5. Männliche Berufstätigkeit als Passion? Berufliche
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5. Männliche Berufstätigkeit als Passion? Berufliche
5. Männliche Berufstätigkeit als Passion? Berufliche Subkulturen von Fernfahrern zwischen Mythos und Realität "Frances Routes: La Passion du Camion" (Titel und Untertitel einer französischen Fernfahrerzeitschrift). Auf den ersten Blick scheint das ambivalente Verhältnis, das viele Fernfahrer zu ihrem Beruf empfinden (vgl. Kapitel 2), durch eine erstaunliche Wirklichkeitsnähe gekennzeichnet zu sein. Einerseits finden sich empirische Indizien, um die Transportarbeit im Straßengüter(fern)verkehr als höchst riskant und belastend einzustufen. Andererseits betonen viele Fahrer aber die befriedigenden und lustvollen Momente ihrer Arbeitstätigkeit. Ganz anders, als es das arbeitswissenschaftliche Interesse an einer präzisen und möglichst widerspruchsfreien Haltung der Arbeitenden zu ihrer Arbeits- und Berufstätigkeit verlangt, begegnen viele Fernfahrer ihrem Beruf mit einer widersprüchlichen "Haßliebe". Soweit die Transportarbeit besonders von männlichen Lastkraftwagenfahrern tatsächlich als eine Passion empfunden wird, birgt der Fernfahrerberuf eine zwiespältige Attraktivität im Spannungsfeld zwischen Last und Lust, die grundsätzlich erklärungsbedürftig ist und deren berufskulturelle Dimensionen im folgenden eingehender zu untersuchen sind. Im Anschluß an religiöse Quellen steht "Passion" (I) einerseits für Leiden, Erdulden und Krankheit (zunächst beschränkt auf das "Leiden Christi", vgl. Duden "Etymologie" 1989, S. 513f.). Doch auch wer arbeitet, muß oft Leid auf sich nehmen und Schweres ertragen, so jedenfalls die Vorstellungen über die Arbeit als einer unwürdigen und mühevollen Tätigkeit, die neben der körperlichen Schädigung zugleich auch eine Bedrohung der Ehre (Schmähung) zum Ausdruck bringt (pe[i] - "schädigen, weh tun, schmähen" - als sprachgeschichtliche Wurzel von pati - "erdulden, leiden"; vgl. Duden "Etymologie" 1989, S. 181). Die Passivität (Stammwort: "pati") ist dabei aber insoweit selbstverschuldet, als das erduldende Opfer das in Betracht kommende Leid "ohne Widerspruch zuläßt" oder "nachsichtig gelten läßt" (vgl. ebd., S. 139, 514). Auf der anderen Seite übernimmt die "Passion" (II) im 17. Jahrhundert im französischen Sprachraum die Bedeutung von Leidenschaft und leidenschaftlicher Hingabe, von Vorliebe und Liebhaberei (ebd., S. 514). Übertragen auf die Frage nach dem subjektiven Anteil an der Erzeugung arbeitsbedingter Risiken verbindet sich mit der Passion somit eine Haltung, bei der die Leidtragenden nicht nur in ihrer Rolle als passiv betroffene Opfer auftreten, sondern auch einen aktiven Part, zumindest als Mit-Täter, spielen. Die Metapher, in der die männliche Transportarbeit als eine Passion vorgestellt wird, paßt nicht in das gängige arbeits- und industriesoziologische Klischee gesellschaftlicher Arbeitswirklichkeit. Beständig darum bemüht, den belastenden 231 Charakter industrieller Arbeitstätigkeiten wissenschaftlich nachzuweisen, ist der Hauptstrom arbeitssoziologischen Denkens unempfindlich geworden für die lustvollen Seiten, die der menschlichen Arbeitspraxis aus subjektiver Sicht - sogar unter industriekapitalistischen Bedingungen - zugeschrieben werden. Soweit die Erwerbstätigkeit von Fernfahrern nicht nur Gleichgültigkeit und instrumentelle Arbeitshaltungen erzeugt, sondern zu einer richtigen Passion wird, einer Leidenschaft, die Lust und Leiden schafft, lassen sich fließende Übergänge aufspüren zwischen den ansonsten begrifflich streng geschiedenen Sphären der Arbeit und des Spiels. Bislang hat die belastungssoziologische Semantik des Leidens an der Arbeit aber den Zugang zu einer Arbeit am Leiden verstellt, mit dem die subkulturellen Formen des Umgangs und der Bewältigung arbeitsbedingter Risiken in den Blick geraten. Der Glaube an die weitverbreitete Legende einer industriellen Arbeit ohne Spiel-Räume hat die Chance versäumt, die feinen Nuancen aufzuspüren zwischen den unerträglichen und den noch annehmbaren Schwierigkeiten des Inder-Arbeit-Seins. Kultursoziologische Ansätze scheinen zwar besser dafür geeignet, den spielerischen Umgang der Arbeitenden mit dem "Ernst des Lebens" zu erkennen und zu verstehen, in der Vergangenheit hat sich die Kultursoziologie aber meistens als sehr kurzsichtig erwiesen, im Dickicht subkultureller Stilisierungsformen die Konturen ökonomischer Macht und sozialer Herrschaft zu entdecken. Um die genannten Schwächen zu vermeiden, wird im folgenden versucht, das versteckte Zusammenspiel zwischen Berufskultur und Herrschaft bei der Reproduktion arbeits- und berufsbedingter Risiken sichtbar zu machen. Meine These ist, daß sich in den Arbeitsspielen von Fernfahrern berufskulturelle Formen einer "Verzauberung" der Lohnarbeit andeuten, die die Grenzen zwischen Traum und Wirklichkeit verwischt (Kapitel 5.1). Die mit dem Spiel verbundene Verkennung der riskanten Realität der geleisteten Transportarbeit läßt sich dabei zugleich als Ausdruck einer symbolischen Herrschaft begreifen, mittels derer die verborgene, stillschweigende Anerkennung der Hegemonie des Transportkapitals über die Transportarbeit gesellschaftlich reproduziert wird. Welchen Einfluß die Verzauberung und Ästhetisierung der Transportarbeit auf die Bewältigung oder Verstärkung der arbeits- und berufsbedingten Risiken von Fernfahrern gewinnt, soll am Beispiel der weitverbreiteten Fernfahrermythen untersucht werden. Die beruflichen Mythen der Fernfahrer bilden hierbei einerseits einen subkulturellen Bezugspunkt für die soziale Gruppierung von LKW-Fahrern (Kapitel 5.2), andererseits sind die beruflichen Mythologien auch an der sozialen Reproduktion der Arbeits- und Berufsrisiken beteiligt (Kapitel 5.3). Vor dem Hintergrund einer mangelnden gesellschaftlichen Anerkennung des Fernfahrerberufs und der vergleichsweise geringen Ressourcen zur Risikobewältigung, was die Aneignung ökonomischen, sozialen und kulturellen Kapitals 232 betrifft, läßt sich die Mythologisierung der profanen Transportarbeit als ein Versuch werten, "symbolisches Kapital" zu akkumulieren. Der etwas hilflos anmutende Versuch von Berufskraftfahrern, sich und ihre Arbeit gegenüber konkurrierenden Arbeitskraftanbietern mit Hilfe des symbolischen Kapitals maskuliner Berufsehre aufzuwerten, erzeugt mit der letztlich nur durch hohe Arbeits(zeit)leistungen legitimierbaren sozialen Grenzziehung in paradoxer Weise zugleich die arbeits- und leistungspolitische Dominanz der Unternehmerseite. Mit der kollektiven Konstruktion einer eigenständigen, unverwechselbaren berufskulturellen "Sinnwelt" wird aber ein entscheidender Bezugspunkt für die soziale Gruppierung der LKW-Fahrer gesetzt. Die symbolische Vereinigung der Fernfahrer in der Kapitän- und Trucker-Mythologie ignoriert zwar die Heterogenität und Unschärfe dieses sozialen Ensembles, verspricht aber eine wenigstens schwach legitimierte Form sozialer Unterstützung. Inwieweit dieser imaginäre social support den ungenügenden arbeits- und berufspolitischen Schutz vor Risiken auch tatsächlich zu kompensieren vermag, darf allerdings bezweifelt werden. 5.1 Spielen mit dem Ernst des Lebens: Arbeitsspiele von Fernfahrern an der Grenze zwischen Traum und Wirklichkeit "Ist aber das Schwere wirklich schrecklich und das Leichte herrlich? Das schwerste Gewicht beugt uns nieder, erdrückt uns, preßt uns zu Boden. In der Liebeslyrik aller Zeiten aber sehnt sich die Frau nach der Schwere des männlichen Körpers. Das schwerste Gewicht ist also gleichzeitig ein Bild intensivster Lebenserfüllung. Je schwerer das Gewicht, desto näher ist unser Leben der Erde, desto wirklicher und wahrer ist es. Im Gegensatz dazu bewirkt die völlige Abwesenheit von Gewicht, daß der Mensch leichter wird als Luft, daß er emporschwebt und sich von der Erde, vom irdischen Sein entfernt, daß er nur noch zur Hälfte wirklich ist und seine Bewegungen ebenso frei wie bedeutungslos sind. Was also soll man wählen? Das Schwere oder das Leichte? Parmenides hat sich diese Frage im sechsten Jahrhundert vor Christus gestellt. Er sah die ganze Welt in Gegensatzpaare aufgeteilt: Licht-Dunkel; Feinheit-Grobheit; WärmeKälte; Sein-Nichtsein. Er betrachtete den einen Pol (Licht, Feinheit, Wärme, Sein) als positiv, den anderen als negativ. Eine solche Aufteilung sieht kinderleicht aus, bringt jedoch eine Schwierigkeit mit sich: was ist positiv, das Schwere oder das Leichte? Parmenides antwortete: das Leichte ist positiv, das Schwere ist negativ. Hatte er recht oder nicht? Das ist die Frage. Sicher ist nur eines: der Gegensatz von leicht und schwer ist der geheimnisvollste und vieldeutigste aller Gegensätze" (Milan Kundera: Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins, Frankfurt/Main 1987, S. 9). So mysteriös und vieldeutig sich auch der Gegensatz zwischen dem Leichten und dem Schweren darstellen mag, sobald es um die Arbeit als dem "Ernst des Le233 bens" geht, scheint sich die Attraktivität des Leichten zunächst gegenüber der Anziehungskraft des Schweren zu behaupten. Kultur- und sprachgeschichtlich betrachtet, wecken die gebräuchlichen Adjektive, die zur Charakterisierung von Arbeitstätigkeiten herangezogen werden, höchst negative Assoziationen. So bezeichnet "schwer" - meist synonym verwendet mit "drückend", "beschwerlich" und "lastend" - neben der Arbeit auch noch die Not, die Krankheit und die Sünde (vgl. Duden "Etymologie" 1989, S. 659). Demgegenüber präsentiert sich das Spiel als eine "zwecklose und unterhaltende Tätigkeit", die im Gegensatz zu Arbeit und Ernst mit dem Begriff des Leichten und Mühelosen, aber auch Wertlosen verbunden ist (vgl. Deutsches Wörterbuch 1905, S. 2280). Das Leichte wird zwar grundsätzlich dem gegenübergestellt, was Gewicht hat, was schwerwiegend und wichtig ist, was geachtet und geehrt wird (vgl. Duden "Etymologie" 1989, S. 413 und 659). Dabei wird es aber nicht nur mit einer oberflächlichen Leichtfertigkeit oder gar mit Schwäche assoziiert, sondern auch mit einer spielerische Mühelosigkeit, mit der die wahre Meisterschaft dem Gegenstand begegnet. In vielen sozialwissenschaftlichen Utopien ist ein negatives Bild der Arbeit unterstützt worden, vor allem dort, wo - vielleicht aus einer arbeits- oder gesellschaftspolitischen Resignation heraus - das "Reich der Freiheit" eher jenseits der Nöte der Arbeitssphäre lokalisiert worden ist.1 Die klassische Konfrontation zwischen der Arbeit als dem "Reich der Notwendigkeit" und der Muße2 als dem Territorium der Freiheit, vermittelt eine einseitige und polarisierende Perspektive auf das vielschichtige Verhältnis zwischen Arbeit und Spiel, eine Sichtweise, die zumindest im deutschen Kulturraum in den Ausstiegsphantasien der frühen Ro1 2 234 Dies gilt vor allem für die Kritische Theorie der Frankfurter Schule. Bei Marcuse (1968, S. 15ff.; zuerst 1933) beispielsweise zwingt die Zweckrationalität und Instrumentalität der Arbeit den Menschen zu einer anerkennenden Auseinandersetzung mit der sachlichen Wirklichkeit der gegenständlichen Welt. Gerade beim Spielen komme aber der Mensch, sofern er sich über die "objektive" Sachhaltigkeit und Gesetzmäßigkeit der Gegenstände hinwegsetze, "zu sich selbst, in eine Dimension seiner Freiheit, die ihm in der Arbeit versagt ist." Habermas (1969) hat diese Gegenüberstellung von Arbeit und Spiel aufgegriffen und weiterverarbeitet in seiner irreführenden Reduzierung der "Arbeit" auf "zweckrationales" bzw. "instrumentales Handeln" und der "Interaktion" (angemessener wäre eigentlich der Begriff des Spiels gewesen) auf "kommunikatives Handeln". Die Dualisierung von Arbeit und Interaktion wirkt etwas realitätsfremd, soweit kaum eine Arbeitsform gänzlich auf Kommunikation und Interaktion zu verzichten vermag und eine zweckfreie, nur der Verständigung dienende Interaktion einen eher seltenen und untypischen, vielleicht sogar marginalen Sonderfall zwischenmenschlicher Beziehungen bildet. Unter dem Einfluß der protestantischen Arbeitsethik werden "Untätigkeit", "freie Zeit" und "Ruhe" (vgl. Duden "Etymologie" 1989, S. 475), mit der die Zeit der Muße verbunden ist, unterschiedlich bewertet. Die durch die Erholung von der Arbeit verdiente und ethisch gerechtfertigte Muße wird dabei vom moralisch verwerflichen Müßiggang ("aller Laster Anfang") abgegrenzt (vgl. Pankoke 1990, S. 11 und 248). mantik verwurzelt ist (z.B. Müßiggang als ein Weg zu sich selbst bei Friedrich Schlegel) und die Modernisierungskritik von Friedrich Nietzsche geprägt hat (vgl. Pankoke 1990, S. 252ff.). Die Bedeutungsvielfalt der Arbeitskategorie kann, so meine These, nur unter Berücksichtigung ihrer Spannung zum Kontrastbegriff des Spiels angemessen verstanden werden. Der spielerische Umgang vieler Menschen mit ihrer Arbeit bietet dabei einen wichtigen Ansatzpunkt, um den Zusammenhang zwischen Arbeit und Belastung zu verdeutlichen und die Möglichkeiten einer entlastenden Beziehung zur Arbeit auszuloten. Genau dieser Ansatzpunkt ist aber bislang in der Arbeits- und Industriesoziologie ebenso vernachlässigt worden wie in der arbeitswissenschaftlichen Belastungsforschung (vgl. Kapitel 3). Mit bemerkenswerter Übereinstimmung wird in allen europäischen Sprachen eine traditionelle Unterscheidung getroffen, die den Lastcharakter menschlicher Arbeit von ihrem Werkcharakter zu trennen sucht (vgl. Arendt 1960). Während der Kontrast zwischen "Arbeiten" und "Herstellen" im Laufe der Zeit schwächer geworden ist, hat im älteren abendländischen Sprachgebrauch noch ein Arbeitsverständnis dominiert, das zwischen der schweren, schmerzverursachenden körperlichen Anstrengung, Mühsal und Plage (molestia) und dem schöpferischen Werk (opus) differenziert hat (vgl. Deutsches Wörterbuch der Gebrüder Grimm, Erster Band, Leipzig 1854, S. 539-541). Auch die sozialwissenschaftliche Verwendung des Arbeitsbegriffs ist gekennzeichnet durch eine Gegenüberstellung von formaler Aktivität und inhaltlicher Zweckorientierung, d.h. durch die Unterscheidung zwischen der scheinbar gehaltlosen Anstrengung (Last, Not, Mühe) und dem "Werk", das ein gesetztes inhaltliches Ziel offenbar mühelos zu verwirklichen scheint.3 Seinen sozial klassifizierenden Sinn als eine unwürdige und mühselige Tätigkeit verliert die Arbeit erst in der Reformation, als Martin Luther der profanen Erwerbstätigkeit über die göttliche Berufung eine hohe sittliche Wertschätzung zuteil werden läßt; gleichzeitig wird hier ein ethischer Zusammenhang konstruiert zwischen der sozialen Ehre - dem "Leumund" [beruof], guten "Ruf" oder "Renommee" - und der sozialen Position des Berufenen - dem "Stand und Amt des Menschen in der Welt" (vgl. Duden "Etymologie" 1989, S. 43, 75 und 417). Die protestantische Ethik der Arbeit konnte dabei an die Ethik des Rittertums und der mittelalterlichen Mystik anknüpfen (vgl. ebd., S. 43), zweier Quellen, die für die Ehre und Würde spezifisch maskuliner Arbeitstätigkeiten und für das entsprechende Selbstbild männlicher Arbeitskräfte - zumindest in stark körperbetonten Berufen - sehr bedeutsam sind. 3 Spuren dieser Gegenüberstellung finden sich z.B. bei Karl Marx im "Doppelcharakter" der in den Waren dargestellten Arbeit (MEW 25, S. 57, 61, 203f., 209f.). Marx unterscheidet zwischen der gebrauchswertbildenden, zweckmäßig produktiven Tätigkeit oder "nützlichen Arbeit" (Qualität, Beschaffenheit, Inhalt der Arbeit) und der tauschwertbildenden, abstrakt menschlichen Arbeit oder bloßen "Verausgabung menschlicher Arbeitskraft" (Quantität nach Dauer und Zeitmaß, vgl. MEW 23). Auch Max Weber differenziert menschliche Leistungen wirtschaftlicher Art nach disponierenden "Leistungen" und der an Dispositionen orientierten "Arbeit" (1980, S. 62). Thorstein Veblen schließlich stellt der bloßen "Plackerei" (als unzweckmäßige Aktivität, vergebliches Tun, Vergeudung) die "Heldentat" gegenüber, die als nützliche Leistung einen sichtbaren Erfolg erbringt, da sie einem zweckgerichteten "Werkinstinkt" folgt (1981, S. 28f., 40, 82). 235 "Die Institution einer vornehmen Klasse ist (...) das Ergebnis einer frühen Unterscheidung zwischen verschiedenen Tätigkeiten, einer Unterscheidung, der gemäß die einen Tätigkeiten wertvoll, die anderen unwürdig sind. Wertvoll sind danach jene Beschäftigungen, die man als Heldentaten bezeichnen kann, unwürdig hingegen alle jene notwendigen und täglichen Plackereien, die gewiß nichts Heldenhaftes an sich haben" (Veblen 1981, S. 23; Hervorhebungen durch M.F.) - und die üblicherweise gerne weiblichen Arbeitskräften zugemutet werden. Thorstein Veblen verweist hier auf ein soziokulturelles Phänomen, das bislang in der arbeitsund berufssoziologischen Tradition weitgehend vernachlässigt worden ist. Die Aufwertung der Arbeit gilt nur für bestimmte Formen beruflicher Betätigung, von denen angenommen werden darf, daß sie erstens in einer gewissen vornehmen Distanz zu jenen schweren körperlichen Verrichtungen rangieren, die als gewöhnliche physische Arbeit von jedermann geleistet werden können (und die sich deshalb für eine berufsständisch motivierte Disqualifizierung besonders gut eignen, vgl. Weber 1980, S. 537). Zweitens scheint mit der Institutionalisierung des geforderten Arbeitskraftmusters und der Habitualisierung des entsprechenden Arbeitsvermögens der Beruf mit den zu ihm Berufenen zu einer Art magischen Einheit zu verschmelzen (im Sinne einer "Verkörperung" von Erfahrungswissen bzw. Qualifikation), wodurch der geleisteten Arbeit erst die nötige Weihe verliehen wird, die den Ausführenden von diskontinuierlichen und rein körperlichen Verrichtungen zu fehlen scheint. Mit der moralischen Aufwertung der Arbeit zu einem "Werk" im (klein)bürgerlichen Weltbild und mit der "Verwandlung der Arbeit in ein erstes Lebensbedürfnis" im marxistischen (vgl. z.B. Steiner 1971, S. 398) ist schließlich die Voraussetzung für ein modernes Arbeitsverständnis geschaffen worden, das beide Pole - die Anstrengung wie die Zweckmäßigkeit miteinander zu versöhnen sucht. Die mühevolle, anstrengende Verausgabung von Arbeitskraft ist somit nicht mehr nur noch als bloßes Leid oder als Last erfahrbar, sondern auch als "normale Lebensbetätigung" (MEW 23, S. 61) zu begreifen, ebenso wie die lustvolle Selbstverwirklichung des Individuums in der travail attractif kein "bloßer Spaß, bloßes amusement" ist, sondern wie jede wirklich freie Arbeit (für die Marx mit dem Komponieren bezeichnenderweise eine künstlerische Betätigung als Beispiel wählt) "zugleich verdammtester Ernst, intensivste Anstrengung" (Marx 1974, S. 505). "Du sollst arbeiten im Schweiß deines Angesichts! war Jehovas Fluch, den er Adam mitgab. Und so als Fluch nimmt A. Smith die Arbeit. Die 'Ruhe' erscheint als der adäquate Zustand, als identisch mit 'Freiheit' und 'Glück'. Daß das Individuum 'in seinem normalen Zustand von Gesundheit, Kraft, Tätigkeit, Geschicklichkeit, Gewandtheit' auch das Bedürfnis einer normalen Portion von Arbeit hat, und von Aufhebung der Ruhe, scheint A. Smith ganz fernzuliegen. Allerdings erscheint das Maß der Arbeit selbst äußerlich gegeben, durch den zu erreichenden Zweck und die Hindernisse, die zu seiner Erreichung durch die Arbeit zu überwinden. Daß aber diese Überwindung von Hindernissen an sich Betätigung der Freiheit - und daß ferner die äußren Zwecke den Schein bloßer Naturnotwendigkeit abgestreift erhalten und als Zwecke, die das Individuum selbst erst setzt, gesetzt werden - also als Selbstverwirklichung, Vergegenständlichung des Subjekts, daher reale Freiheit, deren Aktion eben die Arbeit, ahnt A. Smith ebensowenig. Allerdings hat er Recht, daß in den historischen Formen der Arbeit als Sklaven-, Fronde, Lohnarbeit die Arbeit stets repulsiv, stets als äußre Zwangsarbeit erscheint und ihr gegenüber die Nichtarbeit als 'Freiheit und Glück'" (Marx 1974, S. 504f.; kursive Hervorhebungen durch Marx, fettgedruckte durch M.F.). An der Marxschen Polemik gegen Adam Smith, der sich die menschliche Arbeit unter dem Eindruck (früh)kapitalistischer Produktionsverhältnisse und aus der wohltemperierten theoretischen Distanz eines politischen Ökonomen heraus lediglich als eine dem Subjekt fremde, aufgezwungene Tätigkeit, als Last oder Opfer vorstellen konnte, ist auch heute noch 236 zweierlei bemerkenswert. Zum einen bezieht Marx hier ausdrücklich Stellung gegen eine instrumentalistische, allein negativ bestimmte Arbeitsauffassung, die in der Arbeit selbst nur eine unpersönliche, entfremdete Aufopferung sehen will, und die dadurch blind bleibt für die vielschichtige Lebendigkeit der widersprüchlichen subjektiven Beziehungen der Menschen zu ihrer Arbeit. Dieses Argument wiegt um so schwerer, als gerade die an Marx orientierte arbeits- und industriesoziologische Forschung den Arbeitenden oft ein instrumentalistisches Verhältnis zur Arbeit unterstellt und die menschliche Subjektivität als eine "Tabuzone" (Knapp 1981, S. 149) behandelt hat. Andererseits unterschätzt Marx die bereits unter kapitalistischen Bedingungen aus dem gesellschaftlichen Charakter der materiellen Produktion erwachsenen Möglichkeiten, zumindest einzelne Komponenten des Produktions- bzw. Transportprozesses als ein Subjekt kontrollieren zu können und der dabei verausgabten Anstrengung zumindest ansatzweise den Charakter einer subjektiven Vergegenständlichung und "Selbstverwirklichung" zu verleihen. Der kurze Streifzug durch den Gebrauch der Sprache zeigt, daß bei der allzu einfachen Identifizierung von Arbeit mit Leid und Last die gleiche Skepsis angebracht ist wie bei der simplen Gleichsetzung der Arbeit mit einer, das "erste" Lebensbedürfnis befriedigenden und der Selbstverwirklichung dienenden, lustvollen Betätigung. Von Ausnahmen abgesehen, dürfte menschliches Arbeiten im Normalfall Elemente aus beidem enthalten. Es wäre fatal, diese grundsätzliche Ambivalenz der Arbeit auf eine Seite hin zu verkürzen. Sobald die geschlechtsspezifische Aufladung der Erwerbstätigkeit berücksichtigt wird, zeigt sich, daß die vorzugsweise von Männern zu verrichtenden, schweren körperlichen Arbeitstätigkeiten sich gerne als "verdammtester Ernst" präsentieren. Die einfachen, von jedermann zu bewältigenden manuellen Arbeitsaufgaben gewinnen offenbar nur dadurch an würdevoller, heroischer Größe, wenn sie sich durch die Bewältigung außergewöhnlicher Härte und Mühsal gegenüber den "leichteren", wenn auch "geschickteren" Tätigkeiten von Frauenhänden auszeichnen können. Die feinen Unterschiede an der Grenze zwischen der noch annehmbaren und der schon unerträglichen Leichtigkeit des Inder-Arbeit-Seins lassen sich dabei durch eine Bedeutungsnuancierung zwischen den Begriffen "Arbeitsspiel" und "Spielarbeit" markieren. Als Ausdruck wahrer Meisterschaft erscheint es durchaus akzeptabel, daß die Arbeit dort zum Spiele wird, wo sie ihren anstrengenden, ja lästigen Charakter verliert, um spielend leicht und mit Lust verrichtet zu werden. Umgekehrt läßt eine Arbeitshaltung aber den nötigen Ernst und Wirklichkeitssinn fehlen, sobald die Arbeit nur noch ein Spiel ist, eine viel zu leichte, vergnügliche "Spielarbeit" (vgl. Wörterbuch der deutschen Sprache, 10. Bd., Leipzig 1905, S. 2320), die aufgrund ihrer geringen qualitativen und geschlechtsspezifischen Anforderungen von "jedermann" geleistet werden kann. Die Trennung von Hand- und Kopfarbeit wird aber nicht nur in der alltagskulturellen, sondern auch in der sozialwissenschaftlichen Mythenbildung häufig radikalisiert. So bedarf es in der tayloristischen Legende über die ausführende 237 Arbeit erst einer wissenschaftlichen Anleitung und organisatorischen Disziplinierung, um die physische Arbeitstätigkeit von überflüssiger Schwere und Beanspruchung zu befreien. Den in erster Linie körperlich tätigen Arbeitskräften wird nur in geringem Maße zugetraut, ihre eigene Arbeitstätigkeit als ein ernsthaftes Spiel zu betreiben, d.h. mit dem "Ernst des Lebens" auf eine spielerische oder sportliche (und womöglich auch entlastende) Art und Weise umzugehen.4 Worin unterscheiden sich überhaupt Arbeit und Spiel als scheinbar gegensätzliche Grundformen menschlicher Tätigkeit und welche Verbindungslinien lassen sich zwischen beiden Betätigungsformen finden? Die Grundzüge für eine moderne Arbeitsauffassung finden sich bereits bei den Gebrüdern Grimm. Das "Deutsche Wörterbuch" versteht unter Arbeit "bald das arbeiten, bald das gearbeitete, bald das zu arbeitende" (Erster Band 1854, S. 539), d.h. die Kategorie der Arbeit bezieht sich auf die "Drei-Einheit von Tun, Gegenständlichkeit und Aufgegebenheit", wie Herbert Marcuse (1968, S. 14) bemerkt. Im Unterschied zu anderen Grundformen menschlichen Handelns (z.B. dem Spielen oder Lernen) gewinnt die menschliche Arbeit - meist etwas pathetisch formuliert - den Charakter einer aktiven Auseinandersetzung zwischen Mensch(heit) und Natur. Auch ohne die Vorliebe für eine Beschwörung der menschlichen Gattung als Kollektivsubjekt, wird die Arbeit meistens als eine praktische5, die wirkliche Welt gestaltende gesellschaftliche Tätigkeit begriffen. Erstaunlicherweise ist die Grimmsche Trias auch im Marxschen Arbeitsbegriff enthalten, wie eine klassische Passage aus dem "Kapital" zeigt, an der sich regulationstheoretische Ansätze in der Arbeitspsychologie zur Charakterisierung der Besonderheiten menschlicher 4 5 238 Der spielerische Umgang mit der Arbeit bezieht sich hier gerade nicht auf jene, von der psychoanalytischen Deutung als "regressiv" interpretierten "Angstlust"-Spiele, von denen Ute Volmerg (1978, S. 141ff.) berichtet. Die willentliche Gefährdung der eigenen Person ohne echte Chance auf eine aktive, nur auf die eigene Leistung bauende Auseinandersetzung mit der heraufbeschworenen Gefahr kann sicherlich nicht als Dimension einer sich über die Gegenständlichkeit hinwegsetzenden Freiheit verstanden werden. Der Praxis-Begriff bedarf hier einer kurzen Erläuterung. In seiner Bedeutung als "das Tun, die Tätigkeit; Handlungsweise; Geschäft, Unternehmen; Wirklichkeit, Tatsächlichkeit" (vgl. Duden "Etymologie" 1989, S. 547) verweist die Praxis auf den Welt- und Wirklichkeitsbezug menschlicher Tätigkeit schlechthin. Im Gegensatz zum Begriff der Theorie bezeichnet die Kategorie "Praxis" dabei eine "tätige Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit und die daraus gewonnene Lebenserfahrung" (vgl. ebd.). Das Praxisverständnis von Marx und Engels bezieht sich in erster Linie auf den "gesellschaftlichen Gesamtprozeß der materiellen Umgestaltung der objektiven Realität" (Wittich 1974, S. 965), d.h. auf eine materielle Auseinandersetzung der Menschheit als "Subjekt" mit der realen Umwelt (Natur als "Objekt") bei der die "objektiv-realen Gegebenheiten" beispielsweise durch Arbeit, politische, experimentelle und andere materielle Tätigkeiten "tatsächlich" umgewandelt werden (vgl. ebd.; vgl. Marx 1974, S. 7). Mir ist ein empirisch orientiertes Konzept sympathischer, das den Praxisbegriff diesseits imaginärer Kollektivsubjekte auf die gegenständliche, d.h. auf die wirkliche und sinnliche Tätigkeit lebendiger Menschen bezieht und dabei deren praktisches Verhältnis zur Welt zum Forschungsgegenstand erhebt (vgl. z.B. bei Bourdieu 1987, S. 97ff. oder bei Leontjew 1979, S. 83ff.). Arbeitstätigkeit orientieren (so z.B. Hacker 1986, S. 57 im Anschluß an ähnliche Überlegungen bei Rubinstein 1977, S. 707f.): "Am Ende des Arbeitsprozesses kommt ein Resultat heraus, das beim Beginn desselben schon in der Vorstellung des Arbeiters, also schon ideell, vorhanden war. Nicht, daß er nur eine Formveränderung des Natürlichen bewirkt; er verwirklicht im Natürlichen zugleich seinen Zweck, den er weiß, der die Art und Weise seines Tuns als Gesetz bestimmt und dem er seinen Willen unterordnen muß. (...) Die einfachen Momente des Arbeitsprozesses sind die zweckmäßige Tätigkeit oder die Arbeit selbst, ihr Gegenstand und ihr Mittel" (Marx 1974, MEW 23, S. 193; Hervorhebungen von M.F.). # Mit "Arbeiten" ist erstens eine sinnliche und praktische Tätigkeit verbunden, die in einem bewahrenden oder verändernden, in jedem Fall aber praktischen Verhältnis zur gegenständlichen Welt steht, eine gegenständliche Tätigkeit, die Anstrengungen und einen zweckmäßigen Willen erfordert, um das ihr Entgegenstehende unter menschliche Kontrolle zu bringen. # Das "Gearbeitete" ist zweitens das Ergebnis einer bewußten und zielgerichteten, an der Verwirklichung eines Resultates orientierten Tätigkeit, wobei das Produkt bereits vor der Handlung in der Vorstellung des Arbeitenden gegeben ist und durch den Willen, dem bewußten Ziel entsprechend, reguliert wird (vgl. Rubinstein 1977, S. 707). # In das "Zu-Arbeitende" (d.h. in den Auftrag oder die Aufgabe) gehen drittens praktische Notwendigkeiten ein, soweit die Arbeit als Ausführung einer besonderen Aufgabe immer gesellschaftlich bestimmt ist (vgl. Hacker 1986, S. 57), d.h. ausgerichtet ist auf die Realisierung eines nach gesellschaftlichen Wertmaßstäben "nützlichen" Ergebnisses, das unter festgelegten Bedingungen und unter dem ökonomischen Einsatz geeigneter Mittel6 erzielt werden muß (Kriterien: Gebrauchs- und Tauschwert). "Arbeit" ist somit eine zweckmäßige, unter Verwendung geeigneter Medien auf einen bestimmten Gegenstand7 gerichtete Tätigkeit, die mit der Verwirklichung ihres Zweckes zugleich auch einen gesellschaftlichen "Auftrag" als Aufgabe zu erfüllen hat.8 6 7 8 Der Begriff "Arbeitsmittel" muß in einem sehr weiten Sinne verstanden werden als "ein Ding oder ein Komplex von Dingen, die der Arbeiter zwischen sich und den Arbeitsgegenstand schiebt und die ihm als Leiter seiner Tätigkeit auf diesen Gegenstand dienen" (MEW 23, S. 194). Ob es sich dabei "um gegenständliche Mittel (Werkzeuge), um gesellschaftlich erarbeitete verbale Begriffe oder um irgendwelche anderen Zeichen" handelt: Arbeitsmittel dienen grundsätzlich als Medium zur Realisierung von Arbeitsverfahren (vgl. Leontjew 1973, S. 270, 209). Das Moment der Gegenständlichkeit ist in einem weiten Sinne zu verstehen, der über den Objektcharakter der materiellen "Natur" hinaus auch die Auseinandersetzung mit der "Natur" der Gesellschaft mit einschließt. Um ihre Lebensbedürfnisse zu befriedigen und sich am Leben zu erhalten, müssen die Menschen in die vorgefundenen Naturverhältnisse und Sozialbeziehungen eingreifen, d.h. ihre Arbeit umfaßt nicht nur die materielle Herstellung von Gütern, sondern zielt auch auf die Erfüllung gesellschaftlicher Funktionen und Dienstleistungen, auf die Aufrechterhaltung gesellschaftlicher Ordnungen sowie ganz allgemein auf die Bewältigung gesellschaftlicher Prozesse (Beck et al. 1980, S. 23; zur "symbolischen Arbeit" vgl. auch Bourdieu 1987, S. 205 und Boltanski 1990, S. 47). Es darf nicht übersehen werden, daß die triadische Bestimmung der Arbeit nach der Tätigkeit, dem vergegenständlichten Produkt und der Aufgabe hier noch in ihrer ganzen anthropologischen Reinheit erscheint. Ihre "Unschuld" verliert die menschliche Arbeit, 239 Im Spiel dagegen versuchen die Menschen die Gegenständlichkeit und Wirklichkeit der gesellschaftlichen Praxis aufzuheben, indem sie eine fiktive Welt konstruieren, in der die Zwänge und Notwendigkeiten ihres gewöhnlichen Lebens zumindest zeitweilig außer Kraft gesetzt sind. Ähnlich wie die sakrale Welt unterbricht das Spiel die Homogenität des Raumes und der Zeit und sondert die Teilnehmer(innen) vom alltäglichen Leben ab, indem es eine eigene, in sich geschlossene Welt erzeugt ("Enzyklopädisches Stichwort: 'Das Spiel'", in: Huizinga 1962, S. 205). In "Homo Ludens" (zuerst 1938) hat der niederländische Kulturhistoriker Johan Huizinga (1962, S. 14ff.) einige formale Kennzeichen herausgearbeitet, die das Spiel von allen ernsthaften Tätigkeiten des "gewöhnlichen" Lebens unterscheidet.9 "Der Form nach betrachtet, kann man das Spiel (...) zusammenfassend eine freie Handlung nennen, die als 'nicht so gemeint' und außerhalb des gewöhnlichen Lebens stehend empfunden wird und trotzdem den Spieler völlig in Beschlag nehmen kann, an die kein materielles Interesse geknüpft ist und mit der kein Nutzen erworben wird, die sich innerhalb einer eigens bestimmten Zeit und eines eigens bestimmten Raums vollzieht, die nach bestimmten Regeln ordnungsgemäß verläuft und Gemeinschaftsverbände ins Leben ruft, die ihrerseits sich gern mit einem Geheimnis umgeben oder durch Verkleidung als anders als die gewöhnliche Welt herausheben. (...) Das Spiel ist ein Kampf um etwas oder eine Darstellung von etwas. Diese beiden Funktionen können sich auch vereinigen, in der Weise, daß das Spiel ein Kampf um etwas 'darstellt' oder aber ein Wettstreit darum ist, wer etwas am besten wiedergeben kann" (Huizinga 1962, S. 20). Roger Caillois (1960) hat diese klassische Definition des Spiels aufgegriffen und durch eine Typologie verschiedener Spielformen und Spielweisen erweitert. Aus seiner Sicht ist das Spiel: "1. eine freie Betätigung, zu der der Spieler nicht gezwungen werden kann, ohne daß das Spiel alsbald seinen Charakter der anziehenden und fröhlichen Unterhaltung verlustig ginge; 2. eine abgetrennte Betätigung, die sich innerhalb genauer und im voraus festgelegter Grenzen von Zeit und Raum vollzieht; 3. eine ungewisse Betätigung, deren Ablauf und deren Ergebnis nicht von vornherein feststeht, da bei allem Zwang, zu einem Ergebnis zu kommen, der Initiative des Spielers notwendigerweise eine gewisse Bewegungsfreiheit zugebilligt werden muß; 4. eine unproduktive Betätigung, die weder Güter noch Reichtum noch sonst ein neues Element erschafft und die, abgesehen von einer Verschiebung des Eigentums innerhalb des Spielerkreises, bei einer Situation endet, die identisch ist mit der zu Beginn des Spiels; 9 240 sobald sich die Ausführung der gesellschaftlichen Aufgabe an den unbarmherzigen, aber auch unbestechlichen Maßstäben des Gebrauchs- und Tauschwertes messen lassen muß und sich mit der Hinzuziehung des Arbeitsmittels - als dem vierten Moment des Arbeitsprozesses - auch die schnöde Frage stellen läßt, wem die Arbeitstätigkeiten, die Arbeitsprodukte und die Arbeitsmittel gehören. Es ist hier nicht der Ort, den kulturhistorischen und -anthropologischen Ansatz von Huizinga kritisch zu bewerten. Seine Grundthese von dem Ursprung der Kultur im Spiel ist sicherlich für manchen Geschmack zu weit gegriffen, angesichts der kulturbildenden Funktion, die der menschlichen Arbeit mit Recht zugeschrieben werden kann. Mit Blick auf den zutiefst symbolischen Gehalt des Spiels dürfte Huizinga einem semiotischen Kulturverständnis noch die geringsten Adaptionsschmerzen bereiten. 5. eine geregelte Betätigung, die Konventionen unterworfen ist, welche die üblichen Gesetze aufheben und für den Augenblick eine neue, allgemeingültige Gesetzgebung einführen; 6. eine fiktive Betätigung, die von einem spezifischen Bewußtsein einer zweiten Wirklichkeit oder einer in bezug auf das gewöhnliche Leben freien Unwirklichkeit begleitet wird" (Caillois 1960, S. 16). Die entscheidende Differenz der Arbeit gegenüber dem Spiel ist zusammenfassend darin zu sehen, daß sich Arbeitstätigkeiten auf eine, nach gesellschaftlichen Kriterien und Wertmaßstäben definierte Praxis beziehen, wodurch die Tätigkeit selbst, ihr Resultat und Medium als auch die im Produkt vergegenständlichte Aufgabe eine spezifische, durch "fremde" gesellschaftliche Zwecke bestimmte Tönung erhält (vgl. Abb. 19). Vor allem die Distanz zu den wirtschaftlichen und sozialen Zwängen und Notwendigkeiten der gesellschaftlich regulierten Praxis ermöglicht beim Spiel eine weitgehende Autonomie gegenüber fremden Zwecken und einen großen Spielraum im zwanglosen Umgang mit der Realität. Bei allen Unterschieden im Detail, erscheint mir allerdings eine zu strenge Trennung zwischen Arbeit und Spiel als problematisch. Schon Marcuse hat darauf hingewiesen, daß das Spiel als Ganzes stets auf die Arbeit bezogen bleibt, da es für die Erwachsenen prinzipiell ein "Ablassen von der Arbeit und eine Erholung zur Arbeit" beinhaltet (1968, S. 17) und selbst die verspielten Formen des kindlichen Spiels meist eine gewisse Affinität zur Arbeit der Erwachsenen aufzeigen (ebd., S. 173; vgl. auch Hacker 1986, S. 56). Aber dennoch bleibt ein Spiel eben bloß ein Spiel. Kann deshalb das Spielen mit der maskulinen Noblesse von Schwere und Härte, die vor allem in den von Männern bevorzugten Sportarten zum Ausdruck kommt, jene tiefe männliche Befriedigung und Selbstzufriedenheit vermitteln, die aus der erfolgreichen Beherrschung der Sachlichkeit gegenständlicher Herausforderungen resultiert? Oder fungiert gerade die erfolgreiche Kontrolle der sachlichen Gegen- und Widerstände in der wirklichen Arbeitswelt gleichsam als jene Würze, mittels derer die fade Arbeit für manche überhaupt erst schmackhaft wird? "Starcker Männer Spiel, ist krancker Männer Todt" weiß ein altes deutsches Sprichwort zu berichten (zitiert nach dem "Deutschen Wörterbuch", 10. Band, Erste Abt., Leipzig 1905, S. 2280). Der Diskurs über Männer-Arbeit10 scheint 10 Auf eine Untersuchung der Unterschiede zwischen geschlechtsspezifischen Spielformen, die auf eher "weibliche" oder eher "männliche" Arbeitsformen bezogen sind, muß hier verzichtet werden. Hierzu mag der Hinweis genügen, daß sich bereits die Kinderspiele nach Auskunft des Wörterbuchs der deutschen Sprache (Bd. 10, Leipzig 1905, S. 2286f.) unterscheiden lassen entweder nach Spielen der anstrengenden, der empfangenden, der auffassenden und der lernenden Kraft oder nach Spielen der handelnden und gestaltenden Kraft. Die Lokalisierung der (puren) Anstrengung (Plackerei) und der Empfängnis in der Kultur des weiblichen Körpers und die Zuweisung der gestaltenden und herstellenden Aktivität (Heldentat) in der Kultur des männlichen Körpers läßt sich nach Veblen (1981) kulturgeschichtlich weit zurückverfolgen. 241 Abb. 19: Vergleich einiger Elemente der Vorstellungen über "Spiel" und "Arbeit" bei Huizinga, Caillois und Marx SPIEL Freiheit der Tätigkeit bzw. Handlung: Selbstbestimmtheit und Lust; Otium (Muße, Ruhe, Nichts-tun) ARBEIT Unfreie Tätigkeit bzw. Handlung: Fremdbestimmtheit und Last, Unruhe; Neg-otium (Geschäft, Beschäftigung, Arbeit; Auftrag, Aufgabe) Weitgehend "unproduktive" Betätigung: Freiheit von fremden Zwecken, kein vergegenständlichter Nutzen, kein dauerhaftes materielles Interesse Gesellschaftlich "produktive", die (im)materielle Realität transformierende Tätigkeit: Konkret nützlich (Gebrauchswertbildend), Erwerbscharakter (Tauschwertbildend) Höhere Ungewißheit des Ablaufs und Ergebnisses, gleichwohl Zwang, zu einem Resultat zu kommen; oft eine stärkere Abhängigkeit des spielstrategischen Kalküls von Zufällen Relativ stärkere zweckrationale Kalkulierbarkeit des Ablaufs und der Ergebnisse mittels Organisation, Technik und Wissenschaft, wobei die zweckmäßige, zielgerichtete und planvolle Tätigkeit als Element eines gesellschaftlichen Prozesses wirksam wird Sondierung der Spiel-Welt von den praktischen Nöten und Zwängen gesellschaftlicher Realität: Besondere (freie) Zeit und besonderer (freier) Raum Vergesellschaftung der Arbeits-Welt vor allem durch die Ökonomie der Zeit Fiktive Betätigung: Zweite Realität oder freie Unwirklichkeit Wirkliche, praktische Tätigkeit zur Transformation und Aneignung von "Natur" als Voraussetzung für die Befriedigung menschlicher Bedürfnisse; Technisierung, Organisierung, Verwissenschaftlichung Geregelte Betätigung: Ordnung und Gemeinschaftsverbände, Regeln und Konventionen Gesellschaftliche Regulation durch die gesellschaftliche Bestimmtheit des Nutzens und der Produktionsverhältnisse sowie durch (betriebliche) Organisation und Herrschaftsverbände jedenfalls - besonders auf seiten der körperlich Arbeitenden - immer wieder darum bemüht, den ernsten und schweren Charakter maskuliner Arbeitstätigkeit hervorzuheben. Dem, was Gewicht hat und wichtig ist, wird in männlichen Arbeitskulturen gerne das Leichte gegenübergestellt, das sich mit "Leichtfertigkeit" und "Schwäche" assoziieren läßt und mit unehrenhaften, weil unmännlichen Attributen versehen ist.11 11 242 Der sarkastische Ton, den Plänitz (1983) mit der Wahl seines Buchtitels "Das bißchen Fahren..." angespielt hat, erinnert ironischerweise an einen Schlager Johanna von Koczians, in dem die Geringschätzung weiblicher Hausarbeit karikiert wird ("Das bißchen Haushalt ist doch nicht so schlimm, sagt mein Mann..."). Die bloße Gegenüberstellung von Arbeit und Spiel übersieht somit, daß der spielerische Umgang mit schwierigen Anforderungen in der Arbeitspraxis einen anderen Stellenwert gewinnt als dies in der geschlechtsgebundenen Körperkultur oder in der körperfernen soziologischen Theorie eigentlich vorgesehen ist. Das genaue Gegenteil von "Belastung", nämlich der spielerische und mühelose Umgang mit den harten Anforderungen der Arbeit erscheint dort weniger suspekt, wo die kunstvolle, überlegene Beherrschung der Arbeitsaufgaben faktisch eine Form von "praktischer Meisterschaft" (Bourdieu) hervorbringen kann. Gleiches gilt auch für jene "Spielräume" in der Arbeit, die von der Humanisierungsforschung als eine Chance zur Förderung und Selbstverwirklichung der Persönlichkeit begriffen werden, soweit sie entlastende, das subjektive Wohlbefinden steigernde "Freiheitsgrade" bei der Bewältigung der Arbeitsaufgabe zulassen. Die Trennung von Spiel und Arbeit zu kritisieren darf jedoch nicht dazu verführen, ihre Identität zu behaupten. Was Spielarbeit und Arbeitsspiel tatsächlich voneinander unterscheidet, ist erstens der Modus der Teilnahme, die entweder durch "Eintritt" oder durch "Geburt" erfolgt, und zweitens das hierbei wirksame eher "theoretische" oder "praktische" Verhältnis zur gegenständlichen Wirklichkeit der Welt. Ein Spiel ist danach eine in hohem Maße willkürliche und künstliche soziale Konstruktion, deren Artefakt-Charakter in allem, was die Selbständigkeit eines Spielfeldes betrifft (wie z.B. Regelhaftigkeit, Begrenztheit und Außergewöhnlichkeit von Raum und Zeit)12, zum Ausdruck kommt (vgl. Bourdieu 1987, S. 123), damit die Distanz, die mit dem Eintritt in ein Spiel gewahrt bleiben muß, nicht auf dem Spiel steht.13 Ganz anders verhält es sich mit dem "Spiel" in der gesellschaftlichen Arbeitspraxis, an dem man sich üblicherweise meist ohne "kritische" Distanz zu beteiligen pflegt. "Dagegen entscheidet man sich in sozialen Feldern, die im Ergebnis eines langwierigen und langsamen Verständigungsprozesses sozusagen Spiele an sich und nicht länger Spiele für sich selbst sind, nicht bewußt zur Teilnahme, sondern wird in das Spiel hineingeboren, mit dem 12 13 Die Außergewöhnlichkeit der Spiel-Zeit gegenüber der Arbeitszeit kommt als wiederkehrendes Motiv in vielen Kinderfilmen zum Ausdruck, in denen beispielsweise durch den magischen Akt der Zerstörung von Uhren das strenge Zeitregime der Erwachsenen zumindest vorübergehend gestört oder sogar vernichtet wird (vgl. z.B. "Hook" in der PeterPan-Verfilmung Steven Spielbergs oder auch "Momo" von Michael Ende). Die Besonderheiten des Spiel-Raums werden dabei meist auf die exotischen Schauplätze märchenhafter Träume verlegt, zu denen wir nur durch Zelebrierung magischer Grenzüberschreitungen vorzudringen vermögen. "Mit dem Eintritt in das Spiel schließt man gewissermaßen einen bisweilen explizit formulierten Vertrag (olympischer Eid, Aufruf zum fair play, und vor allem Anwesenheit eines Schiedrichters) an dessen Einhaltung alle gemahnt werden, die derart im Spiel 'aufgehen', daß sie vergessen, daß es sich um ein Spiel handelt ('es ist doch bloß Spiel')" (Bourdieu 1987, S. 123). 243 Spiel geboren, und ist das Verhältnis des Glaubens, der illusio, des Einsatzes um so totaler und bedingungsloser, je weniger es als solches erkannt wird. Das Wort Claudels, 'connaître c'est naître avec' (erkennen heißt, mit etwas geboren sein), gilt hier uneingeschränkt, und der häufig als 'Berufung' beschriebene langwierige dialektische Prozeß, durch den man 'sich zu dem macht', durch das man gemacht wird, 'wählt', was einen wählt, und an dessen Ende die verschiedenen Felder genau zu den Handelnden kommen, die mit dem für das reibungslose Funktionieren dieser Felder erforderlichen Habitus ausgestattet sind, verhält sich zum Erlernen eines Spiels ungefähr wie das Erlernen der Muttersprache zu dem einer Fremdsprache" (Bourdieu 1987, S. 123f.).14 Auch wenn die Vorstellung eines "reibungslos" funktionierenden Zusammenspiels reproduktionstheoretische Mißverständnisse fördert und die Adäquanzbeziehungen zwischen Habitus und Feld überstrapaziert, muß betont werden, daß die Spielmetaphorik in erster Linie einen heuristischen Wert hat, der auch zu einer Untersuchung mikropolitischer Machtspiele (politics) führt. Dieser erkenntnisfördernde Charakter geht allerdings verloren, sobald das Spiel-Konzept als der allein angemessene Forschungsansatz mißverstanden wird. "Die Spielmetapher will den schroffen Gegensatz 'Spiel - Arbeit' aufheben. Sie will zeigen, daß jede organisierte Arbeit Elemente des Spielerischen enthalten muß, auch wenn dies eine puritanische Arbeitsethik mit ihren zentralen Kategorien von Pflicht, Leistung, Anstrengung, Rationalität, Planbarkeit, Verläßlichkeit usw. verleugnen möchte" (Neuberger 1988, S. 77). Die Verwendung der Metapher des Arbeitsspiels soll den ernsten, belastenden und entfremdeten Charakter, durch den die Arbeitstätigkeit von Fernfahrern gekennzeichnet ist, weder verharmlosen noch "überspielen". Es geht allerdings auch nicht darum, das ambivalente subjektive Verhältnis der Fernfahrer zu ihrer Arbeit nur als ein "falsches Bewußtsein" zu disqualifizieren. Die Vielfalt der tatsächlichen Beziehungen der Berufskraftfahrer zu ihrer Arbeit lassen sich nicht aus einer reinen Strukturanalyse der Gesellschaft oder aus der abstrakten ökonomischen Formbestimmung der kapitalistischen Produktionsweise "ableiten" (vgl. auch Knapp 1981, S. 25). Statt dessen möchte ich Ansatzpunkte und Möglichkeiten aufspüren, wie Fernfahrer ihre belastende und riskante Arbeit spielerisch zu bewältigen versuchen. Im Anschluß an klassische Definitionen des Spielbegriffs bei Huizinga und Caillois soll die Annahme plausibel gemacht werden, daß in der Fernfahrertätigkeit eine Vielfalt spielerischer Elemente enthalten sind und daß die soziokulturelle Transformation der profanen Arbeit in ein Spiel maskuliner Herausforderungen und Heldentaten als ein wichtiger Anknüpfungspunkt für die Bewältigung arbeitsbedingter Anforderungen zu werten ist. 14 244 Eine Erstsprache erlernt man sprechend und lernt damit zugleich in statt mit dieser Sprache zu denken, während das Erlernen einer Fremdsprache bereits auf der Grundlage einer Sprachdisposition erfolgt, mittels derer die fremde Sprache als solche wahrgenommen wird, d.h. als ein willkürliches, explizit in Form von Grammatik, Regeln und Übungen verfaßtes Spiel (vgl. ebd., S. 24). "Als geweihte Handlung kann das Spiel dem Wohl der Gruppe dienen, dann aber auf andere Weise und mit anderen Mitteln als mit den unmittelbar auf das Erwerben des Lebensbedarfs gerichteten. (...) Das Anderssein und das Geheime des Spiels findet seinen sichtbaren Ausdruck in der Vermummung. In dieser wird 'das Außergewöhnliche' des Spiels vollkommen. Der Verkleidete oder Maskierte 'spielt' ein anderes Wesen. Er 'ist' ein anderes Wesen. Kinderschreck, ausgelassene Lustigkeit, heiliger Ritus und mystische Phantasie gehen in allem, was Maske und Verkleidung heißt, unauflösbar durcheinander" (Huizinga 1962, S. 16f. und 20). Huizinga hat in "Homo Ludens" auf den gemeinschaftsbildenden Charakter des Spielens aufmerksam gemacht, der vor allem darin zum Tragen kommt, daß das Spiel eine besondere, außeralltägliche (Sinn-)Welt konstruiert, die sich außerhalb des gewöhnlichen Lebens abspielt und sich kraft ihrer geheimnisvollen oder heiligen Außergewöhnlichkeit dem profanen Alltag gegenüberstellen läßt. Die grundlegende Spannung zwischen der Welt des Sakralen und der profanen Wirklichkeit wird im Spiel vor allem durch die Konvention bestimmter, unantastbarer Spiel-Regeln, durch den mit der Teilnahme am Spiel einverleibten Spiel-Sinn und durch ein Charisma des Außeralltäglichen erzeugt, mit dem maskiert sich die Spielenden gegenüber der gewöhnlichen Welt hervorzuheben vermögen. "Die Regeln eines Spiels sind unbedingt bindend und dulden keinen Zweifel. (...) Der Spieler, der sich den Regeln widersetzt oder sich ihnen entzieht, ist Spielverderber. Der Spielverderber ist etwas ganz anderes als der Falschspieler. Dieser stellt sich so, als spielte er das Spiel, und erkennt dem Scheine nach den Zauberkreis des Spiels immer noch an. Ihm vergibt die Spielgemeinschaft seine Sünde leichter als dem Spielverderber, denn dieser zertrümmert ihre Welt selbst. Dadurch, daß er sich dem Spiel entzieht, enthüllt er die Relativität und die Sprödigkeit der Spielwelt, in der er sich mit den anderen für einige Zeit eingeschlossen hatte. Er nimmt dem Spiel die Illusion, die inlusio, buchstäblich: Die Einspielung - ein bedeutungsschweres Wort" (Huizinga 1962, S. 18f.). Die Bedeutungsschwere dieser "Einspielung" der Handelnden aufeinander und auf ein bestimmtes Spiel-Feld scheint auch Pierre Bourdieu (1987) überzeugt zu haben, der in seinem Habitus-Feld-Konzept immer wieder auf die Spielmetapher zurückgreift, ohne allerdings die Kulturanthropologie der Spiele explizit als Inspirationsquelle anzuführen (vgl. Kapitel 4.2). Meine These ist, daß die sozialen Spiele der Fernfahrer erstens durch die Betonung der außergewöhnlichen Arbeits- und Lebenswelt der Fernfahrer gegenüber der profanen Welt industrieller Fabrikarbeit gekennzeichnet sind. Zweitens fungiert der Männlichkeitsmythos, der vor allem von dem zum "letzten Cowboy" und "Highway-Helden" hochstilisierten nordamerikanischen "Trucker" verkörpert wird, als ein stilistisches Kernelement dieser Arbeits- und Berufskultur. Drittens unterstützen Kult und Spiele der Trucker die soziale Gruppierung der LKW-Fahrer, zuweilen sogar die Entstehung von Gemeinschaftsverbänden (Trucker-Klubs u.ä.), "die (...) sich gern mit einem Geheimnis umgeben oder durch Verkleidung als anders als die gewöhnliche Welt herausheben" (Huizinga 245 1962, S. 20). Die Arbeits- und Lebenswelt der Fernfahrer bietet genügend Gelegenheiten für eine weite Palette von Spielchancen, die hier nur in einigen wesentlichen Zügen vorgestellt werden kann. Wie jede Partialkultur ist auch die Arbeits- und Berufskultur der Fernfahrer, sofern man von ihr überhaupt im Sinne eines relativ geschlossenen sozialen Gebildes sprechen kann, einem historischen und soziokulturellen Wandel ausgesetzt. Aus der Vielzahl möglicher sozialer Spielformen können zahlreiche Spielvarianten an das "Trucker"-Spiel anknüpfen, ganz gleich, ob es sich um Wettkämpfe, um Darstellungen oder um rauschbezogene Spiele der Fahrer handelt. Bei näherer Betrachtung läßt sich die Spieldefinition von Huizinga auch auf die Arbeits-Spiele der Lastwagenfahrer anwenden. Zunächst sind die Spiele der Fernfahrer als freie Handlungen zu bewerten, die in ihrem symbolischen Gehalt zum Ausdruck bringen, daß sie außerhalb des gewöhnlichen Lebens und Arbeitens stehen und eigentlich auch nicht so gemeint sind. Obwohl das TruckerSpielen die Fahrer an ihren "geheimen" (sprich: vertrauten) Orten zu bestimmten Zeiten "völlig in Beschlag nehmen" kann, so daß Traum und Wirklichkeit im Kult und Mythos ineinanderzufließen scheinen, wird in der nüchternen (und ernüchternden) Befragung kaum ein Trucker ernsthaft darauf bestehen, den letzten Cowboy unserer Tage auch tatsächlich zu verkörpern oder eine Arbeit zu verrichten, die wirklich so ist, wie es der Mythos behauptet. Die subtile, spannungsgeladene Ambivalenz von Schein und Wirklichkeit, (Selbst)Täuschung und Wahrheit, die der unbewußte, "praktische Glaube" (Bourdieu) an den Mythos ohne Schwierigkeiten auszuhalten scheint, zerbricht in dem Augenblick, wo die Teilnahme am Spiel mit der Befragung über den "Sinn" des Spiels zerstört wird. Und dennoch kann die mythische Identifizierung mit den Cowboys weiter unbefragt ihre Analogien und Sinnbilder produzieren (vgl. Abb. 20-22). Die fundamentale Distanz zu den materiellen Interessen und zum instrumentellen Nutzen des Spiels ist ein weiteres Kennzeichen der Fernfahrerspiele, das ihre Arbeit in einem anderen Lichte erscheinen läßt als dies die Ökonomie der Zeit eigentlich verlangt. Besonders bei den "abhängig" beschäftigten Fahrern, die sich im weiten Sinne des Wortes als selbständige Trucker fühlen, spielt die Verdrängung des nackten ökonomischen Interesses, das ihrer Verwertung als Arbeitskraft zugrunde liegt, eine wichtige Rolle. In Anlehnung an Untersuchungen von Pierre Bourdieu (1987, S. 205ff., hier: S. 211f.) über die Bedeutung des "symbolischen Kapitals" bei den Bauern der kabylischen Gesellschaft, sieht es so aus, als ob die Fernfahrer, die sich zu selbständigen "Truckern" berufen fühlen, versuchten, die "Wahrheit" ihrer Transportarbeit durch die Verschleierung des abhängigen, "ökonomischen" Charakters ihrer (Lohn)Arbeit zu verdrängen. In seinen zahlreichen Facetten kommt im Trucker-Mythos ein geweihtes Verhältnis zur Transportarbeit zum Ausdruck. Erstens wird die Arbeit gegenüber der bloßen "Plackerei" vor allem fabrikmäßiger Arbeitstätigkeiten zu einer 246 Abb. 20: Fernfahrer als Cowboys von heute? Mythische Analogien I "Fernfahrer - die Cowboys von heute?" "Wir kennen die Bilder: rauhe, kernig-männliche Cowboys jagen über die Prärie; plötzlich halten sie ein und genießen - natürlich eine bestimmte Zigarettenmarke. Seit einiger Zeit sieht man in ähnlichen Reklamen statt der Cowboys auch Fernfahrer, im amerikanischen 'trucker' genannt, die mit starkem Arm hoch über den anderen Verkehrsteilnehmern ihre schweren LKW's selbstbewußt und überlegen dreinblickend zum Ziel steuern. Fernfahrer als Cowboys unserer Zeit? Der LKW mit der Kraft von 320 Pferdestärken als Pferd dieser neuen Cowboys? Vieles ist an dieser Vorstellung übertrieben, eben werbewirksam. Ganz darf man aber eine gewisse Portion Abenteuer und Freiheit nicht unterschlagen, wenn man sich fragt, warum Fernfahrer ihren Beruf ausüben. Wenngleich bei nüchterner Betrachtung der damit verbundenen Tätigkeiten die Romantik deutlich zurücktritt. Denn mit dem Fahren allein ist es nicht getan. (...) Auf der Autobahn überkommt ihn jetzt vielleicht jenes anfänglich angedeutete Gefühl von Freiheit, denn er kann sehr selbständig arbeiten. Wie er jetzt seine Fahrt gestaltet, hängt ganz alleine von ihm ab; er trägt aber auch die ganze Verantwortung dafür" (Müller-Kohlenberg 1984, S. 128f.; Stichwort "Berufskraftfahrer/in"). männlichen Heldentat in Auseinandersetzung mit der Natur aufgewertet. Zweitens wird das Verhältnis zum Arbeitsmittel Lastkraftwagen mystifiziert. Dem profanen Transportmittel werden dabei entweder magische Kräfte zugeschrieben, indem der LKW z.B. als eine Art "Totem"15 fungiert oder zu einem lebendigen Wesen, "Partner" oder "zweiten Ich" verdinglicht wird (vgl. auch Abb. 23). Drittens wird schließlich das Verhältnis zum Arbeitsgegenstand "verzaubert", sofern die geleistete Transportarbeit jeweils danach bewertet wird, welcher Art die zu transportierenden Güter sind. Vor allem Nutzviehtransporte scheinen unter Truckern nicht sonderlich beliebt zu sein, obwohl gerade sie der Arbeitsaufgabe der legendären Cowboys noch am nächsten kommen. Nutzviehtransporte machen nicht nur zusätzliche Reinigungsarbeiten erforderlich, sondern gelten als "schmutzig" und sind oft dem Spott der Kollegen ausgesetzt (vgl. z.B. den Spitz- 15 So habe ich beispielsweise einmal einen gelben Lastkraftwagen gesehen, der in stilechter Manier des Wilden Westens mit dem Eigennamen "Yellow Eagle" versehen worden ist. Der Adler als ein Sinnbild für die Freiheit hat vielen indianischen "Naturvölkern" in Nordamerika als Stammeszeichen oder als Totem gedient. Der Adler wurde als ein Beschützer oder zauberischer Helfer, als ein übernatürliches Wesen, kurz: als ein "Totem" verehrt, das "als Ahne oder Verwandter eines Menschen, eines Clans oder einer sozialen Gruppe gilt" (Duden "Fremdwörterbuch" 1974, S. 733). Unter den amerikanischer Fernfahrern ist es üblich, Tierbezeichnungen als Spitznamen zu verwenden (z.B. "Rubber Duck" im Spielfilm "Convoy"), was an Traditionen indianischer Namensgebung oder an entsprechende Gepflogenheiten der nordamerikanischen Trapper und Waldläufer erinnert. 247 Abb. 21: Trucks und ihre Reiter - Mythische Analogien II Rolf Mauer: "Trucks und ihre Reiter" "Schon immer haben sie mich fasziniert, diese Schlachtschiffe der Highways, die Peterbilts, Macks und Freightliners, die Kenworths, Whites und GMC's. Und vom ersten Tag an, auf meiner ersten USA-Reise damals vor vielen Jahren, galt meine Sympathie den Fahrern und mein Interesse jenen Einrichtungen im Weichbild der großen Städte, die gleich an der Interstate ausschließlich für die Trucks und ihre Männer geschaffen wurden, den Truckstops. Hier, in den Reservaten der stählernen Dinosaurier ist alles zu haben, was ein Truck - und der kommt immer an erster Stelle noch vor seinem Fahrer - braucht. Neben Tankstelle und Ölwechsel- und Waschanlage gibt es einen Zubehörladen, in dem alles zu finden ist, mit dem man einen LKW erst zu einem Fahrzeug macht, das den Namen 'Truck' verdient. Z.B. CB-Funkanlagen jeglicher Reichweite (...), Windabweiser für die langen Motorhauben der 'Conventionals', die mehr zur Zierde als zur Abwehr von Insekten dienen dürften, und natürlich, 'first of all', jede Art von Chrombeschlägen für die Eighteenwheeler. (...) Wenn für den Cowboy das silberbeschlagene Zaumzeug und der über und über mit Ledergravuren überzogene Sattel als höchste Zierde des Mannes gelten, so hat diese Tradition ihre Entsprechung im Chrombesatz der Trucks. Ganz vernarrte Trucker spendieren ihrem Gefährt sogar eine Kühlerblende mit echter Goldauflage. Der Mythos des Cowboys, wie es ihn in Wirklichkeit nicht gibt und auch niemals gegeben hat, also die Legende vom freien und harten Mann, der einsam über die unendliche Prärie reitet, lebt weiter mit den Truckern. Natürlich fährt ein Trucker seinen Truck nicht, sondern er 'reitet' ihn, wie der Cowboy sein Quarterhorse ('riding a truck'). Und so wie der Cowboy alleine seine Arbeit verrichtet, so lebt auch der amerikansiche Fernfahrer meist zwangsläufig das Leben eines Einzelgängers. Insofern unterscheidet er sich in nichts von den anderen Fernfahrern überall auf der Welt. Und dennoch ist er etwas Eigenes, weil er den 'American Way of Life', den Pioniergeist seiner Vorfahren, verinnerlicht hat. Wo sonst auf der Welt, mal abgesehen von Australien oder Sibirien, gibt es diese unendlichen Weiten eines riesigen Kontinents zu durchqueren?" (Aus: "Truck-Treff" Nr. 2/92, S. 40). namen "Schweinestall" im Spielfilm "Convoy").16 Die Verzauberung der Transportarbeit trägt dazu bei, dem Fernfahrer die Entdeckung vorzuenthalten, "daß seine Mühsal Arbeit ist" (vgl. Bourdieu 1987, S. 212, hier allerdings auf das Weiheverhältnis der kabylischen Bauern zu ihrem Boden bezogen) und daß es sich in vielen Fällen "nur" um "abhängige" (Lohn)Arbeit handelt. In der Mystifizierung der Transportarbeit wird vor allem der ökonomischer Charakter negiert, der die Transporttätigkeit nüchtern mittels Geldmaß zu quantifizieren sucht. Auch die Marktgesetze des Gütertausches, 16 248 Die Fahrer solcher Transporte handeln ihrerseits durch eine Aufwertung ihres Transportgutes, z.B. mit dem Aufkleber "Achtung Turnierschweine!", durch den die Transporteure edlerer Tierarten ("Achtung Turnierpferde!") verspottet werden, die sich als LKW-Fahrer vom gewöhnlichen gewerblichen Straßengütertransport abzusondern versuchen. Abb. 22: Der Trucker als Asphalt Cowboy - Mythische Analogien III Tom Astor - die "Stimme der Trucker": "Ich bin ein Asphalt Cowboy" "Manches arme Schwein hockt im Büro 'rum, blickt nur voll Verzweiflung auf die Uhr. Wenn ich so 'nen Job hätt' müßte ich zur Kur: Ich brauch so'n bißchen Abenteuer pur. Vom Achtstundentag kann ich nur träumen, doch ich hab's ja selber so gewollt. Bin ich auch mal down, weil mein Mädchen schmollt, mein Fehler ist: Ich bin nicht treu wie Gold. Ich bin ein Asphalt Cowboy mir gehört die Straße, nur so hat mein Leben einen Sinn. Ich glaub', wenn ich den Truck mal wirklich stehen lasse, dann bin ich nach einer Woche hin. Ich bin ein Asphalt Cowboy, ich brauch' dieses Leben, lasse andre gern am Fließband stehn. Und ich weiß, mancher würde sehr viel darum geben, mal mit mir auf große Fahrt zu gehn." (1987 Ranger Records, Germany) Tom der Reimer: "Trucker-Erinnerungen an den Nürburgring" "Eine lebensnahe Brücke schließt die unscheinbare Lücke, die mit stillem Kompliment Trucker von den Cowboys trennt. Grobe Schraubenschlüssel scheppern, und an schweren Sattelschleppern sieht in ölverschmierten Kluften man die harten Männer schuften. (...) Sei's der Blick in weite Ferne, sei's der Wunsch, daß jeder gerne handelt auf sich selbst gestellt eine gleicht der andern Welt. Mix von Cowboys und von Truckern; Mädchen mit den Ohren schlackern, seufzen schmachtend: 'Die sind super, wie 'High noon' mit Gary Cooper.' (...) Sei's, daß beiden teure Wesen ohne großes Federlesen sind zur Obhut übergeben auch ein Lkw hat Leben. Weiblichkeit garniert den Rahmen, manchmal Tussies, manchmal Damen, knappe Hös'chen, pralle Schenkel, leicht frivoles Wortgeplänkel. (...)" Um die Freundschaft zu erhalten, hat sich zu den Leitgestalten eine, teils motorisiert, Fan-Gemeinde etabliert. (...) (aus: "Trucker" Nr. 9/91, "Truck-Race Spezial", S. 61). denen die Transportarbeit zu gehorchen hat, werden ausgeblendet (Geld gegen Arbeitskraft pro Zeiteinheit oder gegen selbständige Transportleistungen). Ähnlich wie der LKW, der zu einem lebendigen Wesen verdinglicht wird, gewinnt auch die Natur menschliche Züge, wodurch sich die Auseinandersetzung mit ihr als ein Kampf "Mann gegen Mann" darstellt. Will ein Fernfahrer seine höchst schwierige Aufgabe meistern, muß es ihm gelingen, die widrigen äußeren Um- 249 stände (z.B. Wetter- und Verkehrsverhältnisse) ebenso wie die behindernden inneren Zustände (z.B. Müdigkeit) zu überwinden, um die äußere und innere "Natur" in männlicher Art und Weise zu überwältigen und schließlich zu beherrschen. Es scheint so, als gehorchten Natur und Technik ebenfalls den Gesetzen des Gabentausches, wonach sie nur denen ihre "Wohltaten" erweisen, die ihnen mit Mühsal (und mit Ehrerbietung, die sich z.B. in der "pfleglichen" Behandlung der LKW offenbart) Tribut zollen (vgl. Bourdieu 1987, S. 212; vgl. Abb. 23; zur mythischen Bedeutung vgl. Kapitel 5.2). Abb. 23: Lastkraftwagen als "zweites Ich"? Die Verdinglichung eines Arbeitsmittels "Für viele ist das nur ein kalter und nackter Gegenstand, ein Haufen von Technik, der sich auf zwei Achsen oder auf mehreren Achsen bewegt. Und ein Fahrzeug, das Produkte von A nach B oder C transportiert. Aber für uns Fahrer, glaube ich, ist es doch ein bißchen mehr. Es ist praktisch unser zweites Ich und darum legen wir auch soviel Wert in das Fahrzeug mit der Pflege und Ausstaffierung. Denn ich sage mir immer: Wenn ich das Fahrzeug gut pflege, dann kann ich mich auch immer drauf verlassen. Und es kann mal der Zeitpunkt kommen oder der Tag kommen, nicht wahr, wo ich ihm vielleicht mal mein Leben verdanke, nur deswegen, weil ich ihn gut gepflegt habe. Und das ist nach meiner Meinung eben das, sein Dankeschön dafür" (Günter Heimann, zitiert nach Prahl 1988; Hervorhebungen durch M.F.). Eine "Verdinglichung" erfolgt, sobald menschliche Produkte nicht als von Menschen erzeugte Gegenstände betrachtet werden, sondern als etwas anderes erscheinen, als etwas Mystisches, das der menschlichen Kontrolle entzogen, ihr entfremdet ist (vgl. Marx 1973, S. 512ff.; Berger und Luckmann 1980, S. 94ff. sowie MEW 23, S. 85ff. zum "Fetischcharakter der Ware"). Für Huizinga (1962, S. 133) liegt das Wesen aller Mythenbildung darin, Unkörperliches und Lebloses als Person darzustellen. Wie andere Spiele auch, vollziehen sich die Kampf- und Darstellungsspiele der Fernfahrer an bestimmten, meist vertrauten Orten "innerhalb einer eigens bestimmten Zeit und eines eigens bestimmten Raums" (Huizinga). Besonders beliebt sind vor allem die Trucker-Feste, die Autobahnraststätten bzw. "Truck Stops" oder einfach bestimmte Gaststätten, wo man sich trifft und die bei den PKW-Fahrern oft den Ruf einer guten Gastronomie genießen. Die Außeralltäglichkeit der Spiele ist einerseits eine Folge widriger Umstände, die nicht zu allen Zeiten und Gelegenheiten einen spielerischen Umgang mit der Transportarbeit erlauben oder diesen zumindest vermiesen, andererseits aber steht die Zeitweiligkeit des Spiels nicht seiner prinzipiellen Wiederholbarkeit im Wege (vgl. auch Huizinga 1962, S. 17). In der Öffentlichkeit finden auf regionaler Ebene regelmäßig zahlreiche Truck-Treffs, Trucker-Feste oder Trucker-Festivals statt (vgl. Abb. 24). Allein in der Bundesrepublik strahlen etwa 31 Rundfunksender die einschlägige Country-und-Western-Musik aus und mit "Kilometer 330" wurde kürzlich noch alle vierzehn Tage eine eigene Fernsehshow für Trucker bei RTL ausgestrahlt, moderiert von Jonny Hill, dem bekannten Country-und-Western-Star mit dem ame- 250 Abb. 24: "Truck-Treff" - ein Ort für Fernfahrerspiele rikanischen Namen. Den kulturellen und kommerziellen Höhepunkt bildet aber der alljährliche Internationale ADAC "Truck Grand-Prix" auf dem Nürburgring. So läßt sich auch das letzte Kennzeichen des Spiels, seine Regelhaftigkeit, die 251 eine Art "praktischen" Glauben oder ein Eingespieltsein (inlusio) verlangt, in den Arbeitsspielen der Fernfahrer wiederfinden. Von besonderem soziologischen Interesse ist dabei die Annahme, daß das Spiel eine Herausbildung von "Gemeinschaftsverbänden" fördert, die sich geheimnisvoll geben und durch Verkleidung von der gewöhnlichen Welt abzuheben versuchen (Huizinga 1962, S. 20). Nun ist der Gemeinschaftsbegriff recht schillernd, wir können aber annehmen, daß Huizinga ihn im wesentlichen der Entstehung von "Klubs" vorbehalten hat (vgl. ebd., S. 21). Schlägt man Fernfahrerzeitschriften auf, so präsentiert sich hier eine bunte Szenerie aus sogenannten "Trucker"- oder "Country- und Western""Clubs", die den dazu passenden Kult und Mythos vom Trucker als dem letzten Cowboy unserer Tage mit viel Engagement und Leidenschaft pflegen. Johan Huizinga hat gezeigt, daß das Spiel ein Kampf um etwas oder eine Darstellung von etwas sein kann (1962, S. 20). Genau dies scheint mir im wesentlichen auf die arbeits- und berufsbezogenen Spiele der Fernfahrer zuzutreffen. Zur Maskierung und Verkleidung der Fernfahrer als "Trucker" gehören die einschlägigen Accessoires, die eine Kombination von Elementen aus der nordamerikanischen Fernfahrer-Kultur und der Country-und-Western-Szene bilden. Das sind vor allem der obligatorische Cowboy-Hut, die dazu passenden Westernstiefel und andere bedeutungsvolle Gegenstände, besonders texanischer bzw. südstaatlicher Provenienz. Diese für die Stilisierung unabdingbaren Accessoires sind mittlerweile in jedem Truck-Shop oder Truck-Store von Sympathisanten käuflich erwerbbar. Nicht nur für die Fahrer(innen) selbst, sondern selbstverständlich auch für die "Verkleidung" (sic!) der Lastkraftwagen ("Trucks") wird ein umfangreiches Arsenal an "Profi-Zubehör" angeboten (vgl. z.B. Abb. 25). Neben der materiellen Symbolisierung durch Accessoires präsentieren sich die Kult-Spiele der Trucker auch in entsprechenden Praktiken und Vorstellungen, die sich und anderen etwas vorstellen. Bestimmte Sequenzen der Arbeitstätigkeit von Fernfahrern lassen sich in Form eines Wettkampfes praktizieren, in dem bestimmte Nöte ihrer alltäglichen Arbeitsanforderungen (z.B. der Zeitdruck oder die Monotonie reizarmer Fahrsituationen) stilisiert in ein Wettkampfspiel überführt werden, das den Zeitaspekt als eine maskuline Herausforderung interpretiert und die Eintönigkeit des Fahrens mit Elementen kämpferischer Spannung auflädt (z.B. "Jumbo-Rennen" zwischen einzelnen LKW-Fahrern, bevorzugt auf Highways oder Autobahnen oder das zeitbezogene Zurücklegen einer bestimmten Strecke ohne unmittelbare Konfrontation zwischen zwei Rivalen). In der arbeitsfreien Zeit sind Wettkämpfe dieser Art ein fast definitiver Bestandteil von Trucker-Festen, entweder in packenden Aufführungen als "Truck-Race" oder in geruhsameren Varianten, mit denen die Trucker ihre Fahrkünste auf andere Weise beanspruchen und zur Schau stellen können (z.B. Geschicklichkeitsfahren oder Rangieren). In Anlehnung an den legendären "Convoy" des gleichnamigen Kult-Films werden die Konvois und 252 Abb. 25: Ausgewählte Accessoires maskuliner Arbeitsspiele Schaufahrten herausgeputzter Lastkraftwagen zu Höhepunkten solcher Festivals der Selbstdarstellung, mit kämpferischen und feierlichen Akzenten. 253 Obwohl sich Wettkampf und Darstellung im Trucker-Kult zunächst als ein Spiel interpretieren lassen, sind sie alles andere als bloße "Spielereien", die den glaubhaften Maskeraden und Verkleidungen den nötigen Ernst fehlen ließen. Johan Huizinga hat auf die Besonderheiten sakraler Darstellungen im Unterschied zu Kinderspielen (und zum Schau-Spiel, wie man ergänzen müßte) aufmerksam gemacht. Während die Darstellung eines anderen Wesens im Kinderspiel als eine Art "Scheinverwirklichung" zu verstehen ist, mit der etwas anderes verbildlicht wird, weist die geweihte Vorstellung im Kult über die nur scheinbare oder symbolische Realisierung eines Bildes von etwas hinaus: Die heilige Schaustellung "ist eine mystische Verwirklichung" (Huizinga 1962, S. 21), bei der etwas Wirkliches, aber bis dahin noch Unsichtbares und Unausgedrücktes in der Darstellung eine sakrale Form annimmt. Wenn Huizinga schreibt, daß der Kult "eine Darstellung, eine dramatische Vorstellung, eine Verbildlichung, eine stellvertretende Verwirklichung [ist]" (ebd., S. 22), dann ist damit gemeint, daß die heilige Handlung in der Darstellung kosmischen Geschehens nicht nur eine "Repräsentation", sondern auch eine "Identifikation" enthält. In der Wiederholung des bereits Geschehenen (von dem der Mythos berichtet), bringt der Kult eine Wirkung zustande, die in der sakralen Handlung bildhaft vorgeführt wird (ebd.): Die Funktion des Kults "ist nicht lediglich ein Nachahmen, sondern ein Anteilgeben oder Teilnehmen. Es ist ein 'helping the action out'", was von der Psychologie nüchtern als "identification compensatrice" abgetan wird, als "repräsentative Handlung angesichts der Unmöglichkeit, eine wirkliche, auf das Ziel gerichtete Handlung auszuführen". Soweit sich die Riten und Magien, die Mythen und Mysterien als ein "heiliges Spiel" begreifen lassen, drückt sich in den ernsthaften Stimmungen und Haltungen der Kultgemeinschaft in und zu ihren sakralen Handlungen - anders als dies im profanen Spiel der Fall ist - zugleich ein "heiliger Ernst" aus (vgl. Huizinga 1962, S. 25ff.), der mit dem profanen Ernst des praktischen Lebens und Arbeitens allerdings nur wenig gemeinsam hat. Anders als in der Welt der praktischen Wirklichkeit und wirklichen Praxis, verbietet die Verschmelzung zwischen Spiel und Glauben in der sakralen Praxis einer Kultgemeinschaft jene nüchterne Frage nach dem empirischen Gehalt ihrer Wirklichkeitsvorstellungen, mit der sich die abendländische Wissenschaft in ihrem Anspruch auf Wahrheit und Vernunft von konkurrierenden Wissensformen abzugrenzen pflegt. Allein das Spiel vermag die Paradoxie von Wissen und (Selbst)Täuschung, von Glauben und Verstellung auszuhalten, solange die in der Vorstellung des Spiels behauptete "Wesensidentität" zwischen Dingen verschiedener Ordnung - z.B. zwischen einem Menschen und einem Tier oder zwischen einem Fernfahrer und einem Cowboy - eine "mystische Einheit" voraussetzt, die über die bloße Verbindung zwischen einer realen Substanz und ihrem bildlichen Symbol hinausreicht (vgl. Huizinga 1962, S. 32; vgl. auch Schütz/Luckmann 1984, S. 178ff. zum Symbol). 254 Der Trucker-Kult und die dazu passenden Spiele der Fernfahrer sind dabei von einem Männlichkeitsmythos durchdrungen (vgl. Abb. 26-28), den die Vorstellungen über den nordamerkanischen Cowboy kennzeichnet, jener Originalgestalt, der viele Fernfahrer ihre tiefste Verehrung zuteil werden lassen und mit dessen Schicksal sie sich durch Identifikation persönlich verbunden fühlen. Abb. 26: Ein "potentes Triebwerk" für den "King of the Road" - der Scania R 143 mit 450 PS "Es ist kein Geheimnis, daß gerade die großen Scanias bei den Fahrern hoch im Kurs stehen. Emotionen spielen hierbei sicherlich keine kleine Rolle. Scania war der erste Truckhersteller, der weiland mit leistungsstarken Trucks der Leistungsexplosion vorgriff. Der 14,2-Liter V-8-Motor galt lange als das potenteste Triebwerk, das in einem Truck für Vortrieb sorgen konnte. Die Motorenentwicklung ist inzwischen bei allen Herstellern weitergegangen. Der 'King' ist nicht mehr der Leistungskönig, die Konkurrenten haben ihn zumindest nominell und auf dem Papier längst überholt. Am Image des 'King of the Road' konnte allerdings niemand so richtig kratzen" (Aus: "Trucker" 5/93, S. 16). Entscheidende materielle Voraussetzung für die Herausbildung eines berufskulturellen Männlichkeitswahns unter den LKW-Fahrern ist allerdings der geringe Frauenanteil (von 2,5%) unter den "Berufskraftfahrern" (vgl. Florian 1994). Die Glaubwürdigkeit der Männerspiele hängt davon ab, inwieweit es gelingt, weibliche und "weibische" Arbeitskräfte durch eine erfolgreiche "soziale Auslese" (Max Weber) der zur Transportarbeit im Straßengüter(fern)verkehr "Berufenen" auszuschließen. Die weitgehende "soziale Schließung" des Transportarbeitsmarktes für weibliche Arbeitskräfte macht es den Frauen zwar nicht völlig unmöglich, diesen von Männern dominierten Beruf zu ergreifen, legt ihnen aber offenbar wirksame Hindernisse in die berufliche Laufbahn, die eine Dominanz männlicher Arbeitskräfte sichert (vgl. Abb. 29). An der subkulturellen Ausschließung der Fernfahrerinnen ist die abschreckende und einspielende Stilisierung des Maskulinen, die von Fernfahrerzeitschriften und Truckermagazinen betrieben wird, maßgeblich beteiligt (vgl. Abb. 27-29).17 Neben den berufskulturellen (Selbst-)Selektionsprozessen, die es weiblichen Arbeitskräften als unattraktiv erscheinen läßt, Fernfahrerin zu werden oder überhaupt werden zu wollen, sind die familienfeindlichen Arbeits- und Arbeits- 17 Auch wenn sich einzelne Artikel oder Leser(innen)briefe für die Gleichberechtigung von Berufskraftfahrerinnen einsetzen (vgl. z.B. "Aus Liebe zum Fahren", in: Fernfahrer Nr. 4, April 1992, S. 28-31), werden Frauen durch sexistische Witze, Bilder und Zubehörwerbung diskriminiert und durch die vorherrschende, von maskuliner Metaphorik strotzende Berichterstattung auch weiterhin "stilistisch" ausgegrenzt. 255 Abb. 27: Eine LKW-Fahrerin muß "ihren Mann stehen" Tom Astor: "Ihr Leben, das ist ihr Laster" "Sie tut es bei Tag und Nacht, und sie hat Spaß daran. Ihr Laster bringt ihr harte DM ein. Sie tut, was eine Frau bestimmt sicher selten tut. Sie fährt so'n schweres Ding von LKW. Sie hängt auf der Autobahn oft für lange Zeit, und manche Nacht da denkt sie an Zuhaus. Sie hat's nicht leicht, doch sie sieht das alles nicht so eng, denn sie ist kein Kind von Traurigkeit. Ihr Leben, das ist ihr Laster und ihr Make Up, das ist der Straßenstaub. Sie macht jeden Tag Überstunden und irgendwann gibt es Kurzurlaub. Trouble gibt's auf jeder Tour mit Zoll und Polizei. Doch sie bleibt dabei immer ziemlich cool. Sie jobt in einer Männerwelt, boxt sich da ganz gut durch und steht oft Tag und Nacht ihren Mann. Ihr Leben, das ist ihr Laster und ihr Make Up, das ist der Straßenstaub. Sie macht jeden Tag Überstunden und irgendwann da gibt es Kurzurlaub. (...)" (Aus: Tom Astor - "Die Stimme der Trucker": Compact Disk "Hallo Freunde", EMI Electrola 1987). "Rallye-Einsatz in der Wüste: Eine Frau steht ihren Mann im Rettungsteam" (Titel der Reportage "Rettungsengel in der Wüste" in "Fernfahrer" Nr. 5/93). zeitbedingungen als ein wirksames Mittel zu nennen, eine Feminisierung dieses "Männerberufes" zu verhindern, da die meisten Frauen auch heute immer noch die Hauptlast familiärer Reproduktions- und Hausarbeit tragen. Es liegt wohl im Sarkasmus der geschlechtlichen Arbeitsteilung begründet, daß die Ehefrauen oder Partnerinnen im wahrsten Sinne des Wortes hinter ihren fernfahrenden Männern stehen und ihnen den familiären Rücken freihalten müssen, damit sich viele "Trucker" ihre Männlichkeitseskapaden überhaupt leisten können. Die Konflikthaltigkeit dieser prekären Familiensituation, in der der Mann und Vater tageoder sogar wochenlang von Zuhause fort bleibt, wird in vielen Fernfahrerliedern und Truckersongs angedeutet. Ob es nun besonders Männer mit ausgeprägten Ablösungsneigungen und "Intimitätsängsten" (Gilligan 1989) sind, die sich in ihren Berufswahlen für Tätigkeiten mit einem hohen Anteil an Abwesenheit von der Familie entscheiden (z.B. Fernfahrer oder Montagearbeiter), kann auf dem gegenwärtigen Forschungsstand noch nicht beurteilt werden. Die sakralen Vorstellungen der Männlichkeitsmythologie haben somit weitrei hende Folgen für die soziale Strukturierung des Arbeitskräfteangebotes im Straßengüterverkehr. Mit großem Ernst werden subkulturelle Abgrenzungen gegenüber der profanen industriellen Arbeitswelt betrieben. Diese Trennungen werden einerseits durch die sorgfältige Konstruktion geweihter Sonderwelten in Zeit und Raum mit jeweils spezifischen Regeln und Ordnungen vollzogen. Gegenüber der profanen Wirklichkeitsorientierung zeichnet sich das sakrale Weltbild andererseits durch ein fundamentales Desinteresse an allen materiellen, 256 Abb. 28: Starke Laster - nur für starke Männer? Anzeige des polnischen LKW-Herstellers JELCZ - Jelczanskie Zaklady Samochodowe, Wroclaw, in: "Logistics Technology International", 1992 insbesondere ökonomischen Werten aus, durch das sich das Ideal männlicher Ehre und Tugend gegenüber der gemeinen Gier nach nacktem Nutzen hervorhebt.18 Ein wichtiger gesellschaftlicher Bezugspunkt dieser soziokulturellen 18 Die Abwertung rein ökonomischer Leistungen muß allerdings spätestens seit Verbreitung der protestantischen Ethik etwas relativiert werden, wo sich die Tauglichkeit, Kraft und Vortrefflichkeit eines Menschen auch im wirtschaftlichen Erfolg präsentieren darf, der sich als gottgefällig und edel erweist gegenüber allen verabscheuungswürdigen Formen des Lasters, aber auch gegenüber "unwürdigen" Wirtschaftsbetätigungen (wie das Schachern oder die Kreditvergabe). Pierre Bourdieu hat dazu beigetragen, den ökonomischen Charakter zu entschlüsseln, der in dem symbolischen "Kapital" der Ehre enthalten ist. 257 Abb. 29: "Aus Liebe zum Fahren"? Frauen in einem von Männern dominierten Beruf "Die 'Männersache auf der Straße'. Die Diskussion über die Rolle der Frauen am Steuer eines Trucks bleibt aktuell." "Leider bleiben die Probleme der angehenden 'Trucker-Ladies' auf der Strecke. Seit Oktober '89 besitze ich den Führerschein Klasse 2 und bin erst einmal mit nach Spanien gefahren. (...) Seither suche ich ohne Erfolg einen Job. Warum macht man uns Frauen den Einstieg ins Truckerleben so schwer? (...) Wann bekommen wir unsere Chance? Leider ergeht es vielen Frauen so wie mir. Die meisten geben dann irgendwann auf. Doch das ist nicht mein Ziel" (Leserinnenbrief von Conny Wendtlandt in "Truck-Treff" Nr. 6/91, S. 10). "Aus Liebe zum Fahren: Michaela Lamberty aus Worms hat ihren Traum wahrgemacht. Sie erlernte den Fahrerberuf und setzte sich durch. (...) Frauen sind eine Normalität im Berufsleben geworden, im Fernverkehr aber, einer der letzten Männerdomänen, sind sie nach wie vor eine kleine Minderheit, durch gesundheitsamtliche Vorschriften benachteiligt, durch mangelnde sanitäre Einrichtungen in Rasthöfen gehandikapt, von den Herren der Laster skeptisch beobachtet und von vielen Chefs nicht ernstgenommen. (...) Und über allem schwebt das trügerische Gefühl, immer und jederzeit 'den Mann stehen zu müssen', um akzeptiert zu werden. Der Mut, den immer mehr Frauen aufbringen, sich im Transportgewerbe durchzusetzen, ist daher nur zu bewundern. (...) Michaela Lamberty liebt ihren Beruf, sie liebt Lastwagen, und sie liebt das Fahren. Sie weiß, daß es kein Job für labile Naturen ist und daß man einen gewaltigen Schuß Selbstvertrauen braucht, wenn die Disponenten am Schalter immer wieder nach dem Fahrer fragen und wenn man aus europaweitem Mangel an ausreichenden Damenduschen einen befreundeten Kollegen als Aufpasser vor die Tür stellen muß. Aber sie wünscht sich, daß noch mehr Frauen eingestellt werden. Un sie wünscht sich einen Mann, der sie so nimmt, wie sie ist. Hart und herzlich" (Jan Bergrath in: "Fernfahrer" Nr. 4/92, S. 28-31). "Marion Funk (24) fährt als Bkf-Umschülerin Verteiler- und Stückgut bei Amberger auf MB 813. (...) Ich fahre hier Stückgut: Deckel auf, Deckel zu, sage ich immer - und möchte, wenn ich meinen Berufskraftfahrer in der Tasche habe, Fernverkehr fahren. Denn so fahrplanmäßig wie das für Audi läuft, das wär' mir echt zu lasch. Im internationalen Fernverkehr zu fahren finde ich besser, du hast weniger Ladestellen und siehst mehr von der Welt. Daß das harter Alltag ist, weiß ich auch. Einen Hauch von Abenteuer wünscht sich doch jeder, und sein wir mal ehrlich: Ein normaler Laschi macht diesen Job doch sowieso nicht" (Interview aus "Trucker" Nr. 7/90, S. 66). "Feindbild Frau? Schön, daß ihr auch einmal eine Frau am Lkw-Steuer vorgestellt habt. In einer Zeit, von der man meinen sollte, daß die Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau endlich in allen Bereichen des Lebens ihren Einzug gehalten hat, werden wir Frauen hinter dem Steuer eines Lkw immer noch wie exotische Wesen, die sich im Job verirrt haben, behandelt. Die meisten Firmen lehnen es ja von Haus aus ab, überhaupt ein Einstellungsgespräch mit einer Fahrerin zu führen. (...) Hat man es endlich geschafft und sitzt als Fahrerin auf dem Bock, wird man tagtäglich mit fehlendem Verständnis für unsere Berufswahl konfrontiert. Entweder bezeichnet man uns als Mannweiber oder zweifelt daran, daß wir unsere Arbeit genauso gut oder vielleicht besser als die männlichen Kollegen verrichten können. (...) Die dümmsten Sprüche kommen von Leuten im Lager und auf der Straße, die vom Fernfahrerjob kaum Ahnung haben. Auch der Gesetzgeber schikaniert uns nach wie vor mit den völlig überflüssigen ärztlichen Voruntersuchungen, die aus einer Zeit stammen, in der das Fernfahrerleben noch knüppelharte Arbeit war" (Leserinnenbrief von Monika Eckert aus "Fernfahrer" Nr. 7/90, S. 82). Unterscheidungen ist die soziale Teilung der Arbeit, die in vielen Kulturen als geschlechtliche Arbeitsteilung den Frauen das Recht auf und die Pflicht zu den in der Gemeinschaft besonders hoch bewerteten kämpferischen Betätigungen vorenthalten hat (vgl. auch Veblen 1981). Die Privilegierung maskuliner Arbeitsund Spielfelder erscheint mir indes alles andere als "vollkommen natürlich", auch 258 wenn Huizinga belegt, "daß bei vielen Völkern das Wort für Tugend aus dem Begriff Männlichkeit herauswächst" (1962, S. 68): "Die Tugend des edlen Mannes ist das Bündel von Eigenschaften, die ihn fähig machen, zu kämpfen und zu befehlen. (...) Tugend, Ehre, Adel und Ruhm stehen folglich von Anfang an im Kreise des Wettkampfs, d.h. des Spiels. Das Leben des jungen adligen Kriegers ist beständiges Üben in der Tugend und beständiger Kampf um die Ehre seines hohen Standes." Während Huizinga das Spiel nur nach Kampf und Darstellung unterscheidet, fügt der französische Kultur- und Religionssoziologe Roger Caillois (1960, S. 18ff.) dieser Einteilung mit dem Rausch eine weitere Spielart hinzu. Durch eine weitere Differenzierung der Spiele mit einer stark kämpferischen Note nach ihrer jeweiligen Spielhaltung, die beim "Wettkampf" bestimmte Anstrengungen verlangt, einen unter den gleichen Bedingungen agierenden Rivalen zu besiegen (während der Herausforderer beim "Glücksspiel" weitgehend passiv auf eine positive Entscheidung des Schicksals wartet), erhält Caillois schließlich eine SpielTypologie, in die sich nahezu alle bekannten Spiele einordnen lassen. So kennzeichnet Caillois (1960, S. 19f.; vgl. auch Neuberger 1988, S. 68ff.) vier grundlegende "Spielformen" (Agôn, Alea, Mimicry und Ilinx), je nachdem, ob bei dem Spiel das Moment des Wettstreits, des Zufalls, der Maskierung oder des Rausches vorherrschend ist. Darüber hinaus differenziert er zwischen zwei komplementären "Spielweisen", wobei Paidia für Ausgelassenheit, für unkontrollierte Phantasie, für bloßes Vergnügen, freie Improvisation und unbekümmerte Lebensfreude steht, also für eine Art unreguliertes, chaotisches Lustprinzip, während Ludus das Prinzip der Regel und der konventionellen Ordnung vertritt ("Disziplinierung" oder "durch Regeln gezähmte Aktivität", vgl. Neuberger 1988, S. 70). Im Anschluß an die Spiele-Typologie von Caillois lassen sich die Arbeitsspiele von Fernfahrern entsprechenden Spielformen zuordnen (vgl. Abb. 30), auch wenn die Abgrenzung der Typen wegen der vielen Überschneidungen nicht allzu streng ausfallen darf. Entscheidende Voraussetzung für die Arbeits- und Berufsspiele der Fernfahrer ist allerdings, daß sie einen Beruf ausüben, dessen Tätigkeit, Arbeitsmittel oder Arbeitsgegenstände # sich für die Austragung eines sportlichen Wettkampfes (agôn) oder für die Herausforderung der Magie des Zufalls, Schicksals oder Glücks (alea) eignen, # der zur Selbst- und Fremdtäuschung (mimikry) geeignet ist, um sich und anderen vorzuspielen, daß die ausgeübte Tätigkeit mehr darstellt als eine profane "Arbeit" und # der schließlich von den Berufstätigen aufgrund seiner Leistungsanforderungen eine besondere, außergewöhnliche Beherrschung von Körper, Nerven und Aufmerksamkeit verlangt, die unter Umständen durch den Mißbrauch von Drogen (ilinx) künstlich erzeugt werden kann (und muß) oder der selbst zu rauschähnlichen Erfahrungen des "workaholics" oder zu sogenannten "flowexperiences" (Csikszentmihalyi) führen kann. 259 Abb. 30: Ein Vorschlag für die Einteilung beliebter Spiele der Arbeits-, Berufs- und Festkultur der Fernfahrer (im Anschluß an eine Spieltypologie von Caillois 1960) AGÔN Wettkampfspiele Leistungswettkämpfe ALEA Glücksspiele Würfelspiele Chance MIMICRY Verwandlungsspiele Verkleidungsspiele Verstellung und (Selbst)Täuschung ILINX Rausch Ekstatische Spiele LKW-Fahren # als besondere Herausforderung der Person # als besondere persönliche und sportliche Leistung LKW-Fahren # als Herausforderung des Schicksals oder des Glücks # als riskantes Ereignis (unter Aussicht auf einen Gewinn) Vorstellungen und Darstellungen des Trucker-Mythos in der Arbeits- und Berufskultur der Fahrer, vor allem vermittelt Geschwindigkeits- und Beschleunigungsrausch Rivalität um eine besondere Eigenschaft: Schnelligkeit, Kraft, Ausdauer, Geschicklichkeit, List, Beherrschung der LKWTechnik Heraufbeschwören einer Gefahr, die sich für die Herausforderung des Schicksals eignet und die erfolgreich zu bestehen ist (z.B. "Deutsches Roulett"1 als Lust auf Risiko) Beispiele von Wettkämpfen: # Fahrleistung ("Jumbo"-Wettrennen auf der Autobahn, gegenseitiges Überholen als Duell) # Arbeitsleistung (gemessen als Kilometerleistung, über die Zeitdauer oder in Km/h; auch als erzählte Geschichten über außergewöhnliche Leistungen, besonders unter widrigen Umständen) # Festival-Kultur (Truck-Race, Hindernis- und Geschicklichkeitsfahrten) Wetten über die Erbringung einer außergewöhnlichen Leistung unter widrigen, persönlich nicht zu beeinflussenden Umständen "Glück gehabt" als Ursachenattribution nach Beinahe-Unfällen oder einem "Sekunden-Schlaf" # über Intellektuelle und über Medien wie z.B. Trucker-Magazine und Fernfahrer-Zeitschriften oder die Musik-Kultur # durch den Countryund-Western- bzw. Trucker-Kult # bei Trucker-Festen und Festivals Drogenmißbrauch (Tabletten, Alkohol, Drogen, Aufputschmittel als Muntermacher) lebensgefährliche Grenzerfahrungen (z.B. "Deutsches Roulett"1 oder "Roulett mit Mut"1, Spannung, Erregung, Nervenkitzel oder "Angstlust"2; Sensation-Seekers, Flow-Experiences, Volksfeste [Drehschwindel, Geisterbahn] etc.) Rennfahrten Besessenheit von einer Aufgabe oder leidenschaftliche Hingabe an eine Tätigkeit ("Mein Laster ist mein Laster") )))))))))))))))))))))) 1 Vgl. die Beispiele bei Volmerg (1978, S. 141ff.) über einige "regressive" Formen der Abwehr von industriellen Arbeitsbelastungen. 2 260 "Diese Mischung von Furcht, Wonne und zuversichtlicher Hoffnung angesichts einer äußeren Gefahr ist das Grundelement aller Angstlust (thrill)" (M. Balint: Angstlust und Regression, Stuttgart 1960, S. 21, zit. nach: Volmerg 1978, S. 142). Was die Spielweisen betrifft, so stehen Wettkämpfe und Glücksspiele für den Bereich der Regel (ludus), während die Verwandlungsspiele und der Rausch eine weitgehend ungeregelte Welt (paidia) voraussetzen, "in der der Spieler ständig improvisiert, sich seiner sprudelnden Phantasie oder einer überlegenen Inspiration anvertraut, die alle beide keinen Kodex anerkennen" (Caillois 1960, S. 85). Abb. 31: "Auf Achse" - ein spannendes Gesellschaftsspiel um Brummis, Frachten und Moneten "AUF ACHSE ein spannendes Familienspiel für 2 - 6 Spieler ab 8 Jahren. Brummis, Frachten und Moneten beherrschen die Transportszene zwischen Flensburg und Verona. Der Wettbewerb der Spediteure erfordert ausgeklügelte Routenplanung und optimale Ausnutzung der Ladekapazität. Überlegtes Handeln und ein bißchen Glück bringen maximalen Gewinn" (Quelle: "Wir wollen Spiele", Katalog des F.X. Schmid-Verlages). Als Außenstehender mag man die Leidenschaft vieler Fernfahrer für einen spielerischen Umgang mit ihrem Beruf und ihre Passion für eine höchst riskante Erwerbsarbeit belächeln oder für verrückt halten. Die Grenzüberschreitungen zwischen Traum und Wirklichkeit sind aber nur möglich, weil die Transporttätigkeit der Fernfahrer "objektive" Elemente enthält, die sich als Risikoträger eignen und sich zum Spielen verwenden lassen. Die Arbeitsspiele fördern dabei zugleich eine Ästhetisierung der Transportarbeit und eine Kultivierung der mit ihr verbundenen Risiken. Die verschiedenen Medien, über die sich eine symbolische Aufwertung der Transportarbeit und der Fahrer abspielt, sind: hochdramatische LKW-Rennen (Truck Grand-Prix, Weltmeisterschaften im Truck Racing), span261 Abb. 32: "Fernfahrer" - Traum und Wirklichkeit im Roman "Ernst D. Bull, 'Fernfahrer - Mit 450 PS Karlsruhe - Lissabon' (...) Es gibt sehr wenige Bücher, in denen die Erlebnisse der Fernfahrer aus der Sicht eines Autors geschildert werden, der das Leben auf der Landstraße und auf den Autobahnen aus eigener Erfahrung kennt. Ernst D. Bull war viele Jahre für die Spedition Leible in Baden-Baden unterwegs. Und beim Blättern durch diesen leicht zu lesenden Roman erkennt man auch sofort, daß hier ein Mann aus der Praxis erzählt. Einer, der wirklich weiß, wie es zugeht in einem Fernverkehrsfahrerhaus, an der Grenze beim Zoll und an den Rasthöfen unterwegs. Er erzählt seine Geschichte mit aller Härte, aber durchaus auch mit dem zynischen Witz eines Mannes, der weiß, daß er seiner eingefahrenen Schiene nicht mehr entkommen wird, der aber trotzdem im Laufe der Jahre eine abgehobene Position bezogen hat, wo ihn so leicht nichts erschüttern kann. Er weiß auch, daß man, je länger man in diesem Beruf des Fernfahrers arbeitet, mehr und mehr Abschied nimmt vom 'normalen' Leben. (...) Witzig beschreibt er (...) sein Fahrzeug und bringt gleichzeitig zum Ausdruck, daß man schon ein starkes Naturell und möglichst viele Attribute der Kraft mitbringen muß, um im rauhen Fernfahrer-Alltag bestehen zu können. Hier allerdings kommen Elemente ins Spiel, die auf den unbefangenen Leser erschreckend wirken können. Als Fernfahrer wird bei Ernst D. Bull eben nur einer anerkannt, der mindestens nach Spanien oder Portugal fährt. (...) Im weiteren Verlauf ist zu lesen, daß sich manche, die nur Deutschland-Frankreich fahren, mitunter auch als Fernfahrer bezeichnen und manchmal sogar Kieskutscher oder Tankwagenfahrer. Man weiß, daß diese Leute schon auch Fernfahrer sein können und mit diesem Beruf auch die selben Probleme haben, wie ein Spanien- oder Portugal-Fahrer. Aber eine Rang- und Hackordnung muß eben schon auch sein unter den Kapitänen der Landstraße. Soweit entspricht die Schilderung noch ganz und gar der Realität. Irgendwo in der zweiten Hälfte des Buches kippt die Schilderung der Fernfahrerrealität dann um und der Autor gerät weit in die Niederungen des Groschenromans. (...) Vielleicht ist es auch ganz einfach so, daß es ihm zu trivial erschien, einfach zu erzählen, wie der Asphaltkapitän nach seiner langen Tour heimkehrt zu Frau und Kindern und dort mit den Problemen des Alltags seiner Familie konfrontiert wird. (...) Da kratzt er kurz vorher noch die Kurve und bringt eine Traumfrau ins Spiel. Jessica von Schallenberg nennt er sie. Sie vereint alle Eigenschaften in sich, die ein Trucker vielleicht bei seinen Touren der Frau seiner Träume andichtet. (...) Diese Liebesgeschichte, so banal sie auch ist, verdient aber nicht nur Kritik. Ohne diese Episode wäre das Buch halt kein Roman, sondern nur eine Grau-in-Grau-Schilderung eines Berufsalltags. Und dadurch, daß Ernst D. Bull die Realitätsschiene verläßt und Traum und Wirklichkeit ineinanderfließen läßt, offenbart er das Geheimnis des Phänomens, warum ein echter Trucker so sehr an seinem Beruf hängt und nicht mehr davon loskommt. Der Beruf des Truckers hat zwar seine Schattenseiten wie jeder andere Beruf auch, er läßt aber mehr Platz für die heimlichen Träume und Sehnsüchte, die wir alle in uns haben. Und vielleicht ist die Möglichkeit, daß wenigstens ein Teil davon Wirklichkeit wird, beim Trucker doch ein klein wenig größer als bei anderen Menschen. Kurzum, daß Buch sollte man gelesen haben, wenn man etwas tiefer in die Seele der Männer blicken möchte, die hinter dem Steuer der PS-Monster auf den Straßen Europas unterwegs sind" (Otto Thaler in: "Truck-Treff" Nr. 2/92, S. 18). nende Gesellschaftsspiele ("Auf Achse", vgl. Abb. 31; das Quartett-Kartenspiel "Renn Trucks"), Romane (z.B. Ernst D. Bull: "Fernfahrer - Mit 450 PS Karlsruhe - Lissabon", vgl. Abb. 32), Spielfilme und TV-Serien ("Auf Achse" mit Manfred Krug, bereits seit 1978 im Programm) sowie ein Abenteuer-Urlaub als LKWMitfahrer, den ein westdeutscher Reiseveranstalter anbietet. In krassem Gegensatz zur subkulturellen Aufwertung der Freiheit und Abenteuer des LKW-Fahrens steht aber immer noch der berufliche Alltag der Fernfahrer, an dessen harten Anforderungen auch die letzte Spur von Romantik und 262 Spielerei zu ersticken droht. Wie verträgt sich der geringe soziale Status der Fernfahrer, die im deutschsprachigen Kulturraum vom Berufsprestige her oft als "Hilfsarbeiter mit Führerschein" bezeichnet werden, mit den skizzierten symbolischen Ambitionen der Fahrer? Sind die verwegenen Spiele und Mythen, die sich um den Beruf des Fernfahrers ranken, vielleicht sogar als eine besondere subkulturelle Form des Umgangs mit Risiken zu verstehen, mit der sich die Fahrer um einen Ausgleich ihrer schwachen Verberuflichung bemühen, dabei zugleich aber - paradoxerweise - selber einen entscheidenden (sub)kulturellen Beitrag zur sozialen (Re)Produktion ihrer riskanten Arbeitsbedingungen leisten? Mit dem Versuch, plausible Antworten auf diese Fragen zu finden, werden im nächsten Kapitel die Fernfahrermythen als Bezugspunkt sozialer Gruppierungsprozesse untersucht, bevor sich dann im letzten Kapitel der Horizont der Betrachtung wieder schließt, indem das Anfangsmotiv - Heldenmythos und männliche Arbeitskultur - erneut aufgegriffen wird und die berufskulturellen Einflüsse der Mythen auf die gesellschaftliche Reproduktion der Arbeits- und Berufsrisiken dargelegt werden. 5.2 Fernfahrermythen als Bezugspunkt sozialer Gruppierung? Möglichkeiten und Grenzen kollektiver Risikobewältigung In der Arbeits- und Berufssoziologie wird die Herausbildung einer sozialen Gruppierung meist als ein Anzeichen dafür gewertet, daß die Träger dieser Gruppenbildung nunmehr besser in der Lage sind, sich kollektive Handlungsressourcen anzueignen und für die eigenen arbeits- und berufspolitischen Interessen einzusetzen. Der soziale Zusammenschluß dient dabei dem Schutz vor Arbeits- und Berufsrisiken, jedenfalls insoweit, als sich die informellen Gruppierungen in den Betrieben und die Gruppenbildungen auf überbetrieblicher Ebene (Gewerkschaften, Berufsverbände etc.) als eine kollektive Reaktion auf "spannungsträchtige Aspekte der Arbeitssituation" einordnen lassen (vgl. Beck et al. 1980, S. 181). Die Schutzfunktion sozialer Netzwerke ist auch von der Streßforschung erkannt worden, soweit die soziale Unterstützung - neben bestehenden Entscheidungs- und Kontrollspielräumen - als eine wichtige Ressource für die Bewältigung von Stressoren betrachtet wird (vgl. Frese und Semmer 1991). Weitgehend ungeklärt ist bislang allerdings die Frage geblieben, welche Bedeutung die soziale Unterstützung riskanter Verhaltensweisen bei der Entstehung und Bewältigung von Stressoren gewinnt und welcher Stellenwert einer nur eingebildeten, imaginären Unterstützung zukommt, für die es weder meßbare Interaktionsbelege noch beobachtbare "instrumentelle" Hilfeleistungen gibt. Inwieweit sind affektive und kognitive Formen sozialer Unterstützung tatsächlich wirksam und auch 263 empirisch nachvollziehbar, wenn sich Bewunderung und Respekt vornehmlich aus mythischen Quellen speisen und die Bestätigung der ethischen und sachlichen Richtigkeit des Arbeitsverhaltens berufsgruppenspezifischen Wertmaßstäben folgt, denen die allgemeine gesellschaftliche Anerkennung vorenthalten wird? Auf die gleichen Schwierigkeiten, sich zwischen Mythos und Realität entscheiden zu müssen, stößt die soziologische Mythenjagd auch dort, wo es um die Anerkennung der sozialen Existenz einer beruflichen Gruppierung geht. Als eine Organisationsform für spezialisierte Arbeitstätigkeiten entstehen Berufe vor allem dort, wo besondere Arbeitsleistungen angeboten werden, wo der Zugang gegenüber "Ungelernten" abgeschottet und eine "Kompetenzdomäne" mittels Monopolisierung des eigenen Arbeitsbereiches gegen Konkurrenz gesichert wird (vgl. Beck et al. 1980, S. 35ff.). Im Interesse einer guten Vermarktung des besonderen, beruflich organisierten Arbeitskraftangebotes müssen sogenannte "Jedermannsqualifikationen" vermieden werden, d.h. das betreffende Arbeitsvermögen muß möglichst unverzichtbare und dringend benötigte Fähigkeiten enthalten, die nicht nur selten, schwer zugänglich und weitgehend unersetzbar sein sollten, sondern auch vor Konkurrenzangeboten geschützt sind und an vielen verschiedenen Arbeitsplätzen eingesetzt werden können (vgl. ebd., S. 39). In "subjektbezogenen" Berufskonzepten19 werden der Berufsform über den Schutz vor Dequalifizierung, Konkurrenz und Ausbeutung hinaus auf dem Arbeitsmarkt auch Orientierungs-, Entlastungs- und Gegenmachtfunktionen für die Arbeitenden zugeschrieben, als Grundlage für die Entwicklung vielfältiger berufspolitischer Strategien (vgl. ebd., S. 81ff.). Ohne den Strategiebegriff überstrapazieren zu wollen, kann die Herausbildung einer Berufskultur in diesem Zusammenhang die Abgrenzung und Hervorhebung der zum Besonderen "Berufenen" gegenüber den nur zu gewöhnlichen Jedermannstätigkeiten Befähigten symbolisch wie materiell unterstützen. Die Unentbehrlichkeit und Nicht-Ersetzbarkeit eines Berufes muß jedoch abgesichert und mittels sozialer Auslese gegen die Aspirationen Unberufener verteidigt werden. Üblicherweise geschieht dies durch die exklusive Aneignung begehrter materieller und symbolischer Ressourcen, d.h. durch Akkumulation von ökonomischem, kulturellem und sozialem "Kapital" (Bourdieu) - beispielsweise in Form gesellschaftlich anerkannter Eingruppierungen, Entgeltansprüche oder Bildungstitel. 19 264 In Abgrenzung von "subjektiven", d.h. sozialpsychologischen, interaktionistischen oder rein handlungstheoretischen Sichtweisen in der Berufssoziologie verstehen Beck et al. (1980, S. 14f.) unter "subjektbezogen" eine Perspektive, die gesellschaftliche Strukturen unter dem Aspekt ihrer objektiven Konsequenzen für die Individuen betrachtet (offenbar auf ähnliche Weise, wie Max Weber soziale Strukturgebilde dem Handeln einzelner "zugerechnet" hat), wodurch die Einheit von Person und Beruf - vor allem aber die (persönlichen) Bedeutungen des gesellschaftlichen Phänomens 'Beruf' für die Arbeitenden - in den Mittelpunkt der Betrachtung gestellt wird (ebd., S. 14 und 20). Der soziale Sinn solcher berufskulturellen Unterscheidungspraktiken liegt zum einen in dem Schutz vor unzumutbaren Risiken, die in den Unternehmen arbeitsund leistungspolitisch nicht durchsetzbar sind. In den kollektiven Vorstellungen über die Angemessenheit und Verbindlichkeit bestimmter Arbeitsleistungen und -risiken kommen immer subkulturell gestützte Wertmaßstäbe und Zumutbarkeitsnormen zum Ausdruck, die den Neulingen innerhalb beruflicher Sozialisations- und Selektionsprozesse vermittelt werden.20 Andererseits dienen Berufskulturen aber nicht allein dem Schutz vor Risiken, sondern auch der Überlieferung und Weiterentwicklung beruflicher Erfahrungen. Die innere Kohärenz und äußere Sondierung beruflicher Subkulturen verlangt die soziale Konstruktion einer gemeinsamen "Sinnwelt", die als eine symbolische Ressource den sozialen Prozeß der Unterscheidung, Abgrenzung und Identifizierung unterstützt und über subkulturelle Formen und Praktiken auch wahrnehmbar macht (z.B. durch die Stilisierung arbeitsbezogener Kommunikation im beruflichen Jargon). Der vergleichsweise geringe Status der Berufskraftfahrer in der Bundesrepublik ("Hilfsarbeiter mit Führerschein"), die ungenügende soziale Anerkennung ihrer beruflichen Kompetenzen und qualifizierten Tätigkeit sowie die mangelnde Legitimität ihres Berufsbildungstitels zeigen indessen, daß die Lastkraftwagenfahrer offenbar große Mühe haben, eine geeignete berufspolitische Schutz- und Gestaltungsstrategie zu entwickeln (vgl. Kapitel 2.2). Das Qualifikationsprofil der Fernfahrer weist zu wenig seltene und exklusive Besonderheiten auf, um die (mittels Führerscheinerwerb) leicht zugänglichen Kernfähigkeiten des LKWFührens gegenüber konkurrierenden Arbeitskraftanbietern mit Jedermannsqualitäten behaupten zu können. Meine These ist deshalb, daß die geringe Aneignung materieller und sozial anerkannter "symbolischer" Ressourcen die Fernfahrer dazu drängt, auf illegitime und letztlich auch riskante Formen berufspolitischer Abgrenzung und Hervorhebung zu setzen. Die Verklärung ihrer relativ großen Dispositionsspielräume zu einem Kennzeichen selbstbestimmter Arbeit und die Verzauberung ihrer außergewöhnlich hohen Leistungsbereitschaft zu einem Attribut von Männlichkeit sind als prekäre Versuche zu werten, die Spannung zwischen der profanen Alltäglichkeit industrieller Arbeitsformen und der zur "Außeralltäglichkeit" hochstilisierten Besonderheiten der transportierenden Arbeit für eine berufskulturelle Grenzzie20 Angesichts der sozial isolierten Arbeitssituation der meisten Fernfahrer kann eine rigorose berufliche Sozialisation durch den Kollegenkreis allerdings nur in begrenztem Umfang wirksam werden (62,2% der von Plänitz befragten Stichprobe von 230 Fernfahrern waren permanente Alleinfahrer, vgl. 1983, S. 84). Die Truckstops bzw. Raststätten, die Verladeoder Zollstationen als Orte der beruflichen Zusammenkunft haben nicht jenen unausweichlichen Charakter, der das enge räumliche Zusammenleben etwa bei den Feuerwehrleuten ausmacht, die nach amerikanischen Studien (z.B. McCarl 1980) ein recht ausgeprägtes informelles System zur Auslese der Novizen entwickelt haben. 265 hung zu nutzen. Die "Mystifizierung" der Transportarbeit in den schillernden beruflichen Mythologien der Fernfahrer ist damit als eine - allerdings mit geringer Legitimität ausgestattete - Variante aus dem Arsenal berufspolitischer "Unersetzbarkeits- und Unverzichtbarkeitsstrategien" zu begreifen.21 Nüchtern betrachtet sind die riskanten Arbeitsleistungen der Fernfahrer als ein "Preis" zu verstehen, den die Berufskraftfahrer für die gesellschaftliche Anerkennung und die symbolischen Entlohnungen ihres Berufes zu zahlen haben, der trotz aller Mythologisierung immer noch am unteren Ende beruflicher Prestigeskalen rangiert. Es sieht so aus, als ob die eigenartige Konstellation zwischen einer schwachen Verberuflichung und einer starken Arbeits(zeit)leistung einerseits der symbolischen Vereinigung und Aufwertung der zur Transportarbeit "Berufenen" dient, andererseits dazu verwendet wird, um die Abgrenzung der "Hilfsarbeiter mit Führerschein" gegenüber einfachen Jedermannsqualifikationen zu begründen. Die soziale Herstellung der Nichtalltäglichkeit dieses Allerweltsberufes mit zweifelhafter Qualifikation scheint im wesentlichen mit der Herausbildung einer besonderen ständischen Berufskultur der Fernfahrer verbunden zu sein. In einer schon fast wahnwitzigen Manier ignorieren viele LKWFahrer den geringen sozialen Status, der ihrer Berufstätigkeit in unserem Kulturraum gemeinhin zugeschrieben wird, und nehmen für sich jene positive Privilegierung in der sozialen Schätzung "typisch wirksam" in Anspruch, die Max Weber (1980, S. 179) als Kennzeichen einer gemeinsamen ständischen Lage begriffen hat. Mit dem Begriff der ständischen Lage verbindet Weber eine typische Komponente eines gemeinsamen Lebensschicksals von Menschen, die durch eine spezifische (positive oder negative) soziale Einschätzung der "Ehre" bedingt ist, die sich an irgendeine gemeinsame Eigenschaft vieler knüpfen kann (1980, S. 534; Hervorhebungen durch M.F.). Meine Annahme ist, daß die Fernfahrermythologie (besonders der Trucker-Mythos) in ihren verschiedenen Variationen von dem gemeinsamen Lebensschicksal der Fernfahrer erzählt und daher in besonderem Maße zu ihrer "Vergemeinschaftung" beiträgt, d.h. soziale Beziehungen zwischen den Fahrern fördert, die "auf subjektiv gefühlter (affektueller oder traditionaler) Zusammengehörigkeit der Beteiligten [beruhen]" (Weber 1980, S.21). Das grundlegende Thema, das die Mythologie der Fernfahrer immer wieder behandelt, ist dabei eine spezifisch geartete maskuline Lebensführung, die jedem Trucker offenbar zugemutet wird, "der dem Kreise angehören will" (vgl. ebd., S. 535). Die berufsständische Ehre, d.h. das hervorgehobene Berufsprestige, das von vielen Fernfahrern beansprucht wird, begründet sich vor allem durch die den Fahrern eigene Art der Lebensführung und die entsprechenden Lebensformen, die die besondere Art des Berufs mit ihren spezifischen Arbeitszeit- und Arbeitsbedingungen im Straßengüterfernverkehr den Fahrern normalerweise abverlangt. Ihren praktischen Ausdruck findet die "ständische Lage" der Fernfahrer vor allem in einer Aneignung der von ihnen als "privilegiert" bewerteten Erwerbschancen, in der Verabscheuung 21 266 Die Möglichkeiten, die Arbeit zu mystifizieren, reichen offenbar weit über den bislang berufssoziologisch (an)erkannten Rahmen hinaus, in dem "Berufsgeheimnisse" (vgl. Beck et al. 1980, S. 84f.) als Vortäuschung von Unverzichtbarkeit wirksam werden. von Erwerbstätigkeiten in Fabrik und Büro sowie in spezifischen ständischen Konventionen, die über entsprechende berufskulturelle Traditionen gesichert und weitervermittelt werden. Die öffentlich zur Schau gestellte Härte und Männlichkeit fungiert dabei wie ein Magnet, der die Berufenen anzieht und die Ungeeigneten abstößt. Die beruflichen Subkulturen der Fernfahrer leistet dadurch einen maßgeblichen Beitrag zur sozialen Schließung des Berufsfeldes mittels Exklusion der für die Bewältigung maskuliner Herausforderungen gänzlich Unbegabten, die sich auch für die unehrenhafte Plackerei der entfremdeten, bürokratisch organisierten Fabrikarbeit nicht zu schade sind. In ihren Arbeitsspielen, Mythen und Legenden präsentieren sich viele Lastkraftwagenfahrer als Träger besonderer, charismatischer Eigenschaften. Ihre sakrale Autorität und die auf dem Felde beruflicher Ehre erworbene "Qualifikation" scheinen die Fernfahrer nur durch die ständige "Bewährung" ihrer Kräfte innerhalb des Arbeitslebens zu gewinnen und zu behalten, einem Arbeitsleben, das zu einer Art Kriegsschauplatz verzaubert wird, auf dem die Arbeitsleistung zu einer asketischen und kriegerischen Heldentat im täglichen Kampf gegen die natürlichen und gesellschaftlichen Feinde (Raum, Zeit, Ermüdung, Witterungsbedingungen, Polizei, Gewerbeaufsicht etc.) hochstilisiert wird. Als "Asphalt Cowboys", als "Highway Helden" oder - etwas europäischer - als "Kapitäne der Landstraße" stellen sich die Fernfahrer dar, als seien sie "mit übernatürlichen oder übermenschlichen oder mindestens spezifisch außeralltäglichen, nicht jedem andern zugänglichen Kräften oder Eigenschaften [begabt]" (Weber 1980, S. 140), einem "Charisma", aus dem sich die außeralltägliche, besondere Qualität der einzelnen Fahrerpersönlichkeiten zu speisen scheint.22 Die berufliche Passion der Fernfahrer als eine Form der persönlichen Hingabe an ihre Arbeit fungiert gewissermaßen als Gegenleistung, vielleicht sogar als Beweismittel ihrer permanenten Bewährung, mit dem sie ihre außergewöhnliche Be-Gabung sichtbar verkörpern und jederzeit unter Beweis zu stellen vermögen. Die praktische Bewältigung der für eine charismatische Beziehung zu Arbeit und Beruf typischen Spannung zwischen der Außeralltäglichkeit der Leistung in 22 In einer Würdigung von Webers professions- und berufssoziologischen Studien hat Seyfarth (1989, S. 387) zu Recht darauf hingewiesen, daß die Berufsanalytik von Weber im Kern ansetzt "an der elementaren Spannung von Alltäglichkeit und Alltag, dem 'Ruf' nach außeralltäglichen Leistungen in außeralltäglichen Situationen der 'Not' und den beruflichveralltäglichten (und der Möglichkeit nach immer auch außeralltäglichen) Formen der Erbringung dieser Leistungen". Während die gewerkschaftspolitische Stärke der offenbar gesichts- und gestaltlosen Industriearbeiterschaft in den gängigen Klischees gerne auf die Gleichartigkeit ihrer sozialen Lage und das daraus erwachsene Solidaritätsgefühl zurückgeführt worden ist, stehen bei vielen LKW-Fahrern eher Unabhängigkeit und Individualität im Vordergrund. In den Truckerklischees wird die Lösung von Konflikten auf eine unmittelbare Konfrontation mit dem "Chef" zurückgeführt ("Mann gegen Mann"). Als schlimmste Feindin der Individualität wird die Anonymität öffentlich vor allem mit Hilfe des Namensschildes hinter der Windschutzscheibe bekämpft. 267 außeralltäglichen Situationen der Zeit-Not und der Tendenz zu einer Veralltäglichung der Arbeitsleistung im Beruf, bleibt stets konfliktgeladen und immer nur vorläufig, sofern eine Bewältigung dieser Spannungen jenseits der Ambivalenz von Leidenschaft und Leiden, Lust und Last überhaupt gelingen kann. Ist es aber überhaupt möglich, von der Vorstellung eines in der Öffentlichkeit präsentierten, charismatisch aufgeladenen Berufsbildes auf die gesellschaftliche und (sub)kulturelle Existenz einer Berufsgruppe zu schließen? Handelt es sich bei der Bezeichnung "Fernfahrer" oder "Berufskraftfahrer im Güterfernverkehr" lediglich um eine statistische Kategorie der beruflichen Klassifikation, oder können wir mit Fug und Recht behaupten, daß sich aus dem Kreise der Berufskraftfahrer eine Art beruflicher Gruppierung herauskristallisiert hat, ein relativ dauerhaftes soziales Gebilde, dem mittels kollektiven Handelns eine Einflußnahme auf die Bewältigung arbeits- und berufsbedingter Risiken zuzutrauen ist? Kann man bei Fernfahrern, denen gewöhnlich eine starke Neigung zum Individualismus nachgesagt wird, angesichts der Heterogenität ihrer Tätigkeitsfelder und "Klassenlagen" überhaupt von einer gemeinsamen "sozialen Identität" sprechen? Sind die Probleme der amtlichen Berufsstatistik, die Anzahl derer präzise zu bestimmen, die der Kategorie der Berufskraftfahrer im Güterfernverkehr zuzurechnen sind, nicht als ein Warnsignal gegen voreilige Gruppierungsannahmen zu werten? In den Sozialwissenschaften wird heute meist ein für makrosoziale Gebilde ungeeigneter Gruppenbegriff verwendet, der den Phänomenbereich sozialer Gruppierungen auf kleine Gruppen mit hoher Interaktionsdichte reduziert. Eine soziale Gruppe umfaßt eine bestimmte Zahl von Mitgliedern, die zur Erreichung eines gemeinsamen Zieles über längere Zeit in einem relativ kontinuierlichen Kommunikations- und Interaktionsprozeß stehen und ein Gefühl der Zusammengehörigkeit (Wir-Gefühl) entwickeln, wobei zur Erreichung des Gruppenziels und zur Stabilisierung der Gruppenidentität ein System gemeinsamer Normen und eine Verteilung der Aufgaben über ein gruppenspezifisches Rollendifferential erforderlich ist (Schäfers 1980, S. 20; im Original kursiv hervorgehoben). Die mit einer vordergründigen Magie der Zahlen verbundene - Willkürlichkeit ist schon erstaunlich, mit der die Gruppensoziologie vorgibt, die Grenzen ihres Gegenstandsbereiches präzise abstecken zu können. So wird die Mitgliederzahl "bei Kleingruppen zwischen drei und etwa 25 Personen" und bei "Großgruppen" auf "über fünfundzwanzig bis ungefähr 500 bis 1000 Personen" (Schäfers 1980, S. 21, 23) festgesetzt. Was geschieht, wenn eine Gruppe die "magische Grenze" von 25 Personen überschreitet? Schlägt dann tatsächlich immer "Quantität" um in "Qualität", auch ohne Berücksichtigung der besonderen inneren und äußeren Kontextbedingungen einer Gruppe? Was ist mit sozialen Gebilden, die aus mehr als 1000 Personen bestehen und auf die dennoch zumindest ein Teil der genannten Definitionskriterien zutreffen, beispielsweise die sich im "Wir-Gefühl" ausdrückende Unterscheidung zwischen Dazugehörenden und Fremden oder ein wie auch immer geartetes "System gemeinsamer Normen und Werte als Grundlage der Kommunikations- und Interaktionsprozesse" (Schäfers)? Wo soll eine Grenze gezogen werden zwischen Sozialgebilden, die noch als "soziale Gruppe" bezeichnet werden können und jenen, auf die die verabredeten Kriterien nicht mehr zutreffen? Wie ist mit Gebilden umzugehen, bei denen die Mitglieder (und ein Teil der Außenstehenden) an die Existenz einer Gruppe glauben und in ihren 268 Handlungsweisen so tun, als ob sie existierte, die soziale Gruppe aber den auf Kleingruppen fixierten Definitionsstandards nicht vollständig entspricht? Bei aller Berechtigung, die soziale Präsenz, Wirksamkeit und Dauerhaftigkeit gesellschaftlicher Gruppierungen nach dem Ausmaß ihrer offiziellen Anerkennung, dem Grad ihrer Repräsentativität und nach ihrer Fähigkeit zu unterscheiden, über die bloße Existenz in mentalen Vorstellungswelten hinaus auch in den Arenen kollektiver politischer Handlungspraxis mitzuwirken, sollte die "Existenz" beruflicher Gruppierungen nicht von vornherein als ein statistisches Artefakt behandelt oder als ein "ideologischer" Trugschluß ignoriert werden. Die rigide Verfahrensweise in der (Klein-)Gruppensoziologie, mit allen makrosozialen Gruppierungsphänomenen empirisch kurzen Prozeß zu machen, sobald sie durch das enge Netz quantitativer Indikatoren fallen, ist von einem "naiven Realismus" befallen, "der eine Gruppe nur als eine durch unmittelbar sichtbare Grenzen definierte Population charakterisieren kann" (Bourdieu 1987, S. 299) und dadurch die willkürliche Magie der Grenzsetzung innerhalb eines natürlichen Kontinuums von Unterschiedlichkeit ignoriert. Da sich die Entstehung einer neuen sozialen Gruppierung in den wenigsten Fällen neutral gegenüber bestehenden Verteilungsstrukturen materieller und symbolischer Ressourcen verhält, muß die Gruppe mit ihrer Institutionalisierung zugleich auch eine Neu-Ordnung des sozialen Raumes erwirken, in dem sie sich sozial zu positionieren, d.h. zu "setzen", versucht. "Ordnung einführen heißt Unterscheidung einführen, heißt die Welt in entgegengesetzte Wesenheiten aufteilen (...). Die Grenze läßt den Unterschied und die unterschiedlichen Dinge hervortreten, 'durch eine willkürliche Setzung', wie Leibniz in Übersetzung des ex instituto der Scholastik schrieb, einen regelrechten magischen Akt, der den kollektiven Glauben, d.h. das Nichtwissen um seine eigene Beliebigkeit, voraussetzt und hervorbringt; dieser Glaube setzt getrennte Dinge als getrennt, und zwar durch eine absolute Unterscheidung, die nur durch einen anderen magischen Akt durchbrochen werden kann, durch die rituelle Übertretung. Natura non facit saltus: es ist die Magie der Setzung (institutio), die im natürlichen Kontinuum, dem Netz der biologischen Verwandtschaft oder der natürlichen Welt, den Bruch einführt, die Teilung, nomos, die Grenze, die die Gruppe und ihr einzigartiges Brauchtum ausmacht (...), die willkürliche Notwendigkeit (nomô), durch die die Gruppe sich als solche bildet, indem sie setzt, was sie eint und absondert. Der kulturelle Akt überhaupt besteht darin, die Linie nachzuzeichnen, die einen gesonderten und begrenzten Raum schafft (...)" (Bourdieu: 1987, S. 369f.). Es bedarf nun wenig soziologischer Phantasie, sich vorzustellen, daß die gegenüber unmittelbaren Sozialkontakten weitgehend isolierte, durch ein hohes Maß an Mobilität gekennzeichnete Arbeitssituation im Straßengüterverkehr den Aufbau eines stabilen Netzwerkes sozialer Beziehungen unter den Fernfahrern stark behindert. Ständige und dauerhafte, durch zeitliche und räumliche Kopräsenz gekennzeichnete Formen direkter Kooperation innerhalb von Kleingruppen sind während der Transportarbeit selbst kaum realisierbar (wenn man die immer seltener vorfindbare Dyade einer Zwei-Personen-LKW-Besatzung nicht gerade 269 als eine typische Arbeitsgruppenkonstellation fassen möchte und kooperative Formen der Lade- und Hilfstätigkeiten einmal ausklammert). Aber auch wenn die Transporttätigkeit im Straßengüterfernverkehr als klassischer Vorläufer individualisierter Arbeitsformen23 erscheint, lassen sich dennoch Indizien finden, nach denen die Berufskraftfahrer wie eine soziale Gruppe zu behandeln wären. In einer Studie über die soziale Gruppenbildung unter Lastkraftwagenfahrern hat John F. Runcie (1971) gezeigt, daß die LKW-Fahrer in den USA offenbar eine gemeinsame Berufsgruppe und Berufskultur entwickelt haben, obwohl sie keines der üblichen (klein)gruppensoziologischen Kriterien erfüllen - wie z.B. die kleine Anzahl und geringe räumliche Distanz zwischen den Mitgliedern, die permanente Mitgliedschaft oder häufige "Face-to-face"-Interaktionen. Die Population der Fahrer ist sehr groß, als Folge ihres mobilen Arbeitsplatzes sind sie räumlich weit verstreut, ihre Interaktionsmuster sind in hohem Maße diskontinuierlich und während der meisten Zeit ihrer Arbeitstätigkeit haben sie nur geringe Möglichkeiten zu unmittelbaren "Face-to-face"-Interaktionen (vgl. Runcie 1971, S. 35). Folgt man den bekannten gruppensoziologischen Annahmen, dürften die Fahrer also keine soziale Gruppierung bilden und auch keines der sekundären Merkmale sozialer Gruppen aufweisen (z.B. Konsensus unter den Mitgliedern, ein gruppenbedingtes Selbstbild oder eine gemeinsame berufliche Kultur; vgl. ebd.). Mit Hilfe von Tiefeninterviews und teilnehmender Beobachtung hat Runcie jedoch herausgefunden, daß sich die nordamerikanischen LKW-Fahrer auf der Grundlage gemeinsamer beruflicher Erfahrungen selbst als Mitglieder einer sozialen Gruppe betrachten. Darüberhinaus sind die Fahrer auch als Träger einer fortentwickelten beruflichen Kultur zu identifizieren, mit der sie sich durch Herausbildung einer besonderen, berufsbezogenen Kommunikation (Jargon, Gesten und Humor) - vor allem aber durch einen eigenen Musikstil - symbolisch gegenüber Außenstehenden abgrenzen (vgl. ebd., S. 105ff.). Mittels berufskultureller Grenzziehungen markieren die Fahrer somit den von ihnen beanspruchten Platz innerhalb des sozialen Raumes beruflicher Positionen. 23 270 Wir dürfen gespannt sein, wie sich die Informatisierung der gesellschaftlichen Arbeit auf den Transportbereich auswirken wird, der ohnehin schon durch soziale Isolation und technisierte, "mediale" Kommunikationsformen gekennzeichnet ist. Aber auch für eine Prüfung der "Individualisierungsthese" (vgl. z.B. Beck 1983 und 1986) bieten die Fernfahrer ein geradezu ideales Untersuchungsfeld, und zwar vor allem deshalb, weil die Tendenzen berufskultureller Formen der Gruppenbildung unter den Fahrern dem behaupteten Individualisierungstrend entgegenlaufen. Die Berufskultur der Fernfahrer zeigt, daß die "Diversifizierung und Individualisierung von Lebenslagen und Lebenswegen" (Beck 1983, S. 36) durch Prozesse sozialer Auslese und Schließung sowie durch "Selbsteliminierung" (Bourdieu) begrenzt werden und daß die "Ent-Traditionalisierung" ständischer Milieus durch eine berufskulturelle Traditionsbildung unterlaufen wird. "By utilizing distinctive jargon, humor, gestures, and music, the truck drivers are able to mark off a space within the total spectrum of the occupational world and say to the rest of the people, 'This is out of bounds for you, you do not understand and therefore you do not know how to act.' (...) By suggesting that something is out of bounds for another, the truck drivers are placing themselves within the boundary and include in there any other person who can do the actions that a truck driver does. By setting the boundaries, the truck drivers have built a culture (...)" (Runcie 1971, S. 135). Die "qualitativen" Indikatoren für die Existenz einer Berufsgruppe sind hier eng mit der Entstehung einer gemeinsamen beruflichen Kultur verbunden. Die gleichen Merkmale, die Runcie veranlassen, die US-amerikanischen Trucker als eine soziale Gruppe zu charakterisieren, lassen sich interessanterweise auch bei deutschen LKW-Fahrern nachweisen. Der Berufsjargon ist ebenso wie die während des Fahrens verwendeten signifikanten Gesten ein wichtiger Bestandteil des praktischen beruflichen Wissens von Berufskraftfahrern. So verhilft der Jargon aufgrund seiner Abkürzungen zu einer schnellen, leichten und klaren Verständigung, bezieht sich inhaltlich auf die technische Ausrüstung, auf relevante Tätigkeiten und handelt von bedeutsamen Personen und Dingen, denen die Fahrer in ihren alltäglichen Situationen begegnen und dient nicht zuletzt auch der sozialen Bindung24 jener, die ihn verstehen und sprechen können (vgl. Runcie 1971, S. 117ff. und das auf S. 289ff. abgedruckte "Wörterbuch"). Die während des Fahrens zu beobachtende nonverbale Kommunikation mittels Gesten und Signale (und die im CB-Funk zu hörende verbale Kommunikation) erfüllt neben ihrer Unterstützung bei der sozialen Schließung wichtige Aufgaben, was die Anzeige von und Warnung vor Gefahren angeht (z.B. Warnung vor Unfällen oder Staus, Hinweis auf eine "Radarfalle" der Polizei oder einen Kontrollpunkt der Gewerbeaufsicht, Anzeigen von Einschermöglichkeiten nach einem Überholmanöver durch kurzes Betätigen der Lichthupe, Begrüßungs- und Dankrituale mittels Lichthupe oder Blinker etc.). Soweit Humor und Anekdoten gemeinsame Wertorientierungen artikulieren, spielen sie eine wichtige Rolle beim Erhalt subkultureller Grenzen (vgl. ebd., S. 122ff.) und tragen neben der Musik mit dazu bei, das Image und die Mythologie der fahrenden "Helden der Highways" gegenüber Außenstehenden sowie untereinander zum Ausdruck zu bringen (vgl. S. 128ff.). Die auflagenstarken deutschsprachigen Zeitschriften für Fernfahrer, das Fernfahrer-Magazin "Trucker" und das internationale Truck-Magazin "Fernfahrer" haben eine Humor-Seite und Cartoons eingerichtet, auf der neben dem Fernfahrer-Humor, "Trucker-Sprüchen des Monats" etc. häufig auch Witze abgedruckt werden, die entweder die Fernfahrerthematik berühren oder sich mit Frauen bzw. mit sexuellen Anspielungen befassen und dadurch ein betont "maskulines" Image verbreiten, das zuweilen noch durch un- oder leichtbekleidete Pin-up-Girls sowie durch sexistische Werbeanzeigen "garniert" wird. Die Country-und-Western- oder Trucker-Musik, der 1992 sogar noch eine eigene Fernsehsendung bei RTL Plus reserviert worden war ("Km 330"), hat mittlerweile bei vielen 24 Wie Edward Gross (1965, S. 98) betont, hilft ein ausgeprägter Argot nicht nur, Kollegen zu identifizieren und die Kommunikation unter ihnen zu fördern, sondern darüber hinaus symbolisiert der Gruppenjargon zugleich die Stärke der Bindungen zwischen den Kollegen und versorgt einen "with an infallible way of recognizing the competent and experienced since only they will be able to use the language with facility". 271 Radiosendeanstalten feste Programmzeiten erhalten und kann auch im deutschen Sprachraum auf eine feste Fan-Gemeinde blicken. Auf zahlreichen Festivals, Festen und Truck-Treffen pflegt diese Musikrichtung samt der dazugehörigen Accessoires den Cowboy- und TruckerMythos und leistet dabei eine entscheidende Symbolisierungsarbeit für das maskuline Selbstbild des heldenhaften, hochleistungsfähigen, sexuell potenten und begehrenswerten Fernfahrers. Die Fernfahrerzeitschriften und die Musikkultur tragen somit in entscheidender Weise zu der maskulin gefärbten Stilisierung und Geschmacksbildung (Ethos) unter den Fernfahrern bei. So lassen sich die Lieder aus der nordamerikanischen Musikszene drei grundsätzlichen Kategorien zuordnen (Runcie 1971, S. 130): "(1) why drivers drive trucks, (2) the problems faced by the drivers, and (3) the truck driver's woman." Genau diese Themen finden sich auch in deutschsprachigen Fernfahrer- bzw. Trucker-Liedern wieder (vgl. Abb. 33). (1) Beim ersten Themenkomplex des Liedgutes werden die Fernfahrer gewissermaßen von ihrer Verantwortung entlastet, daß sie sich im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte auf die Fernfahrerei eingelassen haben. Die in den Liedern angesprochenen Gründe für die Berufswahl verlegen die Entscheidung ins Natürliche (z.B. "Als Diesel geboren", "Fernfahren liegt mir im Blut" bzw. "diesel fuel is in my blood" - angesichts hoher MAK-Werte eine recht makabre Vorstellung, "Mein Laster ist mein Laster"; vgl. auch Fernfahren "as a 'disease' that gets into one's blood and becomes an obsession" bei Runcie 1971, S. 131). Die Naturalisierung der beruflichen Selektionsprozesse ist nicht nur Ausdruck einer besonderen Art von Galgenhumor, sondern trägt zugleich positive charismatische und mythische Züge, wonach nicht "Jedermann" einfach Fahrer wird, sondern durch seine Natur bereits dazu "berufen" sein muß. Unter diese Kategorie fällt auch die Totemisierung des Lastkraftwagens, der, wenn er richtig behandelt wird, zum magischen Helfer avanciert oder sich wie ein guter Freund verhält (vgl. Kap. 5.1 und die "Männerfreundschaft" zwischen Cowboy und Pferd). (2) Die harte Arbeit, gefährliche Situationen und typische Beanspruchungserscheinungen (Ermüdung, Nebel, Unfallgefahren, Zeithetze etc.) bilden typische Themenfelder, in denen die Alltagsprobleme und -erfahrungen der Fahrer behandelt werden. In einigen der Songs werden als "gute Ratschläge" unter Freunden formuliert, beim hohen Arbeitseinsatz nicht unnötig das Leben zu riskieren (z.B. "Sicht weg, Gas weg!", "Halt Abstand, Junge" oder "Schlaf nicht ein hinterm Lenkrad"). Teilweise ist die Thematisierung von Unfallgefahren auch religiös gefärbt (z.B. Dankgebete an Gott oder den Heiligen Christopherus als dem Schutzpatron der Fahrer; vgl. auch die Anzeichen für "Aberglauben" wie das Mitführen von Glücksbringern z.B das "Bibendum" bzw. "Michelin-Männchen" des bekannten Reifenherstellers als Talisman). (3) Das dritte zentrale Thema sind schließlich Frauen, die meist entweder als geduldig wartende Heilige (Mutter, treue Ehefrau) oder als sexuell reizvolle "heiße Bräute" dargestellt werden. Aus systemtheoretischer Sicht lassen sich "soziale Gruppen" nach der Art und Dauer ihrer Mitgliederbeziehungen gegenüber der "Gesellschaft" (hohes Maß an Mittelbarkeit der Sozialbeziehungen), gegenüber der "Organisation" (hoher Grad an Spezifität der Mitgliederbeziehungen) und gegenüber "einfachen Sozialsystemen" vom Typus "Encounter" (extreme Kurzfristigkeit der Beziehungen) abgrenzen (vgl. Neidhardt 1983, S. 14). Eine Gruppe ist danach ein "soziales System, dessen Sinnzusammenhang durch unmittelbare und diffuse Mitgliederbeziehungen sowie durch relative Dauerhaftigkeit bestimmt ist" (Neidhardt 1979, S. 642). 272 Abb. 33: Truckerthemen und -mythen in der deutschen Fernfahrermusik Zum Trucker geboren... Highway Helden; Ich bin ein Asphalt Cowboy; Ich bin wieder auf der Autobahn; Ist das ein Leben! -So hart und so schön; Trucker sind Partner; Jeder Kilometer; Mein Laster ist mein Laster; Ihr Leben, das ist ihr Laster; Strasse ins Glück; Hier riecht's nach Freiheit; Ein herrliches Gefühl; Das ist Truckers Traum; Highway Dreams; Vogelfrei; Meine Antwort ist die große Autobahn; Diesel, Qualm und Straßen ohne Ende; Jeder Meter Autobahn; Träume von den Cowboys; Bärenstarke Cowboys; Ich und mein Diesel; Immer unterwegs; Ein richtiger Cowboy; Kohlenpott Cowboy; Rastlose Männer; Kameraden der Straße; Rollende Giganten; Trucker Fieber; Mein Diesel hat Heimweh; Ich bin so wie ich bin; Home Sweet Highway; Wir sind die Fahrer; Wenn ich nur ein Trucker wär; Wer ist der Mann hinterm Lenkrad; Fahrer, du bist Deutschlands bester Mann. Risiko und harte Arbeit... Schlaf nicht ein hinter'm Lenkrad; Nikotin - Coffein - Aspirin (und 'ne Wärmflasche fürs Bett); Sicht weg Gas weg! Kilometerfresser; Halt Abstand Junge; Partner fahr rechts; Radwechsel; Verdammte Radarfalle; Junge, zieh die Bremse an; Gefangene der weissen Linie; Übermüdung tötet; Kumpel, brich Dir nicht das Genick; Ausgelaugt (und kaputt vom Fahr'n); Danke Brummi; Alter Freund, überhol dich nicht selber; Ich wünsch dir Hals- und Beinbruch; St. Christopherus; Fahr' nicht schneller als Dein Schutzengel fliegen kann; Gefährliche Fracht; Bleifuß-Joe; Nimm dir Zeit; Auch wenn ich mal das Handtuch werfe; Ich hab' schon Trucker weinen seh'n; Dieselknecht; Temporausch. Frauen lieben harte Männer... Heisse Girls - starke Kerls; Diese Männer; Mit harter Hand; Rosen für Mama; Bei Muttern gibt es immer eine warme Suppe; Truck Stop Mama; Sie ist ein Truckerfan; Sie ist jung und ich ein Mann, der viel erlebt; Trucker Lady; Das schöne Mädchen von der Autobahn; Rasthausbaby. (ausgewählte Musiktitel aus: Truck Stop "Cowboys der Nation"; Tom Astor: "Lass rollen, Trucker", "Hallo Freunde", "Voll aus dem Leben" und "Guten morgen, Deutschland"; Gunter Gabriel: "Dieselknechte"; "Das große TruckerHitrennen 1 + 2"; "Das große Trucker-Album 1 + 2"; "Super Trucker Songs: 32 bärenstarke Brummi-Hits 1 + 2"; Super Trucker Festival: 16 bärenstarke Brummisongs 1 + 2") Wird das Kriterium der "Unmittelbarkeit" der sozialen Beziehungen zwischen den Gruppenmitgliedern nicht in einem sehr restriktiven Sinne von permanenter Kopräsenz verstanden (was sich praktisch kaum durchhalten ließe), sondern als eine potentiell realisierbare, wahrscheinliche "Face-to-face"-Interaktion, die von den Beteiligten lediglich eine episodische Kopräsenz verlangt, so lassen sich die jeweils sporadischen Sozialkontakte zwischen einzelnen Fernfahrern durchaus als ein Ausdruck ihrer sozialen Gruppenbeziehungen deuten. Solange überhaupt regelmäßige Interaktionen mit anderen Fernfahrern stattfinden, ist eine unregelmäßige Kopräsenz allenfalls ein Kriterium geringfügiger sozialer Verdichtung, nicht aber eins der fehlenden Unmittelbarkeit. Ähnliches gilt für die "Diffusheit" der Mitgliederbeziehungen, die "nicht auf spezifische Zwecke oder Ziele eingegrenzt erscheinen, sondern mit einer Vielzahl von Bezügen auf einer formell nicht eingegrenzten Zahl von Bezugsebenen stattfinden" (Neidhardt 1979, S. 643). Jenseits spezifischer Themenstellungen, die vor allem um ihre Arbeit und Arbeitsleistung kreisen, dürfte die persönliche Kommunikation zwischen Fernfahrern auch durch "relativ offene Horizonte und vielschichtige Ausdrucksmöglichkeiten" geprägt sein, was im Anschluß an Neidhardt als ein charakteristisches Kennzeichen sozialer Gruppen zu werten ist. 273 Selbst die "relative Dauerhaftigkeit" der Beziehungen, die Sozialgruppen von "einfachen Sozialsystemen" (Luhmann) oder jenen "flüchtigen Begegnungen" unterscheiden sollen, für die Erving Goffmann den Begriff "Encounter" reserviert hat, trifft auf die Berufsgruppe der Fernfahrer ebenfalls zu, solange ihre zum Teil episodischen Begegnungen ein "Situationssystem" bilden, das auch nach dem Auseinandergehen der Teilnehmer noch fortbesteht (Neidhardt 1979 im Anschluß an Luhmann). Die durch Mobilität und soziale Isolation gekennzeichnete Arbeitssituation, die der gemeinsame Beruf den meisten Fernfahrern auferlegt, behindert auf der einen Seite dauerhaft-verdichtete Sozialbeziehungen zwischen ein und denselben Interaktionspartnern, ohne jedoch sporadisches oder gezieltes Wiedersehen gänzlich zu verhindern. Denn andererseits ermöglicht die "raum-zeitlich konzentrierte Begegnung" der Fernfahrer an ihren typischen sozialen Orten (Raststätten, Truck Stops, Güterverladestationen, Zollstationen etc.) eine "organisierte" Herstellung von Anwesenheit. Auch wenn man sich nicht sieht (bzw. nur räumlich distanziert beim Vorbeifahren von LKW zu LKW "sehen" kann oder über CB-Funk Kontakt aufnimmt), bliebe der Fortbestand der Berufsgruppe der Fernfahrer davon unberührt. Diese "Fähigkeit zur Latenz", die Neidhardt sozialen Gruppen im Gegensatz zu "einfachen" situativen Sozialsystemen zuschreibt, führt er auf die "Kristallisation von Wir-Gefühlen, die Ausbildung von Systemidentität und auch ein Mindestmaß an Organisation" zurück (Neidhardt 1979, S. 643). Der Vorteil dieser Trias aus Unmittelbarkeit, Diffusheit und Dauerhaftigkeit liegt in der empirischen Operationalisierung entlang der methodisch gut identifizierbaren binären Merkmalen Unmittelbarkeit/Mittelbarkeit, Diffusheit/Spezifität und Dauerhaftigkeit/Kurzfristigkeit. Die Schwächen von Neidhardts Gruppenkonzeption zeigen sich vor allem dort, wo es erstens um die Abgrenzung des Gruppenbegriffs vom Konzept sozialer Netzwerke geht und wo zweitens persönliche Beziehungen und die Einbindung der Gruppenmitglieder als menschliche Subjekte zu untersuchen sind, eine Problemstellung, deren Lösung nicht gerade zu den Stärken der Systemtheorie zählt.25 Nach meinem Eindruck läßt sich die für soziale Gruppen kennzeichnende Form der Integration persönlicher und gesellschaftlicher Beziehungen bei der Erzeugung kollektiver Identitäten und "Wir-Gefühle" nicht hinreichend trennscharf gegenüber den Solidaritätsgefühlen bei flüchtigen Begegnungen oder in sozialen 25 274 Auch wenn bislang noch kein Konsens über die verbindliche Verwendung des Gruppenoder Netz(werk)begriffes in der Soziologie erzielt worden ist, wird die Kategorie des sozialen Netzes eher bei geringer verdichteten, lose gekoppelten Assoziationsformen benutzt, denen eine geringere Dauerhaftigkeit und Geschlossenheit zugeschrieben wird (vgl. Kappelhoff 1989, S. 466). Auch wenn das Konzept des sozialen Netzwerkes auch die vom Gruppenkonzept ausgeschlossenen "uniplexen, distanteren, indirekten, schwachen, intransitiven usw. sozialen Beziehungen integriert" (Schenk 1983, S. 96), sind die Übergänge zwischen dem Gruppen- und Netz(werk)begriff fließend. Weder Intensität (im Sinne von "involvement") und Dichte der sozialen Beziehungen, noch die Diffusheit der thematischen Bindungen können als eindeutige Abgrenzungskriterien gelten, da sie auch bei der Klassifizierung sozialer Netzwerke ("starke" oder "schwache" Beziehungen, "Multiplexität" vs. "Uniplexität") in Anspruch genommen werden, wie Friedhelm Neidhardt (1983) und Michael Schenk (1983, S. 93ff.) zeigen. Lediglich die Unterscheidung nach dem Kriterium der "direkten" oder "indirekten" Interaktion (Schenk 1983, S. 92f.) weist genügend Schärfe für die Trennung zwischen Gruppe und Netz auf. Netzwerken unterscheiden, die in geringerem Maße "kontaktverdichtet" erscheinen.26 Die Grenzen mögen fließend sein, die Merkmale Unmittelbarkeit, Diffusität und Dauerhaftigkeit reichen jedoch bei weitem nicht aus, um "Zugehörigkeit" in ausreichendem Maße qualifizieren zu können. Und genau an dieser Stelle muß die Gruppensoziologie weiterdenken, anstatt sich von der schwierigen empirischen Operationalisierung einer Variable wie "Zugehörigkeitsgefühl" blenden zu lassen.27 Das entscheidende Defizit herkömmlicher (klein)gruppensoziologischer Ansätze liegt darin, daß sie die soziale und subkulturelle Genese vernachlässigen, die zur dauerhaften Institutionalisierung einer sozialen Gruppe führt. Gewöhnlich wird nur bei Vorhandensein bestimmter formaler Indikatoren auf die Existenz einer sozialen Gruppe geschlossen. Der Identifizierungsakt aber, mit dem die Gruppe als eine soziologische Tatsache behandelt wird, bezieht sich meist nur auf ein bereits fertiggestelltes Gebilde, ohne den sozialen Prozeß der Herausbildung und Verbindung der Assoziierten zu einer Gruppe weiter zu verfolgen. Das Bemühen um eine Vervollständigung oder Reduzierung der Liste notwendiger Merkmale, die jeweils zu den Attributen sozialer Gruppen gezählt werden, hat indessen davon abgelenkt, worin eigentlich die Gemeinsamkeiten sozialer Gruppenbildung bestehen, besonders dann, wenn es sich um makrosoziale Phänomene handelt. In Anlehnung an klassische Gruppenkonzeptionen (vgl. z.B. von Wiese 1966, S. 449) sollen soziale Gruppierungen der Fernfahrer im folgenden nicht nur unter dem Aspekt ihrer relativen Dauer und Kontinuität betrachtet werden (Institutionalisierung), sondern vor allem unter dem Gesichtspunkt des Entstehens gemeinsamer Traditionen und Gewohnheiten (Gruppenkulturen), der sozialen Differenzierungen sowie der Vorstellungen von der Gruppe, die bei ihren Mitgliedern bestehen (Vergemeinschaftung bzw. Wir-Gefühl). Mit seinem Konzept der "Kollegenschaft" hat Edward Gross (1965, S. 95ff.; vgl. Daheim 1970, S. 221ff.) 26 27 Sind die Definitionsmerkmale Neidhardts beispielsweise trennscharf genug, um encounters innerhalb offener sozialer Netzwerke von den flüchtigen Begegnungen zu unterscheiden, die sich auf der Grundlage eines übergreifenden, subkulturellen Orientierungsrahmens einer sozialen Gruppe abspielen? Sobald die Begegnungen im Netzwerk trotz ihrer grundsätzlichen Flüchtigkeit (mangels Stiftung eines übergreifenden Zusammengehörigkeitsgefühls) häufiger ablaufen als die in der Gruppe geraten die Definitionsmerkmale vollends in Unordnung und bedürfen einer klassifizierenden Gewichtung. Oder müssen wir grundsätzlich davon ausgehen, daß die Zusammengehörigkeit eine lineare Funktion der Häufigkeit der zwischenmenschlichen Kontakte ist? Sicherlich nicht, weil die Menge der Kontakte nicht per se eine gemeinsame Moral generiert, ebensowenig wie die soziale Nähe von vornherein intime Beziehungen persönlicher Natur stiftet. In jedem Fall ist der spezifische Sinnzusammenhang wohl entscheidend. Die Koordination flüchtiger Begegnungen dürfte nicht in dem Maße auf kollektive Glaubenssysteme (z.B. Ethos oder Mythos) und auf die kollektive Sanktionsfähigkeit angewiesen sein, wie dies für die soziale (Miß)Billigung gruppenspezifischer, vor allem ständischer Konventionen üblich ist. 275 einen Ansatz entwickelt, die informellen sozialen Beziehungen einer beruflichen Gemeinschaft nicht mehr allein auf jene formalen Maßstäbe zu beschränken, die letztlich nur von kleinen lokalen "Arbeitsgruppen" mit hoher Interaktionsdichte erfüllt werden können (z.B. Häufigkeit von Face-to-Face-Kontakten). Die "Kollegenschaft" läßt sich auf einem Kontinuum verorten, das die beiden Idealtypen "lokale Kleingruppe" und "berufliches Kontaktnetz" bzw. "Netzwerk" ("occupational network") miteinander verbindet. Ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerät dabei die inhaltliche Frage nach dem Prozeß der Herausbildung einer Kollegenschaft, d.h. wie ein berufliches Netzwerk dafür sorgt, daß seine Exklusivität erhalten bleibt und welche Vorteile die Mitgliedschaft in einer "Kollegenschaft" den einzelnen verspricht. "Considerable research has been done on the problem of building colleagueship and several distinct means have been pointed to and described. Perhaps the most important is control of the entry of new members to the occupation or the organization. (...) A second means for developing colleagueship is to attempt deliberately to develop a consciousness of occupation. For this purpose leaders in the occupation may develop a public relations image of the occupation as one dedicated to public service. (...) Another way of developing a high sense of the importance of one's own occupation ist to develop a sense of superiority over other occupations and over the clients with whom one deals. (...) Colleagueship can be developed by deliberately encouraging informal association among colleagues [for example 'occupational community', clubs, etc.; M.F.]. (...) A final factor that contributes to a sense of colleagueship is the development of various norms or rules of the game to control competition among members and hence limit competition between the occupation and other occupations" (Gross 1965, S.96f; Hervorhebungen durch M.F.). Auch wenn sich die von Gross genannten Verfahrensweisen bei der Herausbildung einer Kollegenschaft eigentlich auf professionelle Netzwerke beziehen, sind darin erstaunlicherweise Ansatzpunkte enthalten, die sich auch auf die berufliche Gruppierung von Fernfahrern übertragen lassen.28 Die in der Gruppensoziologie zumindest implizit allgegenwärtige Metapher einer "Verdichtung" oder "Kristallisation" sozialer Beziehungen ist nicht in erster Linie als eine Aufforderung zur Messung von Abständen zu begreifen, sondern eher als eine Anregung, die gesellschaftliche Konstruktion sozialer Abgrenzungen selbst zum Gegenstand der Gruppensoziologie zu machen. Meine These ist, daß unter den Lastkraftwagenfahrern berufskulturelle Gruppierungsformen entstanden sind, trotz der vergleichsweise geringen Möglichkeiten, innerhalb der Arbeitszusammenhänge direkte, stabile und kontinuierliche Sozialbeziehungen zu entwickeln. Die Untersuchung der "Kollegenschaft" der 28 276 Daheim (1970, S. 222) hat zu Recht vorgeschlagen, das Konzept beruflicher Netzwerke, das ursprünglich für die informellen Kontakte zwischen Angehörigen von Professionen entwickelt worden ist, auch auf Berufsgruppen auszudehnen, deren Mitglieder keine Professionals sind. Berufskraftfahrer bedarf eines Untersuchungsinstrumentariums, das die herkömmliche, an Kleingruppen orientierte Gruppensoziologie bislang noch nicht zur Verfügung gestellt hat. Mein Vorschlag ist, das "unscharfe" soziale Ensemble der Fernfahrer als ein berufliches Netzwerk zu begreifen, das in seinen "Verdichtungszonen" zugleich Merkmale einer Berufsgruppe aufweist (z.B. Fernfahrerbzw. Trucker-Clubs als lokale Gruppierungen, ein an ständischer Interessenvertretung ausgerichteter Berufsverband oder eine Fahrergewerkschaft).29 Im Anschluß an kultursoziologische Forschungsarbeiten zur sozialen Gruppenbildung, hier vor allem die auf diesem Gebiet wegweisende Studie von Luc Boltanski (1990) über die französischen Führungskräfte ("cadres"), möchte ich im folgenden versuchen, die Entstehung beruflicher Netzwerke unter den Fernfahrern als einen soziokulturellen Prozeß zu begreifen, in dessen Verlauf charakteristische und seltene Merkmale symbolisch aufgewertet und mittels sozialer Schließung exklusiv durch die Fernfahrer angeeignet werden. Die soziale Gruppierung der Fernfahrer läßt sich somit zunächst als eine Folge symbolischer und sozialer Abgrenzungen nachvollziehen, in denen ein kollektiver Sinnzusammenhang erzeugt wird, der die Arbeits- und Lebenswelt von Fernfahrern gegenüber anderen subkulturellen "Sinnwelten"30 als etwas Besonderes hervorhebt. Es wäre jedoch fatal, die Entstehung sozialer Gebilde allein auf die kollektive Definition von Wirklichkeiten zurückzuführen. Die Entstehung sozialer Gruppierungen ist nicht angemessen zu begreifen, wenn man sie als eine bereits vollendete gesellschaftliche (Tat-)"Sache" behandelt oder sie nur auf eine "gelebte Erfahrung" (Bourdieu) reduziert, die letztlich nur in dem Willen und der Vorstellung der beteiligten Akteure existiert. Als das "objektivierte Produkt einer Praxis" (Boltanski) weisen soziale Gruppen eine "in sich doppelte Realität" auf, 29 30 Mit dem Akzent auf persönlichen, kategoriellen oder strukturellen Beziehungen unterscheidet Michael Schenk (1983, S. 89) drei Typen sozialer Netzwerke. Während Schenk das Hauptgewicht auf die Analyse persönlicher Beziehungen legt, lassen sich die berufsständisch gefärbten sozialen Beziehungen unter den Fernfahrern einem "kategoriellen" Typus sozialer Netze zuzuordnen, der ein Beziehungsmuster vertritt, "das von sozialen Stereotypen abhängig ist, die insbesondere schichten-, rassenspezifischen und ethnischen Merkmalen folgen" (ebd., S. 89f.). Was die "strukturelle Differenzierung" des berufskulturellen Netzwerkes der Fernfahrer betrifft, so scheint mir die Fernfahrermythologie ein entscheidendes Verbindungsglied zu sein, das einzelne und vereinzelte Netzwerksubgruppen ("Cliquen") im Sinne einer "Brücke" miteinander verknüpft. Für Peter L. Berger und Thomas Luckmann (1980, S. 84ff.) sind soziale Gruppen Träger kollektiver Sinnkonstruktionen ("Subsinnwelten"), deren Sinnhaftigkeit von der betreffenden Gruppe sozial (re)produziert werden muß. Neben Wissenschaft, Philosophie und Theologie dient auch die Mythologie als "Stützkonzeption" und "Legitimation" von Sinnwelten (ebd., S. 118). Für den symbolischen Interaktionismus hat Herbert Blumer (1973) auf die Bedeutung der Prozesse kollektiver Definition hingewiesen. 277 die zugleich in den zähl- und meßbaren materiellen Merkmalen ihres "objektiven" Seins und in den symbolischen Attributen ihres "wahrgenommenen Seins" zum Ausdruck kommt, das den materiellen Eigenschaften erst die Funktion von Unterscheidungsmerkmalen verleiht (vgl. Bourdieu 1987, S. 246f.).31 Die Retrospektive auf den sozial- und kulturhistorischen Ursprung und die Entstehungsgeschichte einer sozialen Gruppe ermöglicht es, ihre kollektive "Objektivierungs- und Repräsentationsarbeit" nachzuvollziehen, d.h. "die Gestalt der Gruppe zu erklären, indem man nach der Arbeit des Sich-Gruppierens, des Ein- und Ausschließens fragt, deren Ergebnis sie ist, und die gesellschaftliche Definitions- und Abgrenzungsarbeit analysiert, die mit der Bildung der Gruppe einhergegangen ist und die durch Objektivierung dazu beigetragen hat, sie als etwas existieren zu lassen, das sich von selbst versteht" (Boltanski 1990, S. 47). In seiner Untersuchung zur Entstehung der französischen Führungskräfte (den "cadres") als soziale Gruppe unterscheidet Boltanski zwei Gruppierungsphasen (vgl. 1990, S. 47-51): (1) Die "Neudefinitions- und Repräsentationsarbeit" führt - gewissermaßen als gesellschaftliche "Erfindung"32 der jeweiligen sozialen Gruppe - zur Formierung von einer Art "Urkern", der die Voraussetzung für die weitere Anbindung und symbolische Vereinigung heterogener Kreise bildet. (2) Als ein "Anziehungspunkt" oder "Sammelbecken" innerhalb des sozialen Raumes ist dieser "Urkern" dann einem "Objektivierungs- und Institutionalisierungsprozeß" ausgesetzt, in dessen Verlauf die weitere SelbstGestaltung der Gruppe von der "Arbeit des Sich-Gruppierens" abhängt, d.h. von Prozessen sozialen Ein- und Ausschließens. Da in beiden Phasen gesellschaftliche Objektivierungs- und Repräsentationsarbeit geleistet wird, muß das Ausmaß und die Form sozialer Institutionalisierung 31 32 278 Das wahrgenommene Sein kann zwar niemals vollständig auf das materielle Sein zurückgeführt werden, die stilistische Willkür bleibt aber an den Spielraum der "objektiven Möglichkeiten" (Willis) gebunden, den die materiellen Merkmale zulassen (vgl. Kapitel 3.3). Eine soziale Gruppierung existiert einerseits in der sozial vergegenständlichten Form von Institutionen, andererseits in Form von dauerhaften Dispositionen (vgl. Bourdieu 1987, S. 252ff.). Die besonderen Möglichkeiten und Begrenzungen der "kollektiven Geschichte" einer Gruppierung werden in den individuellen Biographien amgeeignet. Das Bestehen einer Gruppierung wird dabei in Form mentaler Vorstellungen und gefühlsmäßiger Gewißheiten "einverleibt" und - soweit an die Wirklichkeit der Gruppe geglaubt oder mit ihrer Existenz gerechnet wird - auch nach außen hin verkörpert. "Erfindung" scheint von Boltanski in einem doppelten Sinne von "Definition" und "Repräsentation" gemeint zu sein: als definierende Namens(er)findung, die zur Benennung der Gruppe (z.B. als "cadres") führt, und als Vorgang des Sich-Zusammenfindens einer Gruppe in der sozialen Form eines "repräsentativen" Urkerns. als das zentrale Unterscheidungskriterium dienen, um die Phase der Erfindung einer "neuen" sozialen Gruppe von der Phase ihrer Gruppierung abzugrenzen. Die gesellschaftliche Gruppierungsarbeit setzt im wesentlichen erst dann richtig ein, sobald sich ein "Feld" miteinander konkurrierender Definitionen und Repräsentationen herausgebildet hat (vgl. ebd., S. 163ff.).33 Von Überlegungen bei Bourdieu (vgl. 1987, S. 256f.) und Boltanski (vgl. 1990, S. 156ff.) ausgehend, ist meine These, daß die Herausbildung einer sozialen Gruppierung unter Fernfahrern grundsätzlich auf drei verschiedenen (psycho)sozialen Ebenen erfolgt.34 Den Ausgangspunkt jeder sozialen Gruppierung bildet erstens die bestehende Verteilungsstruktur begehrter Objekte und Eigenschaften, die neue Stilsierungen zugleich ermöglicht und begrenzt. Der Besitz des Begehrenswerten setzt immer eine Aneignungsarbeit voraus, die den Einsatz von bereits akkumuliertem "Kapital" erforderlich macht und verlangt, die Widerstände konkurrierender Gruppierungen gegen eine exklusive Aneignung des Begehrten zu überwinden. Neue soziale Gruppierungen können sich entweder in unentdeckten oder uninteressanten Nischen ausbreiten, oder sie müssen eine Veränderung der vorhandenen ökonomischen und sozialen, politischen und kulturellen Strukturen anstreben, die für eine ungleiche Verteilung der vorhandenen Merkmale und Eigenschaften unter den beteiligten Individuen verantwortlich sind. Andererseits ermöglicht eine relativ dauerhafte, ungleiche Verteilungsstruktur materieller Gegenstände und persönlicher Qualitäten erst eine sichere symbolische Vereinigung, die auf der Klassifizierung und Stilisierung gemeinsamer wie unterschiedlicher Attribute aufbaut. Die sinnvolle Klassifizierungs- und Stilisierungspraxis sozialer Gruppen setzt somit eine spezifisch strukturierte, "geordnete" Verteilung der begehrten und der unerwünschten Merkmale und Eigenschaften voraus, damit sich die fragliche Gruppierung ihre charakteristischen Attribute möglichst exklusiv aneignen kann. 33 34 Die Zweiteilung der "Gruppierungsarbeit" zwischen der primären Entstehungsphase der "Erfindung" einer sozialen Gruppe und der sekundären Phase ihrer Festigung erscheint mir etwas zu grob. Wie Boltanski selbst einräumt, folgt die soziale Gruppierung der cadres einer spezifischen Logik, wie sie (vor allem) für die "Kohäsion eines unscharfen Ensembles" typisch sein dürfte (vgl. 1990, S. 320): Obwohl die "Führungskräfte" über ein weites Spektrum "objektiver" Soziallagen verstreut sind, wurde für sie nur eine geringe Anzahl "namhaft gemachter Orte" geltend gemacht (nämlich die der "cadres"), "an denen die Arbeit der Interpretation und Schematisierung, Repräsentation und Stilisierung der sozialen Welt vollzogen wurde". Ähnliches gilt für die Fernfahrer, auch wenn für sie mehr Benennungsmöglichkeiten bestehen (wie die amtliche Berufsstatistik zeigt). In ähnlicher Weise hat bereits Max Weber (1980, S. 531ff.) die strukturellen Prinzipien der Machtverteilung nach materiellen und symbolischen Kriterien analytisch unterschieden: Während die "Klasse" als Folge einer ungleichen Verfügungsgewalt über materielle Güter und Leistungen in der "Wirtschaftsordnung" zu verorten ist, wird der "Stand" als Resultat einer unterschiedlichen Einschätzung der Ehre der "sozialen Ordnung" zugerechnet und gewissermaßen quer dazu - die "Partei" (in der politischen Sphäre) als ein, um soziale Macht bzw. Herrschaft kämpfendes vergesellschaftetes Gebilde verstanden. Auf dieser Grundlage ist ein kultursoziologisches Konzept möglich, das mit der Herrschaftssoziologie verbunden bleibt (z.B. über die Wechselwirkungen zwischen der sozialen, kulturellen und politischen "Repräsentation" einer sozialen Gruppierung). 279 Diese materielle Logik der Seltenheit bestimmter (gegenständlicher) Merkmale innerhalb einer gegebenen "objektiven" Verteilungsstruktur ist zweitens von der symbolischen Logik der Hervorhebung zu trennen, mit der die Unterschiede bei den Aneignungschancen knapper Güter, Leistungen und Eigenschaften sich und anderen als schwerwiegende Unterscheidungen vorgestellt werden. Neben der Sicherung der möglichst exklusiven Aneignung der charakteristischen Objekte und Eigenschaften muß die soziale Gruppierung ein gemeinsames subkulturelles Bedeutungssystem bilden, das dem kollektiven Besitz den sozialen Sinn von Unterscheidungen und Hervorhebungen verleiht. Mythen vermitteln dabei das besondere "WirGefühl" und den "Glauben" an die kollektive Existenz, d.h. sie stützen die subkulturelle Integration der besonderen "Sinnwelten", die für die jeweilige Gruppe kennzeichnend sind. An der Schnittstelle der (Re)Produktion der kollektiven Gruppierung und der individuellen Teilnahme (und -habe) findet somit eine gegenseitige Sicherung (oder Verunsicherung) statt. Solange kollektive Mythen den individuellen Glauben an die Realität der Gruppe unterstützen können, bleibt das individuelle Schicksal wegen seiner Einordnung in einen, die Lokalität individueller Zeiten und Räume übergreifenden Stil "sinnvoll" und verallgemeinerbar. Andererseits bleibt die Glaubwürdigkeit der "wirklichen" Existenz einer Gruppe daran gebunden, inwieweit kollektive Mythologien innerhalb individueller Orientierungen auf Dauer mitreproduziert werden. Darüber hinaus wird die soziale Gruppe drittens nur in dem Maße als ein "sozialer Akteur" gesellschaftlich "existent", wie ihre "Mandatsträger mit der plena potentia agendi ermächtigt sind und sich ermächtigt fühlen, in ihrem Namen zu sprechen" (Bourdieu 1985, S. 40), d.h. soweit der Gruppierung durch "Organisations- und Repräsentationsarbeit" (Krais) die Repräsentation im sozialen, rechtlichen und politischen Raum gelingt (vgl. Boltanski 1990, S. 156ff.). Die Kategorie der "Repräsentation" muß hier in einem sehr weiten Sinne von "(Stell)Vertretung" verwendet werden. Neben dem üblichen Verständnis von "Solidaritäts-" oder "Vertretungsbeziehungen" - etwa im Sinne von Max Weber (1980, S. 25) -, schließt der Repräsentationsbegriff bei Boltanski jenes Wortspiel um die verschiedenen Bedeutungen des Begriffes "Vorstellung" ein, das bereits von Bourdieu benutzt worden ist. Es lassen sich drei Bereiche unterscheiden, in denen der Begriff der Repräsentation verwendet wird (Boltanski 1990, S. 50): (1) Eine soziale Gruppe gibt sich einen Namen und eine "emotionale und mentale Repräsentation", die mit diesem Namen verbunden ist (symbolische Klassifizierung und Abgrenzung durch Neu-Definition); (2) Eine soziale Gruppe "muß, um für sich und andere zu existieren, auf dem Weg über ihre Mitglieder und, genauer gesagt, über ihre Sprecher Vorstellungen über sich vermitteln, dramaturgische Akzentuierungen (wie Goffman sagen würde) ihrer relevanten Merkmale, eine Art Stilisierung, die zur Bildung des kollektiven Glaubens beiträgt, ohne den die Gruppe kein Anrecht auf soziale Anerkennung hat" (vgl. S. 159; Stilisierung der Gruppenmerkmale durch "soziokulturelle Repräsentationen" vom "perfekten" Gruppenmitglied ordnet, vereinfacht und stabilisiert die soziale Gestalt der Gruppe; (3) Eine soziale Gruppe läßt sich auf der politischen Bühne (institutionell) repräsentieren, "- wo sich die täglichen Kämpfe zwischen Gruppen und Klassen auf eigene Art und nach eigenen Regeln noch einmal abspielen -, indem sie sich offizielle Instanzen gegeben hat, und indem sie die Autorität, die zur Verkörperung der kollektiven Personen nötig ist, natürlichen Personen übertragen hat". Die "rechtliche Repräsentation" bildet allerdings eine entscheidende Voraussetzung für die politische "Delegation" und Interessenvertretung (wie sich am Beispiel der Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung 280 leicht zeigen läßt).35 "Mit der Institutionalisierung der sozialen Konflikte und der Konstituierung offizieller Verhandlungsinstanzen (...) wird die Bildung einer rechtlich anerkannten Kollektivperson und ihre Verkörperung in hierzu berechtigten physischen Personen eine der Bedingungen, die soziale Gruppen erfüllen müssen, um gewissermaßen sozial sichtbar zu werden und ihre ökonomischen und politischen Interessen wirksam vertreten zu können" (S. 157). Im Anschluß an Überlegungen bei Boltanski (1990) und Bourdieu (1987) läßt sich ein analytisches Schema konstruieren, das die Entstehung sozialer Gruppen als einen Objektivierungsprozeß veranschaulicht (Abb. 34). Der vertikale Aufbau dieses Schemas folgt dabei einer analytischen Unterscheidung von drei verschiedenen Ebenen, auf denen sich eine soziale Gruppe durch symbolische Definitions-und Abgrenzungstätigkeiten sowie durch entsprechende Repräsentationsarbeit objektivieren kann.36 "Klassifizierung" ist als ein Objektivierungsprozeß zu verstehen, der auf der mentalen Ebene gemeinsamer psychosozialer "Vorstellungen" abläuft und sich in Form von Wahrnehmungs-, Bewertungs- und Erzeugungsschemata dauerhaft als eine entsprechende Disposition verkörper(lich)t ("Habitus"). Der Begriff der Vorstellung wird bei Bourdieu nicht als ein Platzhalter für den Ideologiebegriff gebraucht (etwa im Sinne einer "Weltanschauung"), sondern ist Ausdruck eines "praktischen" und "stillschweigenden" Verhältnisses zur gegenständlichen Welt, das kollektive und öffentliche Darstellungen sowie rituelle Demonstrationen einschließt im Sinne jener "Schauspiele, die die gesamte Gruppe ins Spiel bringen und in Szene setzen" (vgl. Bourdieu 1987, S. 198f.). Als "Stilisierung" kann ein Prozeß beschrieben werden, der sich auf der Ebene sozialer Interaktionen als "dramaturgische Akzentuierung" (Goffman) "abspielt" und sich in Form von Mythen, Praktiken und Werken objektiviert (kollektiver "Glaube" an die reale Existenz der Gruppe, repräsentiert durch entsprechende "Spiele"). 35 36 Dies gilt vor allem für moderne politische Systeme mit einer institutionalisierten, rechtlich fixierten, "friedlichen" Regulation der Beziehungen zwischen sozialen Klassen und Gruppen: "Die Administration, die sich als 'Schiedsinstanz' in den sozialen Auseinandersetzungen versteht, kennt von den 'sozialen Gruppen' nur deren 'Vertreter', und diejenigen, die im Namen des 'Staates', dieser Abstraktion, sprechen, verlangen 'Partner' oder 'Gesprächspartner', wie die hohen Beamten oft sagen, aus Fleisch und Blut" (Boltanski 1990, S. 157f.). Ein gutes Beispiel für die fast "unentrinnbaren" Verflechtungen zwischen politischer und rechtlicher Repräsentation zeigt der US-amerikanische Trucker-Film "Convoy" von Sam Peckinpah (1978), wo ein Vertreter des Gouverneurs das Gespräch mit "Rubber Duck" sucht, der eine Protestaktion der Trucker als Convoy-Führer maßgeblich in Gang gesetzt hat, selbst aber meint, nur für sich und lediglich als erster zu fahren. Die politische Administration in Person des Gouverneurs muß sich aber einen legitimen Gesprächspartner schaffen, indem sie den Einflußreichsten zum offiziellen "Anführer" und damit legitimen "Vertreter" des Konvois "macht". Bei schematischer Trennung ließe sich die Phase der Erfindung einer sozialen Gruppe durch Neudefinition und Abgrenzung eines "Urkerns" - in erster Linie der "Klassifizierung" und "Stilisierung" zuordnen, während die "Institutionalisierung" eher mit der Phase der sozialen Gruppierung von Zentrum und Peripherie verbunden ist. 281 Abb. 34: Analytisches Schema zur Entstehung sozialer Gruppen Repräsentationsarbeit Objektivierungsebenen Objektivierungsmodus ))))))))))))))))))))))))))))))))))) Objektivierungs form KLASSIFIZIERUNG Emotionale und mentale Repräsentation (Vorstellungen) "Habitus"/Leib Dispositionen Wahrnehmungs-, Bewertungs- und Erzeugungsschemata STILISIERUNG Sozial-kulturelle Repräsentation (Spiele) "Glaube" Mythen, Praktiken und Werke INSTITUTIONALISIERUNG Institutionelle Repräsentation (mikro- und makropolitische Spiele) "Feld" Akteure, Vertreter und Verbände (Recht, Politik, Ideologien...) Die "Institutionalisierung" unterscheidet sich von den beiden vorangehenden Objektivierungsformen, weil sie bereits die Existenz einer "fertigen" Gruppe im Sinne eines sozial relativ homogenen "Urkerns", "Anziehungspunktes" oder "Sammelbeckens" voraussetzt. Über soziale Ein- und Ausschließungsprozesse gruppieren sich heterogene Einheiten an den Peripherien des zentralen Kerns, was ein Feld von Repräsentationen öffnet, auf dem die Träger unterschiedlicher sozialer Merkmale miteinander um die Anerkennung als authentische Vertreter und um die legitime (institutionelle) Repräsentation der sozialen Gruppe ringen. Hierbei spielt die Institutionalisierung vor allem rechtlicher, politischer, wissenschaftlicher, künstlerischer "Repräsentationen" eine entscheidende Rolle, d.h. die Entstehung von dauerhaften Vertretungsbeziehungen ("Intellektuelle") und von ("Interessen"- bzw. Berufs-)Verbänden samt der politischen Ideologien, sowie mikro- und makropolitischen (Macht)Spiele. Da sich die Klassifizierung, Stilisierung und Institutionalisierung gegenseitig beeinflussen (der Truckerkult in den USA ist z.B. vor allem durch politische Proteste verstärkt worden), dürfte die Objektivierung einer Gruppe innerhalb des sozialen Raumes üblicherweise als ein rekursiver Prozeß erfolgen. Mangels fehlender berufshistorischer Forschungsergebnisse (vor allem, was die Berufsund Verbandskultur der deutschen Fernfahrer in der Zeit von Beginn der dreißiger bis Ende der sechziger Jahre betrifft), läßt sich die Herausbildung einer Kollegenschaft unter den Fernfahrern noch nicht im Detail nachzeichnen. Meine 282 These ist aber, daß sich die soziale Gruppierung von Fernfahrern seit Beginn der siebziger Jahre nach Art einer "Neudefinition" abgespielt hat, durch die entweder neue soziale Vernetzungen in der Kollegenschaft der Fahrer entstehen oder bereits bestehende (meist lokale) soziale Netze und Gruppierungen sich anders wahrnehmen und darstellen können, dabei aber zugleich ihre alten Eigenschaften und Merkmale ebenso wie einzelne Komponenten ihrer alten Bestimmung als "Kapitäne der Landstraße" zu bewahren versuchen. Der nordamerikanische Truckermythos fungiert in diesem Zusammenhang als ein neuer Bezugspunkt für die Entwicklung beruflicher Subkulturen unter den Lastwagenfahrern. Um diese Annahme plausibel zu machen, soll im folgenden zunächst ein Vorschlag unterbreitet werden, wie die Soziologie den Mythos (vor allem in Abgrenzung zu ideologischen Phänomen) definieren sollte. Danach möchte ich etwas genauer auf die Entstehung der Fernfahrermythologien und den Einfluß von Mythen und Legenden auf die soziale Gruppierung der LKW-Fahrer in den USA und in der Bundesrepublik eingehen, bevor abschließend der Frage nachgegangen wird, inwieweit die beruflichen Mythologien der Fernfahrer an der sozialen Reproduktion ihrer Arbeits- und Berufsrisiken beteiligt sind. 5.3 Vom "Kapitän der Landstraße" zum "Highway Helden"? Fernfahrermythen im Fokus kultursoziologischer Risikoforschung "Die Trucker-Kultur ist eine Subkultur. Bemalung und Ausstattung der Trucks, die Trucker-Songs, der Slang der Funksprache kreieren eine eigenständige Welt unabhängiger Einzelgänger. Die Legende muß nicht Wahrheit bedeuten, sie kann aber sprechender sein als diese" (Heinzlmeier, Menningen und Schulz 1983, S. 148). Ein kultursoziologisches Mythenverständnis, das Mythologien von ihrem praktischen Gebrauch her erschließen möchte, steht vor der doppelten Schwierigkeit, Mythologien einerseits von ästhetischen Weltbildern und gegenüber Ideologien abzugrenzen, andererseits den Herrschaftscharakter von Mythen präzise herauszuarbeiten. Gegen den Versuch, Mythen auf mentale oder ideologische Phänomene zu reduzieren, hilft ein semiotisches Kulturkonzept, das die Spannung zwischen der relativen Eigendynamik der symbolischen Systeme, mentalen Erscheinungen und praktischen Funktionen mythischer Bilder zu bewahren versucht (vgl. Kap. 3.3). Die pragmatischen, sozialen "Funktionen" des Mythos sind bekanntlich auch in der Kulturanthropologie, vor allem von Bronsilaw Malinowski, betont worden. Allerdings hat sich der Funktionalismus dabei als weitgehend geschichtsblind und unsensibel gezeigt, um subtile Herrschaftsformen zu entdecken und zu kritisieren. Diesem Manko wird hier durch Berücksichtigung symbolischer Herrschaftsformen begegnet, gestützt durch einen kurzen Ausflug in die historische Entstehung und subkulturelle Variation der Fernfahrermythologie. 283 Ein "Mythos" ist eine "legendenhafte, symbolische Erzählung über die Ursprünge einer Gesellschaft oder über ein denkwürdiges Ereignis ihrer Geschichte" (Koschnik 1984, S. 396), d.h. eine Sage und Dichtung über Götter, Helden und Geister (der Vor- und Urzeit) eines Volkes, er symbolisiert aber auch eine "legendär gewordene Gestalt oder Begebenheit, der man große Verehrung entgegenbringt" (Duden "Fremdwörterbuch" 1974, S. 484). Sofern der Mythos überhaupt in soziologischen Wörterbüchern oder Lexika behandelt wird, interpretiert man ihn als eine "Erzählung", "Legende" oder "Glaubenshaltung" zu "Problemen des Ursprungs oder der zentralen Wirkkräfte individuellen wie gesellschaftlichen Lebens", eine "nicht beweisbare, aber für die Lebensorientierung und Sinninterpretation mit Wahrheitsanspruch versehene Aussage", die ihn zu einem zentralen Bestandteil "aller (insbesondere primitiven) Kulturen" macht (Hartfiel/Hillmann 1982, S. 524). Eine inhaltliche Einengung des Mythos auf Ursprungs- oder Entstehungsgeschichten ist jedoch nicht haltbar. Obwohl gerade Ursprungsmythen eine wichtige Rolle bei der Herausbildung und Stabilisierung sozialer Gruppen spielen (wie am Beispiel der Fernfahrer ersichtlich wird), zeigen Todes-, Fortschritts-, Geschlechtsoder Heldenmythen, daß sich die Mythologie nicht allein auf die Schöpfungs- oder Entstehungsthematik einschränken läßt. Für die Wissenssoziologie ist Mythologie "die archaischste Form einer Stützkonzeption und Legitimation von Sinnwelten", d.h. ein "Wirklichkeitsentwurf (...), der die dauernde Einwirkung heiliger Kräfte auf die Erfahrung der Alltagswelt annimmt" (Berger/Luckmann 1980, S. 118). Mein Vorschlag ist, berufliche Mythen als Erzählungen zu begreifen, die sich in mentalen Vorstellungen und sichtbaren subkulturellen Stilisierungen vergegenständlichen können und in denen transzendentale, vor allem geheiligte Aspekte der besonderen, historisch überlieferten Sinnwelt einer beruflichen Gruppierung zum Ausdruck kommen. Obwohl der Mythos als Erzählung eine mentale Gestalt und sprachliche Form aufweist, manifestieren sich mythische Vorstellungen in Handlungsriten und Praktiken, gegenständlichen Formen (z.B. Trucker-Accessoires) und legendären Verkörperungen, auf die sich ihrererseits die mentalen Vorstellungen stützen. Mit der Verengung des Mythos auf seine mentalen Züge wird der Zusammenhang zerrissen, der die mythischen Weltauffassungen mit den entsprechenden praktischen "Lebensformen" verbindet, in denen die transzendentalen Bezüge verankert sind. Ähnlich wie heilige Symbole verknüpfen Mythen das Ethos einer sozialen Gruppe - Stil, Charakter und Besonderheiten ihres subkulturellen Lebens, ihre moralische Gesamthaltung, ästhetische Ausrichtung und Lebensstimmung - mit ihrer Weltauffassung - dem Bild, das die Gruppe über die Dinge in ihrer "reinen Vorfindlichkeit" hat, d.h. ihren "Ordnungsvorstellungen" im weitesten Sinne (Geertz 1983, S. 47f.): "Religiöse Vorstellungen und Praktiken machen das Ethos einer Gruppe zu etwas intellektuell Glaubwürdigem, indem sie es als Ausdruck einer Lebensform darstellen, die vollkommen jenen tatsächlichen Gegebenheiten entspricht, wie sie die Weltauffassung beschreibt. Die Weltauffassung hingegen machen sie zu etwas emotional Überzeugendem, indem sie als Bild der tatsächlichen Gegebenheiten darstellen, das einer solchen Lebensform besonders nahekommt. Diese Gegenüberstellung und wechselseitige Bestätigung bewirkt zwei grundlegende Dinge. Einmal werden dadurch moralische und ästhetische Präferenzen objektiviert: Sie erscheinen als notwendige Lebensbedingungen, wie sie von einer in bestimmter Weise 284 strukturierten Welt vorgegeben werden, als reiner Common sense angesichts der unveränderlichen Gestalt der Wirklichkeit. Zum anderen erfahren diese überlieferten Vorstellungen vom Weltganzen eine Bekräftigung, indem nämlich tiefverwurzelte moralische und ästhetische Empfindungen als empirische Beweise für ihre Gültigkeit angeführt werden. Religiöse Symbole behaupten eine Grundübereinstimmung zwischen einem bestimmten Lebensstil und einer bestimmten (wenn auch meist impliziten) Metaphysik und stützen so jede Seite mit der Autorität der jeweils anderen." Thematisch erzählen Mythen meist vom Ursprung des Menschen (oder einer bestimmten Menschengruppe) und der Entstehung gesellschaftlicher Ordnungen, sie behandeln kulturelle Veränderungen und außergewöhnliche Leistungen, "die sich besonders mit Heldentaten und mit Einführung von Gebräuchen, kulturellen Praktiken und sozialen Institutionen beschäftigen", oder sie sind mit bestimmten Formen der Magie verbunden (Malinowski 1970, S. 108f.). Die üblichen Definitionen, die den Mythos positiv als eine "bildhaft-anschauliche Vor- und Darstellungsweise" in Verwandtschaft zur bildenden und literarischen Kunst interpretieren oder ihn negativ bestimmen als eine "vor- bzw. unwissenschaftliche Selbst- und Welterklärung" (vgl. Wermke 1977, S. 2ff.), unterstellen der Mythologie einen elitären, zu stark ästhetisch oder kognitivistisch gefärbten Anspruch. Ein angemessener Zugang zum praktischen Gebrauch von Mythen in geringer ambitionierten Subkulturen wird dabei verfehlt. Sowohl die Konkurrenz zur künstlerischen Weltbetrachtung als auch die Rivalität zur wissenschaftlichen Weltanschauung beruhen auf einem Mißverständnis, da Mythologien eher in eine Legitimitätskonkurrenz zu den religiösen Weltbildern der Theologie treten (vgl. auch Kapitel 3.3, Abb. 13), insbesondere dann, wenn sie eine "Theodizee" betreiben, d.h. eine religiös gefärbte Verklärung des Leidens und der Lust. Die kunstnahe Definition, die den Mythos als eine Erzählung mit einem künstlerischen Anspruch begreift, hat den Nachteil, daß sie die ästhetische Bedeutung der mythischen Metaphorik überbewertet. Viel zu unspezifisch muß letztlich alles Metaphorische mit utopischem Gehalt zum Mythos erklärt werden, wenn eine mystifizierende Bewertung mythischer Vorstellungen vermieden werden soll, die je nach kulturellem Standort zwischen einem ästhetisch "echten" (legitimierten) und einem "trivialen" (illegitimen) Mythos unterscheidet. Zwar findet in den Fernfahrermythen eine Ästhetisierung der Transportarbeit statt, aber die ästhetischen Ambitionen des Mythos sind begrenzt durch die pragmatischen Funktionen dieser Stilisierungen, in denen sich die Fernfahrer als eine soziale Gruppierung besonderer Art hervorzuheben versuchen. Ein elitäres Kulturverständnis aber bleibt blind für die eigenen sozialen Klassifikationen, in denen die geistigen und (legitimen Formen) künstlerischer Lebensäußerungen, d.h. die feine, vornehme Art der Lebensstilisierung aufgewertet werden gegenüber dem als übertrieben und als grob sinnlich empfundenen Kult populärer Ästhetik. Den Mythos dagegen im Kontrast zu wissenschaftlichen Realitätsmodellen als bloße "Weltanschauung", als "Wirklichkeitsentwurf" oder als "Aussage mit Wahrheitsanspruch" zu verstehen, bedeutet, den Erklärungscharakter von Mythen überzubewerten, was zu einer Verwechslung von Mythologien und Ideologien führt. Ideologien enthalten kognitive Vorstellungen über die Wirklichkeit, die mit interessenbedingten Wertungen verbunden sind, wobei die politisch motivierten Weltentwürfe und illegitimen Herrschaftsinteressen zugleich einen mit 285 wissenschaftlichen Aussagen rivalisierenden Wahrheitsanspruch erheben. Während Ideologien einen universellen Geltungsanspruch erheben, der aus der behaupteten Verallgemeinerbarkeit von Partikularinteressen resultiert, beansprucht der Mythos oft lediglich einen partialen Geltungsbereich für seine Erzählungen. Genau genommen gilt er dann nur für die Gruppe der Auserwählten, die dazu geboren sind, seinen tieferen Sinn zu verstehen, über deren Ursprung und Existenz er berichtet und deren Außergewöhnlichkeit er bezeugt und beglaubigt. Aus der mythisch begründeten Exklusivität einer sozialen Gemeinschaft leitet sich nicht von vornherein ein politischer Herrschaftsanspruch ab, wie dies üblicherweise bei Ideologien der Fall ist, die ein Partikularinteresse in politischer Absicht pseudowissenschaftlich zu legitimieren versuchen. Zwar können auch Mythologien einen politischen Autoritätsanspruch vertreten, die diskursfesteren Ideologien haben die herrschaftsorientierten Mythologien aber im Zuge der Entzauberung und Rationalisierung abendländischer Weltbilder weitgehend verdrängt. Was eine Unterscheidung zwischen Mythologien und Ideologien so schwierig macht, ist, daß beide auf die Legitimierung gesellschaftlicher Ungleichheiten ausgerichtet sind. Während Ideologien aber mit der Verallgemeinerung des Besonderen die Illusion einer Interessengleichheit erzeugen wollen, erwecken berufliche Mythologien umgekehrt eher den Anschein einer Besonderheit, indem sie die Ungleichheit der Berufenen behaupten und eine Absonderung (z.B. der Fernfahrer) vom Allgemeinen (nämlich der industriellen Arbeiterschaft) betreiben. Auch wenn mythische und ideologische Wirklichkeitsvorstellungen dort komplementär wirken, wo es um das Absichern des Bestehenden und um das Verhindern von Veränderungen geht, ist ihre Wirkungsweise höchst verschieden. "Es kann ohne Übertreibung gesagt werden, daß die typischste, die am höchsten entwickelte Mythologie in primitiven Gesellschaften die der Magie ist, und die Funktion des Mythos ist es nicht, Erklärungen zu liefern, sondern Gewißheit zu geben, nicht Neugierde zu befriedigen, sondern Vertrauen in Macht einzuflößen, nicht, Geschichten zu erfinden, sondern jene Ereignisse festzuhalten und herauszuheben, die im kontinuierlichen Strom des Alltagslebens für die Gültigkeit des Glaubens zu zeugen vermögen. Die tiefgehende Verbindung zwischen Mythos und Kult, die pragmatische Funktion des Mythos, Glauben zu erzwingen, ist so hartnäckig zugunsten der ätiologischen oder erklärenden Theorie vom Mythos übersehen worden, daß es notwendig war, diesen Punkt ausführlich zu behandeln" (Malinowski 1973, S. 68; Hervorhebungen durch M.F.). Ideologien beruhen auf einer "theoretischen Sanktionierung gesellschaftlicher Herrschaftsformen" (Lenk 1967, S. 17). Da sie im Unterschied zu Mythologien einen eher theoretischen Anspruch erheben, erfolgt die ideologische Anerkennung der bestehenden gesellschaftlichen Ordnung über deren kognitive Überzeugungskraft. Durch ihre "geringe oder z.T. völlig unzureichende bzw. willkürlich vornehmbare 'rationale' Interpretierbarkeit" (Hartfiel/Hillmann 1982, S. 525) stützt sich die mythologische Billigung bestehender Herrschaftsformen dagegen weniger auf reflexiv gestützte Glaubensüberzeugungen, als auf die empfundene Glaubwürdigkeit der Erzählungen. Der Glauben, der sich an die ideologische Weltdeutung knüpft, läßt sich durch seinen reflexiven Charakter von dem "Erklärungsanspruch" des Mythos abgrenzen, der eher die körpernahe, emotionale 286 Seite menschlicher Seinsgewißheit berührt und deshalb auf einem gefühlsmäßigen Glauben37 an die Heiligkeit und Unwandelbarkeit bestehender Ordnungen beruht. Die Bezugnahme auf übersinnliche, heilige Kräfte rückt die mythische Sanktionierung gesellschaftlicher Herrschaftsformen in die Nähe von religiösen Glaubenssystemen und Gefühlen. Das "Heilige ist das spezifisch Unveränderliche" (Weber 1980, S. 249), das Ewig währende und Unwandelbare38, das sich jeder Neuerung mit mächtigen Hemmnissen entgegenstemmt und das sich deshalb in besonderer Weise für eine Absicherung und Rechtfertigung bestehender Herrschaftsverhältnisse eignet. Mythologien stützen Herrschaft, indem sie erstens soziale und historische Ereignisse naturalisieren und zweitens soziale Unterschiede durch heilige Unterscheidungen zu legitimieren suchen. (1) Im Spannungsfeld zwischen Wissenschaft und Magie strukturiert die Mythologie die menschlichen Beziehungen zur "inneren" und "äußeren" Natur. Nach einer Formulierung von Roland Barthes verwandelt der Mythos die menschliche Geschichte und Gesellschaft in Natur, da die Dinge in ihm die Erinnerung an ihre Herstellung verlieren (1970, S. 130; vgl. auch die "Amnesie" der Entstehungsgeschichte sozialer Gruppen bei Boltanski 1990, S. 51). Die Mythen über die Urzeit einer sozialen Gruppierung lassen sich als literarischer Ausdruck der Naturalisierung ihrer Entstehungsgeschichte begreifen, mit dem die soziale Gruppierung ihre "gesellschaftliche Definitions- und Abgrenzungsarbeit" (Boltanski) zu kaschieren sucht, indem sie ihre Wurzeln in eine vorgeschichtliche Zeit verlegt.39 Die Naturalisierung gesellschaftlicher Phänomene tritt vor allem dort in Erscheinung, wo es um eine soziale Spannung geht, um große Unterschiede in Rang und Macht, um Vorrang und Unterordnung sowie bei tiefgehenden historischen Veränderungen, wie schon Malinowski (1973, S. 107) gezeigt hat. Bei der Entstehung und Stabilisierung sozialer Gruppen 37 38 39 Bei Max Weber (1980, S. 19) findet sich (neben dem Glauben an die traditionale "Geltung des immer Gewesenen" oder an die Legalität zweckrationaler Satzungen) eine Unterscheidung zwischen zwei Glaubensarten, durch die eine Ordnung legitime Geltung beanspruchen kann. Während der wertrationale Glaube auf der Geltung eines (logisch) "als absolut gültig Erschlossenen" beruht, appelliert der affektuelle (insbesondere emotionale) Glaube (z.B. bei charismatischen Ordnungen) an die "Geltung des neu Offenbarten oder des Vorbildlichen" (!). Die Heiligung (sanctio) des Althergebrachten, die Verehrung alter Traditionen und die in den Weiten des Raumes gegen verunsichernde Neuerungen weitgehend geschützte Beharrlichkeit des US-amerikanischen Landlebens erklärt die große Attraktivität, die der Country- und Western-Kult in den mythischen Bildern und Analogien der Fernfahrer genießt. Belege für eine Naturalisierung historischer und sozialer Zusammenhänge lassen sich auch in den Berufs- und Arbeitsmythen der Fernfahrer finden, angefangen bei der Überbetonung spezifisch männlicher Attribute und Eigenschaften (Transformation "biologischer" Merkmale in soziale Unterscheidungen) bis hin zu Erzählungen, in denen die Transportarbeit als ein naturhaftes Verhängnis erscheint und die Fernfahrer zu tragischen Helden werden, die unverschuldet in ein unabwendbares Schicksal verstrickt sind ("Als Diesel geboren", "Fernfahren im Blut haben" etc.) - die aber auch Manns genug sind, sich diesen Herausforderungen zu stellen. 287 dienen Mythen dazu, "gewisse Widersprüche zu verdecken", d.h. bestehende Ambivalenzen zu entspannen, die der "sozialen Schließung nach außen" (im Sinne von Max Weber) im Wege stehen. Die willkürliche Setzung sozialer Brüche und Trennungen in einem Kontinuum gradueller Unterschiede erfolgt im Mythos durch die Hervorhebung eigener "heiliger" Eigenschaften und Merkmalen gegenüber den profanen der Kontrahenten. Mythologien unterstützten die Rechtfertigung von Unterscheidungen, in denen sich eine "auserwählte" Gruppe von Menschen mit besonderen, "heiligen" Qualitäten von der Sphäre des Profanen abzusondern versuchen. Ähnliches hatte Malinowski wohl im Sinn, wenn er von der "soziologischen Funktion" des Mythos spricht, "eine Gruppe zu glorifizieren oder einen ungewöhnlichen Zustand zu rechtfertigen" (1973, S. 107). Da sich der Mythos "an jede Form sozialer Macht oder sozialen Anspruchs" zu heften vermag, eignet sich die Mythologie durch die Beglaubigung außergewöhnlicher Qualitäten, Privilegien oder Verpflichtungen als ein vorzügliches Medium der sozialen Klassifizierung. (2) Mythen erzählen Geschichten über etwas Verehrungswürdiges und Würdevolles, sie berichten über legendär gewordene Gestalten oder Begebenheiten, denen eine große Verehrung zuteil wird. Gerade diese elementare Spannung zwischen dem zu charismatischem Glanz befähigten Außeralltäglichen und dem profanen Alltagsleben scheint die besondere Anziehungskraft des Mythos auszumachen. Die binäre Klassifizierung aller "Gegenstände" und Eigenschaften der materiellen und geistigen Welt durch zwei entgegengesetzte Gattungen, die entweder das Heilige oder das Profane repräsentieren, hat Emile Durkheim als ein Kennzeichen religiösen Denkens charakterisiert (vgl. 1981, S. 62). Die große Nähe des Mythos zu religiösen Vorstellungen macht es außerordentlich schwierig, mythische von religiösen Glaubenssystemen präzise abzugrenzen. Nicht nur die Religion, wie Durkheim (ebd., S. 75) meinte, auch der Mythos ist als ein "solidarisches System von Überzeugungen und Praktiken" zu begreifen, die sich auf heilige40, d.h. abgesonderte und verbotene Dinge beziehen, obgleich die Institutionalisierung der "Kirche" als einer "moralischen Gemeinschaft" (Durkheim) und die Herausbildung theologischer Lehren der Religion wirksamere Mittel und Möglichkeiten zur Verfügung stellt, bestimmte Glaubensüberzeugungen auch normativ zu "erzwingen" (wenn man beispielsweise an die Inquisition oder die Verbindung von Staat und Kirche denkt). Die "moralische Gemeinschaft", die sich um eine Mythologie mit Mißbilligungssanktionen schart, ist (im moralischen bzw. normativen Sinne) sicher als weniger zwingend zu kennzeichnen, als man dies üblicherweise von Gläubigen annehmen darf, die einer Kirche angehören.41 40 41 288 Allerdings soll hier für eine sehr weit gefaßte Definition des Heiligen plädiert werden, mit der die Grenzen der religiösen Weltanschauung bereits überschritten werden. Im Gegensatz zum Profanen bezieht sich das Sakrale auf eine außeralltägliche Qualität, die Personen oder Gegenständen - gewissermaßen "von Natur aus" - zugeschrieben wird (vgl. "Charisma" bei Max Weber). Derart säkularisiert, läßt sich das Heilige sinngemäß als etwas beschreiben, das dem Begriff der Würde oder Ehre sehr nahe kommt. Dies entspricht einem modernen Verständnis des Profanen, neben der "Entweihung" auch die "Entwürdigung" einschließt. Irritierend ist auch der etwas kognitivistische Drive bei Durkheim, religiöse Phänomene neben ihren praktischen bzw. rituellen Komponenten nur mit Blick auf Glaubensüberzeugungen zu betrachten, d.h. bezogen auf "Meinungen" und mentale "Vorstellungen" (vgl. ebd., S. 61), nicht aber auf gefühlsmäßige Glaubenshaltungen. Die Betonung des Gegensatzes zwischen dem Heiligen und dem Profanen hilft, soziale Spannungen und Widersprüche symbolisch übertragen auszudrücken und damit auch zu verdecken. Wie Malinowski zeigt, entstehen Mythen häufig ad hoc, "um eine Gruppe zu glorifizieren oder einen ungewöhnlichen Zustand zu rechtfertigen" (1973, S. 107), d.h. dort, wo es um besondere, außeralltägliche Zusammenhänge geht. Die Mythenbildung unterstützt damit eine soziale Klassifizierung, durch die graduelle Unterschiede willkürlich zu strengen polaren Unterscheidungen zwischen dem Heiligen und Profanen, dem Ehrenvollen und Unwürdigen, dem Hohen und Niedrigen umgebildet werden. Der Mythos tritt vor allem dort in Funktion, "wo eine soziale Spannung besteht, sowie bei großen Unterschieden in Rang und Macht, bei Vorrang und Unterordnung, und fraglos dort, wo tiefgreifende historische Veränderungen stattgefunden haben" (Malinowski 1973, S. 107). "Der Mythos als Darstellung uralter Realität, die heutzutage noch lebendig ist, und auch als Rechtfertigung durch Präzedenzfälle, liefert retrospektiv ein Vorbild moralischer Werte, sozialer Ordnung sowie magischen Glaubens. (...) Die Funktion des Mythos ist, kurz gesagt, die Tradition zu stärken und sie mit größerem Wert und Prestige auszustatten, indem er sie auf eine höhere, bessere, übernatürliche Wirklichkeit ursprünglicher Ereignisse zurückführt" (Malinowski 1973, S. 128).42 Mythische Weltbilder dienen oft dazu, bedeutsame Unterschiede zwischen natürlichen und gesellschaftlichen Begebenheiten auszugleichen, indem sie schwierige Themen wie Inzest, Sexualität, Leben und Tod (oder den Ursprung sozialer Gebilde) "erklären"; sie "vermitteln existenzielle Widersprüche im Denken" (Giddens 1988, S. 249 im Anschluß an Lévi-Strauss). Damit scheinen Mythologien besonders geeignet, den symbolischen Umgang mit den grundlegenden Ambivalenzen der Transportarbeit, die zugleich als eine bedrückende Last und als eine befriedigende Lust erscheint und dabei gleichermaßen Keime der Selbstbestimmung wie der Kontrolle enthält, zu erleichtern. Als eine subjektiv erfahrbare "Grenzsituation", aber auch als schleichende chronische Krise, machen Arbeitsbelastungen grundsätzlich eine Sinngebung des Leidens erforderlich, mit der den riskanten Leistungen und Lasten ein legitimer Sinn verliehen wird (vgl. die Rolle der "Theodizee" bei Weber oder der "Soziodizee" bei Bourdieu). In der Fernfahrermythologie wird einerseits die Wirklichkeit und Richtigkeit hoher Arbeitsleistungen bestätigt, andererseits wird der Legitimationsbedarf belastender Arbeitsbedingungen und der Aufwertungsbedarf erfüllt, der aus riskanten Verberuflichungsformen und dem prekären Hilfsarbeiterstatus resultiert. Die beruflichen Mythologien der Fernfahrer erzeugen somit eine geschützte subkulturelle "Ordnung" ihrer Lebens- und Arbeitswelt, die auf die Aufwertung des Sozialprestiges der Fernfahrer zielt, indem die Überbewertung der eigenen Merkmale auf der Abwertung der Eigenschaften industrieller Arbeitstätigkeiten aufbaut. Die persönliche Identität und die soziale Ordnung der Trucker wird mittels Mythen gegen jeden Zweifel geschützt, wobei sich die Glaubwürdigkeit mythischer Heldensagen aus einer übernatürlichen, zugleich aber auch naturalisierenden Ordnung herleitet. Der Glaube an die Erzählungen, Legenden und Sagen beruflicher Mythologien ist somit eng mit der symbolischen Repräsentation der den Mythos tragenden 42 Der Begriff "übernatürliche Wirklichkeit" ist etwas unglücklich gewählt (gemeint ist wohl eine "übersinnliche" Wirklichkeit), da sich die Aufwertung und Stärkung der Tradition nicht nur durch Magie vollziehen kann, sondern auch durch Naturalisierung sozialer Phänomene erreichen läßt, wie sich bei der Entstehung moderner sozialer Gruppen zeigt. 289 Kollektive verbunden. Hier dienen Ursprungsmythen beispielsweise zur Beglaubigung der legitimen Existenz einer sozialen Gemeinschaft, indem sie über den Ursprung einer sozialen Gruppe berichten und die besondere Qualität dieser Gruppe und ihrer Angehörigen begründen, d.h. den kollektiven Glauben an die Entstehung und Existenz der Berufsgruppe fördern.43 Die quasi "natürliche" Verwandtschaft, welche die Angehörigen einer sozialen Gemeinschaft durch ihre gemeinsame Herkunft miteinander verbindet, scheint über jeden Verdacht des falschen Spiels erhaben, sobald es gelingt, den Glauben an die spezifische Magie dieser Gruppe immer wieder zu erneuern. Wenn Fernfahrermythen eine magische, transzendentale Wirklichkeit "entwerfen", die der Stützung und Legitimation der symbolischen Sinnwelt ihrer Berufsgruppe dient, so enthalten diese Mythen dennoch keine im strengen Sinne klar umrissenen Wirklichkeitsentwürfe, sondern sind eher Vorstellungen ohne Konzept und Plan. Soweit ein Mythos den Ursprung oder die Geschichte einer sozialen Gruppierung "offiziell" zu deuten oder zu "erklären" versucht, wird dabei eher an die Gültigkeit des Glaubens als an die Geltung eines Wahrheitsanspruches appelliert. In der Mythologie der Fernfahrer äußert sich keine ideologisch begründete Weltanschauung oder theoretische Beziehung, sondern ein zutiefst praktisches, vor allem gefühlsmäßiges Verhältnis zu den Dingen der Welt. "Offizielle Vorstellungen, zu denen außer Regeln des Gewohnheitsrechts auch Sinnsprüche, Merksätze oder Sprichwörter als Formen der Objektivierung der Wahrnehmungs- und Handlungsschemata in Worten, Dingen oder Praktiken (...) gerechnet werden müssen, stehen in einem dialektischen Verhältnis zu den Dispositioinen, die sich in ihnen ausdrücken und die sie mit hervorbringen und verstärken. Habitusformen anerkennen spontan Ausdrucksformen, in denen sie sich wiederfinden, weil sie sie spontan hervorbringen (...). Das Eigentümliche offizieller Vorstellungen liegt darin, daß sie die Grundlagen eines praktischen Verhältnisses zur Natur- und Sozialwelt in Worten, Gegenständen, Praktiken und vor allem in kollektiven und öffentlichen Manifestationen wie Großritualen, feierlichen Abordnungen und Prozessionen (...) schaffen, deren verweltlichte Form unsere Umzüge, Versammlungen, Demonstrationen sind, wo sich die Gruppe in ihrem Umfang und ihrer Struktur zur Schau stellt. Diese rituellen Demonstrationen sind gleichfalls Vorstellungen - im Sinne des Theaters -, Schauspiele, die die gesamte Gruppe ins Spiel bringen und in Szene setzen, indem sie zum Publikum einer augenfälligen Vorstellung dessen gemacht wird, was nicht etwa, wie gern behauptet, eine Vorstellung der Natur- und Sozialwelt, eine 'Weltanschauung' ist, sondern ein praktisches und stillschweigendes Verhältnis zu den Dingen der Welt" (Bourdieu 1987, S. 198f.). 43 290 Bei "Erzählungen" über den Ursprung wird meist die Form mündlicher Überlieferungen überbetont. Weil historisches Beweismaterial (in Form von schriftlichen oder künstlerischen "Werken" sowie anderen "gegenständlichen" Artefakten) fehlt, kann die urzeitliche Vor-Geschichte nur noch geglaubt werden. In der heute üblichen Verwendung ist eine "Sage" (das "Gesagte" oder das "Gerücht") eine Erzählung "über Begebenheiten, die geschichtlich nicht beglaubigt sind" (Duden "Etymologie" 1989, S. 607), d.h. die der offiziellen und legitimen Bestätigung geschichtswissenschaftlicher Zeugenschaft entbehrt. Besonders Marxisten haben die emotionalen und affektiven Formen kollektiver Selbsttäuschung unterschätzt, wenn sie die mythische Selbstverleugnung sozialer Gruppierungen zum kognitiven oder theoretischen Defizit eines "falschen Bewußtseins" erklärt haben. Das Wahrheitskriterium allein scheint wenig geeignet zu sein, den grundlegenden Charakter dieser gutgläubigen Verkennung zu erschließen, die sich im Akt stillschweigender Anerkennung des Geltenden äußert. Dem Spielverderber mögen die Schauspiele der Trucker als eine kollektive Selbstlüge erscheinen. Den Vorgang per se als eine bloße Falschheit zu unterstellen, behindert aber die Frage, warum sich Fernfahrer im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte immer wieder zu einer raffinierten Komplizenschaft hinreißen lassen, deren Risiken sie selbst zu tragen haben. Die Bedingungen der Möglichkeit dieses "legitimen Betrugs" (Bourdieu) sind erklärungsbedürftig, d.h. wie es dazu kommen kann, daß "einer [...] sich selber in gutem Glauben für jemanden anderen hält, als er wirklich ist" (Bourdieu 1986, S. 191). Es scheint so, als ob die kollektive "Beschönigungsarbeit" (Bourdieu) und symbolische Leugnung des Arbeitsverhältnisses als Herrschaftsbeziehung jener "Preis" ist, den die Fernfahrer für die öffentliche Anerkennung ihrer "offiziellen" Wahrheit zu zahlen haben, d.h. den die gesellschaftliche Offizialisierung ihrer Berufsgruppe kostet. "Die Offizialisierung ist der Prozeß, durch welchen die Gruppe (oder ihre Herrschenden) sich ihre eigene Wahrheit beibringt und verschleiert, indem sie sich im öffentlichen Bekenntnis zusammenfindet, mit dem ihre Aussage legitimiert und durchgesetzt wird, wobei sie stillschweigend die Grenzen zwischen dem Denkbaren und dem Undenkbaren definiert und so zur Erhaltung der Gesellschaftsordnung beiträgt, aus der sie ihre Macht ableitet" (Bourdieu 1987, S. 199). Die abgrenzenden Klassifikationen und Trennungen, mittels derer die berufliche Gruppierung der Fernfahrer erst ihre spezifische Gestalt erhält, realisieren sich über allgemein gebilligte "Vorstellungen", "in denen sich die Gruppe wiedererkennen will".44 Aufgrund seiner "gefühlsmäßig-unreflektierten Verankerung" (Hartfiel/Hillmann) ist der Mythos aber weitgehend immun gegenüber kritischen Kommentaren und belehrenden Hinweisen über die eigentlich ganz anders gearteten wirklichen Zusammenhänge und tatsächlichen Fakten. Anders als der ideologische Wahrheitsanspruch ist die mythische Offenbarung gegen wissenschaftlich begründbare Zweifel weitgehend immun, da ihre Wirklichkeitsbilder im szientistischen Sinne weder "beweispflichtig" sind noch einer logischen Konsistenz oder inneren Kohärenz bedürfen. Die Widersinnigkeit und Zwiespältigkeit des Mythos für Außenstehende, 44 Vgl. Bourdieu (1987, S. 199f.): die "autorisierten Sprecher", die erwählt sind, "im Namen der Gruppe über die Gruppe zu sprechen", "tragen einen Diskurs vor, der mit der Anschauung übereinstimmt, die die Gruppe von sich verbreiten und selber haben will, wobei die Betonung (vor allem in Gegenwart eines Fremden) mehr auf Werte (z.B. die Werte der Ehre) als auf Interessen, mehr auf Regeln als auf Strategien gelegt wird". 291 die sich nur dem Distanzierten und Uneingeweihten zeigt, der nicht an das Unglaubliche zu glauben bereit ist, der geradezu paradoxe Gehalt mythischer Aussagen, die für den wachen Verstand Wahres mit Falschem, Wirkliches mit Eingebildetem in absurder Weise vermischen, ermöglicht es den Gläubigen, sich im gleichen Atemzug von den extremen Übertreibungen ihrer Mythologie abzugrenzen, ohne den sachlichen Kern ihrer Erzählungen in Frage stellen zu müssen. Die "illusio" (Bourdieu), das zur Selbsttäuschung geeignete Wunschbild, das der Mythos den Gläubigen vermittelt und von ihnen verlangt, erlaubt es ihnen, das Mythische in der Befragung mittels theoretischer Selbstreflexion ins Reich der "Vorstellung", des (Schau)Spiels, des Scherzes oder Spottes zu verweisen.45 Als eine relativ unreflektierte Form der Wirklichkeitsauffassung lösen die Fernfahrermythen gleichsam die Widersprüchlichkeiten ihrer eigenen Glaubwürdigkeit. Bei reflexiver Betrachtung stellt sich der Mythos als ein unglaubliches Märchen heraus, als eine unangemessene, fiktive Beschreibung der Realität von Fernfahrern. Dennoch vermag die theoretische Distanz zu seiner spezifischen Unwirklichkeit, "Falschheit" oder "Unwahrhaftigkeit" nur wenig auszurichten gegen den praktischen Glauben an ihn, der sich in zahllosen ästhetischen Accessoires und Stilisierungen, in maskulin gefärbten Gesten und Alltagspraktiken, in festtäglichen Zeremonien und Ritualen, in persönlichen Anekdoten und überlieferten Episoden, in Witzen und Vorstellungen ausdrückt, durch die der "wirkliche" Fernfahreralltag romantisiert und ästhetisch verborgen wird. Die spezifische Zwiespältigkeit mythischer Aussagen ist nur für einen distanzierten Beobachter erfahrbar, der den Wahrheitsgehalt der Mythologie mit den Rationalitätsmaßstäben einer "theoretischen Logik" mißt, mit der die Explizierbarkeit und logische Konsistenz zu unverzichtbaren Kriterien von Vernunft und Sinn erhoben werden. Die Zwiespältigkeit und scheinbare Absurdität der Fernfahrermythologien ergibt nur dann einen sozialen und persönlichen Sinn, wenn man den Mythos und den damit verbundenen Ritus aus dem Blickwinkel einer "Logik der Praxis" (Bourdieu) untersucht. Die Mythen und Riten des Fernfahreralltags sind nicht zu dem Zweck erzeugt worden, entzifferbares Material für die wissenschaftlichen Erkenntnisgewinnung zu liefern. Werden die Alltagsmythen lediglich als "Aussagen" oder wie eine "Metasprache" behandelt (z.B. bei Barthes 1970), birgt dies die Gefahr, den Mythos von den praktischen Handlungen und der rituellen Praxis zu trennen, in deren Kontext die mythischen Vorstellungen und Aussagen erst ihren persönlichen Sinn und ihre soziale Bedeutung erhalten. Die nur auf Sprache fixierte Analyse mythischer Botschaften droht, die mythische Praxis kurzerhand in einen lógos zu verwandeln. Reduziert auf seinen sprachlichen und mental-rationalen Charakter wird der Mythos dann zu einer Elementarform vernünftigen Denkens, verliert dadurch aber im Zuge seiner wissenschaftlichen Objektivierung zugleich seinen Charakter als ein praktisches Verhältnis zur natürlichen und sozialen Welt. "Wenn Praktiken und rituelle Vorstellungen praktisch schlüssig sind, so deswegen, weil sie vom kombinatorischen Ineinandergreifen einer kleinen Zahl von Erzeugungsschemata hervorgebracht werden, die durch Beziehungen praktischer Substituierbarkeit miteinander zusammenhängen, d.h. Ergebnisse erbringen können, die von den 'logischen' Erfordernissen der Praxis her gleichwertig sind. Daß diese Systematik verschwommen und näherungsweise 45 292 Dies betrifft auch die mythologiekritischen Aussagen von Fernfahrern, die, sobald sie über die Fernfahrermythologie befragt werden, über den Realitätsgehalt des Truckerkultes nachdenken, und sich selbst samt ihrer berufliche Folklore zum beobachteten Objekt einer alltagstheoretischen Reflexion machen. Dies hindert sie allerdings nicht daran, sich bei passender Gelegenheit als Trucker zu fühlen oder an Truckerspielen zu beteiligen. bleibt, liegt daran, daß diese Schemata nur deswegen zu ihrer fast universalen Anwendung gelangen, weil sie im Zustand des Praktischen fungieren, d.h. jenseits der Erklärung und folglich außerhalb jeder logischen Kontrolle und unter Bezug auf praktische Zwecke, die ihnen eine andere Notwendigkeit auferlegen und verleihen können als die der Logik" (Bourdieu 1987, S. 172). Auch für Malinowski (1973, S. 83) ist der Mythos nicht nur eine "erzählte Geschichte", sondern eine lebendige oder "gelebte Wirklichkeit". Irreführend wäre danach ein Verständnis des Mythos, das ihn als eine bloße mentale Vorstellung oder emotionale Empfindung, als reine Erzählung oder Sage von der entsprechenden (rituellen) Handlungspraxis isoliert. Den Mythos so zu deuten, als handele es sich dabei bloß um ein "Interpretationsverfahren", um eine mehr oder weniger kontemplative Auslegung der Realität oder um ein naives, alltagstheoretisches Wirklichkeitsmodell, übersieht, daß dadurch eine intellektuelle Illusion über die menschliche Handlungspraxis produziert wird, die wie selbstverständlich unterstellt, das die Einwirkungskraft mythischer Handlungen auf die Natur- und Sozialwelt unbedingt über eine theoretische Interpretation der Wirklichkeit erfolgen muß (vgl. Bourdieu 1987, S. 67): aber "schon durch die bloße Aufzeichnung wird der Mythos oder Ritus zum Objekt der Analyse erhoben, indem er von seinen konkreten Bezugspunkten (...), von den Situationen, in denen er fungiert, und von den Personen abgelöst wird, also von alledem, was ihm unter Bezug auf praktische Funktionen (z.B. auf die Funktion der Legitimierung von Hierarchien oder Macht- und Besitzverteilungen) seine Funktion gibt." Mit seiner Zerstörung der mythischen Praxis verliert der naive aufklärerische Impetus die subtilen Formen symbolischer Herrschaft aus den Augen, die der Mythos durch die Naturalisierung des Sozialen und Historischen und durch die Sanktionierung gesellschaftlicher Unterschiede produziert. Auch wenn sich mythische und ideologische Weltbilder in ihrer Arbeitsweise und ihrem Geltungsanspruch voneinander unterscheiden, so wirken sie doch komplementär, was die Unterstützung symbolischer Herrschaftsformen betrifft.46 Der Herrschaftscharakter des Mythos beruht ja im wesentlichen auf der Naturalisierung von sozial konstruierten und historisch tradierten Ereignissen und auf der transzendentalen Legitimierung ("Sanktionierung") sozialer Ungleichheiten, 46 Die Repräsentation der Fernfahrer trägt sowohl mythische als auch ideologische Züge. Die soziale Gruppenbildung darf jedoch nicht nur an ideologische Repräsentationsformen gebunden werden, weil dies eine unzulässige Einengung auf jene Gruppierungsprozesse wäre, die bereits ein vergleichsweise hohes Maß an politischer Gruppen(sub)kultur voraussetzen. Die "Fähigkeit" einer sozialen Gruppe, Ideologien zu produzieren, würde damit unter der Hand als ein Kriterium der Gruppenbildung schlechthin eingeführt, wodurch alle sozialen Gruppierungen ohne spezifische Gruppenideologie aus der Definition sozialer Gruppen herausfielen. 293 Privilegien und Benachteiligungen.47 Der Truckermythos stattet die willkürlichen Trennungen und Entsolidarisierungstendenzen der Fernfahrer gegenüber der industriellen Arbeiterschaft mit einer Glaubwürdigkeit aus, die den subkulturellen Abgrenzungen das nötige emotionale Gewicht verleiht. Die Bewältigung vor allem umweltbedingter Widrigkeiten und psychophysischer Ermüdungserscheinungen ist wohl in erster Linie als eine permanente Herausforderung zu begreifen, die über "rationale", praktisch-technische Eingriffschancen hinaus eine ergänzende Entfaltung außergewöhnlicher, schier übersinnlicher Kräfte zu erfordern scheint und zuweilen noch durch religiös motivierte Glaubenshaltungen flankiert wird. Solche magischen Künste, mit denen die widerspenstige Natur und ihre Kräfte aus eigener (über)menschlicher Kraft beeinflußt wird, bilden die thematische Grundlage zahlreicher Erzählungen über außergewöhnliche (Fahr)Leistungen und die Bewältigung unfallträchtiger Situationen, ebenso wie das Verhältnis zum Lastkraftwagen von vielen Fernfahrern als eine magische Zweierbeziehung (Freundschaft oder Kameradschaft) beschrieben wird, der ein "außerrationaler Kausalitätszusammenhang" (Hartfiel/Hillmann) zugrunde zu liegen scheint.48 Viele Fahrer haben eine Art Weiheverhältnis zu "ihrem" Lastkraftwagen, eine Mischung aus Achtung und Furcht. Das sakrale Verhältnis zum LKW, das ihn einmal als einen Freund, ein anderes Mal als einen kräftezehrenden Feind erscheinen läßt, dem sich der Fahrer von Mann zu Mann zu stellen hat, um Pflege und Aufmerksamkeit gegen die Zuverlässigkeit der Technik zu tauschen, verdeckt die Erkenntnis, das es sich dabei um ein profanes Arbeitsmittel handelt (zur Verdinglichung des LKW vgl. Abb. 23). "Ein Trucker", sagt Sigi Reil, "ist einer der fahren muß". Oder, positiv gewendet: "Du fährst, und du bist glücklich" (zitiert nach Rainer Weber 1986, S. 236). "So ähnlich sagen das alle. Wer frühmorgens den Dreißig-Tonnen-Diesel aus dem Speditionshof oder dem Werksgelände bugsiert, der läßt alle Langeweile hinter sich, allen Papierkram, die Windeln vom Kleinen und das pompöse Geschwätz der Halbleiter im Betrieb. Reil: 'Wenn ich vom Hof fahre, dann bin ich der Größte.' Deshalb, und nicht ausschließlich wegen des Nettoverdienstes (mit allen Spesen und bei, allerdings seltenen, Spitzenprämien) von dreioder viertausend Mark, schrubben manche Vier- oder Sechs-Wochen-Touren oder dreimal die Woche Terminfracht nach Spanien und zurück. Trucker leben in der teuflischen Zwickmühle, daß in ihrem oft elenden Job die vorgestanzten Mythen von Freiheit und Abenteuer, von der long open road, der Einsamkeit des Langstreckenfahrers und der süßen Sehnsucht nach Zuhause zwischendurch doch immer mal wieder zum Leben erwachen. Das macht abhängig wie von einer Droge (...)" (R. Weber 1986, S. 236). 47 48 294 Auch für Malinowski kann sich der Mythos nicht nur an die Magie heften, sondern an jede Form sozialer Macht oder sozialen Anspruchs: "Durch ihn werden immer außergewöhnliche Privilegien oder Pflichten erklärt, große soziale Ungleichheiten, schwere Belastungen des - sehr hohen oder sehr niederen - Standes" (1973, S. 68). Hierunter fallen auch die "Fernfahrerkapellen", die auch ein beliebter Ort "standesgemäßer" Fernfahrer- und Trucker-Hochzeiten sind, die mobilen "Seelsorger", die den Fernfahrern auf Raststätten, an Landesgrenzen oder großen Verladestellen begegnen, die glücksbringenden religiösen Figuren wie der "Heilige Christophorus", der Fernfahrern als Schutzpatron dient, sowie Trucker-Lieder, die religiöse Themen aufgreifen. Auch "niedere Formen des Spiritismus" sind unter den Fahrern verbreitet, wie der Dokumentarfilm "Als Diesel geboren" (Przygodda 1978) über das Leben brasilianischer Fernfahrer zeigt. "Es ist ein super Job! Man kommt 'rum, man lernt die Welt kennen, das ist eben ein ganz anderes Leben als hinter der Werkbank stehn, in der Fabrik oder sonstwas und ewig guckt Dir einer auf die Finger. Das, also das könnt' ich nicht vertragen, wenn der Chef ewig auf die Finger guckt: Das mußt Du so machen und das mußt Du so machen. Hier steig' ich morgens auf meine Kiste, dann fahr' ich los, bin 'ne ganze Woche weg. Komme nach 'ner Woche wieder, schmeiß meinem Chef dann die Papiere auf den Tisch und so: Hier, hat geklappt, Chef! Na, dann sagt er: Okay, ist in Ordnung! Und ich krieg dann, jede zweite Woche hab' ich meine Kohle auf der Bank, ne. Das läuft echt prima!" (Ein ungenannter Trucker, zitiert nach Prahl 1988). Die Herausbildung einer neuen beruflichen Subkultur unter den Fernfahrern vollzieht sich durch die Erzeugung spezifischer Abgrenzungen, mit denen sich die Trucker untereinander identifizieren als auch gegenüber anderen sozialen Gruppen - vor allem industriellen Arbeitskräften - hervorheben können. Eine ideologische und mythologische Voraussetzung für den gemeinsamen Glauben an die Existenz der Fernfahrer als einer, mit einer eigenständigen Subkultur und sozialen Identität ausgerüsteten Berufsgruppe, ist die Verkennung der vielfältigen Unterschiede, die die Fernfahrer eigentlich untereinander kennzeichnet und, bei genügend hoher Auflösungskraft der Betrachtung, auch voneinander trennt. Die Entstehung einer kohärenten Subkultur auf der Basis eines derart heterogenen Ensembles setzt somit einen Prozeß symbolischer Einigung voraus, in dem die Unterschiede untereinander heruntergespielt werden durch die symbolische Akzentuierung gemeinsamer Merkmale, durch die sich die Fernfahrer von anderen Berufsgruppen unterscheiden, ja welche die Fernfahrer von möglicherweise gleichartigen Arbeitertypen unüberbrückbar trennt. Diese Unterscheidungen tragen einen weithin ignorierten, subtilen Charakter sozialer Herrschaft. "Symbolische Macht ist eine, die Anerkennung voraussetzt, d.h. das Verkennen der über sie ausgeübten Gewalt" (Bourdieu 1986, S. 188; vgl. 1985): Symbolische Gewalt ist also eine "sanfte, unsichtbare, als solche verkannte, gleichermaßen erwählte wie erlittene Gewalt des Vertrauens, der Verpflichtung, der persönlichen Treue, der Gastfreundschaft, Gabe, Schuld, Dankbarkeit, Frömmigkeit, mit einem Wort, die Gewalt all der Tugenden, an die sich die Ehrenmoral hält, als die sparsamste, weil der Ökonomie des Systems angemessenste Herrschaftsweise" (Bourdieu 1987, S. 232). Anders als die Beherrschung durch explizite, "nackte" Formen der Machtausübung, die zwar ein Minimum an Bereitschaft voraussetzen, sich (mitunter zähneknirschend) der (an)erkannten Gewalt zu beugen, bleibt die symbolische Herrschaft als solche unerkannt. Die Beherrschten verkennen regelrecht, daß es sich hierbei überhaupt um eine (implizite) Herrschaftsform handelt, weil symbolische Herrschaft auf stillschweigender Anerkennung beruht, d.h. auf individueller Selbsttäuschung und kollektivem Selbstbetrug. Die besondere Pointe, die eine Konzeption symbolischer Gewalt liefert, liegt nun darin, daß die betroffenen Fernfahrer nicht mehr nur als Opfer allmächtiger, fremder Zwänge erscheinen, sondern ihre Komplizenschaft ins Zentrum der Aufmerksamkeit 295 gerät, mit der sie sich belasten lassen und sich selbst beanspruchen, indem sie einen unverzichtbaren Eigenbeitrag leisten, die Unbestimmtheitslücken ihrer enormen Arbeitsleistung selbst zu schließen. In der Praxis dürfte die "materielle" und die "symbolische" Form der Gewalt allerdings nebeneinander bestehen, wobei die sichtbare Gewalt nicht nur dort an ihre Grenzen stößt, wo sie eine kollektive Mißbilligung in Form von Gegenwehr oder Flucht provoziert (vgl. Bourdieu 1987, S. 231f), sondern vor allem auch dort erforderlich ist, wo es um die Sicherung kontinuierlicher Leistungsmotivationen unter der Bedingung schwer kontrollierbarer Arbeitsabläufe geht. Die Effekte subtiler Herrschaftsformen bleiben in solchen Zusammenhängen meist an die Wirksamkeit symbolischer Beschönigungen oder an die Verneinung unangenehmer "Wahrheiten" gebunden (vgl. ebd., besonders S. 203, 230 und 244). Wenn ein abhängig beschäftigter Fernfahrer sich beispielsweise als sein "eigener Herr" fühlt, sobald er mit "seinem" LKW das Speditionsgelände verlassen hat, dann ist dies ein Akt stillschweigender Anerkennung eines raffinierten Herrschaftsverhältnisses, das nur wirksam werden kann, weil die impliziten Herrschaftseffekte, die in dieser arglosen Definition der Arbeitssituation enthalten sind, verborgen sind und verkannt werden. Der weitgehend unbewußte Glaube an eine "Magie der Arbeit", der in einem gefährlichen Beruf wie dem der Fernfahrer sicherlich nur besonders dramatisch zum Ausdruck kommt, scheint in der Arbeitswelt weiter verbreitet zu sein, als dies in der Arbeits- und Berufssoziologie bislang für möglich gehalten wird. Wie volkskundliche Untersuchungen in den USA beispielsweise über das Alltagsleben großstädtischer Feuerwehrleute zeigen, sind berufsspezifische Erzählstoffe (mündlich überlieferte Geschichten, Scherze und persönliche Anekdoten) neben der Vermittlung von formalen und technischen Informationen das entscheidende Medium berufsbezogener Sozialisation und Gefahrenbewältigung (vgl. Toelken 1986, S. 223ff. im Anschluß an eine Studie von Robert McCarl 1980): Die durch sexuelle Metaphern und Wortspiele stark maskulin gefärbten Geschichten erfahrener Feuerwehrmänner vermitteln den Neulingen durch ihre lebendigen, emotional und praktisch nachvollziehbaren Beschreibungen, "wie jemand in Panik geriet, einen Fehler machte, unter Druck die richtige oder falsche Handlung beging", mehr über Sicherheitsvorkehrungen und vernünftige Verhaltensweisen bei der Brandbekämpfung als dies die üblichen technischen Lehrbücher zu tun vermögen. Neben der praktischen Funktion solcher beruflichen Mythologien bei der Vermittlung berufsspezifischer Erfahrungen und bei der Bewältigung von arbeitsbedingten Belastungen und Risiken, unterstützen die "Heldentaten" der Feuerwehrleute die soziale Auslese "geeigneter" Nachwuchskräfte. Beinahe jeder gefährliche Beruf in den Vereinigten Staaten kennt nach Ansicht von Barre Toelken Formen des "Streiches", "mit denen festgestellt wird, ob jemand die Gruppenanforderungen akzeptiert" (ebd., S. 225). Zahlreiche "Streiche unter guten Freunden", mit denen sich die Gruppenzugehörigkeit signalisieren läßt (und die sicherlich auch der Entschärfung von Konflikten und dem Abbau emotionaler Spannungen dienen) unterscheiden sich von den selektiv wirkenden "Streichen", mit denen Neulinge "mitleidslos" drangsaliert werden, "um ihre Geduld, ihren Humor und Respekt zu testen und um ihnen ihren geringeren Status im sozialen Umfeld deutlich vor Augen zu führen" ( ebd., S. 224). "Diejenigen, die diese Proben mit Geduld und Humor ertragen, werden gute und vertrauenswürdige Kameraden werden, Kollegen, die in gefährlichen Situationen und unter unglaublichem Druck sich darum sorgen, das Leben der anderen 296 zu schützen" (ebd.)., die anderen, die diese Behandlung nicht ertragen können, geben den Beruf nach einigen Monaten "beständiger Quälerei" auf. Die kollektive Verklärung bestimmter Seiten des ambivalenten Arbeitsalltags von Fernfahrern, die in der dramatischen Mythologie zum Ausdruck kommt, ist ein entscheidendes Bindeglied, um die arbeits- und berufsbedingten Risiken (zunächst nur) symbolisch zu verarbeiten. In den Berufsmythen des Fernfahreralltags werden LKW-Fahrer vorgestellt, die alles andere sind, als Fahrer eines Lastwagens. Selbst in offizialisierten Darstellungen, wie sie etwa Massenmedien vermitteln, erscheinen Fernfahrer als "Kapitäne der Landstraße", als "BrummiKapitäne", als "Asphalt Cowboys" oder gar als "Highway Helden". Das Arbeitsleben dieser LKW-Fahrer wird als eine Kette permanenter maskuliner Herausforderungen vorgestellt und ihre berufliche Tätigkeit symbolisiert eine Männerarbeit, die mit einem besonderen Geschmack für Freiheit und Abenteuer ausgestattet ist. Die öffentliche (Selbst)Wahrnehmung von Fernfahrern ist in hohem Maße von einer Mythologie geprägt, deren Authentizitätsanspruch unterstrichen wird durch eine Inszenierung ritueller Kulthandlungen und großangelegter Zeremonien, wie sich die Zelebrierung der Trucker-Feste aus religionssoziologischer Perspektive beschreiben ließe. Meine These ist, daß die beruflichen Alltagsmythen der Fernfahrer mehr bedeuten als eine, manchem geradezu als grotesk oder verrückt anmutende, ostentative Selbstdarstellung. Die Mythologien der Fernfahrer eignen sich dafür, die Entstehung ihrer beruflichen Gruppierung sowohl mental wie emotional mit Glaubwürdigkeit auszustatten und durch eine aufwertende Traditionsbildung symbolisch zu stärken. Meinem Eindruck nach geschieht dies erstens durch eine enge Verbindung der Fernfahrermythen mit dem entsprechenden Kult und der (rituellen) Handlungspraxis der Trucker, zweitens durch die Entstehung einer "Magie der Männlichkeit" in der Auseinandersetzung mit widrigen Arbeitsbedingungen und drittens, indem soziale "Klassifizierungen" (Bourdieu) und "Trennungen" (Willis) über die Absonderung des Heiligen vom Profanen, des Ehrenvollen vom Unwürdigen mythisch begründet werden. Bei aller Betonung der praktischen soziokulturellen Kraft des Mythos darf allerdings nicht übersehen werden, daß Mythologien selbstverständlich auch Erzählungen sind, die - gewissermaßen als ein illegitimes "Wissen" (Folklore) und als populäre Poesie des Volkes - die literarische Form der Auseinandersetzung mit der sozialen und natürlichen Welt bildet. Der literarische Aspekt des Mythos offenbart sich auch in den vielen hochdramatischen Geschichten und Liedern, die von dem harten Leben der Fernfahrer und ihrer maskulinen Arbeitsbewältigung erzählen. Die entscheidende Voraussetzung für die literarische Verarbeitung des Fernfahreralltags aber sind die einzigartigen Arbeits- und Lebensbedingungen, die sich in einer besonderen Weise für eine mythisierende Aufbereitung anbieten. Das maskuline Charisma des Truckers, das seine Arbeitstätig297 keit wie nichts anderes zu charakterisieren scheint, die unzähligen "Heldentaten", die seine arbeitsbedingte Auseinandersetzung mit der äußeren und inneren Natur als einen magischen Akt erscheinen lassen, sind wie darauf zugeschnitten, einen Geschmack für Freiheit und Abenteuer zu symbolisieren, der in den meisten industriellen Berufen grundlegend fehlt - oder dort mit der Zeit verloren gegangen ist. Inwieweit der nordamerikanische Truckermythos in diesem Zusammenhang die Entwicklung beruflicher Subkulturen unter den Lastwagenfahrern unterstützt, soll im folgenden am Beispiel der Entstehung und Veränderung der Fernfahrermythologien in den USA und in Deutschland skizziert werden. "In den Vorläufern der Road Pictures, den Western, bewegte sich das reisende Volk in Postkutschen und Planwagen-Trecks oder auf dem Rücken ausdauernder Pferde voran. 'Auf nach Westen' war die historische Losung Nordamerikas (...). Die Cowboys von heute sitzen auf Feuerstühlen oder hinter dem Armaturenbrett. Doch immer noch ist der Ausbruch aus der Abhängigkeit in die Freiheit ein amerikanischer Mythos. Der letzte Spielraum der durchorganisierten Gesellschaft: das silberne Band der Highways. Road Movies als Western des JetZeitalters transportieren die alten Mythen wie eine kostbare Fracht: Pioniermut, individuelle Stärke, Optimismus, Skepsis gegenüber dem Fortschritt - und Angst vor Frauen. Die Mythen geben Einblick ins Land und seine Helden" (Heinzlmeier et al. 1983, S. 148). In den Vereinigten Staaten läßt sich die "Erfindung" des Truckers relativ leicht zurückverfolgen (vgl. im folgenden James H. Thomas 1979, S. 1-11). Seit der Kolonisierung, die sich als eine gigantische Bevölkerungswanderung nach Westen darstellt, wird hier vor allem die Überwindung unwirtlicher Räume und die Bewegung von überlebensnotwendigen Gütern zu einer Heldentat hochstilisiert. "Go West" - "Zieh in den Westen, auch wenn es Deinen Tod bedeutet!" präsentiert sich als ein zentrales Leitmotiv des US-amerikanischen "Nationalcharakters" (Raeithel 1981), das auch heute noch soviel symbolische Kraft zu besitzen scheint, daß sich daraus sogar die gewaltige Werbekampagne einer gleichnamigen Zigarettenmarke speisen läßt.49 Nach der Zeit der Pioniere waren es vor allem die beiden Weltkriege, die zu einer allgemeinen Aufwertung der lebens- und kriegswichtigen Leistungen von LKW-Fahrern beigetragen haben. Die Entstehung des Trucker-Mythos, der mit den Lastkraftwagen und deren Fahrern verbunden wird, reicht in den USA bis in die Zeit nach Ende des ersten Weltkrieges zurück. Viele Kriegsveteranen versuchten, ihre im Umgang mit dem LKW erlernten Fähigkeiten nun auch im zivilen Bereich beruflich zu verwerten 49 298 Man vergleiche die ästhetischen Reize der Zigarettenwerbung der Marke "West" mit ihren gigantischen Trucks in der endlosen Weite amerikanischer Highways (Rot-Weiß als dominante Farbkombination der Zigarettenschachteln in Verbindung mit den in tiefem Braun gehaltenen Landschaften unter grenzenlos blauem Himmel) mit jener der Marke "Marlboro", die darauf abonniert ist, Cowboys und wilde Pferde in die gleiche Landschaft zu stellen - und man hat einen ästhetischen Beleg für die stilistische Verwandtschaft, die der berufskulturelle Mythos der LKW-Fahrer zwischen Cowboys und Truckern herstellt. Abb. 35: "Go West. Von einem der auszog die Freiheit zu finden" "Westwärts" "Die Reise in den Westen war in alten Zeiten eines der größten Abenteuer. Nicht nur weil eine ungeheure Wasserwüste zwischen dem amerikanischen Kontinent und Europa liegt, sondern auch auf Grund tiefer mythischer und märchenhafter Zusammenhänge. Für viele Völker war der Westen das Land des Todes, denn dort versank täglich die lebensspendende Sonne. Europa orientierte sich über Jahrhunderte in Richtung Sonnenaufgang, nach Osten, nach dem Orient. (...) In den späteren Geschichten, in denen Trapper, Desperados und andere Einzelhelden im Westen auftauchen, verschwindet das Ideal der Fraueninsel und das, was gesucht wird, (...) ist die Männerfreundschaft. (...) Die Geschichte der männlichen Abenteurer, die in den Westen gingen und als Filmhelden zurückkehrten, werden wir im folgenden erzählen. Dabei lenken wir unseren Blick weniger auf die 'wirklichen Vorgänge', sondern mehr auf die Sehnsüchte, Wünsche und imaginären Bilder, die mit dem Zug nach dem Westen verbunden waren. Wir reden nicht von der Vernichtung der Indianer und Büffelherden, nicht von den Viehtrucks, die in die Schlachthäuser von Chicago getrieben wurden, nicht von den chinesischen Kulis die beim Bau der Eisenbahn bewußt in die Luft gesprengt wurden, nicht von der ersten gezündeten Atombombe in Los Alamos und auch nicht von den lichten Freuden des kalifornischen Life-styles. Wir reden von einer Figur, die wie eine Eins durch die Bewegtheit der amerikanischen Geschichte geht und weder Gott sucht noch die Frau. Mit vier starken Bildern ist diese Figur verbunden: Einsamkeit, Wildnis, Freiheit und Freundschaft. (...) Unter dem Druck der aufkommenden Industrialisierung und Großfarmen sondern sich immer wieder einsame Individuen ab, gehen in die Wildnis und leben dort als Trapper, Jäger oder einfach als outlaws. (...) Cowboys, Tramps, Desperados laufen westwärts auf der Suche nach...? Gold, Reichtum - die Träume der großen spirituellen Westreisen sind versiegt. Doch der einsame Held, der bereit ist, seine Individualität gegenüber der ganzen Gesellschaft, wenn es sein muß gegen Gesetz und Ordnung aufrechtzuerhalten, wird zum stärksten und größten amerikanischen Mythos" (Auszug aus dem Vorwort von Herbert Röttgen: Westwärts. In: "Go West. Von einem der auszog die Freiheit zu finden." Reihe "Das Märchen lebt", Edition Braus, Heidelberg o.J., S. 6-11). und folgten den Verlockungen von Unabhängigkeit und unbegrenzten Möglichkeiten, die sich bei der Expansion des Güterverkehrsmarktes offenbar für junge, hart arbeitende "Unternehmer" ergab, die bereit waren, ihr Leben auf der Straße zu verbringen. James H. Thomas beschreibt die Merkmale der selbständigen Fernfahrer, an die der Trucker-Mythos von Freiheit, Abenteuer und männlicher Stärke stilisierend anknüpfen konnte (1979, S. 3): "The myths presently held about trucks and truckers evolved from the practices of independent truckers in the period following the end of World War I. At that time truckers had the image of beeing totally free. The actual driving of a truck required few skills beyond those of the average motorist, but in those days the trucker needed physical strength to change tires and mechanical knowledge to make repairs. Theirs was a demanding, semi-nomadic experience which set them apart." Eine wichtige Stütze des Mythos ist die deutliche Abgrenzung der LKW-Fahrer von den "normalen", zum Teil touristisch reisenden PKW-Fahrern, besonders an 299 Abb. 36: Ökonomische Anspielungen auf den Freiheits- und Mobilitätsmythos (aus einer Anzeigenkampagne der Volksbanken Raiffeisenbanken) jenen Orten, an denen die Fernfahrer sich zur Rast und sozialen Kontaktpflege zusammenfinden. Diese Klassifizierung läßt sich bis in die stilistischen Details 300 des Outfits hinein nachvollziehen: "His unpressed clothes, uncombed hair, and perhaps the tattoo on his forearm set him [the driver of the large truck, M.F.] apart from the tourist" (Thomas 1979, S. 5). Die Distanzierung zu den nicht berufsmäßig Fahrenden ist heutzutage sicherlich nicht mehr so drastisch stilisiert, wie dies früher einmal der Fall war, als die Berufskraftfahrer erst im Begriff waren, sich als eine eigenständige Berufsgruppe gegen die autofahrenden Jedermänner herauszubilden. Dennoch finden sich auch heute noch zahlreiche Accessoires, die den Fernfahrer in Raststätte und Truck-Stop weithin sichtbar aus dem Kreis der übrigen Fahrer heraushebt (vgl. z.B. den sarkastischen Titel der Fernfahrerstudie von Plänitz "Das bißchen Fahren...", wo die Gefahren des Fahrens auf dem Titelbild mit der Fotografie eines LKW-Unfalls dramatisch präsentiert werden, bei dem vermutlich der Fahrer im Sarg liegend weggetragen wird). Im Zentrum der US-amerikanischen Trucker-Kultur stehen jene hervorstechenden "Charakterzüge", die mit dem Süden oder Mittleren Westen der Vereinigten Staaten assoziiert werden und die eine Stilisierung des Fernfahrers zum "letzten amerikanischen Cowboy"50 geradezu herausfordern (Thomas 1979, S. 5): "The trucker, seemingly unaffected by the vast cultural differences encountered on his travels, possesses traits associated with the South or Midwest. His attitudes, dress, and speech patterns are a mixture of the two regions and may be attributed to the large percentage of truckers with rural backgrounds and an interest in country and western music. Truckers from the Northeast or Northwest who engage in long-haul soon lose their regional, cultural traits and come to resemble their counterparts who hail from Oklahoma or Mississippi. This rich mixture of Southern and Midwestern culture, often associated with the cowboy of the nineteenth century, compels writers to compare the modern trucker with the cowhand." Obwohl die zahlreichen Symbole, Mythen und Legenden, die sich um Cowboys und Trucker ranken, die fundamentalen Unterschiede verdecken, die einen direkten Vergleich eigentlich verbieten, scheinen die Vertreter beider Berufe dennoch von einigen gemeinsamen prägnanten Charakterzügen geprägt zu sein, die sich nicht nur vorzüglich zur Heroisierung eignen (wie Unabhängigkeit, Mobilität, Stärke, Mut und Männlichkeit), sondern zudem in einer Gesellschaft besonders hoch bewertet werden, in der die uneingeschränkte "Mobilität" seit jeher Glück und Wohlstand verheißen hat (vgl. Thomas 1979, S. 7). Diese heroischen Kennzeichen haben indessen einen gemeinsamen Symbolgehalt, der im wesentlichen auf einem Mythos der Männlichkeit51 beruht, den beide Berufe 50 51 So z.B. bei Jane Stern (Trucker: A Portrait of the Last American Cowboy, New York 1975). Die Südstaatenflagge, mit der viele Fahrer ihre Sympathien mit den "Rebellen" des Südens sichtbar zum Ausdruck bringen, ziert auch manches deutsche LKW-"Führerhaus". So selbstverständlich sich die mythische Maskulinität von Cowboys und Truckern auch präsentieren mag, sie bleibt stets an die fundamentale Voraussetzung gebunden, daß in beiden Berufen der Frauenanteil extrem niedrig bleibt. 301 auszustrahlen scheinen, und durch dessen integrative Kraft sich die verschiedenen subkulturellen Stilelemente wie zu einer einheitlichen Gestalt zusammenfügen: "Masculinity is the principal ingredient that unifies these heroic traits. Therefore woman connected to both occupations have played the role of ever-waiting spouses or girl friends, or employees at their cultural centers: the saloon at the end of the trail and the pro-am truckstop beside the interstate highway" (Thomas 1979, S. 8). Während die Cowboys jedoch zu den Helden eines neuen Genres avancierten, dem "Western", blieben die Trucker von Kunst und Massenmedien lange Zeit weitgehend unbemerkt, wenn man von einigen zweitklassigen "B-Pictures" einmal absieht.52 Dies ändert sich erst im Verlauf der siebziger Jahre, als man die Trucker als ein packendes Thema für Film, Fernsehen, Musik und Zeitschriften entdeckte (vgl. z.B. Thomas 1979, S. 9f.; Heinzlmeier et al. 1983, S. 148).53 Der maßgebliche Einschnitt im beruflichen Alltag der US-amerikanischen Fernfahrer erfolgt im Jahre 1973, als das Öl-Embargo der arabischen Staaten in den westlichen Industrieländern zu einer "Ölkrise" führt, die in den USA nicht nur den Preis für Benzin und Dieselkraftstoff in die Höhe schnellen läßt, sondern auch zu einer allgemeinen Herabsetzung der zulässigen Highway-Höchstgeschwindigkeit auf 55 Milen/h führt, eine Regelung, die der Kongreß Anfang Dezember 1973 gegen den massiven bundesweiten Protest der Fernfahrer beschließt (vgl. Thomas 1979, S. 139ff.). Da sich der Preis für Dieselkraftstoff von 27 Cents per Gallone auf 50 Cents fast verdoppelt hat und viele Trucker nach zurückgelegten Meilen bezahlt werden oder einen Anteil am Bruttogewinn der gefahrenen Touren erhalten, erwarteten die selbständigen Trucker von der Geschwindigkeitsbegrenzung einschneidende finanzielle Einbußen, eine "Herausforderung", der sie mit bundesweiten Streiks und Protesten begegneten. "Wilde" Streik- und Protestaktionen, von den Fernfahrern sehr eindrucksvoll mittels Konvois und Blockaden "dramaturgisch inszeniert", ziehen bekanntlich die öffentliche Aufmerksamkeit auf sich, wie in den letzten Jahren auch auf dem europäischen Kontinent an der holländischen und italienischen Grenze, vor allem aber am Beispiel des "Brenner"-Konfliktes und im 52 53 302 Vgl. Thomas (1979, S. 9) sowie Heinzlmeier, Menningen und Schulz (1983, S. 148). Dies betrifft vor allem an die beiden Spielfilme "California Straight Ahead" (1937) mit John Wayne, der mit seinem Sattelschlepper einen Trucker-Konvoi in einem Wettrennen gegen einen Güterzug anführt, und "They Drive by Night" (1940) von Raoul Walsh mit Humphrey Bogart in einer Nebenrolle. John Wayne verkörpert als Kultfigur des US-amerikanischen Kinos eine Interpenetration von Cowboy und Trucker, während Hans Albers im deutschen Film die Verschmelzung des Matrosen mit dem Fernfahrer zum "Kapitän der Landstraße" verkörpert hat (in "Nachts auf den Straßen"). Ein früher Film von Steven Spielberg, "Duel" (1972), eröffnete einen ganzen Reigen weiterer Filme wie z.B. "White Line Fever", "Trucker" (1978) mit Peter Fonda, "Smokey and the Bandit" mit Burt Reynolds und Sally Fields, "Citizens' Band", "Steel Cowboys" sowie den kulturell wohl bedeutendsten Film "Convoy" (1978) von Sam Peckinpah mit Kris Kristofferson in der Hauptrolle des legendären Outlaw "Rubber Duck" (vgl. Abb. 37 und 38). Auch in den achtziger Jahren wurde eine Unmenge von meist zweit- oder sogar drittklassigen Filmen über Trucks, Trucker oder die dunklen Machenschaften der Fernfahrergewerkschaft (z.B. "F.I.S.T." mit Sylvester Stallone) gedreht. Sommer 1992 in Frankreich beobachtet werden konnte.54 Das zunehmende Interesse der amerikanischen Massenmedien am Fernfahreralltag im Gefolge der Auseinandersetzungen von 1973 wird unterstützt durch die rapide Verbreitung von CB-Funk-Geräten (citizens' band radio) in LKW und PKW, was neben dem subkulturell wohl bedeutendsten Trucker-Film "Convoy" (1978; vgl. Abb. 37/38) und der Verbreitung der "Countryand-Western" bzw. der "Trucker"Musik ein nicht zu unterschätzendes Medium der Popularisierung der Trucker-Kultur in den USA und in Europa war.55 "By 1978 the trucker has come to symbolize an independent spirit. He reflects mobility, power, and antiestablishment values - with a slight tinge of illegal activities to add the spice needed to create an American hero. As with legendary figures of the past, however, the trucker's image is more myth than fact" (Thomas 1979, S. 11). Abb. 37: "Convoy" - Fernfahrer im Film "Convoy Peckinpah-Actionfilm von 1978: Fernfahrer machen alles platt" "Sheriff 'Dirty' Wallace ist der Schrecken aller Fernfahrer. Weil er einen von ihnen aus reiner Schikane verhaftet hat, organisieren die Trucker einen kilometerlangen Convoy, um ihren Kumpel aus dem Knast zu befreien. Doch der Sheriff schlägt massiv zurück. (...) Es spielen: Rubber Duck (Kris Kristofferson), Melissa (Ali MacGraw), Wallace (Ernest Borgnine), Pig Pen (Burt Young), Widow Woman (Madge Sinclair), Spider Mike (Franklyn Ajaye) u. a." (aus: Fernsehwoche Nr. 30 vom 27.7. - 2.8.1991). Auch wenn es fraglich scheint, ob die siebziger Jahre später einmal als das "Goldene Zeitalter der Trucker" 54 55 In Assoziation zu den Siedler-Tracks der Pionierzeit vermittelt der Film "Convoy" (1978) von Sam Peckingpah ein eindringliches Bild von der möglichen Eskalation von Gewalt und Spannungen zwischen den Erzrivalen der Highways, dem Trucker als modernem "Outlaw" und dem Patrolman als dem Vertreter des Gesetzes. Einen Eindruck von der Modewelle, die den CB-Funk nach dem Fernfahrer-Streik von 1973 erfaßt hat, vermitteln die Daten über die in den USA verkauften Geräte (Thomas 1979, S. 140): Während im Zeitraum von 1959 bis 1975 insgesamt nur etwa eine Millionen CB-Lizenzen vergeben wurden, waren es allein im Jahre 1976 ebensoviele und die Zahl der bis zum Frühjahr 1977 in Betrieb befindlichen Geräte wird auf etwa zehn Millionen geschätzt. Neben der Funktion als ein notwendiges Kommunikationsmittel unter den Kollegen, unterstreicht der CB-Funk die Präsenz der Fernfahrer über ihre (von allen CBFreaks mithörbaren) Konversationen und erfüllt zudem noch den sehr nützlichen Zweck des Informationsaustausches, vor allem was Notfälle, den Straßenzustand und den Standort von Radarfallen der Staatspolizei betrifft (vgl. z.B. die Bedeutung der citizens' band radios in den Filmen "Convoy" und "Citizens' Band"). 303 Abb. 38: "Convoy" - Die Visualisierung des Trucker-Kults Der Spielfilm "Convoy" (USA 1978; Regie: Sam Peckinpah, Hauptdarsteller: Kris Kristofferson) basiert auf einem Country-Song von C. W. McCall, der die amerikanischen Hitparaden stürmte (vgl. Thomas 1979, S. 9 und 11): Der Song erzählt die Geschichte einer Gruppe von Truckern, die sich zu einem Konvoi zusammenschließen und über CB-Funk verständigen, um sich vor den Radarfallen der Polizei zu schützen. Der Fahrer des ersten LKW ("front door" genannt) und der des letzten LKW der Eskorte ("back door") gibt jede gesichtete Radareinheit der Polizei oder Fahrzeuge der Highwaypatrouille sofort an seine Gefährten in der Mitte des Konvois bekannt, damit sie rechtzeitig ihre überhöhte Geschwindigkeit auf die gesetzlich erlaubten 55 Meilen/h verringern können. Der gleichnamige Film erzählt die Geschichte des legendären Truckers namens "Rubber Duck", der zusammen mit zwei weiteren Fernfahrern von einem Highway-Polizisten über CB-Funk in eine Radarfalle gelockt wird. Der Polizist kassiert ab, verfolgt die Fahrer bis zum nächsten truck stop, wo er sie dann solange provoziert, bis die "Gummi-Ente" ihre Beherrschung verliert (ganz entgegen dem Motto seines Totemtieres, oben ruhig zu bleiben, sich aber unter der Wasseroberfläche heftig zu bewegen). Eine wüste Schlägerei mit den anwesenden Polizisten beginnt und "Rubber Duck" sucht schließlich mit seinen Kollegen das Weite, um der Rache der besiegten Cops zu entgehen. Als der Polizist die Fernfahrer über die Landesgrenzen mit einem wachsenden Aufgebot an Staatsmacht verfolgt, schließen sich immer mehr Trucker, die das Geschehen über CB-Funk erfahren haben, dem Konvoi an. Nachdem einer der Fernfahrer, ein Schwarzer, den Konvoi verläßt, wird er in einer verschlafenen Kleinstadt im Süden verhaftet, mißhandelt und als Lockvogel benutzt, um den Anführer des Konvois, der mittlerweile durch die Gesprächsbereitschaft des Gouverneurs eine gewisse Immunität für sich und die Eskorte erreicht hat, doch noch dingfest zu machen. Der Film erreicht seinen Höhepunkt, als die fernfahrenden outlaws die besagte Kleinstadt mit ihren schweren Trucks spichwörtlich "überrollen", ihren Gefährten aus dem zu Schutt und Kleinholz gefahrenen Gefängnis befreien, und versuchen, über die Grenze nach Mexiko zu fliehen. Im show-down fährt "Rubber Duck" aber seinem Rivalen allein entgegen. Im Kugelhagel der Polizei explodiert der Tanklastwagen auf einer Brücke, kurz vor dem verheißenden Ziel, der mexikanischen Grenze. "Rubber Duck" kann dem Inferno jedoch unbemerkt im Fluß entkommen, um sich zum Happy End wieder mit seinen Freunden zu vereinen. (Thomas) in die kulturhistorischen Annale eingehen werden, hat die Popularisierung ihrer "Subkultur" in den Vereinigten Staaten dazu geführt, sie zu amerikanischen Helden zu mythologisieren, ein Vorgang, der von größter Bedeutung für die Herausbildung einer einheitsstiftenden Berufskultur der Fernfahrer ist. Historische Spuren für eine besondere Arbeits- und Berufskultur der Fernfahrer sind aber nicht nur in den Vereinigten Staaten zu finden, sondern lassen sich auch im europäischen Transportgewerbe weit zurückverfolgen. Der handwerksmäßige Charakter der Durchführung von Landtransporten hat (im Anschluß an Sombart) die Transportdienstleistungen in Deutschland offenbar stark geprägt. Es kann an dieser Stelle keine differenzierte Betrachtung der Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den historischen und berufsfolkloristischen Wurzeln der US-amerikanischen Trucker-Kultur und ihrem deutschen Pendant geleistet werden. Allerdings dürfte das bis in die siebziger Jahre hinein für deutsche LKWFahrer verbreitete Leitbild eines "Kapitäns der Landstraße" sich eher an den handwerksmäßigen Charakter des früher ebenfalls in Zünften organisierten Schiffergewerbes anlehnen, eine Vorstellung, an die das moderne amerikanische 304 Leitbild des Truckers offenbar mühelos anknüpfen konnte. Gemeinsame Bezugspunkte zwischen der ebenfalls mit harter Männerarbeit assoziierten Seemannsarbeit an Bord eines Schiffes und der Arbeitstätigkeit des modernen Fuhrmannes "an Bord" eines LKW sind die außergewöhnlich langen Arbeitszeiten (einschließlich der langen Abwesenheit von zu Hause) und die kategorische Ablehnung der gewöhnlichen, ortsfesten Fabrikarbeit (z.B. für einen Seemann dokumentiert in Sombart 1922, Bd. II.1, S. 286f.). Gegenüber der relativen "Unsicherheit" der Transportarbeit (vgl. Kapitel 2.3.2), die im frühkapitalistischen Deutschland noch von Bauern nebenberuflich geleistet wurde, mußte der hauptberufliche Fuhrmann neben der Veränderung des Ortes und der Sicherung seiner Arbeits- und Werkqualität zugleich auch ein symbolisches Produkt erzeugen (ähnlich dem eines Handwerkers), das die besondere Bedeutung seiner Transportarbeit hervorhebt. "Für das Handwerk ergibt sich aber: Wo sich Mühe nicht sichtbar macht, sich kein Selbstbewußtsein des besonderen Berufs anbringen läßt, ist es nicht handwerklich, bringt kein Brot. Es muß Berufsehre dabei sein, eine Zahlung, die Anerkennung und Markierung des Handwerks enthält, und eine zweite Bezahlung, die in Geld erfolgt" (Negt und Kluge 1981, S. 176). Im traditionell rückständigen Straßengüterverkehrsgewerbe beginnt erst mit der Erfindung des benzin- bzw. dieselbetriebenen Automobils gegen Ende des 19. Jahrhunderts eine neue Ära der Anpassung an industrielle Anforderungen. Zwar wurde 1896 bei Carl Benz der erste serienmäßige Lastkraftwagen gebaut, das Pferdefuhrwerk blieb aber in Deutschland noch bis zum Ersten Weltkrieg dominant und wurde im Güternahverkehr sogar noch bis in die dreißiger Jahre hinein eingesetzt. Die Verbreitung von Lastkraftwagen belebt sich war mit dem wirtschaftlichen Aufschwung in den zwanziger Jahren, erfährt aber erst in den dreißiger Jahren eine rasante Entwicklung, die wohl in erster Linie auf die (arbeitsbeschaffungs)politische und militärische Bedeutung des forcierten Straßen- und Autobahnbaus zurückzuführen ist (vgl. Bühler 1987, Stöffges 1987 und Gotta 1982).56 Durch die Industrialisierung in der verladenden Wirtschaft und die zunächst starke Konkurrenz durch die Eisenbahn hat das Transportgewerbe seine weitgehende Autonomie eingebüßt und ist in eine prekäre Marktabhängigkeit geraten. Im Laufe der Zeiten hat sich auch die Berufstätigkeit des Fuhrmanns gewandelt und hat dabei einen Teil ihres handwerklichen Charakters verloren. Auch die Bezugspunkte seiner traditional-handwerklichen Arbeits- und Berufskultur sind einer Rationalisierung ausgesetzt worden, die aber noch nicht so weit fortgeschritten ist, daß die Arbeits- und Lebenswelt der Fernfahrer ihre an handwerkliche Traditionen anknüpfenden besonderen Kennzeichen gänzlich verloren hat. "Aber auch der Berufsstolz, die besondere, handwerksmäßige 'Berufsehre' ist ohne empirisches Verfahren nicht denkbar. Es bedurfte der durch die Jahrhunderte überlieferten, rein persönlichen Kunstfertigkeit, um deren Träger das Gefühl einer bestimmten Berufszugehörigkeit als besonderen Reiz empfinden zu lassen. (...) Aus der Natur des empirischen Verfahrens lassen sich aber auch alle Erscheinungen mühelos ableiten, in denen eine scheue Ehrfurcht vor den 'Mysterien' einer gewerblichen Kunst oder das Bestreben ihrer Jünger 56 Während der LKW-Bestand 1922 in Deutschland noch bei 43.711 Stück lag, stieg er bis 1931 auf 157.432 Fahrzeuge, innerhalb von etwa 10 Jahren also um fast das Vierfache (vgl. Stöffges 1987, S. 394); bei Kriegsausbruch im Jahre 1939 waren in Deutschland etwa 400.000 LKW zugelassen (Gotta 1982, S. 146). 305 zutage tritt, selbst ihr Können mit einem geheimnisvollen Schleier zu umgeben und vor Profanierung zu schützen. Es mag daran erinnert werden, wie diese Auffassung der gewerblichen Tätigkeit als etwas Übernatürliches weil Unerklärliches uns zurückführt zu den Sagen von der göttlichen Herkunft der Künste und Fertigkeiten, die allen europäischen Völkern gemeinsam sind" (Sombart 1922, Bd. I.1, S. 202). Was aber ist zu tun, wenn die gewerbliche Tätigkeit des berufsmäßigen Führens eines Gütertransportmittels derart profan geworden ist, durch zunehmende Veralltäglichung der Erfahrungen des Umgangs mit Personenkraftwagen und wegen der ohnehin recht geringen Schwierigkeiten, die notwendige Fahrerlaubnis zu erwerben? Welche beruflichen Künste erweisen sich noch als "mysteriös" und undurchschaubar genug, um den Stoff für den "geheimnisvollen Schleier" abzugeben? Worauf soll die "Geheimniskrämerei" sich stützen, wenn die Bewältigung der Navigationsaufgaben und die räumliche Orientierung in unserer mobilen Gesellschaft ohnehin wie selbstverständlich zu den "extrafunktionalen Qualifikationen" des durchschnittlichen erwachsenen Erwerbstätigen gerechnet werden? Wir leben in einer aufgeklärten Zeit, mag mancher denken, in der nur noch die nackte Leistung zählt und wo es keinen Platz mehr gibt für solche "Irrationalitäten". Und dennoch scheint es kein Zufall zu sein, daß viele Fernfahrer sich offensichtlich darum bemühen, ihrer Berufstätigkeit durch Orientierung an der nordamerikanischen Trucker-Mythologie etwas Weihe- und Geheimnisvolles zu geben, etwas, das sich in unnachahmlicher Weise von der profanen Berufstätigkeit in industriellen Fabriken abzuheben scheint. In der Bundesrepublik Deutschland fehlt zunächst ein vergleichbarer Mobilisierungsstrom an politischer Bewegung, der die soziale Gruppierung und die Entstehung einer neuen beruflichen Subkultur der Trucker in den USA zu Beginn der siebziger Jahre vorangetrieben hat. Die "Erfindung" der Fernfahrer läßt sich in Deutschland zwar verbandsmäßig bis in die Mitte der zwanziger Jahre zurückverfolgen und scheint (ähnlich wie in den Vereinigten Staaten) zunächst vor allem von dem Problem der Abgrenzung gegenüber nicht-berufsmäßig Fahrenden geprägt zu sein.57 Einen gravierenden Unterschied zur heutigen TruckerSzene in den USA stellt allerdings die Sozialstruktur58 der bundesdeutschen Fernfahrer dar, bei denen der Anteil der selbständigen (Sub)Unternehmer, die 57 58 306 Dies läßt sich jedenfalls an der Umbenennung der damaligen Zeitschrift des Verbandes der Berufskraftfahrer ablesen, die die Fernfahrer als eine besondere Adressatengruppe gegenüber den anderen Kraftfahrergruppen hervorhebt. Weitergehende Schlußfolgerungen müssen jedoch einer Inhaltsanalyse der Publikationen aus dieser Zeit vorbehalten bleiben. Die besondere Rolle der "Kraftfahrer" (und ihres Berufsverbandes) unter faschistischer Herrschaft dürfte ein lohnendes Forschungsthema sein, von dem ich mir nachhaltige Informationen für ein Verständnis der berufskulturellen Entwicklungen in der Nachkriegszeit verspreche, an die die "Amerikanisierung" der Fernfahrer scheinbar mühelos zu Beginn der achtziger Jahre anknüpfen konnte. Die bundesdeutschen owner-operators sind statistisch betrachtet vor allem in der Anzahl von Unternehmen des gewerblichen Güterfernverkehrs mit nur einer Genehmigung enthalten. Die Zahl entsprechender Unternehmen sank von 5.838 im Jahr 1960 (51,7% aller Unternehmen des Güterfernverkehrs inkl. Möbelverkehr) auf 3.061 (34,7%) im Jahr 1986 (vgl. Florian 1994). ihren eigenen LKW fahren, zur Zeit noch deutlich geringer zu veranschlagen ist als in den Vereinigten Staaten. Bis in die siebziger Jahre hinein ist das öffentliche Bild der bundesdeutschen Fernfahrer maßgeblich geprägt von der Metapher eines "Kapitäns der Landstraße" bzw. eines "Brummi-Kapitäns", der Figur einer Image-Kampagne, die der "Bundesverband des Deutschen Güterfernverkehrs" (BDF) getragen hat (vgl. Abb. 5). Erst gegen Ende der siebziger Jahre kommt Bewegung in die berufskulturelle Szene der bundesdeutschen Fernfahrer. Soweit die Legende vom "Kapitän der Landstraße" angesichts des geringen Sozialprestiges und der äußerst schwachen Verberuflichung von Lastkraftwagenfahrern anachronistisch wirkt und weiter an Glaubwürdigkeit verliert, läßt sich in der Bundesrepublik Deutschland die Entstehung eines neuartigen "Urkerns" unter den Fernfahrern verfolgen. Der neue berufskulturelle Anziehungspunkt kann dabei auf dem bereits während der siebziger und achtziger Jahre in den USA erfolgreich institutionalisierten Mythos und Kult der Trucker aufbauen. Den Zeitpunkt und die Orte, an denen eine neue berufliche Subkultur entsteht, lassen sich heute nicht mehr genau zurückverfolgen. Dies scheint durchaus üblich zu sein bei sozialen Gruppen, die ihren Zusammenhalt in der mythischen "Amnesie ihrer Entstehungsgeschichte" suchen, so als ob sie versuchten, "durch die Verdrängung der Worte und Handlungen aus ihren Anfängen in eine Art kollektives Unbewußtes, ihre Wurzeln in die Ordnung der Dinge zu verlegen, in die Natur oder, was praktisch auf das Gleiche hinausläuft, in die ökonomisch-technische Zwangsläufigkeit als dem gesellschaftlich und politisch akzeptablen Ersatz für die Naturnotwendigkeit" (so Boltanski 1990, S. 51 für die französischen "cadres"). "Keiner weiß mehr genau, wie alles angefangen hat, und Trucker sind ja auch ständig unterwegs. Immerhin entsinnt sich der Hamburger Unternehmer Jörg Fischer eines gewissen Herrn Puttfarken, der irgendwann 1980 Fischers väterliches Ladengeschäft betreten und 'Hörner, so wie in dem Film >Convoy<' begehrt habe. (...) Wenn Fischer recht hat, und einiges spricht dafür, dann ist die Trucker-Kultur die erste Subkultur samt nachziehender Industrie, die auf einem Film basiert, außer vielleicht der Halbstarkenkultur und -mode nach Marlon Brandos Motorradfilm 'Der Wilde'" (so der "SPIEGEL"-Redakteur Rainer Weber 1986, S. 235f. - in einem Bericht über die bundesdeutsche Truckerszene). Die zur Herausbildung einer kohärenten Gruppengestalt notwendige gesellschaftliche Definitions- und Abgrenzungsarbeit, die ein Teil der Fernfahrer an sich selbst vollzieht, wird im wesentlichen durch Massenmedien wie Spielfilme, Fernsehen, Musik und Zeitschriften unterstützt, d.h. durch die (wissenschaftlich nur schwach legitimierten) Intellektuellen, die sich dazu berufen fühlen, in ihren Werken und Praktiken die Fernfahrer als "Trucker", als "Asphalt Cowboys" oder als "Highway Helden" zum Sprechen zu bringen (vgl. Abb. 20-22). "Und das ganze Gefühl, das die Jungs im Grunde genommen haben, oder wo die drauf stehn, das ist im Grunde genommen ein Gefühl, was eigentlich jeder gern hat. Und das ist 307 ein Gefühl irgendwie von Freiheit und Abenteuer, wie man so schön sagt, ein Gefühl von Ungebundensein. Das wird's immer geben und das wird's auch immer geben müssen, dieses Gefühl. Und es wird sicherlich auch immer nötig sein, dieses Gefühl zu vermitteln..., was wir halt auch tun." (Knut Bewersdorff, Sänger und Steelgitarrist der Country-Gruppe "Truck Stop", zitiert nach Prahl 1988). "Ihre Themen entnehmen die deutschen Trucker-Barden, so sie nicht US-Material übertragen, gern der Szene" (Rainer Weber 1986, S. 235). Auch wenn es zu weit gehen würde, die bundesdeutsche "Trucker-Kultur" als ein bloßes Produkt der "Kulturindustrie"59 hinzustellen, scheint mir das Verhältnis zwischen Kultur- und Medienintelligenz (im weitesten Sinne) und der berufskulturellen Praxis der LKW-Fahrer ein entscheidender Schlüssel zum Verständnis der Entstehung einer neuen beruflichen Subkultur unter bundesdeutschen Fernfahrern gegen Ende der siebziger Jahre. Der Spielfilm "Convoy" von Sam Peckinpah war, wenn man den Kennern und Informanten der Szene glaubt, ebenso wie in den USA auch in der Bundesrepublik wesentlich an der Herausbildung einer neuartigen Truckersubkultur unter den Berufskraftfahrern beteiligt. "Und das ging natürlich sicherlich mit los, weil so Filme 'rüberkamen wie 'Convoy' z.B. mit Kristofferson. Und die Trucker hatten ja bis dahin so gar keine Identität so als Gruppe, nicht. (...) Oder gewerkschaftlich organisiert waren sie sicherlich auch nicht so doll. Und da fing das an, daß sie also das Gefühl dafür entwickelt haben, daß sie auch als Gruppe ein bißchen Einfluß nehmen könnten. Und das ging dann halt Hand in Hand, ohne daß man das irgendwie mal jemals besprochen hätte oder so" (Lucius Reichling, Sänger und Geiger der Country Band "Truck Stop", zitiert nach Jürgen Prahl 1988). Deutlich wird, daß weder die Image-Kampagnen des Bundesverbandes des Deutschen Güterfernverkehrs noch die Interessenvertretungspolitik der Gewerkschaft Öffentlicher Dienst, Transport und Verkehr (ÖTV), in der viele Fernfahrer organisiert sind, es verhindern können, daß sich bei den Fernfahrern im Laufe der Zeit eine Repräsentationslücke geöffnet hat, die von den Truckern besetzt wird. Die verschiedenen Ebenen, auf denen sich die gesellschaftliche Repräsentationsarbeit abspielt, lassen sich in der Praxis nicht so fein säuberlich trennen, wie es das analytische Schema der Entstehung sozialer Gruppen bei Boltanski (1990) nahelegt. Auch wenn sich die symbolischen Akte der Erfindung der Trucker gewissermaßen wie das Resultat eines natürlichen Evolutionsprozesses fern jeder rational kalkulierten Schöpfung oder Absprache präsentieren, ist die gesellschaftliche Definitions- und Abgrenzungsarbeit und die Arbeit des Sich- 59 308 Die Fernfahrer als geblendete Opfer einer manipulierenden "Kulturindustrie" zu betrachten, hieße, den soziokulturellen Prozeß der aktiven Aneignung und Stilisierung kulturindustrieller Produkte auszublenden. Die Stilisierungsangebote müssen stimmig sein, damit sich die subkulturelle Verbreitung des Mythos auf sinnvolle Motive stützen kann. Der Mythos ist nur insoweit tradierbar, als er in der besonderen Lebenswelt passende Orientierungen bietet und die in der Subkultur vorherrschende Weltauffassung zur Sprache bringen kann. Gruppierens nicht ohne Institutionalisierungsprozesse verlaufen, in denen sich die neuen Repräsentanten der Fernfahrer gegenüber den herkömmlichen mentalen, sozialen und institutionellen Repräsentationsformen durchsetzen mußten. Auseinandersetzungen auf dem Feld der Repräsentationen begleiten bereits die erste Phase der Entstehung der sozialen Gruppe, weil sich die Trucker nur durch Verdrängung konkurrierender Repräsentationsmuster etablieren können.60 Insofern darf der Beitrag, den die Entstehung lokaler Gruppen und Netzwerke für die Verbreitung der Trucker-Subkultur geleistet hat, nicht unterschätzt werden. Über eine konkrete Initiative zur Gründung eines regionalen bzw. lokalen TruckerClubs berichtet beispielsweise das folgende Zitat. "(...) Sigi Reil, ein gemütlicher Teddybär mit Vollbart, ist der 'Convoy Buddy' der deutschen Trucker-Szene und mit seinen Freunden der Organisator des Spektakels in Nittenau [gemeint ist ein Trucker-Fest, M.F.]. Dabei ist er keiner von denen, die mit Cowboyhut umherrennen. Als er Ende 1980 über CB-Funk seinen Rundruf losließ, da war von Trucks noch gar nicht die Rede: 'Achtung, Achtung, an alle Brummis im Raum Kelheim, Saal, Regensburg', so notierte es später der Protokollführer, '(...) Ich möchte im Raum Regental einen Lastwagenfahrerverein gründen.' Es entstand, natürlich, ein 'Trucker-Club' im Regental" (Rainer Weber 1986, S. 236). Fast wie im Selbstlauf, so scheint es zumindest, bildet sich auch unter den deutschen Fernfahrern der "harte Kern" einer eigenständigen Trucker-Szene heraus, die der bis dahin weitgehend amorphen, auf lokale Felder begrenzten Gemeinschaft der bundesdeutschen Fernfahrer ein neues Gesicht - oder besser: eine neue Gestalt - gibt, die das verstaubte Image vom "Brummi-Kapitän"61 ablöst, dessen symbolische Kohäsionskraft angesichts von Modernisierungsprozessen im Güterverkehrsgewerbe ohnehin recht zweifelhaft erscheint: "Trucker heißt Lastwagenfahrer, doch mit dem speckrandmützigen 'Brummi' des offiziellen Straßengüterverkehrsgewerbes haben Deutschlands Trucker soviel gemein wie Heinz Schenk mit Mick Jagger" (Weber 1986, S. 232). 60 61 Vermutlich, um die Konkurrenzkämpfe auf dem Feld der Repräsentationen stärker hervorzuheben, die für die soziale Eigendynamik "fertiger" Gruppen entscheidend sind, vernachlässigt Boltanski (1990) die Institutionalisierungsprozesse, die bereits vor der "Fertigstellung" einer sozialen Gruppe wirksam werden und die Prozesse der Klassifikation und Stilisierung schon während der Phase der "Erfindung" unterstützen. Genaueres zur Wirkungskraft der "Brummi"-Kampagne muß allerdings einer eingehenderen berufskulturhistorischen Untersuchung vorbehalten bleiben, die hier auch nicht annähernd geleistet werden kann. Obwohl das "Brummi"-Bild und die Metapher vom "Kapitän der Landstraße" für einen Berufszweig, der am unteren Ende der Prestigehierarchie rangiert, nicht weniger realitätsfremd erscheint als der Mythos vom "Asphalt-Cowboy", ist es letzterem offenbar leichter gelungen, ein neues Bedürfnis der Fernfahrer nach sozialer Identität anzusprechen und durch ein kohärentes System symbolischer Stilisierungen schließlich auch zu mobilisieren. 309 Die "Vorstellung" eines "Kapitäns der Landstraße" (im doppelten Sinne: von "sich vorstellen" und "sich darstellen"), d.h. eines eigenverantwortlichen "Kommandanten" über einen, seiner Obhut anvertrauten, wertvollen Lastkraftwagen samt kostbarer Ladung, der auf seinem "dicken Brummer" durch die Lande fährt, um uns mit lebenswichtigen Gütern zu versorgen, scheint seinen Reiz und seine Überzeugungskraft verloren zu haben, die erforderlich sind, um das "unscharfe Ensemble" der Berufskraftfahrer zumindest symbolisch zu repräsentieren. Der mythologisch angereicherten Figur des "Truckers" dagegen - als dem harten Kern einer sich herausbildenden neuartigen Berufskultur - scheint es vor dem Hintergrund der sehr heterogenen Merkmale von Berufskraftfahrern zu gelingen, kohärente Konturen für eine abgrenzbare soziale Gruppierung zu bilden. Ein wichtiges Indiz für die Anziehungskraft des Trucker-Mythos ist dabei eine gewisse "Unverbindlichkeit", mit der sich jeder, ungeachtet der fehlenden Authentizität der zur Schau gestellten Attribute, als Trucker identifizieren kann, jedenfalls solange sich die soziale Gruppierung noch in der Entstehungsphase befindet, die noch weitgehend frei zu sein scheint von Rivalitäten um die einzig "legitime" Repräsentation der Trucker. Rund um den Trucker-Kult bildet sich im Raum der beruflichen Stilisierungen der Fernfahrer ein Ort für soziale Gruppierungen heraus, der sich als ein Orientierungspunkt für die alltägliche Klassifizierungspraxis eignet.62 Diese an sich willkürliche Grenzziehung zwischen dem, was die Gruppe vereint und dem, was sie von anderen Gruppen unterscheidet, diese "Setzung", die alle, die davon "betroffen" sind, nicht gleichgültig lassen kann, fordert dazu auf, sich in irgendeiner Weise dazu zu verhalten, sich von diesem Angebot an subkultureller Identität angesprochen oder berührt zu fühlen, und sich entweder zustimmend oder abgrenzend jenem Urkern zuzuordnen. "Vielleicht 1000 (von rund 50 000) deutschen Fernfahrern bilden den harten Kern der Szene, ein vieltausendtonnenschwerer Wanderzirkus, der mit seinen aufgedonnerten Kolossen Wochenende für Wochenende auf Trucker-Treffen rollt, unterstützt von einem Troß aus vielleicht fünf- oder sechsmal soviel Sympathisanten, die sich bloß noch nicht trauen. Und wie bei einer jeden echten Volkskultur schlingert die Ästhetik zwischen Kitsch und Kunst, Karneval und Kommerz, sind ihre Zusammenkünfte Volksfest und Familienfeier, Ritual und Vereinsmeierei" (Weber 1986, S. 233). Die Entstehung einer neuen beruflichen Subkultur unter den Fernfahrern folgt somit einem Akt der Neudefinition, der von einer Gruppe von Fahrern kollektiv 62 310 Zur Popularisierung dieser Subkultur gehört eine gewisse "Verwässerung" der Authentizität, da sich "jeder" mit ihr zu identifizieren vermag: "Zur Szene gehören CB-Funk-Freaks, Western-Narren und pubertierende Einfaltspinsel, die jeden Kutscher für John Wayne halten. Zur Szene gehören Lieferwagenfahrer, die als Cowboys, und Kieskutscher, die als Fernfahrer posieren, und bei jedem Trucker-Treffen tauchen Scharen von Familienvätern mit Sandalen und Freizeitjackett auf" (Rainer Weber 1986, S. 233). an sich (nach)vollzogen wird, die alle notwendigen "charakteristischen" Eigenschaften besitzen, um die soziale wie berufskulturelle Figur eines authentischen Truckers zu repräsentieren. Fortan können sich Fernfahrer als Trucker neu definieren, wahrnehmen und in sozialen Beziehungen darstellen. Die neue Selbstbenennung ist Ausdruck einer Repräsentationsarbeit, durch die sich Fernfahrer zunächst nur einen neuen Namen und eine neuartige "mentale Repräsentation" geben, die mit der Bezeichnung "Trucker" verbunden ist und, als Folge der gesellschaftlichen Repräsentationsarbeit, die von den Fernfahrern in den USA geleistet worden ist, auch "offiziell" assoziiert werden darf.63 Durch "dramatische Akzentuierungen" (Goffman) gelingt es den "Truckern", sich für sich und andere gesellschaftlich sichtbar zu machen, und über ihre Mitglieder und Sympathisanten, vor allem aber über ihre Sprecher und ihre Intellektuellen, Vorstellungen über sich und ihre relevanten Merkmale zu vermitteln. Zahlreiche, für Trucker geradezu "charakteristische" Stilisierungsformen, wie z.B. regelmäßige Trucker-Treffs, regionale und lokale "Trucker-Feste"64, alljährlich veranstaltete "Truck-Grand-Prix"65, die ritualisierte Selbstinszenierung durch Truck-Konvois sowie die Anlehnung an die musikalische und ästhetische Subkultur der amerikanischen Country-und-Western-Szene, aber auch institutionelle Repräsentationsformen wie z.B. Trucker-Clubs, nähren 63 64 65 Ohne empirisches Material ist es schwierig, den tatsächlichen Einfluß der "Trucker-Kultur" auf den Kreis der Fernfahrer einzuschätzen. Als ein Anhaltspunkt mag die Leserstruktur des auflagenstärksten Magazins für Fernfahrer dienen. Nach Auskunft der Anzeigen-Verwaltung beträgt 1989 die verkaufte Auflage des "Fernfahrer Magazins 'Trucker'", der "Zeitschrift für LKW- und Busfahrer" wie sie sich im Untertitel nennt, im Durchschnitt immerhin 116.000 Exemplare; 51,6% der LeserInnen (59.856) sind Berufskraftfahrer, 26% (oder 30.160) sind Angestellte im Transportgewerbe, 20% (oder 23.200) sind Unternehmer bzw. Selbständige, 2,4% bilden den Rest. Alles in allem eine doch erstaunlich große Zielgruppe. Ein weiteres Indiz für die Attraktivität der Trucker-Vorstellungen dürften die Besucherzahlen von Trucker- und Country-Festen sein und die Verbreitung der entsprechenden Musik, wobei die bekundete Sympathie noch recht wenig darüber aussagt, in welchem Ausmaß diese Subkultur tatsächlich in den Vorstellungen und Praktiken der Fan-Gemeinde repräsentiert ist. Eines der ältesten Truck- und Country-Festivals veranstaltete der Country Club Karlsruhe, der auf diesem Feld "Pionierarbeit" geleistet hat, im April 1990 bereits zum elften Mal (lt. Fernfahrer Magazin "Trucker" Nr. 7, Juli 1990, S. 42f.). Der erste deutsche Truck-Grand-Prix lockte Ende Juli 1986 rund 50.000 Zuschauer auf den Nürburgring: "Mag sein, daß etliche nur der Countrymusik zuliebe kamen, aber fürs Selbstbewußtsein der deutschen LKW-Fahrer war die Veranstaltung so wichtig wie die Brenner-Blockade 1984", so jedenfalls die Einschätzung des "SPIEGEL"-Redakteurs Rainer Weber (1986, S. 235). Die Attraktivität dieses Grand-Prix, der jedes Jahr im Sommer veranstaltet wird, resultiert sicherlich nicht nur aus der dort präsentierten Musikkultur, sondern dürfte vor allem auch der Spannung und Dramatik, wie sie bei motorisierten Rennwettkämpfen herrscht, geschuldet sein. 311 Abb. 39: "Die schönsten Laster" - alles was Männer anmacht? "Romantik von gestern oder die Welt von morgen, Mädchen, Sport und Comic - die Lackkunst für Laster kennt keine Grenzen. Für manche Fahrer ist ihr grauer oder beiger Zug mit der schlichten Aufschrift 'Spedition' oder höchstens mal 'Wir fahren für ...' die Langeweile auf Rädern. Diese Fahrer treiben's lieber bunt. Die haben nicht nur Phantasie und Witz, die zeigen sie auch. Airbrush, die Maltechnik für große Blechflächen, setzt ihre Träume und Lieblingsmotive nach ihrer Vorstellung ins Bild. (...) Auf Festivals sind diese Wagen die Stars. Noch sind uns Frankreichs 'Routiers' voraus. Aber langsam rollen die Kunstwerke auf Achse auch mit deutschen Kennzeichen. (...) Mädchen Fast alle Frauen auf Trucks haben eines gemeinsam: Man sieht ihnen deutlich an, daß sie welche sind Sport Immer nur 90 und mit Tachoscheibe: Da bleiben für sportlichen Ehrgeiz nur Bilder Phantasie Kunstsinnige Spediteure lassen sich ihre Laster was kosten! 100.000 Mark für ein Gemälde sind keineswegs ein Phantasiepreis Romantik Auch Fernfahrer müssen auftanken: Wer in der Hektik lebt, nimmt Kraft aus der Stille Gute alte Zeit: Hast und Hetze des Truckeralltags soll das Bild vergessen machen" (Quelle: "Fernfahrer" Nr. 2/91, S. 26-31). neben der sozialen Anerkennung der Trucker in den Massenmedien die Herausbildung eines kollektiven Glaubens an die authentische Existenz der Gruppe.66 66 312 Unterstützt wird diese Repräsentationsarbeit auch durch Industrie und Handel, die sich von der Belebung des Trucker-Mythos ein reges Geschäft versprechen und die Werbungsmöglichkeiten von Truckerfesten nutzen (vgl. R. Weber 1986, S. 235), so vor allem die Zubehörindustrie (Werbung für die stilistische Ausgestaltung von LKW und Fahrern), Hat die Repräsentation einer Berufsgruppe erst stabile und dauerhafte Formen angenommen, entsteht meist ein Feld miteinander konkurrierender Repräsentationen. Die weitere Entwicklung der sozialen Gruppierung erfolgt dann zwischen zwei Extremen. Auf der einen Seite verspricht die soziale Schließung des harten Kerns, daß die Gruppe relativ homogen und rein bleibt, allerdings auf die Gefahr hin, dort an Schlagkraft zu verlieren, wo die Mobilisierung von Massen gefragt ist. Andererseits erhöht die Einbeziehung (Inklusion) weiterer Kreise verwandter Merkmalsträger zwar das quantitative Gewicht einer Gruppe im sozialen Raum, aber auf Kosten der internen Homogenität der Gruppe. Am deutlichsten zeigt sich die Diversifizierung des Felds der Repräsentationen mit dem Auftreten verschiedener Berufsverbände, die um die Anerkennung als eine (oder einzige) legitime Interessenvertretung konkurrieren, vor allem, wenn es um die offizielle Repräsentation der Berufsgruppe als Ganzes geht und nicht nur um einzelne Fraktionen. Einige Schwierigkeiten mit der arbeits- und tarifpolitischen Interessenvertretung der Fernfahrer scheint die Gewerkschaft ÖTV zu haben, wenn man der Untersuchung von Günther Plänitz folgt (1983, S. 277ff.). Inwieweit die vielen lokalen oder regionalen Trucker-Clubs sich aber zu einer berufsständischen Interessenvertretung entwickeln werden (und damit der Gewerkschaft ÖTV jenseits des Tarifmonopols eine "politische" Konkurrenz bereiten), bleibt offen.67 Die Ziele dieser Clubs sind "noch recht diffus und nicht allzu weit gesteckt" (Gotta 1982, S. 14). Das Hauptproblem für eine einheitliche (arbeits)politische Repräsentation dürfte die Integration lohnabhängiger und selbständiger Fernfahrer sein. Neben der Diversifizierung politischer Interessenverbände wirkt sich die interne Heterogenität der Fernfahrer auf die Dynamik des Feldes der Repräsentationen aus. Die soziale Gruppenbildung und Kohäsion eines heterogenen Ensembles wie das der Fernfahrer ist ohnehin stets von Partialisierungstendenzen bedroht, die sich aus jeder Ausweitung des Repräsentationsfeldes jenseits des harten Kerns ergeben können. Die für eine Berufsgruppe außergewöhnliche interne Heterogenität der zu den Fernfahrern gehörenden Merkmale und die Vielfalt divergierender Vorstellungen über die "richtigen" Eigenschaften eines Fernfahrers verlangen nach einem einheitsstiftenden Bezugspunkt, an dem sich die "Angehörigen" orientieren können und der zur Kohäsion dieses amorphen Ensembles 67 die Rasthof-Gastronomie (die häufig selbst Trucker-Feste organisiert), sowie Nutzfahrzeughersteller (z.B. Iveco oder MAN), Brauereien und schließlich die Zigarettenindustrie (z.B. Marke "West"). Anfang Februar 1992 hat sich innerhalb des Dachverbandes des Christlichen Gewerkschaftsbundes eine "Gewerkschaft der Kraftfahrer Deutschlands" (GKD) gegründet, die ihre betont standespolitische Interessenvertretung in Konkurrenz zur DGB-Gewerkschaft ÖTV präsentiert. 313 beiträgt. Dieser symbolische Vereinigung dienen vornehmlich die Mythen, die sich um den Beruf des Fernfahrers ranken. In der für die Logik der Praxis üblichen Vagheit ist der Mythos dabei kennzeichnend für die verschwimmenden Grenzen zwischen Erlebnis und Ereignis, zwischen Dichtung und Wahrheit. "Die amerikanischen Truck-Drivers sind ja jetzt eigentlich die letzten Cowboys noch. Die einsamen Reiter, die endlose Straßen fahren (...) Und sie fühlen sich ja auch so. Und ich glaub', daß die deutschen LKW-Fahrer sich selber ihre Szene geschaffen haben und hängen sich da mit rein, im Grunde genommen, weil sie ja doch einen ähnlichen Job haben. (...) Es ist ein Mythos, ebenso wie es der Cowboy ist. Und ich kann Dir garantieren, daß die Zeit der Cowboys auch nicht so romantisch war, wie man's so häufig sagt oder in Filmen sieht. Das war bestimmt 'n Schweinejob. Und auch der Job des Lastwagenfahrers oder Truckers ist auch nicht gerade ein Honiglecken. Aber ich meine, sie machen sich wohl auch hier ihren Job so schön es halt geht. Und die Musik ist ein wichtiger Bestandteil dazu, denk' ich. Romantik ist da natürlich auch bei, 'ne ganze Menge" (Cisco Berndt, Sänger und Gitarrist der Country Band "Truck Stop", zitiert nach Prahl 1988). Die romantische Vorstellung eines freien und abenteuerlichen Lebens bildet eine zentrale Leitfigur im Verhältnis der Trucker zu ihrer Arbeit. Sie bündelt gewissermaßen die Empfindung jener Ambivalenzen, durch die der berufliche Alltag von Fernfahrern in entscheidendem Maße geprägt zu sein scheint. "Diese Romantik erlebt insbesondere auf den über 40 Trucker-Treffen in ganz Deutschland ihren Höhepunkt. Die Trucker reisen standesgemäß mit dem eigenen oder dem Fahrzeug ihres Unternehmens an, welches zudem ihrer individuellen Sorgfalt und Pflege unterliegt. 'Der LKW ist mein Zuhause', sagen die Trucker. Entsprechend sind die Fahrerkabinen ausgestattet: Stereo-Anlage und CB-Funk sind selbstverständlich, Gardinen und Kaffeemaschinen sind ebenfalls Dinge, die das ständige Fahren erträglicher machen. Die protzig verchromten LKWs der amerikanischen owner operators, den selbständigen amerikanischen Fahrern, haben in Deutschland Sehnsüchte geweckt, die von einer Zubehörindustrie ebenso befriedigt werden wie sich eine Unterhaltungsindustrie der Sehnsüchte nach Cowboy-Romantik angenommen hat. Individualität im Erscheinungsbild der Autos wie in der eigenen Person ist gefragt. Aus dem Fernfahrer ist der Trucker geworden" (Jürgen Prahl 1988). Ein Geschmack von Freiheit und Abenteurer, der, wie der Mythos behauptet, mit dem LKW-Fahren verbunden sein soll, dient denen, die so empfinden, als Entschädigung und zur vorübergehenden Flucht aus einem beruflichen Alltag, dessen Sonnenseite in desto glänzenderen Farben erscheint, je mehr er von den ebenfalls erfahrbaren Diskriminierungen überschattet zu werden droht. "Auf so einem Festival wird eben der Fernfahrer bewundert. Und da ist er, einmal oder zehnmal im Jahr, ist er eben der King. Jeder bewundert Dich, weil, wir werden ja traktiert und drangsaliert von der Polizei, von der BAG, auf den Abladestellen, den Supermärkten, da mußt Du zehn, zwanzig Tonnen abladen von Hand. Und Du bist eben nur ein riesengroßer Arsch, eigentlich. Und eben auf so einem Fest, da bist Du der King. Jeder bewundert Dich mit Deinem großen Auto. Jeder sagt: 'Mensch, so'n Truck möchte ich auch fahr'n!' 'Ich möcht' da mal mitfahr'n.' Und: 'Darf ich mich da mal 'reinsetzten?' Und so" (Siggi Reil vom Truckerclub Regental, zitiert nach Jürgen Prahl 1988). 314 "Warum fährt man zu so einem Trucker-Treffen? Ja einmal, um sein eigenes Fahrzeug zu zeigen, das man fährt, mit welcher Liebe man das ausstaffiert hat. Dann aber auch, um Freunde wiederzutreffen, die man schon kennt. Und dann auch die Musik, die dabei ist, also die Country-Musik, die wir ja sehr schätzen. Das ist eben diese ganze Atmosphäre, die hat man eben im Alltag nicht. Und um das mal zu haben, da fährt man eben hin. Aber 'identifiziert', das ist an und für sich ... Man kann sich schlecht...Denn der wahre Alltag sieht ja doch ein bißchen anders aus wie dieses hier. Hier wird etwas vorgegaukelt, was eben 'ne Bilderbuchromantik ist, die ja nicht der Wahrheit entspricht" (Ein ungenannter Trucker, zitiert nach Jürgen Prahl 1988). "Ne, aber irgendwie haben die so 'nen, wie man in der Zigarettenreklame so schön sagt: 'nen Hauch von Freiheit. [Lachen] Wenn man die so sieht. Ich meine, man hat ja genug Filme gesehen und wenn man diese Trucks erlebt hat in Amerika und so, auf den Highways und so, das ist doch... Das möchte man gerne selber mal machen. Aber da das ein Traum bleibt, möchte man sich das wenigstens mal angucken" (Besucherin eines Trucker-Festes in Kaunitz, zitiert nach Jürgen Prahl 1988). Das Auftreten einer neuen Gruppe mit einer neudefinierten sozialen Identität bleibt indes nicht unwidersprochen. Die Angriffe von Fernfahrern, die sich nicht als "Trucker", "Asphalt Cowboys" oder "Highway Helden" fühlen wollen, richten sich vor allem gegen das neue Selbstverständnis ihrer Kollegen und gegen die Stilisierungsformen, mit denen diese ihren Arbeitsalltag durch Verkörperung männlicher Härte "versüßen". Den Trucker-Kult halten viele für maßlos überzogen, und die Art und Weise, wie die Trucker sich und ihre Arbeit öffentlich darstellen, verleitet die übrigen Fernfahrer, die nicht mit dieser Subkultur sympathisieren, zuweilen zu sehr bissigen und wütenden Kommentaren. "Ich persönlich halte von Trucker-Treffs herzlich wenig, weil das alles dermaßen aufgespielt wird, wenn man da schon wirklich, also wirklich Verrückte dabei sieht, die dann da beim offenen Lagerfeuer mit Kupferkessel Kaffee kochen und anfangen zu singen. Das sollen 'se machen. Das ist mir schnurzpiep egal. Ich persönlich halte da herzlich wenig von. (...) Also Fernfahrerei ist für mich richtiger, harter Beruf. Da ist von Abenteuer und so weiter, ist da nichts. Es gibt natürlich Kollegen, ich mein', ich bin jetzt seit elf Jahren im Fernverkehr am fahren, die, wenn man unterwegs so hört, am Stammtisch (...) oder an der Raststätte erzählen da, die sind seit vierzehn Tage am fahren, die haben in den vierzehn Tagen mehr erlebt, als ich in den elf Jahren! Na ja, und da frage ich mich eigentlich: Wo fahren die?" (Mario Enderlein, Fernfahrer, zitiert nach Prahl 1988). "Manche Fahrer allerdings, vor allem die älteren, sehen das auffällige Getue nur mit sehr gemischten Gefühlen an. 'Die haben doch das Trucker-Schild vor dem Kopf', hat Peter, der Schwedenfahrer, wütend gemeint, und gleichzeitig betont: 'Wir sind Fernfahrer'" (Gotta 1982, S. 14). Manchen Fernfahrern, denen das Verständnis für die Trucker fehlt, bleibt angesichts der Popularität dieser Subkultur offenbar nichts anderes übrig, als zu versuchen, die Anhängerschaft für "verrückt" zu erklären und die Trucker in ihrem symbolischen Kern zu treffen, nämlich durch Verachtung ihrer Rituale und durch Infragestellen ihrer Anmaßung, als authentische und legitime Vertreter aller Fernfahrer aufzutreten. 315 Wenn es um die Schattenseiten ihrer Arbeit geht, tauchen Leitmotive auf, wie sie bereits von den fernfahrenden out-laws in dem Spielfilm "Convoy" stilisiert worden sind. Dazu eine weitverbreitete Koketterie, die ihre Haßliebe zu ihrem Beruf in die Nähe einer Geistesstörung oder des Wahnsinns rückt, dessen Grenzen im Übergang zu einer außergewöhnlichen Individualität (wie sie positiv vom "Genie" verkörpert wird) bekanntlich fließend sind. "Ihren Job lieben und hassen sie. Drei Berufe hat der Stelzer Rainer aus Stephansposching gelernt: Bürokaufmann, Einzelhandelskaufmann und schließlich Berufskraftfahrer, 'jetzt hab' ich's schriftlich, daß ich ein Idiot bin'. Die großen Zeiten - Touren nach Nahost, an den Golf - sind vorbei, und die Arbeitshetze wird immer stärker. Geschwindigkeitsbegrenzungen gelten Speditionsdisponenten als müder Witz, denn die Trucks werden immer schneller, und wer früher Deggendorf - Hamburg in zwölf Stunden fuhr, der soll das heute am besten in neun Stunden schaffen. Mindestens 20 Kollegen hat der Stelzer Rainer in seinen 20 Berufsjahren auf der Piste verbluten sehen, zusammengequetscht in diesen lächerlichen Führerhäuschen oder von der nachrutschenden Ladung erdrückt. Beim Trucker-Treffen setzt er die graue Mütze eines Gemeinen der konföderierten amerikanischen Südstaatenarmee auf, denn 'wir alle sind ein bißchen wie Rebellen'. Mit Politik hat dieser Satz wenig zu tun (...). Es ist Rebellion gegen unwürdige Behandlung. Denn dieselben Männer, denen 300-PSFahrzeuge im Wert von rund 150 000 Mark anvertraut werden, die Millionenwerte über Alpenpässe und vereiste Straßen kutschieren, können von Polizisten, Zöllnern und irgendwelchen Büro-Niemands nach Belieben fertiggemacht werden" (Rainer Weber 1986, S. 234). An der eigentlich willkürlichen Gleich-Setzung (institutio) des Fernfahrers mit dem Trucker, der wiederum als Asphalt-"Cowboy" einen sehr attraktiven nordamerikanischen Mythos verkörpert, kommt nunmehr offenbar niemand mehr vorbei, auch jene Berufskraftfahrer nicht, die persönlich nur wenig davon halten. Einer magischen Figur gleich, "steht" der Trucker im symbolischen wie im sozialen Raum, so, als ob es ihn wirklich gibt, so daß offenbar jede öffentliche (Selbst-)Wahrnehmung der Fernfahrer sich definitiv auf ihn beziehen muß, ganz gleich, ob zustimmend oder ablehnend. Das neue Selbstbild der Fernfahrer ist jedoch weder als ein radikaler Bruch mit der Kontinuität und Tradition der deutschen Fernfahrer und Fuhrmänner noch als eine bloße "Amerikanisierung" mißzuverstehen. Der deutsche Fernfahrermythos ist fest verwurzelt in der Tradition handwerklicher Transportdienstleistungen. Der nordamerikanische Mythos vom Highway-Helden und die Go-West-Romantik kann dabei mühelos an die im deutschen Fuhrgewerbe herrschenden Vorstellungen über die ständische Berufsehre der Fuhrmänner anknüpfen, wie einige Zitate andeuten, die sich auf die Zeit vor der Übertragung der Truckermythologie und der "Amerikanisierung" des Selbstbildes beziehen. "Die Fuhrleute waren zweifellos äußerst widerstandsfähige und rauhe Gesellen, verhielten sich jedoch auch sehr standesbewußt. Zu größter Bedeutung gelangten die Fuhrmannsgasthöfe, wo man sich traf, Informationen austauschte, aß und trank und gelegentlich auch Händel austrug. Die Fuhrleute trugen eine eigene Berufskleidung für Arbeits- und Festtage. In den Gasthöfen 316 hielten sich die Fernfahrer getrennt von den Männern des lokalen Fuhrgewerbes. Die Fernfahrer waren offenbar wegen ihrer großen Verantwortung und ihrer schweren Arbeit mit dem Alkohol zurückhaltender. (...) Die Fuhrleute galten als weitgereiste, erfahrene und interessante Leute. Die Freude am Beruf und der Stolz darauf kommt in vielen Liedern und Erzählungen zum Ausdruck" (Gotta 1982, S. 137f.). "Der Mensch fuhr Eisenbahn, mit ihm auch sein Gepäck, der ganze Güterverkehr spielte sich nur noch auf der Schiene ab. Bis es dann dem angeblich so unromantischen Zeitalter der Technik gefiel, die Landstraße und ihre Romantik aufs neue zu entdecken. Statt der Diligence ist es jetzt zwar der schwere Reisewagen, nicht mehr auf vier riesigen, eisenbeschlagenen Rädern, sondern auf luftfederndem Gummi, die vier oder gar sechs Pferdekräfte sind von einen paar hundert PS ersetzt, Zehntausende von Kilo schleppt jeder einzelne Transport von Stadt zu Stadt. Aber dennoch bleibt Raum genug für Poesie und Abenteuer. Die Schilderung einer Fahrt mit einem Ferntransport mag das beweisen. (...) Dabei ist die Arbeit nicht leicht: am Tage die schwere körperliche Tätigkeit des Auf- und Abladens, nachts das Steuern mit dem schweren Anhänger. Schlaf und Essen auf ein Minimum reduziert, das kostet Nerven. (...) Das Abladegeschäft ist bald vollbracht, nun zum Treffpunkt aller Hamburgfahrer, einem Lokal im Hafenviertel, das auch Frachtbörse ist. (...) Jetzt ist auch die Zeit gekommen, wo der Chauffeur auch mal an sich und seine Familie denken kann. Aber zwei, drei Stunden, nicht länger. Es muß schleunigst eingeladen werden, pünktlich zehn Uhr donnert der Zug schon wieder auf der Wandsbeker Chaussee. Ein Beruf: interessant und voll Abwechslung, aber auch aufreibend und bei lebhaftem Verkehr durchaus nicht ungefährlich" (aus: "Landstrassenromantik mit 10 000 kg Nutzlast. Auf Nachtfahrt im Ueberland-Transportauto / Vom Werden eines neuen Berufs", Berliner Morgen, Jg. 1931, im Faksimile abgedruckt bei Heimes 1978, S. 80f.). "Bei den geschilderten Schäden und Strapazen und den bekannten Gefahren des Fernfahrerberufes ist es erstaunlich, daß es trotz der angespannten Arbeitsmarktlage noch nicht zu einem beängstigenden Mangel an Fernfahrern gekommen ist und daß fast niemand diesen Beruf rechtzeitig und freiwillig wieder aufgibt. Die relativ guten Verdienstmöglichkeiten bieten nur eine oberflächliche und unvollständige Erklärung für diese Anziehungskraft. In Wirklichkeit ist die Fernfahrerei eine Leidenschaft. Dieses anstrengende, unbequeme und unstete Leben ist zugleich ein weithin freies Leben, und die meisten Fernfahrer hängen bei einem mehr oder weniger stark ausgeprägten nomadenhaften Zug ihres Wesens mit Leib und Seele an ihrem Beruf, der ihr großes, meist einziges Hobby ist, dem ihre ganze oft uneingestandene Liebe gilt und dessen Faszination sie nicht mehr losläßt" (Mössner 1964, S. 97). Ebenso wie Leidenschaft und Faszination sind auch Mythen nicht völlig aus der Luft gegriffen. Es müssen bestimmte Voraussetzungen erfüllt sein, damit profane Begebenheiten und Ereignisse zu einer Legende werden, der man große Verehrung entgegenbringt. In der Verteilungsstruktur objektiver Merkmale müssen die Eigenschaften, die mit dem Mythos verbunden sind, relativ selten sein, um charismatisch hervorgehoben werden zu können. Und sie müssen typisch sein für eine Berufsgruppe, damit sie sich zur vereinigenden und zugleich abgrenzenden Klassifizierung eignen. Aller Vagheit des mythischen Wirklichkeitsbildes zum Trotz muß der Mythos ein hinreichendes Ausmaß an Authentizität verbürgen, das den Glauben an eine reale Existenz des Symbolisierten möglich macht. 317 Die soziale Vereinigung der Fernfahrer zu einer beruflichen Gruppierung und ihre symbolische Repräsentation in berufsspezifischen, subkulturellen Mythologien vollzieht sich über die Aneignung und Hervorhebung einzigartiger, vergleichsweise seltener Charakteristika. Diese, für den Beruf des Fernfahrers unverwechselbaren Eigenschaften und Merkmale können prinzipiell von allen LKW-Fahrern beansprucht werden, ganz gleich, welche unterschiedlichen konkreten Tätigkeiten sie ausüben, ob sie im Nah- oder Fernverkehr arbeiten, ob sie in festen Linienverkehren oder auf abenteuerlichen Auslandstouren fahren. Und sie sind weitgehend unabhängig davon, wie der Mix zwischen reiner Fahrtätigkeit und "Nebenarbeiten" ausfällt. Die berufliche Arbeit der Fernfahrer präsentiert sich nur insofern als gleichartig, als sie sich # erstens auf das Führen schwerer Lastkraftwagen bezieht, # zweitens als eine besonders harte, arbeits(zeit)- und belastungsintensive, aber zuweilen auch abenteuerliche und nur schwer kontrollierbare Arbeit gegenüber "gewöhnlicher" industrieller Arbeit unterscheidet, und sich # drittens als eine "reine" Männerarbeit gegenüber anderen Berufen mit einem vergleichsweise höheren oder hohen Frauenanteil abheben läßt. Der unverwechselbare symbolische Kern der soziokulturellen Identität der Trucker ist, wie wir sehen konnten, ihre ostentative Maskulinität, die sich als einheitsstiftender Anziehungspunkt gemeinsamer subkultureller Stilisierungen anbietet, ja gewissermaßen sogar aufdrängt. Zur Polarisierung typisch männlicher Arbeits- und Lebensstilisierungen gehört notwendig der andere feminine Gegenpol, durch den die eigene Repräsentation überhaupt erst die spezifischen, identifizierbaren Konturen gewinnt. So versuchen viele Trucker ihre profane Berufstätigkeit als eine harte Männerarbeit aufzuwerten, und zwar einerseits durch Abgrenzung gegenüber Frauen und weiblichen Arbeitstätigkeiten, besonders in Form einer patriarchalischen, zuweilen sexistischen Funktionalisierung von Frauen (Partnerin, Geliebte oder Hure), andererseits durch Abgrenzung gegenüber anderen Männern, die in Industrie und Verwaltung unter "leichteren", dafür aber "unmännlichen" (weil fremdkontrollierten und unehrenhaften) Bedingungen arbeiten. Es sind nun genau diese "objektiven", d.h. objektivierten und von den Fernfahrern (jedenfalls bislang) relativ leicht immer wieder objektivierbaren, maskulinen Merkmale und Eigenschaften, die sich nicht nur dazu eignen, die Herausbildung einer eigenständigen Berufskultur auf Grundlage der Geschlechtertrennung und der Teilung zwischen geistiger und körperlicher Arbeit (also auf Basis quasi-"natürlicher" Trennungen) zu sichern, sondern darüber hinaus auch brauchbar sind für eine mythische Aufwertung der eigenen Arbeitsleistung zu einer männlichen "Heldentat" gegenüber der unehrenhaften "Plackerei" gewöhnlicher Arbeitnehmer(innen) in Industrie und Verwaltung. Die Idee, daß mit Berufsbildern auch etwas Mythologisches verbunden sein könnte, ist der modernen Arbeits- und Berufssoziologie fremd geblieben. Ver318 geblich wird man in den einschlägigen Lehrbüchern überhaupt nach einer systematischen Verwendung des Mythenbegriffs suchen. Soweit die Soziologie der wissenschaftlichen Vernunft eine Priorität vor anderen Wissensformen einräumt und der theoretischen Logik eine, durch andere Erkenntnisformen unerreichbare Qualität bei der Ordnung und Gestaltung der sozialen Wirklichkeit unterstellt, muß der Mythos als ein "vortheoretisches Wissen" (Berger/Luckmann) irritieren. Das abendländische Projekt der modernen Wissenschaften gründet sich auf dem radikalen Bruch mit dem mythischen Weltverständnis, das nunmehr als eine Art Kontrastfolie herhalten muß, um die Einzigartigkeit und Leistung wissenschaftlicher Weltbilder zu demonstrieren.68 Meine These war, daß die berufliche Sinnwelt von Fernfahrern durch Mythologien gestützt wird, die vor allem über die Analogien und Verwandtschaften zwischen LKW-Fahrern und Kapitänen, Cowboys oder anderen männlichen Helden erzählen. Angesichts der geringen symbolischen Unterstützung, die der Sinnwelt der Fernfahrer durch wissenschaftliche Weltanschauungen oder religiöse Weltbilder zuteil wird, sind die Fahrer in ihrem Ringen um gesellschaftliche Anerkennung auf die schwache soziale Legitimität und Überzeugungskraft mythischer Wissens- und Symbolisierungsformen verwiesen. In den Subkulturen der Fernfahrer werden berufliche Mythen dabei auch auf eine pragmatische Weise gebraucht69, um erstens die Institutionalisierung beruflicher Gruppierungen 68 69 Für meine Argumentation ist entscheidend, den Mythenbegriff weder auf "archaische" Weltbilder noch auf "primitive" Kulturen zu begrenzen. Obwohl alles dafür spricht, daß Mythen vor der abendländischen Entzauberung der Welt eine gewichtigere Rolle in der alltäglichen Lebensorientierung und Sinnstiftung gespielt haben, wäre die Schlußfolgerung falsch, daß der Mythos in der heutigen Zeit gänzlich unbedeutend wäre oder nur noch vorübergehend als ein Residuum vergangener Epochen zur Geltung käme. Die Gegenposition, die eine Allgegenwärtigkeit mythischer Vorstellungen behauptet, ist nicht weniger unbefriedigend, solange sie ihre Argumente statt aus erfahrungswissenschaftlichen Untersuchungen lediglich aus der anthropologischen Verewigung des Mythos zu einem allgemein menschlichen Grundbedürfnis bezieht. Gegen funktionalistische Ansätze, die Mythen allein auf ihre pragmatischen Funktionen und Gebrauchsweisen reduzieren, ist von Rolf Eickelpasch (1973, S. 25-46) zu Recht eingewandt worden, daß sich der Inhalt und Sinn eines Mythos (meaning) nicht auf seine pragmatische Funktion (use) reduzieren lasse. Dennoch geht es hier nicht um eine vollständige, historisch fundierte Monographie der Fernfahrermythologien. Auf dem gegenwärtigen Stand der Forschung muß die Untersuchung des wechselseitigen Zusammenspiels zwischen mythischen Sinnentwürfen und der gesellschaftlichen, subkulturell gestützten Reproduktion von Arbeits- und Berufsrisiken den pragmatischen und konservativen Gebrauch von Mythen noch gegenüber ihrem innovativen und utopischen Gehalt überbetonen. Die Attraktivität des Mythos in den beruflichen Subkulturen liegt vor allem darin, daß er für die Fahrer sowohl "gelebte Wirklichkeit" (Malinowski) als auch eine "erzählte Geschichte" mit transzendentalem Sinnbezug ist. 319 unter den Fahrern subkulturell zu flankieren, um zweitens das soziale und berufliche Prestige der Fernfahrer aufzuwerten und drittens zu einer sozialen Regulation arbeits- und berufsbedingter Risiken beizutragen. Auf seine pragmatische Verwendungsweise reduziert sind Mythen als ein soziokulturelles Phänomen begreifbar, das der kollektiven Bewältigung von Unsicherheiten dient. Als Stütze subkultureller Sinnwelten kann der aufrichtige Glaube an den Gehalt mythischer Erzählungen die emotionale Sicherheit und das subjektive Wohlbefinden fördern. Imaginäre Kontrollchancen über eine unsichere Wirklichkeit und paradoxe "Lösungen" von schmerzhaften Widersprüchen, die der Mythos durch die Aufhebung der Grenzen zwischen Wahn und Wirklichkeit vermittelt, ermöglichen eine Flucht aus der belastenden Realität, deren tatsächlicher Risikobewältigungsgehalt bei näherer Betrachtung allerdings zweifelhaft erscheint. Des weiteren kann der Glaube an den Mythos moralische Gewißheiten bestärken. Die Legitimierung von Prestigeansprüchen sowie bestehender oder zukünftiger Ordnungen mittels mythischer Naturalisierung und Tradition kann die Selbstsicherheit stärken, besonders dann, wenn die mythische Beglaubigung der kollektiven Existenz der eigenen Gruppe an ihre moralische Hervorhebung gekoppelt ist. Schließlich fördert der Glaube an eine gemeinsame Mythologie die symbolische Vereinigung und soziale Integration der beruflichen Gruppierung, was die Sicherung der subkulturellen Identität unterstützt und eine Voraussetzung bildet für den social support und die kollektive Aktionsfähigkeit. Anders als in sogenannten "primitiven" Kulturen, dürfte die Wirkung moderner Berufsmythen heute nicht mehr allein oder vorrangig auf der Betonung magischer Qualitäten beruhen. Auch wenn sich zahlreiche Indizien für eine "Magie der Männlichkeit" in der Mythologie der Fernfahrer finden lassen, sollte der (weitgehend unbewußte) Glaube an die magische Qualitäten der Maskulinität nicht überbewertet werden. Es wäre allerdings irreführend, die "Verzauberung der Welt" in den Arbeits-Mythen der Fernfahrer aus der Perspektive einer distanzierten "theoretischen Logik" lediglich als "fiktiv" und "eingebildet" oder als "verrückt" zu denunzieren. Bei näherer Betrachtung offenbart sich die Wirklichkeitsverfremdung des Mythos als eine Art "praktisches Wissen", das seiner eigenen Rationalität zu folgen scheint und das vor allem in jenen Unbeherrschbarkeitsnischen gedeiht, die von der szientistischen Vernunft unberührt bleiben. Von den langfristig zu erwartenden gesundheitlichen Spätfolgen her gedacht, die sich zweifelsfrei allenfalls einer wissenschaftlich gestützten Epidemiologie erschließen, ist das Leistungsverhalten der Fernfahrer als wenig sinnvoll und blind gegenüber unbeabsichtigten Nebenwirkungen zu bewerten. Angesichts fehlender Arbeitsplatzalternativen und mangels geeigneter Ressourcen für eine aussichtsreiche berufliche Mobilität erscheint der Tausch von gesundheitlichen Beanspruchungen gegen ein verringertes Arbeitsmarktrisiko gar nicht mehr so unvernünftig, besonders wenn man das Vorhaben vieler Fahrer berücksichtigt, den harten Fernfahrerjob nur vorrübergehend auszuüben, bis man finanziell gesichert ist oder sich eine weniger riskante Arbeit findet. Daß sich die Fernfahrerei auf Zeit letztlich für die meisten als eine gefährliche Illusion erweist, tut hier nichts zur Sache. Im Gegenteil: Je deutlicher die Zukunft als Sackgasse und alternativarm empfunden wird, desto dringlicher wird der Bedarf nach Deutungsmustern, die aus der Not eine Tugend machen und das Verbleiben im Fernfahrerberuf zu einer "Wahl" des Schicksals - sprich: des Herzens und des Blutes - machen. Die Fernfahrermythologie ist äußerst ambivalent zu bewerten. Auf der einen Seite stärken die Truckermythen das Selbstvertrauen, die (Selbst)Sicherheit und 320 das Solidaritätsgefühl unter den Fahrern, zu einer mit außergewöhnlichen Kräften begabten Männergemeinschaft zu gehören. Die magischen Kräfte der Trucker mögen die schwierigen Rahmenbedingungen der Transportarbeit zwar nicht aus der Welt zu schaffen, für den Gutgläubigen können die Probleme aber emotional erträglicher sein, sobald es die Selbsttäuschung ermöglicht, trotz mangelnder instrumenteller Bewältigungsressourcen die eigene Würde zu wahren. Andererseits ist die persönliche und kollektive Selbstsicherheit höchst trügerisch, soweit sie stillschweigend die Selbst-Täuschung und die Reproduktion bestehender Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse akzeptiert und dadurch zum Fortbestehen der risikoerzeugenden Rahmenbedingungen beiträgt. Auf der subjektiven Ebene sieht es so aus, als ob die Truckermythen versuchten, die fundamentalen Widersprüche zwischen der Persönlichkeit und der riskanten Arbeitstätigkeit der Fahrer zu lösen, allerdings weniger durch die Weiterentwicklung der praktischen Kontrolle über die Arbeitsbedingungen, als vielmehr durch die imaginäre (Selbst)"Kontrolle", die den Fahrern aber übermenschliche, weil auf lebensgeschichtliche Dauer nicht zu bewältigende Anforderungen aufbürdet. Die mythische Selbsttäuschung dient dabei der Mobilisierung körperlicher und geistiger Kräfte, mit denen der Vollzug der außergewöhnlichen Arbeits(zeit)leistungen gewährleistet wird. Da die mythischen Kontrollvorstellungen die Fernfahrer darin unterstützen, ihre riskanten Arbeitsbedingungen zumindest emotional zu ertragen, leistet die berufliche Mythologie zugleich einen verborgenen Beitrag zur gesellschaftlichen Reproduktion der fragwürdigen Strukturen im Straßengüterverkehr und zur Aufrechterhaltung der riskanten Rahmenbedingungen, unter denen die Transportarbeit gegenwärtig geleistet wird. Die mythische Verklärung der historisch gewordenen und gesellschaftlich konstruierten Risiken der Arbeits- und Lebenswelt von Fernfahrern zu einer scheinbar unabänderlichen und überzeitlichen, natürlichen und geheiligten Tatsache fördert die Absicherung bestehender Herrschaftsverhältnisse und Bedingungen gegen Veränderungen des Status Quo. Die Billigung fragwürdiger Leidensbedingungen ist dabei an die kollektive Umwertung der Arbeit geknüpft. Die mythische Verklärung des Zwangs- und Lastcharakters der Transportarbeit zu einer männlichen Heldentat will glauben machen, daß die Arbeitstätigkeit der Fahrer alles andere als eine Arbeit oder Plackerei ist. Mit der Abwertung oder Verachtung industrieller Arbeitsformen wird zugleich geleugnet, daß menschliche Arbeit überhaupt auf eine, für Männer akzeptable Art und Weise gesellschaftlich organisiert werden kann. Der mythische Glaube an die Magie männlicher Heldentaten hält somit höchst riskante Nebenfolgen bereit. Zusammengefaßt gründet sich die soziale und subkulturelle Identität vieler Fernfahrer auf einer gesellschaftlichen (Um)Definitions- und Abgrenzungsarbeit, mit der die Transportarbeit im Straßengüterfernverkehr trotz aller Unterschiede im Detail als prinzipiell gleichartig anerkannt wird. Die beruflichen Mythologien der Fernfahrer als "Kapitäne der Landstraße", "Asphalt Cowboys" oder "Highway Helden" bilden hierbei einen zentralen Bezugspunkt für alltägliche Klassifizierungs- und Stilisierungsformen, die das Selbstbild und die soziale Identität der Fahrer reproduzieren. Der "materielle" Gehalt ihrer Mythologien bleibt solange gesichert, wie es den Fernfahrern in Prozessen sozialer Auslese und Schließung 321 gelingt, eine exklusive Aneignung der mythisierbaren Merkmale und Eigenschaften auf Dauer zu gewährleisten. Umgekehrt bleibt die Anziehungskraft der mythischen Weltbilder solange bestehen, wie die Fernfahrer in ihrer alltäglichen Wirklichkeit Anhaltspunkte finden, die den Glauben an ihre außergewöhnliche Existenz fördern. "Angesichts der Tatsache, daß bei uns in Deutschland von Weite und Abenteuerromantik in unseren Verkehrsstaus keine Rede sein kann, mag es verwundern, daß sich große Teile der ehemaligen 'Kapitäne der Landstraße' zu 'Truckern' nach amerikanischem Vorbild mausern. Doch 'Kapitäne' sind sie bei näherer Betrachtung schon lange nicht mehr. Als LKW-Fahrer ist man heute einer unter vielen und zudem mit dem Image eines verkehrsbehindernden Dieselstinkers behaftet. Der Mythos des Truckers, der in Amerika übrigens höchstes Ansehen genießt, verschafft in dieser Situation ein neues Lebensgefühl. Trucker sein, bedeutet eine Haßliebe zu seinem Beruf zu haben. Denn es gibt sie auch bei uns, die kleinen Momente, die den Mythos stets aufs Neue nähren: eine ausnahmsweise freie Autobahn im Abendlicht, die entsprechende Musik im Autoradio. Die Fahrschulen können sich über mangelnde Teilnehmerzahlen für den Brummi-Führerschein nicht beklagen" (Prahl 1988). Was vermag ein Soziologe als Mythenjäger auszurichten gegen Lebensgefühle und die kleinen Momente, die eine Arbeit nicht in ihren riskanten Dimensionen offenbart, sondern ausnahmsweise von ihrer angenehmen Seite zeigt? Es scheint durchaus fraglich, ob eine mythenfreie rationalistische Lebenswelt in jedem Falle ein erstrebenswertes Ziel wissenschaftlicher Aufklärung sein sollte und ob die Aufhebung der Last des Leidens letztlich nur auf Kosten jeder Leidenschaft und Lust erfolgen muß. Die wissenschaftliche Expertise muß sich ihrerseits davor schützen, zur Souffleuse symbolischer Mächte zu verkommen. Sie muß sich hüten, den eigenen Mythos der praktischen Unfehlbarkeit wissenschaftlicher Vernunft zu pflegen, einer rationalistischen Verblendung, die blind bleibt für die eigenen Mythologisierungsformen, mit denen sich die szientistische Vernunft stets gegen die Ansprüche konkurrierender Wissensformen zu Wehr gesetzt hat. Ohne Mythisierung scheint eine Institutionalisierung und Traditionsbildung auch in "modernen" Gesellschaften kaum vorstellbar70, aber den Mythos zum einzigen "Zeugen" oder zum entscheidenden Stützpfeiler der eigenen sozialen Wertschätzung zu machen, ist ein vergleichsweise riskanter Weg, um sich seine gesellschaftliche Anerkennung auch offiziell zu sichern. Ein Weg, der letztlich nur auf "Narren" und "Verrückte" oder auf die Träume von Kindern und Romantikern bauen kann. Die Berechtigung, sich als Sozialwissenschaftler den Fernfahrer- und Truckermythen mit einer kritischen Haltung zu nähern, liegt vor allem darin begründet, daß die mythischen Sinn- und Weltbilder der Fahrer offensichtlich - über ihren positiven Beitrag zur sozialen Gruppierung und 70 322 So bestätigen neuere Forschungen zur Organisationskultur die soziokulturelle Kraft des Mythos selbst in jenen institutionellen Zusammenhängen, die wie die industrielle Unternehmung jahrzehntelang als der Hort formaler Rationalität par excellance gegolten hat. emotionalen "Bewältigung" arbeitsbedingter Anforderungen hinaus - zu einer Billigung eigentlich unzumutbarer Risiken führen. Aber Mythen entziehen sich üblicherweise der wissenschaftlichen Kritik, weil sie sich in einem anderen Bezugssystem bewegen, in dem sich Vernunft und gute Gründe, "Wahrheit" oder Wirklichkeitsadäquanz nicht ohne weiteres Geltung verschaffen. So kann die Wissenschaft zwar versuchen, ideologischen Weltanschauungen mittels Ideologiekritik die Legitimationsgrundlagen zu entziehen, die Hingabe an eine mythische Passion vermag die Wissenschaft aber kaum zu erschüttern, da ihre Argumente in diesem Metaphernspiel nur wenig zählen. Geringer Erfolg dürfte auch Versuchen beschieden sein, die Wahlen, die Erzeugungsakte und das Gewordensein der beruflichen Gruppierung zu enthüllen gegen eine Naturalisierung ihres Ursprungs und eine Verflüchtigung ihrer Geschichte und Realität, die der Mythos betreibt (vgl. Barthes 1970). Wer nicht auf Übertreibungen warten mag, mit denen die Mythologen71 der Glaubwürdigkeit ihrer Sinnwelt selbst ein schnelles Ende bereiten, indem sie sich und ihre Klientel der Lächerlichkeit preisgeben, der muß Sinn-Ersatz beschaffen, mit dem sich die etablierten Mythen vielleicht verdrängen lassen. Ein Ansatzpunkt, Mythen beizukommen, liegt in der fragilen Verbindung zwischen materiellen Eigenschaften und symbolischen Ressourcen. Im Zuge einer erfolgreicheren Verberuflichung der Fernfahrer wird auch deren Mythologie verzichtbarer, zumindest was die Motivation betrifft, Mythen als Grundlage für das kollektive Selbstwertgefühl zu nutzen. Mit gesellschaftlicher Um- oder Neudefinitionsarbeit erscheint dann eine Umwertung der Werte erreichbar, die der bis dahin geltenden, mythologisch begründeten Höherwertigkeit der Fernfahrer den Glauben entzieht. Ein Mittel gegen die Nebenrisiken der TruckerMythologie ist, die Fernfahrer selbst zu "Spielverderbern" zu machen, indem ihnen neue Arbeitsspiele angeboten werden, um ihre maskulin getönte berufliche Identität auf eine andere Weise auszuleben, die weniger riskant ist und dennoch attraktive Ansatzpunkte bietet, die Transportarbeit als eine ehrenvolle Tätigkeit zu erfahren, die gesellschaftlich geschätzt und anerkannt wird. Gefragt sind somit Merkmale und Eigenschaften, die in erster Linie von Fernfahrern angeeignet werden können und die zu einer symbolischen Neubesetzung von Attributen führen, die zugleich harmloser sind und dennoch sozial als 71 Ohne die Sinnstiftungs- und Symbolisierungsarbeit von "Intellektuellen", die eine Berufsgruppe im soziokulturellen Raum repräsentieren und im politischen vertreten, ist der Anschein geschichtsloser Natürlichkeit kaum herzustellen, mit dem sich die mythisch beglaubigte Existenz einer sozialen Gruppierung wie selbstverständlich voraussetzt. Wie nicht anders zu erwarten, sind die Intellektuellen, die den Trucker-Mythos zum Sprechen bringen, hierzulande nur mit einer vergleichsweise geringen Legitimität ausgestattet (z.B. Country-Musiker, Filmemacher etc.). 323 hochwertig anerkannt werden. Oder es muß gelingen, die Besonderheit der Berufskraftfahrer symbolisch hervorzuheben, ohne eine berufständische Absonderung und soziale Trennung von industriellen Arbeitstätigkeiten zu betreiben. Mit Formen politischer Mobilisierung haben Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegungen gezeigt, daß sich aus verallgemeinerbaren Kennzeichen der industriellen Arbeiterschaft auch ein symbolisches Kapital der Ehre gewinnen läßt und daß sich die Solidarität und Selbstsicherheit beruflicher Gruppierungen nicht nur aus Traditionen, sondern auch aus gesellschaftspolitischen Utopie entwickeln läßt. Welche Zukunft haben die Fernfahrermythologien? Gibt es Sensibilitätsschwellen, auf denen sich der Mythos selber ad absurdum führt, auf denen er seine pragmatische Bedeutung einbüßt und auf der die Gläubigen schließlich ihre Liebe zur Zwangsläufigkeit des Schicksals in Frage stellen? Angesichts der enormen Forschungslücken lassen sich auf diese Fragen noch keine befriedigenden Antworten finden. Auch die Frage nach dem Einfluß von Rationalisierungstrends im Gütertransportgewerbe auf die Entwicklung der beruflichen Kulturen von Fernfahrern wirft heute noch mehr Fragen auf, als sich beantworten lassen. Mit der Verbreitung computergestützter Informations- und Kommunikationstechnologien (z.B. mittels Bordcomputer, in der Tourendisposition und bei der On-line-Fahrzeuglokalisierung) scheint aber eine Verdichtung der Leistung und eine stärkere der Kontrolle der Transportarbeit zumindest technisch realisierbar. Wie "Trucker" auf die möglicherweise wachsende Kontrolle ihrer Autonomie reagieren, ist auf dem gegenwärtigen Forschungsstand nicht abschätzbar. Entwicklungen in der Fahrzeugtechnik haben das Führen eines Lastkraftwagens in den letzten Jahrzehnten spürbar erleichtert. Selbst sporadische, körperlich schwere Arbeiten, wie z.B. der Reifenwechsel, sind zu einer relativ seltenen Ausnahme geworden (wenn sie nicht überhaupt durch entsprechende Serviceleistungen von Werkstätten oder LKW-Herstellern dem Fahrer abgenommen werden). Anstrengende manuelle Verladetätigkeiten können zwar in der Tendenz durch die Externalisierung von Lagerfunktionen an das Speditionsgewerbe zunehmen (vor allem im Handel), sind aber mit der Ausweitung automatischer Transport-, Umschlagund Lagersysteme möglicherweise als Residualarbeiten zu behandeln. Wie werden sich die allgemeinen Tendenzen einer Verschiebungen von physischen hin zu psychosozialen Belastungsdimensionen auf den Truckerkult auswirken? Wird die physische Erleichterung der Arbeit bei gleichzeitiger Verschärfung von Streßphänomenen psychischer Über- oder Unterforderung in dem Maße als eine Bedrohung für das Männlichkeitsideal der Fernfahrer empfunden, in dem ihre Arbeitstätigkeit zunehmend von Elementen durchdrungen wird, die den tradierten Maskulinitätsmythos unterminieren? Bislang haben manche Fernfahrer auf diese Entwicklungen durch eine Verlagerung des Fokus männlicher Kraftentfaltung "reagiert", d.h. trotz Verschie324 bung von physischen zu psychischen Belastungsmomenten haben sie an der Körperlichkeit ihrer Arbeitsleistung festgehalten. Entweder wird künftig auf physischen Kraftpotentialen - ungeachtet der Verschiebungstendenzen - beharrt (die "starke Hand am Lenkrad"), vielleicht die Verausgabung maskuliner Kraft auch noch stärker in eine Traumwelt oder auf das sexuelle Gebiet projiziert, oder es wird eine Verschiebung des Brennpunktes der Kraftentfaltung stattfinden, weg von der muskulär anstrengenden Schwere körperlicher Arbeit hin zu psychophysischen Beanspruchungsdimensionen, die wie "Müdigkeit", "Durchhaltevermögen" oder "Ausdauer" auch als körperliche Formen der Belastung sinnlich erfahrbar bleiben. Frage: Was war den früher anders als heute? "Ruhiger, ruhiger, viel ruhiger, ne. Da ham wir Zeit gehabt. Die Termine waren nicht so hart. Heute ist der Konkurrenzkampf hart, ne. Überall müssen Sie selber was tun. Der Kunde drückt's auf den Unternehmer, der Unternehmer drückt's wieder auf uns. Was soll es?" (Fernfahrer H. Kluck, zitiert nach Prahl 1988). "Aber man hat kaum noch Zeit da oben für Kontakt mit Freunden. Denn ich erleb' es ja. Früher, da hat man so oft Kollegen getroffen unterwegs. Und heute, wenn man sich wirklich trifft, ja dann kann man sich mal fünf Minuten vielleicht auf der Toilette beim Pinkeln da unterhalten. Und dann ist aber auch schon Schluß! Paar Worte wechseln und man kann dann sagen: Ja, wie geht's? (...) Was macht die Familie? Und: Wo kommste her, wo willste hin? Und dann ruft man sich von Ferne schon zu: Tschüß! Gute Fahrt! Schrottfreien Flug! Und dann ist auch schon aus, vorbei. Man unterhält sich vielleicht noch ein paar Sätze über die Bräke. Und dann ist aber auch endgültig Feierabend. Das ist (...) nicht so schön, das war früher besser! Aber, die Zeit bleibt eben nicht stehen. Man muß ja schließlich auch mit der Zeit mitgehen, wenn man den Beruf hier zufriedenstellend erledigen will. Dann kann man nicht einfach Pause machen, wann man will! Weil man sonst mit der Zeit gar nicht zurecht kommt" (Günter Heimann, Trucker, zitiert nach Prahl 1988). Wie lange muß die Suche nach gesellschaftlicher Anerkennung der geforderten Wertschätzung der Fernfahrer noch mangels legitimer Offizialisierungschancen auf semioffizielle Felder ausweichen, in subkulturelle "Nischen", die der okzidentale Rationalismus der Selbstdarstellung einer subalternen Gruppe mit geringem Kapitalbesitz auch weiterhin offen hält: das Feld der Mythen- und Legendenbildung samt der Herausbildung von Subkulturen, die bekanntlich einem schnellen modischen Wandel ausgesetzt sind. Das Ringen um gesellschaftliche Anerkennung der eigenen Leistungen verweist viele Fernfahrer gegenwärtig immer noch in jene zwielichtigen Zonen, in denen die Vernunft ihre scharfen Konturen verliert, wo Märchen und Wahrheit, Traum und Realität untrennbar zu verschmelzen scheinen. Als Fazit bleibt festzuhalten, daß der Preis, den die Mythisierung der Arbeitstätigkeit und des Berufslebens der Fernfahrer kostet, bei nüchterner Betrachtung als zu hoch zu bewerten ist. Es konnte die These plausibel gemacht werden, daß die harten Wettbewerbsbedingungen im gewerblichen Straßengütertransport mangels geeigneter beruflicher und arbeitspolitischer Schutzressourcen und auf325 grund der hohen Leistungsbereitschaft unter den LKW-Fahrern über riskante Arbeits(zeit)bedingungen weitgehend auf die Beschäftigten abgewälzt werden. Über soziale und berufliche Selektions- und Anpassungsprozesse dürfte sich ein beträchtlicher Teil der Fahrer mit den arbeits- und berufsbedingten Risiken arrangiert haben und in gewissem Maße selbst zur Reproduktion der Risiken beitragen. Dies gilt nicht nur für den Versuch, potentielle Arbeitsmarktrisiken durch außergewöhnliche Arbeitsleistungen zu "bewältigen", eine risikopolitische "Strategie", die bestehende Gefahren lediglich auf eine andere, langfristig wirkende Gefährdungsebene gesundheitlicher Beeinträchtigungen verschiebt. Dort, wo weniger belastende und geringer beanspruchende Bedingungen "normaler" industrieller Arbeitstätigkeiten als berufliche Alternative abgelehnt werden, werden die riskanten Arbeitsbedingungen unter den Fahrern - gestützt durch eine von Männlichkeitsmythen und maskulinen Ehrauffassungen geprägte Arbeits- und Berufskultur - häufig sogar zu einer regelrechten Herausforderung hochstilisiert. Solche betont "männlichen" Anpassungsleistungen, die auf die kurzfristige Bewältigung von Arbeitsanforderungen gerichtet sind und hier tatsächlich Höchstleistungen motivieren können, wirken sich auf lange Sicht allerdings kontraproduktiv aus, und zwar sowohl für die betroffenen Fahrer als auch für das von Rekrutierungsproblemen bedrohte Transportgewerbe. Dabei befinden sich die Fahrer in einem Teufelskreis, aus dem nur eine alternative Gestaltung von Arbeit und Organisation des Transportablaufes einen Ausweg verspricht. Einerseits müssen die Fahrer mögliche Gefahren und Risiken als eine Herausforderung begreifen und damit zugleich "auf die leichte Schulter nehmen", um die Belastungen und Beanspruchungen aushalten zu können und den enormen Arbeits(zeit)anforderungen überhaupt gewachsen zu sein. Andererseits ist diese Bewältigungsstrategie in höchstem Maße kurzsichtig und kontraproduktiv, weil sie zu einer Selbstgefährdung beiträgt und solche Arbeitsbedingungen erst möglich macht, die auf lange Sicht das gesundheitliche Wohlbefinden beeinträchtigen. "Sozialer Unterstützung" (social support) wird nach den Ergebnissen der Streßforschung eine weitgehend positive Funktion bei der Bewältigung (coping) von Streß zugeschrieben (vgl. z.B. Badura et al. 1987, Frese 1989). Als Bewältigungsressource erfolgt soziale Unterstützung nicht nur in Form direkter, "instrumenteller Hilfen", sie enthält auch emotionale Komponenten (wie z.B. Bewunderung, Liebe, Zuneigung, Respekt) und kann durch eine kognitiv erfahrbare Bestätigung des eigenen Selbstkonzeptes bzw. Selbstbildes wirksam werden (vgl. Frese 1989, S. 112f.; Frese und Semmer 1991, S. 147). Über soziale Unterstützung können berufliche Netzwerke oder Berufsgruppen die Bewältigung arbeitsund berufsbedingter Streßrisiken beeinflussen. Dies muß auch für die berufskulturelle Mythenbildung gelten, sofern die Mythen Gläubige finden und das Spiel zu einem positiven "Selbstbildmanagment" (Badura) und zur "Aufrechterhaltung von Selbstsicherheit" (Frese und Semmer) beiträgt. Inwieweit ein 326 327 mythologisch gestütztes, magisches Selbstwertgefühl unter den Fernfahrern damit auch tatsächlich entlastend und gesundheitsfördernd wirken kann oder ein bloßes Wunschdenken bleibt, bei dem Wahn und Wirklichkeit auf eine fatale Weise miteinander verschmelzen und dadurch eine "realistische" Risikobewältigung unterlaufen, kann hier nicht abschließend beurteilt werden. Dieser höchst ambivalente Aspekt sozialer Unterstützung ist bis heute noch nicht systematisch empirisch untersucht worden. Auch für das Transportgewerbe haben die Fernfahrermythen höchst ambivalente Züge. Zum einen stützen sie die außergewöhnlichen Arbeitsleistungen und tragen damit nicht unerheblich dazu bei, daß viele Fahrer sich ihrer harten Arbeit wie einer männlichen Herausforderung stellen. Solange der Fahrernachwuchs gesichert erscheint, solange die Fernfahrer trotz hoher Belastungen und Beanspruchungen eine preisgünstige Qualitätsarbeit leisten und die Kosten gesundheitlicher Beeinträchtigungen zu den Sozialversicherungsträgern hin externalisiert werden können, müssen die langfristig wirkenden, kontraproduktiven Effekte des Männlichkeitsmythos die nüchtern kalkulierenden Unternehmer nicht weiter beunruhigen. Angesichts der demographischen Entwicklung in der Bundesrepublik, die zu einer Veränderung der Altersstruktur der Bevölkerung - nämlich zu einem wachsenden Anteil älterer Menschen - führen wird, ist künftig aber mit einer dramatischen Rekrutierungskrise qualifizierter Arbeitskräfte im Straßengütertransport zu rechnen. Es ist fraglich, ob auch in Zukunft vor allem die Bereitschaft junger Männer in dem Maße anhalten wird, die ungewöhnlichen Arbeits(zeit)belastungen und gesundheitsschädigenden Arbeitsbedingungen im Straßengüterfernverkehr wegen der bislang noch relativ großen Handlungs- und Entscheidungsspielräume und der "kleinen" Freiheiten der Fernfahrer zu akzeptieren. Ebenso offen ist, wie sich die Arbeitssituation der Fernfahrer künftig gestalten wird, wenn elektronische Informations- und Kommunikationstechnologien in stärkerem Ausmaß als bisher in die Transportwirtschaft Einzug halten und auch die Transportarbeit der Fahrer von informationstechnischer Rationalisierung (Bordcomputer) nicht ausgenommen bleiben wird. Wird die Fernfahrerei durch die Informatisierung ihre maskuline Attraktivität einbüßen oder im Vergleich zur Industriearbeit auch weiterhin genügend Attraktionen aufweisen, werden vielleicht anders ambitionierte Arbeitskräfte sich dann zur Transportarbeit "berufen" fühlen, die den Mythen freien Fernfahrertums keine Träne mehr nachweinen werden? Unter der Voraussetzung, daß weder die berufskulturelle Mythenbildung noch die Imagekampagnen des BDF auf Dauer einen angemessenen Ersatz für eine menschengerechte und sozialverträgliche Gestaltung qualifizierter Transportarbeit im Straßengüterverkehr leisten werden, deren Anforderungen auch von (älteren) Fahrern mit verminderter Leistungsfähigkeit erfüllt werden können, ist ein Umdenken erforderlich, damit der Transport made in Germany tatsächlich fern, schnell und gut in eine arbeits- und funktionssichere Zukunft unterwegs ist. 328