Ein mächtiges Kopftuch (Die wunderwirkende Windel Jesu)

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Ein mächtiges Kopftuch (Die wunderwirkende Windel Jesu)
Ein mächtiges Kopftuch
(Die wunderwirkende Windel Jesu)
arabK 11 f.
(11) Und dem Kind jenes Priesters widerfuhr das, was ihm gewöhnlicherweise widerfuhr. Er betrat das Spital, in dem gerade Josef und Mart Maria
waren, und alle Menschen waren vor ihnen geflohen. Die Herrin Mart Maria
hatte die Windeln des Herrn Christus gewaschen und sie über dem Feuerholz ausgebreitet.
Da kam jener besessene Knabe und nahm eine von jenen Windeln und legte
sie auf seinen Kopf. In diesem Augenblick fingen die Dämonen an, in der
Gestalt von Raben und Schlangen aus seinem Mund herauszukommen und
zu fliehen, und sogleich wurde jener Knabe auf Befehl des Herrn Christus
befreit. Er fing an zu lobpreisen und dankte dem Herrn, der ihn geheilt hatte.
Als sein Vater sah, dass er befreit worden war, sprach er zu ihm: »Was ist dir
passiert, mein Kind, und wie bist du befreit worden?« Er sprach: »Als der
Satan in mir einen Anfall hervorrief, ging ich zum Gasthaus und traf dort
eine ehrwürdige Frau an, die einen Knaben bei sich hatte. Sie hatte seine
Windeln gewaschen und auf dem Feuerholz ausgebreitet. Ich nahm eine davon und legte sie auf meinen Kopf, da verließen mich die Dämonen und
flohen.« Sein Vater freute sich überschwenglich darüber und sprach zu ihm:
»Mein Kind, vielleicht ist dieser Knabe der Sohn des lebendigen Gottes, der
den Himmel und die Erde geschaffen hat. Denn als er zu uns kam, zerbrach
das Götzenbild und alle Götzen stürzten und gingen zugrunde wegen der
Macht seiner Herrlichkeit.
(12,1) Hier, mein Sohn, wurde die Prophezeiung erfüllt, die besagt: ›Aus
Ägypten habe ich meinen Sohn gerufen.‹«
(Übersetzung nach Josua/Eißler 2012, 968; für philologischen Rat zum Arabischen danken
wir sehr herzlich Prof. H. Bobzin, Erlangen.)
Sprachlich-narratologische Analyse
Das arabische Kindheitsevangelium ist in syrischen und arabischen Handschriften erhalten (genauere Angaben bei Schneider 1995, 47-54). Es wurde vermutlich im 6. Jh. auf
Syrisch verfasst (vgl. Klauck 2005, 108; Schneider 1995, 53-55; Cullmann 1990, 363 ohne
Datierung), gehört also zu den jüngeren Kindheitsevangelien. Es erzählt von der Geburt
Jesu (arabK 1-9), der dreijährigen Ägyptenreise (10-25) sowie vom Leben nach der Rückkehr nach Israel zunächst als Kleinkind (26-35), dann als Kind ab sieben Jahren (36-49)
und schließlich vom zwölfjährigen Jesus in Jerusalem (50-54). ArabK verarbeitet dabei
neben den kanonischen Evangelien (Lk 2; Mt 2) auch Protev und KThom und enthält
noch weitere Stoffe (vgl. Horn 2010, 598 f.); der Anfang der Erzählung der Ägyptenreise
berührt sich mit PsMt, was auf eine gemeinsame Quelle hinweisen könnte. Die meisten
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Die Wundererzählungen in apokryphen Evangelien
Episoden sind Wundererzählungen, sowohl Heilungen (häufig von Aussatz) als auch Dämonenaustreibungen und die Rettung von verzauberten Menschen (z. B. von einem in ein
Maultier verwandelten jungen Mann, arabK 20 f.). Die Erzählungen sind ausführlicher
ausgestaltet als die Wundererzählungen der kanonischen Evangelien oder von KThom,
es gibt dabei etliche ähnliche Geschichten und Wiederholungen von spezifischen Motiven. Gerade auf der Ägyptenreise sind die Geheilten oft sehr wohlhabend.
Vor allem in den Geschichten aus der Kleinkindzeit in Ägypten und Israel werden
die Wunder meist durch Maria vermittelt, die hier die zentrale Figur ist. Bewirkt werden
sie meist indirekt z. B. durch die Windeln (11; 29; 33 f.) oder das Badewasser (17; 18; 27;
28; 31; 32; 33) Jesu oder durch das Tragen (15; 16; 21) oder anderen direkten Kontakt
zum Kind (30: in Jesu Bett liegen; evtl. 19); einmal wird eine Heilung von einer Besessenheit auch schlicht durch das Mitleid Marias ausgelöst (arabK 14). Jesus selbst ist zunächst wenig aktiv, er lässt aber in arabK 24 eine Quelle sprudeln. Das Summarium am
Ende des Ägyptenzyklus lässt aber keinen Zweifel, dass Jesus als der eigentliche Wundertäter gesehen werden soll: »Der Herr Jesus vollbrachte im Land Ägypten viel (sic!, Adverb,
Hinweis H. Bobzin) Wunder, die weder im Kindheitsevangelium noch im vollständigen
Evangelium geschrieben stehen« (arabK 25).
Ab arabK 36 ändert sich dann seine Rolle in einem neuen Lebensalter (sieben Jahre); der Einschnitt hängt möglicherweise mit der Verarbeitung einer neuen Quelle zusammen, denn es liegt eine erste Anlehnung an KThom 2 vor (vgl. Schneider 1995, 52),
die dann im Folgenden verstärkt erkennbar wird (arabK 38 f.43-49). Auch in der Kleinkindzeit kommen allerdings zweimal theologische Erläuterungen aus dem Mund Jesu
vor, so stellt er sich in arabK 1 in der Wiege (!) seiner Mutter als »Jesus, Sohn Gottes,
das Wort, das du geboren hast …« vor und kündigt arabK 23 seine Kreuzigung an. Einen
Übergang bildet arabK 35, wo Jesus ein kleines Kind ist, das aber schon sitzt und mit
Weinen auf einen Schlag des besessenen Kindes Judas (Iskariot) reagiert, wodurch der
Dämon flieht. Solche Verbindungen zu den späteren Ereignissen, wie sie in den kanonischen Evangelien erzählt sind, bestehen an verschiedenen Stellen: Die Familie trifft die
später mit Jesus gekreuzigten Räuber (23), einige Jünger (Bartholomäus in 30; Judas
Iskariot in 35; Simon Zelotes in 42) treten schon als Kinder auf und das Nardenöl, mit
dem Jesus später gesalbt wird, wird erwähnt (5).
Inhaltlich sind die Wundererzählungen überwiegend freundlich. Nur einige wenige Strafwunder aus KThom sind übernommen (arabK 44.46 f.49), die Notiz, dass sich
Kinder vor Jesus verstecken (arabK 40, vgl. 44) könnte möglicherweise auf eine Bedrohung durch seine Macht hindeuten, ist aber vermutlich im Kontext als »Spiel« der Kinder
zu deuten.
Die ausgewählte Wundererzählung von der Dämonenaustreibung durch eine Windel Jesu steht ziemlich am Anfang des arabK nach der Schilderung von Geburt, Beschneidung (am achten Tag), Opfer im Tempel (nach 40 Tagen) und Besuch der Magier. Jesus
ist vermutlich erst wenige Wochen alt. Die Erzählung ist mit einer Variante des auch aus
PsMt 22-24 bekannten Umsturzes von Götterbildern verbunden (arabK 10-12), diese
Einheit bildet entweder den Auftakt der Erzählungen aus Ägypten (arabK 10-25) oder
eine in sich abgeschlossene Ägyptenreise. ArabK 13,1 scheint ein Verlassen von Ägypten
zu implizieren, aber in 24 f. wird wieder ausdrücklich auf Ägypten verwiesen, der dort
genannte dreijährige Aufenthalt umfasst wohl auch die dazwischenliegenden Episoden.
Nach arabK 26 kehrt die Familie jedenfalls nach Israel zurück. Eine kontextuelle Verbin812
Ein mächtiges Kopftuch arabK 11 f.
dung besteht auch zu den anderen »Windelwundern« in verschiedenen Teilen des Textes
(arabK 8; 11; 29; 33 f.).
Die Wundererzählung bildet das Zentrum der ersten Ägypten-Einheit, die in
arabK 10 beginnt und mit arabK 13,1 endet: Nachdem Herodes »die Tötung des Herrn
Jesus Christus« erwägt, zieht Josef auf Geheiß eines Engels bei Morgenanbruch (Hahnenschrei, Morgendämmerung) los. Die Ortsangabe »Ägypten« wird dann in arabK 12 wieder explizit aufgenommen, indem die Prophezeiung aus Hos 11,1 (»Aus Ägypten habe
ich meinen Sohn gerufen.«) als erfüllt betrachtet wird. Erst mit arabK 13,1 findet die
Episode ihren Abschluss, indem das Fortziehen sowie ein neuer Ort benannt werden.
Diese geographische Verklammerung wird durch die wörtliche Rede des Engels zu Beginn (»erschien der Engel des Herrn dem Josef im Traum und sagte zu ihm: ›Steh auf,
nimm den Knaben und seine Mutter und gehe in das Land Ägypten.«) wie auch durch
die Rede von Josef und Maria am Ende (»Es besteht kein Zweifel, daß die Ägypter uns,
wenn sie hören, wie diese Götzenfigur zerbrach, im Feuer verbrennen werden.«) verstärkt. In arabK 9 wie auch in arabK 12 werden »Herodes«, »Betlehem« und die Tötungsabsicht des Herodes erwähnt. Sowohl die Rede des Engels als auch das Erfüllungszitat
sind wörtliche Anleihen aus dem Matthäusevangelium (Mt 2,13.15). Die Nähe zu Mt 2
wird ferner durch die Erzählung der Magier aus dem Osten in arabK 7 und 8 sichtbar,
obgleich diese auffällig ausgeweitet ist: So wird das Kommen der Magier von »Zarathustra« vorhergesagt; Maria schenkt ihnen eine Windel zum Segen, die – zurück in der Heimat – im Rahmen eines traditionellen Feuerfestes nicht verbrannt werden kann und damit zum Erweis der Ehre und Wahrheit der Kindesbegegnung wird.
In diesen äußeren Rahmen der Lokalisation ist die Erzählung über den Aufenthalt
der heiligen Familie in einem »großen Dorf« (arabK 10) eingebettet. Dieses Dorf wird nur
durch die Kultangaben näher beschrieben: »(ein Dorf), in dem sich ein Götzenbild und
all die anderen Götzen der Ägypter und ihre Götter befanden«. Obgleich der Text keinen
Zweifel daran lässt, dass es sich bei dem Bild um einen »Götzen« handelt, beginnt das Bild
in supranaturalistischer Weise zu sprechen, bevor es nach einem Bekenntnis über Jesus als
dem wahrhaftigen Sohn Gottes einstürzt. Dieser vernichtende Sturz des Bildes wird dann
in arabK 11 (Rede des Vaters) und arabK 12-13,1 aufgegriffen: »Als Josef und Maria
hörten, daß jenes Götzenbild gestürzt und zugrunde gegangen war, erschraken sie und
fürchteten sich und sagten: ›Als wir im Lande Israel waren, beabsichtigte Herodes, Jesus
zu töten, und seinetwegen tötete er alle Kinder Betlehems und seiner Umgebung. Es besteht kein Zweifel, daß die Ägypter uns, wenn sie hören, wie diese Götzenfigur zerbrach,
im Feuer verbrennen werden.‹ Und so zogen sie von dort weg« (Josua /Eißler 2012, 968).
Auf diese Weise entsteht ein doppelter Rahmen: Der äußere Rahmen sind Anlass
und Aufbruch nach Ägypten (Herodes; Tötungsabsicht; Betlehem), der innere Rahmen
der Sturz des Götzenbildes. Im Zentrum der Episode wird dann die Heilung eines besessenen Jungen erzählt, die durch sorgsame Kohärenzlinien mit dem Umfeld verbunden
wird: Verknüpft ist die Erzählung mit der Rahmenhandlung durch den Vater des Kindes,
der zugleich Priester am Götzenbild ist. »Dieser Priester hatte einen dreijährigen Sohn,
der von einigen Dämonen besessen war. Er pflegte viele Dinge zu reden und zu erwähnen, und wenn die Dämonen von ihm Besitz ergriffen, zerriss er seine Kleidung und blieb
nackt und bewarf die Menschen mit Steinen« (arabK 10). Auch der Ort des Wundergeschehens wird bereits in arabK 10 eingeführt. Maria und Josef steigen in einem »Spital«
(Josua/Eißler) ab. Schneider übersetzt »Krankenhaus«, was auch der Tischendorfschen
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Die Wundererzählungen in apokryphen Evangelien
Übersetzung ins Lateinische mit ›nosocomium‹ entspricht. Nach Schneider handelt es
sich hierbei um eine »Art christliche(.) Hospiz« (Schneider 1995, 179), was sowohl als
Herberge diente als auch Pflegeeinrichtung für Kranke war (s. u.). Der arabische Begriff
bimāristān bezeichnet allerdings keine Pilgerstätte, sondern eher eine Krankeneinrichtung (Hinweis H. Bobzin).
Die Wundererzählung im engeren Sinn zeigt die Struktur einer klassischen Wundergeschichte: In einer Exposition werden die beteiligten Personen (Kind, Josef, Maria, Christus) genannt. Aber nur das besessene Kind wird zum aktiven Handlungsträger. Von Josef
und Maria (sic) erfahren wir lediglich, dass sie auch anwesend sind, alle anderen Menschen
waren geflohen. Von Maria wird ferner eine Handlung der Vergangenheit erzählt, die das
Szenario beschreibt: Sie hatte die Windeln Jesu gewaschen und über dem Feuerholz ausgebreitet. Im zweiten Teil wird auf knappe, zielführende Weise von der eigentlichen Wunderhandlung berichtet: Das besessene Kind kam, nahm sich eine von den zum Trocknen
ausgebreiteten Windeln und legte sie sich auf den Kopf und wurde sogleich geheilt.
Obwohl Jesus zunächst gar nicht direkt genannt wird und auch in der Einleitung
nur im Genitivattribut als Besitzer der Windeln eingeführt wird, betont die Erzählung,
dass er der Verursacher der Heilung, der eigentliche Wundertäter, ist: »auf Befehl des
Herrn Christus« wurde der Knabe befreit. Hierbei wird zugleich klassisches Motivarsenal
der antiken Exorzismen aufgenommen. Wie in den kanonischen Dämonenaustreibungen »befiehlt« Jesus den Dämonen, die den Menschen offenbar wie ein Haus bewohnt
hatten, den Besessenen zu verlassen. Ohne gänzlich zerstört zu werden, verlassen sie ihren
Wirt in Tiergestalt (dazu unten) durch den Mund.
Im dritten nun folgenden Abschnitt werden ausführlich die Reaktionen auf die
Heilung geschildert. Zunächst fängt der Junge an zu loben und dankt dem Herrn. Dann
sieht der Vater die Befreiung und möchte alles genau erfahren. Die Erzählung des Tathergangs greift nun wörtlich Passagen des Hauptteils auf (Windelwaschen, Feuer, Kopfbedeckung durch Windel, Dämonenflucht). Es zeigen sich aber auch markante Abweichungen: Maria wird nicht namentlich genannt, sondern als eine »ehrwürdige Frau«
bezeichnet (lat. femina augusta), hingegen wird die Anwesenheit Jesu benannt, was zuvor
als Leerstelle geblieben war (»die einen Knaben bei sich hatte«). Die Dämonenflucht wird
ohne Details erzählt: So fehlen die Tiergestalten, auch das Verlassen durch den Mund
wird nicht erwähnt. Der Vater freut sich überschwenglich und formuliert ein Bekenntnis,
dass dieser Knabe »Sohn des lebendigen Gottes«, des Schöpfers sein könnte. Durch das
»vielleicht« bleibt noch eine gewisse Unsicherheit, allerdings wird der Sturz des Götzenbildes und aller Götzen vom Vater auf die »Macht seiner Herrlichkeit« (vis magnificentiae
eius) zurückgeführt.
Anschließend wird die Reaktion von Josef und Maria erzählt (»sie erschraken und
fürchteten sich«), allerdings nur auf den Sturz des Götterbildes. Überhaupt fehlt in diesem Schluss der inneren Rahmenhandlung nicht nur jeder Bezug zur Dämonenaustreibung, auch inhaltlich entsteht eine gewisse Spannung, denn die beginnende Umkehr des
Götzenpriesters hätte die Furcht von Maria und Josef doch zumindest mindern können.
Stattdessen beschließen sie im Analogieschluss zur Tötungsabsicht des Herodes Ägypten
zu verlassen. Auf diese Weise entsteht ein gewisser Bruch zur Austreibungsepisode.
Schneider geht offenbar davon aus, dass der Exorzismus eine nachträgliche Erweiterung
darstellt und sieht die Funktion der Erwähnung des Sohnes in arabK 10 nur in der »Diffamierung des Götzendienstes« (Schneider 1995, 179 Anm. 18). Der Exorzismus bleibt
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Ein mächtiges Kopftuch arabK 11 f.
abgesehen von der Einführung der Protagonisten (Vater, Sohn in arabK 10) gleichwohl
mit dem Kontext verzahnt, indem der Vater in seiner Bekenntnisrede auf den Sturz des
Götzenbildes eingeht. Auch der Ort des Geschehens bleibt gleich. Dass in der Übersetzung von Josua/Eißler im Exorzismus einzig »Gasthaus« übersetzt wird, findet keinen
Rückhalt im arabischen Text (Hinweis H. Bobzin; Tischendorf benutzt zutreffend immer
dasselbe lat. Wort nosocomium, vgl. Tischendorf 1876, 186).
Ferner schafft das Motiv des Feuers eine Kohärenz: Maria und Josef haben Angst,
von den Ägyptern »im Feuer« verbrannt zu werden, während zuvor zweimal das Feuer
zum Trocknen der Windeln genannt worden war. Der Leser/die Leserin von arabK erinnert sich aber, dass die Windel beim Feuerfest des Ostens gerade den Flammen trotzen
und nicht zerstört werden konnte (arabK 8). Eine Brücke zu arabK 8 wird auch durch die
konkrete Handlung erzeugt, denn auch dort wird die Windel Jesu auf den Kopf gelegt.
Nehmen wir die Figuren noch etwas genauer in den Blick: Im Umfeld des Geschehens werden nur skizzenhaft kollektive Nebenrollen (»alle Oberen«, »Priester der Götzen«, »alle Einwohner Ägyptens«, »alle Menschen«) erkennbar, die im Hintergrund agieren, sich wegbewegen oder sogar explizit fliehen. Niemand der Maria und Josef
willkommen heißt, oder Gastfreundschaft signalisiert. Von den Dorfbewohnern treten
hingegen »Vater« und »Sohn« als die maßgeblichen Protagonisten in den Vordergrund.
Beide erleben gewaltige Veränderungen. Der Vater verrichtet nicht nur seinen Priesterdienst am Heiligtum des Götzen, er vermittelt auch die Worte, die Satan durch das Götzenbild sagt. Es ist nun gerade auch der Vater, der im Anschluss an die Heilung wiederum
als lehrhafter ›Hermeneut‹ auftritt, indem er die unwissende Erzählung des Jungen auf
den »Sohn des lebendigen Gottes« bezieht, mit dem Götzensturz und sogar noch der
Ägyptenverheißung (Hos 11,1) verknüpft.
Der dreijährige Sohn wird mit eindrücklichen Details als Dämonenbesessener eingeführt (arabK 10, Text s. o.; vgl. ähnliche Auswirkungen einer Besessenheit – ausziehen,
Steine werfen – in arabK 14). Demgegenüber überrascht das planvolle Handeln des Kindes
im Spital. Während die Schilderung der Vorgänge durch den Jungen ohne jede religiöse
Deutung auskommt, wird unmittelbar nach der Heilung das Lob bereits zielgerichtet eingeführt und benennt klar den Wundertäter: Er »dankte dem Herrn, der ihn geheilt hatte«.
Die Veränderungen ereignen sich plötzlich und offenbar selbstverständlich. Von
einer inneren Entwicklung, einer komplexen oder mehrdimensionalen Figurendarstellung (Finnern 2010, 156-162) kann keine Rede sein. Allerdings zeigt die Figurenkonstellation, dass Vater und Sohn eng aufeinander bezogen werden. So wird der Junge als »Sohn
des Priesters« (arabK 10) eingeführt, was in arabK 11 unmittelbar aufgegriffen wird. Die
Hälfte der Erzählung besteht dann auch aus dem Dialog zwischen Vater und Sohn.
Der Ebene der Handlungsfiguren steht nun ein übergeordnetes Vater-Sohn-Paar
gegenüber. Schon in der Rede des Götzen ist von »Gott in Wahrheit« und dem wahren
Sohn (»wahrhaftig der Sohn Gottes«) die Rede. Auch in der Deutungsrede des Vaters an
seinen Sohn wird der »Knabe« als »Sohn des lebendigen Gottes« interpretiert, bevor die
Doppelnennung der Söhne im Schlusssatz (zwei Mal »mein Sohn«) eine unmittelbare
Parallelisierung nahe legt. Die Bekenntnisrede des Vaters gibt zugleich einen gewissen
Einblick in das »inner life« (Bennema 2009b, 392) der Figur und ruft, gerade durch ihre
Unsicherheit, die Parteilichkeit des Lesers/der Leserin hervor.
Wie der antike Leser pragmatisch durch die Textelemente angesprochen wurde,
lässt sich schwer ermitteln. Soll hier nüchtern das Ende des ägyptischen Polytheismus
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Die Wundererzählungen in apokryphen Evangelien
oder der Beginn einer materialen Reliquienverehrung erzählt werden? Soll die Macht des
einen Gottes demonstriert und die Rolle des Sohnes als des »verborgenen Gottes« (arabK
10) hervorgehoben werden? Soll der Leser/die Leserin nicht nur kognitiv, sondern auch
in emotionaler Weise zum Glauben geführt werden (Furcht der Dorfbewohner in arabK
10 – »überschwengliche Freude« des Vaters in arabK 11)?
Oder sollte man nicht auch bereits für die antike Kommunikationssituation den
Unterhaltungswert der Erzählung nicht zu gering ansetzen. Der heutige Leser gerät über
die Vorgänge zumindest nicht nur ins Staunen, sondern auch ins Schmunzeln. Zwar wird
in der Rahmenhandlung ein lebensgefährliches Fluchtszenario entworfen. Im weiteren
Verlauf sind es jedoch die anderen, sei es die Bewohner der Stadt oder die Dämonen,
die vor der heiligen Familie »fliehen«, während sie sich im Spital gemütlich eingerichtet
hat. Entsprechend wird zwar die Gefährlichkeit der von Satan gelenkten Dämonen geschildert, auch noch ihr Ausfahren in Gestalt von »Raben und Schlangen« wird mit großem Pathos dargestellt, doch die Szene mutet zugleich ironisch an, wenn man sich den
Kontrast zwischen Satan und Mächten und dem kleinen dreijährigen Jungen vor Augen
führt, der mit der Jesuswindel auf dem Kopf im Spital sitzt, während um ihn herum die
Dämonen erzittern.
Sozial- und realgeschichtlicher Hintergrund
Das Wickeln von Kleinkindern ist eine Technik, die bereits ca. 2600-2000 v. Chr. durch
kleine, aus Stein oder Ton gearbeitete Idole aus Kreta und Zypern belegt ist. Im ägyptischen, griechischen und römischen Kulturkreis war das Wickeln von Neugeborenen in
der Antike ein Teil der Versorgung und Pflege der Kinder (vgl. Plato nom. 7,5; Eurip. Tro.
759; Dio Chrys. Tyr. 16; Strab. geogr. 3,4,17; Plut. mor. 2,3,638 u. ö.; weitere Belege bei
Philipps 2011, 30 f.). Griechische Vasen und Grabreliefs zeigen in Tücher und Binden
gewickelte Kinder, im Bereich römischer Religiosität wurde ab ca. dem 6. Jh. v. Chr. häufig Mater Matuta, die Göttin der Geburt, mit einem oder mehreren Wickelkindern dargestellt, Votivgaben aus Massenproduktion in Form von Wickelkindern sind v. a. ab dem
5. Jh. belegt (z. B. in Paestum). Im antiken Judentum finden sich Belege für die Praxis des
Wickelns bei Ezechiel (Ez 16,3f.; vgl. Hi 38,9) und Philo von Alexandrien (vgl. dazu
Kügler 1996), obgleich die genaue Methode des Windelwickelns nicht beschrieben wird
(vgl. dazu umfassend Frenken 2001, 103-112). Eine Beschreibung findet sich jedoch bei
dem griechischen Arzt Soranus von Ephesos (ca. 100 n. Chr.), der in seiner Schrift Peri
Gynaikeion schreibt:
Man nehme nun das Ende der Binde und lege es am Vorderarm an, wickle sie dann ringsherum um die gestreckten Finger, den Vorderarm, den Ellenbogen und Oberarm, dabei
ziehe man sie an den Handknöcheln ruhig stramm an, lockerer aber an den übrigen
Theilen bis zur Achsel. Ebenso verfahre man bei der Einwicklung der anderen Extremität;
den Rumpf umwickle man mit einer breiteren Binde und zwar so, dass man bei den
männlichen Kindern die Binde überall gleichmässig stramm zieht, dagegen bei den weiblichen die Gegend der Brustwarzen etwas enger schnürt, die Hüftgegend dagegen locker
lässt. Denn diese Methode eignet sich besser für das weibliche Geschlecht. Danach wickle
man jeden Schenkel für sich besonders ein. Denn würde man sie in entblösstem Zustande
beide aneinander binden, so könnte leicht eine Hautreizung entstehen, wie ja überhaupt
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Ein mächtiges Kopftuch arabK 11 f.
Abb. 22: Darstellung eines Wickelkindes auf einem griechischen Grabkultgefäß, Mitte 5. Jh. v. Chr.
in Fällen, wo Körper zur Zeit, da sie noch zart sind, nebeneinander gelegt werden, gar
bald eine Entzündung eintritt. Die Einhüllung in die Binden soll sich bis zu den Fingerspitzen erstrecken, sie soll locker sein an den Schenkeln und Waden, dagegen kompress an
den Stellen des Knies und der Kniekehle, an den Fussrücken und den Knöcheln. Auf solche Weise werden die Füsse an der Spitze breiter und der Mittelfuss wird schmäler. Danach lege man die Arme an die Seiten, die Füsse an einander und umwickle dann das
ganze Kind von der Brust bis zu den Füssen mit einer breiten Binde. Dadurch, dass die
Hände eingefatscht werden, gewöhnen sie sich an die gestreckte Haltung (Soranus-Übersetzung von Lüneburg/Huber 1894, 60 f.).
Die Wickeltechnik variierte in der Antike in verschiedenen geographischen Regionen
und zu unterschiedlichen Zeiten und war Thema der Diskussion – neben dem bloßen
Einreiben mit Salz und dem Einbinden der Kinder in den ersten ca. 40-60 Tagen nach
der Geburt (vgl. Ezechiel; Galen) sind das Aufbinden auf ein Brett oder in eine Wiege
belegt. Die Zeit des Einbindens hing von verschiedenen Faktoren ab: War das Kind
wundgelegen, wurde die Behandlung z. B. früher abgebrochen; andererseits ist auch belegt, dass dreijährige Kinder noch gewickelt wurden und daher noch nicht laufen konnten (vgl. Frenken 2011, 129). Das feste Einwickeln bzw. -binden sollte v. a. der Formung
des weichen Kinderkörpers durch Druckeinwirkung dienen (Frenken 2011, 113-121; vgl.
z. B. Caelius Aurelianus; Ps.-Plut. paid. ag.; Tert. carn. Chr. 4,2; zu weiteren Erwähnungen des Wickelns und dessen Auswirkungen auf das Kind in antiken Texten vgl.
Frenken 2011, 133-137). Dafür wurden dicke Lagen verwendet (sp€rganon sparganon – Windel; lat. fascia), Caelius Aurelianus erwähnt z. B. drei bis vier Finger breite
Binden aus reiner, weicher Wolle, die keine doppelten Säume haben sollen, sodass
sie nicht reiben und die, um angenehm zu tragen zu sein, neu und reißfest sein sollen.
Gegen das Schwitzen können auch feuchte Leinenbinden verwendet werden (vgl.
dazu Caelius Aurelianus).
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Die Wundererzählungen in apokryphen Evangelien
Abb. 23: Darstellung der Mater Matuta, 4.-1. Jh. v. Chr.
In Lk 2,7.12 wird Jesus als Wickelkind beschrieben: »und sie gebar ihren ersten
Sohn und wickelte ihn in Windeln« (ka½ ¥sparg€nwsen a'tŠn kai esparganōsen auton;
Lk 2,7) und »Ihr werdet finden das Kind in Windeln gewickelt« (e¢rffisete brffyo@
¥sparganwmffnon heurēsete brephos esparganōmenon; Lk 2,12; vgl. dazu die Abbildungen bei Frenken 2011, 138 f.). Während in der Forschungsgeschichte die Windeln Jesu
zumeist als Verweis auf die Armut der heiligen Familie oder auf die Grabtücher Jesu
gedeutet wurden, wird in der neueren Forschung betont, dass die Darstellung in Lk 2
Jesus sozialgeschichtlich in den Bräuchen und Traditionen seiner Zeit verankert und
deutliche Anklänge an die literarischen Traditionen des antiken Umfeldes bietet (vgl. zu
diesem Aspekt v. a. Kügler 1995; Philipps 2011, 39-42).
Der Text erwähnt mehrfach die Unterkunft der heiligen Familie: Der arabische
Begriff bimaristan deutet zwar auf ein Krankenhaus hin, es erfüllt aber die Funktion einer
Herberge, so dass im historischen Umfeld an ein »Hospiz« gedacht werden kann. Im
privaten Bereich gebot es die Gastfreundschaft, Reisenden und Fremden Unterkunft zu
gewähren (vgl. Hiltbrunner 1972, 1082 f.). Die Institution von öffentlichen Herbergen
entwickelte sich im vorderen Orient bereits im 2. Jt. v. Chr. für die Beherbergung von
Karawanen (Karawan-Saray). Bereits im 5. Jh. v. Chr. sind im persischen Reich Poststationen belegt, die von offiziellen Reisenden und Kurieren genutzt werden konnten und
die militärisch überwacht wurden; weitere Herbergen entwickelten sich im Rahmen des
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Ein mächtiges Kopftuch arabK 11 f.
Abb. 24: Geburt Christi, Elfenbeinrelief auf der Kathedra des Bischofs Maximianus, 6. Jh. n. Chr.
Pilgerbetriebs an großen Heiligtümern. Wahrscheinlich um der Belastung des Gebots der
Aufnahme von Fremden zu entgehen, wurden auch im griechischen und römischen Kulturkreis ab ca. dem 2. Jh. v. Chr. öffentliche Herbergen errichtet. Grundsätzlich unterscheidet man zwischen gewerblichen Wirtshäusern und von Stiftern errichteten, für Reisende unentgeltlich zu nutzenden Herbergen. Beide dienten der nicht privat getragenen,
vorübergehenden Beherbergung von Reisenden, wobei erstere häufig mit Laster und Unzucht konnotiert waren (pandoce…on pandocheion). Im Bereich des antiken Judentums
sind Synagogen-Herbergen belegt (z. B. aus dem 1. Jh. v. Chr. auf Delos), im christlichen
Kontext wird die Herberge als zenodoce…on (xenodocheion) bzw. hospitium bezeichnet,
sie steht in Zusammenhang mit der bischöflichen Unterkunft und dient der unentgeltlichen Beherbergung von Reisenden. Diese Institution wurde jedoch von vielen Bedürftigen in Anspruch genommen: Arme, Kranke, Witwen und Waisen bewohnten das zenodoce…on. Daher wurde es bald unumgänglich, die Unterkünfte zu spezifizieren in
»ptwcotrofe…on (Armenhaus), nosokome…on (Krankenhaus), gerontokome…on,
ghrokome…on (Altenheim), chrotrofe…on (Witwenheim), ¤rfanotrofe…on (Waisenhaus), brefotrofe…on (Säuglingsheim)« sowie Pilgerherbergen (vgl. Hiltbrunner 1988,
618). Dass die Familie Jesu in arabK 11 in einem nosocomium (von nosokome…on nosokomeion), also einem Krankenhaus, unterkommt, könnte der textinternen Angabe geschuldet sein, dass das Wunder ein krankes Kind betrifft.
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Die Wundererzählungen in apokryphen Evangelien
Traditions- und religionsgeschichtlicher Hintergrund
Auffällig ist die Gestalt der ausfahrenden Dämonen, die als Raben und Schlangen beschrieben werden (vgl. arabK 42: Schlange als tödliches Tier; arabK 16: Satan als Schlange, aber in 33 f. als Drache und in 35 als tollwütiger Hund). In frühchristlichen Exorzismen ist der Dämon normalerweise nicht selbst sichtbar, sondern lässt sich nur an seinen
Wirkungen auf den Besessenen (vgl. Mk 9,26) oder die Umgebung (vgl. Mk 5,13 die
Schweineherde; vgl. Flav. Jos. Ant. 8,46-48) erkennen. Auch ikonographisch sind frühchristlich Darstellungen selten, erst im Mittelalter werden Dämonen wichtiger und häufiger und auch in Tiergestalt dargestellt (vgl. Schade 1968, 466 f.). Die Schlange ist dabei
schon in vorchristlicher Zeit ein Bild für den Teufel oder für Dämonen; dies geht auf die
Auslegung von Gen 3 zurück (vgl. Meier 1976, 635). Raben sind dagegen nicht eindeutig
negativ konnotiert, sie können für Zerstörung und Ödnis stehen (vgl. Jes 34,11), haben
in der Bibel aber auch eine positive Rolle als Botenvögel (Gen 8,6 f.; 1Kön 17,6) und sind
in anderen Religionen positiv und wichtig. Die im christlichen Mitteleuropa übliche Verbindung von Raben mit Hexen und Zauberei (vgl. z. B. Otfried Preußlers Buch Krabat)
und das entsprechend negative Image hat vermutlich einen Traditionshintergrund in der
nordischen Mythologie (z. B. wird Odin von zwei Raben begleitet). Aber dies ist nicht der
Kontext der Entstehung von arabK. Möglicherweise bietet sich der Rabe einfach als ein
schwarzer Vogel als Bild für die Dämonen an.
Auch für das Windelmotiv finden sich geprägte Deutungsmuster. In altägyptischen
Königshymnen wird die Herrschaft des Königs dadurch legitimiert, dass er bereits »in
Windeln« als mächtiger Herrscher präsentiert wird. Die Inschrift der Mendes-Stele beschreibt Ptolemaios II. Philadelphos (3. Jh. v. Chr.) als »Herrscher, Sohn eines Herrschers, geboren von einer Herrscherin, dem das Amt eines Herrschers der beiden Länder
schon überwiesen wurde, als er noch im Mutterleibe war und als er noch nicht geboren
war. Er hat schon erobert auf der Windel, und er hat schon geherrscht an den Brüsten«
(übers. Roeder 1959, 178). Der Homerische Hymnus an Hermes (z. B. 150-152) beschreibt den Gott im Säuglingsalter als mächtigen Helden (vgl. auch Eurip. Ion 30-56;
Hes. theog. 459-465; vgl. dazu Philipps 2011, 32-38). Weish 7,4 hingegen stellt das
Geborenwerden und in Windeln gewickelt sein des Königs als einen üblichen
Brauch, das königliche Kind als gewöhnlichen Säugling dar und unterwandert damit die antike Herrscherdarstellung. Dadurch, dass sich das Kind Jesus im Lukasevangelium nicht durch Machttaten ausweist, wird die Hilflosigkeit des göttlichen
Kindes in Windeln mit der Betonung seiner göttlichen Abstammung kontrastiert
(Lk 2,11). In arabK ist diese Dialektik verschwunden, das Jesuskind hat von Anfang
an, in Windeln und sogar durch Windeln, seine volle göttliche Macht.
Verstehensangebote und Deutungshorizonte
Die Wundererzählung lässt sich zunächst christologisch deuten, wobei mit Angaben zum
Wesen und Wirken Jesu Christi je unterschiedliche Aspekte in den Vordergrund treten:
Jesus wird einerseits als normales Baby dargestellt, das nicht nur Windeln trägt, sondern
sie auch braucht, so dass sie gewaschen werden müssen. Dies korreliert mit der weiteren
Darstellung des Kindes Jesus, das gestillt und gebadet wird, in einem Bett liegt, mit an820
Ein mächtiges Kopftuch arabK 11 f.
deren Kindern spielt und nach einen Schlag weint (vgl. arabK 35; von Schmerzen ist
ausdrücklich allerdings weder hier noch in arabK 49, wo ein Lehrer ihn schlägt, die Rede). Bis in Details hinein wird später das Spielen des siebenjährigen Jesus auf die Alltagserfahrungen des Lebens mit Kindern (z. B. Unfug anstellen in arabK 37; Verstecken in
arabK 40) heruntergebrochen. Man könnte hier einen antidoketischen Zug erkennen,
allerdings würde dies der Jesusdarstellung aufs ganze gesehen kaum gerecht. Sie zeichnet
sich eher durch eine gewisse Spannung aus: Vom ersten Auftreten Jesu an lässt die Rede
des Säuglings keinen Zweifel daran, dass hier der »Sohn Gottes« zum »Heil der Welt«
(arabK 1) geboren wurde. Entsprechend sagt Maria in arabK 3: »Genauso wie meinem
Sohn keines unter den Kindern gleicht, so gleich auch seiner Mutter keine unter den
Frauen«. Immer wieder werden auch Hoheitstitel wie »Sohn Gottes« oder »Herr Jesus«
verwendet. Auch die analysierte Erzählung wird durch diese Bipolarität gekennzeichnet:
Neben den Windeln wird das Kind passiv neben der Mutter und schutzbedürftig durch
die Eltern geschildert. Andererseits ist es »der Befehl des Herrn Christus«, der die Dämonen ausfahren lässt. In der Rede des Vaters wird Jesus dann »Sohn des lebendigen Gottes«
genannt, dessen »Macht der Herrlichkeit« die Götzenbilder zerbrach. Die Worte des Vaters verweisen zurück an die Rede des Götzen in arabK 10. Das Motiv des »Kommens
Jesu« (»als er zu uns kam«, arabK 11fin) wird hier wiederholt und somit über den engen
Plot der Erzählung hinausgehoben: Es geht um das Kommen des Sohnes in die Welt.
Zugleich wird Jesus hier »verborgener Gott« genannt, was als Anspielung auf Apg 17,23
gesehen werden kann, wie auch die konfessorische Formulierung des heidnischen Götzenbildes »wahrhaftig Gottes Sohn« an das Bekenntnis des Heiden unter dem Kreuz erinnert (Mk 15,39par.).
Andererseits zeigt das Wunder durch die Windel aber auch, wie die Macht Jesu
vermittelt wird, wie Christus in der Welt und an Menschen wirkt. Neben dem Wort
(»Befehl«) sind es gerade materiale Gegenstände, die Jesu Kräfte vermitteln. In der Erzählung wird dies eindrücklich an der Windel vorgeführt. Die durch dieses allzu menschliche Medium vermittelte Kraft wird auch nicht durch den Vorgang des Waschens und
Trocknens der Windeln gemindert. Anders als in den kanonischen Evangelien (z. B. Erde,
Schlamm) oder KThom ist bei der Wirkmächtigkeit der Windel zusätzlich kein direktes
Handeln oder Reden Jesu nötig, die heilende Kraft steckt unmittelbar in ihr und wirkt
sich auf die aus, die in Kontakt mit ihr treten. (In arabK 19 reicht eine Übernachtung im
Haus für diese Wirkung.) Die Macht Jesu scheint stofflich greifbar zu sein und hat vielleicht direkt etwas mit Körperausscheidungen oder -ausdünstungen zu tun, da neben
den Windeln in arabK häufig Jesu Badewasser heilende Wirkung hat. In arabK 30 ist es
der Geruch bzw. die Berührung von Jesu Kleidern, der ein sterbendes, zu ihm in sein Bett
gelegtes Kind wieder ins Leben zurückbringt. In arabK 35 treibt das Weinen Jesu den
Dämon des Judas aus. Diese durch Kontakt vermittelte, nicht absichtlich und zielgerichtet ausgeübte Macht Jesu wird vielfach von Maria gelenkt, die z. B. Windeln gegen ein
schönes Tuch eintauscht (arabK 29) oder sie einfach (arabK 7 f.) ebenso wie das gebrauchte Badewasser Jesu (arabK 32) weiterreicht.
Die materiale Vermittlung der Wunderkraft setzt voraus, dass die Sphären von
Unheil (die Krankheiten) und Heil (das Jesus bewirkt) eindeutig zuzuordnen sind. Dies
funktioniert besonders gut bei einem Exorzismus, wo die Göttlichkeit Jesu einfach keinen
Raum für andere, dämonische Mächte lässt. (Eine Nachfrage nach den Wünschen der
Kranken wie Mk 10,51 lässt sich dabei nicht unterbringen bzw. wird auf Maria verlagert,
821
Die Wundererzählungen in apokryphen Evangelien
vgl. arabK 31.) Auf dieser Abgrenzung der Machtbereiche liegt der Ton der Geschichte,
eine wirkliche Begegnung zwischen dem Jesuskind und dem Jungen findet dagegen nicht
statt und trotz der Erzähldetails bleibt die Geschichte christologisch gesehen eher abstrakt und unnahbar. Die Hoheitsaussagen des Götzen (»verborgener Gott«, »Gott in
Wahrheit«, »wahrhaftig der Sohn Gottes«, »Größe seiner Macht«) wie auch des Vaters
(»Sohn des lebendigen Gottes, der Himmel und Erde geschaffen hat«, »Macht seiner
Herrlichkeit«) greifen auf das geprägte Repertoire einer hohen Christologie zurück. Auch
der Erzählerkommentar macht deutlich, dass bereits das Jesuskind »Dominus Christus«
ist, dessen Macht und Größe zeichenhaft bereits erfahrbar wird und nur noch von den
Zeitzeugen erkannt werden muss.
Weiterhin ist eine mariologisch-feministische Deutung der Erzählung möglich. Dies
mag zunächst verwundern, da Maria in der Perikope gar nicht als handelnde Person auftritt. Die gesamte heilige Familie ist nicht direkt am Geschehen beteiligt, es wird auch nur
retrospektiv in der Schilderung des Jungen gesagt, dass Maria überhaupt anwesend ist
(»ging ich zum Gasthaus und traf dort eine ehrwürdige Frau, die einen Knaben bei sich
hatte«). Erwähnt wird aber ausdrücklich, dass Maria die Windeln Jesu gewaschen und auf
dem Feuerholz ausgebreitet hat, was zunächst als ein eher unnötiges novellistisches Detail
erscheint. In der Wiedergabe der Geschehnisse durch den Jungen wird dieser Satz allerdings wörtlich wiederholt und damit narrativ auch die Rolle von Maria hervorgehoben.
Dies entspricht der hervorragenden Rolle, die Maria auch sonst in den Wundern
des arabK einnimmt. An sie wenden sich die Hilfesuchenden, oft noch durch Vermittlung
von früher Geheilten. Sie gibt die Anweisungen und ggf. Hilfsmittel, die für das Wunder
nötig sind (vgl. Horn 2010, 599 f.). Teilweise veranlasst sie Wunder auch selbst (arabK
14) oder das Wunder wird im Rückblick als durch sie bewirkt beschrieben (»Wahrlich,
ich war aussätzig, aber nun hat mich Mart Maria, die Mutter Jesu Christi, geheilt«, arabK
33). Für Maria wird im Text die ehrenvolle syrische Anrede Mart (analog zu Mar für
einen Mann, vgl. Josua/Eißler 2012, 966; Dank an M. Tilly für die Rückversicherung)
verwendet. Sie wird selig gepriesen (6; 18; 53) und schon direkt nach der Geburt Jesu
als den Töchtern Evas unähnlich beschrieben (3). Maria scheint an einigen Stellen wichtiger oder zumindest auffälliger als das Jesuskind selbst, auch wenn ihre Besonderheit von
seiner – auch er gleicht nicht anderen Kindern – abgeleitet ist.
In diesem größeren Zusammenhang kann das Windelwaschen als eine Hervorhebung ihrer Rolle in der Vorbereitung des Wunders verstanden werden: Maria stellt
bereit, was für die Heilung nötig ist, und arbeitet auf diese Weise am Wunder mit. Auch
wenn klar festgehalten wird, dass es durch Jesus (»auf Befehl des Herrn Christus«) bewirkt wird, hat sie eine vielleicht mit priesterlichen Funktionen vergleichbare Rolle in der
Vermittlung. Und zwar indem sie eine alltägliche Frauenarbeit ausübt, die hier wichtig
wird. Wie Jesus ein besonderes Kind ist, aber zugleich im normalen Kinderalltag geschildert wird, so ist auch Maria eine besondere Frau, die trotzdem wie andere lebt. Maria ist
nicht abgehoben, wie sich auch an ihrem Umgang mit Hilfesuchenden zeigt. Sie bleibt bei
aller Verehrung auch eine gewöhnliche Frau – und Frauenarbeit wird in die Wundertätigkeit Jesu eingebunden, macht sie überhaupt erst möglich. Horn hält die starke Rolle
von Maria für durch eine Auseinandersetzung mit dem Islam bedingt, in dem Maria sehr
geschätzt wird (vgl. Horn 2010, 600). Dies setzt aber eine späte Datierung von arabK
voraus; möglicherweise ist auch ein umgekehrter Einfluss denkbar. Mariologische Inte-
822
Ein mächtiges Kopftuch arabK 11 f.
ressen bestehen jedenfalls in großen Teilen des frühen Christentums, spezifische Indizien,
die auf den Islam verweisen, sind m. E. in arabK nicht erkennbar.
Die Dämonenaustreibung lässt sich in psychologisch-symbolischer Hinsicht auch als
Befreiungserfahrung interpretieren. Die Erzählung ist voller Hinweise auf Mächte und
Gewalten, denen die Menschen vollständig ausgeliefert sind. So ist der Vater ganz im
Bannkreis des Götzen. Ohne einen Rest von Eigenaktivität oder kritischer Reflexion
übermittelt er einfach »alles, was jener Satan durch jenes Götzenbild sagte« (arabK 10).
Eine eindrückliche Schilderung des Identitätsverlusts gibt auch die Beschreibung des besessenen Jungen: Gleich mehrere Dämonen (»einige Dämonen«) haben »von ihm Besitz
ergriffen«. Bei den Anfällen »zerriss er seine Kleider und bliebt nackt«. Die Kleidung ist
nicht nur das Indiz kultureller und sozialer sondern auch persönlicher Identität
(Leutzsch 2005, 9-32). Diese in der ›Nacktheit‹ zum Ausdruck gebrachte Schutzlosigkeit
mündet in Aggressivität: Er bewirft die Menschen mit Steinen.
In einem solchen Zustand der Fremdbestimmung trifft der Junge nun mit der heiligen Familie zusammen (vgl. die Schilderung: »als Satan in mir einen Anfall hervorrief,
ging ich […] und traf […]«).Was nun im Krankenhaus geschieht, verwundert den Leser,
der mit der bisherigen Schilderung einen hilflosen, unkontrollierten Jungen vor Augen
hat. Ganz im Gegenteil dazu handelt das Kind nun äußerst planvoll und überlegt. Es
nimmt sich eine der Windeln und legt sie auf den Kopf. Dieser Ritus ist schon in arabK
8 (nach dem Feuerfest legen sich die Bewohner die Windel auf Kopf und Augen) eingeführt und deshalb nicht mehr befremdlich. Auf diese Weise eignet sich der besessene
Junge aktiv und eigenständig die Wunderkraft Jesu an. Das autonome Handeln kann
hierbei bereits als Ausdruck der Befreiung betrachtet werden. Die Mächte, die den Jungen
dominiert und bestimmt hatten, verlassen ihn und fliehen, während er zu sich selbst
zurückkommt. Das Verhalten des besessenen Jungen, der sich einfach eine Windel und
damit die Heilkraft Jesu nimmt, erinnert hierbei an die blutflüssige Frau, die Jesus ohne
Frage und Ankündigung von hinten berührt (vgl. Mk 5,25-34, vgl. Zimmermann 2010a,
12-14). Hier wie da wird eine Kraftübertragung durch Stoff vermittelt. Während im
Markusevangelium Jesus die Eigenständigkeit und den Glauben der Frau lobt, wird das
Verhalten des Jungen durch den nachfolgenden Dialog legitimiert. Der Vater erkennt,
dass das Jesuskind, Sohn des lebendigen Gottes, seinen Sohn gerettet hat.
Er erkennt, dass mit dem Auftreten des Knaben »das Götzenbild (zerbrach) und
alle Götzen stürzten« und zugrunde gingen. Und er bekennt, dass dies »wegen der Macht
seiner Herrlichkeit« geschah. Wie der Sohn durch Dämonen gebunden war, so war der
Vater dem im Götzenbild wirkenden Satan (arabK 10) ausgeliefert und wird nun ebenfalls befreit. Die Erzählung berichtet insofern von einer doppelten Befreiungserzählung
(der arab. Begriff baria kann ›heilen‹ und ›befreien‹ bezeichnen, Hinweis H. Bobzin), die
Vater und Sohn gleichermaßen aus dem Bannkreis von Satan-Dämonen treten lässt. Sie
lässt aber auch deutlich werden, dass diese Befreiung durch den »Sohn« erfolgt. Wie in
der Erzählung das kranke Kind dem Vater die Einsicht in die Befreiung ermöglicht, so ist
es der Sohn des lebendigen Gottes, der mit seinem Kommen die Menschen beherrschenden Mächte zerbrochen hat und zerbricht. Im Schlussvers der Erzählung verknüpft die
auffällige Doppelnennung »mein Sohn« am Anfang und Ende des Verses eindrücklich
das Schicksal des Priestersohnes mit dem Sohn Gottes. Der Vater erkennt im Schicksal
seines Sohnes, dass er befreit ist von der Macht des Götzen. Er sieht zugleich, dass damit
die alttestamentliche Prophezeiung (Hos 11,1) erfüllt ist. Es ist die erinnernde Prophe823
Die Wundererzählungen in apokryphen Evangelien
zeiung des Exodus, der Befreiung aus Ägypten, die sich hier – und immer wieder – neu
ereignet hat. Ein sichtbares Zeichen dieser Befreiung ist die neue Gemeinschaft zwischen
Vater und Sohn. Zeigt die einführende Schilderung Distanz und Aggression (Kind wirft
Steine), so kommt es erst nach der Austreibung zu einer Begegnung: Freude, wechselseitiges Zuhören und schließlich die zweifache liebevolle Anrede (»Mein Kind«, »Mein
Sohn« …) bringen diese neue Qualität der Vater-Sohn-Beziehung zum Ausdruck. Die
Befreiung von Dämonen und Götzen ermöglicht somit nicht nur die Restitution der
Identität von Einzelpersonen, sondern stiftet zugleich neue Gemeinschaft.
Aspekte der Parallelüberlieferung und Wirkungsgeschichte
Schon unter den kanonischen Evangelien lässt sich ein Abnehmen von Exorzismen beobachten, in den apokryphen Evangelien spielen sie praktisch keine Rolle – außer in arabK,
wo sie ein eigenes Profil entwickeln. Zum einen sind die Erzählungen stärker ausgeschmückt und auch die Dämonen und ihre Wirkung anschaulich beschrieben. Zum
anderen funktioniert die Austreibung unterschiedlich: In den synoptischen Evangelien
gibt Jesus den Dämonen den ausdrücklichen Befehl zum Ausfahren, oft ist dies in einen
Dialog zwischen ihnen eingebettet, der den Charakter eines Kampfes hat (vgl. Poplutz,
Dämonen in diesem Band). In arabK ist es einfach der Kontakt zu Jesus, der die Austreibung bewirkt, oft sogar nur indirekt wie hier über die Windel vermittelt. Jesu göttliche
Macht überträgt sich auf den Gegenstand und wirkt auf die Dämonen. Dass dies durchaus als ein Kampf aufgefasst werden kann, zeigt eine ähnliche Geschichte in arabK 33 f.
Hier wird ein Mädchen von Satan in Gestalt eines Drachen bedroht, der sie verschlingen
will. (Das Mädchen ist also streng genommen nicht besessen, sondern steht in Auseinandersetzung mit Satan, der sich von außen nähert.) Auf Anweisung Marias zeigt das Mädchen dem Drachen bei seiner nächsten Annäherung die Windel Jesu und legt sie dann auf
ihren Kopf. »Und in jenem Moment kamen aus der Windel Flammen aus Feuer und
Glut, die auf jenen Drachen geschleudert wurden … so dass er lauthals schrie: ›Was habe
ich dir getan, Jesus, Sohn der Maria, wohin soll ich vor dir fliehen?‹ Und er machte kehrt
und ließ ab von jenem Mädchen …«. Auch wenn also Jesus selbst nicht aktiv wird und
keinen Befehl gibt, reagiert der Drache durchaus ähnlich wie Dämonen auf den erwachsenen Jesus. Die Präsenz Jesu mit seiner Macht in der Windel enthält auch ohne Worte
eine klare Botschaft an dämonische Mächte, die von diesen auch verstanden wird, wenn
sie nicht von Feuer begleitet ist. Vielleicht ist das Fehlen eines ausgesprochenen Befehls
Jesu also nur durch sein Alter bedingt – und umgekehrt lässt sich auch im NT beobachten, dass Dämonen schon auf die Gegenwart Jesu reagieren, bevor er etwas sagt (z. B. Mk
1,24; 5,6 f. – obwohl dort ein Ausfahrbefehl nachgetragen wird). Auch der kanonische
Jesus übt somit nicht nur verbal eine Wirkung auf die Dämonen aus, sondern auch schon
durch seine Präsenz. Zudem findet sich im Neuen Testament bereits die Vermittlung der
Macht Jesus durch seine Kleidung (Mk 5,27-30).
In arabK ist die Heilung des besessenen Jungen unmittelbar mit dem Sturz der
Götterbilder verbunden, die Erzählungen sollen sich wohl gegenseitig interpretieren.
Während die Parallele in PsMt 22-24 auf die überlegene Macht des Jesuskindes zielt (dazu Standhartinger zu PsMt 22 in diesem Band) und auch die analoge Geschichte von der
Verneigung der Standarten (EvNik 1,5 f.) seine Anerkennung durch höchste irdische
824
Ein mächtiges Kopftuch arabK 11 f.
Mächte klarstellt (dazu Röder zu EvNik 1,5 f. in diesem Band), zeigt arabK 10 f. zudem
noch die Überlegenheit Jesu über Dämonen. Hier werden also nicht nur die bisher anerkannten Mächte als nichtig im Vergleich zu Jesus dargestellt, sondern es kommt zu einer
Auseinandersetzung mit bösen Mächten. Jesus ist nicht nur den sonst verehrten Göttern
überlegen, sondern hat ausdrücklich auch Macht über Satan und die Dämonen. Möglicherweise ist dies ein Anliegen des arabK, in dem Teufel und Dämonen, aber auch böse
Zauberei einen großen Raum einnehmen. Die Konkurrenz mit anderen Religionen kann
gegenüber dieser Auseinandersetzung zurücktreten. Vielleicht liegt hierin ein Bedürfnis
der Lesenden, denen die Macht Jesu gegenüber bösen Mächten zugesichert wird. Oder
wird hier sichtbar, dass fremde Götter zu Dämonen abgewertet wurden (vgl. Müller
1976, 765)?
In den Bereich der Wirkungsgeschichte von arabK 11 fällt auch die in der Erzählung aufgezeigte Vorstellung, dass die Windeln Jesu heilmächtige Wirkung haben. Die
Praxis der Reliquienverehrung bzw. des Reliquienkults ist bereits in der Antike v. a. im
Bezug auf den Heroen- und Herrscherkult literarisch wie archäologisch belegt, ebenso
ist die Vorstellung der Übertragbarkeit übermenschlicher Kräfte auf Besitzgegenstände
oder Körperteile der wirkmächtigen Person bekannt, die als »Berührungsreliquien«
(Brandea) auch nach deren Tod Kraft besitzen (vgl. dazu Pfister 1912, passim, bes.
532 f.). Im christlichen Bereich lassen sich die Verwendung und die Anfänge der Verehrung von Sekundärreliquien z. B. in Apg 19,11f. erkennen, wo der Glaube benannt
wird, dass Tücher, die Paulus berührt hat, Wunder wirken können (vgl. auch erste Ansätze in Mk 5,27-30). Auch in der außerkanonischen Literatur des frühen Christentums
spiegelt sich diese Tendenz (vgl. z. B. das Tuch mit dem Abdruck des Gesichts Jesu in der
Abgarlegende, dazu Wasmuth 2012, 227; ferner Ackermann Bd. 2 des Wunderkompendiums). Häufig dienten apokryphe Schriften der Identifizierung von Reliquien, z. B. können das ABCdarium, die Badewanne und die Wiege Jesu, die nur in den Apokryphen
erwähnt sind, aufgrund dieser Schriften als Reliquien interpretiert werden. Die Pilgerin
Egeria erwähnt auch die Praxis der Lektüre apokrypher Schriften an den entsprechenden
Aufbewahrungsorten der Gegenstände (vgl. z. B. Peregr. Eger. 19,2.16; 23,5; vgl. dazu
Hartmann 2010, 607). Reliquien sollen die Präsenz der heiligen Person in der Gegenwart
garantieren und durch sie soll deren übermenschliche Kraft weiterhin wirken. In Bezug
auf arabK 11 ist von Bedeutung, dass die mittelalterliche Reliquienfrömmigkeit u. a. eine
große Anzahl von Jesus-Reliquien kannte, die die Verehrung der Menschwerdung Gottes
zum Ausdruck bringen. Neben den von der Auferstehung nicht betroffenen Teilen wie
der Nabelschnur, der Vorhaut und dem Milchzahn des Jesuskindes, den Tränen und
dem Blut Jesu und den Leidensinstrumenten Kreuz, Nägel, Dornenkrone, Leiter, Lanze,
Essigschwamm etc., nahmen im Rahmen der Berührungsreliquien insbesondere Brandea
textiler Natur einen wichtigen Platz ein. So wurde z. B. das Gewand Jesu in Trier verehrt,
sein Grabtuch in Turin und das Lendentuch des Gekreuzigten sowie auch die aus dunklem, filzartigem Material bestehenden Windeln des Jesuskindes in Aachen (vgl. dazu Angenendt 2007, 214-217; Legner, 1995, 78-87; vgl. Schiffers 1937, 63).
Laila Fascia
825
Die Wundererzählungen in apokryphen Evangelien
Literatur zum Weiterlesen
R. Frenken, Gefesselte Kinder. Geschichte und Psychologie des Wickelns, Badenweiler 2011, bes.
103-136.
C. B. Horn, Apocryphal Gospels in Arabic, or Some Complications on the Road to Traditions
about Jesus, in: J. Frey/J. Schröter (Hg.), Jesus in apokryphen Evangelienüberlieferungen,
WUNT 254, Tübingen 2010, 583-609.
J. Kügler, Die Windeln Jesu als Zeichen. Religionsgeschichtliche Anmerkungen zu SPARGANOW
in Lk 2, BN 77 (1995), 20-28.
T. E. Phillips, Why Did Mary Wrap the Newborn Jesus in »Swaddling Clothes«? Luke 2.7 and
2.12 in the Context of Luke-Acts and First-Century Literature, in: S. Walton et al. (Hg.),
Reading Acts Today. Essays in Honour of Loveday C. A. Alexander, LNTS 427, London/
New York 2011, 29-42.
A. Rousselle, Die antike Familie und das Christentum, WUB 6 (1997), 33-36.
826