Teofila Reich-Ranicki, schreibt Salomon Korn im Nachwort der

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Teofila Reich-Ranicki, schreibt Salomon Korn im Nachwort der
Teofila Reich-Ranicki, schreibt Salomon Korn im Nachwort der Ausgabe, „wurde am
12. März 1920 in Lodz geboren, besuchte dort Schule und beabsichtigte, nach dem
Abitur in Paris Kunstwissenschaft zu studieren.“ Marcel Reich-Ranicki „wurde am 2.
Juni 1920 in Włocławek (Polen) geboren, lebte ab 1929 mit seiner Familie in Berlin
und wollte nach dem Abitur Literaturkritiker werden. In Friedenszeiten wären sich
Tosia Langnas und Marcel Reich, wie beide zu jener Zeit hießen, nie begegnet. Doch
weil die weltgeschichtlichen Ereignisse in der ersten Hälfte des zwanzigsten
Jahrhunderts alles andere als friedlich verliefen, kreuzten sich ihre Lebenswege im
besetzten Warschau – genauer: am 21. Januar 1940, dem Tag, an dem sich Tosias
Vater Paweł Langnas, in der eigenen Wohnung erhängt hatte und sich der 19jährige
Marcel Reich dessen verstörter Tochter Tosia annahm. Von da an verliefen ihre
beschwerlichen Lebenswege parallel – ihr Überleben grenzt an ein Wunder.
Beide beherrschten damals sowohl die deutsche als auch die polnische Sprache,
und beide hatten gleichgerichtete Interessen an Kunst, Literatur und Musik: Trost und
Überlebenshilfe in einer Welt der Barbarei und der täglichen Todesbedrohung. In
diesem Vorhof der Hölle überreichte Tosia Langnas ihrem zukünftigen Ehemann zu
dessen 21. Geburtstag ein außergewöhnliches Geschenk: eine eigenhändig abgeschriebene Ausgabe von Erich Kästners ‚Lyrischer Hausapotheke’. In Marcel ReichRanickis Autobiographie heißt es dazu: ‚War mir je ein schöneres Geschenk
zugedacht worden? Ich in mir nicht sicher. Doch nie habe ich eins bekommen, auf
das mehr Mühe verwendet wurde – und mehr Liebe.’ Er hatte zuvor ‚Doktor Erich
Kästners Lyrische Hausapotheke’ von einem Bekannten im Warschauer Getto für
wenige Tage zur Ausleihe erhalten. Weil Tosia Langnas wusste, wie sehr Marcel
Reich diesen Gedichtband liebte und ihn am liebsten behalten hätte, erklärte sich
bereit, für ihn eine Auswahl daraus abzuschreiben. Von 119 Gedichten wählte er 56
aus, die Tosia mit Illustrationen versehen in Tag- und Nachtarbeit kalligraphisch
kopierte. […]
Die besondere Auswahl der Gedichte durch Marcel Reich-Ranicki öffnet nur einen
Weg zum Verständnis des gefühlsmäßigen Hintergrunds, vor dem seine
biographischen Schilderungen ablaufen. Ein anderer erschließt sich sichtbar aus der
von Tosia Reich-Ranicki gefertigten Originalabschrift. Nach dem Krieg hat sie
einzelne Strophen aus der handgeschriebenen ‚Lyrischen Hausapotheke’ angestrichen und sie so für sich selbst besonders gekennzeichnet. Ihre Begründung: ‚Ich
wollte seelischen Nachhilfeunterricht von Erich Kästner haben.’ Diese auf den Blättern sichtbaren Spuren lassen erahnen, in welchem seelischen Zustand sie sich nach
dem Inferno des Erlebten befunden haben mußte […].“ (Nachwort S. III–V).
Es ist bequem, mit Worten zu erklären.
Ich tu es nur, weil du es nur verlangst.
Das Jahr war schön, und wird nie wiederkehren.
Und wer kommt nun? Leb wohl! Ich habe Angst. (S. 28)
Und ich geh nach Hause,
weil ich mich nicht mag. (S. 29)
Dann gab es Weltkrieg, statt der großen Ferien.
Ich trieb es mit Fußartillerie.
Dem Globus lief das Blut aus den Arterien.
Ich lebte weiter. Fragen sie nicht, wie.
[…]
Zusammenfassend läßt sich etwa sagen:
Ich kam zur Welt und lebe trotzdem weiter. (S. 32f.)
Am besten wär’s, die Kinder blieben klein. (S. 35)
Ein Mensch, der Ideale hat,
der hüte sich, sie zu erreichen!
Sonst wird er eines Tages anstatt
sich selber andren Menschen gleichen. (S. 41)
Nichts auf der Welt macht so gefährlich,
als tapfer und allein zu sein! (S. 42)
Krieg macht blind. Das sehe ich an mir.
Und es regnet. Und es geht der Wind.
Ist denn keine fremde Mutter hier,
die an ihre eignen Söhne denkt?
Und kein Kind,
dem die Mutter etwas für mich schenkt? (S. 44)
Es gibt nichts Gutes,
außer: man tut es. (S. 51)
Wir sehen hinaus. Wir sahen genug.
Wir sitzen alle im gleichen Zug.
Und viele im falschen Coupé. (S. 67)
Doktor Erich Kästners Lyrische Hausapotheke. 56 Gedichte im
Warschauer Getto aufgeschrieben und illustriert von Teofila ReichRanicki. Mit einem Auszug aus „Mein Leben“ von Marcel Reich Ranicki
und einem Nachwort von Salomon Korn. Stuttgart/München 2000:
Deutsche Verlags-Anstalt.