meines Buches Lebensgefährte
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meines Buches Lebensgefährte
Lebensgefährte Daniel Dreiucker b 21.06.2001 Version vom 7. Dezember 2010 Dieses Werk steht unter der “Creative Commons Namensnennung - Keine kommerzielle Nutzung Keine Bearbeitungen 3.0 Deutschland” Lizenz. Details unter http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/ Für meine Sozia Fee, mit der ich lernte, eine neue Sprache zu sprechen. Inhaltsverzeichnis Vorwort 9 1 Die Schöpfungsgeschichte 13 2 Persönlichkeitsbildung 16 3 Versprochen! 20 3.1 Das zweite Versprechen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 4 Das 4.1 4.2 4.3 4.4 4.5 4.6 Spielkind Fireblade . . . . R1 . . . . . . . . Ninja . . . . . . . GSX-R . . . . . . Finale . . . . . . Bekanntmachung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 25 27 28 29 30 31 5 Hockenheimring 33 6 Über das Mopedoversum 38 7 Spielhölle 42 8 Gelbe Engel, selbst ernannte Freunde 46 9 Sachsenring 49 9.1 Erster Tag: Verzweiflung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 9.2 Zweiter Tag: Hoffnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 9.3 Dritter Tag: Ekstase . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 10 Kalter Entzug 59 11 Feindliche Übernahme 60 12 Verlieren oder nicht verlieren? 64 5 13 Medizinisches 69 13.1 Mopedopie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 13.2 Der Hämoglobinschieber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 13.3 Der Kurvenatmer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 14 Relativistisches Motorradfahren 74 15 Von der (Un-)Sterblichkeit 76 16 Zurück ins Mopedoversum 16.1 Wer rastet, der rostet . . . . . . . 16.2 Hatte ich nicht eben noch Profil? . 16.3 “Die Spinnen, die Mopedonauten!” 16.4 Rückzug . . . . . . . . . . . . . . . 81 82 83 86 89 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorwort Das hier vorliegende Werk ist das Ergebnis von zu viel Nachdenken über das Motorradfahren, erdacht, oder vielleicht vielmehr ersponnen, von Menschen, die mit dieser Welt nie so gut klar kamen wie sie es eigentlich sollten und gerne aus ihr flüchteten. “Das Glück der Erde liegt auf dem Rücken der Pferde” und diesen nach Intensität strebenden Menschen war ein Pferd nicht genug, es mussten dutzende wenn nicht gar über hundert auf einmal sein. So kamen sie, schon vor langer Zeit, und auf verschiedenen Umwegen, zum Motorrad. Sie hatten nie direkt nach dem gesucht was sie dann darin fanden, aber sie fanden etwas, und ihr Leben wurde bereichert. Dieses Gefährt – in seiner ursprünglichen Form eine leblose Maschine – wurden ihnen zum Freund, zum engen Verbündeten und letztendlich zum Lebensgefährt. Unter diesem Hintergrund entstand diese wilde Sammlung von Geschichten, von Ideen und Hirngespinsten rund um das Fahren und dem Objekt – Subjekt? – Motorrad. Manche Ideen in diesem Werk habe ich zusammen mit meiner Sozia entdeckt, andere mit befreundeten Motorradfahrern. Es war dabei nie das Ziel, diese einmal aufzuschreiben oder auf andere Art und Weise für einen größeren Kreis zugänglich zu machen. Wir hatte ja noch nicht einmal das Ziel diese zu erarbeiten, wir haben sie nie gesucht, sie tauchten einfach in unseren Köpfen auf und ließen sich nicht mehr daraus vertreiben. Hiermit banne ich sie auf Papier, um sie niemals zu vergessen, um sie zu beobachten während sie wachsen und sich entwickeln. Denn entwickeln tun sie sich noch immer und so lange das so bleibt, betrachte ich dieses Werk auch nicht als vollendet. Andere Teile in diesem Werk sind Berichte über meine eigenen Erlebnisse, aufgeschrieben um meine Sicht der Dinge zu konservieren und weil man mit gebrochenen Knochen ohnehin nichts besseres zu tun hat. Diese werden sich zumindest inhaltlich nicht mehr verändern. Natürlich ändern sich meine Ansichten und Meinungen, jedoch sollen diese Kapitel festhalten, wie ich die Situationen damals erlebt habe. Diese Sammlung von Mythen und Gleichnissen ist vielleicht auch ein Versuch das Unerklärbare zu erklären. “If I had to explain, you wouldn’t understand”. Der Versuch zu erklären, was das Motorradfahren ausmacht, ist zum Scheitern verurteilt, weil keine Erklärung die vielen verschiedenen 9 Aspekte zusammenfassen könnte. Obwohl ich das weiß, obwohl ich die Sinnlosigkeit dieses Vorhabens schon lange erkannt habe, habe ich doch immer wieder versucht es zu erklären, so auch in manchen Kapiteln des vorliegenden Werkes. Vielleicht kam hierbei etwas so abstraktes und weltfremdes heraus, dass es niemanden außer mir und meiner Sozia irgendetwas erklären kann. Doch es hat immerhin geholfen, es mir selbst zu erklären, denn ich selbst befinde mich noch mitten in einem Prozess des Erkennens: des Erkennens wieso das Fahren zu meinem Weg geworden ist und weshalb sich dieser so absolut und unumgänglich richtig anfühlt. Und es erklärt mir auch, warum ich noch am Leben bin. Das bin ich nämlich nicht obwohl ich Motorrad fahre, sondern, davon bin ich überzeugt, gerade weil ich Motorrad fahre. Je mehr ich über das Fahren nachdenke, je mehr ich mit meiner Sozia über das Fahren diskutiere, umso klarer wird mir – uns –, dass es nicht nur um das Fahren geht. Das Fahren ist nur ein Teil von etwas größerem. Oder eher, das Fahren ist eins mit etwas größerem. Was man beim Fahren erlebt, die Erkenntnisse, die man dabei gewinnt, lassen sich nicht selten auf alles andere übertragen. Ich bin schon lange sehr geübt darin, Dinge zu erklären, indem ich sie in Gleichnisse rund um das Motorradfahren verpacke. Es ist faszinierend, wie mit solch einer simplen Technik die kompliziertesten Sachverhalte mit wenigen Bildern so darstellen kann, dass sie sogar verstanden werden. Also, zumindest von Motorradfahrern verstanden werden. Noch viel faszinierender finde ich jedoch den umgekehrten Weg, wie man anhand des Motorradfahrens alles, einfach alles erklären kann, was im Leben eines Menschen von Bedeutung ist. Zu guter Letzt möchte ich nochmals darauf hinweisen, dass es sich bei allen Kapiteln um Hirngespinste handelt. Nichts davon ist real, sämtliche Angaben sind frei erfunden, entsprangen nur der dichterischen Freiheit. In Wirklichkeit fahre ich gar nicht Motorrad. Ich möchte allen dringendst davon abraten sich von irgendetwas in diesem Buch inspirieren zu lassen. Ein Verhalten, das gegen die Straßenverkehrsordnung verstößt kann und darf nicht geduldet werden. Kapitel 1 Die Schöpfungsgeschichte Die Welt war schon alt als der Mensch das erste mal auf ihr wandelte. Groß war sie, diese Welt, so groß, dass ein einzelner Mensch keine Chance hatte sie ganz zu sehen, denn er war langsam. Überhaupt merkte er, dass er von Kopf bis Fuß unterdurchschnittlich war. Er konnte nicht fliegen wie die Vögel, er konnte nicht unter Wasser atmen wie die Fische, er konnte nichts sehen wenn es dunkel war und er hatte keine Klauen oder Panzer um im Kampf zu siegen. Nur eines gab es, in dem er allen anderen Bewohnern dieser Welt überlegen war: Er konnte lernen, schneller und perfekter als jeder andere Bewohner dieses Planeten. Und er lernte schnell, dass er diese Welt zu seinem Vorteil formen konnte, er konnte Werkzeuge entwickeln um seine Unzulänglichkeiten zu verschleiern und er konnte Gefährten finden. Einen seiner wertvollsten Freunde fand er im Pferd, denn es half ihm seinen schlimmsten Makel, die Langsamkeit, zu überwinden. Das Pferd wurde gleichermaßen zu seinem Gefährt und zu seinem Gefährten. So bereiste der Mensch die Welt mit seinem neu gefunden Gefährten, und er sah, dass es gut war, denn es war schneller als zuvor. Und es war nicht nur schneller, sondern erstaunlicher Weise fühlte es sich an als hätte er nun vier Beine, als würde er mit einem Male viele hundert Kilo mehr wiegen und doch die volle Kontrolle darüber haben. Endlich war er frei, hoch über dem Boden schwebend erkannte der Homo sapiens ephippiatus: “Das Glück der Erde liegt auf dem Rücken der Pferde”. Manche wollten immer schneller und weiter reiten und diese Menschen, die nur noch für das Reiten lebten, die von Kopf bis Fuß Reiter waren, erschufen ein neues Wort für sich: Ritter. Doch ihr Hobby war gefährlich, Pferd und Ritter konnten stürzen und sich verletzen und vor allem die Pferde trugen oft solch schwere Verletzungen davon, dass sie nie wieder laufen konnten. Um beides zu minimieren baute der Ritter Panzer für sich und sein Pferd und er nannte diese Panzer Ritterrüstung. Und für viele Jahre lebten die Ritter glücklich und widmeten ihr Leben den Wundern der Welt und – natürlich – ihren Pferden. Doch der Mensch war schwach, er versklavte seinen neuen Freund, spann13 14 KAPITEL 1. DIE SCHÖPFUNGSGESCHICHTE te ihn vor den Karren und schlug mit der Peitsche nach ihm. Er baute Straßen, hässliche Straßen ohne Kurven und ohne Grip, aber schnell war er nun ohnehin nicht mehr. Die Jahre vergingen und die Idee der Ritter geriet in Vergessenheit. Man hatte noch ihre Rüstungen, aber man hielt sie für gewöhnliche Kampfanzüge, belächelte sie, weil man nun doch viel bessere Waffen hatte, gegen die diese Rüstungen nicht halfen. Man verkannte die Pionierleistung der Ritter, vergaß was sie getan hatten und stempelte sie als wilde Raufbolde oder romantische Kampfhünen ab. Das Rittertum ging verloren in dieser dunklen Zeit, aber was nicht verloren ging, das waren die Reiter. Noch immer gab es Menschen die Pferde liebten und, ohne sich dessen bewusst zu sein, die Tradition der Ritter weiter trugen. Und während die Reiter ritten gab es noch andere, die nichts von den Freuden des Reitens wussten und doch genau das suchten, was die Reiter auf ihren Pferden lebten. Sie nannten sich Sucher. Sie überlegten, suchten und experimentierten und endlich hatte einer von ihnen eine revolutionäre Idee: er ordnete die Räder der Wagen neu, nicht mehr nebeneinander, sondern hintereinander in einer Reihe! Nicht um Lasten zu transportieren, sondern nur für Menschen und er nannte seine Entdeckung Laufmaschine. Und die Sucher sahen, dass es gut war, denn sie konnten ohne Anstrengung einen Berg hinunter rollen und hatten unvorstellbaren Spaß dabei. Sie entdeckten etwas, das ihnen bei der Konstruktion der Laufmaschinen gar nicht in den Sinn gekommen war: Sobald sie rollten, waren sie in der Lage die Füße vom Boden zu nehmen und nur noch mit Hilfe des Lenkers das Gleichgewicht zu halten. Sie mussten gar nicht genau verstehen, wie sie das machten, mit ein wenig Übung klappte dies von ganz alleine, es war sogar sehr einfach, viel einfacher als zu erklären wie sie dies genau taten. Sie hatten einen kleinen Teil von dem gefunden, was sie gesucht hatten, und fortan nannten sie sich nicht mehr Sucher, sondern Finder. So schön die Laufmaschinen bergab auch sein mochten, bergauf und auf der Geraden war die Sache leider noch nicht so einfach. Sie mussten sich ständig mit den Beinen vom Boden abstoßen und verloren sehr schnell an Geschwindigkeit. Die Finder überlegten weiter, schufen neue Entwürfe, bauten und entwickelten und sie fanden, sie er fanden: Pedale. Mit diesen Pedalen verwandelten sie die Laufmaschinen in Fahrräder. Sie sahen, dass es gut war, denn auf der Ebene kamen sie nun schon deutlich schneller voran und sie schafften es sogar auf der Ebene Kurven zu fahren, ohne selbst den Boden berühren zu müssen. Aber noch immer war ihr Vorwärtskommen mit großen Mühen verbunden, vor allem wenn ihr Weg sie bergauf führte, und sie waren auch nicht sonderlich schnell. Wieder machten sich die Finder, die sich nun auch Erfinder nannten, ans Werk, schufen weitere Entwürfe, bauten und entwickelten. Es dauerte lange, sie fanden viele Verbesserungen, entdeckten als Zwischenstufe das Hochrad, dann die Kette mit Übersetzung, verbesserten die Stabilität und 15 verringerten das Gewicht des Fahrrads. Dies waren alles Schritte in die richtige Richtung, aber sie waren immer noch noch nicht zufrieden. Eines Tages jedoch – Heureka! – fanden sie die Lösung: ein Fahrrad mit Motor, ein. . . Motorrad! Ohne Mühen konnten sie nun sogar Berge hinauf fahren und sie sahen, dass es gut war. Es war nicht einfach nur gut, es war fantastisch! Die Erfinder merkten, dass sie eins mit ihrem Motorrad werden konnten, es war als fühlten sie den Weg, den sie entlang fuhren, mit den Reifen selbst. Das war ein großartiges Gefühl, für die Erfinder war es eine ganz neue Erfahrung, wobei es für die Reiter schon lange eine Selbstverständlichkeit war. Der Sucher war am Ziel seines langen Weges, die Welt schrumpfte ein wenig vor ihm, denn es war nun nicht mehr unmöglich, dass der Mensch sie komplett bereiste. Er hatte ein Gefährt gefunden, mit dem er seinen schlimmsten Makel, die Langsamkeit, überwinden konnte. Der Mensch hatte auch sich selbst neu entdeckt, er war der Homo sapiens ephippiatus motorus, und während er auf seinem Motorrad durch die Welt glitt, erkannte er: “Das Glück der Erde liegt auf dem Rücken der Pferde. . . -stärken!” So kam es, dass auf der Welt nicht nur allerlei Lebewesen ein Zuhause fanden, sondern auch die Motorräder, die man wohl nicht als Lebewesen im engeren Sinne, jedoch auch nicht als leblos bezeichnen konnte. Und in einer Zeit, in der der Leistungswahn beim Motorradbau schon fast seinen Höhepunkt erreicht zu haben schien und die fossilen Brennstoffe noch in einer Menge zur Verfügung standen, dass viele sie bedenkenlos verschwendeten, zu jener Zeit entstand die nun folgende Geschichte. Kapitel 2 Persönlichkeitsbildung Ich kam nachmittags nach einem Persönlichkeitsbildungsseminar von meiner Firma nach Hause. Schon den ganzen Weg starrte ich aus den S-BahnFenstern, sah den blauen Himmel und konnte es kaum erwarten endlich auf meine X-Eleven zu steigen. Ich hatte die Schnauze von der ganzen Teamarbeit gestrichen voll, und es war Zeit meine egozentrische Seite mal wieder im Straßenverkehr auszuleben. Ich deckte die Maschine ab, verpasste der Kette eine Ladung Dry-Lube und zog mich um. Dann konnte es losgehen. Wie immer fuhr ich die ersten Kilometer verhalten um dem Motor Zeit zum aufwärmen zu geben. Mein Ziel war meine Hausstrecke, der Motor war warm noch bevor ich am Ortsausgang angelangt war. Ich blieb noch hinter einem Auto und hielt mich an die Geschwindigkeitsbegrenzung. Nach dem Ortsausgang ging es bergauf in zwei Rechts-Links Kombinationen. Ich zog nach der Verkehrsinsel am Ortsausgang auf die linke Spur, überholte das Auto und warf die Dicke in die erste Rechtskurve und beschleunigte. Die Linkskurve hatte einen größeren Radius, so konnte ich am Gas bleiben. Vor der nächsten Kombination musste ich das Gas ein wenig zurücknehmen, die Rechtskurve war für höchstens 120 gut. Ab dem Scheitelpunkt drehte ich den Hahn wieder auf, nahm die Linkskurve und musste für eine enge 180° Kehre abbremsen. Ich schaltete herunter, ein deutlich hörbares Knacken im Getriebe signalisierte mir, dass ich im ersten Gang angekommen war. Ich hatte vor gehabt, die Kurve im Zweiten zu fahren, nun aber war ich bereits am Einlenkpunkt, und ein bisschen mehr Power schadete nie, man musste nur vorsichtig ans Gas gehen. Das Hinterrad rutschte leicht beim Herausbeschleunigen, hatte aber gleich wieder Grip und ich warf die Maschine in eine Linkskurve. Ich musste etwas vom Gas um die nächste Rechtskurve zu kriegen, die direkt an die Linkskurve anschloss. Ich holte nach links aus und legte die X-Eleven tief in die Rechtskurve. Der Straßenbelag war an dieser Stelle der reinste Flickenteppich, aber das Fahrwerk ließ sich noch nicht aus der Ruhe bringen. Der Helm sauste dicht an der Leitplanke vorbei und entfernte sich erst wieder 16 17 von ihr als die Kurve in eine Gerade überging. Was ich als meine Hausstrecke bezeichnete war eine etwa 120 km lange Strecke, die ich in beide Richtungen praktisch auswendig kannte. Die Strecke zog sich über mehrere kleine Berge und viele Ortschaften, sie enthielt kaum gerade Stücke sondern nur Kurven in jeder erdenklichen Form. Bei den engsten schliff die Fußraste schon bei 50 km/h, andere Kurven waren für 200 gut, und manche waren so weit, dass ich sie mit meiner Dicken nicht am Limit fahren konnte. Leider war der Straßenbelag an vielen Stellen mit Bitumenstreifen oder Unebenheiten durchzogen, hinzu kam das Problem, das man in manchen Kurven nicht mal 50 m weit sehen konnte. Ich folgte dem gewohnten Weg noch 20 Minuten und kam dann zu einem meiner Lieblingsabschnitte. Dieser Teil meiner Hausstrecke ging über mehrere sehr enge Kurven mit gutem Belag, die ich schon kurz nachdem ich meinen Führerschein gemacht hatte, immer mit meiner 650er DR rauf und runter geheizt war bis die Fußrasten und der Hauptständer Funken sprühten. Die ersten beiden Kurven waren noch vor dem Ortsausgang, ich fuhr sie gemütlich im zweiten Gang und versuchte die ideale Linie zu finden, um mich schon mal für die nächsten Kurven einzustimmen. Nach der zweiten Kurve war das Ortsschild noch etwa 100 m entfernt und ich hing voll am Gas. Der Motor brummte und das brachiale Drehmoment der X-Eleven schob mich vom unteren in den mittleren Drehzahlbereich. Das Brummen wurde zu einem Dröhnen als ich das Ortsschild passierte, der Zeiger des Drehzahlmessers kletterte beharrlich weiter und das Schieben des Drehmomentes vermischte sich mit dem Vorwärtsziehen der Leistung. Ich kam bei 9 000 U/min am Punkt der maximalen Leistung an, das Geräusch aus den Serienendschaldämpfern glich nun dem heiseren Kreischen einer Turbine. Die erste Kehre ging nach rechts und hatte einen sehr engen Radius. Ich betätigte den Handbremshebel und das Vorderrad versank im Asphalt. Ich drückte die Maschine nach links, warf mich dann mitsamt Motorrad nach rechts und gab wieder Gas. Das Kratzen war deutlich zu hören und im rechten Bein zu spüren dann war ich um die Kurve rum und die Fußraste kam wieder frei. Ich blieb am Gas und fuhr in eine Linkskurve, die sich langsam immer enger zog. Die ersten 90° der Kurve konnte ich im oberen Drehzahlbereich fahren, dann musste ich kurz abbremsen, da die nächsten 90° deutlich enger waren. Es folgte eine Linkskurve und dann kam wieder ein kurzes Beschleunigungsstück, ich ließ den Pferden noch mal freien Lauf und bremste dann die Rechts-Links Kombination an, die auf mich zuraste. Die Kombination bestand aus zwei engen Kurven, so dass man nur Sekundenbruchteile nachdem man noch mit der rechten Fußraste Funken sprühte schon die Linke auf den Boden bekommen konnte. Ich erwischte die Kurve gut, danach kam wieder eine kurze Gerade, die reichte, um den Zweiten kurz vor den roten Bereich zu drehen bevor ich das Vorderrad wieder im Asphalt versinken ließ um die nächste Rechtskurve anzubremsen. Die Kurve war etwas weiter als die davor, aber immer noch sehr eng. Man konnte sie daher etwas schneller nehmen, und 18 KAPITEL 2. PERSÖNLICHKEITSBILDUNG hatte somit auch mehr Kraft an der Kette zur Verfügung. Ab dem Scheitelpunkt beschleunigte ich scharf, der 180er Michelin konnte die Kraft nicht auf die Straße bringen und zog einen schwarzen Strich bevor er anfing wegzurutschen. Ich ging vom Gas und fing die Maschine gerade noch so ab, richtete das Motorrad kurz auf und warf es dann in eine Linkskurve. Ich beschleunigte etwas vorsichtiger, der Rutscher gerade hätte ins Auge gehen können, und ich hatte wenig Lust den Boden mit etwas anderes als meinen Reifen oder den Fußrasten zu berühren. Es folgte wieder eine kurze Gerade und dann wieder eine Rechts-Links Kombination. Diese Kombination verlief fast genauso wie die davor, nur dass das Stück zwischen den Kurven leicht bergab ging. Diese Kurven waren die letzten, jetzt ging es fast flach einige hundert Meter geradeaus und dort in einen Wald hinein. Ich hielt an der Einfahrt zu ein paar Weinbergen und wendete. Ich kannte den Weg in die andere Richtung nicht ganz so gut, hinzu kam, dass man bergab immer einen längeren Bremsweg hatte und deshalb war ich nicht genauso schnell wie bergauf. Trotzdem berührte die Fußraste mehrere Male den Asphalt. Auf der letzten Geraden überholte ich ein Auto, warf die Maschine in die letzten Kurven und hielt kurz hinter dem Ortsschild um zu wenden. Der Autofahrer, an dessen Außenspiegel ich soeben vorbeigerast war, warf mir einen bösen Blick zu. Ich zuckte innerlich mit den Schultern, brachte das Getriebe in den Ersten und war schon wieder auf den Weg bergauf. Ich schalte kurz vor dem roten Bereich in den Zweiten, blieb noch kurz am Gas und bremste dann für die scharfe Rechtskehre und beschleunigte schnell wieder aus der Kurve heraus. Auf der Geraden und der anschließenden leichten Linkskurve kam ich auf fast in den roten Bereich im Zweiten, bremste dann scharf ab und hielt mich rechts, machte einen kleinen Schwenker und legte die X-Eleven tief in die enger werdende Linkskurve. Ich erwischte die Linie ideal und hing sofort wieder am Gas. Beim Herausbeschleunigen aus der folgenden rechts-links Kombination verlor der 180er schon wieder den Grip und diesmal setzte mehr als nur die Fußraste auf. Ich zog an der Zigarette. Das Nikotin beruhigte mich. Ich kam mir vor, als sei ich eben erst in einem fremden Bett aufgewacht, ich wusste weder genau was ich gerade gemacht hatte noch wo ich war. Ich stand in der Hose meines Lederkombis im Gras neben einer Kurve. Ich drehte mich langsam im Kreis und sah mich um. Da stand meine X-Eleven im Gras, mein Helm und meine Jacke lagen am Straßenrand. Etwas entfernt davon stand ein Roller, neben mir stand ein Typ Anfang zwanzig, der auch eine rauchte. Erinnerungsfetzen schwirrten durch meinen Kopf. Ich war in der Linkskurve weggerutscht, fast 50 m über die Straße und dann links die Böschung runter. Zumindest sah die Straße danach aus. Der Rollerfahrer hatte gehalten und mir geholfen die X-Eleven aufzuheben und etwas näher an die Straße zu schieben, zumindest vermutete ich das. Ich wusste, dass die X-Eleven an beiden Seiten zerkratzt war, konnte mich aber nicht mehr daran erinnern 19 sie mir angesehen zu haben. Ich wusste auch, dass der Kerl neben mir bis letztes Jahr eine Ninja gefahren war, aber wann hatte er mir das erzählt? Ich blickte in meine Hände und sah neben der Zigarette mein Handy und die ADAC-Clubkarte. Ich drückte die Wahlwiederholung und sah, dass ich die Nummer vom ADAC schon gewählt hatte. Jetzt erinnerte ich mich auch daran, dass ich den Rollerfahrer gefragt hatte zwischen welchen Ortschaften wir waren. Danach musste ich telefoniert haben, aber das Gespräch war, wenn es denn je stattgefunden hatte, aus meinem Gedächtnis verschwunden. Ich versuchte ruhig zu atmen und in mich hinein zu horchen. Kopfschmerzen? Schmerzen im Nacken? Nein, konnte aber noch kommen. Sonst irgendwo Schmerzen? Meine linke Hand tat weh, ich bewegte die anderen Gliedmaßen vorsichtig, konnte aber keine weiteren Schmerzen spüren. Der kleine Finger meiner linken Hand schien doppelt so dick wie normal zu sein. Ich machte mir Hoffnung keine ernsthaften Verletzungen zu haben und überlegte, wie es weitergehen sollte. Ich wagte es nicht den Rollerfahrer zu fragen ob ich wirklich beim ADAC angerufen hatte, ich fürchtete für total bekloppt gehalten zu werden. Wer weiß, was ich bisher schon für merkwürdige Dinge von mir gegeben hatte. Und außerdem hätte er bestimmt was gesagt wenn ich den ADAC noch nicht gerufen hätte. Der Rollerfahrer blieb noch eine weitere Zigarette lang, dann machte er sich auf den Weg. Ich wartete allein am Straßenrand. Es kamen Autos und vereinzelt ein paar Motorradfahrer vorbei, einige hielten um zu Helfen und die Erleichterung war jedes Mal in ihren Gesichtern zu sehen, wenn ich ihnen sagte, dass ich schon allein zurecht käme. Meine Aufmerksamkeit galt vor allem den Motorradfahrern, ich wartete darauf, dass endlich jemand die Kurven mit einer anständigen Geschwindigkeit nahm. Von außen betrachtet sahen die Schräglagen ganz passabel aus, aber niemand erreichte auch nur annähernd meine Geschwindigkeiten. Ich stellte mir vor, wie es wohl ausgesehen hatte, als ich mit meiner Dicken den Berg hoch geheizt war. Ich hätte Videoaufnahmen von ihr machen sollen solange sie noch schön gewesen war, aber nun war es ohnehin zu spät. Mein Konto hatte sich noch nicht einmal von den Ausgaben für den Satz Felgen erholt, die ich Anfangs der Saison zerstört hatte. Bisher hatte ich alle Arbeiten in einer Vertragswerkstatt erledigen lassen, aber diese Zeiten waren nun wohl leider vorbei. Dennoch versprach ich ihr, als sie auf den ADAC-Abschlepper verladen wurde, dass ich sie technisch mindestens wieder in den gleichen, wenn nicht einen besseren Zustand bringen würde. Kapitel 3 Versprochen! Dass ich meiner Dicken versprach sie wieder aufzubauen, ohne genau zu wissen was defekt war, war keine spontane Spinnerei, sondern vielmehr eine Entscheidung, die schon lange vor dem Unfall gefallen war. Es war mein voller Ernst, ich würde nie ein Versprechen geben wenn ich nicht auch bereit dazu wäre, alles in meiner Macht stehende zu tun um dieses Versprechen einzulösen. Mit der Zeit entwickelte man eine gewisse Routine im Umgang mit Unfällen, ein Automatismus, ähnlich dem des Suchens der Ideallinie. Dieser Automatismus, “Modus Problemlösung”, bestand aus einem fest eingefahrenem Programm, das abgespielt wurde, solange ich körperlich dazu in der Lage war: Die Maschine, unfähig sich selbst zu helfen, musste beschützt und sicher nach Hause gebracht werden, danach konnte man sich immer noch um die eigenen Wunden kümmern. Während diese heilten, wurde die Reparatur organisiert und nach Möglichkeit durchgeführt. Nach einem Unfall kann man sich viele Gedanken machen – gerade wenn man verletzt ist oder die Maschine beschädigt ist, denn dann hat man die Zeit dazu – und es fällt einem leicht ins Grübeln zu geraten. Wie genau kam es zu dem Unfall? Selten beruht ein Unfall auf einem einzelnen Ereignis, sondern ist das Ergebnis vieler einzelner Fehler, Fehlentscheidungen oder kleiner Risiken, die man bereit war einzugehen. Welches war der erste Fehler in der Kette der Ereignisse, der schließlich alles andere zur Folge hatte? Selbst wenn ein Unfall nicht die direkte Folge eines Fehlers ist, den man selbst begangen hat, so wäre man doch meist in der Lage gewesen, die Situation schon frühzeitig zu entschärfen. An welchen Stellen hätte man eingreifen können, nein, eingreifen müssen? Wäre es nicht um eine Haaresbreite noch viel schlimmer ausgegangen? Es lohnte sich über all diese Fragen nachzudenken und nach Antworten zu suchen, denn jeder Fehler war auch eine Chance. Eine Chance etwas zu erkennen und daraus zu lernen. Der rote Faden, der zu diesem Unfall führte, war nicht zu übersehen. Ich hatte den rutschenden Hinterradreifen nicht nur ignoriert, ich hatte ihn sogar 20 21 begrüßt. Wild auf diesen Adrenalinkick, den der Tanz auf der Außenkante des Reifens erzeugte, hatte ich die Zeichen missachtet und mir vielleicht sogar eingebildet, ich könnte das alles kontrollieren. Damit nicht genug, ich hatte auch noch umgedreht um die gleiche Strecke noch einmal zu fahren, obwohl ich mich davor schon am Limit bewegt hatte, und es war klar, dass ich beim zweiten Mal noch schneller, noch offensiver fahren würde. Es brauchte keinen Unfall um mir dessen bewusst zu werden, es war mir schon während des Fahrens bewusst gewesen. Das Problem war nur, in diesem Moment war es mir schlicht und ergreifend egal gewesen. Das Verlangen nach dem Kick hatte alles andere in den Schatten gestellt. Jetzt, da ich eine verbeulte Maschine hatte, war es mir allerdings nicht mehr egal. Jetzt kotzte es mich an. Eine denkbare Folge dieses Gedankengangs wäre eine Infragestellung meines Hobbys: Wenn ich aus einer spontanen Laune heraus deutlich erkennbare Risiken für Leib und Maschine einging, wäre es dann nicht gesünder auf das Fahren zu verzichten? Ich war inzwischen an einem Punkt, an dem ich bereits die Übersicht über all meine Unfälle verloren hatte, insofern war es nicht das erste Mal, dass sich diese Frage stellte und ich kannte die Antwort bereits. Die Antwort war ein klares und deutliches “Nein”. Es wäre nicht gesünder. Das Fahren konnte zu Unfällen führen und damit zu Schmerzen, Verletzungen und vielleicht würde es irgendwann mein Tod sein. Es war ein Risiko, und angesichts meiner Person sicherlich kein geringes. Den Glauben, dass dies mein letzter Unfall gewesen sein könnte, müsste man als Wahnvorstellung bezeichnen. Dennoch war es gesünder, es war ein geringeres Risiko als das Nicht-Fahren, denn was mir damit blühte, dessen war ich mir nur allzu gut bewusst: Kein Grund mehr morgens aufzustehen, kein Grund mehr mich durch den Alltag zu quälen und mich für ein paar Euro die Stunde ausbeuten zu lassen, keine Hoffnung mehr, keine Kraft mehr um dem ganzen Scheiß, den das Leben zu bieten hat, auszuhalten. Nicht mehr zu fahren würde für mich den langsamen aber sicheren Tod bedeuten. Vielleicht nicht den körperlichen, jedoch zumindest den seelischen. Eben deswegen war das Versprechen, die X-Eleven zu reparieren, keine spontane Spinnerei, sondern eine bewusste Entscheidung, die ich nicht unüberlegt getroffen hatte. Es war kein Versprechen an ein lebloses Stück Metall, es war ein Versprechen an mein Lebensgefährt, es war ein Versprechen an mich persönlich und es war ein Versprechen an das Leben selbst. Meine Studienzeit war geprägt von einem notorischen Geldmangel. Das fehlende Geld machte sich vor allem beim Reparieren der X-Eleven bemerkbar und zwang mich dazu, mein Sklavenleben an der Tankstelle wieder aufzunehmen und mich fast ausschließlich von belegten Broten und Leitungswasser zu ernähren. Der Schaden an meiner Dicken war – mal abgesehen von dem Totalschaden an meiner ersten X-Eleven, den ich nicht reparieren musste – der erste, der nicht mit ein paar offensichtlichen Handgriffen zu 22 KAPITEL 3. VERSPROCHEN! reparieren war. Neben einigen Kleinigkeiten, wie abgerissene Blinker und Fußrasten, war der Lenker gebrochen und die Gabel verbogen. Für mehr als neue Gabelbrücken und einen neuen Superbikelenker reichte es erstmal nicht und ohne die Hilfe eines guten Freundes, der mir außer mit seiner Freundschaft auch noch mit Werkzeug und Know-How zur Seite stand, hätte ich die Dicke wohl nicht wieder so schnell auf die Straße bekommen. Mit dieser neuen Ausrüstung analysierte ich den technischen Faktor des Unfalls: Die Reifen. Die Michelin Pilot Road waren die dritte Sorte Reifen, die ich auf einer X-Eleven fuhr. Mein erster Satz Reifen, die Serienbereifung, waren Michelin Macadam gewesen und mir wurde erst bewusst wie grottenschlecht diese Reifen waren, als ich danach mit Bridgestone Reifen über den Asphalt geglitten war und einen Vergleich hatte. Es war ein Unterschied wie Tag und Nacht und zum ersten Mal erlangte ich eine Vorstellung von dem Einfluss, den Reifen auf das Fahrverhalten eines Motorrads haben konnten. Aufgrund dieser Erkenntnis wollte ich mehr Reifen testen um den besten zu finden und war wieder bei Michelin gelandet, da dieser im Forum recht guten Anklang fand und eine hohe Laufleistung aufzuweisen hatte. Der Reifen vermittelte auch ein recht gutes Gefühl, jedoch ließ der Grip zu wünschen übrig, wovon mich nicht zuletzt mein Unfall überzeugt hatte. Da die Dicke nun wieder fahrbar war, suchte ich mir einen Kreisverkehr mit wenig griffigem Asphalt und drehte ein paar Runden. Ich fühlte mich nicht wirklich wohl, der Reifen war offenbar an seiner Haftungsgrenze, dabei war ich nur wenig schneller als die Autos unterwegs. Obwohl die Verschleißgrenze noch nicht erreicht war investierte ich meinen letzten Kreuzer in einen Satz Continental ForceMax. ForceMax hörte sich vielversprechend an, aber Marketing und Realität sind oft zwei verschiedene Welten. Nicht so bei diesem Reifen. Ein erster Test im selben Kreisverkehr zauberte mir ein breites Grinsen ins Gesicht: Der Reifen war kaum eingefahren, aber er haftete wie Klebstoff. Mit schleifender Fußraste drehte ich Runde um Runde bis die Autofahrer genervt hupten. Ok, genug getestet. Diese Reifen waren genial. Die prognostizierte Laufleistung war zwar nur halb so hoch wie beim Pilot Road, aber es würde sich sogar finanziell lohnen wenn man die Reparaturkosten mit einrechnete. Die Dicke war damit zwar wieder fahrbar, aber die Front war noch nicht komplett gerade und somit mein Versprechen, all ihre defekten Teile durch gleich- oder höherwertige zu ersetzen, noch nicht erfüllt. Es dauerte bis zur nächsten Saison um Geld und Teile zu beschaffen, aber es hatte sich gelohnt: Eine gebrauchte XX-Gabel1 inklusive aller Gabelbrücken, neue, progressive Gabelfedern von Wilbers, ein Emil-Schwarz-Lenkkopflager und gebrauchte BOS-Endschalldämpfer. Die Endschalldämpfer waren aufgrund eines weiteren, kleinen Sturzes notwendig geworden. Das Ergebnis war eine X-Eleven, 1 Mir wurde gesagt, sie sei baugleich zur Gabel der X-Eleven. Das stimmte zwar nicht ganz, aber es ließ sich damit arbeiten. 3.1. DAS ZWEITE VERSPRECHEN 23 die sich trotz ihrer rund 250 Kilo – immerhin waren es schon ein paar Pfund weniger geworden – wie ein Fahrrad in die Kurven legen ließ und sich dabei endlich auch dick anhörte. Das tiefe, Bass-lastige Blubbern der BOS verlieh der Dicken schon im Stand eine andere Aura. Das vorher so unscheinbare, leicht zu unterschätzende Motorrad ließ nun schon an der Ampel die wahre Power erahnen. Der brachiale Sound passte perfekt zu dem gewaltigem Druck, mit dem die Maschine aus dem Drehzahlkeller herausbeschleunigte, sobald man am Gas drehte. Ihre Handlichkeit sah man ihr im Stand jedoch nicht an, davon konnte man sich nur überzeugen, wenn man es schaffte, mir mehr als ein oder zwei Kurven hinterher zu kommen. 3.1 Das zweite Versprechen Mit dem Studium kamen auch die Prüfungen. In der Prüfungswoche und den Wochen davor lagen die Nerven bei meinen Kommilitonen und mir blank. Studententypisch waren wir Saisonarbeiter, schoben jedes Semester einen größeren Berg an unerledigter Arbeit vor uns her bis dieser uns direkt vor den Prüfungen zu erdrücken drohte. Dass wir weder einen freien Tage zwischen den Vorlesungen und den Prüfungen noch zwischen Prüfungen selbst hatten, trug nicht dazu bei die Situation zu entspannen. So manch einer verfluchte die Entscheidung, nicht einfach eine gemütliche Ausbildung angefangen zu haben, und neben der allgemein anerkannten Methode – regelmäßige Besäufnisse – entwickelte jeder seine eigenes Konzept, um durchzuhalten. Mein Ansatz bestand darin, mir eine Belohnung zu versprechen: “Leg ein anständiges Diplom hin, dann kriegst du dafür in der ersten Saison danach auch ein neues Motorrad!” Was das Motorradfahren angeht war ich ein Junkie, und als solcher konnte ich diesem Angebot natürlich nicht widerstehen. So kam es, dass ich viele Monate später vor der Entscheidung stand, welches Motorrad mein neues Lebensgefährt werden sollte. Kapitel 4 Das Spielkind Das neue Motorrad würde natürlich mein Zweitmoped werden. Die X-Eleven war technisch in einem top Zustand und nach über 40 000 km, die wir zusammen unterwegs gewesen waren, waren wir nicht nur ein eingespieltes Team, sondern auch gute Freunde geworden. Ich hätte es nicht übers Herz gebracht, sie einem Wildfremden zu verkaufen und da sie optisch einen verbeulten und eher ungepflegten Eindruck machte, wäre finanziell ohnehin nicht mehr viel zu holen gewesen. Somit waren die Bereiche Tourer und Nakedbike in meinem Fuhrpark bereits abgedeckt, die neue Maschine sollte diesen erweitern, eine neue Nuance hinzufügen, neue Herausforderungen und Möglichkeiten bieten. Da fehlten natürlich noch einige: Eine Crosser um ins Gelände zu fahren, eine Supermoto zum Driften und Spaß haben, ein altes, widerstandsfähiges Bike um Stunts zu üben, eine Trial-Maschine, eine reinrassiger Rennhobel... und dann, nur der Vollständigkeit halber, noch eine Reiseenduro und eine Chopper. Ein Wheelie-Kurs (mit gestellten Motorrädern) und zwei Touristenfahrten auf dem Hockenheimring konnten die Entscheidung zumindest etwas einschränken: entweder eine leichte Supermoto mit wenig Kubik – diese könnte ich dann auch für Stunts verwenden und mit anderen Reifen auch im Gelände einsetzen – oder eine Rennmaschine. Als ich den Hockenheimring zum dritten Mal mit meiner X-Eleven besuchte und mich durch das dichte Getümmel bei den Touristenfahrten quälte wurde langsam klar, dass ich eine Rennmaschine brauchte. Nicht, dass es mit der Dicken langweilig war, im Gegenteil. Das Fahren auf der abgesperrten Strecke hatte seinen ganz eigenen Reiz, denn die vielen Unzulänglichkeiten der öffentlichen Straßen und die daraus entstehenden Unterbrechungen des Fahrflusses fehlten. Selbst mit der Dicken ließ ich die meisten anderen stehen, auch wenn man ab 230 km/h ihr Gewicht merkte und es auf der langezogenen Parabolika-Kurve etwas zäh wurde. Wie viel Spaß musste das erst mit einer entsprechenden Maschine machen. 50 kg weniger, dafür 50 PS mehr, Schräglagenfreiheit ohne Ende! Und schick aussehen tun sie ja auch, die Joghurtbecher. 24 4.1. FIREBLADE 25 Als erstes deckte ich mich mit Literatur ein um eine Marktübersicht zu gewinnen. Mir wurde schnell klar, das mein Rennerle eine 1000er sein musste und nicht zu alt sein durfte, denn bei den älteren Semestern lag die Leistung “nur” im Bereich der X-Eleven und etwas mehr durfte es schon sein. Eine ganz neue würde aufgrund meiner Tendenz Motorräder irgendwann zu zerlegen jedoch keinen Sinn machen. Die Italiener bauten zwar echt schöne Motorräder, schienen den Japanern aber immer einige Jahre hinterherzuhinken und trotzdem ein paar Tausender mehr zu kosten. Eine BMW kam nicht in Frage (Die S 1000 RR war noch nicht auf dem Markt), KTM und die amerikanischen Marken schieden ebenfalls in der ersten Runde aus. Ab hier konnte mir die Literatur nicht mehr weiter helfen, die technischen Unterschiede der einzelnen Maschinen waren marginal und auch wenn die eine oder andere Maschine in Testberichten ein paar Zehntel schneller war, so machte das in der Praxis keinen Unterschied, denn der leistungsbegrenzende Faktor würde sicherlich mein Können und nicht mein Motorrad sein. Ich erkannte, dass es überhaupt nicht darum ging mich für ein Motorrad zu entscheiden. Die Entscheidung war schon längst gefallen, ich musste sie lediglich noch erkennen. Irgendwo da draußen stand sie schon und wartete. Wartete sehnsuchtsvoll darauf, dass ich sie abholte um so mit ihr zu fahren, wie es ihre Konstrukteure im Sinn hatten als sie jedes kleine Teil auf Gewicht und Leistung hin optimierten. Das geeignetste Mittel um mein Schicksal zu erkennen schienen mir Probefahrten zu sein. Ich verstehe darunter jedoch mehr als manche Händler, ein paar Minuten um den Block zu fahren hilft mir nicht wesentliche Eigenschaften eines Motorrads zu erkennen, das über 150 PS hat. Ich versuchte jedes Bike lange genug zu mieten um damit meine komplette Hausstrecke zu fahren, nur dort, wo ich den Vergleich zur Dicken direkt hatte, jede Bodenwelle, jedes Schlagloch und jeden Bitumenstreifen kannte, hatte ich die Chance ein wenig mehr über mein neues Motorrad zu erfahren. Auf der Liste der zu fahrenden Motorräder standen eine Suzuki GSX-R 1000, eine Honda Fireblade, eine Kawasaki ZX-10 R, eine Yamaha R1 und eine Ducati 1098, alle in ihrer aktuellen Version. Ein aktuelles Modell würde zwar nicht viel über die Vorgängermodelle verraten, aber irgendwo musste man schließlich anfangen, also wieso nicht mit dem, was am meisten Spaß machte. 4.1 Fireblade Die Fireblade war die erste. Mein Honda Händler vermietete mir seinen Vorführer gerne, verlangte aber eine ordentliche Menge Geld dafür, die ich wiederbekommen würde, falls ich die Maschine letzten Endes kaufte. Die Art und Weise, wie er dies sagte, verriet mir sofort, dass er nicht im entferntesten daran glaubte, dass ich tatsächlich vor hatte ein Motorrad zu kaufen. 26 KAPITEL 4. DAS SPIELKIND Ich bekam den Schlüssel und stand kurz darauf alleine im Hof vor einer glänzenden, schwarz-weiß lackierten 2008er Fireblade. Bis auf die eingedellte Schnauze, die aber weniger schlimm wirkte als auf den Fotos, war die Fireblade eine Augenweide. Kaum zu glauben, dass dieses winzige Motorrad nur 137 ccm weniger hatte als meine Dicke und einiges mehr an Leistung. Beherzt schwang ich mein rechtes Bein über sie und saß das erste Mal auf einem Superbike. Ich wippte sie mit meinen Oberschenkeln leicht von rechts nach links. “Wenn du dich je wieder auf ein anderes Moped setzt, wirst du dir vorkommen wie eine Schwuchtel!” hallte es in meinem Ohren. Es waren die Worte des Dickentreibers, der mir meine erste X-Eleven verkauft hatte. Er hatte recht gehabt, dieses dünne Ding unter mir fühlte sich nicht wie ein Motorrad an, viel eher wie ein Fahrrad. Ich ergriff den Lenker und wurde noch mehr an mein Fahrrad erinnert: Statt hinter dem Lenker, wie ich es jeher gewohnt war, saß ich nun über dem Lenker und das Gewicht meines Oberkörpers lastete auf meinen Händen. Wie sollte man denn so fahren? Unsicher und wie ein blutiger Anfänger rollte ich die Maschine aus dem Hof und musste beide Füße zur Hilfe nehmen um die Maschine über den Bordstein und um die Kurve zu bekommen. Ich fuhr los, meine Füße fanden die Rasten und eine Gerade bot mir Zeit meine Gelenke zu sortieren und ein wenig Slalom auf meiner Spur zu fahren. Nach ein paar hundert Metern kam der erste Kreisverkehr, leicht locker flockig legte ich die Blade nach rechts, links und wieder nach rechts. Die Unsicherheit war verschwunden und dem tiefen Gefühl der Zuversicht gewichen, so wie ich es immer empfand wenn ich auf einem Motorrad saß. Ich war bereit der Blade meine Hausstrecke zu zeigen. Es war das erste Mal seit Jahren, dass ich diese Strecke mit einem anderen Motorrad als meiner Dicken fuhr. Ich war sicherlich ein wenig langsamer, vor allem weil ich es nicht übertreiben wollte, aber bei weitem nicht langsam. Das Fahrwerk und die Straßenlage der Fireblade waren großartig, vor allem bei holprigem Belag oder hohen Geschwindigkeiten war eine deutliche Verbesserung gegenüber der Dicken zu spüren. Auch mit der Sitzposition kam ich schnell zurecht, sie war angenehm und lud zum sportlichen Fahren ein. Enttäuschend war jedoch die Power um unteren Drehzahlbereich. Ich hatte natürlich damit gerechnet, dass eine Rennmaschine mit dem brachialen Druck einer 1100er Tourer nicht würde mithalten können, aber bei 1000 ccm hätte ich doch mit wenigstens etwas “Schiebemoment” gerechnet. Davon war jedoch nichts vorhanden, so dass ich mich genötigt sah, außerorts im dritten Gang oder besser darunter zu fahren. Dies verstärkte die einzige negative Eigenschaft der Fireblade jedoch noch mehr: extreme Lastwechselreaktionen. Ich konnte nicht sagen ob es an mir oder der Vorführmaschine lag, aber ich schaffte es nicht sanft Gas anzulegen. Knapp drei Stunden später fuhr ich gekonnt auf dem Hof meines Händlers ein und stellte die Maschine hin, als würde ich schon Jahre mit ihr 4.2. R1 27 fahren. Kurze Zeit später saß ich wieder auf meiner Dicken und fühlte mich an meinen Bürostuhl erinnert. Alles war vor mir, vor allem der Lenker. Wie sollte man denn so fahren? Unsicher und wie ein blutiger Anfänger rollte ich die Maschine aus dem Hof und musste beide Füße zur Hilfe nehmen um die Maschine über den Bordstein und um die Kurve zu bekommen. Ich zog leicht am Gas und mir wurden fast die Arme ausgerissen. Das ist Drehmoment! Wieder half mir die Gerade meine Sitzposition zu korrigieren und den anschließenden Kreisverkehr nahm ich sauberer und schneller als mit der Blade. Puhh, doch nicht alles verlernt. 4.2 R1 Eine Woche später folgte die Yamaha YZF-R1. Der Händler hatte sein Geschäft nahe dem Beginn meiner Hausstrecke, was schon mal ein gutes Zeichen war. Ich hatte mich schon Tage davor telefonisch angemeldet, aber davon schien in dem Laden niemand etwas zu wissen. Irgendwann schien ich bei jemanden gelandet zu sein, der tatsächlich befugt war eine Entscheidung zu treffen. “Probefahrt mit der R1? Hmmm. . . ”, die Begeisterung stand ihm ins Gesicht geschrieben als er in irgendwelchen Papieren wühlt. “Ja. . . die könnte man wohl schon mal kurz raus geben. 20 Minuten?” Nein. Nein, ganz bestimmt nicht. Ich will das Ding für mindestens drei Stunden, und ich will auch nicht schmarotzen, ich bin auch bereit dafür zu zahlen. “So was machen wir eigentlich nicht.” Ach so, der, mit dem ich telefoniert hatte, hatte wohl keine Ahnung und die Mietpreise standen nur zufällig auf der Homepage. Ich hatte eigentlich schon gar keine Lust mehr, der Kerl hatte offensichtlich keinerlei Interesse an einem neuen Kunden, dann schaffte ich es doch ihm 2 Stunden aus dem Ärmel zu leiern. Ein Mechaniker schob mir die R1 nach draußen und wollte wissen, ob er mir noch irgendwelche Bedienelemente erklären solle. Ich verneinte, ich wäre zwar noch nie eine R1 gefahren, aber Motorradfahren könne ich und da er mich anscheinend für vollkommen unerfahren hielt, betonte ich, dass ich mit der Fireblade gut zurecht käme. Er erklärte mir alles, vom Schalter für den Blinker bis zum Gasgriff ohne dass ich ihn stoppen konnte. Ich hörte kaum zu und betrachtete die R1. Traumhaft sah sie aus, schwarz-grau, mit einer geschmeidigen Underseat-Auspuffanlage. Eine klassische Schönheit. Endlich gelang es mir, ihm die Yamaha zu entreißen und mit ihr zu fliehen. Ich tätschelte ihr den Tank, für die nächsten zwei Stunden war sie in guten Händen. Die Lektionen der Fireblade ließen sich direkt übertragen, ich kam mit der Sitzposition von Anfang an zurecht, fühlte mich aber bis zum Ende nicht ganz so wohl wie auf der Honda. Der Underseat hatte einen schönen tiefen 28 KAPITEL 4. DAS SPIELKIND Klang ohne übertrieben laut zu sein. Vielleicht war es nur der psychologische Effekt des Sounds, aber die Yamaha schien von unten raus mehr Power zu haben. Auf dem ersten Beschleunigungsstück der Strecke wurde mir ein neues Feature vorgeführt: Der Schaltblitz. Ich probierte ihn bis in den vierten Gang aus kam zu dem Entschluss, dass es ein durchaus sinnvolles Extra war. Ich war schon etwas mutiger als mit der Honda und probierte verschiedene Sachen, bis mir in einer Rechtskurve das Vorderrad wegrutschte. Die Kurve war durchzogen von riesigen Bitumenflächen, auf der ich mit meiner X-Eleven immer Respekt hatte. Die Fireblade hatte mir den Respekt teilweise genommen, sie schien nur unwesentlich weniger Haftung in dieser Kurve zu haben. Mit der R1 war ich daher etwas schneller unterwegs und merkte sofort, dass ich mich außerhalb der Haftungsgrenze der Reifen bewegte. Was mich dennoch erstaunte war die Leichtigkeit, mit der sich diese Situation meistern ließ: Selbst beim Rutschen schien das Fahrwerk nicht aus der Ruhe zu kommen, sondern wanderte mehr oder weniger kontrolliert einen knappen Meter nach links, wo wieder griffiger Asphalt war. Ohne genauerer Tests ließ sich natürlich nicht sagen, ob das nun an der Geschwindigkeit, den Reifen, der Temperatur oder dem Motorrad lag, dennoch verstärkte dies mein Gefühl, dass die Blade besser zu mir passte. 4.3 Ninja Mein nächstes Stelldichein hatte ich mit der 10er Ninja von Kawasaki. Der Händler hatten recht kleinen Familienbetrieb in einem nahe gelegenem Industriegebiet und war deutlich unkomplizierter als der Yamaha Händler. Kurzfristig noch eine Z 1000 für meinem Kumpel? Ist leider grad weg, wie wär’s mit der 750er? “Bringt sie halt bis Ladenschluss wieder und im Falle eines Falles krieg’ ich 2 000 Euro. Ansonsten, viel Spaß!” Mit diesen wohlwollenden Worten wurden uns die Schlüssel überreicht und ich stand vor dem nächsten Superbike. Grün. Wohl das einzige Bike, dass man in so einer Farbe anmalen konnte und das dadurch nicht verunstaltet aussah. Im Gegenteil. Giftig? Wirkte zumindest so. Sie war laut Datenblatt die stärkste, 188 PS ohne und 200 PS mit Ram-Air. Nicht, dass es einen wirklichen Unterschied machte, Power hatten sie alle. Jedoch konnte man vor 200 PS in einer giftgrünen Verpackung einfach nur Respekt haben. Die Ausfahrt mit der Ninja war die bisher längste und langsam bildete ich mir ein, mit diesen Sportlern ganz gut zurecht zu kommen. Ein kurzer Ausflug auf eine unbegrenzte Bundesstraße ließ den Digitaltacho auf über 4.4. GSX-R 29 280 krabbeln und den Schaltblitz in jedem der ersten fünf Gänge leuchten. Das Biest hatte wirklich Power! Für eine kurze Zeit wechselten wir die Motorräder und ich fuhr die Z 750, mit der ich allerdings nicht so gut klar kam, ebenso wenig wie mein Mitfahrer mit der ZX-10R, so dass wir schnell wieder zurück tauschten. Bis auf ein klapperndes Geräusch zwischen 3 500 und 4 500 U/min fand ich nichts negatives an der Ninja, aber auch nichts, das mich spontan vom Hocker gehauen hätte. Das Gesamtpaket stimmte jedoch, bis auf ein Warnblinklicht hatte sie jeden technischen Schnick-Schnack, den man sich wünschen konnte und zusätzlich noch kleine Details, wie der Drehzahlmesser, dessen grüner Bereich erst bei 6 000 U/min anfing. Die Entscheidung, welches mein neues Motorrad werden würde, schien ein Kopf-an-Kopf Rennen zu werden. 4.4 GSX-R Es folgte die GSX-R 1000. Der nächstgelegene Suzuki Händler lag recht weit entfernt am anderen Ende der Stadt und wollte mir die Gixxer partout nicht vermieten, sondern nur zu einer Probefahrt ausleihen. Wenigstens konnte ich ihn überzeugen, sie mir lange genug zu geben um auf eine Strecke zu fahren, die ich kannte, wenn es schon nicht bis zu meiner Hausstrecke reichte. Sie war – natürlich – blau-weiß lackiert, der typische GSX-R Look eben. Im Prinzip sehr schön, aber leider versaut von zu vielen Fahrern, die diese Maschine nur gekauft hatten weil sie reihenweise Testberichte gewonnen hatte, aber nicht in der Lage waren, dieses Bike auch artgerecht zu bewegen. So sah man allzu häufig traurige Gixxer mit großen Angststreifen am Hinterrad an Eisdielen oder Motorradtreffs herumstehen. Ich fuhr die erste Viertel Stunde, dann kamen Zweifel auf, ob ich im richtigen Mapping war, denn irgendwie hatte sie zu wenig Power. Also, nicht wirklich “zu wenig” sondern eher “nicht viel zu viel”. Der Händler hatte mir vor der Fahrt gezeigt wie ich das Mapping einstellte, dabei musste er vergessen haben es wieder von der Regeneinstellung zurück zu stellen. Hatte er nicht. Dann muss es an der Drehzahl liegen! Ab auf die nächste Gerade, das Getriebe in den ersten bringen und dann gib ihm! Die GSX-R setzte sich in Gang, fing im mittleren Drehzahlbereich an zu kreischen und zu rennen. Gleich, gleich passiert’s! “Nänänänä. . . ” tönte der Motor. Drehzahlbegrenzer? Wo war der Schaltblitz? Und viel wichtiger, wo war das Ziehen an meinen Armen? Ich versuchte es noch einmal, dann nochmal mit einem anderen Mapping, kam aber zu keinem befriedigendem Ergebnis. Der Schaltblitz schien nicht zu funktionieren und die Suzuki ging zwar ab, fühlte sich dabei aber sehr unspektakulär an. Zurück beim Händler fragte ich, wieso der Schaltblitz nicht tat. “Der 30 KAPITEL 4. DAS SPIELKIND tut schon, du wirst auf einer Landstraße nur nicht in den Drehzahlbereich kommen!” lachte er. Ich lachte auch, aber wahrscheinlich nicht über den gleichen Witz. 4.5 Finale Auf eine Fahrt mit einer 1098er Ducati musste ich leider verzichten. In ganz Deutschland gab es nur eine handvoll Ducati Händler mit einer 1098er Vorführer und der einzige, der annähernd in meiner Nähe war, verlieh die Maschine nicht Stundenweise sondern erst ab mehreren Tagen und verlangte dafür ein kleines Vermögen. Ich begann den Gebrauchtmarkt zu durchforsten, in der Hoffnung mich so von meiner Maschine finden zu lassen. Die Suche verlief enttäuschend, irgendwie schien niemand seine gut erhaltene Rennmaschine zu einem Spottpreis loswerden zu wollen. Ein Kollege empfahl mir mich nach Grauimporten umzusehen, er hatte bisher alle seine Autos so gekauft. Im nahen Ausland waren die Motorräder auch nicht deutlich billiger, aber im Internet stieß ich auf mehrere Quellen für neue, grau importierte Maschinen, die günstiger waren als manche Gebrauchte. Komischerweise schienen viele Händler genau die gleichen Maschinen zum selben Preis anzubieten. Das roch zwar irgendwie nach Verarsche, aber solange mir wenigstens einer ein Motorrad verkaufte, sollte es mir egal sein. Die Auswahl war nicht sonderlich gut, aber das Vorjahresmodell der Ninja war auf Lager und ein echtes Schnäppchen. Nur ausprobieren musste ich sie vorher. Ich ging zu einem lokalen, großen Gebrauchthändler, der mir schon immer unsympathisch gewesen war, und gab vor mich für eine seiner 2006er Ninjas zu interessieren. Sie hatten entweder über 20 000 km auf der Uhr oder kosteten mehr als die neue, aber kaufen wollte ich sie dort ja nicht. Ich bekam eine ausgeliehen, aber nur für eine kurze Zeit und in einer mir unbekannten Gegend, so dass ich sie nicht komplett ausreizen konnte. Das Vorjahresmodell war auch ein super Motorrad, ich konnte kaum Unterschiede zum aktuellen Modell feststellen. Nur optisch war die 2006er in grün einfach nicht schön. In schwarz sah sie ganz gut aus, und letzten Endes ging es ja darum ein Motorrad zum Fahren und nicht zum Bewundern zu kaufen. Ich bestellte die Graue in schwarz. Nach einiger Telefoniererei stellte sich heraus, dass die Maschine zwar auf Lager war, jedoch war das Lager nicht in Deutschland und die Maschine hatte noch keine deutschen Papiere. Zudem musste das amerikanische Modell noch an Blinkern und an der Tachoeinheit umgebaut werden. Das alles sollte drei bis vier Wochen dauern, ich müsste mich aber um nichts kümmern. Nach zwei weiteren Wochen stellte sich heraus, dass die Maschine wohl doch nicht auf Lager war, aber er könnte mir eine GSX-R zum gleichen Preis anbieten. Ich lehnte ab. Weder wollte ich 4.6. BEKANNTMACHUNG 31 ein willkürliches Motorrad kaufen, nur weil dieses zufällig im Lager stand, noch war ich der Überzeugung, dass ich mit diesem Händler überhaupt ein zufriedenstellendes Geschäft abwickeln konnte. Ich stand wieder am Anfang. Rund zwei Monate waren seit meiner ersten Probefahrt vergangen und langsam machte es keinen Spaß mehr. Ich hatte noch nie Probleme gehabt ein Motorrad zu kaufen. Bisher hatte ein leichter Gedanke an ein neues Motorrad ausgereicht und schon stolperte ich über das perfekte Angebot für mein Traumbike. Ich setzte meine Suche fort, konzentrierte mich auf 2004er Ninjas und kam zufällig auf die Homepage des Kawasaki Händlers, bei dem ich die 2008er Probe gefahren war. Ich klickte auf die Kategorie “Angebote” und wusste, dass sie mich gefunden hatte: Eine grüne 2008er Ninja strahlte mir entgegen, als Tageszulassung und deutlich unter dem Listenpreis. Ein kurzer Anruf beim Händler bestätigte meine Hoffnung: 0 km und Garantie ab dem Tag an dem ich sie kaufte. Es war absolut unsinnig eine neue Maschine zu kaufen. Jedoch kaufte ich lieber eine neue Maschine als fast den selben Preis für eine gebrauchte auszugeben. Am nächsten Samstag stand ich im Verkaufsraum meines neuen Händlers, streifte um die ausgestellten Ninjas herum und überlegte, auf welche Extras ich nicht verzichten konnte. “Kann ich dir helfen?” fragte die Frau des Händlerehepaars. “Ja, ich will eine ZX-10 R kaufen! In grün.” Ich wurde mit Kaffee versorgt – gutes Zeichen! – und wir erledigten den Papierkram und diskutierten die Einzelheiten. Später erklärte sie mir, sie hätte noch nie so schnell ein Motorrad verkauft. Kein Wunder, ich hatte noch nie so lange gebraucht ein Motorrad zu kaufen und kannte inzwischen die Datenblätter aller japanischen Superbikes der letzten paar Jahre auswendig. Eine Woche nachdem ich die Maschine mit meinem Wunschkennzeichen abgeholt hatte, stand ich auch schon wieder bei meinem Händler. Nein, es gab keine Probleme, es war Zeit für die erste Inspektion. Das Einfahren hatte ich an nur zwei Tagen erledigt, die ersten 500 km mit maximal 98 km/h und auf den nächsten 500 km durfte ich sogar 148 km/h fahren. Mit anderen Worten, ich durfte die ersten 1 000 km nicht einmal bis in den grünen Bereich drehen, und das hatte eine Menge Selbstbeherrschung erfordert. Aber diese Zeiten waren nun vorbei, ab jetzt ging das Kennenlernen erst richtig los! 4.6 Bekanntmachung Ich war nervös. Heute ging es darum mein neues Lebensgefährt mit meiner Sozia bekannt zu machen. Meine Sozia und ich waren seit dem Kauf der Ninja noch einige Male mit der Dicken unterwegs gewesen, für die nächste Ausfahrt wurde die Wahl der Maschine mir überlassen. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass man sich auf diesem kleinen Sitz wohl fühlen konnte, und 32 KAPITEL 4. DAS SPIELKIND meine Sozia konnte es sich auch nicht vorstellen. Sie schien es auch als Affront gegenüber der X-Eleven zu empfinden, dass ich es überhaupt gewagt hatte ein weiteres Motorrad zu kaufen. Dies alles verriet ihr Blick als sie neben der Ninja stand. Ein Bisschen wie ein kleines Kind, das nicht das in dem Weihnachtsgeschenk vorfand, auf das es gehofft hatte, sondern statt dessen einen Pullover. Zwei oder drei Stunden später standen wir wieder an genau der selben Stelle, wieder neben der Ninja. Meine Sozia strahlte über beide Ohren und lachte. Die Ninja hatte auch sie in ihren Bann gezogen und würde sie so schnell nicht mehr loslassen. Ihren Kosenamen bekam sie erst später: Spielkind. Kapitel 5 Rennstreckentraining auf dem Hockenheimring Es war 5 Uhr morgens als der erste Wecker klingelte. An einem normalen Tag hätte mich das nur dazu bewegt zu fluchen und auf die Sleep-Taste meines Weckers zu hauen, nicht so an diesem Morgen. Ich sprang auf, schaltete den Wecker aus und war auch schon zur Stelle als der zweite Wecker, den ich zur Sicherheit gestellt hatte, ebenfalls zu klingeln begann. Für die meisten Menschen würde dies ein normaler und unspektakulärer Mittwoch werden, aber ich hatte mehr vor, ich wollte einen Traum wahr werden lassen. Einen Tag lang Rennstreckentraining auf dem Hockenheimring, natürlich mit der Ninja. Ich war selbst darüber erstaunt wie ruhig und konzentriert ich war. Die Anspannung hatte sich in den letzten Tagen zunehmend gesteigert und fand am Tag vor dem Training ihren Höhepunkt, als ich mich wie ein kleines Kind am Tag vor Weihnachten verhalten hatte. Aber jetzt war die Anspannung verflogen und einem Gefühl tiefer Zuversicht gewichen. Dies würde ein großartiger Tag werden, dessen war ich mir sicher. Meine Sozia hatte bei mir geschlafen und würde mich begleiten. Gegen 6 Uhr saßen wir auf der Ninja und kamen kurz vor 8 Uhr auf dem Hockenheimring an. Die Atmosphäre auf meinem ersten Rennstreckentraining zog mich sofort in ihren Bann. Von jung bis alt, von Amateur bis Vollprofi war alles vertreten. Ich ließ meinen Blick über die Motorräder und ihre Fahrer schweifen. Es waren ein paar Straßenmaschinen vertreten, aber die Mehrheit bildeten die Supersportler unterschiedlicher Baujahre, von denen ein beträchtlicher Teil mit Rennverkleidung und Slicks ausgestattet war. Alle Anwesenden, egal ob in Lederkombi, Textilklamotten oder Straßenkleidung, hatten einen selig-glücklichen Gesichtsausdruck. Auch bei mir stellte sich dieser sofort ein: Hier war ich richtig. Inmitten einer Welt, die sich selber immer weiter einengte, sich immer engere Grenzen des Erlaubten und Akzeptierten setzte um ein kleines Stückchen mehr Sicherheit und Kontrollierbarkeit zu schaffen, inmitten dieser Welt lag eine andere Welt, deren 33 34 KAPITEL 5. HOCKENHEIMRING Bewohner sich dazu verschrieben fühlten ihren Horizont zu erweitern, die Grenzen des Kontrollierbaren auszutesten und dabei bewusst Sicherheitsrisiken in Kauf nahmen. Hier, an diesem Ort, hatten sie sich eingefunden. Nach dem “wieso?”, das sonst so unmöglich zu erklären war, würde hier niemand fragen, denn alle wussten es. Alle kannten es. Die Umwandlung von Benzin in Glücksgefühle war hier normal. Ich sah meine Sozia an und ihr breites Grinsen verriet, dass sie das gleiche spürte. Meinen Stammparkplatz fand ich neben dem Transporter von Egon. Egon fuhr auch eine 2008er ZX10-R, hatte schon einige Jahre mehr auf dem Buckel als ich und das bessere Equipment: Seine Ninja glänzte mit Rennverkleidung, war aufgebockt und hatte Reifenwärmer angelegt. Egon selbst, mit maßgeschneidertem Dainese Einteiler in Ninja-grün, war mit seiner Frau angereist, die ebenfalls an dem Training teilnahm, allerdings mit einer 6er Fazer. Beides waren sehr nette Menschen, aber etwas anderes hätte ich an einem solchen Ort auch nicht erwartet. Nach der Versorgung mit Kaffee ging ich zur Fahrerbesprechung. Es wurde wenig unbekanntes erzählt, aber es reichte um eine wohlige Gespanntheit auf den ersten Turn zu erzeugen. Ich war in der mittleren Gruppe, und zwischen den 20 Minuten langen Turns hatte ich jeweils 40 Minuten Pause. Meine Sozia nahm auf der Tribüne platz und ich ging zum Start meines ersten Turns. Die ersten zwei Runden fuhr ein Instruktor mit Hängetittenguzzi vor. Da Reifen und teils die Motoren noch kalt waren fuhr der Instruktor recht langsam, aber eine sehr schöne und sanfte Linie. Als der Instruktor in die Box zurück kehrte zog das Tempo an, blieb aber immer noch gemütlich. Das Feld zog sich auseinander und ich reihte mich hinter eine andere Ninja ein, deren Fahrer etwa die gleiche Geschwindigkeit fuhr wie ich, und feilte an meiner Kurvenlinie. Über den Vormittag steigerte ich meine Geschwindigkeit und tastete mich an das Überholen ran. Einen Motorradfahrer auf der Rennstrecke zu überholen ist etwas ganz anderes als ein Hindernis im Straßenverkehr. Der Fahrer sieht nicht nach hinten und wird natürlich die volle Straßenbreite ausnutzen. Auf der Geraden ist es kein Problem, bei Kurven muss man sich den anderen Fahrer ein wenig zurecht legen. Das Überholen beim Anbremsen war oft einfach, da viele Fahrer in meiner Gruppe die Kurven langsam anbremsten oder die letzten Meter rollten. Bei schnelleren Fahrern hatte ich damit allerdings Schwierigkeiten. Ich hatte bei manchen Kurven noch Probleme die richtige Geschwindigkeit zu finden um sie sauber zu fahren, falls ich zu langsam war, oder wegen zu hoher Geschwindigkeit korrigieren musste, konnte ich den eben überholten Fahrer stören und im schlimmsten Fall einen Unfall herbei führen. Daher spezialisierte ich mich schon früh auf das Überholen am Kurvenausgang, was nicht zuletzt wegen der wahnsinns Power der Ninja unglaublichen Spaß machte. Lenkte man die Kurve etwas später als der Vorausfahrende ein, so konnte man, nachdem dieser den Scheitelpunkt der Kurve passiert hatte, innen vorbei ziehen. Durch das späte und 35 damit starke Einlenken war zwar am Kurveneingang die benötigte Schräglage größer, aber beim Kurvenausgang, während dem Überholen, war die Linie weiter und ließ höhere Geschwindigkeiten zu. Und höhere Beschleunigung, da kam die Ninja ins Spiel. Kurve etwas später einlenken, warten bis der Vorausfahrende zum Kurvenausgang fährt, eigenen Scheitelpunkt bestimmen und die Ninja laufen lassen. Kontrolliert laufen lassen, denn die volle Power der Ninja hätte einen sofort aus der Kurve katapultieren. Es gab aber auch Gelegenheiten die ganze Motorleistung der Ninja einzusetzen: die Geraden. Über den ganzen Tag hatte es mich jedes mal aufs Neue erstaunt wie die Ninja abging wenn man ihr die Sporen gab. Von unten raus nach der Spitzkehre oder auf der Parabolika, auf der ich am Nachmittag regelmäßig die 299 erreichte, es war immer das gleiche Bild: Ein kurzes Zögern noch falls ich nach der Kurve im Drehzahlkeller – also unter 8 000 U/min – war, dann zog es an und einen Moment später kam es einem vor als säße man auf einer Rakete. Das turbinenartige Kreischen der Ninja verkündete ihr Kommen und veränderte die Welt: Eben noch fahrende Motorräder waren plötzlich stehende Hindernisse. Der Fahrer wurde relativistischen Effekten ausgesetzt und erkannte wie sich Raum und Zeit veränderten. Der nächste Kurveneingang war nicht mehr weit weg sondern praktisch schon da. Das Blickfeld wurde schmal und umfasste nur noch die Straße, die die volle Aufmerksamkeit erhielt, lediglich einzelne Hirnzellen wurden auf den Schaltblitz angesetzt. Die Motorräder vor der Ninja zerfielen in drei Gruppen: Hindernisse, denen sofort ausgewichen werden musste, Hindernisse, denen im Bruchteil einer Sekunde ausgewichen werden musste und andere 1000er, die Vollgas gaben. Die letzte Gruppe war eher selten, und die Ninja konnte auch ihnen wenigstens ein paar Meter abknöpfen. In der Mittagspause aßen wir Pizza und ich diskutierte mit meiner Sozia über meine Schwachstellen. Es war schön sie dabei zu haben und das alles mit ihr teilen zu können. Verbessern wollte ich jeden Fall mein Hanging-Off, da ich noch Schwierigkeiten hatte den Oberkörper aus der Linie zu nehmen und noch nie das Knie auf dem Boden hatte. Ich suchte einen Instruktor auf und er verbesserte meine Position auf seiner Hängetittenguzzi und beantwortete alle meine Fragen. Die Nachmittagturns nutzte ich um dies zu trainieren und fand auch bald eine Position auf der Ninja in der sich alles richtig anfühlte. Man musste nur etwas zurück rutschen, die Hüfte aufklappen und mit dem Oberkörper die Kurve beginnen. Der kurvenäußere Oberschenkel hält dabei den Körper, auf den Händen ist kein Gewicht, und der kurvenäußere Unterarm liegt am Tank an. Zudem legte ich mir für einige Kurven Bremspunkte fest, die sich als sehr Vorteilhaft für den Überholvorgang beim Anbremsen herausstellten. All dies führte dazu, dass ich in den späten Turns einer der schnellsten in der mittleren Gruppe war. Im letzten Turn war ich frühzeitig am Start um wenig Verkehr vor mir zu haben. Tatsächlich waren nur drei Bikes vor mir, alle drei hatten eine 36 KAPITEL 5. HOCKENHEIMRING Rennverkleidung und Slicks. Einer der dreien fiel schon frühzeitig nach dem Start zurück, ich blieb an den andern dran und wartete bis meine Reifen richtig auf Temperatur kamen. Die beiden schienen zusammen zu gehören, da sie sich hin und wieder nach einander umdrehten und Plätze tauschten. Sie waren nicht schneller als ich, ein paar Reserven hatte ich noch, aber vorbei kommen stellte sich als nicht ganz einfach heraus. Ich konnte nicht beide auf einmal überholen, ich hatte zwar immer wieder den hinteren, doch kam dann meist eine Gruppe mit Instruktor und ich wurde wieder einkassiert. Auf einer Geraden mit Instruktorengruppe überholte ich auf der anderen Seite und kam als einziger an der gesamten Gruppe vorbei. Ich warf mich in die nächste Kurve und gab Gas. Diesen Vorsprung musste ich zum frei Fahren nutzen, das letzte Mal für diesen Tag . . . Es war das letzte Mal für eine ganze Weile. Ein paar Kurven später, bei der Einfahrt ins Motodrom, legte ich einen astreinen Lowsider hin. Zu schnell? Zu stark beschleunigt? Ein dummer Lenkimpuls beim Hanging-Off? Oder hatte ich die Stelle erwischt, an der den ganzen Tag schon die Sand lag? Die genaue Ursache blieb erstmal ungewiss, aber die prinzipielle Ursache war offensichtlich. Eine Überdosis Flow. Die war auch nach dem Unfall noch da und begleitete mich ins Krankenhaus. Waren alle Motorradfahrer nach Unfällen so gut gelaunt wie ich? Solch eine Überdosis hält leider nicht lang. Die restlichen Folgen dafür umso länger. Die Ninja sah schrecklich aus. Es hatte sie nicht nur gelegt, durch den Schwung hatte sie sich im Kiesbett auch noch überschlagen und dabei alles verloren, was sie nach Ninja aussehen ließ. Verkleidungsteile, Scheibe, Hebel, Blinker, Heck, nichts mehr war da wo es hingehörte, sondern lag über die Auslaufzone verteilt. Gerade einmal 9 000 km hatte ich gebraucht um dieses geile Bike in einen Schrotthaufen zu verwandeln. Wieder einmal brachte der ADAC mein Lebensgefährt, meine Sozia und mich nach Hause, wobei wir Menschen direkt im Krankenhaus abgeholt wurden. In den nächsten Wochen des Verzweifelns und Bangens stellte sich glücklicherweise heraus, dass die Ninja zwar böse zugerichtet war, es sich aber lohnte sie wieder zu reparieren. Rahmen, Motor und Fahrwerk waren bis auf ein paar Kratzer noch in Ordnung. Der Hinterreifen war seitlich komplett blau angelaufen und glänzte ölig. Der letzte Turn, bei dem ich schon früh viel von meinem Reifen abverlangte, war zu viel für den Straßenpneu gewesen. Materialfehler, kein Fahrfehler. Es war natürlich trotzdem mein Fehler, ich hätte es merken müssen, hätte mehr auf meine Reifen hören müssen. Ein paar Wochen später war meine Ninja wieder fast die Alte. Den neuen Verkleidungsteilen fehlten die Aufkleber, und viele Teile, unter anderem Rahmen und Endschalldämpfer, waren mit Kratzspuren übersät. Aber was zählte, war, dass sie technisch wieder einwandfrei war. Wir würden wieder fahren, auf dem gleichen Niveau wie davor wenn nicht sogar noch besser, und das war das wichtigste. 37 Bei mir hatte es das Schlüsselbein erwischt. Das war nicht wirklich tragisch, man könnte von Glück im Unglück reden. Man könnte auch von Pech reden, schließlich hätte ja auch einfach gar nichts passieren können. Egal wie man es sah, es blieb eine scheiß Verletzung die über Wochen nervte und die Saison erstmal auf Eis legte. Ich wusste, dass das mein eigenes Verschulden war, wie immer in solchen Fällen, und manchmal fragte ich mich auch wie man so dämlich sein konnte. Es war ein absehbares Muster, immer das Gleiche. Und doch konnte ich es nicht ablegen. Vielleicht wollte ich es auch gar nicht. Weil ich nicht einfach aufhören konnte Unfälle zu bauen ohne gleichzeitig damit aufzuhören am Limit zu fahren. Und das versuchte ich nun mal, sei es mein eigenes oder das der Maschine. Das war der Katalysator für die Reaktion, die Benzin in Glückshormone umwandelte. Ohne könnte ich es auch gleich bleiben lassen. Es kotzte mich an, dass das alles kaputte Motorräder und gebrochene Knochen mit sich brachte, und ich versuchte alles um beides zu minimieren. Aber ich würde das in dieser Welt tun, der Welt, in der die Menschen noch so sein konnten wie sie wollten, nicht in der anderen. Und mit einem Mal erkannte ich, was diese Welt war, wie sie aussah und dass sie einen Namen hatte: Diese Welt war das Mopedoversum. Kapitel 6 Über das Mopedoversum Viele Menschen verbinden das Motorradfahren mit Freiheit, meist ist dabei gar nicht genauer spezifiziert was genau diese Freiheit ist. Falls ein Laie darüber nachdenkt, wird er wahrscheinlich zu der Vorstellung gelangen, dass es sich um die Freiheit handelt, sich unabhängig von anderen von Ort zu Ort zu bewegen. Vielleicht denkt er auch ein bisschen an die Anarchie, die der Motorradfahrer lebt, sei es der “Raser”, der sich über die Straßenverkehrsordnung hinwegsetzt, oder der “Rocker”, der in Bars über die Stränge schlägt. Das stimmt zwar alles, aber er übersieht den wesentlichsten Teil, von dem selbst erfahrene Biker nur eine grobe Ahnung haben, eine substanzielle Komponente, die dieser zwar spürt, aber die er meist nicht erklären könnte. Der Laie weiß nämlich nicht, dass der Motorradfahrer, in dem Moment wo er die Beine vom Boden nimmt und sich seiner Maschine anvertraut, zum Mopedonauten1 werden kann! Der Mopedonaut ist ein Reisender, er vermag es nicht nur, sich nach der gemein geläufigen Vorstellung von A nach B zu bewegen, wie es jeder Motorrad- und auch Autofahrer kann, er ist außerdem in der Lage, in eine sonst verschlossene Parallelwelt zu reißen, die übrigen Menschen unbekannt ist, und selbst ihr Besuchender vermag es nicht immer zu erkennen, wenn er sich in ihr befindet. Diese Parallelwelt ist das Mopedoversum. Wie eine zusätzliche Schicht umgibt es die unsere Welt, unsichtbar, aber nicht unfühlbar liegt es darüber, um sie herum und in ihr darin. Wie Adern ist es angeordnet, dünne Linien, die unseren Planeten umschließen. Es entsteht immer dort, wo positive Emotionen beim Motorradfahren freigesetzt werden, und teilweise auch dort, wo sie nach dem Fahren noch gelebt werden. Die Linien sind stark an schönen Bergstraßen, verdichten sich an deren Kurven, und bilden an deren Treffpunkten kleine Knoten. Es heißt, einige dieser Punkte seien sogar beweglich, verwachsene Emotionen an einer Maschine, immer mobil, und immer Teil des Mopedoversums. Die größten und stärksten die1 Dieser Neologismus hat seinen Ursprung in den Worten Moped, Torpedo und dem griechischem nautēs (Seefahrer/Matrose) 38 39 ser Knoten sind immer unbeweglich und entstehen meist an Rennstrecken, wo sie selbst Jahre nachdem die Rennstrecke nicht mehr existiert, noch eine mächtige Aura ausstrahlen können. Diese bilden eine Art Portal, und auf ein Mal ist es sogar Nicht-Mopedonauten möglich, in dieses Mopedoversum zu gelangen, obwohl sie es meist nicht erkennen können. Mopedonauten sehen einander selten als völlig fremde, selbst wenn sie sich nie vorher getroffen haben. Das Wissen um das Mopedoversum lässt eine Gemeinsamkeit entstehen, die die Unterschiede, die sonst so viel zu bedeuten scheinen, verblassen lassen. Mopedonauten sind es gewohnt einander zu grüßen wenn sie sich erkennen, und falls sie Zeit haben um abzusteigen so werden sie sich duzen, das “Sie” bleibt reserviert für die Bewohner anderer Welten. Sollte ein Mopedonaut inmitten seinesgleichen ein Problem haben, so kommt er meist nicht mal dazu um Hilfe zu fragen bevor sie ihm angeboten wird. Im Mopedoversum riecht und redet man Benzin, spürt Vibrationen, hört Motoren und empfindet Freude. Es handelt sich um eine Welt, in der die Bedeutung vieler Dinge reduziert ist. Reduziert auf das – aus der Sicht des Mopedonauten – Wesentliche. Die Welt verliert dadurch jedoch nicht an Komplexität, denn obwohl viele, sonst wichtige Teile in der Bedeutungslosigkeit verschwinden, gewinnen andere Alltäglichkeiten in gleichem Maße an Relevanz, simple Belangenlosigkeiten werden zu wichtigen Themenkomplexen. Ausgeschlossen aus dem Mopedoversum sind beispielsweise das Morgen und das Gestern, sowie alle damit verbundenen Hoffnungen und Sorgen. Die betrachtete Zeitspanne von Vergangenheit bis Zukunft komprimiert sich oft auf wenige Augenblicke, bestehend aus wenigen Kurven, die sich gegenseitig beeinflussen. Darüber hinaus lohnt es sich nicht einen Gedanken zu verschwenden, und die Gegenwart bietet genug, dass Aufmerksamkeit erfordert: Die Kurven werden zur Kurvenkombination, in ihr formen sich Linien und Punkte: Ideal-, Renn- und Kampflinien, Brems-, Einlenk- und Scheitelpunkte sowie dergleichen mehr. Der Mopedonaut vermag einige oder auch alle zu erkennen, er kann mit diesen Punkten und Linien experimentieren, sie in seinem Geiste verschieben und sich für den Weg entscheiden, der ihm richtig erscheint. Die Komplexität der Experimente kann vom Mopedonauten frei gewählt werden, er ist der Souverän, jederzeit in der Lage den Schwierigkeitsgrad anzuheben oder abzusenken, so dass er nie über- aber auch nie unterfordert ist. Mit einer spielenden Leichtigkeit bewegt er sich durch diese Welt, eine Unbeschwertheit, wie er sie sonst nur schwer finden kann. Wenn er hier eine Herausforderung sieht, denkt er sich: “So könnte es funktionieren”, durchbricht alle Einschränkungen und lässt seine Ängste hinter sich. Und er stellt fest, dass es tatsächlich funktioniert. Seine Wünsche und die Realität sind nicht mehr zwei verschiedene Dinge sondern ein und dasselbe. Er kann beobachten wie sich seine Vorstellungen direkt vor ihm in die Wirklichkeit verwandeln. Hoffnung braucht er nicht mehr, denn er hat Gewissheit. In dieser Welt scheinen ihm alle Gesetze in die Hände zu spielen: Schwerkraft, 40 KAPITEL 6. ÜBER DAS MOPEDOVERSUM Reibung, Massenträgheit, Zentripetal- und -fugalkräfte, ja, die ganze Physik scheint auf seiner Seite zu sein. Diese Welt liebt ihn, und es fällt ihm leicht sie auch zu lieben. Jeglicher Stress, sämtliche Verkrampfungen fallen von ihm ab, wie Dämonen längst vergangener Tage kommen sie ihm vor, Erinnerungen an einen bösen Traum, der immer weiter aus dem Gedächtnis verschwindet. Der Mopedonaut hat keine Eile, er ist die Ruhe selbst. Das Hier ist gut, das Eben war in Ordnung, und das Gleich wird fantastisch werden. Gemütlich wie in einem Sessel gleitet er durch diese Welt, die er mittels einer simplen Geste der rechten Hand verwandeln kann. Ein Gedanke, ein Geistesblitz, wandert dann durch den Arm ins Mopedo, entlädt sich dort und vermag den Kraftstoff zu entzünden. Tausende kleiner Explosionen pro Minute werden ausgelöst, diese zerstören nicht, sie befreien und erschaffen. Befreien die Kraft, die in dem Stoff gefangen war. Wie eine mächtige Welle breiten sie sich aus, brechen dröhnend aus den Schalldämpfern heraus, durchströmen den Mopedonauten und seine Umgebung und erschaffen eine geisterhafte Macht, die wie eine riesige, unsichtbare Hand das Mopedo nach vorne drückt. Auch am Mopedonauten geht diese Welle nicht spurlos vorbei, die Explosionen durchströmen auch ihn, pulsieren durch seine Adern und jede einzelne Explosion verwandelt sich in ein Glückshormon. Eine angenehme Anspannung stellt sich ein, ein Überschuss an Energie, der alles möglich erscheinen lässt, der alle Grenzen verschwimmen lässt. Der Mopedonaut weiß, dass er alles tun könnte, und doch tut er nur das eine: Er ist. Er ist das Mopedo, er ist die Kurve, er ist die Welt, aber vor allem ist er das, was er tut. Er ist das Fahren, und das Fahren ist Leben. Es darf aber nicht verschwiegen werden, dass das Mopedoversum eine Gefahr birgt. Es ist keine Gefahr für Leib und Leben, wie man vielleicht vermuten möchte, denn Emotionen haben so etwas nicht. Leib und Leben sind zwar in der uns gewohnten Welt gefährdet, aber nicht im Mopedoversum, allenfalls wird man schlagartig aus dieser Parallelwelt hinausgeschleudert. Hinausgeschleudert zurück in die uns so bekannte Welt, die die einzige ist, in der Tod und Verzweiflung existieren. An dem Verlassen dieser Parallelwelt besteht die Gefahr, nicht nur durch ein plötzliches Ereignis, sondern auch durch das normale, langsame Zurückkehren in den Alltag. Sogar das gewöhnliche Absteigen von der Maschine kann den Mopedonauten dazu zwingen, diese Parallelwelt zu verlassen. Die Rückkehr in eine Welt, in der Verzweiflung existiert, kann ein Schock sein, der umso härter wirkt, je enger man mit dieser Parallelwelt in Verbindung war. Die spielende Leichtigkeit aus dem Mopedoversum kann nicht bewahrt werden, und wenn ein starker Mopedonaut dennoch versucht sie mitzunehmen, dieses “So könnte es funktionieren” weiterhin zu Leben, so wird er meist bitterlich enttäuscht werden. Es funktioniert einfach nicht mehr. Was er auch anstellt, alles ist mit Mühen und Arbeit verbunden, langweilt oder überfordert ihn, und er merkt bald, 41 dass das meiste den Aufwand einfach nicht wert ist. Aber er kann sich dem allen nicht entziehen, denn diese Welt ist geprägt von Notwendigkeit und Zwang. Starke Sehnsüchte an das gute und liebevolle, dennoch mächtige und faszinierende Mopedoversum schaffen Entzugserscheinungen, der ehemalige Mopedonaut findet sich nicht mehr so gut zurecht in dieser ihm angeboren, doch am liebsten verlassenen Welt. Er kann seine Gedanken nicht vom Mopedoversum reißen, versucht anderen von ihm zu erzählen, doch stößt bei jedem, der nie selbst dorthin gereist ist, auf keinerlei Verständnis. Als absurdes Hobby oder gar Verschwendung von Ressourcen werden seine Reisen abgetan, die Schlingen des Alltags werden um den Mopedonauten gelegt, er verliert durch solche fruchtlosen Diskussionen noch mehr den Kontakt zum Mopedoversum. Er ist gezwungen sich zu entscheiden, welcher der beiden Welten er sich entzieht. Ob er das Mopedoversum in sich verbirgt und dort aufbewahrt um in dieser normalen Welt zurecht zu kommen, oder ob er ins Mopedoversum flieht. Dazu schwingt er sich auf sein Motorrad, lässt den Alltag hinter sich und erlebt die schönsten Seiten des Lebens als Mopedonaut. Jedoch ist dies teilweise nicht möglich, und so kann der Mopedonaut nur in Gedanken in diese seine bevorzugte Welt fliehen. Teilweise schweift sein Blick einfach in die Ferne, in Gedanken durch die Kurven heizend, oder er überlegt sich die Ideallinie beim Laufen. Es sind auch Fälle beobachtet worden, in denen der Mopedonaut versuchte mit einer Art Brummen die Geräusche seines Mopedos nachzuahmen, oder sich ohne Motorrad in Schräglage zu legen. Dies ist die Gefahr des Mopedoversums. Es vermag den Mopedonauten zu begeistern und süchtig zu machen bis ihm alles andere unvollkommen und unwichtig erscheint. Mir persönlich ist es so ergangen. Und ich liebe es. Kapitel 7 Spielhölle Es gibt immer wieder Zeiten, in denen man nicht Motorradfahren kann und die man dann eigentlich für sinnvolleres verwenden könnte. Oder aber man sucht nach Ersatzhandlungen, denn alles, was nichts mit Motorrädern zu tun hat, ist schließlich doof. Neben Schrauben, Putzen, Bücher lesen oder schreiben gibt es noch eine riesige Sparte an Spielen, vor allem Computeroder Konsolenspiele. Das diese niemals so gut sind wie Motorradfahren an sich versteht sich von alleine, da wesentliche Elemente fehlen: Ohne eine wirkliche Gefahr wird der Adrenalinpegel eher selten ein befriedigendes Niveau erreichen, zudem fehlt fast das komplette sensorische Erleben, zum Beispiel die Fliehkräfte, die Schräglage, die Rückkopplung der Reifen und des Lenkers, der Fahrtwind und vieles mehr. Und die Bedienung lässt in den meisten Fällen auch zu wünschen übrig: Tastatur? Gamepad? Joystick? Lenkrad??? Alles ziemlich weit weg von einem Motorrad. Die Grafik kann mit der Realität oft auch nicht mithalten, wobei es hier einige Ausnahmen gibt. Bestimmte Lichteffekte wie Spiegelungen oder Flammen, die zum Beispiel aus dem Auspuff schlagen, sehen in der virtuellen Welt nicht selten sehr spektakulär aus. Zumindest theoretisch gibt es auch noch viele weitere Vorteile: Die Kosten sind im Vergleich zum echten Motorradfahren minimal, man kann viele Motorräder und Strecken ausprobieren, man ist unabhängig vom Wetter oder anderen äußeren Einflüssen, niemand wird einem den Führerschein abnehmen und jeglicher Schaden am Motorrad oder am Fahrer bleibt rein virtuell. Darüber hinaus hat man die Möglichkeit viele Dinge an seine Vorlieben anzupassen, zum Beispiel die Lautstärke, die Menge an Verkehr, falls man auf öffentlichen Straßen unterwegs ist, oder das Können der Rivalen. Und – jetzt kommt der Punkt wo ich das größte Potential von Spielen sehe – es sind Dinge möglich, die sich in der Wirklichkeit einfach nicht realisieren lassen: Ein Slow Motion Modus etwa: Man erblickt eine Gefahrensituation und – zack! – man verlangsamt die Zeit und kann sich in aller Ruhe überlegen wie man sich aus der Situation wieder heraus windet. 42 43 Fuck! Gerade ist er mit über 200 Sachen um die uneinsichtige Kurve herum gekommen und jetzt ist die ganze Straße blockiert. Blechkisten, LKWs, Traktoren, alle Alpträume auf einmal und nur noch 50 m bis zum Aufprall. Ein Druck auf den richtigen Knopf und die Situation entspannt sich. Ohne dass ein Abbremsen spürbar war bewegt sich nun alles in Zeitlupe und er hat eine Chance in Ruhe eine Linie durch all die Hindernisse zu legen. Das Feature, das ich mir am ehesten auch für das Real Life wünsche, wäre der Replay Modus. Hat irgendetwas nicht so geklappt, wie man sich das vorgestellt hat, kann man einfach ein Stück zurück spulen und es nochmal versuchen. Die Zeit bewegt sich zwar zäh wie Honig, aber das ändert leider nichts an der Tatsache, das kein Fluchtweg zwischen den Traktoren und LKWs mehr frei ist. Zum Bremsen reicht ihm der Platz nicht mehr, er hätte die Kurve schon viel langsamer anfahren müssen. Na gut, diesmal ein anderer Knopf und alles bewegt sich rückwärts. Er fährt, mit dem Hinterrad voran, in die Richtung, aus der er eben kam, und sobald er genügend Abstand zur Kurve hat ändert sich die Richtung wieder. Er bremst diesmal, hört dabei auf das eindeutige Bauchgefühl, welches ihm sagt, hinter der Kurve sei die Straße blockiert. Auch immer wieder beliebt ist der “Turbo”, man drückt irgendeinen ominösen Knopf und auf einmal geht die Post ab. Turbolader und Lachgaseinspritzung gibt es zwar auch im echten Leben, aber die kommen einfach nicht an die virtuelle Umsetzung ran, denn in der Realität muss man die physikalischen Kräften auch noch irgendwie auf die Straße kriegen, bei der Umsetzung in Bits und Bytes lässt sich das einfacher bewerkstelligen. Die Hindernisse haben Zeit gekostet, zu viel Zeit und das Ziel ist noch weit entfernt. Aber zum Glück gibt es diesen einen großen, roten Knopf. Er macht sich hinter seiner Verkleidung klein, duckt sich, dann betätigt er den Knopf. Der Welt ihm ihn herum verschwimmt, Lichtblitze rasen an ihm vorbei. Oder rast er und das Licht steht? Die Anzeige des Tachos erreicht atemberaubende Zahlen: 300, 400, 500. Er saust durch die Kurven, kaum bemerkend dass er trotz der abnormen Geschwindigkeiten kaum mehr Schräglage braucht. Mein absoluter Favorit unter den Dingen, die nur in die Welt der Computer gehören, ist Gewalt. In der wirklichen Welt finde ich Gewalt zum Kotzen, denn dort gibt es Opfer und Konsequenzen, dort bin ich absoluter Befürworter des Pazifismus. Jedoch bin ich in der Lage Fiktion und Realität zu trennen, und ohne die negativen Seiten macht Gewalt durchaus Spaß. Die Energie des Turbos ist aufgebraucht, doch noch immer ist er unglaublich schnell unterwegs. Nichts darf ihn jetzt bremsen wenn er noch Chancen auf den Sieg haben will. Natürlich verengt sich in genau diesem Moment die Straße und ein Bus versperrt die einzige Spur. Er hatte damit gerechnet. Ein weiterer Knopf, ein Fadenkreuz erscheint, bewegt sich auf den Bus zu. . . “haste la vista, baby”. Eine Rakete, ein Lichtblitz, ein 44 KAPITEL 7. SPIELHÖLLE Knall. Er rast weiter, weiter durch den riesigen Feuerball, an dessen Stelle sich eben noch der Bus befunden hatte, welcher nun durch die Luft wirbelt. Der Einschlag der Rakete hat natürlich kein Schlagloch hinterlassen. Wieso auch? Aus dem Augenwinkel sieht er die kreischenden Kinder, die durch den Bus geschleudert werden, aber er hat sie schon vergessen als der Bus die Böschung platt walzt. Es müsste also machbar sein, ein vernünftiges Motorradspiel zu produzieren. Leider gibt es das bisher aber nicht, oder ich war einfach nicht in der Lage eines zu finden. Es scheitert meist an irgendwelchen Selbstverständlichkeiten, wodurch Spiel entweder frustrierend oder langweilig gemacht wird. Meistens beides. Bei Arcade-Spielen, also Spiele die auf Spielspaß statt auf Realismus ausgelegt sind, hat man oft den Eindruck, die Entwickler seien nie in ihrem Leben auf einem Motorrad gesessen und haben einfach bei einem bestehenden Autorennspiel die Grafiken von Autos durch Grafiken von Motorräder ersetzt, ohne sich auch nur für fünf Cent Gedanken um die veränderte Fahrphysik zu machen. Als Ergebnis hat man dann Motorräder, die anfangen zu Driften und zu Übersteuern wenn man in der Kurve beginnt zu bremsen. Das muss doch besser gehen! Zum Glück gibt es ja auch noch Simulationen, die tendenziell auf Realitätsnähe ausgelegt sind und bei denen man schon eher den Eindruck hat, es ginge irgendwie um Motorräder. Ein großer Vorteil sind hier die teilweise sehr realistischen Strecken, die es einem erlauben sich den Verlauf und die Ideallinie einzuprägen bevor man sie das erste mal in echt befährt. Bei diesen Spielen hapert es dann meiner Meinung nach an der Steuerung oder dem wichtigsten Element des Motorradfahrens: der Möglichkeit des weiten Blicks voraus. Ich habe mal ein Spiel gespielt, das hätte man schon fast als gutes Motorradspiel bezeichnen können wenn da nicht dieses eine Problem gewesen wäre: Man hat nichts gesehen! Ich bin Motorradfahrer, meine wichtigste Fähigkeit als solcher ist vorausschauend fahren zu können, und dazu muss ich meinen Kopf bewegen können. Das kann man aber in keinem Motorradrennspiel, eine ordentliche Blickführung wird einem schlicht unmöglich gemacht, denn die Strecke geht entweder links oder rechts vom Bildschirm weiter. Als einzige Hilfe bleibt vielleicht noch die kleine Karte, die in irgendeiner Bildschirmecke versteckt ist. Diese ist aber komplett nutzlos, wenn man versucht eine vernünftige Linie zu legen. Vor allem Kehren verwandeln sich in Schikanen, die nahezu nicht zu meistern sind und einem das letzte Quäntchen Spielspaß rauben. Noch zu erwähnen wären dann die Automatenspiele, bei denen eine Art Motorradatrappe angebracht ist, auf denen der Spieler sitzt. Das Motorrad ist beweglich und der Spieler kann sich damit in die Kurven legen, und er hat einen “richtigen” Gasgriff und einen Bremshebel. Von der Idee her super, die Umsetzung aber meist genauso weit von einem echten Motorrad entfernt 45 wie alle anderen Arcade-Motorradspiele: Bei den Automaten, die ich bis jetzt gesehen habe, waren die Lenker immer starr angebracht und nur der Rest des Motorrads beweglich und dadurch geht jeder Versuch dieses Ding wie ein normales Motorrad zu bedienen gehörig in die Hose: Ein leichter Druck am starren Lenker schiebt den Körper natürlich von diesem weg, was bei mir immer damit endete, dass ich in die falsche Richtung lenkte. Zumindest bei langsameren Kurven, bei den schnelleren konnte ich mich trotz nicht vorhandener Fliehkräfte halbwegs mit dem Hanging-Off anfreunden, auch wenn hier mal wieder die fehlende Möglichkeit zur Blickführung störte. Als ich das erste Mal einem solchen Automaten inmitten eines Motorradurlaubs begegnete konnte ich nicht widerstehen und saß kurz darauf in kompletter Montur auf dem Plastikmotorrad. Auf dem zweiten Plastikmotorrad nahm ein Freund in ebenfalls kompletter Montur platz und wir machten uns bereit endlich Mal ein richtiges Rennen gegeneinander zu fahren. Keiner von uns erreichte das Ziel bevor die Zeit abgelaufen war. Als ich ein paar Jahre später in einem Urlaub mal kein Motorrad hatte, dafür aber ein Spielsalon in meiner Nähe, schaffte ich es mich an diese komischen Plastikmotorräder zu gewöhnen und auch Rennen zu gewinnen. Es waren einige Stunden Spielzeit nötig, aber dann konnte ich mir aus gewonnen Skins und Anbauteilen ein virtuelles Motorrad bauen, das fast wie meine Ninja aussah. Abschließend bleibt leider nur zu sagen, dass Computerspiele keine brauchbare Alternative zum echten Motorradfahren darstellen. Schade eigentlich, denn vor allem die Automatenspiele hätten echt Potential. Vielleicht wird die Situation mit der Zeit besser, aber falls nicht werde ich mir wohl eines Winters mein eigenes Automatenspiel bauen müssen, aber natürlich aus einem echten Motorrad und nicht aus Plastik. Kapitel 8 Gelbe Engel und selbst ernannte Freunde Der Allgemeine Deutsche Automobil Club, kurz ADAC, hat ursprünglich als Motorradclub angefangen. Als solchen nutze ich ihn auch, ein Auto habe ich nicht, aber ich bin dem ADAC sehr dankbar für jedes Mal wenn sie mein Motorrad oder mich geholt haben. Jedes Mal wenn ich im Graben lag wusste ich diese Mitgliedschaft zu schätzen. Ohne Diskussion wird einem einfach geholfen, das kann ich nicht mal von meinem Arzt behaupten. Vor allem, sie hätten ja allen Grund zu diskutieren, wenn ich Depp – schon wieder – selbstverschuldet im Graben lande und verzweifelt beim ADAC anrufe. Aber nein, die nette Dame am Telefon ist freundlich, im Vergleich zu andern Hotlines kompetent, spendet Trost und verspricht umgehend Hilfe. Gut, mit den Zeitangaben sollte man es nicht immer so genau nehmen. Doch sie kommen. Jedes mal. Während dem Deutschlandspiel bei der Fußballweltmeisterschaft oder mitten in der Nacht. Nach Frankreich oder auch ins Krankenhaus. Die Fahrer an sich sind dann wieder eine ganz andere Sache. Im Grunde sind die meisten nett und hilfsbereit, aber ihnen fehlt es dann doch meist am nötigen Einfühlungsvermögen. Nicht selten wird mein Lebensgefährt dann behandelt, als wäre es nur ein kaputtes Motorrad. Mit Gewalt wird meine Liebste auf den Abschlepper gehievt und dann mit teils abenteuerlichen, improvisierten Methoden irgendwie festgezurrt. Hilflos, ängstlich und allein muss sie sich fühlen wenn sie so auf dem LKW steht, verletzt, nicht mehr in der Lage sich selber fortzubewegen, sondern angekettet von einem Fremden. Und dann auch noch auf einem Zweispurfahrzeug! Das lehnt sich in den Kurven sogar in die falsche Richtung. Ich kann dann nur hoffen, dass meine Worte des Trosts sie erreichen, dass mein Versprechen, ihre kaputten Teile durch gleichwertige oder noch bessere zu ersetzen, bei ihr ankommt und sie beruhigt. Die Fahrten nach Hause sind dann auch immer wieder eine Erfahrung wert, da die meisten Abschleppfahrer natürlich wissen wollen was passiert 46 47 ist. Ich lasse in solchen Fällen, wenn ich Außenstehenden erkläre was passiert ist, immer die Details weg, vor allem Zahlen wie Geschwindigkeiten. Realistische Beschreibungen führen entweder dazu, dass einem ohnehin nicht geglaubt wird, oder dazu, dass man sofort in die Kategorie Irrer-KinderÜber-Den-Haufen-Raser-Der-In-Die-Gaskammer-Gehört gesteckt wird. ADAC-Fahrer sind selten selbst Motorradfahrer, und wenn Zweispurfahrer einem verunglückten Motorradfahrer begegnen, dann merkt man recht schnell wie der Zweispurfahrer ganz unwillkürlich die Rolle der väterlichen Vernunft einnimmt und versucht den verrückten Motorradfahrer zurück auf den rechten Weg zu bringen. “Ich bin früher auch Motorrad gefahren, aber dann sind zwei oder drei meiner Freunde gestorben”, erzählte mir ein Fahrer einmal in bedeutungsschwangerem Ton. Zwei oder Drei? Sollte man so was nicht etwas genauer wissen? Oder zu meiner Sozia, nachdem wir bei einem Wheelie abgeflogen waren und eingesammelt wurden: “Na, sie setzen sich jetzt wohl auch nie wieder hinten auf ein Motorrad drauf?” Zum Glück ist meine Sozia eben meine Sozia, und eine angenehme Wärme stieg in mir auf als sie erklärte, dass sie wisse worauf sie sich einlasse und es auch weiterhin zu tun gedenke. Der Fahrstil der Abschleppfahrer spricht dann wieder Bände. Ich kann einen Menschen, der über die Rücksichtslosigkeit der Motorradfahrer philosophiert, nicht ernst nehmen wenn er gleichzeitig mit einem LKW kaum einsehbare Kurven auf eine Art und Weise schneidet, die es praktisch unmöglich machen würde, einem entgegenkommendem LKW oder Bus auszuweichen. Ein anderer Fahrer hat es in tiefster Nacht auf über 120 km Autobahn nicht einmal geschafft die rechte Spur zu verwenden, obwohl dort nur alle paar Kilometer ein einzelner Lastwagen fuhr. Das beruhigt dann auch wieder ein bisschen, ich bin wohl doch nicht der einzige, der sich nur an die Verkehrsregeln hält, die er für sinnvoll erachtet. Zu Hause angekommen reicht eine einzige Unterschrift und ein paar weitere Angaben und der ganze Papierkram ist erledigt. Meine Worte des Dankes können nicht ausdrücken wie viel mir seine Arbeit bedeutet. Er hat meine Maschine nach Hause gebracht in einem Moment, in dem ich es selbst nicht mehr konnte. Er erkennt es nicht, für ihn ist es nur ein Job, aber für mich ist er ihr Retter, und dadurch auch mein Retter. Der gelbe Engel zieht von dannen, er erwartet keine weitere Gegenleistung. Ich kann nur davon abraten, statt des ADACs die Polizei zu rufen! Dieser Verein, der sich so selbstherrlich als mein Freund und Helfer bezeichnet, ist weder freundlich noch hilfsbereit. Ich musste das einmal feststellen, als ein Kumpel hinter mir stürzte weil er aufgrund einer tiefen Spurrille in einer Kurve den Kontakt zum Boden verlor. Die Spurrille war kaum zu sehen und zog sich direkt durch die Ideallinie von Einspurfahrzeugen. Es war nichts schlimmes passiert, jedoch war die Kurve voller Bremsflüssigkeit, und das an einem Wochenende und auf einer Strecke, die von Motorradfahrern be- 48 KAPITEL 8. GELBE ENGEL, SELBST ERNANNTE FREUNDE vorzugt befahren wurde. Aber wozu hatte man einen Freund und Helfer, der musste doch wissen, was zu tun war. 45 Minuten später, die wir damit verbracht hatten allen Motorradfahrern zuzuwinken, damit sie nicht auf der Bremsflüssigkeit ausrutschten, waren sie dann auch schon da, natürlich ohne Warnschilder oder irgendwelchem Bindemittel um die Situation zu entschärfen. Als erstes wurden Strafzettel verteilt, denn, wer abflog musste ja schließlich zu schnell gewesen sein, hatte sich zumindest nicht der Situation entsprechend verhalten. Die Logik ist irgendwie verständlich, aber dann möchte ich doch auch bitte immer dann, wenn ich nicht abfliege, auch keinen Strafzettel. Der freundliche Bulle betonte dann auch noch wie nett er sei und dass man ihm dankbar sein sollte, denn schließlich könnte er noch teurere Strafzettel verteilen. Wer solche Freunde hat braucht keine Feinde mehr. Die rutschige Stelle mitten in der Kurve interessierte ihn nicht, schon klar, falls einer abflog weil er nicht damit rechnete, dass mitten in einer Kurve eine ölige Spurrille war, dann war er ja ohnehin selber schuld. Ich für meinen Teil werde keine Polizei mehr rufen, wenn es nicht absolut unumgänglich ist. Und falls jemand anderes fragt, ob er denn nicht lieber die Polizei rufen soll, am besten gar nicht erst diskutieren sondern gleich lügen: “Die sind schon unterwegs, fahren sie ruhig weiter, ich komm zurecht.” Auch wenn mein Freund und Helfer am Straßenrand steht und mich zu sich winkt, ist dies im Allgemeinen kein erfreuliches Wiedersehen. Denn er hat kein Interesse an einem gemütlichen Plausch oder am Austausch von Nettigkeiten, er möchte lieber eine ernsthafte Diskussion über die Regeln der Straßenverkehrsordnung führen. Diese Regeln sind ein zweischneidiges Schwert, auf der einen Seite sind Regeln natürlich notwendig, allein um das Verhalten der anderen Verkehrsteilnehmer grob abschätzen zu können. Auf der andere Seite sind diese Regeln, vorsichtig ausgedrückt, im Fokus etwas einseitig in Richtung Sicherheit ausgelegt. Der verbleibende Spielraum reicht selten zum befriedigenden Motorradfahren, sofern man damit auch nur im Entferntesten das Fahren in der Nähe des eigenen Limits oder dem der Maschine verbindet. Der Mopedonaut an sich ist ja wendig und passt sich den Gegebenheiten an und so kann es schon mal vorkommen, dass diese Regeln vom Mopedonauten ein klein wenig phantasievoller ausgelegt werden. Der Tacho der Ninja lässt sich beispielsweise auf Meilen statt Kilometer einstellen, und mit einem Male erscheinen die runden Schilder mit Zahlen darauf gar nicht mehr so weit von der Realität entfernt zu sein. Die Polizei ist da weniger flexibel und wird dieser Neuinterpretation der Regeln nicht folgen, es entsteht somit zwangsläufig eine Diskrepanz beider Interpretationen. Dieser Spannungszustand wird gelöst durch das Verteilen von Geld- und anderen Strafen, wobei der Mopedonaut immer der Benachteiligte ist. Ein Grund mehr also sich andere Freunde zu suchen, denn das Geld lässt sich viel besser in Benzin, Reifen und vor allem Rennstreckentrainings investieren. Kapitel 9 Rennstreckentraining auf dem Sachsenring 9.1 Erster Tag: Verzweiflung Das Training auf dem Hockenheimring lag schon gute vier Monate zurück, die Ninja war repariert und mein Knochen zusammengewachsen. Die Ninja sah zwar nicht mehr so gut aus wie sie das einmal tat und die inzwischen verschobenen Knorpel in meiner Schulter rieben auch noch an ungewohnten Stellen aneinander und verursachten dadurch leichte Schmerzen, doch es würde reichen um weiter zu machen. Dass ich weiter machen würde, stand außer Frage, nicht aus Sturheit – obwohl die wohl auch ausgereicht hätte – sondern aus Überzeugung. Erfreulich war das Ende meines letzten Trainings nicht gewesen, aber bis zu diesem Punkt war der Tag perfekt gelaufen. Selten hatte ich so viel Spaß gehabt und im Übrigen hatte ich Talent. Diese Behauptung war sicher anmaßend, schließlich war ich am Ende auf der Fresse gelandet, aber davor hatte ich mich schneller als jeder andere entwickelt und letztlich jeden einzelnen in meiner Gruppe stehen lassen. Das lag sicher zum Teil daran, dass ich in solchen Situationen furchtloser bin als andere, aber das konnte nicht alles sein, dazu gehörte auch ein gewisses fahrerisches Geschick und darauf galt es aufzubauen. Der Fehler auf dem Hockenheimring war akzeptabel solange er sich nicht wiederholte, um damit abschließen zu können musste ich wieder auf die Rennstrecke, musste wieder den gleichen Zustand des Flows erreichen und das ohne meine Maschine zu legen. Das war mein Ziel für dieses Training. Diesmal wollte ich einige Dinge anders – besser – machen. Das Training ging diesmal 2½Tage und ich hatte einen nagelneuen Satz Rennreifen auf der Ninja. Gut, fast nagelneu. Ich hatte es mir nicht nehmen lassen die Reifen auf einer kurzen Runde über meine Hausstrecke einzufahren um zu sehen ob ich einen Unterschied feststellen würde. Es war in der Tat ein deutlicher Unterschied, sanft wie auf Socken glitten die Reifen über den Asphalt, und 49 50 KAPITEL 9. SACHSENRING selbst auf Bitumen und Kanaldeckeln aus Metall schienen sie am Boden zu kleben. Da die Reifen die Fahrt zum Sachsenring kaum überstanden hätten und ich ohnehin keine Straßenzulassung mit ihnen hatte, hatte ich mir einen Sprinter geliehen. Mit der Ninja darin wurde dieser zum “Mopedoporter”. So ein Mopedoporter ist super, denn neben dem Notwendigsten kann man auch noch alles andere mitnehmen. Motorrad, Werkzeug, Verpflegung, Bier, Matratze, Kleidung, komplette Ersatzausrüstung, Sozia. . . für alles war genug Platz. Am Sonntag Nachmittag kamen wir in Sachsen beim Hotel an. Diesmal war der ADAC der Veranstalter und alles schien eine Ecke luxuriöser zu sein, zumindest das Hotel machte auf mich, der ich doch als schwitzender, ungepflegter Biker gekommen war, einen zu schicken Eindruck. Am Empfang wurde ich mit allerlei Papierkrams versorgt und bekam zwei riesige Aufkleber mit Ziffern, die ich auf mein Mopedo kleben sollte, bevor ich mich zur technischen Abnahme zu melden hatte. Ich klebte ja zu gern irgendwas auf mein Motorrad nur um es danach wieder abzufummeln, aber in diesem Fall war es wohl sinnvoll. Ich rollte zur technischen Abnahme und verstand die Welt nicht mehr. Es handelte sich um eine Mini-TÜV-Prüfung, Blinker und Lichter wurden kontrolliert und danach wurde der nächste gottverdammte Aufkleber auf meine Maschine gepappt. “Technisch in Ordnung” stand darauf, ach nee, das hätte ich auch so gewusst. Hatte ich nicht erst beim letzten Training meine komplette Beleuchtung und die Spiegel abkleben müssen? Das fand ich auch durchaus sinnvoll, also was sollte dann das hier? Zurück im Mopedoporter setzten meine Sozia und ich uns auf die Matratze und öffneten das erste Bier. Dieser Schock musste erstmal verdaut werden. Dabei gingen wir die Papiere durch. “Überholt wird grundsätzlich nur mit der ganzen Gruppe!” “Innerhalb der Gruppe wird nicht überholt!” Mh, machte wohl Sinn, aber wie sollte man so voran kommen? Und es würde ja wohl auch freie Turns geben? “”. . . Blinker links setzen und warten, bis die vorausfahrende Gruppe Platz macht. [. . . ] Überholt werden darf erst, wenn alle in der zu überholenden Gruppe [ebenfalls] den Blinker gesetzt haben!” Was? Das war ja schlimmer als im Straßenverkehr. Sollte das ein Sicherheitstraining werden oder ein Rennstreckentraining? “Jeder Teilnehmer muss seinen Hintermann beobachten und ist für ihn verantwortlich”. Das durfte doch nicht wahr sein. Jeder vernünftige Mensch, der auf die Rennstrecke ging, wusste doch, dass der Überholende die Verantwortung trug und man sich tunlichst nicht von dem Geschehen hinter sich ablenken lassen sollte. Und überhaupt, meine Spiegel waren nicht darauf ausgelegt, dass ich darin was sah. Wie sollte ich mich auf meine Linie konzentrieren wenn ich im Rückspiegel kontrollieren musste ob sich der Depp hinter mir ins Kiesbett legte oder nicht? Das war doch nicht meine Aufgabe! Sollten sich die Streckenposten um so was kümmern. Die Person vor mir musste ja dann auch für mich “verantwortlich” sein. 9.1. ERSTER TAG: VERZWEIFLUNG 51 Die Teilnehmerliste verriet wer das war: Tanja mit ihrer R6. Ich war kurz davor loszuschreien. Hatte ich tatsächlich fast 800 Euro plus Rennreifen, Sprinter und Sprit dafür ausgegeben um zwei Tage hinter einer kack R6 herzugurken? Und dann noch hinter einer Tanja? Ich hatte ja eigentlich keine Vorurteile gegenüber Frauen auf Motorrädern, ich fand das sogar Klasse, aber das hörte sich echt so an als würde mir jemand die ganze Zeit im Weg sein. Es gab Regeln für alles. Jede Kleinigkeit war aufgeführt, nur eine Sache wurde nirgends erwähnt: freies Fahren. Ich war in einem verdammten Kindergarten gelandet. Ich hatte zwei Monatsgehälter verschwendet um in einem dekadentem Hotel zu wohnen und tagsüber mit verweichlichten Möchtegern-Rennfahrern über den Sachsenring zu schleichen, die wahrscheinlich nur dort waren, um einmal im Leben was erlebt zu haben. Aber bitte ohne Risiko. Danach möchte man ja wieder unbeschadet zu seinem normalen Leben zurück kehren. Meine Sozia und ich versuchten dem Ganzen etwas positives abzugewinnen während wir weiter Bier tranken. Schließlich ging es auf eine Rennstrecke, den Organisatoren musste klar sein, dass die Leute dort Gas geben wollten. Und es war schließlich der ADAC, auch wenn sie Sicherheit groß schrieben, sie würden bemüht sein, dass jeder Teilnehmer auf seine Kosten kam, oder? Es fanden sich viele gute Argumente für die Regeln, dennoch wurde ich das Gefühl nicht los, dass ich am falschen Ort gelandet war. Ein Streifenhörnchenwagen fuhr langsam am Mopedoporter vorbei, während meine Sozia und ich mit Bier in der Hand auf der Ladefläche saßen. Ich seufzte entnervt und machte mich daran Führerschein und Fahrzeugpapiere zu suchen, denn so wie der Tag bis jetzt gelaufen war würden sie hundert prozentig zurück kommen. So war es dann auch, wenige paar Sekunden später kam der Wagen wieder, diesmal rückwärts, und parkte hinter dem Sprinter ein. Das Gesicht meiner Sozia war gezeichnet von Panik, so dass ich mich entschloss, das Reden zu übernehmen und aufstand. Mir war die Situation selbst nicht geheuer, aber wenn man ohnehin keine Wahl hat schadet es nur zu zögern. Verbrochen hatten wir nichts, zumindest kam mir nichts offensichtlich illegales in den Sinn, das wir getan hätten, beruhigend war diese Tatsache allerdings nur begrenzt, denn bei Bedarf war jeder Bulle in der Lage irgendeine widersinnige Regel aus dem Hut zu zaubern, gegen die man garantiert verstoßen hatte oder zu der man erst einmal beweisen musste, dass man nicht dagegen verstoßen hatte. Sie waren zu zweit, das Männchen stieg aus während das Weibchen im Wagen wartete. Das war mir ganz recht, denn er machte einen umgänglichen Eindruck während sie nur mit missfälliger Miene vom Beifahrersitz herüber blickte. War es möglicherweise nur ein Trick, die nach vielen Jahren im Dienst antrainierten Rollen von “guter Bulle, böser Bulle”? Wollten sie mich nur weich kochen? Um Chancengleichheit herzustellen, entschied ich mich 52 KAPITEL 9. SACHSENRING für meine Rolle: “Guter Junge.” Er fing an zu reden und es fiel mir schwer ihn zu verstehen und noch schwerer ihn ernst zu nehmen. Nicht, dass ich sächsisch nicht interessant fand, aber wie jeder ungewohnte Dialekt erinnerte mich auch sächsisch eher an eine Comedy-Sendung als an eine ernsthafte Unterhaltung. Meine Papiere wurden indes dem Drachen im Wagen gereicht, der diese noch missfälliger betrachtete als mich, während mir der Sachse mit der dicken Hornbrille auf den Zahn fühlte. Natürlich wollte er wissen wieso wir Sonntag Abends im Industriegebiet in einem Sprinter mit einer Matratze saßen. Ich erzählte ausschweifend vom Rennstreckentraining des ADAC, vom Hotel, das dieser gebucht hatte, schwärmte vom Sachsenring und fragte den Polizisten darüber aus. Er schien mir alles abzunehmen, ich hatte auch nichts unwahres erzählt, lediglich ein paar Details nicht erwähnt. Ich hatte wirklich ein Bett im Hotel, aber eben nur eins und wir waren zu zweit. Ich bekam meine Papiere wieder und sie zogen von dannen. Was blieb war ein mulmiges Gefühl, dass sie Nachts wieder kommen könnten. Der nächste Programmpunkt war das Abendessen mit der Gruppe. Super, eine Runde Kennelernspielchen mit anschließendem Gruppenkuscheln, genau das was ich jetzt brauchte. Meine Sozia durfte nicht mit, da sie für die komplette Veranstaltung nicht angemeldet war. Ich kam als letzter an den Tisch meiner Gruppe, begrüßte die Anwesenden kurz, konzentrierte mich auf das Essen und lauschte den Gesprächen meiner Gruppe. Hätte es zu dem Essen noch Spätzle gegeben wäre es wohl die perfekte Mahlzeit gewesen. Die Konversation konnte da nicht annähernd mithalten. Die meiste Zeit redete der Instruktor unserer Gruppe, eine hemmungslose Laberbacke. Er warf mit Anekdoten aus seiner “Rennfahrerkarriere” um sich, die leider keinerlei nützliche Informationen enthielten, und fragte nach und nach alle am Tisch über ihre Erfahrungen aus. Das Pärchen Mitte vierzig hatte immerhin schon einige Trainings mitgemacht, für den Rest war, wie ich es befürchtet hatte, die Rennstrecke Neuland. Tanja schätzte ich auf Anfang dreißig, ihre Geschichten ließen immerhin darauf schließen, dass sie nicht ganz langsam unterwegs war. Dann meldete sich der Organisator zu Wort. Er brauchte mindestens zwanzig Minuten um allen Sponsoren und Helfern zu danken, und ich fragte mich ob man es wohl als unangebracht empfinden würde, wenn ich anfinge ihn auszubuhen und mit Tellern und Besteck nach ihm zu werfen. Unter den ganzen Instruktoren befand sich auch ein Bulle, was auch nicht dazu beitrug, dass ich mich wohler fühlte. Ich spielte mit dem Gedanken an eine unauffällige Flucht, aber andererseits würde er sicher gleich mit wichtigen Information rausrücken, die ich nicht verpassen durfte. Gefühlte zwei Stunden später war er endlich fertig, die einzige sinnvolle Information war die Wegbeschreibung zum Sachsenring, das hätte mir aber auch mein Navi verraten können. Als nächstes Stand eine Kennenlernrunde auf dem Programm. Ich setzte meinen Fluchtplan in die Tat um. Nicht mehr in der Lage mich mit diesen Menschen, die so erfolgreich dabei waren meine Hoff- 9.2. ZWEITER TAG: HOFFNUNG 53 nungen auf zwei schöne Tage zu zerstören, außeinanderzusetzen, schlich ich mich Richtung Toilette aus dem Raum und verschwand zu meiner Sozia. 9.2 Zweiter Tag: Hoffnung Los ging es am zweiten Tag um 7:45 Uhr mit der Fahrt zum Sachsenring. Eine unmenschliche Zeit, aber was tut man nicht alles fürs Motorradfahren. Auf der Ninja zu sitzen sorgte von allein für etwas bessere Laune als am Tag zuvor, auch wenn ich immer noch befürchtete, dass dieses Training meine ursprünglichen Erwartungen und Hoffnungen nicht würde erfüllen können. Ich stellte mich in meiner Gruppe auf und unser Instruktor wies uns an, auf den Fahrer zwei Plätze vor uns zu schauen und die selbe Linie zu fahren. Der erste Turn wurde in sehr gemütlichem Tempo gefahren, mein Laptimer zeigte Zeiten um die drei Minuten pro Runde. In der Pause zum zweiten Turn ging unsere Gruppe zur Kreisbahn und ich hatte schon die Hoffnung ich könnte einmal unter professioneller Anleitung an meinem Hanging-Off feilen, aber es stand eine andere Übungsaufgabe an: Blickschulung. Auch wenn ich nicht dachte, dass ich auf diesem Gebiet nach jahrelangem, konsequentem Üben noch viel neues lernen konnte, gab ich mir Mühe und hoffte noch den einen oder anderen Tipp mitzunehmen. Außer einem kurzen Lob konnte ich aber nichts mitnehmen, die anderen hatten deutlich mehr Lernbedarf. Man sollte meinen für einen erfahrenen Motorradfahrer kann es nicht weiter schwierig sein eine einfache Anweisung wie den weiten Blick voraus auf einer Kreisbahn umzusetzen, aber da hatte ich wohl zu viel von meiner Gruppe erwartet. Selbst das Pärchen mit Streckenerfahrung schaffte es nicht, den Kopf weiter als rund zwanzig Grad zu drehen und ich fragte mich, wie sie bisher wohl überlebt hatten. Immerhin stellte sich unser Instruktor ganz gut an, seine Erklärungen waren richtig und hilfreich. Im zweiten und dritten Turn steigerten wir die Geschwindigkeit langsam, hatten aber immer noch Rundenzeiten von über 2’30 min, was es nicht nötig machte, auch nur einmal zu schalten. Ich konnte alles im fünften Gang fahren und der arme Zeiger des Drehzahlmessers schaffte es kaum in den grünen Bereich, der bei der Ninja bezeichnender Weise erst bei 6 000 U/min begann. Ich fing an die Anweisung, immer auf den Fahrer zwei Positionen vor mir zu schauen, zu ignorieren, denn dies hinderte mich daran, die Strecke kennen zu lernen. Ich versuchte statt dessen den Blick wie gewohnt auf den Kurvenausgang oder den nächsten Kurveneingang zu richten und meinen eigenen Bewegungsentwurf zu entwickeln. Diesen konnte ich denn immer noch anhand der Linie des Instruktors korrigieren, wobei ich aber explizit auf die Linie des Instruktors achtete, denn der Rest der Gruppe fuhr teilweise den letzten Scheiß zusammen. Das Konzentrieren auf die eigene Linie half mit tatsächlich, den doch recht uneinsichtigen Kurs auswendig zu lernen. 54 KAPITEL 9. SACHSENRING Für den vierten Turn konnte ich endlich in eine schnellere Gruppe wechseln. Mein neuer Instruktor, Gero, fuhr eine 2009er Repsol Fireblade und war mir von Anfang an sehr sympathisch. Er schwang keine großen Reden sondern gab kurze, klare Anweisungen, hörte immer viel auf die Stimmung in der Gruppe und zeigte dabei viel Einfühlungsvermögen. Der erste Turn in dieser Gruppe zauberte mir endlich dieses so wohl vertraute Lächeln ins Gesicht. Geschätzte 2’10 min pro Runde. Wir waren endlich bei einer Geschwindigkeit angekommen, die auch Schräglage erforderte, und nachdem die Ninja sogar einmal aufsetzte wurde es auch sinnvoll sich mit dem Körper ins Hanging-Off zu begeben. Ich war immer noch innerhalb meiner Wohlfühlgrenze, mehr Speed wäre zwar drin gewesen, aber dann hätte die Gefahr bestanden die Linie auch mal zu versauen, was mir so an diesem Tag bei nur einer einzigen Kurve passierte. Vor der Mittagspause kam dann die nächste gute Nachricht: Für den Nachmittag war ein freier Turn geplant! Dies war anscheinend kurzfristig von den Veranstaltern festgelegt worden, und war daher nirgends auf dem offiziellem Zeitplan zu finden. Als Zielzeit hatte ich die 1’50 min angepeilt. Dies war die Zeit, die ein Bekannter von mir fuhr, der schon auf dem Bock saß als ich noch in den Windeln lag. Dieser Bekannte fuhr auch eine 10er Ninja, eine 2004er, und hatte schon deutlich mehr Rennstreckenerfahrung als ich. Es war nicht meine oberste Priorität diese Zeit zu knacken, wichtiger war es heil nach Hause zu kommen, aber es war immerhin eine Messlatte, ein Punkt, an dem sich orientieren konnte. Im freien Turn könnte ich auf den Geraden schneller Fahren als in der Gruppe, da die Ninja natürlich eine der stärksten Maschinen war, also würde das meine Zeit schon ein wenig nach unten korrigieren. Allerdings bot der Sachsenring kaum Geraden, eigentlich nur die Start-Ziel-Gerade und ein kurzes Stück vor der Sachskurve, an allen anderen Stellen würden sich die Power der Ninja nicht in bessere Zeiten umwandeln lassen. Im Gegenteil, in den vielen, teils langsamen Kurven musste man mit der Ninja sehr vorsichtig sein um nicht mit einem Low- oder Highsider abzusteigen. Am spannendsten aber war für mich die Frage, wie viel von dem gelernten ich auch alleine Umsetzen konnte. Der Sachsenring bot mehrere “blinde” Kurven, Kurven also, die man nicht vollends einsah und die man daher genau kennen musste um eine schnelle Linie fahren zu können. Ein Fehler in einer dieser Kurven wirkte sich nicht nur auf diese eine Kurve aus, sonder beeinflusste im dümmsten Fall die komplette Kurvenkombination, wenn der Fahrer zum Korrigieren gezwungen war. Genügend Chancen also, um die Rundenzeit auch steigen zu lassen. Meine ersten 15 Minuten freies Fahren auf dem Sachsenring endeten, trotz gelber Flagge in den letzten Runden, mit immerhin drei 1’52.xx Zeiten und dem zufriedenen Gefühl, doch nicht in einem Kindergarten gelandet zu sein. Ich hätte gerne mehr Zeit gehabt zum alleine Fahren gehabt, 9.3. DRITTER TAG: EKSTASE 55 aber es stand ja noch ein weiterer Tag bevor, und es musste ja auch nicht wie bei dem anderen Fahrer aus unserer Gruppe enden, der im freien Turn seine Maschine wegschmiß. Passiert war zum Glück nicht viel, ein paar Kratzer an der R1 und am Lederkombi, und natürlich der gebrochene Stolz. In einer Pause berichtete mir meine Sozia von dem einzigen anderen Fahrer einer 2008er Ninja, der unter den freien Fahrern war und seine Rundenzeiten begutachtete: “Verdammt, da reiß ich mir den Arsch auf und wieder nur eine 1’52!”. Wie ich später erfuhr, war dieser Fahrer schon ein alter Hase auf dem Sachsenring. Wieso denn Arsch aufreißen? So eine Zeit geht doch auch ganz gemütlich, selbst wenn man den ersten Tag auf dem Sachsenring war. Wir fuhren an diesem Tag noch einen weiteren Turn mit Instruktor und dann verabschiedete wir die meisten, da alle der ursprünglichen Gruppe nur für den ersten Tag des Trainings angemeldet waren. Nach einem Abendessen, dass genauso gut und reichhaltig wie das am Abend davor war, tranken meine Sozia und ich noch zwei Bier und waren bereits vor 10 Uhr abends am Ende unserer Kräfte. Motorradfahren kann echt anstrengend sein. 9.3 Dritter Tag: Ekstase Der dritte Tag fing noch besser an als der zweite aufgehört hatte. In meiner Gruppe gab es außer mir nur noch einen Teilnehmer – dieser fuhr, wie der Instruktor, eine Repsol Fireblade – so dass wir zu dritt über die Strecke heizten und das Tempo nochmal deutlich anziehen konnten. Wir fuhren in etwa die Kurvengeschwindigkeiten, die ich in meinem freien Turn am Vortag gefahren war, und für mich lief es prima. Der andere Teilnehmer in der Gruppe schien aber zunehmend an seine Grenzen zu stoßen, musste häufiger korrigieren oder sich in Kurven ein Stück zurück fallen lassen. Gero erkannte das auch als wir nach dem Turn in kleiner Runde beisammen standen, und wir wollten die Geschwindigkeit ein wenig drosseln. Dann fragte er meine Sozia, Fee, ob sie nicht auch mal mit wolle. Ich hatte am Abend zuvor meinen ersten Instruktor gefragt und die gleiche Antwort wie am Hockenheimring erhalten: So was sei nicht möglich. Gero sprach mit dem Veranstalter und machte es möglich! Falls Gero es mir zutraute, könne ich sie mitnehmen. Für Gero bedeutete das, wenn ich es mir zutraute, könne ich sie mitnehmen, was wiederum bedeutete, dass ich Fee fragte ob sie es sich denn zutrauen würde. Das stand natürlich außer Frage, schließlich ging es hier um meine Sozia, die nicht etwa bei mir mitfuhr weil sie Zeit mit mir verbringen wollte, sondern weil sie das gemeinsame Fahren ebenso liebte wie ich, und das seit 8 Jahren und 30 000 km. Zum Glück hatten wir auch Fees Sachen, ohne genau zu Wissen wieso, in den Mopedoporter gepackt. 56 KAPITEL 9. SACHSENRING Fee war das ganze Training über eine super Begleitung und eine große Hilfe gewesen. Nach jedem Turn stand sie mit einer gedrehten Zigarette bereit, hatte mehr Überblick darüber wo ich meine Sachen gelassen hatte als ich und hörte sich meine Berichte an. Am ersten Tag hatte sie mich vor dem Verzweifeln bewahrt und am zweiten meine immer größer werdende Freude geteilt. Sie war mein Rückzugsort, ein Stück zu Hause, das ich dabei hatte. Jetzt hatte ich die Möglichkeit sie an diesem Event direkt teilhaben zu lassen, ihr die ganze Strecke zu zeigen anstatt sie nur den kleinen Teil sehen zu lassen, den sie als Zuschauer überblicken konnte. So sehr es mich auch freute endlich mit meiner Sozia mal über den Ring zu heizen, kam es wohl nicht annähernd an ihre Freude heran. Fee war komplett aus dem Häuschen, überdreht wie ein kleines Kind vor Weihnachten und mit diesem breiten Grinsen im Gesicht, wie es nur bei Mopedonauten, Verliebten oder Heroin-Junkies vorkam. Wir fuhren wieder in der selben Konstellation auf die Strecke, nur dass ich diesmal meine Sozia dabei hatte. Das Fahrwerk der Ninja war weder für zwei Menschen ausgelegt noch ideal eingestellt, so dass wir aufgrund der begrenzten Schräglagenfreiheit etwas langsamer unterwegs waren als im Turn davor. Langsamer, aber keinesfalls langsam. Meine Sozia war Profi und wir waren das schnelle Fahren gewohnt, so dass selbst Hanging-Off möglich war wenn sie hinten drauf saß. Wie sie es schaffte, sich mit nur zwei Fingern der kurvenäußeren Hand am Tank noch wohl zu fühlen, während wir mit schleifendem Ständer durch die Kurve heizten, war mir ein Rätsel. Aber sie konnte es. Der ebene Asphalt auf dem Sachsenring ließ es zu, die Maschine durch die kompletten Kurven Funken sprühen zu lassen, was innerhalb von einem Turn den halben Seitenständer und einen Teil der Katalysatorabdeckung abrubbelte. Trotz erhöhtem Schwierigkeitsgrad waren wir eine der schnellsten Gruppen im Feld und holten zwei der anderen drei Gruppen bis zum Ende des Turns ein. “Das waren die besten zwanzig Minuten meines Lebens!” erwiderte meine Sozia auf Geros Frage, wie es ihr gefallen habe. Ich war der einzige, der ihr glaubte. Der nächste freie Turn stand an und ich fuhr ihn alleine um mich nochmals an der 1’50 zu versuchen. 1’51 kam dabei heraus, und der Schock meinen Zimmernachbarn keine 100 m vor mir mit einem Highsider absteigen zu sehen. Passiert war zum Glück nicht viel, nur die Hängetitten seiner BMW hatten etwas abbekommen. Wieso baut man den Motor auch so, dass er zwangsläufig als erstes Bodenkontakt bekommt? Da mein verbliebener Gruppenkollege trotz Startverbots wegen zu lauter Auspuffanlage an dem freien Turn teilnahm, wurde er vollends gesperrt. Die Gruppe wurde daraufhin aufgelöst, was sehr bedauerlich war, denn nur Gero und ich in einer Gruppe hätten sicherlich tierisch abgehen können. Für den Nachmittag wurde daher für mich eine neue Gruppe gefunden, die schnellste im ganzen Feld, was bedeutete, dass ich Fee erstmal nicht mehr mitnehmen 9.3. DRITTER TAG: EKSTASE 57 konnte. Ich hatte erst Zweifel, ob ich als Neuling mit der schnellsten Gruppe mithalten könnte, sie bestand ausschließlich aus Rennmaschinen mit erfahrenen Fahrern. Dann lernte ich die Gruppe kennen und wurde gefragt welche Maschine ich fuhr. Ich zeigte auf meine ZX-10R. Erstaunen machte sich breit, als meine Maschine als die erkannt wurde, die Fahrer aus dieser Gruppe beim freien Turn überholt hatte. Meine Antwort bestand aus einem breiten Grinsen, ein schöneres Kompliment hatte ich noch nie bekommen. Der Instruktor war der Bulle, der am ersten Abend vorgestellt wurde, und auch wenn dieser den typischen, unsympathisch und strengen Gesichtsausdruck eines Bullen hatte wenn er nicht gerade über das Fahren sprach, konnte er doch auch anders. Sobald er über Turns, Kurvenlinien und Motorräder sprach, blühte er richtig auf, zeigte Menschlichkeit und war sogar sympathisch. Die Gruppe selbst war der reinste Wahnsinn. Ich konnte ihre Geschwindigkeit zwar halten, hatte aber ordentlich zu kämpfen. Obwohl wir auf den Geraden recht gemütlich fuhren hatten wir Zeiten von deutlich unter 2 Minuten. Endlich konnte ich auf hohem Niveau lernen, wozu auch die Besprechungen beitrugen, in denen wir die verschiedenen möglichen Linien diskutierten. Der vorletzte Turn am Nachmittag war wieder frei, ich ließ mindestens einen Instruktor stehen und knackte endlich die 1’50 min. Drei 1’49er Zeiten in Folge. Ich beendete den Turn frühzeitig. Es wäre noch mehr drin gewesen, in den Kurven war ich noch lange nicht am Limit der Reifen, aber mein Ziel war erreicht, jetzt bloß nicht die Maschine legen. Für den letzten Turn wechselte ich in eine langsamere Gruppe um nochmals Fee mitzunehmen. Ich dachte an eine etwas langsamere Gruppe, aber die Gruppe in der wir landeten war schon beinahe so langsam wie meine erste Gruppe. Wir fuhren direkt hinter dem Instruktor, der eine absolut schreckliche Linie fuhr. Ich unterhielt mich nach dem Turn mit meiner Sozia über seine Linie, und obwohl sie nur 35 Minuten auf dem Sachsenring mitgefahren war hatte sie schon deutlich mehr drauf als unser letzter Instruktor. Ich kann gar nicht sagen wie stolz ich auf sie war! Am Tag darauf ging es nach Hause, begleitet von einem Gefühl der tiefen Zufriedenheit, dass diesmal nichts passiert war. Aber wie heißt es so trefflich, man soll den Tag nicht vor dem Abend loben. Nach insgesamt fast 1 000 km Fahrt mit dem Mopedoporter und über 400 km auf dem Sachsenring, in der vorletzten Kurve, nur noch ein paar hundert Meter vom Ziel entfernt, tat es einen Schlag. Die Ninja war umgefallen. Der Spanngurt war gerissen, wieder ein Materialfehler und natürlich trotzdem meine Schuld. Ich hätte sie doppelt sichern müssen. Nochmal passiert mir das nicht. Passiert war zum Glück nichts weiter, sie war direkt auf die Lederkombis gefallen, die wir – unordentlich wie wir sind – einfach auf den Boden des Mopedoporters hatten liegen lassen. Nicht ein neuer Kratzer, nur der Bremshebel und der Endschalldämpfer waren leicht verbogen, was mein Händler 58 KAPITEL 9. SACHSENRING nach einem professionellem Blick mit zwei kräftigen Schlägen wieder zurecht rückte. Ein weiterer professioneller Blick auf meine Reifen offenbarte den nächsten Fehler: Zu hoher Verschleiß, da ich keine Reifenwärmer verwendet hatte. Ich dachte immer diese Sockenwärmer seien nur dazu da, damit man es von Anfang an richtig krachen lassen konnte, aber er erklärte mir, dass der Verschleiß mit kalten Rennreifen um ein 15faches höher liegt und jeder Aufwärm/Abkühl-Zyklus den Reifen schadete. Ich merkte wieder einmal, in welch guten Händen meine Liebste bei ihm war, und ließ sie dort damit er ihr wieder Straßenreifen aufziehen konnte. Nachdem dieses Training so gut gelaufen war, war es sicher, dass es ein weiteres geben würde. Die Strecke stand noch nicht fest, aber um diese auszusuchen hatten Fee und ich ja den ganzen Winter Zeit. Am liebsten wären wir direkt nach Spanien gefahren, um die kalte Jahreszeit auf den Strecken dort zu überstehen, weit weg von den Festlichkeiten wie Weihnachten und was sonst alles anstand. Leider machte mein Kontostand dies unmöglich, die Erinnerungen an dieses Training mussten uns reichen um den Winter zu überstehen. Im Nachhinein musste ich sagen, der ADAC hatte es richtig gemacht. Der Sachsenring hätte zu viele Opfer gefordert, wenn es hauptsächlich ungeregelte, freie Turns gegeben hätte und es war gut gewesen, die Strecke erstmal mit einem Instruktor kennen zu lernen. Für den Hockenheimring hingegen hätte ich mir dieses Konzept nicht so gut vorstellen können, dort ist die Linie bis auf einige Passagen zu offensichtlich. Der Hockenheimring ist schön, aber der Sachsenring hat mir deutlich besser gefallen, da sich die Detailarbeit aufgrund der vielen Kurvenkombinationen echt auszahlt. Allerdings, das muss man auch sagen, ist er nicht einmal so schnell wie meine Hausstrecke. Kapitel 10 Kalter Entzug Kalter Entzug, auch Totalentzug genannt, bezeichnet bekanntlich das abrupte Absetzen einer Droge ohne irgendwelche Ersatzstoffe. Wieso man allerdings von einem kalten Entzug spricht wird gemeinhin missverstanden. Der Begriff hat nämlich nichts mit dem amerikanischen “cold turkey” zu tun, auch wenn man dies vielleicht vermuten könnte. Schließlich hat ein Entzug nichts mit Geflügel und meist auch nichts mit Türken zu tun. Der eigentliche Ursprung des Begriffs liegt natürlich im Motorradfahrerjargon. Denn der Motorradfahrer, zumindest in unseren Breitengraden, wird Jahr für Jahr mit einer der unangenehmsten Erscheinungen von Mutter Natur konfrontiert: dem Winter, oder eben, der kalten Jahreszeit. Durch den Winter kann er gezwungen werden, wenn die Straßen erst einmal voller Eis und Schnee liegen, auf das Motorradfahren zu verzichten. Und selbst wenn er nicht abrupt dazu gezwungen wird, so muss er sich doch deutlich einschränken, da der kalte Asphalt für die ebenfalls kalten Reifen nur noch minimalen Grip bietet. Dem Motorradfahrer wird somit seine liebsten Droge entzogen, sofern er weder einen Ersatz finden noch in wärmere Gefilde fliehen kann. Dieses grauenvolle Schicksal, das der Motorradfahrer dann durchleben muss, ließ erstmals den Begriff des kalten Entzuges entstehen, erst später wurde er auch für andere Drogen verwendet. Die schrecklichen Schmerzen, die man weiterhin mit einem kalten Entzug verbindet, haben ihren Ursprung selbstverständlich auch bei den Motorradfahrern. Es sind keine direkten, körperlichen Entzugserscheinungen wie bei vielen anderen Drogen, sondern die Folgen wenn es der Motorradfahrer nicht wahrhaben will, dass der Winter ihm seiner Droge beraubt und er sich dennoch auf seine Maschine schwingt um durch die Kurven zu heizen. Dies endet dann meistens mit gebrochenen Knochen und eben Schmerzen. Dies ist aber nicht weiter tragisch, falls die Knochen bis zum Frühling wieder zusammengewachsen sind. 59 Kapitel 11 Feindliche Übernahme Es war Sonntag und meine Sozia und ich saßen an einem bekannten Motorradtreffpunkt nahe einem See. Die Saison neigte sich dem Ende zu, und es war unsere letzte Ausfahrt bevor ich für einige Wochen ins Ausland verschwinden würde. Das Wetter hatte den Meteorologen mal wieder ein Schnippchen geschlagen, die Sonne wärmte die Straßen, und so war der Treffpunkt von Motorrädern nur so überfüllt. Wir saßen etwas abseits der restlichen Meute und diskutierten, wie wir weiter fahren würden. Wir wollten unbedingt noch die “Rennstrecke” fahren, schließlich konnte es das letzte Mal für diese Saison sein, und in solchen Momenten verfiel man dann immer leicht in Panik und wollte noch so viel wie möglich mitnehmen um über die harte Zeit des kalten Entzugs zu kommen. Was wir liebevoll “Rennstrecke” nannten war eigentlich Teil einer öffentlichen Bundesstraße. Ein gut zehn Kilometer langer Abschnitt, der sich mit verschiedenen Kurvenradien einen Berg hinab schlängelte und am Ende meiner immer wieder erweiterten Hausstrecke lag. Den Namen bekam das Stück vor allem wegen dem Straßenbelag: Von der Breite für LKWs ausgelegt, griffig und ohne böse Überraschungen lud er gerade dazu ein, es mal wieder ordentlich krachen zu lassen. Große, rot-weiße Schilder an den Kurven und sogar einige rot-weiß lackierte Leitplanken trugen ihr Übriges zu diesem Flair bei. Damit endeten aber auch schon die Gemeinsamkeiten mit einer Rennstrecke, der Abschnitt war von Autos und unter der Woche auch von LKWs stark befahren, und die “Auslaufzonen” bestanden aus Leitplanken, Abgründen und Bäumen. Einige Holzkreuze am Straßenrand unterstrichen die Nicht-Eignung als Rennstrecke zusätzlich. Grund genug also, sich zusammen zu reißen und diese Strecke nur mit ordentlich Sicherheitsreserven zu fahren, das Fahren am Limit sollte man sich für eine echte Rennstrecke aufheben. Soweit die Theorie. Die Praxis sah da aber ganz aus. Echte Rennstrecken gab es viel zu wenig, sie waren zu weit weg, man konnte nicht einfach mal drauf wenn man Lust dazu hatte und es kostete ein Vermögen. Es war also praktisch Notwehr, Straßen wie dieses Stück Bundesstraße zur 60 61 inoffiziellen Rennstrecke zu erklären. Keiner tat das gern, aber was sollte man denn sonst machen? Wir schwangen uns auf die Ninja und fuhren los. Die Zeit war schon recht knapp und es war noch ein weites Stück zu fahren, weswegen ich der Ninja die Sporen gab und sie ordentlich laufen ließ. Es war eigentlich nicht meine Art auf Geraden oder zu sonstigen unsinnigen Anlässen schnell zu fahren, das kostet lediglich Reifen, Benzin und höchstwahrscheinlich irgendwann den Führerschein. Ich hob mir das normalerweise für schöne Kurven auf, aber an diesem Tag war einfach keine Zeit. Und auch wenn es nichts mit der eigentlichen Perfektion zu tun hatte, die ich sonst zu erreichen versuchte, machte es trotzdem riesigen Spaß die 188 PS der Ninja auf der gesamten Strecke zu Nutzen. Die Strecke, die wir zu fahren hatten, bestand zu einem großen Teil aus schnellen Kurven, die immer wieder von Geraden unterbrochen wurden. Ich ließ jedes Auslaufenlassen bleiben, ab jetzt gab es nur noch Gas oder Bremse. Laut kreischend bahnte sich die Ninja mit oft über 200 Sachen ihren Weg über die Landstraßen. Die Landschaft flog nur so dahin, die Blechkisten, die wir überholten, ebenso und die verkürzte Zeitspanne zwischen den Kurven sorgte dafür, dass der Adrenalinpegel nie abfiel. Ich weiß nicht wie lange wir gebraucht hatten, aber so schnell waren wir noch nie am Beginn der Rennstrecke angekommen. Ich nutzte die lange Gerade auf der Bergkuppe, ließ das Gas offen und zog mit 230 an allen Autos vorbei, die uns sonst gleich den Weg versperrt hätten. Ab jetzt ging es bergab, die erste langezogene Linkskurve konnte noch mit über 150 gefahren werden, danach musste ich für eine enge Rechtskurve weiter abbremsen. Hanging-Off hat auf öffentlichen Straßen nichts zu suchen, aber dies war ja eine Rennstrecke, also runter vom Sitz und mit trotzdem noch schleifender Maschine durch die Kurve. Ab dem Scheitelpunkt öffnete ich das vorher schon angelegte Gas um die kurze Gerade optimal zu nutzen, nahm die Rechte Hand vom Lenker grüßte zwei andere Irre, die mir auf ihren Rennmaschinen entgegen kamen. Dann musste die nächste Linkskurve angebremst werden, es folgte eine schöne Gerade die erst steil bergab und dann gleich wieder bergauf verlief. Für einen paar Augenblicke wurden meine Sozia und ich gegen den Boden gepresst, dann schoss die Ninja auch schon wieder mit 200 Sachen aufwärts auf eine schöne rechts-links Kombination zu. Die rechte Spur war an dieser Stelle über vier Meter breit und ließ sich wunderbar ausnutzen um die Geschwindigkeit nicht unter 150 fallen zu lassen. Es folgte eine kleine Pause in Form einer Ortschaft. Das Dorf hatte zwar auch ein paar schöne Kurven, die mit 120 sicherlich sehr viel Spaß gemacht hätten, aber ein bisschen Anstand hatte ich dann doch noch, also fuhr ich schön gemütlich und freute mich auf das nächste Stück. Ich war gezwungen das Gas schon vor dem Passieren des Ortsausgangs zu öffnen, da ich sonst nicht in der Lage gewesen wäre, die anschließenden Kurven am Limit zu fahren. Die Bebauung und Parkplätze hatten aber geendet, so dass 62 KAPITEL 11. FEINDLICHE ÜBERNAHME die Umgebung gut einsehbar war. Sie wurde von mehreren Motorradfahrern bevölkert, die deutlich abseits des Straßenrandes eine Pause einlegten und sicherlich ein bisschen Action sehen wollten. Direkt neben ihnen war eines dieser Schilder, von denen im Laufe der Saison einige in dieser Gegend aufgestellt wurden: “Raser verlieren” war darauf zu lesen. Die Bedeutung dieses Schildes war offensichtlich: Der zweite Abschnitt war noch besser als der erste! Er begann mit einer wunderschönen, ebenen, rechts-links-rechts Kombination durch ein gut einsehbares Waldstück. Die Kurven hatten alle ungefähr den gleichen Radius und wären für rund 150 gut gewesen, ich musste aber eine etwas umständlichere Linie fahren um Blechkisten auf beiden Spuren auszuweichen. Gleich darauf folgte eine lange, etwas weitere Linkskurve, die aber nicht komplett einsehbar war und seitlich eine rot-weiße Leitplanke hatte, die irgendwie an zu hoch angebrachte Curbs erinnerte. In dieser kamen mir die nächsten Mopedonauten entgegen, ihren Schräglagen nach zu schließen hatten sie genauso viel Spaß wie ich. Es folgten einige recht weite Kurven und eine Bergkuppe, dann ging es bergab in ein schönes, aber leider schlecht einsehbares Waldstück, das von einigen Blechkisten verstopft war. Die Gegenfahrbahn war von Rennmaschinen blockiert, die von ihren Fahrern den Berg hoch geprügelt wurde. Das war ja heute wirklich die reinste Rennstrecke. Ich hing einen Moment hinter den Autos fest, kam dann vorbei und konnte wieder Gas geben. Ich raste durch eine langezogene Linkskurve auf ein Cabrio zu, dieses war gerade auf der Höhe eines riesen Schildes, welches anzeigte, dass die nächste Rechtskurve sehr gefährlich sei und nur mit maximal 40 durchfahren werden durfte. Aus der sehr schlecht einsehbaren Kurve kamen vier oder fünf Fahrer mit teils schleifenden Knien den Berg hinauf, Fahrer und Beifahrer des Cabrios strecken Arme und Mittelfinger in die Höhe. Ich fasste dies als Einladung auf, grüßte die mir entgegen kommenden Wahnsinnigen, zog mit 20 cm Abstand an dem Cabrio vorbei und warf die Ninja in die “gefährliche” Rechtskurve. Die nächsten Kurven wurden schon wieder von Bürgerkäfigen verstopft, was es mir leider unmöglich machte in einer Rechtskurve eine ordentliche Show hinzulegen. Neben dieser Kurve befand sich ein kleiner Parkplatz mit Bänken, auf denen sich einige Motorradfahrer zum Zuschauen platziert hatten. Eine Kurve später war die Rennstrecke leider schon zu Ende, aber das bedeutete natürlich nicht, dass wir jetzt aufhören mussten zu fahren. Ich drehte um, die Ninja kreischte und der Drehzahlmesser schnellte in die Höhe als wir wieder Fahrt aufnahmen. Freundlich und gut gelaunt, wie ich in solchen Situationen nun mal bin, grüßte ich auch die Beiden im Cabrio, die mir in dem Moment entgegen kamen. Die Kurve neben dem Parkplatz war diesmal frei, und ich hoffe ich konnte eine sehenswerte Vorstellung bieten. Wahrscheinlich kam es sehr selten – wenn überhaupt – vor, dass jemand diese Kurve mit Sozius schneller nahm. Auf dem Weg nach oben kamen uns die ganzen Rennmaschinen wieder 63 entgegen. Heute waren wir eindeutig in der Überzahl, wir hatten die Welt auf den Kopf gestellt. Wir waren nicht auf der Straße der Autos unterwegs, die Autos hatten sich auf unsere Straße verirrt. Dies war keine Bundesstraße mehr, die Straßenverkehrsordnung hatte ihre Gültigkeit verloren, die Mehrheit hatte entschieden. Hier hatten wir uns ein neues Zuhause erschaffen, eine Stück Mopedoversums. Es gab eine neue Rennstrecke in Deutschland, genau hier verlief sie, und Autos die von A nach B wollten hatten hier nichts verloren. Ihre Fahrer konnten einem schon fast Leid tun, denn auch sie merkten es. Sichtlich überfordert zuckelten sie den Berg rauf und runter, versuchten möglichst nahe am Straßengraben zu fahren, was nur dazu führte, dass auf der Spur neben ihnen die Motorräder gleichzeitig überholten und ihnen entgegen kamen. Von wegen “Raser verlieren”. Dies war kein Wettkampf, aber wenn es einer gewesen wäre, dann hätte das Ergebnis “Raser gewinnen” lauten müssen. Wir drehten oben nochmals um und fuhren die Rennstrecke ein zweites mal nach unten, dann machten wir uns auf den Weg nach Hause. Die Ortschaft am unteren Ende der Strecke verkündete auf großen Plakaten: “Schönach ist offen!”. Wie recht sie hatten. Verkehrsoffene Sonntage waren mir viel lieber als verkaufsoffene. Kapitel 12 Verlieren oder nicht verlieren? Die Schilder mit der Aufschrift “Raser verlieren”, die überall in der Umgebung meiner Hausstrecke aufgestellt waren, zeigten eine Straße, auf der ein Helm und eine Motorradjacke lagen, die beide mit Kreidestrichen umkreist waren. Wieso der Helm mitten auf der Straße lag, aber weder ein Kopf darin steckte noch Blut daran klebte, erklärte das Bild leider nicht. Aber seit es in Mode gekommen war, lieber einen Amateur vor Photoshop zu setzen als einen vernünftigen Fotografen anzustellen, war ich daran gewöhnt, dass man den gesunden Menschenverstand ausschalten sollte, sobald man Plakate betrachtete. Diese Schilder regten tatsächlich zum Nachdenken an, jedoch sicherlich nicht in dem Sinne, wie es beabsichtigt war. Zum einen regte der Platz vor und nach dem kurzen Satz zwangsläufig meine Fantasie an, indem ich mir überlegte wie man ihn auf amüsante Art und Weise erweitern könnte. Raser verlieren hier Gummi. Ob es wohl möglich war bei der Polizei oder dem Verkehrsamt eine Karte zu bekommen, auf der all diese Schildern verzeichnet waren? Das wäre super, nicht nur um sie alle vollzuschmieren, sonder auch um neue Strecken zu finden. Super Straßen für Raser, verlieren Sie sich nie wieder auf langweiligen Geraden! Zum anderen stellten sich einige Fragen welche Aussage mit dem Schild überhaupt getroffen werden sollte. Als erstes kam die Frage auf, ob ich damit überhaupt angesprochen war. Ich würde mich selber nicht als “Raser” bezeichnen, denn unter einem Raser verstehe ich eher jemanden, der versucht ohne Sinn und Verstand so schnell es geht voran zu kommen, dabei vielleicht noch andere Verkehrsteilnehmer belästigt und gefährdet. Das traf auf mich im Normalfall nicht zu, ich fuhr um des Fahrens willen und nicht weil ich es eilig hatte. Dass ich mich dabei nicht selten außerhalb der Straßenver64 65 kehrsordnung bewegte, hatte seinen Grund in den Kurvenradien, die eben ein gewisse Geschwindigkeit erforderten, falls man Wert auf eine passable Schräglage legte. Andere Verkehrsteilnehmer belästigte ich soweit möglich nicht, wobei diese das unter Umständen anders interpretieren würden. Es ist nur ein Raser, verlieren Sie nicht die Nerven! Wie dem auch sei, die Wortwahl “Raser” war vielleicht nicht hundertprozentig zutreffend, aber der unwissende Autor hatte wohl doch Fahrer wie mich im Sinn, die erste Hälfte des Satzes schien also klar zu sein. Die zweite Hälfte des Satzes war weniger eindeutig. “Raser verlieren”. Es gab ein Subjekt und ein Prädikat, aber wo war das Objekt? Was verlor der Raser angeblich? Raser verlieren keine Zeit. Dieser Satz hätte wenigstens eine Aussage. Das Wort “verlieren” ohne eine genauere Umschreibung war eigentlich nur bei Spielen oder Wettkämpfen geläufig. Aber befanden sich Raser in einem Wettkampf und, falls ja, gegen wen und um was ging es? Raser verlieren nicht! Gegen die Autofahrer? Ich fand es nicht gerade wünschenswert, da einen Wettkampf hinein zu interpretieren, dass Verhältnis war ohnehin schon angespannt genug. Ein Wettkampf unter den Rasern selbst konnte es aber auch nicht sein, schließlich wäre dann nicht nur der Verlierer ein Raser sondern auch der Gewinner. Oder war es ein Wettkampf gegen die Polizei? Willste nicht den Raser verlieren, musste ihn schnell einkassieren. Zumal, um was sollte es gehen? Dem Bild nach zu urteilen kam eigentlich nur ein Wettkampf in Frage: Wer am längsten überlebte, gewann. Wenn man daraus einen Wettkampf machen würde, hätten wir Krieg auf den Straßen, das wäre das Carmageddon. Keiner konnte das wollen. Außer vielleicht einer kleinen, militanten Minderheit der Anwohner, denen die Mittel und Wege egal waren, Hauptsache sie hatten endlich wieder etwas Ruhe. Es ging anscheinend nicht um einen Wettkampf, die Aussage war vielleicht bewusst unbestimmt gehalten, erdacht von einem großen Philosophen, der es leider nie weiter gebracht hatte als zum Werbetexter. Aus der Sicht der Raser, verlieren Tätigkeiten abseits der Straße da nicht an Bedeutung? Ungewissheit schuf Angst, und Angst konnte dazu führen, dass man sich vorsichtiger verhielt. Man könnte beim Aufstellen der Schilder die Hoffnung gehabt haben, dass der Raser vorsichtiger und damit langsamer fahren würden. Dieser Trick war ein Klassiker, er hatte sogar schon einen Bart, man fand ihn an fast jedem Ortseingang: “Stationäre Radarkontrollen”. Funktionierte vielleicht beim ersten Mal, danach aber auch nie wieder, reine Geldverschwendung. Auf der einen Seite wurde gejammert, dass es zu viele Verkehrsschilder gab, auf der anderen Seite wurden noch mehr – und sogar riesengroße – Schilder aufgestellt, die keinerlei nützliche Information enthiel- 66 KAPITEL 12. VERLIEREN ODER NICHT VERLIEREN? ten. Vielleicht war es auch nicht als philosophische Meisterleistung gedacht, sondern nur das Ergebnis eines immer näher rückenden Abgabetermins. “Findest du nicht in den nächsten fünf Minuten einen Spruch über Raser, verlieren wir den Auftrag!” Was auch immer die Idee hinter den zwei Worten gewesen sein mochte, letzten Endes lief es darauf hinaus, das Väterchen Staat mal wieder glaubte zu wissen, wie ich mein Leben zu leben hatte. Er versuchte das ständig, dabei kannte er mich nicht. Wie konnte es sich irgendjemand, der mich nicht kannte, anmaßen mehr über die Richtigkeit oder Falschheit meines Lebensstils zu wissen als ich? Nur weil es für die meisten Menschen in diesem Land zutraf? Es schien unglaublich schwierig zu sein Menschen als Individuen zu betrachten, viel einfacher war es sie alle über einen Kamm zu scheren. Man bildete einen Durchschnitt über alle, nannte ihn Otto Normalverbraucher1 und jeder, der davon abwich, mit dem musste etwas nicht stimmen. Dabei gab es diesen Otto Normalverbraucher nicht, niemand war so, aber anstatt dies als gegebene Tatsache zu akzeptieren – zu feiern – schienen sich die Menschen gegenseitig einzureden, sie müssten sich immer mehr auf diese Norm zubewegen. Dort, wo die Überzeugungsarbeit versagte, da wurden Gesetze geschaffen, und zwar in einem demokratischen Prozess. Demokratie, die Macht des Volkes. Aber wer war dieses Volk? War dieses Volk ein Haufen von 82 Millionen deutschen Micheln, die alles das gleiche wollten, nämlich das, was die Mehrheit wollte? Und wer etwas anderes wollte war im Unrecht? Auch Rauchen war inzwischen out. Wir hatten so lange mit Steuergeldern Werbekampagnen finanziert und die Tabaksteuern erhöht, so lange in die Richtung gesteuer t, die wir für richtig hielten, bis es eine deutliche Mehrheit gab, die nicht rauchte. Und weil die Raucher in der Minderheit waren, war es okay ihnen das Rauchen in Lokalen und an allen anderen Orten wo es uns störte zu verbieten. Es reichte nicht wenn es mehr Nichtraucher-Lokale gab als Lokale, in denen geraucht werden durfte, im Namen der Mehrheit schufen wir in jedem Lokal ein Platz nur für Nichtraucher, oder eben Raucher, die nicht rauchten. Über 20 Millionen Raucher hatten Pech, sie mussten zurück stecken, selbst wenn kein einziger Nichtraucher anwesend war. Ginge es immer nur darum, andere zu schützen, so hätten solche Vorhaben durchaus eine gewisse Berechtigung. Natürlich hatten die Blechkistenfahrer ein Recht, nicht reihenweise von Rasern umgebracht zu werden, ebenso mussten Nichtraucher einen Platz mit unverpesteter Luft haben. Jedoch machte man dort nicht halt, man schuf Gesetze, deren Wirkungslosigkeit von Anfang an klar war, nur um “ein Zeichen zu setzen”. Nicht selten ging es auch nur darum, die Menschen vor sich selbst zu schützen. Wunderschöne Motorradstrecken wurden gesperrt, weil zu viele Fahrer darauf verunglück1 Im englischen nannte man ihn noch passender: Joe Average 67 ten. Im Auto bestand Anschnallpflicht, auf dem Motorrad Helmpflicht, ich durfte selbst zu Fuß nicht bei Rot über die Straße. Warum? Ich wäre nie ohne Helm Motorrad gefahren, aber konnte man mir nicht zutrauen selbst eine entsprechende Entscheidung zu treffen und es notfalls akzeptieren wenn ich keinen Helm tragen wollte? War ich etwa nicht alt genug, musste ich mich Zeit meines Lebens wie ein kleines Kind behandeln lassen, das nicht in der Lage war die Konsequenzen seines Handelns abzuschätzen? Zum Teufel noch mal, war es nicht einzig und allein meine Entscheidung ob ich mir meinen Schädel einrannte oder nicht? Wir lebten in einem freien Land. Es stand einem frei alles zu tun, was man wollte, solange es die Mehrheit für richtig hielt. Bei allem anderen lief man Gefahr gegen irgendwelche Gesetze zu verstoßen. Willkommen in der totalitären Demokratie, die Antithese zur Toleranz. Wir wurden in dieses System hinein geboren, von klein auf wurde uns erzählt, dass dies die beste Regierungsform überhaupt sei und die anderen seien die Bösen. Jeder Außenstehende hätte solch eine Einstellung für Gruppennarzissmus gehalten, aber nicht wir, wir wagten es nicht auch nur kurz inne zu halten und darüber nachzudenken. Stattdessen kämpften unsere Soldaten in anderen Ländern um auch diese zu befreien. Ob sie befreit werden wollten mussten wir nicht erst fragen, es war selbstverständlich, dass sie so sein wollten wie wir, die Mehrheit dachte schließlich so, und wie könnte irgendwer anders sein wollen als die Mehrheit. Ein moderner Kreuzzug unter dem Deckmantel der Menschenrechte. Diese eine Mehrheit, die Raucher gängelte, alle dazu zwang sich anzuschnallen und Kriege führte, fand auch das Rasen auf öffentlichen Straßen schlimm. Die Gesetzte gab es schon längst aber eine vermaledeite Minderheit ignorierte sie einfach! Um ihre Einhaltung zu unterstützen probierte man es mal mit Schildern, eher eine Alibi-Handlung, jedoch besser als nichts, man konnte sich zumindest nicht vorwerfen lassen, man hätte nichts getan um den Abtrünnigen zu helfen. Und um mich von etwas zu überzeugen, von dem ich nicht überzeugt werden wollte, wurden natürlich auch noch meine Steuergelder verschwendet. Die Schilder sollten suggerieren, dass sich das schnelle Fahren nicht lohnte weil es Gefahren barg. Baaam! Denkfehler! Nichts kapiert! Hier wurden wieder die Maßstäbe der Mehrheit angelegt, aber nicht meine. Nur weil Otto Normalverbraucher dachte, es sei die oberste Priorität sicher und unverletzt ins Altenheim zu kommen, mussten noch lange nicht alle so denken. Ich legte es nicht darauf an so schnell wie möglich ins Grab zu kommen, aber wenn ich mich entscheiden musste zwischen einem frühem Tod und der Parodie eines Lebens, dessen oberste Priorität nicht das Leben, das Erleben, das Erfahren war, sondern in dem es nur um das Nicht-Sterben ging, dann war meine Entscheidung klar: Lieber ein paar Jahrzehnte gelebt als ein Jahrhundert dahinvegetiert. Auch gesamtgesellschaftlich schien diese Haltung, die die Menschen um 68 KAPITEL 12. VERLIEREN ODER NICHT VERLIEREN? jeden Preis am Leben halten wollte, wenig Sinn zu ergeben. Es war absehbar, wie dies zu einem immer größeren Berg an Problemen führen würde: Die Zahl der Rentner stieg stetig und damit auch die Zahl derer, die auf Hilfe angewiesen waren, gleichzeitig hatten die Rentner immer weniger finanzielle Möglichkeiten, denn die Rente sank stetig2 . Der Mensch war genetisch nicht auf solch eine Lebensspanne ausgelegt, selbst wenn man den Körper mit allerlei medizinischen Wundern am Leben halten konnte, auf den Alterungsprozess des Hirns konnte man nur wenig Einfluss nehmen. Für viele würde der Lebensabend nicht angenehm werden, mehr oder weniger alleine, alle um einen herum verrecken nach und nach, und, wenn man richtig Pech hatte, musste man hilflos zusehen wie man langsam verblödete oder zerfiel, wie alles woran man mal sein Selbstvertrauen und Selbstwertgefühl geknüpft hatte langsam abhanden kam. Ohne Raser verlieren wir die Organspender! Der durchschnittliche Raser an sich war gesamtgesellschaftlich wertvoll, er arbeitete fleißig, zahlte Steuern – vor allem Öko- und Benzinsteuer – und gab unter Umständen sozialverträglich früh den Löffel ab. Eigentlich sollte dieses Verhalten subventioniert werden, die Rentenkasse müsste meine Reifen zahlen. Raser verlieren irgendwann das Leben. . . Das traf auf alle Menschen zu, auf Raser wie auf Gutmenschen. Aber was vor dem Tod kam und wie der Tod kam, dass sollte jeder für sich selber entscheiden dürfen, jeder sollte Verantwortung für sein Leben übernehmen anstatt zuzulassen, dass andere diese Verantwortung an sich rissen. Ich hatte mich dafür entschieden, “Raser” zu werden. Denn Raser verlieren nicht. Raser gewinnen. Keinen Wettkampf, kein Spiel, sondern etwas viel, viel wertvolleres: Freude am Leben. Raser verlieren ohne das Fahren ihre Therapie. Eine meine größten Ängste war, dass eine Amok laufende Politik es irgendwann schaffen würde mir auch das noch zu nehmen. In ihrem nicht zu bändigendem Kontrollwahn würden sie es eines Tages unmöglich machen, zu rasen. Durch lückenlose Überwachung, oder technische Spielereien wie ein Motormanagement, das es nicht zuließ die Höchstgeschwindigkeit zu überschreiten, würden sie versuchen mir das letzte Bisschen Freude in meinem Leben zu nehmen. Und dann würde ich rennen, wohin wusste ich nicht, Hauptsache weg von ihrer Kontrolle. Solange es noch einen Ort auf diesem Planeten gab, den ich in ein Portal zum Mopedoversum verwandeln konnte, solange hatte ich nicht verloren. 2 Nicht die absolute Zahl, aber die Kaufkraft, denn die Teuerungsrate lag immer über etwaigen Rentenerhöhungen. Kapitel 13 Medizinisches “Erlebnisse sind Bewusstseinsvorgänge, in denen der Mensch tief innerlich und ganzheitlich von der Sinn- und Wertfülle eines Gegenstandes ergriffen wird.” (Kurt Hahn1 ) Erfahrungsgemäß hilft das Motorradfahren bei allerlei körperlichen und psychischen Leiden. Schnupfen, Halsschmerzen, Spätfolgen von Knochenbrüchen, Müdigkeit, Niedergeschlagenheit und sogar Rückenschmerzen (!) konnten schon durch eine Ausfahrt über die Hausstrecke geheilt werden. Meine Sozia und ich haben oft darüber gescherzt, dass das Fahren unsere Therapie ist und tatsächlich ergeben sich erstaunliche Parallelen zu Ansätzen in der heutigen Erlebnistherapie beziehungsweise Erlebnispädagogik. Darüber hinaus entdeckten wir auf unseren Reisen ins Mopedoversum auch noch einige wenig bekannte, doch umso faszinierendere medizinische Phänomene unter Motorradfahrern, die es teilweise sogar erzwingen, dass ein Fahrer schnell fahren muss um am Leben zu bleiben. Zwei dieser seltenen Erscheinungen, der Hämoglobinschieber und der Kurvenatmer, werden im Anschluss vorgestellt. 13.1 Mopedopie Mopedopie ist ein Fachbegriff aus der Medizin und bezeichnet eine Therapie unter Zuhilfenahme eines oder mehrerer Mopedos. Der behandelnde Therapeut, der nicht selten sich selbst behandelt, wird selbstverständlich Mopedopeut genannt. Während die meisten Therapien darauf abzielen ein bestimmtes Leiden oder eine eng umgrenzte Familie von Problemen zu lindern, befasst sich 1 Diese Quellenangebe könnte falsch sein. Ich habe das Zitat aus Wikipedia, dort wurde leider kein Autor genannt, an anderen Stellen wurde jedoch Kurt Hahn genannt. 69 70 KAPITEL 13. MEDIZINISCHES die Mopedopie mit dem Gesamtwohlsein des Patienten. Dazu verbindet sie Ansätze und Ideen aus östlicher und westlicher Lehre, aus modernen psychologischen Erkenntnissen und aus Methoden, die schon seit Jahrtausenden in der Tierwelt existieren. Mopedopie wird selten bewusst betrieben oder bei diesem Namen genannt, es ist meist ein Prozess im Unterbewusstsein, der Mopedonaut spürt, dass es wieder eine Dosis Mopedopie braucht, ebenso wie jemand mit gebrochenem Herzen spürt, dass er dringend eine Tafel Schokolade2 braucht. Das einleitende Zitat zu Beginn des Kapitels stammt aus der Erlebnispädagogik und soll den Begriff “Erlebnis” definieren. Nach dieser Definition ist Motorradfahren das ultimative Erlebnis, denn was außer dem Herbrennen hinterlässt dieses tiefe, unzweifelhafte Gefühl seine Zeit sinnvoll verbracht zu haben, wie kann man danach vor einem Motorrad stehen und nicht innerlich von dessen Wertfülle überzeugt und ergriffen sein. Nach Kurt Hahn3 ist vor allem die Qualität des Erlebnisses entscheidend damit eine heilsame Wirkung entfaltet wird, mit anderen Worten eine Mopedopie kann nur Wirkung zeigen, wenn der Fahrer eine gute Linie mit ordentlich Schräglage fährt. Weitere Merkmale einer guten Erlebnispädagogik sind die “Ernsthaftigkeit und Unmittelbarkeit der Situation, Echtzeit, Direktheit und Authentizität”. Merkmale, auf die wir immer mehr verzichten in einer Welt, die in Watte gepackt ist und zu der wir oft nur noch über Elektronik Kontakt haben. In der Mopedopie jedoch sind alle Elemente zu finden: Die Ernsthaftigkeit des Motorradfahrens kann wohl kaum in Frage gestellt werden, denn Unaufmerksamkeiten und Fehler können fatale Folgen haben (man vergleiche hierzu mal andere Erlebnistherapieformen, zum Beispiel mit Delphinen. Delphine sind echt voll knuffig, aber ernst kann ich die nicht nehmen). Die Unmittelbarkeit wird uns schlagartig bewusst wenn wir einen Lenkimpuls einsetzen, die Echtzeit wenn wir auf eine Gefahrensituation reagieren und sie bewältigen, ehe der Schreck überhaupt Zeit hatte uns in die Glieder zu fahren. Was kann direkter sein als in einer schnellen Kurve jede noch so kleine Unebenheit des Asphalts zu spüren, was authentischer als bei voller Fahrt den Kopf im Wind zu haben? Als letzten Punkt verlangt die Erlebnispädagogik noch die Erfahrung des Lernens, auch dieser Aspekt ist in der Mopedopie zu Hause: Das Fahren steckt voller kleiner Details, die perfektioniert werden können aber nicht müssen, so dass der Fahrer ständig in der Lage ist auf hohem Niveau zu lernen ohne sich zu überfordern. Er bekommt außerdem eine direkte Rück2 Oder Vanillepudding mit Sahne, Schokosoße und Schokostreuseln ;) Ich habe, was die Erlebnispädagogik angeht, nichts ordentlich recherchiert sondern verlasse mich mehr oder weniger blind auf Wikipedia. Mehr Aufwand erschien mir für ein Kapitel, das eigentlich gar nichts ernst gemeint ist, nicht angemessen. Im Bezug auf das Fahren habe ich selbstverständlich ausführlichst recherchiert! 3 13.1. MOPEDOPIE 71 meldung wenn er das gelernte anwendet. Des weiteren ist Mopedopie natürlich – obwohl es auf den ersten Blick von außen nicht so aussieht – auch ein Sport, und bringt damit alles positive mit, das man auch aus anderen Sportarten kennt. Wer nicht glaubt, dass Motorradfahren auch anstrengend sein kein, der sollte mal mit über 120 einen engen Slalom fahren, in aufrechter Sitzhaltung ein Nakedbike mit 250 über die Autobahn jagen oder sich länger ins Hanging-Off begeben ohne den Lenker zu belasten. Dieser Sport regt den Stoffwechsel an stärkt das Immunsystem. Der Fahrer atmet frische Luft (deswegen muss man Autos immer überholen!), die Konzentrations- und Leistungsfähigkeit wird gesteigert und kann auch sofort in bessere Fahrleistungen umgesetzt werden. Endorphine werden ausgeschüttet und zum seelischen Wohlbefinden gesellt sich das körperlich. Mopedopie ist auch ein Gehirntraining. Denn anstatt nur für sich selbst zu denken, was ja schon schwer genug sein kann, muss man noch für Dutzende weitere Verkehrsteilnehmer mitdenken. Die komplette Umgebung muss ständig mit hoher Konzentration abgesucht werden, um Nachlässigkeiten wie Nicht-Blinken und generelle Unachtsamkeit auszugleichen. Diese geistige und körperliche Betätigung verlangsamt den Alterungsprozess, das Fahren hält somit doppelt jung, denn zusätzlich wirkt noch die physikalische Verjüngung der Relativitätstheorie4 . Doch damit nicht genug, meine Damen und Herren, die Mopedopie vollbringt noch mehr Wunder! Sie ist nämlich auch eine ausgezeichnete Physiotherapie. Die ergonomische Sitzhaltung, gestützt durch den Lenker, fördert die koordinierte Muskelaktivität und kann Fehlhaltungen vorbeugen. Viel wichtiger jedoch ist die beruhigende, entspannende und heilsame Wirkung der Vibrationen. Katzen schnurren nicht nur bei Wohlbefinden, sondern auch wenn sie Schmerzen haben. Man glaubt, dies hat seinen Grund in der heilsamen Wirkung auf Knochenbrüche, denn es ist tatsächlich erwiesen, dass eine Schwingung von 20 – 50 Herz das Knochenwachstum beschleunigt. Diese Schwingung findet man freilich auch auf dem Motorrad! An einem Motorrad findet man je nach Modell eine Vielzahl von Schwingungen, die teilweise ausgeglichen werden oder mit anderen Schwingungen Resonanzen bilden, eine allgemeingültige Aussage, welche Frequenzen tatsächlich existieren, ist daher schwierig. In erster Näherung ist dies jedoch noch recht anschaulich. Geht man davon aus, dass jedes Mal, wenn das Kraftstoff-Luft-Gemisch entzündet wird, ein Impuls entsteht, so erscheint es offensichtlich, dass der Kraftstoff 20 – 50 mal pro Sekunde gezündet werden müsste, also 1200 – 3000 mal pro Minute. Ein Einzylinder-Zweitaktmotorrad – dieses zündet pro Umdrehung genau ein Mal – entfaltet seine heilsame Wirkung demnach bei 1200 – 3000 U/min. Viertakter zünden nur bei jeder 4 Dazu an anderer Stelle mehr 72 KAPITEL 13. MEDIZINISCHES zweiten Umdrehung, ein Viertakt-Einzylinder wirkt damit zwischen 2400 – 6000 U/min heilsam. Bei Mehrzylindermaschinen muss diese Zahl noch durch die Anzahl der Zylinder geteilt werden, die X-Eleven und die Ninja heilen aufgrund ihrer vier Zylinder zwischen 600 – 1500 U/min, also nur bis wenig über die Leerlaufdrehzahl. Man sieht, dass Mopedopie auch mit gebrochenen Knochen sinnvoll sein kann, jedoch muss man beachten, dass man die Drehzahl niedrig genug hält. Des weiteren sollte der Mopedopeut natürlich in der Lage sein die Maschine zu kontrollieren, es nützt wenig wenn die Knochenbrüche zwar schneller heilen, aber ständig neue entstehen. Vierzylindern bieten da aufgrund ihrer heilsamen Wirkung bei der Leerlaufdrehzahl die Möglichkeit den Patienten auf eine stehende Maschine zu setzen, auch wenn dies natürlich die anderen Aspekte der Mopedopie nicht zur Geltung kommen lässt. Trotz dieser Vielzahl an positiven Effekten der Mopedopie, wird sie von der Schulmedizin immer noch nicht als allgemein anerkannte Behandlungsmethode betrachtet. Ebenso wenig wird meine Arbeit als Mopedopeut, der ich doch regelmäßig meine Sozia und mich behandle, allgemein anerkannt und damit auch nicht entlohnt. Rechnungen über Benzinkosten und sonstige Aufwendungen werden von den Krankenkassen zurückgewiesen! Die einzige Erklärung, die ich mir vorstellen kann, ist, dass zu wenig Lobbyisten in Berlin für die Mopedopie eintreten, sich ihr womöglich sogar entgegenstellen um weiterhin mit unwirksameren Behandlungsmethoden Geld zu verdienen. Pfui! 13.2 Der Hämoglobinschieber Ein Hämoglobinschieber ist ein Motorradfahrer mit einer seltenen Krankheit, man erkennt ihn an glühend roten Händen und einer roten Nase, wenn dieser gerade nach einer starken Bremsung von seiner Maschine gestiegen ist und Helm und Handschuhe ab- beziehungsweise ausgezogen hat. Der Grund hierfür liegt in einer Störung des Herz-Kreislaufsystems, der Körper des Hämoglobinschiebers ist nicht in der Lage eine gleichmäßige Verteilung der roten Blutkörperchen sicherzustellen, wenn diese starken Beschleunigungskräften ausgesetzt sind. Das Blut rutscht regelrecht nach vorne, wenn der Fahrer in die Eisen langt, und sammelt sich an den vordersten Punkten des Körpers, also der Nase und den Händen. Nach einer kurzen Pause verteilt sich das Blut aber wieder wie gewohnt, die Clownsnase verschwindet. Selbstverständlich tritt das Phänomen auch in die andere Richtung auf, also beim Beschleunigen. Hierbei fängt dann der Hintern rot zu leuchten an, die stärke hängt hierbei vom Leistungs/Gewichtsverhältnis des Motorrades ab. Falls man hinter einem solchen Fahrer fährt sollte man dies tunlichst nicht mit dem Bremslicht verwechseln! 13.3. DER KURVENATMER 73 Sollte der Hämoglobinschieber auch noch Bluter sein wird es richtig eklig und vor allem lebensgefährlich, denn durch das starke Hämoglobinschieben entstehen feine Risse in der Haut aus der das Blut fortan bei jedem Bremsen oder Beschleunigen heraus spritzt. Dies ist aber zum Glück nur eine Theorie und konnte bisher nicht in freier Wildbahn beobachtet werden. 13.3 Der Kurvenatmer Während das Hämoglobinschieben vergleichsweise harmlos und sogar amüsant ist, ist das zweite medizinische Phänomen, der Kurvenatmer, eine sehr ernstzunehmende Sache. Im eigentlichen Sinne hat es nichts mit Kurven zu tun, sondern wieder mit den Kräften beim Beschleunigen und Bremsen, aber dies wird nun mal meistens nach und vor Kurven praktiziert. Der Kurvenatmer ist von diesen Kräften abhängig, er braucht sie zum Überleben, denn ohne sie kann er nicht atmen. Dies liegt an einer stark unterentwickelten Brustkorbmuskulatur, der Kurvenatmer ist aus eigener Kraft nicht in der Lage seine Lungen zu füllen und wieder zu leeren. Um nun doch atmen zu können muss er mit offenem Mund Motorrad fahren und die Massenträgheit der Luft ausnützen: Beim Bremsen strömt die Luft aus seiner Lunge, beim Beschleunigen wird sie mit frischer Luft gefüllt (Er muss dabei natürlich einen Helm tragen, sonst könnte er aufgrund des Fahrtwindes niemals ausatmen). Es ist verständlich, dass diese Kurvenatmer eine sehr schweres Leben haben. Jede Pause kann den sofortigen Tod bedeuten, immer sind sie auf freie Straßen und nie endende Strecken angewiesen. Wenn man einen sehr schnellen Motorradfahrer sieht, der jede kurze Gerade zum wilden Beschleunigen und anschließendem Abbremsen verwendet, sollte man immer bedenken, dass es sich vielleicht nicht um einen rücksichtslosen Rowdy, sondern um einen schwer kranken Motorradfahrer handeln könnte. Man sollte also Mitleid haben und ihm den Weg frei machen, damit er noch ein bisschen länger zu leben hat. Kapitel 14 Relativistisches Motorradfahren Ein materielles Motorrad ist physikalisch nicht ein räumliches Ding, sondern durchaus ein raum-zeitliches Gebilde. (frei nach Max Born) Die Lichtgeschwindigkeit, also die Geschwindigkeit mit der sich Licht (im Vakuum) ausbreitet, beträgt rund 299 792,458 km/s und bildet auch eine physikalische Obergrenze für alle bewegten Körper, sogar für Mopedos. Das kein Mopedo jemals schneller reisen wird ist zwar schade, aber nicht wirklich tragisch, denn es würden schon vorher eine Reihe von Problemen auf den Mopedonauten zukommen, die ihm den Spaß am Fahren verderben würden: Unter anderem würde er, da die Erde ja nicht flach ist, schon deutlich früher aus der Erdumlaufbahn katapultiert, was ein gewisses Problem darstellt, denn nach bisherigen wissenschaftlichen Erkenntnissen ist die Erde der einzige Planet, auf dem es asphaltierte Straßen gibt. Auch wenn der Mopedonaut es niemals schaffen wird schneller als das Licht zu sein, so ist er doch in der Lage sich dieser Geschwindigkeit anzunähern, und falls er nahe an diese Grenze herankommt wird er die Auswirkungen der Relativitätstheorie zu spüren bekommen. Eine Kawasaki Ninja schafft über 0.083 km/s und eine Honda X-Eleven immerhin über 0.0778 km/s1 . Abgerundet fehlen da nur noch rund 299 792 km/s, moderne Mopedos sind also schon relativ nahe an der Geschwindigkeit des Lichts! Die Effekte der Relativitätstheorie entziehen sich im Allgemeinen der Anschaulichkeit, daher hier die wichtigsten Schlussfolgerungen für Mopedonauten möglichst einfach zusammengefasst2 : 1 Laut Tacho, im Lederkombi auf dem Tank liegend... Der folgende Abschnitt erhebt nicht den Anspruch 100% wissenschaftlich korrekt zu sein beziehungsweise jedes Detail der Auswirkungen zu Ende gedacht zu haben. Die Grundideen stimmen jedoch. 2 74 75 Für sich bewegende Mopedos und für Mopedos unter Einfluss eines Gravitationsfeldes ergibt sich ein Effekt, der Zeitdiletation genannt wird. Dem normalen Gravitationsfeld der Erde ist das Mopedo selbstverständlich immer ausgesetzt, jedoch ergibt sich durch die Äquivalenz von Beschleunigung und Gravitation folgender Zusammenhang: Je stärker der Mopedonaut beschleunigt, umso stärker das Gravitationsfeld und umso stärker auch die Auswirkungen der Zeitdiletation. Diese Auswirkung der Zeitdiletation ist: “Bewegte Uhren gehen langsamer”. Die Zeit vergeht für den Mopedonauten also langsamer als für den Rest der Welt: Während die Welt um ihn herum wie gewohnt dem Zahn der Zeit unterworfen ist, durchbricht er diese Beschränkung und altert langsamer. Das heißt nichts weiter, als dass das Reisen auf einem Mopedo – je schneller die Fahrt und je stärker die Beschleunigung – dem Mopedonauten hilft die Jugend zu erhalten, und das nicht nur im übertragenen Sinn, sondern als eine wissenschaftlich erwiesene Tatsache! Ein weiterer Effekt, dem ein schnelles Mopedo ausgesetzt wird, ist die Krümmung des Raumes, wobei vor allem die relativistische Längenkontraktion von Bedeutung ist. Dadurch nimmt der Reisende, also der Mopedonaut, alle ruhenden Längen als verkürzt war. Auch fahrende Blechkisten fallen aufgrund ihrer geringen Geschwindigkeit im Vergleich zum Mopedo in diese Kategorie und verkürzen sich somit ebenfalls. Das bedeutet, je schneller das Mopedo unterwegs ist, desto kürzer wird damit die Strecke, die zum Überholen benötigt wird. Nicht nur als direkte Folge der höheren Geschwindigkeit wird der Überholvorgang verkürzt, sondern zusätzlich durch den zusammengestauchten Raum, der das Auto schrumpfen lässt und es dem Mopedonauten ermöglicht weniger Strecke auf der Überholspur in Anspruch zu nehmen3 . Von außen betrachtet mag so ein Überholmanöver immer noch waghalsig aussehen, denn für die – ruhenden – Autofahrer hat sich der Weg ja nicht verkürzt. Die ruhenden Autofahrer nehmen allerdings das bewegte Mopedo als kürzer wahr als sie das bei einem ruhendem Mopedo tun würden, dies fällt ihnen im Allgemeinen aber nicht auf, da sie von Mopedos ohnehin keine Ahnung haben. Es ist wichtig zu verstehen, dass es sich hierbei nur um eine Längenkontraktion handelt, nicht um eine Breitenkontraktion. Eine Breitenkontraktion hätte fatale Folgen, denn mit zunehmender Geschwindigkeit würden somit auch alle Lücken kleiner werden und den Mopedonauten immer weniger Handlungsspielraum lassen. Aber wie immer ist die Physik eben auf der Seite des Mopedonauten, eine relativistische Breitenkontraktion gibt es nicht! 3 Die Überholspur verkürzt sich allerdings auch Kapitel 15 Von der (Un-)Sterblichkeit “Glaubst du an ein Leben nach den Tod?”, fragte der Revolvermann. “Ich glaube, es ist das hiesige”, antwortete der Grenzbewohner. (Stephen King, “Schwarz”) Als Motorradfahrer wird man oft man mit dem Tod konfrontiert, denn auf der Straße ist das Fahren auf der richtigen Seite des Limits nicht selten auch der Punkt, an dem man gerade noch am Leben bleibt. Passstraßen, an denen auf der einen Seite eine Felswand ragt, auf der anderen Seite der Abgrund, oder sich zuziehende Rechtskurve sind solche Situationen, an denen das Leben am seidenen Faden hängt. Ein kleiner Fehler könnte schon das Ende bedeuten, den Sturz in die Tiefe oder den Zusammenprall mit dem Gegenverkehr. Dieses Risiko ist immer da und auch wenn man selbst keinen Fehler macht kann der Fehler eines anderen Verkehrsteilnehmers zum gleichen Ergebnis führen. Ich hatte nie Angst vor dem Tod, das ist wahrscheinlich normal solange man jung und gesund ist, und es ist sicherlich eine Grundvoraussetzung um das schnelle Motorradfahren zu erlernen. Zu meinen Anfangszeiten habe ich, enttäuscht von dem, was das Leben zu bieten hatte, den Tod bewusst herausgefordert, bin über die Grenzen von Mensch und Maschine hinausgegangen um zu sehen was passiert. Passiert ist immer das selbe: Es fühlte sich geil an. Es fühlte sich so an, wie das Leben sich immer anfühlen sollte: lebendig und voller Abenteuer. Ich glaube nicht an Himmel oder Hölle, wie es das Alte Testament verspricht, und auch für den Gedanken an Wiedergeburt, wie er bei den Buddhisten vorherrscht, konnte ich mich nie erwärmen. Ich weiß nicht, was nach dem Tod kommt, ob es ein Leben oder irgendetwas anderes danach gibt, und kein Mensch wird es je schaffen dies endgültig zu beweisen oder zu widerlegen. Jeder hat eine andere Vorstellung davon was kommen mag, wobei es mir so vorkommt als vertreten viele die Meinung, die ihnen am besten gefällt, und nicht etwa die Meinung, für die sie am meisten Anhaltspunkte finden. 76 77 So vielleicht auch bei mir, ich bevorzuge die Vorstellung, dass dieses Leben das einzige ist, das ich habe, und dass keine Notwendigkeit besteht mich hier auf ein Leben vorzubereiten, das erst danach kommt. Ich will gar kein anderes Leben. Dieses eine reicht, es hat mir alles gegeben, was ich wollte, und es hat mir alles genommen, was ich hatte. Eine wichtige Konsequenz für mich ist, dass man darauf achten sollte ein Leben vor dem Tod zu haben und nicht nur eine Existenz. Für mich bedeutet dies Fahren, auch wenn dabei immer ein Risiko mit fährt. Nur, wie hoch ist dieses Risiko eigentlich, oder vielleicht viel entscheidender, wie wird dieses Risiko überhaupt wahrgenommen? Früher, als meine Sozia noch eine blutige Anfängerin war, waren sie und ich noch nicht eins wenn wir auf dem Motorrad saßen und wir nahmen die Welt noch mit zwei getrennten Paar Augen wahr. Damals hat sie Situationen gezählt, in denen wir ihrer Meinung nach nur noch eine Haaresbreite von einem Unfall mit schweren Folgen entfernt waren. Obwohl ich mit ihr deutlich vorsichtiger unterwegs war als alleine, kam sie nicht selten auf eine zweistellige Zahl pro Ausfahrt, und doch ist uns beiden nie etwas zugestoßen. Auch wenn ich allein unterwegs war ist es immer verhältnismäßig glimpflich ausgegangen. Da stellt sich schnell die Frage, wieso es nie schlimmer endete. Hatte ich einfach nur Glück? Oder bin ich so gut, dass ich jede Situation meistern kann? Fahre ich vielleicht so vorsichtig, dass ich immer genug Reserven habe? Habe ich einen kompetenten Schutzengel, oder gibt es einen Motorradgott, der mich in sein Herz geschlossen hat? Kognitiv betrachtet, würde ich die Antwort irgendwo zwischen Glück und Können ansiedeln. Aus emotionaler Perspektive weiß ich, dass es an etwas anderem liegt: Wenn ich fahre bin ich schlicht und ergreifend unsterblich. Die Geschichtsbücher lehren uns, dass es bisher noch jeden erwischt hat. Niemand ist unsterblich, und das ist wohl auch gut so, denn sonst gäbe es noch mehr Menschen, die in Blechkisten die Straßen verstopfen würden. Aber auf dem Motorrad fühlt es sich so an! Die Diskrepanz zwischen diesem Gefühl und der von außen wahrgenommen Wirklichkeit ist natürlich enorm, denn der seidene Faden, an dem das Leben hängt, könnte kaum dünner sein als in den Momenten, in denen sich der Mopedonaut mit nur einer wenig Zentimeter messenden Knautschzone mit Geschwindigkeiten bewegt, für die sein Körper niemals ausgelegt war. Dennoch, die Lederkombi alleine wirkt, sobald man sie anhat, wie eine beinahe undurchdringliche Ritterrüstung. Das liegt nur zu einem kleinen Teil an dem dicken, widerstandsfähigen Leder und den Protektoren, viel mehr jedoch wiegt die psychologische Komponente, denn das Tragen dieses Anzugs ist in den Rezeptoren direkt verknüpft mit dem Fahren. Sitzt man dann auch noch auf der Maschine, kann einem scheinbar nichts mehr passieren. Eine riesige Seifenblase bildet sich um einen, die alles unangenehme, alles schlechte dieser Welt abprallen lässt. Extrem wendig und mit einer Perspektive, die ihn über die meisten Autos hinwegblicken 78 KAPITEL 15. VON DER (UN-)STERBLICHKEIT lässt, ist der Mopedonaut in der Lage alle äußeren Einflüsse zu erkennen und in seine Handlung zu integrieren. Der erfahrene Mopedonaut entwickelt den berühmten siebten Sinn, das kommende Geschehen um ihn herum offenbart sich ihm, fast so als könne er wenige Augenblicke in die Zukunft sehen. Abbiegende Autofahrer werden als solche erkannt lange bevor sie den Blinker setzen1 . Der Instinkt rät plötzlich zur Vorsicht, doch erst wenn man die Blechkiste in weitem Bogen überholt driftet diese langsam von der eigenen Spur und der Mopedonaut erkennt das Handy am Ohr des Fahrers. Das Kind, das eben hinter einem parkenden Auto verschwand, wird zu exakt zu dem vorhergesehenen Zeitpunkt auf die Straße rennen. Das ausgeschaltete Blaulicht der Jungs vom Trachtenverein wird über zig Spuren und hunderte von Metern aus dem Augenwinkel heraus registriert. Das frühzeitige Erkennen dieser mannigfaltigen Gefahren und die daraus resultierende Möglichkeit ihnen schon im Ansatz zu entgehen lässt bei dem Mopedonauten den Eindruck entstehen, all dies in gewisser Weise auch kontrollieren zu können. Immer scheint er aktiv agieren zu können, statt zum passiven reagieren gezwungen zu werden. Dieser Eindruck wird verstärkt durch die große Bewegungsfreiheit die er sowohl auf dem Motorrad – kein Gurt, kein Dach schränken ihn ein – als auch, viel entscheidender, mit dem Motorrad hat. Immer bleibt ihm ein Freiraum, ein Spielraum: Die Fahrbahn, für Autos ausgelegt, bietet ihm genug Platz um einen ungezwungen Slalom zu fahren. Und dann ist da auch noch der Raum vor ihm! Schon kleinere Motorräder sind heutzutage so übermotorisiert, dass der Mopedonaut allen anderen Verkehrsteilnehmern leistungstechnisch weit überlegen ist. Dieser Leistungsüberschuss, dieser Überschuss an Motorkraft stellt nicht zuletzt auch eine Macht dar. Der Mopedonaut hat die Macht andere Verkehrsteilnehmer einfach mal so, quasi mühelos, zu überholen. Während der Fahrer, der in seiner Blechkiste eingesperrt ist, ewig hinter einem Bus oder Traktor gefangen sein kann und gezwungen ist der Dinge zu harren, die da kommen mögen, während dessen ist der Motorradfahrer Herr der Lage. Natürlich kann auch er aufgehalten werden, aber er wird deutlich früher an den Hindernissen vorbei kommen, deutlich leichter einen anderen Weg finden, deutlich öfter gar nicht darauf angewiesen sein, jetzt auf eben dieser Straße zu fahren. Wenn er dann doch überholt kann er einfach am Gas reißen, und in wenigen Sekunden sind die Unannehmlichkeiten aus seinem Rückspiegel verschwunden. Für den Mopedonauten gibt es keine Hindernisse oder Unmöglichkeiten, nur Randbedingungen, die in die Entscheidungsfindung, in die Berechnung der idealen Linie einfließen. Diese Randbedingungen begrenzen nicht, sondern bergen neue Möglichkeiten, erschaffen neue Wege und der Fahrer kann sich nach belieben einen aussuchen. Er kann somit jederzeit seinen eigenen 1 Was diese wahrscheinlich ohnehin nicht tun wollten. “Wozu blinken, ich weiß doch wo ich hin will!” 79 Weg gehen, oder besser fahren, und das immer wieder, jede Kurve bietet die gleiche Erfahrung: Randbedingungen erkennen, Möglichkeiten ausloten, einen Entwurf für das Durchfahren erstellen und diesen dann mit einer spielerischen Leichtigkeit umsetzen. Es ist ein schöpferischer Akt, wie das Komponieren eines Musikstückes oder das Malen eines Gemäldes. Wenn er die richtigen Töne trifft, den Pinsel mit dem richtigen Schwung führt, dann wird er sogleich das Ergebnis seiner Schaffens bewundern können: Eine Linie, die ohne Haken, Ruckler und Korrekturen auskommt, die geschmeidig und wohlgeformt ist, kurzum, eine Linie die einfach cremig ist. Der Mopedonaut tut dies alles aus einem einzigen, simplen Grund: Freude. Ich denke es ist das Maß an Präzision, Kontrolle und Richtigkeit, dass dieses Gefühl der absoluten, unantastbaren Sicherheit entstehen lässt. Das Gefühl, unsterblich zu sein. Leider war ich bisher nicht in der Lage, dieses Gefühl beim Absteigen vollständig zu behalten. Kaum ist man von der Maschine abgestiegen, schon beginnt die Seifenblase zu platzen. Man lässt seine Maschine alleine und ist nicht mehr in der Lage sie zu beschützen, nur ein winzig kleiner Seitenständer hindert sie am sofortigen Umfallen. Der Boden unter den Füßen fühlt sich komisch und fremd an, man versucht zu laufen doch es kommt einem vor als würde man torkeln. Eben war man noch durch die Reifen direkt mit dem Asphalt und der Welt verbunden, nun ist man von dem Boden durch eine dicke Schicht namens Schuhsohle getrennt. Man erkennt, dass Dinge passieren könnten, die man nicht unter Kontrolle hat, nicht verhindern kann. Dinge, die man nicht vorhersehen kann, auf die man nur passiv reagieren kann. Die Präzision und die Freude gehen verloren, die Sterblichkeit kehrt zurück. Randbedingungen und Hindernisse sind überall, und es ist nicht mehr möglich, einfach einen Weg um sie herum zu wählen. Die möglichen Wege werden limitiert, schließen sich teils gegenseitig aus und zwingen zu einer permanenten Kompromissbildung. Unbeholfen, ungeübt und grobmotorisch geht diese Kompromissbildung vonstatten, nichts ist mehr vorhanden von der Perfektion bei der Auswahl einer Kurvenlinie. Wie bei einem Fahrer, der seinen Blick vor das Vorderrad richtet statt auf den Kurvenausgang und dadurch ständig gezwungen ist zu korrigieren. Und natürlich ist genau das das Problem, dieser Fixpunkt, der auf der Straße so offensichtlich ist, fehlt. Wo ist der Kurvenausgang abseits des Motorrads, wie kann ich ihn finden? Es müsste ein Ziel sein, etwas, das man erreichen möchte. Aber müsste man mich sich dann nicht auf ein einzelnes Ziel beschränken, so wie man nur einen Kurvenausgang anpeilt? Sonst gerät man doch gerade in das Dilemma, das man Kompromisse bilden muss, und wo Kompromisse sind, da geht die Perfektion verloren. Andererseits, wie kann ein einziges Ziel all die widersprüchlichen Bedürfnisse erfüllen, die der Mensch hat? Unabhängigkeit und Geborgenheit, Dauerhaftigkeit und die Möglichkeit, Dinge zu ändern. 80 KAPITEL 15. VON DER (UN-)STERBLICHKEIT So sehr ich es auch versuche, ich finde den einen Kurvenausgang im Alltag nicht. Gefangen im Sumpf meiner eigenen, unklaren Bedürfnisse schwanke ich von links nach rechts, vor und zurück. Mal will ich das eine, mal das andere. Erfülle ich meine Wünsche jetzt, werde ich nie das größere Ziel erreichen, strebe ich auf das größere Ziel zu, gehe ich an meinen nicht erfüllten Wünschen zugrunde. Nur auf dem Motorrad, da ist alles so unglaublich einfach. Unabhängig vom Rest der Welt und gleichzeitig geborgen und beschützt im Schoß der Maschine. Die Stabilität des Fahrwerks steht nicht im Widerspruch zur Wendigkeit des Motorrads. Ganz man selbst sein und doch eng mit der Welt verbunden. Als Mopedonaut ist die Perfektion zum Greifen nahe, nichts kann passieren und man wird für eine gewisse Zeit unsterblich. So hebt sich aus dem Schleier des Alltags dieses eine Ziel hervor, das Bestand hat: Zurück ins Mopedoversum, an den einzigen Ort, an dem die Welt so ist, wie sie sein sollte. Kapitel 16 Zurück ins Mopedoversum “Zurück ins Mopedoversum” ist manchmal leichter gesagt als getan, denn Alltag und Wetter machen einem nicht selten einen Strich durch die Rechnung. Um all dem zu entkommen hilft manchmal nur eines, die komplette Flucht aus dem Alltag, ein Urlaub im Mopedoversum. Das Mopedoversum stellt zwar eine eigene Dimension dar, ist jedoch räumlich mit den allgemein bekannten Dimensionen überlagert. Den Teil des Mopedoversums, in dem ich bevorzugt Urlaub mache, nennt man im Alltag “französische Alpen”. Diese bieten eine nahezu perfekte Kulisse um sich im Mopedoversum zu verlieren, majestätische Berge und verträumte Täler, und immer dazwischen: Straßen mit Kurven. Traumhaft viele Kurven und Kehren, in jeder erdenklichen Form und Qualität, keine Kombination, die es nicht gibt, und gleichzeitig eine minimale Dichte an Ampeln, Ortschaften und Kreuzungen. Ja, Frankreich ist toll, ich finde auch französisch toll, nur mit der Sprache habe ich so meine Probleme: Ich verstehe kein Wort wenn ich mich mit einem Franzosen unterhalte. Man hat zwar über Jahre hinweg versucht mir das einzutrichtern, jedoch mit mäßigem Erfolg. Ich habe damals auch nicht eingesehen wieso ich das lernen sollte, hätte man mir damals vom Mopedoversum erzählt, hätte ich es vielleicht eingesehen. In den ersten zwei Jahren konnte ich sogar noch ein paar Grundlagen erlernen, doch ab dann erging es mir, wie es mir heute ergeht wenn ich mich mit einem Franzosen unterhalte: Ich verstehe kein Wort. Das meine ich genau so, wie ich es schreibe, ich verstehe keine Wörter. Die Leerzeichen und die Satzzeichen existieren scheinbar nur auf dem Papier, im französischen scheint es keine Wörter zu geben, es ist ein einziger Ausguss von Lauten, unmöglich zu erkennen wo ein Wort anfängt oder endet. Je nachdem wer so spricht kann das unglaublich sexy klingen, aber zur Verständigung hilft es nicht. Leider beherrschen Franzosen seltenst eine andere Sprache und wenn doch können sie es gut verbergen. Aber das sind alles Probleme aus dem Alltag, im Mopedoversum ist das alles kein Problem: Zwei Finger zum Gruß erheben und alles ist klar, 81 82 KAPITEL 16. ZURÜCK INS MOPEDOVERSUM egal aus welchem Land der entgegenkommende Fahrer stammt. Es gibt jedoch ein französisches Wort, dass ich auf meinen Reisen kennen und lieben gelernt habe: Col. Col bedeutet “gut” oder “toll”. Man findet dieses Wort auf allerlei Straßenschildern in den Bergen und die Pfeile deuten immer auf Strecken, die zu befahren es sich lohnt. 16.1 Wer rastet, der rostet Das Setup und die Zielsetzung meiner Reisen ins französische Mopedoversum hatte sich über die Jahre gewandelt. Inzwischen war ich in sehr kleinen Gruppen unterwegs, die letzten Jahre nur zu zweit, und was anfänglich als eine sehr lange Ausfahrt begonnen hatte, war inzwischen ein intensiver Trainingslehrgang. Ausgerüstet mit Literatur1 und einem Trainingsplan wurden an jedem Tag wenige Details so lange geübt, bis sie sich in unser Unterbewusstsein gefressen hatten und von nun an zu unserem fest eingefahrenen Handlungsrepertoire gezählt werden konnten. Je nach Strecke konnten unterschiedliche Dinge trainiert werden, selbst innerorts kann man noch an kleinen Details feilen: Das richtige Schalten zum Beispiel, das ein Groß der Motorradfahrer leider schon als perfekt gekonnt ansah wenn sie es schafften irgendwie einen anderen Gang reinzuhämmern, oder das Präzise über- oder umfahren von Kanaldeckeln und ähnlichem. Die Bergpässe, die wir schon wenige Stunden nach unserer Abfahrt erreichten, boten natürlich noch mehr Möglichkeiten: Angefangen von der Blickschulung über das korrekte Legen von Einlenk- und Scheitelpunkten, bis hin zu allem anderen, was das Motorradfahren ausmachte. Die Umgebung bot alle Möglichkeiten, es war das Schlaraffenland der Mopedonauten. Die Straßenschilder kündeten von der schönen Zukunft: “Kurven auf 26 km” oder, in Italien, Achtung “33 Tornanti2 ” und dann jede einzelne Kurve nummeriert! Der “Col de la Bonette”3 war mit 2 802 m die höchste asphaltierte Straße in den Alpen, und die Cote d’Azure war mit 0 m Höhe nur rund 2 Stunden entfernt. Der “Col des Champs”, das “Toll der Champions”, war wahrlich für Champions und hatte Kurven die selbst für Fahrräder eng waren, der “Col Agnel”, das “Toll der Engel”, war himmlisch zu befahren mit seinen riesigen, nummerierten Kehren, die für LKWs ausgelegt waren. Wir wechselten gelegentlich die Führung, gaben uns in Pausen Feedback und erörterten unsere Erfolge und Fehler. Ich hatte an meiner Dicken einen Fehlerzähler angebracht, den ich immer betätigte wenn irgendetwas nicht so klappte wie es hätte klappen sollen, jeder Schaltvorgang der auch nur 1 Das Übungsbuch von Bernt Spiegel leistet gute Dienste, man sollte aber das eigentlich Buch vorher gelesen haben. (Nein, ich bekomme leider kein Geld für diese Werbung) 2 dt. Spitzkehren (oder so was in der Art) 3 “Bon” hieß übersetzt “gut”, soviel wusste ich noch. Übersetzt musste der Pass in etwa ”Toll der Gutheit” heißen. Verdammt, diese Franzosen hatten es einfach drauf passende Name für geile Straßen zu finden! 16.2. HATTE ICH NICHT EBEN NOCH PROFIL? 83 ein “Klack” erzeugte wurde gezählt. Das Hauptaugenmerk lag nicht darauf möglichst wenig Fehler zu machen, sondern möglichst viele der Fehler, die ich machte, auch zu erkennen um daran arbeiten zu können. Ein Motorradfahren, bei dem das Augenmerk darauf liegt einzelne Aspekte zu perfektionieren, ist kaum anstrengender als normales Fahren, aber noch befriedigender. So war es klar, dass wir uns nach über zehn Stunden Fahrt entschlossen: “Ach, ein Pass geht noch bevor wir uns ein Hotel suchen müssen!” Die Erfolge dieses Trainings dokumentierten Videos, die wir auf einigen Bergpässen machten: Sportlich schnell, aber in keinster Weise hektisch, huschten wir über uns unbekannte Straßen mit einer Präzision entlang, die man sonst höchstens bei olympischen Synchronschwimmern beobachten konnte. Es sah aus wie ein ungezwungener Tanz und genauso fühlte es sich auch an. Diese Leichtigkeit und Präzision war keine kurzzeitige Erscheinung sondern fast eine Konstante. Keine Hektik, keine unbedachte Reaktion, trotz allerlei unerwarteter Hindernisse. Die Straße lag plötzlich voller Steine? Kein Grund zur Panik, da ist in 5 cm breiter freier Abschnitt, dieser wird schlagartig in den Bewegungsentwurf eingebaut und ohne dass das Motorrad einmal zuckt wird die Stelle umfahren als hätte es kein Problem auf der Straße gegeben. Ein Schwertransporter versperrt plötzlich den Weg und der Asphalt ist nicht griffig? Alles scheint einkalkuliert, ohne aufsteigende Panik, ohne Blockieren wird das Motorrad mit Gefühl aber auch mit Bestimmtheit an genau der Stelle zum Stehen gebracht, wo der Transporter vorbei fahren kann. Eine 80 cm breite Lücke? Reicht ewig, die Dicke hat an der breitesten Stelle nur 78 cm. Ein nicht endender Flow, Zentimeter für Zentimeter, Kurve für Kurve, Tag für Tag. Abgesehen von dem Fahren war an unseren Urlauben wenig geplant. Wir hatten kaum Gepäck, aber eine Bleibe in den Bergen Frankreichs und eine grobe Vorstellung auf welchem Weg wir dorthin wollten. Ein paar Karten, solche mit Straßen und solche mit Geld darauf, sowie der Zufall würden den Rest erledigen. Das Glück war uns immer hold, wir fanden immer eine Tankstelle bevor es zu spät war, das gleiche galt für freie Zimmer in Hotels. Obwohl beides teilweise sehr knapp war. 16.2 Hatte ich nicht eben noch Profil? Reifen, die nur rund 4 000 km lang halten sind nicht gerade praktisch wenn man für über 4 000 km unterwegs sein möchte. Sollte man deswegen aber auf die Idee kommen sich Tourenreifen aufzuziehen begeht meinen schweren Fehler, denn es ist weniger unangenehm sich mit Händen und Füßen fuchtelnd einen neuen Reifen zu kaufen als den Hang eines Bergpasses runterzurutschen, weil einem der Grip im entscheidenden Moment ausgegangen war. Wie kurz die Reifen dann aber tatsächlich hielten, wenn man 10 Stunden 84 KAPITEL 16. ZURÜCK INS MOPEDOVERSUM am Tag aus Kurven herausbeschleunigte, erstaunte mich dann doch immer wieder. “Wohoastndoingummigloassn?” sprach mich ein fremder Mopedonaut auf einem Pass an. Ich verstand kein Wort, was ich in Frankreich ja gewohnt war, und schaute ihn nur fragend an während ich mir eine Antwort überlegte. ”Wo hoast’n doin Gummi gloassn?” wiederholte er und ich merkte, dass er tatsächlich eine mir bekannte Sprache sprach. “Na, auf der Straße! Der Vars hat ihm den Rest gegeben, seit dem ist er nur noch ein Slick. . . ” antwortete ich. Das war nicht ganz die Wahrheit, der Reifen hatte schon noch Profil, aber nur in der Mitte. Immerhin, die Karkasse schimmerte noch nicht hindurch, er würde also noch eine Weile heben. Komisch, in Deutschland hatte er noch knapp 3 mm gehabt und wir waren noch keine tausend Kilometer unterwegs. Aber so schien es immer zu sein wenn ich in Frankreich unterwegs war, unglaublich wie viel Geld man in zwei Wochen für Reifen ausgeben konnte. Auch wenn diese in keinem Verhältnis zu den Nachteilen standen, Vorteile hatte das ungleichmäßig abgefahrene Profil dennoch: Zum einen musste man kein schlechtes Gewisses haben wenn man auf der Geraden mal am Gas riss und zweitens war solch ein Reifen zwar nicht mehr zu viel gut, zu einem taugte er aber perfekt, nämlich für Bremsübungen. Und ein Motorradtraining ist nicht komplett wenn man die wichtigste Disziplin auslässt. Wir fanden eine wenig befahrene Straße, markierten den Bremspunkt und legten los. Wir waren beide nicht in der Lage uns viel zu steigern, ein stärkeres Bremsen führte immer zu einem blockierenden Rad. Immerhin lagen wir auf gleichem Niveau und eine Distanzmessung zeigte, dass wir auch schon sehr nahe an den Literaturwerten für eine ideale Bremsung waren. Neue Reifen mussten dann vor Ort gekauft werden und das war immer wieder ein kleines Abenteuer. Wir kauften immer bei dem gleichen Motorradhändler, ich würde ihn nicht gerade als “den Händler meines Vertrauens” bezeichnen, jedoch gab es keine mir bekannte Alternative in dieser Gegend. Das Problem mit diesem Händler war jedes Mal, das er keine Anstalten machte mir die Reifen zu verkaufen, die ich wollte, sondern nur bereit war die Reifen zu verkaufen, die er ohnehin auf Lager hatte. Bei meinem ersten Reifenkauf war ich schlecht vorbereitet, hatte aber ein paar Tage Zeit eingeplant, so dass er Reifen hätte bestellen können. Ich zeigte auf meinen Reifen, der praktisch kein Profil mehr hatte und warf mit den wenigen französischen Worten um mich, die ich noch kannte und von denen ich glaubte, sie könnten erläutern was ich vor hatte. “Jö wö attachee la.” Das mit dem Satzbau und der Grammatik hatte ich schon lange aufgegeben. Er führte mich zu einem Stapel Reifen und zeigte einen in der passenden Größe. Von seiner Antwort verstand ich natürlich kein Wort, aber den Reifen erkannte ich, ein Michelin Pilot Road, der Reifen meiner Alpträume. 16.2. HATTE ICH NICHT EBEN NOCH PROFIL? 85 “Continental ForceMax?” fragte ich, unfähig einen Satz darum herum zu bilden. Er hatte gemerkt, dass ich ihn nicht verstand und begab sich zu mir auf das Kleinkindniveau: Seine Antwort bestand aus einem Schütteln seines Kopfes und des erhobenen Zeigefingers, und ich verstand sogar die zwei Worte “No” und “Michelin”. “Non Michelin. Continental ForceMax!” Ich warf noch mit ein paar Wochentagen um mich in der Hoffnung, ihn zu überzeugen einen anderen Reifen zu organisieren. “Non. Non. Michelin. Michelin!” er klopfte auf den Reifen. Ich hätte gerne gefragt was genau das Problem war, dachte er ich brauchte sofort einen Reifen, war er prinzipiell nicht in der Lage Continental Reifen zu bestellen oder wollte er aus welchem Grund auch immer keine anderen Reifen verkaufen? Jedoch reichte mein bescheidenes französisch für solch eine Frage nicht aus. Für die Antwort erst recht nicht. Unwillig mir meinem Urlaub von Pilot Roads verderben zu lassen, versuchte ich es weiter. “Continental ForceMax?” “Non. Michelin.” “Coonnntiiinneeennntaal!” “Michelin.” Wir wurden langsam lauter und begannen energisch mit den Armen zu fuchteln, nicht unfreundlich oder ärgerlich, sondern eher um unseren Aussagen mehr Nachdruck zu verleihen. Vielleicht würde der Gegenüber ja verstehen, wenn man nur etwas deutlicher wurde. “Non Michelin. Non Pilot Road. Continental!!” “Michelin!!” Es führte zu nichts. Er hatte mindestens schon dreißig Mal “Michelin” gesagt, ich fast ebenso oft “Continental”, aber an diesem Punkt kamen wir einfach nicht weiter. Ich versuchte es mit “Bridgestone” und “Pirelli”, erhielt jedoch immer die selbe Antwort: “Michelin!” Das Ganze erinnerte an eine Komödie, wir standen uns mit wedelnden Armen gegenüber, jeder sprach nur dieses eine Wort, als wäre es der Inbegriff seines tiefsten Glaubens: “Michelin!” – “Continental!” Wenn er doch nur verstehen würde, dann hätte er gewusst, dass ich mit einem “Pilot Road” nichts anfangen konnte, zumindest nicht auf Straßen, deren Verlauf auch Kurven enthielt. Ich versuchte es ihm zu erklären und die Komödie nahm ihren Lauf. Da ich kein französisch sprach und er weder deutsch noch englisch flüchtete ich in Zeichensprache und Geräusche. Ich zeigte auf mein Motorrad, dann auf meinen Reifen und sagte: “Michelin”, mit meiner linken senkrechten Handfläche ahmte ich mein Motorrad nach, mit der rechten den Gasgriff. Mein virtuelles Motorrad beschleunigte, dazu versuchte ich möglichst realistische Motorengeräusche zu erzeugen. Ich simulierte seine Schräglage indem ich die Handfläche kippte und ließ es eine Kurve fahren. Ich beschleunigte es aus der Kurve heraus und dann – zack! – 86 KAPITEL 16. ZURÜCK INS MOPEDOVERSUM machte meine Handfläche einen Highsider und überschlug sich. Ich lief um mein Motorrad herum – die X-Eleven, nicht meine Handfläche – und zeigte auf all ihre Macken. Ich zeigte auf die Delle am Tank und sagte “Michelin Pilot Road.” Die Kratzer in der Verkleidung, “Michelin Pilot Road!” Die Schrammen am Endschalldämpfer, “Michelin Pilot Road!!!” Stille kehrte für einen Moment ein. Ich richtete meine Handfläche wieder auf und verkündete: “Continental ForceMax!” Meine Handfläche beschleunigte, fuhr Kurven und erreichte atemberaubende Schräglagen, verlor nicht einmal die Haftung bis sie schließlich mit einem “Wuschh” davon fuhr. Ich fügte noch ein “Trä biän” an und wartete auf seine Reaktion. Ich weiß nicht wie viel von meinem Schauspiel dazu beigetragen hatte ihm meine Situation verständlicher zu machen und wie viel eher dazu beitrug, dass ich nun für komplett bescheuert gehalten wurde, aber es lief darauf hinaus, dass ich am Ende Metzeler Sportec M3 bekam, von denen ich noch nie etwas gehört hatte. Diese Reifen waren für meine Maschine zwar nicht zugelassen, aber das störte den Franzosen nicht im Geringsten und seine Reaktion auf das Wort “TÜV”, anscheinend das einzige deutsche Wort, das es kannte, zeugten von großer Lebensweisheit: Er lachte, wiederholte das Wort, lachte weiter, und machte sich daran mir die Metzeler aufzuziehen. In der Tat passten die Metzeler sehr gut zum Fahrverhalten der X-Eleven und bereiteten mir noch viel Freude. 16.3 “Die Spinnen, die Mopedonauten!” Wenn ich mit der X-Eleven in Frankreich unterwegs war, kam es sehr selten vor, dass jemand den Bedarf verspürte mich zu überholen. Es kam natürlich vor, denn wir fuhren eher selten am Limit, und ich hatte damit im Normalfall auch kein Problem, klemmte mich vielleicht dahinter um zu sehen ob ich noch was lernen konnte oder ließ den oder die anderen von dannen ziehen. Nur in einem Jahr erlaubten sich zwei Fahrer schon bei unserer Hinfahrt nach Frankreich eine solche Dreistigkeit, dass mein Mitfahrer und ich diese nicht einfach ignorieren konnten. Es war ein ungeschriebenes Gesetz, dass Motorradfahrer an Ampeln vorfahren dürfen, so taten wir es auch an dieser Ampel, die den Verkehr am Fuß des Col de l’Iseran immer nur in eine Richtung an einer Baustelle passieren ließ. Die Straße war aufgrund der Bauarbeiten für einige Minuten komplett gesperrt und die Wartezeit reichte für eine längere Zigarettenpause, in der sich die Fläche um die Ampel mit Motorrädern füllte. Wir waren die ersten Motorradfahrer an der Ampel gewesen und somit an erster Stelle als die Ampel endlich auf grün schlug. Ich wollte innerhalb des Baustellenbereiches nicht zu schnell fahren, die Straße war verschmutzt und vereinzelt standen Bauarbeiter am Rand, ich überschritt die erlaubten 30 km/h daher nur um rund 100 Prozent als plötz- 16.3. “DIE SPINNEN, DIE MOPEDONAUTEN!” 87 lich eine Ducati Monster an mir vorbei dröhnte. Ich weiß nicht genau wieso ich das als eine solche Frechheit empfand, es lag irgendwie an der Baustelle und der Tatsache, dass der Ducatifahrer gar nicht wissen konnte wie schnell oder langsam ich eigentlich unterwegs war, sondern dass er mich aus dem puren Verdacht, ich sei ja ohnehin zu langsam, überholt hatte. Und mit Sicherheit würde mir seine pissige Monster in der ersten Kurve im Weg herum stehen! Es mochte bergauf gehen und seine Maschine war gut und gerne 60 bis 80 Kilo leichter, aber 1137 ccm waren nun mal 1137 ccm und das reichte allemal für eine Monster. Das alles schoss mir in dem Augenblick durch den Kopf, als die rote Maschine an mir vorbei zog, und gleichzeitig wurde mein Jagdinstinkt geweckt und Hand und Fuß arbeiteten wie automatisch um das Getriebe auf eine Verfolgungsjagd einzustellen. Gut Schalten zu können war in solchen Momenten Gold wert. Die X-Eleven schob nach vorne, ich warf einen kurzen Kontrollblick in den Rückspiegel um mich zu vergewissern, dass mein Mitfahrer dran blieb, doch anstatt der 1200er Bandit sah ich eine weitere Monster, die gerade ihren Überholvorgang abbrach, weil ihr wohl die Puste ausging. Ich sah wieder nach vorne, das Ende der Baustelle war fast erreicht. Showtime. Sie würde es mit Glück bis zur ersten Geraden schaffen bis ich sie einkassierte, aber keinen Meter weiter. Die Monster schoss dröhnend los, die X-Eleven, damals noch mit den Serienendschalldämpfern, schnurrte hinterher. Vor der ersten Kurve ließ ich mich ein paar Meter zurück fallen, da ich damit rechnete, dass der Fahrer gleich in die Bremsen steigen und dann um die Kurve schleichen würde. Zu meinem Erstaunen bremste er nicht und als ich um die Kurve herum war hatte ich tatsächlich noch ein paar Meter verloren. Ich schaltete das Getriebe in den nächsttieferen Gang und sauste hinterher, vielleicht hielt er doch länger aus als bis zur ersten Geraden. Der Fahrer vor mir flog nur so durch die Kurven, doch ich verlor keinen Meter mehr und konnte die Lücke sogar wieder schließen. Die rote Monster war wirklich ein passendes Motorrad für den Fahrer vor mir, denn er hatte Feuer im Arsch, das stand außer Frage. Mir war noch nie jemand begegnet, der mit solchen Geschwindigkeiten auf einem Alpenpass unterwegs war. Also, außer mir selbst und meinem Mitfahrer, natürlich. Wir prügelten unsere Maschinen weiter den Berg rauf und ich musste mit allem arbeiten was ich hatte um dran zu bleiben: gute Linie, Drehzahl und Risikobereitschaft. Die Monster hinter mir fiel einige Meter zurück, von ihr schien keine Gefahr auszugehen. Mein Mitfahrer klebte dahinter. Nach einigen Minuten lag Val-d’isère vor uns. Mein Adrenalinpegel war bereits jenseits von Gut und Böse und eine kleine Pause konnte nicht schaden. Jedoch schien der Monster-Fahrer das anders zu sehen und stellte mich vor ein moralisches Dilemma: Mit über hundert Sachen durch die Ortschaft oder alleine weiter fahren? Ich entschied mich für einen faulen Kompromiss, raste wie eine gesengte Sau durch die Ortschaft, verlor dennoch mehrere hundert Meter auf die Ducati vor mir und wurde von der zweiten Ducati überholt. 88 KAPITEL 16. ZURÜCK INS MOPEDOVERSUM Als die Bebauung nachgelassen hatte zog ich das Gas wieder an und war am Ortsausgang auf knapp 180. Es folgte eine lange Gerade auf welcher der zweite Ducati-Fahrer, der etwa hundert Meter hinter dem ersten fuhr, fast von einem LKW abgeschossen wurde, der von einer Seitenstraße auf die Hauptstraße einbiegen wollte. Der LKW blieb mitten auf der Straße stehen und der etwas mehr als ein Meter breite Durchgang reichte uns um nicht wesentlich langsamer zu werden. Was nun folgte war ebenso offensichtlich wie irrsinnig: Ich musste aufholen. Ich fuhr diesen Pass zwar nicht zum ersten Mal, aber ich war ihn nicht annähernd oft genug gefahren um auch nur grob den Straßenverlauf zu kennen, daher musste ich alles auf Sicht fahren. Ich jagte um die Kurven, drehte die Maschine in jedem Gang bis kurz vor den roten Bereich und holte langsam auf. 50 m noch bis zum hinteren. Der Asphalt war von ungleichmäßiger Qualität und vereinzelt lagen dort kleine oder auch größere Steine, so dass es den 180er hin und wieder ein paar Zentimeter versetzte, aber der ForceMax fing sich sofort wieder sobald er erneut Bodenkontakt bekam. Ich raste in einen unbeleuchteten Tunnel hinein, der an den Seiten offen war. Zum Glück hatte ich ein Sonnenvisier, das ich öffnen konnte, so musste ich die Sekundenbruchteile, die meine Augen gebraucht hätten um sich an die Dunkelheit zu gewöhnen, nicht abwarten. Der Tunnel machte eine Rechtskurve, eine riesige, dunkle Pfütze mitten auf der Ideallinie schaffte es meine Aufmerksamkeit zu fesseln und ich sah zu spät, dass die Kurve sich stark zuzog. Ich kam auf die Gegenfahrbahn, auf der zum Glück gerade kein Auto unterwegs war. Dort befand ich mich anscheinend in guter Gesellschaft, die Ducati vor mir schlingerte ebenfalls über die falsche Fahrbahnseite bis ihr Fahrer sie zurück auf die rechte Spur zwang. Ich war wieder dran, bis zum Pass war es aber noch ein gutes Stück. Irgendwie schienen sie das Tempo noch weiter anzuziehen und der Straßenbelag wurde schlechter. Immer wieder verlor ich ein paar Meter bis ich eine Kurve hinterher hing, dann holte ich wieder auf und hatte sogar noch ein paar Reserven. Das arme Serienfahrwerk meiner Dicken kam zunehmend an seine Grenzen, in einer langezogenen Rechtskurve schlug bei einem Schlagloch, das ich übersehen haben musste, die Gabel durch und irgendetwas unnachgiebiges, wahrscheinlich der Motorblock, setzte auf. Ich reagierte instinktiv, brachte die Fuhre und das Lenkerschlagen unter Kontrolle, fixierte den Kurvenausgang und hing auch schon wieder am Gas. Ich schaffte es bis zum Gipfel dran zu bleiben, dort war eine Pause fällig, die Ducati-Fahrer dachten offenbar genauso. Ich stellte die Dicke ab und hatte Mühe auf meinen wackeligen Beinen zu stehen. Ich war gespannt auf ihre Gesichter, waren es junge Wilde oder Alte Hasen? Sie nahmen die Helme ab, beide waren rund zwei Jahrzehnte älter als ich. Zu gerne hätte ich mich auch mit ihnen unterhalten, aber bei meinem französisch war das aussichtslos. Aber ein zufriedenes, adrenalininduziertes Lächeln und ein anerkennendes Nicken auf beiden Seiten sagten mehr als tausend Worte. Willkommen im Mopedover- 16.4. RÜCKZUG 89 sum, Irrer, danke für den Schuss. Kurz darauf kam mein Mitfahrer an, wir machten Pause und gaben den Monstern einen ordentlichen Vorsprung. Wir hatten es schon übertrieben und schließlich hatten wir auch noch ein paar hundert Kilometer vor uns. Zwei Jahre später fuhren wir, in gleicher Konstellation, wieder Richtung Mopedoversum und kamen auch den Col de l’Iseran hinauf. Wir hatten Vald’Isère schon passiert und waren recht gemütlich unterwegs, aber in meinem Kopf spukten die Erinnerungen an unsere wilde Hetzjagd, die diese Strecke wieder wachgerüttelt hatte. Irgendwie fehlten mir die irren Ducati-Fahrer. Ich sah ihn im Rückspiegel kommen und konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen. Es war kein Ducati-Fahrer, aber er war flott unterwegs und überholte gerade meinen Mitfahrer, der mit Sicherheit das selbe dachte wie ich. Eine recht alte Rennmaschine von Suzuki zog an mir vorbei und ich klemmte mich mit knapp 100 m Abstand dahinter. Der Fahrer fuhr Hanging-Off, nutzte großzügig beide Fahrbahnspuren und war dennoch ein gutes Stück entfernt von der Geschwindigkeit der Ducati-Fahrer. Ich machte mir einen Spaß daraus jede Kurve ein wenig schneller zu fahren obwohl ich natürlich nur eine Spur nutzte und langsam holten wir auf. Er beschleunigte wild und bremste vor jeder Kurve stark ab während wir ihm mit deutlich sanfterer Fahrweise in jeder Kurve ein paar Meter abnahmen. Es musste sicherlich enttäuschend sein, wenn man es selbst mit solch einem übertriebenen Fahrstil nicht schaffte mit einer Rennmaschine zwei Tourer abzuhängen, aber seine Reaktion fand ich dann doch etwas übertrieben. Auf einer langen Geraden gab er Gas und vergrößerte den Abstand, dann fiel plötzlich ein kleiner Gegenstand von seinem Motorrad ab, überschlug sich und kam auf mich zugerast. Ich wich aus, umfuhr den Gegenstand, versuchte zu erkennen was es war und ich sah, dass es sich um ein Öldose handelte als sie genau neben mir aufplatzte. Mindestens ein halber Liter Öl bildete auf der Straße eine Pfütze. Bei Mario-Kart oder ähnlichem war das ja noch lustig, aber im wirklichen Leben mitten auf einer Passstraße? Mein Mitfahrer konnte noch halten und das Öl wenigstens grob beseitigen. Der Suzuki-Fahrer hatte uns damit tatsächlich abgehängt, aber als fair konnte man diese Herangehensweise nicht bezeichnen. . . 16.4 Rückzug Auch der schönste Urlaub war irgendwann zu Ende, denn schließlich musste das Geld, das man in dieser Zeit zum Fenster raus warf, auch irgendwann verdient werden. Der Heimweg war dann aber immer noch mehr Ziel als Weg und wir nahmen so viel Pässe wie möglich mit. Wir starteten also im Morgengrauen und kamen schon am frühen Nachmittag an der Grenze von Frankreich zur Schweiz an. 90 KAPITEL 16. ZURÜCK INS MOPEDOVERSUM Wir hatten schon einen großen Teil der Strecke geschafft, und da jede Übernachtung den Gegenwert von mehreren Tankfüllungen kostete, beschlossen wir in den letzten Jahren spontan einfach nicht anzuhalten. Auf direktem Weg war das kein Problem, aber fast 1 000 km über die Landstraße inklusive rund einem Dutzend Gebirgspässe war eigentlich zu viel für einen Tag. Auf der anderen Seite, die Strecken, die wirklich Konzentration erforderten, wurden bereits am Beginn des Tages befahren, in der Schweiz hatten wir noch wenige Pässe geplant. Zudem durfte man dort ohnehin nur schleichen und ab Deutschland war die Autobahn gut genug, die könnte man notfalls auch Nachts fahren. Alles kein Problem. Wir unterschätzten die Schweiz jedes Mal, selbst wenn die Erfahrungen aus dem Vorjahr noch präsent waren. Auf der Karte war dieses Land so winzig, aber man brauchte eine Ewigkeit um es zu durchqueren. Das lag zum einen daran, das wir ein Talent hatten in der Schweiz vom Weg abzukommen und erstmal eine Zeit lang in die falsche Richtung zu fahren, zum anderen an den Geschwindigkeitsbegrenzungen und dem, was die Leute daraus machten. Alle paar Meter wurden einzelne Häuser als Ortschaften deklariert und die Geschwindigkeit auf 50 begrenzt. Jedes Land interpretiert diese Begrenzungen etwas anders, in Deutschland waren +15% typisch. In der Schweiz -10%. Wo 50 erlaubt war, wurde 45 gefahren. Konsequent. Und überall Ferraris und Porsche, was wollte man denn mit so einer Karre in so einem Land anfangen? Die Landstraßen waren verstopft, Überholvorgänge daher nur selten möglich. Der Weg zog sich, langsam, unendlich langsam kamen wir voran, die Zeit verging nicht. Nichts erforderte Konzentration, keinerlei Abwechslung. Bei dieser Geschwindigkeit gab es nur noch Geraden. Die Sonne brannte auf uns herab und es gab keinen kühlenden Fahrtwind mehr. Die Lust war uns vergangen, aber jetzt waren wir schon fast durch, nur noch ein Bisschen durchhalten. Musik half in solchen Fällen, jedoch war ich meist ohne Musik-Player unterwegs. In einem Jahr fing ich sogar an zu dichten. Es war ein schreckliches Gedicht, aber es half um mich ein paar Stunden abzulenken und am Ende enthielt es alles, was ich je über das Fahren gelernt hatte. Im selben Jahr hatten wir uns mal wieder leicht verfahren und den Grenzübergang nicht gefunden, es war kurz nach Mitternacht und wir standen mitten in Basel. Deutschland war zum Greifen nah, aber wo war der Weg? Wir fuhren über eine Stunde im Kreis, versuchten nach dem Weg zu fragen oder mit Hilfe der Schilder weiter zu finden, landeten aber jedes mal an der gleichen Stelle: an der Autobahn Richtung Deutschland, die natürlich eine verdammte Vignette erforderte. Wir waren schon kurz davor ohne Vignette die Grenze zu überqueren und auf die Konsequenzen zu scheißen, als wir endlich einen kompetenten Fußgänger fanden, der uns den richtigen Weg zeigen konnte. In wenigen Stunden würden wir zu Hause sein. Diese wenigen Stunden zogen sich dann noch mehr in die Länge als wir befürchtet hatten. Es war nebelig und kalt und wir kamen nicht gut voran, 16.4. RÜCKZUG 91 zudem hatten wir Mühe nicht einzuschlafen und vom Motorrad zu fallen. Wenige Kilometer, bevor wir in der Heimat ankamen, fuhr ich an einer Tankstelle raus, ich brauchte dringend etwas um wach zu werden. Ich hatte es die letzten Stunden mit lautem Singen versucht und hatte den Text von “I will survive” immer und immer wieder in meinen Helm gebrüllt. Meinem Mitfahrer war es auch nicht besser ergangen, er hatte begonnen jede seiner Handlungen mit einem schreienden Kommentar zu begleiten, “Ich wechsele die Spur”, “Ich schaue auf den Tacho” und das auch seit mehreren Stunden. Wir tranken einen Kaffee, der nichts half, dann fingen wir an uns zu prügeln. Nicht richtig, nur um wach zu werden und Motorradkombis mit Protektoren bieten ein gutes Ziel um sich mal auszutoben. Durch die Bewegung gestärkt schafften wir die letzten Meter bis nach Hause, 21 Stunden hatten wir gebraucht, so lange wie noch nie. Endlich angekommen kam einer dieser sehr, sehr seltenen Momente: Ich freute mich den Sitz meines Motorrades gegen mein Bett eintauschen zu können. Aber nur um in meinen Träumen sofort wieder ins Mopedoversum zu fliehen, versteht sich.