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Im Turm
Roman
Rosy Loeffen
1. KAPITEL
T
erry zog sich die Kapuze etwas tiefer ins Gesicht. Es
regnete Bindfäden und sie hatte natürlich wieder den
Schirm zu Haus gelassen. Eilig öffnete sie die Autotür
und ließ sich mit einem leichten Stöhnen in den Sitz fallen. Ein Blick in den Spiegel zeigte ihr, dass die sorgfältig
vom Friseur drapierte Frisur jetzt in nassen Zipfeln von
ihrer Stirn herunterhing und am Hinterkopf aussah wie
ein welliger Pfannkuchen.
Na prima, damit hatte sie mal wieder 50 Euro zum
Fenster hinausgeworfen. Während sie den neuen
schwarzen Corsa aus der Parklücke manövrierte, drehte
sie am Innenspiegel, um mit einem kurzen Blick hinein zu
überprüfen, ob es da noch etwas zu retten gab.
»Vielleicht einen französischen Zopf oder …« Irgendetwas krachte links hinten, oder war es rechts? Terry
trat auf die Bremse.
»Schei…« Das Wort wollte sie sich auch schon lange
abgewöhnen. Ihrer Tochter sagte sie immer, das sei Gossensprache. Was war das jetzt? Nachdem sie um den
Wagen herumgegangen war, erkannte sie den Übeltäter. Eine Eisenstange! Was rammten die auch neben
einem Parkplatz eine Eisenstange in die Erde? Schließlich
konnte man doch nicht überall seine Augen haben!
»So ein Mist! Ich bin ja so blöd, blöd, blöd.«
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Mittlerweile war auch Terrys Jacke völlig durchnässt.
Der Wagen hatte in der Hintertür einen langen Kratzer
und eine Delle am Kotflügel. Der Friseurbesuch war also
richtig erfolgreich gewesen. Wie sag ich das bloß meinem Mann? Vielleicht konnte man ja mit ein bisschen
Politur … Leider war in der Garage nur noch eine dunkelblaue Flasche zu finden. Ob man da vielleicht auch
bei schwarzem Lack etwas ausrichten konnte? Terry
entschied sich für die Wahrheit, und nichts als die Wahrheit.
»Wollte sowieso kein neues Auto«, knurrte sie. »Immer dieser Stress mit den Beulen.«
Im Haus angekommen schlüpfte sie schnell aus den
nassen Sachen und föhnte sich die Haare trocken. Ein
Blick auf die Uhr zeigte ihr, dass sie noch eine knappe
halbe Stunde Zeit hatte, bis ihr Mann nach Hause kam.
Sie wollten heute Abend essen gehen, beim Türken, so
wie jeden Mittwoch. Als Terry in den Spiegel blickte,
schaute ihr ein frisches, leicht gerötetes Gesicht mit großen blauen Augen entgegen. Obwohl sie dieses Jahr 40
Jahre alt geworden war, konnte sie kaum eine Falte entdecken. Ihre Freundin meinte immer neidisch, dies seien
die Gene, aber heimlich war Terry davon überzeugt, dass
es das viele Schlafen war. Sie schlüpfte morgens, nachdem ihr Mann das Haus verlassen hatte, für ihr Leben
gerne noch mal in die Kissen. Ohne schlechtes Gewissen
fand sie, nachdem sie drei Kinder großgezogen hatte,
hätte sie sich das verdient. Terry war immer mit ganzem
Herzen Mutter gewesen, aber sie stand eindeutig auf
Kriegsfuß mit der Hausarbeit. Diese ausgetüftelten Tor8
ten und Desserts ihrer Freundinnen waren absolut nicht
ihr Ding. Sie pries die Erfindung der Backmischungen,
und geputzt wurde nur, wenn nötig und nicht wenn
irgendetwas dran war. Terry hasste Pläne und unnötige
Vorschriften und deshalb machte sie sich auch selbst
keine. Noch immer liebte sie es, sich mit Kindern zu beschäftigen und ihnen beim Start ins Leben zu helfen.
Deshalb gab sie an ein paar Nachmittagen in der Woche
Nachhilfeunterricht in Englisch und Spanisch.
Terrys schulterlange, blonde Haare standen vom
schnellen Föhnen in alle Himmelsrichtungen ab. Nein, so
konnte sie unmöglich vor die Tür. Schnell füllte sie einen
Kochtopf mit Wasser und warf ein paar Plastikwickler
hinein. Diese Lockenwickler waren ihrer Meinung nach
die zweitbeste Erfindung des Jahrhunderts, direkt nach
den Kuchenfertigmischungen. Vorsichtig fischte sie die
heißen Lockenwickler mit den Fingern aus dem fast kochenden Wasser.
»Autsch!« Wo war bloß wieder diese rote Plastikzange? Na ja, es würde auch so gehen. Als sie versuchte,
den Kopf mit den Lockenwicklern durch den neuen Rollkragenpullover zu zwängen, flogen ein paar davon herunter und sie entschied sich für die blaue Bluse mit großem V-Ausschnitt. Nervös zerrte sie an den vorderen
Rändern, um sie über der Brust zusammenzuziehen.
Wieso wurden diese beiden Kugeln nur immer dicker?
Außerdem machte die hellblaue Farbe viel zu füllig. Ein
Hoch auf die Stretch Jeans! Nur die Bündchen könnten
etwas stretchiger sein. Also ließ Terry den obersten
Knopf offen und kaschierte die aufstehende Bluse mit
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einer schwarzen Weste. Eine schwarze Weste war ein
unbedingtes Muss im Kleiderschrank jeder pummeligen
Frau.
Das Telefon klingelte, als sie gerade die Schublade mit
den Socken durchsuchte, um ein passendes Paar zu finden. Neulich war ihr in der Bibliothek ein Buch aufgefallen, das dem Phänomen der verschwundenen Socken
auf den Grund ging. Mehrere Theorien wurden erörtert,
wobei Terry die mit den Außerirdischen, die die einzelnen Socken stehlen, am einleuchtendsten erschien.
Während Terry mit der rechten Hand die Lockenwickler gekonnt von den Haaren löste, ertastete sie mit der
linken ein Glas in der Küchenvitrine und füllte es mit
Wasser. Geschickt öffnete sie ein Döschen mit Pillen.
Ohne zu überlegen, in Gedanken ganz darauf konzentriert, noch rechtzeitig fertig zu werden, warf sie sich
einige der kleinen rosa Tabletten in den Mund.
Während sie diese mit einem Schluck Wasser hinunterspülte, fiel ihr auf, dass sie die kleinen Dragees nicht
gezählt hatte. Waren es nun zwei oder drei oder vielleicht sogar vier, wie der Arzt ihr empfohlen hatte?
»Wird schon nicht so tragisch sein«, murmelte sie vor
sich hin. Schließlich fühlte sie sich blendend. Am liebsten
hätte sie die ganze unnötige Chemie sowieso gar nicht
genommen. Als sie sich mit den Händen durch die blonden Locken fuhr, entdeckte sie auf dem Küchentisch
zwei Briefe. Die hatte Kevin, ihr jüngster Sohn, der noch
zu Hause lebte, wohl aus dem Briefkasten geholt. Mit
einem flüchtigen Blick auf die Uhr griff Terry nach der
Post. Jeden Moment musste ihr Mann, Peter, nach Hau10
se kommen. Was war das denn, ein Brief von Onkel
Armin? Der hatte sich doch bestimmt schon zehn Jahre
nicht mehr gemeldet. Hastig riss sie das Kuvert auf. ,Dort
stand mit zittriger Hand geschrieben:
Liebe Terry,
ich schreibe dir, weil ich vorhabe, für eine längere
Zeit, vielleicht auch für immer, nach Amerika zu
gehen. Mit meiner Gesundheit steht es nicht zum
Besten und ich denke, dass man mir dort besser
helfen kann. Ich habe euch doch einmal von einem
alten Turm erzählt, der mich so faszinierte. Dort
wohne ich nun schon seit zehn Jahren. Er steht auf
der Höhe des Westerwaldes, und man kann von
dort aus in alle Richtungen das Tal überblicken. Ich
nenne ihn immer meinen ›Rapunzel-Turm‹.
Terry musste lachen. Das sah ihm ähnlich, dem alten
Einzelgänger! Onkel Armin hatte vor zwölf Jahren seine
Frau verloren und tauchte seitdem noch nicht einmal
mehr zu Jubiläen und Feiertagen auf. Er war schon immer ein etwas schweigsamer und eigenbrötlerischer
Mensch gewesen, der sich von anderen nicht gerne ihre
Meinung aufdrängen ließ. Es machte ihm seit jeher Spaß,
alles so zu tun, wie seine Mitmenschen es von ihm garantiert nicht erwarteten. Terry las weiter:
Der Turm verfügt über einen großen, runden Raum,
der überall große Fenster hat, die aber bei Nacht
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mit schweren Metallplatten, die man einfach von
der Seite her davor schiebt, verdunkelt werden
können. So wird aus meinem Rapunzel-Turm eine
richtige Festung. In der Mitte des Raumes befindet
sich eine voll eingerichtete Küche, und ein Bad gibt
es auf der Hälfte des Turmes. Ich beschreibe dir,
liebe Terry, alles so genau, weil ich dich bitten
wollte, auf meinen Rapunzel-Turm ein Auge zu haben, und vielleicht würden dein Mann und du dort
gerne einen einsamen romantischen Urlaub
verbringen.
Das war ja eine Überraschung!
Lächelnd wollte Terry den Brief wieder in das Kuvert
stecken, da fühlte sie plötzlich einen Schlüssel zwischen
ihren Fingern. Er sah ein wenig rostig aus. Wahrscheinlich war das der Schlüssel zum Eingang des Turmes.
Schade, dass Onkel Armin seinen Turm nicht selbst bewohnen konnte, andererseits war es total lieb von ihm,
immer noch an sie zu denken. Natürlich würde sie auf
sein kleines Anwesen aufpassen. An der beigelegten
Wegbeschreibung erkannte sie, dass der Turm sich etwa
eine Stunde Fahrzeit mit dem Auto von ihrem Zuhause
entfernt befand. Da hatte sich der alte Heimlichtuer zehn
Jahre lang ganz in der Nähe befunden und nichts von
sich hören lassen. Terry schaute auf die Uhr. Seltsam!
Peter war immer noch nicht da. Na ja, da hatte sie ja
noch Zeit, den zweiten Brief zu lesen. Er war auch an sie
adressiert. Die Handschrift auf dem Kuvert kannte sie
nicht und ein Absender war auch nicht vorhanden. Wäh12
rend Terry die wenigen Zeilen überflog, wurde ihr
schwindelig und sie fing an zu zittern. Unbemerkt
schossen Tränen aus ihren Augen, die sie gedankenlos
mit ihrer Zungenspitze auffing. Der Brief war am Computer getippt und sehr knapp gehalten.
Sehr geehrte Frau Moreno,
als gut meinender Zeuge möchte ich Sie gerne davon unterrichten, dass ihr Mann eine junge, gut
aussehende Geliebte hat. Wundern Sie sich nicht
mehr über die häufigen Verspätungen und das abgestellte Handy. Er ist dann bei Ihr.
Keine Unterschrift.
Terrys Zittern verstärkte sich, als das Telefon klingelte.
Es war Peter. »Hallo Schatz, hast du schon gewartet? Ich
weiß, wir wollten heute Abend essen gehen. Aber ich
bin hier im Büro aufgehalten worden. Wir haben noch
eine Verhandlung mit einem schwierigen Kunden. Ich
hab mich gerade mal davongeschlichen, um dir Bescheid
zu geben. Sei nicht traurig. Du weißt ja, wie das ist. Ich
liebe dich.«
»Ich dich auch!«, flüsterte Terry mit erstickter Stimme,
und schon wurde am anderen Ende der Hörer aufgelegt.
Peters Stimme hatte liebevoll geklungen, vielleicht zu
liebevoll. Völlig außer sich nahm Terry den Brief, zerriss
ihn in kleine Fetzen und warf diese auf den Fußboden.
Doch das änderte nichts daran, dass sich die Worte tief
in ihrem Gehirn eingegraben hatten. Auf einmal fiel ihr
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ein, wie sehr Peter sich in letzter Zeit verändert hatte. Sie
hatte diese Veränderung immer auf den Stress in seiner
Firma zurückgeführt. Erst vor drei Monaten war er zum
regionalen Verkaufsleiter befördert worden. Abends
schlief er immer vor dem Fernseher ein, und wenn sie
mal spazieren gingen und sie nach seiner Hand greifen
wollte, dann steckte er sie schnell in die Manteltasche. Es
kam auch immer häufiger vor, dass er sie wegen Kleinigkeiten vor anderen blamierte. »Meine Frau stellt immer
die ganze Küche auf den Kopf, wenn sie ein Essen zubereitet«, hatte er erst letztens Freunden erzählt. »Dann
bleibt das reinste Schlachtfeld zurück.« Er fand schon
lange keinen Grund mehr, sie zu loben. Die Tatsache,
dass sie in achtstündiger Kleinarbeit das verschnörkelte
Geländer im Flur neu gestrichen hatte, wurde nur mit
einem »Hm, gut« quittiert. Terry war daran gewöhnt,
dass er ihr jeden Tag mindestens einmal sagte, dass er
sie liebte. Wenn die ersehnten Worte jetzt einmal ausblieben und sie ihn zärtlich fragte: »Na, liebst du mich
noch?«, dann antwortete er nur mit einem tiefen,
brummigen und leicht genervten Ton: »Ja klar!« Es waren Kleinigkeiten, natürlich, aber es waren tausend Kleinigkeiten, und auf einmal fiel es Terry wie Schuppen von
den Augen. Peter liebte eine Andere. Sie war sich ganz
sicher. Sie hatten in letzter Zeit öfter gestritten. Es ging
immer um unwichtige Dinge, wie einen abgelaufenen
Joghurt im Kühlschrank oder die falsche Tiramisu-Marke,
wann man am besten schlechte Nachrichten erzählte
und warum wieder so ein blöder Stau die Autobahn verstopft hatte. Aber Peter konnte nicht mehr wie früher
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darüber lachen. Er nahm jedes Wort tierisch ernst und
legte es auf die Goldwaage. Und er war unbeugsam und
stur, unbeirrbar in dem, was er sagte, tat und dachte.
Mit anderen Worten: Er war, wie er nie gewesen war,
widerlich arrogant. Und es gefiel ihm, so zu sein. Wie
hatte sie nur so blind sein und über all diese Veränderungen in seinem Wesen hinwegsehen können? Wie der
berühmte Vogel Strauß hatte sie in unbewusster Angst,
dass irgendetwas Schreckliches passieren könnte, den
Kopf bis zum Hals in den Sand gesteckt und drohte jetzt
zu ersticken.
Plötzlich wurde Terry fürchterlich übel. Das Zimmer
schien sich um sie herum zu drehen und aus ihrer Kehle
kam, ohne dass sie es wollte ein Schrei. Nein, nein, das
konnte er ihr doch nicht antun, nach so vielen Jahren.
Sie hatten jung geheiratet. Terry war erst achtzehn Jahre
alt gewesen und in drei Jahren hatten sie eine große
Silberhochzeit geplant mit allen Verwandten und Freunden. Wütend trat sie gegen den Küchenstuhl und warf
die Kaffeetasse ins Spülbecken, wo sie zerbrach. Und
dann wurde sie auf einmal ganz ruhig. Im Schlafzimmer
holte sie den alten, braunen Koffer vom Schrank und
stopfte mechanisch alles was sie gerade fand hinein:
Pullover, Hosen, Röcke, Unterwäsche, Schlafanzüge.
Im Bad füllte sie eine Plastiktüte mit Handtüchern und
Kosmetikartikeln, die sie auf dem Regal fand. Eine zweite
Tüte brauchte sie für wild durcheinander geworfene
Schuhe und Stiefel. Ohne zu überlegen griff sie nach
dem schwarzen Wintermantel, der an der Garderobe
hing. In der linken Tasche fand sie wie immer den Auto15
schlüssel. Schnell raffte sie den Koffer und die Tüten
zusammen. Gerade noch rechtzeitig fiel ihr der Brief von
Onkel Armin ein. Er lag auf dem Küchentisch. Kurz zögerte Terry, bevor sie danach griff und ihn in ihre Handtasche steckte. Erregt rannte sie dann zwischen Küche
und Büro hin und her, während sie immer wieder die
kleinen Fetzen des anderen Briefes im Auge hatte. Sollte
sie wirklich einfach verschwinden? Doch dann warf sie
energisch den Kopf in den Nacken. Hier konnte sie es
keine Minute länger mehr aushalten.
Sie zitterte leicht, als sie das Haus verließ. Sie wollte
weg, ganz einfach nur weg von hier.
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2. KAPITEL
P
eter schaute der jungen Frau ihm gegenüber tief in
die dunklen Augen. Was reizte ihn nur so an ihr? Mit
einem selbstbewussten Lächeln erwiderte sie seinen
Blick, bis er zur Seite schaute.
»Möchtest du noch ein Dessert?«, fragte er, um seine
leichte Verlegenheit zu überspielen. Doch sie schüttelte
den Kopf. »Ich glaube, es wird Zeit für mich«, meinte sie
und schaute dabei auf die Uhr. Wieder einmal war sie es,
die ihr Zusammensein beendete. Peter fragte sich, ob er
vielleicht nicht interessant genug für sie sei. Andererseits
hatte sie bisher noch nie eine Einladung abgelehnt.
»Deine Frau wartet sicher. Hast du sie angerufen, als
du eben kurz weg warst?«, fragte sie beiläufig.
Peter fühlte sich ertappt. »Ja, ich hab gesagt, dass es
etwas später wird, wegen eines wichtigen Kunden. Was
man so sagt eben.«
»Was man so sagt?« Die junge Frau lächelte süffisant
und zog eine Augenbraue nach oben. Ihr Blick, der ihn
traf wie ein eiskalter Windstoß, war halb spöttisch, halb
arrogant. »Siehst du, deshalb bin ich nicht verheiratet. Es
würde mich tierisch nerven, immer anrufen zu müssen,
wenn es ein wenig später wird. Aber du sagtest, deine
Frau ist nicht berufstätig, oder?« Peter nickte, während
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er auf seiner Unterlippe herumkaute. »Wahrscheinlich
kann sie sich nicht vorstellen, wie es ist, berufstätig zu
sein, aber das ist nicht mein Problem.« Doreen, Peters
Begleiterin, schaute sich suchend nach dem Kellner um,
so als hätte sie es eilig wegzukommen.
»Weißt du, so einfach ist das alles nicht. Terry macht
sich oft Sorgen. Sie hat Angst, dass mir etwas zugestoßen sein könnte. Vor einem Jahr war das ganz schlimm.
Ich hab da wirklich die Hölle mit ihr durchgemacht. Sie
hörte auf einmal Stimmen, die ihr sagten, ich hätte einen
Unfall gehabt oder wäre mit einem Herzinfarkt ins Krankenhaus eingeliefert worden. Manchmal sah sie sogar
imaginäre Polizeibeamte an unserer Haustür, die ihr
schlechte Nachrichten überbrachten. Zum Glück, kann
man sagen, stellte ein Neurologe Schizophrenie bei ihr
fest und verordnete ihr Psychopharmaka. Diese Medikamente waren wirklich unsere Rettung. Es geht ihr inzwischen fast gut. Geblieben ist nur eine gewisse Überbesorgtheit oder Ängstlichkeit.«
»Das muss ja alles schrecklich für dich gewesen sein.«
Doreens Stimme hatte nun einen warmen tiefen Ton.
Vorsichtig suchten ihre Augen seinen Blick und ihre
Hand griff nach der seinen, die krampfhaft ein leeres
Wasserglas festhielt. »Weißt du was, ich bestelle mir
noch ein Glas Weißherbst, magst du auch einen?«
Peter nickte erleichtert.
Diese Frau überraschte ihn immer wieder. Auf der einen Seite konnte sie hart, arrogant und unheimlich zäh
sein und dann war da diese weiche, manchmal sogar
unsichere Seite an ihr. Irgendwie hatte ihn in den letzten
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Wochen dieses kleine, zarte Geschöpf mit dem krausen
Wuschelkopf immer mehr in den Bann gezogen.
»Es ist nicht leicht, wenn man mit Menschen zusammenlebt, die irgendwie immer abhängig von einem
sind«, sinnierte Doreen, während sie an ihrem Glas Wein
nippte. »Ihre Abhängigkeit bedeutet automatisch für
dich, dass du Stück für Stück deine Unabhängigkeit verlierst.«
Peter lehnte sich nach vorn und stützte seine Arme auf
den Tisch. Sollte da tatsächlich ein Mensch sein, der seine Probleme verstand? »Ja, ich weiß manchmal gar
nicht, wie ich Familie und Beruf unter einen Hut bekommen soll. Ich habe immer mehr das Gefühl, als würden alle um mich herum Druck auf mich ausüben.«
Die junge Frau lächelte, während sie Peters Hand zu
sich herüberzog und seine Finger zärtlich massierte.
»Wenn eine Beziehung funktionieren soll und beide
Partner glücklich werden, dann muss einer dem anderen
genügend Freiraum lassen.«
Peter seufzte. Er hatte das Gefühl, als hätte jemand all
seine Probleme auf den Punkt gebracht. Unwillkürlich
musste er denken, wie es denn wäre, so eine starke und
unabhängige Partnerin an seiner Seite zu haben.
»Weißt du, viele Dinge tut man, weil man denkt, dass
man sie tun muss, aber in Wirklichkeit möchte man das
schon lange nicht mehr.«
Langsam näherten sich Peters Lippen denen der jungen Frau. Doch Doreen ließ seine Hand los und lehnte
sich wieder zurück. Trotzdem blieb ihre Stimme sanft
und einfühlsam, als sie sagte: »Ich glaube, es geht vielen
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Menschen so. Deshalb finde ich, man sollte sich nicht für
ein ganzes Leben festlegen, indem man heiratet. Aber
das muss jeder selbst wissen. Für mich ist das nichts;
Häuschen bauen, immer an einem Ort leben und bis
zum Rentenalter derselben Firma treu bleiben. Wie du
weißt, bin ich erst vor drei Monaten von München hierher nach Köln gezogen. In meiner Wohnung stehen nur
ein Bett, ein Schreibtisch und eine Einbauküche. Meine
Kleider hab ich an eine Stange gehängt, da brauch ich
nicht lange zu suchen. Ob du es glaubst oder nicht, ich
fühle mich da total wohl.«
Peter lachte. »Ehrlich gesagt, hab ich gedacht, du hättest so eine minimalistische Designerwohnung, alles in
weiß und in der Ecke würde ein schrecklich unbequemer,
roter Designerstuhl platziert sein.«
Doreen stellte ihr leeres Glas auf den Tisch zurück.
»Weißt du was, meine Wohnung ist nur zehn Minuten
mit dem Auto von hier entfernt. Was hältst du davon,
ich zeig dir meine Wohnung und koch dir einen starken
Kaffee. Du hast zwar nur das eine Glas Wein getrunken,
aber nach einem Kaffee oder Espresso schaffst du die
Stunde Autofahrt sicher besser.« Erwartungsvoll schaute
Doreen ihr Gegenüber an.
Peter schwieg. Seinen Kopf stützte er auf seine linke
Hand und als er die Augen schloss, sah er Terrys Gesicht,
ihre lieben blauen Augen und die blonden Locken, die ihr
weiches Gesicht umspielten. Er liebte Terry, wie konnte es
da sein, dass er sich so zu dieser Frau hingezogen fühlte?
»Peter, du musst wissen, was du tust, du bist verheiratet. Wenn du Sorgen hast wegen deiner Frau …« Do20
reens Stimme klang gleichgültig und kein bisschen beleidigt.
»Ja klar, ich komm noch mit«, hörte sich Peter sagen.
Als er später mit ihr im Auto saß, versuchte er nicht
mehr an Terry zu denken. Heute war heute, und schließlich hatte er nicht vor, sie zu betrügen.
Draußen regnete es Bindfäden. Der Scheibenwischer
quietschte und konnte den fallenden Regen nicht schnell
genug beiseite wischen. Obwohl Peter nicht mehr erkennen konnte als die Rücklichter des Wagens vor ihm, fuhr er
mit 180 Stundenkilometern auf der Autobahn Köln Richtung Olpe. Es war 3:00 Uhr mitten in der Nacht. Wie sollte
er Terry diese ungewöhnliche Verspätung nur erklären? Er
hatte noch nie mit einem Kunden um diese Uhrzeit verhandelt, mochte er so schwierig sein wie er wollte. Ob sie
wohl schon schlief? Bestimmt nicht. Sicherlich machte sie
sich große Sorgen. Aber es war seltsam, dass sie noch nicht
auf seinem Handy angerufen hatte. Er hatte es abgestellt,
als er die Wohnung von Doreen betrat. Warum wusste er
auch nicht, denn da war doch alles noch ganz harmlos
gewesen. Aber er wollte nicht gestört und schon gar nicht
irgendwie unter Druck gesetzt werden. Sie hatten einen
starken Espresso getrunken und Doreen hatte ihre langen
schlanken Beine übereinander geschlagen, sodass ihr kurzer
Rock einige Zentimeter hinauf gerutscht war.
Peter fuhr sich mit der Hand über die schweißnasse
Stirn, so als könnte er damit wegwischen, was dann geschehen war. Irgendwie war es dann doch passiert und
er selbst hatte die Initiative ergriffen.
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Ich hab mir ein bisschen Ablenkung verdient, war ihm
durch den Kopf gefahren, so als handle es sich nur um
einen Kinobesuch oder einen Kurzurlaub. Er hatte sich
selbst leidgetan, wegen allem – der Arbeit, Terrys Krankheit und dem ganzen übrigen Stress.
Peter schaltete das Radio an und suchte einen Sender,
in dem sie die neuesten Nachrichten brachten. Er musste
auf andere Gedanken kommen. Doch überall ertönte nur
Musik, die seine Stimmung noch verschlimmerte. Er fühlte sich verwirrt, euphorisch, schuldig und gleichzeitig
wütend darüber, dass ihm so etwas passiert war.
Wie es Doreen wohl ging? Er hatte fast fluchtartig ihre
Wohnung verlassen. Ob sie sich Hoffnung auf eine Beziehung machte? Nein, wahrscheinlich war sie total cool
wie immer. Was wollte sie schon mit einem alten Knacker wie ihm? Schließlich war sie 15 Jahre jünger als er
und selbst erfolgreich und finanziell gut gestellt.
Peter merkte gar nicht, dass er die Autobahn verlassen
hatte und nun vor seinem Haus stand.
Merkwürdig, Terrys Auto war nicht in der Garage. Wo
mochte sie sich um diese Uhrzeit herumtreiben? Sie
würde sich doch wohl nicht auf die Suche nach ihm begeben haben? Das wäre ja völlig verrückt. Vielleicht hatte sich Kevin ihren Corsa ausgeliehen. Schnell stellte Peter seinen Wagen ab und rannte die Stufen hinauf zur
Haustür. Sie stand einen Spalt breit offen. Im Flur lagen
Terrys Schals und einige Paar Schuhe auf dem Fußboden
herum, so als hätte jemand fluchtartig das Haus verlassen. Peter betrat die Küche. Auch hier herrschte ein Riesendurcheinander. Papierfetzen lagen auf der Erde he22
rum, ungewaschenes Geschirr stapelte sich in der Spüle
und Kevin hatte anscheinend sein Essen auf dem Tisch
stehen lassen. Terry hätte das normalerweise weggeräumt, bevor sie ins Bett gegangen wäre.
»Terry! Terry!«, rief Peter durchs Haus. Es war ihm
klar, dass sie sich auch im Schlafzimmer nicht befinden
würde. Trotzdem öffnete er die Tür. Das Bett war nicht
angerührt worden. Peters Herz klopfte zum Zerspringen.
Irgendetwas Furchtbares war passiert und er war schuld.
So schnell er konnte rannte er die Stufen zu Kevins Zimmer hinauf und riss diesen aus dem Schlaf.
»Weißt du, wo deine Mutter ist? Hat sie dir gesagt, wo
sie hin will?«, schrie er seinen schlaftrunkenen Sohn an.
»Nein, keine Ahnung. Sie war nicht da, als ich nach
Hause kam. Ich habe etwas gegessen und mich dann
hingehauen. Wie viel Uhr ist es denn?«
»4:00 Uhr, und sie ist immer noch nicht zurück.«
»Und wo kommst du her?«, fragte Kevin mehr beiläufig.
Doch Peter schrie ihn an: »Das geht dich überhaupt
nichts an. Ich bin dein Vater und kann nach Hause
kommen, wann ich will.«
Kevin schaute seinen Vater an, als hätte dieser den
Verstand verloren.
»Wir sollten vielleicht bei der Polizei nachfragen, ob
jemand einen Unfall gehabt hat«, meinte er nun auch
besorgt und sprang aus dem Bett. Peter rannte hinunter
zum Telefon. Immer wieder horchte er nach einem Motorengeräusch. Der Polizist, der sich am anderen Ende
der Leitung meldete, schien ziemlich gelangweilt. Nein,
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es hatte keinen Unfall gegeben und ins Krankenhaus war
auch niemand in den letzten Stunden eingeliefert worden. Seine Frau würde bestimmt jeden Moment zurückkommen. Peter warf den Hörer wütend auf die Gabel
und Kevin verzog sich wieder in sein Bett.
»Vielleicht ist sie bei einer Freundin«, meinte er noch
und war dann wieder in seinem Zimmer verschwunden.
Peter nahm das kleine gelbe Buch mit Terrys Privatnummern zur Hand. Sollte er wirklich jetzt noch bei ihren
Freundinnen anrufen? Die würden ihn sicherlich für verrückt erklären. Mechanisch zog er sich aus, während er
immer wieder nach draußen horchte. Er fand keine Ruhe, konnte nicht im Bett liegen bleiben. Ungeduldig geisterte er durch die Wohnung, bis er sich schließlich gegen
6:00 Uhr auf die Couch im Wohnzimmer legte und in
einen unruhigen Schlaf fiel..
Eine Stunde später weckte ihn das Telefon. Er konnte
sich kaum auf die Stimme am anderen Ende der Leitung
konzentrieren. Ob hier jemand einen Corsa mit dem
Kennzeichen AK-TY 444 fahren würde? Ja, das war Terrys Wagen.
»Was ist passiert?« Peter schrie die Worte in den Hörer. Man hatte das Auto eine Stunde entfernt auf dem
Westerwald gefunden. Anscheinend waren die Reifen im
Matsch am Straßenrand durchgedreht und das Auto war
quer über die Straße geschleudert worden, wo es gegen
eine Leitplanke donnerte und wieder zurück an den
Straßenrand geschmettert wurde. Außer einer Delle an
der Fahrerseite hatte es keinen Schaden abbekommen.
Peters Hand, die das Telefon umkrampfte, zitterte.
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»Aber meine Frau, was ist mit meiner Frau?«, schrie er
in den Hörer. Peter konnte nicht fassen, was er dann zu
hören bekam: Von Terry gab es keine Spur. Die Polizei
hatte im Umkreis des Autos alles abgesucht, aber es war
nichts zu finden gewesen. Der heftige Regen hatte sämtliche Fußabdrücke hinweg gespült, sodass man nicht
erkennen konnte, in welche Richtung die Fahrerin des
Wagens sich gewandt hatte. Sie würde sich sicherlich
bald gesund und munter melden. Nachdem Peter sich
den Standort des Autos hatte erklären lassen, fiel er erschöpft auf die Couch zurück. Das war ein Albtraum! Er
war in einem fürchterlichen Albtraum gefangen.
Regungslos starrte er an die Decke. Was hatte der Polizist gesagt? Terry würde sich sicher bald gesund und
munter melden? Aber warum hatte sie das bis jetzt nicht
getan? Und wo um alles in der Welt steckte sie bloß?
Was sollte er nur tun?
Kevin hatte heute einen freien Tag. Vielleicht hatte der
eine Idee. Welch ein Armutszeugnis! Jetzt musste er
schon seinen Sohn um Rat fragen. Mitten in Peters Gedanken hinein klingelte das Handy. Es war Doreen mit
ihrer hellen, immer fröhlich klingenden Stimme. Ob er
gut geschlafen hätte und ob sie sich in der Mittagspause
beim Italiener treffen sollten, anstatt in die Cafeteria zu
gehen, fragte sie ihn.
Plötzlich fiel Peter wieder ein, was in der vergangenen
Nacht passiert war.
»Hi Doreen«, seine Stimme klang trotz der Aufregung
sanft und liebevoll. Diese Frau war so verlässlich. Bei ihr
brauchte man nicht mit verrückten Ausrastern zu rech25