Leseprobe Armbanduhren Magazin - Armbanduhren

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W I E FU NKTI O NI ER T EIN CHR ONOGR APH?
DIE ZEIT ANHALTEN
… wenn auch nur kurz: Ein Chronograph ermöglicht die Messung von Zeitintervallen
mit hoher Präzision. Und ganz nebenbei zeigt er – mit derselben Präzision – auch noch
die aktuelle Uhrzeit an. Doch nicht nur das unterscheidet ihn von der Stoppuhr.
C
hronographen sind die am
meisten geschätzen Komplikationsuhren, und eigentlich steht
das Preisniveau in einem krassen Missverhältnis zur technischen Komplexität des Mechanismus. Im Grunde ist
ein Armbandchronograph nämlich zwei
Zeitmesser in einem. Ein Uhrwerk dient
der Anzeige der Uhrzeit mit Stunden, Minuten und – normalerweise – Kleiner Sekunde. Daneben installiert ist ein zweites
mechanisches System zur Anzeige von Sekunden, Minuten und – meistens – Stunden. Es verfügt weder über einen eigenen
Federspeicher noch über eine eigene Hemmung, denn bei Bedarf wird es einfach an
das laufende Uhrwerk an- und später wieder abgekoppelt. Dann können die Zeiger
dieses Mechanismus per Knopfdruck auf
null gestellt werden, sodass er für einen erneuten Einsatz zur Verfügung steht. Das
Ganze nennt man landläufig Chronograph
– im Gegensatz zur Stoppuhr, die nicht die
Uhrzeit anzeigt. Doch vor zweihundert Jahren war man noch nicht so spitzfindig.
BAHNBRECHENDE ERFINDUNGEN
Von der Stoppuhr (oben) unterscheidet sich
ein Chronograph dadurch, dass er auch
die Uhrzeit anzeigt.
Der Begriff «Chronograph» wurde erstmals
1821 von Nicolas Rieussec für seinen «Zeitschreiber» verwendet. Das Wortbild ist aus
den griechischen Wörtern für «Zeit» und
«schreiben» zusammengesetzt, und genau
das tat Rieussecs Mechanismus: Auf Knopfdruck tupfte ein Zeiger mit Federkielspitze einen Tropfen Tinte auf eine langsam rotierende Scheibe, und auf einen zweiten
Knopfdruck einen weiteren. So konnte die
inzwischen verstrichene Zeit in Millimetern
bzw. Winkelgraden abgelesen und notiert
werden. Die Wissenschaft war begeistert!
Der Franzose ließ sich seine Erfindung
1832 patentieren, doch erst dreißig Jahre später konnte der Mechanismus auch
im Alltag verwendet werden: Adolphe Nicole hatte ein System zur Rückstellung der
Messzeiger entwickelt. Er setzte auf die
Zeigerwelle eine herzförmige Scheibe, die
sich unter dem seitlichen Druck eines Hebels so weit verdreht, bis ihre abgeflachte
Seite am Hebelkopf anliegt. Da die gegenüberliegende Seite spitz zuläuft, dreht sich
der Zeiger mal in die eine, mal in die andere Richtung. Am Ende zeigt die Zeigerspitze nach oben, und nur das zählt.
Mit diesen beiden Erfindungen war der
Entwicklung immer präziserer und kleinerer Werke der Weg bereitet, und tatsächlich
unterschieden sich die Armbandchronographen des frühen 20. Jahrhunderts nicht
sonderlich von den Taschenchronographen
des späten 19. Jahrhunderts.
HORIZONTALE ODER
VERTIKALE KUPPLUNG
Im Zuge der fortschreitenden Industrialisierung der Uhrenindustrie kam in den
frühen Nachkriegsjahren Bewegung in die
Entwicklung von Chronographen-Steuerungen und Kupplungsmechanismen. Was
den Chronographen von der einfachen
Stoppuhr unterscheidet, ist ja das Nebeneinander von Uhrwerk und Kurzzeitmesser.
Die Schnittstelle zwischen dem permanent
laufenden Uhrwerk und dem nur bei Bedarf
hinzugeschalteten Chronographen-Mechanismus nennt man Kupplung, und prinziARMBANDUHREN 7/16
CHRONOGRAPHEN
Die klassische Architektur eines Handaufzugs-Chronographen bietet einen
prachtvollen Anblick. Unter der charakteristischen Y-förmigen Chronographenbrücke dreht sich das fein verzahnte Chrono-Zentrumsrad, das mit
dem gleich großen Sekundenrad (links davon) verbunden werden muss.
Diese Verbindung stellt das kleine messingfarbene Rädchen her, sobald
der geschwungene Stahlhebel, an dessen Spitze es montiert ist, vom
Schaltrad (oben) bewegt wird. Dieses Minerva-Uhrwerk wird aktuell übrigens unter der Kalibernummer MB M16.29 für Montblanc produziert.
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1 Zwei der im Artikel beschriebenen Schwingtriebe, welche die Chronographenkupplung
radikal vereinfachten
2 Das Schaltrad ist nicht unbedingt besser,
aber teurer als eine Kulissensteuerung und
wird deshalb, wie hier beim Longines Kaliber
L688.2, gern optisch hervorgehoben.
3 Der betont klassisch gestaltete
Chronograph II «Classica Secunda»
aus dem Hause Erwin Sattler
piell gibt es zwei Möglichkeiten, die beiden
Mechanismen in Gleichschritt zu versetzen.
Bei der horizontalen Kupplung schwenkt
das Antriebsrad des Chronographen seitlich gegen das Sekundenrad des Uhrwerks
und wird durch die feine Verzahnung mitgenommen. Traditionell sitzt dieses in Rubinen gelagerte Mitnehmerrad auf einem
langen Hebel, der um eine relativ weit entfernte Lagerung schwenkt.
Edouard Heuer vereinfachte das penibel
einzustellende System schon 1887 durch
ein «Schwingtrieb» genanntes Zahnrad,
das mit einem Lagerzapfen in einem Langloch in der Platine steckt, während der andere Lagerzapfen von besagtem Hebel hin
und her bewegt wird. Der Weg beträgt nur
wenige Zehntelmillimeter, doch diese reichen aus, um die beiden Räder von Uhrwerk und Chronograph mal zu verbinden
und mal zu trennen.
Diese «Wackelschaltung» funktioniert zuverlässig und erstaunlich präzise, wenn
auch das Aufeinandertreffen von Verzahnungen im stumpfen Winkel so seine Tücken hat – insbesondere dann, wenn eines
sich dreht und das andere nicht. Im Falle von horizontal gekuppelten Chronographen beobachtet man manchmal ein kurzes Rucken im Sekundenzeiger, wenn zwei
Zahnspitzen aufeinandergestoßen sind.
Um diesen Ruck zu vermeiden, setzten verschiedene Hersteller ab den 1970er Jahren
(unter anderem Seiko, Frédéric Piguet, Jae-
ger-LeCoultre) sogenannte vertikale Kupplungssysteme ein, die hinsichtlich Aufbau
und Funktion der Scheibenkupplung zwischen Automotor und Getriebe nicht unähnlich sind. Bei diesen besteht das erwähnte
Mitnehmertrieb aus zwei Zahnradscheiben
auf einer gemeinsamen Welle. Im «ausgekuppelten» Zustand drehen sich beide unabhängig voneinander, und beim «Einkuppeln»
werden die beiden Scheiben gegeneinandergepresst, wodurch sie synchron drehen. So
wird ein Eingriffruckeln vermieden.
SCHALTRAD ODER SCHIFFCHEN
Die ersten Armbandchronographen waren
mit einem einzelnen Drücker ausgestattet,
mit dem der Messvorgang gestartet, gestoppt
und wieder zurückgesetzt werden konnte.
Die Abfolge der Befehle konnte nur in dieser Reihenfolge bestimmt und erteilt werden,
und damit sich die nacheinander bewegten Hebel nicht ins Gehege kamen, sorgte
ein sogenanntes Schaltrad (aufgrund seiner
Form auch Säulenrad oder Kolonnenrad genannt) für den ordnungsgemäßen Ablauf der
komplizierten Kinematik. Breitling zählt zu
den Pionieren der Zwei-Drücker-Steuerung,
die erstmals die Unterbrechung einer laufenden Messung ermöglichte – und auch ihre Fortsetzung ohne vorherige Nullstellung.
Auch hier fand ein Schaltrad Verwendung.
Dieses aus verschleißfestem Stahl gefräste
Bauteil war bzw. ist noch immer recht aufARMBANDUHREN 7/16
CHRONOGRAPHEN
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wendig in der Herstellung, weshalb es niemanden verwundern sollte, dass die findigen Schweizer nach einer preisgünstigeren
Lösung suchten. Sie fanden sie in der sogenannten Kulissenschaltung, bei der das
gefräste Schaltrad durch einen Stapel gestanzter Bleche mit verschiedenen Konturen ersetzt ist. Eines dieser Stanzteile sieht
in etwa aus wie ein kleines Schiffchen (frz.
«navette»), weshalb man auch von einer
Schiffchen-Steuerung spricht.
Heutzutage bekennen sich kurioserweise nur noch die etablierten Großserienhersteller ETA (Swatch Group) und Sellita zu
dieser Steuerung, während alle Manufakturen, die etwas auf sich halten, aus nostalgischen Gründen auf das teurere Schaltrad zurückgreifen. Damit man das prestigeträchtige
Bauteil auch nicht übersieht, wird es nicht
selten blau angelassen, sodass es aus den Tiefen des Uhrwerks förmlich herausleuchtet.
LETZTER SCHRITT
ZUR PERFEKTION
Der letzte Schritt zum modernen Chronographen erfolgte 1969, als innerhalb weniger Monate drei verschiedene Hersteller
bzw. Firmenkonsortien dem Uhrwerk einen
automatischen Aufzug spendierten. Das erforderte tief greifende Änderungen in der
Konstruktion, denn der Chronographenmechanismus befand sich bislang an der
Rückseite des Uhrwerks, aufgelegt wie eiARMBANDUHREN 7/16
ne Scheibe Roastbeef auf einem Sandwich.
Dieser Mechanismus musste ins Werk integriert werden, um an der Rückseite Platz
für den Rotoraufzug zu schaffen.
Zenith und Movado nehmen für sich in Anspruch, als Erste mit einem funktionierenden Automatikaufzug am Start gewesen zu
sein, und nannten ihre Konstruktion stolz
«El Primero» («der Erste»). Wenige Wochen
später stellte die Entwicklungsgemeinschaft
der Firmen Heuer, Breitling, Büren und Dubois-Dépraz ihr Kaliber 11 vor, bei dem
Chronographenmechanismus und MikroAufzugsrotor nebeneinander arrangiert waren und als komplettes Modul auf das Uhrwerk aufgeschraubt wurden. In Wirklichkeit
war aber der japanische Uhrenhersteller Seiko mit seinem Automatik-Chronographen
als Erster in den Auslagen der Juweliere –
die Schweizer brauchten nach der vorgezogenen Lancierung noch einige Monate bis
zum Serienstart ihrer Chronographen.
Bedauerlicherweise vereitelte die bald heraufziehende «Quarzkrise» den Erfolg der
mechanischen Automatik-Chronographen,
und um ein Haar hätten die teuren Entwicklungen den beteiligten Firmen sogar den Todesstoß versetzt. Erst nach der Renaissance
der feinen Mechanik in den 1990er Jahren
kamen diese Konstruktionen zu Ehren, und
seit der Jahrtausendwende wurden zahlreiche neue Baumuster aus der Taufe gehoben.
Text: Peter Braun
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4 Die schematische Darstellung des Räderwerks im ETA Kaliber 7750 «Valjoux» zeigt,
dass Uhrwerk (rosa) und Chronograph (rot)
zwei unabhängige Systeme sind, die nur
bei Bedarf zusammengeschaltet werden,
in diesem Fall über ein Schwingtrieb (39).
5 Vertrauter Anblick: das Valjoux-Kaliber
von hinten. Der Chronographenmechanismus
ist unter dem Aufzugsrotor und einer großflächigen Brücke kaum zu sehen.
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DAS GESICHT DES CHRONOGRAPHEN
Sag' mir, wo Deine Totalisatoren stehen, und ich sage Dir, welches Werk in Dir steckt. Ganz
so einfach ist es nicht, weil in den letzten 15 Jahren sehr viele neue Chronographenwerke
konstruiert wurden. Aber der Blick aufs Zifferblatt gibt doch den einen oder anderen Hinweis.
V
Typisch «Tricompax»: Breitling Navitimer 01
mit Manufakturkaliber B01
or zwanzig Jahren war die Identifikation eines Chronographen
eine eindeutige Sache: Wenn die
drei Hilfszifferblätter – Kleine Sekunde, Stunden- und Minutenzähler – in der
linken Zifferblatthälfte angeordnet waren,
tickte darunter fast immer ein «Valjoux»-Kaliber (ETA 7750). Wenn die drei Totalisatoren jedoch symmetrisch bei der «9», der «6»
und der «3» positioniert waren, musste es ein
Frédéric-Piguet-Kaliber oder womöglich etwas noch Exklusiveres sein.
Inzwischen sind ganz viele neue Chronographen-Baumuster hinzugekommen, und
auch das bewährte Valjoux hat in einer Vielzahl von Varianten das alte «12-9-6»-Schema abgelegt. Kurioserweise greift keine
einzige Neukonstruktion das typische Valjoux-Gesicht auf – offenbar ist die verräterische Optik durch das preiswerte Image des
Kalibers 7750 stigmatisiert.
Größte Popularität genießt die erwähnte symmetrische Variante, die zwar griffig,
aber nicht ganz korrekt als «Tricompax»
bezeichnet wird. Der Name geht auf einen
legendären Chronographen von Universal
Genève zurück, doch die Nomenklatur hat
einen Schönheitsfehler: Der echte Tricompax hatte vier Hilfszifferblätter, also Kleine
Sekunde, zwei Zähler für Stunden und Minuten sowie eine kombinierte Anzeige von
Mondphase und Zeigerdatum.
ZWEI ODER DREI ZÄHLER
Typisch «Valjoux»: Junghans Meister
Chronoscope mit ETA Kaliber 7750
Generell lassen sich Chronographen durchaus in zwei Kategorien einteilen: mit einem
oder zwei Zählern, jeweils zuzüglich einer
kleinen Permanentsekunde. Während die
letztgenannte Variante ihre zwei Zähler –
auch Totalisatoren oder Register genannt –
je nach technischer Basis symmetrisch oder
asymmetrisch anordnet, streben die Hersteller von Chronographen mit nur zwei
Hilfszifferblättern immer nach Symmetrie,
wahlweise in der waagerechten oder in der
senkrechten Achse.
So eine «Bicompax» genannte Anordnung
(die bei Universal «Uni-Compax» hieß,
aber lassen wir das) eignet sich hervorragend, um die niedere Herkunft des meist
hinzugekauften Uhrwerks zu verschleiern.
Bei der senkrechten Bicompax-Variante
wird beim Kaliber 7750 einfach die Kleine
Sekunde stillgelegt, bei der waagerechten
Ausführung handelt es sich oft um ein Kaliber 7753 («Tricompax») mit amputiertem
Stundenzähler bei der «6».
Doch Vorsicht: Viele neue Manufakturwerke nehmen sich diese sehr klassische Zifferblattaufteilung der legendären Vorkriegschronographen zum Vorbild, und das noch
immer verwendete Poljot Kaliber 3133 ist sogar ein authentischer Dinosaurier mit Handaufzug. Bei der Einschätzung muss man also
immer auch den Markenhintergrund im Auge behalten – und das Preisgefüge!
ZEIGER AUS DER MITTE
Der Chronographen-Sekundenzeiger, der
sich erst bei eingeschaltetem Kurzzeitmesser
in Bewegung setzt, entspringt eigentlich immer der Mitte des Zifferblatts, wo auch die
Achsen von Stunden- und Minutenzeiger
verlaufen. Es gibt jedoch Chronographenwerke, bei denen auch der Minutenzählerzeiger aus der Mitte kommt. Dieser ist dann
zumeist farblich vom Sekundenzeiger abgesetzt und sollte nicht mit einem zweiten Sekundenzeiger verwechselt werden.
Dabei handelt es sich nämlich um einen sogenannten Schlepp- oder Einholzeiger, auf
Französisch «Rattrapante» genannt. Dieser
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