Eins und Alles - Dr. Herbert Huber

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Eins und Alles - Dr. Herbert Huber
„Labyrinthe“ – Drittes Kapitel
Herbert Huber
Philosophie und Ethik. Eine Hinführung
Band III: Ethische Labyrinthe
Drittes Kapitel
Eins und Alles
mysterium transfigurationis
Inhaltsübersicht
I. Das erste Kapitel: Loomings (III-5)
II. Sehnsucht nach Auflösung: Holländer, Dracula, Quasimodo (III-10)
1. Verschwinden (III-10)
2. Bewahrung der Identität (III-12)
3. Ewiges Selbst (III-12)
4. Erlösung (III-13)
5. Moby Dick (III-14)
III. Leitworte aus der Heiligen Schrift (III-14)
IV. Ismael (III-15)
A. Walfänger-Welt (III-15)
B. Der alte und der neue Ismael (III-18)
V. Die See (III-20)
A. Meer (III-20)
B. Mensch (III-23)
VI. Der Wal (III-25)
A. Der Wal als Sinnbild der Gottheit (III-26)
1. Personalität (III-28)
2. Selbstsein (III-33)
3. Urgrund und Gesetz des Daseins (III-35)
B. Der Wal als Prinzip der Auflösung des Einzelnen (III-36)
1. Die Weiße des Wals (III-36)
2. Einschmelzen (III-41)
3. Nichtigkeit (III-42)
4. Selbstverlust (III-44)
C. Der Wal als Prinzip der gleichzeitigen Affirmation des Einzelnen (III-46)
1. Vielfältigkeit des Wals (III-46)
2. Blühendes Skelett (III-48)
3. Regenbogen (III-49)
VII. Person und Ewigkeit (III-51)
A. Selbstbehauptung des Einzelnen (III-51)
1. Ahab (III-51)
2. Böses (III-52)
2.1 Die Bosheit Ahabs und des weißen Wals (III-52)
2.2 „in nomine diaboli“ (III-54)
2.3 Ahabs Gottesfrevel (III-54)
3. Liebe (III-55)
4. Theodicee (III-56)
5. Pip’s Vision (III-57)
6. Ismaels Erlösung (III-57)
B. Queequeg: Identität aus dem Anderen (III-59)
1. Echtes Selbstsein (III-59)
2. Das Selbst ist Setzung eines Anderen (III-60)
VIII. Absolutes (III-62)
A. Ismaels Überleben (III-62)
B. Trinität (III-64)
C. „Jenseits von dir, o reiner Geist“ (III-65)
IX. Finis (III-66)
1
„Labyrinthe“ – Drittes Kapitel
Drittes Kapitel
Eins und Alles
mysterium transfigurationis
(168) Der gerechte Ausgleich, in welchem alle Verletzungen und Verkürzungen, die ein
Einzelwesen im Laufe seiner Existenzspanne erleiden muss, wieder gutgemacht sein werden,
kann wegen der Inkommensurabilität der geraubten und der zum Ausgleich bestimmten Güter (§ 136) auf keine Weise, die Menschen sich vorstellen könnten, geschehen. Das Verlangen nach solchem Ausgleich kann aber um der Würde der Opfer willen auch nicht aufgegeben werden (§§ 137-140). So bleibt nur entweder der Verzicht auf eine dereinstige restitutio
in integrum, oder aber die Hoffnung darauf, dass eine Gottheit den Ausgleich zustandebringen und ihn den Geschöpfen unter anderen als irdischen Bedingungen anverwandeln möge.
Der Verzicht auf den Ausgleich führt letztlich zur Resignation dem Leben gegenüber: Die
existierenden Wesen müssen sich gegenseitig ausschließen, weil sie nur so sich voneinander
unterscheiden sie selbst sein können (§ 30). Daher ist das Leben zwangsläufig mit Leid und
Beeinträchtigung verbunden. Besteht nun keine Hoffnung auf Ausgleich dieses Leids, dann
kann das einzelne Wesen sich [ ] entweder resigniert in die Verletzung seines Selbstseins
finden und sie stoisch ertragen, [ ] oder (wie Albert Camus) im Namen des unverzichtbaren
Anspruchs auf unversehrtes Selbstsein eine ihrer Aussichtslosigkeit gewisse „Revolte“ gegen
die Unmöglichkeit solcher Integrität anheben1, [ ] oder aber den Anspruch des Selbstseins
auf Unversehrtheit aufgeben – und das heißt den Anspruch des Selbstseins auf Selbstsein
aufgeben. Das letztere ist die buddhistische und schopenhauersche Lösung: Aufhebung des
Willens zum Dasein. Das Abendland hat in seinen dominierenden Geistesströmungen immer
an der Unverzichtbarkeit des Anspruches auf Unversehrtheit des Selbstseins festgehalten. In
seiner philosophischen und theologischen Überlieferung wurde die Botschaft des Christentums von der Erlösung allen geschöpflichen Selbstseins durch den von Gott selbst in Christus
geleisteten Ausgleich ausformuliert und im Lauf seiner Geschichte zu reichen kulturellen
Lebensformen ausgestaltet. Dies Beharren auf der ewigen Geltung eines jeden einzelnen
selbstseienden Wesens macht das Christentum zum eigentlichen Antipoden aller Anschauungen vom Typ des Buddhismus, die als das wahrhaft Gültige nur die unterschiedslose Einheit, die Überwindung aller Individuation betrachten wollen.
(169) Herman Melville’s Moby Dick schildert und bedenkt den Kampf zwischen der abendländischen und der buddhistischen Sicht der Welt. Der Weiße Wal ist das Prinzip der Entindividualisierung, der Anihilation der ausdifferenzierten Einzelwesen. Ahab wehrt sich dagegen mit dem hybridem, titanischem Selbstbehauptungswillen des unbeugsamen Einzelnen,
mit einem Willen, der immer in der Gefahr steht, über der Selbstbehauptung des einen Einzelnen alle anderen zu vergessen und sie zur Affirmation des eigenen Selbstseins zu instrumentalisieren. Ahabs Selbstbehauptungswille ist daher ein potentiell böser Wille, denn für
ihn gilt nur ein einziges Wesen etwas, nämlich er selbst. Um sich selbst zu behaupten, opfert
er die ganze – im Walfangschiff versinnbildlichte (§ 170) – Welt. Der Wal Moby Dick gehört
nicht der Schiffswelt an, er ist kein Wesen in ihr, sondern die über ihr schwebende numinose
Macht2. Der Weiße Wal verhängt und wirkt der Welt Schicksal. Für ihn gilt gar kein einzelnes Wesen in ihr etwas, und nicht einmal die Welt als Ganzes zählt: er zerstört die differenzierte Schiffswelt, er zieht sie hinunter in die Dunkelheit der Tiefe des Ozeans, wo alles zur
1
Camus 1951
2
Band I, §§ 105; 108
2
„Labyrinthe“ – Drittes Kapitel
Unterscheidungslosigkeit zerfällt. Für Moby Dick zählt nur das unbestimmte Ganze des unendlichen Ozeans, das Eine Ganze, in dem unendlich viele Welten möglich wären, und das
die einzelne Welt verschlingt, weil sie hinter dem Ganzen aller möglichen Welten zurückbleibt und diesem All-Ganzen keinen Ausdruck verleiht und verleihen kann. So führt das
Prinzip Ahab ebenso wie das Prinzip des Weißen Wals jedes für sich zu einer Welt rücksichtsloser Zerstörung. Ahab ist böse, weil er das Ganze einem Einzelnen opfert; Moby
Dick ist böse, weil er alles Einzelne dem Ganzen opfert. Und dieser Bosheit fällt zugleich
auch alles Glück zum Opfer, denn wer wie Ahab alles außer sich selbst negiert, wer nichts
achtet, sich an keinem anderen Wesen um dessen eigener Wirklichkeit willen freut (sondern
an ihm nur das zu sehen und zu schätzen vermag, was seinen eigenen Nutzen ausmacht), –
der wird selber leer und ermangelt der Erfüllung. Und welche Macht wie Moby Dick sich nie
auf ein Einzelnes einlässt, nie bei einem Einzelnen verweilt, sondern es immer gleich überspringt und es flieht aus Angst, über dem einen das immer mögliche andere zu versäumen,
und es wegstößt, um ja frei zu sein für das nächste und je Neue, – eine solche Macht hat ebenfalls nie einen Inhalt, sie bleibt ewig leer.
(170) Böse und unglücklich zu leben, heißt schlecht und übel zu leben. Gut zu leben bedeutet, anständig und glücklich zu leben. Glücklich ist, wer an der eigenen Wirklichkeit von
Sachen und Personen Freude und Erfüllung findet. Der Böse zerstört um irgendwelcher minderer Ziele willen die Wirklichkeit anderer Wesen und Güter, die ihn im höheren Maße erfüllen würden. So ist die Bosheit dem Glück selbst abträglich. Anständig zu leben bedeutet, die
eigene Wirklichkeit auch der anderen Wesen zu achten. Damit erhält und erschließt sich der
Anständige gerade diejenigen Inhalte, an denen er Glück und Erfüllung finden kann. So ist
die Anständigkeit dem Glück zuträglich. So ähnlich haben Platon und Aristoteles argumentiert.3 Vollkommenes Glück ist nur bei vollkommener Anständigkeit möglich, d. h. nur dann,
wenn jede Beeinträchtigung, die irgendein Wesen irgendeinem anderen zugefügt hat (sei es
ein malum metaphysicum, physicum oder morale), ausgeglichen worden ist. Was wir wünschen, ist vollkommenes Glück. Teilweises Glück ist nicht das wirkliche Glück, auf das wir
eigentlich aus sind: „Denn nichts, was zur Glückseligkeit gehört, darf unvollkommen sein“4.
Wer gerade glücklich ist und in diesem Augenblick davon hört, dass irgendwo ein Kind grausam gequält wurde, der wird in seinem Glück gestört sein. Das Glück selber zeigt sich als
eines, das vollkommen sein will. Wir erleben den Glücksmoment als wäre in ihm unser ganzes Leben heil geworden und als könne uns kein Unglück mehr etwas anhaben. Gleichzeitig
wissen wir freilich, dass dem nicht so ist – was aber unserem Erleben, solange wir glücklich
sind (eigenartigerweise), nichts von seiner „Totalität“ oder Allumfassendheit nimmt. Das
eigentümliche Ewigkeitserleben des Glücks zeigt uns, dass Glück eigentlich vollkommenes
Glück ist, ohne dass wir es jedoch in dieser Vollkommenheit jemals wirklich ganz erleben
dürften und könnten. Es ist immer nur ein Vorschein vollkommenen Glücks.5 Aber es bleibt
dabei: Glück ist und will sein nichts anderes als vollkommenes Glück, ein Glück, das von
keine eigenen, aber auch von keinem Unglück irgendeines anderen Wesens getrübt ist – ohne
dass wir jedoch wüssten, wie wir diese universale Harmonie erreichen sollten. Dostojewski
hat das klar erfasst: „Da ich von der Natur auf meine Fragen nach dem Glück durch meine
eigene Erkenntnis nur die Antwort erhalte, daß ich nicht anders als einzig in der Harmonie
des Ganzen glücklich sein könne, ich aber diese Harmonie nicht verstehe und offenbar niemals zu verstehen imstande sein werde“ – da dies so ist, ziehe ich jedoch nicht die Konse3
Huber 2006-f; Huber 2006-c, §§ 18-22; Huber 2006-d §§ 44f, 49-52
4
Aristoteles: Nikomachische Ethik, X, 7 (1177 b)
5
Huber 2006-d, § 50
3
„Labyrinthe“ – Drittes Kapitel
quenz des dostojewskischen Selbstmörders, dass es gut sei, dieser Aporie durch den Tod zu
entwischen.6 Denn damit verkürzt man die Aporie auf das eine ihrer beiden Hörner: man verzichtet auf das Glück und die Harmonie gänzlich, man wählt eine Existenz, als ob es von
Glück und Harmonie auch nicht einmal einen Vorschein gäbe. Ebenso wäre es die umgekehrte Verkürzung der Aporie, wenn man sich in billige Vergnügungen stürzen wollte, um sich
durch beständige seichte Übertäubung aller Brüche und Disharmonien die Illusion eines ungetrübten Glückes vorzugaukeln. Wahr und ernsthaft ist im Grunde nur die Haltung, die Albert Camus die absurde Existenz nennt, eine Existenz, welche die ungelöste Aporie aushält.
Freilich liegt Camus darin falsch, dass er im bloß Absurden verharren will und die Hoffnung
auf eine Realisierung der vollkommenen Harmonie unter anderen als endlichen Existenzbedingungen für „philosophischen Selbstmord“ erklärt.7 So wie der reale Selbstmörder die
Aporie nach der Seite der Disharmonie auflöst, löse sie derjenige, der wie Dostojewski oder
Melville (den Camus ebenfalls ausdrücklich erwähnt, wenngleich er ihm fälschlich, wie aus
diesem Kapitel hervorgehen wird, eine bloß-absurde Haltung ohne metaphysische Hoffnung
zuschreibt8) auf die metaphysische Wirklichkeit der Harmonie hoffe, nach der anderen Seit
auf und entspreche damit genau dem Selbstmörder. Der reale wie der metaphysische Auflöser
der Aporie mordet gewissermaßen einen konstitutiven Teil der Existenz, nämlich eines der
beiden Aporienhörner. Aber es stimmt nicht, dass die metaphysische Hoffnung die Aporie
auflöst. Diese Hoffnung zielt auf das Paradox einer Harmonie, welche die Disharmonien
nicht zum Verschwinden bringt und sie in all ihrer ätzenden Schärfe doch so in die Harmonie
integriert, dass die Harmonie darüber nicht zugrunde geht. Wir vermögen nicht zu sehen und
zu sagen, wie dies möglich sein sollte. Eine vollkommene Harmonie zwischen dem Einzelnem und dem Ganzen, zwischen dem unterschiedslosen Einen und dem All der differenzierten Einzelwesen, ohne Verletzung bzw. mit ausgeglichenem Selbstsein, mit Ausgleich aller
Verletzungen – eine solche vollendete Harmonie ist unter den Bedingungen unserer endlichen Existenz weder denkbar noch realisierbar. Das ändert aber nichts daran, dass diese
Harmonie als sittliche Idee guten Lebens unser Denken, Streben und Handeln leitet, indem
sie uns (oft freilich vergeblich) drängt, gut statt böse zu handeln und mit jeder Beeinträchtigung unseres eigenen Glückes, wie des Glücks all derjenigen Wesen, an denen wir Anteil
nehmen, unzufrieden und traurig sein lässt oder uns gar zur „Revolte“ (§ 168) treibt.
(171) Die leitende Idee im Leben, sofern es ein humanes Leben sein soll, ist die kontrafaktische Idee der vollkommenen und ewigen restitutio in integrum, der endgültigen Erfüllung
menschlicher Sehnsucht nach der Verwandlung aller Gebrochenheiten unserer physischen
und moralischen conditio humana in eine Existenz, die mit sich und dem Rest des Universums bruchlos und harmonisch in völligem Einklang steht. Im Moby Dick wird dieses Hoffnungsbild vierfach entworfen:
[a]
Als Harmonie von Weiß und Farbe (Einheit und Mannigfaltigkeit): Die wahre und
echte Wirklichkeit ist nicht das leere Eine. Der Regenbogen ist das Bild einer Hoffnung, dass die Vollendung sich von selbst aus jenem Schicksal heraus mache, das über den Menschen als das All der autarken Mächte herrscht, und das der Mensch nicht
6
Dostojewski 1906, 258 (Tagebuch eines Schriftstellers, Oktober 1876). Diese Harmonie ist die vollkommene
restitutio in integrum: „Man hat auch nichts zu verzeihen, da es schon nichts mehr gibt, was zu verzeihen wäre“
(Dostojewski 1871/1872, 867 [Die Dämonen, Dritter Teil, V]). Alles Unrecht scheint ungeschehen gemacht.
Die Disharmonien sind nicht aufgelöst: Ihre einstmalige Existenz wird vorausgesetzt („da es schon nichts mehr
gibt, was zu verzeihen wäre“ – aber früher gab es solches). Aber es ist, als ob sie nie gewesen wären.
7
Camus 1942, 42-68
8
Camus 1942, 146
4
„Labyrinthe“ – Drittes Kapitel
zu beherrschen vermag. Die einheitliche, leere, tote Weiße des Wals erstrahlt plötzlich
in der mannigfaltigen, reichen, lebendigen Pracht des Farbenspektrums.
[b]
Als Harmonie aller Einzelwesen in einer Einheit jenseits des buddhistischen Gottes:
Das endliche Treiben ist nicht blind, sondern gelenkt durch intelligente Vorsehung. Es
gibt Ziel und Zweck im Universum, nämlich einen seligen, friedlichen Hafen für jeden einzelnen.9
[c]
Als Harmonie zwischen Untergang und Erlösung. Im Untergang verschwindet das
Geschehen nicht, sondern es geht ein in das Gedenken irdischen Erzählens, das jedoch
ein Vorschwein ist des ewigen Präsentbleibens in Gott (vgl. den Epilog des Moby
Dick). Der Einzelne ist nicht gleichgültig, seiner wird ewig gedacht.
[d]
Als Harmonie zwischen einander verfeindeten Einzelwesen: Die Haie sind „harmlos“
wie die wilden Tiere bei Isaias. Bei der Ausfahrt aus Nantucket wurde das Lied der
Hoffnung auf das gelobte Land gesungen, welches das Alte Testament verhieß und
welches im Lichte des Neuen Testaments nicht mehr das irdische Land Israel, sondern
das Himmlische Jerusalem ist. Das Geschehen endet in der See der harmlosen Haie.
Durch diese Anspielung auf den Propheten Isaias erlebt der sich an alles erinnernde
Ismael einen Vorschein des ewigen Hafens, wie ihn schon Weißjacke verhieß10.
Zusatz: Einen solchen Glanz der Verwandlung kennt auch Franz Kafka. Alle Einzelheiten sind in eine Harmonie getreten, in welcher alles bewahrt ist, aber nichts mehr auffällig hervortritt. Alles ist überstrahlt von versöhnendem Licht: vom Glanz, der aus der Türe des Gesetzes bricht; vom Glanz des Bleistifts, der goldene Buchstaben schreibt; vom blendenden und glücklich machenden Licht im Korridor
des Gerichtsgebäudes). Der Glanz des Goldes ist in der Ikonographie seit jeher das Sinnbild der paradiesischen Vollendung (man schaue die Mosaike in Ravenna an). Dieses Glänzen ist die Verwandlung,
wie es bei Kafka ausdrücklich heißt11. Die Verwandlung als irdisch sichtbar werdender Vorschein der
ewigen Vollendung kennen wir von der transfiguratio, wie sie Christus widerfährt (Matth 17,1-9).
I. Das Erste Kapitel: Loomings
„... die überwältigende Vorstellung vom großen Wale selbst. Solch ein unheilträchtiges und
geheimnisvolles Ungetüm erregte meine ganze Neugier. Dann die wilden und entfernten
Meere, worin er seine inselgleiche Masse wälzte, die namenlosen und heillosen Gefahren
des Walfangs; dies alles sowie die tausend patagonischen Wunder, die dabei Aug und Ohr
bestürmen, drängten mich meinem Wunsche zu. Andere Menschen hätten sich durch derartige Dinge vielleicht nicht verleiten lassen; doch was mich betrifft, so peinigt mich ein
ewiger Kitzel nach Entlegenem. Ich liebe es, verbotene Meere zu besegeln und an barbarischen Küsten zu landen. Wenn ich das Gute auch nicht übersehe, habe ich doch ein waches Auge für das Grauen und könnte mich sogar damit anfreunden – wenn sie mich nur
ließen –, denn es ist nur recht, mit allen Insassen der Welt, in der man haust, auf gutem
Fuß zu stehen.
Aus diesen Gründen also war mir die Walfangreise willkommen; die großen Schleusentore der Wunderwelt schwangen auf, und inmitten der wilden Hirngespinste, welche mich
zu meinem Vorhaben drängten, trieben sie in meine innerste Seele, Paar für Paar, eine
9
Vgl. Melville 1850, 549
10
Melville 1850, 548ff
11
Kafka 1990-b, 346
5
„Labyrinthe“ – Drittes Kapitel
endlose Prozession von Walen, und, mitten unter ihnen, ein grandioses, verhülltes Phantom, gleich einem Schneeberg in den Lüften.“
Melville 1851, 40 (Kapitel 1)
(172) Herman Melville’s Moby Dick stellt Welt, Mensch und Gott im symbolischen Spiegel
des Wals, der Walfänger und eines Walfangschiffes dar. In dem ein Jahr vor dem Moby Dick
erschienenen Buch Weißjacke (1850) ist es ein Kriegsschiff, welches – wie es ausdrücklich
schon im Titel heißt – die Welt versinnbildlicht. Der Wal ist im Moby Dick Sinnbild der
Macht, die in allem Leben und all seinen Kräften am Werk ist: Vom Wal gehen die Bedrohungen, aber auch die Wunder des Lebens aus. Der Wal ist Inbegriff und Sinnbild der autarken Mächte bzw. Sinnbild der einen universalen autarken Macht, die alle partikulären Mächte
und Wirklichkeiten ordnet. Aber dies ist ein Begriff vom Wal, wie er sich erst aus der näheren Entwicklung des Romans ergibt. Am Beginn des Werkes ist der Wal sehr viel unbestimmter präsent. Zunächst ist es nur das Wort „Wal“, das genannt wird („Wortkunde“ vor
dem ersten Kapitel), ohne dass irgendeine nähere inhaltliche Vorstellung von dem Tiere gegeben würde. Gleich darauf aber deutet Melville eine Konkretisierung des abstrakten Wortes
an, indem er um es herum einen ganzen Kranz von Beschreibungen, Erzählungen und Beobachtungen, wie sie die Weltliteratur in Bezug auf den Wal kennt, legt („Auszüge“ vor dem
ersten Kapitel). Dies ist eine erste und vorläufige Konkretisierung – oder „Zusammenwachsung“12 – unterschiedlicher Aspekte der Wirklichkeit des Wals. Erst der ganze Roman ist
dann die ausgeführte Konkretion der abstrakten „Wortkunde“, weil er das Wort „Wal“ und
die von diesem Wort bezeichnete Sache in einhundertfünfunddreißig Kapiteln unter nahezu
allen denkbaren Perspektiven darstellt und die ganze Bedeutungsaura des Wortes entfaltet.
Dadurch ist das Wort dann zum Begriff der Sache geworden.13
(173) Wie aber kommt es dazu, dass Melville aus dem unreflektiert dahinströmenden Fluss
des unmittelbaren Lebens überhaupt etwas Bestimmtes herausgreift und es so zum Begriff
macht, von dem er dann zeigt, wie mit dem Wesen, das dieser Begriff bezeichnet, mit dem
Wal – und speziell mit diesem bestimmten, weißen Wal – die ganze Welt verflochten ist als
die konkrete Bedeutsamkeitsaura dieses einzelnen Wesens, welches daher die ganze Welt zu
versinnbildlichen vermag? Ausgangspunkt ist das unmittelbare Leben Ismaels, des Erzählers.
Er ist in eine Lebenssituation eingetreten, die er folgendermaßen umschreibt:
„... an Land reizte mich nichts Besonderes, und so dacht ich mir, ich wollt ein wenig herumsegeln und mir den wässerigen Teil der Welt besehen. ... Immer wenn ich merke, daß
ich um den Mund herum grimmig werde; immer wenn in meiner Seele nasser, niesliger
November herrscht; ... ist es höchste Zeit für mich, so bald ich kann auf See zu kommen.“
Melville 1851, 33 (Kapitel 1)
(174) Unser alltägliches unmittelbares Leben ist bestimmt und beherrscht von denjenigen
Dingen, die für den Einzelnen von besonderer Wichtigkeit sind und die ihn mit Beschlag belegen. Beruflich, privat, politisch – immer gibt es Dinge, die uns angehen, für die wir uns
einsetzen, weil wir sie bejahen, sie für bedeutsam halten. Ismael hingegen ist in eine kritische
Phase eingetreten. Die normalen Bedeutungen der Dinge sind ihm fremd geworden, „nichts
Besonderes“ gibt es mehr, das ihm wichtig genug wäre, dass er Aufmerksamkeit und Einsatz
dafür aufbringen möchte. Die einzelnen Inhalte des Lebens verschwimmen ihm, wie die Gegenstände verschwimmen, wenn draußen „nasser, niesliger November herrscht“. Dieser
12
Band II, 118f
13
Huber 2004-b; 2004-c; 2006-b; 2006-a, §§ 119ff
6
„Labyrinthe“ – Drittes Kapitel
November der Seele bedeutet innere Leere, Distanz zu sich und dem Alltag des Lebens. Denn
der Alltag hat seinen Sinn verloren: was immer Ismael erlebt, er erlebt es nicht mehr als zustimmungswürdig. Diesen Sinn sucht er wieder, er sucht danach, die fraglose Bejahungswürdigkeit des Daseins wieder zu erleben. Sogar im „Grauen“ glaubt Ismael etwas finden zu
können, mit dem sich anzufreunden – d. h. es als einen notwendigen und mitunter vielleicht
sogar nützlichen „Insassen der Welt, in der man haust“, zu akzeptieren – möglich ist. Dinge, die einen zunächst erschrecken und einem fremd sind, kann man nach und nach schätzen
lernen. Und selbst noch da, wo man entsetzt vor den großen Greueln der Weltgeschichte
steht, kann man zu verstehen versuchen, wie Menschen dazu kommen konnten, unmenschlich
zu handeln. Man versöhnt sich nicht mit dem Bösen, aber man versteht, dass Menschen durch
es gefährdet sind – und gewinnt daraus eine gewisse Erleichterung, dass einen selbst das Leben vor allzu großer Versuchung verschont hat. In diesem Sinne verstehe ich es, wenn Melville davon spricht, er könne sich mit dem Grauen „anfreunden“. Im Original sagt Ismael
vom Grauen, er könne „be social with it“. Das macht es noch etwas deutlicher: Es steht nicht
in unserer Macht, das Grauen (a horror) aus der Welt zu verbannen. Wir müssen mit dem
Schlimmen auskommen, und versuchen, Anständigkeit zu bewahren und Erfüllung zu finden,
trotz aller Versuchungen, Gefährdungen und Bedrohungen. Wenn es uns vergönnt ist, in dieser prekären Lage uns selber treu zu bleiben, dann stehen wir „auf gutem Fuß“ – on friendly
terms – mit der Welt, in der wir leben.14 Wenn aus dem Wasser das Leben stammt, so ist die
See doch auch das Element des Untergangs: Sie wirft Wale auf Felsen und zerschmettert
Schiffe. Sie ist vom „schönsten Azur“ und verbirgt darin das ganze „Grauen unseres kaum
gekannten Lebens“.15 Deshalb kann der Mensch nicht ohne die See und ihre Tiefe, aus der
ihm das Leben und dessen reicher Inhalt wächst, existieren, aber er kann auch nicht nur im
Meere leben: Er braucht „ein Eiland in des Menschen Seele, ein Tahiti voller Frieden, voller Freuden“16. Der Mensch ist kein Wesen des Meeres (auf dem Ozean ist er Spielball des
Naturgeschehens), noch ist er auch lediglich Landbewohner (auf dem Lande hat er Sehnsucht
nach dem Wasser als dem Sinnbild jener inneren Tiefe, aus der heraus er als subjektiver Repräsentationsraum des gesamten Alls existiert17). Der Mensch ist Insulaner, d. h. ein Wesen,
das inmitten des unüberschaubar bleibenden Horizontes eines Weltgeschehens lebt, dessen
Tiefe auf ihn wirkt und ohne welches sein Leben arm wäre, das er aber nicht ausloten kann.
Innerhalb dieses Horizontes hat er einen festen Stand, sein eigenes Inneres, in welchem ihm
bei allem Schrecklichen, das ihn umgibt, doch innerer Friede und Einklang entsteht, den in
allen Wirrungen festzuhalten seine Lebensaufgabe darstellt: „Gott schütze dich! Leg nicht
von jenem Eiland ab, denn du kannst nie zurück!“18
(175) Ismael sucht den Sinn in der geheimnisvollen Weite und Tiefe der See, nicht in den
flachen und engen Alltagsverhältnissen des Landes. Auch auf See muss der Alltag bewältigt
– das Schiff gesteuert – werden, aber dort hat man mit den Wundern der Tiefe zu tun. Man
gerät dort in Berührung mit den elementaren Mächten der Tiefe (die Wale, Haie und Kraken),
während man an Land nur an der Oberfläche existiert. Der Walfänger Melville’s ist der
Mensch, der sich den untergründigen Mächten öffnet, den Mächten, die aus dem Dunkel des Ozeans – aus den Tiefen der Wirklichkeit jenseits dessen, was sich der Helle des
14
Melville 1939, 11; Melville 1994, 26
15
Melville 1851, 442 (Kapitel 58)
16
Melville 1851, 442 (Kapitel 58)
17
Band I, §§ 51; 211-216
18
Melville 1851, 442 (Kapitel 58)
7
„Labyrinthe“ – Drittes Kapitel
Bewusstseins erschließt19 – heraufkommen, auf ihn einwirken, er stellt sich ihnen, lässt
sich von ihnen faszinieren, denn sie zeigen ihm unerhörte Weltinhalte, die alles übersteigen, was er von der Welt weiß. Wie der Walfänger materiell vom Wal lebt, so sucht
Ismael geistige und seelische Erfüllung seines Lebens und Erlebens in der „Wunderwelt“ des
Ozeans. Und er kämpft auch mit den Mächten der Tiefe, denn sie sind diejenigen Wirklichkeiten, welche die technische Herrschaft des Menschen über sich und die Welt übersteigen.
Ismael ist der Mensch, der sich das Gespür bewahrt hat für das Universum der autarken
Mächte, der Mensch, der sich nicht in den Stolz versteigt, zu glauben, ihm sei „der endgültige
Triumph der menschlichen Vernunft“ zuteil geworden und er würde „Gottes Plan kennen“.20
Es gibt immer mehr in der Welt, als was wir bewusst erfassen und beherrschen können – und
dieses Mehr ist es, was die Welt lebendig macht, weil es unvorhersehbar immer wieder Ungekanntes neu in das Erleben bringt.
„Obgleich schon Elephanten für lebensgroße Porträts Modell gestanden haben, ist der
lebende Leviathan bislang noch nie im Meer Porträt geschwommen. Den lebenden Wal in
seiner vollen Majestät und Bedeutung bekommt ihr nur auf See zu Gesichte, in
unergründlichen Gewässern, und wenn er schwimmt, ist sein gewaltiger Leib kaum zu sehen, gerad wie ein Linienschiff, wenn es vom Stapel gelassen, und es ist und bleibt für den
Menschen auf ewig ein Ding der Unmöglichkeit, ihn aus jenem Elemente in der vollen
Fülle seines Leibes in die Luft zu hieven, um all seine mächtigen Rundungen und Schwellungen zu erhalten“
Melville 1851, 428 (Kapitel 55)
(176) Wer offen ist für das Wirkliche jenseits der Berechenbarkeit, wer dem Leben etwas
abhorchen will, statt sich blind zu stellen dem gegenüber, was wahre menschliche Erfüllung
bietet; wer das Dasein nicht dem Diktat der Profitgeschäfte unterwirft, wer (beatus ille, qui
procul negotiis) sich an dem freut, was das Dasein ist, statt daran, dass er es manipulieren
kann; wer dem Dasein nicht vorschreiben will, wie es zu sein hat, sondern wer sich vom Daseins selbst Aufschluss darüber erhofft, wer er selber ist – wer so denkt und empfindet (gleich
wie Ismael), der hat keine festumzirkelten „Projekte“, mit denen er die Welt überzieht; der
weiß nicht von Anfang an genau, was eigentlich sein Gegenstand und Thema in der Welt ist.
Vielmehr tauchen einem solchen Menschen undeutlich und verschwommen die Dinge auf,
und langsam lässt er sich von ihnen selbst vertraut mit ihnen machen. Er lässt sich beispielsweise nicht von den Agenten der Wirtschaft und Technik sagen, was es mit der Welt auf sich
hat (weil eine solche Welt nicht mehr die Welt, sondern bloß die Interessen jener Agenten
widerspiegelt); vielmehr wird er zusehen, wie sich die Welt von sich selbst her zeigt, nämlich
in Dichtung und Philosophie, in Religion und kontemplativer Naturforschung, deren Interesse
nicht das technische Manipulieren, sondern das Verstehen ist. In Melville’s Moby Dick wird
ein solches authentisches Weltverstehen unter Bezugnahme auf Dichtung, Religion, Wissenschaft, Wirtschaft, Alltagswelt, Geschichte, Mythos, Symbolik und Naturkunde vorgeführt.
Moby Dick ist so ein Bildungsroman allerersten Ranges. Zuerst wird Ismael sich dessen bewusst, dass er etwas sucht, ohne genau zu wissen, worin es denn besteht. Was er weiß, ist
nur, dass sich das Gesuchte nicht im Alltagsbetrieb, sondern nur in der Weite und Tiefe des
Alls der autarken Mächte finden lässt: Was ihm als Gegenstand vor Augen tritt, ist etwas
19
Band I, §§ 154f. Vgl. das Zitat in § 174, wo ausdrücklich vom „kaum gekannten“ Leben die Rede ist.
20
„Wenn wir jedoch eine vollständige Theorie entdecken, ... werden wir uns alle – Philosophen, Naturwissenschaftler und Laien – mit der Frage auseinandersetzen können, warum es uns und das Universum gibt. Wenn wir
die Antwort auf diese Frage fänden, wäre das der endgültige Triumph der menschlichen Vernunft – denn dann
würden wir Gottes Plan kennen“ (Hawking 1988, 218)
8
„Labyrinthe“ – Drittes Kapitel
ganz und gar nicht klar Abgegrenztes und Bestimmtes, vielmehr ist es die ohne feste Gestalt
dahinwogende See, und in ihr das ungeheuerste, verborgenste und fremdeste Wesen, der Wal.
Zu Beginn seines Weges, also des Prozesses seines Weltverstehens, schwebt dem Ismael der
Wal nur als Schemen, als undeutliches Bild, vor. Am Ende, wenn der Kreis ausgeschritten ist,
hat Ismael (und haben wir durch ihn) einen Begriff vom Wal, der das Universum nach allen
Seiten hin in sich spiegelt. Auch dieser Begriff vom Wal ist kein abgeschlossener, ein für alle
Mal fertiger, denn das Universum ist für uns nicht in seiner Gänze überschaubar, und so lassen sich vom Menschen auch nicht alle Bedeutsamkeitskontexte des Wals (nicht alle seine
Verflechtungen mit allen anderen Wesen in der Welt) tatsächlich und im Einzelnen erfassen.
Dennoch kann man sagen, dass Ismaels Bildungsgang ihn von anfänglichen schemenhaften
Begriffen zu ausgearbeiteten Begriffen führt, wenngleich kein Begriff ganz ausgearbeitet sein
kann, da er dann ja das All der Begriffe einschließen, die gesamte Welt bewusst und explizit
in sich spiegeln müsste. Dazu sind nur die Begriffe, die Gott selbst hat, in der Lage.
Zusatz: Das erste Kapitel des Moby Dick heißt deshalb im Original Loomings. Das Verb to loom bedeutet
undeutlich sichtbar werden, oder drohend aufragen, oder auch von großer Bedeutung sein. Das Wort bezeichnet
also alle Intensitäts- und Deutlichkeitsgrade der Aufmerksamkeit, vom ersten unklaren Auftauchen eines Gegenstandes innerhalb unseres (sinnlichen oder geistigen) Wahrnehmungshorizontes bis hin zur völligen Erfassung der ganzen Bedeutungsschwere der Sache, wenn man sie in der ganzen Komplexität ihrer Verflechtung in
den Raum der Kontexte betrachtet.21
(177) Die ethische Bedeutung des Moby Dick liegt zum einen darin, dass er die Eigenwirklichkeit und Würde der Einzelwesen gegen ihre buddhistische Depotenzierung zu wesenlosen
Schemen affirmiert (§§ 168-171). Zum anderen liegt sie darin, dass der Roman einen Musterfall authentischen Weltverstehens vorführt. Das authentische, d. h. das durch kein Partikularinteresse verkürzte und instrumentalisierte Weltverstehen ist die Voraussetzung für sittliches Handeln, das die eigene Wirklichkeit der Wesen achtet. Authentisch ist das Weltverstehen, wenn es die Dinge unter möglichst all ihren Aspekten zu betrachten bereit und außerdem sich darüber klar ist, dass die Wirklichkeit der Dinge immer über das, was wir von ihnen
erfassen (und sei es noch so vielseitig und unverkürzt), noch einmal hinausgeht, und dass wir
daher der Wirklichkeit jederzeit das Recht einräumen müssen, unsere Vorstellungen von ihr
zu korrigieren. Wir dürfen die Wirklichkeit nicht auf das Prokrustesbett unserer Begriffe reduzieren. Wer die Wirklichkeit ganz nur nach dem behandelt, was er technisch von ihr weiß,
der misshandelt sie. Wer z. B. den Ackerboden und das Vieh nur als chemisch zu maximierende Ressourcen behandelt, zerstört ihre eigene Wirklichkeit. Für viele Walfänger war der
Wal ganz ähnlich ein Wesen, das nur als Gewinnquelle angesehen wurde. Melville unterschlägt diese Aspekte keineswegs. Die wirtschaftliche Bedeutung des Wals erörtert er durchaus. Aber der Moby Dick zeigt in unglaublicher Dichte und Breite, dass der Wal eine ganz
eigene Wirklichkeit besitzt, die nicht in dem aufgeht, was er dem Menschen nützt. Und gerade in dem, was am Wal keinen Nutzen bringt – in seiner Schönheit, seiner Ungeheuerlichkeit,
seiner Geheimnishaftigkeit, seiner kulturellen Bedeutung, seiner Symbolkraft – wird er für
den Menschen zu einem Kosmos von Bezügen und Verflechtungen und eröffnet so den Raum
des Weltverstehens. Einigen Aspekten dieses Verstehens von Welt, Mensch und Gott, wie es
Melville im Moby Dick geschehen lässt, werde ich im Folgenden nachgehen. Es wird sich
zeigen, dass Melville vor allem von der Frage bewegt wird, ob angesichts der Doppelgesichtigkeit des Daseins, das sich als Erzeugen und als Vernichten zeigt, dem Einzelwesen überhaupt Bedeutung zukommt, oder ob es nicht – da es ja schließlich über kurz oder lang doch
dem Untergang geweiht ist – mit Schopenhauer und dem Buddhismus als flüchtige Illusion
ohne eigene Wirklichkeit beurteilt werden muss und behandelt werden darf. Kommt es dem
21
Band I, §§ 132-147
9
„Labyrinthe“ – Drittes Kapitel
Dasein an auf das, was es hervorbringt? Ist es ein zielgerichteter Prozess, oder ist es ein blind
und zufällig, ziellos dahinstürzender Geschehensstrom? In der menschlichen Person wird die
Zieltendenz des Seins sich ihrer selbst bewusst: Der Mensch erfasst und erlebt sich als ein
Wesen, dem es auf sich ankommt. Im Menschen zeigt sich das Sein als Wille zu sich. Dieser
Wille zu sich verwickelt den Menschen in die Möglichkeit des Bösen. Das wird an der Gestalt des Ahab sichtbar werden. Aber im Bösen selbst noch sehnt Ahab sich nach einer Liebe,
welche die Dinge erhält und vor der gegenseitigen Zerstörung bewahrt. Ob Zerstörung oder
Erhaltung das letztgültige Wort über die existierenden Wesen sei, ist eine Frage, welche nicht
nur Melville umtrieb. Deshalb werfe ich, bevor ich genauer auf den Moby Dick eingehe, zunächst noch einen kurzen Blick auf drei andere Dichter des neunzehnten Jahrhunderts, die
sich dem Paradox des Daseins stellen – dem Paradox nämlich, dass Wesen sich offensichtlich
nur bilden, um immerzu den Prozess der Auflösung zu exemplifizieren.
II. Sehnsucht nach Auflösung: Holländer, Dracula, Quasimodo
(178) Ein ewiger Antagonismus findet sich in der menschlichen, wie in jeder Existenz: Entstehen und Vergehen. Was einmal sich ausformte und bestimmte Gestalt gewann, wird einst
wieder zerstört und löst sich auf. Wozu die Vergänglichkeit? Oder, andersherum gefragt:
Wozu das Entstehen, wenn doch alles wieder verschwindet? Wie es scheint, verschwindet
jedoch nur das einzelne Wesen, nicht das Ganze der Wirklichkeit (Welt, Natur). Das Einzelne
wird aus dem Ganzen herausgebildet, ausgeprägt. Und nach einiger Zeit wird es wieder in das
Ganze hinein aufgelöst, eingeschmolzen. Dieser Prozess der Ausdifferenzierung und Entdifferenzierung ist das Bewegungsmuster des Seins. Das Schlussbild des Moby Dick zeigt es
sinnfällig: Auf dem Wasser, genau in der Mitte zwischen dem hellen Himmel oben und der
dunklen Tiefe des Meeres befindet sich das Schiff als die Sphäre der wohlunterschiedenen,
ausdifferenzierten Einzelwesen: Mast und Takelage, Boote und Riemen, Leinen und Segel,
Männer und Vögel. Was diesen Differenziertheiten aber geschieht, ist, dass sie untergehen.
Sie versinken im Differenzlosen der finsteren Meerestiefe, wo sie vermodern, wo sich ihre
bestimmte Gestalt auflöst und mit dem Wasser zu einem unterscheidungslosen Kontinuum
verfließt. Dieses Bild der Auflösung im Wasser ist in der Literatur des neunzehnten Jahrhunderts bekannt: Der Fliegende Holländer löst sich in den dunklen Tiefen des Meeres auf wie
die Leute in den Walfängergeschichten. Die Literatur kennt aber auch eine andere Auflösung:
Die Auflösung der Körper in Staub, das Zerfallen in Atome und also das Verfließen mit der
lichten Luft, wie es Schicksal ist des blutsaugerischen Grafen Dracula und des unglücklichen
Glöckners Quasimodo. Diese beiden lösen sich auf in die obere Sphäre: in Licht, in Luft, in
den weiten hellen Raum der Atmosphäre. Was in Luft und Licht zerfließt, ist aber freilich
ebenso differenzlos wie das, was dunkelste Finsternis verhüllt. Lediglich in dem Bezirk, wo
sich das Finstere und das Helle überschatten und durchdringen, entsteht Sichtbarkeit, nämlich
bestimmte Gestalt durch Abschattung in unterschiedlichen Farbtönen.22
1. Verschwinden
„Die Fabel von dem Fliegenden Holländer ist Euch gewiß bekannt. Es ist die Geschichte
von dem verwünschten Schiffe, das nie in den Hafen gelangen kann, und jetzt schon seit
undenklicher Zeit auf dem Meere herumfährt. ... Jenes hölzerne Gespenst, jenes grauenhafte Schiff, führt seinen Namen von seinem Kapitän, einem Holländer, der einst bei allen
Teufeln geschworen, daß er irgendein Vorgebirge, dessen Namen mir entfallen, trotz des
22
Vgl. im Ersten Kapitel der „Labyrinthe“, §§ 28f und in diesem Kapitel unten die Ausführungen über „Die
Weiße des Wals“.
10
„Labyrinthe“ – Drittes Kapitel
heftigsten Sturms, der eben wehte, umschiffen wolle, und sollte er auch bis zum Jüngsten
Tage segeln müssen. Der Teufel hat ihn beim Wort gefaßt, er muß bis zum Jüngsten Tage
auf dem Meere herumirren, es sei denn, daß er durch die Treue eines Weibes erlöst werde.
... | ...
- - Als ich ins Theater noch einmal zurückkehrte, kam ich eben zur letzten Szene des
Stücks, wo auf einer hohen Meerklippe das Weib des Fliegenden Holländers, die Frau
Fliegende Holländerin, verzweiflungsvoll die Hände ringt, während auf dem Meere, auf
dem Verdeck seines unheimlichen | Schiffes, ihr unglücklicher Gemahl zu schauen ist. Er
liebt sie und will sie verlassen, um sie nicht ins Verderben zu ziehen, und er gesteht ihr
sein grauenhaftes Schicksal, und den schrecklichen Fluch, der auf ihm lastet. Sie aber ruft
mit lauter Stimme: Ich war dir treu bis zu dieser Stunde, und ich weiß ein sicheres Mittel
wodurch ich dir meine Treue erhalte bis in den Tod!
Bei diesen Worten stürzt sich das treue Weib ins Meer, und nun ist auch die Verwünschung des Fliegenden Holländers zu Ende, er ist erlöst, und wir sehen wie das gespenstische Schiff in den Abgrund des Meeres versinkt.“
Heine 1834, 101 und 103f
„Zum letztenmal wurde die Reliquie aus Philipps Wams genommen und dem Vater eingehändigt – dieser hob die Augen gen Himmel und küßte sie. Und mit diesem Kuß zerfielen die langen oberen Spieren des Geisterschiffs, die Rahen und die Segel in Staub, der in
der Luft flatterte und zu den Wellen niedersank. Dann löste sich der große Mast, der
Fockmast und das Bugspriet – kurz alles über dem Deck in Atome auf und verschwand.
Wieder hob er die Reliquie an seine Lippen, und das Werk der Zerstörung nahm seinen
Fortgang. Die schweren eisernen Kanonen sanken durch die Decks und verschwanden.
Die Matrosen des Schiffes, die zusahen, schrumpften zu Skeletten, Staub und Bruchstücken zerrissener Kleider zusammen, bis zuletzt keine Spur von Leben mehr an Bord des
Schiffes war, Vater und Sohn ausgenommen.
Noch einmal drückte er das geheiligte Sinnbild an seine Lippen, und das Gebälk trennte
sich. Die Decks des Schiffes sanken langsam, und die Reste des Rumpfes schwammen auf
dem Wasser. Vater und Sohn – der erstere jung und kräftig, der andere alt und abgelebt –
knieten noch immer in stummer Umarmung, die Hände gen Himmel erhoben. Jetzt sanken
sie langsam unter das tiefblaue Wasser, und der trübe Himmel über ihnen war für einen
Augenblick durch ein leuchtendes Kreuz erhellt.
Dann rollten die Wolken, die den Himmel verdüstert hatten, mit der Schnelle des Gedankens hinweg – die Sonne brach wieder in ihrem vollen Glanz hervor, und die kräuselnden
Wellen schienen vor Freude zu hüpfen. Die schreienden Seemöwen wirbelten wieder in der
Luft, und die verscheuchten Albatrosse versuchten abermals ihren schwerfälligen Flug.
Seelöwen tummelten sich umher in neckischem Spiel; Makrelen und Delphine hüpften aus
der funkelnden See.
Die ganze Natur lächelte, als freue sie sich, daß der Zauber gebrochen und das Gespensterschiff für immer verschwunden war.“
Marryat (Das Gespensterschiff) 366 (42. Kapitel)
„Ich sah den Grafen in der Kiste auf der Erde liegen, die ihn infolge des Sturzes vom Wagen teilweise bedeckte. Er war totenbleich, wie eine Wachsfigur, und die roten Augen glühten in dem unheimlichen sieghaften Feuer, das ich so genau kannte.
Als diese Augen die sinkende Sonne erblickten, wich der Ausdruck des Hasses aus ihnen
und sie leuchteten in wildem Triumph.
Aber im gleichen Augenblick sauste blitzend Jonathans großes Messer hernieder. Ich
schrie, als ich sah, wie es im scharfen Schnitt die Kehle des Grafen durchhieb; kurz darauf
durchbohrte Herrn Morris scharfes Jagdmesser das Herz Draculas.
11
„Labyrinthe“ – Drittes Kapitel
Da geschah ein Wunder: Vor unser aller Augen und ehe wir es noch recht fassen konnten, zerfiel der ganze Körper in Staub und entschwand unsern Blicken.
Ich werde mein ganzes Leben lang mit Freude daran denken, wie im Augenblick der
endlichen Auflösung ein Schimmer von Glück über des Grafen Antlitz huschte, das ich
eines solchen Ausdrucks gar nicht für fähig gehalten hätte.“
Stoker 1897, 519 (Minna Harkers Tagebuch vom 6. November)
(179) In diesen Texten geschieht eine Zerstörung oder Auflösung, deren Zweck und Ziel
einzig in dem endgültigen Verschwinden der lebensmüden Individualität besteht. Die
Vernichtung wird durchweg bejaht: Sie „erlöst“ (Heine) den Holländer, die „ganze Natur
lächelte“ (Marryat) über sie, und ihre Gewissheit breitet einen „Schimmer von Glück über
des Grafen Antlitz“ (Stoker). Es liegt hier ein negativer Begriff von Erlösung vor, ähnlich
wie im Buddhismus und bei Schopenhauer: Erlösung ist Befreiung vom Fluch des Daseins,
von der Chimäre der Individuation.
2. Bewahrung der Identität
„Da stieß man unter all den häßlichen Gerippen auf zwei Skelette, von denen eines das
andere in auffälliger Art umschlungen hielt. Das eine der beiden war dasjenige einer
Frau; es trug noch einige Stoffetzen eines einstmals weißen Rockes. ... Das andere Skelett,
das dieses fest umfaßt hielt, war dasjenige eines Mannes. Man bemerkte, daß seine Wirbelsäule verkrümmt war, der Kopf zwischen den Schulterblättern steckte und daß er zwei ungleich lange Beine hatte. Übrigens war keiner seiner Nackenwirbel gebrochen, was darauf
schließen ließ, daß man ihn nicht erhängt hatte. Der Mann mußte also selber dorthin gegangen und dort gestorben sein. Als man sein Gerippe von demjenigen trennen wollte, das
er umschlang, zerfiel es in Staub.“
Hugo 1831, 738f (Elftes Buch, Kapitel IV Die Hochzeit des Quasimodo)
(180) In diesem Text geschieht an Quasimodo nun eine andere Auflösung, denn deren Ziel
und Zweck ist jetzt nicht mehr das bloße und völlige Verschwinden des Einzelnen. Zwar zerfällt Quasimodo, aber er bleibt – ebenso wie die Esmeralda – als Skelett und aus gewissen
Umständen heraus doch identifizierbar. Außerdem hat er den schaudervollen Totenort nicht
aufgesucht, um vom Dasein erlöst zu werden (wie der Holländer und Dracula es ersehnen),
sondern um mit der Geliebten endlich vereint zu sein. Er sucht im Tode nicht das Vergehen
der Individualität, sondern die persönliche Erfüllung. Quasimodo zielt auf die bestimmte
Individualität: Er will – und sei es nur im Tode – mit Esmeralda beisammen sein, mit niemand anderem. Freilich wird nichts darüber gesagt, ob er diese Erfüllung wirklich findet und
sie in einem Zustand, der jenseits des irdischen Todes existiert, bewusst erlebt – oder ob er
sie vergeblich sucht.
3. Ewiges Selbst
„Hunderte von Meilen war der Punkt entfernt, von dem er Hilfe erwarten konnte, und das
einzige Mittel, ihn zu erreichen, war ein schmales Boot – eine wahre Nußschale, die der
erste rauhe Wind unvermeidlich vernichten mußte!
Dies waren auch in der Tat Franziscos erste Gedanken; aber bald erholte er sich wieder
von seiner Zaghaftigkeit. Er war jung, mutig und geneigt, sich guten Hoffnungen hinzugeben; lebt ja überhaupt im Innern des Menschen ein Gefühl des Stolzes, des Vertrauens
auf seine eigenen Hilfsmittel und Kräfte, das ihn bei wachsender Gefahr nur um so stärker
zum Widerstand gegen alle Hindernisse anfeuert. Es gibt einen Mut, der nicht von außen
her, sondern aus dem Geist des Menschen stammt – einen Mut, der von seinem himmli12
„Labyrinthe“ – Drittes Kapitel
schen Ursprung und seiner ewigen Dauer zeugt.“
Marryat (Der Pirat) 343
(181) Hier hofft Franzisco auf Bewahrung seines Lebens angesichts des alles zu verschlingen drohenden Meeres. Unterpfand dieser Hoffnung ist ihm der Selbstbehauptungswille der
Individualität, den er begründet sieht in der ewigen oder himmlischen Geltung des Individuums bei Gott – im Absoluten – selbst.23 Ganz im Gegensatz zu Schopenhauer und dem
Buddhismus vollzieht sich hier nicht die Auflösung der Individuation, sondern ihre Affirmation, wie sie für die Hauptströmungen des abendländischen Denkens kennzeichnend ist. Ähnlich wie die Selbstbehauptung hier bei Marryat klingt es bei Seneca: „diese Hoffnung nährt
in den Seelen: etwas Unbesiegtes24 zu sein, jemand zu sein, gegen den das Schicksal nichts
vermag“25. Und auch zu Marryat’s Bezug auf die himmlische Ewigkeit findet sich bei Seneca eine Entsprechung: „ein heiliger Geist wohnt in uns, unserer Schlechtigkeiten und guten
Taten Beobachter und Schutzwächter“26.
Zusatz: Immanuel Kant beruft sich in seiner Argumentation gegen die Stoiker, die den Selbstmord für erlaubt
hielten, auf die über alle irdischen und empirisch greifbaren Gegebenheiten hinausgehende Gewissheit des menschen von der Unzerstörbarkeit seiner Identität: „Aber eben dieser Muth, diese Seelenstärke, den Tod nicht zu
fürchten und etwas zu kennen, was der Mensch noch höher schätzen kann, als sein Leben, hätte ihm ein um noch
so viel größerer Bewegungsgrund sein müssen, sich, ein Wesen von so großer, über die stärkste sinnliche Triebfedern gewalthabende Obermacht, nicht zu zerstören, mithin sich des Lebens nicht zu berauben“27.
4. Erlösung
Senta.
Preis’ deinen Engel und sein Gebot!
Hier sieh’ mich, treu dir bis zum Tod!
(Sie stürzt sich in das Meer; in demselben Augenblicke versinkt das Schiff des Holländer’s und verschwindet
schnell in Trümmern. – In weiter Ferne entsteigen dem Wasser der Holländer und Senta, beide in verklärter
Gestalt; er hält sie umschlungen.)
Der Vorhang fällt.
Wagner I, 291
(182) Hier bei Richard Wagner erfahren der Holländer und Senta eine Auflösung, deren
Ziel die Erlösung und Verklärung – und damit die ewige Bewahrung – der Individualität ist. Das Versinken in der dunklen Tiefe wandelt sich unmittelbar in den Aufstieg in
himmlisches Licht. Sie bleiben in der Auflösung als Individualitäten identifizierbar und
sichtbar. Sie finden ihre persönliche Erfüllung in der Dauer ihrer individuellen Liebe über
den Tod hinaus. Der Engel Gottes führt sie zu jenseitigem Leben, das sie bewusst erleben
(statt zu der toten Skelettgemeinschaft, die wir bei Quasimodo sehen und die nicht für diesen
selbst erlebbar ist).
23
Band I, §§ 248ff
24
Das dauerhaft Unbesiegte ist das Unbesiegliche, denn was immer unbesiegt ist, ist überhaupt unbesieglich.
25
hanc spem … alite in animis …: esse aliquid invictum esse aliquem in quem nihil fortuna possit (Seneca: De
constantia sapientis XIX, 5 [Seneca V, 92])
26
sacer intra nos spiritus sedet, malorum bonorumque nostrorum observator et custos (Seneca: Epistulae morales ad Lucilium 41,2 [Seneca III, 324])
27
Kant VI, 422f (Die Metaphysik der Sitten, Zweiter Teil [Tugendlehre], Ethische Elementarlehre, Erstes Buch,
Erstes Hauptstück § 6)
13
„Labyrinthe“ – Drittes Kapitel
5. Moby Dick
„Mein Gott, Mr. Chase, was ist denn los?” Ich antwortete: „Ein Wal hat uns den Rumpf
zerschmettert.“
Bericht vom Schiffbruch des Walfängers Essex aus Nantucket,
der im Stillen Ozean von einem großen Pottwal angegriffen und schließlich zerstört wurde.
Von Owen Chase aus Nantucket, dem Ersten Steuermann des besagten Schiffes. New York 1821
Melville 1851, 26 (Kapitel „Auszüge“)
(183) Reine Vernichtung und auflösenden Untergang wie bei Heine, Marryat (Gespensterschiff) und Stoker werden wir im Moby Dick finden, wenn am Ende alle und alles in den
Tiefen des Pazifischen Ozeans versinkt. Der Untergang der Pequod im Roman ist inspiriert
vom realen Untergang des Walfängerschiffes Essex. Den Bericht, den der Erste Steuermann
des Schiffes, der mit einigen Überlebenden nach Nantucket zurückkehrte, über diese Tragödie verfasste, hat Melville gelesen und den über diesen § gestellten Text daraus in sein vorgeschaltetes Kapitel „Auszüge“ aufgenommen.28 – Aber der Moby Dick kennt nicht nur den
reinen Untergang, sondern auch die Bewahrung der Identität in der Vernichtung: Wie
Quasimodo bei Hugo sich in das Totengewölbe begibt, legt Queequeg sich in seinen Sarg,
wodurch er aber paradoxerweise gerade wieder gesund wird (Kapitel 110). – Auch die ungeheuere Bedeutung des Menschen als eines Wesens mit ewiger Seele findet sich im Moby
Dick. Von Queequeg wird gesagt – also von einem einzelnen Menschen, und damit von jedem einzelnen Menschen – er trage eine „Theorie vom Universum“ an sich und sei dadurch
ein Träger von Mysterien, die „jedoch nicht einmal er selbst zu enträtseln verstand, obwohl
doch sein eigenes lebendiges Herz unter ihnen schlug“29. Bei Queequeg sind mit den Mysterien die Tätowierungen auf seinem Körper gemeint, aber tatsächlich ist jeder Mensch ein
weltverstehendes Wesen, d. h. ein Wesen, welches über eine Anschauung – und das heißt
griechisch eben theoria – des Universums verfügt. – Und schließlich finden wir im Moby
Dick die verklärende Erlösung des Individuums zu ewiger Gültigkeit, wenn Pip eine Ewigkeitsvision zuteil wird (§§ 234), wenn der Weiße Wal als seine Wahrheit die ausdifferenzierte
Farbenmannigfaltigkeit offenbart (§§ 209-214;226f), und wenn Ismael zwischen Haien
schwimmt, deren Rachen doch verschlossen ist, wie Gott es ähnlich für sein Reich durch den
Propheten Isaias verheißen hat (§§ 241ff).
III. Leitworte aus der Heiligen Schrift
Creavitque Deus cete grandia
Genesis 1,21
Und Gott schuf große Walfische
Benedicite, cete, et omnia, quae
moventur in aquis, Domino
Daniel 3,79
Lobpreiset, ihr Walfische, und alles, was sich in den Wassern bewegt, den Herrn
Illic naves pertransibunt;
28
Zum Untergang der Essex und den Bericht von Owen Chase, sowie über den erst später aufgetauchten, Melville unbekannt gebliebenen Bericht des Kajütenjungen der Essex, Thomas Nickerson, vgl. Philbrick 2000.
29
Melville 1851, 738 (Kapitel 110)
14
„Labyrinthe“ – Drittes Kapitel
draco iste quem formasti ad illudendum ei
Psalm 103,26
Daselbst gehen die Schiffe, das Meerungeheuer, das Du gemacht, ihm [dem Meere] zu spielen
In die illa visitabit Dominus ...
et occidet cetum qui in mari est
Isaias 27,1
An jenem Tage wird der Herr heimsuchen ... und töten den Wal, der im Meere ist
(184) Diese Texte (außer dem zweiten) aus der Heiligen Schrift hat Melville in das Kapitel
„Auszüge“ aufgenommen. Sie zeigen den weiten Bedeutungshorizont, der den Wal umgibt.
Der Wal wird in der Heiligen Schrift zuerst genannt am Schöpfungsmorgen, er begleitet sodann mit seinem Spiel im Meere und mit seinem Lobpreis die ganze Zeit der Geschichte über
das Weltgeschehen30, und er steht schließlich am Ende der Zeiten beim Anbruch der Ewigkeit. Gott wird ihn dann als das bedrohende, negierende Prinzip töten, er wird ihn aber auch
verklären, und zwar – das ist Melville’s Vision, die ich später eingehender untersuchen werde31 – im Regenbogen, wodurch er sich selbst in ihm versinnbildlicht als das göttliche Prinzip, welches das Einzelne im Untergang nicht vernichtet, sondern nur aus seiner Isolierung
gegen andere erlöst und in seiner wahren Gestalt bewahrt.
IV. Ismael
A. Walfänger-Welt
„Oh, der uralte Wal in Sturm und Wind
Im Weltenmeere ruht,
Ein Riese an Macht, wo Macht ist Recht,
Ein König der endlosen Flut.“
Melville 1851, 31 (Wallied, Kapitel „Auszüge“)
(185) Mit diesem Lied schließt Melville seine Sammlung von Zitaten aus Werken aller Art
über den Wal und den Walfang. Unmittelbar danach beginnt der Text des ersten Kapitels.
Das Weltmeer ist das Lebenselement des Wales. Dieses Element wird vom Lied beschrieben
als das Reich, „wo Macht ist Recht“. Es ist das Reich des Rechts des Stärkeren – ein eigentlich rechtloses Reich, denn Stärke begründet keine Gerechtigkeit, sondern bloß Überlegenheit. Seine Macht ausgenützt zur Schaffung von Verhältnissen, die von den Unterlegenen
wohl oder übel als Rechtsverhältnisse akzeptiert werden mussten, hat Abraham in der Heiligen Schrift, als er seinen leiblichen Sohn Ismael und dessen Mutter Hagar aus seinem Hause
vertrieben hat. Da Abrahams legitime Gattin Sarah unfruchtbar war, verlangte sie einst von
Abraham, er solle mit ihrer ägyptischen Magd Hagar einen Sohn zeugen. So wird Ismael geboren (Genesis 16,1-15). Als dann aber Sarah durch Gottes Gnade (Genesis 18,10-14) doch
noch schwanger wird (Genesis 21,1-8), verstößt Abraham auf Sarahs Drängen hin Hagar und
Ismael (Genesis 21,9-21). Zwar handelt Abraham an Hagar und Ismael auf göttliches Geheiß
und Gott selbst beruhigt den Abraham, als dieser Hagar und Ismael zuerst nicht vertreiben
will. Gott sagt dem Abraham: Tue nur so, wie Sarah es will, denn ich selbst werde auch den
30
Vgl. auch im Moby Dick das Kapitel 105
31
In diesem Kapitel III.C.3 „Regenbogen“
15
„Labyrinthe“ – Drittes Kapitel
Ismael zu einem großen Volke machen (Genesis 21,13). Freilich weiß Ismael selbst nichts
davon (Hagar allerdings hätte von der göttlichen Verheißung wissen müssen, denn sie war an
sie selbst auch ergangen, vgl. Genesis 16,10). Und weil er nichts davon weiß, deshalb muss
ihm Abrahams Handeln wie Unrecht vorkommen.
Zusatz: Als er Ismael zeugte, hieß Abraham noch Abram. Er war sechsundachtzig Jahre alt, als Ismael geboren wurde. Erst als Ismael schon dreizehn Jahre alt war, erschien dem Abram in dessen neunundneunzigstem
Jahre Gott, der Herr, und befahl, er solle hinfort „Abraham“ (d. i. der Brockhaus-Enzyklopädie zufolge vielleicht „Vater einer Menge“) heißen (Genesis 17,5).
(186) Der Wal und die Walfänger, in deren Welt uns der Roman nun führt, leben – so sagt
es das Wallied – da, wo Macht zu Recht gefälscht wird. Dass Macht und bloße Stärke wirken,
als wären sie Recht, das ist die Lage des harten Lebens der Walfänger. In dieser Situation
beginnt Melville jetzt seinen Roman unmittelbar nach dem Wallied: „Nennt mich Ismael“, d.
h. seht in mir ein Wesen, dem es ging, wie dem Sohne der Hagar: Macht hat ihn um sein
Recht betrogen, und er musste es hinnehmen, als wäre es Recht. Aber es ist dies nicht nur die
Lage Ismaels und der Walfänger, dass sie schiere Macht akzeptieren müssen, als wäre es
Recht, sondern eben dies ist auch die Lage unseres eigenen Lebens, ja des Lebens der ganzen Welt. Denn eben hier geschieht es jeden Tag tausendfach, dass die Geschöpfe aneinander
Ungerechtigkeit verüben. Das spüren und sehen wir überall. Mit dieser Beobachtung beginnt
die abendländische Philosophie ihr Denken.32 Jedoch, das Leben zeigt ein Janusgesicht: Es ist
keineswegs bloß vernichtend, sondern vielmehr auch förderlich, schön und erfüllend:
„Solche Zeiten, da man unter einer linden Sonne den lieben langen Tag auf einer sanften Dünung treibt, die langsam steigt und wieder fällt, da man in seinem Boote sitzt, das
leicht ist wie ein Birkenrindenkanu, und sich voller Behagen so unter die weichen Wellen
mischt, dass diese wie Kaminkatzen gegen das Dollbord schnurren – das sind die Zeiten
träumerischer Stille, da man über der ruhigen Schönheit und Schimmerigkeit der Ozeanhaut das Tigerhetz vergisst, das darunter schlägt, und sich nicht gern darauf besinnt, dass
dieses Sammetpfötchen erbarmungslose Krallen birgt. ... | ...
Auch auf Ahab verfehlten solche besänftigenden Szenen, wie flüchtig sie auch waren,
ihre ebenso flüchtige Wirkung nicht. Doch wenn ihm auch diese geheimen güldenen
Schlüssel wohl die Tür zu seinen eigenen geheimen güldenen Schätzen öffneten, so trübte
doch sein Atem ihren Glanz.
‚Oh, leuchtende Lichtungen! Oh, ewig grünende, endlose Landschaften der Seele! In
euch – wiewohl schon lang versengt von der tödlichen Dürre des irdischen Daseins – mag
sich der Mensch im Klee des frischen Morgens noch wälzen wie ein junges Füllen und für
einige seltene, flüchtige Augenblicke den kühlen Tau des unsterblichen Lebens auf der
Haut spüren. Ach Gott, wenn diese segensreiche Stille dauern könnte! Doch die vermischten Fäden des Lebens werden verwoben in Kette und Schuß. Es kreuzen sich Stille und
Sturm, ein Sturm für jede Stille. ...’ | ...
Auch Starbuck starrte am gleichen Tage von der Bordwand seines Bootes tief hinab in
die gleiche güldene See und murmelte leise:
‚Unergründlicher Liebreiz, wie ihn nur je ein Liebender im Auge seiner jungen Braut
erblickte! Sprich mir nicht von deinen zahnstarrenden Haifischen und deinem räuberischen Kannibalenwesen. Möge der Glaube die Fakten, die Phantasie das Gedächtnis vertreiben – ich schaue tief hinab und glaube.’“
Melville 1851, 750-752 (Kapitel 114 „Der Vergulder“)
32
Vgl. im Zweiten Kapitel der „Labyrinthe“, §§ 99-117, sowie Band II, 174-181
16
„Labyrinthe“ – Drittes Kapitel
(187) Festgehalten wird hier die Doppeltheit der Welt und des Lebens: Gut und Böse,
Schön und Hässlich, Übel und Förderliches, Recht und Unrecht. Das Leben ist zweifellos
reich an „güldenen Schätzen“. Das Gold ist ein altes Sinnbild für Vollendung und Erfüllung.
Dieses Gold im Leben ist zwar „flüchtig“, nichtsdestoweniger ist es – wenigstens augenblicksweise – etwas sehr Wirkliches, und jeder Mensch hat solche Momente schon erlebt. Im
Märchen begegnet uns das Goldsymbol etwa im Rumpelstilzchen, wenn die Müllerstochter
das Stroh des Alltags zum Gold des gelingenden Lebens spinnt. Wenn wir solch goldene Tage erleben, ist das wie ein „Schlüssel“, der die Geheimnisse der eigenen Identität uns dahingehend erschließt, dass in uns die Hoffnung darauf lebendig wird (oder wir doch verstehen,
wie es zu ihr kommen kann), dass unsere Person zur Vollendung und ewigen Verklärung
bestimmt sei. Bei Goethe finden wir das Sinnbild des Goldschmieds, der mit einem Schlüssel
das goldene Kästchen zu öffnen vermag, das in sich die Kunde von den geheimnisvollen inneren Zusammenhängen des Lebens und des Schicksals birgt, in denen Wilhelm Meister
steht.33 – Wenn von Ahabs „Atem“ die Rede ist, so mus man beachten,. dass der Atem
(pneuma, spiritus) ein altes Sinnbild für den Geist oder die Seele des Menschen ist. Ahabs
Atem „trübte“ den Goldglanz des Tages, denn Ahab ist auch böse (§ 231f). Seine Identität ist
wie bei jedem Menschen gebrochen: Keiner ist ganz gut, freilich ist auch keiner ganz
schlecht. – Nun starrt Starbuck „tief hinab“. Die Tiefe ist die Sphäre der ruhigen, gleichbleibenden Wahrheit, während die Oberfläche, die Wind und Sturm jeden Augenblick verändern, undurchsichtig und launig wechselhaft ist. Jedoch birgt die Tiefe in unserem Text das
Grauen, nicht die goldene Versöhnung. Soll damit gesagt sein, dass die Wahrheit über die
Welt in ihren Schrecken und in der Zerstörung liegt? Nein, denn die See birgt in der Tiefe
trotz aller „Tigerhetz“, die sich in ihr abspielt, „ewig grünende, endlose Landschaften“. Das
Leben ist eben beides: „Stille und Sturm“. Die Wahrheit über See und Leben liegt allemal
nicht nur in einer der beiden Seiten, sondern in ihrem Zusammenspiel. Dass Gut und Böse,
Bewahrung und Zerstörung letztlich in Verklärung und Vollendung statt im Untergang ankommen, das ist für Starbuck Hoffnung. Er ist überzeugt, dass „Glaube“ und „Phantasie“ in
ihren Visionen mehr Wahrheit enthüllen als die empirische Wirklichkeit und ihre Fakten. Für
Pip wird die ewige Verklärung und Erlösung einst sogar eine geschaute Gewissheit sein. Im
Unterschied zur Vision der idealen Wahrheit der golden verklärten Welt wird die reale irdische Welt im Moby Dick im Sinnbild eines Gewebes dargestellt:
„Ich war Queequegs Diener oder Handlanger, derweil er eifrig an der Matte wob. Während ich in einem fort den Einschuß der Marlleine zwischen den langen Fäden der Kette
hin- und herführte, meine Hand als Schiffchen benutzend, und während Queequeg neben
mir wieder und wieder mit seinem schweren Eichenschwerte zwischen die Fäden fuhr,
müßig den Blick über das Wasser schweifen ließ und gedankenlos lässig jede Ducht anschlug – wahrlich, derweil lag eine so seltsame Verträumtheit über dem ganzen Schiffe
und über dem Meere ringsum, durchbrochen nur vom regelmäßigen, dumpfen Klattern des
Schwertes, dass es schien, als wäre dies der Webstuhl der Zeit und ich ein Weberschiffchen, das mechanisch und ohne Unterlaß wie die Parzen an den Geschicken der Menschen wob. Dort lagen die festen Fäden der Kette, nur einer einzigen, steten, ständig wiederkehrenden Schwingung unterworfen, und diese Schwingung reichte gerade aus, dass
andere Fäden über Kreuz mit den Fäden der Kette verwoben werden konnten. Die | Kette
schien mir die Notwendigkeit, und hier, so deuchte mich, führ ich mit eigner Hand mein
eignes Schiffchen und web mein eigenes Geschick in diese unabänderlichen Fäden ein.
Zur gleichen Zeit schlägt Queequegs gleichgültiges Schwert gleichmäßig auf den Einschuß ein, trifft ihn mal schräg, mal schief, mal stark, mal schwach, grad wie es kommt,
33
Huber 1990-a, 132ff
17
„Labyrinthe“ – Drittes Kapitel
und gibt durch diese Abweichung beim letzten Schlag dem fertigen Gewebe ein entsprechend ungleichmäßiges Gesicht. Das Schwert dieses Wilden, so dachte ich, das so die Kette
wie den Einschuß formt und gestaltet – dies sorglos gleichgültige Schwert, das muß der
Zufall sein. Fürwahr: Zufall, freier Wille und Notwendigkeit, durchaus nicht unvereinbar,
wirken und weben alle zusammen. Die gerade Kette der Notwendigkeit, die sich von ihrem
endgültigen Kurs nicht abbringen lässt, ja deren jede abwechselnde Schwingung diesen
nur verfestigt; der freie Wille, der frei genug bleibt, sein Schiffchen zwischen festen, vorgegebenen Fäden zu führen; und der Zufall, der zwar in seinem Spiel beschränkt und in
den geraden Bahnen der Notwendigkeit gehalten wie auch in seinen seitlichen Bewegungen vom freien Willen eingeschränkt wird – dieser Zufall, zwar solcherart von beiden eng
geführt, beherrscht abwechselnd alle beide und führt den letzten alles prägenden Schlag.“
Melville 1851, 351f (Kapitel 47 „Der Mattenweber“)
(188) Während des Lebens ist die erhoffte ideale Vollendung nicht als dauerhafter Zustand,
sondern allenfalls in Form von kurzen, vorausdeutenden Erfüllungsaugenblicken, gegeben.
Das irdische Leben, wie wir es kennen, ist und bleibt ein verwirrendes Gewebe aus „vermischten Fäden“ (wie es schon in dem Text vor § 187 hieß), ein Gewebe, dessen Harmonie
im Ganzen und in allen Einzelheiten nur vom Gottesstandpunkt aus überschaubar ist. Sowohl
der äußere Raum, wie auch der geistige Raum des Verstehens sind wie ein Gewebe, nämlich
kontextuell, aufgebaut.34 Für unser Auge, das nicht tief genug blicken kann, ist dieses Weltgewebe von antagonistischen Kräften durchwaltet: Gut und Böse, Leben und Tod, Förderung und Zerstörung. Und doch ist das nicht die einzige Erfahrung, die wir mit der Welt machen. Genauso wirklich, wie das Zerstörerische ist die Tatsache, dass die Antagonismen sich
nicht (wie man erwarten würde) gegenseitig paralysieren und einander zerstören, sondern
offenbar einer verborgenen Ordnung folgen, die bewirkt, dass sie auf’s Ganze gesehen ein in
sich höchst differenziertes (und sich in dieser Differenzierung über Jahrmillionen hin steigerndes) Wechselspiel bilden. Heraklit sprach von diesem Antagonismus als dem universalen
„Krieg“, welcher der Vater von allem sei.35 Und er brachte das Weltgeschehen auf die Formel: „Das Widereinanderstehende zusammenstimmend und aus dem Unstimmigen die
schönste Harmonie“36.
B. Der alte und der neue Ismael
„Nennt mich Ismael. Ein paar Jahre ist’s her – unwichtig, wie lange genau –, da hatte ich
wenig bis gar kein Geld im Beutel, und an Land reizte mich nichts Besonderes, und so
dacht ich mir, ich wollt ein wenig herumsegeln und mir den wässerigen Teil der Welt besehen. Das ist so meine Art, mir die Milzsucht zu vertreiben und den Kreislauf in Schwung
zu bringen. Immer wenn ich merke, daß ich um den Mund herum grimmig werde; immer
wenn in meiner Seele nasser, niesliger November herrscht; immer wenn ich merke, daß ich
vor Sarglagern stehenbleibe und jedem Leichenzug hinterhertrotte, der mir begegnet; und
besonders immer dann, wenn meine schwarze Galle so sehr überhandnimmt, daß nur starke moralische Grundsätze mich davon abhalten können, mit Vorsatz auf die Straße zu treten und den Leuten mit Bedacht die Hüte vom Kopf zu hauen – dann ist es höchste Zeit für
mich, so bald ich kann auf See zu kommen. Das ist mein Ersatz für Pistole und Kugel. Mit
34
Band I, §§ 132-147, sowie Huber 1996-b, 43-52
35
Heraklit: Fragment B 53 (Heraklit 1983, 18f)
36
Heraklit: Fragment B 8 (Heraklit 1983, 8f). – Vgl. Huber 1996-a, 249f und Huber 1988, 183f (zu Versen
2535f)
18
„Labyrinthe“ – Drittes Kapitel
einer stoischen Sentenz stürzt Cato sich in sein Schwert; ich gehe still an Bord.“
Melville 1851, 33 (Kapitel 1 „Schemen“)
(189) Der künftige Walfänger Ismael ist vereinzelt, wie sein biblischer Namensgeber, der
Sohn, den Abraham von der ägyptischen Magd Hagar sich gewinnt und den er dann verstößt.
Ganz auf sich allein gestellt, durchpflügt Melvilles Ismael auf dem Schiff die verlassensten
Meere, wie jener biblische in die öde Wüste gebannt war (Genesis 21,15). Die See „ist das
Bild des unbegreiflichen Phantoms des Lebens“37. Auch die Wüste aber dient zum Sinnbild
des Lebens: Öde und Verlassenheit, aber auch Turbulenz und Gefahr kennzeichnen die Wüste, das weite Meer, wie auch das Leben insgesamt. Im ersten Buch Mosis hat Ismael einen
Schlauch mit Wasser (Genesis 21,15) bei sich, unser Ismael im Moby Dick trägt einen Beutel
mit Geld. – Warum aber wird Ismael von Abraham verstoßen? Ismael, so sagt es die Heilige
Schrift, „trieb sein Spiel“ mit Isaak, dem rechtmäßigen Sohne Abrahams: „Und als Sara den
Sohn der Ägyterin Hagar sein Spiel treiben sah mit Isaac, ihrem Sohne, sagte sie zu Abraham: Wirf diese Magd hinaus und ihren Sohn“38. Mit unserem Walfänger-Ismael treibt das
Leben selbst sein Spiel, indem es ihn keinen Sinn mehr erleben lässt, so dass er aus seinem
Alltag weggehen und ihn erneut suchen muss. Und so wie der biblische Ismael sich über Sara, die seine Vertreibung fordert, ärgert, hat der Walfänger-Ismael „schwarze Galle“ in sich,
die ihn dazu treibt, den Leuten die Hüte vom Kopf zu schlagen. Man versteht diese Aggressivität in gewisser Weise, denn eine Ismaelexistenz bedeutet, sich als vom Leben Ausgestoßener zu fühlen. Man kann sich unschwer vorstellen, dass der biblische Ismael in einer ähnlichen Stimmung wie „niesliger November“ gewesen sein muss, da er nach der schönen Zeit,
in welcher er als Erstgeborener alle Rechte auf gegenwärtige Verwöhnung und alle Aussichten auf zukünftiges Erbe und kommende Herrschaft genoss, plötzlich zurückgestuft wurde –
nur weil ein anderer da war, der doch bloß als zweiter geboren war, dennoch aber als erster
galt, weil er die „richtige“ Abstammung hatte. Herausgestoßen aus dem Paradies der Kindheit, mag auch der Ismael der Heiligen Schrift am Leben verzweifelt und von „Sinnfragen“
heimgesucht worden sein. Ärger und Enttäuschung aber entladen sich nicht selten im Schikanieren von Mitmenschen. Auch der abrahamitische Ismael war ein „wilder Mensch, dessen
Hand gegen alle und gegen den die Hände aller“ gerichtet waren (Genesis 16,12). Als Säugling schon hat er gegen seine Ausstoßung durch lautes Schreien Protest eingelegt (Genesis
21,17). Melville’s Ismael hingegen geht ganz still an Bord. Melville betont diesen Unterschied, allerdings nicht direkt durch Hinweis auf die Bibelstelle, sondern indem er an Cato
Uticensis erinnert, der sich im Jahre 46 v. Chr. selbst tötete, nachdem Caesars Sieg über das
Senatsheer die Alleinherrschaft des Diktators und damit das Ende der republikanischen Freiheit der römischen Bürger besiegelte. Dabei rief Cato aus, den Göttern gefalle zwar die siegreiche Sache Caesars (denn schließlich verleihen Götter die Siege), ihm – Cato – jedoch gefalle die besiegte Sache besser, die Sache nämlich der unterlegenen Kämpfer für Bürgerfreiheit.39 – Weiter heißt es von Ismael in der Heiligen Schrift, dass er, in der Wüste heranwachsend, zu einem Pfeilschützen geworden sei (Genesis 21,20). Nach dem Wal wird zwar mit
Harpunen und Lanzen geworfen, also Waffen, die mit Pfeilen verwandt sind. Aber Melville’s
Ismael ist nicht selbst Harpunier, sondern nur Freund und Schiffsgenosse eines Harpuniers. –
37
Melville 1851, 36 (Kapitel 1 „Schemen“)
38
Cumque vidisset Sara filium Agar Aegyptiae ludentem cum Isaac filio suo, dixit ad Abraham: Eiice ancillam
hanc, et filium eius (Genesis 21,9). – Ludere bedeutet in diesem Zusammenhang, dass man mit jemandem halbernste Kampfspiele treibt, dass man ihm üble Streiche spielt, ihn verspottet, ja ihn betrügt (Lünemann 1826,
1648f). Deshalb sagt der hl. Apostel Paulus zu Recht, dass der Sohn der Magd den Sohn der Freien „verfolgt“
habe: persequebatur (Brief an die Galater 4,29).
39
Victrix causa diis placuit, sed victa Catoni (Lucan: Pharsalia I, 128; Angabe nach Bayer 1999, 610)
19
„Labyrinthe“ – Drittes Kapitel
In der Bibel hilft Gott dem Ismael in der Wüste (Genesis 21,17ff). Auch Melville’s Ismael
erfreut sich himmlischer Hilfe: Die „Parzen“40 bzw. die „Vorsehung“41 fügen es so, dass
Ismael als Einziger den Schiffsuntergang überlebt.
V. Die See
A. Meer
„Warum ist beinah jeder kraftvolle, gesunde Junge, in dem eine kraftvolle, gesunde Seele
steckt, irgendwann einmal darauf versessen, zur See zu gehen? Warum habt ihr bei eurer
ersten Seereise als Passagier eine solch mystische Schwingung verspürt, sobald man euch
mitteilte, nun sei das Land außer Sicht? Warum hielten die alten Perser das Meer heilig?
Warum gaben die Griechen der See einen gesonderten Gott und machten ihn zu Zeus’ eigenem Bruder? Gewiß ist dies alles nicht ohne Bedeutung. Und tiefer noch liegt die Bedeutung jener Geschichte von Narzissus, der, weil er das quälende, liebliche Abbild, das er im
Quell erblickte, nicht greifen konnte, hineinsprang und ertrank. Doch nämliches Bild sehen wir selbst in allen Strömen und Meeren. Es ist das Bild des unbegreiflichen Phantoms
des Lebens, und darin liegt der Schlüssel zu allem.
Also: Wenn ich sage, es sei meine Gewohnheit, auf See zu gehen, wann immer mir
schwummerig vor Augen wird und ich zuviel an meine Lungen denke, so habe ich damit
nicht andeuten wollen, ich ginge je als Passagier. ... | ... Nein, wenn ich zur See gehe, dann
gehe ich als einfacher Seemann, fahre geradewegs vor dem Mast, so richtig unten im Vorschiff und oben bis hinauf in den Bramtopp.
... | ... | ... Was aber der Grund dafür war, daß ich es mir nun, nachdem ich wiederholt als
Handelsmatrose Seeluft geschnuppert, in den Kopf setzen sollte, auf eine Walfangreise zu
gehen, das kann der unsichtbare Wachtmeister der Parzen, der mich ständig beobachtet
und mir heimlich auf den Fersen ist und mich auf eine unbeschreibbare Weise beeinflußt
– das kann dieser besser beantworten als sonst jemand. Daß ich auf diese Walfangreise
ging, war zweifellos ein Teil des grandiosen Spielplans der Vorsehung, der schon vor langer Zeit entworfen ward. ... | ...
Der vordringlichste dieser Beweggründe war die überwältigende Vorstellung vom großen
Wale selbst. Solch ein unheilträchtiges und geheimnisvolles Ungetüm erregte meine ganze
Neugier. Dann die wilden und entfernten Meere, worin er seine inselgleiche Masse wälzte,
die namenlosen und heillosen Gefahren des Walfangs; ...
Aus diesen Gründen also war mir die Walfangreise willkommen; die großen Schleusentore der Wunderwelt schwangen auf ...“
[36-40, Kapitel 1 (Text 3)]
(190) Die See, so sagt unser Text ganz deutlich, ist das Bild des Lebens selbst. Was aber
ist das Leben? Leben ist der Prozess, in welchem aus einem gemeinsamen Urgrund mannigfaltige Einzelwesen entstehen und sich in ihrer Eigenart kontinuierlich entwickeln (Prozess
der Ausdifferenzierung), schließlich aber wieder vergehen, ihre Eigenart auflösen und wieder einschmelzen in den Urgrund (Prozess der Entdifferenzierung). Der Roman Moby Dick
gibt diesen Kurzbegriff des Lebens – Ausdifferenzierung aus und Entdifferenzierung in einen
universalen Urgrund – als Seegeschichte.
40
Melville 1851, 39 (Kapitel 1 „Schemen“); 865 (Epilog)
41
Melville 1851, 39 (Kapitel 1 „Schemen“)
20
„Labyrinthe“ – Drittes Kapitel
(191) Der Urgrund, auf dem und aus dem alles existiert, wird versinnbildlicht durch das
Meer. Als der kleine Junge Pip in die See fällt, versinkt er „in wundersame Tiefen, wo seltsame Schemen aus der noch ungeformten Urwelt vor seinen blicklosen Augen für und
wider glitten und ihm der geizige Meergeist, die Weisheit, seinen angehäuften Hort offenbarte“42. Das Meer ist also der Hort der Weisheit – jener Weisheit, welche die geistigen Bilder der noch ungeformten mannigfaltigen Wesen der einzelnen Arten und Wesen späterer
Geschöpfe in sich trägt. Das Meer ist auf diese Weise Sinnbild der Weltvernunft, die alles
gestaltet und ordnet.43 Vom Ausgucksmann, der hoch auf dem Mast nach Walen Ausschau
halten soll, heißt es, er versinke oft dermaßen tief in einen träumerischen Anblick der See,
„daß er zuletzt sein Ich vergißt und die mystische See zu seinen Füßen für das sichtbare
Abbild jener tiefen, blauen, unergründlichen Seele hält, die Menschheit und Natur durchdringt; ... Kein Leben atmet mehr in dir als das, was dir das sanfte Rollen deines Schiffes
spendet; dies borgt sie von der See; die See von Gottes unerforschlichen Gezeiten“44. Mystik ist das Erlebnis der Einheit des endlichen Ich mit dem unendlichen göttlichen Urgrund.
Wenn die See „mystisch“ ist, dann ist sie das Element, in welchem sich Mensch und Urgrund
begegnen, ja ineinander verschwimmen. Beim Betrachten des Meeres vergisst der Ausguck
daher sein Ich. Er verschmilzt sozusagen mit der See. Nicht mehr die begrenzte Art seines
eigenen Daseins bewegt ihn dann, sondern das sanfte Rollen der im Vergleich zu ihm unendlich weiten See. Dieses sichtbare und fühlbare Wogen des Meeres aber ist sinnenfälliger
Ausdruck einer unsichtbaren Macht, der Macht Gottes, dessen „Gezeiten“ – d. h. dessen lebendige Bewegung – im Meer am Werk ist. Die Gezeiten kommen und gehen, und mit ihnen
all die vielen Wesen, die im Meere und auf ihm umherwimmeln. So ist das Meer Abbild des
Entstehens aus dem Urgrund heraus und des Vergehens in den Urgrund hinein.
(192) Im Moby Dick haben wir viele Einzelwesen vor uns, die irgendwann einmal entstanden sind und jetzt mit all den tausenderlei Einzelheiten, die zu ihrem Dasein gehören, existieren. Der Entstehungsprozess (oder Ausdifferenzierungsprozess) wird zwar nicht geschildert,
er ist aber in der inneren Lebendigkeit des Meeres versinnbildlicht. Als der kleine Pip in’s
Wasser fällt und für eine geraume Zeit untergeht, heißt es: „... da schaute Pip die Scharen
von gottgleich allgegenwärtigen Korallentierchen, die aus dem Firmament der Wasser ihre
gewaltigen Welten türmten. Er sah wie Gottes Fuß den Webstuhl trieb“45. So ist das Meer
Sinnbild des lebendigen Prozesses, der die einzelnen Dinge hervorbringt und in das Gesamtgefüge der Welt einwebt. Melville breitet viele dieser Einzeldinge vor uns aus, er entwickelt
ihre Eigenart, indem er das Porträt einer großen Menge von einzelnen Dingen, Tieren und
Menschen zeichnet. Die Einzelwesen werden alle in ihrer Eigenwirklichkeit geachtet. Ismael
sagt ausdrücklich: „denn es ist nur recht, mit allen Insassen der Welt, in der man haust, auf
gutem Fuß zu stehen“46. Ismael erweitert hier einschlussweise den kategorischen Imperativ,
welcher besagt, man solle keinen anderen Menschen nur als Mittel, sondern immer auch als
Zweck behandeln, auf die gesamte Wirklichkeit aus: Behandle kein Wesen (keinen Stein,
keinen Wal, keinen Menschen) nur als Mittel, sondern immer auch als Zweck.
Zusatz: Ausdifferenzierung (Entstehung) ist notwendig, weil sonst gar nichts existieren würde: Wenn sich das
42
Melville 1851, 645 (Kapitel 93 „Der Verstoßene“)
43
Band II, 120-124
44
Melville 1851, 266f (Kapitel 35 „Im Masttopp“)
45
Melville 1851, 645 (Kapitel 93 „Der Verstoßene“)
46
Melville 1851, 40 (Kapitel 1 „Schemen“)
21
„Labyrinthe“ – Drittes Kapitel
Einzelne nicht aus dem Ganzen herausdifferenziert, bleibt es darin verschlossen wie in einem Klumpen Knetmasse all die Figuren, die man daraus formen könnte. Nur wenn man sie formt, nimmt die Masse bestimmte
Gestalt an, ungeformt ist sie „nichts“ Bestimmtes, nichts Identifizierbares. Wo sich nichts unterscheidet, verfließt alles zum Nichtsein der Unterschiede. Ich gebe ein paar Beispiele der unterschiedlichen Einzelwesen,
welche die bunt differenzierte Welt des Moby Dick ausmachen:
Da sind die Schiffe: Die „Pequod“ mit ihren vielen Eigentümlichkeiten (Kapitel 16) und mit all den Dingen,
die zu Walfang und Navigation erforderlich sind, samt den Betriebsabläufen an Bord und bei der Jagd auf Wale
(z. B. Kapitel 33 mit 35; 48; 60 mit 63; 84; 96; 98; 118; 124 mit 126; 133 mit 135). Aber auch andere Schiffe
werden vorgeführt und ihre Schicksale werden erzählt: So die „Albatros“ (Kapitel 52), die „Town-Ho“ (Kapitel
54), die „Jerobeam“ (Kapitel 71), die „Jungfrau“ (Kapitel 81), die „Rosenknospe“ (Kapitel 91), die „Samuel
Enderby“ (Kapitel 100), die „Bachelor“ (Kapitel 115), die „Delight“ (Kapitel 131) und schließlich die „Rachel“ (Kapitel 128 und Epilog).
Da sind die Mannschaften der genannten Schiffe, vor allem aber die Mannschaft der „Pequod“ mit ihren
ausgeprägten Persönlichkeiten (Kapitel 10; 26 mit 28; 50; 93; 107; 112). Das alles wird von Melville in den
mannigfaltigsten Zügen geschildert. Und es sind andere Menschen, die geschildert werden: Peleg und Bildad
(Kapitel 16), der Prediger Father Mapple (Kapitel 7 mit 9), Elias (Kapitel 19)
Da sind die Wale, die in ihren Arten einzeln aufgelistet und beschrieben werden, deren Natur- und Kulturgeschichte über die Jahrhunderte hin ausführlich berichtet wird, und von denen einzelne gefangene Exemplare
dem Leser in reichen Details vor Augen geführt werden (z. B. Kapitel 24; 25; 32; 41; 42; 44; 45; 55 mit 57; 65;
74 mit 80; 82; 83; 85 mit 90; 92; 102 mit 105; 116).
(193) Die Geschicke von Walen, Schiffen und Mannschaften werden durch viele einzelne
Ereignisreihen und Handlungsketten hin erzählt. Der Strom dieser Ereignisse aber steuert
unerbittlich auf ein Ziel zu: auf den Tod der Wale (Kapitel 61; 73), auf den Untergang und
auf die Vernichtung der „Pequod“ und ihrer Mannschaft (bis auf einen). So ist der Roman,
im Ganzen gesehen, die Darstellung des Vergehens von Schiff und Mannschaft. Die Männer
wie die Schiffsteile verlieren ihre Unterscheidbarkeit, wenn sie am Ende im Meere versinken,
wo sie verfaulen und sich in ihre Bestandteile auflösen. Sie werden wieder eingeschmolzen in
die Elemente, aus denen sie entstanden sind. Die vernichtende und verschlingenden Tätigkeit des Meeres ist Sinnbild der Entdifferenzierung dessen, was zuvor als differenzierte
Wesenvielfalt auf und in ihm sich bewegte. So ist die See dann gleich einem „gähnenden
Abgrund; ... das große Leichentuch“47.
Zusatz: In der babylonischen Kosmogonie, im Alten Testament und in der ionischen Naturphilosophie bei
Thales symbolisieren die ozeanischen Gewässer den Urgrund, aus dem am Anfang alles sich ausdifferenziert.
Das Wasser ist es aber auch, das sich in den großen Kataklysmen wie der biblischen Sintflut (Genesis 6-8) und
der Sintflut des Deukalion (Ovid: Metamorphosen I 240-390) als das Element zeigt, welches das einmal Ausdifferenzierte wieder verschlingt. Dieses Oszillieren zwischen Ausdifferenzierung und Entdifferenzierung wird zur
dominierenden Struktur, nach welcher in der antiken Philosophie die archè – der Urgrund – gedacht wird.48
Entdifferenzierung (Vergehen) ist notwendig, auf dass Neues geschehen könne. Würde kein Wesen vergehen,
so würde die Welt immer im selben Geleise laufen. Das Alte muss dem Neuen räumlich und wirkungsmäßig
Platz machen. Raum und Ressourcen auf der Welt sind nicht unendlich, deshalb muss die alte Generation abtreten, damit neue Daseinsmöglichkeiten finden. Wenn das Selber-Wirken der alten Wesen niemals aufhören würde, dann würde es über die Jahrhunderte derart kumulieren, dass das meiste Neue von vorneherein erstickt würde. Die alten Generationen bleiben zwar durch Vererbung und (im geistigen Bereich) Überlieferung wirksam,
aber diese Wirksamkeit wird nicht mehr von den alten Generationen selber ausgeübt und bestimmt, sondern
wirkt nur in der Brechung durch die Jungen. Die Wirksamkeit des biologischen Erbes wird durch die eigenen
Strukturen und Bedingungen des jungen Organismus begrenzt, und die Wirksamkeit der Überlieferung wird
durch das Verständnis und die Interpretation der Nachfahren geprägt. Wenn diese Brechung nicht wäre, dann
würden sich die Jungen weder biologisch noch geistig-kulturell von den Vorgängern unterscheiden. Ein Generationswechsel wäre dann überflüssig.
47
Melville 1851, 864 (Kapitel 135 „Die Jagd – Der dritte Tag“); vgl. 323 (Kapitel 42 „Das Weiß des Wals“),
sowie in diesem Kapitel III.B.1 „Die Weiße des Wals“
48
Huber 2003, Text XXXIV, 108-111
22
„Labyrinthe“ – Drittes Kapitel
B. Mensch
(194) Die See ist im Moby Dick das Bild des Lebens. Zu diesem reflektierten Lebensbild
kann sich der Mensch auf zweimal doppelte Weise verhalten: zum einen als Handelsmatrose
oder als Walfänger, und zum anderen als Passagier oder als Seemann.
[a]
Der Handel dient der Fristung und Kultivierung des Lebens. Der Handelsmatrose
versinnbildlicht daher das Leben, das sich um Erhalt und Verfeinerung sorgt, indem es
die Verteilung der Nahrungsmittel und Luxusgüter organisiert. Der Walfang verteilt
nicht die Handelsgüter, sondern verschafft den Rohstoff, aus dem sie verfertigt werden. So steht der Walfang dem Ursprung der Handelsgüter näher. Aber nicht nur dem
der Handelsgüter, sondern zugleich dem Ursprung der gesamten Schöpfung steht
der Walfänger nahe, denn der Wal gehört zu den allerersten Geschöpfen. Er wird am
fünften Tag geschaffen und er ist so bedeutend, dass er als einzige Art von allen außermenschlichen Geschöpfen eigens genannt wird49: „Und Gott schuf große Walfische“ (Genesis 1,21)50. Diesen Vers aus dem ersten Buche Moses haben wir in den
„Auszügen“ gefunden, die Melville seinem Roman voranstellt. Ja, er eröffnet die ganze Reihe der Auszüge mit diesem Schriftwort. Der Wal steht dem göttlichen Ursprung
so nahe, weil im Wal die ganze urtümliche Wucht einer übermenschlichen Macht erfahrbar wird. Und deshalb macht der Walfang weit eher als die Kauffahrtei den Menschen geneigt, über die philosophischen Geheimnisse – wie den Ursprung der Welt,
des Unheils und der Wunder in ihr – nachzudenken.
[b]
Der Passagier spürt eine „mystische Schwingung“. Mystik ist das Erleben der Einheit des Endlichen mit dem Unendlichen, während der arbeitende Seemann mit bestimmten Ausschnitten des ganzen Weltgewebes beschäftigt ist, und gar nicht die Zeit
und Muße hat, sich zur Betrachtung des Ganzen zu erheben (denn er muss die alltäglichen Betriebsabläufe besorgen). Der Passagier kann, befreit von der Fron des SichKümmern-Müssens um leidige Einzelheiten, sich in die selige Anschauung des Ganzen versenken. Das Auge des Passagiers schweift über das ganze Schiff und das Gewebe seiner Takellage, sein Blick verschmilzt mit dem weiten Himmelsäther, – während der Seemann seinen Blick auf das Werkzeug richten muss, das er in Händen
Hält, auf Taue und Riemen, Harpunen und Segelnadel. Wenn der Seemann über seiner Arbeit anfängt, wie ein Passagier „mystisch“ zu werden, kann er seine Arbeit
nicht mehr tun. Wenn der Ausguck über die „blaue See“ nachsinniert, wird er Wale
sehen und sie doch nicht sehen, weil seine Aufmerksamkeit nicht auf das Einzelne,
sondern auf das Ganze gerichtet ist, vor dem alles Einzelne zu einem „flüchtige[n]
Etwas“ verschwebt, wie es im folgenden Text heißt. Er wird alles Einzelne vergessen,
– am Ende sich selbst, so dass er schließlich vergisst, sich festzuhalten und aus dem
Ausguck herabstürzt:
49
Die anderen Geschöpfe werden nur als Klassen angeführt: „Und Gott schuf große Walfische und jedes lebende und webende Wesen, das die Wasser zu ihren jeweiligen Arten hervorbrachten“ (Creavitque Deus cete grandia, et omnem animam viventem atque motabilem. quam produxerant aquae in species suas [Genesis 1,21].
Ähnlich heißt es: „Gott sprach auch: Es bringe hervor die Erde das lebende Wesen in seiner jeweiligen Art,
Zugtiere und Kriechtiere und erdbewohnende Tiere gemäß ihren Arten“ (Dixit quoque Deus: Producat terra
animam viventem in genere suo, iumenta, et reptilia, et bestias terrae secundum species suas [Genesis 1,24]).
Der Wal ist die einzige species, die mit Namen genannt wird.
50
Creavitque Deus cete grandia (Genesis 1,21)
23
„Labyrinthe“ – Drittes Kapitel
„‚Hör mal, du Affe’, ging einmal ein Harpunier einen dieser Burschen an, ‚wir stehen nun
hart an drei Jahre auf See, und du hast noch nicht einen einzigen Wal gespickt? Immer
wenn du da oben bist, sind die Wale so selten wie Hühnerzähne.’ Vielleicht waren sie’s
wirklich, oder vielleicht zogen ganze Schulen von ihnen fern am Horizont ihre Bahn; doch
dieser verträumte Jüngling wird durch die Kadenzen der mit seinen Gedanken verschwimmenden Wellen in solch eine opiatische Trägheit gelullt, ist in einem so leeren, allem entrückten Tagtraum versunken, daß er zuletzt sein Ich vergißt und die mystische See
zu seinen Füßen für das sichtbare Abbild jener tiefen, blauen, unergründlichen Seele hält,
die Menschheit und Natur durchdringt; jedes seltsame, nur geahnte, schöne, flüchtige Etwas, das ihm entgleitet, und jede undeutlich gewahrte, steil aufragende Finne eines unsichtbaren Gebildes erscheint ihm als Verkörperung jener flüchtigen Gedanken, die nur
kurz die Seele streifen, da sie unablässig durch sie hindurchschießen. In dieser zauberischen Stimmung sinkt dein Geist dorthin zurück, woher er kam, verströmet sich in Zeit
und Raum ...
... | ... Doch während dieser Schlaf, ja dieser Traum, noch auf euch liegt, bewegt nur einen
Zollbreit euern Fuß oder die Hand und lockert euer Griff, und euer Ich kehrt jäh zurück
mit Grausen. Ihr schwebet über cartesianischen Wirbeln. Doch eines Mittags, und bei
schönstem Wetter, stürzt ihr vielleicht mit einem einz’gen, halberstickten Schrei durch die
kristallklaren Lüfte in die sommerliche See, um nie mehr aufzutauchen.“
Melville 1851, 266f (Kapitel 35 „Im Masttopp“)
Zusatz: Zu den „cartesianischen Wirbeln“ bemerkt der Kommentator (Daniel Göske): „Descartes entwickelte
in Le Monde (1633) die durch Newtons Gravitationslehre später korrigierte Vorstellung vom Rotationsprinzip
als Grundlage des Universums, das er als in unzähligen Wirbeln geformte kosmische Materie begriff“51.
(195) Das Leben ist ein weiter Ozean. In die Geschehniswogen dieses Ozeans mischen sich
auch die geringen Wellen mit ein, die unser Lebensschiff erzeugt. Wir alle wollen nicht nur,
sondern müssen den Inhalt unseres Lebens aus diesem Ozean des großen Lebens holen. Welches Schicksal wir erleben, darauf haben wir wenig Einfluss. Aber wie wir uns aus uns
selbst, aus unserer Persönlichkeit heraus dazu verhalten, was wir aus den Fördernissen und
Hindernissen, die uns in den Weg treten, machen, das liegt bis zu einem gewissen Grad an
uns selbst. Dabei leitet uns ein Bild von uns selber, das einmal deutlicher, einmal weniger
deutlich ist, immer aber dem Leben als Möglichkeit eingezeichnet scheint und von uns zu
ergreifen – das heißt zu realisieren – gesucht wird, wie Narziss sein Bild sah und zu ergreifen
suchte. Von diesem Bild heißt es nun, es sei „das quälende, liebliche Abbild“. Das Abbild
vereinigt also zwei einander widerstreitende Eigenschaften: es quält und es ist lieblich.
[a]
Unser Lebensbild ist einerseits lieblich, weil es uns Erfüllung bietet. Das Lebensbild
richtet sich auf unsere Sehnsüchte und Wünsche, Pläne und Ziele. Es zeigt uns also
die Inhalte, auf die es uns ankommt, die uns zufrieden und glücklich machen im Leben. Und es zeigt uns die Maßstäbe der Anständigkeit, nach denen wir handeln müssen, wenn wir uns selber in die Augen schauen können wollen.
[b]
Andererseits quält uns dieses Lebensbild aber auch, weil wir es nie ganz zu erreichen,
zu verwirklichen vermögen. Wie viele Möglichkeiten unseres Lebens und unserer Talente bleiben nicht ungenutzt, sei es aus Nachlässigkeit, Unfähigkeit oder widrigen
Umständen? Weder dem Umfang noch der Qualität nach sind wir vollständig das, was
wir gerne wären.
51
Melville 1851, 961
24
„Labyrinthe“ – Drittes Kapitel
Zusatz: Mancher Bub, der gut Fußball spielt, würde vielleicht gerne ein ebenso guter Radrennfahrer
sein, aber er muss am eigenen Leib erleben, dass man nur für eine Sache wirklich intensiv trainieren
kann. So ist der Umfang dessen, was wir tatsächlich sind, immer enger als der Umfang dessen, was wir
sein möchten. – Und Welcher Bub, auch wenn er ein guter Fußballer ist, wäre nicht gerne ein noch besserer? So fällt oft auch der Grad an Qualität den wir erreichen, nicht mit dem zusammen, den wir gerne erreichen würden. – In großer Steigerung erlebt die Qual, die damit verbunden ist, wenn man sich
selbst nicht erreicht, Sisyphos, der den Stein den Berg hinaufwälzt, damit er dort liegen bleibe, und der
doch ständig wieder herabrollt.52
(196) Wir springen in’s Leben, wie Narziss in’s Wasser, um unser Selbstsein zu ergreifen.
Das Ende vom Lied ist immer der Untergang: Narziss ertrinkt, wir alle sterben. Das Leben ist
zwar Verfolgung verschiedenster Ziele, am Ende aber steht (mindestens von irdischer Erfahrung aus geurteilt) nicht die Erreichung eines Zieles, sondern die Unmöglichkeit, weiter Ziele
zu verfolgen. Unsere Ziele mögen sein, welche sie wollen. Das Ziel des Lebens selber
scheint die Vereitelung aller Ziele im Tod, mithin die Ziellosigkeit zu sein. So werden auch
Ahab und seine ganze Mannschaft, bis auf Ismael, untergehen. Wir vermögen das Leben
nicht zu greifen und festzuhalten, weder was seine bestimmte Gestalt, noch was seine Dauer
betrifft: Widrigkeiten verändern eine Lebensbahn oft so unmerklich und mit solcher Macht,
dass der Mensch nichts dagegen auszurichten vermag; und gegen den Tod ist der Mensch
vollends machtlos. Jedoch: Es ist dies nicht das letzte Wort des Moby Dick über das Leben,
dass wir in ihm ertrinken und scheitern.
VI. Der Wal
(197) Das Meer, der Ozean, ist also im Moby Dick das Sinnbild des Lebens mit all seinen
Wesen, Kräften und Ordnungen. Was auf dem Ozean – d. h. im Leben – geschieht, entscheidet sich aber immer im Bezug auf den Wal. Alles, was im Buch geschieht, was die Personen
tun und lassen, ergibt sich daraus, dass sie den Wal aufspüren, jagen, fangen, töten, zerlegen,
im Schiffe verstauen und heim nach Nantucket transportieren wollen. Der Wal ist der Ausgangspunkt, die Mitte und der Zielpunkt von allem, was im Roman geschieht. Vor allem aber
ist der Wal im Roman ein handelndes Wesen. Nicht nur der weiße Wal – Moby Dick –, sondern auch andere Wale tragen zur Handlung des Romans bei, indem sie auftauchen, fliehen,
kämpfen und so fort. Denn auf diese Weise bringen sie die Handlung weiter: Das Verhalten
der Wale beeinflusst das Handeln der Walfänger. Kapitän Ahab geht sogar so weit, das, was
die Wale tun – vor allem natürlich das, was Moby Dick tut –, und was man gewöhnlich nur
als instinktives Verhalten betrachten würde, als ein von Absichten geleitetes echtes Handeln
anzusehen (Text E vor § 205). Wale sind besonders mächtige und besonders beeindruckende
Wesen. Sie haben nicht ihresgleichen unter den uns bekannten Geschöpfen. Diese Sonderstellung, die ihnen aufgrund der Übergröße ihres Leibes, ihrer unvorstellbaren Kraft und der verborgenen Rätselhaftigkeit ihres Daseins in Meerestiefen zukommt, macht sie für Melville,
wie wir gleich genauer sehen werden, zum Sinnbild der Gottheit. Was die Wale tun und
sind, gibt Aufschluss darüber, was Gott tut und ist.
(198) Der weiße Wal wird von Melville teils als ein einzelnes Wesen innerhalb der Welt
angesehen, teils gilt er ihm als Sinnbild der Gottheit. Das bedeutet, dass der weiße Wal keineswegs selber als Gottheit gesehen und verehrt wird. Er bleibt immer ein endliches Wesen
unter anderen und wird nicht mit der unsichtbaren Gottheit selbst verwechselt – auch dann
nicht, wenn ihm göttliche Eigenschaften beigelegt werden, wie das in den folgenden Texten
52
Band II, 140ff
25
„Labyrinthe“ – Drittes Kapitel
A mit D besonders deutlich geschieht. Der weiße Wal ist nicht Gott, wohl aber Sinnbild der
Gottheit, und das heißt, dass sich an ihm Eigenschaften zeigen, welche an die Gottheit erinnern. Ahab bekämpft Moby Dick – zum einen – als ein einzelnes Mitgeschöpf, das ihm
feindlich begegnet ist. Er bekämpft ihn – zum anderen – aber auch als Repräsentanten
der Gottheit, wie er sie versteht und wie sie ihm in dem Tier anschaulich wird. Diese beiden Ebenen, die sich im weißen Wal nahezu beständig kreuzen und überlagern, muss man
sorgfältig unterscheiden. Weil sich aber im einzelnen Geschöpf immer das Wirken des
Urgrunds ausdrückt, bringt der weiße Wal, obgleich er nur dieses einzelne Tier ist,
doch immer zugleich auch exemplarisch zum Ausdruck, von welcher Art der in ihm
wirkende göttliche Urgrund ist. Dies ist allerdings bei jedem Geschöpf der Fall. Auch an
einer Ameise oder an einem Goldfisch zeigt sich, wie der numinose Urgrund wirkt. Am weißen Wal freilich zeigt es sich, wegen seiner monumentalen Größe, seiner urtümlichen Kraft,
seiner geheimnisvollen Daseinsweise und der Verbindung von Schrecken und faszinierender
Schönheit, die er darstellt, auf besonders deutliche und beeindruckende Weise.
A. Der Wal als Sinnbild der Gottheit
Text A:
„Doch beim großen Pottwal ist die hohe und hehre, gottgleiche Würde, welche dieser Stirne innewohnt, ins Unermeßliche gesteigert, so daß ihr sie von vorne nicht betrachten
könnt, ohne die Gottheit und alle furchtbaren Mächte stärker zu spüren als beim Anblick
irgendeines anderen Geschöpfes in der beseelten Natur. Ihr seht nämlich nicht einen
Punkt genau – nicht ein bestimmter Zug offenbart sich euch – nicht Nase, nicht Augen,
Ohren oder Mund – nicht das Gesicht (er hat kein richtiges Gesicht), nur dieses weite Firmament einer Stirn, von Rätseln zerrunzelt, die stumm den Booten, Schiffen, Männern den
Untergang androht. Auch im Profil verliert die wundersame Stirn von ihrer Größe nichts,
wiewohl sie in der Seitensicht nicht so beherrschend wirkt. Im Profil könnt ihr deutlich
jene horizontale halbmondförmige Kerbe in der Mitte der Stirn erkennen, welche laut Lavater beim Menschen das Genie kennzeichnet.
Wie das? Genie beim Pottwal? Hat denn der Pottwal je ein Buch geschrieben, je eine
Rede gehalten? Nein, sein großes Genie bekundet sich dadurch, daß er nichts Besonderes
tut, um es zu erweisen. Es bekundet sich außerdem durch sein pyramidales Schweigen. ... |
...
Champollion hat die in Granit geschlagenen Hieroglyphen entziffert. Aber einen Champollion, der das Ägyptisch im Antlitz jedes Menschen und jedes Wesens überhaupt entziffern könnte, den gibt es nicht. ... Wenn also selbst Sir William Jones, der dreißig Sprachen
las, es nicht vermochte, das Antlitz eines schlichten Bauern in seinem tieferen Sinne zu
lesen – wie kann der unbelesene Ismael dann hoffen, das altehrwürdige Chaldäisch auf
der Pottwalstirn zu lesen?“
Melville 1851, 544f (Kapitel 79 „Die Prärie“)
Text B:
„... mit welch dämonischer Gleichgültigkeit der Weiße Wal seine Jäger, gleich ob Gerechte
oder Ungerechte, in Stücke riß ...“
Melville 1851, 810 (Kapitel 130 „Der Hut“)
Text C:
„So zog Moby Dick seine Bahn durch die heitere Stille der tropischen See, zwischen Wellen, welche nicht mehr klatschend applaudierten, sondern verzückt verstummten, den vollen Schrecken seines mächtigen Rumpfes noch unter Wasser verborgen, das Grauen seines gräßlich verformten Kiefers den Blicken entzogen. Kurz darauf aber hob sich sein
26
„Labyrinthe“ – Drittes Kapitel
Kopf gemächlich aus dem Wasser, und für einen Wimpernschlag krümmte der Wal seinen
ganzen Marmorleib in einem hohen Bogen, Virginias Felsenbrücke gleich, über die See:
Der mächtige Gott offenbarte sich, schwenkte zur Warnung das Banner seiner Fluken,
tauchte weg und war verschwunden.“
Melville 1851, 828 (Kapitel 133 „Die Jagd – Der erste Tag“)
Text D:
„‚Der Wal! Das Schiff!’ schrien die Männer, die Mienen angstverzerrt. ... | ... | ... Fast alle
Mann standen untätig im Bug des Schiffes, hielten die Hämmer, Plankenstücke, Lanzen
und Harpunen achtlos in den Händen, so wie sie gerade von ihren verschiedenen Arbeiten
herbeigestürzt waren, und hingen mit ihren Blicken wie gebannt an dem Wal, der sein
vorherbestimmendes Haupt seltsam hin- und herschwenkte, als er in einem breiten Halbkreis aus brodelnder Gischt heranstürmte. Sein ganzer Anblick verhieß Rache, rasche
Vergeltung und ewige Arglist, und keine Macht auf Erden konnte ihn hindern, mit dem
massigen weißen Klotz seiner Stirn den Bug steuerbords zu rammen, daß Masten und
Männer wankten. Wie lose Flaggenknöpfe wackelten den Harpunieren droben im Rigg die
Köpfe auf ihren Stiernacken. Drunten hörte man die See durch das Leck ins Schiff strömen, wie ein reißender Wildbach durch eine Bergklamm rauscht.“
Melville 1851, 860 und 862 (Kapitel 135 „Die Jagd – Der dritte Tag“)
(199) Das Zerstörerische des Wals, die von seiner unvorstellbaren Stärke ausgehende Gefahr, ist das in erster Linie Fesselnde am Moby Dick. Dass der Roman Melvilles auch eine
Abenteuergeschichte ist, hängt damit und mit der Seefahrerromantik zusammen, die wohl
jeden jungen Menschen anspricht. Schon ganz junge Schüler werden sich daher sicherlich
nicht ungern auf Moby Dick einlassen. In gewisser Weise ist das Zerstörerische das Erste und
Hauptsächliche, was bei der Geschichte von Moby Dick greifbar wird.53 Auch die eben angeführten Texte heben auf die vernichtende Macht des weißen Wals ab. Aber was bedeutet die
Zerstörung? Warum verhält sich der weiße Wal gerade auf diese Weise? Wozu dient Untergang und Zerstörung? Darauf scheint der ganze Roman keine befriedigende Antwort zu geben. Zwar heißt es im Text D, Moby-Dick verstümmele und töte die Männer aus „Rache“.
Das können wir verstehen und nachvollziehen: Der weiße Wal wurde oft gejagt und angegriffen. Für die Schmerzen, die er dadurch erdulden musste, will er Vergeltung üben. Deshalb hat
er einst dem Kapitän Ahab das Bein abgebissen und deshalb hat er später das Schiff seiner
Verfolger versenkt. Ist es also bei Moby Dick wie bei einem Hund, der zuschnappt, wenn er
gereizt wird? Aber warum hätte Melville darüber einen riesigen Roman schreiben sollen?
Können ein Betriebsunfall beim Walfang und das Instinktverhalten eines gejagten Tieres so
faszinieren, wie es die Geschichte um Ahab und den Wal tut? Eines scheint klar zu sein: Es
muss um mehr gehen in der Geschichte von Moby Dick als um eine Fischereigeschichte.
„Denn irgendein Sinn ist in allen Dingen verborgen, sonst sind sie wenig wert, sonst ist die
ganze Erde nur eine leere, wertlose Chiffre, die man fuderweise verkauft, um einen Morast
in der Milchstraße zu füllen, etwa so, wie man mit den Hügeln um Boston verfährt.“
Melville 1851, 665f (Kapitel 99 „Die Dublone“)
(200) Um hier weiterzukommen, muss man beachten, dass nahezu alles in Melville’s Roman nicht nur sich selbst meint, sondern immer auch auf etwas Anderes deutet. So gewinnt
53
Das Zerstörerische kommt in Moby Dick besonders deutlich zum Ausdruck, ist aber für viele Wale kennzeichnend (Melvile 1851, 336f, Kapitel 45 „Eidesstattliche Erklärung“)
27
„Labyrinthe“ – Drittes Kapitel
alles durchgängig eine sinnbildliche Dimension.54 Und tatsächlich: Moby Dick ist nicht irgendein Wal, der sich wehrt und rächt, sondern Sinnbild für Größeres, nämlich für die Gottheit selbst. Denn vom weißen Wal steht geschrieben,
[a]
[b]
[c]
[d]
seine Stirn sei ein „Firmament“ (Text A),
er selbst sei von „dämonischer“ Gleichgültigkeit (Text B),
er sei der „mächtige Gott“, der sich „offenbart“ (Text C)
er sei ein die Schicksale „vorherbestimmendes Haupt“ (Text D).
1. Personalität
(201) Gott ist Person. Das heißt, dass Gott die intentionale Macht hinter allem Geschehen
ist, d. h. dass er alles Geschehen nach Absichten einrichtet und lenkt, nach Absichten, die –
jedenfalls für eine unendliche Vernunft – einsehbar sind. Für die Religionen und für die meisten Philosophien gilt die Welt als im Prinzip verstehbar (wenn auch, aufgrund unserer nur
endlichen Vernunft, nicht vollständig) und als zweckmäßig gebaut. Die Welt gilt nicht als
Resultat eines blind zufällig ablaufenden Geschehens, sondern als Resultat von Gottes Handeln ist.55 Deshalb sagt das Johannesevangelium: „Im Anfang war das Wort und das Wort
war bei Gott“ (Johannes 1,1)56. Das Wort, der
, ist der Ausdruck von Sinn und Intelligibilität. Unsinnige Laute sind keine Worte, unverstehbare Worte verlieren ihren wesentlichen Charakter, der darin besteht, Ausdruck und Träger von Sinn zu sein. Zwar kann man mit
Worten Unsinn ausdrücken. Aber das kann nur dadurch geschehen, dass der den Worten an
sich innewohnende Sinn durch eine widersinnige Zusammenstellung verdreht wird.
(202) Nun heißt es vom Pottwal, in seiner Stirn lasse sich nichts unterscheiden, man sehe
„nicht einen Punkt genau“ (Text A), ja er habe gar „kein richtiges Gesicht“ (Text A), kein
„Angesicht“57. Personen aber haben Gesichter. Selbst andere Tiere, wie Hunde und Pferde,
haben Gesichter. Das Gesicht ist der Ort des „Sehens“, d. h. des verstehenden Wahrnehmens. Weil im Wort sich das Verstehen ausdrückt, das sich über das Gesicht ereignet, gehören Wort und Gesicht zusammen: beides gemeinsam macht die Person aus. Auch Hunde und
Pferde verstehen ihre Umwelt, allerdings nur in den engen Grenzen ihrer biologischen Bedürfnisse und ohne die Fähigkeit, dieses Verstehen auszudrücken. Deshalb haben sie zwar ein
Gesicht, verfügen aber nicht über das Wort und sind keine Personen.
54
Der Wal selbst (vgl. das Folgende), See und Seefahrt (33-40, Kapitel 1), Schiff und Kanzel (89, Kapitel 8),
die Besatzung (209, Kapitel 27), die Matte (351f, Kapitel 47), die Leine (350ff, Kapitel 60), der Wurf (461,
Kapitel 62), die Haie (480f, Kapitel 66), der Walkopf (516, Kapitel 73), die Tranöfen 655-659, Kapitel 96), das
Aufklaren des Schiffes (664, Kapitel 98), der Quadrant (762, Kapitel 118), die Kompssnadel 787f, Kapitel 124),
der Sarg (797f, Kapitel 126; 865, Epilog), die Schiffsnamen (806, Kapitel 128; 866, Epilog), das Gangspill (823,
Kapitel 132)
55
Das gilt nicht für den Buddhismus, der keine vernünftige lenkende göttliche Instanz kennt. Das Absolute wird
als Nirvana gedacht und von ihm werden persönliche Prädikate negiert. Das wird man aber nicht als Atheismus
auffassen müssen (wie oft gesagt wird), sondern als Agnostizismus, der das, was in anderen Religionen „Gott“
heißt, weder behauptet noch leugnet. Man hat gesagt, Buddha denke die Welt als eine „göttliche Welt ohne
Gott“. Man könnte also sagen, die Intelligibilität und Zweckmäßigkeit der Welt werden gesehen, aber nicht auf
eine intelligible und absichtsgeleitete Instanz zurückgeführt. Allerdings wird diese Instanz auch nicht ausgeschlossen. Sie wird weder behauptet noch geleugnet. Vgl. Heiler 1982, 174; 180-183 (Das Zitat von der „göttlichen Welt ohne Gott“ findet sich 181).
56
In principio erat verbum et verbum erat apud Deum (Johannes 1,1). – Band II, 199
57
Melville 1851, 592 (Kapitel 88 „Schulen und Schulmeister“)
28
„Labyrinthe“ – Drittes Kapitel
Zusatz: Um Person zu sein, muss man nicht faktisch sehen und sprechen können: Blinde und Stumme sind
sehr wohl Personen. Person ist, wer einer biologischen Art angehört, die über biologisch funktionale Grenzen
hinaus, die Welt verstehend wahrnehmen und den verstandenen Sinn artikulieren kann. Diese Fähigkeit ist –
soweit wir wissen – nur der menschlichen Art eigen. Die Fähigkeit muss jedoch nicht aktuell realisiert sein:
Auch wer schläft, sieht und spricht nicht, dennoch bleibt er Person. Und so bleibt auch ein behinderter Mensch,
der niemals sieht und spricht, Person, weil er der Menschenart angehört. Er ist nur ein Spezialfall des Schlafenden. Entsprechendes gilt vom Embryo in allen Stadien von der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle an: In
dem zum Verschmelzungszeitpunkt vorhandenen Wesen ist die für die menschliche Art kennzeichnende Fähigkeit zum Verstehen und zum „Wort“ gegeben (von woher und auf welche Weise sollte sie später erst hinzutreten?), und somit ist die Person gegeben.
Hund und Pferd verfügen nicht über das Wort (den Ausdruck verstehenden Wahrnehmens). Sie sind nicht nur
aktuell stumm (wie ein stummer oder entsprechend behinderter Mensch), sondern auch potentiell: Ihre biologische Konstitution sieht selbst bei den vollständig entwickelten Exemplaren der Art die Möglichkeit des Sprechens gar nicht vor. Sie haben kein Wort, wohl aber könnte man sagen, sie sind „Wort“: d. h. sie sind Realisierungen einer Zweckmäßigkeit, die man verstehen und aussprechen kann. Sie selber können diese Zweckmäßigkeit nicht aussprechen, sondern nur sein. Als zweckmäßig gebaute Geschöpfe sind sie Ausdruck eines schöpferischen Sinnwillens, der das Wort gedacht und gesprochen hat, das sie formt. Sie sind Ausdruck dafür, dass das
Wirklichkeitsgeschehen nicht blinder Zufall bestimmt, sondern Zielstrebigkeit, verstehbare Absicht. Wenn wir
tausendmal einen Würfel werfen, so gibt es an der Häufigkeitsverteilung, mit der die einzelnen Augenzahlen
auftreten, nichts zu „verstehen“: sie kommen zufällig, und ob die eine oder die andere Augenzahl kommt, macht
keinen Unterschied. Einen Unterschied macht es erst, wenn es ein Kriterium gibt, in Bezug auf welches, nicht
mehr jede Augenzahl den gleichen Wert hat. Ein solches Kriterium ist beim Würfeln etwa eine bestimmte Spielsituation: Wenn ich z. B. gerade „eins“ oder „zwei“ brauche, um meine Figur beim „Mensch-ärgere-Dich-nicht“
in’s Ziel zu bugsieren, dann ist es nicht mehr gleichgültig, wie viele Augen der Würfel zeigt. In der Wirklichkeit
verhält es sich ganz ähnlich: Es macht keinen Unterschied, was geschieht, es sei denn in Bezug auf bestimmte
Gestaltungen, die vor anderen sein sollen: Wenn z. B. eher ein Pferd sein soll, als ein wirrer Materiehaufen,
dann ist es nicht gleichgültig, was von dem, was physikalisch und chemisch möglich ist, geschieht. Dieses Bestimmte, das vor anderem sein soll, ist es, was wir Sinn nennen. Sinn ist das Kriterium, welches dem Geschehen
Richtung gibt, d. h. das, was an sich möglich wäre, begrenzt auf das, was sein soll. Solche Kriterien können
natürlich oder sittlich sein. Der genetische Code eines Wesens z. B. ist ein natürliches Kriterium, das die
Entwicklung auf ein bestimmtes Ziel hin sichert, d. h. alternative Möglichkeiten – wie etwa dass sich aus einer
Kröte ein Fisch, aus einer Katze ein Hund entwickeln würde und dergleichen – ausschließt. Das Gebot „Du
sollst nicht töten“ ist ein sittliches Kriterium, welches die Handlungsmöglichkeiten des Menschen auf das humane Maß eingrenzt und ausrichtet. Wenn wir den Sinn erfasst haben, auf den hin etwas geschieht, dann haben
wir das betreffende Geschehen verstanden. Diesen Sinn sprechen wir dann im Wort aus: als naturwissenschaftliche Formel, als sittliches Gesetz.
(203) Laut Text A hat der Pottwal nicht einfach „kein Gesicht“, sondern kein „richtiges“
Gesicht. Diese Einschränkung kann man doppelt auffassen. Kein „richtiges“ Gesicht zu haben kann bedeuten, dass das, was nach Gesicht aussieht, kein echtes Gesicht ist. So verstanden, hätte der Pottwal auch keine Persönlichkeit und wäre so aber folglich auch kein Sinnbild
der Gottheit. Andererseits könnte das Nichthaben eines „richtigen“ Gesichts aber auch nur
bedeuten, dass der Wal ein Gesicht hat, das nicht dem entspricht, was wir als Gesicht kennen.
Dann hätte der Pottwal sehr wohl ein Gesicht und damit auch eine Persönlichkeit, die allerdings unserem Richtmaß von Gesicht und Personalität nicht völlig entsprächen: Gesicht und
Persönlichkeit des Pottwals würden dasjenige, was wir als Gesicht und Persönlichkeit von
uns selber her kennen, übersteigen. So verstanden, wäre der Pottwal durchaus ein Sinnbild
der Gottheit, deren Weisheit ja ebenfalls die des Menschen weit übersteigt. Melville versteht
die Aussagen, der Pottwal habe kein Gesicht, im zweiten Sinn: Er hat kein Gesicht wie wir
eines haben, sondern ein das unsere übersteigendes Gesicht: Es ist die „gottgleiche Würde,
welcher dieser Stirne innewohnt, ins Unermeßliche gesteigert“ (Text A). Die Stirn ist Sitz
des Denkorgans, aber das Denken des Wals ist gegenüber dem unsrigen immens gesteigert:
Was der Wal denkt, geschieht auch, denn er verfügt über ein „vorherbestimmendes Haupt“
(Text D), d. h. sein Geist ist es, den Weltlauf vorherbestimmt und letztlich verfügt, was die
29
„Labyrinthe“ – Drittes Kapitel
„Parzen“ (Fates) verhängen, die ja nur „Regisseure“ (stage managers)58 sind und daher also
nur dasjenige dienend ausführen, was das „vorherbestimmende Haupt“ der Gottheit entscheidet. Der Wal ist Sinnbild des Gottes, der aus weiser Vorsehung das Weltregiment führt.
Die Rätselrunen der Pottwalstirn zeigen die Gedanken Gottes, die alles im Innersten zusammenhalten, nach außen zu uns her an. Nach innen in den Geist des Wals selbst hinein, sind sie
keineswegs rätselhaft, ihm – der von ihm versinnbildlichten Gottheit – sind sie durchsichtig
und klar. Wenn der Wal aber den Sinn, der sich uns im Rätsel der Welt verbirgt, versteht,
weil er ihn selber als Weltlogos gedacht und schaffend ausgesprochen hat, wie verhält es sich
dann mit dem Schweigen des Wals? Tatsächlich schweigt der Pottwal auch nur, weil sein
Sprechen menschliches Verstehen übersteigt: „sein großes Genie bekundet sich dadurch,
daß er nichts Besonderes tut, um es zu erweisen. Es bekundet sich außerdem durch sein
pyramidales Schweigen“ (Text A). Das Schweigen des Pottwals ist nicht Sprachlosigkeit,
sondern wird von Melville als Sinnbild für ein inneres Wort aufgefasst. Die Rätselrunen seiner Stirne schauen deshalb auch wie – allerdings für uns unverständliche – Worte aus: „wie
kann der unbelesene Ismael dann hoffen, das altehrwürdige Chaldäisch auf der Pottwalstirn zu lesen“ (Text A)? Dieses „Chaldäisch“ ist die innere intelligible Selbstverständigung
des Wals über seine vorherbestimmenden Ratschlüsse. So entspricht es dem
, von dem
der Evangelist Johannes spricht. Melville fasst also die Gesichtslosigkeit und das Schweigen
des Pottwals als Sinnbild für ein Gesicht und ein Wort auf, das menschliches Verstehen übersteigt. So wird der Wal zum Sinnbild der persönlichen Gottheit.
(204) Im folgenden Text E wird die Ebene der Versinnbildlichung der Gottheit zwar verlassen, und Moby Dick wird von Ahab als ein Geschöpf unter anderen betrachtet. Selbst dabei
aber ist der weiße Wal für Kapitän Ahab vor allem ein Anlass, um darüber zu spekulieren,
was „hinter“ den Dingen der Welt liegt und ihr Verhalten im Letzten bestimmt. So ist der
weiße Wal doch auch hier ein Spiegel der Einsichten, die Ahab über die Gottheit zu haben
glaubt.
Text E:
„‚Aye, Starbuck, aye, all ihr wackeren Burschen – es war Moby Dick, der mich entmastet
hat, es war Moby Dick, der mir diesen toten Stumpf beshert hat, auf dem ich jetzt stehe.
Aye, aye!’ schrie er mit einem schrecklichen, lauten, tierischen Schluchzen, wie der Schrei
eines ins Herz getroffenen Elchbullen. ‚Aye, aye! Es war dieser verfluchte weiße Wal, der
mir den Mast abgeschlagen hat, der aus mir bis ans Ende meiner Tage einen erbärmlichen, humpelnden Krüppel gemacht hat!’ Darauf schüttelte er die Fäuste gen Himmel und
schrie seine maßlosen Verwünschungen hinaus: ‚Aye, aye, und ich werd ihn ums Kap der
Guten Hoffnung hetzen und auch ums Horn herum und um Norwegens Mahlstrom und
durch die Flammen der Verdammnis, eh ich die Jagd verloren gebe. Und, Männer, das ist
es, wofür ihr angeheuert habt! Diesen weißen Wal zu jagen, auf beiden Ozeanen, in allen
Winkeln der Welt, bis schwarzes Blut er bläst und tot im Wasser treibt. Was meint ihr,
Männer, wollen wir darauf die Hände spleißen? Nun? Ihr scheint mir Mut zu haben.’
‚Aye, aye!’ schrien die Harpuniere und die einfachen Seeleute und scharten sich enger
um den erregten alten Mann: ‚Ein scharfes Auge für den Weißen Wal, eine scharfe Lanze
für Moby Dick!’
‚Gott segne euch!’ Halb schrie er es, halb schluchzte er. ‚Gott segne euch, Männer. Steward! Gib jedem Mann eine große Portion Grog. Doch was soll das lange Gesicht, Mr.
Starbuck? Willst du den weißen Wal nicht jagen? Fehlt’s dir an Mut für Moby Dick?’
‚Ich habe genug Mut für sein schiefes Maul und selbst für den Rachen des Todes, Kapi58
Melville 1851, 39 (Kapitel 1 „Schemen“); Melville 1939, 11; Melville 1994, 25
30
„Labyrinthe“ – Drittes Kapitel
tän Ahab, wenn’s mir | bei unserem Handwerk so beschieden ist. Aber ich bin hierher gekommen, um Wale zu jagen, nicht um meinen Kapitän zu rächen. Wieviel Fässer wird dir
deine Rache bringen, wenn sie dir denn gelingt, Kapitän Ahab? Sie wird dir wenig einbringen auf Nantuckets Markt.’
‚Nantuckets Markt – pah! Doch tritt näher Starbuck, mit dir muß ich ein bißchen tiefer
schürfen. Mann, wenn Geld das Maß aller Dinge sein soll und die Buchhalter ihr großes
Kontor, den Erdball, ausgerechnet haben, indem sie ihn mit Guineen gürten, eine für jeden Drittelzoll – dann, so laß es dir gesagt sein, wird meine Rache reichlich Zinsen tragen
– und zwar hier!’
‚Er schlägt sich an die Brust’, flüsterte Stubb. ‚Wozu nur? Mir scheint, sie dröhnt gewaltig, doch klingt sie innen hohl.’
‚Rache an einem stummen Tier!’ rief Starbuck, ‚das einfach dich aus blindem Trieb getroffen! Ein Wahnsinn! Zu wüten gegen ein stummes Ding, Kapitän, erscheint mir grad
wie Gotteslästerung.’
‚Hör nochmals her – wir müssen tiefer schürfen. Mann, alles, was du siehst, gleicht einer Pappenmaske. In allem aber, was geschieht – im echten Handeln, in der bedenkenlosen Tat –, scheint das Gebilde eines unbekannten, jedoch vernunftbegabten Dings hinter
der vernunftlosen Maske auf. Wenn der Mensch schlagen will, so schlag er durch die
Maske! Wie kann der Häftling denn ins Freie, wenn er die Mauer nicht durchbricht? Für
mich ist dieser weiße Wal die Mauer, dicht vor mich hingestellt. Dahinter, denk ich
manchmal, ist nichts mehr. Gleichviel, genug damit. Er fordert mich heraus, er überhäufet
mich; ich sehe in ihm frevelhafte Kraft, von sehniger und unfaßbarer Arglist angetrieben.
Dies unfaßbare Ding ist es vor allem, was ich hasse; und ob der weiße Wal nun Werkzeug
oder ob der weiße Wal der Urheber von allem ist, ich werd mit diesem Haß ihn überziehen.
Sprich du mir nicht von Gotteslästerung, | Mann; ich würde selbst die Sonne schlagen,
wenn sie mich beleidigt. ... Wer steht denn über mir? ...’“
Melville 1851, 272-274 (Kapitel 36 „Das Achterdeck“)
(205) Ahab will sich am weißen Wal rächen. Rache, Vergeltung, ist eine Kategorie der
Gerechtigkeit. Sie ist das Prinzip, jemandem das anzutun, was er für seine Tat verdient. Das
setzt natürlich voraus, dass der Betreffende Herr seiner Tat war, d. h. dass sie ihm zurechenbar ist. Rächen kann man sich nur an Personen, nicht an Dingen, weil Dinge nicht aus Wille
und Absicht heraus handeln, sondern kausalen Notwendigkeiten unterliegen, die nicht ihrer
Verfügung unterliegen. So gehen Ereignisse, die durch Dinge in Gang gesetzt werden, nicht
eigentlich von diesen Dingen aus, sondern von den kausalen Notwendigkeiten, die durch die
Dinge hindurch wirken. Der Ursprung der Ereignisse liegt nicht in den Dingen, durch welche
sie ausgelöst werden, sondern in den Gesetzmäßigkeiten, denen die Dinge unterliegen, über
deren Wirksamwerden sie jedoch nicht selbst entscheiden. Anders bei Handlungen, die
durch Personen vollbracht werden. Hier gehen die Ereignisse von der Person selbst aus, denn
deren Wille entscheidet darüber, ob die Gesetzmäßigkeiten, nach denen Ereignisse ablaufen
(Naturkausalität, psychische Faktoren, persönliche, kulturelle, wirtschaftliche, religiöse oder
sonstige Gründe, die eine Handlung bestimmen), in Gang gesetzt werden oder nicht.
Zusatz: Wenn ein Beil von der Wand, an der es aufgehängt ist, herunterfällt und einen Menschen erschlägt,
ist es nicht das Beil, welches das Ereignis in Gang setzt, sondern die Schwerkraft, der lockere Nagel und der
Umstand, dass der betreffende Mensch gerade zu diesem Zeitpunkt gerade an jenem Ort stand. Wenn aber einer
ein Beil von der Wand nimmt, um damit aus Rache einen anderen zu erschlagen, dann wirkt zwar dieselbe Gesetzmäßigkeit der Schwerkraft und es wirkt der Umstand, dass das Opfer da ist, wo der Täter es sucht, aber
beides würde nicht wirken, wenn der Täter ihr Wirken nicht in Gang gesetzt hätte. Deshalb ist er der Ursprung,
von dem das Ereignis ausgeht, und das Ereignis ist daher eine Handlung. Auch alle die Umstände, die im Inneren des Täters wirken, psychische Faktoren, kulturelle oder religiöse Gründe, die ihn vielleicht veranlassen,
Gerechtigkeit eher in blutiger Rache als auf andere Weise zu suchen (oder gar zu verzeihen), wirken nicht na31
„Labyrinthe“ – Drittes Kapitel
turgesetzlich (sozusagen „automatisch“), sondern nur vermittelst dessen, wie der Täter diese Gründe beurteilt
und bewertet. Und selbst diese Beurteilung und Bewertung kann nur wirksam werden, wenn der Täter sie für
sein Handeln bestimmend werden lässt, d. h. wenn er das Beurteilungsergebnis „Ich sollte den anderen mit dem
Beil erschlagen“ in die Tat umsetzen will.
(206) Ahab skizziert in seiner kurzen Äußerung Starbuck gegenüber drei Weisen, die Wirklichkeit zu verstehen. Was ist es (das ist die Frage, auf die er antworten will), was die Wirklichkeit beherrscht? Was steht „hinter“ den Phänomenen als das Gesetz, das sie lenkt? Ahabs
Frage entzündet sich natürlich an seiner Erfahrung mit Moby Dick: Hat dieser weiße Wal, als
er Ahab das Bein abriss, aus blind zufälligem Drang gehandelt? Oder war er das willenlose
Werkzeug einer höheren Macht, die sich in ihm manifestiert hat? Oder war er selbst willentlicher Urheber von Ahabs Qual? Ahab schwankt zwischen diesen drei Möglichkeiten, und
er verallgemeinert sie: „In allem aber, was geschieht“, sagt er – in allem also, was wirkt – ist
entweder Zufall oder eine fremde oder die eigene Absicht des Wirkenden am Werk. Im weißen Wal zeigt sich für Ahab somit exemplarisch, von welcher Art die Kraft ist, die in allen
Wesen wirkt. Ahab erwägt die drei genannten Alternativen, wie der Urgrund und sein Wirken
in den Dingen zu verstehen sein könnte:
[a]
„Dahinter, denk ich manchmal, ist nichts mehr“. In diesem Falle wäre die Wirklichkeit von blindem (vernunftlosem) Zufall beherrscht. Dies ist die evolutionistische Variante, die letztlich nihilistisch ist: Die Wesen sind nicht, was sie scheinen. Sie sind
Gestaltungen eines letzten, formlosen Substrats, mithin Gestaltungen von Nichts.59
Aber das ist nicht Ahabs Meinung. Eine solche Sicht der Dinge überkommt ihn nur
„manchmal“, aber wenn er dann den Wal erlebt, scheint ihm dessen Verhalten keineswegs absichtslos: „Er fordert mich heraus, ... ich sehe in ihm frevelhafte Kraft,
von sehniger und unfaßbarer Arglist angetrieben“. Ahab glaubt also im Letzten
nicht an das absichtslose und Vernunftlose in Moby Dicks Verhalten. Was vernunftlos
geschieht, ist bloß Ereignis, nicht Handlung. Melville selbst spricht diesbezüglich von
„event“60. Moby Dicks Verhalten aber ist für Ahab nicht „event“, sondern wirkliches
Handeln. Und das scheint nicht nur Ahabs Eindruck, sondern die allgemeine Weltsicht der Walfänger zu sein. Ismael sagt ganz allgemein: „Nun waren Unglücksfälle
dieser Art beim Walfang alles andere als ungewöhnlich, auch wenn sie an Land
wenig Beachtung fanden; doch wirkte in den meisten Fällen des Weißen Wales
vorbedachte Wildheit offenbar derart teuflisch, daß kein von ihm verursachter
Schaden an Leib oder Leben gänzlich als Tat eines vernunftlosen Werkzeugs angesehen wurde“61. So bleibt es für Ahab dabei, dass nichts in der Welt vernunftlos und
absichtslos geschieht – weder in der menschlichen noch tierischen noch toten, mineralischen Natur. So sagt es ausdrücklich Text E: „In allem aber, was geschieht – im
echten Handeln, in der bedenkenlosen Tat – scheint das Gebilde eines unbekannten, jedoch vernunftbegabten Dings hinter der vernunftlosen Maske auf“.
Zusatz: Das scheinbar in sich Vernunftlose, wie etwa ein Tier – das ist der entscheidende Punkt in
Ahabs Weltverständnis – ist nicht wirklich vernunftlos. Der Schein der Vernunftlosigkeit im Naturgeschehen ist nur Maske: Die Vernunft maskiert sich als Unvernunft. Damit hält Melville die entschiedene Gegenposition zur evolutionistischen Auffassung, welche umgekehrt die Vernunft als bloße Maske
der Unvernunft verstehen will. So sagt etwa Nietzsche: „ich ... sehe in der Logik selber noch eine Art
59
Band II, 157ff
60
Melville 1994, 167; Melville 1939, 143
61
Melville 1851, 303 (Kapitel 41 „Moby Dick“)
32
„Labyrinthe“ – Drittes Kapitel
von Unvernunft und Zufall“62.
Die beiden folgenden Alternativen kommen darin überein, dass sie im Gegensatz zu [a] „hinter“ den Ereignissen einen absichtsgeleiteten Willen annehmen, also die Existenz eines
„unbekannten, jedoch vernunftbegabten Dings hinter der vernunftlosen Maske“. Die Frage ist dann, auf welche Weise dieser Wille in den Dingen wirkt:
[b]
Wirkt er selbst mittels der Dinge, wie ein Marionettenspieler mittels seiner Puppen
wirkt? Dann gäbe es keine Freiheit in der Welt. Dies ist, wie man sagen könnte, die
deistische Variante: Gott (das „unfaßbare Ding“) hat die Welt eingerichtet wie ein
Uhrwerk, und die Bewegung ihrer Räder ist niemals Ausdruck auch eigenen Willens
und eigener Absicht, sondern jederzeit nur Ausdruck eines fremden Willens, des Willens Gottes. Auch das „echte Handeln“ (living act) – das Handeln des Menschen – wäre, wenn man es dergestalt als „Werkzeug“ versteht, nur „Maske“.
Zusatz: Eine Maske ist eine persona auf dem Theater, d. h. die Person in einem Bühnenstück. Eine
solche ist nicht für sich wirklich, sondern ein Zustand, in den sich der Schauspieler bringt. Wirklich im
vollen Sinn ist nur der Schauspieler, nicht die von ihm verkörperte Figur: Jemand konnte Gustaf
Gründgens auf der Straße treffen und mit ihm sprechen, nicht aber mit Hamlet oder Mephisto. Letztere
haben nur Bühnenwirklichkeit. Gustaf Gründgens konnte Entschlüsse treffen und entsprechend handeln, nicht jedoch Hamlet und Mephisto: diese Bühnenpersonen müssen tun, was andere, wirkliche
Personen – Shakespeare und Goethe – ihnen vorschreiben. Sind wir alle gar nicht die Urheber unserer
Taten, sondern nur agierende Figuren eines anderen Stückeschreibers?
[c]
Oder wirkt der Urgrund so, dass er die Dinge hervorbringt und einige dieser Dinge
auch selbst und frei wirken lässt? In diesem Fall wären die Wesen, insoweit sie über
Freiheit verfügen, nicht bloß „Werkzeug“ eines anderen Willens, sondern willentliche
„Urheber“ ihrer eigenen Taten63 (sie wirken durch sich selbst – per se –, obgleich sie
die Fähigkeit zu eigener Urheberschaft sich nicht aus sich selbst – a se – gegeben,
sondern sie von einer anderen Instanz – ab alio – nämlich vom „unfaßbare[n] Ding“
her kraft Erschaffung erhalten haben64).
2. Selbstsein
„Ist Ahab Ahab? Bin ich’s, ist’s Gott oder wer sonst, der diesen Arm erhebt? Wenn aber
nicht einmal die große Sonne sich aus sich selbst bewegt, sondern als Botenjunge durch
den Himmel läuft ..., wie kann dann dieses eine kleine Herz hier Gedanken hegen – es sei
denn, Gott treibt diesen Herzschlag, denkt diese Gedanken, lebt dieses Leben, und nicht
ich. Beim Himmel, Mann wir werden um und um gedreht in dieser Welt wie jenes Gangspill dort; und das Schicksal ist die Spake“
Melville 1851, 822f (Kapitel 132 „Die Symphonie“)65
62
Nietzsche XI 253 (Sommer-Herbst 1884, 26[388])
63
Das freie Wesen ist nicht bloß agent eines anderen, sondern selbst principal, wie unser Text E im Original
sagt (Melville 1994, 167)
64
Band II, 195 und Band I, § 113 mit Zusatz
65
Im Original heißt es: God does that beating, does that thinking, does that living, and not I. By heaven, man,
we are turned round and round in this world, like yonder windlass, and Fate is the handspike (Melville 1994,
508; Melville 1939, 466). Das Schicksal – Fate – ist das lateinische fatum. Es handelt sich dabei um das Partizip
Perfect passiv des Verbums for, fatus sum, fari, das so viel bedeutet als „reden, sagen“, „künftige Dinge heraus
sagen“. Daher fatum für „Ausspruch der Götter wegen des künftigen Schicksals“, und damit dieses verhängte
Schicksal, das „Verhängnis“ selbst (Lünemann 1826, 1097f).
33
„Labyrinthe“ – Drittes Kapitel
(207) Ahab erwägt hier die Möglichkeit ausdrücklich, dass unser menschliches Denken und
Wollen gar nicht wirklich unser eigenes, sondern bloß Ausdruck einer fremden, in uns wirkenden Macht sein könnte. Aber dies bleibt eine kurze Anwandlung, Ahab versteht weder
sich noch irgend ein anderes Wesen in der Welt als Marionette. Ursprung und Antrieb für
Ahabs Hass auf Moby Dick ist keine dämonische Macht, von der Ahab wie eine Marionette
hin und her gezogen würde, sondern sein eigenes klarstes und stärkstes Selbstbewusstsein.
Wenn es auch ein „unfaßbares Ding“ (Text vor § 205) – eine fremde Macht – wäre, was
Ahab treibt wie einen Besessenen, so bringt ihn diese Macht doch gerade zu sich selbst und
zu der Gewissheit, wirklich er selbst zu sein: Er hasst nämlich das „unfaßbare Ding“, und
das bedeutet, dass der entfremdungsdrohende Zugriff in ihm gerade das Gefühl des Selbstseins und den Willen, es sich nicht nehmen zu lassen, aufstachelt. Wer fürchtet, er sei nicht er
selbst, muss, um diese Furcht überhaupt empfinden zu können, doch so etwas wie ein Gespür
von Selbstsein haben. Wenn dergleichen nicht da wäre, wie könnte es als bedroht erlebt werden? Je stärker Ahab sich von fremden Mächten manipuliert glaubt, desto heftiger wird sein
Festhalten an sich selbst: „ich würde selbst die Sonne schlagen, wenn sie mich beleidigt. ...
Wer steht denn über mir?“ (Text E vor § 205). Wenn Ahab eine Schnürpuppe ist, dann eine
paradoxe: Der Marionettenspieler, der Ahabs Fäden zieht bewirkt dadurch, dass die Marionette immer lebendiger und von den Schnüren unabhängiger wird.
Zusatz: Haben aber auch die anderen Wesen in der uns sichtbaren Welt ein eigenes Selbstsein? Wirken sie
aus sich heraus, oder muss man nicht doch eher sagen, dass sie Marionetten Gottes oder der Natur sind? Diese
naturphilosophische Frage wird in Melville’s Roman nicht ausdrücklich gestellt. Es geht Ahab um die Freiheit
und das Selbstsein des Menschen, nicht um die Frage, in welchem Sinne geschaffene – d. h. in ihrem Sein abhängige Wesen – ein eigenes Sein haben können. Ich gehe dennoch kurz auf die Frage ein. Wenn allein Gott
Absichten hat, und das, was als Streben der Dinge erscheint (wie das Wachsen der Pflanzen zum Licht hin und
das ihrer Wurzeln zum Wasser hin), nicht ihre eigene Absicht ist, nicht in ihnen selbst liegt, sondern von Gott
ihnen in jedem Augenblick sozusagen eingeflößt wird, dann ist es (wie Starbuck in Text E richtig bemerkt)
„Gotteslästerung“, den Dingen Absichten zuzuschreiben, weil man ihnen damit eine nur Gott zukommende
Eigenschaft zuschreibt. Aber was heißt es denn, Absichten zu haben? Absichten sind bewusst verfolgte Ziele
(Zwecke). Kann man aber nicht Ziele haben, ohne von ihnen ein Bewusstsein zu haben? Wir alle wollen atmen.
Verfolgen wir das Ziel, Luft zu holen, immer bewusst? Oder ist es nicht vielmehr ein Ziel, das unser Körper
auch ganz ohne Bewusstsein in sich hat und verfolgt? Offensichtlich ist es das letztere. Jedes Wesen hat bestimmte Daseinszwecke, d. h. Verhaltensweisen, die aus dem folgen, was das Wesen ist: Das Feuer flackert, der
Stein ist druckwiderständig, das Wasser fließt, der Fisch schwimmt, die Blume blüht, der Hund bellt, das Pferd
galoppiert. All das wollen die Wesen nicht bewusst, aber sie tun genau das, was ihrer Natur entspricht und
nichts anderes: das Wasser brennt nicht und das Feuer ist nicht flüssig, das Pferd bellt nicht und der Fisch
springt nicht über Land.
Nun sind diese Daseinszwecke den Wesen zwar insofern vorgegeben, als kein Wesen sich selbst erfindet und
hervorzaubert. Alle Geschöpfe finden sich mit ihren spezifischen Zwecken ausgestattet vor. Wenn sich aber
auch kein Wesen seine Daseinszwecke selbst gegeben hat, so verfolgt doch ein jedes sie als seine eigenen Zwecke und nicht als die Zwecke der Natur oder der Evolution. Kein Tier frisst, säuft und pflanzt sich fort, um das
evolutive Überleben seiner Art zu sichern, sonder weil es selbst Hunger, Durst und Paarungstrieb empfindet. Es
wäre unsinnig, wenn man sagen wollte, es sei nicht der Löwe selbst, der das Ziel verfolgt, ein Beutetier zu reißen und zu fressen, sondern es sei ein anderes Wesen „hinter“ ihm, das ihn wie eine Marionette von außen
steuere. Der Löwe ist nicht „Urheber“ seines Daseinszweckes, nichtsdestoweniger ist es aber sein ureigener
Zweck und sein ureigenstes Ziel, als Löwe zu leben. Entsprechendes gilt vom Feuer oder vom Granit. Es wäre
unsinnig, zu sagen, das Feuer brenne nicht selbst und der Granit halte deine Bestandteile nicht selbst zusammen,
sondern es sei eine fremde Macht, die von außen wirke. Nein, die Macht, die das Feuer flackern und den Granit
hart macht, ist keine fremde Macht, sondern eine, die im Feuer und im Granit selbst wirkt.
Ahab fragt in Text E, ob die Dinge agent oder principal seien. Im Deutschen fragt er, ob sie Werkzeug oder
Urheber seien. Die Übersetzung von principal mit Urheber engt den Blick auf die Freiheit ein, d. h. auf die
Fähigkeit, über die vorgegebenen Zwecke seiner Natur hinaus sich selbst Zwecke zu erfinden und zu setzen.
Dazu ist allein der Mensch im Stande.66 Alle Wesen aber verfolgen ihre Daseinszwecke – auch wenn ihnen
66
Band I, §§ 210-224
34
„Labyrinthe“ – Drittes Kapitel
diese von der Natur vorgegeben sind – für sich selbst (als Prinzipale), nicht für irgendjemand anderen (nicht als
bloße Agenten im Auftrag jener anderen). Jedes wirkende (agent) Wesen ist Prinzip seiner Daseinsvollzüge –
nicht in dem Sinne, dass es sich selbst hervorbrächte, wohl aber in dem Sinne, dass es ihm darin primär um sich
selbst geht, dass es darin primär sich selbst ergreift (principium kommt von primum capere)67, von sich selbst
Besitz ergreift.
Die hier gezeichnete Auffassung vom Selbstsein jedes Wesens ist gewissermaßen eine animistische: Jedes
Wesen hat seine eigene Seele, jedes Wesen ist ein eigenes Wirkzentrum68, jedes Wesen von eigener Wirklichkeit ist ein Abbild der göttlichen Selbstbestimmung. Gleichzeitig ist diese Auffassung aber auch theistisch, weil
die einzelnen Wesen nicht aus sich selbst („absolut“) existent und frei sind, sondern von Gott ins Sein gesetzt
und zur Freiheit ermächtigt wurden, und diese Freiheit außerdem im Rahmen der göttlichen Weltregierung
gehalten ist, darin aber bis zu einem gewissen Grad frei gebaren kann. Gott erschafft – so gesehen – lauter relative Götter.69 Diese Auffassung nähert sich derjenigen des Heraklit, von welcher Aristoteles berichtet: „es
wohnt allem Natürlichen etwas Wunderbares inne. Man bedenke, was Heraklit zu seinen Gästen gesagt haben
soll, die stehenblieben, als sie ihn vor dem Herd sitzen und sich wärmen sahen, er aber forderte sie auf, ohne
Angst näherzutreten, indem er zu ihnen sagte: auch hier sind die Götter“70.
3. Urgrund und Gesetz des Daseins
„Auch steht ... fraglos fest, ... daß diese Göttlichkeit etwas an sich hatte, das Anbetung gebot, zugleich aber einen namenlosen Schrecken hervorrief“
Melville 1851, 315 (Kapitel 42 „Das Weiß des Wals“)71
(208) Das Gesetz des Daseins, d. h. die regelmäßige Art und Weise, in welcher der numinose Urgrund in allem Wirklichen wirkt, ist der andauernde Wechsel zwischen Entstehen und
Vergehen. Weil die urgründende Gottheit sowohl das Prinzip von Entstehen, Wachsen, Blühen, Förderung, Hilfe und Liebe ist, andererseits aber auch das ermöglichende Prinzip von
Vergehen, Verkümmern, Hinderung, Widrigkeit und Hass72, – darum wirkt die numinose
Sphäre auf den Menschen doppelt. Sie wirkt angenehm und hilfreich, aber auch schrecklich
und zerstörerisch. Wenn nun der weiße Wal tatsächlich – wie ich behauptet habe – ein Sinnbild der Gottheit ist, dann müsste er demnach beides sein: Prinzip der Zerstörung und Prinzip
des Entstehens.
[a]
Auf der realen Ebene ist der Wal beides: sowohl gefährlich und lebensbedrohend, als
auch daseinssichernd. Denn Wale zerstören nicht nur Schiffe und Männer, sondern sie
sichern andererseits den Lebensunterhalt der Walfänger, machen durch ihr Öl den
Menschen die Nacht hell und warm und nützen menschlichen Lebensbedürfnissen
durch ihre Knochen und Barten, aus denen vom Regenschirm bis hin zu chirurgischen
Fäden mancherlei Nützliches verfertigt wurde. Wenn das auch heute anders ist, so war
doch zu Melvilles Zeit der Wal für die genannten Zwecke unverzichtbar.73
67
Band II, 164ff
68
Band II, 127-131, sowie Band I, §3 41ff
69
Band I, § 114
70
Aristoteles: Die Teile der Tiere I, V 644b 31 (zitiert bei Hadot 1999, 104 [Fundstelle ebd. 336, Nr. 20])
71
Im englischen Original: and that this divineness had that in it which, though commanding worship, at the
same time enforced a certain nameless terror (Melville 1994, 192).
72
Die Gottheit ist der ermöglichende Urgrund auch des Bösen, das jedoch erst durch die geschöpfliche Freiheit
der gefallenen Engel und des Menschen wirklich wird. Vgl. in diesem Band, Viertes Kapitel III „Das moralische
Übel: Böses“
73
Williams 1988, 64-81
35
„Labyrinthe“ – Drittes Kapitel
[b]
Wie sieht es auf der sinnbildlichen (symbolischen) Ebene aus? Sinnbildlich steht der
Wal dann für die janusartige Doppeltheit von Entstehen und Vergehen, Gestaltung
und Auflösung, Ausdifferenzierung und Entdifferenzierung, wenn sich entweder an
ihm Eigenschaften finden, die für sich selbst und unabhängig vom Wal, an dem sie
vorkommen, Verbindung zu jenem Doppelphänomen haben, oder wenn sich an anderen Wesen vermöge eines Bezuges auf den Wal solche Verbindungen zeigen. Im Folgenden werde ich auf vier Stellen des Romans hinweisen, an denen sich derartige
sinnbildliche Verflechtungen zeigen: (B.1.) in der Eigenschaft der Farbe, (B.2.) in
Ahabs Abhängigkeit von seinem aus Walknochen gefertigtem Bein, (B.3.) in Ahabs
Gefühl der Nichtigkeit seiner Existenz und (B.4.) im welt- und selbstvergessenen
Blick des Ausgucks auf den Wal zeigt sich jeweils das Prinzip der Auflösung und
Verflüchtigung der Differenziertheit der jeweiligen Sache. Dagegen zeigt sich (C.1.)
in der Vielfältigkeit der Walarten, (C.2.) im überblühten Walskelett am Kultort der Insulaner und (C.3.) im Regenbogen des Walspauts, der das Wasser zerstäubt, jeweils
das Prinzip der Gestaltung und Bewahrung ausdifferenzierter Einzelwesen.
B. Der Wal als Prinzip der Auflösung des Einzelnen
1. Die Weiße des Wals
„Ist es so, daß das Weiß durch seine Unbestimmtheit die herzlose Leere und unermeßliche Weite des Weltalls andeutet und uns so den Gedanken an Vernichtung wie einen
Dolch in den Rücken stößt, wenn wir in die weiten Tiefen der Milchstraße blicken? Oder
ist es so, daß das Weiß seinem Wesen nach nicht so sehr eine Farbe ist als vielmehr die
sichtbare Abwesenheit von Farbe und zugleich die Summe aller Farben, daß deshalb eine
weite Schneelandschaft dem Auge eine so öde Leere bietet, die doch voller Bedeutung ist –
eine farblose Allfarbe der Gottlosigkeit, vor der wir zurückschrecken? Und wenn wir jene
andere Theorie der Naturwissenschaftler bedenken, daß alle anderen Farben dieser Erde –
alles stattliche und anmutige Gepränge – die lieblichen Tönungen der Wolken und Wälder
bei Sonnenuntergang, fürwahr, und der güldene Samt der Schmetterlinge und die Schmetterlingswangen junger Mädchen – daß alles das nur arglistige Täuschungen sind, die den
Dingen nicht wirklich innewohnen, sondern ihnen bloß von außen aufgetragen sind, so
daß die ganze vergötterte Natur sich in Wahrheit anmalt wie die Hure, deren verlockende
Reize nur das Leichenhaus in ihr verdecken; und wenn wir noch weiter gehen und bedenken, daß das geheimnisvolle Kosmetikum, das alle ihre Farben erzeugt – das große Prinzip
des Lichts – selbst für immer weiß und farblos bleibt und, so es ohne Medium auf die Materie einwirkte, alles, ja sogar Tulpen und Rosen, mit seiner eigenen, leeren Blässe überzöge – wenn wir das alles erwägen, so liegt das gichtbrüchige Universum vor uns wie ein
Aussätziger, und wie ein mutwilliger Reisender in Lappland, der sich weigert, farbige und
färbende Augengläser zu tragen, so starrt sich der elendige Ungläubige blind, da er den
Blick nicht | vom endlos weißen Leichentuche wenden kann, das alles, was er ringsum
sieht, verhüllt. Und für all dies war der Albinowal das Symbol. Wundert euch nun noch die
feurige Jagd?“
Melville 1851, 322f (Kapitel 42 „Das Weiß des Wals“)
(209) Melville bezieht sich im obigen Text, wie er ausdrücklich sagt, auf zwei Theorien
„der Naturwissenschaftler“74: Die eine dieser Theorien ist die Farbenlehre, wie sie von
74
Bei Melville steht „natural philosophers“ (Melville 1994, 196), was auch „Naturphilosophen“ heißen kann.
36
„Labyrinthe“ – Drittes Kapitel
Isaac Newton und Johann Wolfgang Goethe, strittig zwischen beiden, entwickelt wurde.
Die andere – „jene andere“ – Theorie ist diejenige John Locke’s von der Farbe als einer nur
sekundären Qualität. Meisterlich treffend ist Melville’s überknappe Kennzeichnung der
Theorien Newtons und Goethes: Für Goethe sei das weiße Licht „sichtbare Abwesenheit von
Farbe“ (wenn wir weißes Licht sehen, so sehen wir etwas Wirkliches, etwas, das über die
Farben hinaus eigene Wirklichkeit besitzt), für Newton dagegen sei das weiße Licht bloß die
„Summe aller Farben“ (wenn wir weißes Licht sehen, so sehen wir lediglich die Farben in
Vermischung, jedoch keine eigene Wirklichkeit außerhalb der Farben). Farbe und weißes
Licht sind für Melville nun aber Sinnbilder für Welt und Gott. Die Farben verkörpern die
Mannigfaltigkeit der Wesen in der Welt, die Weiße verkörpert die Sphäre der Einheit und
Ununterschiedenheit des Urgrunds, in welcher die Mannigfaltigkeit der Wesen negiert ist.
Dabei ergeben sich drei unterschiedliche Ontologien, entsprechend den unterschiedlichen
Auffassungen der Natur der Farbe und des reinen weißen Lichts:
[a]
Locke anerkennt nur das leere Weiß, alle Farben sind ihm bloß Illusion („arglistige
Täuschungen ..., die den Dingen nicht wirklich innewohnen, sondern ihnen bloß
von außen aufgetragen sind“). Die entsprechende Ontologie wäre eine Ontologie des
Nirvana, der Verneinung der Welt.
[b]
Newton anerkennt umgekehrt nur die Farbenmannigfaltigkeit, ihm gilt das Weiße als
Illusion. Die entsprechende Ontologie wäre eine atheistische Ontologie („Allfarbe
der Gottlosigkeit“), welche in der Welt keine als logos vorgegebene Ganzheit erblickt, welche die Erschaffung der einzelnen Wesen leitet, sondern nur ein primäres
Sammelsurium von Teilen, die sich sekundär zu blind zufälligen Gebilden anhäufen.
[c]
Goethe anerkennt beides, das weiße Licht und die Farbenmannigfaltigkeit, als je eigene Wirklichkeiten („sichtbare Abwesenheit von Farbe ..., die doch voller Bedeutung
ist“), die miteinander so zusammenhängen, dass das Licht auf geheimnisvolle Weise
an sich selbst die Farben entstehen lässt. Farben sind für Goethe nicht unsere Illusion,
sondern Manifestationen des Lichts; und das Licht ist für ihn nicht bloß Zusammenfassung und Summe der Farben, sondern ihr (unbegreifliches) Entstehungsprinzip.
Die entsprechende Ontologie wäre eine realistische und theistische Ontologie, für
welche die Welt die wirkliche Manifestation eines im Letzten unerforschlich wirkenden göttlichen Urgrunds ist75.
(210) Geht man mit Locke davon aus, dass alle Farben Illusion sind, dass steht das reine
Weiß für das Nichts, denn man kann in ihm nichts unterscheiden und sieht daher nichts. Wird
nun die Weiße des Wals als Ausdruck dessen genommen, was die Welt in Wahrheit ist, dann
hat die Welt – und alle Wesen in ihr – keine Wirklichkeit. Alle Wesen sind dann bloß wie die
Schminke einer Hure, wie Melville sagt, d. h. nichts für sich selbst Wirkliches, sondern bloß
äußerliche Maskerade. Das Sein selbst und seine Wirklichkeit ist nicht in den Dingen. Diese
sind vielmehr nur Außenreflexe am Sein, „Schleier der Maya“. Der weiße Wal aber führt die
Wesen zu ihrer wahren Gestalt – zur Nichtigkeit –, indem er sie zerstört. Dies ist die Ontologie des Nirvana.
Zusatz: Die Ontologie des Nirvana ist die „Lehre, daß alle Vielheit nur scheinbar sei, daß in allen Individuen
75
„Das ist die wahre Symbolik, wo das Besondere das Allgemeine repräsentiert, nicht als Traum und Schatten, sondern als lebendig-augenblickliche Offenbarung des Unerforschlichen“ (Goethe XVII, 105, Aphorismen und Fragmente, Besonderes und Allgemeines).
37
„Labyrinthe“ – Drittes Kapitel
dieser Welt, in so unendlicher Zahl sie auch, nach und neben einander, sich darstellen, doch nur Eines und das
selbe, in ihnen allen gegenwärtige und identische, wahrhaft seiende Wesen sich manifestire“76. Ich erläutere
dies etwas näher:
[a] Die wahre Wirklichkeit – die ganze Fülle des Seins – stellen nicht die Einzelwesen dar, denn keines davon
ist eine Darstellung der ganzen Fülle, sondern immer nur eines Fragmentes des Seins. Was wir gewöhnlich für
die Fülle des Lebens halten (die farbige Mannigfaltigkeit) ist in Wahrheit eine Verfälschung und Verkürzung
dieser Fülle. Die unendliche Fülle selbst hat keine Umgrenzung – und das heißt keine Gestalt –, sie gleicht
vielmehr dem gestaltlosen Nichts. In keinem der einzelnen Wesen, die es hervorbringt, kann das Sein (bzw. der
des Seins mächtige Urgrund) daher seine unendliche Fülle darstellen. Um sich als Ganzes zur Darstellung zu
bringen, muss der Urgrund die bestimmte Gestalt aufbrechen und auflösen. Daher zieht er sich aus jeder Eingrenzung in eine bestimmte Gestalt von Existenz auch wieder zurück, indem er alles entstandene Einzelne auch
wieder zerstört und so die beständige Auflösung der Einzelwesen betreibt: In seinem Streben nach sich selbst
muss das Ganze jedes Teilhafte oder Einzelne negieren. Vom Buddha, als er das Nirvana (die Vollendung)
erreicht hat, lesen wir daher: „Der Vollendete, der von dem, was Form genannt wird, befreit ist, ist tief, unermesslich, schwer zu erforschen, gleich dem großen Ozean.“77 Eine bestimmte Form ist nie die Vollendung aller
Formen, weil sie alle anderen Formen außer sich selbst ja ausschließt. Die vollendete Form aller Formen hätte
daher gar keine Form, weil sie nur auf diese Weise keine andere Form ausschlösse, sondern alle in sich trüge.
Aber sie trüge sie nur der Möglichkeit nach in sich, in Wirklichkeit tritt sie eben in keiner einzigen dieser möglichen Formen auf.
[b] Weil sich die Wahrheit des Seins – seine unendliche Fülle – in den einzelnen Wesen gar nicht ausdrücken
kann (siehe [a]), täuschen die Einzelwesen über die wahre Beschaffenheit des Seins bloß hinweg. Wenn das
Sein in Wahrheit unendliche gestaltlose Fülle ist, dann sind alle Gestaltungen, wie sie und in der Welt als Einzelwesen begegnen, bloß Illusion („Schleier der Maya“): In den einzelnen Wesen und ihren Gestalten zeigt
sich das Sein nicht in seiner Wirklichkeit (die wäre nämlich die gestaltlose Fülle), sondern in einer täuschenden Verkleidung. So gesehen, bedeuten die Unterschiede zwischen den Wesen und Gestalten gar nichts,
hinter ihnen allen steckt ein und dasselbe Wesen: die gestaltlose Fülle des Seins.
(211) Geht man mit Newton davon aus, dass das reine weiße Licht keine eigene Wirklichkeit besitzt, dann steht das Weiß wiederum für das Nichts, denn es ist nichts selbstständig
Existierendes, sondern bloße Illusion. Drückt der weiße Wal nun diese metaphysische Haltung sinnbildlich aus, dann haben zwar die einzelnen Wesen in der Welt eigene Wirklichkeit,
aber nicht die Welt als Ganzes. Das bedeutet, dass es nur die Einzelwesen gibt, nicht aber
eine diesen gegenüber selbstständige Gesamtordnung von Welt und Leben. Jede Konfiguration der Elementarteilchen, welche die Welt bilden, wäre so gut wie jede andere. Alles wäre
gleich gültig, es käme auf nichts an. So wenig das Weiße eine den Farben gegenüber selbstständige Einheit darstellt, sondern bloß Resultat der Summe aller Farben ist, so wenig gäbe es
eine selbstständige Gesamtordnung der Welt. Vielmehr wäre die Weltordnung lediglich das,
was das Teilchengetriebe in ihr jeweils hervorbringt. Es gäbe so auch keinen Unterschied
zwischen Gut und Böse. Denn dieser müsste als Maßstab des Geschehens diesem gegenüber
selbstständig und unabhängig sein. Ist das „Licht“ (als Symbol einer objektiven Gesamtordnung) aber bloß Resultat dessen, was die Einzelwesen tun, dann wäre Gut und Böse nur das,
was die einzelnen Wesen in der Welt jeweils dazu erklären.
(212) Melville sieht das Weiße als Sinnbild für die Nirvana-Ontologie an. Die atheistische
Variante wird von ihm zwar erwähnt, spielt im Roman aber keine weitere Rolle. Der weiße
Wal ist tätiges Prinzip, nicht Abwesenheit von etwas. So symbolisiert er die vernichtende
Dynamik des Absoluten, nicht aber das Fehlen jeder den Menschen übergeordneten Macht.
Moby Dick ist Agent und lebendige Verkörperung des metaphysischen Nichts, das die Einzelwesen aufzehrt. Sein Anblick stößt uns wie der Anblick der weißlich (!) schimmernden
Milchstraße „den Gedanken an Vernichtung wie einen Dolch in den Rücken“. Vermöge
seiner weißen Farbe steht Moby Dick für die Ontologie des weltverneinenden Nirvana: „für
76
Schopenhauer III, 624f (Preisschrift über die Grundlage der Moral [1840], § 22 Metaphysische Grundlage)
77
E. J. Thomas: Buddhist Scriptures (London 1913), zitiert nach Eliade IV, 429
38
„Labyrinthe“ – Drittes Kapitel
all dies war der Albinowal das Symbol“. Und diesen Albinowal jagt der Kapitän Ahab und
will ihn töten. Warum? Weil Ahab das Leichentuchprinzip der Weiße nicht akzeptiert, für
welches der Wal in seiner Weiße sinnbildlich steht. Im weißen Wal bekämpft Ahab eine
buddhistische Ontologie des Nirvana, eine Ontologie, welche die endlichen mannigfaltigen
Wesen für illusionären Schein ohne eigene Wirklichkeit und das Sein in Wahrheit für einen
differenzlosen Abgrund hält. Melville fragt rhetorisch: „Wundert euch die feurige Jagd?“
Das bedeutet: Wundert es euch, dass Ahab den Wal zur Strecke bringen will, wenn ihr doch
jetzt wisst, was das Weiß des Wals bedeutet? Wenn ihr wisst, dass dieses Weiß alles Einzelne
– einschließlich eurer selbst – als etwas zu Negierendes und zu Vernichtendes erklärt, es für
unwesentlich und „eigentlich“ unwirklich denunziert, es für etwas nimmt, das man auflösen
muss, um die wahre Gestalt des Daseins zum Vorschein zu bringen?
Zusatz: Dass der Wal das Prinzip der Negation versinnbildlicht, zeigt auch deutlich der folgende Text, in dem
jedoch die Negation nicht als Nirvana, sondern als Böses gedacht wird: „Der Weiße Wal schwamm vor ihm als
monomanische Verkörperung all jener arglistigen Wirkkräfte, welche manch tiefsinnenden Mann verzehren,
bis ihm zum Weiterleben nur noch das halbe Herz und die halbe Lunge bleibt. Jene unfaßbare Arglist, welche von Anbeginn aller Zeiten in der Welt gewesen; welcher selbst die Christen der heutigen Zeit die Herrschaft über eine Hälfte der Welt zubilligen; welche die Ophiten des alten Orients in ihren Teufelsstatuen
verehrten – Ahab fiel nicht vor ihr auf die Knie und betete sie an, wie jene es taten, doch indem er die Vorstellung davon wahnhaft auf den verhaßten Weißen Wal übertrug, warf er sich ihr entgegen, verstümmelt,
wie er war. Alles, was uns am stärksten quält und in den Wahnsinn treibt; alles, was im Bodensatz des Lebens rührt; alle Wahrheit, die Arglist einschließt; alles, was die Sehnen zerreißt und das Hirn verhärtet; all
das kaum merklich Dämonische am Leben und Denken; alles Böse schien dem irrsinnigen Ahab in Moby
Dick | sichtbar verkörpert und leibhaftig angreifbar. Er türmte auf des Wales weißen Buckel den angehäuften Zorn und Haß, den sein Geschlecht seit Adam je verspürt, und ließ, als wäre seine Brust ein Mörser, sein
heißes Herz, das feurige Geschoß, an ihm zerbersten“78.
Was hat das Böse mit dem Nirvana zu tun, und worin besteht der Unterschied zwischen beiden? Die NirvanaOntologie verneint das Dasein aller Einzelwesen, die Gesinnung des Bösen hingegen verneint nur das Dasein
und die Rechte aller anderen Wesen außer dem bösen Subjekt selbst. Vom Bösen sagt Schopenhauer, dass „er
allein sein eigenes Wohlseyn sucht, vollkommen gleichgültig gegen das aller Anderen, deren Wesen ihm vielmehr völlig fremd ist, durch eine weite Kluft von dem seinigen geschieden, ja, die er eigentlich nur als Larven,
ohne alle Realität, ansieht“79 So aber nimmt der Böse eine buddhistische Ontologie für alles außer sich selbst in
Anspruch. Und diese Ontologie der Auflösung und Vernichtung, der Missachtung der eigenen Wirklichkeit der
einzelnen Wesen, versinnbildlicht der weiße Wal für Ahab.
Schon in seiner Weißjacke hat Melville das Weiß als sinnbildliche Farbe des Untergangs verwendet. Die Jacke
ist „weiß wie ein Grabtuch“ (8)80, ihr Träger geht durch sie „als schottischer Nebel“ (9) herum (in dem man
nichts sieht), und schließlich: „Wenn ich meine Jacke versenke, dachte ich, so wird sie sich ganz gewiß auf
dem Meeresgrunde zu | einem Bett entfalten, auf das ich früher oder später hinabsinke, ein toter Mann. Unfähig, sie in den Besitz eines anderen zu schmuggeln, und nicht wagend, sie für immer aus meinen Augen zu
verbannen, blieb ich also mit meiner Jacke verhaftet wie Nessus mit dem verderbenbringenden Hemd“
(285f).
(213) Was Ahab vom reinen Weiß, wie es Locke oder Newton verstehen, fürchtet, lässt sich
vermeiden, wenn man das Licht im Sinne Goethes denkt. Denn für Goethe ist das Weiß nicht
nur Nichtfarbe, sondern zugleich auch Ermöglichung von Farbe. Ohne Farbe sähen wir das
reine Weiß gar nicht, es wäre schattenlose und gestaltlose Leere, es wäre dem Nichts gleich.
Die Wirklichkeit des Lichtes ist nicht das reine Weiß, sondern das abgeschattete, in Farben
ausdifferenzierte Licht. Versteht man dies nun sinnbildlich und wendet es in’s Metaphysische, dann bedeutet das: Das Sein ist niemals ohne ausdifferenzierte mannigfaltige Wesen,
78
Melville 1851, 304f (Kapitel 41 „Moby Dick“)
79
Schopenhauer I, 469 (Die Welt als Wille und Vorstellung, Erster Band, Viertes Buch, § 65)
80
Alle Anführungen in diesem letzten Absatz des Zusatzes stammen aus Melville 1850. Die Zahlen in den
runden Klammern geben die Paginierung an.
39
„Labyrinthe“ – Drittes Kapitel
weil es sonst nur undifferenzierte, gestaltlose Leere – dem Nichts gleich – wäre.81 Man wird
weder dem Licht, noch dem Sein in seiner Ganzheit gerecht, wenn man eines der beiden Daseinsprinzipien vernachlässigt: Das Licht ist Helle und Dunkles; das Sein ist Auflösung und
Gestaltung. Für Goethe ist daher die wahre und wirkliche Gestalt des Lichtes nicht das Weiße, sondern die Farbenmannigfaltigkeit des Regenbogens.82 Der reine undifferenzierte Glanz
des farblosen Lichtes muss negiert werden, muss sozusagen sterben83 (wie Ahab den Weißen
Wal sterben lassen will), damit es in mannigfaltiger Pracht glitzere: „Am farbigen Abglanz
haben wir das Leben“84. Der Abfall vom reinen Glanz zum Ab-Glanz ist keine Minderung
der Wirklichkeit des Lichtes, sondern deren Vorbedingung, denn erst dieser Abfall – diese
Abschattung – bringt die Sichtbarkeit hervor. Nicht das Weiße, sondern die Farbe ist daher
die rechte Versinnbildlichung des Seins bzw. des universalen Urgrundes, denn auch der Urgrund ist nicht bloß leerer Abgrund, sondern der Ursprung der Mannigfaltigkeit von Einzelwesen.85
(214) Versteht man Licht und Farbe im Sinne Locke’s als illusionär und wirklicheitslos,
dann ist man wie „der elende Ungläubige“, der sich blind starrt, weil er sich wie ein Reisender in Lappland weigert, „farbige und färbende Augengläser zu tragen“. Wer die Welt für
einen täuschenden Schleier der Maya hält, will nicht wahr haben, was sich ihm doch als wirklich zeigt. Ein solcher glaubt, dass er, wenn er nur die farbige Brille abnimmt – d. h. wenn er
die Realität der Farben leugnet – zur Wahrheit der Welt gelangt. Tatsächlich aber wird er
ohne die farbige Brille – besser: ohne die Brille, in welcher das Weiß sich als in Wirklichkeit
immer auch farbig zeigt – bloß blind, weil er, indem er die Farbe künstlich ausschließt,
schließlich nichts mehr sieht. Gegen solche Blindheit kämpft Ahab, er bekriegt eine Metaphysik (Ontologie), die das Phantom der reinen, leeren Einheit für das Wahre hält: Ahab ist
daher kein Parteigänger Locke’s. Er deutet den Urgrund oder das Absolute aber auch nicht im
Sinne der newtonischen Farbenlehre. Nach dieser wäre nur die Mannigfaltigkeit der Farben
real, die allumfassende Einheit des göttlichen Urgrunds hingegen wäre bloß eine Funktion
der Mannigfaltigkeit ohne eigene Realität (Gott als Summe der Weltdinge statt als ihr Prinzip). Ahabs Verständnis des Absoluten geht wohl in die Richtung, welche die Symbolik der
Goethischen Farbenlehre weist. Dieser zufolge ist der Regenbogen (insbesondere Eos, Aurora, die purpurne Morgenröte) Sinnbild des Absoluten, weil der eine Regenbogen nur kraft
einer inneren Entegegensetzung zweier, nämlich von Licht und Nicht-Licht, besteht: Eine
Einheit, die in sich Entzweiung ist, eine Entzweiung, die nur als Einheit sichtbar (wirklich)
wird. Genau in diesem Sinne ist das Absolute real: Es unterscheidet sich (als Geist) von sich
81
Selbst der Buddhismus bemüht sich, das Nirvana nicht nur als leeres Nichts zu denken: „Der Buddha besteht
darauf, daß nirvana nicht nihilistisch als Vernichtung interpretiert werden darf“ (Notz 2002, 339). So wird das
Nirvana (ähnlich wie beim chinesischen Begriff des „Tao“ [Eliade II, 25-35 und Eliade IV, 378-381]) auch als
unendliche Fülle gedacht (Heiler 1982, 180-183), und Krsna kann von sich sagen: „Ich bin der alles dahinraffende Tod und der Ursprung des Zukünftigen ... Kein Ende gibt es meiner göttlichen Entfaltungen“ (Bhagavadgîtâ X 34 und 40. – Das Moment zeitlicher Vielfalt ist das archaische Element des Hinduismus [Eliade II, 98],
während die Zeitlosigkeit und die Aufhebung des menschlichen Lebens als geschichtliche Existenz das neue,
das buddhistische Element darin ausmachen [Eliade II, 210]). Allerdings ändert sich dadurch am nichtigen und
leeren Charakter des Nirvana gar nichts, denn wenn die Fülle auch als noch so unendlich mächtig gedacht wird,
so wirkt sie dennoch bloß wie „Nichts“, wenn an ihr kein unterscheidbares Einzelnes hervortritt: Wo nichts
unterschieden werden kann, da ist nichts zu sehen.
82
Goethe V, 294 (Faust 4715-4727)
83
„wenn das Licht in Farben sich erbricht“ (Goethe II, 401 [Zahme Xenien, Artemis-dtv-Ausgabe])
84
Goethe V, 294 (Faust 4727)
85
Zu Goethes Farbenlehre vgl. Huber 2003-b
40
„Labyrinthe“ – Drittes Kapitel
selbst – und dieser Idee nähert sich Ahab schließlich an.86
Zusatz: Wirkliches ist immer in sich doppelt: Es ist Eines, als solches aber in sich differenziert: „Kein Lebendiges ist ein Eins, / Immer ist’s ein Vieles“87. Deshalb sagt Hegel, die Farbe sei das „wahrhaft Wirkliche“88:
Reines weißes Licht lässt nichts sehen, weil sich in ihm nichts unterscheidet, ebenso wenig wie in reiner Finsternis. Diese beiden sind nicht wirklich, sie können nicht wahrgenommen werden, es „gibt“ sie nicht.
2. Einschmelzen
„O Leben! Hier steh ich nun, stolz wie ein griechischer Gott,
und doch in dieses Schafkopfs Schuld ob eines Knochenbeins, darauf ich stehen kann!
Verflucht sei diese Erde, die den Menschen dem Menschen verpflichtet und auf das
Schuldbuch nie verzichten wird! Frei wie die Luft, so will ich sein, und steh doch bei der
ganzen Welt im Soll. So reich bin ich, daß ich mit den vermögendsten Prätorianern Zug
um Zug hätte mitsteigern können, als das Römische Reich (was die Welt war) zur Auktion
anstand, und schulde doch das Fleisch selbst meiner prahlerischen Zunge. Himmel und
Hölle! Ich hol mir einen Tiegel, steig hinein und schmelz mich ein zu einem kleinen dichten Knochenklumpen. Schluß.“
[Ahab über den Schiffszimmermann:]
Melville 1851, 725 (Kapitel 108 „Ahab und der Zimmermann“)
(215) Ahab fühlt sehr stark die Abhängigkeit aller endlichen Existenz: Er hat sich nicht
selber gemacht, er ist seines Seins nicht mächtig. Er verdankt, er schuldet sich der „Erde“ –
samt seiner „prahlerischen Zunge“ sogar, mittels welcher er diese Abhängigkeit verflucht.
Anlass für Ahabs teils verzweifelten teils wütenden Ausbruch ist sein beschädigtes89 Ersatzbein aus Walknochen. Er spürt in diesem Augenblick besonders deutlich, dass er als Einbeiniger aus eigener Kraft nicht einmal stehen könnte. Er ist abhängig vom Wal, und gerade
diese Abhängigkeit, die ihm seine eigene Nichtigkeit und Machtlosigkeit vor Augen führt,
bewegt ihn zum Hass und die Jagd auf das Tier. Ahab sagt sich: Wenn ich nicht aus mir
selbst existieren – nicht einmal aufrecht stehen – kann, dann bin ich in Wahrheit bloß jenes
Andere, welches in mir wirkt – oder besser: das da wirkt, wo es der Illusion so scheint, als
wirkte ich, und dann kommt, das, was ich selbst bin – nämlich gar nichts – besser zum Ausdruck, wenn ich diese täuschende Existenz, die fälschlich den Eindruck einer Selbstständigkeit und Individualität macht, die sie gar nicht besitzt, einschmelze, auslösche, vernichte.
(216) Nun ist der Schmelzofen ursprünglich ein biblisches Bild: Der Einzelne wird geläutert wie Gold (Proverbia 17,3 und 27,21). Es geht dabei darum, dass die sittliche Persönlichkeit des einzelnen Menschen sich bewährt wie echtes Gold im Feuerofen. Das Ziel des
Schmelzvorgangs im Alten Testament ist daher gerade nicht die (buddhistische) Auflösung
und Einschmelzung des Einzelnen, wie sie Ahab hier vorhat, sondern umgekehrt die gediegene Herausarbeitung und Befestigung der persönlichen Individualität, die vermöge dieser Läuterung auf ewig in und vor Gott bestehen können soll. Ahab jedoch will sich bloß zu einem
unpersönlichen Materieteilchen, einem „Knochenklumpen“ ohne Individualität glühen. Er
will sich auflösen, einschmelzen und damit ununterscheidbar werden vom Knochen des
Wals, von dem nicht nur sein aufrechtes Stehen, sondern – insofern der Wal Sinnbild des
86
In diesem Kapitel V „Absolutes“
87
Goethe I 519 (Gedicht „Epirrhema“)
88
Hegel IX, 349 (Enzyklopädie § 320 Zusatz)
89
Melville 1851, 713 (Kapitel „Ahabs Bein“)
41
„Labyrinthe“ – Drittes Kapitel
göttlichen Urgrunds aller Wirklichkeit ist – seine ganze Existenz abhängt. Der Urgrund und
die einzelne Individualität würden dadurch, ganz im Sinne der Ontologie des Nirvana, zur
Ununterscheidbarkeit verschmelzen.
Zusatz: Über die eigentliche Identität aller Einzelwesen untereinander und mit dem Urgrund heißt es in der
Bhagavatgîtâ: „In einem durch Wissen und Anstand ausgezeichneten Brahmanen, in einem Rinde, Elefanten,
Hunde und Hundefleischkocher90 sehen die Weisen das Gleiche. Schon hier [auf Erden] ist der Himmel von
denen gewonnen, deren Sinn auf [diese] Gleichheit sich stützt. Denn makellos und [überall] gleich ist das
Brahman“91. Albert Schweitzer fasst zusammen: „Die Welt, wie sie ist, ist also etwas, das rückgängig gemacht
werden muß. Diesen aufzuhebenden Prozeß an sich zu vollziehen, muß das Bestreben der Einzelseele sein. Wissend geworden, kennt sie nur noch die eine Sehnsucht, sich als mit der Weltseele identisch zu erleben und in
diesem Zustande Frieden zu finden“92.
3. Nichtigkeit
„‚Vierzig Jahre lang hat Ahab das friedliche Land gemieden, um vierzig Jahre Krieg zu
führen gegen die Grauen der Tiefe! Aye, Starbuck, und von diesen vierzig Jahren hab ich
nicht drei an Land verbracht. ... | ... Mann: Ich sehe mein Weib und Kind in deinem Auge.
... | ... Zu dieser Stunde – ja, just jetzt hält er sein Mittagsschläfchen – erwacht der Junge,
rekelt sich, setzt sich im Bettchen auf, und seine Mutter erzählt ihm von mir, dem alten
Menschenfresser, wie ich weit fort auf hoher See bin und wie ich doch wiederkommen und
ihn auf meinem Schoße hüpfen lassen werde. ...
Was ist das – welch namenloses, unerforschliches, unirdisches Etwas, welch trügerischer, verborgener Herr und Gebieter, welch grausamer, erbarmungsloser Herrscher
zwingt mich, daß ich mich gegen jede natürliche Regung von Liebe und Sehnsucht so unaufhörlich vorwärts treibe, vorwärts dränge, vorwärts stoße, mich ohne jede Rücksicht dazu bringe, das zu tun, was ich in meinem eignen, tiefsten Herzen noch nicht einmal zu
denken wagte? Ist Ahab Ahab? Bin ich’s, ist’s Gott oder wer sonst, der diesen Arm erhebt?
Wenn aber nicht einmal die große Sonne sich aus sich selbst bewegt, sondern als | Botenjunge durch den Himmel läuft; wenn ohne eine unsichtbare Macht auch nicht ein einziger
Stern sich drehen kann, wie kann dann dieses eine kleine Herz hier schlagen, dies eine
kleine Hirn Gedanken hegen – es sei denn, Gott treibt diesen Herzschlag, denkt diese Gedanken, lebt dieses Leben, und nicht ich. Beim Himmel, Mann, wir werden um und um
gedreht in dieser Welt wie jenes Gangspill dort; das Schicksal ist die Spake. ... – Doch ein
linder, linder Wind ist dies und ein lind leuchtender Himmel, und die Luft duftet, als wehte
sie heran von einer fernen Wiese. Starbuck, an den Andenhängen haben sie gemäht, und
die Schnitter schlafen in dem frisch gemähten Gras. Schlafen? Aye, wie sehr wir uns auch
mühen, am Ende werden wir alle auf dem Felde schlafen. Schlafen? Aye, und verrotten in
all dem üppigen Grün, wie die Sensen vom letzten Jahr verrosten, hingeworfen und vergessen in den halbgemähten Schwaden – Starbuck?’
Doch der Erste hatte sich, bleich wie eine Leiche, verzweifelt davongestohlen.“
Melville 1851, 820-823 (Kapitel 132 „Die Symphonie“)
(217) Ahab sehnt sich nach Weib und Kind. Dennoch bleibt er nicht bei ihnen, sondern
führt einen lebenslangen Kampf „gegen die Grauen der Tiefe“. Was sind diese „Grauen“?
Ich glaube, dass man kaum Anderes annehmen kann, als dass Ahab damit den Kampf gegen
90
Bezeichnung einer verachteten Kaste (Bhagavadgîtâ 1921, 106)
91
Bhagavadgîtâ V/18f
92
Schweitzer 2001, 75
42
„Labyrinthe“ – Drittes Kapitel
den die Tiefe bewohnenden Wal meint93, der die auflösende und annihilierende Macht des
Urgrunds versinnbildlicht. Ahabs Waljagd ist kein wirtschaftliches, auf Existenzsicherung
des Menschen gerichtetes Unternehmen (das geht aus dem obigen Text deutlich hervor), sondern ein metaphysischer Feldzug: Ahab führt Krieg gegen den Wal nicht als Tier, sondern als
ontologisches Sinnbild. Der weiße Wal ist nicht irgendein Wal, sondern das Weltprinzip der
Auflösung, der Vernichtung, des Todes der Einzelwesen. Und als dieses Prinzip bekämpft
Ahab Moby Dick. Ahabs Kampf zielt auf die Emanzipation des Menschen (aller Einzelwesen) von der Abhängigkeit von einem Urgrund, der sie entstehen und vergehen lässt, wie er
will, nicht wie die Einzelwesen selbst wollen. Hier ist die Übertreibung und Übersteigerung –
die Griechen hätten gesagt: die Hybris – am Werk, die Ahab kennzeichnet: Es genügt ihm
nicht, auf die für endliche Existenz kennzeichnende paradoxe Weise in Abhängigkeit von
Natur und Gott selbstständig zu sein, sondern er will ganz und allein aus sich selbst existieren. Er kämpft gegen den auflösenden Urgrund der Welt (im Sinnbild des weißen Wals), als
ob es in seiner Macht stünde, ihn zu bezwingen und so den Einzelwesen in der Welt ihr Bestehen auf ewig zu sichern. Und doch ist dieser Kampf gegen den Urgrund etwas, das Ahab
in seinem „eignen, tiefsten Herzen noch nicht einmal zu denken wagte“. Wieso? Nun, wenn
er, der doch ganz und gar abhängig ist vom Urgrund, den Urgrund vernichten könnte, würde
er darin eben sich selbst – den tragenden Grund seiner eigenen Existenz – zerstören.
(218) Und doch kann sich im erdrückenden Bewusstsein der unselbstständigen Abhängigkeit die Selbstständigkeit der endlichen Existenz erweisen. Wenn Ahab nichts für sich
selbst ist, und statt seiner ein „verborgener Herr und Gebieter“ – Gott – in ihm wirkt,
dann ist sein Kampf gegen den vernichtenden Gott (den weißen Wal) eben nicht seine,
sondern dieses Gebieters, also Gottes eigene Tat: Nemo contra Deum nisi Deus ipse.94
Der Wal symbolisiert den Urgrund, der im Menschen Einzelwesen schafft, die sich in ihrer
Selbstbehauptung gegen diesen Urgrund und seine „einschmelzende“ Macht wenden. Für
sich genommen führt jede der beiden Seiten zur Vernichtung des Menschen: Sieht er sich nur
als abhängig, ist er selber nichts mehr; sieht er sich nur als selbstständig, hat er nichts mehr,
worauf seine Existenz gründen könnte und ohne Grund kann er nicht bestehen. Ahab vermag
die Selbständigkeit des Endlichen und die Allkausalität des Absoluten nicht zusammenzudenken. Er verfällt immer wieder in eine der beiden Einseitigkeiten: Entweder gar kein Ich
oder böses Ich. Entweder vernichtendes Absolutes („Alles Endliche ist Illusion!“) oder gar
kein Absolutes („Tod dem Wal!“, Tod Gottes). Entweder akzeptiert er die Vernichtung des
Endlichen durch das Absolute bis zur Selbstaufgabe, oder er behauptet sich selbst gegen das
Absolute und bekämpft es auf ewig – noch „aus dem Herzen der Hölle“ (Text vor § 228). Es
ist aber unangemessen, das Paradox der endlichen Existenz dergestalt nach einer Seite aufzulösen, denn dies widerspricht der Komplexität unserer tatsächlichen Selbsterfahrung. Obwohl
wir nämlich wissen, dass wir unseres Seins nicht selbst mächtig sind, können wir doch nicht
anders als dass wir es als unser eigenes erleben und in Anspruch nehmen. Und umgekehrt:
93
Melville zitiert im Kapitel „Auszüge“ Iob 41,23 (Luther hat 24, und dem folgt Göske in Melville 1851, 922):
Post eum lucebit semita; aestimabit abyssum quasi senescentem. D. i.: „Hinter ihm leuchtet die Bahn, für alternd hält man die Flut“. Der, hinter dem die Bahn leuchtet, ist der Leviathan, von dem seit Iob 40,20 die Rede
ist. Melville versteht unter dem Leviathan den Wal (andere das Krokodil, etwa Winer I, 686 und II, 19; so auch
die Vulgata-Übertragung Allioli 1892, 557, Marginalie Nr. 9). Dass die Flut „altert“, heißt, dass sie grauweiß
ausschaut, wenn der Wal sie durchpflügt (Allioli 1892, 558, Marginalie Nr. 7). Melville hat: „Leviathan maketh
a path to shine after him; one would think the deep to be hoary” (Melville 1994, 10). Jendis übersetzt mit Luther: „Nach dem Leviathan leuchtet der Weg, er macht die Tiefe ganz grau“ (Melville 1851, 16). Das „aestimabit“ der Vulgata, das Melville bewahrt („one would think”), wird dadurch freilich aufgelöst.
94
Nemo contra Deum nisi Deus ipse: Dieses Wort setzt bekanntlich Goethe als Leitspruch über den Vierten Teil
von Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit (Goethe X, 727).
43
„Labyrinthe“ – Drittes Kapitel
Obwohl wir uns unzweifelhaft als ein eigenes Selbst erleben (denn wir verwechseln uns mit
keinem anderen), wissen wir doch, dass dieses Selbst von einem Anderen gewirkt ist.
Zusatz: In Wagner’s Ring des Nibelungen sagt die Göttin Fricka: „Was Hehres sollten Helden je wirken, das
ihren Göttern wäre verwehrt, deren Gunst in ihnen nur wirkt?“ (Walküre II, 1)95. Das ist die eine Seite des
Paradoxes: Der Mensch ist nicht selbstgewirkt, sondern gottgewirkt und insofern kommt ihm keine eigene
Wirklichkeit zu. Andererseits sagt Wotan: „selbst muss der Freie sich schaffen“ (Walküre II, 2)96. Das ist die
andere Seite des Paradoxes: Der Mensch lebt und vollzieht selbst sein Leben, er ist keine Marionette, er schafft
seine Taten selbst. Beides ist für sich allein genommen, falsch. Weder ist der Mensch nur eine Maske der Götter, noch kann er seine Identität einfach beliebig selbst schaffen. Beides zusammen muss gedacht werden, wenn
es sich auch widerspricht. Wie es Wotan ausdrückt, wenn er vom Verhältnis des Gottes zu den Menschen sagt:
„Sein Herz [ist] ihr Mut“97. Unser Gemüt, unsere Seele ist beides: Wir-Selbst und zugleich Gottes Geschöpf.
4. Selbstverlust
„... dieser verträumte Jüngling wird durch die Kadenzen der mit seinen Gedanken verschwimmenden Wellen in solch eine opiatische Trägheit gelullt, ist in einem so leeren, allem entrückten Tagtraum versunken, daß er zuletzt sein Ich vergißt und die mystische See
zu seinen Füßen für das sichtbare Abbild jener tiefen, blauen, unergründlichen Seele hält,
die Menschheit und Natur durchdringt; jedes seltsame, nur geahnte, schöne, flüchtige Etwas, das ihm entgleitet, und jede undeutlich gewahrte, steil aufragende Finne eines unsichtbaren Gebildes erscheint ihm als Verkörperung jener flüchtigen Gedanken, die nur
kurz die Seele streifen, da sie unablässig durch sie hindurchschießen. In dieser zauberischen Stimmung sinkt dein Geist dorthin zurück, woher er kam, verströmet sich in Zeit
und Raum; wie Wickliffs pantheistisch weitverstreute Asche bildet er endlich einen kleinen
Teil von jeder Küste auf dem Erdball.“
Melville 1851, 266 (Kapitel 35 „Im Masttopp“)
(219) Die See ist hier Abbild der Weltseele, jenes geistigen Prinzips, aus dem sich Menschheit und Natur herausdifferenzieren. Aber nicht um die Differenzierungen geht es im obigen
Text dem Betrachter, sondern um das undifferenzierte Eine und Ganze, dass alles noch
unentfaltet, aufgelöst und verschlossen in sich trägt. Das Einzelne und Differenzierte entgleitet ihm, es ist nur das „flüchtige Etwas“, das für den Buddhisten jedes Einzelwesen ist – substanzloser Schaum.98 Sogar der riesige Wal zeigt sich hier nur mit seiner „Finne“, er selbst
bleibt unter Wasser verborgen als ein „unsichtbare[s] Gebilde“. Alles verschwimmt zur Unterscheidungslosigkeit, alles Einzelne, der ganze Weltlauf wird zu einem Nebel von „flüchtigen Gedanken“, die sich nicht festhalten lassen. Nicht einmal sich selbst kann der Betrachter
festhalten: Sein Selbstgefühl verfließt mit der gefühlten Welt zu einer ununterscheidbaren
Einheit, er verliert seine Identität als Einzelwesen: Deshalb heißt es da, wo der Übersetzer
sagt „daß er zuletzt sein Ich verliert“, im Original: that at last he loses his identity99.
95
Text nach Huber 1988, 40 (Verse 2630-2633)
96
Text nach Huber 1988, 43 (Vers 2921)
97
Wagner 1851, 123 (Der Junge Siegfried)
98
„Ich bin eigentlich nicht da. Ich bin nur ein Schaum, der sich bildet und wieder zergeht, sich hin und her bewegt nach der Welle der Kausalität. Ich bin aber eigentlich Wasser, das Wasser der Buddha-Natur“ (Hashimoto
1963, 23, vgl. 12)
99
Melville 1994, 162; Melville 1939, 139
44
„Labyrinthe“ – Drittes Kapitel
(220) Wickliffs100 Asche wurde in’s Wasser gestreut und so an alle Gestade der Welt getragen. Was hat das mit Pantheismus zu tun? Der Pantheismus stellt sich vor, dass Gott identisch mit der Welt ist, d. h. dass jedes Einzelwesen ein Teil Gottes sei. Wenn nun Wickliffs
Asche sich über alle Meere verstreut und so die ganze Welt bedeckt, ist gewissermaßen jeder
Teil der Welt – ebenso wie er im Pantheismus ein Teil Gottes ist – ein Teil Wickliffs. Wieso
ist aber der Pantheismus nicht eher ein Polytheismus? Wenn es tausenderlei Unterschiede
zwischen den Einzelwesen gibt (Strohhalm, Hund, Stein, ...), wie können sie dann alle einen
Gott bilden? Dies ist der Fall, weil der Pantheismus die metaphysische Identität der verschiedenen Wesen unterstellt. Für einen Pantheisten, wie Spinoza, ist die Welt als Ganzes Gott,
und daher sind alle Wesen in der Welt im Grunde ein und dasselbe, nämlich Ausdruck der
einen und selben göttlichen Kraft. Was wirklich ist an den einzelnen Wesen – also das, was
sie in’s Sein bringt –, ist nicht ihre Eigengestalt, sondern die davon ganz verschiedene Kraft
Gottes. Kein Wesen kann sich aus sich selbst heraus wirklich machen, ein jedes ist nur wirklich durch die schöpferische Kraft des Absoluten (Gottes). Wirklich ist daher im eigentlichen
Sinn keines der einzelnen Wesen, sondern nur Gott, weil nur er des Seins – des Wirklichmachens – mächtig ist. Gottes Kraft des Wirklichmachens gestaltet die unterschiedlichen Wesen, ist selbst aber in keiner dieser Gestalten greifbar, sondern übersteigt sie alle in’s Gestaltlose der unendlichen Fülle. In dieser Hinsicht ähnelt der Pantheismus dem Buddhismus. Und
so gelangen wir auch vom Pantheismus zur Nirvana-Ontologie. Pantheismus steht in der Gefahr, zum „Akosmismus“ zu werden (so hat Hegel den Pantheismus des Spinoza charakterisiert101). Melville versteht unter dem Pantheismus ebenfalls die völlige Entdifferenzierung,
die Auflösung der Welt der Einzelwesen: „Pantheismus, jenes rosige Dahinschmelzen von
allem in eines“102.
Zusatz: Das „Dahinschmelzen“ der Einzeldinge hängt damit zusammen, dass sie aus demselben Urgrund und
demselben Urstoff sich herausgestalten. Diese Wendung des Gedankens zum Einen und Selben finden wir in der
abendländischen Philosophie wie im fernöstlichen Denken: „Die vorsokratische Frage nach dem gemeinsamen
Grundstoff des Kosmos förderte trotz Verschiedenheit der Antworten einen Monismus, der als Glaube an die
wesenhafte Einheit der vielförmig erscheinenden Materie auch für die Mystik als erste Stufe zu ihrem Tempel
belangreich geworden“103. In Indien finden wir Ähnliches: „Das brahmanische Denken ... erklärt, daß Götter,
Dämonen, Menschen und Tiere, ja selbst die Pflanzen im Grunde ein und dasselbe Ding seien“104. Im Abendland konnte jedoch die Alleinheitsspekulation (abgesehen von der Mystik) niemals so dominant werden wie im
Osten. Das Abendland bewahrte die empirische Erfahrung von der eigenständigen Vielheit der Dinge ebenso
bestimmend in seinem Denken wie die metaphysische Einsicht in ihre Einheit.
Der Pantheismus identifiziert Gott und den Weltprozess. Gott ist, ihm zufolge, vom Weltprozess nicht verschieden, sondern jeweils gerade das und nur das, was der Weltprozess bisher entwickelt hat und gerade ist
(status quo). Der Theismus hingegen denkt Gott in dem Sinn als verschieden vom Weltprozess, dass Gott nicht
nur der je gegenwärtige Zustand desselben ist, sondern die vorgreifende (weil zeitlos ewige) Präsenz des Ganzen des Weltprozesses. Nur der Theismus kann erklären, wieso die Welt geordnet verläuft, weil Ordnung Zielantizipation voraussetzt und diese nicht möglich ist, wenn Gott nur der je gegenwärtige Zustand ist. Wenn der
Weltprozess nicht neben seiner Faktizität sich auch noch als (transfaktische) Zielidee selbst gegeben ist, bleibt
der faktische Prozess steuerungslos.
100
Vgl. Melville 1851, 960
101
„daß in dem spinozistischen Systeme vielmehr die Welt nur als ein Phänomen, dem nicht wirkliche Realität
zukomme, bestimmt wird, so daß dieses System vielmehr als Akosmismus anzusehen ist“ (Hegel VIII 148 [Enzyklopädie § 50 Anmerkung])
102
Melville 1852, 432 (Pierre oder die Doppeldeutigkeiten, Buch XVII / II)
103
Bernhart 1922, 18
104
Schweitzer 2002, 73
45
„Labyrinthe“ – Drittes Kapitel
(221) Interessanterweise ist das melville’sche Bild von Wickliffs Asche jedoch nur scheinbar pantheistisch. Denn die vielen Küsten und Wesen der Erde haben bei Melville, ganz im
Gegensatz zum Pantheismus, eine eigene selbstständige Wirklichkeit, ihre Vielheit und Unterschiedenheit ist nicht bloß täuschender Schein. Melville hebt nämlich das Prinzip, in welchem die verschiedenen Wesen untereinander eins sind, von ihrer Verschiedenheit deutlich
ab: Die Einheit, welche die ganze Erde durchzieht, wird symbolisiert vom Geist des Ausguckmatrosen und dieser Geist wiederum von der Asche Wickliffs. Als Asche eines Mannes,
die doch durch die vielen Wesen hin verstreut ist, versinnbildlicht sie die Einheit in der Vielheit. Von dieser Asche heißt es aber, sie sei in den einzelnen Wesen als ein „kleine[r] Teil“
derselben gegenwärtig. Das bedeutet, dass die Erde mit all ihren vielen verschiedenen Wesen
nicht einfach mit dem Göttlichen selbst identifiziert wird. Zwischen der Vielheit der Welt und
dem Prinzip ihrer Einheit wird ein echter Unterschied gemacht. Vielheit und Einheit sind
zwei unterschiedliche ontologische Dimensionen, in welche sich das Sein auslegt. Die
Vielheit ist keine Illusion, sie wird nicht aufgelöst in die „eigentlich“ wirkliche Einheit, sondern sie gilt selber als ebenso „eigentlich“ wirklich wie die Einheit.
C. Der Wal als Prinzip der gleichzeitigen Affirmation des Einzelnen
(222) Gott oder der Urgrund des Daseins ist aber nicht nur zerstörend und auflösend, sondern gleichzeitig auch erhaltend. Diese Doppeltheit von Negation und Affirmation müsste
sich auch in Melville’s Wal finden, wenn dieser denn das Sinnbild der Gottheit sein soll.
Dem Nachweis, dass der Wal tatsächlich Negation und Affirmation der Einzelwesen in sich
vereinigt, dient der gegenwärtige Abschnitt.
1. Vielfältigkeit des Wals
Text A:
„Nun folgen also die großen Divisionen der versammelten Walheerscharen.“
Melville 1851, 231 (Kapitel 32 „Cetologie“)
Text B:
„Mithin halten wir aus all diesen Gründen den Wal in seinen verschiedenen Arten für unsterblich, wie vergänglich er als einzelnes Wesen auch sein mag.“
Melville 1851, 712 (Kapitel 105 „Wird der Wal kleiner?“)
Text C:
„Da nun der Wal, wie wir gesehen haben, von den Urquellen der Ewigkeiten auf uns herabgeschwommen ist ...“
Melville 1851, 707 (Kapitel 105 „Wird der Wal kleiner?“)
(223) Der weiße Wal versinnbildlicht die Negation alles differenzierten Einzelnen. Andererseits wird im Moby Dick der Wal als ein höchst differenziertes Phänomen nach in seinen
Familien und Arten bis in’s Detail geschildert.105 So tritt ein und dasselbe Phänomen „Wal“
nicht nur als nebelhaft leeres, weißes Phantom, sondern ebenso als reiche, lebendige Mannigfaltigkeit auf (Text A). Das eine Phänomen „Wal“ versinnbildlicht somit beides zugleich: die
Sphäre des unendlichen, leeren, differenzlosen Nirvana und die Sphäre endlicher, mannigfaltig erfüllter, differenzierter Mannigfaltigkeit. Die Sphäre des Differenzierten hat dabei nicht
nur vorübergehende oder illusorische Geltung, so dass sie letztlich doch verschwinden würde,
105
Vgl. etwa die Kapitel 32; 55-57; 74-77; 86; 88; 102-104
46
„Labyrinthe“ – Drittes Kapitel
sondern sie wird ausdrücklich von Melville als dauerhaft bestehend gedacht, indem er den
Wal in seiner Differenziertheit als „unsterblich“ bezeichnet: Das Individuum zwar ist sterblich, die Art jedoch unsterblich (Text B). Damit ist der wal Symbol nach beiden Seiten:
[a]
Das Phänomen „Wal“ versinnbildlicht einerseits – als weißer Wal – die Gestaltlosigkeit der Seinsfülle, in der alle Einzelwesen zu unterschiedsloser Einheit eingeschmolzen und daher als Einzelwesen unwirklich und nichtig sind.
Ohne die Brechung in den vielen endlichen Gestaltungen wäre aber das Seins selbst bloß eine
dem Nichts gleiche Gestaltlosigkeit ohne greifbare Wirklichkeit. Und so
[b]
versinnbildlicht dasselbe Phänomen „Wal“ andererseits – als die „großen Divisionen
der versammelten Walheerscharen“ – die Lebendigkeit der Seinsfülle, die einzig
in den vielen Einzelwesen greifbar wirklich wird.
Zusatz: Wirklich ist zwar nur das Sein selbst als Ganzes, weil kein Einzelwesen aus sich selbst heraus und für sich allein wirklich werden kann. Aber diese Wirklichkeit des Seins kann sich doch nur in
Einzelwesen äußern, weil das Sein sonst leere, unwirkliche Gestaltlosigkeit bliebe [vgl. Ziffer (48) Zusatz]. Das Sein selbst (als Ganzes) kann die Wirklichkeit, die es exklusiv besitzt, paradoxerweise nur
vollziehen, indem es Wesen, die selbst keine Wirklichkeit haben, Teilhabe an seiner Wirklichkeit gewährt.
(224) Das Sein wechselt auf diese Weise zwischen seiner unterschiedslosen Alleinheit und
seiner differenzierten Vielheit: Aus dem Undifferenzierten entstehen differenzierte Wesen,
gehen dahinein zugrunde, und wiederum entsteht daraus neue Differenzierung. Leere Einheit
und lebendige Vielheit wechseln einander rastlos ab. In der Summe jedoch bleibt so nichts:
Das gestaltlose Sein realisiert sich zwar in Einzelwesen, diese gehen aber wieder zugrunde.
Das Sein verliert seine Wirklichkeit (die in den jeweiligen Einzelwesen besteht) stets wieder.
Hier eröffnet Text C eine andere Perspektive, denn er spricht davon, dass der Wal – der eine
Wal und die vielen Wale – „von den Urquellen der Ewigkeiten auf uns herabgeschwommen“ seien. Die beiden Sphären des Wales – der die gestaltlose Alleinheit bedeutende weiße
Wal ebenso wie die bunte Vielfalt der einzelnen Wale – werden also in der Ewigkeit verortet.
Nun ist Ewigkeit Zeitüberhobenheit: Was zeitlich nacheinander kommt, fällt in der Ewigkeit
in Gleichzeitigkeit zusammen. „Ewigkeit ist der gleichzeitig ganze und vollkommene Besitz
des Lebens“106. Das aber bedeutet: Nur wenn das Sein all seine nacheinander aufgetretenen und vergangenen Manifestationen gleichzeitig präsent hätte, besäße es sich selbst
als Ganzes. Nur in der Ewigkeit ist das Sein ganz es selbst, ohne bloß gestaltloses Nichts zu
sein, weil in der Ewigkeit die leere gestaltlose Einheit und die vielen endlichen Gestaltungen
nicht in der Zeitfolge einander abwechseln, sondern gleichzeitig stattfinden, sozusagen ineinander liegen. Wie diese paradoxe Einheit von Leere und Fülle geschehen kann, lässt sich
nicht denken, aber die ganze Verwirklichung der Seinsfülle lässt sich nur als diese Idee denken. Ohne die Idee einer Bewahrung der schon vergangenen Einzelwesen würden dem Sein
seine Manifestationen immer wieder verloren gehen. Die Mannigfaltigkeit der Wesen, d. h.
ihr vergangenes lebendiges Bestehen, fällt in der Ewigkeit zusammen mit ihrer gestaltlosen
Einheit, in welche sie durch die Vernichtung im Tode aufgelöst werden. Den Wechsel zwischen Leben und Tod gibt es nur unter irdisch zeitlichen Bedingungen, nicht sub specie aeternitatis.
106
Aeternitas ... est ... vitae tota simul et perfecta possessio (Boethius: Consolatio philosophiae V, prosa 4).
„Dann ist Vergangenheit beständig, / Das Künftige voraus lebendig, / Der Augenblick ist Ewigkeit“ (Goethe
I, 312 [„An Schwager Kronos“])
47
„Labyrinthe“ – Drittes Kapitel
2. Blühendes Skelett
„Das größte dieser Wunder war ein enormer Pottwal, welchen man nach einem schier
endlos wütenden Sturme tot auf dem Strande gefunden hatte. ... Als der gewaltige Leib
endlich aus seiner klafterdicken Hülle geschält und die Knochen in der Sonne staubtrocken geworden waren, trug man das Gerippe vorsichtig in das Tal von Pupella, wo es in
einem hehren Tempel aus königlichen Palmen Aufnahme fand.
Trophäen wurden an die Rippen gehängt, die arsarkidischen Annalen in seltsamen Hieroglyphen in die Wirbel geschnitzt; ein wohlriechendes Feuer ward in seinem Schädel entzündet, das die Priester nie ausgehen ließen, so daß das mystische Haupt wiederum seinen
dunstigen Spautschleier spie ...
Es war ein wundersamer Anblick. Der Hain war grün wie die Moose im Icy Glen, die
Palmen standen stolz und hoch in ihrem vollen Saft, und unter ihnen war die emsige Erde
wie ein Webstuhl, auf dem ein prächtiger Teppich entsteht ... Der Webergott, er webt und
webt und wird betäubt von | seinem Tun, so daß er keines Menschen Stimme hört ...
Mitten in dem Grünen, lebensruhelosen Webstuhl jenes Arsakidenhains lagerte nun das
große, weiße, vergötterte Gerippe – ein träger, riesenhafter Müßiggänger! Wie jedoch die
ewig neugesponnenen grünen Fäden von Kette und Schuß um ihn summten und sich verwoben, da schien es so, als sei der gewaltige Nichtstuer selbst jener kunstvolle Weber; über
und über in Ranken verwoben, Monat für Monat ein grüneres, frischeres Pflanzenkleid
tragend, blieb er doch selbst ein Gerippe. Leben umhüllte den Tod, Tod war des Lebens
Gerüst, der grimmige Gott nahm sich jugendlich kraftvolles Leben zum Weibe und zeugte
sich lockige, prangende Pracht.“
Melville 1851, 693f (Kapitel 102 „Eine Laube auf den Arsakiden“)
(225) Der Walfänger begegnet hier auf einer Südseelinsel einem Pottwalskelett, das aus
kultischen Gründen aufgestellt wurde. Der Wal selbst wird ausdrücklich als Sinnbild der
Gottheit bezeichnet: „das ... vergötterte Gerippe“. Die aus dem Schädel des Walgerippes
aufsteigende Weihrauchwolke versinnbildlicht offensichtlich den Spautschleier des Wales.
Weihrauch ist weiß, ebenso wie der Spaut des Wals (außer wenn er durch innere Verletzungen blutig schäumt). Das Weiß aber versinnbildlicht die Auflösung der Farbmannigfaltigkeit.
Insofern das Haupt unseres Walgerippes einen weißen Spaut (in Gestalt des weißen Weihrauchs) besitzt, scheint hier das Differenzierte abwesend, und der beinerne Wal ein Sinnbild
für die Negation des Differenzierten im Sine der Nirvana-Ontologie. Dem entspräche auch
die Bezeichnung des Hauptes als „mystisch“, weil mit diesem Ausdruck gewöhnlich auf die
unterscheidungslos gewordene Alleinheit aller differenten Einzelwesen im Urgrund abgehoben wird: Mystik ist „Lehre oder Vollzug des All-Eins-Bewußtseins“107. Dennoch ist im obigen Text die differenzierte Mannigfaltigkeit durchaus gegenwärtig. Denn das Walgerippe ist
alles andere als eine gestaltlose Leere. Das Knochengerüst ist um geben von der „lockige[n],
prangende[n] Pracht“ des grünen Haines der königlichen Palmen, sowie den Ranken, die
aus „ewig neugesponnenen grünen Fäden“ ein „Pflanzenkleid“ und einen „Teppich“ weben. Außerdem ist die ganze kulturelle und geschichtliche Differenzierung am Wale selbst
präsent: die „arsarkidischen Annalen“ sind in seine Knochen geschnitzt, so dass er nicht nur
Mahnmal des Todes ist, sondern gleichzeitig die Erinnerung an das Leben vieler Generatio107
Bernhart 1920, 728. Über die reiche mystische Überlieferung innerhalb des abendländischen Geistes gibt
Bernhart 2000 ausführlich Auskunft. Dabei zeigt sich, dass die Mystik innerhalb der abendländischen Geistesgeschichte sich sowohl zu einer nahezu buddhistischen Verflüchtigung alles Einzelnen im „Unwissen“ (127)
oder aber zur Idee und Schau einer ewigen Simultaneität und Bewahrung der differenzierten Einzelwesen (129)
herausbilden konnte.
48
„Labyrinthe“ – Drittes Kapitel
nen aus der Zeiten Tiefe her in unabsehbare Zukunft hinein verkörpert. Das Walgerippe wird
mit dem Schöpfer dieser Mannigfaltigkeit, dem „Webergott“, ausdrücklich ineinsgesetzt, und
so ist es nicht nur Sinnbild des Todes und der Vergänglichkeit, sondern vor allem auch des
Entstehens und Bestehens.108 Die Mannigfaltigkeit der Geschöpfe („über und über ... Ranken“) steht nicht neben und außer des Urgrunds, den das Gerippe versinnbildlicht, sondern
Melville betont ausdrücklich, es scheine, als sei das Walgerippe selbst der schöpferische Urgrund: „da schien es so, als sei der gewaltige Nichtstuer selbst jener kunstvolle Weber“.
Das tote Gerippe ist Urgrund des grünen Lebens – enger und paradoxer kann man Tod und
Auflösung nicht mit Leben und Neubildung in Eines setzen. Der Urgrund, wie ihn diese knöchernen Walüberreste versinnbildlichen, ist keine leere Einheit, sondern als gestaltlos unendliche Fülle doch gleichzeitig immer auch der Quell aller endlichen Gestaltungen. Hier wird
kein Nebeneinander gedacht, sondern die paradoxe Einheit: was im selben Zeitpunkt nicht
zusammenfallen kann – Tod und Leben – wird doch in Eines gesetzt. Deswegen ist hier die
Sphäre der Zeitüberhobenheit in Anspruch genommen, und Melville sagt ausdrücklich, dass
die grüne Pflanzenfülle „ewig“ neugesponnen würde. Das endliche Gewebe der unterschiedlichsten mannigfaltigen Wesen und ihr gestaltloses Verschmolzensein im Ursprung liegen in
den Sphären jenseits der Zeit ineinander.
3. Regenbogen
„Und wie hebt es doch unser Bild von dem gewaltigen dunstverhüllten Ungeheuer ins edel
Erhabene, wenn wir ihn erblicken, wie er feierlich seine Bahn durch eine ruhige tropische
See zieht, und sich über seinem mächtigen, mildumflorten Haupte ein Baldachin aus
Dampf wölbt, erzeugt von seinen Grübeleien, die er mit niemandem teilen kann; wenn den
Dampf ein Regenbogen rühmend überstrahlt (bisweilen sieht man’s so), als wollt der
Himmel selbst sein Denken so besiegeln.“
Melville 1851, 585 (Kapitel 85 „Der Springbrunnen“)
(226) Hier nimmt Melville die Lichtsymbolik auf, die er im Kapitel 42 über „Das Weiß des
Wals“ ausgebreitet hat. Das nebelartig leere weiße Licht haben wir im weißen Dampf des
Wassers, das der Wal in die Luft bläst, vor uns. Dies ist das Sinnbild der gestaltlosen Leere
des Urgrunds. Andererseits ist der weiße Dampf „überstrahlt“ vom de Farbenvielfalt des
Regenbogens. So geht aus dem einen Spaut des Wals beides hervor: das Weiß der gestaltlosen Urgrundseinheit und zugleich die Farben der endlichen Gestaltungsmannigfaltigkeit. Die
Farben liegen im Weiß des Dampfes, und so kann man sagen, dass im Walspaut beide ontologische Dimensionen gleichzeitig ineinander liegen – ein Sinnbild der Ewigkeit, auch wenn
dies Wort hier nicht fällt. Der Dampf des Walspautes ist eine Absonderung des Walhauptes.
So kann Melville ihn als den sichtbaren Ausdruck des geistigen Inneren jenes Hauptes verstehen: Der Dampf ist Ausdruck der „Grübeleien“ des Wals. Dieses Denken des Wals wird
„vom Himmel selbst ... besiegel[t]“. Etwas besiegeln heißt, es gültig machen. Das Dampfgebilde samt der in ihm erstrahlenden Farbenvielfalt ist somit, im ausdrücklichen Gegensatz zur Nirvana-Ontologie, für gültig erklärt, und zwar vom Himmel – der Ewigkeit –
selbst. Der Wal, an dessen weißem Spautbaldachin hier die bunte Farbigkeit des Regenbogens erscheint, ist nicht Moby Dick. Aber an anderer Stelle des Buches wird auch Moby Dick
selbst – seine metaphysische Weiße der leeren Alleinheit – von Melville mit dem Regenbogen verbunden:
„Auf einmal wogten und wallten die Wasser ringsum im weiten Kreise und steilten sich
108
Zur Vorstellung des „Webens“ vgl. Huber 1996-b, 43-52
49
„Labyrinthe“ – Drittes Kapitel
jäh auf, als strömten sie über einem schnell auftauchenden Eisberg nach al|len Seiten
hinab. Ein dumpfes Grummeln ertönte, ein unterirdisches Grollen, und dann stockte allen
der Atem, als, behangen mit nachschleifenden Leinen, Harpunen und Lanzen, eine mächtige Masse schräg aus der See in voller Länge in die Luft schoß. Von dünnen Dunstschleiern umhüllt, schwebte sie für einen Wimpernschlag in der regenbogenbunt schillernden
Luft und schlug dann wieder schwer aufs Meer. Dreißig Fuß schossen die Wasser blitzend
empor, wie Fontänengarben, zerstoben in einem Gischtschauer und versanken in brodelnden Ringen, die wie frische Milch um den Marmorrumpf des Wales schäumten.“
Melville 1851, 855f (Kapitel 135 Die Jagd – Der dritte Tag”)
(227) Hier ist nicht der Dampf des Walspauts das Sinnbild, sondern der mächtige Leib Moby Dicks, der mit seiner bleichen Weiße in die Farbigkeit der „regenbogenbunt schillernden Luft“ getaucht ist. Der marmorweiße Walleib ist umhüllt von regenbogenfarbigen Dünsten. Am Weißen erzeugt sich die Farbe. Das entspricht genau Goethe’s Farbenlehre. Die
Weiße des Moby Dick wird dadurch als unwahre Abstraktion sichtbar: Das Weiß der leeren
All-Einheit ist nicht Moby Dicks vollständige Wirklichkeit, denn an ihr entsteht vielmehr
auch die differenzierte Mannigfaltigkeit der Farben. So ist Moby Dick selbst nicht nur (wie
Ahab meint) das Prinzip der entdifferenzierenden Vernichtung und Einschmelzung,
sondern auch das Prinzip der Entstehung von differenzierter Mannigfaltigkeit. Und
damit nicht genug. Weil der Regenbogen, im weißen Licht sich abzeichnend, ein Sinnbild
der Ewigkeit darstellt, bedeutet er auch die ewige Bewahrung der endlichen Individuen,
trotz Auflösung und Tod. Da in der Sphäre der Ewigkeit das, was zeitlich auseinanderliegt,
zusammenfällt, fallen Tod und Leben, Vergehen und Entstehen, Auflösung und Herausbildung der Gestalt jederzeit in paradoxer Einheit zusammen. Wenn sich daher auf dem Rücken
des weißen Wals schließlich Fedallahs Leiche befindet, bedeutet das, dass er im Tod in die
Sphäre der Ewigkeit eingetreten ist, in welcher sein vergangenes Leben doch immer noch
präsent und bewahrt ist. An Fedallah selbst wird diese ewige Bewahrung des Einzelnen im
Tod nicht deutlich sichtbar, aber sie zeigt sich (in sinnbildlicher Gestalt) im Epilog des Moby
Dick an Ismael. Darüber wird der nächste Abschnitt VII handeln. Von Fedallah heißt es:
„... Da stieg ein jäher Schrei zum Himmel auf: Um und um auf den Rücken des Fisches
gelascht, gefangen in Törn auf Törn der Leinen, in welchen sich der Wal des Nachts verwickelt, hing vor ihren Augen der verstümmelte Körper des Parsen, das schwarze Gewand
in Fetzen, die weit aufgerissenen Augen starr auf Ahab gerichtet.“
Melville 1851, 856 (Kapitel 135 „Die Jagd – Der dritte Tag”)
Zusatz: In seinem Roman Mardi hat Melville zwei Jahre vor Erscheinen des Moby Dick noch den Prozess von
Entstehung und Untergang als einen bloß zeitlichen Ablauf gedacht, in welchem das Vergangen verschwunden
bleibt und nicht durch Aufhebung der Zeit selbst als Verschwundenes präsent bleibt: „Die Natur scheint in all
ihren Unterabteilungen dem Leben Unsterblichkeit zu versprechen, den Lebewesen hingegen Vernichtung“109. Das entspricht Nietzsches Sicht der Dinge, der ebenfalls, obgleich er selbst vom „ewigen Leben“ des
Weltwillens spricht, unter „Ewigkeit“ doch bloß (fälschlich) einen unbegrenzten zeitlichen Prozess des Entstehens und Vergehens einzelner Wesen, nicht aber die zeitüberhobene Präsenz der Ganzheit des Prozesses und
darin jedes einzelnen Wesens versteht: „der Held, die höchste Willenserscheinung, wird uns zur Lust verneint,
weil er doch nur Erscheinung ist, und das ewige Leben des Willens durch seine Vernichtung nicht berührt
wird“110. Wenn die Erscheinung des Willens doch dessen ewiges Wesen nicht berührt, wie kann sie dann Erscheinung des Willens sein? Diese Frage wäre auch an Schopenhauer zu stellen, unter dessen Einfluss die angeführte Passage Nietzsches steht.
109
Melville 1849, 334 (Kapitel LXIX „Die Gesellschaft unterhält sich, und Flechtbart erzählt eine Sage“)
110
Nietzsche I, 108 (Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, Nr. 17)
50
„Labyrinthe“ – Drittes Kapitel
VII. Person und Ewigkeit
A. Selbstbehauptung des Einzelnen
1. Ahab
„Schlingernd halt ich auf dich zu, o Wal, der du alles vernichtest und doch nichts besiegst;
bis zum Letzten ring ich mit dir, aus dem Herzen der Hölle stech ich nach dir! Versenk alle
Särge und alle Bahren in dem einen Pfuhl! Und da nun weder Sarg noch Bahre mein sein
kann, so schleif mich denn zu Tode während ich dich weiter jage, und bin ich auch an dich
gefesselt, du verdammter Wal! So werfe ich die Waffen hin!“
Melville 1851, 863 (Kapitel 135 „Die Jagd – Der dritte Tag“)
„Ich weiß um deine stumme, unbegrenzte Macht, doch werd ich ihre unbedingte, ungebrochne Herrschaft anfechten bis zum letzten Atemzuge meines Erdenlebens. Mitten im
verkörperten Unpersönlichen stehe ich hier, eine Persönlichkeit. Wohl bin ich kaum mehr
als ein Punkt im All, woher ich auch komme, wohin ich auch gehe; doch während ich hienieden weile, lebt auch diese königliche Persönlichkeit in mir und weiß um ihre königlichen Rechte.“
Melville 1851, 771 (Kapitel 119 „Die Kerzen“)
(228) Dass die Einzelwesen nichtig seien, ist eine spekulative Behauptung, vermittelt durch
metaphysische Überlegungen. Sie entspricht jedoch in gar keiner Weise unserem lebendigen
Selbsterleben. Wir erleben uns und alle Wesen, die uns etwas bedeuten, gerade nicht als nichtig und belanglos, sondern so, als käme es auf sie im höchsten Maße an. Sich selbst wirklich
als nichtig zu erleben, hieße ja soviel als, sich selbst gar nicht mehr zu erleben. So hebt sich
das Selbst im Buddhismus radikal auf: Es kann sich nicht in seiner Wahrheit erleben, denn
diese Wahrheit besteht darin, nichts zu erleben. Deshalb geht es nicht an, das Einzelwesen –
buddhistisch – für eine flüchtige Illusion, für „Schaum auf dem Wasser“ zu halten. Vielmehr
muss man es – abendländisch – substantiell denken, d. h. als etwas, das zwar nicht aus sich
selbst, aber doch in sich selbst existiert. Zugrunde liegt dem das einfache Ernstnehmen des
menschlichen Selbst- und Welterlebens, das uns zeigt, dass sich kein Wesen in der Welt – am
allerwenigsten das eigene Ich – sich als Zustand an etwas Anderem ohne eigene Wirklichkeit
erleben lässt (sei dies Andere die Materie, das Energiefeld oder Gott selbst). Selbst da, wo
etwas Anderes das Ich zu überwältigen und auszulöschen droht, kann es dagegen doch noch
protestieren: Das zeigt, dass es mit dem Anderen, das es negiert, eben nicht identisch ist: Es
ist kein Zustand am Anderen, sondern etwas für sich selbst Seiendes. Ahabs heftiger Ausbruch gegen die vernichtende Macht des Wals zeigt, dass er sich als Person mit substantiellem Selbstsein behauptet: Er weiß sich völlig ohnmächtig, er weiß, dass sein Ich vor der
Macht des Wals verschwindet – und doch kann ihm wenigstens die Macht des Protestes gegen diese Ohnmacht nicht genommen werden. Ahab löst sich nicht in den Wal auf, selbst in
der Vernichtung bleibt er der vernichtete Ahab. Der Wal kann ihm die Wahrheit nicht nehmen, als Ahab gewesen zu sein. Dass Selbstsein aufgelöst werden kann, zeigt nicht, dass es
gar kein Selbstsein gibt. Ganz im Gegenteil: denn wie sollte es aufgelöst werden, wenn es gar
nicht da wäre? So hält Ahab sich, ganz im Sinne Senecas, für unbesiegt und unbesieglich:
Zwar kann er nicht hindern, dass der Wal ihn tötet, und er muss dies zwar äußerlich über sich
ergehen lassen, jedoch muss er es keineswegs auch innerlich für sich akzeptieren. Er kann
gegen den Untergang (obzwar er ihn erleiden muss) doch protestieren und sich so bei aller
Ohnmacht wenigstens in seinem Inneren gegen die überlegene Macht behaupten: „aus dem
Herzen der Hölle stech ich nach dir“, schreit Ahab kurz vor seinem Ende dem Wal zu. Er
51
„Labyrinthe“ – Drittes Kapitel
weiß sich trotz der äußeren Unterlegenheit in seinem Inneren als „königliche Persönlichkeit“
und weiß um seine „königlichen Rechte“, die Rechte und Möglichkeiten nämlich der inneren
Selbstbehauptung gegen jede äußere Macht.
2. Böses
2.1 Die Bosheit Ahabs und des weißen Wals
„... alles Böse schien dem irrsinnigen Ahab in Moby Dick | sichtbar verkörpert und
leibhaftig angreifbar ...“
Melville 1851, 304 (Kapitel 41 „Moby Dick“)
(229) Das Böse ist zerstörerisch. So ist der weiße Wal, als Sinnbild der buddhistischen Verneinung des Rechtes der Einzelwesen auf Selbstsein, selber böse. Es hieß schon früher (Text
D vor § 199), Moby Dick zerstöre und töte aus „ewige[r] Arglist“. Das bedeutet, dass er nicht
nur tötet, um sich zu rächen, sondern auch ohne Anlass, aus Lust an der Zerstörung. So
gesehen, zerstört und tötet Moby Dick aus Bosheit. Der weiße Wal ist das Sinnbild der
Auflösung von Selbstsein, der Einschmelzung einer jeden bestimmten Gestalt in die gestaltlose Alleinheit. buddhistischen Verneinung des differenzierten Seins. Ahab kennt nur diese
Bedeutung des Wals, er kennt ihn nur als weißen Wal. Die anderen Wal-Sinnbilder, die ich
unter III. C angeführt und besprochen habe, stammen aus Texten des Erzählers Ismael, nicht
aus Reden Ahabs. Daher ist für Ahab der Wal – reduziert gegenüber der wahren Spannweite
seiner Symbolik im Roman – nur Sinnbild des Zerstörerischen, des Bösen. Das Böse aber ist
das maßlos gewordene Gute. Alles, was ist (sofern es so ist, wie es der Schöpfungsabsicht
Gottes nach sein soll), ist gut. Wenn jedoch ein einzelnes Gutes nicht mehr innerhalb des
Ganzen aller Güter Gutes sein will, sondern selbst das Ganze und damit das einzige Gut,
dann missachtet es die anderen Güter. Es akzeptiert für sich keine Grenze, weil es nur seinem
eigenen Guten (das es für das ganze Gute hält) Recht und Raum zugesteht. So beansprucht es
alle anderen Güter nur als Mittel für sich und gesteht ihnen kein Eigenrecht zu.
Zusatz: Die Tendenz zur Maßlosigkeit in der Selbstbehauptung des Einzelnen erklärt Friedrich Nietzsche
metaphysisch: Insofern in jedem Einzelnen ja der Urgrund von allem sich selbst zum Ausdruck bringt, tendiert
jedes Einzelwesen dazu, selbst die vollständige und vollkommene Darstellung des Urgrunds – das heißt selbst
das Ganze – zu sein. Das ist Nietzsches Grundgedanke. Des Näheren argumentiert er folgendermaßen: Der
Weltwille (d. i. der Urgrund) wolle sich selbst „anschauen“ oder „verherrlichen“111. Warum der Urgrund das
will, wird weiter nicht begründet. Eine Antwort liegt vielleicht darin, dass etwas nicht wirklich ist, wenn es
nicht gewusst wird.112 Dieses Ästhetische der Selbstanschauung ist das Wesen des Urgrunds. Nun muss der
Urgrund die einzelnen unterschiedenen und damit begrenzten Bestimmtheiten anschauen, die er in sich birgt,
weil er im Anblick der unbestimmten und unbegrenzten Ganzheit eben nichts Bestimmtes – also Nichts – sähe.
Keine einzelne Gestaltung, die der Urgrund hervorbringt, drückt ihn jedoch ganz aus. Da er aber sich selbst –
also als Ganzes – ausdrücken will, strebt er in jeder Einzelmanifestation danach, das Ganze zu sein: So zehrt
jedes Einzelne die anderen auf („frevelt“ am Anderen) und wird selbst von anderen aufgezehrt („leidet“ am
Anderen). Den eben gezeichneten Zusammenhang formuliert der folgende Texte Nietzsches: „... die erhabene
Ansicht von der activen Sünde als der eigentlich prometheischen Tugend: womit zugleich der ethische Untergrund der pessimistischen Tragödie gefunden ist, als die Rechtfertigung des menschlichen Uebels, und zwar
sowohl der menschlichen Schuld als des dadurch verwirkten Leidens. Das Unheil im Wesen der Dinge ... | ... der
Widerspruch im Herzen der Welt offenbart sich ihm als ein Durcheinander verschiedener Welten, z. B. einer
göttlichen und einer menschlichen, von denen jede als Individuum im Recht ist, aber als einzelne neben einer
andern für ihre Individuation zu leiden hat. Bei dem heroischen Drange des Einzelnen ins Allgemeine, bei dem
Versuche über den Bann der Individuation hinauszuschreiten und das eine Weltwesen selbst sein zu wollen,
111
Nietzsche I, 37 (Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, Nr. 3)
112
Erster Band, Zweites Kapitel III.2.1 e „Sein ist Wissen“
52
„Labyrinthe“ – Drittes Kapitel
erleidet er an sich den in den Dingen verborgenen Urwiderspruch d. h. er frevelt und leidet“113. Der „Urwiderspruch“ besteht darin, dass das Einzelne nicht das Ganze ist, aber Darstellung des Ganzen sein will und soll.
Der Mensch kann sich als Ausdruck, Manifestation oder Widerspiegelung des Ganzen sehen. Dies realisiert er
in der Kontemplation der Theoria. Oder aber der Mensch versucht, das Ganze zum Ausdruck seiner selbst machen. Dies realisiert er, indem er technische Gewalt gegen das Ganze anwendet und es nach seinem Sinn rekonstruiert. Nietzsche neigt zum Zweiten, weil er dem Ganzen keine Realität von sich her zuerkennt: Wertungen
setzt der Mensch, sie kommen nicht den Dingen an sich selbst zu.114 Tatsächlich ist der Mensch Darstellung des
Ganzen im ersteren Sinn.115
(230) Im Sinne der Negation der Güter um eines einzelnen Gutes willen ist der weiße Wal
böse, weil er alle Einzelwesen zugunsten des Ganzen negiert. Das gestaltlose Ganze (die Alleinheit aller Wesen und Gestaltungen) ist das einzige Gut, dem die endlichen unterscheidbaren Güter geopfert werden; sie werden eingeschmolzen in die differenzlose Weiße. Böse in
diesem Sinne ist aber auch Ahab. Er kämpft zwar gegen die Vernichtung des Einzelnen
durch den weißen Wal. Damit bekämpft er das buddhistische Prinzip, das in seiner zerstörerisch negierenden Tendenz böse ist, und er affirmiert das abendländische Prinzip der Selbstgeltung des Einzelnen. Aber Ahab bekämpft das Prinzip der farblosen Differenzlosigkeit nur,
um einzig sich selbst zu behaupten, während er alle anderen Wesen sich selbst dienstbar machen und sie keineswegs als Wesen eigenen Rechtes anerkennen will, denen er Raum lassen
und die er achten müsste. Ahab ist böse, weil er alles nur auf sich allein hin instrumentalisiert:
[a] So wenn er bereit ist, „dieser einen Leidenschaft alles andere menschliche Streben zu opfern“ (Melville
1851, 347, Kapitel 46 „Mutmaßungen“).
[b] So wenn er z. B. Kapitän Gardiner von der „Rachel“ die Hilfe bei der Suche nach dessen Sohn verweigert,
weil ihm die möglichst schnelle Befriedigung seiner Rache wichtiger ist als selbst das Leben des Kindes und der
Schmerz von dessen Vater (Melville 1851, 806, Kapitel 128 „Die ‚Pequod’ begegnet der ‚Rachel’“).
[c] Wenn er seiner Bootsmannschaft kurzerhand die eigenständige Existenz abspricht und sie als seine „Glieder“ bezeichnet und verwendet. Während dem letzten Kampf mit dem Wal, droht er den Männern: „Dem ersten, der sich anschickt, aus meinem Boot zu springen, dem jag ich die Harpune in den Leib. Ihr seid nicht
Menschen, sondern Ahabs Glieder, Arme, Beine, und gehorcht meinem Befehl!“ (Melville 1851, 857, Kapitel
135 „Die Jagd – Der dritte Tag“).
[d] Als der Himmel selbst – durch Gewitterblitze – Ahabs Kompass umpolt und somit unbrauchbar macht,
setzt er sich über diesen Wink hinweg: Er magnetisiert eine Segelmachernadel und will auf diese Weise zeigen,
dass „Ahab ... über den Magnetstein herrscht“. Der Erzähler sagt bei dieser Gelegenheit treffend: „Im höhnischen Frohlocken seines Feuerblickes offenbarte Ahab nun all seine unheilvolle Hoffart“ (Melville 1851,
788, Kapitel 124 „Die Nadel“).
[e] Besonders deutlich wird Ahabs Trieb, alles sich und seinen Zielen zu unterwerfen, in der Auseinandersetzung mit Starbuck. Dieser hält zu Recht daran fest, dass er und die übrigen Matrosen nicht auf See sind, um
Ahabs persönlichen Rachekrieg gegen den weißen Wal zu führen, sondern um ihren eigenen und ihrer Familien
Lebensunterhalt zu finanzieren. Ahab will das nicht anerkennen. Für ihn zählt nur eines: es soll „meine Rache
reichlich Zinsen tragen“ (Melville 1851, 273, Kapitel 36 „Das Achterdeck“).
[f] Ahab will aus eigener Kraft, er will absolut sein: Er hält sich für „Unsterblich zu Land und zu Wasser!“
(Melville 1851, 760, Kapitel 117 „Die Walwache“)
[g] Er anerkennt nichts über sich, nicht einmal eine göttliche Macht; er stellt sich auf eine Stufe mit Gott
selbst: „ich würde selbst die Sonne schlagen, wenn sie mich beleidigt. ... Wer steht denn über mir?“ (Melville
1851, 274, Kapitel 36 „Das Achterdeck“ [vgl. Ziffer (43)]). Gottes Warnung scheut er nicht, sondern er trotzt
ihm selbstbewusst: Als Gott im Sankt-Elmsfeuer „Sein ‚Mene, Mene Tekel, Upharsin’ in die Taue und Wan113
Nietzsche I, 69f (Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, Nr. 9)
114
Vgl. etwa: „All die Schönheit und Erhabenheit, die wir den wirklichen und eingebildeten Dingen geliehen
haben, will ich zurückfordern als Eigenthum und Erzeugniß des Menschen: ... Das war bisher seine größte
Selbstlosigkeit, daß er bewunderte und anbetete und sich zu verbergen wußte, daß er es war, der das geschaffen
hat, was er bewunderte“ (Nietzsche XIII, 41, 11[87]). Vgl. dagegen aber Nietzsche XIII, 43, 11 [94].
115
Band I, §§ 211-216
53
„Labyrinthe“ – Drittes Kapitel
ten wob“ (Melville 769, Kapitel 119 „Die Kerzen“) rief Ahab: „Ich weiß um deine stumme, unbegrenzte
Macht, doch werd ich ihre unbedingte, ungebrochne Herrschaft anfechten bis zum letzten Atemzuge meines
Erdbebenlebens“ (Melville 1851, 771, Kapitel 119 „Die Kerzen“).
2.2 „in nomine diaboli“
„Die Harpune hatte nun ihre Spitze, und als der Schmied die Widerhaken ein letztes Mal
ins Feuer hielt, bevor er sie ablöschte, rief er Ahab zu, das Wasserfaß näher heranzurücken, damit er sie härten könne.
‚Nein, nein – nimm kein Wasser dafür! Ich will, daß sie die wahre Todeshärte hat! Ahoi
da! Tashtego, Queequeg, Daggoo! Was meint ihr Heiden: Gebt ihr mir soviel eures Blutes,
daß es die Spitze hier bedeckt?’ Er hielt sie hoch. Die drei nickten finster: Ja. Drei Schnitte
in heidnisches Fleisch, und die Spitze für den weißen Wal war abgelöscht.
‚Ego non baptizo te in nomine patris, sed in nomine diaboli!’ heulte Ahab wie im Delirirum, als das bösartige Eisen zischend das Taufblut verzehrte.“
Melville 1851, 748 (Kapitel 113 „Die Esse“)
(231) Ahabs Handeln entspringt einem bösen, einem teuflischen Prinzip, auf das er in freier Entscheidung selbst sein Leben gründet: Er tauft seine Harpune – das Werkzeug seiner
Selbstbehauptung – ausdrücklich auf den Teufel, nicht auf Gott. Man muss sehen, dass Melville das christliche Bekenntnis voraussetzt und selber teilt. Erst von diesem Hintergrund her
ist die Bedeutung und Tragweite dieses Textes zu verstehen. Der Mensch war in Adam von
Gott abgefallen und wollte selber „sein wie Gott“. Auch Ahab will „sein wie Gott“, d. h. der
Herr des Ganzen. Freilich besteht ein fundamentaler Unterschied zwischen Gott und Mensch:
Wenn Gott sich selbst will, will er alle Wesen, weil er der Urgrund und Inbegriff von allem
ist. Wenn dahingegen der Mensch sich selbst will, so will er sein partikulares Selbstinteresse, zu dessen Gunsten er die anderen Wesen missachtet und instrumentalisiert. Deshalb ist
der Mensch, wenn er sein will „wie Gott“ gerade nicht wie Gott, sondern wie der Teufel.
Genau in diesem Sinne setzt Ahab nur auf sich selbst und achtet kein anderes Wesen. Weil
Gott das Ganze aller Wesen will, ist er Sittlichkeit, d. h. Achtung vor dem Selbstsein eines
jeden Wesens. Weil der Mensch, wenn er sein will „wie Gott“, nur sein Selbstinteresse kennt,
ist er Bosheit, d. h. Missachtung jedes anderen Selbstseins. Daher kennt Ahab keine sittlichen
Verpflichtungen, weder gegenüber Kapitän Gardiner, noch gegenüber Starbuck und der
Mannschaft. Vielmehr ist er entschlossen, sich selbst auf Kosten aller anderen zu behaupten. Deswegen ist seine Harpune „bösartig“, und sie „verzehrt“ vernichtend das Blut der drei
Harpuniere: Ahab instrumentalisiert alle Anderen vollständig und zehrt so deren Selbstsein
gänzlich auf.
Zusatz: Vater Mapple in seiner Predigt betont die Notwendigkeit der Selbstbehauptung des endlichen Ich.
Aber diese Selbstbehauptung darf ihren Maßstab nicht in dem haben, was Menschen auf „dieser Erde“ für das
Höchste halten: „Freude gewinnt – eine himmelhochragende und inwendige Wonne –, wer den stolzen Göttern und Kommodores dieser Erde stets sein eigenes, unerbittliches Ich entgegenstellt“ (Melville 1851, 101
[Kapitel 9 „Die Predigt“]). Auch dem eigenen Selbst muss der Mensch sein wahres Ich entgegenstellen, wenn es
ihn – wie Ahab – zu der Selbstüberhebung treibt, selber wie Gott – wie ein stolzer Gott „dieser Erde“ – sein zu
wollen. Denn: „Freude – Bramstengenfreude – gewinnt, wer weder | Herren noch Gesetz anerkennt, außer
den Herrn, seinen Gott“ (Melville 1851, 101f [Kapitel 9 „Die Predigt“]). Der Mensch ist nicht sein eigener
Herr, dem es freistünde, sich selbst das Gesetz zu geben, was es heißt, ein Mensch zu sein.
2.3 Ahabs Gottesfrevel
„nichts von dem mörderischen Handgemenge mit den Spaniern vor dem Altar in Santa?
Davon habt ihr wohl nichts gehört, was? Von der silbernen Kalebasse, wo er reingespuckt
54
„Labyrinthe“ – Drittes Kapitel
hat?“
Melville 1851, 169 (Kapitel 19 „Der Prophet“)
(232) Dieser Text ist sicherlich sehr rätselhaft. Er stellt eine Warnung vor Ahab dar: Jener
Mensch im Hafen von Nantucket, der sich Elias nennt, erzählt Ismael und Queequeg von diesem Spucken Ahabs. Was hat es damit auf sich? Der Schlüssel liegt darin, dass die „silberne
Kalebasse“ nichts anderes ist, als der Kelch bei der Heiligen Messe auf dem Altar. Das
bestätigt der Kommentator.116 Melville meint dabei sicherlich eine katholische Messe, bei
welcher im Kelche nach der Wandlung das göttliche Blut Jesu Christi unter der täuschenden Gestalt des Weines wirklich gegenwärtig ist. Melville meint kein protestantisches Abendmahl, da er die Geschichte in die lateinamerikanische peruanische Stadt Santa
verlegt und Spanier anwesend sein lässt, die meist katholisch sind. Das „Handgemenge“,
von dem der Text erzählt, entstand wohl wegen Ahabs gotteslästerlichen Frevels. Was hat es
mit dem göttlichen Blut auf sich, und was bedeutet es, dass Ahab darauf spuckt?
Unausgesprochen steht im Hintergrund von Melvilles großem Roman die christliche
Botschaft von der Erlösung der Welt durch Gott in Christus.117 Indem Ahab auf das göttliche
Blut Christi spuckt, zeigt er, dass er auf seiner Selbstübersteigerung, seinem angemaßten
Gottgleichsein beharrt: Er höhnt dadurch den Willen Gottes, der in diesem Blut den von
Ahab (oder anderen) geschädigten Wesen in der Welt Erlösung und Ausgleich zuteil werden
lässt.
3. Liebe
Text A:
„Zeigst du dich in der Liebe niedrigster Gestalt, so will ich vor dir knien und dich küssen,
zeigst du dich aber bloß als höchste Himmelsmacht, so bleibet etwas in mir ungerührt, ob
du auch ganze Flotten vollbeladener Welten auf mich hetztest.“
Melville 1851, 771 (Kapitel 119 „Die Kerzen“)
Text B:
„‚... Nun muß ich gehen. Gib mir die Hand! So ist es gut. Du bist mir treu, mein Junge,
wie seinem Mittelpunkt der Kreis. Darum: Gott segne dich auf ewig. Und wenn es dazu
kommt – soll Gott auf ewig dich bewahren, geschehe, was da wolle.’“
Melville 1851, 808 (Kapitel 129 „In der Kajüte“)
(233) Ahab kämpft gegen eine Gottheit, die – symbolisiert im weißen Wal – alles Endliche
aufzulösen strebt. Er praktiziert in seinen Augen sozusagen die Notwehr des Endlichen gegen
die allesverschlingende Alleinheit des Absoluten. Wenn das Absolute, wie es etwa im Buddhismus gedacht wird, nichts Endliches als Eigenwirklichkeit bestehen und gelten lässt, kann
das Endliche sich selbst nur dadurch behaupten, dass es gegen das Absolute und das Schicksal, als welches es sich manifestiert, aufbegehrt. Wenn das Absolute nur Vernichtung ist,
dann muss es für das Endliche tödlich sein, dieses Absolute anzuerkennen. Angesichts eines
nur vernichtenden Absoluten kann das Endliche nur bestehen, indem es sich jedem Einfluss
des Absoluten völlig widersetzt. So hat Ahab mit seinem Kampf gegen Gott (versinnbildlicht
durch Moby Dick) unter der Voraussetzung recht, dass Gott tatsächlich das buddhistische,
alles Differenzierte einschmelzende und vernichtende Monstrum ist. Es ist freilich in hohem
Maße fraglich, ob man das Absolute richtig verstanden hat, wenn man es buddhistisch versteht. Ahab selbst genügt der buddhistische Begriff eines nirvanahaften Absoluten nicht.
116
Melville 1851, 948f
117
Huber 2004-a
55
„Labyrinthe“ – Drittes Kapitel
Ahab glaubt zwar nicht recht an die Wirklichkeit des abendländich-christlich verstandenen
Gottes, der das Einzelne nicht aufzehrt, sondern es erschafft, in der Welt bestehen lässt und
ihm immerwährende Bewahrung über den Tod hinaus in der Ewigkeit verheißt. Ahab beschwört das Absolute, sich nicht nur als allesverzehrende Macht, sondern als bestehenlassende Liebe zu zeigen. Gerade da, wo er seine „königliche Persönlichkeit“ (Text vor § 228)
trotzig gegen das bloß äußerlich übermächtige Absolute in die Waagschale wirft, gibt er auch
dieser Sehnsucht Ausdruck, dass Gott sich „in der Liebe niedrigster Gestalt“ zeigen möge
(Text A), und dass er nicht, wie der Äon bei Nietzsche, Welten im kosmischen Sandkasten
bauen werde, um bloß seiner eigenen Unerschöpflichkeit sich zu freuen, sondern dass er Geschöpfe schaffe, damit diese echte eigene Wirklichkeit haben und bei Gott „auf ewig“ als
gültig und bestehend gegenwärtig sein möchten (Text B).
Zusatz: Nietzsche denkt das Absolute als eine Gottheit, die Welten erzeugt, aber nicht damit Welten seien,
sondern nur darin sich selbst, die eigene Schöpferkraft zu genießen. Auf die geschaffene Welt und ihre eigene
Wirklichkeit, ihre eigenen Bedürfnisse, kommt es nicht an, nur auf die schöpferische Tätigkeit des Gottes: „Und
so, wie das Kind und der Künstler spielt, spielt das ewig lebendige Feuer, baut auf und zerstört, in Unschuld –
und dieses Spiel spielt der Aeon mit sich. Sich verwandelnd in Wasser und Erde thürmt er, wie ein Kind, Sandhaufen am Meere, thürmt auf und zertrümmert; von Zeit zu Zeit fängt er das Spiel von Neuem an. Ein Augenblick der Sättigung: dann ergreift ihn von Neuem das Bedürfniß, wie den Künstler zum | Schaffen das Bedürfniß
zwingt. Nicht Frevelmuth, sondern der immer neu erwachende Spieltrieb ruft andre Welten ins Leben. Das Kind
wirft einmal das Spielzeug weg: bald aber fängt es wieder an, in unschuldiger Laune“118.
4. Theodicee
„O Haupt! Genug hast du gesehn, Planeten zu zerspalten und Abraham zum Gottlosen zu
machen, und sprichst doch keine Silbe!“
Melville 1851, 494 (Kapitel 70 „Die Sphinx“)
(234) Insoweit Ahab die Liebe, die das Differenzierte affirmiert, dem Absoluten nicht zutraut, denkt er es entweder so wie Nietzsche oder hinduistisch als ein Nirvana, das sich mit
einen bunt wechselnden „Schleier der Maya“ aus illusionären Wesen ohne echte Wirklichkeit
umhüllt. Gegen dieses Absolute, das er in der Gestalt des weißen Wals verkörpert sieht,
kämpft Ahab. Er sieht im Wal immer nur den weißen Wal. Die anderen Walmanifestationen,
in denen die Mannigfaltigkeit der Einzelwesen bejaht wird, kennt Ahab nicht. Von ihnen berichtet uns Ismael, nicht Ahab, der in jedem Wal dasjenige Daseinsprinzip am Werk sieht,
welches die Dinge zur Zerstörung und Auflösung treibt. Dieser Gleichgültigkeit den einzelnen Wesen gegenüber klagt Ahab den Wal ausdrücklich an: Einmal beim Anblick eines an
der Bordwand aufgehievten Walhauptes spricht Ahab das Haupt an und zählt ihm viel Leid
und Ungerechtigkeit auf, das es schon gesehen haben müsse: das Leid Ertrinkender, das Leid
von Liebenden, die, in den Fluten versinkend, der endgültigen Trennung in’s Auge sehen, das
Unrecht, das der von Piraten gemeuchelte Steuermann erdulden musste, die Ungerechtigkeit,
mit welcher der Blitz Schuldlose erschlägt. Und Ahab schließt seine Klage mit dem obigen
Text. Was Ahab hier umtreibt, ist das Theodicee-Problem: Der Wal sieht alles Übel und
alles Böse, was gegen die Güte und Liebe Gottes spricht, – und sagt nichts. Was bedeutet
dieses Schweigen des Wals? Da der Wal das Sinnbild der Gottheit ist, hüllt sich das Absolute
selbst in Gestalt des Wals in stummes Schweigen über alles, was ihm, wie wir meinen, laute
Verzweiflungsschreie abnötigen müsste, weil wir mit den Einzelwesen, die leiden und untergehen, Mitleid haben und uns an ihnen liegt. Ahabs Überlegung ist folgende: Übel und Böses
sind so mächtig in der Welt, dass selbst das Vorbild aller Glaubenssicherheit, Abraham, an
118
Nietzsche I, 830f (Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen); vgl. Nietzsche I, 153 (Die Geburt
der Tragödie aus dem Geiste der Musik, Nr. 24)
56
„Labyrinthe“ – Drittes Kapitel
seinem gläubigen Gottvertrauen irre werden müsste. Selbst ein Gott völlig ergebener Abraham müsste „etwas sagen“, d. h. er müsste aufschreien vor Mitleid und Protest gegen das
Übel und das Böse in der Welt. Jedes sehende und empfindende Wesen müsste aufschreien.
Nur Gott allein schweigt. Sollte dem Absoluten, sollte Gott selbst nichts liegen an den Einzelwesen? Aus dem Schweigen Gottes schließt Ahab wohl darauf, dass Gott nichts an den
mannigfaltigen Wesen liegt. Deshalb denkt er ihn als buddhistisches Absolutes, als weißen
Wal. Das Mitleid mit dem Leid seiner Mitgeschöpfe, das Ahab hier verrät, zeigt, dass er nicht
immer und nicht ausschließlich böse ist.
5. Pips Vision
„Die See hatte seinen endlichen Leib wie zum Hohne verschont, das Unendliche seiner
Seele aber war in ihr untergegangen. Und doch nicht ganz untergegangen, sondern lebend
hinabgeholt in wundersame Tiefen, wo seltsame Schemen aus der noch ungeformten Urwelt vor seinen blicklosen Augen für und wider glitten und ihm der geizige Meergeist, die
Weisheit, seinen angehäuften Hort offenbarte – und dort, unter den herzlos frohen, immer
jungen Ewigkeiten, da schaute Pip die Scharen von gottgleich allgegenwärtigen Korallentierchen, die aus dem Firmament der Wasser ihre gewaltigen Welten türmten. Er sah, wie
Gottes Fuß den Webstuhl trieb“
Melville 1851, 645 (Kapitel 93 „Der Verstoßene“)
(235) Für uns Leser bezeugt das Absolute selbst, dass Ahab es falsch sieht, wenn er es nur
als die in Gestaltlosigkeit hinein auflösende Leere, nur als weltverzehrendes Prinzip sieht.
Dem Schiffsjungen Pip wird in der Tiefe des Wassers eine Vision zuteil, die ihm zeigt, dass
die Gottheit nicht farblos totes Nirvana, sondern affirmative Liebe zu den mannigfaltigen
endlichen Wesen ist. Als Pip vor lauter Angst aus dem Walfangboot springt, verbringt er längere Zeit allein im offenen Meer; schließlich wird er von der „Pequod“ doch noch gerettet.
Der obige Text sagt, was Pip unter wasser gesehen hat. Ihm wurde dort ein Blick „in wundersame Tiefen“ der Wirklichkeit zuteil. Er schaut die „Urwelt“, das Urbild der Welt, wie
sie vom göttlichen Urgrund aller Wirklichkeit gedacht wird. Dieser Urgrund ist der alles umfassende Geist, der Geist des ganzen Meeres der Wirklichkeit, der „Meergeist“, der eine
schemenhaft ungeformte Urwelt kraft seiner „Weisheit“ zu einem komplexen Gewebe mannigfaltiger Formen und Wesen herausgestaltet. Die Welt ist im letzten Grunde kein differenzloses und farbloses Nirvana, sondern ein kunstvolles Gewebe. Ein Gewebe hat Differenz und
Unterschied in sich, es ist nicht leer, sondern mannigfaltig nach vielen Richtungen von Fäden
durchzogen, es ist kein Nirvana. Gott ist keine Nirvana-Ruhe, sondern lebendige Tätigkeit:
sein Fuß treibt den „Webstuhl“ der Welten.
Zusatz: Pip lebt in den Augen seiner Mitmatrosen im „Wahn“, denn er wurde gewürdigt, zu jenem himmlischen Gedanken zu gelangen, welcher der Vernunft als wirrer Wahn erscheint.119 Himmlische Vernunft ist in
den Augen der Welt „Wahn“. Tatsächlich – so sieht und sagt es Richard Wagner (Meistersinger III „Wahnmonolog“) – ist die Welt, unser rationaler Alltag, eigentlich Wahn, weil die wahre Welt nicht in dem besteht, was
sie faktisch ist, sondern was sie in ihrer ewigen Vollendung sein soll.120
6. Ismaels Erlösung
„Die Haie, sie glitten harmlos nun vorüber, als wären ihre Rachen fest verschlossen; die
119
Melville 1851, 645 (Kapitel 93 „Der Verstoßene“)
120
Band II, 179f
57
„Labyrinthe“ – Drittes Kapitel
wilden Habichte der See, sie schwebten mit verhüllten Schnäbeln über mir. Am zweiten
Tage | stand ein Segel auf mich zu, kam näher, näher und nahm mich schließlich auf. Es
war die umherirrende Rachel; auf der Suche nach ihren verschollenen Kindern fand sie
nur eine weitere Waise.“
Melville 1851, 865f (Epilog)
(236) Schließlich bezeugt Ismaels Erlösung am Ende des ganzen Romans, dass das Absolute die Einzelwesen nicht in das Nirvana auflöst, sondern in der göttlichen Ewigkeit all ihre
differenzierte Selbstheit bewahrt. Ismael, nachdem er dem Untergang der Pequod entgangen
ist, treibt auf Queequegs Sarg über die See. Diese Situation schildert der obige Text. Darin
finden sich zwei Sinnbilder für die paradiesischen Zustände im Gottesreich: Die Harmlosigkeit der wilden Haie und Habichte der See, sodann dass Rachel den Ismael aufnimmt, und
schließlich, dass dieser eine Waise ist.
[a]
Beim Propheten Isaias ist die Harmlosigkeit der wilden Tiere das Bild der Verheißung
für das Gottesreich: „Kalb und Löwe und Lamm verweilen gleichzeitig und ein kleiner
Knabe wird sie weiden“ (Isaias 11,6)121. Und: „Wolf und Lamm weiden gleichzeitig,
Löwe und Rind fressen Streu, und der Schlange dient Staub zum Brot. Sie werden
nicht schaden noch töten auf meinem ganzen Heiligen Berg, spricht der Herr“ (Isaias
65,25)122. Das Bild der Harmlosigkeit des Wilden deutet auch bei Goethe und in Mozart/Schikaneder’s Zauberflöte auf die göttliche Sphäre.
Zusatz 1: Bei Goethe sagt Mephisto über Faust: „Staub soll er fressen, und mit Lust, Wie meine
Muhme, die berühmte Schlange“ (Faust 334f). Die Hamburger Ausgabe (Bd. III 510) nennt als Quelle
und Bezugstext 1. Mose (Genesis) 3,14. Allerdings ist an dieser Stelle der Bibel nicht davon die Rede,
dass die Schlange Staub (pulvis) fresse, sondern Erde (terra). Das Erde-fressen-Müssen ist Strafe für
die Bosheit der Schlange. Vom Staub, den die Schlange frisst, ist an ganz anderer Stelle die Rede, nämlich an der schon genannten Stelle Isaias 65,25: „der Schlange wird Staub zum Brot dienen“. Dies ist
ein Bild für die Unschädlichkeit der Schlange in der erlösten Welt, im Reich Gottes. Damit ergibt sich:
[ ] Die erdefressende Schlange ist die urzeitliche, verfluchte Schlange des Buches Genesis. [ ] Die
staubfressende Schlange jedoch ist die endzeitliche, vom Fluch erlöste Schlange des Isaias-Buches.
Luther übersetzt Genesis 3,14 korrekt mit „Erde essen“. Beim Isaias-Vers jedoch schreibt er fälschlich
„Erde“, so als stünde da „terra“ statt „pulvis“. Goethe hat aber nicht nur die Luther-Übersetzung der
Heiligen Schrift gekannt, sondern auch das lateinische Original der Vulgata gelesen und daraus sogar
das Hohelied übersetzt (Goethe XV, 323-329). Indem Goethe den Mephisto von „Staub“ statt von
„Erde“ sprechen lässt, wird Faust nicht mit der verdammten, sondern mit der erlösten Schlange in
Entsprechung gesetzt. Der Prolog im Himmel spricht also nicht eine Drohung über Fausts zukünftiges
irdisches Leben aus, wie es auf den ersten Blick scheint und wie Mephisto tatsächlich meint, sondern
eher eine Verheißung über die künftige Erlösung Faustens. Mephisto hat die Schlange aus Genesis 3,14
im Auge und will höhnisch zu verstehen geben, dass Faust derselben Strafe verfallen sei, welche die
Schlange traf. Tatsächlich aber sagt er etwas anderes. Der Teufel zitiert die Bibel, aber er zitiert sie ungenau: Mephisto will das Buch Genesis anführen, es legt sich ihm aber der Prophet Isaias in den Mund.
Das Wort Gottes, indem es zitiert wird, korrigiert selbst seine Anwendung. Jetzt hat es plötzlich Bedeutung, dass Mephisto – über den Schrifttext hinausgehend – sagt, Faust werde den Staub „mit Lust“
fressen. In der Genesis steht nichts davon, dass die Schlange die Erde mit Lust fresse. Wie sollte es
auch Lust bereiten, eine Strafe zu erdulden? Und als Strafe wird in der Bibel das Erdefressen ja von
Gott über die Schlange verhängt. Jetzt wird der Sachverhalt klar: Lust kann nicht die verfluchte erdefressende Schlange aus Gen 3,14 empfinden, wohl aber die erlöste staubfressende aus Is 65,25. Es ist
die Lust des Erlösten, die durch Christ Kreuzesopfer der Kreatur wieder eröffnete paradiesische Lust.
Der Prolog im Himmel enthält so schon einen impliziten Hinweis auf das Ende des Faust II in sich.
121
Vitulus, et leo, et ovis, simul morabuntur, et puer parvulus minabit eos (Is 11,6)
122
Lupus et agnus pascentur simul, leo et bos comedent paleas, et serpenti pulvis panis eius. Non nocebunt,
neque occident in omni monte sancto meo, dicit Dominus (Is 65,25)
58
„Labyrinthe“ – Drittes Kapitel
[b]
Das Schiff, das Ismael aufnimmt, ist die „Rachel“, benannt nach der Frau, die im Alten Testament ihre Kinder sucht und sie nicht findet, weil sie dahin sind.123 Aber Melville verändert das Bild: Während Rachel ihre Kinder nicht mehr findet, findet das
Schiff „Rachel“ den Ismael. Dem Ismael widerfährt das Heil, das jenen Kindern verwehrt blieb.
[c]
Die Sorge für die Waisen ist ein das Gottesreich versinnbildlichendes Tun (Psalm
10,14), während es Kennzeichen der falschen Götzen ist, den Waisen nichts Gutes zu
tun (Baruch 6,37). Im Aufnehmen des Ismael als einer Waise der Rachel wird sinnbildlich gesagt: Das im Tod jener Kinder oder im allgemeinen Tod der zugrunde gegangene Menschenkind bleibt nicht in der Vernichtung, sondern wird wie eine Waise
von Gott selbst aufgenommen. Ismael tritt am Ende des Romans sinnbildlich in die
Ewigkeit des Gottesreichs [vgl. (a)] ein, wo der Tod nicht Vernichtung, sondern restitutio in integrum ist.
[d]
Die Harmlosigkeit wilder Tiere und die Sorge für die Waisen zeigen die Erlösung an,
mithin den Eintritt in das „gelobte Land“, das Gott im Alten Testament zunächst als
irdisches Territorium und Gebiet auf dieser Erde verheißen und den Israeliten schließlich auch gegeben hatte, das letztlich aber doch nur ein irdisches Sinnbild war für die
Verheißung des jenseitigen, himmlischen Landes ewiger Heimat, die Jesus Christus
durch seinen Tod erfüllt hat. Mit Hoffnung auf dieses eschatologische Land, die sich
jetzt an ihm erfüllt, war Ismael schon bei der Ausfahrt der „Pequod“ von Kapitän Bildad beseelt worden:
„Weit hinter tiefer Meeresflut / Winkt grüner Felder Strand, / Wie hinterm Jordanflusse einst, / Der Juden Heil’ges Land“124.
B. Queequeg: Identität aus dem Anderen
1. Echtes Selbstsein
„Als es heikel wurde, habe er sich einer Kleinigkeit an Land besonnen, welche er nicht
erledigt habe, und deshalb seine Meinung geändert, was das Sterben anging – er könne
jetzt noch nicht sterben, verkündete er. Worauf sie ihn fragten, ob denn Leben oder Sterben in seinen freien Willen und sein Belieben gestellt sei. Gewiß, gab er zurück. Kurzum,
Queequeg vertrat die Auffassung, dass eine bloße Krankheit einen Menschen, der zum
Leben entschlossen sei, nicht umbringen könne – nichts könne das, außer ein Wal oder ein
Sturm oder eine zerstörerische Macht ähnlicher Art, gewalttätig, unbeherrschbar, vernunftlos.“
Melville 1851, 737 (Kapitel 110 „Queequeg in seinem Sarg“)
(237) Auch an Queequeg zeigt sich, dass die Identität des einzelnen Menschen letztlich
durch Gott begründet ist und in Gott bewahrt bleibt. Der Tod ist nicht Vernichtung, sondern
123
Jeremias 31,15. Dieser von Göske in Melville 1851, 1027 angeführte Vers wird vom Evangelium auf den
bethlehemitischen Kindermord hin gedeutet (Matthäus 2,16ff; vgl. Allioli 1892, 805, Marginalie 3)
124
Melville 1851, 184 (Kapitel 22 „Fröhliche Weihnachten“). Melville 1994, 113 steht: Sweet fields beyond the
swelling flood, / Stand dressed in living green. / So to the Jews old Canaan stood, / While Jordan rolled between
(Melville 1939, 93).
59
„Labyrinthe“ – Drittes Kapitel
Gewinn der verklärten und erlösten Identität des Einzelwesens. Als Queequeg sterbenskrank
darniederliegt, stirbt er schließlich doch nicht, und zwar einfach deswegen, weil er noch nicht
sterben will (Text A). Queequeg unterscheidet hier zweierlei Arten von Ursachen für das
Sterben. Für die eine Art steht die Krankheit als Beispiel, für die andere der Wal oder ein
Sturm. Nun lässt sich jedoch kaum bestreiten, dass die Krankheit ebenso eine „zerstörerische
Macht“ ist wie Wal und Sturm es sind. Wodurch unterscheidet sich die zerstörerische Macht
der Krankheit von der, die in Wal und Sturm wirkt? Nicht im Resultat, das in beiden Fällen
Zerstörung ist. Wohl aber im Ursprung: Die Krankheit wirkt zerstörerisch von innen, Wal
und Sturm wirken zerstörerisch von außen. Die Zerstörung von innen hält Queequeg nur dann
für wirksam, wenn der Mensch selbst sie will. Was aus dem Inneren des Menschen kommt,
kann nicht zwingend und automatisch tödlich sein. Wieso? Vielleicht liegt hier ein Einfluss
Spinozas oder Leibnizens auf Melville vor. Der französische Philosoph und Essayist Alain
hat zwischen dem inneren und dem äußeren Tod unterschieden, und Spinozas Lehre von der
Unmöglichkeit des inneren Todes in Erinnerung gerufen: „Dagegen finde ich Hilfe bei Spinoza, dem einzigen, der jeden Menschen aus sich heraus für unsterblich gehalten hat und
jeden Tod für äußerlich. Denn, so sagt er, wenn es irgendeine tödliche Ursache im lebenden
Menschen gäbe, und zwar eine, die aus seinem Leben selbst stammt, würde er nicht einen
Augenblick leben“125. Das echte Selbstsein kann nur von außen zerstört werden, denn Selbstsein heißt eben Nichts-Anderes-Sein. Ist alles Andere – d. h. alles, was nicht Selbst ist – aus
dem Selbst ausgeschlossen, dann ist das Selbst in sich nirgendwo negiert. Negation und
Nichtsein kann daher nur von außen kommen. In sich ist jedes Wesen unzerstörbar, unsterblich.
Zusatz: Bei Spinoza heißt es: „Jedes Ding kann nur von einer äusseren Ursache zerstört werden. Beweis.
Dieser Satz erhellt aus sich; denn die Definition jedes Dinges bejaht die Wesenheit des Dinges selbst, verneint
sie aber nicht; oder setzt die Wesenheit des Dinges, hebt sie aber nicht auf. Wenn wir also nur auf das Ding
selbst, nicht aber auf die äußeren Ursachen achten, werden wir nichts in demselben finden können, was es zerstören könnte“126. Ähnlich sagt Leibniz von den Substanzen, sie könnten nur durch Erschaffung entstehen und
nur durch Vernichtung zerstört werden, aus sich selbst heraus jedoch seien sie unzerstörbar. Deshalb gelte der
Satz des Ovid: „Die Seelen haben keinen Tod“127.
2. Das Selbst ist Setzung eines Anderen
„Einer verrückten Grille folgend, nutze er seinen Sarg nunmehr als Seekiste; er leerte
seinen Seesack und stapelte seine Siebensachen fein säuberlich im Sarge auf. Viele freie
Stunden verbrachte er damit, absonderliche Figuren und Zeichen in den Deckel zu schnitzen, wobei er anscheinend versuchte, ungeschickt, wie er war, die verschlungenen Tätowierungen auf seinem Körper in Teilen auf den Sarg zu übertragen. Diese Tätowierungen
waren nämlich das Werk eines verblichenen Propheten und Sehers seiner Insel, welcher
ihm mit diesen Hieroglyphen eine komplette Theorie vom Universum auf den Leib geschrieben hatte, dazu eine mystische Abhandlung über die Kunst der Wahrheitsfindung, so
daß Quequeg ein leibhaftiges Rätsel war, das es zu lösen galt, ein Wunderwerk in einem
125
Alain 2002, 71. – Alain ist ein Pseudonym für Emile August Chartier, 1868-1951 (vgl. den Kommentar von
Jutta Kähler in Alain 2002, 72)
126
Nulla res, nisi a causa externa, potest destrui. Demonstratio. Haec Propositio per se patet; definitio enim
cujuscumque rei ipsius rei essentiam affirmat, sed non negat; sive rei essentiam pomit, sed non tollit. Dum itaque ad rem ipsam tantum; non autem ad causas externas attendimus, nihil in eadem poterimus invenire, quod
ipsam potest destruere (Spinoza II, 272f [Ethica III, Propositio IV]).
127
morte carent animae (Ovid: Metamorphosen XV 158; Leibniz II/1, 341f [Theodicee Nr. 89]; vgl. Leibniz:
Monadologie §§ 4, 6, 73)
60
„Labyrinthe“ – Drittes Kapitel
Bande, dessen Mysterien jedoch nicht einmal er selbst zu enträtseln verstand, obwohl doch
sein eigenes lebendiges Herz unter ihnen schlug, weshalb diese Mysterien dazu bestimmt
waren, am Ende gemeinsam mit dem lebendigen Pergamente, auf dem sie geschrieben
standen, zu vermodern und somit auf ewig rätselhaft zu bleiben. Dieser Gedanke muß Ahab bewogen haben, als er sich eines Morgens nach eingehender Betrachtung des armen
Queequeg abwandte und in wildem Weh ausrief: ‚O teuflische Tantalusqualen, wie sie die
Götter ersinnen!’“
Melville 1851, 738 (Kapitel 110 „Queequeg in seinem Sarg“)
(238) Diese innere Unsterblichkeit besteht freilich nur, insoweit das einzelne Ding tatsächlich in sich und aus sich existiert. Kein endliches Ding aber existiert völlig aus sich selbst,
sondern jedes existiert nur aus dem Urgrund. Deshalb sagt Leibniz, die Substanzen entstünden durch Erschaffung. Das heißt eben, dass sie sich nicht selbst erzeugen. Ihre innere Wirklichkeit stammt von außen, ihr Selbstsein rührt von Anderem her. Das ist das Paradox der
Existenz. Nur insofern das Wesen nicht ausschließlich in sich selbst und für sich selbst bestehen möchte, sondern diese Abhängigkeit vom Nicht-Selbst akzeptiert, kann es als es selbst
leben: Wer sein Dasein nicht Gott verdanken möchte, dem bleibt nur, es als gleichsam ungeliebtes Geschenk von sich zu werfen. Der Mensch muss (so hat es Kierkegaard ausgedrückt)
in „Durchsichtigkeit“ zu jenem Urgrund leben, der er nicht selbst ist, und der doch in seinem
Selbstsein am Werk ist.128 Queequeg ist sozusagen das inkarnierte Muster solcher Durchsichtigkeit, denn in das Fleisch seines Körpers ist das Mysterium jener Macht, die das Universum
beherrscht, in Tätowierungen eingegraben.
(239) Der Mensch ist eine „Theorie des Universums“, denn er schaut das Universum an
(theorein), das sich in ihm spiegelt. Aufgrund des physikalischen Zusammenhangs aller Wesen in der Welt untereinander, empfindet der Mensch in seinem Selbst- und Welterleben die
Wirkung des gesamten Universums auf ihn. Das Universum ist im Menschen ganz präsent,
wenn auch perspektivisch – aus der Sicht „seiner Insel“ – und opak als ein dunkles weites
All und Schicksal das alles, was wir bewusst überschauen und beherrschen können, übersteigt. So ist der Mensch ein Mysterium, das „nicht einmal er selbst zu enträtseln verstand“.
Aber, dass er dies Mysterium ist, und dass er sich selbst (in seiner eigenen Person und in der
Person aller anderen Menschen) als Mysterium akzeptiert und respektiert, das macht seine
Existenz durchsichtig auf den Urgrund aller Wirklichkeit, es „gründet das Selbst durchsichtig
in der Macht, die es setzte“129.
(240) Im Tod ist das Leben beendet, sein Inhalt gesammelt. Dennoch ist damit noch nicht
automatisch die Vollendung des eigentlichen Seins der Person gegeben, denn der Tod ist Abbruch des Lebens, nicht Vollendung. Der Tod fragmentiert das Leben. Die Vollendung der
Person kann sich die Person nicht selber geben, weil er sein im Tod zerfallendes Dasein weder erhalten, noch dessen inneren Brüche und Verwerfungen ausgleichen und glätten kann.
Vollendung kann nur dadurch geschehen, dass eine numinose Macht das im Tode endende
Leben auffängt, es bewahrt und das in ihm fragmentarisch Gestaltete vollendet. So ist es ein
„Prophet und Seher“, der Queequegs Identität – die Hieroglyphen des Universums – ihm auf
den Leib schreibt. Der Mensch selbst bleibt sich ein Rätsel. Was er „eigentlich“ ist, vermag er
von sich her nicht auszubuchstabieren. Erst wenn er in das numinose Reich eingegangen sein
wird, dessen irdisches Sprachrohr jener „Prophet und Seher“ war, wird er zu sich selbst als
einer vollendeten und verklärten Identität gefunden haben. Dieses numinose Reich betritt im
128
Band I, §§ 229f
129
Kierkegaard IV, 14 (Die Krankheit zum Tode)
61
„Labyrinthe“ – Drittes Kapitel
Roman jedoch Queequeg selbst nicht, wohl aber wenigstens sinnbildlich Ismael.
Zusatz: In Franz Kafkas Erzählung Ein Traum ist es ein „Künstler“, welcher die Identität des Josef K. ausschreibt. Er schreibt zwar den Namen des Josef K. (es ist dessen Leben), aber er schreibt ihn in goldenen Buchstaben: Der Name versinnbildlicht das verklärte weil vollendete Leben seines Trägers130, und diese Vollendung
kann der Mensch sich nicht selber geben131. In einer gestrichenen Stelle des Romans Der Proceß hat Franz Kafka den Josef K. ebenfalls zu solcher Verklärung geführt, und zwar mit Hilfe des Malers (Künstler!) Titorelli.
Der Verklärungszustand, den Josef K. „im Halbschlaf“132 erlebt, wird so gekennzeichnet: „es gab keine auffallende Einzelheiten, K. umfasste alles mit einem Blick“133. Man beachte, dass hier keineswegs ein buddhistisch
leeres Ganzes gemeint ist: Die Einzelheiten sind nicht verschwunden, aber sie werden mit einem Blick gesehen.
Das Ganze wird als in sich differenziert gesehen, und die Einzelheiten werden nicht isoliert, sondern im Ganzen
und als dessen Ausdruck gesehen. Auch das Individuum wird nicht in’s Gestaltlose aufgelöst, denn K.s individueller Name ist es, der vergoldet und so verklärt wird (in der Erzählung Ein Traum). Und im Proceß-Roman
heißt es, K. sei in dem Zustand des Überblicks über das Ganze „glücklich“.
VIII. Absolutes
A. Ismaels Überleben
Text A:
„... und das große Leichentuch des Meeres wogte weiter wie vor fünf Jahrtausenden“
Melville 1851, 864 (Kapitel 135 „Die Jagd – Der dritte Tag“)
Text B:
„Und ich allein bin entronnen, daß ich dir’s ansagte“
Melville 1851, 865 (Epilog)134
Text C:
„Nach dem Verschwinden des Parsen hatte es sich so gefügt, daß die Parzen mich dazu
bestimmten, den Platz von Ahabs Bugmann einzunehmen, als dieser zum Harpunier wurde.“
Melville 1851, 865 (Epilog)
(241) Am Ende des Moby Dick steht der Untergang. Nachdem Melville in einem beispiellos
dichten Symbolismus die ganze Welt in das enge Walfang-Schiff geholt hat, geht alles unter,
„wie vor fünf Jahrtausenden“ (Text A). Diese Zeitangabe weist auf die Sintflut hin135, in
welcher Gott alle Geschöpfe vernichtet hat. In der Sintflut werden die Einzelwesen wieder
eingeschmolzen in die Urflut, aus der sie einst Gottes Schöpferwort hervorrief. Ist so das letzte Wort des Moby Dick die Auflösung aller Wesen in die gestaltlose Urflut, in das leere Nirvana? Keineswegs, denn am Ende des Buches steht nicht der eben angeführte Text, sondern
130
Gold versinnbildlicht die Vollendung und Verklärung, in der christlichen Ikonographie symbolisiert es den
Himmel. Vgl. Huber 1990-a, 35ff; 50ff; 79ff; zu Kafkas Erzählung vgl. 94f. Die Geschichte Ein Traum findet
sich in Kafka 1994, 295-298
131
Auch die Müllerstochter im Märchen kann das Stroh des Alltags nicht selbst in das Gold des gelungenen
Lebens verwandeln. Sie bedarf dazu der numinosen Hilfe des Rumpelstilzchens.
132
Kafka 1990-a, 348, Zeile 23
133
Kafka 1990-b, 346f
134
et evasi ego solus, ut nuntiarem tibi (Iob 1,15 ; vgl. 1,16 ;17 ;19)
135
Melville 1851, 939 und 1026
62
„Labyrinthe“ – Drittes Kapitel
der Epilog, welcher mit dem Wort aus dem Buche Iob beginnt, dass doch einer der allgemeinen Auflösung und Einschmelzung entronnen sei (Text B). Aber schon die Sintflut war keine
allgemeine Vernichtung, denn von jeder Art der Wesen auf der Welt wurde ein Paar gerettet:
Die Welt sollte nicht eingeschmolzen, sondern in all ihrer Differenziertheit neu gemacht werden. Wie der Knecht Iobs dem Angriff der Feinde entkommt, so entkam auch Noah mit seiner Arche einst der Sintflut. Er wurde vor den Wassern durch Gott selbst bewahrt. Auch bei
Melville ist es die göttliche Sphäre selbst, die Ismael im Untergang der Pequod vor dem Untergang bewahrt: Es sind die Parzen, die Vollstrecker des verborgenen göttlichen Ratschlusses, die, nachdem sie ihn schon überhaupt erst auf die ganze Reise geschickt haben136, es so
fügen, dass er am Ende davonkommt (Text C): Am letzten Tag der Jagd stößt der Wal an das
Fangboot, und trifft es so, dass ausgerechnet der Bugmann in’s Wasser geschleudert wird.137
So bleibt er, als das Boot dem auf das Schiff zustürmenden Wal folgt, dem Untergangsgeschehen so fern, dass ihn nicht einmal mehr der Sog des sinkenden Schiffes in die Tiefe ziehen kann.
(242) Wozu wird Ismael vor dem Untergang bewahrt? Melville sagt es durch den Iob-Vers:
Dass er etwas sagen und mitteilen würde: dass er es „ansagte“, also eine Kunde von etwas
brächte. Wenn die Leere des Leichentuches die Wahrheit über das Absolute wäre, dann hätte
Ismael nichts weiter von ihm zu berichten. Der Untergang hätte radikal alles verschlungen –
auch alle mögliche Kunde davon. Vom Absoluten, wenn man es angemessen denken will,
muss mehr gesagt werden, als dass es das gestaltlos Leere ist. Wer dies sagt, sagt nichts
schlechthin Falsches, aber etwas Einseitiges. Die unendliche Seinsfülle ist zwar in der Tat
erhaben über jede Gestalt, die als solche immer endlich ist, weil sie bestimmte Grenzen aufweisen muss. Wenn wir nur die gestaltlose Fülle denken, denken wir so viel als Nichts (nichts
Bestimmtes). Das Gestaltlose ist nicht das, wovon wir anfangen. Unser Denken fängt vielmehr von den endlichen Gestaltungen (von den einzelnen Seienden) an, die unsere Welt ausmachen. Diese mannigfaltigen Gestaltungen setzen aber einen Horizont voraus, aus dem
sie ausgegrenzt werden können. Indem wir dies verstehen, haben wir die endlichen Gestaltungen auf jenen Horizont hin überstiegen, der die Möglichkeit eröffnet, alle möglichen Gestaltungen in ihn einzuschreiben und der deswegen alle Gestalten der Möglichkeit nach enthält. So ist er die Fülle aller Gestaltungen, die als solche jede einzelne Gestaltung übersteigt.
Wenn es aber diese endlichen Gestaltungen nicht als Möglichkeiten in sich trügen, wäre das
Absolute (das Sein in seiner unendlichen Fülle) bloß dem leeren Nichts gleich. Davon bringt
uns Ismael Kunde: Wer nach dem Untergang der „Pequod“ das Meer betrachtet, sieht nichts
Bestimmtes, nur ein Gewoge ohne greifbaren Inhalt. Aber eben dies ist nicht die Wahrheit
des Meeres (wie das Nirvana nicht die Wahrheit des Seins ist). Die Wahrheit ist vielmehr,
dass das Meer die jetzt nicht mehr sichtbaren Männer und Schiffe in sich hinabgezogen, zuvor jedoch ihnen und all ihren abenteuerlichen Walfangerlebnissen Raum gegeben hat. Das
Meer ist nicht bloß ein „Leichentuch“, sondern auch der Raum, in dem lebendigstes Leben
stattfand. Daran erinnert uns Ismael: Wer das Meer nur als öde Fläche sähe, sähe nicht das
Meer, wie es wahrhaft ist. Das sieht nur der, welcher im Anblick der öden leeren Fläche alles
das vor seinem geistigen Auge vorüberziehen lässt, was Ismael über die Geschicke Ahabs
und seiner Walfänger auf fast tausend Seiten alles an lebendigen Inhalten ausgebreitet und
„angesagt“ hat. Dazu hat ihn das Meer verschont: Dass er darüber berichte, was die leere
Öde in Wahrheit ist, was sie alles in sich verschlossen an Dingen birgt, von denen in E-
136
Melville 1851, 39 (Kapitel 1 „Schemen“)
137
Melville 1851, 859 (Kapitel 135 „Die Jagd – Der dritte Tag“)
63
„Labyrinthe“ – Drittes Kapitel
wigkeit wahr sein wird, dass sie gewesen sind.138
(243) Die Präsenz des Erinnerten in Gottes ewigem Gedenken (an welchem wir, die wir in
der Zeit leben, doch durch Ismaels Bericht, wie überhaupt durch jede Erinnerung, teilhaben
dürfen) ist nicht im Sinne einer Präsenz von bloßen Abbildern zu denken. Wenn wir ein Bild
von etwas uns machen, dann vermögen wir das Abgebildete nicht vollständig zu repräsentieren, denn seine wirkliche Existenz können wir nicht reproduzieren: Es bleibt eben ein bloßes,
totes Bild. Gott jedoch vermag die Dinge in ihrer vollständigen Wirklichkeit bei sich zu repräsentieren. Daher sind die Einzelwesen und alle endlichen Inhalte im ewigen Gedenken der
Gottheit nicht nur als Erinnerungsbilder, sondern als sie selber in ihrer eigenen Lebendigkeit
Gott und sich selbst gegenwärtig. Denn indem der Mensch von Gott in seiner vollständigen
Wirklichkeit erinnert wird, ist er als samt seinem Selbstbewusstsein präsent.139
B. Trinität
(244) Damit weist das Absolute in sich dreifaltige, trinitarische Struktur auf140:
[a]
Das Absolute ist Wissen von sich selbst. Es kann von sich nur wissen, indem es einen
Raum von Bestimmtheit eröffnet, ansonsten wäre es Nichts. Dies eröffnende Prinzip
von allem ist die Erste Person der Dreifaltigkeit: Gott Vater.
[b]
Da dieser Raum der Bestimmtheit die Wirklichkeit des Absoluten selbst ausdrückt,
muss er sein, was das Absolute ist: Geist, Sichselberwissen. Wenn ein Mensch in den
Spiegel schaut, ist er nicht wirklich als er selbst abgebildet, denn das Spiegelbild weiß
nichts von sich. Wenn Gott sich selbst anschaut, ist das Angeschaute so sehr er selbst,
dass es eine zweite eigene sichselberwissende Person ist141, die Zweite Person der
Dreifaltigkeit: Gott Sohn. In der zweiten Person schaut sich die göttliche Fülle selber
an. So ist jede der beiden allumfassendes Absolutes, weil sie beide dasselbe wissen;
die göttliche Fülle. Es ist, wie bei zwei menschlichen Personen: Sie mögen genau dieselben Lebensinhalte haben, aber je eine eigene Erlebensperspektive. Bei Gott sind
die Perspektiven der ersten und der zweiten Person ebenso verschieden.
[c]
Haben wir damit jetzt zwei Götter? Nein, denn beide Personen sind in ihrer je unterschiedlichen Perspektive gleichzeitig eins. Auch wenn zwei Menschen miteinander zu
tun haben, sind sie in gewisser Weise eins: Wenn sie miteinander reden, macht sich
jeder von beiden eine Vorstellung davon, wie der andere die Welt sieht. Allein auf
dieser Grundlage, dass jeder nicht nur die eigene Perspektive, sondern die Einheit der
eigenen Perspektive und der des anderen zu erfassen versucht, können sie sich verständigen. Ähnlich ist es bei Gott: Indem der Vater die Einheit seiner selbst mit dem
Sohne sieht, ist eine neue Perspektive entstanden, die nicht mehr nur Perspektive des
Vaters ist; und indem der Sohn die Einheit seiner selbst mit dem Vater sieht, ist ebenfalls eine neue Perspektive entstanden, die nicht mehr nur Perspektive des Sohnes ist.
Weil aber in der Gottheit die Person des Vaters und die des Sohnes nicht wie zwei
Menschen sich über einander täuschen können, ist die Einheit, in welcher der Vater
138
Band I, §§ 248ff
139
Huber 1993-c, 160f
140
Ausführlicher Band II, 181-191
141
Dies ist ein Gedanke Gotthold Ephraim Lessings (Band II, 185
64
„Labyrinthe“ – Drittes Kapitel
sich mit dem Sohne sieht, identisch mit der Einheit, in welcher der Sohn sich mit dem
Vater sieht. Die „beiden“ Perspektiven sind in Wahrheit nur eine einzige. Diese ist aber nicht nur ein Vorstellungsbild (wie beim Menschen), sondern eigene Person, weil,
indem in Gott eine personale Perspektive abgebildet wird, sie in ihrer ganzen Wirklichkeit als Sichselberwissen gesetzt ist. Und so macht diese Perspektive eine dritte
eigene Person aus, die Dritte Person der Dreifaltigkeit: Heiliger Geist.
C. „Jenseits von dir, o reiner Geist“142
„Oh, du reiner Geist von reinem Feuer“
Text A:
Melville 1851, 771 (Kapitel 119 „Die Kerzen“)
Text B:
„Lohe auf, lohe auf und lecke am Himmel! Ich lodere mit dir, ich brenne mit dir, ich
möchte mit dir verschmelzen – ich trotze dir und so verehr ich dich!“
Melville 1851, 772 (Kapitel 119 „Die Kerzen“)
Text C:
„Nur wer dir trotzt, verehrt dich recht. ... Oh, du reiner Geist, du schufest mich aus deinem
Feuer, und wie ein echtes Kind des Feuers fauch ich es wider dich zurück!“
Melville 1851, 771 (Kapitel 119 „Die Kerzen“)
(245) Moby Dick selbst hat sich uns erwiesen als das Absolute, das nicht nur der alles verschlingende und einschmelzende Urgrund einer buddhistischen All-Einheits-Ontologie ist,
sondern der alles in sich schließende (symbolisiert als Weiße), aber auch alles aus sich heraus
begründende (symbmolisiert als Farbenvielfalt des Regenbogens) Urgrund. Ich habe darauf
hingewiesen, das Ahab sich das Absolute nur als weißen Wal und damit im Sinne der Nirvana-Ontologie vorstellt. Nun trage ich nach, dass Ahab noch ein anderes Sinnbild für das Absolute hat, als den Wal, nämlich das „Feuer“ (Text A). Und das Feuer ist für Ahab keineswegs das leere Nirvana, sondern lebendiger „Geist“. Im Feuer-Bild verbindet Ahab die beiden Dimensionen des Absoluten, nämlich die Alleinheit und die Differenziertheit. Damit entspricht das Feuer-Bild dem Bild vom Regenbogen, der über der Weiße des Wals erstrahlt.
Dem gemäß neigt Ahab auch durchaus dazu, das Feuer ganz ungeistig als verschlingendes,
vernichtendes Prinzip zu deuten, in dem alles zur Gestaltlosigkeit verschmilzt (Text B)
Zusatz: Das Prinzip der Vernichtung und Auflösung des Einzelnen nennt Melville, es ausdrücklich mit dem
fernöstlichen Denken in Verbindung setzend, die „dunkle Hinduhälfte der Natur“143.
(246) Aber das Feuer ist hier unmittelbar (nur durch Gedankenstrich abgetrennt) auch das
Prinzip des Trotzes der Individualität gegen die Einschmelzung und den damit verbundenen
Verlust der abgegrenzten Existenz des Einzelnen (Text B). Fast erreicht Ahab hier den Gedanken Lessings, dass die Manifestation des Absoluten nicht ein totes Spiegelbild sein kann,
sondern lebendiges Ebenbild sein muss (§ 244-b). So steht das Feuer sich als ewiger Widerstreit zwischen dem flammenden Urgrund und den feurig sich selbst behauptenden Einzelwesen selbst entgegen. Im Bild des Feuers denkt Ahab das Absolute ganz anders als im
Weißen Wal: Er denkt es als in sich differenziert, statt als differenzlos. So markiert der metaphysische Monolog im Kapitel 119 den Übergang Ahabs vom buddhistischen zum trini142
beyond thee, thou clear spirit (Melville 1994, 477; Melcille 1939, 436)
143
Melville 1851, 758 (Kapitel 116 „Der sterbende Wal“)
65
„Labyrinthe“ – Drittes Kapitel
tarischen Absoluten:
„Jenseits von dir, o reiner Geist, ist etwas, das sich nicht verströmt, für das all deine Ewigkeit bloß zeitlich ist, all deine Schöpferkraft mechanisch. Durch dich hindurch – durch
dein flammendes Ich – kann mein versehrtes Auge es doch schwach erahnen“
Melville 1851, 772 (Kapitel 119 „Die Kerzen“)
(247) Der reine Geist ist der ungetrübte – weiße – Geist, der durchscheinend, differenzlos,
inhaltslos und leer ist. Dies ist noch das Absolute im Sinne der vom Weißen Wal versinnbildlichten Alleinheits-Metaphysik.
[a]
Es ist der Urgrund, der sich „verströmt“: Was immer der Feuer-Urgrund an Gestaltungen, an Einzelwesen, hervorbringt – die einzeln züngelnden Flammen, die punktuell glühenden Funken – verschwindet spurlos, wie es auflodert. Das Verströmen ist
der Prozess, in welchem nichts festgehalten wird. Es ist der unerschöpfliche Gestaltungsprozess des Äons, wie Nietzsche ihn denkt.
[b]
Erst „jenseits“ von diesem buddhistischen Absoluten sieht Ahab das wahre Absolute.
Das buddhistische Absolute lässt er hier ausdrücklich hinter sich. Dies „Jenseits“ verströmt sich nicht, es lässt das ausdifferenzierte Einzelwesen nicht wie einen Schatten
verschweben (wie einen Schaum vergehen), sondern hält es in sich fest. Was man gewöhnlich „Ewigkeit“ nennt – die falsche „Ewigkeit“ des unerschöpflichen Urgrunds
im Sinne Nietzsches – ist in Wahrheit „bloß zeitlich“, ein unbegrenztes Fortlaufen auf
dem Zeitstrahl, nicht aber die wahre Ewigkeit: die Gleichzeitigkeit aller Zeiten, die
simultane Präsenz aller differenzierten Inhalte in der Schau Gottes, die sie alle auf
einmal umfängt.
[c]
Die Schöpferkraft des nietzsche’schen Urgrunds ist bloß „mechanisch“. Damit könnte etwa Folgendes gemeint sein. Das Mechanische dient Zwecken. Die Teile und Abläufe in einer Maschine haben ihre Einheit nicht in sich, sondern im Geiste des Ingenieurs, der sie nach einheitlichem Plan – nach dem Zweck – zusammengefügt hat.
Dieser Zweck ist die Einheit, in ihm werden die Teile und Abläufe der Maschine in
ihrem wechselseitigen Aufeinandereinwirken zusammengeschaut. Diese Einheit aber
ist nicht für den einzelnen mechanischen Teil: Das einzelne Zahnrad weiß weder, welche Funktion es selbst, noch welche Funktion sein Nachbarzahnrad hat. Gerade
dadurch ist es bloß „mechanisch“: es weiß nichts von den Zwecken, die sich durch es
realisieren. Der Konstrukteur der Maschine aber muss diese Zwecke im Kopf haben
und überschauen, sonst funktioniert die Maschine nicht. Vom Sinnbild auf’s Absolute
übertragen, besagt das: Wo das Absolute nicht als ewige Schau des Ganzen gedacht
wird, zerfällt das Ganze in lauter unverbundene Einzelteile, in Einzelteile ohne Kontext und Bedeutung: in eine Mechanik, die keinen Zweck und Sinn mehr hat, weil
niemand das Ganze überschauend koordiniert. Ohne ewige Vorsehung gliche die Welt
einem mechanischen Werk, in das stets neue Dinge eingefügt werden, ohne dass aber
klar wäre wozu: der Mechanismus würde immer irgendwie funktionieren, aber ohne
dass damit Ziel und Zweck verfolgt würden.
IX. Finis
(248) Mit „Finis“ beendet Melville sein Werk. Das Wort ist doppeldeutig: Es heißt Schluss
und Vollendung. Beim Finis hört die Geschichte auf, aber sie hat auch ihre Vollendung ge66
„Labyrinthe“ – Drittes Kapitel
funden, indem sie – im Bild des von Haifischrachen umgebenen Ismael, dessen Integrität
doch unversehrt bleibt, weil die Rachen der Tiere geschlossen sind und bleiben – die ewige
Vollendung eines jeden Wesens vergegenwärtigt.
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