Leseprobe Armbanduhren Magazin - Armbanduhren
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54 | T ECHNIK W I E FU NKTI O NI ER T EIN CHR ONOGR APH? DIE ZEIT ANHALTEN … wenn auch nur kurz: Ein Chronograph ermöglicht die Messung von Zeitintervallen mit hoher Präzision. Und ganz nebenbei zeigt er – mit derselben Präzision – auch noch die aktuelle Uhrzeit an. Doch nicht nur das unterscheidet ihn von der Stoppuhr. C hronographen sind die am meisten geschätzen Komplikationsuhren, und eigentlich steht das Preisniveau in einem krassen Missverhältnis zur technischen Komplexität des Mechanismus. Im Grunde ist ein Armbandchronograph nämlich zwei Zeitmesser in einem. Ein Uhrwerk dient der Anzeige der Uhrzeit mit Stunden, Minuten und – normalerweise – Kleiner Sekunde. Daneben installiert ist ein zweites mechanisches System zur Anzeige von Sekunden, Minuten und – meistens – Stunden. Es verfügt weder über einen eigenen Federspeicher noch über eine eigene Hemmung, denn bei Bedarf wird es einfach an das laufende Uhrwerk an- und später wieder abgekoppelt. Dann können die Zeiger dieses Mechanismus per Knopfdruck auf null gestellt werden, sodass er für einen erneuten Einsatz zur Verfügung steht. Das Ganze nennt man landläufig Chronograph – im Gegensatz zur Stoppuhr, die nicht die Uhrzeit anzeigt. Doch vor zweihundert Jahren war man noch nicht so spitzfindig. BAHNBRECHENDE ERFINDUNGEN Von der Stoppuhr (oben) unterscheidet sich ein Chronograph dadurch, dass er auch die Uhrzeit anzeigt. Der Begriff «Chronograph» wurde erstmals 1821 von Nicolas Rieussec für seinen «Zeitschreiber» verwendet. Das Wortbild ist aus den griechischen Wörtern für «Zeit» und «schreiben» zusammengesetzt, und genau das tat Rieussecs Mechanismus: Auf Knopfdruck tupfte ein Zeiger mit Federkielspitze einen Tropfen Tinte auf eine langsam rotierende Scheibe, und auf einen zweiten Knopfdruck einen weiteren. So konnte die inzwischen verstrichene Zeit in Millimetern bzw. Winkelgraden abgelesen und notiert werden. Die Wissenschaft war begeistert! Der Franzose ließ sich seine Erfindung 1832 patentieren, doch erst dreißig Jahre später konnte der Mechanismus auch im Alltag verwendet werden: Adolphe Nicole hatte ein System zur Rückstellung der Messzeiger entwickelt. Er setzte auf die Zeigerwelle eine herzförmige Scheibe, die sich unter dem seitlichen Druck eines Hebels so weit verdreht, bis ihre abgeflachte Seite am Hebelkopf anliegt. Da die gegenüberliegende Seite spitz zuläuft, dreht sich der Zeiger mal in die eine, mal in die andere Richtung. Am Ende zeigt die Zeigerspitze nach oben, und nur das zählt. Mit diesen beiden Erfindungen war der Entwicklung immer präziserer und kleinerer Werke der Weg bereitet, und tatsächlich unterschieden sich die Armbandchronographen des frühen 20. Jahrhunderts nicht sonderlich von den Taschenchronographen des späten 19. Jahrhunderts. HORIZONTALE ODER VERTIKALE KUPPLUNG Im Zuge der fortschreitenden Industrialisierung der Uhrenindustrie kam in den frühen Nachkriegsjahren Bewegung in die Entwicklung von Chronographen-Steuerungen und Kupplungsmechanismen. Was den Chronographen von der einfachen Stoppuhr unterscheidet, ist ja das Nebeneinander von Uhrwerk und Kurzzeitmesser. Die Schnittstelle zwischen dem permanent laufenden Uhrwerk und dem nur bei Bedarf hinzugeschalteten Chronographen-Mechanismus nennt man Kupplung, und prinziARMBANDUHREN 7/16 CHRONOGRAPHEN Die klassische Architektur eines Handaufzugs-Chronographen bietet einen prachtvollen Anblick. Unter der charakteristischen Y-förmigen Chronographenbrücke dreht sich das fein verzahnte Chrono-Zentrumsrad, das mit dem gleich großen Sekundenrad (links davon) verbunden werden muss. Diese Verbindung stellt das kleine messingfarbene Rädchen her, sobald der geschwungene Stahlhebel, an dessen Spitze es montiert ist, vom Schaltrad (oben) bewegt wird. Dieses Minerva-Uhrwerk wird aktuell übrigens unter der Kalibernummer MB M16.29 für Montblanc produziert. ARMBANDUHREN 7/16 | 55 56 | T ECHNIK 1 2 3 1 Zwei der im Artikel beschriebenen Schwingtriebe, welche die Chronographenkupplung radikal vereinfachten 2 Das Schaltrad ist nicht unbedingt besser, aber teurer als eine Kulissensteuerung und wird deshalb, wie hier beim Longines Kaliber L688.2, gern optisch hervorgehoben. 3 Der betont klassisch gestaltete Chronograph II «Classica Secunda» aus dem Hause Erwin Sattler piell gibt es zwei Möglichkeiten, die beiden Mechanismen in Gleichschritt zu versetzen. Bei der horizontalen Kupplung schwenkt das Antriebsrad des Chronographen seitlich gegen das Sekundenrad des Uhrwerks und wird durch die feine Verzahnung mitgenommen. Traditionell sitzt dieses in Rubinen gelagerte Mitnehmerrad auf einem langen Hebel, der um eine relativ weit entfernte Lagerung schwenkt. Edouard Heuer vereinfachte das penibel einzustellende System schon 1887 durch ein «Schwingtrieb» genanntes Zahnrad, das mit einem Lagerzapfen in einem Langloch in der Platine steckt, während der andere Lagerzapfen von besagtem Hebel hin und her bewegt wird. Der Weg beträgt nur wenige Zehntelmillimeter, doch diese reichen aus, um die beiden Räder von Uhrwerk und Chronograph mal zu verbinden und mal zu trennen. Diese «Wackelschaltung» funktioniert zuverlässig und erstaunlich präzise, wenn auch das Aufeinandertreffen von Verzahnungen im stumpfen Winkel so seine Tücken hat – insbesondere dann, wenn eines sich dreht und das andere nicht. Im Falle von horizontal gekuppelten Chronographen beobachtet man manchmal ein kurzes Rucken im Sekundenzeiger, wenn zwei Zahnspitzen aufeinandergestoßen sind. Um diesen Ruck zu vermeiden, setzten verschiedene Hersteller ab den 1970er Jahren (unter anderem Seiko, Frédéric Piguet, Jae- ger-LeCoultre) sogenannte vertikale Kupplungssysteme ein, die hinsichtlich Aufbau und Funktion der Scheibenkupplung zwischen Automotor und Getriebe nicht unähnlich sind. Bei diesen besteht das erwähnte Mitnehmertrieb aus zwei Zahnradscheiben auf einer gemeinsamen Welle. Im «ausgekuppelten» Zustand drehen sich beide unabhängig voneinander, und beim «Einkuppeln» werden die beiden Scheiben gegeneinandergepresst, wodurch sie synchron drehen. So wird ein Eingriffruckeln vermieden. SCHALTRAD ODER SCHIFFCHEN Die ersten Armbandchronographen waren mit einem einzelnen Drücker ausgestattet, mit dem der Messvorgang gestartet, gestoppt und wieder zurückgesetzt werden konnte. Die Abfolge der Befehle konnte nur in dieser Reihenfolge bestimmt und erteilt werden, und damit sich die nacheinander bewegten Hebel nicht ins Gehege kamen, sorgte ein sogenanntes Schaltrad (aufgrund seiner Form auch Säulenrad oder Kolonnenrad genannt) für den ordnungsgemäßen Ablauf der komplizierten Kinematik. Breitling zählt zu den Pionieren der Zwei-Drücker-Steuerung, die erstmals die Unterbrechung einer laufenden Messung ermöglichte – und auch ihre Fortsetzung ohne vorherige Nullstellung. Auch hier fand ein Schaltrad Verwendung. Dieses aus verschleißfestem Stahl gefräste Bauteil war bzw. ist noch immer recht aufARMBANDUHREN 7/16 CHRONOGRAPHEN | 57 4 wendig in der Herstellung, weshalb es niemanden verwundern sollte, dass die findigen Schweizer nach einer preisgünstigeren Lösung suchten. Sie fanden sie in der sogenannten Kulissenschaltung, bei der das gefräste Schaltrad durch einen Stapel gestanzter Bleche mit verschiedenen Konturen ersetzt ist. Eines dieser Stanzteile sieht in etwa aus wie ein kleines Schiffchen (frz. «navette»), weshalb man auch von einer Schiffchen-Steuerung spricht. Heutzutage bekennen sich kurioserweise nur noch die etablierten Großserienhersteller ETA (Swatch Group) und Sellita zu dieser Steuerung, während alle Manufakturen, die etwas auf sich halten, aus nostalgischen Gründen auf das teurere Schaltrad zurückgreifen. Damit man das prestigeträchtige Bauteil auch nicht übersieht, wird es nicht selten blau angelassen, sodass es aus den Tiefen des Uhrwerks förmlich herausleuchtet. LETZTER SCHRITT ZUR PERFEKTION Der letzte Schritt zum modernen Chronographen erfolgte 1969, als innerhalb weniger Monate drei verschiedene Hersteller bzw. Firmenkonsortien dem Uhrwerk einen automatischen Aufzug spendierten. Das erforderte tief greifende Änderungen in der Konstruktion, denn der Chronographenmechanismus befand sich bislang an der Rückseite des Uhrwerks, aufgelegt wie eiARMBANDUHREN 7/16 ne Scheibe Roastbeef auf einem Sandwich. Dieser Mechanismus musste ins Werk integriert werden, um an der Rückseite Platz für den Rotoraufzug zu schaffen. Zenith und Movado nehmen für sich in Anspruch, als Erste mit einem funktionierenden Automatikaufzug am Start gewesen zu sein, und nannten ihre Konstruktion stolz «El Primero» («der Erste»). Wenige Wochen später stellte die Entwicklungsgemeinschaft der Firmen Heuer, Breitling, Büren und Dubois-Dépraz ihr Kaliber 11 vor, bei dem Chronographenmechanismus und MikroAufzugsrotor nebeneinander arrangiert waren und als komplettes Modul auf das Uhrwerk aufgeschraubt wurden. In Wirklichkeit war aber der japanische Uhrenhersteller Seiko mit seinem Automatik-Chronographen als Erster in den Auslagen der Juweliere – die Schweizer brauchten nach der vorgezogenen Lancierung noch einige Monate bis zum Serienstart ihrer Chronographen. Bedauerlicherweise vereitelte die bald heraufziehende «Quarzkrise» den Erfolg der mechanischen Automatik-Chronographen, und um ein Haar hätten die teuren Entwicklungen den beteiligten Firmen sogar den Todesstoß versetzt. Erst nach der Renaissance der feinen Mechanik in den 1990er Jahren kamen diese Konstruktionen zu Ehren, und seit der Jahrtausendwende wurden zahlreiche neue Baumuster aus der Taufe gehoben. Text: Peter Braun 5 4 Die schematische Darstellung des Räderwerks im ETA Kaliber 7750 «Valjoux» zeigt, dass Uhrwerk (rosa) und Chronograph (rot) zwei unabhängige Systeme sind, die nur bei Bedarf zusammengeschaltet werden, in diesem Fall über ein Schwingtrieb (39). 5 Vertrauter Anblick: das Valjoux-Kaliber von hinten. Der Chronographenmechanismus ist unter dem Aufzugsrotor und einer großflächigen Brücke kaum zu sehen. 58 | T ECHNIK DAS GESICHT DES CHRONOGRAPHEN Sag' mir, wo Deine Totalisatoren stehen, und ich sage Dir, welches Werk in Dir steckt. Ganz so einfach ist es nicht, weil in den letzten 15 Jahren sehr viele neue Chronographenwerke konstruiert wurden. Aber der Blick aufs Zifferblatt gibt doch den einen oder anderen Hinweis. V Typisch «Tricompax»: Breitling Navitimer 01 mit Manufakturkaliber B01 or zwanzig Jahren war die Identifikation eines Chronographen eine eindeutige Sache: Wenn die drei Hilfszifferblätter – Kleine Sekunde, Stunden- und Minutenzähler – in der linken Zifferblatthälfte angeordnet waren, tickte darunter fast immer ein «Valjoux»-Kaliber (ETA 7750). Wenn die drei Totalisatoren jedoch symmetrisch bei der «9», der «6» und der «3» positioniert waren, musste es ein Frédéric-Piguet-Kaliber oder womöglich etwas noch Exklusiveres sein. Inzwischen sind ganz viele neue Chronographen-Baumuster hinzugekommen, und auch das bewährte Valjoux hat in einer Vielzahl von Varianten das alte «12-9-6»-Schema abgelegt. Kurioserweise greift keine einzige Neukonstruktion das typische Valjoux-Gesicht auf – offenbar ist die verräterische Optik durch das preiswerte Image des Kalibers 7750 stigmatisiert. Größte Popularität genießt die erwähnte symmetrische Variante, die zwar griffig, aber nicht ganz korrekt als «Tricompax» bezeichnet wird. Der Name geht auf einen legendären Chronographen von Universal Genève zurück, doch die Nomenklatur hat einen Schönheitsfehler: Der echte Tricompax hatte vier Hilfszifferblätter, also Kleine Sekunde, zwei Zähler für Stunden und Minuten sowie eine kombinierte Anzeige von Mondphase und Zeigerdatum. ZWEI ODER DREI ZÄHLER Typisch «Valjoux»: Junghans Meister Chronoscope mit ETA Kaliber 7750 Generell lassen sich Chronographen durchaus in zwei Kategorien einteilen: mit einem oder zwei Zählern, jeweils zuzüglich einer kleinen Permanentsekunde. Während die letztgenannte Variante ihre zwei Zähler – auch Totalisatoren oder Register genannt – je nach technischer Basis symmetrisch oder asymmetrisch anordnet, streben die Hersteller von Chronographen mit nur zwei Hilfszifferblättern immer nach Symmetrie, wahlweise in der waagerechten oder in der senkrechten Achse. So eine «Bicompax» genannte Anordnung (die bei Universal «Uni-Compax» hieß, aber lassen wir das) eignet sich hervorragend, um die niedere Herkunft des meist hinzugekauften Uhrwerks zu verschleiern. Bei der senkrechten Bicompax-Variante wird beim Kaliber 7750 einfach die Kleine Sekunde stillgelegt, bei der waagerechten Ausführung handelt es sich oft um ein Kaliber 7753 («Tricompax») mit amputiertem Stundenzähler bei der «6». Doch Vorsicht: Viele neue Manufakturwerke nehmen sich diese sehr klassische Zifferblattaufteilung der legendären Vorkriegschronographen zum Vorbild, und das noch immer verwendete Poljot Kaliber 3133 ist sogar ein authentischer Dinosaurier mit Handaufzug. Bei der Einschätzung muss man also immer auch den Markenhintergrund im Auge behalten – und das Preisgefüge! ZEIGER AUS DER MITTE Der Chronographen-Sekundenzeiger, der sich erst bei eingeschaltetem Kurzzeitmesser in Bewegung setzt, entspringt eigentlich immer der Mitte des Zifferblatts, wo auch die Achsen von Stunden- und Minutenzeiger verlaufen. Es gibt jedoch Chronographenwerke, bei denen auch der Minutenzählerzeiger aus der Mitte kommt. Dieser ist dann zumeist farblich vom Sekundenzeiger abgesetzt und sollte nicht mit einem zweiten Sekundenzeiger verwechselt werden. Dabei handelt es sich nämlich um einen sogenannten Schlepp- oder Einholzeiger, auf Französisch «Rattrapante» genannt. Dieser ARMBANDUHREN 7/16