Muttersprachlicher Unterricht

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Muttersprachlicher Unterricht
Ulrich Steinmüller
Muttersprachlicher Unterricht ausländischer Schüler
In: Ausländerkinder. Forum für Schule & Sozialpädagogik 23, 1985, Hrsg.
Forschungsstelle Ausländische Arbeiterkinder an der PH Freiburg. S. 5 – 17.
Bedeutung der Muttersprache für die Entwicklung des Kindes
Die Beschulung ausländischer Kinder an deutschen Schulen muß der Tatsache
Rechnung tragen, daß es nicht gleichgültig ist, in welcher Sprache ein Kind die
wesentlichen Phasen seiner psychischen, seiner kognitiven und seiner sozialen
Entwicklung durchläuft. In der Phase der primären Sozialisation, dem
Lebensabschnitt also, in dem sowohl die Grundlagen für die Entwicklung einer
stabilen Persönlichkeit als auch für die Eingliederung in die umgebende
Gesellschaft gelegt werden, kommt dem Spracherwerb eine zentrale Bedeutung zu.
Aber er erschöpft sich nicht in dem Erwerb der formalen Strukturen der Sprache wie
z.B. der Regeln der Wortbildung, syntaktischer Strukturen oder kommunikativer
Strategien. Diese Strukturen sind zwar erforderlich, um Sprache als Medium der
Kommunikation mit der Umwelt und des begrifflichen Denkens verwenden zu
können, im Prozeß des Spracherwerbs werden aber auch Inhalte, Erfahrungen,
Gefühle usw. vermittelt, die für das Kind mit dieser Sprache bzw. durch die Sprache
mit den Personen verbunden sind, durch die es sie erfährt (KLANN-DELIUS).
Damit ist der Erwerb von Sprache eng mit den affektiv-emotionalen, den kognitiven
und den sozialen Aspekten der Persönlichkeitsbildung verbunden und stellt so ein
wesentliches Element für die weitere Entwicklung des Kindes dar. Eine
Unterbrechung dieses Erwerbsprozesses, ehe eine relative Stabilität erreicht ist,
kann zu schwerwiegenden Störungen in der Entwicklung des betroffenen Kindes
führen, Störungen, von denen sowohl der kognitive Aspekt, der emotional-affektive
und der soziale Aspekt der Persönlichkeit betroffen sein können (TOUKOMMAA
und SKUTNABB-KANGAS).
Für die große Mehrzahl der ausländischen Kinder an deutschen Schulen tritt eine
solche Unterbrechung ein: nur etwa 30 % der
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in die erste Klasse eingeschulten Kinder ausländischer Arbeiterfamilien haben eine
vorschulische Einrichtung besucht, in der sie bereits mit der deutschen Sprache in
Kontakt gekommen sind; für mehr als zwei Drittel bedeutet der erste Schultag
zugleich den ersten intensiven Kontakt mit der deutschen Sprache - von den
Normen und Anforderungen der deutschen Schule ganz zu schweigen. Bis zum
Schuleintritt sind zwar die grundlegenden syntaktischen Strukturen der
Muttersprache erworben, im Bereich der Begriffsbildung, d.h. der gedanklichen
Handhabung, Verarbeitung und Ordnung von Erfahrungen, Eindrücken und
Informationen sind aber noch wesentliche Entwicklungsschritte erforderlich
(WYGOTSKI, STEINMÜLLER (b)). Wenn nun in diesem Entwicklungsstadium der
Unterricht, d.h. die Übermittlung von Informationen, die Vermittlung von Wissen in
der Sprache einsetzt, die das Kind überhaupt erst erlernen soll, so führt das zu
Konsequenzen sowohl bei der weiteren Entwicklung der Muttersprache als auch
beim Erwerb der Zweitsprache. Die Begriffsbildung in der Muttersprache wird
verzögert, da ihre Entwicklung nur im außerschulischen Bereich stattfinden kann,
entweder in der Kommunikation mit Gleichaltrigen oder mit den Eltern. Auf diese
Weise findet zwar auch eine Weiterentwicklung statt, sie muß aber ohne die
Förderungsmöglichkeiten auskommen, die der Unterricht für deutsche Kinder
bedeutet. Das schulische Wissen bleibt für das ausländische Kind in dieser Phase
außerhalb seiner Muttersprache und der dort ablaufenden Begriffsbildung. Das
kann dazu führen, daß selbst bei günstigen Bedingungen und erfolgreichem Erwerb
von Ausdrucksmitteln in der Zweitsprache zwei Begriffssysteme entstehen, deren
Elemente, Kategorien und Systematik unvermittelt neben einander stehen. Der
Erwerb neuer Erkenntnisse durch das Kind, der gleichzeitig auch eine Einordnung
dieser in das System bereits vorhandener Erkenntnisse und Begriffe bedeutet, wird
hierdurch behindert, vor allem auch dann, wenn der Lehrer dieser Kinder keinen
Einblick in den in der Muttersprache erreichten Stand der Sprach- und Begriffsentwicklung hat. Für die betroffenen Kinder führt das zu einer Desorientierung,
deren Resultate neben schulischem Versagen häufig Identitätsprobleme und
Konflikte in der psychischen Entwicklung sind (ÖKTEM).
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CUMMINS kommt zu der Aussage, daß der Grad des Erwerbs einer Zweitsprache
mindestens teilweise abhängig ist von dem Entwicklungsstand der Muttersprache,
den das Kind zu dem Zeitpunkt erreicht hat, zu dem es mit der Zweitsprache
konfrontiert wird. Der wichtigste Gedanke hierbei ist, daß die in der Muttersprache
bereits erworbenen Kenntnisse über Sprache und die Lebenswelt/ Erfahrungen des
Kindes bei der Aneignung der Zweitsprache dann hilfreich sind, wenn sie bereits
eine gewisse Stabilität erreicht haben; der Entwicklungsstand der Muttersprache
kann damit zu einer Begrenzung des Zweitsprachenerwerbs werden; und
umgekehrt kann der Zweitspracherwerb von der Entwicklung der Muttersprache
profitieren (CUMMINS).
Das Recht auf Erwerb und Entwicklung der Muttersprache
Aus der Sicht der Betroffenen ist diese Betrachtung der Muttersprache allerdings zu
funktionalistisch und - trotz der richtigen Betonung der Muttersprache - zu sehr von
den Interessen der gesellschaftlichen und sprachlichen Majorität ausgehend: Förderung der Muttersprache, um die Zweitsprache besser zu lernen. Unberücksichtigt
bleibt bei dieser Sichtweise die Bedeutung, die die Muttersprache für die psychische
Entwicklung des Kindes hat, für die Möglichkeit der Identifikation mit der eigenen
Herkunft und der eigenen Kultur und damit für die Ausprägung einer emotional und
psychisch stabilen Persönlichkeit (KLANN-DELIUS, ÖKTEM).
Für ausländische Kinder in Deutschland ergibt sich daher, weil ein Verzicht auf die
Muttersprache nicht möglich und auch gar nicht erwünscht ist, ein Zwang zur
Zweisprachigkeit. Es ist gar nicht ihre Entscheidung oder die ihrer Eltern, ob sie
zweisprachig werden wollen, sondern ihre Lebensumstände als sprachliche und
kulturelle Minorität zwingen sie dazu.
Ich will hier nicht auf die verschiedenen Beschreibungs- und Interpretationsmuster
für Zweisprachigkeit eingehen, die die Sprachwissenschaft inzwischen entwickelt
hat, ich möchte aber ein paar Aspekte ansprechen, die diese spezielle Form der
Zweisprachigkeit kennzeichnen:
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Es handelt sich bei den ausländischen Kindern in Deutschland nicht um eine
"natürliche" Zweisprachigkeit, d.h. sie entsteht nicht im Kontext der Familie etwa bei
Eltern mit unterschiedlicher Muttersprache (YLETYINEN), sondern um eine, die
unter dem Zwang der Lebensbedingungen entsteht und bei der eine Aufteilung in
Domänen charakteristisch ist: Bestimmte Lebensbereiche sind mit der einen
Sprache, andere Lebensbereiche sind mit der zweiten Sprache verbunden. So wird
z.B. die Muttersprache des Kindes im affektiv-emotionalen Bereich verwendet, also
z.B. in der Familie, mit Freunden und Verwandten. Deutsch ist die öffentliche
Sprache z.B. in der Schule, beim Einkaufen, beim Gang zu Behörden. Eine
Verbindung zwischen beiden Bereichen findet höchstens in Ansätzen statt.
Erschwert wird diese Aufteilung noch dadurch, daß zwischen den Sprachen, um die
es sich bei den "Gast"-Arbeiterkindern handelt, ein Gefälle im Sozialprestige
besteht: Von der sprachlichen Mehrheit, d.h. der umgebenden deutschen
Gesellschaft wird z.B. Deutsch höher eingeschätzt als Türkisch, die Beherrschung
der einen Sprache ist mit mehr Prestige versehen als die der anderen.
Daraus resultiert eine "Konfliktzweisprachigkeit" (Stölting), denn die Kinder sind
gezwungen, die Sprache der Bevölkerungsgruppe zu erlernen, die sie und ihre
eigene Sprache ablehnt, trotz der auch mit dieser Sprache vermittelten
konfligierenden Werte, Normvorstellungen und Erwartungshaltungen und der damit
verbundenen Entfremdung vom Elternhaus. Durch die alleinige Funktion der
deutschen Sprache in der Schule kann man überspitzt formulieren, daß die
Entfremdung vom Elternhaus zum Programm der deutschen Schule gehört.
Die Entwicklung in der Erstsprache der Kinder wird also nicht gefördert, ihre
Verwendung bleibt auf wenige Domänen beschränkt. Gleichzeitig fehlt es aber an
einer wirklich durchgreifenden Vermittlung und Förderung der Zweitsprache, wie
jeder, der mit ausländischen Kindern und Jugendlichen zu tun hat, bestätigen kann.
Die Folge hiervon ist das, was als "doppelte Halbsprachigkeit" bezeichnet wird:
Keine der beiden Sprachen wird so erworben und entwickelt, daß sie als
differenziertes, vielfältig einsetzbares Medium von Kognition und Kommunikation
eingesetzt werden kann.
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Gesellschaftlich ist die Zweisprachigkeit der ausländischen Kinder nicht als
Bereicherung und kultureller Wert anerkannt, wie das bei der sogenannten
"Elite-Zweisprachigkeit" der Fall ist, also etwa bei Englisch oder Französisch als
zweite Sprache, sondern es besteht ein Assimilationsdruck in Richtung auf eine
Einsprachigkeit. Untersuchungen in klassischen Einwanderungsländern wie
Australien oder USA haben gezeigt, daß unter diesen Bedingungen der Verlust der
Erstsprache sich in der zweiten Auswanderer-Generation anbahnt und in der dritten
vollzogen wird. Die hieraus resultierenden Kommunikationsstörungen innerhalb der
Familie und zwischen den Generationen haben tiefgreifende Auswirkungen auf die
Entwicklung des Individuums wie auch auf die Funktion der Familie als
gesellschaftlicher Institution. Haas spricht von einem "durch institutionalisierten
Zwang hervorgerufenen Bruch mit dem Elternhaus" (HAAS) bei den betroffenen
Kindern und Jugendlichen, ohne daß die deutsche Gesellschaft für die Folgen
dieses von ihr ausgeübten Zwangs wirklich einträte.
Bildungspolitik und Zweisprachigkeit
Es gibt verschiedene Formen, bildungspolitisch mit der Zweisprachigkeit
umzugehen. Sie reichen von ihrer Einschätzung als Bereicherung von Individuum
und Gesellschaft sowie als erstrebenswertes Kulturgut über ihre schlichte
Zurkenntnisnahme und Akzeptierung bis hin zu dem bei uns zu beobachtenden
Assimilationsdruck in Richtung auf Einsprachigkeit in der Zweitsprache. Je nach
bildungspolitischer Gewichtung variiert die schulische Behandlung der beteiligten
Sprachen:
1.) intensive Sprachförderung in beiden Sprachen, wobei beide sowohl
Unterrichtsfach als auch Unterrichtssprache sind,
2a.) Berücksichtigung der Erstsprache als Unterrichtsfach undVerwendung der
Zweitsprache als Unterrichtssprache in allen anderen Fächern oder
2b.) Zweitsprache als Unterrichtsfach und Erstsprache als Unterrichtssprache in
allen anderen Fächern (= Fremdsprachenunterrichts) sowie
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3.) die bei uns übliche Variante von Zweitsprache als Unterrichtsfach und als
Unterrichtssprache unter weitestgehender Ausschaltung der Erstsprache.
Das Recht ausländischer Kinder in der Migrationssituation auf Erhaltung und
Entwicklung ihrer Muttersprache ist inzwischen wenigstens bildungspolitisch
anerkannt worden. Dem Anspruch hierauf wurde im Rahmen der Europäischen
Gemeinschaften mit dem Erlaß der "Richtlinie des Rates über die schulische
Betreuung der Kinder von Wanderarbeitnehmern vom 25. Juli 1977“ Rechnung
getragen. Die Realisierung dieses Erlasses variiert allerdings innerhalb der Länder
der EG stark:
- in Dänemark als freiwilliges Schulfach außerhalb des Kanons;
- in Großbritannien in Abhängigkeit von der Entscheidung der Schule und des
Schulträgers als Unterrichtssprache;
- in den Niederlanden in Experimentierschulen als Unterrichtssprache (APPEL) und
als freiwilliger Zusatzunterricht außerhalb der Schule.
In der Bundesrepublik Deutschland hat die Bundesregierung zwar auch die
EG-Richtlinie übernommen, ihre Verwirklichung unterliegt allerdings der Kompetenz
der einzelnen Bundesländer für das Bildungswesen. Daher ist hier ein weites
Spektrum von verschiedenen Möglichkeiten zu beobachten; es reicht von rein
muttersprachlichen Klassen (in Bayern) über die Etablierung als Unterrichtsfach an
Modellschulen anstelle der ersten bzw. der zweiten Fremdsprache (z.B. in Berlin),
als Unterrichtsfach und Unterrichtssprache in zweisprachigen Erprobungsklassen (in
Niedersachsen) bis zu freiwilligem Zusatzunterricht außerhalb des Lehrplans und
außerhalb der Schulaufsicht der deutschen Schule. Darüber hinaus ist durchgängig
die funktionalistische Betrachtung der Muttersprache zu beobachten, indem sie in
sogenannten Vorbereitungsklassen eingesetzt wird, um die ausländischen Kinder
möglichst schnell auf einen Unterricht in der Zweitsprache Deutsch vorzubereiten.
Der Bedeutung der Muttersprache für die Entwicklung der Kinder werden diese
verschiedenen Formen ihrer Berücksichtigung höchstens in Ansätzen gerecht.
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Um die Muttersprache ausländischer Kinder im Rahmen der deutschen Schule
angemessen zu berücksichtigen, gibt es bereits eine Anzahl von Vorschlägen und
Modellen, die sowohl die Muttersprachliche Alphabetisierung als auch die
Etablierung eines muttersprachlichen Unterrichtsfaches und die Berücksichtigung
der Muttersprache als Unterrichtssprache vorsehen (z.B. OKYAY). Eine Betonung
der Muttersprache darf aber keinesfalls zu einer weiteren Isolierung der
ausländischen Schüler führen. Es muß daher davor gewarnt werden, daß das Recht
auf die Muttersprache mit der Segregation bezahlt werden könnte.
Definition des Begriffs Muttersprache
Die Bedeutung des Wortes "Muttersprache" ist alles andere als eindeutig. Nur in
einsprachigen Gesellschaften - die im übrigen sehr selten sind, man
vergegenwärtige sich allein die Länder mit sprachlichen Minderheiten in West- und
Mitteleuropa - und auch dort nur unter Vernachlässigung der oft stark ausgeprägten
Dialektunterschiede, kann man davon sprechen, daß die Muttersprache eines
Kindes mit der Staats- oder Nationalsprache identisch sei. Dies gilt bereits dort nicht
mehr, wo es verschiedene Staatssprachen innerhalb eines Landes gibt (z.B. Belgien,
Jugoslawien), und es gilt nicht in Ländern, in denen verschiedene Nationalitäten
leben, auch wenn sie nicht als solche anerkannt sind (z.B. Kurden, Armenier,
Griechen, Araber in der Türkei).
Zu dieser Mehrsprachigkeit der Gesellschaft kann auch noch die Mehrsprachigkeit
innerhalb der Familie kommen und die Frage nach der Muttersprache eines Kindes
komplizieren. Welches ist z.B. in einer italienisch-deutschen, in einer
jugoslawisch-griechischen, in einer englisch-französischen Familie, die im
Herkunftsland des einen Elternteiles lebt, die Muttersprache eines Kindes? Wird es
immer die Sprache der Mutter sein? In vielen Fällen wird es die Sprache der
umgebenden Gesellschaft sein, die sich der jeweils anderssprachige Elternteil als
weitere Sprache angeeignet hat oder sich anzueignen versucht. Dies wird noch
deutlicher bei Migrantenfamilien, bei denen die Eltern eines Kindes aus
verschiedenen Herkunftsländern stammen: Welches ist die Muttersprache eines
Kindes mit italienischer Mutter und jugoslawischem Vater, für die beide Deutsch die
gemeinsame Sprache und damit die Sprache
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der Familie ist? Der Terminus "Muttersprache" kann also sehr verwirrend sein und
unter Umständen der sprachlichen Situation eines Kindes gar nicht entsprechen.
Sinnvoll erscheint es hingegen, als Muttersprache diejenige Sprache zu bezeichnen,
die für die Entwicklung des Kindes die bedeutsamste ist. Unter unterschiedlichen
Bedingungen können sich dabei sehr verschiedene Befunde ergeben und
Muttersprache im Sinne von "Sprache der Mutter" völlig in den Hintergrund treten
lassen. In Skandinavien und in Großbritannien trägt man dem dadurch Rechnung,
daß seit einiger Zeit der in einschlägigen Untersuchungen bisher übliche Terminus
„mothertongue“durch den Terminus „home language“ ersetzt wird.
T. SKUTNABB-KANGAS hat eine Matrix entwickelt, in der Faktoren genannt sind,
die für die Entscheidung, was die "erste Sprache" eines Kindes ist, wichtig sind;
"erste Sprache" muß dabei keinesfalls nur zeitlich gemeint sein:
Faktoren
Sprache
Herkunft
die zuerst gelernte Sprache
Sprachkompetenz
die am besten beherrschte Sprache
innerliche
Einstellung
die Sprache, mit der sich der Sprecher selbst identifiziert
äußere
Zuschreibung
die Sprache, von der andere vermuten, daß sie die eigentliche
Sprache des Sprechers sei
Funktion
die am meisten verwendete Sprache
In Ergänzung des Faktors "Herkunft" muß jedoch darauf hingewiesen werden, daß
nur bei Kindern, die bereits in sprachfähigem Alter mit ihren Eltern migrierten, mit
einiger Sicherheit die/eine Sprache des Herkunftslandes als "zuerst gelernte
Sprache" angenommen werden kann. Bei jüngeren Kindern der gleichen Familie
kann die als erste gelernte Sprache durchaus von der Sprache des Herkunftslandes
der Eltern verschieden sein. Es kann daher sehr wohl der Fall auftreten - vor allem
auch unter Berücksichtigung der übrigen Faktoren -, daß innerhalb einer
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Familie verschiedene "Muttersprachen" zu beobachten sind. Eine Entscheidung über
die Muttersprache eines Kindes allein auf der Grundlage der Nationalität seiner
Eltern kann daher zu völlig falschen Ergebnissen führen.
Eine Betonung der Muttersprache darf aber keinesfalls zu einer weiteren Isolierung
der ausländischen Schüler führen. Die Forderung nach muttersprachlichem
Unterricht kann zu ganz verschiedenen Ergebnissen führen, zur Segregation ebenso
wie zur Integration. Es muß daher davor gewarnt werden, daß das Recht auf
muttersprachlichen Unterricht mit der Segregation in nationalen Klassen oder gar
Schulen bezahlt werden könnte. Der gemeinsame Unterricht mit den deutschen
Schülern muß die Regel sein, wenn das Ziel der sozialen Handlungsfähigkeit in
unserer Gesellschaft und des gleichberechtigten Zusammenlebens mit Deutschen
nicht aufgegeben werden soll. Beschulungsmodelle, die zu einer - wenn auch nur
befristeten - Segregation führen, müssen daher mit Skepsis betrachtet werden. In
der Regel gehen sie gerade zu Lasten der sozialen Handlungs- und der
Kooperationsfähigkeit der betroffenen Schüler.
Folgerungen
Die Etablierung der jeweiligen Muttersprache ausländischer Kinder als reguläres
Unterrichtsfach in der deutschen Schule dürfte noch die geringsten Probleme
verursachen; hier sind die zuständigen Schulbehörden aufgefordert, durch den
Einsatz entsprechend ausgebildeter Lehrer einen solchen Unterricht zu
gewährleisten. Die politische Verpflichtung hierzu ist die Bundesregierung mit ihrer
Zustimmung zur EG-Richtlinie über die schulische Betreuung ausländischer Kinder
bereits 1977 eingegangen. Die Einlösung dieser Verpflichtung muß eingefordert
werden. Ein Verweis auf den Konsulatsunterricht kann hier nicht genügen, da dort
z.Zt. in Berlin nur 12 % der türkischen Schüler teilnehmen (vgl. die Antwort des
Senators für Schulwesen auf die Kleine Anfrage Nr. 3121 vom 25.01.1984) Hier ein
Desinteresse der betroffenen Ausländer zu vermuten, wäre abwegig, da eine
Vielzahl von Gründen diese geringe Teilnahme erklären können. Größere
Schwierigkeiten sehe ich hingegen dort, wo es erforderlich ist, die ausländischen
Muttersprachen als Unterrichtsspra[Ende Seite 13]
chen zu akzeptieren. Dies wäre nicht erforderlich, wenn alle ausländischen Kinder
vom Beginn ihres Spracherwerbs an zweisprachig aufwüchsen. Ein solcher
Spracherwerb, der Kindern in zweisprachigen Familien oder unter besonders
privilegierten Sozialisationsbedingungen möglich ist, dürfte in der derzeitigen
gesellschaftlichen Situation von Familien ausländischer Arbeiter wohl kaum häufig
anzutreffen sein.
Es spricht einiges dafür, daß eine echte Zweisprachigkeit auch noch zu erreichen ist,
wenn der Erwerb der zweiten Sprache bei entsprechender Förderung mit dem
Beginn der Vor-Schulzeit einsetzt. Um hier einen positiven Verlauf des
Spracherwerbs zu gewährleisten, ist es allerdings erforderlich, daß mehr als nur
30 % der ausländischen Kinder, wie es bisher der Fall ist, vorschulische
Einrichtungen mit entsprechenden Förderungsmöglichkeiten besuchen und daß sie
dort in ausreichendem Maße von deutschen Erziehern und solchen aus dem
jeweiligen Herkunftsland ihrer Eltern betreut werden. Eine Gleichstellung der
verschiedenen Sprachen ist dann auch hier erforderlich. Selbst wenn eine solche
Betreuung der ausländischen Kinder für die Zukunft durchgesetzt werden könnte,
kann man nicht davon ausgehen, daß alle ausländischen Kinder den deutschen
Einrichtungen anvertraut werden, und es wären auch nicht die Probleme der
Kinder gelöst, die bereits über dieses Alter hinaus sind. Die Anerkennung der
Herkunftssprachen als Unterrichtssprachen ist daher zur Zeit und mindestens für die
überschaubare Zukunft notwendig. Es müssen also Organisationsformen für den
Unterricht gefunden werden, die im Rahmen eines gemeinsamen Klassenverbandes
von Deutschen und Ausländern den ausländischen Schülern
1. den Erwerb des Deutschen in Form eines ihrer Entwicklungsstufe angemessenen
Sprachunterrichts,
2. die Verwendung ihrer Muttersprache als Unterrichtssprache und
3. die Entwicklung ihrer Muttersprache im Rahmen eines Unterrichtsfaches mit
entsprechendem Curriculum ermöglichen.
Darüber hinaus müssen durch gemeinsamen Unterricht von deutschen und
ausländischen Schülern Situationen und Anlässe geschaffen werden, durch die der
schulisch gesteuerte Spracherwerb durch ungesteuerte, sogenannte "natürliche",
Kommunika[Ende Seite 14]
tion ergänzt und gestützt werden kann.
Für die konkrete Organisation des Unterrichts und seine inhaltlich/sprachliche
Gestaltung bedeutet das:
1. Deutsche und ausländische Schüler werden mit dem Ziel der gleichen
Qualifikation gemeinsam unterrichtet.
2. Ausländische Schüler werden - soweit ihre sprachlichen Fähigkeiten es erlauben von Anfang an in Deutsch als Unterrichtssprache und ihrer Muttersprache als
Unterrichtsfach unterrichtet; dabei ist darauf zu achten, daß im Fachunterricht
mindestens der Fachwortschatz zweisprachig vermittelt wird.
3. Für ausländische Schüler, deren Deutschkenntnisse nicht für eine erfolgreiche
Teilnahme am Unterricht ausreichen, wird die Muttersprache als Unterrichtssprache
verwendet, mit dem Ziel, sie nach möglichst kurzer Zeit in die Regelklassen
eingliedern zu können; das impliziert eine intensive Förderung des
Zweitspracherwerbs, und es kann eine Alphabetisierung in der Muttersprache
bedeuten.
4. Die Muttersprache als Unterrichtsfach tritt zum gegebenen Zeitpunkt an die Stelle
der ersten bzw. zweiten Fremdsprache.
Ich will nicht leugnen, daß diesen Forderungen beachtliche Schwierigkeiten
entgegenstehen, die allerdings nicht unlösbar sind. Eine prizipielle Schwierigkeit ist,
wie ich selbst dargestellt habe, die Bestimmung der Muttersprache der Kinder. Hier
nur nach dem Paß und der Nationalität der Eltern zu entscheiden, kann im Einzelfall
zur völligen Verkennung der Situation führen; Entscheidungen sind hier nur nach
ausreichender Informierung von Lehrern und Eltern gemeinsam zu treffen.
Eine weitere Schwierigkeit, die sich auch aus der Frage der Muttersprache ergibt,
besteht in der Vielzahl von Muttersprachen. Das Recht auf Unterricht in der
Erstsprache kann nicht nur der zahlenmäßig größten oder der am lautstärksten
fordernden Gruppe zugestanden werden. Damit ist aber dann auch klar, daß nicht an
jeder Schule alle Muttersprachen vertreten sein können; Forderungen danach sind
gegenwärtig illusorisch. Die Konsequenz daraus kann dann eine Bildung von
Schwerpunkten für den Unterricht einzelner Sprachen sein, wobei dann
schulorganisatorische Schwie[Ende Seite 15]
rigkeiten auftauchen können. In England versucht man hier mit der Konstruktion des
„Wanderlehrers“ zu operieren, einem Lehrer also, der an mehreren Schulen
nacheinander den entsprechenden Unterricht erteilt. Eine Alternative wäre die
Konzentration von Schülern an bestimmten Schulen für den betreffenden Unterricht.
In jedem Falle aber müssen entsprechend qualifizierte Lehrer und geeignete
Unterrichtsmaterialien vorhanden sein, schon um zu verhindern, daß allein aus
Mängeln in diesem Bereich z.B. der Unterricht in Serbo-Kroatisch gegenüber dem
Französischunterricht als minderwertig angesehen wird.
Im schulorganisatorischen Bereich ist es erforderlich, daß die einzelne Schule und
das jeweilige Kollegium mehr Entscheidungsspielraum erhalten, wie es z.B. ebenfalls
in England der Fall ist. Dann nämlich können "vor Ort" individuelle Entscheidungen
getroffen werden, die unmöglich oder nur sehr schwer zu verwirklichen sind, wenn
sie auf alle möglichen denkbaren Fälle und auf alle Schulen in allen Bezirken
zutreffen sollen. Ein mögliches Modell könnte hier die Zusammenfassung mehrerer
Klassen zu größeren organisatorischen Einheiten sein, innerhalb derer dann je nach
Schülerzusammensetzung und Unterrichtsfach flexibel differenziert und
untergruppiert werden kann. Auch Formen der Unterrichtsorganisation, wie sie an
der 2.O. (Gesamtschule) Kreuzberg und an der 1.O. (Gesamtschule) Tiergarten
entwickelt und erprobt werden, könnten in diese Überlegungen einbezogen werden
oder auch binnendifferenzierende Maßnahmen und Formen des "offenen
Unterrichts", wie sie z.B. an der Klee-Grundschule in Tempelhof oder auch an der
Storm-Grundschule in Neukölln unter dem Schlagwort "Lerngelände" praktiziert
werden (HAMMELMANN) .
Prinzipiell ist die pädagogische Phantasie gefordert, um das einzulösen, was
politisch zugesagt ist und als grundlegendes Recht eingefordert wird: die Erhaltung
und Pflege der eigenen Muttersprache jedes Menschen.
[Ende Seite 16]
Literatur
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49 (2)
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HAMMELMANN, Inge: Im Mittelpunkt die Kinder. In: Erziehung und Wissenschaft 3,
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WYGOTSKI, Lew S. (1969): Denken und Sprechen. Frankfurt/Main
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Schweden und der Bundesrepublik Deutschland. Ein minderheiten- und
bildungspolitischer Vergleich. Frankfurt/Main
[Ende Seite 17]