CLASSIC LADY°Masuren
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CLASSIC LADY°Masuren
Classic Lady° Masuren Foto: Claudia Diemar www.azur.de Alleen, Traumpfade, Wälder und Seen. Mit Schiff und Rad durch das ehemalige Ostpreußen. In Begleitung von Seeadlern und Kormoranen. Masurische Rhapsodie 54 °azur.de 2/2014 2/2014 azur.de 55 ° Classic Lady° Masuren Im Jagdhaus von Galkowo werden die Gäste der Classic Lady nach einer Stärkung auf der Terrasse im Salon Marion Dönhoff empfangen. Auch wenn die Touren auf sandigen Wegen zuweilen ordentlich in die Waden gehen, die Radler sind in bester Stimmung. Kapitän Tomasz Biadun genießt am Anleger in Piaski die Nachmittagssonne bei einer kleinen Pause vor der Tür des Steuerhauses. Gut getarnt im dichten Schilfgürtel: Am Ufer des GrunwaldzkiKanals lauert ein Reiher auf einen Happen Fisch als Beute. Fotos: Claudia Diemar Sechs Seen und fünf Kanäle an einem einzigen Tag – zwei Passagiere haben ihre Räder am Bug verstaut und bleiben wegen der schönen Strecke heute an Bord. 2/2014 azur.de 57 ° Classic Lady° Masuren „Meister Wojtek“ wird der Weißstorch in Polen genannt. Hier brütet er auf dem Turm der bildschönen Backsteinkirche von Weissuhnen. Gleich geht es los: Reiseleiter Zygmunt Matusak neben den in Reih und Glied aufgestellten Fahrrädern am Steg von Wilkasy. Blick von der Brücke aufs Bootsgewimmel: Viel Andrang herrscht vor der Guschiener Schleuse nahe dem Ort Niedersee (Ruciane Nida). Natur pur - idyllisch mäandert der Fluss Kruttinna durch den Auwald mit Biberburgen im Schilf und Seerosen auf dem Wasser. Fotos: Claudia Diemar Uralte Eichbäume ragen wie Skulpturen am Ufer des Spirdingsees auf, der auch „Masurisches Meer“ genannt wird. Die Gegend ist als Landschaftspark geschützt. 58 °azur.de 2/2014 59 ° Classic Lady° Masuren Segelboote auf dem Löwentinsee: Die Masurische Seenplatte ist vor allem im Sommer ein beliebtes Revier für Wassersportler. mäßig eingerichtet. Die Betten sind bequem und dank des Schiebesystems der Nachtschränkchen nach Gusto mühelos als Einzel- oder Doppelbetten anzuordnen. Vor dem Klappfenster ist ein Mückennetz gespannt. Ein Ventilator wirbelt die größte Hitze weg, aber auf eine Klimaanlage muss man verzichten, was im Hochsommer zur schweißtreibenden Angelegenheit werden kann. Es soll schon Sommernächte gegeben haben, bei denen die Hitze im Bauch der Lady so groß wurde, dass man, um ein wenig Luftzug zu bewirken, einfach in allen Kabinen die Türen offen ließ und so praktisch wie auf einer Hütte in einer Art Massenlager schlief. Gut, dass die Classic Lady in aller Regel von eher sportiven Gästen gebucht wird, die mitnichten wegen der üblichen Verwöhnungen auf Kreuzfahrten gekommen sind. An Bord gibt es zwei Mahlzeiten täglich, ein Frühstücksbuffet und ein Abendessen, bei dem jeweils zweierlei Suppen und Salate gereicht werden, aber nur ein Hauptgericht serviert wird. Für Vegetarier gibt es auf Wunsch eine fleischlose Variation. Die Qualität der Küche ist mit „gutbürgerlich“ treffend beschrieben. Am ersten Abend gibt es Pilz- und Tomatensuppe, nach den Salaten kommt ein farcierter Barsch mit Kartoffelpüree und zum Abschluss eine leckere Torte, die als „Honigkuchen“ angekündigt wird. Das Restaurant, das auch als einziger Gemeinschaftsraum fungiert, hat große Panoramafenster. Unter jedem Bett liegt ein persönlicher Liegestuhl, mit dem man es sich oben auf dem Sonnendeck gemütlich machen kann. Aber derlei Bequemlichkeiten sind für die Passagiere zweitrangig. Wer die Classic Lady wählt, will vor allem in die Pedale kommen. Rund 270 Kilometer werden an den sechs Tourentagen insgesamt abgeradelt. Die meiste Zeit fährt man auf Forstwegen, zuweilen auch auf sandigen Pisten und kleinen Nebenstraßen durch Wald und Wiesen, entlang wie aus der Zeit gefallener Dörfchen mit Storchenpaaren auf den Dächern. Die stabilen 7-Gang-Citybikes der Marke BBF sind gut gewartet. kommen viele kleinere Weiher und Tümpel. Einige der großen Seen sind mit Kanälen aus dem 19. Jahrhundert verbunden und schaffen so ein zusammenhängendes schiffbares System von Wasserwegen. Um diesen feuchten Naturraum zu erleben, sind die Passagiere gekommen – und um sich darin aktiv zu bewegen. Denn nicht nur die Classic Lady dient als Fortbewegungsmittel dieser Reise, sondern ebenso die Leihfahrräder, mit denen täglich zu Touren zwischen 30 und 70 Kilometern aufgebrochen wird. Schon als die Gäste in Warschau zum Transfer zusammentreffen, ist klar, dass sich hier nicht die übliche Kreuzfahrerklientel eingefunden hat. Die Teilnehmer sind im Schnitt jünger und trainierter, als man es sonst von Schiffsreisenden gewohnt ist. Am Flughafen Frédéric Chopin steigt die erste Gruppe in den Bus, am Zentralbahnhof kommt der zweite Schwung hinzu. Dann geht es über die Autobahn und später über Chausseen nach Norden. Vier bis fünf Stunden dauert der Transfer, je nach Verkehr, bis Masuren erreicht ist. Auf der letzten Etappe ist die Überlandstraße gesäumt von Verkäufern, die Pfifferlinge und Heidelbeeren, die Schätze der masurischen Wälder, feilbieten. Endlich ist das RadlerResort in Piaski in einem lichten Kiefernwald am Beldahnsee erreicht. Direkt am Ufer liegt das einfache Hotel mit einem schmucken Herrenhaus und einem Anleger, an dem das Schiff auf seine Passagiere wartet. S 60 °azur.de 2/2014 K Fotos: Claudia Diemar echsundvierzig Personen haben Platz an Bord der Classic Lady. Zu den knapp 40 Passagieren kommt die Besatzung hinzu: Kapitän Tomasz Biadun, der junge Koch Pawel Zalewski, das Quartett der Kellner, die gleichzeitig als Matrosen arbeiten. Das Damentrio für den Reinigungsservice reist stets zum jeweils nächsten Anleger an. Der neben dem Schiffsführer wichtigste Mann an Bord ist Reiseleiter Zygmunt Matusak, eigentlich Lehrer von Beruf. Zygi, wie er gerufen werden will, spricht nicht nur exzellentes Deutsch und verfügt über einen Schatz an Anekdoten und Geschichten aus dem alten Ostpreußen und modernen Masuren, sondern fährt auch bei den geführten Radtouren voraus, flickt fachkundig platte Reifen oder schraubt flugs ein loses Schutzblech fest. Wer will, kann aber auch auf Zygis überaus angenehme Begleitung verzichten und auf eigene Faust seinen Weg suchen. Die Reederei stellt dafür eine Broschüre mit Wegbeschreibungen und Routenvorschlägen samt fakultativer Abstecher oder Abkürzungen zur Verfügung. Aber jetzt will jeder erst einmal seine Kabine beziehen. Die Classic Lady ist zwar das größte Schiff, das in Masuren unterwegs ist, aber eine Lady ohne jede Allüren, also kein Luxusweibchen. Die Kabinen sind inklusive des Bades elf Quadratmeter groß und zweck- eine Tortur im Masur“, versichert Reiseleiter Zygi seinen Gästen. Aber ein wenig trainiert sollte man schon sein. Die jüngste Teilnehmerin ist um die 30, die älteste knapp 80 Jahre alt, aber eine stramme Radlerin. Die Gäste, die dieses Mal an Bord sind, stammen aus allen Teilen Deutschlands. Die „Exoten“ unter den Passagieren sind das Damen-Duo Beate und Maria aus dem Schweizer Kanton Glarus sowie die Französin Agnès mit charmantem Akzent, die aber schon lange in Deutschland lebt. Und weil dies keine Luxuskreuzfahrt ist, trifft man auf ein breites Spektrum an Berufen: das Bauernpaar aus Norddeutschland, den Schulhausmeister und die Mathelehrerin aus Sachsen, das Ärztepaar aus Hamburg, den Ingenieur aus Frankfurt. M asuren begrüßt die neuen Gäste mit herrlichstem Wetter: Kornblumenblau leuchtet der Himmel, und der Wind von Osten ist von prickelnder Frische. Nach der ersten, angenehm kühlen Nacht an Bord sucht sich jeder Passagier in der „Fahrradschmiede“ einen passenden Drahtesel aus, der die ganze Woche über das persönliche Gefährt bleibt. Hier wird noch ein Sattel verstellt, da eine Packtasche angebracht, dann kann es losgehen. Gemeinsam radeln wir ins nächste Dorf Weissuhnen, heute Wejsuny genannt, ein gemütliches, verschlafenes Nest mit zwei kleinen Dorfläden. Wir kaufen Wasser, Wogende Kornfelder und rauschende Ulmen an einer wenigbefahrenen Landstraße an der Strecke vom Warnolty- zum Spirdingsee. Brot, Käse und Obst für ein Picknick, weil wir einen Teil der Tages auf eigene Faust unterwegs sein wollen. Die Strecke ist pure Idylle: Auf einer wenigbefahrenen Nebenstrecke unter riesigen Ulmen als Chausseebäumen geht es an wogenden Kornfeldern vorbei. Bald ist der Spirdingsee erreicht, mit 114 Quadratkilometern das größte Gewässer der Masurischen Seenplatte. Niedwiedzi Rog, übersetzt „Bärenwinkel“, nennen sich Weiler und kleiner Hafen am Ufer. Bären sehen wir keine, dafür aber eine überaus idyllische Landschaft, teils mit Schilf gesäumt, teils mit sandigen Stränden, an denen Familien den Sonntag verplantschen. ▼ A lleen alter Bäume, Traumpfade, Wälder und Seen aus dem Märchenbuch“, schrieb Wolfgang Koeppen in „Es war einmal in Masuren“. Ostpreußen hieß die Region einst. Aber die Gäste des Schiffes Classic Lady sind nicht gekommen, um der Vergangenheit nachzusinnen, sondern die Gegenwart zu erleben. Masuren ist die grüne Lunge Polens: Endlose Wälder mit Kiefern, Birken und Buchen wechseln sich ab mit unzähligen Seen, deren blaue Augen den hohen Himmel spiegeln. Etwa 3000 dieser Seen sind mehr als einen Hektar groß, dazu 2/2014 azur.de 61 ° classic lady° Masuren Im Dorflädchen gönnen wir uns ein Eis als Belohnung und frische Sauerkirschen vom Bauern, die eben eingetroffen sind. Der Rest des Nachmittags wird in den bequemen Liegestühlen auf dem Sonnendeck verträumt, während Surfer und Segler dekorativ über den See flitzen. Später sind auch die anderen Radler zurück, und die Classic Lady legt zum ersten Mal ab, passiert den lang gestreckten, schmalen Beldahnsee Richtung Norden, zieht eine weite Schleife durch den Spirdingsee und biegt schließlich in den direkt abzweigenden Nikolaiker See ein. Das intensive Licht lässt das Wasser tief blau und die Wälder herrlich grün leuchten. 62 °azur.de 2/2014 B ekannt ist unser heutiges Ziel aus dem Buch „Die Reise nach Nikolaiken“ von Arno Surminski, der Masuren als vergangenes Idyll beschrieb: „Land, das ohne Eile beginnt, das gerne die Zeit verschläft.“ Für das heutige Nikolaiken trifft das nicht zu. Der Ort ist das Zentrum des masurischen Sommertourismus. Kneipen und Cafés reihen sich am Ufer, Sportboote liegen zu Dutzenden an den Stegen. Doch wir sind spät dran. Das Dinner wird schon serviert, und die Zeit reicht nur für einen Verdauungsspaziergang an unserer Uferseite. Macht nichts, denn nach Nikolaiken werden wir noch einmal kommen und es mit Muße durchstreifen können. Frühmorgens laufen brummelnd die Motoren an, und die Lady legt ab. Hinter den zwei Brücken heißt das Wasser, auf dem wir schwimmen, nun Talter See, später Ryn-See. Während gemütlich gefrühstückt wird, schiebt sich die Classic Lady bis zum Städtchen Rhein an dessen Ende vor. Auf die Radler der geführten Gruppe wartet heute die anstrengendste Tour der gesamten Woche. Knapp 70 Kilometer, zum Teil mit in die Waden gehenden Sandpisten, sind zu bewältigen. Dazu kommt ein längerer Spaziergang durch das einstige Führerhauptquartier Wolfsschanze, diesem zu Bunkerbeton geronnenen Irrsinn faschistischen Größenwahns. Längst hat die Natur die vor dem Abzug noch gesprengten Anlagen überkrautet, wo Stauffenbergs Attentat auf den Diktator scheiterte. Nach dem ausführlichen Besuch dieser bedrückenden Fragmente geht der Weg der Radler weiter in Richtung Osten über Doba, Kamionki und das Ufer des Kissain-Sees nach Gizycko, das zu ostpreußischer Zeit Lötzen genannt wurde. E ssen kann man alles, wissen aber nicht“, meint Reiseleiter Zygmunt und erzählt deshalb wie immer nach dem Abendessen ein wenig über die Region und die Radlerroute am nächsten Tag. Immerhin werden wieder rund 56 Kilometer auf dem Programm stehen. Doch bis Mittag kommt die K W eil das Schiff heute eine besonders interessante Route fährt und wir die Wolfsschanze von einer Studentenfahrt nach Polen kennen, bleiben wir an Bord und dürfen Kapitän Biadun auf der Brücke Gesellschaft leisten. Das Schiff legt wieder ab, fährt zunächst ein Stück auf gleicher Strecke zurück, biegt dann links ab in den TalckiKanal, durchquert den gleichnamigen See, fädelt sich in den Grunwaldzki-Kanal ein und passiert einen weiteren See mit raschelndem Schilfgürtel. Dann zieht die Classic Lady in den nächsten Kanal namens Miodunski, durchmisst mit nordöstlichem Kurs den Szymon-See, dem der springen vor der warmen Dusche noch schnell vom Steg in den See, um eine Runde zu schwimmen. Knapp über 20 Grad hat das Wasser, in heißen Sommern kann es dagegen durchaus karibische Temperaturen von bis zu 28 Grad erreichen. Küchenchef Pawel serviert zum Dinner köstlichen Zander in Mandelkruste. apitän Tomasz Biadun ist Mitte 40, hat aber bereits mit 27 Jahren das Kapitänspatent erhalten und darf daher als erfahrener Schiffsführer gelten. An diesem Morgen gibt es nur eine kritische Situation zu meistern. Bei der schmalen Einfahrt in einen der Kanäle wartet ein Sportboot nicht ab, sondern passiert die Classic Lady an der heikelsten Stelle, wo sie gegen die Drift ansteuern muss. Aber die Sache geht gut. „Ein wenig Stress muss manchmal sein“, kommentiert der Kapitän locker, der abends auch schon mal an der Bar steht und das gute regionale Lomza-Bier zapft. An Bord der Classic Lady packt jeder an, wo er gerade gebraucht wird, da macht der Kapitän keine Ausnahme. Rasend schnell trübt sich das Wetter ein. Die Lichtmasten am Ufer schicken ihre Signale in immer kürzeren Abständen. Scharenweise kommen uns Segler unter Motor entgegen, um wegen der Sturmwarnung in den nächsten Hafen zu gelangen. Kurz vor dem Anleger in Wilkasy, einem Vorort von Lötzen, passieren wir noch den Kanal Kula mit nur ganzen 110 Metern Länge. Dann ist der Löwentinsee erreicht. Zwei Nächte werden wir in Wilkasy liegen. Der Wind hat aufgefrischt. Noch einmal kommt die Sonne durch, und wir erklimmen die einhundert Stufen hohe Holztreppe zum Café einer Ferienanlage hinter dem Anleger, um bei Waffeln und Tee das Panorama zu genießen. Als wir wieder am Schiff sind und die Räder klarmachen wollen, setzt der Regen ein, erst nieselnd, dann immer heftiger. Also machen wir es uns in der Kabine gemütlich, nehmen „So zärtlich war Suleyken“ von Siegfried Lenz zur Hand und ergötzen uns an seinen kongenialen Geschichten über masurische Lebensart und Bauernschläue. Erschöpft und durchnässt treffen irgendwann auch die Radler von der großen Tour ein. Die Sportivsten Tierische Begegnungen: In der zoologischen Forschungsstation in Popielno lassen sich die seltenen Tarpanpferde aus nächster Nähe bewundern. Gruppe aus Lötzen nicht heraus. Zu viel ist hier zu sehen: die mächtige Festung Boyen etwa, Mitte des 19. Jahrhunderts erbaut, um russischen Truppen den Weg ins Herz Preußens zu versperren. Im Zweiten Weltkrieg hatte sie keine militärische Bedeutung mehr. Gemunkelt wird aber, dass irgendwo die Pläne zur Wiederauffindung des legendären Bernsteinzimmers versteckt sein könnten, das genau hier nach dem „Endsieg“ hätte ausgestellt werden sollen und bis heute nicht auffindbar ist. Weniger Mysteriöses gibt es am nächsten Stopp zu entdecken. Neben den zu einem stilvollen Hotel umfunktionierten Ruinen der Kreuzritterburg aus dem ▼ Auf der Terrasse des Herrenhauses am Anleger von Piaski wird am vorletzten Abend ein zünftiges Grillfest mit Blick auf den Beldahnsee gefeiert. immerhin fast zweieinhalb Kilometer lange SzymonskiKanal folgt. Lang, schmal und in anmutigen Biegungen zieht sich daraufhin der Jagodne-See dahin. Kapitän Biadun macht uns unterwegs auf Fischadler, Haubentaucher und Kormorane aufmerksam. Störche staken am Ufer auf der Suche nach Futter für die Jungen. „Meister Wojtek“ wird der Weißstorch in Polen genannt. Immerhin ein Viertel aller weltweit vorkommenden Weißstörche brüten in Polen. Mit etwas Glück kann man in Masuren auch seltene Schwarzstörche beobachten. Beide gehören zu den „Oststörchen“, deren Überwinterungsroute über den Bosporus und den Sinai nach Afrika führt, während die Kollegen im westlichen Europa über die Meerenge bei Gibraltar auf den Schwarzen Kontinent reisen. In Masuren sind im Sommer in jedem noch so kleinen Weiler mindestens ein halbes Dutzend Storchennester zu sehen. Aber der Wind ist frisch, und trotz des Hochsommers hat jeder auf dem Sonnendeck inzwischen eine dicke Jacke übergezogen. Direkt gegenüber vom schmucken Städtchen Nikolaiken, polnisch Mikolajki, wird festgemacht. Neben uns liegt der stolze Großsegler Chopin, der sich für Dinner-Cruises buchen lässt. Fotos: Claudia Diemar Während die geführte Gruppe einen weiten Bogen mit Besichtigung des Städtchens Johannisburg (Pisz) schlägt, strampeln wir durch einen Wald mit Eichgiganten, versuchen dann eine abgekürzte Schleife nach Süden zu ziehen, die leider im Kiesbett der gerade in Generalüberholung befindlichen Landstraße endet. Also wieder zurück nach Weissuhnen mit seiner schön renovierten protestantischen Kirche: Backstein-Neogotik gepaart mit Jugendstil-Elementen, von Storchennestern gekrönt. Anders als sonst im katholischen Polen sind evangelische Kirchen in Masuren häufig anzutreffen – ein Erbe der ostpreußischen Zeit, als die Region noch vom Ritterorden geprägt und Heimat von Millionen Deutschen war. 2/2014 azur.de 63 ° Flussfahrt Fahrradtour Leerfahrt Land der tiefen Wälder und stillen Seen Classic Lady° Masuren Einfach nur treiben lassen: Eine beschauliche Fahrt im Stakerboot auf der Kruttinna, dem wohl romantischsten Flusslauf Polens. einen Eindruck vom einst archaischen Landleben vermittelt. Das Highlight auf dem Heimweg: Ein kapitaler Elchbulle nascht am Rapsfeld und kreuzt den Weg, als er die Ritter der Pedale auf sich zukommen sieht. Ein beeindruckender Anblick, aber die Szene ist viel zu schnell vorbei, um sie mit der Kamera festzuhalten. Tierisch sind auch die Begegnungen am nächsten Tag. Die Nacht über lag die Classic Lady noch einmal in Nikolaiken. Am Morgen geht es für die Radler am Seeufer nach Süden, mit der Fähre wird bei Wierzba übergesetzt. Der Höhepunkt der heutigen Tour ist ein 64 °azur.de 2/2014 teils ausgebrannte Jagdhaus hierher versetzen, und zu Ehren ihres journalistischen Vorbildes richtete Renate Marsch-Potocka den Salon mit dem Namen der Gräfin ein. Gebannt hören die Gäste die vom Band abgespielte Erinnerung Marion Dönhoffs an die Flucht durch Eis und Schnee aus Ostpreußen auf ihrem Pferd Alarich. Besuch der zoologischen Forschungsstation in Popielno, wo sich Tarpanpferde bewundern und zahme Biber streicheln lassen. Seidenweich ist ihr Fell und der mächtige Paddelschwanz so warm wie ein Heizkissen. Z urück am Ausgangspunkt in Piaski wartet die Classic Lady schon auf die Gäste. Es hat aufgeklart, und der Tag vergeht mit kitschig schönem Abendrot. Weil Koch Pawel heute seinen freien Tag hat, übernimmt die Küche des RadlerResort-Hotels zusammen mit den Matrosen der Classic Lady das kulinarische Ruder. Auf der Terrasse des Herrenhauses wird ein zünftiges Grillfest veranstaltet. Zur Unterhaltung spielt eine Dreimannkapelle auf und sorgt für beste Stimmung. Einige der Passagiere schwingen ausgelassen das Tanzbein. Am letzten Tag ist die sommerliche Wärme zurück. „Ein bisschen Sand muss sein“, trällert der drahtige Schulhausmeister Andreas aus Dresden schon beim Frühstück zur Einstimmung auf die letzte Tour, der schönsten der gesamten Woche. Frei nach dem Motto: das Beste zum Schluss! Wald und Wiesen wechseln sich munter ab, in Eckertsdorf, heute Wojnowo, wird eine bildschön renovierte orthodoxe Kirche besucht, ein Stück weiter ein Kloster. In Kruttinnen schmausen die Radler auf einer Terrasse am Fluss ein Pilzragout, bevor es zu einer erholsamen Fahrt mit den Stakerbooten auf den Fluss geht. Einem Gondoliere ähnlich stakt uns Bootsführer Pjotr lautlos durch das Idyll. Wie ein masurischer Amazonas wirkt die Szenerie: Wald wächst bis ins Wasser hinein, Schwäne mit flaumigen Küken treiben hoheitsvoll vorbei, ein Eisvogel sirrt durchs Unterholz, Biberburgen sind zu bizarren Gebilden getürmt, und Kanuten tummeln sich scharenweise auf dem wohl romantischsten Flusslauf Polens. Kühl und klar fließt die Kruttinna dahin. Rot leuchtende „Blutsteine“ liegen am Grund, Algen treiben wie Nixenhaar im Wasser, das grüngolden die Wildnis am Ufer spiegelt. „Vergesst einmal alle Aktivität und lasst euch ganz meditativ treiben“, hatte Reiseleiter Zygi gesagt. Ein guter Rat! G anz verzaubert steigen wir wieder auf die Räder, erreichen nach nur einer halben Stunde Fahrt in Galkowo ein schmuckes Jagdhaus, wo es im Bauerngarten Zuckerei mit frischen Himbeeren gibt. Dann begrüßt Renate Marsch-Potocka, ehemalige Journalistin und Polen-Korrespondentin der dpa, persönlich die Radler und führt sie in den Salon Marion Dönhoff unterm Dach. Das Jagdhaus stand nämlich ursprünglich im 70 Kilometer entfernten Dorf Steinort und gehörte der Familie Lehndorff, mit der Marion Dönhoff verwandt war. 2007 ließ Familie Potocka das ruinöse, D Fotos: Claudia Diemar, Infografik: www.AxelKock.de für AZUR 14. Jahrhundert findet sich eine Drehbrücke über den Luczanski-Kanal, die bis heute alle halbe Stunde manuell mit einem Steuerrad bewegt wird. Nach Besichtigung des Stadtzentrums mit der vom preußischen Hofarchitekten Schinkel erbauten Kirche geht es unter tief hängenden Wolken vorbei am Goldaper See und zurück zum Schiff nach Wilkasy. Auch am nächsten Tag gibt sich das Wetter düster. Aber die Radler haben Glück. Der einzig schlimme Guss kommt herunter, als die Gruppe gemütlich in der Wirtsstube des Landhotels von Christel Dickti im Dorf Safry bei Kaffee und Kuchen sitzt. Vorher wurde Familie Dicktis privates Hofmuseum besichtigt, das ie letzten Kilometer zurück über Sandpisten werden zum anstrengenden Schlussakkord. Hinter der rechten Kniescheibe macht sich ein fieser Schmerz breit. Aber es ist ja nicht mehr weit bis zum Anleger der Classic Lady. Ein Kleeblatt von individuellen Radlern hat an diesem Tag mehr Pech. Dreimal hintereinander platzt ein Reifen an ein und demselben Drahtesel. Damit sind alle mitgeführten Ersatzschläuche dahin. Ein Anruf beim Schiff genügt, und Kapitän Biadun persönlich schnappt sich das Auto des Radler-Resorts und bringt den Gestrandeten ein Ersatzrad. Wenn das kein vorbildlicher Einsatz ist! Und beim letzten Dinner unterstützt der Kapitän das Kellnerquartett beim Servieren und schenkt, wie fast jeden Abend, auf Wunsch einen Verdauungsschnaps ein. Reiseleiter Zygi liest noch ein wenig vor. Diesmal ein Gedicht von Fritz Berger über Ostpreußen. Und dann greift ein Gast spontan zur Mundharmonika und gibt Seemannslieder zum Besten. E s ist lange hell, und am Abend ist der Himmel so blitzblau wie zu Beginn der Reise. Kein Lüftchen regt sich. Der Beldahnsee liegt still wie ein Spiegel. Die Masten eines Seglers ziehen vor der glühend untergehenden Sonne vorbei. Die blaue Stunde danach wird zum Gemälde. Und die Mücken summen leise dazu. Text: Claudia Diemar Lötzen Wilkasy Deutschland Rhein Die unberührte Natur Masurens aktiv erleben und durch idyllische Dörfer und Städtchen bummeln. Polen Szymonka Nikolaiken Masuren Die Masurische Seenplatte im Nordosten Polens ist eine der schönsten polnischen Landschaften. Sie besteht aus etwa 3000 größeren und kleineren Seen in einer von der letzten Eiszeit geschaffenen Moränenlandschaft. Charakteristisch sind die glazialen Rinnen zwischen den Hügeln, entstanden durch die abtragende Wirkung der Schmelzwässer beim Abschmelzen der Gletscher, die später die Seen aufnahmen. Rund 15 Prozent der Gesamtfläche Masurens sind von Wasser bedeckt. Die Seenplatte hat eine Größe von etwa 1700 Quadratkilometern. Die größten Wasserflächen bilden der Spirdingsee (Jezioro Sniardwy), im Volksmund auch „Masurisches Meer“ genannt, mit einer Fläche von 114 Quadratkilometern, sowie der Mauersee (Jezioro Mamry) mit 105 Quadratkilometern. An insgesamt fünf verschiedenen Orten legt das Schiff im Laufe der Reise an. Piaski am Beldahnsee ist Start- und Schlusspunkt der Tour, ein idyllisch-einsamer Platz mit einem RadlerResort (Hotel). Das nächste Dorf ist Weissuhnen mit einer sehenswerten Kirche. Nikolaiken (Mikolajki) hat knapp 4000 Einwohner, liegt malerisch zwischen zwei Seen und entwickelte sich vom Fischerdorf zum beliebten Ferienort. Am nahen Luknainer See befindet sich die größte Höckerschwankolonie Europas. Rhein (Ryn) am gleichnamigen See prunkt mit einer gotischen Ordensritterburg 0 10 km Piaski aus dem 14. Jahrhundert. Lötzen (Gizycko) ist die Sommerhauptstadt Masurens und eines der Segelzentren der Region. Die heutige Kreisstadt mit 30.000 Einwohnern nahm ihren Anfang mit der Ordensritterburg aus dem 14. Jahrhundert. Am westlichen Rand der Stadt wurde 1844 bis 1859 eine der mächtigsten Festungen Preußens erbaut, die nach dem damaligen Kriegsminister benannte Feste Boyen in Gestalt eines unregelmäßigen Polygons mit sechs Bastionen. Sehenswert sind die Schinkel-Kirche im Zentrum sowie die drehbare Brücke über den Kanal. Der Schiffsanleger der Classic Lady befindet sich in Wilkasen (Wilkasy) am Stadtrand. Szymonka ist ein kleiner Weiler, der als Startpunkt von einer der Radtouren dient. Wichtige weitere Punkte auf den Radrouten sind Kruttinnen (Krutyn), das Zentrum des Kajaksports auf dem idyllischen Flüsschen Krutynia sowie das „Wolfsschanze“ genannte ehemalige Führerhauptquartier nahe der Stadt Rastenburg (Ketrzyn). Anreise Per Zug oder Flug (z. B. LOT oder Lufthansa) nach Warschau oder Danzig, von dort mit kostenlosem Bustransfer nach Masuren. BESTE REISEZEIT Früh- und Spätsommer. Im Hochsommer kann es wegen des schon kontinentalen Klimas sehr heiß werden. RESTAURANTTIPP „La Bibliotèque“ im Hotel St. Bruno im ehemaligen Kloster in Lötzen (Gizycko). Gehobene regionale und internationale Küche in elegantem Ambiente mit Blick auf Park und Kanal. Hauptgerichte ab ca. 8 Euro. www.hotelstbruno.pl WÄHRUNG 1 Zloty = 0,24 Euro (Stand: Nov. 2013). Der Umtausch ist am günstigsten in den Wechselstuben der größeren Orte. SOUVENIRS Bernstein von der nahen Ostseeküste, Bunzlauer Keramik, Handgestricktes, getrocknete Pilze sowie Honig. LESETIPP Travis Elling, Masuren, Komet Verlag, 6,99 Euro INFO www.polen. travel 2/2014 azur.de 65 °