Estland, ein Land zwischen der EU und Russland
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Estland, ein Land zwischen der EU und Russland
Estland, ein Land zwischen der EU und Russland Eine Analyse vor dem Hintergrund des Krieges in der Ostukraine 16. Februar bis 16. März 2015 Johanna Fürst 1 Inhaltsverzeichnis 1.) Einleitung S.3 2.) Die Vorbereitungen und die Umsetzung meiner Reise S.5 3.) Ein Überblick über die Geschichte und das Wirtschaftssystem von Estland S.9 4.) Außenpolitik der estnischen Republik S.11 5.) Die Beziehungen zwischen Estland und Russland S.18 6.) Die Auswirkungen des Krieges in der Ostukraine S.24 7.) Die nachbarschaftlichen Beziehungen Estlands S.28 8.) Ein Blick in die Zukunft – Herausforderungen und Potentiale bei der weiteren Integration in die EU S.31 9.) Fazit S.38 10.) Literaturverzeichnis S.40 11.) Danksagung S.41 2 Einleitung Als ich Freunden von meiner geplanten Reise nach Estland erzählte, konnten sie damit oft nicht so viel anfangen. „Das liegt doch irgendwo im Norden, in der BalkanRegion oder so“ wurde mir erwidert. Abgesehen von der Verwechselung der Begriffe Balkan und Baltikum und der Präzision der Richtungsangabe auf Nordosten ist das nicht falsch. Aber es zeigt, dass uns Estland nur selten in den Nachrichten oder in Zeitungsberichten begegnet, was angesichts der Größe und dem bisherigen politischen Einfluss auch verständlich ist. Allerdings ist in den letzten Jahren festzustellen, dass die drei baltischen Staaten durch die europäische Integration immer mehr von der Peripherie in das Zentrum Europas gerückt sind und diese Region touristisch mittlerweile gut erschlossen ist. Und als sich im Frühjahr 2014 der Konflikt in der Ukraine mehr und mehr zu einer blutigen Auseinandersetzung entwickelte, herrschte nicht mal am Sonntag Funkstille zwischen Tallinn und den europäischen Hauptstädten. Plötzlich wurde vielen Politikern der NATO- und EUStaaten bewusst, dass ein möglicher Krieg direkt vor der Haustür stand. Ein solches Szenario hätten sich die meisten von ihnen vor wenigen Monaten nicht vorstellen können und nun drängten sich viele unangenehme Fragen auf. Was passiert, wenn russische Soldaten die Grenze zu Russland übertreten? Wann genau sollte das Bündnissystem der NATO in Kraft treten? Themen, die auch mich sehr interessieren. Die Idee für diese Reise kam mir, als ich mich mit den Hintergründen des Ukraine-Konfliktes beschäftigte. Aus Erfahrung weiß ich jedoch, dass die Literatur immer nur einen winzigen Ausschnitt der Realität darstellt und es immer sinnvoll ist, sich vor Ort selbst ein Bild von der Lage zu machen. Ein Aufenthalt in der Ostukraine war natürlich aus Sicherheitsgründen ausgeschlossen. Eher zufällig las ich bei meinen Recherchen einen langen Bericht über die russische Minderheit in Estland und so wurde mein Interesse auch für dieses kleine Land geweckt. Je mehr ich las, desto mehr faszinierte mich die estnische Geschichte, Kultur und Gesellschaft und so war es für mich kein Problem ein Reisethema zu formulieren. In dem folgenden Bericht möchte ich versuchen einen Einblick in die Erfahrungen zu geben, die ich während meiner Reise machen durfte. Schon an dieser Stelle möchte ich darauf hinweisen, dass ich fast ständig „reizüberflutet“ war und so meine täglichen Erfahrungen in Form eines Tagebuches niedergeschrieben habe. Daher werde ich in diesem Bericht keinen Abschnitt meinen persönlichen Eindrücken widmen. Nach einem Überblick über meine Vorbereitungen und die Umsetzung möchte ich thematisch einsteigen. Auf den ersten Blick mag es manchmal so erscheinen, dass ich von meiner eigentlichen Fragestellung abweiche. Es ist jedoch nicht möglich und auch nicht sinnvoll sich bei seiner Analyse nur auf die genaue Formulierung des Themas zu beschränken, da Reisen immer viele Überraschungen mit sich bringen. Mir ist bewusst geworden, dass ich nur eine persönliche Meinung bezüglich der Frage, ob sich Estland eher in Richtung EU oder Russland orientiert, formulieren kann, wenn ich mich auch mit der estnischen Gesellschaft beschäftige. 3 Ich habe mir Mühe gegeben den Roten Faden nie zu verlieren und ich wünsche nun eine angenehme thematische Reise durch Estland. Anneli Tombak ist meine Gastgeberin in Tallinn und sie hat mr viele interessante Winkel ihrer Heimatstadt gezeigt. 4 Die Reisevorbereitungen Mit dem Einreichen meiner Bewerbung bei der Schwarzkopf-Stiftung war bereits die erste Phase der Reisevorbereitungen abgeschlossen. Über die Deutsch-Baltische Gesellschaft in Darmstadt hatte ich einige Kontaktadressen erhalten, an die ich mich bezüglich Unterkunft wenden konnte. So lernte ich über Emails die ersten Esten kennen und wie ich auf meiner Reise später noch erleben sollte, waren sie zunächst sehr zurückhaltend. Jedoch erhielt ich nie eine Absage und selbst wenn mir nicht direkt weitergeholfen werden konnte, so wurde stets versucht eine Verbindung zu anderen potenziellen Ansprechpartnern zu organisieren. Über Umwege landete ich immer bei Menschen, die in der Kirche aktiv sind. Angesichts der Tatsache, dass Estland manchmal als das unreligiöseste Land der Welt bezeichnet wird, ist das schon bemerkenswert. Zur Umsetzung meines Projektes war es natürlich wichtig, dass ich mir Gesprächspartner aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen suchte. Dabei wendete ich mich an die Universität von Tartu, an das Deutsche Gymnasium von Tallinn und auch meine Gastfamilien halfen mir immer gerne weiter. So war es mir möglich bereits ein gutes halbes Jahr vor meinen Aufbruch nach Estland einen ersten Entwurf über meine Planungen festzuhalten. Mit der Zusage des Stipendiums konnte ich den Hin- und Rückflug nach Tallinn buchen sowie meine Planungen weiter konkretisieren. Aufgrund der Erfahrungen von der zis-Reise nach Andalusien im Sommer 2013 war es für mich wichtig, nicht zu oft den Aufenthaltsort zu wechseln und Unterkünfte fest zu vereinbaren. In der Hauptstadt Tallinn wollte ich länger bleiben und es war recht kompliziert einen Kontakt herzustellen. Fünf Tage vor meinen Abflug sagte mir meine erste Unterkunft aus gesundheitlichen Gründen ab und es war sehr stressig in mitten der Klausurphase unter Zeitnot eine Alternative zu finden. Das Glück war aber auf meiner Seite und dank Külli Erikson aus Kadrina konnte ich mit Anneli Tombak aus Tallinn in Kontakt treten. Meine anderen beiden Unterkünfte in Tartu und Kadrina konnte ich mit weniger Aufwand schon lange vor meiner Abreise festlegen. In Tartu wohnte ich bei der Familie Noe, die im Jahre 2004 aus Deutschland nach Estland gezogen ist. In Kadrina lernte ich das Leben in einer estnischen Familie kennen und Külli Erikson hat sich als eine „Konstante“ bei meinen Planungen herausgestellt. Auf all meine Probleme hatte sie eine Lösung und ich musste meist nur wenige Minuten warten, bis ich auf meine Emails eine Antwort erhielt. Obwohl ich mit einem recht ausgearbeiteten Reiseplan nach Estland aufbrach, ergaben sich immer wieder spontan Änderungen. Aber wie gesagt, das gehört eben dazu. 5 Die Umsetzung meiner Reiseplanungen Trotz recht genauer Planungen ist es auf Reisen immer wichtig flexibel zu sein und sich spontan neuen Situationen anzupassen. Das merkte ich mal wieder bei meinen Aufenthalt in Estland. Obwohl ich drei Stationen und mehrere Gesprächstermine fest geplant hatte, war jeder Tag doch wieder ein neues Abenteuer voller unerwarteter Erlebnisse und Begegnungen. Ich genoss es! Von Düsseldorf-Weeze aus flog ich in die estnische Hauptstadt Tallinn und wohnte dort für insgesamt zehn Tage bei Anneli Tombak, die ich erst eine Woche vorher per Telefonat einmal kurz kennengelernt hatte. An den ersten Tagen erkundigte ich die Stadt und ganz unerwartet stieß ich immer mal wieder auf „Spuren meines Reisethemas“. Z.B. lief ich vor der russischen Botschaft einer Gruppe von Demonstranten über den Weg, die gegen die Politik von Wladimir Putin in der Ostukraine demonstrierten. Ein besonderer Ausflug führte mich auf einen Friedhof im Vorstadtbereich von Tallinn, wo das Denkmal des „Bronzenen Soldaten“ zu finden ist. Im Jahre 2007 war dieses Monument unter Krawallen aus dem Innenstadtbereich hierher verlegt worden und hatte für eine „Eiszeit“ in den Beziehungen zwischen Estland und Russland gesorgt. Einen Nachmittag habe ich auch dazu genutzt, um durch die Straßen des Stadtviertels Lasnamäe zu laufen, denn dort leben zu 80% Russen in Plattenbauten. Meine vielen Eindrücke habe ich recht ausführlich in meinem Tagebuch festgehalten und daher möchte ich an dieser Stelle nicht näher darauf eingehen. Für mich persönlich war es eine spannende Erfahrung einen Einblick in den Alltag an einer estnischen Schule zu erhalten. Am TSG (Tallinner Saksa Gümnaasium) habe ich dank Ulrich Wiegand, den Leiter der Deutschen Abteilung, eine tolle und leider viel zu kurze Zeit verbracht. Während dieser Tage habe ich mich intensiv mit dem estnischen Bildungssystem beschäftigt und konnte auf diese Weise überraschend viel über die Gesellschaft in diesem kleinen baltischen Land lernen. Der Kontakt zu Schülern unterschiedlicher Altersklassen war ein bereicherndes Erlebnis und dank des Lehrpersonals wurden auch viele meiner Fragen beantwortet. An der Deutschen Abteilung unterrichten viele Lehrer, die selber aus Deutschland kommen und die Heimat nur für eine befristete Zeit verlassen haben. Es war sehr interessant sich mit ihnen auszutauschen, da sie auch eine Art „Außenblick“ auf die estnische Gesellschaft haben und die Prozesse im Land schon seit einer längeren Zeit verfolgen als ich. Von meinen ursprünglichen Reiseplänen musste und wollte ich auch immer mal wieder ein Schlenker nach rechts oder links machen, um möglichst viele Erfahrungen vom Wegesrande einzusammeln. Erwähnen möchte ich hier nur eines von ganz vielen besonderen und unvergesslichen Erlebnissen. Dank einer Lehrerin vom TSG bot sich mir die Gelegenheit eine Schule für geistig behinderte Jugendliche zu besuchen und dort lernte ich viele außergewöhnliche Menschen kennen. Bei meinen Planungen hatte ich nicht bedacht, dass sowohl der estnische 6 Unabhängigkeitstag als auch die Parlamentswahlen in den Zeitraum meines Aufenthalts in Estland fallen würden. Es stellte sich als ein sehr glücklicher Zufall heraus, denn an beiden Tagen konnte ich in meiner persönlichen Analyse der estnischen Gesellschaft noch etwas tiefer vordringen. Außerdem wurde mir durch diese Anlässe erneut vor Augen geführt, wie stark der Konflikt in der Ostukraine die Innen- und Außenpolitik der baltischen Republik zurzeit prägt. Es ist immer ein Vorteil, wenn man die Möglichkeit hat bei Einheimischen zu wohnen, denn so eröffnen sich ganz neue Zugangswege zu vielen Themen. Anneli Tombak durfte ich zu all ihren Aktivitäten begleiten und so war ich bei Spendensammelaktionen der Kinderkrebshilfe dabei, konnte an kirchlichen Veranstaltungen teilnehmen und habe viele ihrer Freunde kennengelernt. Auf „Schleichwegen“ näherte ich mich so meinen Reisethema immer mehr an und lernte viel über das Land. Es fiel mir schwer von Tallinn nach Tartu zu fahren, da ich in der Stadt noch so viel entdecken wollte und auch meine neuen Freunde nicht gleich wieder verlassen wollte. Aber in der zweitgrößten Stadt von Estland erlebte ich auch eine unvergessliche Zeit und ein besonderes Stephan Noe hat mir seine Forschungsstation im Grengebiet zu Dankeschön gilt der Russland gezeigt. Ein völlig unerwarteter Einblick! Familie Noe. Sie sind aus Deutschland im Jahre 2004 ausgewandert und haben mir nicht nur von ihren persönlichen Eindrücken berichtet, sondern auch viele Treffen und Ausflüge organisiert. So war mein Zeitplan fast ein wenig zu voll, denn ich hatte mit Professoren der Universität von Tartu bereits im Voraus Gesprächstermine vereinbart. Ich war jedoch froh meinen Wissensdurst durch so unterschiedliche Erfahrungen ein wenig stillen zu können. Der Ausflug zur Forschungsstation von Stephan Noe hat mir z.B. deutlich gezeigt, welche Möglichkeiten sich für das kleine Land durch die Mitgliedschaft in der EU eröffnen. Interessant war auch das Gespräch mit einer Studentin, denn bislang hatte ich v.a. die Ansichten von der Schülergeneration und älteren Menschen kennengelernt. Das Treffen mit Professor Peeter Tulviste an der Universität von Tartu war für mich erst eine etwas seltsame Begegnung, die mir mal wieder zeigte, dass eine Reise nur bis zu einem bestimmten Maße planbar ist. Schon Monate zuvor hatte er mir per 7 Email erläutert, warum Estland keine Annäherung an Russland wünscht und viele meine Fragen wurden im Voraus beantwortet. Als ich ihn dann an einem sonnigen Mittag vor dem Hauptgebäude der Universität traf, wirkte er etwas abwesend und schaute mich nicht direkt an. Im Gegensatz zu Professor Friedrich und Reiljan zog er es vor einen Spaziergang durch die Stadt zu machen und dabei über seine Ansichten zu berichten. Schnell fiel mir jedoch auf, dass er offensichtlich große Schwierigkeiten hatte die richtigen Worte zu finden und meine Fragen beim Sprechen wieder vergaß. Zum Abschied entschuldigte er sich dann, dass seine Antworten so unpräzise gewesen waren und erzählte mir von seiner Demenz. Noch vor einem halben Jahr habe er kaum etwas von seinem Gedächtnisschwund gemerkt, aber plötzlich war es dann ganz schnell gegangen. Als ich dann am Abend meiner Gastfamilie von diesem Erlebnis erzählte meinten sie, dass Professor Peeter Tulviste der erste Direktor der Universität von Tartu nach der Unabhängigkeit gewesen war und viele wichtige Reformen durchgeführt hatte. Obwohl ich durch dieses Gespräch keine thematischen Fortschritte gemacht hatte, war es eine unvergessliche Erfahrung. Sehr schön (auch wenn hinsichtlich meiner Fragestellung weniger relevant) waren die Ausflüge in die Natur, denn dank erstaunlich angenehmer Temperaturen konnte ich mit meiner Gastfamilie mehrere Wanderungen machen. Von Tartu ging es nach Kadrina, einem kleinen Dorf in Das estnische Alltagsleben lerne ich bei der Familie Erikson der Nähe der Stadt Rakvere. kennen. Als Dankeschön lade ich sie in ein Restaurant ein. Bei Külli Erikson, ihrem Lebenspartner und den zwei Kindern Pillerine (15 Jahre) sowie Hans-Johann (17 Jahre) erhielt ich einen guten Einblick in das estnische Alltagsleben. Da Meelit-Laurit als Pastor arbeitet und so auch viele soziale Aktivitäten betreut, konnte ich die gesellschaftlichen Strukturen noch besser kennenlernen. Abgesehen von Veranstaltungen in dem von ihm betreuten Kirchengemeinden besuchten wir auch ein Zentrum für geistig retardierte Erwachsene und ich habe im Voraus der Reise nicht gedacht, dass ich so oft in Kontakt mit diesen besonderen Menschen kommen würde. Zwar nicht direkt, aber vielmehr indirekt konnte ich so auch an meinem Thema arbeiten, denn ich war in der Lage viel über die gesellschaftlichen Wertevorstellungen und das Sozialsystem in Erfahrung zu bringen. Und nur wenn man ein wenig versteht, wie die Esten „ticken“ ist es möglich Aussagen über die zukünftigen Entwicklungen zu machen. Auch der Tag in Narwa, der Grenzstadt zu Russland, war erfahrungsreich und stand ganz oben auf meiner Prioritätenliste. Ursprünglich hatte ich zwar einen längeren Aufenthalt in der von Russen geprägten Stadt geplant, aber ich denke, dass ich auch 8 durch den kurzen Besuch viele Eindrücke mitnehmen konnte. Im Rückblick kann ich über die Vorbereitungen und die Umsetzung meiner Reise sagen, dass es trotz schwieriger Momente und spontanen Änderungen immer hilfreich war, einer bestimmten Grundstruktur folgen zu können. Insbesondere mit der Auswahl meiner drei Stationen war ich sehr glücklich, denn so lernte ich viele unterschiedliche Menschen mit ihren persönlichen Sichtweisen kennen. Ein Überblick über die Geschichte und das Wirtschaftssystem von Estland Um die aktuellen Entwicklungen in Estland und die Beziehungen zu seinen Nachbarstaaten zu verstehen, ist es unerlässlich sich mit einigen grundlegenden Daten zu beschäftigen. Die Republik Estland ist das nördlichste Land des Baltikums und grenzt im Süden an Lettland sowie im Osten an Russland. Über den Finnischen Meeresbusen hinweg bestehen engste Beziehungen zu Finnland und auch in kultureller Hinsicht fühlen sich die Esten eher den skandinavischen Völkern verbunden als den anderen beiden baltischen Staaten. Mit einer Fläche von ca. 45 000 km2 ist das Land in etwa so groß wie das deutsche Bundesland Niedersachsen. Geradezu erdrückend ist der Vergleich mit dem benachbarten Russland, das die 377-fache Größe Estlands sein Eigentum nennt1. Die Landesnatur ist geprägt von Moor- und Sumpflandschaft und relativ flach. Mit lediglich 1.4 Mio. Menschen ist das Land sehr dünn besiedelt und die Bevölkerung schrumpft zunehmend. Bereits an dieser Stelle soll darauf verwiesen werden, dass neben der estnischen Mehrheit von 68.95% eine starke russische Minderheit (25.48%) in dem Land lebt, also ca. ein Viertel der Bevölkerung2. Ein Blick in die Geschichte zeugt uns, dass die estnische Bevölkerung über viele Jahrhunderte hinweg von fremden Herrschern regiert wurde. Im Mittelalter waren es Deutsche und Reval (das heutige Tallinn) war lange Zeit eine der bedeutendsten Handelsstädte der Hanse. Für etwa 700 Jahre konnte der deutsch-baltische Adel seinen Einfluss behalten und noch bis 1885 war Deutsch die Unterrichts- und Behördensprache in Estland. Abgesehen von diesen Einflüssen herrschten auch Schweden, Dänen, Polen und Russen über das kleine baltische Land. Erst ab Mitte des 19. Jahrhunderts regte sich bei den Esten ein Nationalgefühl und es wurden die ersten Sängerfeste veranstaltet, um den Wunsch nach Unabhängigkeit Gehör zu verschaffen. Jedoch kontrollierte das russische Zarenreich zu dieser Zeit das Land und nationalistische Gesinnungen wurden nicht geduldet. Während des Ersten Weltkrieges wurden die Truppen vorübergehend aus dem gesamten Baltikum verdrängt und Estland ergriff so das entstehende Machtvakuum aus, um am 24. Februar 1918 zum ersten Mal die Unabhängigkeit zu proklamieren. Obwohl diese nur für knapp 20 Jahre Bestand hatte, wird dennoch an diesem Datum 1 Klaus Schameitat, Estland entdecken, S.18 Klaus Schameitat, Estland entdecken, S.22 2 9 der Nationalfeiertag begangen. Unter den Folgen des Zweiten Weltkrieges hatte Estland schwer zu leiden und es verlor ein Viertel der Bevölkerung. Hitler ließ bis 1940 die Deutsch-Balten unter der Parole „heim ins Reich“ umsiedeln und im selben Jahr besetzte die Sowjetunion das Land. Estnische Intellektuelle wurden verfolgt und deportiert, sodass die Deutschen zunächst als Befreier gefeiert wurden, als sie 1941 zurück kamen. Jedoch errichteten die vermeintlichen „Freiheitshelden“ Konzentrationslager und ermordeten Juden sowie Widerstandskämpfer im industriellen Maßstab. 1944 fiel das Land zurück an die Rote Armee und nach Kriegsende verblieb ein Großteil von ihnen in Estland. Um die 100 000 wirkliche oder vermeintliche antisowjetische Einwohner wurden nach Sibirien verschleppt und etwa genauso viele mussten auswandern. Bis zum heutigen Tag haben die Esten dieses grausame Besatzungsregime nicht vergessen und v.a. die ältere Bevölkerung leidet noch unter den traumatischen Erlebnissen. Um die Kollektivierung der Landwirtschaft sowie die Verstaatlichung von Banken und Betrieben voranzutreiben, wurden ca. 200 000 russische Arbeiter angesiedelt. Außerdem wurden gezielte Maßnahmen ergriffen, um das nationale Bewusstsein der Esten systematisch zu zerstören: die estnische Sprache wurde geschwächt, Bücher vernichtet und das Singen nationaler Lieder untersagt. Als 1985 Michael Gorbatschow ins Amt des Generalsekretärs der KPdSU gewählt wurde, leitete er mit seiner Politik von Glasnost und Perestroika den Zerfall der Sowjetunion ein. Die Esten wussten diese Schwäche für sich auszunutzen. Aus den ursprünglichen Protesten gegen die katastrophalen ökologischen Auswirkungen des sowjetischen Wirtschaftssystems, entstand eine Unabhängigkeitsbewegung. Diese Entwicklung verlief überwiegend friedlich und wurde als “Singende Revolution“ bekannt. Als ein Höhepunkt dieses Prozesses kann der sog. „Balti Kett“ (Baltische Weg) bezeichnet werden, als am 28. August 1989 ca. 2 Millionen Menschen eine Kette über eine Länge von 600 Km von Tallinn über Riga bis nach Vilnius bildeten 3. 1991 wurde Estland erneut eigenständig, aber sowjetische Truppen verblieben noch bis 1994 im Land. In den folgenden Jahren wurde versucht das sowjetische Erbe abzulegen und sich in Richtung Westen zu orientieren. Am 1. Mai 2004 wurde Estland im Zuge der Osterweiterung in die EU aufgenommen und im selben Jahr wurde auch der NATO-Beitritt besiegelt. Aufgrund einer positiven und stabilen Entwicklung im wirtschaftlichen und politischen Bereich konnte das Land im Januar 2010 den Euro einführen. Nach den Wahlen vom 1. März 2015 wird der bisherige Regierungschef Taavi Roivas mit seiner prowestlich ausgerichteten Reformpartei (Eesti Reformierakond) voraussichtlich seine Politik fortsetzen können, aber die Koalitionsverhandlungen gestalten sich als sehr kompliziert. Seit 2006 ist Toomas Hendrik Ilves der Staatspräsident und er gehört der Sozialdemokratischen Partei an. Hinsichtlich der wirtschaftlichen Entwicklung wird Estland als ein Vorbild für andere Staaten bezeichnet. Unter den Teilrepubliken der Sowjetunion nahmen die baltischen 3 Klaus Schameitat, Estland entdecken, S.51 10 Staaten und v.a. Estland wirtschaftlich gesehen Spitzenplätze ein. Mit dem Wiedererlangen der Unabhängigkeit wurde eine Abkehr vom planwirtschaftlichen System hin zu einer marktwirtschaftlich ausgerichteten Strategie vollzogen und die Modernisierung der Industrie wurde forciert vorangetrieben. Zu den wichtigsten Wirtschaftsbereichen gehören Finanzdienstleistungen, die Immobilien- und Baubranche, der Handel (Transitland zwischen den EU-Staaten und Das gibt es ncht in vielen Ländern. Den Esten wird per Gesetz das Russland) und Recht auf kostenlosen Internetzugang bescheinigt. seit einigen Jahren auch der Tourismussektor. Moderne Informations- und Kommunikationstechnologien genießen eine hohe Akzeptanz und das Land ist stolz auf innovative Projekte wie die flächendeckende Anwendung von „e-government“ oder „e-kool“. Eine liberale Wirtschaftspolitik sowie die Rechtsangleichung an EURichtlinien gelten als hervorragende Investitionsbedingungen für ausländische Unternehmer. Als Wettbewerbs- und Standortvorteil gilt eine attraktive Unternehmensbesteuerung, denn zurzeit wird für Körperschaften eine Einkommenssteuer von 21% erhoben4. Als wichtigster Handelspartner gelten die EULänder, allen voran Finnland und auch Deutschland spielt eine wichtige Rolle. Russland hat über die Jahre zwar an Bedeutung verloren, ist jedoch weiterhin eine wichtige Stütze für das estnische Wirtschaftssystem. Außenpolitik der estnischen Republik Im Mai 2004 sind die drei baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen im Zuge der Osterweiterung gemeinsam mit fünf anderen postsozialistischen Staaten der EU beigetreten. Zugleich wurde auch der Aufnahmeantrag in die NATO unterzeichnet. Damit sind die drei Länder bislang die einzigen ehemaligen Sowjetrepubliken, die ihre Westorientierung erfolgreich durchsetzen konnten und nun als fest in die Strukturen der EU integriert gelten. 4 http://www.roedl.com/fileadmin/user_upload/Roedl_Lithuania/Newsletter/BaltikumsbriefUnternehmenskommunikation_Roedl-Partner-20130131.pdf 5 Michèle Knodt, Das Politische System der baltischen Staaten, eine Einführung, S. 343 11 Die Entwicklungen bis zum EU-Beitritt Mit der Erklärung der Unabhängigkeit am 20. August 1991 begann für Estland ein neues Zeitalter. Im Gegensatz zu Ländern wie Polen oder Ungarn, wo bereits Ansätze einer eigenen staatlichen Struktur vorhanden waren, musste Estland sein gesamtes, auf die Belange der Sowjetunion ausgerichtetes Wirtschaftssystem umstellen. Vor den 1990er Jahren wurde insgesamt 90%5 des Handels mit anderen Sowjetrepubliken abgewickelt. Nach Überwindung einer anfänglichen Krise in den Jahren 1992/93 konnte sich Estland in wirtschaftlicher Hinsicht ausgehend von einem extrem niedrigen Niveau erfolgreich entwickeln, sodass bald die Bezeichnung „Baltischer Tiger“ in aller Munde war. Innerhalb kürzester Zeit wurde mit der raschen Privatisierung ehemaliger Staatsbetriebe, dem Abbau von Handelshemmnissen und Reformen in vielen Bereichen das Ziel erreicht, als Aufnahmekandidat der EU akzeptiert zu werden. Estland konnte sich in dieser Hinsicht an die Spitze der baltischen Staaten setzen und wurde bereits im Jahre 19976 als potenzieller Mitgliedstaat gewertet. Litauen sowie Lettland zogen zwar nach, aber konnten die bestehenden Entwicklungsabstände lange nicht aufholen. Mit einer liberalen Wirtschaftspolitik (d.h. niedrigen Steuern und Zöllen) wurde ein günstiges Investitionsklima geschaffen und so konnten zahlreiche ausländische Unternehmer in das Land gelockt werden. Mehr und mehr trat der Handel mit den Staaten der EU in den Mittelpunkt und gleichzeitig wurde die Abkopplung von Russland noch stärker vorangetrieben. Die Machthaber in Moskau verfolgten diese Entwicklung mit misstrauischem Blick und fürchteten den Einfluss in der unmittelbaren Nachbarschaft zu verlieren. Das Baltikum wurde auch weiterhin als „Nahes Ausland“ bezeichnet, um auf diese Weise das besondere russische Interesse zu verdeutlichen. Jedoch wurde durch die Drohgebärden aus dem Osten die Westintegration keineswegs behindert, sondern eher noch befördert. Denn die Esten sehen in Russland eine ständige potenzielle Bedrohung für die eigene Sicherheit, Stabilität und Souveränität und die Angst vor einem erneuten Verlust der eigenen nationalen Selbstständigkeit ist ständig präsent. Der Beitritt zur EU Für die Esten, insbesondere für die politische Klasse, hat sich nie die Frage gestellt, ob ein Beitritt zur EU und zur NATO sinnvoll ist oder nur eine Option unter verschiedenen Möglichkeiten. Jedoch muss betont werden, dass nicht die Hoffnung auf wirtschaftliche Vorteile im Vordergrund dieser Ausrichtung standen, sondern primär sicherheitspolitische Aspekte. Es wurde gezielt nach einem Schutz vor der Übermacht Russlands gesucht und eine enge Beziehung mit dem großen Nachbarn im Osten stand niemals zur Diskussion. Angesichts der mangelnden eigenen geografischen Größe und der Tatsache, dass eine schlagkräftige Armee nicht existent war, musste nach Verbündeten gesucht werden. Vor diesem Hintergrund ist es nachvollziehbar, dass die Zustimmung der Bevölkerung zum EU-Beitritt gemäßigt war und keine EU-Euphorie im Land herrschte. Dieser Schritt wurde teilweise auch als ein „Projekt der Eliten“ bezeichnet 6 Klaus Schameitat, Estland entdecken, S.55 12 und viele Esten hatten Sorge, dass die mühsam errungene Unabhängigkeit gleich wieder durch supranationale Direktive eingeengt wird. Aus historischen Gründen ist der Wunsch nach Selbstbestimmung in jeglicher Hinsicht stark ausgeprägt und dieses Interesse kollidiert immer wieder mit der Bedrohung aus dem Osten. Die Entwicklungen seit dem Beitritt zur EU Auch nach dem Beitritt zur EU und NATO konnte Estland seinen Erfolgskurs fortsetzen und galt als „Musterschüler“. Per Gesetz waren die Abgeordneten im Riigikogu dazu verpflichtet auf einen ausgeglichenen Haushalt zu achten und so wurden in Zeiten von überhitzter Konjunktur finanzielle Rücklagen gebildet. Viele andere Staaten, die im Zuge der Osterweiterung in der EU aufgenommen wurden, schafften dies nicht. Bedingt durch den wirtschaftlichen Aufwärtstrend und den Rückgang der Arbeitslosigkeit wurde der private Konsum angekurbelt, sodass immer mehr Einkaufszentren aus dem Boden schossen. Auf europäischer Ebene wurde von estnischer Seite aus stets vor den Großmachtstreben Russlands gewarnt, aber bis zum Beginn des Konfliktes in der Ukraine beschäftigte sich niemand in Brüssel Der Blick der Esten ist eindeutig nach Westen gerichtet und es ernsthaft mit den wird eine noch tiefer Integration i n d i e S t r u k t u r e n d e r E U Warnungen aus Tallinn. angestrebt. Außerdem wurde auch Kritik an Länder wie z.B. Deutschland geübt, da sie wegen spezieller Interessen (vgl. Ostseepipeline) Sonderbeziehungen zu Russland pflegten und auf diese Weise die Rolle der EU als Verhandlungspartner gegenüber dem Kreml unterminierten. In den USA wird jedoch ein verlässlicher und solider Partner gesehen und das militärische Bündnis im Rahmen der NATO-Mitgliedschaft spielt für die Esten eine größere Rolle als die Verflechtungen mit den EU-Staaten. Insgesamt ist im europäischen Raum die Tendenz festzustellen, dass die Beziehungen eines Landes zu den USA als umso besser gewertet werden, je größer die Probleme des entsprechenden Staates gegenüber Russland sind. Wie die Esten auch verfolgt Washington das Konzept eines „Wilder Europe“, denn möglichst viele Nachfolgestaaten der Sowjetunion sollen in die EU aufgenommen werden. Dabei wird in erster Linie die Bedeutung der ENP (Europäischen Nachbarschaftspolitik) betont, um Länder wie die Ukraine oder Moldawien nicht in russische Einflusssphäre gelangen zu lassen. Indem Sicherheit und Stabilität in der eigenen Nachbarschaft 13 geschaffen wird, versprechen sich die baltischen Staaten eine Schwächung von Russland. Und rein geografisch bedeutet eine Erweiterung der EU nach Osten auch, dass Estland nicht mehr allein an der äußersten Peripherie liegt. Insbesondere während des Georgienkrieges im Jahre 2008 wurde die Sorge vor neuen russischen Aggressionen in Estland größer. Um sich aus der Abhängigkeit des östlichen Nachbarn zu lösen, beabsichtigen die Esten ihre Energieversorgung mit Unterstützung der europäischen Partner zu diversifizieren. In der Vergangenheit wurde ein Stopp der Erdgaslieferungen nach Estland von Moskau oft als politisches Druckmittel verwendet und aus diesem Klammergriff gilt es sich so schnell wie möglich zu befreien. Jedoch profitiert ebenso die EU von der Mitgliedschaft der baltischen Staaten in ihren Reihen und einige Vorteile haben sich gleich im Jahre 2004 gezeigt. Es sei an die Orangene Revolution in der Ukraine erinnert, wo das baltische Expertenwissen in Bezug auf eine friedliche Transformation stark gefragt und geschätzt war. Die Auswirkungen der Eurokrise Die Wirtschaft- und Finanzkrise in Europa ging an Estland nicht spurlos vorbei, auch wenn sich ein völlig anderes und bei weitem nicht so dramatisches Bild bot wie in der restlichen europäischen Staatenwelt. Vergleichbar mit der Situation in Spanien und Griechenland zeigte sich v.a. eine Abschwächung im Immobiliensektor und auch die Jugendarbeitslosigkeit stieg stark an. Im zweiten Quartal 2010 waren 39% der Jugendlichen unter 25 Jahren ohne Arbeit7 und die ohnehin starke Abwanderung nahm noch mehr zu. Da Estland schon früh einen eigenen wirtschaftlichen und politischen Weg eingeschlagen hatte, konnten die Auswirkungen der Krise recht gut abgefedert werden. In der wirtschaftlichen Boomphase waren Rücklagen in Höhe von 10% des BIP geschaffen worden8 und alle europäischen Staaten schauten mit Bewunderung auf die geringen Staatsschulden. In der Krise 2008 bzw. 2009 war Estland zum ersten Mal seit der Unabhängigkeit dazu gezwungen Kredite aufzunehmen, da ein Defizit im Staatshaushalt von 2.8 bzw. 1.7% zu verzeichnen war9.Die gesamte Staatsverschuldung belief sich im Jahre 2010 aber auf lediglich 7.2% des BIP während Deutschland zur selben Zeit mit einem Schuldenberg von rund 75% des BIP belastet war10. Außerdem muss angemerkt werden, dass Estland all seine Schulden durch die angehäuften Ressourcen auf einen Schlag hätte zurückzahlen können und als einziges Land in der EU-27 im Jahre 2010 einen Haushaltsüberschuss erzielte. Daher war es den Abgeordneten in Brüssel relativ leicht gefallen, Estland das grüne Licht für einen Beitritt zum Euro-Raum zu geben. Wie bereits beim Beitritt zur EU und zur NATO hielt sich die Zustimmung der estnischen Bevölkerung zu diesem Schritt in Grenzen. So sagten im Jahre 2009 ca. 52%11 der Esten, dass sie nicht glücklich über die Euro-Einführung sind, denn die 7 Michèle Knodt, Das Politische System der baltischen Staaten, eine Einführung, S.347 Michèle Knodt, Das Politische System der baltischen Staaten, eine Einführung, S.355 9 Michèle Knodt, Das Politische System der baltischen Staaten, eine Einführung, S.355 10 Michèle Knodt, Das Politische System der baltischen Staaten, eine Einführung, S.355 11 http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/eurokrise/waehrungseinfuehrung-der-euro-kommt-nachestland-wie-der-schnee-1572721.html 8 14 eigene Währung ist einfacher stabil zu halten. Abgesehen von diesem Argument können sich die meisten Menschen nur schwer mit der Idee anfreunden, dass sie eines Tages für die finanzielle Schieflage der südeuropäischen Staaten aufkommen müssen. Jedoch darf nicht verschleiert werden, dass der europäische „Musterschüler“ trotzdem mit erheblichen Problemen zu kämpfen hatte und hat, insbesondere im sozialen Bereich. Unter dem rigiden Sparkurs der Regierung mussten v.a. die bereits benachteiligten Gesellschaftsschichten wie Rentner, alleinerziehenden Mütter oder Familien mit kranken Angehörigen leiden. 2010 war die Arbeitslosigkeit auf 16.9% gestiegen und jeder fünfte Este lebte in Armut12. In geografischer Hinsicht waren in erster Linie die ländlichen Regionen sowie die nordöstlichen ehemaligen Industrieregionen um die Städte Narwa und Kohtla-Järve betroffen. Erstaunlicherweise kam es nur selten zu Demonstrationen, denn ein Großteil der estnischen Bevölkerung fand es logisch und nachvollziehbar, dass der Staat in schwierigen Situationen Geld einsparen muss. Aktuelle Situation Jetzt ist Estland schon seit zehn Jahren in der EU und der NATO und das konnte ich während meiner Reise Vom gut ausgebauten öffentlichen Nahverkehrsnetz habe auch ich immer wieder sehen. oft profitiert. Insbesondere mit den modernen Zügen kann man Insbesondere durch schnell und bequem reisen. meinen Aufenthalt bei der Familie Noe in Tartu hatte ich die Möglichkeit viel über die Entwicklungen im Land seit 2004 zu erfahren, da sie genau zu diesem Zeitpunkt nach Estland gekommen waren. Sie haben mir berichtet, dass sie seit ihrer Ankunft Zeugen einer unglaublich schnellen Entwicklung geworden sind und immer wenn sie lediglich für einen Monat nach Deutschland fliegen, bietet sich ihnen bei der Rückkehr ein völlig neues Bild. Das wird in vielen unterschiedlichen Bereichen sichtbar. Durch die Gelder aus den europäischen Strukturfonds wurde insbesondere die Regional- und Umweltpolitik ausgebaut und damit wurde ein Vorstoß in völlig unbekannte Bereiche gewagt. Die Infrastruktur wurde und wird noch ausgebaut und bereits zum jetzigen Zeitpunkt ist ein guter Standard erreicht. Nur in abgelegenen ländlichen Gebieten sind die Straßen nicht asphaltiert und mit dem Öffentlichen Nahverkehr ist jede Ecke einer Stadt bzw. des Landes zu erreichen. In Städten wie 12 Michèle Knodt, Das Politische System der baltischen Staaten, eine Einführung, S. 356 15 Tallinn, Tartu, Narwa oder Pärnu fahren regelmäßig Straßenbahnen und Busse und selbst zu später Stunde hatte ich niemals Probleme zu meiner Unterkunft zurückzukehren. Als ich an einem Morgen von dem winzigen Dorf Järvselja mitten im Wald in der Nähe des Peipussees nach Tartu fahren wollte, hatte ich mit der Busverbindung keine Schwierigkeiten. Auch die Bahn habe ich mehrere Male in Anspruch genommen und ein Großteil der wichtigen Städte ist mittlerweile an das Schienennetz angeschlossen. Die alten, baufälligen Bauwagons aus Zeiten der Sowjetunion können nur noch im Museum angeschaut werden, denn sie wurden durch hochmoderne, orangene und saubere Züge ersetzt. Jedoch sollte man sich vor der Abfahrt über die genauen Zeiten informieren, da teilweise nur am Morgen und am Abend der Zug fährt. Während Stephan Noe bei seiner Ankunft in Estland noch als ein exotischer Vogel angesehen wurde, da er im zunehmend dichteren Autoverkehr mit dem Fahrrad zu seinem Arbeitsplatz an der Universität fuhr, so sind Zweiräder heute überall zu sehen. Die Infrastruktur ist hervorragend, denn es existieren zahlreiche ausgebaute und beschilderte Radwege und vor öffentlichen Gebäuden gibt es meist die Möglichkeit sein Fahrrad sicher abzuschließen. Auch E-Bikes erfreuen sich einer immer größeren Beliebtheit, insbesondere bei den älteren Bevölkerungsschichten. Durch den EU-Beitritt wurde natürlich auch ein Stück der westlichen Konsumgesellschaft in das Land importiert. Zu sehen ist das auf eindrückliche Weise an den zahllosen Baustellen in jeder Stadt, wo fleißig neue Einkaufstempel und Vergnügungspark errichtet werden. Beate und Stephan Noe haben mir berichtet, dass es 2004 bei ihnen in der Umgebung lediglich einen winzigen Supermarkt gab mit äußerst kargem Angebot. Frisches Obst und Gemüse war kaum zu erhalten, Fleisch konnten sich nur die wohlhabenden Schichten leisten und in den Regalen bei den Backwaren lag nur Weißbrot. Über die Jahre hat jedoch die Vielfalt Einzug erhalten und es gibt mittlerweile viele Supermarktketten, v.a. aus Finnland (z.B. Prisma, Rimi, Selver…). Bei der Auswahl war ich teilweise überfordert, da es so viele unterschiedliche Produkte gibt und die Esten scheinen die von Mangel geprägte Zeit mehr als nachzuholen. Ein Relikt aus Zeiten der Sowjetunion mag es sein, dass nur wenige sog. „Tante-Emma Läden“ zu finden sind, da die Privatwirtschaft damals stark eingeschränkt wurde. In den großen Städten sind die Shopping-Malls nicht nur ein Ort zum Einkaufen, sondern ebenfalls ein Ausflugsziel von Familien an Wochenenden. In erster Linie während des langen und kalten Winters kommen die Esten gerne hierher, um sich ein wenig die Beine zu vertreten und Freunde zu treffen. Für die Kinder wird es nie langweilig, denn es gibt Vergnügungsparks, Spielplätze oder Eisbahnen. Da ich auf meiner Reise auch einige touristische Sehenswürdigkeiten besucht habe, konnte ich die Impulse der EU in der Regionalpolitik sehr gut sehen. Viele Museen wurden mit europäischen Geldern saniert und ausgestattet. Außerdem sind Renovierungsarbeiten an historischen Gebäuden und Kirchen möglich geworden und die Esten wissen das sehr zu schätzen. Als ich z.B. in der kleinen Ortschaft Ilumäe die alte Kapelle besucht habe, wurde mir von einer Frau stolz erzählt, dass sie das Gebäude dank finanzieller Zuwendungen aus Brüssel Stück für Stück erneuern. 16 Nicht zu vergessen sind die EU-Gelder, die in den Bereich Wissenschaft und Forschung investiert werden. Dank Stephan Noe hatte ich die Gelegenheit einen Einblick in die Labore der Universität Tartu zu erhalten und auch sein Forschungsprojekt im Wald von Järvselja hat er mir vorgestellt. Hier untersucht er gemeinsam mit seinem kleinen Team die Wechselwirkungen zwischen der Atmosphäre und verschiedenen Organismen auf der Erde und es wurde ein über 100 Meter hoher Mast für Messgeräte errichtet. Die Möglichkeit für solche Arbeiten hätte Stephan in Deutschland sicherlich nicht, deshalb ist er froh über seine Entscheidung, in Estland seine neue Heimat zu sehen. Ca. 80% der hochmodernen Ausstattung für die Labore und auch die elektronische Grundausrüstung (z.B. Computer, Kopier- und Druckgeräte…) werden mit Geldern aus unterschiedlichen Strukturfonds der EU finanziert. Hinzu kommen auch noch die unterschiedlichen Austauschprogramme und Wissenschaftskonferenzen auf Ebene der EU, die von estnischen Forschern gerne in Anspruch genommen werden. Für Studenten sind die Angebote von ERASMUS attraktiv und viele meiner jungen Gesprächspartner haben einen längeren Studienaufenthalt im Ausland eingeplant. Neben den Fortschritten in der Regionalpolitik wurden auch neue Impulse im Bereich des Umweltschutzes gesetzt. Zwar gelten die Esten weithin als naturliebend, jedoch war für viele Themen kein breites Bewusstsein in der Bevölkerung vorhanden und es fehlte an Geldern. Außerdem hatten insbesondere in den letzten Jahren der sowjetischen Besatzungszeit viele Industriebetriebe aus den nordöstlichen Gebieten für erhebliche Luftverschmutzung gesorgt und die ehemals unberührte Natur in eine Mondlandschaft mit Müllbergen verwandelt. In diesem Zusammenhang spielt die Förderung von Ölschiefer eine wichtige Rolle, die auf Druck der EU bereits reduziert wurde und in den kommenden Jahren noch weiter eingeschränkt werden soll. Bei der Umstellung der Energieversorgung bietet die EU von finanzieller Seite Unterstützung an. Auch Naturschutzgebiete wurden ausgebaut und in den Städten konnten Fortschritte hinsichtlich der Erneuerung von Entwässerungsanlagen verzeichnet werden. Ein wichtiges Thema ist auch die bessere Isolierung der Häuser, denn im Winter wird viel Energie aufgrund der unzureichenden Bauweise verschwendet. Jedoch rufen die Richtlinien aus Brüssel auch teilweise Unverständnis bei der Bevölkerung hervor, weil einige Neuerungen aus dem dicht besiedelten Mitteleuropa für estnische Verhältnisse als übertrieben zu bewerten sind. Als ein Beispiel sei nur die Bärenjagd genannt, die mit strikten Regeln belegt wurde. Diese selten gewordenen und daher geschätzten Raubtiere können in Teilen von Ostestland zu einer Plage für Viehzüchter werden, aber trotzdem dürfen sie nicht geschossen werden. Bereits vor Antritt meiner Reise hatte ich meine Fragestellung schon zum Teil beantwortet. Laut Literatur und auch dank der ersten Hinweise meiner Gesprächspartner wurde mir klar, dass sich Estland eindeutig in Richtung Europa entwickelt und in Russland eine ständige, potenzielle Bedrohung gesehen wird. Während meines einmonatigen Aufenthalts in dem kleinen baltischen Land durfte ich mich dann selber von diesem Eindruck überzeugen und es war spannend sich mit unterschiedlichen Menschen über ihre Meinung und Erfahrungen bezüglich meines 17 Themas auszutauschen. Zusammenfassend würde ich sagen, dass ein Großteil der Esten in den Beziehungen zur EU und NATO ein „Bündnis der Vernunft“ sieht, um sich vor möglichen russischen Aggressionen abzusichern. Jedoch ist es der Bevölkerung wichtig, nicht zu viele Machtbefugnisse an das Parlament in Brüssel abzugeben, da Fremdherrscher aus historischen Gründen abgelehnt werden. Die Beziehungen zwischen Estland und Russland Aufgrund der geografischen Nähe haben die Beziehungen zum großen Nachbarn im Osten, Russland, für die Esten schon immer eine große Rolle gespielt. Als das kleine baltische Land im Jahre 2004 der EU und der NATO beitrat, wurde diese Entscheidung von Moskau kritisiert und es kam zu einer deutlichen Abkühlung im zwischenstaatlichen Austausch. Angesichts der aktuellen politischen Umwälzungen in Osteuropa, insbesondere bezüglich des Krieges in der Ukraine, versuchen die Esten die bestehenden Bündnissysteme zu stärken und den eigenen Standpunkt innerhalb Europas herauszustellen. Geschichte Die Geschichte Estlands wurde durch Fremdbestimmung geprägt. Während bis zum Nordischen Krieg (1700-1722) v.a. dänische, deutsche und schwedische Herrscher das Land für sich beanspruchten, meldete ab 1721 das russische Zarenreich Gebietsansprüche an und konnte auch die Machtposition besetzen. Unter Zar Alexander III wurde ab 1881 eine konsequente Russifizierung vorangetrieben und Russisch als neue Amtssprache eingeführt. Gegen nationalistische Tendenzen ging er mit unterdrückerischen Maßnahmen vor und auch die berühmte Universität von Dorpat (heute die Stadt Tartu) verlor ihre Autonomie. Der Erste Weltkrieg bedeutete für die Esten das vorübergehende Ende der russischen Besatzung. In der Oktoberrevolution von 1917 wurde die Zarenherrschaft beendet und die Bolschewisten gewannen nicht allein in Russland, sondern auch in Estland die Oberhand. Jedoch musste sie nach einer erneuten deutschen Offensive fliehen und die Esten nutzten das kurzzeitige Machtvakuum aus, um am 24. Februar 1918 in Tallinn die Republik zu proklamieren. Bis zur Unterzeichnung des Friedenvertrags von Tartu zwischen Estland und Russland dauerten die Kämpfe an. Dieses Vertragswerk hat sich im 21. Jahrhundert als ein zentraler Streitpunkt bei der Festlegung des genauen Grenzverlaufs zwischen den beiden Staaten herausgestellt und hat somit immer noch höchste Relevanz. Im Frieden von Tartu erkennt Russland die Unabhängigkeit von Estland an und verzichtet für alle Zeit auf Gebietsansprüche dem kleinen Nachbarn im Westen. Nun wurde zwar Estnisch als Amts- und Unterrichtssprache eingeführt, aber das Land verfügte seit 1925 über ein Minderheitenschutzgesetz, das im europäischen Vergleich als sehr fortschrittlich zu bewerten ist. So wurde allen Minderheiten, auch den zahlreichen Russen, besondere Rechte eingeräumt und Kulturautonomie gewährt. Nach nur etwa 20 Jahren gerät die Erste Estnische Republik in die Konfliktlinien des 18 Zweiten Weltkrieges und es folgten viele Jahre, die von Elend geprägt waren. In einem geheimen Zusatzprotokoll zum Nichtangriffspakt (Hitler-Stalin-Pakt) wurden die baltischen Staaten 1939 zum Interessengebiet Moskaus erklärt und im Juli 1940 wurde offiziell die Annexion von Estland an die Sowjetunion erklärt. Im Verlauf der kriegerischen Auseinandersetzungen wurden die Esten sowohl von der Roten Armee als auch von deutschen Truppen dazu gezwungen, an den Kampfhandlungen teilzunehmen, sodass sich oft Familienmitglieder auf dem Schlachtfeld gegenüberstanden. Um diese Gräueltaten zu verarbeiten hat die estnische Bevölkerung eine lange Zeit gebraucht und im Februar 2015 kam der Film „1944“ in die Kinos, indem diese Thematik aufgegriffen wird. Die Estnische Sowjetrepublik hatte bis 1991 Bestand und die Folgen der Politik der aus Moskau gesteuerten Kommunistischen Partei sind selbst 25 Jahre nach der Unabhängigkeit noch allgegenwärtig zu spüren. Stalin siedelte über 200 000 Arbeitskräfte aus anderen Sowjetrepubliken in erster Linie im Osten von Estland an, um die Industrialisierung voranzutreiben und das Land in das eigene Herrschaftsgebiet fest einzubinden. Die Deportation von ca. 50 000 Menschen nach Sibirien im Jahre 1949 hat sich fest in das kollektive Bewusstsein der Esten gesetzt und bis zum heutigen Tag sind v.a. Vertreter der alten Generation sehr misstrauisch gegenüber der russischen Politik. In Folge der Zwangskollektivier ung der Landwirtschaft kam Der Film „1944“ zeigt, wie sehr die estnische Gesellschaft unter der Herrschaft von Besatzungsmächten leiden musste. Insbesondere die es zu russische Okkupation hat sich im kollektive Bewusstsein festgesetzt. katastrophalen Produktionsrückgängen und durch den Ölschiefer- sowie Phosphatabbau wurden der Umwelt schwere Schäden zugefügt. Der Lebensstandard sank und die Esten stellten wegen der russischen Überfremdung nur noch ca. 62% der Bevölkerung dar. Jedoch kam es immer wieder zu Bestrebungen die verlorene Unabhängigkeit zurückzugewinnen und nach einer Phase von Umwälzungen in der gesamten europäischen Staatenwelt konnte dieses Ziel auch am 30. März 1990 realisiert werden. Aktuelle Situation Die heutigen Beziehungen zwischen Russland und Estland stellen sich als sehr komplex dar und sind ohne die grundlegenden geschichtlichen Fakten kaum zu 19 verstehen. Es wird meist von der großen russischen Bevölkerungsminderheit (25%) gesprochen, aber dieser Begriff ist genau genommen unzutreffend. Nicht allein Russen, sondern auch zahlreiche Einwohner der anderen ehemaligen Sowjetrepubliken wie Kasachstan und Armenien werden dazu gezählt. Sie sehen sich selber nicht als eine unbedeutende Minderheit an, immerhin repräsentieren sie ein Viertel der Bevölkerung. Ein Blick auf die Landkarte zeigt, dass es bedeutende regionale Unterschiede gibt, was den Anteil der russischsprachigen Einwohner betrifft. Insbesondere im nordöstlichen Landeskreis Ida-Virunaa sind fast drei Viertel der Bevölkerung russischer Abstammung und in den dortigen Städten wie Narwa oder Sillamäe sind unter 100 Einwohnern nur vier Esten zu finden. Auch in den großen Städten wie Tallinn und Narwa ist deutlich festzustellen, dass es eine Segregation zwischen den unterschiedlichen Bevölkerungsteilen gibt und Lasnamäe (Tallinn) sowie Annelin (Tartu) gelten als „russische“ Stadtviertel. Insbesondere vor dem Hintergrund des Krieges in der Ostukraine zeigen westliche Medien verstärkt Interesse an den baltischen Staaten und in Schlagzeilen sind oft Sätze zu lesen wie „Die Esten fürchten sich vor ihren russischen Nachbarn“. Es ist jedoch sehr wichtig in der Diskussion zwischen den unterschiedlichen Gruppen innerhalb der sog. Russischen Minderheit zu differenzieren, um einen genauen Überblick zu erhalten. Grob gesehen sind vier Gruppen voneinander abzugrenzen. Als erstes sollen die Altgläubigen vom Peipussee genannt werden, eine kleine russische Bevölkerungsgruppe, die in den Berichten der Medien meist vergessen werden. Etwa in der Mitte des 17. Jahrhunderts haben sie am Westufer des Peipussees Schutz vor der religiös motivierten Verfolgung in der Heimat gesucht und kleine Dorfgemeinschaften begründet. Sie lebten eine lange Zeit völlig isoliert, vermischten sich kaum mit anderen Konfessionen und heirateten nur innerhalb ihres Verwandtenkreises. Auf diese Weise konnten sie lange Zeit ihre eigenen kulturellen Traditionen schützen und waren den Esten nur als „Zwiebelrussen“ bekannt. Mittlerweile sind sie jedoch durch vielfältige Einflüsse aus der modernen Welt in ihrer Existenz bedroht und insbesondere die jüngere Generation zieht es in die großen Städte oder auch ins Ausland. Für touristische Zwecke wurde ein Museum über die Lebensweisen der Altgläubigen eingerichtet und ein spezielles Restaurant mit regionalen Köstlichkeiten. Nichtsdestotrotz schrumpft diese russische Bevölkerungsgruppe immer weiter. Als eine weitere Untergruppe sind sie zahlreichen jungen Russinnen und Russen zu nennen, die fließend estnisch sprechen, gut in das gesellschaftliche Leben integriert sind und nach Erfolg im Arbeitsleben streben. Für sie ist Estland die Heimat und sie werden auch unter der Bezeichnung „russische Esten“ zusammengefasst. Eine überwiegende Mehrheit von ihnen ist zufrieden mit der Westorientierung des Landes und sie profitieren von den wirtschaftlichen Vorteilen, die sich durch eine EU- und NATO- Mitgliedschaft ergeben. Weiterhin hat eine Subgruppe große Bedeutung, die wegen des normalen biologischen Rhythmus allmählich immer mehr Mitglieder verliert. Durch die Umsiedlungsprogramme in der Zeit vor 1990 kamen viele Industriearbeiter nach Estland und sie haben ihren Wohnsitz nach der Unabhängigkeit des baltischen 20 Landes nur vereinzelt gewechselt. Sie leben heute v.a. in den schäbigen Plattenbausiedlungen von Lasnamäe und Annelin und sprechen kaum Estnisch. Ihr politisches Interesse ist als eher gering zu bewerten und sie verfolgen aufgrund der sprachlichen Barrieren bevorzugt das russische Fernsehprogramm. Daher stehen sie unter dem ständigen Einfluss von Putins Propagandamaschinerie und bei Gelegenheit besuchen sie gerne ihre Verwandten in Russland. Ein Interesse an der Integration in die estnische Gesellschaft besteht nur vereinzelt und sie sehen auch nicht die Notwendigkeit, da sie innerhalb ihrer russischen Gemeinschaft keine Probleme im Alltagsleben haben. Meist lernt der Nachwuchs entweder im Kindergarten oder in der Schule ohne große Schwierigkeiten die estnische Sprache und sie entwickeln sich zu Mitgliedern der zweitgenannten russischen Bevölkerungsgruppe. Eine vierte, sehr kleine und in den Medien oft präsente Gruppe sind die Russen, die die EU- und NATO-Mitgliedschaft entschieden ablehnen und sich eine engere Zusammenarbeit mit Herrn Putin wünschen. Ihre Radikalisierung wird durch unterschiedliche Umweltfaktoren bedingt und beschleunigt. Zumeist sind sie arbeitslos, haben Probleme im richtigen Umgang mit Alkohol und bemühen sich nicht einen Anschluss an die estnische Gesellschaft zu finden. Wie aus dieser kurzen Übersicht deutlich wird, sehen die meisten Angehörigen der sog. russischen Minderheit in Estland ihre Heimat und bezeichnen die engen Verknüpfungen mit anderen europäischen Staaten als eine Chance. Konflikte bestehen eher auf staatlicher Ebene, d.h. direkt zwischen den Politikern im Kreml und im Riigikogu und die Bevölkerung ist in den meisten Fällen nicht beteiligt. Im Folgenden möchte ich auf einige Ereignisse eingehen, die die Beziehungen zwischen Russland und Estland in den vergangenen Jahren belastet haben. Im Frühjahr 2007 wollte die estnische Regierung ihr lang geplantes Vorhaben und auch als Wahlversprechen formuliertes Ziel, die Verlegung eines Denkmals für die im Zweiten Weltkrieg gefallenen russischen Soldaten, in die Tat umsetzen. Dieses sowjetische Monument sollte keinen Platz mehr in der Mitte der Stadt beanspruchen und wurde so auf einen Friedhof in einem Vorort verlegt. Die Demontage des „Bronzenen Soldaten“ entwickelte sich aber zu der größten Auseinandersetzung, die Estland seit der Wende erlebt hatte. Mehr als 1000 Tallinner versammelten sich und lieferten sich Straßenschlachten mit der Polizei. Es kam zu Plünderungen und Autos wurden zerstört. Über die Medien wurde die Botschaft vermittelt, dass die russische Führung als Initiator dieser Unruhen anzusehen sei. Nach ersten Ermittlungen stellte sich jedoch heraus, dass unter den festgenommenen Unruhestiftern auch zahlreiche Esten waren und dieser Vorfall so nicht als eine russische Aggression anzusehen ist. Die traurige Bilanz dieser Ausschreitung waren ein Toter und 40 Verletzte. In der Folgezeit spannten sich die Beziehungen zwischen Estland und Russland merklich an und selbst Angela Merkel bemühte sich um eine Entspannung der Situation. Vor diesem Hintergrund sollte erwähnt werden, dass die Demontage des Denkmals nur eine Woche vor dem 8./9. Mai durchgeführt wurde, dem offiziellen Ende des Zweiten Weltkrieges. Zu diesem Anlass wird in Moskau jedes Jahr eine große Gedenkfeier veranstaltet und von estnischer Seite war die Teilnahme an diesen Feierlichkeiten 21 wiederholt abgesagt worden. Eine Beleidigung für Russland. Der Denkmal-Streit zog aber noch größere Bahnen. In Moskau kam es zu Demonstrationen vor der estnischen Botschaft und bei einer Pressekonferenz wurde die estnische Botschafterin tätlich angegriffen. Weiterhin kam es zu einem Hackangriff auf die offiziellen Websites der Regierung und die Spuren konnten von Experten bis in den Kreml zurückverfolgt werden. Nach einigen Monaten waren diese Spannungen aber oberflächlich wieder abgeflaut und auf europäischer Ebene vergessen. Als einen weiteren ständigen Konfliktherd auf politischer Ebene ist die Festlegung des genauen Grenzverlaufs Wegen der Verlegung des „Bronzernen Soldaten“ aus dem Zentrum von Tallinn auf einen Friedhof am Stadtrand, kam zwischen Estland und Russland es im Frühjahr 2007 zu schweren Auseinandersetzungen. zu sehen. Für viele Jahre existierte kein Vertrag bezüglich dieses Themas, da es Unstimmigkeiten bei der genauen Formulierung gab. Die insgesamt 294 km13 lange Grenze, die zu einem großen Teil durch Gewässer verläuft, wurde im Jahre 2004 zur Außengrenze der EU. Bis 2011 zogen sich die Verhandlungen über die Grenzziehung hin, insgesamt also zehn Jahre. Die estnische Regierung legte großen Wert darauf in der Präambel zu betonen, dass sie entgegen den Vereinbarungen im Friedensvertrag von Tartu mit der Einverleibung des Landes in die Sowjetunion 1945 Territorium verloren hatte. Zwar wurde kein Anspruch auf diese Gebiete erhoben, aber diese historischen Fakten sollte für immer in Erinnerung gehalten werden. Schließlich konnten jedoch akzeptable Formulierungen für beide Seiten gefunden werden, sodass der Grenzvertrag unterzeichnet wurde. Im Zusammenhang mit den Streitigkeiten um die Grenze ist ein Vorfall aus dem Jahre 2014 zu erwähnen, der die angespannten Beziehungen zwischen Estland und Russland erneut zum Vorschein brachte. Der estnische Geheimdienstmitarbeiter Eston Kohver wurde von Unbekannten nach Russland verschleppt, als er im Grenzgebiet gegen länderübergreifende Kriminalität im Einsatz war. Von den 13 http://de.wikipedia.org/wiki/Grenze_zwischen_Estland_und_Russland 22 Ääkkkllll russischen Behörden wurde dieser Vorfall als Abwehr gegen eine Spionageaktion Ausrüstung für Tonaufnahmen gefunden worden sein. Ein Ermittlungsverfahren wurde eingeleitet und dem Esten drohen nun 20 Jahre Haft. Der estnische Ministerpräsident Die Grenzstadt Narwa am gleichnamigen Fluss. Auf der linken Seite ist die Taavi Roiva hat Hermannsfestung zu sehen, die zu Estland gehört. Auf der rechten Flussseite Russland zur ragt die russische Festung Iwangorod empor. Dazwischen verläuft die EUAußengrenze. Zusammenarbeit bei der Klärung dieses Falles aufgefordert und auch die EU verlangte die sofortige Freilassung. Dieser Zwischenfall ereignete sich nur wenige Tage nach dem Besuch von Barack Obama in Tallinn, als er dem Land Schutz vor jeglicher Bedrohung zusicherte („Estland wird nie allein dastehen“)14. Als ein weiterer potenzieller Konfliktherd zwischen den beiden Ländern ist der Status der „Nichtbürger“ zu sehen. Unter diesem Begriff werden nicht nur in Estland, sondern auch in Lettland die Menschen zusammengefasst, die ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht in dem entsprechenden Land haben, aber weder die estnische bzw. die lettische Staatsangehörigkeit besitzen. Dies betrifft fast ausschließlich russischsprachige frühere Sowjetbürger. In Estland wurde dieser Bevölkerungsgruppe ab 1994 graue Pässe ausgestellt und damit waren sie nicht dazu berechtigt an Parlamentswahlen teilzunehmen. Durch das Ablegen einer Sprachprüfung, dem Nachweis von Kenntnissen bezüglich der Verfassung und einer Loyalitätserklärung kann jedoch die estnische Staatsbürgerschaft erworben werden. Diese Regelungen sind für die alte russischstämmige Bevölkerung eine Hürde und wurden von der EU kritisiert. Seit 2002 müssen Absolventen des Gymnasiums den Sprachtest nicht mehr machen und auch das Anforderungsniveau wurde durch Druck der EU erniedrigt. Während die Problematik der „Nichtbürger“ auf internationaler Ebene (z.B. bei einer Rede des russischen Außenministers Sergej Lawrow vor der UNGeneralversammlung) gerne aufgegriffen wird, um die baltischen Staaten in schlechtes Licht zu rücken, leiden die Betroffenen unter diesen Status nur selten. Denn die grauen Pässe bringen auch Vorteile mit sich. Seit 2008 gewährt Moskau 14 http://www.n-tv.de/politik/Obama-sichert-Baltikum-ewigen-Beistand-zu-article13540216.html 23 den Inhabern dieser besonderen Ausweisdokumente die visafreie Einreise nach Russland. Da Estlands Bürger mit festem Wohnsitz, ganz gleich welcher Staatsangehörigkeit sie angehören, mit dem Beitritt zum Schengen-Raum in ganz Europa das Recht „Reisefreiheit“ erhielten, beantragten immer weniger „Nichtbürger“ die estnische Staatsangehörigkeit. Mit dem estnischen Pass haben sie oft große Probleme die Verwandten in Russland zu besuchen und ihr jetziger Status schränkt sie im Alltagsleben nicht erheblich ein. Außerdem ergibt sich für junge Männer mit einem grauen Pass der Vorteil, dass die weder in Russland noch in Estland Wehrdienst leisten müssen. Abschließend möchte ich noch auf ein Schulgesetz aus dem Jahre 2007 eingehen, dass in der estnischen Innenpolitik für erhitzte Diskussionen gesorgt hat. Bereits 1993 wurde in Anlehnung an die Vorkriegszeit ein Gesetz über die kulturelle Autonomie nationaler Minderheiten verabschiedet. Es sollte die „Möglichkeit zu Förderung ihrer Sprache und Kultur durch muttersprachliche Bildung“ gewährleisten. Allerdings wurde dabei außer Acht gelassen, dass in den 63 russischsprachigen Gymnasien des Landes die estnische Sprache nur unzureichend unterrichtet wurde. Somit hatten die Absolventen teilweise mangelhafte Kenntnisse der estnischen Sprache, sodass ihnen auf dem Arbeitsmarkt zahlreiche Posten nicht zugänglich waren. Die Regierung beschloss daher ein Gesetz auszuarbeiten, dass auch in russischen Bildungseinrichtungen den estnischsprachigen Unterrichtsanteil auf 60% festlegen sollte. Da jedoch die Kapazitäten für eine solche Umstellung nicht vorhanden waren, wurde ein allmählicher Transformationsprozess vorgesehen. Empirische Studien zeigen, dass die alltäglichen Beziehungen zwischen russischen und estnischen Bevölkerungsanteilen von beiden Seiten als gut bewertet werden. Die Spannungen basieren daher nicht auf konkreten Erfahrungen des zwischenmenschlichen Zusammenlebens, sondern sind v.a. Resultat politischer Auseinandersetzungen und Entwicklungen in Russland und Estland, die in den Medien ihren Widerhall finden, durch diese verstärkt oder initiiert werden. Die Auswirkungen des Krieges in der Ostukraine auf Estland Während meiner einmonatigen Reise durch Estland konnte ich eindeutig feststellen, dass die Stimmung im Land vom Konflikt in der Ostukraine überschattet wird. Die Esten machen sich große Sorgen, dass Moskau seinen Einflussbereich noch weiter ausdehnen möchte und die Erfahrungen der Vergangenheit werden nicht vergessen. Von den ca. 300 000 russischsprachigen Bürgern hatten 2014 ca. 100 000 die estnische Staatsangehörigkeit, 110 000 die russische Staatsangehörigkeit und 90 000 besaßen einen grauen Pass, der sie als „Nichtbürger“ kennzeichnet 15. Die Auswirkungen des Krieges machen sich in unterschiedlichen Bereichen bemerkbar, sowohl auf wirtschaftlicher als auch auf politischer und sozialer Ebene. 15 http://www.en.europeonline-magazine.eu/die-russische-minderheit-in-estland_379491.html 24 Wirtschaftlich Die EU-Sanktionen gegen Russland spielen für Estland kaum eine Rolle, jedoch beeinträchtigen die Gegenmaßnahmen von russischer Seite die Wirtschaft. Denn die Machthaber im Kreml haben die Entscheidung getroffen, sämtliche estnische Produkte zu boykottieren, sodass viele landwirtschaftliche Waren aus den baltischen Staaten nicht mehr eingeführt werden dürfen. Dies zeigt sich v.a. in der Milchproduktion sowie im Fischfang, denn für diese Güter war Russland stets der größte Abnehmer. Politisch Im Bezug auf die politische Dimension sind eine Vielzahl von Faktoren zu nennen. Seit der Unabhängigkeit wurde eine enge Anbindung an die westlichen Staaten gesucht, in erster Linie an die USA. Dieser Schulterschluss wurde von Washington immer freudig entgegengenommen und schon seit vielen Jahren sind die baltischen Staaten ein wichtiges Instrument in der amerikanischen Russlandpolitik. Es bestehen sogar personelle Beziehungen, denn der aktuelle Staatspräsident Toomas Hendrik Ilves ist in Nordamerika aufgewachsen und hat dort seine Ausbildung erhalten. Aus dieser Zeit sind einige Kontakte erhalten geblieben, die nicht selten bis in die politische Klasse führen. Erst im September des vergangenen Jahres hat Barack Obama Tallinn einen Besuch abgestattet und zu diesem Anlass hat er betont, dass die baltischen Staaten in allen Situationen auf ihre Bündnispartner zählen können. Außerdem wurde ein Liefervertrag für moderne Waffen unterzeichnet und in vielen Medien wurde dies als eine demonstrative Geste gegenüber Russland gesehen. Auch der deutsche Außenminister Steinmeier hat betont, dass die EU die Sorgen von Estland teile. Am estnischen Unabhängigkeitstag (24. Februar) wird jedes Jahr eine Militärparade sowie ein Staatsbankett veranstaltet und als Gastgeber für diese Feierlichkeiten wechseln sich die größten estnischen Städte ab. Rein zufällig war Narwa dieses Jahr an der Reihe und da auch amerikanische, britische, niederländische und spanische Vertreter teilnahmen, zeigte die NATO Präsenz direkt an der Grenze zu Russland. In Moskau wurde diese Aktion direkt als eine offene Provokation aufgefasst und als Reaktion wurde an den nächsten Tagen ein Manöver mit ca. 2000 Soldaten in der Grenzregion gestaltet. In seiner Rede anlässlich des Unabhängigkeitstages stellte der Staatspräsident Ilves das Thema „Krieg in der Ostukraine“ und die Konsequenzen dieser Vorfälle auf Estland in den Vordergrund. Er legte viel Wert darauf zu betonen, dass sich die Esten nun auch wieder Sorgen um die Unversehrtheit des eigenen Staatsgebietes machen müssen und daher eine noch bessere Integration in die Strukturen der EU und NATO nicht zur Diskussion stehe. Die Angst vor einem neuen „russischen Frühling“ am Baltikum bestimmte auch den Wahlkampf zu Anfang des Jahres. Alle Parteien versuchten zu punkten, indem sie Sicherheitsthemen in den Mittelpunkt ihres Programmes rückten. Selbst die Zentrumspartei mit ihren Vorsitzenden Edgar Savisaar, die meist einen Großteil der Stimmen der russischsprachigen Bevölkerung gewinnen kann, blendete den UkraineKonflikt nicht völlig aus. Natürlich wurden andere Formulierungen gewählt und man hütete sich davor direkte Kritik an Russland zu adressieren. Der bisherige und auch 25 wiedergewählte estnische Ministerpräsident Taavi Roivas von der Reformpartei sorgte für Schlagzeilen, als er in einem seiner Wahlkampfvideos die neuen Kampfjets des Landes präsentierte. Außerdem besuchte er in Begleitung vieler Pressevertreter eine Schule, um den Kindern die NATO-Beistandsklausel auf anschauliche Art und Weise zu erklären. Er sagte, dass Estland eine kleine Erbse sei, die neben einer großen, bösen Orange (Russland) lebe. Wegen der Freundschaft mit der Wassermelone (USA) und weiterer Gemüse- und Obstsorten musste sie sich aber keine Sorgen machen. Ohne jeden Zweifel könnten die baltischen Staaten einen russischen Angriff kaum erfolgreich abwehren. Estland verfügt über keine nennenswerten Streitkräfte und erst vor wenigen Monaten wurde der erste Panzer gekauft. Da sich die Bevölkerung nicht auf Versprechen anderer Staaten verlassen will, hat sie noch im Jahre 1991 eine eigene Volksmiliz gegründet, um sich im Ernstfall nicht kampflos zu ergeben. Gesellschaftlich Viel stärker und wichtiger als das militärische Potenzial ist sicherlich der Wille der Esten, sich nie wieder einer fremden Macht unterzuordnen. Angehörige der Die Esten beobachten mit Sorge die Entwickungen in der Ostukraine. Vor der älteren Generation, Russischen Botschaft in Tallinn findet eine kleine Demonstration statt, um gegen die Politik von Präsident Putin zu protestieren. die noch zu Zeiten der Sowjetunion aufgewachsen sind, freuen sich jeden Tag aufs Neue, wenn sie die weiß-schwarz-blaue Nationalflagge über dem Riigikogu sehen. Ihnen ist bewusst, dass sie ihre Freiheit zu jeder Zeit mit allen Mitteln verteidigen müssen, In der Presse ist der Krieg in der Ostukraine ein „Dauerbrenner“ und es wird oft von einem „Vorkriegsklima“ gesprochen. Viele Menschen haben große Angst und sie sprechen zum Teil sehr offen darüber. Insbesondere die Entwicklung, dass sich auch ausländische Söldner unter die kämpfenden Parteien gemischt haben, macht ihnen Sorge. Es stellt sich die Frage, welchen Befehlen sie gehorchen und es ist gefährlich, wenn der Krieg zum Geschäft wird. Allerdings ist nicht anzunehmen, dass Präsident Putin seine „grünen Männer“ zum „Urlaub“ mit ihren Panzern als Transportmittel nach Estland schicken wird. In der Ostukraine lebten und leben viele Menschen unter prekären Verhältnissen und der Lebensstandard ist zumeist niedriger als in Russland. Die Arbeitslosigkeit unter der jungen Bevölkerung ist hoch und es bieten sich ihnen nur wenige Perspektiven auf 26 eine bessere Zukunft. Als verstärkender Faktor kommt noch hinzu, dass viele Ostukrainer das Gefühl haben, von Kiew unterdrückt und benachteiligt zu werden zu werden, sodass sie der gewählten Regierung kein Vertrauen entgegenbringen. Nicht zu vergessen ist die Tatsache, dass die Ukraine eine lange Zeit die wichtigste Sowjetrepublik war und der Verlust dieses sehr fruchtbaren Stück Landes von russischer Seite auch heute noch sehr bedauert wird. In historischer Hinsicht hat Estland für Russland nie dieselbe Rolle gespielt wie die Ukraine, sodass ein einfacher Vergleich beider Staaten zu falschen Schlussfolgerungen führt. In den vergangenen 25 Jahren hat sich Estland rasant in ein modernes, europäisches Land verwandelt und der Lebensstandard liegt deutlich über den Verhältnissen in Russland. Oft wird gesagt, dass hinter der Grenzstation bei Narwa und Iwangorod in östlicher Richtung das Niemandsland anfängt und sich dort kaum ein Mensch freiwillig aufhält. Die russische Propagandamaschinerie wird daher in Estland keinen Erfolg haben, denn das vergleichsweise angenehme Leben wissen nicht allein die Esten zu schätzen. Bei einer Umfrage im Jahre 2004 mit dem Ziel die Stimmung der estnischen Bevölkerung bezüglich des EU-Beitritts festzustellen, sprachen sich anteilsmäßig mehr Russen für eine Westorientierung aus als Esten. Eigene Erfahrungen Bei meinen Gesprächen ist mir immer aufgefallen, dass sich die Ansichten über den Krieg in der Ostukraine von Generation zu Generation unterscheiden. Ein Gefühl der Angst überwiegt bei den älteren Esten und sie schenken den Bündnissystemen kein Vertrauen. Teilweise wurde mir erzählt, dass die Koffer zur Flucht bereits gepackt wurden, um sich nie wieder von Russen beherrschen zu lassen. Als ich mit einer Studentin aus Tartu über dieses Thema gesprochen habe meinte sie, dass durch die Berichterstattung in den Medien meist ein verzerrtes Bild von der Wirklichkeit geboten wird. Das ist zwar in keinem Land der Welt anders, aber ein Großteil der Esten reflektiert nicht ausreichend das Gehörte oder Gelesene. Da fast ausschließlich mit negativem Unterton gegenüber Russland berichtet wird, lassen sich viele Menschen zu Verallgemeinerungen verleiten. So sind Sätze wie „Alle Russen verehren ihren Präsidenten Putin und unterstützen den Krieg in der Ostukraine“ nicht selten zu hören. Es wird vergessen, dass es eine Oppositionsbewegung gibt und über den Mord von Boris Nemzow waren viele Esten sehr erstaunt. Bei Gesprächen mit Schülern aus dem TSG traf ich auf unterschiedliche Meinungen. Für viele der jungen Menschen spielt Politik keine zentrale Rolle in ihrem Alltag, sodass sie sich auch nur mäßig für mein Reisethema interessierten. Manchmal war ich jedoch auch überrascht, mit welchem Hintergrundwissen mir das Beziehungsgeflecht in Osteuropa erklärt wurde. Gescherzt wurde über dieses Thema auch, denn den jungen Esten ist aufgefallen, dass Russland immer nur in den Jahren von Olympischen Spielen ein anderes Land überfällt. 2008, während der olympischen Sommerspiele in Peking, war Georgien das Opfer russischer Aggressionen. Zur Zeit der Olympischen Winterspiele in Sotschi im Frühjahr 2014 27 intervenierte Russland indirekt in der Ukraine. Also muss sich Estland erst in knapp vier Jahren mit dieser Frage auseinandersetzen. Die nachbarschaftlichen Beziehungen Estlands Es mag verwundern, dass ich in diesem Bericht einen Abschnitt den nachbarschaftlichen Beziehungen von Estland widme. Zwar habe ich mich während meiner Reise v.a. auf die Fragestellung konzentriert, ob sich die Esten eher in Richtung EU oder Russland orientieren, aber ich musste nach kurzer Zeit feststellen, dass keine dieser beiden Optionen zutrifft. Die politische Klasse drängt auf eine noch tiefere Integration in die Strukturen der EU und der NATO und auch die Bevölkerung zieht diese Ausrichtung einer Annäherung an Russland vor. Jedoch kann die Stimmung im Land nicht als „Europa-Euphorie“ bezeichnet werden. Vielmehr wird der Blick in Richtung Norden gerichtet, denn die skandinavischen Länder werden in vielerlei Hinsicht als Vorbild gesehen. Insbesondere zu den Finnen pflegen die Esten eine außergewöhnliche Beziehung und das schon seit vielen Jahren. Der „große Bruder“ Finnland In sprachlicher Hinsicht sind sich Estnisch und Finnisch sehr ähnlich und beide gehören zur Gruppe der finno-ugrischen Sprachen. Daher gibt es bereits seit langer Zeit einen regen Austausch zwischen den beiden Ländern, da es kaum zu Verständigungsschwierigkeiten kommt. Auch Touristen wissen das zu schätzen und die Fremdenverkehrsämter haben sich auf die Nachfrage aus Finnland eingestellt. Die Leidenschaft regelmäßig in guter Gesellschaft mit einem kühlen Getränk in die Sauna zu gehen teilen die Esten übrigens auch mit den Finnen. Die starke Abwanderungsbewegung der Esten aus ihrer Heimat kommt der finnischen Wirtschaft zugute, denn der Nachbar im Norden ist das beliebteste Ziel für die junge und gut ausgebildete Bevölkerung. Die Gehälter in Finnland liegen ein Vielfaches über dem Niveau in Estland und aufgrund der demografischen Entwicklungen sind Fachkräfte aus dem baltischen Land erwünscht, besonders im Gesundheitssektor. Die negativen Folgen für das estnische Wirtschafts- und Sozialsystem werden gerne ausgeblendet. In den Jahren 1989/1990 war die Grenze zwischen den beiden Staaten diejenige, mit dem weltweit höchsten Preisunterschied. In dem skandinavischen Land waren die Güter durchschnittlich 25mal so teuer wie in Estland und daher herrschte an den Wochenenden sowie an Feiertagen immer ein reger Betrieb auf der Fährverbindung zwischen Tallinn und Helsinki. Arbeiter und Studenten kamen gerne über den finnischen Meeresbusen, um billig einzukaufen und sich mit Alkohol einzudecken. Obwohl die estnischen Preise mittlerweile westeuropäisches Niveau erreicht haben, führen viele Finnen diese Angewohnheit fort. In wirtschaftlicher Hinsicht ist Finnland der wichtigste Absatzmarkt für estnische Produkte und ohne diese Kontakte wäre es nicht möglich gewesen, die schnelle Transformation vom planwirtschaftlichen System hin zu einer Marktwirtschaft zu 28 vollziehen. Heutzutage wird oft vergessen, dass zu Beginn des 20.Jahrhunderts die Wirtschaftskraft in dem baltischen Land höher war als in Finnland und der starke Rückfall durch die sowjetischen Besatzer ausgelöst wurde. Während dieser Zeitspanne von 1944 bis 1990 haben die Esten immer heimlich finnische Radiosender gehört, denn am Ende der Nachrichten wurde die Nationalhymne gespielt. Und die beiden Länder teilen sich bis zum heutigen Tag dieselbe Melodie. Historisch gesehen eint die Esten und Finnen die Feindschaft gegenüber Russland und beide haben sich mit dem großen östlichen Nachbarn im 20. Jahrhundert viele Auseinandersetzungen geliefert. Die Landschaft Karelien liegt in Nordosteuropa und war eine lange Zeit zwischen Finnland und Russland umstritten. Wie in Estland auch war die Grenzziehung ein strittiges Thema. Während meiner Reise hatte ich mehrere Male die Möglichkeit soziale Einrichtungen zu besuchen und ich habe mich recht intensiv mit dem Sozialsystem in diesem baltischen Land beschäftigt. Wie in vielen anderen Staaten unserer Welt haben in Estland nur wenige Menschen von dem wirtschaftlichen Aufschwung profitiert und die Armutsquote liegt über dem EU-Durchschnitt. Jedoch In Rakvere besuche ich eine Einrichtung für geistig retardierte Erwachsene, bezeichnen die die durch finanzielle Unterstützung aus Finnland betrieben werden kann. Finnen die Esten oft als „kleinen Bruder“ und unterstützen den Aufbau von sozialen Einrichtungen mit finanziellen Transferzahlungen. Als ich in Rakvere ein Zentrum für geistig retardierte Erwachsene besucht habe, wurde mir berichtet, dass es dank Gelder aus Finnland betrieben werden kann. Und auch in Kadrina wurde ich an die Wohltäter aus dem Norden erinnert, denn dort gibt es seit vielen Jahren ein Secondhandladen, der mit Waren aus Finnland versorgt wird. Jeder Bedürftige kann sich für einen Gegenwert von 50 Cent Kleidung für warme und kalte Jahreszeiten kaufen. Abschließend möchte ich noch die geplante Eisenbahnverbindung von Warschau über Riga und Tallinn bis nach Helsinki erwähnen, die sog. „Rail Baltica“. Der Baubeginn ist für dieses Jahr geplant, aber es gibt noch viele strittige Fragen und auch die Abgeordneten im Riigikogu müssen sich immer wieder mit diesem Thema auseinandersetzen. Denn es soll ein Tunnel unter dem Finnischen Meeresbusen entstehen, der um die zwei bis drei Milliarden Euro kostet. Bei der kürzesten 29 Verbindung würde er eine Länge von 50 Kilometern haben und wäre damit der längste Unterwassertunnel der Welt. Bei den Planungen für dieses Projekt ist aber noch nicht das letzte Wort gesprochen und egal ob mit oder ohne Tunnel werden die außergewöhnlich engen und freundschaftlichen Beziehungen zwischen Estland und Finnland bestehen bleiben. Welche Bedeutung hat der Begriff Baltikum Erst während meines einmonatigen Aufenthalts in Estland wurde mir bewusst, welche Rolle die Verbindungen zwischen Finnland und Estland spielen. Daher habe ich mich gefragt, warum dieses kleine Land immer zusammen mit Litauen und Lettland als Baltikum bezeichnet wird, denn mit Vilnius und Riga werden nicht solch enge Partnerschaften gepflegt. Und auch sprachlich gesehen existiert keine Einheit, denn Litauisch und Lettisch gehören zur indogermanischen Sprachfamilie. Der Begriff Baltikum erschien erstmals in der Endphase des Ersten Weltkrieges als eine Sammelbezeichnung für das deutsche Okkupationsgebiet auf den Territorien des Ostseegouvernements. Diese Bezeichnung hat sich über die Jahre in den allgemeinen Sprachgebrauch integriert, obwohl die Länder nicht als eine Einheit aufgefasst werden dürfen. Jedoch mussten sowohl die Esten als auch die Litauer und Letten unter der sowjetischen Okkupation ab 1945 leiden und die traumatischen Erfahrungen aus dieser Zeit können als eines der wenigen verbindenden Elemente aufgefasst werden. Die Deutschen haben auch ihre Spuren hinterlassen Zuletzt möchte ich noch einen kleinen Exkurs zu den Beziehungen zwischen den Esten und Deutschen machen, die auf eine sehr lange gemeinsame Geschichte zurückblicken können. Überall in Estland begegnet man deutschen Namen und wer genauer hinsieht Auch die Deutschen haben in Estland ihre Spuren hinterlassen, z.B. in der wird sich wundern, ehemaligen Hansestadt Tallinn. welche Fülle deutscher Fremdwörter Eingang in die strukturell ganz andersartige estnische Sprache gefunden hat. Im 12. Jahrhundert kamen die ersten Deutschen in das Baltikum und die Nachfahren dieser Ordensritter bildeten über Jahrhunderte die Oberschicht in Estland. Die unter der Bezeichnung Deutsch-Balten berühmt gewordene Minderheit übte einen starken 30 Einfluss auf die kulturelle und soziale Entwicklung im Land aus und an der Universität in Tartu war Deutsch lange Zeit Unterrichtssprache. Heutzutage ist die Zahl auf ca. 200016 zusammengeschrumpft, aber es ist eine Art kleiner Trendwende festzustellen. Denn es entsteht eine neue Generation von Deutschbalten und ich war manchmal verwundert, wie oft ich meine Muttersprache zur Verständigung benutzen konnte. Trotz der niedrigen Löhne ist in vielen estnischen Städten seit der Unabhängigkeit eine Deutsche Gemeinde entstanden und sie sind sehr gut in die Gesellschaft integriert. Oft arbeitet ein Familienmitglied noch in der Heimat oder es werden über das Internet Geschäfte abgewickelt, um sich ein angenehmes Leben leisten zu können. An der Universität werden deutsche Professoren meist über EU-Programme bezahlt und daher ist es für sie kein finanzieller Nachteil in Estland zu arbeiten. Auf meine Frage, warum es eine überraschend große Anzahl von Deutschen in den Nordosten Europas gezogen hat, hörte ich oft die Antwort, dass die Esten uns von der Mentalität sehr nahe stehen. Der lange kulturelle Einfluss hat sich auf das Wertesystem und die Tradition der estnischen Bevölkerung ausgewirkt und während der Besatzungszeit war das Sprichwort in aller Munde, dass die Esten die sowjetischen Befehle mit deutscher Pünktlichkeit ausführen. Auch mir ist aufgefallen, dass die Esten einen Hang zur Ordnung und zum Einhalten bestimmter Regeln haben, was sich nicht zuletzt am Staatshaushalt zeigt. Vielleicht ist diese Tatsache auch ein Grund, warum ich mich in Estland so wohl gefühlt habe und erst im Flugzeug zurück nach Düsseldorf-Weeze das erste Mal bewusst an die Heimat gedacht habe. Aber mich haben viele Facetten dieses Landes fasziniert und ich werde sicherlich wiederkommen. Ein Blick in die Zukunft - Herausforderungen und Potentiale bei der weiteren Integration in die EUBei meiner Reise durch Estland ist mir bewusst geworden, dass der vor ca. 25 Jahren angestoßene Transformationsprozess noch lange nicht als abgeschlossen zu bezeichnen ist. Dieser kleine baltische Staat arbeitet permanent an seinem Profil und durch den Beitritt zur EU und NATO im Jahre 2004 sind weitere Entwicklungsimpulse hinzugekommen. Um eine Prognose bezüglich der Fragestellung zu wagen, welchen Weg die Esten in Zukunft einschlagen werden, ist es hilfreich sich sowohl mit den Herausforderungen als auch mit den Potentialen zu beschäftigen, denen sich das Land in den kommenden Jahren stellen muss. Die Herausforderungen Zunächst ist festzuhalten, dass Estland in geografischer Hinsicht zwar eine wichtige Landmarke an der Grenze zu Russland darstellt, aber von der Fläche (45 200 km 2)17 16 http://www.deutschbalten.de/ Klaus Schameitat, Estland entdecken, S. 18 17 31 eher unbedeutend ist. Kleinen Staaten wird meist ein geringes politisches Gewicht auf internationaler Ebene zugeschrieben und außerhalb der eigenen Landesgrenzen sind sie oft unbekannt. Außerdem ist zu bedenken, dass die 1.4 Mio. Esten nicht dieselben Einflussmöglichkeiten in europäischen Institutionen haben wie bevölkerungsreiche Staaten. Daher kann auf viele Entscheidungsprozesse nur im sehr begrenzten Rahmen eingewirkt werden. Nichtsdestotrotz zeigen einige Länder wie z.B. Luxemburg, dass nicht zwangsweise ein Zusammenhang zwischen der Fläche und den Handlungsspielraum für Politiker bestehen muss. Das motiviert die Esten natürlich und daher ist es ihnen auch wichtig, keine unerfahrenen Abgeordneten nach Brüssel zu schicken, sondern kompetente und angesehene Persönlichkeiten. Das zeigt sich beispielsweise an der Besetzung der aktuellen Europäischen Kommission, wo von estnischer Seite Andrus Ansip vertreten ist und er sich als Vizepräsident und Kommissar um den Bereich „Digitaler Binnenmarkt“ kümmert. Bis April 2014 hat er als Premierminister an der Spitze der Regierung in seinem Heimatland gestanden und kann auf eine lange politische Laufbahn zurückblicken. Somit ist zu erkennen, dass die Präsenz auf europäischer Ebene für diese baltische Republik von großer Wichtigkeit ist und der geografische Nachteil so gut wie möglich ausgeglichen werden soll. Als eine weitere Herausforderung ist die bessere Integration der russischen Bevölkerung zu sehen. Zwar kommt es kaum zu offenen Konfrontationen zwischen den beiden Bevölkerungsgruppen, aber die Beziehungen sind von gegenseitigen Misstrauen und Nichtbeachtung geprägt. Es kann aber durchaus als eine Chance aufgefasst werden, dass sich allein aus demografischen Verhältnissen heraus in diesem Bereich in Zukunft viel verändern wird. Die alte Generation von Russen, die während der sowjetischen Besatzungszeit als Arbeiter nach Estland gekommen ist und kaum ein Wort Estnisch spricht, wird immer kleiner. Gleichzeitig steigt der Anteil der jungen Generation, die im Gegensatz zu ihren Eltern bereits im Kindergarten oder in der Schule die estnische Sprache lernt und daher einfacher in die Gesellschaft integriert werden kann. Um diesen Prozess zu unterstützen sollte die Regierung gezielte Maßnahmen ergreifen, um Barrieren zwischen Esten und Russen auf allen Ebenen abzubauen. Nicht vergessen werden darf die Problematik des Drogen- und insbesondere des Alkoholkonsums. Bei den Esten hat Alkohol einen ähnlichen Stellenwert wie in den skandinavischen Ländern und in allen Bevölkerungsschichten wird viel und gerne getrunken. Bei Feiern besteht oft mindestens die Hälfte des Buffets aus Getränken wie Bier, Wein, Wodka und Schnaps und der Geschmack spielt meist nur eine zweitrangige Rolle. Es scheint fast das Ziel zu sein, einen betrunkenen Zustand herbeizuführen. Sowohl auf offiziellen Empfängen als auch auf der Geburtstagsfeier der besten Freundin ist Besuchern und Einwanderern aus unterschiedlichen Ländern dieses Trinkverhalten aufgefallen. Es ist keine Seltenheit bereits am frühen Morgen viele Menschen, v.a. junge Männer, mit ihrer Bierflasche durch die Straßen wanken zu sehen. Natürlich ist dies ein Problem so gut wie jeder etwas größeren Stadt, aber in Estland erreichen die Ausmaße ein anderes Niveau. In Narwa ist mir dieses traurige Bild am meisten 32 aufgefallen, selbst bei vergleichsweise angenehmen Temperaturen und strahlend blauen Himmel. Jede Bank in Parks, Einkaufsstraßen und auf öffentlichen Plätzen war von einer Gruppe Jugendlicher bzw. junger Erwachsener belegt und um sie herum standen diverse Flaschen mit ihren „Suchtmittel“. Die erschreckend hohe Zahl an tödlichen Verkehrsunfällen muss in Zusammenhang mit dem Alkoholismus gesehen werden, da bei polizeilichen Kontrollen regelmäßig festgestellt wird, dass die Fahrer die Promillegrenze nicht beachten. Daher ist erklärbar, warum die Lebenserwartung der estnischen Männer lediglich bei 71,4 Jahren liegt, während im EU(28)-Durchschnitt ein Wert von 77,5 Jahren erreicht wird (Daten von 2012)18. Fast jeder meiner Gesprächspartner konnte mir von Freunden oder Bekannten berichten, die bereits einen schweren Unfall aus diesem Grund hatten. Mir wurde immer geraten bei Dunkelheit möglichst den Verkehr zu meiden und Reflektoren zu tragen, obwohl diese bei alkoholisierten Fahrern auch nur bedingt hilfreich sein dürften. Wie in den skandinavischen Ländern auch wird der übermäßige Alkoholkonsum u.a. auf die klimatischen Verhältnisse zurückgeführt, da diese Völker einen langen und kalten Winter Im Bildungssystem sind Einflüsse aus der sowjetischen Besatzungszeit auch noch überstehen heutzutage vorhanden. Die Teilnahme an sportlichen und musikalischen Wettkämpfen müssen. Es ist gehört fest zum Stundenplan von jedem Schüler. aber nichtsdestotrotz eine Aufgabe für die estnische Regierung Lösungsstrategien für diese Problematik zu entwerfen und entsprechende Maßnahmen einzuleiten. Vor einigen Jahren wurde bereits die Regelung eingeführt, dass zwischen 22.00 und 10.00 Uhr kein Alkohol mehr verkauft werden darf, aber der Erfolg dieses Gesetzes ist als niedrig einzustufen. Da ich in Tallinn unter der Woche das TSG (Tallinna Saksa Gümnaasium) besucht habe, konnte ich einen Einblick in den estnischen Schulalltag erhalten. Zunächst war ich beeindruckt von den Disziplin und der Leistungsbereitschaft der Schülerinnen und Schüler und fast täglich standen Olympiaden oder Wettbewerbe auf dem Programm. Die Lehrer der Deutschen Abteilung konnten meinen Eindruck nur bestätigen und im 18 http://wko.at/statistik/eu/europa-lebenserwartung.pdf 33 Gegensatz zu ihrem Berufsleben in der Heimat können sie sich hier fast ausschließlich auf den Unterricht konzentrieren. Disziplinarverfahren sowie Elterngespräche sind die absolute Ausnahme. Jedoch kann das Bildungssystem als ein zweischneidiges Schwert bezeichnet werden. Das Gewinnen von Goldmedaillen und Pokalen sowie das Auswendiglernen langer Vokabellisten innerhalb kürzester Zeit gehört nicht allein zu einer umfassenden Ausbildung und Werte wie kritisches Denken werden kaum vermittelt. Es ist fast als paradox zu bezeichnen, dass die Esten einerseits keine Mühen scheuen, um eine noch tiefere Integration in die westlichen Bündnissysteme zu erreichen und zugleich an alten Strukturen aus der Sowjetzeit festhalten. Denn dieses Leistungssystem mit dem ständigen Konkurrenzdruck und den unzureichend vorhandenen Freiraum zur persönlichen Entwicklung, wurde nach der Unabhängigkeit 1991 einfach fortgeführt. Die Esten sind stolz auf ihre junge Generation und über 80% schließen die Schulausbildung mit dem Abitur ab. Angemerkt sei aber, dass diese Prüfung nur bedingt mit den Leistungsanforderungen in einigen anderen europäischen Ländern zu vergleichen ist und es an der Universität oft zu Schwierigkeiten kommt. Vor dem Hintergrund der immer mehr zunehmenden Einflüsse aus der europäisch-amerikanischen Konsumgesellschaft ist im Bildungssystem ein Umbruch zu erwarten und es sollte dafür gesorgt werden, dass diese Entwicklung auf die richtigen Schienen gelenkt wird. Bei der Menge schwieriger Reformen, denen sich Estland seit 1990 unterzogen hat, wurde eines bisher nicht geschafft: eine Reform der staatlichen Verwaltung. Insgesamt wird das Land in 15 Landkreise und 226 Gemeinden unterteilt und der administrative Mehraufwand kostet jedes Jahr viel Geld. Als eine oder die zentrale Herausforderung für die Zukunft ist eindeutig die Bevölkerungsentwicklung zu sehen und diese Problematik wirft ihren Schatten bereits voraus. Mit 1.4 Mio. Einwohnern leben in Estland weniger Menschen als z.B. in Hamburg (1.8 Mio. Einwohner)19 und die Geburtenzahl sinkt immer weiter. Die Ursachen für diesen Prozess sind vielfältig, hängen aber alle miteinander zusammen. Beginnen wir die Analyse mit einem positiven Aspekt. Ein Blick auf den estnischen Staatshaushalt zeigt uns, dass das Land keine nennenswerten Schulen hat und in dieser Hinsicht eine Sonderstellung innerhalb Europas einnimmt. Möglich ist dies aber in erster Linie dadurch, dass die Gehälter auf einem extrem niedrigen Niveau liegen und Lehrer z.B. erhalten pro Monat lediglich um die 700 bis 800€. Es ist somit verständlich, dass viele junge und gut ausgebildete Esten besser bezahlte Arbeitsplätze im Ausland annehmen, obwohl es ihnen meist schwer fällt die Heimat zu verlassen. Sie hinterlassen eine große Lücke und der Mangel an Fachkräften wird von Tag zu Tag größer. Die Konsequenzen zeigen sich in vielen Bereichen. Der Gesundheitsbereich ist besonders hart betroffen und auf einen kleinen, recht unkomplizierten chirurgischen Eingriff müssen die Patienten oft mehrere Jahre 19 http://de.statista.com/statistik/daten/studie/164790/umfrage/einwohnerzahl-deutschermillionenstaedte/ 34 warten. Nicht unerwähnt bleiben darf die Tatsache, dass die Lebenserhaltungskosten mittlerweile westeuropäisches Niveau erreicht haben und daher die meisten Esten in mehreren Jobs gleichzeitig tätig sind. Hinzu kommt noch, dass der Sozialstaat nur ansatzweise vorhanden ist und somit viele Aufgaben von der Familie übernommen werden müssen, z.B. im Bezug auf die Versorgung alter Menschen, Kranker oder Arbeitsloser. Bemerkenswert ist, dass die meisten Esten mit ihren Leben sehr zufrieden sind, obwohl sie mit ständigen finanziellen Sorgen konfrontiert werden. Wenn Geld auf dem Konto ist, wird es auch ausgegeben und gespart wird nur bei äußerst kritischen Engpässen. Außerdem wird auf staatlicher Ebene das Geld bereits eng reguliert, sodass ein Großteil der Bevölkerung wenigstens Freiheit bei der Verwendung der eigenen Ressourcen habe möchte. Potenziale Ich bin mir sicher, dass ein Großteil dieser Herausforderungen in Zukunft in ein großes Potenzial umgewandelt werden kann, wenn sie von der estnischen Regierung ernsthaft in Angriff genommen werden. Es sei zuerst an die geografische Lage erinnert, denn durch die direkte Nachbarschaft zu Russland kann den Esten eine Schlüsselrolle als Vermittler zwischen den Machtblöcken im Osten und Westen zukommen. Angesichts der momentanen politischen Situation muss dieser Gedanke natürlich relativiert werden, aber in einigen Jahren können sich neue Entwicklungen abzeichnen. Auch aus dem Transithandel kann sicherlich verstärkt Profit gezogen werden und in dieser Hinsicht ist die enge Beziehung zu Finnland von zentraler Bedeutung. Außerdem bietet sich die Chance zu einem Vorzeigeland bezüglich Integration zu werden. Zwar existieren zurzeit noch große Barrieren zwischen den Teilen der russischen und estnischen Bevölkerung, aber der demografische Wandel bringt automatisch Veränderungen mit sich. Von staatlicher Seite sollte dieser Prozess aufmerksam verfolgt und unterstützt werden. Selbstverständlich muss auch die gut ausgebildete und leistungsorientierte junge Bevölkerung als ein Reichtum des Landes gesehen werden. Es muss ein zentrales Ziel der jetzigen und kommenden Regierung sein, den Brain-Drain zu stoppen, um mehr eigene wirtschaftliche Kraft in der baltischen Republik zu halten. Denn die jungen Esten verlassen ungern die Heimat und im Alter sowie in den Ferien kehren sie meist zurück. Aber aus finanziellen Gründen locken die Stellenangebote im Ausland und die sprachlichen Barrieren sind in der Regel relativ gering. Wie in zahlreichen anderen Ländern muss auch der Tourismusbereich als Entwicklungsfaktor aufgezählt werden und insbesondere der Besuch aus Finnland bringt viel Geld in das Land. Die Infrastruktur ist bereits sehr gut ausgebaut und es wird ununterbrochen an Verbesserungen gearbeitet. In jeglicher Hinsicht hat Estland viel für neugierige ausländische Gäste zu bieten, denn es gibt viele Rad- und Wanderwege, die Ostsee lädt im Sommer zum Baden ein und historische Städte wie Tallinn und Tartu sind über die Landesgrenzen hinaus bekannt. Abschließend möchte ich noch auf den Bereich „Neue Medien“ und die immer 35 häufiger verwendete Bezeichnung „E-Estonia“ eingehen. Bislang ist Estland der einzige Staat der Welt, der seinen Bürgern ein verfassungsgemäßes Recht auf einen kostenlosen Internetzugang garantiert und die digitale Revolution hat in zahlreichen weiteren gesellschaftlichen Bereichen Einzug erhalten. Als Estland 1991 unabhängig wurde, musste die Verwaltung, die Justiz und das Kommunikationssystem neu aufgebaut werden. Zu diesem Zeitpunkt besaß knapp die Hälfte der Esten überhaupt einen Telefonanschluss. Die estnischen Autoritäten dachten sich „statt aufholen lieber gleich überholen“ und so wurde 1997 das Programm „Tiigrihüppe“ ins Leben gerufen. Alle Schulen wurden an das Internet angeschlossen und Informationstechnologien als Mittel zur Modernisierung propagiert. Seit 2000 arbeiten die Abgeordneten im Riigikogu papierlos und daher sind alle Sitze im Parlament mit Laptops ausgestattet. Im Anschluss an jede Debatte haben interessierte Bürger die Gelegenheit den aktuellen Stand der Gesetzesentwürfe zu überprüfen und Verhandlungen können auch live verfolgt werden. Als erste Nation in Europa können die Esten seit 2005 bequem per Mausklick von Zuhause an Wahlen teilnehmen, aber dieses E-Voting ist umstritten und auch Experten bemängeln Sicherheitslücken. Röntgenbilder aller Im Riigikogu wird seit 2000 papierlos gearbeitet. Die Vorteile der „Neuen Patienten sind auf Medien“ wollen die Esten ausnutzen und haben dabei wenig Bedenken. einer staatlichen Datenbank gespeichert und den behandelnden Ärzten frei zugänglich. Mit dem elektronischen Personalausweis wurde 2002 ein weiterer Schritt in die moderne, digitalisierte Welt gewagt und die Einsatzmöglichkeiten sind enorm. Mit der ID-Karte können die Esten Behördengänge über das Internet erledigen, ihre Einkommenssteuererklärung einreichen, Bankgeschäfte tätigen, ein Busticket kaufen und vieles mehr. Bezüglich Datenschutz machen sich nur wenige Bürger Gedanken und es wird versucht, die digitalen Errungenschaften so effizient wie möglich einzusetzen. Der Alltag kann so erheblich einfacher gestaltet werden und jeder profitiert davon. Zwar erlebte Estland im April 2007 wie gefährliche eine große Vernetzung sein kann, als ein Hackerangriff aus Russland sämtliche staatliche Strukturen lahm legte. Aber es kam zu keiner deutlichen Bewusstseinsänderung und lediglich die NATO gründete als Reaktion das „Gemeinsame Exzellenzzentrum für Computer-Verteidigung“ in Tallinn, um sich auf eine mögliche neue Art der 36 Kriegsführung vorzubereiten. In wirtschaftlicher Hinsicht möchte Estland die Informationstechnologie auch als treibende Kraft für weiteres Wachstum ausnutzen und Forscher in diesem Bereich sind sehr erfolgreich. So wurde z.B. Hotmail oder auch Skype in einem Tallinner Vorort erfunden und hat für großes internationales Interesse gesorgt. Allerdings sind die meisten elektronischen Produkte und Dienstleistungen für Estland maßgeschneidert und nicht reif für eine Vermarktung auf der ganzen Welt. Weiterhin werden neue innovative Ideen meist von ausländischen Unternehmern aufgekauft, sodass die Errungenschaften aus diesem wirtschaftlichen und zukunftsweisenden Bereich den Esten kaum zu gute kommen. Ich bin mir sicher, dass sich Estland in den kommenden Jahren weiteren Umwandlungsprozessen unterziehen muss und diese aufgrund der guten Voraussetzungen in positiver Weise genutzt werden können. Somit kann diese kleine Nation auf europäischer Ebene und in den Institutionen der EU an Einfluss oder mindestens an Achtung gewinnen. Vor dem Hintergrund der immer noch anhaltenden Euro-Krise in einigen südeuropäischen Ländern wie Griechenland sollte das estnische System auch als ein Beispiel dienen, wie der Staatshaushalt nachhaltig verwaltet werden kann. Und auch anderen europäischen Staaten kann nur geraten werden, ab und zu einen Blick nach Nordosteuropa zu werfen, da sich dort ein Land mit vielen Potenzialen immer mehr entfaltet. 37 Fazit Einige Wochen sind vergangen seit meiner Rückkehr aus Estland. Ein guter Zeitpunkt, um noch einmal die vielen Bilder und Erfahrungen vor seinem inneren Auge vorbeiziehen zu lassen. Erst jetzt wird mir bewusst, wie sehr mich diese Reise geprägt hat und was ich durch meinen vierwöchigen Aufenthalt in diesem baltischen Land lernen durfte. Hinsichtlich meines Reisethemas „Estland, ein Land zwischen EU und Russland“ habe ich festgestellt, dass es nicht sinnvoll ist sich strikt auf seine Fragestellung zu beschränken. Natürlich sollte diese niemals aus dem Auge verloren werden, aber es ist wichtig immer offen für neue Erfahrungen zu sein. Recht schnell konnte ich feststellen, dass es nicht ausreicht zu untersuchen, ob sich die Esten eher an europäischen Werten orientieren oder ob sie vielleicht doch an die alten Zeiten des Kommunismus zurückdenken. Schon vor meiner Reise konnte ich ausschließen, dass sich das Land für intensive Beziehungen mit dem russischen Nachbarn interessiert. Und auch die Option mit der EU erschien mir nicht zutreffend. Zweifellos drängen die Politiker auf eine tiefere Integration in internationale Bündnissysteme, aber die Bevölkerung sehnt sich in erster Linie nach völliger Unabhängigkeit. D.h. weder Russland noch die EU sollten Vorschriften machen. Selbstständigkeit und Freiheit, das sind wichtige Werte, die es jederzeit zu verteidigen gilt und das wurde mir immer wieder bewusst. Als ich z.B. im TSG zu Besuch war, wurde ein sog. „Aktus“ veranstaltet (eine Zeremonie in der Schule, die dreimal pro Jahr abgehalten wird). Sowohl zum Anfang als auch zum Ende wurde unter dem Singen der Nationalhymne die estnische Flagge durch den Saal getragen und alle Schüler zeigten sich sehr patriotisch. Auch zu anderen Anlässen, wie beispielsweise den Unabhängigkeitstag oder zum Eröffnen von Feiern, wurde die Hymne gespielt und ich glaube, ich habe die Melodie schon fast so häufig gehört wie die deutsche Nationalhymne. Gespräche mit den unterschiedlichsten Personen bestätigten meine Annahme, dass die Esten stolz auf ihr Land sind, es selber regieren wollen und sich davor sträuben die Zügel aus der Hand zu geben. Abgesehen von dieser Erkenntnis konnte ich während der vier Wochen mal wieder feststellen, wie sehr die Interpretation einer Situation doch vom Individuum, seiner Sozialisation und seinen bisherigen Erfahrungen abhängt. Mittlerweile habe ich mich daran gewöhnt, immer kritisch mit den Informationen aus Nachrichten und anderen Medien umzugehen und wenn möglich selbst vor Ort gewesen zu sein, um eine persönliche Stellungnahme zu formulieren. Deshalb war ich bereits sensibilisiert, als ich mit meinen Rucksack und angelesenen Hintergrundwissen nach Estland aufbrach, um mein Gedankenkonstrukt zu überprüfen. Erwartungsgemäß musste ich mich einem kognitiven Umstrukturierungsprozess unterziehen, aber das war eine spannende und bereichernde Erfahrung. Jedoch ist mir aufgefallen, dass ich durch meine Position als Beobachterin der estnischen Gesellschaft einen ganzen anderen Blickwinkel auf die Entwicklungen im Land hatte als die Esten selber. Dank vieler Gespräche mit dem deutschen 38 Lehrpersonal des TSG und den Mitgliedern der deutschen Gemeinde von Tartu wurde mir klar, dass ich nicht alleine mit meiner Meinung stehe. Die Politikerklasse im Riigikogu teilt die Meinung der Bevölkerung, dass es ein Ziel jeder Regierung sein sollte, die Überbleibsel aus sowjetischer Zeit möglichst effizient zu beseitigen. Im politischen, wirtschaftlichen und auch im sozialen Bereich. Während es in den ersten beiden genannten Bereichen recht gut funktioniert hat, ist diese Abwendung im gesellschaftlichen Bereich erheblich schwerer. Den Esten ist selber z.B. nicht bewusst, dass ihr auf Leistung und Disziplin ausgerichtetes Bildungssystem noch ein Erbe aus der Sowjetzeit darstellt. Nein, sie sind vielmehr stolz darauf und melden ihren Nachwuchs gerne für die vielen Olympiaden und Wettkämpfe an. Die gewonnenen Medaillen und Pokale werden gut sichtbar im Haus präsentiert und es ist wichtig im Leben auf allen Ebenen Erfolg zu haben. Das ist nur eines von unzähligen Beispielen. Ich möchte damit andeuten, dass jedes Individuum auf dieser Welt Situationen auf eine andere Weise interpretiert. Jeder nimmt die Botschaften aus der Tagesschau oder der Frankfurter Allgemeine anders wahr, sowohl der Sender als auch der Empfänger. Jeder bewertet Vorfälle unterschiedlich, abhängig davon welchen kulturellen Hintergrund Der Internationale Frauentag wird in Estland jedes Jahr groß diese Person mit sich gefeiert. Ein „Überbleibsel“ aus sowjetischer Zeit. Lea, Beate und ich bekommen auf der Straße Bumen geschenkt. bringt. Diese Erkenntnis mag wenig spektakulär erscheinen, aber für mich persönlich ist sie doch wichtig und bestärkt mich in meinem Wunsch noch viele Regionen dieser Welt kennenzulernen. Mein Wertemaßstab und ebenfalls meine Definition vieler grundlegender Begriffe haben sich in den vergangenen Jahren sehr verändert und diese Entwicklung ist noch lange nicht abgeschlossen. lll öö Li Jetzt, wo gerade die Bilder des Tallinner Flughafens vor meinem inneren Auge vorbeiziehen, möchte ich mich herzlich bei der Schwarzkopf-Stiftung für die Möglichkeit bedanken, dass ich diese unvergesslichen Erfahrungen machen durfte. 39 Literaturverzeichnis Zur thematischen Vorbereitung meiner Reise habe ich viele Informationen im Internet, in Zeitschriften, Büchern und weiteren Medien gesammelt. Daher habe ich im Folgenden nur die Literaturquellen aufgeführt, aus denen ich auch Zitate entnommen habe. Außerdem habe ich sehr viele Daten und Informationen von meinen zahlreichen Gesprächspartnern erhalten. Neben vielen weiteren Personen sind v.a. zu nennen: -Herr Ulrich Wiegand (Leiter der Deutschen Abteilung am TSG) -Beate und Stephan Noe (Ehepaar aus Deutschland, lebt seit 2004 in Tartu) -Professor Janno Reiljan (Professor am Wirtschaftsinstitut der Universität von Tartu) -Professor Peter Friedrich (Professor am Wirtschaftsinstitut der Universität von Tartu) -Familie Erikson aus Karina Bücher -Frank, Alexandra: Estland, Handbuch für individuelles Entdecken. Reise Know-How, 2011 -Herre, Sabine: Gebrauchsanweisung für das Baltikum. München: Piper Verlag GmbH, 2014 -Knodt, Michèle: Die politischen Systeme der baltischen Staaten, eine Einführung. VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2012 -Mark, Rudolf: Die Völker der ehemaligen Sowjetunion: Die Nationalitäten der GUS, Georgiens und der baltischen Staaten, ein Lexikon. VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2012 -Schameitat, Klaus: Estland entdecken, Skandinavische Impressionen im nördlichen Baltikum. Berlin: Trescher-Reihe Reisen, 2005 -Tuchtenhagen, Ralph: Geschichte der baltischen Länder. C.H. Beck, 2008 Internetseiten -http://wko.at/statistik/eu/europa-lebenserwartung.pdf -http://de.statista.com/statistik/daten/studie/164790/umfrage/einwohnerzahldeutscher-millionenstaedte/ -http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/eurokrise/waehrungseinfuehrung-der-eurokommt-nach-estland-wie-der-schnee-1572721.html -http://de.wikipedia.org/wiki/Grenze_zwischen_Estland_und_Russland -http://www.n-tv.de/politik/Obama-sichert-Baltikum-ewigen-Beistand-zuarticle13540216.html -http://www.en.europeonline-magazine.eu/die-russische-minderheit-inestland_379491.html -http://www.deutschbalten.de/ -http://www.roedl.com/fileadmin/user_upload/Roedl_Lithuania/Newsletter/Baltikumsbrief- Unternehmenskommunikation_Roedl-Partner-20130131.pdf 40 Danksagung Obwohl es unmöglich ist allen zu danken, die mir vor, während und auch nach meiner Reise ihre Freundschaft bekundet und Hilfe angeboten haben, möchte an dieser Stelle einige Personen erwähnen, die für die Realisation meines Projektes unverzichtbar waren. An erster Stelle möchte ich der Schwarzkopf-Stiftung ein herzliches Dankeschön aussprechen, da das Stipendium die Grundvoraussetzung für meine Reise war. Ich bin nach wie vor von der Idee begeistert, jungen Erwachsenen die Möglichkeit zu bieten, im Ausland eigenständig Erfahrungen zu sammeln. Meinen Gastgeberinnen und Gastgebern in Estland bin ich sehr dankbar für die Gelegenheit, dass ich einen tiefen, authentischen und unvergesslichen Einblick in das estnische Alltagsleben nehmen konnte. -In Tallinn: Anneli Tombak -In Tartu: Stephan, Beate und Lea Noe -In Kadrina: Familie Erikson Insbesondere Külli Erikson hat mir bei meinen Planungen sehr geholfen, auch in sehr schwierigen Situationen. Dank Herr Ulrich Wiegand war es möglich, dass ich das estnische Schulsystem kennenlerne und viele interessante Erfahrungen sammeln konnte. Außerdem hat er mir viel von seinen persönlichen Eindrücken berichtet, denn er beobachtet die Entwicklungen in Estland sehr genau. Durch die Gespräche mit Professor Reiljan, Friedrich und Tulviste konnte ich nicht allein meine thematischen Kenntnisse bezüglich meines Reisethemas erweitern, sondern auch spannende Menschen kennenlernen. … Diese Liste könnte ich noch beliebig lange fortsetzen. 41