapitel 5.2).
Abb. 23: Lastkraftwagen als "zweites Ich"? Die Verdinglichung eines Arbeitsmittels
"Für viele ist das nur ein kalter und nackter Gegenstand, ein Haufen von Technik, der sich auf zwei
Achsen oder auf mehreren Achsen bewegt. Und ein Fahrzeug, das Produkte von A nach B oder C
transportiert. Aber für uns Fahrer, glaube ich, ist es doch ein bißchen mehr. Es ist praktisch unser zweites
Ich und darum legen wir auch soviel Wert in das Fahrzeug mit der Pflege und Ausstaffierung. Denn ich
sage mir immer: Wenn ich das Fahrzeug gut pflege, dann kann ich mich auch immer drauf verlassen. Und
es kann mal der Zeitpunkt kommen oder der Tag kommen, nicht wahr, wo ich ihm vielleicht mal mein
Leben verdanke, nur deswegen, weil ich ihn gut gepflegt habe. Und das ist nach meiner Meinung eben das,
sein Dankeschön dafür" (Günter Heimann, zitiert nach Prahl 1988; Hervorhebungen durch M.F.).
Eine "Verdinglichung" erfolgt, sobald menschliche Produkte nicht als von Menschen erzeugte Gegenstände betrachtet werden, sondern als etwas anderes erscheinen, als etwas Mystisches, das der menschlichen Kontrolle entzogen, ihr entfremdet ist (vgl. Marx 1973, S. 512ff.; Berger und Luckmann 1980, S.
94ff. sowie MEW 23, S. 85ff. zum "Fetischcharakter der Ware"). Für Huizinga (1962, S. 133) liegt das
Wesen aller Mythenbildung darin, Unkörperliches und Lebloses als Person darzustellen.
Wie andere Spiele auch, vollziehen sich die Kampf- und Darstellungsspiele der
Fernfahrer an bestimmten, meist vertrauten Orten "innerhalb einer eigens bestimmten Zeit und eines eigens bestimmten Raums" (Huizinga). Besonders
beliebt sind vor allem die Trucker-Feste, die Autobahnraststätten bzw. "Truck
Stops" oder einfach bestimmte Gaststätten, wo man sich trifft und die bei den
PKW-Fahrern oft den Ruf einer guten Gastronomie genießen. Die Außeralltäglichkeit der Spiele ist einerseits eine Folge widriger Umstände, die nicht zu allen
Zeiten und Gelegenheiten einen spielerischen Umgang mit der Transportarbeit
erlauben oder diesen zumindest vermiesen, andererseits aber steht die Zeitweiligkeit des Spiels nicht seiner prinzipiellen Wiederholbarkeit im Wege (vgl. auch
Huizinga 1962, S. 17).
In der Öffentlichkeit finden auf regionaler Ebene regelmäßig zahlreiche
Truck-Treffs, Trucker-Feste oder Trucker-Festivals statt (vgl. Abb. 24). Allein
in der Bundesrepublik strahlen etwa 31 Rundfunksender die einschlägige Country-und-Western-Musik aus und mit "Kilometer 330" wurde kürzlich noch alle
vierzehn Tage eine eigene Fernsehshow für Trucker bei RTL ausgestrahlt, moderiert von Jonny Hill, dem bekannten Country-und-Western-Star mit dem ame-
250
Abb. 24: "Truck-Treff" - ein Ort für Fernfahrerspiele
rikanischen Namen. Den kulturellen und kommerziellen Höhepunkt bildet aber
der alljährliche Internationale ADAC "Truck Grand-Prix" auf dem Nürburgring.
So läßt sich auch das letzte Kennzeichen des Spiels, seine Regelhaftigkeit, die
251
eine Art "praktischen" Glauben oder ein Eingespieltsein (inlusio) verlangt, in den
Arbeitsspielen der Fernfahrer wiederfinden. Von besonderem soziologischen
Interesse ist dabei die Annahme, daß das Spiel eine Herausbildung von "Gemeinschaftsverbänden" fördert, die sich geheimnisvoll geben und durch Verkleidung
von der gewöhnlichen Welt abzuheben versuchen (Huizinga 1962, S. 20). Nun ist
der Gemeinschaftsbegriff recht schillernd, wir können aber annehmen, daß
Huizinga ihn im wesentlichen der Entstehung von "Klubs" vorbehalten hat (vgl.
ebd., S. 21). Schlägt man Fernfahrerzeitschriften auf, so präsentiert sich hier eine
bunte Szenerie aus sogenannten "Trucker"- oder "Country- und Western""Clubs", die den dazu passenden Kult und Mythos vom Trucker als dem letzten
Cowboy unserer Tage mit viel Engagement und Leidenschaft pflegen.
Johan Huizinga hat gezeigt, daß das Spiel ein Kampf um etwas oder eine Darstellung von etwas sein kann (1962, S. 20). Genau dies scheint mir im wesentlichen auf die arbeits- und berufsbezogenen Spiele der Fernfahrer zuzutreffen. Zur
Maskierung und Verkleidung der Fernfahrer als "Trucker" gehören die einschlägigen Accessoires, die eine Kombination von Elementen aus der nordamerikanischen Fernfahrer-Kultur und der Country-und-Western-Szene bilden. Das
sind vor allem der obligatorische Cowboy-Hut, die dazu passenden Westernstiefel und andere bedeutungsvolle Gegenstände, besonders texanischer bzw.
südstaatlicher Provenienz. Diese für die Stilisierung unabdingbaren Accessoires
sind mittlerweile in jedem Truck-Shop oder Truck-Store von Sympathisanten
käuflich erwerbbar. Nicht nur für die Fahrer(innen) selbst, sondern selbstverständlich auch für die "Verkleidung" (sic!) der Lastkraftwagen ("Trucks") wird
ein umfangreiches Arsenal an "Profi-Zubehör" angeboten (vgl. z.B. Abb. 25).
Neben der materiellen Symbolisierung durch Accessoires präsentieren sich die
Kult-Spiele der Trucker auch in entsprechenden Praktiken und Vorstellungen,
die sich und anderen etwas vorstellen.
Bestimmte Sequenzen der Arbeitstätigkeit von Fernfahrern lassen sich in Form
eines Wettkampfes praktizieren, in dem bestimmte Nöte ihrer alltäglichen Arbeitsanforderungen (z.B. der Zeitdruck oder die Monotonie reizarmer Fahrsituationen) stilisiert in ein Wettkampfspiel überführt werden, das den Zeitaspekt
als eine maskuline Herausforderung interpretiert und die Eintönigkeit des Fahrens
mit Elementen kämpferischer Spannung auflädt (z.B. "Jumbo-Rennen" zwischen
einzelnen LKW-Fahrern, bevorzugt auf Highways oder Autobahnen oder das
zeitbezogene Zurücklegen einer bestimmten Strecke ohne unmittelbare Konfrontation zwischen zwei Rivalen). In der arbeitsfreien Zeit sind Wettkämpfe dieser
Art ein fast definitiver Bestandteil von Trucker-Festen, entweder in packenden
Aufführungen als "Truck-Race" oder in geruhsameren Varianten, mit denen die
Trucker ihre Fahrkünste auf andere Weise beanspruchen und zur Schau stellen
können (z.B. Geschicklichkeitsfahren oder Rangieren). In Anlehnung an den
legendären "Convoy" des gleichnamigen Kult-Films werden die Konvois und
252
Abb. 25: Ausgewählte Accessoires maskuliner Arbeitsspiele
Schaufahrten herausgeputzter Lastkraftwagen zu Höhepunkten solcher Festivals
der Selbstdarstellung, mit kämpferischen und feierlichen Akzenten.
253
Obwohl sich Wettkampf und Darstellung im Trucker-Kult zunächst als ein
Spiel interpretieren lassen, sind sie alles andere als bloße "Spielereien", die den
glaubhaften Maskeraden und Verkleidungen den nötigen Ernst fehlen ließen.
Johan Huizinga hat auf die Besonderheiten sakraler Darstellungen im Unterschied zu Kinderspielen (und zum Schau-Spiel, wie man ergänzen müßte) aufmerksam gemacht. Während die Darstellung eines anderen Wesens im Kinderspiel als eine Art "Scheinverwirklichung" zu verstehen ist, mit der etwas anderes
verbildlicht wird, weist die geweihte Vorstellung im Kult über die nur scheinbare
oder symbolische Realisierung eines Bildes von etwas hinaus: Die heilige Schaustellung "ist eine mystische Verwirklichung" (Huizinga 1962, S. 21), bei der
etwas Wirkliches, aber bis dahin noch Unsichtbares und Unausgedrücktes in der
Darstellung eine sakrale Form annimmt.
Wenn Huizinga schreibt, daß der Kult "eine Darstellung, eine dramatische
Vorstellung, eine Verbildlichung, eine stellvertretende Verwirklichung [ist]"
(ebd., S. 22), dann ist damit gemeint, daß die heilige Handlung in der Darstellung
kosmischen Geschehens nicht nur eine "Repräsentation", sondern auch eine
"Identifikation" enthält. In der Wiederholung des bereits Geschehenen (von dem
der Mythos berichtet), bringt der Kult eine Wirkung zustande, die in der sakralen
Handlung bildhaft vorgeführt wird (ebd.): Die Funktion des Kults "ist nicht
lediglich ein Nachahmen, sondern ein Anteilgeben oder Teilnehmen. Es ist ein
'helping the action out'", was von der Psychologie nüchtern als "identification
compensatrice" abgetan wird, als "repräsentative Handlung angesichts der Unmöglichkeit, eine wirkliche, auf das Ziel gerichtete Handlung auszuführen".
Soweit sich die Riten und Magien, die Mythen und Mysterien als ein "heiliges
Spiel" begreifen lassen, drückt sich in den ernsthaften Stimmungen und Haltungen der Kultgemeinschaft in und zu ihren sakralen Handlungen - anders als
dies im profanen Spiel der Fall ist - zugleich ein "heiliger Ernst" aus (vgl. Huizinga 1962, S. 25ff.), der mit dem profanen Ernst des praktischen Lebens und
Arbeitens allerdings nur wenig gemeinsam hat. Anders als in der Welt der praktischen Wirklichkeit und wirklichen Praxis, verbietet die Verschmelzung zwischen
Spiel und Glauben in der sakralen Praxis einer Kultgemeinschaft jene nüchterne
Frage nach dem empirischen Gehalt ihrer Wirklichkeitsvorstellungen, mit der
sich die abendländische Wissenschaft in ihrem Anspruch auf Wahrheit und
Vernunft von konkurrierenden Wissensformen abzugrenzen pflegt. Allein das
Spiel vermag die Paradoxie von Wissen und (Selbst)Täuschung, von Glauben und
Verstellung auszuhalten, solange die in der Vorstellung des Spiels behauptete
"Wesensidentität" zwischen Dingen verschiedener Ordnung - z.B. zwischen
einem Menschen und einem Tier oder zwischen einem Fernfahrer und einem
Cowboy - eine "mystische Einheit" voraussetzt, die über die bloße Verbindung
zwischen einer realen Substanz und ihrem bildlichen Symbol hinausreicht (vgl.
Huizinga 1962, S. 32; vgl. auch Schütz/Luckmann 1984, S. 178ff. zum Symbol).
254
Der Trucker-Kult und die dazu passenden Spiele der Fernfahrer sind dabei
von einem Männlichkeitsmythos durchdrungen (vgl. Abb. 26-28), den die Vorstellungen über den nordamerkanischen Cowboy kennzeichnet, jener Originalgestalt, der viele Fernfahrer ihre tiefste Verehrung zuteil werden lassen und mit
dessen Schicksal sie sich durch Identifikation persönlich verbunden fühlen.
Abb. 26: Ein "potentes Triebwerk" für den "King of the Road" - der Scania R 143 mit 450 PS
"Es ist kein Geheimnis, daß gerade die großen Scanias bei den Fahrern hoch im Kurs
stehen. Emotionen spielen hierbei sicherlich keine kleine Rolle. Scania war der erste
Truckhersteller, der weiland mit leistungsstarken Trucks der Leistungsexplosion vorgriff.
Der 14,2-Liter V-8-Motor galt lange als das potenteste Triebwerk, das in einem Truck
für Vortrieb sorgen konnte.
Die Motorenentwicklung ist inzwischen bei allen Herstellern weitergegangen. Der
'King' ist nicht mehr der Leistungskönig, die Konkurrenten haben ihn zumindest nominell
und auf dem Papier längst überholt. Am Image des 'King of the Road' konnte allerdings
niemand so richtig kratzen" (Aus: "Trucker" 5/93, S. 16).
Entscheidende materielle Voraussetzung für die Herausbildung eines berufskulturellen Männlichkeitswahns unter den LKW-Fahrern ist allerdings der geringe Frauenanteil (von 2,5%) unter den "Berufskraftfahrern" (vgl. Florian 1994).
Die Glaubwürdigkeit der Männerspiele hängt davon ab, inwieweit es gelingt,
weibliche und "weibische" Arbeitskräfte durch eine erfolgreiche "soziale Auslese" (Max Weber) der zur Transportarbeit im Straßengüter(fern)verkehr "Berufenen" auszuschließen. Die weitgehende "soziale Schließung" des Transportarbeitsmarktes für weibliche Arbeitskräfte macht es den Frauen zwar nicht völlig
unmöglich, diesen von Männern dominierten Beruf zu ergreifen, legt ihnen aber
offenbar wirksame Hindernisse in die berufliche Laufbahn, die eine Dominanz
männlicher Arbeitskräfte sichert (vgl. Abb. 29). An der subkulturellen Ausschließung der Fernfahrerinnen ist die abschreckende und einspielende Stilisierung des
Maskulinen, die von Fernfahrerzeitschriften und Truckermagazinen betrieben
wird, maßgeblich beteiligt (vgl. Abb. 27-29).17
Neben den berufskulturellen (Selbst-)Selektionsprozessen, die es weiblichen
Arbeitskräften als unattraktiv erscheinen läßt, Fernfahrerin zu werden oder
überhaupt werden zu wollen, sind die familienfeindlichen Arbeits- und Arbeits-
17
Auch wenn sich einzelne Artikel oder Leser(innen)briefe für die Gleichberechtigung von
Berufskraftfahrerinnen einsetzen (vgl. z.B. "Aus Liebe zum Fahren", in: Fernfahrer Nr. 4,
April 1992, S. 28-31), werden Frauen durch sexistische Witze, Bilder und Zubehörwerbung
diskriminiert und durch die vorherrschende, von maskuliner Metaphorik strotzende
Berichterstattung auch weiterhin "stilistisch" ausgegrenzt.
255
Abb. 27: Eine LKW-Fahrerin muß "ihren Mann stehen"
Tom Astor: "Ihr Leben, das ist ihr Laster"
"Sie tut es bei Tag und Nacht,
und sie hat Spaß daran.
Ihr Laster bringt ihr harte DM ein.
Sie tut, was eine Frau bestimmt sicher selten tut.
Sie fährt so'n schweres Ding von LKW.
Sie hängt auf der Autobahn oft für lange Zeit,
und manche Nacht da denkt sie an Zuhaus.
Sie hat's nicht leicht, doch sie sieht das alles nicht so
eng, denn sie ist kein Kind von Traurigkeit.
Ihr Leben, das ist ihr Laster
und ihr Make Up, das ist der Straßenstaub.
Sie macht jeden Tag Überstunden
und irgendwann gibt es Kurzurlaub.
Trouble gibt's auf jeder Tour
mit Zoll und Polizei.
Doch sie bleibt dabei immer ziemlich cool.
Sie jobt in einer Männerwelt,
boxt sich da ganz gut durch
und steht oft Tag und Nacht ihren Mann.
Ihr Leben, das ist ihr Laster
und ihr Make Up, das ist der Straßenstaub.
Sie macht jeden Tag Überstunden
und irgendwann da gibt es Kurzurlaub. (...)"
(Aus: Tom Astor - "Die Stimme der Trucker":
Compact Disk "Hallo Freunde", EMI Electrola 1987).
"Rallye-Einsatz in der Wüste: Eine Frau steht ihren Mann im Rettungsteam"
(Titel der Reportage "Rettungsengel in der Wüste" in "Fernfahrer" Nr. 5/93).
zeitbedingungen als ein wirksames Mittel zu nennen, eine Feminisierung dieses
"Männerberufes" zu verhindern, da die meisten Frauen auch heute immer noch
die Hauptlast familiärer Reproduktions- und Hausarbeit tragen. Es liegt wohl im
Sarkasmus der geschlechtlichen Arbeitsteilung begründet, daß die Ehefrauen oder
Partnerinnen im wahrsten Sinne des Wortes hinter ihren fernfahrenden Männern
stehen und ihnen den familiären Rücken freihalten müssen, damit sich viele
"Trucker" ihre Männlichkeitseskapaden überhaupt leisten können. Die Konflikthaltigkeit dieser prekären Familiensituation, in der der Mann und Vater tageoder sogar wochenlang von Zuhause fort bleibt, wird in vielen Fernfahrerliedern
und Truckersongs angedeutet. Ob es nun besonders Männer mit ausgeprägten
Ablösungsneigungen und "Intimitätsängsten" (Gilligan 1989) sind, die sich in
ihren Berufswahlen für Tätigkeiten mit einem hohen Anteil an Abwesenheit von
der Familie entscheiden (z.B. Fernfahrer oder Montagearbeiter), kann auf dem
gegenwärtigen Forschungsstand noch nicht beurteilt werden.
Die sakralen Vorstellungen der Männlichkeitsmythologie haben somit weitrei
hende Folgen für die soziale Strukturierung des Arbeitskräfteangebotes im
Straßengüterverkehr. Mit großem Ernst werden subkulturelle Abgrenzungen
gegenüber der profanen industriellen Arbeitswelt betrieben. Diese Trennungen
werden einerseits durch die sorgfältige Konstruktion geweihter Sonderwelten in
Zeit und Raum mit jeweils spezifischen Regeln und Ordnungen vollzogen.
Gegenüber der profanen Wirklichkeitsorientierung zeichnet sich das sakrale
Weltbild andererseits durch ein fundamentales Desinteresse an allen materiellen,
256
Abb. 28: Starke Laster - nur für starke Männer?
Anzeige des polnischen LKW-Herstellers JELCZ - Jelczanskie Zaklady Samochodowe, Wroclaw,
in: "Logistics Technology International", 1992
insbesondere ökonomischen Werten aus, durch das sich das Ideal männlicher
Ehre und Tugend gegenüber der gemeinen Gier nach nacktem Nutzen hervorhebt.18 Ein wichtiger gesellschaftlicher Bezugspunkt dieser soziokulturellen
18
Die Abwertung rein ökonomischer Leistungen muß allerdings spätestens seit Verbreitung
der protestantischen Ethik etwas relativiert werden, wo sich die Tauglichkeit, Kraft und
Vortrefflichkeit eines Menschen auch im wirtschaftlichen Erfolg präsentieren darf, der sich
als gottgefällig und edel erweist gegenüber allen verabscheuungswürdigen Formen des
Lasters, aber auch gegenüber "unwürdigen" Wirtschaftsbetätigungen (wie das Schachern
oder die Kreditvergabe). Pierre Bourdieu hat dazu beigetragen, den ökonomischen Charakter zu entschlüsseln, der in dem symbolischen "Kapital" der Ehre enthalten ist.
257
Abb. 29: "Aus Liebe zum Fahren"? Frauen in einem von Männern dominierten Beruf
"Die 'Männersache auf der Straße'. Die Diskussion über die Rolle der Frauen am Steuer eines Trucks
bleibt aktuell."
"Leider bleiben die Probleme der angehenden 'Trucker-Ladies' auf der Strecke. Seit Oktober '89 besitze ich
den Führerschein Klasse 2 und bin erst einmal mit nach Spanien gefahren. (...) Seither suche ich ohne Erfolg
einen Job. Warum macht man uns Frauen den Einstieg ins Truckerleben so schwer? (...) Wann bekommen
wir unsere Chance? Leider ergeht es vielen Frauen so wie mir. Die meisten geben dann irgendwann auf.
Doch das ist nicht mein Ziel" (Leserinnenbrief von Conny Wendtlandt in "Truck-Treff" Nr. 6/91, S. 10).
"Aus Liebe zum Fahren: Michaela Lamberty aus Worms hat ihren Traum wahrgemacht. Sie erlernte
den Fahrerberuf und setzte sich durch. (...) Frauen sind eine Normalität im Berufsleben geworden, im
Fernverkehr aber, einer der letzten Männerdomänen, sind sie nach wie vor eine kleine Minderheit, durch
gesundheitsamtliche Vorschriften benachteiligt, durch mangelnde sanitäre Einrichtungen in Rasthöfen
gehandikapt, von den Herren der Laster skeptisch beobachtet und von vielen Chefs nicht ernstgenommen.
(...) Und über allem schwebt das trügerische Gefühl, immer und jederzeit 'den Mann stehen zu müssen', um
akzeptiert zu werden. Der Mut, den immer mehr Frauen aufbringen, sich im Transportgewerbe durchzusetzen, ist daher nur zu bewundern. (...) Michaela Lamberty liebt ihren Beruf, sie liebt Lastwagen, und sie
liebt das Fahren. Sie weiß, daß es kein Job für labile Naturen ist und daß man einen gewaltigen Schuß
Selbstvertrauen braucht, wenn die Disponenten am Schalter immer wieder nach dem Fahrer fragen und wenn
man aus europaweitem Mangel an ausreichenden Damenduschen einen befreundeten Kollegen als Aufpasser
vor die Tür stellen muß. Aber sie wünscht sich, daß noch mehr Frauen eingestellt werden. Un sie wünscht
sich einen Mann, der sie so nimmt, wie sie ist. Hart und herzlich" (Jan Bergrath in: "Fernfahrer" Nr. 4/92, S.
28-31).
"Marion Funk (24) fährt als Bkf-Umschülerin Verteiler- und Stückgut bei Amberger auf MB 813. (...)
Ich fahre hier Stückgut: Deckel auf, Deckel zu, sage ich immer - und möchte, wenn ich meinen Berufskraftfahrer in der Tasche habe, Fernverkehr fahren. Denn so fahrplanmäßig wie das für Audi läuft, das wär'
mir echt zu lasch. Im internationalen Fernverkehr zu fahren finde ich besser, du hast weniger Ladestellen und
siehst mehr von der Welt. Daß das harter Alltag ist, weiß ich auch. Einen Hauch von Abenteuer wünscht sich
doch jeder, und sein wir mal ehrlich: Ein normaler Laschi macht diesen Job doch sowieso nicht" (Interview
aus "Trucker" Nr. 7/90, S. 66).
"Feindbild Frau? Schön, daß ihr auch einmal eine Frau am Lkw-Steuer vorgestellt habt. In einer Zeit, von
der man meinen sollte, daß die Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau endlich in allen Bereichen des
Lebens ihren Einzug gehalten hat, werden wir Frauen hinter dem Steuer eines Lkw immer noch wie
exotische Wesen, die sich im Job verirrt haben, behandelt. Die meisten Firmen lehnen es ja von Haus aus ab,
überhaupt ein Einstellungsgespräch mit einer Fahrerin zu führen. (...) Hat man es endlich geschafft und sitzt
als Fahrerin auf dem Bock, wird man tagtäglich mit fehlendem Verständnis für unsere Berufswahl konfrontiert. Entweder bezeichnet man uns als Mannweiber oder zweifelt daran, daß wir unsere Arbeit genauso
gut oder vielleicht besser als die männlichen Kollegen verrichten können. (...) Die dümmsten Sprüche
kommen von Leuten im Lager und auf der Straße, die vom Fernfahrerjob kaum Ahnung haben. Auch der
Gesetzgeber schikaniert uns nach wie vor mit den völlig überflüssigen ärztlichen Voruntersuchungen, die aus
einer Zeit stammen, in der das Fernfahrerleben noch knüppelharte Arbeit war" (Leserinnenbrief von Monika
Eckert aus "Fernfahrer" Nr. 7/90, S. 82).
Unterscheidungen ist die soziale Teilung der Arbeit, die in vielen Kulturen als
geschlechtliche Arbeitsteilung den Frauen das Recht auf und die Pflicht zu den in
der Gemeinschaft besonders hoch bewerteten kämpferischen Betätigungen
vorenthalten hat (vgl. auch Veblen 1981). Die Privilegierung maskuliner Arbeitsund Spielfelder erscheint mir indes alles andere als "vollkommen natürlich", auch
258
wenn Huizinga belegt, "daß bei vielen Völkern das Wort für Tugend aus dem
Begriff Männlichkeit herauswächst" (1962, S. 68):
"Die Tugend des edlen Mannes ist das Bündel von Eigenschaften, die ihn fähig machen, zu
kämpfen und zu befehlen. (...) Tugend, Ehre, Adel und Ruhm stehen folglich von Anfang an
im Kreise des Wettkampfs, d.h. des Spiels. Das Leben des jungen adligen Kriegers ist beständiges Üben in der Tugend und beständiger Kampf um die Ehre seines hohen Standes."
Während Huizinga das Spiel nur nach Kampf und Darstellung unterscheidet, fügt
der französische Kultur- und Religionssoziologe Roger Caillois (1960, S. 18ff.)
dieser Einteilung mit dem Rausch eine weitere Spielart hinzu. Durch eine weitere
Differenzierung der Spiele mit einer stark kämpferischen Note nach ihrer jeweiligen Spielhaltung, die beim "Wettkampf" bestimmte Anstrengungen verlangt,
einen unter den gleichen Bedingungen agierenden Rivalen zu besiegen (während
der Herausforderer beim "Glücksspiel" weitgehend passiv auf eine positive
Entscheidung des Schicksals wartet), erhält Caillois schließlich eine SpielTypologie, in die sich nahezu alle bekannten Spiele einordnen lassen.
So kennzeichnet Caillois (1960, S. 19f.; vgl. auch Neuberger 1988, S. 68ff.) vier grundlegende
"Spielformen" (Agôn, Alea, Mimicry und Ilinx), je nachdem, ob bei dem Spiel das Moment des
Wettstreits, des Zufalls, der Maskierung oder des Rausches vorherrschend ist. Darüber hinaus
differenziert er zwischen zwei komplementären "Spielweisen", wobei Paidia für Ausgelassenheit, für unkontrollierte Phantasie, für bloßes Vergnügen, freie Improvisation und unbekümmerte Lebensfreude steht, also für eine Art unreguliertes, chaotisches Lustprinzip, während
Ludus das Prinzip der Regel und der konventionellen Ordnung vertritt ("Disziplinierung" oder
"durch Regeln gezähmte Aktivität", vgl. Neuberger 1988, S. 70).
Im Anschluß an die Spiele-Typologie von Caillois lassen sich die Arbeitsspiele
von Fernfahrern entsprechenden Spielformen zuordnen (vgl. Abb. 30), auch wenn
die Abgrenzung der Typen wegen der vielen Überschneidungen nicht allzu streng
ausfallen darf. Entscheidende Voraussetzung für die Arbeits- und Berufsspiele
der Fernfahrer ist allerdings, daß sie einen Beruf ausüben, dessen Tätigkeit,
Arbeitsmittel oder Arbeitsgegenstände
# sich für die Austragung eines sportlichen Wettkampfes (agôn) oder für die
Herausforderung der Magie des Zufalls, Schicksals oder Glücks (alea) eignen,
# der zur Selbst- und Fremdtäuschung (mimikry) geeignet ist, um sich und
anderen vorzuspielen, daß die ausgeübte Tätigkeit mehr darstellt als eine
profane "Arbeit" und
# der schließlich von den Berufstätigen aufgrund seiner Leistungsanforderungen
eine besondere, außergewöhnliche Beherrschung von Körper, Nerven und
Aufmerksamkeit verlangt, die unter Umständen durch den Mißbrauch von
Drogen (ilinx) künstlich erzeugt werden kann (und muß) oder der selbst zu
rauschähnlichen Erfahrungen des "workaholics" oder zu sogenannten "flowexperiences" (Csikszentmihalyi) führen kann.
259
Abb. 30: Ein Vorschlag für die Einteilung beliebter Spiele der Arbeits-, Berufs- und Festkultur
der Fernfahrer (im Anschluß an eine Spieltypologie von Caillois 1960)
AGÔN
Wettkampfspiele
Leistungswettkämpfe
ALEA
Glücksspiele
Würfelspiele
Chance
MIMICRY
Verwandlungsspiele
Verkleidungsspiele
Verstellung und
(Selbst)Täuschung
ILINX
Rausch
Ekstatische Spiele
LKW-Fahren
# als besondere
Herausforderung
der Person
# als besondere
persönliche und
sportliche Leistung
LKW-Fahren
# als Herausforderung
des Schicksals oder des
Glücks
# als riskantes Ereignis
(unter Aussicht auf
einen Gewinn)
Vorstellungen und
Darstellungen des
Trucker-Mythos in der
Arbeits- und Berufskultur der Fahrer, vor
allem vermittelt
Geschwindigkeits- und
Beschleunigungsrausch
Rivalität um eine besondere Eigenschaft:
Schnelligkeit, Kraft,
Ausdauer, Geschicklichkeit, List, Beherrschung der LKWTechnik
Heraufbeschwören
einer Gefahr, die sich
für die Herausforderung des Schicksals
eignet und die erfolgreich zu bestehen ist
(z.B. "Deutsches Roulett"1 als Lust auf Risiko)
Beispiele von Wettkämpfen:
# Fahrleistung
("Jumbo"-Wettrennen
auf der Autobahn,
gegenseitiges Überholen als Duell)
# Arbeitsleistung
(gemessen als Kilometerleistung, über die
Zeitdauer oder in
Km/h; auch als erzählte
Geschichten über außergewöhnliche Leistungen, besonders unter widrigen Umständen)
# Festival-Kultur
(Truck-Race, Hindernis- und Geschicklichkeitsfahrten)
Wetten über die
Erbringung einer
außergewöhnlichen
Leistung unter widrigen, persönlich nicht zu
beeinflussenden Umständen
"Glück gehabt" als
Ursachenattribution
nach Beinahe-Unfällen
oder einem "Sekunden-Schlaf"
# über Intellektuelle
und über Medien wie
z.B. Trucker-Magazine
und Fernfahrer-Zeitschriften oder die
Musik-Kultur
# durch den Countryund-Western- bzw.
Trucker-Kult
# bei Trucker-Festen
und Festivals
Drogenmißbrauch
(Tabletten, Alkohol,
Drogen, Aufputschmittel als Muntermacher)
lebensgefährliche
Grenzerfahrungen
(z.B. "Deutsches
Roulett"1 oder "Roulett
mit Mut"1, Spannung,
Erregung, Nervenkitzel
oder "Angstlust"2;
Sensation-Seekers,
Flow-Experiences,
Volksfeste [Drehschwindel, Geisterbahn] etc.)
Rennfahrten
Besessenheit von einer
Aufgabe oder leidenschaftliche Hingabe an
eine Tätigkeit
("Mein Laster ist mein
Laster")
))))))))))))))))))))))
1 Vgl. die Beispiele bei Volmerg (1978, S. 141ff.) über einige "regressive" Formen der Abwehr von industriellen
Arbeitsbelastungen.
2
260
"Diese Mischung von Furcht, Wonne und zuversichtlicher Hoffnung angesichts einer äußeren Gefahr ist das
Grundelement aller Angstlust (thrill)" (M. Balint: Angstlust und Regression, Stuttgart 1960, S. 21, zit. nach:
Volmerg 1978, S. 142).
Was die Spielweisen betrifft, so stehen Wettkämpfe und Glücksspiele für den
Bereich der Regel (ludus), während die Verwandlungsspiele und der Rausch eine
weitgehend ungeregelte Welt (paidia) voraussetzen, "in der der Spieler ständig
improvisiert, sich seiner sprudelnden Phantasie oder einer überlegenen Inspiration
anvertraut, die alle beide keinen Kodex anerkennen" (Caillois 1960, S. 85).
Abb. 31: "Auf Achse" - ein spannendes Gesellschaftsspiel um Brummis, Frachten und Moneten
"AUF ACHSE
ein spannendes Familienspiel für 2 - 6 Spieler ab 8 Jahren. Brummis, Frachten und Moneten
beherrschen die Transportszene zwischen Flensburg und Verona. Der Wettbewerb der Spediteure erfordert ausgeklügelte Routenplanung und optimale Ausnutzung der Ladekapazität. Überlegtes Handeln und ein bißchen Glück bringen maximalen Gewinn" (Quelle: "Wir wollen Spiele", Katalog
des F.X. Schmid-Verlages).
Als Außenstehender mag man die Leidenschaft vieler Fernfahrer für einen
spielerischen Umgang mit ihrem Beruf und ihre Passion für eine höchst riskante
Erwerbsarbeit belächeln oder für verrückt halten. Die Grenzüberschreitungen
zwischen Traum und Wirklichkeit sind aber nur möglich, weil die Transporttätigkeit der Fernfahrer "objektive" Elemente enthält, die sich als Risikoträger eignen
und sich zum Spielen verwenden lassen. Die Arbeitsspiele fördern dabei zugleich
eine Ästhetisierung der Transportarbeit und eine Kultivierung der mit ihr verbundenen Risiken. Die verschiedenen Medien, über die sich eine symbolische
Aufwertung der Transportarbeit und der Fahrer abspielt, sind: hochdramatische
LKW-Rennen (Truck Grand-Prix, Weltmeisterschaften im Truck Racing), span261
Abb. 32: "Fernfahrer" - Traum und Wirklichkeit im Roman
"Ernst D. Bull, 'Fernfahrer - Mit 450 PS Karlsruhe - Lissabon' (...)
Es gibt sehr wenige Bücher, in denen die Erlebnisse der Fernfahrer aus der Sicht eines Autors geschildert
werden, der das Leben auf der Landstraße und auf den Autobahnen aus eigener Erfahrung kennt. Ernst D.
Bull war viele Jahre für die Spedition Leible in Baden-Baden unterwegs. Und beim Blättern durch diesen
leicht zu lesenden Roman erkennt man auch sofort, daß hier ein Mann aus der Praxis erzählt. Einer, der
wirklich weiß, wie es zugeht in einem Fernverkehrsfahrerhaus, an der Grenze beim Zoll und an den
Rasthöfen unterwegs. Er erzählt seine Geschichte mit aller Härte, aber durchaus auch mit dem zynischen
Witz eines Mannes, der weiß, daß er seiner eingefahrenen Schiene nicht mehr entkommen wird, der aber
trotzdem im Laufe der Jahre eine abgehobene Position bezogen hat, wo ihn so leicht nichts erschüttern kann.
Er weiß auch, daß man, je länger man in diesem Beruf des Fernfahrers arbeitet, mehr und mehr Abschied
nimmt vom 'normalen' Leben. (...) Witzig beschreibt er (...) sein Fahrzeug und bringt gleichzeitig zum
Ausdruck, daß man schon ein starkes Naturell und möglichst viele Attribute der Kraft mitbringen muß, um
im rauhen Fernfahrer-Alltag bestehen zu können. Hier allerdings kommen Elemente ins Spiel, die auf den
unbefangenen Leser erschreckend wirken können. Als Fernfahrer wird bei Ernst D. Bull eben nur einer
anerkannt, der mindestens nach Spanien oder Portugal fährt. (...)
Im weiteren Verlauf ist zu lesen, daß sich manche, die nur Deutschland-Frankreich fahren, mitunter auch
als Fernfahrer bezeichnen und manchmal sogar Kieskutscher oder Tankwagenfahrer. Man weiß, daß diese
Leute schon auch Fernfahrer sein können und mit diesem Beruf auch die selben Probleme haben, wie ein
Spanien- oder Portugal-Fahrer. Aber eine Rang- und Hackordnung muß eben schon auch sein unter den
Kapitänen der Landstraße.
Soweit entspricht die Schilderung noch ganz und gar der Realität. Irgendwo in der zweiten Hälfte des
Buches kippt die Schilderung der Fernfahrerrealität dann um und der Autor gerät weit in die Niederungen des
Groschenromans. (...) Vielleicht ist es auch ganz einfach so, daß es ihm zu trivial erschien, einfach zu
erzählen, wie der Asphaltkapitän nach seiner langen Tour heimkehrt zu Frau und Kindern und dort mit den
Problemen des Alltags seiner Familie konfrontiert wird. (...) Da kratzt er kurz vorher noch die Kurve und
bringt eine Traumfrau ins Spiel. Jessica von Schallenberg nennt er sie. Sie vereint alle Eigenschaften in sich,
die ein Trucker vielleicht bei seinen Touren der Frau seiner Träume andichtet. (...)
Diese Liebesgeschichte, so banal sie auch ist, verdient aber nicht nur Kritik. Ohne diese Episode wäre
das Buch halt kein Roman, sondern nur eine Grau-in-Grau-Schilderung eines Berufsalltags. Und dadurch,
daß Ernst D. Bull die Realitätsschiene verläßt und Traum und Wirklichkeit ineinanderfließen läßt, offenbart
er das Geheimnis des Phänomens, warum ein echter Trucker so sehr an seinem Beruf hängt und nicht mehr
davon loskommt. Der Beruf des Truckers hat zwar seine Schattenseiten wie jeder andere Beruf auch, er läßt
aber mehr Platz für die heimlichen Träume und Sehnsüchte, die wir alle in uns haben. Und vielleicht ist die
Möglichkeit, daß wenigstens ein Teil davon Wirklichkeit wird, beim Trucker doch ein klein wenig größer als
bei anderen Menschen.
Kurzum, daß Buch sollte man gelesen haben, wenn man etwas tiefer in die Seele der Männer blicken
möchte, die hinter dem Steuer der PS-Monster auf den Straßen Europas unterwegs sind" (Otto Thaler in:
"Truck-Treff" Nr. 2/92, S. 18).
nende Gesellschaftsspiele ("Auf Achse", vgl. Abb. 31; das Quartett-Kartenspiel
"Renn Trucks"), Romane (z.B. Ernst D. Bull: "Fernfahrer - Mit 450 PS Karlsruhe
- Lissabon", vgl. Abb. 32), Spielfilme und TV-Serien ("Auf Achse" mit Manfred
Krug, bereits seit 1978 im Programm) sowie ein Abenteuer-Urlaub als LKWMitfahrer, den ein westdeutscher Reiseveranstalter anbietet.
In krassem Gegensatz zur subkulturellen Aufwertung der Freiheit und Abenteuer des LKW-Fahrens steht aber immer noch der berufliche Alltag der Fernfahrer, an dessen harten Anforderungen auch die letzte Spur von Romantik und
262
Spielerei zu ersticken droht. Wie verträgt sich der geringe soziale Status der
Fernfahrer, die im deutschsprachigen Kulturraum vom Berufsprestige her oft als
"Hilfsarbeiter mit Führerschein" bezeichnet werden, mit den skizzierten symbolischen Ambitionen der Fahrer? Sind die verwegenen Spiele und Mythen, die
sich um den Beruf des Fernfahrers ranken, vielleicht sogar als eine besondere
subkulturelle Form des Umgangs mit Risiken zu verstehen, mit der sich die
Fahrer um einen Ausgleich ihrer schwachen Verberuflichung bemühen, dabei
zugleich aber - paradoxerweise - selber einen entscheidenden (sub)kulturellen
Beitrag zur sozialen (Re)Produktion ihrer riskanten Arbeitsbedingungen leisten?
Mit dem Versuch, plausible Antworten auf diese Fragen zu finden, werden im
nächsten Kapitel die Fernfahrermythen als Bezugspunkt sozialer Gruppierungsprozesse untersucht, bevor sich dann im letzten Kapitel der Horizont der
Betrachtung wieder schließt, indem das Anfangsmotiv - Heldenmythos und
männliche Arbeitskultur - erneut aufgegriffen wird und die berufskulturellen
Einflüsse der Mythen auf die gesellschaftliche Reproduktion der Arbeits- und
Berufsrisiken dargelegt werden.
5.2
Fernfahrermythen als Bezugspunkt sozialer Gruppierung?
Möglichkeiten und Grenzen kollektiver Risikobewältigung
In der Arbeits- und Berufssoziologie wird die Herausbildung einer sozialen
Gruppierung meist als ein Anzeichen dafür gewertet, daß die Träger dieser
Gruppenbildung nunmehr besser in der Lage sind, sich kollektive Handlungsressourcen anzueignen und für die eigenen arbeits- und berufspolitischen Interessen einzusetzen. Der soziale Zusammenschluß dient dabei dem Schutz vor
Arbeits- und Berufsrisiken, jedenfalls insoweit, als sich die informellen
Gruppierungen in den Betrieben und die Gruppenbildungen auf überbetrieblicher
Ebene (Gewerkschaften, Berufsverbände etc.) als eine kollektive Reaktion auf
"spannungsträchtige Aspekte der Arbeitssituation" einordnen lassen (vgl. Beck et
al. 1980, S. 181).
Die Schutzfunktion sozialer Netzwerke ist auch von der Streßforschung
erkannt worden, soweit die soziale Unterstützung - neben bestehenden Entscheidungs- und Kontrollspielräumen - als eine wichtige Ressource für die Bewältigung von Stressoren betrachtet wird (vgl. Frese und Semmer 1991). Weitgehend
ungeklärt ist bislang allerdings die Frage geblieben, welche Bedeutung die
soziale Unterstützung riskanter Verhaltensweisen bei der Entstehung und Bewältigung von Stressoren gewinnt und welcher Stellenwert einer nur eingebildeten,
imaginären Unterstützung zukommt, für die es weder meßbare Interaktionsbelege
noch beobachtbare "instrumentelle" Hilfeleistungen gibt. Inwieweit sind affektive
und kognitive Formen sozialer Unterstützung tatsächlich wirksam und auch
263
empirisch nachvollziehbar, wenn sich Bewunderung und Respekt vornehmlich
aus mythischen Quellen speisen und die Bestätigung der ethischen und sachlichen
Richtigkeit des Arbeitsverhaltens berufsgruppenspezifischen Wertmaßstäben
folgt, denen die allgemeine gesellschaftliche Anerkennung vorenthalten wird?
Auf die gleichen Schwierigkeiten, sich zwischen Mythos und Realität entscheiden zu müssen, stößt die soziologische Mythenjagd auch dort, wo es um die
Anerkennung der sozialen Existenz einer beruflichen Gruppierung geht.
Als eine Organisationsform für spezialisierte Arbeitstätigkeiten entstehen
Berufe vor allem dort, wo besondere Arbeitsleistungen angeboten werden, wo der
Zugang gegenüber "Ungelernten" abgeschottet und eine "Kompetenzdomäne"
mittels Monopolisierung des eigenen Arbeitsbereiches gegen Konkurrenz gesichert wird (vgl. Beck et al. 1980, S. 35ff.). Im Interesse einer guten Vermarktung des besonderen, beruflich organisierten Arbeitskraftangebotes müssen sogenannte "Jedermannsqualifikationen" vermieden werden, d.h. das betreffende Arbeitsvermögen muß möglichst unverzichtbare und dringend benötigte Fähigkeiten
enthalten, die nicht nur selten, schwer zugänglich und weitgehend unersetzbar
sein sollten, sondern auch vor Konkurrenzangeboten geschützt sind und an vielen
verschiedenen Arbeitsplätzen eingesetzt werden können (vgl. ebd., S. 39).
In "subjektbezogenen" Berufskonzepten19 werden der Berufsform über den
Schutz vor Dequalifizierung, Konkurrenz und Ausbeutung hinaus auf dem
Arbeitsmarkt auch Orientierungs-, Entlastungs- und Gegenmachtfunktionen für
die Arbeitenden zugeschrieben, als Grundlage für die Entwicklung vielfältiger
berufspolitischer Strategien (vgl. ebd., S. 81ff.). Ohne den Strategiebegriff
überstrapazieren zu wollen, kann die Herausbildung einer Berufskultur in diesem
Zusammenhang die Abgrenzung und Hervorhebung der zum Besonderen "Berufenen" gegenüber den nur zu gewöhnlichen Jedermannstätigkeiten Befähigten
symbolisch wie materiell unterstützen. Die Unentbehrlichkeit und Nicht-Ersetzbarkeit eines Berufes muß jedoch abgesichert und mittels sozialer Auslese gegen
die Aspirationen Unberufener verteidigt werden. Üblicherweise geschieht dies
durch die exklusive Aneignung begehrter materieller und symbolischer Ressourcen, d.h. durch Akkumulation von ökonomischem, kulturellem und sozialem
"Kapital" (Bourdieu) - beispielsweise in Form gesellschaftlich anerkannter
Eingruppierungen, Entgeltansprüche oder Bildungstitel.
19
264
In Abgrenzung von "subjektiven", d.h. sozialpsychologischen, interaktionistischen oder rein
handlungstheoretischen Sichtweisen in der Berufssoziologie verstehen Beck et al. (1980,
S. 14f.) unter "subjektbezogen" eine Perspektive, die gesellschaftliche Strukturen unter dem
Aspekt ihrer objektiven Konsequenzen für die Individuen betrachtet (offenbar auf ähnliche
Weise, wie Max Weber soziale Strukturgebilde dem Handeln einzelner "zugerechnet" hat),
wodurch die Einheit von Person und Beruf - vor allem aber die (persönlichen) Bedeutungen
des gesellschaftlichen Phänomens 'Beruf' für die Arbeitenden - in den Mittelpunkt der
Betrachtung gestellt wird (ebd., S. 14 und 20).
Der soziale Sinn solcher berufskulturellen Unterscheidungspraktiken liegt zum
einen in dem Schutz vor unzumutbaren Risiken, die in den Unternehmen arbeitsund leistungspolitisch nicht durchsetzbar sind. In den kollektiven Vorstellungen
über die Angemessenheit und Verbindlichkeit bestimmter Arbeitsleistungen und
-risiken kommen immer subkulturell gestützte Wertmaßstäbe und Zumutbarkeitsnormen zum Ausdruck, die den Neulingen innerhalb beruflicher Sozialisations- und Selektionsprozesse vermittelt werden.20 Andererseits dienen Berufskulturen aber nicht allein dem Schutz vor Risiken, sondern auch der Überlieferung und Weiterentwicklung beruflicher Erfahrungen. Die innere Kohärenz und
äußere Sondierung beruflicher Subkulturen verlangt die soziale Konstruktion
einer gemeinsamen "Sinnwelt", die als eine symbolische Ressource den sozialen
Prozeß der Unterscheidung, Abgrenzung und Identifizierung unterstützt und über
subkulturelle Formen und Praktiken auch wahrnehmbar macht (z.B. durch die
Stilisierung arbeitsbezogener Kommunikation im beruflichen Jargon).
Der vergleichsweise geringe Status der Berufskraftfahrer in der Bundesrepublik ("Hilfsarbeiter mit Führerschein"), die ungenügende soziale Anerkennung
ihrer beruflichen Kompetenzen und qualifizierten Tätigkeit sowie die mangelnde
Legitimität ihres Berufsbildungstitels zeigen indessen, daß die Lastkraftwagenfahrer offenbar große Mühe haben, eine geeignete berufspolitische Schutz- und
Gestaltungsstrategie zu entwickeln (vgl. Kapitel 2.2). Das Qualifikationsprofil
der Fernfahrer weist zu wenig seltene und exklusive Besonderheiten auf, um die
(mittels Führerscheinerwerb) leicht zugänglichen Kernfähigkeiten des LKWFührens gegenüber konkurrierenden Arbeitskraftanbietern mit Jedermannsqualitäten behaupten zu können.
Meine These ist deshalb, daß die geringe Aneignung materieller und sozial anerkannter "symbolischer" Ressourcen die Fernfahrer dazu drängt, auf illegitime
und letztlich auch riskante Formen berufspolitischer Abgrenzung und Hervorhebung zu setzen. Die Verklärung ihrer relativ großen Dispositionsspielräume zu
einem Kennzeichen selbstbestimmter Arbeit und die Verzauberung ihrer außergewöhnlich hohen Leistungsbereitschaft zu einem Attribut von Männlichkeit sind
als prekäre Versuche zu werten, die Spannung zwischen der profanen Alltäglichkeit industrieller Arbeitsformen und der zur "Außeralltäglichkeit" hochstilisierten
Besonderheiten der transportierenden Arbeit für eine berufskulturelle Grenzzie20
Angesichts der sozial isolierten Arbeitssituation der meisten Fernfahrer kann eine rigorose
berufliche Sozialisation durch den Kollegenkreis allerdings nur in begrenztem Umfang
wirksam werden (62,2% der von Plänitz befragten Stichprobe von 230 Fernfahrern waren
permanente Alleinfahrer, vgl. 1983, S. 84). Die Truckstops bzw. Raststätten, die Verladeoder Zollstationen als Orte der beruflichen Zusammenkunft haben nicht jenen unausweichlichen Charakter, der das enge räumliche Zusammenleben etwa bei den Feuerwehrleuten ausmacht, die nach amerikanischen Studien (z.B. McCarl 1980) ein recht ausgeprägtes informelles System zur Auslese der Novizen entwickelt haben.
265
hung zu nutzen. Die "Mystifizierung" der Transportarbeit in den schillernden
beruflichen Mythologien der Fernfahrer ist damit als eine - allerdings mit geringer Legitimität ausgestattete - Variante aus dem Arsenal berufspolitischer "Unersetzbarkeits- und Unverzichtbarkeitsstrategien" zu begreifen.21
Nüchtern betrachtet sind die riskanten Arbeitsleistungen der Fernfahrer als ein
"Preis" zu verstehen, den die Berufskraftfahrer für die gesellschaftliche Anerkennung und die symbolischen Entlohnungen ihres Berufes zu zahlen haben, der
trotz aller Mythologisierung immer noch am unteren Ende beruflicher Prestigeskalen rangiert. Es sieht so aus, als ob die eigenartige Konstellation zwischen
einer schwachen Verberuflichung und einer starken Arbeits(zeit)leistung einerseits der symbolischen Vereinigung und Aufwertung der zur Transportarbeit
"Berufenen" dient, andererseits dazu verwendet wird, um die Abgrenzung der
"Hilfsarbeiter mit Führerschein" gegenüber einfachen Jedermannsqualifikationen
zu begründen. Die soziale Herstellung der Nichtalltäglichkeit dieses
Allerweltsberufes mit zweifelhafter Qualifikation scheint im wesentlichen mit der
Herausbildung einer besonderen ständischen Berufskultur der Fernfahrer verbunden zu sein. In einer schon fast wahnwitzigen Manier ignorieren viele LKWFahrer den geringen sozialen Status, der ihrer Berufstätigkeit in unserem Kulturraum gemeinhin zugeschrieben wird, und nehmen für sich jene positive Privilegierung in der sozialen Schätzung "typisch wirksam" in Anspruch, die Max
Weber (1980, S. 179) als Kennzeichen einer gemeinsamen ständischen Lage
begriffen hat.
Mit dem Begriff der ständischen Lage verbindet Weber eine typische Komponente eines
gemeinsamen Lebensschicksals von Menschen, die durch eine spezifische (positive oder
negative) soziale Einschätzung der "Ehre" bedingt ist, die sich an irgendeine gemeinsame
Eigenschaft vieler knüpfen kann (1980, S. 534; Hervorhebungen durch M.F.). Meine Annahme
ist, daß die Fernfahrermythologie (besonders der Trucker-Mythos) in ihren verschiedenen
Variationen von dem gemeinsamen Lebensschicksal der Fernfahrer erzählt und daher in
besonderem Maße zu ihrer "Vergemeinschaftung" beiträgt, d.h. soziale Beziehungen zwischen
den Fahrern fördert, die "auf subjektiv gefühlter (affektueller oder traditionaler) Zusammengehörigkeit der Beteiligten [beruhen]" (Weber 1980, S.21). Das grundlegende Thema, das die
Mythologie der Fernfahrer immer wieder behandelt, ist dabei eine spezifisch geartete maskuline Lebensführung, die jedem Trucker offenbar zugemutet wird, "der dem Kreise angehören
will" (vgl. ebd., S. 535). Die berufsständische Ehre, d.h. das hervorgehobene Berufsprestige,
das von vielen Fernfahrern beansprucht wird, begründet sich vor allem durch die den Fahrern
eigene Art der Lebensführung und die entsprechenden Lebensformen, die die besondere Art
des Berufs mit ihren spezifischen Arbeitszeit- und Arbeitsbedingungen im Straßengüterfernverkehr den Fahrern normalerweise abverlangt.
Ihren praktischen Ausdruck findet die "ständische Lage" der Fernfahrer vor allem in einer
Aneignung der von ihnen als "privilegiert" bewerteten Erwerbschancen, in der Verabscheuung
21
266
Die Möglichkeiten, die Arbeit zu mystifizieren, reichen offenbar weit über den bislang
berufssoziologisch (an)erkannten Rahmen hinaus, in dem "Berufsgeheimnisse" (vgl. Beck
et al. 1980, S. 84f.) als Vortäuschung von Unverzichtbarkeit wirksam werden.
von Erwerbstätigkeiten in Fabrik und Büro sowie in spezifischen ständischen Konventionen,
die über entsprechende berufskulturelle Traditionen gesichert und weitervermittelt werden. Die
öffentlich zur Schau gestellte Härte und Männlichkeit fungiert dabei wie ein Magnet, der die
Berufenen anzieht und die Ungeeigneten abstößt. Die beruflichen Subkulturen der Fernfahrer
leistet dadurch einen maßgeblichen Beitrag zur sozialen Schließung des Berufsfeldes mittels
Exklusion der für die Bewältigung maskuliner Herausforderungen gänzlich Unbegabten, die
sich auch für die unehrenhafte Plackerei der entfremdeten, bürokratisch organisierten Fabrikarbeit nicht zu schade sind.
In ihren Arbeitsspielen, Mythen und Legenden präsentieren sich viele Lastkraftwagenfahrer als Träger besonderer, charismatischer Eigenschaften. Ihre sakrale
Autorität und die auf dem Felde beruflicher Ehre erworbene "Qualifikation"
scheinen die Fernfahrer nur durch die ständige "Bewährung" ihrer Kräfte innerhalb des Arbeitslebens zu gewinnen und zu behalten, einem Arbeitsleben, das
zu einer Art Kriegsschauplatz verzaubert wird, auf dem die Arbeitsleistung zu
einer asketischen und kriegerischen Heldentat im täglichen Kampf gegen die
natürlichen und gesellschaftlichen Feinde (Raum, Zeit, Ermüdung, Witterungsbedingungen, Polizei, Gewerbeaufsicht etc.) hochstilisiert wird. Als "Asphalt
Cowboys", als "Highway Helden" oder - etwas europäischer - als "Kapitäne der
Landstraße" stellen sich die Fernfahrer dar, als seien sie "mit übernatürlichen oder
übermenschlichen oder mindestens spezifisch außeralltäglichen, nicht jedem
andern zugänglichen Kräften oder Eigenschaften [begabt]" (Weber 1980, S. 140),
einem "Charisma", aus dem sich die außeralltägliche, besondere Qualität der
einzelnen Fahrerpersönlichkeiten zu speisen scheint.22
Die berufliche Passion der Fernfahrer als eine Form der persönlichen Hingabe
an ihre Arbeit fungiert gewissermaßen als Gegenleistung, vielleicht sogar als
Beweismittel ihrer permanenten Bewährung, mit dem sie ihre außergewöhnliche
Be-Gabung sichtbar verkörpern und jederzeit unter Beweis zu stellen vermögen.
Die praktische Bewältigung der für eine charismatische Beziehung zu Arbeit und
Beruf typischen Spannung zwischen der Außeralltäglichkeit der Leistung in
22
In einer Würdigung von Webers professions- und berufssoziologischen Studien hat Seyfarth (1989, S. 387) zu Recht darauf hingewiesen, daß die Berufsanalytik von Weber im
Kern ansetzt "an der elementaren Spannung von Alltäglichkeit und Alltag, dem 'Ruf' nach
außeralltäglichen Leistungen in außeralltäglichen Situationen der 'Not' und den beruflichveralltäglichten (und der Möglichkeit nach immer auch außeralltäglichen) Formen der
Erbringung dieser Leistungen". Während die gewerkschaftspolitische Stärke der offenbar
gesichts- und gestaltlosen Industriearbeiterschaft in den gängigen Klischees gerne auf die
Gleichartigkeit ihrer sozialen Lage und das daraus erwachsene Solidaritätsgefühl zurückgeführt worden ist, stehen bei vielen LKW-Fahrern eher Unabhängigkeit und Individualität
im Vordergrund. In den Truckerklischees wird die Lösung von Konflikten auf eine
unmittelbare Konfrontation mit dem "Chef" zurückgeführt ("Mann gegen Mann"). Als
schlimmste Feindin der Individualität wird die Anonymität öffentlich vor allem mit Hilfe
des Namensschildes hinter der Windschutzscheibe bekämpft.
267
außeralltäglichen Situationen der Zeit-Not und der Tendenz zu einer Veralltäglichung der Arbeitsleistung im Beruf, bleibt stets konfliktgeladen und immer nur
vorläufig, sofern eine Bewältigung dieser Spannungen jenseits der Ambivalenz
von Leidenschaft und Leiden, Lust und Last überhaupt gelingen kann.
Ist es aber überhaupt möglich, von der Vorstellung eines in der Öffentlichkeit
präsentierten, charismatisch aufgeladenen Berufsbildes auf die gesellschaftliche
und (sub)kulturelle Existenz einer Berufsgruppe zu schließen? Handelt es sich bei
der Bezeichnung "Fernfahrer" oder "Berufskraftfahrer im Güterfernverkehr" lediglich um eine statistische Kategorie der beruflichen Klassifikation, oder können
wir mit Fug und Recht behaupten, daß sich aus dem Kreise der Berufskraftfahrer
eine Art beruflicher Gruppierung herauskristallisiert hat, ein relativ dauerhaftes
soziales Gebilde, dem mittels kollektiven Handelns eine Einflußnahme auf die
Bewältigung arbeits- und berufsbedingter Risiken zuzutrauen ist? Kann man bei
Fernfahrern, denen gewöhnlich eine starke Neigung zum Individualismus nachgesagt wird, angesichts der Heterogenität ihrer Tätigkeitsfelder und "Klassenlagen" überhaupt von einer gemeinsamen "sozialen Identität" sprechen? Sind die
Probleme der amtlichen Berufsstatistik, die Anzahl derer präzise zu bestimmen,
die der Kategorie der Berufskraftfahrer im Güterfernverkehr zuzurechnen sind,
nicht als ein Warnsignal gegen voreilige Gruppierungsannahmen zu werten?
In den Sozialwissenschaften wird heute meist ein für makrosoziale Gebilde
ungeeigneter Gruppenbegriff verwendet, der den Phänomenbereich sozialer
Gruppierungen auf kleine Gruppen mit hoher Interaktionsdichte reduziert.
Eine soziale Gruppe umfaßt eine bestimmte Zahl von Mitgliedern, die zur Erreichung eines
gemeinsamen Zieles über längere Zeit in einem relativ kontinuierlichen Kommunikations- und
Interaktionsprozeß stehen und ein Gefühl der Zusammengehörigkeit (Wir-Gefühl) entwickeln,
wobei zur Erreichung des Gruppenziels und zur Stabilisierung der Gruppenidentität ein System
gemeinsamer Normen und eine Verteilung der Aufgaben über ein gruppenspezifisches Rollendifferential erforderlich ist (Schäfers 1980, S. 20; im Original kursiv hervorgehoben). Die mit einer vordergründigen Magie der Zahlen verbundene - Willkürlichkeit ist schon erstaunlich, mit der die Gruppensoziologie vorgibt, die Grenzen ihres Gegenstandsbereiches
präzise abstecken zu können. So wird die Mitgliederzahl "bei Kleingruppen zwischen drei und
etwa 25 Personen" und bei "Großgruppen" auf "über fünfundzwanzig bis ungefähr 500 bis
1000 Personen" (Schäfers 1980, S. 21, 23) festgesetzt.
Was geschieht, wenn eine Gruppe die "magische Grenze" von 25 Personen überschreitet?
Schlägt dann tatsächlich immer "Quantität" um in "Qualität", auch ohne Berücksichtigung der
besonderen inneren und äußeren Kontextbedingungen einer Gruppe? Was ist mit sozialen
Gebilden, die aus mehr als 1000 Personen bestehen und auf die dennoch zumindest ein Teil der
genannten Definitionskriterien zutreffen, beispielsweise die sich im "Wir-Gefühl" ausdrückende Unterscheidung zwischen Dazugehörenden und Fremden oder ein wie auch immer
geartetes "System gemeinsamer Normen und Werte als Grundlage der Kommunikations- und
Interaktionsprozesse" (Schäfers)? Wo soll eine Grenze gezogen werden zwischen Sozialgebilden, die noch als "soziale Gruppe" bezeichnet werden können und jenen, auf die die verabredeten Kriterien nicht mehr zutreffen? Wie ist mit Gebilden umzugehen, bei denen die Mitglieder (und ein Teil der Außenstehenden) an die Existenz einer Gruppe glauben und in ihren
268
Handlungsweisen so tun, als ob sie existierte, die soziale Gruppe aber den auf Kleingruppen
fixierten Definitionsstandards nicht vollständig entspricht?
Bei aller Berechtigung, die soziale Präsenz, Wirksamkeit und Dauerhaftigkeit
gesellschaftlicher Gruppierungen nach dem Ausmaß ihrer offiziellen Anerkennung, dem Grad ihrer Repräsentativität und nach ihrer Fähigkeit zu unterscheiden, über die bloße Existenz in mentalen Vorstellungswelten hinaus auch in den
Arenen kollektiver politischer Handlungspraxis mitzuwirken, sollte die "Existenz" beruflicher Gruppierungen nicht von vornherein als ein statistisches Artefakt behandelt oder als ein "ideologischer" Trugschluß ignoriert werden. Die rigide Verfahrensweise in der (Klein-)Gruppensoziologie, mit allen makrosozialen
Gruppierungsphänomenen empirisch kurzen Prozeß zu machen, sobald sie durch
das enge Netz quantitativer Indikatoren fallen, ist von einem "naiven Realismus"
befallen, "der eine Gruppe nur als eine durch unmittelbar sichtbare Grenzen definierte Population charakterisieren kann" (Bourdieu 1987, S. 299) und dadurch die
willkürliche Magie der Grenzsetzung innerhalb eines natürlichen Kontinuums
von Unterschiedlichkeit ignoriert. Da sich die Entstehung einer neuen sozialen
Gruppierung in den wenigsten Fällen neutral gegenüber bestehenden
Verteilungsstrukturen materieller und symbolischer Ressourcen verhält, muß die
Gruppe mit ihrer Institutionalisierung zugleich auch eine Neu-Ordnung des
sozialen Raumes erwirken, in dem sie sich sozial zu positionieren, d.h. zu "setzen", versucht.
"Ordnung einführen heißt Unterscheidung einführen, heißt die Welt in entgegengesetzte
Wesenheiten aufteilen (...). Die Grenze läßt den Unterschied und die unterschiedlichen Dinge
hervortreten, 'durch eine willkürliche Setzung', wie Leibniz in Übersetzung des ex instituto der
Scholastik schrieb, einen regelrechten magischen Akt, der den kollektiven Glauben, d.h. das
Nichtwissen um seine eigene Beliebigkeit, voraussetzt und hervorbringt; dieser Glaube setzt
getrennte Dinge als getrennt, und zwar durch eine absolute Unterscheidung, die nur durch
einen anderen magischen Akt durchbrochen werden kann, durch die rituelle Übertretung.
Natura non facit saltus: es ist die Magie der Setzung (institutio), die im natürlichen Kontinuum,
dem Netz der biologischen Verwandtschaft oder der natürlichen Welt, den Bruch einführt, die
Teilung, nomos, die Grenze, die die Gruppe und ihr einzigartiges Brauchtum ausmacht (...), die
willkürliche Notwendigkeit (nomô), durch die die Gruppe sich als solche bildet, indem sie
setzt, was sie eint und absondert. Der kulturelle Akt überhaupt besteht darin, die Linie nachzuzeichnen, die einen gesonderten und begrenzten Raum schafft (...)" (Bourdieu: 1987, S. 369f.).
Es bedarf nun wenig soziologischer Phantasie, sich vorzustellen, daß die gegenüber unmittelbaren Sozialkontakten weitgehend isolierte, durch ein hohes Maß an
Mobilität gekennzeichnete Arbeitssituation im Straßengüterverkehr den Aufbau
eines stabilen Netzwerkes sozialer Beziehungen unter den Fernfahrern stark
behindert. Ständige und dauerhafte, durch zeitliche und räumliche Kopräsenz
gekennzeichnete Formen direkter Kooperation innerhalb von Kleingruppen sind
während der Transportarbeit selbst kaum realisierbar (wenn man die immer
seltener vorfindbare Dyade einer Zwei-Personen-LKW-Besatzung nicht gerade
269
als eine typische Arbeitsgruppenkonstellation fassen möchte und kooperative
Formen der Lade- und Hilfstätigkeiten einmal ausklammert). Aber auch wenn
die Transporttätigkeit im Straßengüterfernverkehr als klassischer Vorläufer
individualisierter Arbeitsformen23 erscheint, lassen sich dennoch Indizien finden,
nach denen die Berufskraftfahrer wie eine soziale Gruppe zu behandeln wären.
In einer Studie über die soziale Gruppenbildung unter Lastkraftwagenfahrern
hat John F. Runcie (1971) gezeigt, daß die LKW-Fahrer in den USA offenbar
eine gemeinsame Berufsgruppe und Berufskultur entwickelt haben, obwohl sie
keines der üblichen (klein)gruppensoziologischen Kriterien erfüllen - wie z.B.
die kleine Anzahl und geringe räumliche Distanz zwischen den Mitgliedern, die
permanente Mitgliedschaft oder häufige "Face-to-face"-Interaktionen. Die
Population der Fahrer ist sehr groß, als Folge ihres mobilen Arbeitsplatzes sind
sie räumlich weit verstreut, ihre Interaktionsmuster sind in hohem Maße diskontinuierlich und während der meisten Zeit ihrer Arbeitstätigkeit haben sie nur
geringe Möglichkeiten zu unmittelbaren "Face-to-face"-Interaktionen (vgl.
Runcie 1971, S. 35). Folgt man den bekannten gruppensoziologischen Annahmen, dürften die Fahrer also keine soziale Gruppierung bilden und auch
keines der sekundären Merkmale sozialer Gruppen aufweisen (z.B. Konsensus
unter den Mitgliedern, ein gruppenbedingtes Selbstbild oder eine gemeinsame
berufliche Kultur; vgl. ebd.).
Mit Hilfe von Tiefeninterviews und teilnehmender Beobachtung hat Runcie
jedoch herausgefunden, daß sich die nordamerikanischen LKW-Fahrer auf der
Grundlage gemeinsamer beruflicher Erfahrungen selbst als Mitglieder einer sozialen Gruppe betrachten. Darüberhinaus sind die Fahrer auch als Träger einer
fortentwickelten beruflichen Kultur zu identifizieren, mit der sie sich durch Herausbildung einer besonderen, berufsbezogenen Kommunikation (Jargon, Gesten
und Humor) - vor allem aber durch einen eigenen Musikstil - symbolisch gegenüber Außenstehenden abgrenzen (vgl. ebd., S. 105ff.). Mittels berufskultureller
Grenzziehungen markieren die Fahrer somit den von ihnen beanspruchten Platz
innerhalb des sozialen Raumes beruflicher Positionen.
23
270
Wir dürfen gespannt sein, wie sich die Informatisierung der gesellschaftlichen Arbeit auf
den Transportbereich auswirken wird, der ohnehin schon durch soziale Isolation und
technisierte, "mediale" Kommunikationsformen gekennzeichnet ist. Aber auch für eine
Prüfung der "Individualisierungsthese" (vgl. z.B. Beck 1983 und 1986) bieten die Fernfahrer ein geradezu ideales Untersuchungsfeld, und zwar vor allem deshalb, weil die Tendenzen berufskultureller Formen der Gruppenbildung unter den Fahrern dem behaupteten
Individualisierungstrend entgegenlaufen. Die Berufskultur der Fernfahrer zeigt, daß die
"Diversifizierung und Individualisierung von Lebenslagen und Lebenswegen" (Beck 1983,
S. 36) durch Prozesse sozialer Auslese und Schließung sowie durch "Selbsteliminierung"
(Bourdieu) begrenzt werden und daß die "Ent-Traditionalisierung" ständischer Milieus
durch eine berufskulturelle Traditionsbildung unterlaufen wird.
"By utilizing distinctive jargon, humor, gestures, and music, the truck drivers are able to mark
off a space within the total spectrum of the occupational world and say to the rest of the
people, 'This is out of bounds for you, you do not understand and therefore you do not know
how to act.' (...) By suggesting that something is out of bounds for another, the truck drivers are
placing themselves within the boundary and include in there any other person who can do the
actions that a truck driver does. By setting the boundaries, the truck drivers have built a culture
(...)" (Runcie 1971, S. 135).
Die "qualitativen" Indikatoren für die Existenz einer Berufsgruppe sind hier eng
mit der Entstehung einer gemeinsamen beruflichen Kultur verbunden. Die gleichen Merkmale, die Runcie veranlassen, die US-amerikanischen Trucker als eine
soziale Gruppe zu charakterisieren, lassen sich interessanterweise auch bei
deutschen LKW-Fahrern nachweisen.
Der Berufsjargon ist ebenso wie die während des Fahrens verwendeten signifikanten Gesten
ein wichtiger Bestandteil des praktischen beruflichen Wissens von Berufskraftfahrern. So
verhilft der Jargon aufgrund seiner Abkürzungen zu einer schnellen, leichten und klaren
Verständigung, bezieht sich inhaltlich auf die technische Ausrüstung, auf relevante Tätigkeiten
und handelt von bedeutsamen Personen und Dingen, denen die Fahrer in ihren alltäglichen
Situationen begegnen und dient nicht zuletzt auch der sozialen Bindung24 jener, die ihn
verstehen und sprechen können (vgl. Runcie 1971, S. 117ff. und das auf S. 289ff. abgedruckte
"Wörterbuch"). Die während des Fahrens zu beobachtende nonverbale Kommunikation mittels
Gesten und Signale (und die im CB-Funk zu hörende verbale Kommunikation) erfüllt neben
ihrer Unterstützung bei der sozialen Schließung wichtige Aufgaben, was die Anzeige von und
Warnung vor Gefahren angeht (z.B. Warnung vor Unfällen oder Staus, Hinweis auf eine
"Radarfalle" der Polizei oder einen Kontrollpunkt der Gewerbeaufsicht, Anzeigen von Einschermöglichkeiten nach einem Überholmanöver durch kurzes Betätigen der Lichthupe,
Begrüßungs- und Dankrituale mittels Lichthupe oder Blinker etc.).
Soweit Humor und Anekdoten gemeinsame Wertorientierungen artikulieren, spielen sie eine
wichtige Rolle beim Erhalt subkultureller Grenzen (vgl. ebd., S. 122ff.) und tragen neben der
Musik mit dazu bei, das Image und die Mythologie der fahrenden "Helden der Highways"
gegenüber Außenstehenden sowie untereinander zum Ausdruck zu bringen (vgl. S. 128ff.). Die
auflagenstarken deutschsprachigen Zeitschriften für Fernfahrer, das Fernfahrer-Magazin
"Trucker" und das internationale Truck-Magazin "Fernfahrer" haben eine Humor-Seite und
Cartoons eingerichtet, auf der neben dem Fernfahrer-Humor, "Trucker-Sprüchen des Monats"
etc. häufig auch Witze abgedruckt werden, die entweder die Fernfahrerthematik berühren oder
sich mit Frauen bzw. mit sexuellen Anspielungen befassen und dadurch ein betont "maskulines" Image verbreiten, das zuweilen noch durch un- oder leichtbekleidete Pin-up-Girls sowie
durch sexistische Werbeanzeigen "garniert" wird.
Die Country-und-Western- oder Trucker-Musik, der 1992 sogar noch eine eigene Fernsehsendung bei RTL Plus reserviert worden war ("Km 330"), hat mittlerweile bei vielen
24
Wie Edward Gross (1965, S. 98) betont, hilft ein ausgeprägter Argot nicht nur, Kollegen zu
identifizieren und die Kommunikation unter ihnen zu fördern, sondern darüber hinaus
symbolisiert der Gruppenjargon zugleich die Stärke der Bindungen zwischen den Kollegen
und versorgt einen "with an infallible way of recognizing the competent and experienced
since only they will be able to use the language with facility".
271
Radiosendeanstalten feste Programmzeiten erhalten und kann auch im deutschen Sprachraum
auf eine feste Fan-Gemeinde blicken. Auf zahlreichen Festivals, Festen und Truck-Treffen
pflegt diese Musikrichtung samt der dazugehörigen Accessoires den Cowboy- und TruckerMythos und leistet dabei eine entscheidende Symbolisierungsarbeit für das maskuline Selbstbild des heldenhaften, hochleistungsfähigen, sexuell potenten und begehrenswerten Fernfahrers.
Die Fernfahrerzeitschriften und die Musikkultur tragen somit in entscheidender Weise zu
der maskulin gefärbten Stilisierung und Geschmacksbildung (Ethos) unter den Fernfahrern bei.
So lassen sich die Lieder aus der nordamerikanischen Musikszene drei grundsätzlichen
Kategorien zuordnen (Runcie 1971, S. 130): "(1) why drivers drive trucks, (2) the problems
faced by the drivers, and (3) the truck driver's woman." Genau diese Themen finden sich auch
in deutschsprachigen Fernfahrer- bzw. Trucker-Liedern wieder (vgl. Abb. 33).
(1) Beim ersten Themenkomplex des Liedgutes werden die Fernfahrer gewissermaßen von
ihrer Verantwortung entlastet, daß sie sich im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte auf die
Fernfahrerei eingelassen haben. Die in den Liedern angesprochenen Gründe für die Berufswahl
verlegen die Entscheidung ins Natürliche (z.B. "Als Diesel geboren", "Fernfahren liegt mir im
Blut" bzw. "diesel fuel is in my blood" - angesichts hoher MAK-Werte eine recht makabre
Vorstellung, "Mein Laster ist mein Laster"; vgl. auch Fernfahren "as a 'disease' that gets into
one's blood and becomes an obsession" bei Runcie 1971, S. 131). Die Naturalisierung der
beruflichen Selektionsprozesse ist nicht nur Ausdruck einer besonderen Art von Galgenhumor,
sondern trägt zugleich positive charismatische und mythische Züge, wonach nicht "Jedermann"
einfach Fahrer wird, sondern durch seine Natur bereits dazu "berufen" sein muß. Unter diese
Kategorie fällt auch die Totemisierung des Lastkraftwagens, der, wenn er richtig behandelt
wird, zum magischen Helfer avanciert oder sich wie ein guter Freund verhält (vgl. Kap. 5.1
und die "Männerfreundschaft" zwischen Cowboy und Pferd).
(2) Die harte Arbeit, gefährliche Situationen und typische Beanspruchungserscheinungen
(Ermüdung, Nebel, Unfallgefahren, Zeithetze etc.) bilden typische Themenfelder, in denen die
Alltagsprobleme und -erfahrungen der Fahrer behandelt werden. In einigen der Songs werden
als "gute Ratschläge" unter Freunden formuliert, beim hohen Arbeitseinsatz nicht unnötig das
Leben zu riskieren (z.B. "Sicht weg, Gas weg!", "Halt Abstand, Junge" oder "Schlaf nicht ein
hinterm Lenkrad"). Teilweise ist die Thematisierung von Unfallgefahren auch religiös gefärbt
(z.B. Dankgebete an Gott oder den Heiligen Christopherus als dem Schutzpatron der Fahrer;
vgl. auch die Anzeichen für "Aberglauben" wie das Mitführen von Glücksbringern z.B das
"Bibendum" bzw. "Michelin-Männchen" des bekannten Reifenherstellers als Talisman).
(3) Das dritte zentrale Thema sind schließlich Frauen, die meist entweder als geduldig
wartende Heilige (Mutter, treue Ehefrau) oder als sexuell reizvolle "heiße Bräute" dargestellt
werden.
Aus systemtheoretischer Sicht lassen sich "soziale Gruppen" nach der Art und
Dauer ihrer Mitgliederbeziehungen gegenüber der "Gesellschaft" (hohes Maß an
Mittelbarkeit der Sozialbeziehungen), gegenüber der "Organisation" (hoher Grad
an Spezifität der Mitgliederbeziehungen) und gegenüber "einfachen Sozialsystemen" vom Typus "Encounter" (extreme Kurzfristigkeit der Beziehungen) abgrenzen (vgl. Neidhardt 1983, S. 14). Eine Gruppe ist danach ein "soziales System,
dessen Sinnzusammenhang durch unmittelbare und diffuse Mitgliederbeziehungen sowie durch relative Dauerhaftigkeit bestimmt ist" (Neidhardt 1979, S. 642).
272
Abb. 33: Truckerthemen und -mythen in der deutschen Fernfahrermusik
Zum Trucker geboren...
Highway Helden; Ich bin ein Asphalt Cowboy; Ich bin wieder auf der Autobahn; Ist das ein Leben! -So hart
und so schön; Trucker sind Partner; Jeder Kilometer; Mein Laster ist mein Laster; Ihr Leben, das ist ihr
Laster; Strasse ins Glück; Hier riecht's nach Freiheit; Ein herrliches Gefühl; Das ist Truckers Traum;
Highway Dreams; Vogelfrei; Meine Antwort ist die große Autobahn; Diesel, Qualm und Straßen ohne Ende;
Jeder Meter Autobahn; Träume von den Cowboys; Bärenstarke Cowboys; Ich und mein Diesel; Immer
unterwegs; Ein richtiger Cowboy; Kohlenpott Cowboy; Rastlose Männer; Kameraden der Straße; Rollende
Giganten; Trucker Fieber; Mein Diesel hat Heimweh; Ich bin so wie ich bin; Home Sweet Highway; Wir
sind die Fahrer; Wenn ich nur ein Trucker wär; Wer ist der Mann hinterm Lenkrad; Fahrer, du bist Deutschlands bester Mann.
Risiko und harte Arbeit...
Schlaf nicht ein hinter'm Lenkrad; Nikotin - Coffein - Aspirin (und 'ne Wärmflasche fürs Bett); Sicht weg Gas weg! Kilometerfresser; Halt Abstand Junge; Partner fahr rechts; Radwechsel; Verdammte Radarfalle;
Junge, zieh die Bremse an; Gefangene der weissen Linie; Übermüdung tötet; Kumpel, brich Dir nicht das
Genick; Ausgelaugt (und kaputt vom Fahr'n); Danke Brummi; Alter Freund, überhol dich nicht selber; Ich
wünsch dir Hals- und Beinbruch; St. Christopherus; Fahr' nicht schneller als Dein Schutzengel fliegen kann;
Gefährliche Fracht; Bleifuß-Joe; Nimm dir Zeit; Auch wenn ich mal das Handtuch werfe; Ich hab' schon
Trucker weinen seh'n; Dieselknecht; Temporausch.
Frauen lieben harte Männer...
Heisse Girls - starke Kerls; Diese Männer; Mit harter Hand; Rosen für Mama; Bei Muttern gibt es immer
eine warme Suppe; Truck Stop Mama; Sie ist ein Truckerfan; Sie ist jung und ich ein Mann, der viel erlebt;
Trucker Lady; Das schöne Mädchen von der Autobahn; Rasthausbaby.
(ausgewählte Musiktitel aus: Truck Stop "Cowboys der Nation"; Tom Astor: "Lass rollen, Trucker", "Hallo Freunde",
"Voll aus dem Leben" und "Guten morgen, Deutschland"; Gunter Gabriel: "Dieselknechte"; "Das große TruckerHitrennen 1 + 2"; "Das große Trucker-Album 1 + 2"; "Super Trucker Songs: 32 bärenstarke Brummi-Hits 1 + 2"; Super
Trucker Festival: 16 bärenstarke Brummisongs 1 + 2")
Wird das Kriterium der "Unmittelbarkeit" der sozialen Beziehungen zwischen den Gruppenmitgliedern nicht in einem sehr restriktiven Sinne von permanenter Kopräsenz verstanden (was
sich praktisch kaum durchhalten ließe), sondern als eine potentiell realisierbare, wahrscheinliche "Face-to-face"-Interaktion, die von den Beteiligten lediglich eine episodische Kopräsenz
verlangt, so lassen sich die jeweils sporadischen Sozialkontakte zwischen einzelnen Fernfahrern durchaus als ein Ausdruck ihrer sozialen Gruppenbeziehungen deuten. Solange überhaupt
regelmäßige Interaktionen mit anderen Fernfahrern stattfinden, ist eine unregelmäßige Kopräsenz allenfalls ein Kriterium geringfügiger sozialer Verdichtung, nicht aber eins der fehlenden Unmittelbarkeit.
Ähnliches gilt für die "Diffusheit" der Mitgliederbeziehungen, die "nicht auf spezifische
Zwecke oder Ziele eingegrenzt erscheinen, sondern mit einer Vielzahl von Bezügen auf einer
formell nicht eingegrenzten Zahl von Bezugsebenen stattfinden" (Neidhardt 1979, S. 643).
Jenseits spezifischer Themenstellungen, die vor allem um ihre Arbeit und Arbeitsleistung
kreisen, dürfte die persönliche Kommunikation zwischen Fernfahrern auch durch "relativ
offene Horizonte und vielschichtige Ausdrucksmöglichkeiten" geprägt sein, was im Anschluß
an Neidhardt als ein charakteristisches Kennzeichen sozialer Gruppen zu werten ist.
273
Selbst die "relative Dauerhaftigkeit" der Beziehungen, die Sozialgruppen von "einfachen
Sozialsystemen" (Luhmann) oder jenen "flüchtigen Begegnungen" unterscheiden sollen, für
die Erving Goffmann den Begriff "Encounter" reserviert hat, trifft auf die Berufsgruppe der
Fernfahrer ebenfalls zu, solange ihre zum Teil episodischen Begegnungen ein "Situationssystem" bilden, das auch nach dem Auseinandergehen der Teilnehmer noch fortbesteht (Neidhardt 1979 im Anschluß an Luhmann). Die durch Mobilität und soziale Isolation gekennzeichnete Arbeitssituation, die der gemeinsame Beruf den meisten Fernfahrern auferlegt,
behindert auf der einen Seite dauerhaft-verdichtete Sozialbeziehungen zwischen ein und
denselben Interaktionspartnern, ohne jedoch sporadisches oder gezieltes Wiedersehen gänzlich
zu verhindern. Denn andererseits ermöglicht die "raum-zeitlich konzentrierte Begegnung" der
Fernfahrer an ihren typischen sozialen Orten (Raststätten, Truck Stops, Güterverladestationen,
Zollstationen etc.) eine "organisierte" Herstellung von Anwesenheit. Auch wenn man sich
nicht sieht (bzw. nur räumlich distanziert beim Vorbeifahren von LKW zu LKW "sehen" kann
oder über CB-Funk Kontakt aufnimmt), bliebe der Fortbestand der Berufsgruppe der Fernfahrer davon unberührt. Diese "Fähigkeit zur Latenz", die Neidhardt sozialen Gruppen im Gegensatz zu "einfachen" situativen Sozialsystemen zuschreibt, führt er auf die "Kristallisation von
Wir-Gefühlen, die Ausbildung von Systemidentität und auch ein Mindestmaß an Organisation" zurück (Neidhardt 1979, S. 643).
Der Vorteil dieser Trias aus Unmittelbarkeit, Diffusheit und Dauerhaftigkeit liegt in der
empirischen Operationalisierung entlang der methodisch gut identifizierbaren binären Merkmalen Unmittelbarkeit/Mittelbarkeit, Diffusheit/Spezifität und Dauerhaftigkeit/Kurzfristigkeit.
Die Schwächen von Neidhardts Gruppenkonzeption zeigen sich vor allem dort, wo es erstens
um die Abgrenzung des Gruppenbegriffs vom Konzept sozialer Netzwerke geht und wo
zweitens persönliche Beziehungen und die Einbindung der Gruppenmitglieder als menschliche
Subjekte zu untersuchen sind, eine Problemstellung, deren Lösung nicht gerade zu den Stärken
der Systemtheorie zählt.25 Nach meinem Eindruck läßt sich die für soziale Gruppen
kennzeichnende Form der Integration persönlicher und gesellschaftlicher Beziehungen bei
der Erzeugung kollektiver Identitäten und "Wir-Gefühle" nicht hinreichend trennscharf gegenüber den Solidaritätsgefühlen bei flüchtigen Begegnungen oder in sozialen
25
274
Auch wenn bislang noch kein Konsens über die verbindliche Verwendung des Gruppenoder Netz(werk)begriffes in der Soziologie erzielt worden ist, wird die Kategorie des
sozialen Netzes eher bei geringer verdichteten, lose gekoppelten Assoziationsformen
benutzt, denen eine geringere Dauerhaftigkeit und Geschlossenheit zugeschrieben wird (vgl.
Kappelhoff 1989, S. 466). Auch wenn das Konzept des sozialen Netzwerkes auch die vom
Gruppenkonzept ausgeschlossenen "uniplexen, distanteren, indirekten, schwachen, intransitiven usw. sozialen Beziehungen integriert" (Schenk 1983, S. 96), sind die Übergänge
zwischen dem Gruppen- und Netz(werk)begriff fließend. Weder Intensität (im Sinne von
"involvement") und Dichte der sozialen Beziehungen, noch die Diffusheit der thematischen
Bindungen können als eindeutige Abgrenzungskriterien gelten, da sie auch bei der Klassifizierung sozialer Netzwerke ("starke" oder "schwache" Beziehungen, "Multiplexität" vs.
"Uniplexität") in Anspruch genommen werden, wie Friedhelm Neidhardt (1983) und
Michael Schenk (1983, S. 93ff.) zeigen. Lediglich die Unterscheidung nach dem Kriterium
der "direkten" oder "indirekten" Interaktion (Schenk 1983, S. 92f.) weist genügend Schärfe
für die Trennung zwischen Gruppe und Netz auf.
Netzwerken unterscheiden, die in geringerem Maße "kontaktverdichtet" erscheinen.26 Die
Grenzen mögen fließend sein, die Merkmale Unmittelbarkeit, Diffusität und Dauerhaftigkeit
reichen jedoch bei weitem nicht aus, um "Zugehörigkeit" in ausreichendem Maße qualifizieren
zu können. Und genau an dieser Stelle muß die Gruppensoziologie weiterdenken, anstatt sich
von der schwierigen empirischen Operationalisierung einer Variable wie "Zugehörigkeitsgefühl" blenden zu lassen.27
Das entscheidende Defizit herkömmlicher (klein)gruppensoziologischer Ansätze
liegt darin, daß sie die soziale und subkulturelle Genese vernachlässigen, die zur
dauerhaften Institutionalisierung einer sozialen Gruppe führt. Gewöhnlich wird
nur bei Vorhandensein bestimmter formaler Indikatoren auf die Existenz einer
sozialen Gruppe geschlossen. Der Identifizierungsakt aber, mit dem die Gruppe
als eine soziologische Tatsache behandelt wird, bezieht sich meist nur auf ein
bereits fertiggestelltes Gebilde, ohne den sozialen Prozeß der Herausbildung und
Verbindung der Assoziierten zu einer Gruppe weiter zu verfolgen. Das Bemühen
um eine Vervollständigung oder Reduzierung der Liste notwendiger Merkmale,
die jeweils zu den Attributen sozialer Gruppen gezählt werden, hat indessen
davon abgelenkt, worin eigentlich die Gemeinsamkeiten sozialer Gruppenbildung
bestehen, besonders dann, wenn es sich um makrosoziale Phänomene handelt.
In Anlehnung an klassische Gruppenkonzeptionen (vgl. z.B. von Wiese 1966,
S. 449) sollen soziale Gruppierungen der Fernfahrer im folgenden nicht nur unter
dem Aspekt ihrer relativen Dauer und Kontinuität betrachtet werden (Institutionalisierung), sondern vor allem unter dem Gesichtspunkt des Entstehens gemeinsamer Traditionen und Gewohnheiten (Gruppenkulturen), der sozialen Differenzierungen sowie der Vorstellungen von der Gruppe, die bei ihren Mitgliedern
bestehen (Vergemeinschaftung bzw. Wir-Gefühl). Mit seinem Konzept der
"Kollegenschaft" hat Edward Gross (1965, S. 95ff.; vgl. Daheim 1970, S. 221ff.)
26
27
Sind die Definitionsmerkmale Neidhardts beispielsweise trennscharf genug, um encounters
innerhalb offener sozialer Netzwerke von den flüchtigen Begegnungen zu unterscheiden,
die sich auf der Grundlage eines übergreifenden, subkulturellen Orientierungsrahmens einer
sozialen Gruppe abspielen? Sobald die Begegnungen im Netzwerk trotz ihrer grundsätzlichen Flüchtigkeit (mangels Stiftung eines übergreifenden Zusammengehörigkeitsgefühls)
häufiger ablaufen als die in der Gruppe geraten die Definitionsmerkmale vollends in
Unordnung und bedürfen einer klassifizierenden Gewichtung. Oder müssen wir grundsätzlich davon ausgehen, daß die Zusammengehörigkeit eine lineare Funktion der Häufigkeit
der zwischenmenschlichen Kontakte ist? Sicherlich nicht, weil die Menge der Kontakte
nicht per se eine gemeinsame Moral generiert, ebensowenig wie die soziale Nähe von
vornherein intime Beziehungen persönlicher Natur stiftet. In jedem Fall ist der spezifische
Sinnzusammenhang wohl entscheidend.
Die Koordination flüchtiger Begegnungen dürfte nicht in dem Maße auf kollektive Glaubenssysteme (z.B. Ethos oder Mythos) und auf die kollektive Sanktionsfähigkeit angewiesen sein, wie dies für die soziale (Miß)Billigung gruppenspezifischer, vor allem ständischer Konventionen üblich ist.
275
einen Ansatz entwickelt, die informellen sozialen Beziehungen einer beruflichen
Gemeinschaft nicht mehr allein auf jene formalen Maßstäbe zu beschränken, die
letztlich nur von kleinen lokalen "Arbeitsgruppen" mit hoher Interaktionsdichte
erfüllt werden können (z.B. Häufigkeit von Face-to-Face-Kontakten). Die
"Kollegenschaft" läßt sich auf einem Kontinuum verorten, das die beiden Idealtypen "lokale Kleingruppe" und "berufliches Kontaktnetz" bzw. "Netzwerk"
("occupational network") miteinander verbindet. Ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerät dabei die inhaltliche Frage nach dem Prozeß der Herausbildung einer
Kollegenschaft, d.h. wie ein berufliches Netzwerk dafür sorgt, daß seine Exklusivität erhalten bleibt und welche Vorteile die Mitgliedschaft in einer "Kollegenschaft" den einzelnen verspricht.
"Considerable research has been done on the problem of building colleagueship and several
distinct means have been pointed to and described. Perhaps the most important is control of the
entry of new members to the occupation or the organization. (...) A second means for developing colleagueship is to attempt deliberately to develop a consciousness of occupation. For this
purpose leaders in the occupation may develop a public relations image of the occupation as
one dedicated to public service. (...) Another way of developing a high sense of the importance
of one's own occupation ist to develop a sense of superiority over other occupations and over
the clients with whom one deals. (...) Colleagueship can be developed by deliberately encouraging informal association among colleagues [for example 'occupational community', clubs,
etc.; M.F.]. (...) A final factor that contributes to a sense of colleagueship is the development
of various norms or rules of the game to control competition among members and hence limit
competition between the occupation and other occupations" (Gross 1965, S.96f; Hervorhebungen durch M.F.).
Auch wenn sich die von Gross genannten Verfahrensweisen bei der Herausbildung einer Kollegenschaft eigentlich auf professionelle Netzwerke beziehen,
sind darin erstaunlicherweise Ansatzpunkte enthalten, die sich auch auf die
berufliche Gruppierung von Fernfahrern übertragen lassen.28 Die in der Gruppensoziologie zumindest implizit allgegenwärtige Metapher einer "Verdichtung" oder
"Kristallisation" sozialer Beziehungen ist nicht in erster Linie als eine Aufforderung zur Messung von Abständen zu begreifen, sondern eher als eine Anregung, die gesellschaftliche Konstruktion sozialer Abgrenzungen selbst zum
Gegenstand der Gruppensoziologie zu machen.
Meine These ist, daß unter den Lastkraftwagenfahrern berufskulturelle Gruppierungsformen entstanden sind, trotz der vergleichsweise geringen Möglichkeiten, innerhalb der Arbeitszusammenhänge direkte, stabile und kontinuierliche
Sozialbeziehungen zu entwickeln. Die Untersuchung der "Kollegenschaft" der
28
276
Daheim (1970, S. 222) hat zu Recht vorgeschlagen, das Konzept beruflicher Netzwerke, das
ursprünglich für die informellen Kontakte zwischen Angehörigen von Professionen entwickelt worden ist, auch auf Berufsgruppen auszudehnen, deren Mitglieder keine Professionals sind.
Berufskraftfahrer bedarf eines Untersuchungsinstrumentariums, das die herkömmliche, an Kleingruppen orientierte Gruppensoziologie bislang noch nicht
zur Verfügung gestellt hat. Mein Vorschlag ist, das "unscharfe" soziale Ensemble
der Fernfahrer als ein berufliches Netzwerk zu begreifen, das in seinen "Verdichtungszonen" zugleich Merkmale einer Berufsgruppe aufweist (z.B. Fernfahrerbzw. Trucker-Clubs als lokale Gruppierungen, ein an ständischer Interessenvertretung ausgerichteter Berufsverband oder eine Fahrergewerkschaft).29
Im Anschluß an kultursoziologische Forschungsarbeiten zur sozialen Gruppenbildung, hier vor allem die auf diesem Gebiet wegweisende Studie von Luc
Boltanski (1990) über die französischen Führungskräfte ("cadres"), möchte ich im
folgenden versuchen, die Entstehung beruflicher Netzwerke unter den Fernfahrern als einen soziokulturellen Prozeß zu begreifen, in dessen Verlauf charakteristische und seltene Merkmale symbolisch aufgewertet und mittels sozialer
Schließung exklusiv durch die Fernfahrer angeeignet werden. Die soziale Gruppierung der Fernfahrer läßt sich somit zunächst als eine Folge symbolischer und
sozialer Abgrenzungen nachvollziehen, in denen ein kollektiver Sinnzusammenhang erzeugt wird, der die Arbeits- und Lebenswelt von Fernfahrern gegenüber
anderen subkulturellen "Sinnwelten"30 als etwas Besonderes hervorhebt.
Es wäre jedoch fatal, die Entstehung sozialer Gebilde allein auf die kollektive
Definition von Wirklichkeiten zurückzuführen. Die Entstehung sozialer Gruppierungen ist nicht angemessen zu begreifen, wenn man sie als eine bereits vollendete gesellschaftliche (Tat-)"Sache" behandelt oder sie nur auf eine "gelebte
Erfahrung" (Bourdieu) reduziert, die letztlich nur in dem Willen und der Vorstellung der beteiligten Akteure existiert. Als das "objektivierte Produkt einer
Praxis" (Boltanski) weisen soziale Gruppen eine "in sich doppelte Realität" auf,
29
30
Mit dem Akzent auf persönlichen, kategoriellen oder strukturellen Beziehungen unterscheidet Michael Schenk (1983, S. 89) drei Typen sozialer Netzwerke. Während Schenk
das Hauptgewicht auf die Analyse persönlicher Beziehungen legt, lassen sich die berufsständisch gefärbten sozialen Beziehungen unter den Fernfahrern einem "kategoriellen"
Typus sozialer Netze zuzuordnen, der ein Beziehungsmuster vertritt, "das von sozialen
Stereotypen abhängig ist, die insbesondere schichten-, rassenspezifischen und ethnischen
Merkmalen folgen" (ebd., S. 89f.). Was die "strukturelle Differenzierung" des berufskulturellen Netzwerkes der Fernfahrer betrifft, so scheint mir die Fernfahrermythologie ein
entscheidendes Verbindungsglied zu sein, das einzelne und vereinzelte Netzwerksubgruppen ("Cliquen") im Sinne einer "Brücke" miteinander verknüpft.
Für Peter L. Berger und Thomas Luckmann (1980, S. 84ff.) sind soziale Gruppen Träger
kollektiver Sinnkonstruktionen ("Subsinnwelten"), deren Sinnhaftigkeit von der betreffenden Gruppe sozial (re)produziert werden muß. Neben Wissenschaft, Philosophie und
Theologie dient auch die Mythologie als "Stützkonzeption" und "Legitimation" von Sinnwelten (ebd., S. 118). Für den symbolischen Interaktionismus hat Herbert Blumer (1973)
auf die Bedeutung der Prozesse kollektiver Definition hingewiesen.
277
die zugleich in den zähl- und meßbaren materiellen Merkmalen ihres "objektiven" Seins und in den symbolischen Attributen ihres "wahrgenommenen Seins"
zum Ausdruck kommt, das den materiellen Eigenschaften erst die Funktion von
Unterscheidungsmerkmalen verleiht (vgl. Bourdieu 1987, S. 246f.).31
Die Retrospektive auf den sozial- und kulturhistorischen Ursprung und die
Entstehungsgeschichte einer sozialen Gruppe ermöglicht es, ihre kollektive
"Objektivierungs- und Repräsentationsarbeit" nachzuvollziehen, d.h. "die Gestalt
der Gruppe zu erklären, indem man nach der Arbeit des Sich-Gruppierens, des
Ein- und Ausschließens fragt, deren Ergebnis sie ist, und die gesellschaftliche
Definitions- und Abgrenzungsarbeit analysiert, die mit der Bildung der Gruppe
einhergegangen ist und die durch Objektivierung dazu beigetragen hat, sie als
etwas existieren zu lassen, das sich von selbst versteht" (Boltanski 1990, S. 47).
In seiner Untersuchung zur Entstehung der französischen Führungskräfte (den
"cadres") als soziale Gruppe unterscheidet Boltanski zwei Gruppierungsphasen
(vgl. 1990, S. 47-51):
(1) Die "Neudefinitions- und Repräsentationsarbeit" führt - gewissermaßen als
gesellschaftliche "Erfindung"32 der jeweiligen sozialen Gruppe - zur Formierung von einer Art "Urkern", der die Voraussetzung für die weitere
Anbindung und symbolische Vereinigung heterogener Kreise bildet.
(2) Als ein "Anziehungspunkt" oder "Sammelbecken" innerhalb des sozialen
Raumes ist dieser "Urkern" dann einem "Objektivierungs- und Institutionalisierungsprozeß" ausgesetzt, in dessen Verlauf die weitere SelbstGestaltung der Gruppe von der "Arbeit des Sich-Gruppierens" abhängt, d.h.
von Prozessen sozialen Ein- und Ausschließens.
Da in beiden Phasen gesellschaftliche Objektivierungs- und Repräsentationsarbeit geleistet wird, muß das Ausmaß und die Form sozialer Institutionalisierung
31
32
278
Das wahrgenommene Sein kann zwar niemals vollständig auf das materielle Sein zurückgeführt werden, die stilistische Willkür bleibt aber an den Spielraum der "objektiven Möglichkeiten" (Willis) gebunden, den die materiellen Merkmale zulassen (vgl. Kapitel 3.3).
Eine soziale Gruppierung existiert einerseits in der sozial vergegenständlichten Form von
Institutionen, andererseits in Form von dauerhaften Dispositionen (vgl. Bourdieu 1987, S.
252ff.). Die besonderen Möglichkeiten und Begrenzungen der "kollektiven Geschichte"
einer Gruppierung werden in den individuellen Biographien amgeeignet. Das Bestehen
einer Gruppierung wird dabei in Form mentaler Vorstellungen und gefühlsmäßiger Gewißheiten "einverleibt" und - soweit an die Wirklichkeit der Gruppe geglaubt oder mit ihrer
Existenz gerechnet wird - auch nach außen hin verkörpert.
"Erfindung" scheint von Boltanski in einem doppelten Sinne von "Definition" und "Repräsentation" gemeint zu sein: als definierende Namens(er)findung, die zur Benennung der
Gruppe (z.B. als "cadres") führt, und als Vorgang des Sich-Zusammenfindens einer
Gruppe in der sozialen Form eines "repräsentativen" Urkerns.
als das zentrale Unterscheidungskriterium dienen, um die Phase der Erfindung
einer "neuen" sozialen Gruppe von der Phase ihrer Gruppierung abzugrenzen.
Die gesellschaftliche Gruppierungsarbeit setzt im wesentlichen erst dann richtig
ein, sobald sich ein "Feld" miteinander konkurrierender Definitionen und Repräsentationen herausgebildet hat (vgl. ebd., S. 163ff.).33 Von Überlegungen bei
Bourdieu (vgl. 1987, S. 256f.) und Boltanski (vgl. 1990, S. 156ff.) ausgehend, ist
meine These, daß die Herausbildung einer sozialen Gruppierung unter Fernfahrern grundsätzlich auf drei verschiedenen (psycho)sozialen Ebenen erfolgt.34
Den Ausgangspunkt jeder sozialen Gruppierung bildet erstens die bestehende Verteilungsstruktur begehrter Objekte und Eigenschaften, die neue Stilsierungen zugleich ermöglicht und
begrenzt. Der Besitz des Begehrenswerten setzt immer eine Aneignungsarbeit voraus, die den
Einsatz von bereits akkumuliertem "Kapital" erforderlich macht und verlangt, die Widerstände
konkurrierender Gruppierungen gegen eine exklusive Aneignung des Begehrten zu überwinden. Neue soziale Gruppierungen können sich entweder in unentdeckten oder uninteressanten Nischen ausbreiten, oder sie müssen eine Veränderung der vorhandenen ökonomischen und sozialen, politischen und kulturellen Strukturen anstreben, die für eine ungleiche
Verteilung der vorhandenen Merkmale und Eigenschaften unter den beteiligten Individuen
verantwortlich sind. Andererseits ermöglicht eine relativ dauerhafte, ungleiche Verteilungsstruktur materieller Gegenstände und persönlicher Qualitäten erst eine sichere symbolische
Vereinigung, die auf der Klassifizierung und Stilisierung gemeinsamer wie unterschiedlicher
Attribute aufbaut. Die sinnvolle Klassifizierungs- und Stilisierungspraxis sozialer Gruppen
setzt somit eine spezifisch strukturierte, "geordnete" Verteilung der begehrten und der unerwünschten Merkmale und Eigenschaften voraus, damit sich die fragliche Gruppierung ihre
charakteristischen Attribute möglichst exklusiv aneignen kann.
33
34
Die Zweiteilung der "Gruppierungsarbeit" zwischen der primären Entstehungsphase der
"Erfindung" einer sozialen Gruppe und der sekundären Phase ihrer Festigung erscheint mir
etwas zu grob. Wie Boltanski selbst einräumt, folgt die soziale Gruppierung der cadres
einer spezifischen Logik, wie sie (vor allem) für die "Kohäsion eines unscharfen Ensembles" typisch sein dürfte (vgl. 1990, S. 320): Obwohl die "Führungskräfte" über ein weites
Spektrum "objektiver" Soziallagen verstreut sind, wurde für sie nur eine geringe Anzahl
"namhaft gemachter Orte" geltend gemacht (nämlich die der "cadres"), "an denen die
Arbeit der Interpretation und Schematisierung, Repräsentation und Stilisierung der sozialen
Welt vollzogen wurde". Ähnliches gilt für die Fernfahrer, auch wenn für sie mehr
Benennungsmöglichkeiten bestehen (wie die amtliche Berufsstatistik zeigt).
In ähnlicher Weise hat bereits Max Weber (1980, S. 531ff.) die strukturellen Prinzipien der
Machtverteilung nach materiellen und symbolischen Kriterien analytisch unterschieden:
Während die "Klasse" als Folge einer ungleichen Verfügungsgewalt über materielle Güter
und Leistungen in der "Wirtschaftsordnung" zu verorten ist, wird der "Stand" als Resultat
einer unterschiedlichen Einschätzung der Ehre der "sozialen Ordnung" zugerechnet und gewissermaßen quer dazu - die "Partei" (in der politischen Sphäre) als ein, um soziale
Macht bzw. Herrschaft kämpfendes vergesellschaftetes Gebilde verstanden. Auf dieser
Grundlage ist ein kultursoziologisches Konzept möglich, das mit der Herrschaftssoziologie
verbunden bleibt (z.B. über die Wechselwirkungen zwischen der sozialen, kulturellen und
politischen "Repräsentation" einer sozialen Gruppierung).
279
Diese materielle Logik der Seltenheit bestimmter (gegenständlicher) Merkmale innerhalb
einer gegebenen "objektiven" Verteilungsstruktur ist zweitens von der symbolischen Logik der
Hervorhebung zu trennen, mit der die Unterschiede bei den Aneignungschancen knapper
Güter, Leistungen und Eigenschaften sich und anderen als schwerwiegende Unterscheidungen
vorgestellt werden. Neben der Sicherung der möglichst exklusiven Aneignung der charakteristischen Objekte und Eigenschaften muß die soziale Gruppierung ein gemeinsames subkulturelles Bedeutungssystem bilden, das dem kollektiven Besitz den sozialen Sinn von Unterscheidungen und Hervorhebungen verleiht. Mythen vermitteln dabei das besondere "WirGefühl" und den "Glauben" an die kollektive Existenz, d.h. sie stützen die subkulturelle Integration der besonderen "Sinnwelten", die für die jeweilige Gruppe kennzeichnend sind. An der
Schnittstelle der (Re)Produktion der kollektiven Gruppierung und der individuellen Teilnahme
(und -habe) findet somit eine gegenseitige Sicherung (oder Verunsicherung) statt. Solange
kollektive Mythen den individuellen Glauben an die Realität der Gruppe unterstützen können,
bleibt das individuelle Schicksal wegen seiner Einordnung in einen, die Lokalität individueller
Zeiten und Räume übergreifenden Stil "sinnvoll" und verallgemeinerbar. Andererseits bleibt
die Glaubwürdigkeit der "wirklichen" Existenz einer Gruppe daran gebunden, inwieweit
kollektive Mythologien innerhalb individueller Orientierungen auf Dauer mitreproduziert
werden.
Darüber hinaus wird die soziale Gruppe drittens nur in dem Maße als ein "sozialer Akteur"
gesellschaftlich "existent", wie ihre "Mandatsträger mit der plena potentia agendi ermächtigt
sind und sich ermächtigt fühlen, in ihrem Namen zu sprechen" (Bourdieu 1985, S. 40), d.h.
soweit der Gruppierung durch "Organisations- und Repräsentationsarbeit" (Krais) die
Repräsentation im sozialen, rechtlichen und politischen Raum gelingt (vgl. Boltanski 1990, S.
156ff.).
Die Kategorie der "Repräsentation" muß hier in einem sehr weiten Sinne von "(Stell)Vertretung" verwendet werden. Neben dem üblichen Verständnis von "Solidaritäts-" oder
"Vertretungsbeziehungen" - etwa im Sinne von Max Weber (1980, S. 25) -, schließt der
Repräsentationsbegriff bei Boltanski jenes Wortspiel um die verschiedenen Bedeutungen des
Begriffes "Vorstellung" ein, das bereits von Bourdieu benutzt worden ist. Es lassen sich drei
Bereiche unterscheiden, in denen der Begriff der Repräsentation verwendet wird (Boltanski
1990, S. 50):
(1) Eine soziale Gruppe gibt sich einen Namen und eine "emotionale und mentale Repräsentation", die mit diesem Namen verbunden ist (symbolische Klassifizierung und
Abgrenzung durch Neu-Definition);
(2) Eine soziale Gruppe "muß, um für sich und andere zu existieren, auf dem Weg über ihre
Mitglieder und, genauer gesagt, über ihre Sprecher Vorstellungen über sich vermitteln,
dramaturgische Akzentuierungen (wie Goffman sagen würde) ihrer relevanten Merkmale, eine Art Stilisierung, die zur Bildung des kollektiven Glaubens beiträgt, ohne den die
Gruppe kein Anrecht auf soziale Anerkennung hat" (vgl. S. 159; Stilisierung der Gruppenmerkmale durch "soziokulturelle Repräsentationen" vom "perfekten" Gruppenmitglied ordnet, vereinfacht und stabilisiert die soziale Gestalt der Gruppe;
(3) Eine soziale Gruppe läßt sich auf der politischen Bühne (institutionell) repräsentieren,
"- wo sich die täglichen Kämpfe zwischen Gruppen und Klassen auf eigene Art und
nach eigenen Regeln noch einmal abspielen -, indem sie sich offizielle Instanzen gegeben hat, und indem sie die Autorität, die zur Verkörperung der kollektiven Personen
nötig ist, natürlichen Personen übertragen hat". Die "rechtliche Repräsentation" bildet
allerdings eine entscheidende Voraussetzung für die politische "Delegation" und
Interessenvertretung (wie sich am Beispiel der Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung
280
leicht zeigen läßt).35 "Mit der Institutionalisierung der sozialen Konflikte und der Konstituierung offizieller Verhandlungsinstanzen (...) wird die Bildung einer rechtlich
anerkannten Kollektivperson und ihre Verkörperung in hierzu berechtigten physischen
Personen eine der Bedingungen, die soziale Gruppen erfüllen müssen, um gewissermaßen sozial sichtbar zu werden und ihre ökonomischen und politischen Interessen
wirksam vertreten zu können" (S. 157).
Im Anschluß an Überlegungen bei Boltanski (1990) und Bourdieu (1987) läßt
sich ein analytisches Schema konstruieren, das die Entstehung sozialer Gruppen
als einen Objektivierungsprozeß veranschaulicht (Abb. 34). Der vertikale Aufbau
dieses Schemas folgt dabei einer analytischen Unterscheidung von drei verschiedenen Ebenen, auf denen sich eine soziale Gruppe durch symbolische Definitions-und Abgrenzungstätigkeiten sowie durch entsprechende Repräsentationsarbeit objektivieren kann.36
"Klassifizierung" ist als ein Objektivierungsprozeß zu verstehen, der auf der mentalen Ebene
gemeinsamer psychosozialer "Vorstellungen" abläuft und sich in Form von Wahrnehmungs-,
Bewertungs- und Erzeugungsschemata dauerhaft als eine entsprechende Disposition verkörper(lich)t ("Habitus"). Der Begriff der Vorstellung wird bei Bourdieu nicht als ein Platzhalter
für den Ideologiebegriff gebraucht (etwa im Sinne einer "Weltanschauung"), sondern ist
Ausdruck eines "praktischen" und "stillschweigenden" Verhältnisses zur gegenständlichen
Welt, das kollektive und öffentliche Darstellungen sowie rituelle Demonstrationen einschließt
im Sinne jener "Schauspiele, die die gesamte Gruppe ins Spiel bringen und in Szene setzen"
(vgl. Bourdieu 1987, S. 198f.).
Als "Stilisierung" kann ein Prozeß beschrieben werden, der sich auf der Ebene sozialer
Interaktionen als "dramaturgische Akzentuierung" (Goffman) "abspielt" und sich in Form von
Mythen, Praktiken und Werken objektiviert (kollektiver "Glaube" an die reale Existenz der
Gruppe, repräsentiert durch entsprechende "Spiele").
35
36
Dies gilt vor allem für moderne politische Systeme mit einer institutionalisierten, rechtlich
fixierten, "friedlichen" Regulation der Beziehungen zwischen sozialen Klassen und Gruppen: "Die Administration, die sich als 'Schiedsinstanz' in den sozialen Auseinandersetzungen versteht, kennt von den 'sozialen Gruppen' nur deren 'Vertreter', und diejenigen, die
im Namen des 'Staates', dieser Abstraktion, sprechen, verlangen 'Partner' oder 'Gesprächspartner', wie die hohen Beamten oft sagen, aus Fleisch und Blut" (Boltanski 1990, S. 157f.).
Ein gutes Beispiel für die fast "unentrinnbaren" Verflechtungen zwischen politischer und
rechtlicher Repräsentation zeigt der US-amerikanische Trucker-Film "Convoy" von Sam
Peckinpah (1978), wo ein Vertreter des Gouverneurs das Gespräch mit "Rubber Duck"
sucht, der eine Protestaktion der Trucker als Convoy-Führer maßgeblich in Gang gesetzt
hat, selbst aber meint, nur für sich und lediglich als erster zu fahren. Die politische Administration in Person des Gouverneurs muß sich aber einen legitimen Gesprächspartner
schaffen, indem sie den Einflußreichsten zum offiziellen "Anführer" und damit legitimen
"Vertreter" des Konvois "macht".
Bei schematischer Trennung ließe sich die Phase der Erfindung einer sozialen Gruppe durch Neudefinition und Abgrenzung eines "Urkerns" - in erster Linie der "Klassifizierung"
und "Stilisierung" zuordnen, während die "Institutionalisierung" eher mit der Phase der
sozialen Gruppierung von Zentrum und Peripherie verbunden ist.
281
Abb. 34: Analytisches Schema zur Entstehung sozialer Gruppen
Repräsentationsarbeit
Objektivierungsebenen
Objektivierungsmodus
)))))))))))))))))))))))))))))))))))
Objektivierungs
form
KLASSIFIZIERUNG
Emotionale
und mentale
Repräsentation
(Vorstellungen)
"Habitus"/Leib
Dispositionen
Wahrnehmungs-,
Bewertungs- und
Erzeugungsschemata
STILISIERUNG
Sozial-kulturelle
Repräsentation
(Spiele)
"Glaube"
Mythen, Praktiken
und Werke
INSTITUTIONALISIERUNG
Institutionelle
Repräsentation
(mikro- und makropolitische Spiele)
"Feld"
Akteure, Vertreter
und Verbände (Recht,
Politik, Ideologien...)
Die "Institutionalisierung" unterscheidet sich von den beiden vorangehenden Objektivierungsformen, weil sie bereits die Existenz einer "fertigen" Gruppe im Sinne eines sozial relativ
homogenen "Urkerns", "Anziehungspunktes" oder "Sammelbeckens" voraussetzt. Über soziale
Ein- und Ausschließungsprozesse gruppieren sich heterogene Einheiten an den Peripherien des
zentralen Kerns, was ein Feld von Repräsentationen öffnet, auf dem die Träger unterschiedlicher sozialer Merkmale miteinander um die Anerkennung als authentische Vertreter und um
die legitime (institutionelle) Repräsentation der sozialen Gruppe ringen. Hierbei spielt die
Institutionalisierung vor allem rechtlicher, politischer, wissenschaftlicher, künstlerischer
"Repräsentationen" eine entscheidende Rolle, d.h. die Entstehung von dauerhaften Vertretungsbeziehungen ("Intellektuelle") und von ("Interessen"- bzw. Berufs-)Verbänden samt
der politischen Ideologien, sowie mikro- und makropolitischen (Macht)Spiele.
Da sich die Klassifizierung, Stilisierung und Institutionalisierung gegenseitig
beeinflussen (der Truckerkult in den USA ist z.B. vor allem durch politische
Proteste verstärkt worden), dürfte die Objektivierung einer Gruppe innerhalb des
sozialen Raumes üblicherweise als ein rekursiver Prozeß erfolgen. Mangels
fehlender berufshistorischer Forschungsergebnisse (vor allem, was die Berufsund Verbandskultur der deutschen Fernfahrer in der Zeit von Beginn der dreißiger bis Ende der sechziger Jahre betrifft), läßt sich die Herausbildung einer
Kollegenschaft unter den Fernfahrern noch nicht im Detail nachzeichnen. Meine
282
These ist aber, daß sich die soziale Gruppierung von Fernfahrern seit Beginn der
siebziger Jahre nach Art einer "Neudefinition" abgespielt hat, durch die entweder
neue soziale Vernetzungen in der Kollegenschaft der Fahrer entstehen oder
bereits bestehende (meist lokale) soziale Netze und Gruppierungen sich anders
wahrnehmen und darstellen können, dabei aber zugleich ihre alten Eigenschaften
und Merkmale ebenso wie einzelne Komponenten ihrer alten Bestimmung als
"Kapitäne der Landstraße" zu bewahren versuchen. Der nordamerikanische
Truckermythos fungiert in diesem Zusammenhang als ein neuer Bezugspunkt für
die Entwicklung beruflicher Subkulturen unter den Lastwagenfahrern.
Um diese Annahme plausibel zu machen, soll im folgenden zunächst ein Vorschlag unterbreitet werden, wie die Soziologie den Mythos (vor allem in Abgrenzung zu ideologischen Phänomen) definieren sollte. Danach möchte ich
etwas genauer auf die Entstehung der Fernfahrermythologien und den Einfluß
von Mythen und Legenden auf die soziale Gruppierung der LKW-Fahrer in den
USA und in der Bundesrepublik eingehen, bevor abschließend der Frage nachgegangen wird, inwieweit die beruflichen Mythologien der Fernfahrer an der
sozialen Reproduktion ihrer Arbeits- und Berufsrisiken beteiligt sind.
5.3
Vom "Kapitän der Landstraße" zum "Highway Helden"?
Fernfahrermythen im Fokus kultursoziologischer Risikoforschung
"Die Trucker-Kultur ist eine Subkultur. Bemalung und Ausstattung der Trucks, die
Trucker-Songs, der Slang der Funksprache kreieren eine eigenständige Welt unabhängiger Einzelgänger. Die Legende muß nicht Wahrheit bedeuten, sie kann aber sprechender
sein als diese" (Heinzlmeier, Menningen und Schulz 1983, S. 148).
Ein kultursoziologisches Mythenverständnis, das Mythologien von ihrem praktischen Gebrauch her erschließen möchte, steht vor der doppelten Schwierigkeit,
Mythologien einerseits von ästhetischen Weltbildern und gegenüber Ideologien
abzugrenzen, andererseits den Herrschaftscharakter von Mythen präzise herauszuarbeiten. Gegen den Versuch, Mythen auf mentale oder ideologische Phänomene zu reduzieren, hilft ein semiotisches Kulturkonzept, das die Spannung
zwischen der relativen Eigendynamik der symbolischen Systeme, mentalen Erscheinungen und praktischen Funktionen mythischer Bilder zu bewahren versucht
(vgl. Kap. 3.3). Die pragmatischen, sozialen "Funktionen" des Mythos sind bekanntlich auch in der Kulturanthropologie, vor allem von Bronsilaw Malinowski,
betont worden. Allerdings hat sich der Funktionalismus dabei als weitgehend
geschichtsblind und unsensibel gezeigt, um subtile Herrschaftsformen zu entdecken und zu kritisieren. Diesem Manko wird hier durch Berücksichtigung symbolischer Herrschaftsformen begegnet, gestützt durch einen kurzen Ausflug in die
historische Entstehung und subkulturelle Variation der Fernfahrermythologie.
283
Ein "Mythos" ist eine "legendenhafte, symbolische Erzählung über die Ursprünge einer Gesellschaft oder über ein denkwürdiges Ereignis ihrer Geschichte" (Koschnik 1984, S. 396), d.h.
eine Sage und Dichtung über Götter, Helden und Geister (der Vor- und Urzeit) eines Volkes,
er symbolisiert aber auch eine "legendär gewordene Gestalt oder Begebenheit, der man große
Verehrung entgegenbringt" (Duden "Fremdwörterbuch" 1974, S. 484). Sofern der Mythos
überhaupt in soziologischen Wörterbüchern oder Lexika behandelt wird, interpretiert man ihn
als eine "Erzählung", "Legende" oder "Glaubenshaltung" zu "Problemen des Ursprungs oder
der zentralen Wirkkräfte individuellen wie gesellschaftlichen Lebens", eine "nicht beweisbare,
aber für die Lebensorientierung und Sinninterpretation mit Wahrheitsanspruch versehene
Aussage", die ihn zu einem zentralen Bestandteil "aller (insbesondere primitiven) Kulturen"
macht (Hartfiel/Hillmann 1982, S. 524). Eine inhaltliche Einengung des Mythos auf Ursprungs- oder Entstehungsgeschichten ist jedoch nicht haltbar. Obwohl gerade Ursprungsmythen eine wichtige Rolle bei der Herausbildung und Stabilisierung sozialer Gruppen spielen
(wie am Beispiel der Fernfahrer ersichtlich wird), zeigen Todes-, Fortschritts-, Geschlechtsoder Heldenmythen, daß sich die Mythologie nicht allein auf die Schöpfungs- oder Entstehungsthematik einschränken läßt. Für die Wissenssoziologie ist Mythologie "die archaischste Form einer Stützkonzeption und Legitimation von Sinnwelten", d.h. ein "Wirklichkeitsentwurf (...), der die dauernde Einwirkung heiliger Kräfte auf die Erfahrung der Alltagswelt
annimmt" (Berger/Luckmann 1980, S. 118).
Mein Vorschlag ist, berufliche Mythen als Erzählungen zu begreifen, die sich in
mentalen Vorstellungen und sichtbaren subkulturellen Stilisierungen vergegenständlichen können und in denen transzendentale, vor allem geheiligte Aspekte
der besonderen, historisch überlieferten Sinnwelt einer beruflichen Gruppierung
zum Ausdruck kommen. Obwohl der Mythos als Erzählung eine mentale Gestalt
und sprachliche Form aufweist, manifestieren sich mythische Vorstellungen in
Handlungsriten und Praktiken, gegenständlichen Formen (z.B. Trucker-Accessoires) und legendären Verkörperungen, auf die sich ihrererseits die mentalen
Vorstellungen stützen. Mit der Verengung des Mythos auf seine mentalen Züge
wird der Zusammenhang zerrissen, der die mythischen Weltauffassungen mit den
entsprechenden praktischen "Lebensformen" verbindet, in denen die
transzendentalen Bezüge verankert sind. Ähnlich wie heilige Symbole verknüpfen
Mythen das Ethos einer sozialen Gruppe - Stil, Charakter und Besonderheiten
ihres subkulturellen Lebens, ihre moralische Gesamthaltung, ästhetische Ausrichtung und Lebensstimmung - mit ihrer Weltauffassung - dem Bild, das die
Gruppe über die Dinge in ihrer "reinen Vorfindlichkeit" hat, d.h. ihren "Ordnungsvorstellungen" im weitesten Sinne (Geertz 1983, S. 47f.):
"Religiöse Vorstellungen und Praktiken machen das Ethos einer Gruppe zu etwas intellektuell
Glaubwürdigem, indem sie es als Ausdruck einer Lebensform darstellen, die vollkommen
jenen tatsächlichen Gegebenheiten entspricht, wie sie die Weltauffassung beschreibt. Die
Weltauffassung hingegen machen sie zu etwas emotional Überzeugendem, indem sie als Bild
der tatsächlichen Gegebenheiten darstellen, das einer solchen Lebensform besonders nahekommt. Diese Gegenüberstellung und wechselseitige Bestätigung bewirkt zwei grundlegende
Dinge. Einmal werden dadurch moralische und ästhetische Präferenzen objektiviert: Sie
erscheinen als notwendige Lebensbedingungen, wie sie von einer in bestimmter Weise
284
strukturierten Welt vorgegeben werden, als reiner Common sense angesichts der unveränderlichen Gestalt der Wirklichkeit. Zum anderen erfahren diese überlieferten Vorstellungen vom
Weltganzen eine Bekräftigung, indem nämlich tiefverwurzelte moralische und ästhetische
Empfindungen als empirische Beweise für ihre Gültigkeit angeführt werden. Religiöse Symbole behaupten eine Grundübereinstimmung zwischen einem bestimmten Lebensstil und einer
bestimmten (wenn auch meist impliziten) Metaphysik und stützen so jede Seite mit der
Autorität der jeweils anderen."
Thematisch erzählen Mythen meist vom Ursprung des Menschen (oder einer
bestimmten Menschengruppe) und der Entstehung gesellschaftlicher Ordnungen,
sie behandeln kulturelle Veränderungen und außergewöhnliche Leistungen, "die
sich besonders mit Heldentaten und mit Einführung von Gebräuchen, kulturellen
Praktiken und sozialen Institutionen beschäftigen", oder sie sind mit bestimmten
Formen der Magie verbunden (Malinowski 1970, S. 108f.). Die üblichen Definitionen, die den Mythos positiv als eine "bildhaft-anschauliche Vor- und Darstellungsweise" in Verwandtschaft zur bildenden und literarischen Kunst interpretieren oder ihn negativ bestimmen als eine "vor- bzw. unwissenschaftliche
Selbst- und Welterklärung" (vgl. Wermke 1977, S. 2ff.), unterstellen der Mythologie einen elitären, zu stark ästhetisch oder kognitivistisch gefärbten Anspruch.
Ein angemessener Zugang zum praktischen Gebrauch von Mythen in geringer
ambitionierten Subkulturen wird dabei verfehlt. Sowohl die Konkurrenz zur
künstlerischen Weltbetrachtung als auch die Rivalität zur wissenschaftlichen
Weltanschauung beruhen auf einem Mißverständnis, da Mythologien eher in eine
Legitimitätskonkurrenz zu den religiösen Weltbildern der Theologie treten (vgl.
auch Kapitel 3.3, Abb. 13), insbesondere dann, wenn sie eine "Theodizee" betreiben, d.h. eine religiös gefärbte Verklärung des Leidens und der Lust.
Die kunstnahe Definition, die den Mythos als eine Erzählung mit einem künstlerischen
Anspruch begreift, hat den Nachteil, daß sie die ästhetische Bedeutung der mythischen Metaphorik überbewertet. Viel zu unspezifisch muß letztlich alles Metaphorische mit utopischem
Gehalt zum Mythos erklärt werden, wenn eine mystifizierende Bewertung mythischer Vorstellungen vermieden werden soll, die je nach kulturellem Standort zwischen einem ästhetisch
"echten" (legitimierten) und einem "trivialen" (illegitimen) Mythos unterscheidet. Zwar findet
in den Fernfahrermythen eine Ästhetisierung der Transportarbeit statt, aber die ästhetischen
Ambitionen des Mythos sind begrenzt durch die pragmatischen Funktionen dieser Stilisierungen, in denen sich die Fernfahrer als eine soziale Gruppierung besonderer Art hervorzuheben versuchen. Ein elitäres Kulturverständnis aber bleibt blind für die eigenen sozialen
Klassifikationen, in denen die geistigen und (legitimen Formen) künstlerischer Lebensäußerungen, d.h. die feine, vornehme Art der Lebensstilisierung aufgewertet werden gegenüber
dem als übertrieben und als grob sinnlich empfundenen Kult populärer Ästhetik.
Den Mythos dagegen im Kontrast zu wissenschaftlichen Realitätsmodellen als bloße
"Weltanschauung", als "Wirklichkeitsentwurf" oder als "Aussage mit Wahrheitsanspruch" zu
verstehen, bedeutet, den Erklärungscharakter von Mythen überzubewerten, was zu einer Verwechslung von Mythologien und Ideologien führt. Ideologien enthalten kognitive Vorstellungen über die Wirklichkeit, die mit interessenbedingten Wertungen verbunden sind, wobei die
politisch motivierten Weltentwürfe und illegitimen Herrschaftsinteressen zugleich einen mit
285
wissenschaftlichen Aussagen rivalisierenden Wahrheitsanspruch erheben. Während Ideologien
einen universellen Geltungsanspruch erheben, der aus der behaupteten Verallgemeinerbarkeit
von Partikularinteressen resultiert, beansprucht der Mythos oft lediglich einen partialen Geltungsbereich für seine Erzählungen. Genau genommen gilt er dann nur für die Gruppe der
Auserwählten, die dazu geboren sind, seinen tieferen Sinn zu verstehen, über deren Ursprung
und Existenz er berichtet und deren Außergewöhnlichkeit er bezeugt und beglaubigt. Aus der
mythisch begründeten Exklusivität einer sozialen Gemeinschaft leitet sich nicht von vornherein
ein politischer Herrschaftsanspruch ab, wie dies üblicherweise bei Ideologien der Fall ist, die
ein Partikularinteresse in politischer Absicht pseudowissenschaftlich zu legitimieren versuchen. Zwar können auch Mythologien einen politischen Autoritätsanspruch vertreten, die
diskursfesteren Ideologien haben die herrschaftsorientierten Mythologien aber im Zuge der
Entzauberung und Rationalisierung abendländischer Weltbilder weitgehend verdrängt.
Was eine Unterscheidung zwischen Mythologien und Ideologien so schwierig
macht, ist, daß beide auf die Legitimierung gesellschaftlicher Ungleichheiten
ausgerichtet sind. Während Ideologien aber mit der Verallgemeinerung des
Besonderen die Illusion einer Interessengleichheit erzeugen wollen, erwecken
berufliche Mythologien umgekehrt eher den Anschein einer Besonderheit, indem
sie die Ungleichheit der Berufenen behaupten und eine Absonderung (z.B. der
Fernfahrer) vom Allgemeinen (nämlich der industriellen Arbeiterschaft) betreiben. Auch wenn mythische und ideologische Wirklichkeitsvorstellungen dort
komplementär wirken, wo es um das Absichern des Bestehenden und um das
Verhindern von Veränderungen geht, ist ihre Wirkungsweise höchst verschieden.
"Es kann ohne Übertreibung gesagt werden, daß die typischste, die am höchsten entwickelte
Mythologie in primitiven Gesellschaften die der Magie ist, und die Funktion des Mythos ist es
nicht, Erklärungen zu liefern, sondern Gewißheit zu geben, nicht Neugierde zu befriedigen,
sondern Vertrauen in Macht einzuflößen, nicht, Geschichten zu erfinden, sondern jene Ereignisse festzuhalten und herauszuheben, die im kontinuierlichen Strom des Alltagslebens für
die Gültigkeit des Glaubens zu zeugen vermögen. Die tiefgehende Verbindung zwischen Mythos und Kult, die pragmatische Funktion des Mythos, Glauben zu erzwingen, ist so hartnäckig
zugunsten der ätiologischen oder erklärenden Theorie vom Mythos übersehen worden, daß es
notwendig war, diesen Punkt ausführlich zu behandeln" (Malinowski 1973, S. 68; Hervorhebungen durch M.F.).
Ideologien beruhen auf einer "theoretischen Sanktionierung gesellschaftlicher
Herrschaftsformen" (Lenk 1967, S. 17). Da sie im Unterschied zu Mythologien
einen eher theoretischen Anspruch erheben, erfolgt die ideologische Anerkennung der bestehenden gesellschaftlichen Ordnung über deren kognitive Überzeugungskraft. Durch ihre "geringe oder z.T. völlig unzureichende bzw. willkürlich
vornehmbare 'rationale' Interpretierbarkeit" (Hartfiel/Hillmann 1982, S. 525)
stützt sich die mythologische Billigung bestehender Herrschaftsformen dagegen
weniger auf reflexiv gestützte Glaubensüberzeugungen, als auf die empfundene
Glaubwürdigkeit der Erzählungen. Der Glauben, der sich an die ideologische
Weltdeutung knüpft, läßt sich durch seinen reflexiven Charakter von dem "Erklärungsanspruch" des Mythos abgrenzen, der eher die körpernahe, emotionale
286
Seite menschlicher Seinsgewißheit berührt und deshalb auf einem gefühlsmäßigen Glauben37 an die Heiligkeit und Unwandelbarkeit bestehender Ordnungen beruht. Die Bezugnahme auf übersinnliche, heilige Kräfte rückt die
mythische Sanktionierung gesellschaftlicher Herrschaftsformen in die Nähe von
religiösen Glaubenssystemen und Gefühlen. Das "Heilige ist das spezifisch
Unveränderliche" (Weber 1980, S. 249), das Ewig währende und Unwandelbare38, das sich jeder Neuerung mit mächtigen Hemmnissen entgegenstemmt und
das sich deshalb in besonderer Weise für eine Absicherung und Rechtfertigung
bestehender Herrschaftsverhältnisse eignet. Mythologien stützen Herrschaft,
indem sie erstens soziale und historische Ereignisse naturalisieren und zweitens
soziale Unterschiede durch heilige Unterscheidungen zu legitimieren suchen.
(1) Im Spannungsfeld zwischen Wissenschaft und Magie strukturiert die Mythologie die
menschlichen Beziehungen zur "inneren" und "äußeren" Natur. Nach einer Formulierung von
Roland Barthes verwandelt der Mythos die menschliche Geschichte und Gesellschaft in Natur,
da die Dinge in ihm die Erinnerung an ihre Herstellung verlieren (1970, S. 130; vgl. auch die
"Amnesie" der Entstehungsgeschichte sozialer Gruppen bei Boltanski 1990, S. 51). Die
Mythen über die Urzeit einer sozialen Gruppierung lassen sich als literarischer Ausdruck der
Naturalisierung ihrer Entstehungsgeschichte begreifen, mit dem die soziale Gruppierung ihre
"gesellschaftliche Definitions- und Abgrenzungsarbeit" (Boltanski) zu kaschieren sucht, indem
sie ihre Wurzeln in eine vorgeschichtliche Zeit verlegt.39
Die Naturalisierung gesellschaftlicher Phänomene tritt vor allem dort in Erscheinung, wo
es um eine soziale Spannung geht, um große Unterschiede in Rang und Macht, um Vorrang
und Unterordnung sowie bei tiefgehenden historischen Veränderungen, wie schon Malinowski (1973, S. 107) gezeigt hat. Bei der Entstehung und Stabilisierung sozialer Gruppen
37
38
39
Bei Max Weber (1980, S. 19) findet sich (neben dem Glauben an die traditionale "Geltung
des immer Gewesenen" oder an die Legalität zweckrationaler Satzungen) eine Unterscheidung zwischen zwei Glaubensarten, durch die eine Ordnung legitime Geltung beanspruchen kann. Während der wertrationale Glaube auf der Geltung eines (logisch) "als
absolut gültig Erschlossenen" beruht, appelliert der affektuelle (insbesondere emotionale)
Glaube (z.B. bei charismatischen Ordnungen) an die "Geltung des neu Offenbarten oder des
Vorbildlichen" (!).
Die Heiligung (sanctio) des Althergebrachten, die Verehrung alter Traditionen und die in
den Weiten des Raumes gegen verunsichernde Neuerungen weitgehend geschützte Beharrlichkeit des US-amerikanischen Landlebens erklärt die große Attraktivität, die der Country- und Western-Kult in den mythischen Bildern und Analogien der Fernfahrer genießt.
Belege für eine Naturalisierung historischer und sozialer Zusammenhänge lassen sich auch
in den Berufs- und Arbeitsmythen der Fernfahrer finden, angefangen bei der Überbetonung
spezifisch männlicher Attribute und Eigenschaften (Transformation "biologischer" Merkmale in soziale Unterscheidungen) bis hin zu Erzählungen, in denen die Transportarbeit als
ein naturhaftes Verhängnis erscheint und die Fernfahrer zu tragischen Helden werden, die
unverschuldet in ein unabwendbares Schicksal verstrickt sind ("Als Diesel geboren",
"Fernfahren im Blut haben" etc.) - die aber auch Manns genug sind, sich diesen Herausforderungen zu stellen.
287
dienen Mythen dazu, "gewisse Widersprüche zu verdecken", d.h. bestehende Ambivalenzen
zu entspannen, die der "sozialen Schließung nach außen" (im Sinne von Max Weber) im Wege
stehen. Die willkürliche Setzung sozialer Brüche und Trennungen in einem Kontinuum
gradueller Unterschiede erfolgt im Mythos durch die Hervorhebung eigener "heiliger" Eigenschaften und Merkmalen gegenüber den profanen der Kontrahenten. Mythologien unterstützten
die Rechtfertigung von Unterscheidungen, in denen sich eine "auserwählte" Gruppe von Menschen mit besonderen, "heiligen" Qualitäten von der Sphäre des Profanen abzusondern
versuchen. Ähnliches hatte Malinowski wohl im Sinn, wenn er von der "soziologischen Funktion" des Mythos spricht, "eine Gruppe zu glorifizieren oder einen ungewöhnlichen Zustand zu
rechtfertigen" (1973, S. 107). Da sich der Mythos "an jede Form sozialer Macht oder sozialen
Anspruchs" zu heften vermag, eignet sich die Mythologie durch die Beglaubigung
außergewöhnlicher Qualitäten, Privilegien oder Verpflichtungen als ein vorzügliches Medium
der sozialen Klassifizierung.
(2) Mythen erzählen Geschichten über etwas Verehrungswürdiges und Würdevolles, sie
berichten über legendär gewordene Gestalten oder Begebenheiten, denen eine große Verehrung
zuteil wird. Gerade diese elementare Spannung zwischen dem zu charismatischem Glanz
befähigten Außeralltäglichen und dem profanen Alltagsleben scheint die besondere Anziehungskraft des Mythos auszumachen. Die binäre Klassifizierung aller "Gegenstände" und
Eigenschaften der materiellen und geistigen Welt durch zwei entgegengesetzte Gattungen, die
entweder das Heilige oder das Profane repräsentieren, hat Emile Durkheim als ein Kennzeichen religiösen Denkens charakterisiert (vgl. 1981, S. 62). Die große Nähe des Mythos zu
religiösen Vorstellungen macht es außerordentlich schwierig, mythische von religiösen Glaubenssystemen präzise abzugrenzen. Nicht nur die Religion, wie Durkheim (ebd., S. 75) meinte,
auch der Mythos ist als ein "solidarisches System von Überzeugungen und Praktiken" zu
begreifen, die sich auf heilige40, d.h. abgesonderte und verbotene Dinge beziehen, obgleich die
Institutionalisierung der "Kirche" als einer "moralischen Gemeinschaft" (Durkheim) und die
Herausbildung theologischer Lehren der Religion wirksamere Mittel und Möglichkeiten zur
Verfügung stellt, bestimmte Glaubensüberzeugungen auch normativ zu "erzwingen" (wenn
man beispielsweise an die Inquisition oder die Verbindung von Staat und Kirche denkt). Die
"moralische Gemeinschaft", die sich um eine Mythologie mit Mißbilligungssanktionen schart,
ist (im moralischen bzw. normativen Sinne) sicher als weniger zwingend zu kennzeichnen, als
man dies üblicherweise von Gläubigen annehmen darf, die einer Kirche angehören.41
40
41
288
Allerdings soll hier für eine sehr weit gefaßte Definition des Heiligen plädiert werden, mit
der die Grenzen der religiösen Weltanschauung bereits überschritten werden. Im Gegensatz
zum Profanen bezieht sich das Sakrale auf eine außeralltägliche Qualität, die Personen oder
Gegenständen - gewissermaßen "von Natur aus" - zugeschrieben wird (vgl. "Charisma" bei
Max Weber). Derart säkularisiert, läßt sich das Heilige sinngemäß als etwas beschreiben,
das dem Begriff der Würde oder Ehre sehr nahe kommt. Dies entspricht einem modernen
Verständnis des Profanen, neben der "Entweihung" auch die "Entwürdigung" einschließt.
Irritierend ist auch der etwas kognitivistische Drive bei Durkheim, religiöse Phänomene
neben ihren praktischen bzw. rituellen Komponenten nur mit Blick auf Glaubensüberzeugungen zu betrachten, d.h. bezogen auf "Meinungen" und mentale "Vorstellungen" (vgl.
ebd., S. 61), nicht aber auf gefühlsmäßige Glaubenshaltungen.
Die Betonung des Gegensatzes zwischen dem Heiligen und dem Profanen hilft, soziale
Spannungen und Widersprüche symbolisch übertragen auszudrücken und damit auch zu verdecken. Wie Malinowski zeigt, entstehen Mythen häufig ad hoc, "um eine Gruppe zu
glorifizieren oder einen ungewöhnlichen Zustand zu rechtfertigen" (1973, S. 107), d.h. dort,
wo es um besondere, außeralltägliche Zusammenhänge geht. Die Mythenbildung unterstützt
damit eine soziale Klassifizierung, durch die graduelle Unterschiede willkürlich zu strengen
polaren Unterscheidungen zwischen dem Heiligen und Profanen, dem Ehrenvollen und
Unwürdigen, dem Hohen und Niedrigen umgebildet werden. Der Mythos tritt vor allem dort
in Funktion, "wo eine soziale Spannung besteht, sowie bei großen Unterschieden in Rang und
Macht, bei Vorrang und Unterordnung, und fraglos dort, wo tiefgreifende historische Veränderungen stattgefunden haben" (Malinowski 1973, S. 107).
"Der Mythos als Darstellung uralter Realität, die heutzutage noch lebendig ist, und auch als
Rechtfertigung durch Präzedenzfälle, liefert retrospektiv ein Vorbild moralischer Werte,
sozialer Ordnung sowie magischen Glaubens. (...) Die Funktion des Mythos ist, kurz gesagt,
die Tradition zu stärken und sie mit größerem Wert und Prestige auszustatten, indem er sie auf
eine höhere, bessere, übernatürliche Wirklichkeit ursprünglicher Ereignisse zurückführt"
(Malinowski 1973, S. 128).42
Mythische Weltbilder dienen oft dazu, bedeutsame Unterschiede zwischen natürlichen und
gesellschaftlichen Begebenheiten auszugleichen, indem sie schwierige Themen wie Inzest,
Sexualität, Leben und Tod (oder den Ursprung sozialer Gebilde) "erklären"; sie "vermitteln
existenzielle Widersprüche im Denken" (Giddens 1988, S. 249 im Anschluß an Lévi-Strauss).
Damit scheinen Mythologien besonders geeignet, den symbolischen Umgang mit den grundlegenden Ambivalenzen der Transportarbeit, die zugleich als eine bedrückende Last und als eine
befriedigende Lust erscheint und dabei gleichermaßen Keime der Selbstbestimmung wie der
Kontrolle enthält, zu erleichtern. Als eine subjektiv erfahrbare "Grenzsituation", aber auch als
schleichende chronische Krise, machen Arbeitsbelastungen grundsätzlich eine Sinngebung des
Leidens erforderlich, mit der den riskanten Leistungen und Lasten ein legitimer Sinn verliehen
wird (vgl. die Rolle der "Theodizee" bei Weber oder der "Soziodizee" bei Bourdieu). In der
Fernfahrermythologie wird einerseits die Wirklichkeit und Richtigkeit hoher Arbeitsleistungen
bestätigt, andererseits wird der Legitimationsbedarf belastender Arbeitsbedingungen und der
Aufwertungsbedarf erfüllt, der aus riskanten Verberuflichungsformen und dem prekären Hilfsarbeiterstatus resultiert.
Die beruflichen Mythologien der Fernfahrer erzeugen somit eine geschützte subkulturelle
"Ordnung" ihrer Lebens- und Arbeitswelt, die auf die Aufwertung des Sozialprestiges der
Fernfahrer zielt, indem die Überbewertung der eigenen Merkmale auf der Abwertung der
Eigenschaften industrieller Arbeitstätigkeiten aufbaut. Die persönliche Identität und die soziale
Ordnung der Trucker wird mittels Mythen gegen jeden Zweifel geschützt, wobei sich die
Glaubwürdigkeit mythischer Heldensagen aus einer übernatürlichen, zugleich aber auch
naturalisierenden Ordnung herleitet.
Der Glaube an die Erzählungen, Legenden und Sagen beruflicher Mythologien
ist somit eng mit der symbolischen Repräsentation der den Mythos tragenden
42
Der Begriff "übernatürliche Wirklichkeit" ist etwas unglücklich gewählt (gemeint ist wohl
eine "übersinnliche" Wirklichkeit), da sich die Aufwertung und Stärkung der Tradition nicht
nur durch Magie vollziehen kann, sondern auch durch Naturalisierung sozialer Phänomene
erreichen läßt, wie sich bei der Entstehung moderner sozialer Gruppen zeigt.
289
Kollektive verbunden. Hier dienen Ursprungsmythen beispielsweise zur Beglaubigung der legitimen Existenz einer sozialen Gemeinschaft, indem sie über den
Ursprung einer sozialen Gruppe berichten und die besondere Qualität dieser
Gruppe und ihrer Angehörigen begründen, d.h. den kollektiven Glauben an die
Entstehung und Existenz der Berufsgruppe fördern.43 Die quasi "natürliche" Verwandtschaft, welche die Angehörigen einer sozialen Gemeinschaft durch ihre
gemeinsame Herkunft miteinander verbindet, scheint über jeden Verdacht des
falschen Spiels erhaben, sobald es gelingt, den Glauben an die spezifische Magie
dieser Gruppe immer wieder zu erneuern.
Wenn Fernfahrermythen eine magische, transzendentale Wirklichkeit
"entwerfen", die der Stützung und Legitimation der symbolischen Sinnwelt ihrer
Berufsgruppe dient, so enthalten diese Mythen dennoch keine im strengen Sinne
klar umrissenen Wirklichkeitsentwürfe, sondern sind eher Vorstellungen ohne
Konzept und Plan. Soweit ein Mythos den Ursprung oder die Geschichte einer
sozialen Gruppierung "offiziell" zu deuten oder zu "erklären" versucht, wird
dabei eher an die Gültigkeit des Glaubens als an die Geltung eines Wahrheitsanspruches appelliert. In der Mythologie der Fernfahrer äußert sich keine ideologisch begründete Weltanschauung oder theoretische Beziehung, sondern ein
zutiefst praktisches, vor allem gefühlsmäßiges Verhältnis zu den Dingen der
Welt.
"Offizielle Vorstellungen, zu denen außer Regeln des Gewohnheitsrechts auch Sinnsprüche,
Merksätze oder Sprichwörter als Formen der Objektivierung der Wahrnehmungs- und Handlungsschemata in Worten, Dingen oder Praktiken (...) gerechnet werden müssen, stehen in
einem dialektischen Verhältnis zu den Dispositioinen, die sich in ihnen ausdrücken und die sie
mit hervorbringen und verstärken. Habitusformen anerkennen spontan Ausdrucksformen, in
denen sie sich wiederfinden, weil sie sie spontan hervorbringen (...). Das Eigentümliche
offizieller Vorstellungen liegt darin, daß sie die Grundlagen eines praktischen Verhältnisses
zur Natur- und Sozialwelt in Worten, Gegenständen, Praktiken und vor allem in kollektiven
und öffentlichen Manifestationen wie Großritualen, feierlichen Abordnungen und Prozessionen
(...) schaffen, deren verweltlichte Form unsere Umzüge, Versammlungen, Demonstrationen
sind, wo sich die Gruppe in ihrem Umfang und ihrer Struktur zur Schau stellt. Diese rituellen
Demonstrationen sind gleichfalls Vorstellungen - im Sinne des Theaters -, Schauspiele, die
die gesamte Gruppe ins Spiel bringen und in Szene setzen, indem sie zum Publikum einer
augenfälligen Vorstellung dessen gemacht wird, was nicht etwa, wie gern behauptet, eine Vorstellung der Natur- und Sozialwelt, eine 'Weltanschauung' ist, sondern ein praktisches und
stillschweigendes Verhältnis zu den Dingen der Welt" (Bourdieu 1987, S. 198f.).
43
290
Bei "Erzählungen" über den Ursprung wird meist die Form mündlicher Überlieferungen
überbetont. Weil historisches Beweismaterial (in Form von schriftlichen oder künstlerischen "Werken" sowie anderen "gegenständlichen" Artefakten) fehlt, kann die urzeitliche Vor-Geschichte nur noch geglaubt werden. In der heute üblichen Verwendung ist eine
"Sage" (das "Gesagte" oder das "Gerücht") eine Erzählung "über Begebenheiten, die geschichtlich nicht beglaubigt sind" (Duden "Etymologie" 1989, S. 607), d.h. die der offiziellen und legitimen Bestätigung geschichtswissenschaftlicher Zeugenschaft entbehrt.
Besonders Marxisten haben die emotionalen und affektiven Formen kollektiver
Selbsttäuschung unterschätzt, wenn sie die mythische Selbstverleugnung sozialer
Gruppierungen zum kognitiven oder theoretischen Defizit eines "falschen Bewußtseins" erklärt haben. Das Wahrheitskriterium allein scheint wenig geeignet
zu sein, den grundlegenden Charakter dieser gutgläubigen Verkennung zu erschließen, die sich im Akt stillschweigender Anerkennung des Geltenden äußert.
Dem Spielverderber mögen die Schauspiele der Trucker als eine kollektive
Selbstlüge erscheinen. Den Vorgang per se als eine bloße Falschheit zu unterstellen, behindert aber die Frage, warum sich Fernfahrer im Vollbesitz ihrer
geistigen Kräfte immer wieder zu einer raffinierten Komplizenschaft hinreißen
lassen, deren Risiken sie selbst zu tragen haben. Die Bedingungen der Möglichkeit dieses "legitimen Betrugs" (Bourdieu) sind erklärungsbedürftig, d.h. wie es
dazu kommen kann, daß "einer [...] sich selber in gutem Glauben für jemanden
anderen hält, als er wirklich ist" (Bourdieu 1986, S. 191). Es scheint so, als ob die
kollektive "Beschönigungsarbeit" (Bourdieu) und symbolische Leugnung des
Arbeitsverhältnisses als Herrschaftsbeziehung jener "Preis" ist, den die Fernfahrer
für die öffentliche Anerkennung ihrer "offiziellen" Wahrheit zu zahlen haben,
d.h. den die gesellschaftliche Offizialisierung ihrer Berufsgruppe kostet.
"Die Offizialisierung ist der Prozeß, durch welchen die Gruppe (oder ihre Herrschenden) sich
ihre eigene Wahrheit beibringt und verschleiert, indem sie sich im öffentlichen Bekenntnis
zusammenfindet, mit dem ihre Aussage legitimiert und durchgesetzt wird, wobei sie stillschweigend die Grenzen zwischen dem Denkbaren und dem Undenkbaren definiert und so zur
Erhaltung der Gesellschaftsordnung beiträgt, aus der sie ihre Macht ableitet" (Bourdieu 1987,
S. 199).
Die abgrenzenden Klassifikationen und Trennungen, mittels derer die berufliche
Gruppierung der Fernfahrer erst ihre spezifische Gestalt erhält, realisieren sich
über allgemein gebilligte "Vorstellungen", "in denen sich die Gruppe wiedererkennen will".44 Aufgrund seiner "gefühlsmäßig-unreflektierten Verankerung"
(Hartfiel/Hillmann) ist der Mythos aber weitgehend immun gegenüber kritischen
Kommentaren und belehrenden Hinweisen über die eigentlich ganz anders
gearteten wirklichen Zusammenhänge und tatsächlichen Fakten.
Anders als der ideologische Wahrheitsanspruch ist die mythische Offenbarung gegen wissenschaftlich begründbare Zweifel weitgehend immun, da ihre Wirklichkeitsbilder im szientistischen Sinne weder "beweispflichtig" sind noch einer logischen Konsistenz oder inneren
Kohärenz bedürfen. Die Widersinnigkeit und Zwiespältigkeit des Mythos für Außenstehende,
44
Vgl. Bourdieu (1987, S. 199f.): die "autorisierten Sprecher", die erwählt sind, "im Namen
der Gruppe über die Gruppe zu sprechen", "tragen einen Diskurs vor, der mit der Anschauung übereinstimmt, die die Gruppe von sich verbreiten und selber haben will, wobei die
Betonung (vor allem in Gegenwart eines Fremden) mehr auf Werte (z.B. die Werte der
Ehre) als auf Interessen, mehr auf Regeln als auf Strategien gelegt wird".
291
die sich nur dem Distanzierten und Uneingeweihten zeigt, der nicht an das Unglaubliche zu
glauben bereit ist, der geradezu paradoxe Gehalt mythischer Aussagen, die für den wachen
Verstand Wahres mit Falschem, Wirkliches mit Eingebildetem in absurder Weise vermischen,
ermöglicht es den Gläubigen, sich im gleichen Atemzug von den extremen Übertreibungen
ihrer Mythologie abzugrenzen, ohne den sachlichen Kern ihrer Erzählungen in Frage stellen
zu müssen. Die "illusio" (Bourdieu), das zur Selbsttäuschung geeignete Wunschbild, das der
Mythos den Gläubigen vermittelt und von ihnen verlangt, erlaubt es ihnen, das Mythische in
der Befragung mittels theoretischer Selbstreflexion ins Reich der "Vorstellung", des (Schau)Spiels, des Scherzes oder Spottes zu verweisen.45
Als eine relativ unreflektierte Form der Wirklichkeitsauffassung lösen die Fernfahrermythen
gleichsam die Widersprüchlichkeiten ihrer eigenen Glaubwürdigkeit. Bei reflexiver Betrachtung stellt sich der Mythos als ein unglaubliches Märchen heraus, als eine unangemessene,
fiktive Beschreibung der Realität von Fernfahrern. Dennoch vermag die theoretische Distanz
zu seiner spezifischen Unwirklichkeit, "Falschheit" oder "Unwahrhaftigkeit" nur wenig auszurichten gegen den praktischen Glauben an ihn, der sich in zahllosen ästhetischen Accessoires
und Stilisierungen, in maskulin gefärbten Gesten und Alltagspraktiken, in festtäglichen
Zeremonien und Ritualen, in persönlichen Anekdoten und überlieferten Episoden, in Witzen
und Vorstellungen ausdrückt, durch die der "wirkliche" Fernfahreralltag romantisiert und
ästhetisch verborgen wird. Die spezifische Zwiespältigkeit mythischer Aussagen ist nur für
einen distanzierten Beobachter erfahrbar, der den Wahrheitsgehalt der Mythologie mit den
Rationalitätsmaßstäben einer "theoretischen Logik" mißt, mit der die Explizierbarkeit und
logische Konsistenz zu unverzichtbaren Kriterien von Vernunft und Sinn erhoben werden. Die
Zwiespältigkeit und scheinbare Absurdität der Fernfahrermythologien ergibt nur dann einen
sozialen und persönlichen Sinn, wenn man den Mythos und den damit verbundenen Ritus aus
dem Blickwinkel einer "Logik der Praxis" (Bourdieu) untersucht.
Die Mythen und Riten des Fernfahreralltags sind nicht zu dem Zweck erzeugt worden,
entzifferbares Material für die wissenschaftlichen Erkenntnisgewinnung zu liefern. Werden die
Alltagsmythen lediglich als "Aussagen" oder wie eine "Metasprache" behandelt (z.B. bei
Barthes 1970), birgt dies die Gefahr, den Mythos von den praktischen Handlungen und der
rituellen Praxis zu trennen, in deren Kontext die mythischen Vorstellungen und Aussagen erst
ihren persönlichen Sinn und ihre soziale Bedeutung erhalten. Die nur auf Sprache fixierte
Analyse mythischer Botschaften droht, die mythische Praxis kurzerhand in einen lógos zu
verwandeln. Reduziert auf seinen sprachlichen und mental-rationalen Charakter wird der
Mythos dann zu einer Elementarform vernünftigen Denkens, verliert dadurch aber im Zuge
seiner wissenschaftlichen Objektivierung zugleich seinen Charakter als ein praktisches
Verhältnis zur natürlichen und sozialen Welt.
"Wenn Praktiken und rituelle Vorstellungen praktisch schlüssig sind, so deswegen, weil
sie vom kombinatorischen Ineinandergreifen einer kleinen Zahl von Erzeugungsschemata
hervorgebracht werden, die durch Beziehungen praktischer Substituierbarkeit miteinander
zusammenhängen, d.h. Ergebnisse erbringen können, die von den 'logischen' Erfordernissen
der Praxis her gleichwertig sind. Daß diese Systematik verschwommen und näherungsweise
45
292
Dies betrifft auch die mythologiekritischen Aussagen von Fernfahrern, die, sobald sie über
die Fernfahrermythologie befragt werden, über den Realitätsgehalt des Truckerkultes
nachdenken, und sich selbst samt ihrer berufliche Folklore zum beobachteten Objekt einer
alltagstheoretischen Reflexion machen. Dies hindert sie allerdings nicht daran, sich bei
passender Gelegenheit als Trucker zu fühlen oder an Truckerspielen zu beteiligen.
bleibt, liegt daran, daß diese Schemata nur deswegen zu ihrer fast universalen Anwendung
gelangen, weil sie im Zustand des Praktischen fungieren, d.h. jenseits der Erklärung und
folglich außerhalb jeder logischen Kontrolle und unter Bezug auf praktische Zwecke, die ihnen
eine andere Notwendigkeit auferlegen und verleihen können als die der Logik" (Bourdieu
1987, S. 172).
Auch für Malinowski (1973, S. 83) ist der Mythos nicht nur eine "erzählte Geschichte", sondern eine lebendige oder "gelebte Wirklichkeit". Irreführend wäre
danach ein Verständnis des Mythos, das ihn als eine bloße mentale Vorstellung
oder emotionale Empfindung, als reine Erzählung oder Sage von der entsprechenden (rituellen) Handlungspraxis isoliert. Den Mythos so zu deuten, als
handele es sich dabei bloß um ein "Interpretationsverfahren", um eine mehr oder
weniger kontemplative Auslegung der Realität oder um ein naives, alltagstheoretisches Wirklichkeitsmodell, übersieht, daß dadurch eine intellektuelle Illusion
über die menschliche Handlungspraxis produziert wird, die wie selbstverständlich
unterstellt, das die Einwirkungskraft mythischer Handlungen auf die Natur- und
Sozialwelt unbedingt über eine theoretische Interpretation der Wirklichkeit
erfolgen muß (vgl. Bourdieu 1987, S. 67): aber "schon durch die bloße Aufzeichnung wird der Mythos oder Ritus zum Objekt der Analyse erhoben, indem
er von seinen konkreten Bezugspunkten (...), von den Situationen, in denen er
fungiert, und von den Personen abgelöst wird, also von alledem, was ihm unter
Bezug auf praktische Funktionen (z.B. auf die Funktion der Legitimierung von
Hierarchien oder Macht- und Besitzverteilungen) seine Funktion gibt."
Mit seiner Zerstörung der mythischen Praxis verliert der naive aufklärerische
Impetus die subtilen Formen symbolischer Herrschaft aus den Augen, die der
Mythos durch die Naturalisierung des Sozialen und Historischen und durch die
Sanktionierung gesellschaftlicher Unterschiede produziert.
Auch wenn sich mythische und ideologische Weltbilder in ihrer Arbeitsweise
und ihrem Geltungsanspruch voneinander unterscheiden, so wirken sie doch
komplementär, was die Unterstützung symbolischer Herrschaftsformen betrifft.46
Der Herrschaftscharakter des Mythos beruht ja im wesentlichen auf der Naturalisierung von sozial konstruierten und historisch tradierten Ereignissen und auf der
transzendentalen Legitimierung ("Sanktionierung") sozialer Ungleichheiten,
46
Die Repräsentation der Fernfahrer trägt sowohl mythische als auch ideologische Züge. Die
soziale Gruppenbildung darf jedoch nicht nur an ideologische Repräsentationsformen
gebunden werden, weil dies eine unzulässige Einengung auf jene Gruppierungsprozesse
wäre, die bereits ein vergleichsweise hohes Maß an politischer Gruppen(sub)kultur voraussetzen. Die "Fähigkeit" einer sozialen Gruppe, Ideologien zu produzieren, würde damit
unter der Hand als ein Kriterium der Gruppenbildung schlechthin eingeführt, wodurch alle
sozialen Gruppierungen ohne spezifische Gruppenideologie aus der Definition sozialer
Gruppen herausfielen.
293
Privilegien und Benachteiligungen.47 Der Truckermythos stattet die willkürlichen
Trennungen und Entsolidarisierungstendenzen der Fernfahrer gegenüber der
industriellen Arbeiterschaft mit einer Glaubwürdigkeit aus, die den subkulturellen
Abgrenzungen das nötige emotionale Gewicht verleiht.
Die Bewältigung vor allem umweltbedingter Widrigkeiten und psychophysischer Ermüdungserscheinungen ist wohl in erster Linie als eine permanente Herausforderung zu begreifen, die
über "rationale", praktisch-technische Eingriffschancen hinaus eine ergänzende Entfaltung
außergewöhnlicher, schier übersinnlicher Kräfte zu erfordern scheint und zuweilen noch durch
religiös motivierte Glaubenshaltungen flankiert wird. Solche magischen Künste, mit denen die
widerspenstige Natur und ihre Kräfte aus eigener (über)menschlicher Kraft beeinflußt wird,
bilden die thematische Grundlage zahlreicher Erzählungen über außergewöhnliche (Fahr)Leistungen und die Bewältigung unfallträchtiger Situationen, ebenso wie das Verhältnis zum
Lastkraftwagen von vielen Fernfahrern als eine magische Zweierbeziehung (Freundschaft oder
Kameradschaft) beschrieben wird, der ein "außerrationaler Kausalitätszusammenhang"
(Hartfiel/Hillmann) zugrunde zu liegen scheint.48
Viele Fahrer haben eine Art Weiheverhältnis zu "ihrem" Lastkraftwagen, eine Mischung
aus Achtung und Furcht. Das sakrale Verhältnis zum LKW, das ihn einmal als einen Freund,
ein anderes Mal als einen kräftezehrenden Feind erscheinen läßt, dem sich der Fahrer von
Mann zu Mann zu stellen hat, um Pflege und Aufmerksamkeit gegen die Zuverlässigkeit der
Technik zu tauschen, verdeckt die Erkenntnis, das es sich dabei um ein profanes Arbeitsmittel
handelt (zur Verdinglichung des LKW vgl. Abb. 23).
"Ein Trucker", sagt Sigi Reil, "ist einer der fahren muß". Oder, positiv gewendet: "Du
fährst, und du bist glücklich" (zitiert nach Rainer Weber 1986, S. 236).
"So ähnlich sagen das alle. Wer frühmorgens den Dreißig-Tonnen-Diesel aus dem Speditionshof oder dem Werksgelände bugsiert, der läßt alle Langeweile hinter sich, allen Papierkram, die Windeln vom Kleinen und das pompöse Geschwätz der Halbleiter im Betrieb. Reil:
'Wenn ich vom Hof fahre, dann bin ich der Größte.' Deshalb, und nicht ausschließlich wegen
des Nettoverdienstes (mit allen Spesen und bei, allerdings seltenen, Spitzenprämien) von dreioder viertausend Mark, schrubben manche Vier- oder Sechs-Wochen-Touren oder dreimal
die Woche Terminfracht nach Spanien und zurück. Trucker leben in der teuflischen Zwickmühle, daß in ihrem oft elenden Job die vorgestanzten Mythen von Freiheit und Abenteuer,
von der long open road, der Einsamkeit des Langstreckenfahrers und der süßen Sehnsucht
nach Zuhause zwischendurch doch immer mal wieder zum Leben erwachen. Das macht abhängig wie von einer Droge (...)" (R. Weber 1986, S. 236).
47
48
294
Auch für Malinowski kann sich der Mythos nicht nur an die Magie heften, sondern an jede
Form sozialer Macht oder sozialen Anspruchs: "Durch ihn werden immer außergewöhnliche Privilegien oder Pflichten erklärt, große soziale Ungleichheiten, schwere Belastungen
des - sehr hohen oder sehr niederen - Standes" (1973, S. 68).
Hierunter fallen auch die "Fernfahrerkapellen", die auch ein beliebter Ort "standesgemäßer"
Fernfahrer- und Trucker-Hochzeiten sind, die mobilen "Seelsorger", die den Fernfahrern
auf Raststätten, an Landesgrenzen oder großen Verladestellen begegnen, die glücksbringenden religiösen Figuren wie der "Heilige Christophorus", der Fernfahrern als Schutzpatron dient, sowie Trucker-Lieder, die religiöse Themen aufgreifen. Auch "niedere
Formen des Spiritismus" sind unter den Fahrern verbreitet, wie der Dokumentarfilm "Als
Diesel geboren" (Przygodda 1978) über das Leben brasilianischer Fernfahrer zeigt.
"Es ist ein super Job! Man kommt 'rum, man lernt die Welt kennen, das ist eben ein ganz
anderes Leben als hinter der Werkbank stehn, in der Fabrik oder sonstwas und ewig guckt Dir
einer auf die Finger. Das, also das könnt' ich nicht vertragen, wenn der Chef ewig auf die
Finger guckt: Das mußt Du so machen und das mußt Du so machen. Hier steig' ich morgens
auf meine Kiste, dann fahr' ich los, bin 'ne ganze Woche weg. Komme nach 'ner Woche
wieder, schmeiß meinem Chef dann die Papiere auf den Tisch und so: Hier, hat geklappt, Chef!
Na, dann sagt er: Okay, ist in Ordnung! Und ich krieg dann, jede zweite Woche hab' ich meine
Kohle auf der Bank, ne. Das läuft echt prima!" (Ein ungenannter Trucker, zitiert nach Prahl
1988).
Die Herausbildung einer neuen beruflichen Subkultur unter den Fernfahrern
vollzieht sich durch die Erzeugung spezifischer Abgrenzungen, mit denen sich
die Trucker untereinander identifizieren als auch gegenüber anderen sozialen
Gruppen - vor allem industriellen Arbeitskräften - hervorheben können. Eine
ideologische und mythologische Voraussetzung für den gemeinsamen Glauben an
die Existenz der Fernfahrer als einer, mit einer eigenständigen Subkultur und
sozialen Identität ausgerüsteten Berufsgruppe, ist die Verkennung der vielfältigen
Unterschiede, die die Fernfahrer eigentlich untereinander kennzeichnet und, bei
genügend hoher Auflösungskraft der Betrachtung, auch voneinander trennt. Die
Entstehung einer kohärenten Subkultur auf der Basis eines derart heterogenen
Ensembles setzt somit einen Prozeß symbolischer Einigung voraus, in dem die
Unterschiede untereinander heruntergespielt werden durch die symbolische
Akzentuierung gemeinsamer Merkmale, durch die sich die Fernfahrer von anderen Berufsgruppen unterscheiden, ja welche die Fernfahrer von möglicherweise
gleichartigen Arbeitertypen unüberbrückbar trennt. Diese Unterscheidungen
tragen einen weithin ignorierten, subtilen Charakter sozialer Herrschaft.
"Symbolische Macht ist eine, die Anerkennung voraussetzt, d.h. das Verkennen der über sie
ausgeübten Gewalt" (Bourdieu 1986, S. 188; vgl. 1985): Symbolische Gewalt ist also eine
"sanfte, unsichtbare, als solche verkannte, gleichermaßen erwählte wie erlittene Gewalt des
Vertrauens, der Verpflichtung, der persönlichen Treue, der Gastfreundschaft, Gabe, Schuld,
Dankbarkeit, Frömmigkeit, mit einem Wort, die Gewalt all der Tugenden, an die sich die
Ehrenmoral hält, als die sparsamste, weil der Ökonomie des Systems angemessenste Herrschaftsweise" (Bourdieu 1987, S. 232).
Anders als die Beherrschung durch explizite, "nackte" Formen der Machtausübung, die zwar ein Minimum an Bereitschaft voraussetzen, sich (mitunter
zähneknirschend) der (an)erkannten Gewalt zu beugen, bleibt die symbolische
Herrschaft als solche unerkannt. Die Beherrschten verkennen regelrecht, daß es
sich hierbei überhaupt um eine (implizite) Herrschaftsform handelt, weil
symbolische Herrschaft auf stillschweigender Anerkennung beruht, d.h. auf
individueller Selbsttäuschung und kollektivem Selbstbetrug. Die besondere
Pointe, die eine Konzeption symbolischer Gewalt liefert, liegt nun darin, daß die
betroffenen Fernfahrer nicht mehr nur als Opfer allmächtiger, fremder Zwänge
erscheinen, sondern ihre Komplizenschaft ins Zentrum der Aufmerksamkeit
295
gerät, mit der sie sich belasten lassen und sich selbst beanspruchen, indem sie
einen unverzichtbaren Eigenbeitrag leisten, die Unbestimmtheitslücken ihrer
enormen Arbeitsleistung selbst zu schließen.
In der Praxis dürfte die "materielle" und die "symbolische" Form der Gewalt allerdings
nebeneinander bestehen, wobei die sichtbare Gewalt nicht nur dort an ihre Grenzen stößt, wo
sie eine kollektive Mißbilligung in Form von Gegenwehr oder Flucht provoziert (vgl. Bourdieu
1987, S. 231f), sondern vor allem auch dort erforderlich ist, wo es um die Sicherung kontinuierlicher Leistungsmotivationen unter der Bedingung schwer kontrollierbarer Arbeitsabläufe
geht. Die Effekte subtiler Herrschaftsformen bleiben in solchen Zusammenhängen meist an die
Wirksamkeit symbolischer Beschönigungen oder an die Verneinung unangenehmer "Wahrheiten" gebunden (vgl. ebd., besonders S. 203, 230 und 244). Wenn ein abhängig beschäftigter
Fernfahrer sich beispielsweise als sein "eigener Herr" fühlt, sobald er mit "seinem" LKW das
Speditionsgelände verlassen hat, dann ist dies ein Akt stillschweigender Anerkennung eines
raffinierten Herrschaftsverhältnisses, das nur wirksam werden kann, weil die impliziten Herrschaftseffekte, die in dieser arglosen Definition der Arbeitssituation enthalten sind, verborgen
sind und verkannt werden.
Der weitgehend unbewußte Glaube an eine "Magie der Arbeit", der in einem
gefährlichen Beruf wie dem der Fernfahrer sicherlich nur besonders dramatisch
zum Ausdruck kommt, scheint in der Arbeitswelt weiter verbreitet zu sein, als
dies in der Arbeits- und Berufssoziologie bislang für möglich gehalten wird.
Wie volkskundliche Untersuchungen in den USA beispielsweise über das Alltagsleben großstädtischer Feuerwehrleute zeigen, sind berufsspezifische Erzählstoffe (mündlich überlieferte
Geschichten, Scherze und persönliche Anekdoten) neben der Vermittlung von formalen und
technischen Informationen das entscheidende Medium berufsbezogener Sozialisation und
Gefahrenbewältigung (vgl. Toelken 1986, S. 223ff. im Anschluß an eine Studie von Robert
McCarl 1980): Die durch sexuelle Metaphern und Wortspiele stark maskulin gefärbten Geschichten erfahrener Feuerwehrmänner vermitteln den Neulingen durch ihre lebendigen,
emotional und praktisch nachvollziehbaren Beschreibungen, "wie jemand in Panik geriet, einen
Fehler machte, unter Druck die richtige oder falsche Handlung beging", mehr über Sicherheitsvorkehrungen und vernünftige Verhaltensweisen bei der Brandbekämpfung als dies die
üblichen technischen Lehrbücher zu tun vermögen. Neben der praktischen Funktion solcher
beruflichen Mythologien bei der Vermittlung berufsspezifischer Erfahrungen und bei der
Bewältigung von arbeitsbedingten Belastungen und Risiken, unterstützen die "Heldentaten"
der Feuerwehrleute die soziale Auslese "geeigneter" Nachwuchskräfte. Beinahe jeder gefährliche Beruf in den Vereinigten Staaten kennt nach Ansicht von Barre Toelken Formen des
"Streiches", "mit denen festgestellt wird, ob jemand die Gruppenanforderungen akzeptiert"
(ebd., S. 225).
Zahlreiche "Streiche unter guten Freunden", mit denen sich die Gruppenzugehörigkeit
signalisieren läßt (und die sicherlich auch der Entschärfung von Konflikten und dem Abbau
emotionaler Spannungen dienen) unterscheiden sich von den selektiv wirkenden "Streichen",
mit denen Neulinge "mitleidslos" drangsaliert werden, "um ihre Geduld, ihren Humor und
Respekt zu testen und um ihnen ihren geringeren Status im sozialen Umfeld deutlich vor
Augen zu führen" ( ebd., S. 224). "Diejenigen, die diese Proben mit Geduld und Humor
ertragen, werden gute und vertrauenswürdige Kameraden werden, Kollegen, die in gefährlichen Situationen und unter unglaublichem Druck sich darum sorgen, das Leben der anderen
296
zu schützen" (ebd.)., die anderen, die diese Behandlung nicht ertragen können, geben den
Beruf nach einigen Monaten "beständiger Quälerei" auf.
Die kollektive Verklärung bestimmter Seiten des ambivalenten Arbeitsalltags von
Fernfahrern, die in der dramatischen Mythologie zum Ausdruck kommt, ist ein
entscheidendes Bindeglied, um die arbeits- und berufsbedingten Risiken (zunächst nur) symbolisch zu verarbeiten. In den Berufsmythen des Fernfahreralltags
werden LKW-Fahrer vorgestellt, die alles andere sind, als Fahrer eines Lastwagens. Selbst in offizialisierten Darstellungen, wie sie etwa Massenmedien vermitteln, erscheinen Fernfahrer als "Kapitäne der Landstraße", als "BrummiKapitäne", als "Asphalt Cowboys" oder gar als "Highway Helden". Das Arbeitsleben dieser LKW-Fahrer wird als eine Kette permanenter maskuliner
Herausforderungen vorgestellt und ihre berufliche Tätigkeit symbolisiert eine
Männerarbeit, die mit einem besonderen Geschmack für Freiheit und Abenteuer
ausgestattet ist. Die öffentliche (Selbst)Wahrnehmung von Fernfahrern ist in
hohem Maße von einer Mythologie geprägt, deren Authentizitätsanspruch unterstrichen wird durch eine Inszenierung ritueller Kulthandlungen und großangelegter Zeremonien, wie sich die Zelebrierung der Trucker-Feste aus
religionssoziologischer Perspektive beschreiben ließe.
Meine These ist, daß die beruflichen Alltagsmythen der Fernfahrer mehr
bedeuten als eine, manchem geradezu als grotesk oder verrückt anmutende,
ostentative Selbstdarstellung. Die Mythologien der Fernfahrer eignen sich dafür,
die Entstehung ihrer beruflichen Gruppierung sowohl mental wie emotional mit
Glaubwürdigkeit auszustatten und durch eine aufwertende Traditionsbildung
symbolisch zu stärken. Meinem Eindruck nach geschieht dies erstens durch eine
enge Verbindung der Fernfahrermythen mit dem entsprechenden Kult und der
(rituellen) Handlungspraxis der Trucker, zweitens durch die Entstehung einer
"Magie der Männlichkeit" in der Auseinandersetzung mit widrigen Arbeitsbedingungen und drittens, indem soziale "Klassifizierungen" (Bourdieu) und
"Trennungen" (Willis) über die Absonderung des Heiligen vom Profanen, des
Ehrenvollen vom Unwürdigen mythisch begründet werden.
Bei aller Betonung der praktischen soziokulturellen Kraft des Mythos darf
allerdings nicht übersehen werden, daß Mythologien selbstverständlich auch
Erzählungen sind, die - gewissermaßen als ein illegitimes "Wissen" (Folklore)
und als populäre Poesie des Volkes - die literarische Form der Auseinandersetzung mit der sozialen und natürlichen Welt bildet. Der literarische Aspekt des
Mythos offenbart sich auch in den vielen hochdramatischen Geschichten und
Liedern, die von dem harten Leben der Fernfahrer und ihrer maskulinen Arbeitsbewältigung erzählen. Die entscheidende Voraussetzung für die literarische Verarbeitung des Fernfahreralltags aber sind die einzigartigen Arbeits- und Lebensbedingungen, die sich in einer besonderen Weise für eine mythisierende Aufbereitung anbieten. Das maskuline Charisma des Truckers, das seine Arbeitstätig297
keit wie nichts anderes zu charakterisieren scheint, die unzähligen "Heldentaten",
die seine arbeitsbedingte Auseinandersetzung mit der äußeren und inneren Natur
als einen magischen Akt erscheinen lassen, sind wie darauf zugeschnitten, einen
Geschmack für Freiheit und Abenteuer zu symbolisieren, der in den meisten
industriellen Berufen grundlegend fehlt - oder dort mit der Zeit verloren gegangen ist. Inwieweit der nordamerikanische Truckermythos in diesem Zusammenhang die Entwicklung beruflicher Subkulturen unter den Lastwagenfahrern
unterstützt, soll im folgenden am Beispiel der Entstehung und Veränderung der
Fernfahrermythologien in den USA und in Deutschland skizziert werden.
"In den Vorläufern der Road Pictures, den Western, bewegte sich das reisende Volk in Postkutschen und Planwagen-Trecks oder auf dem Rücken ausdauernder Pferde voran. 'Auf nach
Westen' war die historische Losung Nordamerikas (...). Die Cowboys von heute sitzen auf
Feuerstühlen oder hinter dem Armaturenbrett. Doch immer noch ist der Ausbruch aus der
Abhängigkeit in die Freiheit ein amerikanischer Mythos. Der letzte Spielraum der durchorganisierten Gesellschaft: das silberne Band der Highways. Road Movies als Western des JetZeitalters transportieren die alten Mythen wie eine kostbare Fracht: Pioniermut, individuelle
Stärke, Optimismus, Skepsis gegenüber dem Fortschritt - und Angst vor Frauen. Die Mythen
geben Einblick ins Land und seine Helden" (Heinzlmeier et al. 1983, S. 148).
In den Vereinigten Staaten läßt sich die "Erfindung" des Truckers relativ leicht
zurückverfolgen (vgl. im folgenden James H. Thomas 1979, S. 1-11). Seit der
Kolonisierung, die sich als eine gigantische Bevölkerungswanderung nach
Westen darstellt, wird hier vor allem die Überwindung unwirtlicher Räume und
die Bewegung von überlebensnotwendigen Gütern zu einer Heldentat hochstilisiert. "Go West" - "Zieh in den Westen, auch wenn es Deinen Tod bedeutet!" präsentiert sich als ein zentrales Leitmotiv des US-amerikanischen "Nationalcharakters" (Raeithel 1981), das auch heute noch soviel symbolische Kraft zu
besitzen scheint, daß sich daraus sogar die gewaltige Werbekampagne einer
gleichnamigen Zigarettenmarke speisen läßt.49 Nach der Zeit der Pioniere waren
es vor allem die beiden Weltkriege, die zu einer allgemeinen Aufwertung der
lebens- und kriegswichtigen Leistungen von LKW-Fahrern beigetragen haben.
Die Entstehung des Trucker-Mythos, der mit den Lastkraftwagen und deren
Fahrern verbunden wird, reicht in den USA bis in die Zeit nach Ende des ersten
Weltkrieges zurück. Viele Kriegsveteranen versuchten, ihre im Umgang mit dem
LKW erlernten Fähigkeiten nun auch im zivilen Bereich beruflich zu verwerten
49
298
Man vergleiche die ästhetischen Reize der Zigarettenwerbung der Marke "West" mit ihren
gigantischen Trucks in der endlosen Weite amerikanischer Highways (Rot-Weiß als dominante Farbkombination der Zigarettenschachteln in Verbindung mit den in tiefem Braun
gehaltenen Landschaften unter grenzenlos blauem Himmel) mit jener der Marke "Marlboro", die darauf abonniert ist, Cowboys und wilde Pferde in die gleiche Landschaft zu stellen
- und man hat einen ästhetischen Beleg für die stilistische Verwandtschaft, die der berufskulturelle Mythos der LKW-Fahrer zwischen Cowboys und Truckern herstellt.
Abb. 35: "Go West. Von einem der auszog die Freiheit zu finden"
"Westwärts"
"Die Reise in den Westen war in alten Zeiten eines der größten Abenteuer. Nicht nur weil eine
ungeheure Wasserwüste zwischen dem amerikanischen Kontinent und Europa liegt, sondern auch
auf Grund tiefer mythischer und märchenhafter Zusammenhänge. Für viele Völker war der Westen
das Land des Todes, denn dort versank täglich die lebensspendende Sonne. Europa orientierte sich
über Jahrhunderte in Richtung Sonnenaufgang, nach Osten, nach dem Orient. (...) In den späteren
Geschichten, in denen Trapper, Desperados und andere Einzelhelden im Westen auftauchen,
verschwindet das Ideal der Fraueninsel und das, was gesucht wird, (...) ist die Männerfreundschaft.
(...)
Die Geschichte der männlichen Abenteurer, die in den Westen gingen und als Filmhelden
zurückkehrten, werden wir im folgenden erzählen. Dabei lenken wir unseren Blick weniger auf die
'wirklichen Vorgänge', sondern mehr auf die Sehnsüchte, Wünsche und imaginären Bilder, die mit
dem Zug nach dem Westen verbunden waren. Wir reden nicht von der Vernichtung der Indianer und
Büffelherden, nicht von den Viehtrucks, die in die Schlachthäuser von Chicago getrieben wurden,
nicht von den chinesischen Kulis die beim Bau der Eisenbahn bewußt in die Luft gesprengt wurden,
nicht von der ersten gezündeten Atombombe in Los Alamos und auch nicht von den lichten Freuden
des kalifornischen Life-styles. Wir reden von einer Figur, die wie eine Eins durch die Bewegtheit der
amerikanischen Geschichte geht und weder Gott sucht noch die Frau. Mit vier starken Bildern ist
diese Figur verbunden: Einsamkeit, Wildnis, Freiheit und Freundschaft. (...)
Unter dem Druck der aufkommenden Industrialisierung und Großfarmen sondern sich immer
wieder einsame Individuen ab, gehen in die Wildnis und leben dort als Trapper, Jäger oder einfach
als outlaws. (...) Cowboys, Tramps, Desperados laufen westwärts auf der Suche nach...? Gold,
Reichtum - die Träume der großen spirituellen Westreisen sind versiegt. Doch der einsame Held, der
bereit ist, seine Individualität gegenüber der ganzen Gesellschaft, wenn es sein muß gegen Gesetz
und Ordnung aufrechtzuerhalten, wird zum stärksten und größten amerikanischen Mythos" (Auszug
aus dem Vorwort von Herbert Röttgen: Westwärts. In: "Go West. Von einem der auszog die Freiheit zu
finden." Reihe "Das Märchen lebt", Edition Braus, Heidelberg o.J., S. 6-11).
und folgten den Verlockungen von Unabhängigkeit und unbegrenzten Möglichkeiten, die sich bei der Expansion des Güterverkehrsmarktes offenbar für junge,
hart arbeitende "Unternehmer" ergab, die bereit waren, ihr Leben auf der Straße
zu verbringen. James H. Thomas beschreibt die Merkmale der selbständigen
Fernfahrer, an die der Trucker-Mythos von Freiheit, Abenteuer und männlicher
Stärke stilisierend anknüpfen konnte (1979, S. 3):
"The myths presently held about trucks and truckers evolved from the practices of independent
truckers in the period following the end of World War I. At that time truckers had the image
of beeing totally free. The actual driving of a truck required few skills beyond those of the
average motorist, but in those days the trucker needed physical strength to change tires and
mechanical knowledge to make repairs. Theirs was a demanding, semi-nomadic experience
which set them apart."
Eine wichtige Stütze des Mythos ist die deutliche Abgrenzung der LKW-Fahrer
von den "normalen", zum Teil touristisch reisenden PKW-Fahrern, besonders an
299
Abb. 36: Ökonomische Anspielungen auf den Freiheits- und Mobilitätsmythos
(aus einer Anzeigenkampagne der Volksbanken Raiffeisenbanken)
jenen Orten, an denen die Fernfahrer sich zur Rast und sozialen Kontaktpflege
zusammenfinden. Diese Klassifizierung läßt sich bis in die stilistischen Details
300
des Outfits hinein nachvollziehen: "His unpressed clothes, uncombed hair, and
perhaps the tattoo on his forearm set him [the driver of the large truck, M.F.]
apart from the tourist" (Thomas 1979, S. 5). Die Distanzierung zu den nicht
berufsmäßig Fahrenden ist heutzutage sicherlich nicht mehr so drastisch stilisiert,
wie dies früher einmal der Fall war, als die Berufskraftfahrer erst im Begriff
waren, sich als eine eigenständige Berufsgruppe gegen die autofahrenden Jedermänner herauszubilden. Dennoch finden sich auch heute noch zahlreiche Accessoires, die den Fernfahrer in Raststätte und Truck-Stop weithin sichtbar aus dem
Kreis der übrigen Fahrer heraushebt (vgl. z.B. den sarkastischen Titel der Fernfahrerstudie von Plänitz "Das bißchen Fahren...", wo die Gefahren des Fahrens
auf dem Titelbild mit der Fotografie eines LKW-Unfalls dramatisch präsentiert
werden, bei dem vermutlich der Fahrer im Sarg liegend weggetragen wird).
Im Zentrum der US-amerikanischen Trucker-Kultur stehen jene hervorstechenden "Charakterzüge", die mit dem Süden oder Mittleren Westen der Vereinigten Staaten assoziiert werden und die eine Stilisierung des Fernfahrers zum
"letzten amerikanischen Cowboy"50 geradezu herausfordern (Thomas 1979, S. 5):
"The trucker, seemingly unaffected by the vast cultural differences encountered on his travels,
possesses traits associated with the South or Midwest. His attitudes, dress, and speech patterns
are a mixture of the two regions and may be attributed to the large percentage of truckers with
rural backgrounds and an interest in country and western music. Truckers from the Northeast
or Northwest who engage in long-haul soon lose their regional, cultural traits and come to
resemble their counterparts who hail from Oklahoma or Mississippi. This rich mixture of
Southern and Midwestern culture, often associated with the cowboy of the nineteenth century,
compels writers to compare the modern trucker with the cowhand."
Obwohl die zahlreichen Symbole, Mythen und Legenden, die sich um Cowboys
und Trucker ranken, die fundamentalen Unterschiede verdecken, die einen
direkten Vergleich eigentlich verbieten, scheinen die Vertreter beider Berufe
dennoch von einigen gemeinsamen prägnanten Charakterzügen geprägt zu sein,
die sich nicht nur vorzüglich zur Heroisierung eignen (wie Unabhängigkeit,
Mobilität, Stärke, Mut und Männlichkeit), sondern zudem in einer Gesellschaft
besonders hoch bewertet werden, in der die uneingeschränkte "Mobilität" seit
jeher Glück und Wohlstand verheißen hat (vgl. Thomas 1979, S. 7). Diese heroischen Kennzeichen haben indessen einen gemeinsamen Symbolgehalt, der im
wesentlichen auf einem Mythos der Männlichkeit51 beruht, den beide Berufe
50
51
So z.B. bei Jane Stern (Trucker: A Portrait of the Last American Cowboy, New York 1975).
Die Südstaatenflagge, mit der viele Fahrer ihre Sympathien mit den "Rebellen" des Südens
sichtbar zum Ausdruck bringen, ziert auch manches deutsche LKW-"Führerhaus".
So selbstverständlich sich die mythische Maskulinität von Cowboys und Truckern auch
präsentieren mag, sie bleibt stets an die fundamentale Voraussetzung gebunden, daß in
beiden Berufen der Frauenanteil extrem niedrig bleibt.
301
auszustrahlen scheinen, und durch dessen integrative Kraft sich die verschiedenen
subkulturellen Stilelemente wie zu einer einheitlichen Gestalt zusammenfügen:
"Masculinity is the principal ingredient that unifies these heroic traits. Therefore woman
connected to both occupations have played the role of ever-waiting spouses or girl friends, or
employees at their cultural centers: the saloon at the end of the trail and the pro-am truckstop
beside the interstate highway" (Thomas 1979, S. 8).
Während die Cowboys jedoch zu den Helden eines neuen Genres avancierten,
dem "Western", blieben die Trucker von Kunst und Massenmedien lange Zeit
weitgehend unbemerkt, wenn man von einigen zweitklassigen "B-Pictures"
einmal absieht.52 Dies ändert sich erst im Verlauf der siebziger Jahre, als man die
Trucker als ein packendes Thema für Film, Fernsehen, Musik und Zeitschriften
entdeckte (vgl. z.B. Thomas 1979, S. 9f.; Heinzlmeier et al. 1983, S. 148).53
Der maßgebliche Einschnitt im beruflichen Alltag der US-amerikanischen Fernfahrer erfolgt
im Jahre 1973, als das Öl-Embargo der arabischen Staaten in den westlichen Industrieländern
zu einer "Ölkrise" führt, die in den USA nicht nur den Preis für Benzin und Dieselkraftstoff in
die Höhe schnellen läßt, sondern auch zu einer allgemeinen Herabsetzung der zulässigen
Highway-Höchstgeschwindigkeit auf 55 Milen/h führt, eine Regelung, die der Kongreß
Anfang Dezember 1973 gegen den massiven bundesweiten Protest der Fernfahrer beschließt
(vgl. Thomas 1979, S. 139ff.). Da sich der Preis für Dieselkraftstoff von 27 Cents per Gallone
auf 50 Cents fast verdoppelt hat und viele Trucker nach zurückgelegten Meilen bezahlt werden
oder einen Anteil am Bruttogewinn der gefahrenen Touren erhalten, erwarteten die selbständigen Trucker von der Geschwindigkeitsbegrenzung einschneidende finanzielle Einbußen,
eine "Herausforderung", der sie mit bundesweiten Streiks und Protesten begegneten. "Wilde"
Streik- und Protestaktionen, von den Fernfahrern sehr eindrucksvoll mittels Konvois und
Blockaden "dramaturgisch inszeniert", ziehen bekanntlich die öffentliche Aufmerksamkeit
auf sich, wie in den letzten Jahren auch auf dem europäischen Kontinent an der holländischen
und italienischen Grenze, vor allem aber am Beispiel des "Brenner"-Konfliktes und im
52
53
302
Vgl. Thomas (1979, S. 9) sowie Heinzlmeier, Menningen und Schulz (1983, S. 148). Dies
betrifft vor allem an die beiden Spielfilme "California Straight Ahead" (1937) mit John
Wayne, der mit seinem Sattelschlepper einen Trucker-Konvoi in einem Wettrennen gegen
einen Güterzug anführt, und "They Drive by Night" (1940) von Raoul Walsh mit Humphrey
Bogart in einer Nebenrolle. John Wayne verkörpert als Kultfigur des US-amerikanischen
Kinos eine Interpenetration von Cowboy und Trucker, während Hans Albers im deutschen
Film die Verschmelzung des Matrosen mit dem Fernfahrer zum "Kapitän der Landstraße"
verkörpert hat (in "Nachts auf den Straßen").
Ein früher Film von Steven Spielberg, "Duel" (1972), eröffnete einen ganzen Reigen
weiterer Filme wie z.B. "White Line Fever", "Trucker" (1978) mit Peter Fonda, "Smokey
and the Bandit" mit Burt Reynolds und Sally Fields, "Citizens' Band", "Steel Cowboys"
sowie den kulturell wohl bedeutendsten Film "Convoy" (1978) von Sam Peckinpah mit Kris
Kristofferson in der Hauptrolle des legendären Outlaw "Rubber Duck" (vgl. Abb. 37 und
38). Auch in den achtziger Jahren wurde eine Unmenge von meist zweit- oder sogar
drittklassigen Filmen über Trucks, Trucker oder die dunklen Machenschaften der Fernfahrergewerkschaft (z.B. "F.I.S.T." mit Sylvester Stallone) gedreht.
Sommer 1992 in Frankreich beobachtet werden konnte.54
Das zunehmende Interesse der
amerikanischen Massenmedien am
Fernfahreralltag im Gefolge der
Auseinandersetzungen von 1973
wird unterstützt durch die rapide
Verbreitung von CB-Funk-Geräten
(citizens' band radio) in LKW und
PKW, was neben dem subkulturell
wohl bedeutendsten Trucker-Film
"Convoy" (1978; vgl. Abb. 37/38)
und der Verbreitung der "Countryand-Western" bzw. der "Trucker"Musik ein nicht zu unterschätzendes
Medium der Popularisierung der
Trucker-Kultur in den USA und in
Europa war.55
"By 1978 the trucker has come to
symbolize an independent spirit. He
reflects mobility, power, and antiestablishment values - with a slight
tinge of illegal activities to add the
spice needed to create an American
hero. As with legendary figures of
the past, however, the trucker's
image is more myth than fact"
(Thomas 1979, S. 11).
Abb. 37: "Convoy" - Fernfahrer im Film
"Convoy
Peckinpah-Actionfilm von 1978:
Fernfahrer machen alles platt"
"Sheriff 'Dirty' Wallace ist der Schrecken aller Fernfahrer.
Weil er einen von ihnen aus reiner Schikane verhaftet
hat, organisieren die Trucker einen kilometerlangen Convoy, um ihren Kumpel aus dem Knast zu befreien. Doch
der Sheriff schlägt massiv zurück. (...)
Es spielen: Rubber Duck (Kris Kristofferson), Melissa (Ali
MacGraw), Wallace (Ernest Borgnine), Pig Pen (Burt
Young), Widow Woman (Madge Sinclair), Spider Mike
(Franklyn Ajaye) u. a." (aus: Fernsehwoche
Nr. 30 vom 27.7. - 2.8.1991).
Auch wenn es fraglich scheint,
ob die siebziger Jahre später einmal als das "Goldene Zeitalter der Trucker"
54
55
In Assoziation zu den Siedler-Tracks der Pionierzeit vermittelt der Film "Convoy" (1978)
von Sam Peckingpah ein eindringliches Bild von der möglichen Eskalation von Gewalt und
Spannungen zwischen den Erzrivalen der Highways, dem Trucker als modernem "Outlaw"
und dem Patrolman als dem Vertreter des Gesetzes.
Einen Eindruck von der Modewelle, die den CB-Funk nach dem Fernfahrer-Streik von
1973 erfaßt hat, vermitteln die Daten über die in den USA verkauften Geräte (Thomas
1979, S. 140): Während im Zeitraum von 1959 bis 1975 insgesamt nur etwa eine Millionen
CB-Lizenzen vergeben wurden, waren es allein im Jahre 1976 ebensoviele und die Zahl der
bis zum Frühjahr 1977 in Betrieb befindlichen Geräte wird auf etwa zehn Millionen
geschätzt. Neben der Funktion als ein notwendiges Kommunikationsmittel unter den
Kollegen, unterstreicht der CB-Funk die Präsenz der Fernfahrer über ihre (von allen CBFreaks mithörbaren) Konversationen und erfüllt zudem noch den sehr nützlichen Zweck des
Informationsaustausches, vor allem was Notfälle, den Straßenzustand und den Standort von
Radarfallen der Staatspolizei betrifft (vgl. z.B. die Bedeutung der citizens' band radios in
den Filmen "Convoy" und "Citizens' Band").
303
Abb. 38: "Convoy" - Die Visualisierung des Trucker-Kults
Der Spielfilm "Convoy" (USA 1978; Regie: Sam Peckinpah, Hauptdarsteller: Kris Kristofferson) basiert
auf einem Country-Song von C. W. McCall, der die amerikanischen Hitparaden stürmte (vgl. Thomas
1979, S. 9 und 11): Der Song erzählt die Geschichte einer Gruppe von Truckern, die sich zu einem Konvoi
zusammenschließen und über CB-Funk verständigen, um sich vor den Radarfallen der Polizei zu
schützen. Der Fahrer des ersten LKW ("front door" genannt) und der des letzten LKW der Eskorte ("back
door") gibt jede gesichtete Radareinheit der Polizei oder Fahrzeuge der Highwaypatrouille sofort an seine
Gefährten in der Mitte des Konvois bekannt, damit sie rechtzeitig ihre überhöhte Geschwindigkeit auf die
gesetzlich erlaubten 55 Meilen/h verringern können.
Der gleichnamige Film erzählt die Geschichte des legendären Truckers namens "Rubber Duck", der
zusammen mit zwei weiteren Fernfahrern von einem Highway-Polizisten über CB-Funk in eine
Radarfalle gelockt wird. Der Polizist kassiert ab, verfolgt die Fahrer bis zum nächsten truck stop, wo er sie
dann solange provoziert, bis die "Gummi-Ente" ihre Beherrschung verliert (ganz entgegen dem Motto
seines Totemtieres, oben ruhig zu bleiben, sich aber unter der Wasseroberfläche heftig zu bewegen). Eine
wüste Schlägerei mit den anwesenden Polizisten beginnt und "Rubber Duck" sucht schließlich mit seinen
Kollegen das Weite, um der Rache der besiegten Cops zu entgehen. Als der Polizist die Fernfahrer über
die Landesgrenzen mit einem wachsenden Aufgebot an Staatsmacht verfolgt, schließen sich immer mehr
Trucker, die das Geschehen über CB-Funk erfahren haben, dem Konvoi an. Nachdem einer der Fernfahrer, ein Schwarzer, den Konvoi verläßt, wird er in einer verschlafenen Kleinstadt im Süden verhaftet,
mißhandelt und als Lockvogel benutzt, um den Anführer des Konvois, der mittlerweile durch die Gesprächsbereitschaft des Gouverneurs eine gewisse Immunität für sich und die Eskorte erreicht hat, doch
noch dingfest zu machen. Der Film erreicht seinen Höhepunkt, als die fernfahrenden outlaws die besagte
Kleinstadt mit ihren schweren Trucks spichwörtlich "überrollen", ihren Gefährten aus dem zu Schutt und
Kleinholz gefahrenen Gefängnis befreien, und versuchen, über die Grenze nach Mexiko zu fliehen. Im
show-down fährt "Rubber Duck" aber seinem Rivalen allein entgegen. Im Kugelhagel der Polizei explodiert der Tanklastwagen auf einer Brücke, kurz vor dem verheißenden Ziel, der mexikanischen Grenze.
"Rubber Duck" kann dem Inferno jedoch unbemerkt im Fluß entkommen, um sich zum Happy End wieder
mit seinen Freunden zu vereinen.
(Thomas) in die kulturhistorischen Annale eingehen werden, hat die Popularisierung ihrer "Subkultur" in den Vereinigten Staaten dazu geführt, sie zu amerikanischen Helden zu mythologisieren, ein Vorgang, der von größter Bedeutung für
die Herausbildung einer einheitsstiftenden Berufskultur der Fernfahrer ist.
Historische Spuren für eine besondere Arbeits- und Berufskultur der Fernfahrer sind aber nicht nur in den Vereinigten Staaten zu finden, sondern lassen sich
auch im europäischen Transportgewerbe weit zurückverfolgen. Der handwerksmäßige Charakter der Durchführung von Landtransporten hat (im Anschluß an
Sombart) die Transportdienstleistungen in Deutschland offenbar stark geprägt. Es
kann an dieser Stelle keine differenzierte Betrachtung der Gemeinsamkeiten und
Unterschiede zwischen den historischen und berufsfolkloristischen Wurzeln der
US-amerikanischen Trucker-Kultur und ihrem deutschen Pendant geleistet werden. Allerdings dürfte das bis in die siebziger Jahre hinein für deutsche LKWFahrer verbreitete Leitbild eines "Kapitäns der Landstraße" sich eher an den
handwerksmäßigen Charakter des früher ebenfalls in Zünften organisierten
Schiffergewerbes anlehnen, eine Vorstellung, an die das moderne amerikanische
304
Leitbild des Truckers offenbar mühelos anknüpfen konnte. Gemeinsame Bezugspunkte zwischen der ebenfalls mit harter Männerarbeit assoziierten Seemannsarbeit an Bord eines Schiffes und der Arbeitstätigkeit des modernen Fuhrmannes
"an Bord" eines LKW sind die außergewöhnlich langen Arbeitszeiten
(einschließlich der langen Abwesenheit von zu Hause) und die kategorische
Ablehnung der gewöhnlichen, ortsfesten Fabrikarbeit (z.B. für einen Seemann
dokumentiert in Sombart 1922, Bd. II.1, S. 286f.).
Gegenüber der relativen "Unsicherheit" der Transportarbeit (vgl. Kapitel 2.3.2), die im frühkapitalistischen Deutschland noch von Bauern nebenberuflich geleistet wurde, mußte der
hauptberufliche Fuhrmann neben der Veränderung des Ortes und der Sicherung seiner
Arbeits- und Werkqualität zugleich auch ein symbolisches Produkt erzeugen (ähnlich dem
eines Handwerkers), das die besondere Bedeutung seiner Transportarbeit hervorhebt. "Für das
Handwerk ergibt sich aber: Wo sich Mühe nicht sichtbar macht, sich kein Selbstbewußtsein
des besonderen Berufs anbringen läßt, ist es nicht handwerklich, bringt kein Brot. Es muß
Berufsehre dabei sein, eine Zahlung, die Anerkennung und Markierung des Handwerks enthält,
und eine zweite Bezahlung, die in Geld erfolgt" (Negt und Kluge 1981, S. 176).
Im traditionell rückständigen Straßengüterverkehrsgewerbe beginnt erst mit der Erfindung
des benzin- bzw. dieselbetriebenen Automobils gegen Ende des 19. Jahrhunderts eine neue
Ära der Anpassung an industrielle Anforderungen. Zwar wurde 1896 bei Carl Benz der erste
serienmäßige Lastkraftwagen gebaut, das Pferdefuhrwerk blieb aber in Deutschland noch bis
zum Ersten Weltkrieg dominant und wurde im Güternahverkehr sogar noch bis in die dreißiger
Jahre hinein eingesetzt. Die Verbreitung von Lastkraftwagen belebt sich war mit dem
wirtschaftlichen Aufschwung in den zwanziger Jahren, erfährt aber erst in den dreißiger Jahren
eine rasante Entwicklung, die wohl in erster Linie auf die (arbeitsbeschaffungs)politische und
militärische Bedeutung des forcierten Straßen- und Autobahnbaus zurückzuführen ist (vgl.
Bühler 1987, Stöffges 1987 und Gotta 1982).56
Durch die Industrialisierung in der verladenden Wirtschaft und die zunächst starke Konkurrenz durch die Eisenbahn hat das Transportgewerbe seine weitgehende Autonomie eingebüßt und ist in eine prekäre Marktabhängigkeit geraten. Im Laufe der Zeiten hat sich auch die
Berufstätigkeit des Fuhrmanns gewandelt und hat dabei einen Teil ihres handwerklichen
Charakters verloren. Auch die Bezugspunkte seiner traditional-handwerklichen Arbeits- und
Berufskultur sind einer Rationalisierung ausgesetzt worden, die aber noch nicht so weit fortgeschritten ist, daß die Arbeits- und Lebenswelt der Fernfahrer ihre an handwerkliche Traditionen anknüpfenden besonderen Kennzeichen gänzlich verloren hat.
"Aber auch der Berufsstolz, die besondere, handwerksmäßige 'Berufsehre' ist ohne
empirisches Verfahren nicht denkbar. Es bedurfte der durch die Jahrhunderte überlieferten,
rein persönlichen Kunstfertigkeit, um deren Träger das Gefühl einer bestimmten Berufszugehörigkeit als besonderen Reiz empfinden zu lassen. (...) Aus der Natur des empirischen
Verfahrens lassen sich aber auch alle Erscheinungen mühelos ableiten, in denen eine scheue
Ehrfurcht vor den 'Mysterien' einer gewerblichen Kunst oder das Bestreben ihrer Jünger
56
Während der LKW-Bestand 1922 in Deutschland noch bei 43.711 Stück lag, stieg er bis
1931 auf 157.432 Fahrzeuge, innerhalb von etwa 10 Jahren also um fast das Vierfache (vgl.
Stöffges 1987, S. 394); bei Kriegsausbruch im Jahre 1939 waren in Deutschland etwa
400.000 LKW zugelassen (Gotta 1982, S. 146).
305
zutage tritt, selbst ihr Können mit einem geheimnisvollen Schleier zu umgeben und vor
Profanierung zu schützen. Es mag daran erinnert werden, wie diese Auffassung der gewerblichen Tätigkeit als etwas Übernatürliches weil Unerklärliches uns zurückführt zu den Sagen
von der göttlichen Herkunft der Künste und Fertigkeiten, die allen europäischen Völkern
gemeinsam sind" (Sombart 1922, Bd. I.1, S. 202).
Was aber ist zu tun, wenn die gewerbliche Tätigkeit des berufsmäßigen Führens eines
Gütertransportmittels derart profan geworden ist, durch zunehmende Veralltäglichung der
Erfahrungen des Umgangs mit Personenkraftwagen und wegen der ohnehin recht geringen
Schwierigkeiten, die notwendige Fahrerlaubnis zu erwerben? Welche beruflichen Künste
erweisen sich noch als "mysteriös" und undurchschaubar genug, um den Stoff für den
"geheimnisvollen Schleier" abzugeben? Worauf soll die "Geheimniskrämerei" sich stützen,
wenn die Bewältigung der Navigationsaufgaben und die räumliche Orientierung in unserer
mobilen Gesellschaft ohnehin wie selbstverständlich zu den "extrafunktionalen Qualifikationen" des durchschnittlichen erwachsenen Erwerbstätigen gerechnet werden?
Wir leben in einer aufgeklärten Zeit, mag mancher denken, in der nur noch die nackte
Leistung zählt und wo es keinen Platz mehr gibt für solche "Irrationalitäten". Und dennoch
scheint es kein Zufall zu sein, daß viele Fernfahrer sich offensichtlich darum bemühen, ihrer
Berufstätigkeit durch Orientierung an der nordamerikanischen Trucker-Mythologie etwas
Weihe- und Geheimnisvolles zu geben, etwas, das sich in unnachahmlicher Weise von der
profanen Berufstätigkeit in industriellen Fabriken abzuheben scheint.
In der Bundesrepublik Deutschland fehlt zunächst ein vergleichbarer Mobilisierungsstrom an politischer Bewegung, der die soziale Gruppierung und die
Entstehung einer neuen beruflichen Subkultur der Trucker in den USA zu Beginn
der siebziger Jahre vorangetrieben hat. Die "Erfindung" der Fernfahrer läßt sich
in Deutschland zwar verbandsmäßig bis in die Mitte der zwanziger Jahre zurückverfolgen und scheint (ähnlich wie in den Vereinigten Staaten) zunächst vor
allem von dem Problem der Abgrenzung gegenüber nicht-berufsmäßig Fahrenden geprägt zu sein.57 Einen gravierenden Unterschied zur heutigen TruckerSzene in den USA stellt allerdings die Sozialstruktur58 der bundesdeutschen
Fernfahrer dar, bei denen der Anteil der selbständigen (Sub)Unternehmer, die
57
58
306
Dies läßt sich jedenfalls an der Umbenennung der damaligen Zeitschrift des Verbandes der
Berufskraftfahrer ablesen, die die Fernfahrer als eine besondere Adressatengruppe gegenüber den anderen Kraftfahrergruppen hervorhebt. Weitergehende Schlußfolgerungen
müssen jedoch einer Inhaltsanalyse der Publikationen aus dieser Zeit vorbehalten bleiben.
Die besondere Rolle der "Kraftfahrer" (und ihres Berufsverbandes) unter faschistischer
Herrschaft dürfte ein lohnendes Forschungsthema sein, von dem ich mir nachhaltige
Informationen für ein Verständnis der berufskulturellen Entwicklungen in der Nachkriegszeit verspreche, an die die "Amerikanisierung" der Fernfahrer scheinbar mühelos zu Beginn
der achtziger Jahre anknüpfen konnte.
Die bundesdeutschen owner-operators sind statistisch betrachtet vor allem in der Anzahl
von Unternehmen des gewerblichen Güterfernverkehrs mit nur einer Genehmigung enthalten. Die Zahl entsprechender Unternehmen sank von 5.838 im Jahr 1960 (51,7% aller
Unternehmen des Güterfernverkehrs inkl. Möbelverkehr) auf 3.061 (34,7%) im Jahr 1986
(vgl. Florian 1994).
ihren eigenen LKW fahren, zur Zeit noch deutlich geringer zu veranschlagen ist
als in den Vereinigten Staaten. Bis in die siebziger Jahre hinein ist das öffentliche
Bild der bundesdeutschen Fernfahrer maßgeblich geprägt von der Metapher eines
"Kapitäns der Landstraße" bzw. eines "Brummi-Kapitäns", der Figur einer
Image-Kampagne, die der "Bundesverband des Deutschen Güterfernverkehrs"
(BDF) getragen hat (vgl. Abb. 5).
Erst gegen Ende der siebziger Jahre kommt Bewegung in die berufskulturelle
Szene der bundesdeutschen Fernfahrer. Soweit die Legende vom "Kapitän der
Landstraße" angesichts des geringen Sozialprestiges und der äußerst schwachen
Verberuflichung von Lastkraftwagenfahrern anachronistisch wirkt und weiter an
Glaubwürdigkeit verliert, läßt sich in der Bundesrepublik Deutschland die Entstehung eines neuartigen "Urkerns" unter den Fernfahrern verfolgen. Der neue
berufskulturelle Anziehungspunkt kann dabei auf dem bereits während der
siebziger und achtziger Jahre in den USA erfolgreich institutionalisierten Mythos
und Kult der Trucker aufbauen. Den Zeitpunkt und die Orte, an denen eine neue
berufliche Subkultur entsteht, lassen sich heute nicht mehr genau zurückverfolgen. Dies scheint durchaus üblich zu sein bei sozialen Gruppen, die ihren
Zusammenhalt in der mythischen "Amnesie ihrer Entstehungsgeschichte" suchen,
so als ob sie versuchten, "durch die Verdrängung der Worte und Handlungen aus
ihren Anfängen in eine Art kollektives Unbewußtes, ihre Wurzeln in die Ordnung
der Dinge zu verlegen, in die Natur oder, was praktisch auf das Gleiche hinausläuft, in die ökonomisch-technische Zwangsläufigkeit als dem gesellschaftlich
und politisch akzeptablen Ersatz für die Naturnotwendigkeit" (so Boltanski 1990,
S. 51 für die französischen "cadres").
"Keiner weiß mehr genau, wie alles angefangen hat, und Trucker sind ja auch ständig unterwegs. Immerhin entsinnt sich der Hamburger Unternehmer Jörg Fischer eines gewissen Herrn
Puttfarken, der irgendwann 1980 Fischers väterliches Ladengeschäft betreten und 'Hörner, so
wie in dem Film >Convoy<' begehrt habe. (...) Wenn Fischer recht hat, und einiges spricht
dafür, dann ist die Trucker-Kultur die erste Subkultur samt nachziehender Industrie, die auf
einem Film basiert, außer vielleicht der Halbstarkenkultur und -mode nach Marlon Brandos
Motorradfilm 'Der Wilde'" (so der "SPIEGEL"-Redakteur Rainer Weber 1986, S. 235f. - in
einem Bericht über die bundesdeutsche Truckerszene).
Die zur Herausbildung einer kohärenten Gruppengestalt notwendige gesellschaftliche Definitions- und Abgrenzungsarbeit, die ein Teil der Fernfahrer an sich
selbst vollzieht, wird im wesentlichen durch Massenmedien wie Spielfilme,
Fernsehen, Musik und Zeitschriften unterstützt, d.h. durch die (wissenschaftlich
nur schwach legitimierten) Intellektuellen, die sich dazu berufen fühlen, in ihren
Werken und Praktiken die Fernfahrer als "Trucker", als "Asphalt Cowboys" oder
als "Highway Helden" zum Sprechen zu bringen (vgl. Abb. 20-22).
"Und das ganze Gefühl, das die Jungs im Grunde genommen haben, oder wo die drauf
stehn, das ist im Grunde genommen ein Gefühl, was eigentlich jeder gern hat. Und das ist
307
ein Gefühl irgendwie von Freiheit und Abenteuer, wie man so schön sagt, ein Gefühl von
Ungebundensein. Das wird's immer geben und das wird's auch immer geben müssen, dieses
Gefühl. Und es wird sicherlich auch immer nötig sein, dieses Gefühl zu vermitteln..., was wir
halt auch tun." (Knut Bewersdorff, Sänger und Steelgitarrist der Country-Gruppe "Truck
Stop", zitiert nach Prahl 1988). "Ihre Themen entnehmen die deutschen Trucker-Barden, so
sie nicht US-Material übertragen, gern der Szene" (Rainer Weber 1986, S. 235).
Auch wenn es zu weit gehen würde, die bundesdeutsche "Trucker-Kultur" als ein
bloßes Produkt der "Kulturindustrie"59 hinzustellen, scheint mir das Verhältnis
zwischen Kultur- und Medienintelligenz (im weitesten Sinne) und der berufskulturellen Praxis der LKW-Fahrer ein entscheidender Schlüssel zum Verständnis der Entstehung einer neuen beruflichen Subkultur unter bundesdeutschen
Fernfahrern gegen Ende der siebziger Jahre. Der Spielfilm "Convoy" von Sam
Peckinpah war, wenn man den Kennern und Informanten der Szene glaubt,
ebenso wie in den USA auch in der Bundesrepublik wesentlich an der Herausbildung einer neuartigen Truckersubkultur unter den Berufskraftfahrern beteiligt.
"Und das ging natürlich sicherlich mit los, weil so Filme 'rüberkamen wie 'Convoy' z.B. mit
Kristofferson. Und die Trucker hatten ja bis dahin so gar keine Identität so als Gruppe, nicht.
(...) Oder gewerkschaftlich organisiert waren sie sicherlich auch nicht so doll. Und da fing das
an, daß sie also das Gefühl dafür entwickelt haben, daß sie auch als Gruppe ein bißchen
Einfluß nehmen könnten. Und das ging dann halt Hand in Hand, ohne daß man das irgendwie
mal jemals besprochen hätte oder so" (Lucius Reichling, Sänger und Geiger der Country Band
"Truck Stop", zitiert nach Jürgen Prahl 1988).
Deutlich wird, daß weder die Image-Kampagnen des Bundesverbandes des
Deutschen Güterfernverkehrs noch die Interessenvertretungspolitik der Gewerkschaft Öffentlicher Dienst, Transport und Verkehr (ÖTV), in der viele Fernfahrer
organisiert sind, es verhindern können, daß sich bei den Fernfahrern im Laufe der
Zeit eine Repräsentationslücke geöffnet hat, die von den Truckern besetzt wird.
Die verschiedenen Ebenen, auf denen sich die gesellschaftliche Repräsentationsarbeit abspielt, lassen sich in der Praxis nicht so fein säuberlich trennen, wie es
das analytische Schema der Entstehung sozialer Gruppen bei Boltanski (1990)
nahelegt. Auch wenn sich die symbolischen Akte der Erfindung der Trucker
gewissermaßen wie das Resultat eines natürlichen Evolutionsprozesses fern jeder
rational kalkulierten Schöpfung oder Absprache präsentieren, ist die gesellschaftliche Definitions- und Abgrenzungsarbeit und die Arbeit des Sich-
59
308
Die Fernfahrer als geblendete Opfer einer manipulierenden "Kulturindustrie" zu betrachten,
hieße, den soziokulturellen Prozeß der aktiven Aneignung und Stilisierung kulturindustrieller Produkte auszublenden. Die Stilisierungsangebote müssen stimmig sein, damit sich die
subkulturelle Verbreitung des Mythos auf sinnvolle Motive stützen kann. Der Mythos ist
nur insoweit tradierbar, als er in der besonderen Lebenswelt passende Orientierungen bietet
und die in der Subkultur vorherrschende Weltauffassung zur Sprache bringen kann.
Gruppierens nicht ohne Institutionalisierungsprozesse verlaufen, in denen sich die
neuen Repräsentanten der Fernfahrer gegenüber den herkömmlichen mentalen,
sozialen und institutionellen Repräsentationsformen durchsetzen mußten.
Auseinandersetzungen auf dem Feld der Repräsentationen begleiten bereits die
erste Phase der Entstehung der sozialen Gruppe, weil sich die Trucker nur durch
Verdrängung konkurrierender Repräsentationsmuster etablieren können.60 Insofern darf der Beitrag, den die Entstehung lokaler Gruppen und Netzwerke für die
Verbreitung der Trucker-Subkultur geleistet hat, nicht unterschätzt werden. Über
eine konkrete Initiative zur Gründung eines regionalen bzw. lokalen TruckerClubs berichtet beispielsweise das folgende Zitat.
"(...) Sigi Reil, ein gemütlicher Teddybär mit Vollbart, ist der 'Convoy Buddy' der deutschen
Trucker-Szene und mit seinen Freunden der Organisator des Spektakels in Nittenau [gemeint
ist ein Trucker-Fest, M.F.]. Dabei ist er keiner von denen, die mit Cowboyhut umherrennen.
Als er Ende 1980 über CB-Funk seinen Rundruf losließ, da war von Trucks noch gar nicht die
Rede: 'Achtung, Achtung, an alle Brummis im Raum Kelheim, Saal, Regensburg', so notierte
es später der Protokollführer, '(...) Ich möchte im Raum Regental einen Lastwagenfahrerverein
gründen.' Es entstand, natürlich, ein 'Trucker-Club' im Regental" (Rainer Weber 1986, S. 236).
Fast wie im Selbstlauf, so scheint es zumindest, bildet sich auch unter den deutschen Fernfahrern der "harte Kern" einer eigenständigen Trucker-Szene heraus,
die der bis dahin weitgehend amorphen, auf lokale Felder begrenzten Gemeinschaft der bundesdeutschen Fernfahrer ein neues Gesicht - oder besser: eine neue
Gestalt - gibt, die das verstaubte Image vom "Brummi-Kapitän"61 ablöst, dessen
symbolische Kohäsionskraft angesichts von Modernisierungsprozessen im Güterverkehrsgewerbe ohnehin recht zweifelhaft erscheint:
"Trucker heißt Lastwagenfahrer, doch mit dem speckrandmützigen 'Brummi' des offiziellen
Straßengüterverkehrsgewerbes haben Deutschlands Trucker soviel gemein wie Heinz Schenk
mit Mick Jagger" (Weber 1986, S. 232).
60
61
Vermutlich, um die Konkurrenzkämpfe auf dem Feld der Repräsentationen stärker hervorzuheben, die für die soziale Eigendynamik "fertiger" Gruppen entscheidend sind, vernachlässigt Boltanski (1990) die Institutionalisierungsprozesse, die bereits vor der "Fertigstellung" einer sozialen Gruppe wirksam werden und die Prozesse der Klassifikation und
Stilisierung schon während der Phase der "Erfindung" unterstützen.
Genaueres zur Wirkungskraft der "Brummi"-Kampagne muß allerdings einer eingehenderen berufskulturhistorischen Untersuchung vorbehalten bleiben, die hier auch nicht annähernd geleistet werden kann. Obwohl das "Brummi"-Bild und die Metapher vom "Kapitän
der Landstraße" für einen Berufszweig, der am unteren Ende der Prestigehierarchie rangiert,
nicht weniger realitätsfremd erscheint als der Mythos vom "Asphalt-Cowboy", ist es
letzterem offenbar leichter gelungen, ein neues Bedürfnis der Fernfahrer nach sozialer
Identität anzusprechen und durch ein kohärentes System symbolischer Stilisierungen
schließlich auch zu mobilisieren.
309
Die "Vorstellung" eines "Kapitäns der Landstraße" (im doppelten Sinne: von
"sich vorstellen" und "sich darstellen"), d.h. eines eigenverantwortlichen "Kommandanten" über einen, seiner Obhut anvertrauten, wertvollen Lastkraftwagen
samt kostbarer Ladung, der auf seinem "dicken Brummer" durch die Lande fährt,
um uns mit lebenswichtigen Gütern zu versorgen, scheint seinen Reiz und seine
Überzeugungskraft verloren zu haben, die erforderlich sind, um das "unscharfe
Ensemble" der Berufskraftfahrer zumindest symbolisch zu repräsentieren. Der
mythologisch angereicherten Figur des "Truckers" dagegen - als dem harten
Kern einer sich herausbildenden neuartigen Berufskultur - scheint es vor dem
Hintergrund der sehr heterogenen Merkmale von Berufskraftfahrern zu gelingen,
kohärente Konturen für eine abgrenzbare soziale Gruppierung zu bilden.
Ein wichtiges Indiz für die Anziehungskraft des Trucker-Mythos ist dabei eine
gewisse "Unverbindlichkeit", mit der sich jeder, ungeachtet der fehlenden Authentizität der zur Schau gestellten Attribute, als Trucker identifizieren kann,
jedenfalls solange sich die soziale Gruppierung noch in der Entstehungsphase
befindet, die noch weitgehend frei zu sein scheint von Rivalitäten um die einzig
"legitime" Repräsentation der Trucker. Rund um den Trucker-Kult bildet sich im
Raum der beruflichen Stilisierungen der Fernfahrer ein Ort für soziale Gruppierungen heraus, der sich als ein Orientierungspunkt für die alltägliche Klassifizierungspraxis eignet.62 Diese an sich willkürliche Grenzziehung zwischen dem, was
die Gruppe vereint und dem, was sie von anderen Gruppen unterscheidet, diese
"Setzung", die alle, die davon "betroffen" sind, nicht gleichgültig lassen kann,
fordert dazu auf, sich in irgendeiner Weise dazu zu verhalten, sich von diesem
Angebot an subkultureller Identität angesprochen oder berührt zu fühlen, und sich
entweder zustimmend oder abgrenzend jenem Urkern zuzuordnen.
"Vielleicht 1000 (von rund 50 000) deutschen Fernfahrern bilden den harten Kern der Szene,
ein vieltausendtonnenschwerer Wanderzirkus, der mit seinen aufgedonnerten Kolossen Wochenende für Wochenende auf Trucker-Treffen rollt, unterstützt von einem Troß aus vielleicht
fünf- oder sechsmal soviel Sympathisanten, die sich bloß noch nicht trauen. Und wie bei einer
jeden echten Volkskultur schlingert die Ästhetik zwischen Kitsch und Kunst, Karneval und
Kommerz, sind ihre Zusammenkünfte Volksfest und Familienfeier, Ritual und Vereinsmeierei"
(Weber 1986, S. 233).
Die Entstehung einer neuen beruflichen Subkultur unter den Fernfahrern folgt
somit einem Akt der Neudefinition, der von einer Gruppe von Fahrern kollektiv
62
310
Zur Popularisierung dieser Subkultur gehört eine gewisse "Verwässerung" der Authentizität, da sich "jeder" mit ihr zu identifizieren vermag: "Zur Szene gehören CB-Funk-Freaks,
Western-Narren und pubertierende Einfaltspinsel, die jeden Kutscher für John Wayne halten. Zur Szene gehören Lieferwagenfahrer, die als Cowboys, und Kieskutscher, die als
Fernfahrer posieren, und bei jedem Trucker-Treffen tauchen Scharen von Familienvätern
mit Sandalen und Freizeitjackett auf" (Rainer Weber 1986, S. 233).
an sich (nach)vollzogen wird, die alle notwendigen "charakteristischen" Eigenschaften besitzen, um die soziale wie berufskulturelle Figur eines authentischen
Truckers zu repräsentieren. Fortan können sich Fernfahrer als Trucker neu
definieren, wahrnehmen und in sozialen Beziehungen darstellen. Die neue
Selbstbenennung ist Ausdruck einer Repräsentationsarbeit, durch die sich Fernfahrer zunächst nur einen neuen Namen und eine neuartige "mentale Repräsentation" geben, die mit der Bezeichnung "Trucker" verbunden ist und, als Folge der
gesellschaftlichen Repräsentationsarbeit, die von den Fernfahrern in den USA
geleistet worden ist, auch "offiziell" assoziiert werden darf.63
Durch "dramatische Akzentuierungen" (Goffman) gelingt es den "Truckern",
sich für sich und andere gesellschaftlich sichtbar zu machen, und über ihre
Mitglieder und Sympathisanten, vor allem aber über ihre Sprecher und ihre
Intellektuellen, Vorstellungen über sich und ihre relevanten Merkmale zu vermitteln. Zahlreiche, für Trucker geradezu "charakteristische" Stilisierungsformen,
wie z.B. regelmäßige Trucker-Treffs, regionale und lokale "Trucker-Feste"64,
alljährlich veranstaltete "Truck-Grand-Prix"65, die ritualisierte Selbstinszenierung durch Truck-Konvois sowie die Anlehnung an die musikalische
und ästhetische Subkultur der amerikanischen Country-und-Western-Szene,
aber auch institutionelle Repräsentationsformen wie z.B. Trucker-Clubs, nähren
63
64
65
Ohne empirisches Material ist es schwierig, den tatsächlichen Einfluß der "Trucker-Kultur"
auf den Kreis der Fernfahrer einzuschätzen. Als ein Anhaltspunkt mag die Leserstruktur des
auflagenstärksten Magazins für Fernfahrer dienen. Nach Auskunft der Anzeigen-Verwaltung beträgt 1989 die verkaufte Auflage des "Fernfahrer Magazins 'Trucker'", der "Zeitschrift für LKW- und Busfahrer" wie sie sich im Untertitel nennt, im Durchschnitt immerhin 116.000 Exemplare; 51,6% der LeserInnen (59.856) sind Berufskraftfahrer, 26% (oder
30.160) sind Angestellte im Transportgewerbe, 20% (oder 23.200) sind Unternehmer bzw.
Selbständige, 2,4% bilden den Rest. Alles in allem eine doch erstaunlich große Zielgruppe.
Ein weiteres Indiz für die Attraktivität der Trucker-Vorstellungen dürften die Besucherzahlen von Trucker- und Country-Festen sein und die Verbreitung der entsprechenden
Musik, wobei die bekundete Sympathie noch recht wenig darüber aussagt, in welchem
Ausmaß diese Subkultur tatsächlich in den Vorstellungen und Praktiken der Fan-Gemeinde
repräsentiert ist.
Eines der ältesten Truck- und Country-Festivals veranstaltete der Country Club Karlsruhe,
der auf diesem Feld "Pionierarbeit" geleistet hat, im April 1990 bereits zum elften Mal (lt.
Fernfahrer Magazin "Trucker" Nr. 7, Juli 1990, S. 42f.).
Der erste deutsche Truck-Grand-Prix lockte Ende Juli 1986 rund 50.000 Zuschauer auf den
Nürburgring: "Mag sein, daß etliche nur der Countrymusik zuliebe kamen, aber fürs
Selbstbewußtsein der deutschen LKW-Fahrer war die Veranstaltung so wichtig wie die
Brenner-Blockade 1984", so jedenfalls die Einschätzung des "SPIEGEL"-Redakteurs
Rainer Weber (1986, S. 235). Die Attraktivität dieses Grand-Prix, der jedes Jahr im
Sommer veranstaltet wird, resultiert sicherlich nicht nur aus der dort präsentierten Musikkultur, sondern dürfte vor allem auch der Spannung und Dramatik, wie sie bei motorisierten
Rennwettkämpfen herrscht, geschuldet sein.
311
Abb. 39: "Die schönsten Laster" - alles was Männer anmacht?
"Romantik von gestern oder die Welt von morgen, Mädchen, Sport und
Comic - die Lackkunst für Laster kennt keine Grenzen.
Für manche Fahrer ist ihr grauer oder beiger Zug mit der schlichten Aufschrift 'Spedition' oder höchstens mal
'Wir fahren für ...' die Langeweile auf Rädern. Diese Fahrer treiben's lieber bunt. Die haben nicht nur
Phantasie und Witz, die zeigen sie auch. Airbrush, die Maltechnik für große Blechflächen, setzt ihre Träume
und Lieblingsmotive nach ihrer Vorstellung ins Bild. (...) Auf Festivals sind diese Wagen die Stars. Noch sind
uns Frankreichs 'Routiers' voraus. Aber langsam rollen die Kunstwerke auf Achse auch mit deutschen
Kennzeichen. (...)
Mädchen
Fast alle Frauen auf Trucks
haben eines gemeinsam:
Man sieht ihnen deutlich an,
daß sie welche sind
Sport
Immer nur 90 und mit
Tachoscheibe: Da bleiben
für sportlichen Ehrgeiz nur
Bilder
Phantasie
Kunstsinnige Spediteure
lassen sich ihre Laster was
kosten! 100.000 Mark für ein
Gemälde sind keineswegs
ein Phantasiepreis
Romantik
Auch Fernfahrer müssen auftanken: Wer in der Hektik lebt,
nimmt Kraft aus der Stille
Gute alte Zeit: Hast und Hetze des Truckeralltags soll das
Bild vergessen machen"
(Quelle: "Fernfahrer" Nr. 2/91, S. 26-31).
neben der sozialen Anerkennung der Trucker in den Massenmedien die Herausbildung eines kollektiven Glaubens an die authentische Existenz der Gruppe.66
66
312
Unterstützt wird diese Repräsentationsarbeit auch durch Industrie und Handel, die sich von
der Belebung des Trucker-Mythos ein reges Geschäft versprechen und die Werbungsmöglichkeiten von Truckerfesten nutzen (vgl. R. Weber 1986, S. 235), so vor allem
die Zubehörindustrie (Werbung für die stilistische Ausgestaltung von LKW und Fahrern),
Hat die Repräsentation einer Berufsgruppe erst stabile und dauerhafte Formen
angenommen, entsteht meist ein Feld miteinander konkurrierender Repräsentationen. Die weitere Entwicklung der sozialen Gruppierung erfolgt dann zwischen
zwei Extremen. Auf der einen Seite verspricht die soziale Schließung des harten
Kerns, daß die Gruppe relativ homogen und rein bleibt, allerdings auf die Gefahr
hin, dort an Schlagkraft zu verlieren, wo die Mobilisierung von Massen gefragt
ist. Andererseits erhöht die Einbeziehung (Inklusion) weiterer Kreise verwandter
Merkmalsträger zwar das quantitative Gewicht einer Gruppe im sozialen Raum,
aber auf Kosten der internen Homogenität der Gruppe.
Am deutlichsten zeigt sich die Diversifizierung des Felds der Repräsentationen
mit dem Auftreten verschiedener Berufsverbände, die um die Anerkennung als
eine (oder einzige) legitime Interessenvertretung konkurrieren, vor allem, wenn
es um die offizielle Repräsentation der Berufsgruppe als Ganzes geht und nicht
nur um einzelne Fraktionen. Einige Schwierigkeiten mit der arbeits- und tarifpolitischen Interessenvertretung der Fernfahrer scheint die Gewerkschaft ÖTV zu
haben, wenn man der Untersuchung von Günther Plänitz folgt (1983, S. 277ff.).
Inwieweit die vielen lokalen oder regionalen Trucker-Clubs sich aber zu einer
berufsständischen Interessenvertretung entwickeln werden (und damit der Gewerkschaft ÖTV jenseits des Tarifmonopols eine "politische" Konkurrenz bereiten), bleibt offen.67 Die Ziele dieser Clubs sind "noch recht diffus und nicht allzu
weit gesteckt" (Gotta 1982, S. 14). Das Hauptproblem für eine einheitliche
(arbeits)politische Repräsentation dürfte die Integration lohnabhängiger und
selbständiger Fernfahrer sein.
Neben der Diversifizierung politischer Interessenverbände wirkt sich die interne Heterogenität der Fernfahrer auf die Dynamik des Feldes der Repräsentationen aus. Die soziale Gruppenbildung und Kohäsion eines heterogenen Ensembles wie das der Fernfahrer ist ohnehin stets von Partialisierungstendenzen bedroht, die sich aus jeder Ausweitung des Repräsentationsfeldes jenseits des harten
Kerns ergeben können. Die für eine Berufsgruppe außergewöhnliche interne
Heterogenität der zu den Fernfahrern gehörenden Merkmale und die Vielfalt divergierender Vorstellungen über die "richtigen" Eigenschaften eines Fernfahrers
verlangen nach einem einheitsstiftenden Bezugspunkt, an dem sich die "Angehörigen" orientieren können und der zur Kohäsion dieses amorphen Ensembles
67
die Rasthof-Gastronomie (die häufig selbst Trucker-Feste organisiert), sowie Nutzfahrzeughersteller (z.B. Iveco oder MAN), Brauereien und schließlich die Zigarettenindustrie
(z.B. Marke "West").
Anfang Februar 1992 hat sich innerhalb des Dachverbandes des Christlichen Gewerkschaftsbundes eine "Gewerkschaft der Kraftfahrer Deutschlands" (GKD) gegründet, die ihre
betont standespolitische Interessenvertretung in Konkurrenz zur DGB-Gewerkschaft ÖTV
präsentiert.
313
beiträgt. Dieser symbolische Vereinigung dienen vornehmlich die Mythen, die
sich um den Beruf des Fernfahrers ranken. In der für die Logik der Praxis üblichen Vagheit ist der Mythos dabei kennzeichnend für die verschwimmenden
Grenzen zwischen Erlebnis und Ereignis, zwischen Dichtung und Wahrheit.
"Die amerikanischen Truck-Drivers sind ja jetzt eigentlich die letzten Cowboys noch. Die
einsamen Reiter, die endlose Straßen fahren (...) Und sie fühlen sich ja auch so. Und ich glaub',
daß die deutschen LKW-Fahrer sich selber ihre Szene geschaffen haben und hängen sich da
mit rein, im Grunde genommen, weil sie ja doch einen ähnlichen Job haben. (...) Es ist ein
Mythos, ebenso wie es der Cowboy ist. Und ich kann Dir garantieren, daß die Zeit der Cowboys auch nicht so romantisch war, wie man's so häufig sagt oder in Filmen sieht. Das war
bestimmt 'n Schweinejob. Und auch der Job des Lastwagenfahrers oder Truckers ist auch nicht
gerade ein Honiglecken. Aber ich meine, sie machen sich wohl auch hier ihren Job so schön
es halt geht. Und die Musik ist ein wichtiger Bestandteil dazu, denk' ich. Romantik ist da
natürlich auch bei, 'ne ganze Menge" (Cisco Berndt, Sänger und Gitarrist der Country Band
"Truck Stop", zitiert nach Prahl 1988).
Die romantische Vorstellung eines freien und abenteuerlichen Lebens bildet eine
zentrale Leitfigur im Verhältnis der Trucker zu ihrer Arbeit. Sie bündelt gewissermaßen die Empfindung jener Ambivalenzen, durch die der berufliche Alltag
von Fernfahrern in entscheidendem Maße geprägt zu sein scheint.
"Diese Romantik erlebt insbesondere auf den über 40 Trucker-Treffen in ganz Deutschland
ihren Höhepunkt. Die Trucker reisen standesgemäß mit dem eigenen oder dem Fahrzeug ihres
Unternehmens an, welches zudem ihrer individuellen Sorgfalt und Pflege unterliegt. 'Der LKW
ist mein Zuhause', sagen die Trucker. Entsprechend sind die Fahrerkabinen ausgestattet:
Stereo-Anlage und CB-Funk sind selbstverständlich, Gardinen und Kaffeemaschinen sind
ebenfalls Dinge, die das ständige Fahren erträglicher machen. Die protzig verchromten LKWs
der amerikanischen owner operators, den selbständigen amerikanischen Fahrern, haben in
Deutschland Sehnsüchte geweckt, die von einer Zubehörindustrie ebenso befriedigt werden
wie sich eine Unterhaltungsindustrie der Sehnsüchte nach Cowboy-Romantik angenommen
hat. Individualität im Erscheinungsbild der Autos wie in der eigenen Person ist gefragt. Aus
dem Fernfahrer ist der Trucker geworden" (Jürgen Prahl 1988).
Ein Geschmack von Freiheit und Abenteurer, der, wie der Mythos behauptet, mit
dem LKW-Fahren verbunden sein soll, dient denen, die so empfinden, als
Entschädigung und zur vorübergehenden Flucht aus einem beruflichen Alltag,
dessen Sonnenseite in desto glänzenderen Farben erscheint, je mehr er von den
ebenfalls erfahrbaren Diskriminierungen überschattet zu werden droht.
"Auf so einem Festival wird eben der Fernfahrer bewundert. Und da ist er, einmal oder
zehnmal im Jahr, ist er eben der King. Jeder bewundert Dich, weil, wir werden ja traktiert und
drangsaliert von der Polizei, von der BAG, auf den Abladestellen, den Supermärkten, da mußt
Du zehn, zwanzig Tonnen abladen von Hand. Und Du bist eben nur ein riesengroßer Arsch,
eigentlich. Und eben auf so einem Fest, da bist Du der King. Jeder bewundert Dich mit
Deinem großen Auto. Jeder sagt: 'Mensch, so'n Truck möchte ich auch fahr'n!' 'Ich möcht' da
mal mitfahr'n.' Und: 'Darf ich mich da mal 'reinsetzten?' Und so" (Siggi Reil vom Truckerclub
Regental, zitiert nach Jürgen Prahl 1988).
314
"Warum fährt man zu so einem Trucker-Treffen? Ja einmal, um sein eigenes Fahrzeug zu
zeigen, das man fährt, mit welcher Liebe man das ausstaffiert hat. Dann aber auch, um Freunde
wiederzutreffen, die man schon kennt. Und dann auch die Musik, die dabei ist, also die Country-Musik, die wir ja sehr schätzen. Das ist eben diese ganze Atmosphäre, die hat man eben
im Alltag nicht. Und um das mal zu haben, da fährt man eben hin. Aber 'identifiziert', das ist
an und für sich ... Man kann sich schlecht...Denn der wahre Alltag sieht ja doch ein bißchen
anders aus wie dieses hier. Hier wird etwas vorgegaukelt, was eben 'ne Bilderbuchromantik ist,
die ja nicht der Wahrheit entspricht" (Ein ungenannter Trucker, zitiert nach Jürgen Prahl 1988).
"Ne, aber irgendwie haben die so 'nen, wie man in der Zigarettenreklame so schön sagt: 'nen
Hauch von Freiheit. [Lachen] Wenn man die so sieht. Ich meine, man hat ja genug Filme
gesehen und wenn man diese Trucks erlebt hat in Amerika und so, auf den Highways und so,
das ist doch... Das möchte man gerne selber mal machen. Aber da das ein Traum bleibt,
möchte man sich das wenigstens mal angucken" (Besucherin eines Trucker-Festes in Kaunitz,
zitiert nach Jürgen Prahl 1988).
Das Auftreten einer neuen Gruppe mit einer neudefinierten sozialen Identität
bleibt indes nicht unwidersprochen. Die Angriffe von Fernfahrern, die sich nicht
als "Trucker", "Asphalt Cowboys" oder "Highway Helden" fühlen wollen, richten
sich vor allem gegen das neue Selbstverständnis ihrer Kollegen und gegen die
Stilisierungsformen, mit denen diese ihren Arbeitsalltag durch Verkörperung
männlicher Härte "versüßen". Den Trucker-Kult halten viele für maßlos überzogen, und die Art und Weise, wie die Trucker sich und ihre Arbeit öffentlich
darstellen, verleitet die übrigen Fernfahrer, die nicht mit dieser Subkultur sympathisieren, zuweilen zu sehr bissigen und wütenden Kommentaren.
"Ich persönlich halte von Trucker-Treffs herzlich wenig, weil das alles dermaßen aufgespielt
wird, wenn man da schon wirklich, also wirklich Verrückte dabei sieht, die dann da beim
offenen Lagerfeuer mit Kupferkessel Kaffee kochen und anfangen zu singen. Das sollen 'se
machen. Das ist mir schnurzpiep egal. Ich persönlich halte da herzlich wenig von. (...) Also
Fernfahrerei ist für mich richtiger, harter Beruf. Da ist von Abenteuer und so weiter, ist da
nichts. Es gibt natürlich Kollegen, ich mein', ich bin jetzt seit elf Jahren im Fernverkehr am
fahren, die, wenn man unterwegs so hört, am Stammtisch (...) oder an der Raststätte erzählen
da, die sind seit vierzehn Tage am fahren, die haben in den vierzehn Tagen mehr erlebt, als ich
in den elf Jahren! Na ja, und da frage ich mich eigentlich: Wo fahren die?" (Mario Enderlein,
Fernfahrer, zitiert nach Prahl 1988). "Manche Fahrer allerdings, vor allem die älteren, sehen
das auffällige Getue nur mit sehr gemischten Gefühlen an. 'Die haben doch das Trucker-Schild
vor dem Kopf', hat Peter, der Schwedenfahrer, wütend gemeint, und gleichzeitig betont: 'Wir
sind Fernfahrer'" (Gotta 1982, S. 14).
Manchen Fernfahrern, denen das Verständnis für die Trucker fehlt, bleibt angesichts der Popularität dieser Subkultur offenbar nichts anderes übrig, als zu
versuchen, die Anhängerschaft für "verrückt" zu erklären und die Trucker in
ihrem symbolischen Kern zu treffen, nämlich durch Verachtung ihrer Rituale und
durch Infragestellen ihrer Anmaßung, als authentische und legitime Vertreter
aller Fernfahrer aufzutreten.
315
Wenn es um die Schattenseiten ihrer Arbeit geht, tauchen Leitmotive auf, wie
sie bereits von den fernfahrenden out-laws in dem Spielfilm "Convoy" stilisiert
worden sind. Dazu eine weitverbreitete Koketterie, die ihre Haßliebe zu ihrem
Beruf in die Nähe einer Geistesstörung oder des Wahnsinns rückt, dessen Grenzen im Übergang zu einer außergewöhnlichen Individualität (wie sie positiv vom
"Genie" verkörpert wird) bekanntlich fließend sind.
"Ihren Job lieben und hassen sie. Drei Berufe hat der Stelzer Rainer aus Stephansposching
gelernt: Bürokaufmann, Einzelhandelskaufmann und schließlich Berufskraftfahrer, 'jetzt hab'
ich's schriftlich, daß ich ein Idiot bin'.
Die großen Zeiten - Touren nach Nahost, an den Golf - sind vorbei, und die Arbeitshetze
wird immer stärker. Geschwindigkeitsbegrenzungen gelten Speditionsdisponenten als müder
Witz, denn die Trucks werden immer schneller, und wer früher Deggendorf - Hamburg in
zwölf Stunden fuhr, der soll das heute am besten in neun Stunden schaffen. Mindestens
20 Kollegen hat der Stelzer Rainer in seinen 20 Berufsjahren auf der Piste verbluten sehen, zusammengequetscht in diesen lächerlichen Führerhäuschen oder von der nachrutschenden
Ladung erdrückt. Beim Trucker-Treffen setzt er die graue Mütze eines Gemeinen der konföderierten amerikanischen Südstaatenarmee auf, denn 'wir alle sind ein bißchen wie Rebellen'.
Mit Politik hat dieser Satz wenig zu tun (...).
Es ist Rebellion gegen unwürdige Behandlung. Denn dieselben Männer, denen 300-PSFahrzeuge im Wert von rund 150 000 Mark anvertraut werden, die Millionenwerte über
Alpenpässe und vereiste Straßen kutschieren, können von Polizisten, Zöllnern und irgendwelchen Büro-Niemands nach Belieben fertiggemacht werden" (Rainer Weber 1986, S. 234).
An der eigentlich willkürlichen Gleich-Setzung (institutio) des Fernfahrers mit
dem Trucker, der wiederum als Asphalt-"Cowboy" einen sehr attraktiven nordamerikanischen Mythos verkörpert, kommt nunmehr offenbar niemand mehr
vorbei, auch jene Berufskraftfahrer nicht, die persönlich nur wenig davon halten.
Einer magischen Figur gleich, "steht" der Trucker im symbolischen wie im
sozialen Raum, so, als ob es ihn wirklich gibt, so daß offenbar jede öffentliche
(Selbst-)Wahrnehmung der Fernfahrer sich definitiv auf ihn beziehen muß, ganz
gleich, ob zustimmend oder ablehnend.
Das neue Selbstbild der Fernfahrer ist jedoch weder als ein radikaler Bruch mit
der Kontinuität und Tradition der deutschen Fernfahrer und Fuhrmänner noch als
eine bloße "Amerikanisierung" mißzuverstehen. Der deutsche Fernfahrermythos
ist fest verwurzelt in der Tradition handwerklicher Transportdienstleistungen. Der
nordamerikanische Mythos vom Highway-Helden und die Go-West-Romantik
kann dabei mühelos an die im deutschen Fuhrgewerbe herrschenden Vorstellungen über die ständische Berufsehre der Fuhrmänner anknüpfen, wie einige Zitate
andeuten, die sich auf die Zeit vor der Übertragung der Truckermythologie und
der "Amerikanisierung" des Selbstbildes beziehen.
"Die Fuhrleute waren zweifellos äußerst widerstandsfähige und rauhe Gesellen, verhielten sich
jedoch auch sehr standesbewußt. Zu größter Bedeutung gelangten die Fuhrmannsgasthöfe, wo
man sich traf, Informationen austauschte, aß und trank und gelegentlich auch Händel austrug.
Die Fuhrleute trugen eine eigene Berufskleidung für Arbeits- und Festtage. In den Gasthöfen
316
hielten sich die Fernfahrer getrennt von den Männern des lokalen Fuhrgewerbes. Die Fernfahrer waren offenbar wegen ihrer großen Verantwortung und ihrer schweren Arbeit mit dem
Alkohol zurückhaltender. (...) Die Fuhrleute galten als weitgereiste, erfahrene und interessante
Leute. Die Freude am Beruf und der Stolz darauf kommt in vielen Liedern und Erzählungen
zum Ausdruck" (Gotta 1982, S. 137f.).
"Der Mensch fuhr Eisenbahn, mit ihm auch sein Gepäck, der ganze Güterverkehr spielte
sich nur noch auf der Schiene ab. Bis es dann dem angeblich so unromantischen Zeitalter der
Technik gefiel, die Landstraße und ihre Romantik aufs neue zu entdecken. Statt der Diligence
ist es jetzt zwar der schwere Reisewagen, nicht mehr auf vier riesigen, eisenbeschlagenen
Rädern, sondern auf luftfederndem Gummi, die vier oder gar sechs Pferdekräfte sind von einen
paar hundert PS ersetzt, Zehntausende von Kilo schleppt jeder einzelne Transport von Stadt zu
Stadt. Aber dennoch bleibt Raum genug für Poesie und Abenteuer. Die Schilderung einer Fahrt
mit einem Ferntransport mag das beweisen. (...) Dabei ist die Arbeit nicht leicht: am Tage die
schwere körperliche Tätigkeit des Auf- und Abladens, nachts das Steuern mit dem schweren
Anhänger. Schlaf und Essen auf ein Minimum reduziert, das kostet Nerven. (...) Das
Abladegeschäft ist bald vollbracht, nun zum Treffpunkt aller Hamburgfahrer, einem Lokal im
Hafenviertel, das auch Frachtbörse ist. (...) Jetzt ist auch die Zeit gekommen, wo der Chauffeur
auch mal an sich und seine Familie denken kann. Aber zwei, drei Stunden, nicht länger. Es
muß schleunigst eingeladen werden, pünktlich zehn Uhr donnert der Zug schon wieder auf der
Wandsbeker Chaussee. Ein Beruf: interessant und voll Abwechslung, aber auch aufreibend und
bei lebhaftem Verkehr durchaus nicht ungefährlich" (aus: "Landstrassenromantik mit 10 000
kg Nutzlast. Auf Nachtfahrt im Ueberland-Transportauto / Vom Werden eines neuen Berufs",
Berliner Morgen, Jg. 1931, im Faksimile abgedruckt bei Heimes 1978, S. 80f.).
"Bei den geschilderten Schäden und Strapazen und den bekannten Gefahren des Fernfahrerberufes ist es erstaunlich, daß es trotz der angespannten Arbeitsmarktlage noch nicht zu
einem beängstigenden Mangel an Fernfahrern gekommen ist und daß fast niemand diesen
Beruf rechtzeitig und freiwillig wieder aufgibt. Die relativ guten Verdienstmöglichkeiten
bieten nur eine oberflächliche und unvollständige Erklärung für diese Anziehungskraft. In
Wirklichkeit ist die Fernfahrerei eine Leidenschaft. Dieses anstrengende, unbequeme und unstete Leben ist zugleich ein weithin freies Leben, und die meisten Fernfahrer hängen bei einem
mehr oder weniger stark ausgeprägten nomadenhaften Zug ihres Wesens mit Leib und Seele
an ihrem Beruf, der ihr großes, meist einziges Hobby ist, dem ihre ganze oft uneingestandene
Liebe gilt und dessen Faszination sie nicht mehr losläßt" (Mössner 1964, S. 97).
Ebenso wie Leidenschaft und Faszination sind auch Mythen nicht völlig aus der
Luft gegriffen. Es müssen bestimmte Voraussetzungen erfüllt sein, damit profane
Begebenheiten und Ereignisse zu einer Legende werden, der man große Verehrung entgegenbringt. In der Verteilungsstruktur objektiver Merkmale müssen die
Eigenschaften, die mit dem Mythos verbunden sind, relativ selten sein, um
charismatisch hervorgehoben werden zu können. Und sie müssen typisch sein für
eine Berufsgruppe, damit sie sich zur vereinigenden und zugleich abgrenzenden
Klassifizierung eignen. Aller Vagheit des mythischen Wirklichkeitsbildes zum
Trotz muß der Mythos ein hinreichendes Ausmaß an Authentizität verbürgen, das
den Glauben an eine reale Existenz des Symbolisierten möglich macht.
317
Die soziale Vereinigung der Fernfahrer zu einer beruflichen Gruppierung und
ihre symbolische Repräsentation in berufsspezifischen, subkulturellen Mythologien vollzieht sich über die Aneignung und Hervorhebung einzigartiger, vergleichsweise seltener Charakteristika. Diese, für den Beruf des Fernfahrers
unverwechselbaren Eigenschaften und Merkmale können prinzipiell von allen
LKW-Fahrern beansprucht werden, ganz gleich, welche unterschiedlichen konkreten Tätigkeiten sie ausüben, ob sie im Nah- oder Fernverkehr arbeiten, ob sie
in festen Linienverkehren oder auf abenteuerlichen Auslandstouren fahren. Und
sie sind weitgehend unabhängig davon, wie der Mix zwischen reiner Fahrtätigkeit
und "Nebenarbeiten" ausfällt. Die berufliche Arbeit der Fernfahrer präsentiert
sich nur insofern als gleichartig, als sie sich
# erstens auf das Führen schwerer Lastkraftwagen bezieht,
# zweitens als eine besonders harte, arbeits(zeit)- und belastungsintensive, aber zuweilen
auch abenteuerliche und nur schwer kontrollierbare Arbeit gegenüber "gewöhnlicher"
industrieller Arbeit unterscheidet, und sich
# drittens als eine "reine" Männerarbeit gegenüber anderen Berufen mit einem vergleichsweise höheren oder hohen Frauenanteil abheben läßt.
Der unverwechselbare symbolische Kern der soziokulturellen Identität der
Trucker ist, wie wir sehen konnten, ihre ostentative Maskulinität, die sich als
einheitsstiftender Anziehungspunkt gemeinsamer subkultureller Stilisierungen
anbietet, ja gewissermaßen sogar aufdrängt. Zur Polarisierung typisch männlicher
Arbeits- und Lebensstilisierungen gehört notwendig der andere feminine Gegenpol, durch den die eigene Repräsentation überhaupt erst die spezifischen,
identifizierbaren Konturen gewinnt. So versuchen viele Trucker ihre profane
Berufstätigkeit als eine harte Männerarbeit aufzuwerten, und zwar einerseits
durch Abgrenzung gegenüber Frauen und weiblichen Arbeitstätigkeiten, besonders in Form einer patriarchalischen, zuweilen sexistischen Funktionalisierung
von Frauen (Partnerin, Geliebte oder Hure), andererseits durch Abgrenzung
gegenüber anderen Männern, die in Industrie und Verwaltung unter "leichteren",
dafür aber "unmännlichen" (weil fremdkontrollierten und unehrenhaften) Bedingungen arbeiten. Es sind nun genau diese "objektiven", d.h. objektivierten und
von den Fernfahrern (jedenfalls bislang) relativ leicht immer wieder
objektivierbaren, maskulinen Merkmale und Eigenschaften, die sich nicht nur
dazu eignen, die Herausbildung einer eigenständigen Berufskultur auf Grundlage
der Geschlechtertrennung und der Teilung zwischen geistiger und körperlicher
Arbeit (also auf Basis quasi-"natürlicher" Trennungen) zu sichern, sondern
darüber hinaus auch brauchbar sind für eine mythische Aufwertung der eigenen
Arbeitsleistung zu einer männlichen "Heldentat" gegenüber der unehrenhaften
"Plackerei" gewöhnlicher Arbeitnehmer(innen) in Industrie und Verwaltung.
Die Idee, daß mit Berufsbildern auch etwas Mythologisches verbunden sein
könnte, ist der modernen Arbeits- und Berufssoziologie fremd geblieben. Ver318
geblich wird man in den einschlägigen Lehrbüchern überhaupt nach einer systematischen Verwendung des Mythenbegriffs suchen. Soweit die Soziologie der
wissenschaftlichen Vernunft eine Priorität vor anderen Wissensformen einräumt
und der theoretischen Logik eine, durch andere Erkenntnisformen unerreichbare
Qualität bei der Ordnung und Gestaltung der sozialen Wirklichkeit unterstellt,
muß der Mythos als ein "vortheoretisches Wissen" (Berger/Luckmann) irritieren.
Das abendländische Projekt der modernen Wissenschaften gründet sich auf dem
radikalen Bruch mit dem mythischen Weltverständnis, das nunmehr als eine Art
Kontrastfolie herhalten muß, um die Einzigartigkeit und Leistung wissenschaftlicher Weltbilder zu demonstrieren.68
Meine These war, daß die berufliche Sinnwelt von Fernfahrern durch Mythologien gestützt wird, die vor allem über die Analogien und Verwandtschaften
zwischen LKW-Fahrern und Kapitänen, Cowboys oder anderen männlichen
Helden erzählen. Angesichts der geringen symbolischen Unterstützung, die der
Sinnwelt der Fernfahrer durch wissenschaftliche Weltanschauungen oder religiöse Weltbilder zuteil wird, sind die Fahrer in ihrem Ringen um gesellschaftliche
Anerkennung auf die schwache soziale Legitimität und Überzeugungskraft
mythischer Wissens- und Symbolisierungsformen verwiesen. In den Subkulturen
der Fernfahrer werden berufliche Mythen dabei auch auf eine pragmatische
Weise gebraucht69, um erstens die Institutionalisierung beruflicher Gruppierungen
68
69
Für meine Argumentation ist entscheidend, den Mythenbegriff weder auf "archaische"
Weltbilder noch auf "primitive" Kulturen zu begrenzen. Obwohl alles dafür spricht, daß
Mythen vor der abendländischen Entzauberung der Welt eine gewichtigere Rolle in der alltäglichen Lebensorientierung und Sinnstiftung gespielt haben, wäre die Schlußfolgerung
falsch, daß der Mythos in der heutigen Zeit gänzlich unbedeutend wäre oder nur noch vorübergehend als ein Residuum vergangener Epochen zur Geltung käme. Die Gegenposition,
die eine Allgegenwärtigkeit mythischer Vorstellungen behauptet, ist nicht weniger unbefriedigend, solange sie ihre Argumente statt aus erfahrungswissenschaftlichen Untersuchungen lediglich aus der anthropologischen Verewigung des Mythos zu einem allgemein
menschlichen Grundbedürfnis bezieht.
Gegen funktionalistische Ansätze, die Mythen allein auf ihre pragmatischen Funktionen und
Gebrauchsweisen reduzieren, ist von Rolf Eickelpasch (1973, S. 25-46) zu Recht eingewandt worden, daß sich der Inhalt und Sinn eines Mythos (meaning) nicht auf seine
pragmatische Funktion (use) reduzieren lasse. Dennoch geht es hier nicht um eine vollständige, historisch fundierte Monographie der Fernfahrermythologien. Auf dem gegenwärtigen Stand der Forschung muß die Untersuchung des wechselseitigen Zusammenspiels
zwischen mythischen Sinnentwürfen und der gesellschaftlichen, subkulturell gestützten
Reproduktion von Arbeits- und Berufsrisiken den pragmatischen und konservativen
Gebrauch von Mythen noch gegenüber ihrem innovativen und utopischen Gehalt überbetonen. Die Attraktivität des Mythos in den beruflichen Subkulturen liegt vor allem darin, daß
er für die Fahrer sowohl "gelebte Wirklichkeit" (Malinowski) als auch eine "erzählte
Geschichte" mit transzendentalem Sinnbezug ist.
319
unter den Fahrern subkulturell zu flankieren, um zweitens das soziale und berufliche Prestige der Fernfahrer aufzuwerten und drittens zu einer sozialen Regulation arbeits- und berufsbedingter Risiken beizutragen. Auf seine pragmatische
Verwendungsweise reduziert sind Mythen als ein soziokulturelles Phänomen
begreifbar, das der kollektiven Bewältigung von Unsicherheiten dient.
Als Stütze subkultureller Sinnwelten kann der aufrichtige Glaube an den Gehalt mythischer
Erzählungen die emotionale Sicherheit und das subjektive Wohlbefinden fördern. Imaginäre
Kontrollchancen über eine unsichere Wirklichkeit und paradoxe "Lösungen" von
schmerzhaften Widersprüchen, die der Mythos durch die Aufhebung der Grenzen zwischen
Wahn und Wirklichkeit vermittelt, ermöglichen eine Flucht aus der belastenden Realität, deren
tatsächlicher Risikobewältigungsgehalt bei näherer Betrachtung allerdings zweifelhaft erscheint. Des weiteren kann der Glaube an den Mythos moralische Gewißheiten bestärken. Die
Legitimierung von Prestigeansprüchen sowie bestehender oder zukünftiger Ordnungen mittels
mythischer Naturalisierung und Tradition kann die Selbstsicherheit stärken, besonders dann,
wenn die mythische Beglaubigung der kollektiven Existenz der eigenen Gruppe an ihre moralische Hervorhebung gekoppelt ist. Schließlich fördert der Glaube an eine gemeinsame
Mythologie die symbolische Vereinigung und soziale Integration der beruflichen Gruppierung,
was die Sicherung der subkulturellen Identität unterstützt und eine Voraussetzung bildet für
den social support und die kollektive Aktionsfähigkeit.
Anders als in sogenannten "primitiven" Kulturen, dürfte die Wirkung moderner Berufsmythen heute nicht mehr allein oder vorrangig auf der Betonung magischer Qualitäten beruhen. Auch wenn sich zahlreiche Indizien für eine "Magie der Männlichkeit" in der Mythologie
der Fernfahrer finden lassen, sollte der (weitgehend unbewußte) Glaube an die magische
Qualitäten der Maskulinität nicht überbewertet werden. Es wäre allerdings irreführend, die
"Verzauberung der Welt" in den Arbeits-Mythen der Fernfahrer aus der Perspektive einer
distanzierten "theoretischen Logik" lediglich als "fiktiv" und "eingebildet" oder als "verrückt"
zu denunzieren.
Bei näherer Betrachtung offenbart sich die Wirklichkeitsverfremdung des Mythos als eine
Art "praktisches Wissen", das seiner eigenen Rationalität zu folgen scheint und das vor allem
in jenen Unbeherrschbarkeitsnischen gedeiht, die von der szientistischen Vernunft unberührt
bleiben. Von den langfristig zu erwartenden gesundheitlichen Spätfolgen her gedacht, die sich
zweifelsfrei allenfalls einer wissenschaftlich gestützten Epidemiologie erschließen, ist das
Leistungsverhalten der Fernfahrer als wenig sinnvoll und blind gegenüber unbeabsichtigten
Nebenwirkungen zu bewerten. Angesichts fehlender Arbeitsplatzalternativen und mangels geeigneter Ressourcen für eine aussichtsreiche berufliche Mobilität erscheint der Tausch von
gesundheitlichen Beanspruchungen gegen ein verringertes Arbeitsmarktrisiko gar nicht mehr
so unvernünftig, besonders wenn man das Vorhaben vieler Fahrer berücksichtigt, den harten
Fernfahrerjob nur vorrübergehend auszuüben, bis man finanziell gesichert ist oder sich eine
weniger riskante Arbeit findet. Daß sich die Fernfahrerei auf Zeit letztlich für die meisten als
eine gefährliche Illusion erweist, tut hier nichts zur Sache. Im Gegenteil: Je deutlicher die
Zukunft als Sackgasse und alternativarm empfunden wird, desto dringlicher wird der Bedarf
nach Deutungsmustern, die aus der Not eine Tugend machen und das Verbleiben im Fernfahrerberuf zu einer "Wahl" des Schicksals - sprich: des Herzens und des Blutes - machen.
Die Fernfahrermythologie ist äußerst ambivalent zu bewerten. Auf der einen
Seite stärken die Truckermythen das Selbstvertrauen, die (Selbst)Sicherheit und
320
das Solidaritätsgefühl unter den Fahrern, zu einer mit außergewöhnlichen Kräften
begabten Männergemeinschaft zu gehören. Die magischen Kräfte der Trucker
mögen die schwierigen Rahmenbedingungen der Transportarbeit zwar nicht aus
der Welt zu schaffen, für den Gutgläubigen können die Probleme aber emotional
erträglicher sein, sobald es die Selbsttäuschung ermöglicht, trotz mangelnder
instrumenteller Bewältigungsressourcen die eigene Würde zu wahren. Andererseits ist die persönliche und kollektive Selbstsicherheit höchst trügerisch, soweit
sie stillschweigend die Selbst-Täuschung und die Reproduktion bestehender
Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse akzeptiert und dadurch zum Fortbestehen
der risikoerzeugenden Rahmenbedingungen beiträgt.
Auf der subjektiven Ebene sieht es so aus, als ob die Truckermythen versuchten, die fundamentalen Widersprüche zwischen der Persönlichkeit und der riskanten Arbeitstätigkeit der
Fahrer zu lösen, allerdings weniger durch die Weiterentwicklung der praktischen Kontrolle
über die Arbeitsbedingungen, als vielmehr durch die imaginäre (Selbst)"Kontrolle", die den
Fahrern aber übermenschliche, weil auf lebensgeschichtliche Dauer nicht zu bewältigende
Anforderungen aufbürdet. Die mythische Selbsttäuschung dient dabei der Mobilisierung
körperlicher und geistiger Kräfte, mit denen der Vollzug der außergewöhnlichen Arbeits(zeit)leistungen gewährleistet wird. Da die mythischen Kontrollvorstellungen die Fernfahrer darin
unterstützen, ihre riskanten Arbeitsbedingungen zumindest emotional zu ertragen, leistet die
berufliche Mythologie zugleich einen verborgenen Beitrag zur gesellschaftlichen Reproduktion
der fragwürdigen Strukturen im Straßengüterverkehr und zur Aufrechterhaltung der riskanten
Rahmenbedingungen, unter denen die Transportarbeit gegenwärtig geleistet wird.
Die mythische Verklärung der historisch gewordenen und gesellschaftlich konstruierten
Risiken der Arbeits- und Lebenswelt von Fernfahrern zu einer scheinbar unabänderlichen und
überzeitlichen, natürlichen und geheiligten Tatsache fördert die Absicherung bestehender
Herrschaftsverhältnisse und Bedingungen gegen Veränderungen des Status Quo. Die Billigung
fragwürdiger Leidensbedingungen ist dabei an die kollektive Umwertung der Arbeit geknüpft.
Die mythische Verklärung des Zwangs- und Lastcharakters der Transportarbeit zu einer
männlichen Heldentat will glauben machen, daß die Arbeitstätigkeit der Fahrer alles andere als
eine Arbeit oder Plackerei ist. Mit der Abwertung oder Verachtung industrieller Arbeitsformen
wird zugleich geleugnet, daß menschliche Arbeit überhaupt auf eine, für Männer akzeptable
Art und Weise gesellschaftlich organisiert werden kann. Der mythische Glaube an die Magie
männlicher Heldentaten hält somit höchst riskante Nebenfolgen bereit.
Zusammengefaßt gründet sich die soziale und subkulturelle Identität vieler Fernfahrer auf einer gesellschaftlichen (Um)Definitions- und Abgrenzungsarbeit, mit
der die Transportarbeit im Straßengüterfernverkehr trotz aller Unterschiede im
Detail als prinzipiell gleichartig anerkannt wird. Die beruflichen Mythologien der
Fernfahrer als "Kapitäne der Landstraße", "Asphalt Cowboys" oder "Highway
Helden" bilden hierbei einen zentralen Bezugspunkt für alltägliche Klassifizierungs- und Stilisierungsformen, die das Selbstbild und die soziale Identität der
Fahrer reproduzieren. Der "materielle" Gehalt ihrer Mythologien bleibt solange
gesichert, wie es den Fernfahrern in Prozessen sozialer Auslese und Schließung
321
gelingt, eine exklusive Aneignung der mythisierbaren Merkmale und Eigenschaften auf Dauer zu gewährleisten. Umgekehrt bleibt die Anziehungskraft der
mythischen Weltbilder solange bestehen, wie die Fernfahrer in ihrer alltäglichen
Wirklichkeit Anhaltspunkte finden, die den Glauben an ihre außergewöhnliche
Existenz fördern.
"Angesichts der Tatsache, daß bei uns in Deutschland von Weite und Abenteuerromantik in
unseren Verkehrsstaus keine Rede sein kann, mag es verwundern, daß sich große Teile der
ehemaligen 'Kapitäne der Landstraße' zu 'Truckern' nach amerikanischem Vorbild mausern.
Doch 'Kapitäne' sind sie bei näherer Betrachtung schon lange nicht mehr. Als LKW-Fahrer ist
man heute einer unter vielen und zudem mit dem Image eines verkehrsbehindernden Dieselstinkers behaftet. Der Mythos des Truckers, der in Amerika übrigens höchstes Ansehen
genießt, verschafft in dieser Situation ein neues Lebensgefühl. Trucker sein, bedeutet eine
Haßliebe zu seinem Beruf zu haben. Denn es gibt sie auch bei uns, die kleinen Momente, die
den Mythos stets aufs Neue nähren: eine ausnahmsweise freie Autobahn im Abendlicht, die
entsprechende Musik im Autoradio. Die Fahrschulen können sich über mangelnde Teilnehmerzahlen für den Brummi-Führerschein nicht beklagen" (Prahl 1988).
Was vermag ein Soziologe als Mythenjäger auszurichten gegen Lebensgefühle
und die kleinen Momente, die eine Arbeit nicht in ihren riskanten Dimensionen
offenbart, sondern ausnahmsweise von ihrer angenehmen Seite zeigt? Es scheint
durchaus fraglich, ob eine mythenfreie rationalistische Lebenswelt in jedem Falle
ein erstrebenswertes Ziel wissenschaftlicher Aufklärung sein sollte und ob die
Aufhebung der Last des Leidens letztlich nur auf Kosten jeder Leidenschaft und
Lust erfolgen muß. Die wissenschaftliche Expertise muß sich ihrerseits davor
schützen, zur Souffleuse symbolischer Mächte zu verkommen. Sie muß sich
hüten, den eigenen Mythos der praktischen Unfehlbarkeit wissenschaftlicher
Vernunft zu pflegen, einer rationalistischen Verblendung, die blind bleibt für die
eigenen Mythologisierungsformen, mit denen sich die szientistische Vernunft
stets gegen die Ansprüche konkurrierender Wissensformen zu Wehr gesetzt hat.
Ohne Mythisierung scheint eine Institutionalisierung und Traditionsbildung
auch in "modernen" Gesellschaften kaum vorstellbar70, aber den Mythos zum
einzigen "Zeugen" oder zum entscheidenden Stützpfeiler der eigenen sozialen
Wertschätzung zu machen, ist ein vergleichsweise riskanter Weg, um sich seine
gesellschaftliche Anerkennung auch offiziell zu sichern. Ein Weg, der letztlich
nur auf "Narren" und "Verrückte" oder auf die Träume von Kindern und Romantikern bauen kann. Die Berechtigung, sich als Sozialwissenschaftler den
Fernfahrer- und Truckermythen mit einer kritischen Haltung zu nähern, liegt vor
allem darin begründet, daß die mythischen Sinn- und Weltbilder der Fahrer
offensichtlich - über ihren positiven Beitrag zur sozialen Gruppierung und
70
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So bestätigen neuere Forschungen zur Organisationskultur die soziokulturelle Kraft des
Mythos selbst in jenen institutionellen Zusammenhängen, die wie die industrielle Unternehmung jahrzehntelang als der Hort formaler Rationalität par excellance gegolten hat.
emotionalen "Bewältigung" arbeitsbedingter Anforderungen hinaus - zu einer
Billigung eigentlich unzumutbarer Risiken führen.
Aber Mythen entziehen sich üblicherweise der wissenschaftlichen Kritik, weil
sie sich in einem anderen Bezugssystem bewegen, in dem sich Vernunft und gute
Gründe, "Wahrheit" oder Wirklichkeitsadäquanz nicht ohne weiteres Geltung
verschaffen. So kann die Wissenschaft zwar versuchen, ideologischen Weltanschauungen mittels Ideologiekritik die Legitimationsgrundlagen zu entziehen,
die Hingabe an eine mythische Passion vermag die Wissenschaft aber kaum zu
erschüttern, da ihre Argumente in diesem Metaphernspiel nur wenig zählen.
Geringer Erfolg dürfte auch Versuchen beschieden sein, die Wahlen, die Erzeugungsakte und das Gewordensein der beruflichen Gruppierung zu enthüllen
gegen eine Naturalisierung ihres Ursprungs und eine Verflüchtigung ihrer Geschichte und Realität, die der Mythos betreibt (vgl. Barthes 1970). Wer nicht auf
Übertreibungen warten mag, mit denen die Mythologen71 der Glaubwürdigkeit
ihrer Sinnwelt selbst ein schnelles Ende bereiten, indem sie sich und ihre Klientel
der Lächerlichkeit preisgeben, der muß Sinn-Ersatz beschaffen, mit dem sich die
etablierten Mythen vielleicht verdrängen lassen.
Ein Ansatzpunkt, Mythen beizukommen, liegt in der fragilen Verbindung zwischen materiellen Eigenschaften und symbolischen Ressourcen. Im Zuge einer
erfolgreicheren Verberuflichung der Fernfahrer wird auch deren Mythologie
verzichtbarer, zumindest was die Motivation betrifft, Mythen als Grundlage für
das kollektive Selbstwertgefühl zu nutzen. Mit gesellschaftlicher Um- oder
Neudefinitionsarbeit erscheint dann eine Umwertung der Werte erreichbar, die
der bis dahin geltenden, mythologisch begründeten Höherwertigkeit der Fernfahrer den Glauben entzieht. Ein Mittel gegen die Nebenrisiken der TruckerMythologie ist, die Fernfahrer selbst zu "Spielverderbern" zu machen, indem
ihnen neue Arbeitsspiele angeboten werden, um ihre maskulin getönte berufliche
Identität auf eine andere Weise auszuleben, die weniger riskant ist und dennoch
attraktive Ansatzpunkte bietet, die Transportarbeit als eine ehrenvolle Tätigkeit
zu erfahren, die gesellschaftlich geschätzt und anerkannt wird.
Gefragt sind somit Merkmale und Eigenschaften, die in erster Linie von
Fernfahrern angeeignet werden können und die zu einer symbolischen Neubesetzung von Attributen führen, die zugleich harmloser sind und dennoch sozial als
71
Ohne die Sinnstiftungs- und Symbolisierungsarbeit von "Intellektuellen", die eine Berufsgruppe im soziokulturellen Raum repräsentieren und im politischen vertreten, ist der
Anschein geschichtsloser Natürlichkeit kaum herzustellen, mit dem sich die mythisch
beglaubigte Existenz einer sozialen Gruppierung wie selbstverständlich voraussetzt. Wie
nicht anders zu erwarten, sind die Intellektuellen, die den Trucker-Mythos zum Sprechen
bringen, hierzulande nur mit einer vergleichsweise geringen Legitimität ausgestattet (z.B.
Country-Musiker, Filmemacher etc.).
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hochwertig anerkannt werden. Oder es muß gelingen, die Besonderheit der
Berufskraftfahrer symbolisch hervorzuheben, ohne eine berufständische
Absonderung und soziale Trennung von industriellen Arbeitstätigkeiten zu
betreiben. Mit Formen politischer Mobilisierung haben Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegungen gezeigt, daß sich aus verallgemeinerbaren Kennzeichen der
industriellen Arbeiterschaft auch ein symbolisches Kapital der Ehre gewinnen
läßt und daß sich die Solidarität und Selbstsicherheit beruflicher Gruppierungen
nicht nur aus Traditionen, sondern auch aus gesellschaftspolitischen Utopie
entwickeln läßt.
Welche Zukunft haben die Fernfahrermythologien? Gibt es Sensibilitätsschwellen, auf denen sich der Mythos selber ad absurdum führt, auf denen er
seine pragmatische Bedeutung einbüßt und auf der die Gläubigen schließlich ihre
Liebe zur Zwangsläufigkeit des Schicksals in Frage stellen? Angesichts der
enormen Forschungslücken lassen sich auf diese Fragen noch keine befriedigenden Antworten finden. Auch die Frage nach dem Einfluß von Rationalisierungstrends im Gütertransportgewerbe auf die Entwicklung der beruflichen Kulturen
von Fernfahrern wirft heute noch mehr Fragen auf, als sich beantworten lassen.
Mit der Verbreitung computergestützter Informations- und Kommunikationstechnologien (z.B. mittels Bordcomputer, in der Tourendisposition und bei der
On-line-Fahrzeuglokalisierung) scheint aber eine Verdichtung der Leistung und
eine stärkere der Kontrolle der Transportarbeit zumindest technisch realisierbar.
Wie "Trucker" auf die möglicherweise wachsende Kontrolle ihrer Autonomie
reagieren, ist auf dem gegenwärtigen Forschungsstand nicht abschätzbar. Entwicklungen in der Fahrzeugtechnik haben das Führen eines Lastkraftwagens in
den letzten Jahrzehnten spürbar erleichtert. Selbst sporadische, körperlich schwere Arbeiten, wie z.B. der Reifenwechsel, sind zu einer relativ seltenen Ausnahme
geworden (wenn sie nicht überhaupt durch entsprechende Serviceleistungen von
Werkstätten oder LKW-Herstellern dem Fahrer abgenommen werden). Anstrengende manuelle Verladetätigkeiten können zwar in der Tendenz durch die Externalisierung von Lagerfunktionen an das Speditionsgewerbe zunehmen (vor allem
im Handel), sind aber mit der Ausweitung automatischer Transport-, Umschlagund Lagersysteme möglicherweise als Residualarbeiten zu behandeln. Wie
werden sich die allgemeinen Tendenzen einer Verschiebungen von physischen
hin zu psychosozialen Belastungsdimensionen auf den Truckerkult auswirken?
Wird die physische Erleichterung der Arbeit bei gleichzeitiger Verschärfung von
Streßphänomenen psychischer Über- oder Unterforderung in dem Maße als eine
Bedrohung für das Männlichkeitsideal der Fernfahrer empfunden, in dem ihre
Arbeitstätigkeit zunehmend von Elementen durchdrungen wird, die den tradierten
Maskulinitätsmythos unterminieren?
Bislang haben manche Fernfahrer auf diese Entwicklungen durch eine Verlagerung des Fokus männlicher Kraftentfaltung "reagiert", d.h. trotz Verschie324
bung von physischen zu psychischen Belastungsmomenten haben sie an der
Körperlichkeit ihrer Arbeitsleistung festgehalten. Entweder wird künftig auf
physischen Kraftpotentialen - ungeachtet der Verschiebungstendenzen - beharrt
(die "starke Hand am Lenkrad"), vielleicht die Verausgabung maskuliner Kraft
auch noch stärker in eine Traumwelt oder auf das sexuelle Gebiet projiziert, oder
es wird eine Verschiebung des Brennpunktes der Kraftentfaltung stattfinden, weg
von der muskulär anstrengenden Schwere körperlicher Arbeit hin zu psychophysischen Beanspruchungsdimensionen, die wie "Müdigkeit", "Durchhaltevermögen" oder "Ausdauer" auch als körperliche Formen der Belastung sinnlich
erfahrbar bleiben.
Frage: Was war den früher anders als heute? "Ruhiger, ruhiger, viel ruhiger, ne. Da ham wir
Zeit gehabt. Die Termine waren nicht so hart. Heute ist der Konkurrenzkampf hart, ne. Überall
müssen Sie selber was tun. Der Kunde drückt's auf den Unternehmer, der Unternehmer
drückt's wieder auf uns. Was soll es?" (Fernfahrer H. Kluck, zitiert nach Prahl 1988). "Aber
man hat kaum noch Zeit da oben für Kontakt mit Freunden. Denn ich erleb' es ja. Früher, da
hat man so oft Kollegen getroffen unterwegs. Und heute, wenn man sich wirklich trifft, ja dann
kann man sich mal fünf Minuten vielleicht auf der Toilette beim Pinkeln da unterhalten. Und
dann ist aber auch schon Schluß! Paar Worte wechseln und man kann dann sagen: Ja, wie
geht's? (...) Was macht die Familie? Und: Wo kommste her, wo willste hin? Und dann ruft man
sich von Ferne schon zu: Tschüß! Gute Fahrt! Schrottfreien Flug! Und dann ist auch schon aus,
vorbei. Man unterhält sich vielleicht noch ein paar Sätze über die Bräke. Und dann ist aber
auch endgültig Feierabend. Das ist (...) nicht so schön, das war früher besser! Aber, die Zeit
bleibt eben nicht stehen. Man muß ja schließlich auch mit der Zeit mitgehen, wenn man den
Beruf hier zufriedenstellend erledigen will. Dann kann man nicht einfach Pause machen, wann
man will! Weil man sonst mit der Zeit gar nicht zurecht kommt" (Günter Heimann, Trucker,
zitiert nach Prahl 1988).
Wie lange muß die Suche nach gesellschaftlicher Anerkennung der geforderten
Wertschätzung der Fernfahrer noch mangels legitimer Offizialisierungschancen
auf semioffizielle Felder ausweichen, in subkulturelle "Nischen", die der okzidentale Rationalismus der Selbstdarstellung einer subalternen Gruppe mit geringem Kapitalbesitz auch weiterhin offen hält: das Feld der Mythen- und
Legendenbildung samt der Herausbildung von Subkulturen, die bekanntlich
einem schnellen modischen Wandel ausgesetzt sind. Das Ringen um
gesellschaftliche Anerkennung der eigenen Leistungen verweist viele Fernfahrer
gegenwärtig immer noch in jene zwielichtigen Zonen, in denen die Vernunft ihre
scharfen Konturen verliert, wo Märchen und Wahrheit, Traum und Realität
untrennbar zu verschmelzen scheinen.
Als Fazit bleibt festzuhalten, daß der Preis, den die Mythisierung der Arbeitstätigkeit und des Berufslebens der Fernfahrer kostet, bei nüchterner Betrachtung
als zu hoch zu bewerten ist. Es konnte die These plausibel gemacht werden, daß
die harten Wettbewerbsbedingungen im gewerblichen Straßengütertransport
mangels geeigneter beruflicher und arbeitspolitischer Schutzressourcen und auf325
grund der hohen Leistungsbereitschaft unter den LKW-Fahrern über riskante
Arbeits(zeit)bedingungen weitgehend auf die Beschäftigten abgewälzt werden.
Über soziale und berufliche Selektions- und Anpassungsprozesse dürfte sich
ein beträchtlicher Teil der Fahrer mit den arbeits- und berufsbedingten Risiken
arrangiert haben und in gewissem Maße selbst zur Reproduktion der Risiken beitragen. Dies gilt nicht nur für den Versuch, potentielle Arbeitsmarktrisiken durch
außergewöhnliche Arbeitsleistungen zu "bewältigen", eine risikopolitische "Strategie", die bestehende Gefahren lediglich auf eine andere, langfristig wirkende
Gefährdungsebene gesundheitlicher Beeinträchtigungen verschiebt. Dort, wo weniger belastende und geringer beanspruchende Bedingungen "normaler" industrieller Arbeitstätigkeiten als berufliche Alternative abgelehnt werden, werden
die riskanten Arbeitsbedingungen unter den Fahrern - gestützt durch eine von
Männlichkeitsmythen und maskulinen Ehrauffassungen geprägte Arbeits- und
Berufskultur - häufig sogar zu einer regelrechten Herausforderung hochstilisiert.
Solche betont "männlichen" Anpassungsleistungen, die auf die kurzfristige
Bewältigung von Arbeitsanforderungen gerichtet sind und hier tatsächlich
Höchstleistungen motivieren können, wirken sich auf lange Sicht allerdings
kontraproduktiv aus, und zwar sowohl für die betroffenen Fahrer als auch für das
von Rekrutierungsproblemen bedrohte Transportgewerbe. Dabei befinden sich
die Fahrer in einem Teufelskreis, aus dem nur eine alternative Gestaltung von
Arbeit und Organisation des Transportablaufes einen Ausweg verspricht. Einerseits müssen die Fahrer mögliche Gefahren und Risiken als eine Herausforderung
begreifen und damit zugleich "auf die leichte Schulter nehmen", um die Belastungen und Beanspruchungen aushalten zu können und den enormen Arbeits(zeit)anforderungen überhaupt gewachsen zu sein. Andererseits ist diese Bewältigungsstrategie in höchstem Maße kurzsichtig und kontraproduktiv, weil sie zu
einer Selbstgefährdung beiträgt und solche Arbeitsbedingungen erst möglich
macht, die auf lange Sicht das gesundheitliche Wohlbefinden beeinträchtigen.
"Sozialer Unterstützung" (social support) wird nach den Ergebnissen der
Streßforschung eine weitgehend positive Funktion bei der Bewältigung (coping)
von Streß zugeschrieben (vgl. z.B. Badura et al. 1987, Frese 1989). Als Bewältigungsressource erfolgt soziale Unterstützung nicht nur in Form direkter, "instrumenteller Hilfen", sie enthält auch emotionale Komponenten (wie z.B. Bewunderung, Liebe, Zuneigung, Respekt) und kann durch eine kognitiv erfahrbare
Bestätigung des eigenen Selbstkonzeptes bzw. Selbstbildes wirksam werden (vgl.
Frese 1989, S. 112f.; Frese und Semmer 1991, S. 147). Über soziale Unterstützung können berufliche Netzwerke oder Berufsgruppen die Bewältigung arbeitsund berufsbedingter Streßrisiken beeinflussen. Dies muß auch für die berufskulturelle Mythenbildung gelten, sofern die Mythen Gläubige finden und das
Spiel zu einem positiven "Selbstbildmanagment" (Badura) und zur "Aufrechterhaltung von Selbstsicherheit" (Frese und Semmer) beiträgt. Inwieweit ein
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mythologisch gestütztes, magisches Selbstwertgefühl unter den Fernfahrern damit
auch tatsächlich entlastend und gesundheitsfördernd wirken kann oder ein bloßes
Wunschdenken bleibt, bei dem Wahn und Wirklichkeit auf eine fatale Weise
miteinander verschmelzen und dadurch eine "realistische" Risikobewältigung
unterlaufen, kann hier nicht abschließend beurteilt werden. Dieser höchst ambivalente Aspekt sozialer Unterstützung ist bis heute noch nicht systematisch
empirisch untersucht worden.
Auch für das Transportgewerbe haben die Fernfahrermythen höchst ambivalente Züge. Zum einen stützen sie die außergewöhnlichen Arbeitsleistungen und
tragen damit nicht unerheblich dazu bei, daß viele Fahrer sich ihrer harten Arbeit
wie einer männlichen Herausforderung stellen. Solange der Fahrernachwuchs gesichert erscheint, solange die Fernfahrer trotz hoher Belastungen und Beanspruchungen eine preisgünstige Qualitätsarbeit leisten und die Kosten gesundheitlicher Beeinträchtigungen zu den Sozialversicherungsträgern hin externalisiert
werden können, müssen die langfristig wirkenden, kontraproduktiven Effekte des
Männlichkeitsmythos die nüchtern kalkulierenden Unternehmer nicht weiter
beunruhigen. Angesichts der demographischen Entwicklung in der Bundesrepublik, die zu einer Veränderung der Altersstruktur der Bevölkerung - nämlich zu
einem wachsenden Anteil älterer Menschen - führen wird, ist künftig aber mit
einer dramatischen Rekrutierungskrise qualifizierter Arbeitskräfte im Straßengütertransport zu rechnen. Es ist fraglich, ob auch in Zukunft vor allem die Bereitschaft junger Männer in dem Maße anhalten wird, die ungewöhnlichen Arbeits(zeit)belastungen und gesundheitsschädigenden Arbeitsbedingungen im Straßengüterfernverkehr wegen der bislang noch relativ großen Handlungs- und Entscheidungsspielräume und der "kleinen" Freiheiten der Fernfahrer zu akzeptieren.
Ebenso offen ist, wie sich die Arbeitssituation der Fernfahrer künftig gestalten
wird, wenn elektronische Informations- und Kommunikationstechnologien in
stärkerem Ausmaß als bisher in die Transportwirtschaft Einzug halten und auch
die Transportarbeit der Fahrer von informationstechnischer Rationalisierung
(Bordcomputer) nicht ausgenommen bleiben wird. Wird die Fernfahrerei durch
die Informatisierung ihre maskuline Attraktivität einbüßen oder im Vergleich zur
Industriearbeit auch weiterhin genügend Attraktionen aufweisen, werden vielleicht anders ambitionierte Arbeitskräfte sich dann zur Transportarbeit "berufen"
fühlen, die den Mythen freien Fernfahrertums keine Träne mehr nachweinen
werden? Unter der Voraussetzung, daß weder die berufskulturelle Mythenbildung
noch die Imagekampagnen des BDF auf Dauer einen angemessenen Ersatz für
eine menschengerechte und sozialverträgliche Gestaltung qualifizierter Transportarbeit im Straßengüterverkehr leisten werden, deren Anforderungen auch von
(älteren) Fahrern mit verminderter Leistungsfähigkeit erfüllt werden können, ist
ein Umdenken erforderlich, damit der Transport made in Germany tatsächlich
fern, schnell und gut in eine arbeits- und funktionssichere Zukunft unterwegs ist.
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