Leseprobe - Wilhelm Fink Verlag

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Leseprobe - Wilhelm Fink Verlag
Mülder-Bach · Ott (Hg.)
Was der Fall ist
ANFÄNGE
herausgegeben von
AAGE A. HANSEN-LÖVE
INKA MÜLDER-BACH
Inka Mülder-Bach · Michael Ott (Hg.)
WAS DER FALL IST
Casus und lapsus
Wilhelm Fink
Diese Publikation ist im Rahmen der Forschergruppe ‚Anfänge (in) der Moderne‘ an der
Ludwig-Maximilians-Universität München entstanden und wurde unter Verwendung der
ihr von der Deutschen Forschungsgemeinschaft zur Verfügung gestellten Mittel gedruckt.
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© 2014 Wilhelm Fink, Paderborn
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Internet: www.fink.de
Einbandgestaltung: Evelyn Ziegler, München
Printed in Germany
Herstellung: Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Paderborn
ISBN 978-3-7705-5706-6
Inhalt
Vorwort der Herausgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
7
INKA MÜLDER-BACH, MICHAEL OTT
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
9
RÜDIGER CAMPE
Von Fall zu Fall. Goethes Werther, Büchners „Lenz“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
33
NICOLAS PETHES
Totengespräche. Zur Konstitution von Fällen zwischen Individuum
und Gattung, Ereignis und Medium, Spektakel und Norm . . . . . . . . . . . . . .
57
JOHANNES F. LEHMANN
Was der Fall war: Zum Verhältnis von Fallgeschichte und Vorgeschichte
am Beispiel von Lenz’ Erzählung Zerbin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
73
MICHAEL OTT
Der Fall, der eintritt. Zur „poetischen Kasuistik“ in Kleists
„Die Marquise von O….“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
89
SUSANNE LÜDEMANN
As the case may be. Über Fallgeschichten in Literatur und Psychoanalyse . . . . 115
DAVIDE GIURIATO
Geschichten vom kleinen Hans (Freud – Kafka) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129
INKA MÜLDER-BACH
Der Fall Moosbrugger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145
LARS FRIEDRICH
Erkenntnisgefälle und Beweislast. Brechts Leben des Galilei . . . . . . . . . . . . . 167
JULIANE VOGEL
Apfelgarten und Geschichtslandschaft.
Fallszenarien bei Thomas Bernhard und Peter Handke . . . . . . . . . . . . . . . . . 187
Beiträgerinnen und Beiträger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201
Vorwort
Der vorliegende Band untersucht literarische Texte im Spannungsfeld von Fallgeschichten und Sündenfall-Mythos vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Er
geht auf ein Symposium zurück, das unter dem Titel Was der Fall ist im Dezember
2011 an der Ludwig-Maximilians-Universität München und im Literaturhaus
München stattfand. Für die freundliche Aufnahme in seinen Räumen danken wir
dem Leiter des Literaturhauses, Herrn Dr. Reinhard Wittmann. Die Tagung wurde
von der interdisziplinären DFG-Forschergruppe „Anfänge (in) der Moderne. Theoretische Konzepte, literarische Figurationen, historische Konstruktionen“ an der
Ludwig-Maximilians-Universität München ausgerichtet; die Deutsche Forschungsgemeinschaft hat das Symposium sowie die Drucklegung des vorliegenden Bandes
gefördert. Unser besonderer Dank gilt den beteiligten Kolleginnen und Kollegen,
die sich mit großem Engagement auf dieses interdisziplinäre Vorhaben eingelassen
haben, den anderen Mitgliedern der Forschergruppe, unserer Mitarbeiterin Annalisa Fischer, die uns bei der Erstellung der Druckvorlage half, sowie den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Fink-Verlages.
München, im August 2014
Inka Mülder-Bach, Michael Ott
INKA MÜLDER-BACH, MICHAEL OTT
Einleitung
I.
Am Anfang von Theodor Storms 1877 erschienener Novelle Aquis submersus steht
ein Rätsel: Der Ich-Erzähler berichtet von einem Gemälde, das er als Junge im
Kirchenschiff eines Nachbardorfs seiner Heimatstadt gesehen und das in ihm das
„phantastische[] Verlangen“1 geweckt habe, hinter seine Geschichte zu kommen.
Das „unschuldige Bildnis eines toten Kindes, eines schönen, etwa fünfjährigen
Knaben“2, das auf dem Rahmen die Jahreszahl 1666 trug, sei mit der Sage verbunden gewesen, dieser Knabe habe „einst in der Wassergrube unserer Priesterkoppel
seinen Tod gefunden“.3 Daneben hing in der Kirche das Bild eines finsteren, bärtigen Mannes in Pastorentracht, der mutmaßlich der Vater des Knaben war. Eines
Tages, so der Ich-Erzähler weiter, habe er in einer Ecke des Knabenbildes jedoch
vier Buchstaben entdeckt, über die er den jetzigen Pastor des Dorfes befragte:
„Sie lauten C.P.A.S“, sagte ich zu dem Vater meines Freundes; „aber wir können sie
nicht enträtseln.“
„Nun“, erwiderte dieser, „die Inschrift ist mir wohl bekannt; und nimmt man das
Gerücht zu Hülfe, so möchten die beiden letzten Buchstaben wohl mit Aquis submersus, also mit ‚Ertrunken‘ oder wörtlich ‚Im Wasser versunken‘, zu deuten sein;
nur mit dem vorangehenden C.P. wäre man dann noch immer in Verlegenheit! Der
junge Adjunktus unseres Küsters […] meint zwar, es könne Casu Periculoso, ‚Durch
gefährlichen Zufall‘, heißen; aber die alten Herren jener Zeit dachten logischer; wenn
der Knabe dabei ertrank, so war der Zufall nicht nur bloß gefährlich.“
Ich hatte begierig zugehört. „Casu“, sagte ich; „es könnte auch wohl Culpa heißen?“
„Culpa?“, wiederholte der Pastor. „Durch Schuld? – aber durch wessen Schuld?“
Da trat das finstere Bild des alten Predigers mir vor die Seele, und ohne viel Besinnen rief ich: „Warum nicht: Culpa Patris?“
Der gute Pastor war fast erschrocken. „Ei, ei, mein junger Freund“, sagte er und
erhob warnend den Finger gegen mich. „Durch Schuld des Vaters? – So wollen wir
trotz seines düsteren Ansehens meinen seligen Amtsbruder doch nicht beschuldigen.
Auch würde er dergleichen wohl schwerlich von sich haben schreiben lassen.4
Die rätselhafte Inschrift auf dem alten Bild klärt zwar den Titel der Novelle – Aquis
submersus –, nicht aber das Geheimnis hinter dem Tod des Knaben und damit die
Frage nach „Zufall“ oder „Schuld“. Jahre später kommt der Erzähler dem Geheimnis näher, als er die hinterlassenen Papiere jenes Malers entdeckt, der die Bilder
1
2
3
4
Theodor Storm: Aquis submersus. Novelle, Stuttgart 2003, S. 6.
Ebd.
Ebd.
Ebd., S. 8.
10
INKA MÜLDER-BACH, MICHAEL OTT
gemalt hatte. Sie enthüllen, dass der Maler selbst der Vater des Knaben war, mit
dessen Mutter Katharina er einst eine Liebesnacht verbracht hatte. Mit der Inschrift
gab er sich selbst die Schuld am Tod seines Sohnes, denn gerade in dem Moment,
in dem er seine verlorene Geliebte wiederfand und umarmte, ertrank der Knabe
unbeaufsichtigt in der Wassergrube des Gartens.5
Während der Maler seine Schuld bekennt, werden die Entzifferungsmöglichkeiten der Inschrift – „Casu Periculoso“ oder „Culpa Patris“ – in der Erzählung selbst
offen gehalten. Als mitverantwortlich für das Unglück der Liebenden und den Tod
des Knaben erscheint auch der skrupellose Junker Wulf, Katharinas Bruder, der
den unstandesgemäß liebenden Maler verjagt und die schwangere Katharina zur
Heirat mit dem Pastor gezwungen hatte. Die Novelle erschöpft sich jedoch nicht
in Klagen und Anklagen. Einerseits thematisiert sie in der Figur des Malers und
seinem „unschuldige[n] Bild“ die Frage nach den Triebfedern der Kunst und nach
der Möglichkeit einer ästhetischen Sublimierung von Schuld. Andererseits reflektiert sie das Schuldproblem im Spiegel eines Mythos. Über die ganze Erzählung
hin, beginnend mit dem ersten Satz, der einen „seit Menschengedenken […] ganz
vernachlässigten ‚Schlossgarten‘“6 schildert, bis zu jener „Priesterkoppel“, die als
Kindheitsparadies des Erzählers ausgemalt wird, zugleich aber in der Handschrift
des Malers als der Ort der Liebesvereinigung wie des Todes erscheint, sind Anspielungen auf die biblische Sündenfall-Geschichte in den Text eingestreut. Die culpa
patris kann sich daher auch auf den allerersten Vater, Adam, beziehen.
Indem Storms Novelle aus einem Buchstabenrätsel herausgereizt wird, das
unterschiedliche Entzifferungen und damit Deutungen dessen erlaubt, was in der
Vorgeschichte der Fall war – Zufall oder Schuld, historischer Fall7 oder Mythos –,
führt sie ins Zentrum des vorliegenden Bandes: Seine Beiträge gelten der Wissensund Erzählform des Falls sowie der Struktur und Funktion von dramatischen und
narrativen Arrangements, in denen casus und lapsus sich verschränken.
Das damit angedeutete Feld ist ebenso weit wie der Spielraum möglicher Auslegungen des Anfangssatzes von Ludwig Wittgensteins Tractatus logico- philosophicus.
Denn dass die „Welt alles [ist], was der Fall ist“,8 kann bekanntlich mancherlei
bedeuten: Die Welt ist der Inbegriff physikalischer, medizinischer, juristischer,
5 Vgl. ebd. S. 81 sowie 76f.
6 Ebd., S. 3.
7 Storm hatte die Anregung zu seiner Novelle tatsächlich durch ein Bild in einer friesischen Dorfkirche erhalten. Vgl. seinen Brief an Paul Heyse vom 20.6.1876, in: Theodor Storm/Paul Heyse:
Briefwechsel. Kritische Ausgabe, hg. von Clifford Albrecht Bernd, Bd. 2, Berlin 1970, S. 18-20. Vgl.
zu der Novelle, die hier nicht weiter interpretiert werden kann: Gerhard Kaiser: „Aquis submersus
– versunkene Kindheit. Ein literaturpsychologischer Versuch“, in: Euphorion 73 (1979), S. 410434; Robert C. Holub: „Realism and recollection. The commemoration of art and the aesthetics
of abnegation in ‚Aquis submersus‘“, in: Colloquia Germanica 18 (1985), S. 120-139; Achim
Nuber: „Ein Bilderrätsel: Emblematische Struktur und Autoreferentialität in Theodor Storms
Erzählung ‚Aquis submersus‘“, in: Colloquia Germanica 26 (1993), S. 227-243.
8 Ludwig Wittgenstein: Logisch-philosophische Abhandlung/Tractatus logico-philosophicus, mit einem
Nachwort von Joachim Schulte, Frankfurt/M. 2003, I.
EINLEITUNG
11
statistischer Sachverhalte; oder auch: Die Welt ist alles, was der Sündenfall ist;9
oder: „In der Welt ist nichts, was nicht fällt.“10 So vielfältig wie die möglichen
Übersetzungen des Anfangssatzes des Tractatus sind die Geschichten, die in der
Moderne von dem erzählt werden, was der Fall ist. Seit dem 18. Jahrhundert macht
zum einen die Fallgeschichte eine steile Karriere. Als ein interdiskursives Genre, das
sich im Feld von Recht, Medizin, Psychologie, Pädagogik und Literatur herausbildet, dient sie der Erzeugung, Sammlung, Ordnung und Generalisierung des Wissens von Einzelfällen. Zugleich fungiert sie als Medium, in dem sich eine spezifisch
literarische Aufmerksamkeit ausdifferenziert, die dem Konflikt zwischen Besonderem und Allgemeinen, Abweichung und Norm, Ausnahme und Regel gilt. Andererseits eröffnen seit dem 18. Jahrhundert Prozesse der Entdogmatisierung und
Dekanonisierung den Spielraum für eine Arbeit am biblischen Mythos vom Sündenfall. Auf seine Weise erzählt auch der Mythos eine ‚Wissensgeschichte‘, auch in
ihm geht es um eine Abweichung, und auch die Geschichte dieser Abweichung
bleibt über das 18. Jahrhundert hinaus virulent. Nur handelt es sich um einen
Anfangsfall, in dem die Unterscheidungen, mit denen Wissen und Begriffe operieren, allererst gefällt werden.
Moderne Erzählungen und Dramatisierungen von Fällen sind vielfach dadurch
charakterisiert, dass sie diese beiden Geschichten verschränken. Nicht nur zielt
das Wissen, das am Einzelfall über die „Natur des Menschen“ gewonnen werden
soll, auf den Stand des (gefallenen) anthropos. Und nicht nur schreiben Fallgeschichten mit der Vertikalen von Sturz/Erhebung und der Horizontalen von
Entortung und Dispersion das doppelte Bewegungsmuster des Fall(en)s aus.
Während das mythische Datum des singulären Falls einerseits in einer Vielzahl
von Einzelfällen zerstreut wird, bleibt es andererseits als prototypischer Anfangsfall
und Vorgeschichte im Spiel. Die Verschränkung hat also komplizierte Fälle zur
Folge. Das Interesse der Beiträge des vorliegenden Bandes gilt dem Profil dieser
Fälle, den Verfahren und Funktionen ihrer Konstruktionen, ihren narratologischen und epistemologischen Implikationen und der Frage, was sie immer wieder
aufs Neue hervortreibt.
II.
Polyvalent wie die Geschichten, die von ihm erzählt werden, ist das Nomen „Fall“
selbst. So wie es sich morphologisch in vielfältiger Weise modifizieren und kombinieren lässt – von A wie in Abfall, Anfall und Ausfall bis Z wie in Zerfall, Zufall
und Zwischenfall, von Ausnahmefall und Ernstfall bis zu Kriegsfall und Streitfall,
und von Gefallen bis zu Missfallen –, umfasst es semantisch ein breites Spektrum
9 Jakob Taubes: Vom Kult zur Kultur. Bausteine zu einer Kritik der historischen Vernunft. Gesammelte Aufsätze zur Religions- und Geistesgeschichte, hg. von Aleida Assmann/Jan Assmann/
Winfried Menninghaus, München 1996, S. 179.
10 Hans Blumenberg: Die Vollzähligkeit der Sterne, Frankfurt/M. 1997, S. 48.
12
INKA MÜLDER-BACH, MICHAEL OTT
an Bedeutungen. Schon Johann Christoph Adelungs Grammatisch-kritisches Wörterbuch der hochdeutschen Mundart von 1796 unterscheidet zwei grundlegende
Bedeutungsvarianten, die in sich noch einmal differenziert werden. Erstens bezeichnet „Fall“ den „Zustand, da eine Person oder Sache fällt“, in der „eigentlichen
Bedeutung“ den „Fall eines schweren Körpers“, in der „figürlichen Bedeutung“ –
gewissermaßen metonymisch – die nicht plötzlich verminderte Höhe (Fallen des
Quecksilbers oder des Wassers in einem Teich), aber auch – metaphorisch – die
„Verschlimmerung des bürgerlichen und sittlichen Zustandes“ im Sinn des Niedergangs, wie z. B. der „Fall eines Ministers, eines Günstlings“ oder der „Fall des Römischen Reiches“. In dieses Bedeutungsfeld gehört auch „Fall“ in „theologischem
Verstande“ als „der Zustand, da man sündiget. Der Fall Adams.“ Damit hängt eine
Wortbedeutung „im gemeinen Leben“ zusammen, nämlich „Fall“ als „ein gelinder
Ausdruck der Schwängerung einer unverehlichten Person […]. Eine Jungfrau zu
Falle bringen, sie schwängern“.11 Der Fall in seinem Verständnis als lapsus ist maßgeblich von dieser Konnotation geprägt.12
Zweitens bezeichnet das Wort „[d]asjenige, was fällt“. Neben sondersprachlichen „Fällen“ aus der Jägerei, dem Bergbau und dem Erbrecht führt Adelung in
diesem Zusammenhang eine modern anmutende Definition an. Fall sei
[a]lles, was geschiehet oder geschehen kann, so fern es geschiehet oder geschehen
kann, eine jede Begebenheit, Zustand oder Umstand, so der Gegenstand einer Rede
oder eines Satzes ist, nach dem Muster des Latein. casus, und Franz. cas.13
„Fall“ bezeichnet also alles Wirkliche und alles Mögliche, sofern es sich ereignet
oder ereignen kann und sofern es in einem Diskurs adressiert wird. Adelungs Beispiele – „Ich befinde mich jetzt in dem Falle, den der Testator bestimmet hat. Sich
auf alle Fälle gefaßt halten. […] So oft sich der Fall begibt […]. Ich setze den Fall,
daß er nicht käme“14 usw. – illustrieren diese Verbindung von maximaler Extension
(„Alles“), realer und hypothetischer Qualität („was geschiehet oder geschehen
kann“) und Diskursivierung („Gegenstand einer Rede oder eines Satzes“). Sowohl
die Extension als auch die Sprachförmigkeit erinnern an Wittgenstein (der allerdings die Definitionsrichtung umkehrt). Nicht schon durch sein bloßes Sein oder
Möglichsein ist etwas ein Fall, sondern insofern davon als von einem Fall gesprochen und es „Gegenstand einer Rede“ wird.
Erläutert werden diese Bestimmungen durch den Hinweis auf das „Muster des
Latein[ischen] casus“. Adelung verwendet den Begriff im Sinne von „Vorkommnis“,
„Ereignis“, „Vorfall“, aber auch „Gelegenheit“.15 Diese Verwendungsweise aktualisiert allerdings nur eine der schon im Lateinischen vielfältigen Bedeutungen des
11 Vgl. Johann Christoph Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der hochdeutschen Mundart, 4
Bde., 2. Aufl. Leipzig 1793-1801, Bd. 2, Sp. 24-26, hier: Sp. 25.
12 Vgl. hierzu die Beiträge von Johannes F. Lehmann und Michael Ott im vorliegenden Band.
13 Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch (Anm. 11), Bd. 2, Sp. 25.
14 Ebd., Sp. 25f.
15 Karl Ernst Georges: Ausführliches lateinisch-deutsches Handwörterbuch, Hannover 81913 (Nachdruck Darmstadt 1998), Bd. 1, Sp. 1025-1026.
EINLEITUNG
13
Wortes. Abgeleitet von cadere, kann auch casus im wörtlichen und übertragenen
Sinn gebraucht und – ähnlich wie Fall – Sturz und Herabfallen, Verfall, Untergang,
Ende und Ausgang, aber auch den grammatikalischen Fall bezeichnen. Was den
lateinischen casus in der Bedeutung des Vorfalls angeht, so ist für ihn weniger die
Relation von Allgemeinem und Besonderem relevant als vielmehr jenes Eintreten
bzw. Geschehen eines (historischen, biographischen, schicksalhaften) Ereignisses,
das auch Adelung in seiner Definition des Falls betont. Eine dominante Bedeutung
des casus im Lateinischen ist entsprechend der Zufall und besonders der unglückliche Zufall, der Unfall.16 Das spiegelt sich im rhetorischen Gebrauch, in dem casus
einerseits im Sinn des griechischen τύχη „Zufall“ (engl. chance, franz. fortune, it.
fortuna), andererseits im Sinn von πτῶσις Fall (case, cas, caso) bedeutet.17 Wesentliche Dimensionen dessen, was in der Neuzeit als „casus“ gefasst wird, finden sich
in der römischen Rhetorik und Rechtspraxis allerdings unter dem Begriff der causa
(entsprechend dem griechischen αἰτία, engl./franz. cause, it. cosa).18
Im juridischen Sinn, d.h. in der antiken Rhetorik bezogen auf das genus iudiciale,
wird casus überwiegend nicht zur Benennung des Einzelfalls, sondern zur Charakterisierung von Umständen einer Tat verwendet. „Im Rahmen der Gerichtsrhetorik
bezeichnet C[asus] vornehmlich den Zufall, durch dessen Einwirkung das Verhalten
des Angeklagten zu Folgen führt, die er nicht beabsichtigt hat“.19 Er gehört neben
der imprudentia und der necessitas zu den Formen der purgatio, den Entschuldigungsgründen für eine Tat.20 Nicht die Tat als Ganze also wird unter dem Begriff
casus als „Fall von…“ (Notwehr, unbeabsichtigter Tötung etc.) verstanden, sondern
der (Zu-)Fall besonderer, nicht vom Angeklagten verantworteter Bedingungen, der
zur Beurteilung des Täterverhaltens beiträgt und in der Gerichtsrede entsprechend
berücksichtigt werden muss. Im modernen Sinn des case erscheint der casus dagegen
in antiken Rhetoriken vorwiegend an anderem Ort, nämlich in Bezug auf die
Grammatik in der elocutio (z. B. als Grund der ambiguitas durch die Häufung von
Wörtern, die im selben Kasus stehen) und – wenngleich eher selten – in der Topik
16 Vgl. ebd.; ein berühmtes Beispiel: „nostris enim vitiis, non casu aliquo, rem publicam verbo retinemus, re ipsa vero iam pridem amisimus.“ Cicero: De re publica, 5,1 („Durch unsere eigenen
Laster/Fehler, nicht durch irgendeinen Zufall/irgendein Unglück, haben wir von der Republik
zwar noch das Wort behalten, die Sache selbst aber längst schon verloren“).
17 Vgl. H. Hohmann: „Casus“, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, hg. von Gert Ueding, Bd. 2:
Tübingen 1994, Sp. 124-140. Vgl. auch U. Dierse: „Fall/Abfall“, in: Historisches Wörterbuch
der Philosophie, hg. von Joachim Ritter, Bd. 2, Basel/Stuttgart 1972, Sp. 887-894; M. Kranz/
S. Knebel/A. Niessen/A. Hoffmann/J. C. Schmidt: „Zufall“, in: ebd., Bd. 12, Basel/Stuttgart
2005, Sp. 1408-1424.
18 Die folgenden Ausführungen beschränken sich auf die Rhetorik und den Bereich des Rechts; zur
philosophischen Tradition des „Falls“ und zur Kasuistik vgl.: Dierse: „Fall/Abfall“ (Anm. 16); R.
Hauser/Fr. O. Wolf/Johanna Bleker: „Kasuistik“, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie
(Anm. 17), Bd. 4, Basel/Stuttgart 1976, Sp. 703-707.
19 Hohmann: „Casus“ (Anm. 17), Sp. 124.
20 Systematisch gehört der casus zur inventio und bezieht sich auf das Finden von Umständen, welche die Tat nicht direkt rechtfertigen, sondern „in anderem Licht erscheinen lassen“ (Hohmann:
„Casus“ [Anm. 17], Sp. 124. Zu anderen Bedeutungen des casus in der Topik vgl. ebd. Sp. 124ff.
14
INKA MÜLDER-BACH, MICHAEL OTT
und „bei der Behandlung von Einzelfällen, auf die generelle Sätze angewendet
werden können“.21
Für den Einzelfall im Sinn einer strittigen Rechtssache wird in der römischen
Rechtspraxis stattdessen „oft der Begriff der causa bevorzugt“.22 Während das entsprechende αἰτία in der griechischen Philosophie vor allem die Ursache, den Grund
bzw. das Prinzip benennt, wird der Begriff in der römischen Rhetorik auf die
Bedeutung eines konkreten (Rechts-)Falls ausgeweitet. Ein Grund dafür ist, dass
die quaestio, d.h. die sprachliche Fassung des in einer Rede im Zentrum stehende
dubiums, von verschiedenen Rhetoriken ausdifferenziert und dabei vor allem die
Unterscheidung zwischen der „abstrakt-generell-theoretische“ Probleme betreffenden quaestio infinita und der auf „konkret-individuell-praktische“ Fragen bezogenen quaestio finita wichtig wird. 23 Der „Modellfall“ der ‚endlichen Frage‘ ist „der
Straf- und Zivilprozess = causa. Hier ist die Rhetorik in ihrem genuinen Bereich.“24
Während Cicero die rhetorische Behandlung ‚unendlicher Fragen‘ kritisiert und
diese der Philosophie vorbehalten wissen will, bezeichnen causa und questio bei
Quintilian den Gesamtbereich der Rhetorik: „nihil est enim quod non in causam
aut quaestionem cadat“ („es gibt nichts, das nicht in den Bereich eines [einzelnen]
Rechtsfalls oder einer [allgemeinen] Untersuchung fiele“).25 Auch wenn hier noch
kein Bedingungs- oder Bezugsverhältnis zwischen beidem entwickelt wird, zeichnet
sich eine kategoriale Differenz der (konkreten) causa von (allgemeinen) quaestiones
ab, die nicht nur rechtsgeschichtlich bedeutsam wird.
Da vor allem die konkreten „Fälle“ zu gerichtlichen Reden Anlass geben, entwickelt sich im genus iudicale zudem eine Ausdifferenzierung der causae (causa simplex,
coniuncta, Arten der Rechtsfälle wie causa obscurum usw.), nach denen sich jeweils
die rhetorische Behandlung zu richten hat. Hieraus und aus dem römischen Recht
selbst bildete sich ein „fallbezogenes Rechts- und Methodenverständnis“,26 das in
Justinians Corpus iuris civilis (ab 533) seine spätantike Grundlage fand und im
Durchgang durch dessen humanistische Neukodifizierung bis ins 18. Jahrhundert
hinein für die Jurisprudenz prägend blieb.
Das römische Rechtsdenken und seine humanistische Wiederaufnahme stehen
also „unter dem Primat des Rechtsfalls (statt unter dem Primat abstrakter
Rechtssätze)“.27 Die causae werden rhetorisch differenziert behandelt, sie werden
aber nicht als casūs im modernen Sinn verstanden – nicht als Einzelfälle, die einer
21 Hohmann: „Casus“ (Anm. 17), Sp. 125; dies sei ein Verfahren, welches „die Rhetorik mit der
Rechtswissenschaft und Medizin verbindet“ (ebd.).
22 Ebd.; vgl. auch W. Gast: „Causa“, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik (Anm. 17), Bd. 2,
Sp. 140-147.
23 Heinrich Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik. Eine Grundlegung der Literaturwissenschaft, S. 62ff. (§ 69, 73).
24 Ebd. (§ 74).
25 Quintilian: Ausbildung des Redners/Institutionis oratoriae Libri XII (lat./dt.), übers. und hg. von
Helmut Jahn, 2 Bde., Darmstadt 1988, II, S. 21, 22.
26 Gast: „Causa“ (Anm. 22), Sp. 142.
27 Ebd., Sp. 145.
EINLEITUNG
15
Regel subsumierbar wären oder deren Lösung deduktiv aus abstrakten Gesetzen
abgeleitet werden könnte. Sie werden vielmehr per analogiam und durch Rückführung auf normstiftende Präzedenzfälle aufeinander bezogen. Der casus dagegen
benennt in der römischen Gerichtsrhetorik gerade nicht den Fall als solchen, sondern ein Element der Umstände, das in der Beurteilung des Täterverhaltens in
einer causa von entscheidender Bedeutung ist, zugespitzt den entschuldigenden
Zufall, den es entsprechend für den Rhetor ins Feld zu führen gilt und der in
gewissem Sinn das Singuläre der Sache ausmacht.
Der Übergang zu einem neuen Rechtsverständnis im 18. Jahrhundert ist mit
grundlegenden Transformationen dieser historischen Semantik verbunden. Während einerseits axiomatische Systeme wie das Naturrecht an Geltung gewinnen, tritt
andererseits zumal in Kontinentaleuropa das an Fällen orientierte Rechtsverständnis
zugunsten von übergreifender Kodifizierung und formalisierter Auslegung in den
Hintergrund.28 Der besondere Rechtsfall verschwindet damit aber nicht aus dem
Diskurs, vielmehr erhält das Interesse an ihm einen neuen Ort. Die von dem französischen Juristen François Gayot de Pitaval 1734-1743 herausgegebenen, aus Prozessakten gewonnenen Causes célèbres et intéressantes, avec les jugemens qui les ont
décidées bilden mit ihren zwanzig Bänden einen Ausgangspunkt der modernen
Karriere von Fallgeschichten. Zunächst im Recht, dann aber auch in der „Erfahrungsseelenkunde“, Psychologie und Psychiatrie, in der Medizin, Pädagogik und
Soziologie und in deren Grenz- und Übergangsbereichen (wie der gerichtlichen
Medizin) spielen diese bis ins 20. Jahrhundert hinein eine zentrale Rolle in der
Formulierung des Wissens vom Menschen und der Differenzierung des Wissenschaftssystems selbst. Wenn in der Geschichte dieses fallbezogenen Wissens das
Verhältnis von causa und quaestio infinita neu bestimmt wird, so steht dabei die
Frage des casus – im antiken Sinn als Zufall, Geschick, oder allgemein: als Kontingenz – weiterhin auf dem Spiel.
28 Zu der unterschiedliche Rechtsentwicklung in angloamerikanischen Ländern vgl. schon Max
Weber: „Das englische Rechtsdenken ist […] noch heute, trotz aller Beeinflussung durch die
immer strengeren Anforderungen an die wissenschaftliche Schulung, in weitestgehendem Maße
eine ‚empirische‘ Kunst. Das ‚Präjudiz‘ hat seine alte Bedeutung voll beibehalten. […] Alles in
allem das Bild einer Rechtspflege, welche in den prinzipiellsten formellen Eigentümlichkeiten des
materiellen Rechts sowohl wie des Prozeßverfahrens […] abweicht von der Struktur des kontinentalen Rechts. Denn jedenfalls ist die englische Rechtsfindung dem Schwerpunkt nach nicht,
wie die kontinentale, ‚Anwendung‘ von ‚Rechtssätzen‘, welche mit Hilfe der Logik aus dem
Inhalt gesetzlicher Vorschriften sublimiert sind.“ Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft.
Grundriß der verstehenden Soziologie, besorgt von Johannes Winckelmann, Studienausgabe, Tübingen 51980, S. 509f.
16
INKA MÜLDER-BACH, MICHAEL OTT
III.
Der Kasus als Form und Gattung
Im Zusammenhang mit dem Interesse an Diskursanalyse und new historicism, an
„Poetologien des Wissens“29 und an der Interferenz literarischer Formentwicklungen mit nicht genuin literarischen Formen des Erzählens30 ist die moderne Fallgeschichte in neuerer Zeit unter unterschiedlichen Aspekten in den Blick der literaturwissenschaftlichen Forschung gerückt. 31 Ein zentraler Referenztext dieser
Diskussionen ist André Jolles’ 1930 erstmals publizierte Studie Einfache Formen.
Neben anderen ‚vorliterarischen‘, aber ästhetisch bedeutsamen Formen der Prosa
(wie Legende, Rätsel oder Witz) untersucht Jolles auch den in juristischer Prosa
und kasuistischen Morallehren gebräuchlichen Kasus. Jolles grenzt diesen als Form
von Exempel und Beispiel ab: Der Kasus veranschauliche nicht nur – wie es im
Zitat der kantischen Definitionen von Exempel und Beispiel heißt – den „besondere[n] Fall einer praktischen Regel oder die theoretische Darstellung eines
Begriffs“,32 sondern konfligierende Normen. Der „eigentliche Sinn des Kasus“ liegt
demnach „in der Geistesbeschäftigung, die sich die Welt als ein nach Normen Beurteilbares und Wertbares vorstellt“. Nicht nur misst der Kasus „Handlungen an
Normen […], sondern darüber hinaus wird Norm gegen Norm steigend gewertet“33. Das Urteil wird dabei dem Leser überlassen:
Das Eigentümliche der Form Kasus liegt nun aber darin, daß sie zwar die Frage stellt,
aber die Antwort nicht geben kann, daß sie uns die Pflicht der Entscheidung auferlegt, aber die Entscheidung selbst nicht enthält.34
29 Vgl. Joseph Vogl (Hg.): Poetologien des Wissens um 1800, München 1999.
30 Vgl. u.a. Nicolas Pethes: „Vom Einzelfall zur Menschheit. Die Fallgeschichte als Medium der
Wissenspopularisierung zwischen Recht, Medizin und Literatur“, in: Gereon Blaseio/Hedwig
Pompe/Jens Ruchatz (Hg.): Popularisierung und Popularität, Köln 2005, S. 63-92.
31 Einen Überblick gibt Christiane Frey: „Fallgeschichte“, in: Roland Borgards/Harald Neumeyer/
Nicolas Pethes/Yvonne Wübben (Hg.): Literatur und Wissen. Ein interdisziplinäres Handbuch,
Stuttgart/Weimar 2013, S. 282-28. Zur Fallgeschichte in psychologischer und sozialwissenschaftlicher Hinsicht vgl. Ulrich Stuhr/Friedrich-Wilhelm Deneke (Hg.): Die Fallgeschichte. Beiträge zu
ihrer Bedeutung als Forschungsinstrument, Heidelberg 1993; Howard Becker/Charles Ragin (Hg.):
What is a Case? Exploring the Foundations of Social Inquiry, Cambridge 1992, sowie Jörg R. Bergmann/Ulrich Dausendschön-Gay/Frank Oberzaucher (Hg.): „Der Fall“. Studien zur epistemischen
Praxis professionellen Handelns, Bielefeld 2012. Vgl. zum interdisziplinären Zusammenhang auch
den Band von Susanne Düwell/Nicolas Pethes (Hg.): Fall – Fallgeschichte – Fallstudie. Theorie und
Geschichte einer Wissensform, Frankfurt/M. 2014, dessen Beiträge hier nicht mehr berücksichtigt
werden konnten.
32 André Jolles: Einfache Formen. Legende, Sage, Mythe, Rätsel, Spruch, Kasus, Memorabile, Märchen,
Witz, 6. unv. Aufl., Tübingen 1982, S. 171-199, hier: S. 179; vgl. Immanuel Kant: Metaphysik
der Sitten, in: Ders.: Werke in 10 Bde., hg. von Wilhelm Weischedel, Darmstadt 1983, Bd. 7,
S. 620, Fn.
33 Jolles: Einfache Formen (Anm. 32), S. 179.
34 Ebd. S. 191.
EINLEITUNG
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Jolles versteht den Kasus nicht als narrative Illustration einer Norm oder Regel,
sondern als Verhandlung von normativen Grenz- und Zweifelsfällen bzw. von
Normkonflikten. Er beschreibt ihn als ein komplexes Narrativ, das durch eine hohe
Variabilität vor allem in „auswechselbaren“ Bestandteilen gekennzeichnet sei. Dabei zieht er zur „Verdeutlichung dessen, was ein Kasus bedeutet“, seinerseits „Fälle
heran[]“35, arbeitet also nach dem Prinzip der induktiven Entwicklung eines Typus
aus Fällen.36 Der Fluchtpunkt seiner Bestimmungen liegt in der Steigerung des
Kasus zur „Kunstform“:
Praktisch gesprochen steht dieser Kasus durch die Hinzufügungen, die seine Eindringlichkeit steigern, schon auf der Grenze jener Kunstform, die ihrerseits ein eindringliches Ereignis in seiner Einmaligkeit zeigt, die es nun aber gerade, weil sie
Kunstform ist, nicht mehr als Kasus meint, sondern um seiner selbst willen: eine
Kunstform, die wir Novelle nennen.37
Es führt also für Jolles ein Weg vom Kasus zur Novelle, die dem traditionellen
Verständnis der Gattung entsprechend als literarische Erzählung eines einmaligen
Ereignisses (oder einer „unerhörten Begebenheit“) begriffen wird.
Funktion und Medialität der Fallgeschichte
In kritischer Auseinandersetzung mit Jolles’ morphologischem Ansatz und seiner
Zuspitzung des Kasus auf Normabwägungen ist die neuere Forschung zur Fallgeschichte andere Wege gegangen. Denn es ist in der Tat mehr als fraglich, ob man
die unzähligen seit der frühen Neuzeit in juristischen, medizinischen und psychologischen Textsammlungen greifbaren „Fälle“ allesamt dem Strukturmuster der
Narrativierung eines Normenkonflikts unterordnen kann. Weder wird Jolles Bestimmung der verzweigten Genealogie des Kasus gerecht, noch berücksichtigt sie
die jeweils spezifischen medialen Bedingungen der unterschiedlichen Traditionen
kasuistischen Schreibens.38 Darüber hinaus unterschätzt sie die Funktion, die dem
Kasus als Träger von Informationen und Medium der Vermittlung und Speicherung von Wissen zukommt,39 und dies in ganz unterschiedlichen Wissensfeldern.
So wie sich die Genealogie kasuistischen Schreibens im Bereich des Rechts schon
an der Glossierungspraxis des Corpus Iuris civilis seit dem Mittelalter festmachen
35 Ebd. S. 180.
36 Vgl. den Beitrag von Nicolas Pethes im vorliegenden Band, sowie Ders.: „Ästhetik des Falls. Zur
Konvergenz anthropologischer und literarischer Theorien der Gattung“, in: Sheila Dickson/Stefan Goldmann/Christof Wingertszahn (Hg.): „Fakta, und kein moralisches Geschwätz.“ Zu den
Fallgeschichten im „Magazin für Erfahrungsseelenkunde“, Göttingen 2011, S. 13-32.
37 Jolles: Einfache Formen (Anm. 32), S. 182.
38 Pethes: „Vom Einzelfall zur Menschheit“ (Anm. 30), S. 68ff.
39 Frey: „Fallgeschichte“ (Anm. 31), S. 283.
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lässt,40 geht die Beschreibung von „Fällen“ in der Medizin in gewisser Weise bis
zum Corpus Hippocraticum zurück.41 Allerdings finden sich erst seit dem 17. Jahrhundert Fallberichte, die im Sinn einer empiriebasierten Medizin wissensgenerierende Funktionen in Bezug auf Krankheitsverläufe und Therapieversuche haben.
In ihnen beginnt sich ein alternatives Wissen zur naturhistorischen, klassifizierenden Nosologie zu bilden, das einerseits am Einzelfall orientiert ist, andererseits auf
eine auf dem Abgleich vieler Fälle basierende Generalisierung zielt, die über den
jeweils erzählten Fall hinaus Geltung beansprucht. In den entsprechenden Fallgeschichten findet sich eine wiederkehrende Topik, eine narrative Schematisierung und oft die Motivation, mit der Beschreibung gewissermaßen performativ zur
Erzeugung jenes Wissens beizutragen, das den (in der Regel tödlichen) Schlusspunkt einer medizinischen Fallgeschichte therapeutisch abzuwenden imstande sein
würde.42
Zeichnen sich hier bereits funktionale Unterschiede zwischen der juristischen
und medizinischen Fallgeschichte ab, kommt es im Prozess der „kasuistische[n]
Formierung der Psychiatrie (Psychopathologie) als Wissensbereich zwischen Anthropologie und Medizin“43 zu weiteren Ausdifferenzierungen. Sammlungen wie
Christian Heinrich Spieß’ Biographien der Wahnsinnigen (1796-1803) zielen im
Anschluss an juristische Vorbilder wie Pitaval primär auf das Spektakuläre und
Unerhörte der erzählten Fälle ab. Dagegen versteht Karl Philipp Moritz sein Magazin zur Erfahrungsseelenkunde (1783-1793) als Grundlage einer noch zu entwickelnden, beobachtungsbasierten empirischen Psychologie – als Versuch, „einige Materialien zu einem Gebäude zusammen zu tragen, das seinen Baumeister noch sucht“.44
Während sich derartige Publikationen potentiell an unterschiedliche Adressaten
richten – an „Gelehrte und Ungelehrte“, wie es im Untertitel von Moritz’ Magazin
heisst, an das auf „merkwürdige“ Fälle begierige große Publikum45 ebenso wie an
40 Die Tradition der Kasuistik aus der Glossierungspraxis verfolgt auch der Aufsatz von Carlo Ginzburg: „Ein Plädoyer für den Kasus“, in: Johannes Süßmann/Susanne Scholz/Gisela Engel (Hg.):
Fallstudien: Theorie – Geschichte – Methode, Berlin 2007, S. 29-48.
41 Vgl. hierzu und zum Folgenden: Stefan Willer: „Fallgeschichte“, in: Bettina von Jagow/Florian
Steger (Hg.): Literatur und Medizin. Ein Lexikon, Göttingen 2005, Sp. 231-235; vgl. auch Julia
Epstein: Altered Conditions. Disease, Medicine, and Storytelling, New York, London 1995.
42 Vgl. Pethes: „Vom Einzelfall zur Menschheit“ (Anm. 30), S. 70ff.
43 Willer: „Fallgeschichte“ (Anm. 41), Sp. 232.
44 Karl Philipp Moritz: Magazin zur Erfahrungsseelenkunde als ein Lesebuch für Gelehrte und Ungelehrte, mit Unterstützung mehrerer Wahrheitsfreunde herausgegeben von Karl Philipp Moritz,
Bd. 1 [1783], zit. nach der Neuausgabe der Schriften, hg. von Petra und Uwe Nettelbeck, Nördlingen 1986, Bd. 1, S. 8. Zu den Fallgeschichten im Magazin vgl. Andreas Gailus: „A Case of
Individuality: Karl Philipp Moritz and the Magazine for Empirical Psychology“, in: New German
Critique 70 (2000), S. 67-105; Dickson/Goldmann/Wingertszahn (Hg.): „Fakta, und kein moralisches Geschwätz“ (Anm. 36).
45 „Merkwürdige Rechtsfälle“ lautet die Übersetzung der „Causes célèbres“ in der von Schiller herausgegebenen Auswahl aus dem Pitaval: Merkwürdige Rechtsfälle als ein Beitrag zur Geschichte der
Menschheit. Nach dem französischen Werk des Pitaval durch mehrere Verfasser ausgearbeitet und mit
einer Vorrede begleitet, herausgegeben von Schiller, Jena 1792-1795. Schiller problematisiert in seiner Vorrede das populäre Lesebedürfnis nach „geistlose[n], geschmack- und sittenverderbende[n]
Romane[n], dramatisierte[n] Geschichten, sogenannte[n] Schriften für Damen“ und führt den
EINLEITUNG
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„Wahrheitssucher“ (Moritz) –, ist ihnen das Moment der Sammlung selbst gemeinsam. So gehört es zu den weiteren Eigentümlichkeiten von Fällen, dass sie einerseits
als Einzelfälle für sich stehen, andererseits aber in den Medien ihrer Veröffentlichung
– Sammlungen, Archiven, Magazinen – aufeinander beziehbar sind und Serien
bilden. Dies gilt noch für das Gründungsdokument der Psychoanalyse, Freuds und
Breuers Studien über Hysterie (1895). Freuds spätere, für die Weiterentwicklung der
Psychoanalyse konstitutiven Fallgeschichten allerdings, das Buchstück einer HysterieAnalyse (1905) oder die Geschichten vom „Rattenmann“ (1909), „Kleinen Hans“
(1909) und „Wolfsmann“ (1918), lösen sich aus dem Kontext der Sammlung, um
als paradigmatische Erzählungen von singulären Fällen präsentiert zu werden.46
Fallgeschichte und Literatur
Die Ausbildung des modernen Literatursystems kommuniziert aufs engste mit
fallförmigen Erzähl- und Schreibweisen. So wie mit Don Quichote ein Held am
Beginn der Geschichte des modernen Romans steht, der vom Erzähler im ersten
Kapitel als ein „Kasus“ eingeführt wird, über den es verschiedene Berichte gebe,47
wird die „literarische Fallgeschichte“48 seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts
zum Strukturprinzip der Erzählung individueller Lebens- und Bildungsgeschichten. Was Texten wie Goethes Die Leiden des jungen Werthers (1774), Moritz’ Anton
Reiser (1785-90), Schillers Verbrecher aus Infamie/Der Verbrecher aus verlorener Ehre
(1786/1792), Kleists Michael Kohlhaas (1810), Hoffmanns Sandmann (1816) und
Büchners Lenz (1836)49 gemeinsam ist, ist der reale oder fingierte Bezug auf faktuale „Fälle“ und die Konzentration auf ein Individuum, das durch den Regelverstoß
oder die Abweichung von gesellschaftlichen Normen allererst als solches kenntlich
und zugleich zum (pathologischen) „Fall“ wird. Individualität, die in der bürgerli-
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„Geschmack an diesen Geburten der Mittelmäßigkeit“ auf „den Hang der Menschen zu leidenschaftlichen und verwickelten Situationen“ zurück, „Eigenschaften, woran es oft den schlechtesten Produkten am wenigsten fehlt.“ Eben dieser Hang aber, so das Kalkül, soll in Gestalt einer
Ausgabe „Merkwürdiger Rechtsfälle“ für „einen rühmlichen Zweck genutzt werden. Schiller:
„Vorrede zur Pitaval-Ausgabe von 1792-1795“, in: Schillers Pitaval. Merkwürdige Rechtsfälle zur
Geschichte der Menschheit, verfaßt, bearbeitet und heraugegeben von Friedrich Schiller, hg. von Oliver Tekolf, Frankfurt/M. 2005, S. 75-78, hier S. 75f. Zur Fallgeschichte als Medium der „Popularisierung bereits bestehenden Wissens“ und „populäres Medium innerhalb des Wissenschaftssystems“ vgl. Pethes: „Vom Einzelfall zur Menschheit“ (Anm. 30), S. 73f.
Vgl. zu Freuds Fallgeschichten die Beiträge von Susanne Lüdemann und Davide Giuriato im
vorliegenden Band.
Miguel de Cervantes Saavedra: Der sinnreiche Junker Don Quichote von der Mancha, München
1973, S. 21.
Susanne Lüdemann: „Literarische Fallgeschichten. Schillers ‚Verbrecher aus verlorener Ehre‘ und
Kleists ‚Michael Kohlhaas‘“, in: Jens Ruchatz/Stefan Willer/Nicolas Pethes (Hg.): Das Beispiel.
Epistemologie des Exemplarischen, Berlin 2007, S. 208-223. Zu frühneuzeitlichen Vorformen vgl.
Ingo Breuer: „Barocke Fallgeschichten? Zum Status der Trauer- und Mordgeschichten Georg
Philipp Harsdörffers“, in: Zeitschrift für Germanistik 19 (2009), H.2., S. 288-300.
Vgl. zu Werther und Lenz den Beitrag von Rüdiger Campe im vorliegenden Band.
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INKA MÜLDER-BACH, MICHAEL OTT
chen Gesellschaft zur Norm wird, kommt in der literarischen Fallgeschichte damit
paradoxerweise gerade dort zur Geltung, wo sie in Konflikt mit Normen gerät – in
Fällen von Selbstmördern, Verbrechern, Aufständischen, Wahnsinnigen oder Mördern.
Obwohl sich dieser Konflikt grundsätzlich in allen Gattungen modellieren lässt,
die einen plot aufweisen – im Bereich des deutschsprachigen Dramas ist Büchners
Woyzeck (1836) das herausragende Beispiel50 –, kommt der schon von Jolles hervorgehobenen Korrespondenz von Kasus/Fallgeschichte und Novelle ein spezifisches
Gewicht zu.51 Bereits in Giovanni Boccaccios Decamerone steht die Novelle „genetisch und generisch“ in Bezug „zum Minnekasus“ und kann „narratologisch als
Erzählung eines Fallgeschehens [beschrieben] werden“.52 Im Zeichen dieser Korrespondenz vollzieht sich auch die Adaptation des romanischen Gattungskonzepts in
der deutschsprachigen Literatur, in der einerseits die Bindung der Novelle an „einen
großen oder kleinern Vorfall“,53 andererseits ihre (partielle) Faktualität und ihr
Realitätsbezug betont werden. Friedrich Schlegel zufolge ist die Novelle „ursprünglich Geschichte“;54 und sein Bruder August Wilhelm bemerkt in den Vorlesungen
über schöne Literatur und Kunst von 1803/04, das „Verdienst“ der „eigenthümlich
historische[n] Gattung“ der Novelle bestehe darin,
etwas zu erzählen, was in der eigentlichen Historie keinen Platz findet, und dennoch
allgemein interessant ist. Der Gegenstand der Historie ist das fortschreitende Wirken
des Menschengeschlechts; der jener [Gattung] wird also dasjenige seyn, was immerfort geschieht, der tägliche Weltlauf, aber freylich damit er verdiene aufgezeichnet zu
werden. Die Gattung, welche sich dieß vornimmt, ist die Novelle, und hieraus läßt
sich einsehen, daß sie, um ächt zu sein, von der einen Seite durch seltsame Einzigkeit
auffallen, von der andern Seite eine gewisse allgemeine Gültigkeit haben muß […].
Da nun die Novelle Erfahrung von wirklich geschehenen Dingen mittheilen soll, so
ist die ihr ursprünglich und wesentlich eigne Form die Prosa.55
50 Vgl. Rüdiger Campe: „Johann Franz Woyzeck. Der Fall im Drama“, in: Ders./Michael Niehaus
(Hg.): Unzurechnungsfähigkeiten. Diskursivierungen unfreier Bewußtseinszustände seit dem 18.
Jahrhundert, Frankfurt/M. 1998, S. 209-236. Zur Funktion des Kasus in Brechts Drama Leben
des Galilei vgl. den Beitrag von Lars Friedrich im vorliegenden Band.
51 Vgl. auch Stefan Goldmann: „Kasus – Krankengeschichte – Novelle“, in: Dickson/Goldmann/
Wingertszahn (Hg.): „Fakta, und kein moralisches Geschwätz“ (Anm. 36), S. 33-64.
52 Caroline Emmelius: „Kasus und Novelle: Beobachtungen zur Genese des ‚Decameron‘“, in: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 51 (2010), S. 45-74, hier: S. 47.
53 Ludwig Tieck: „Vorbericht zur dritten Lieferung“, in: ders.: Schriften, Bd. 11, Berlin 1829,
S. VII-XC, hier S. LXXXVI: „die Novelle [solle] sich dadurch aus allen andern Aufgaben hervorheben, daß sie einen großen oder kleinern Vorfall in’s hellste Licht stelle, der, so leicht er sich
ereignen kann, doch wunderbar, vielleicht einzig ist“.
54 Friedrich Schlegel: „Nachricht von den poetischen Werken des Johannes Boccaccio“, in: Kritische
Friedrich-Schlegel-Ausgabe, hg. von Ernst Behler, Bd. II, München u.a. 1967, S. 373-396, hier
S. 396.
55 August Wilhelm Schlegel, „Vorlesungen über schöne Literatur und Kunst. Berlin 1801-1804.
Dritter Teil: Vorlesungen über die romantische Literatur“, in: Ders.: Kritische Ausgabe der Vorlesungen, Bd. II/1: Vorlesungen über Ästhetik. 1803-1827, hg. von Ernst Behler, Paderborn u.a.
2007, S. 1-194, hier S. 186. Zur Spannung zwischen ‚fortschreitender‘ Geschichte und novellistischem Ereignis vgl. Andreas Gailus: „Fall und Form. Die deutsche Novelle im 19. Jhd.“, in: