Klinke 36_Layout 1 - FSP - Förderkreis Sozialpsychiatrie eV Münster
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Klinke Literatur und Psychiatrie in Münster Jahresausgabe 2011 / Nr. 36 kostenfrei zum mitnehmen 10. Irrlichter Lesung Sonntag, 08. Mai 2011, 19.00 Uhr Klinke live! Studiobühne Münster, Domplatz 23a Impressum Inhaltsverzeichnis Die KLINKE ist eine Zeitschrift aus dem Psycho-Sozialen Zentrum. Die KLINKE erscheint einmal im Jahr. Namentlich gekennzeichnete Artikel geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder. Über das Verstehen Interview mit der Therapeutin Frau Moser Auftritt der Irrlichter Der Dichter und die Psychiatrie / Teil 4 Ein Klavier, ein Klavier! Gedichte Urlaub in Schoorl / Der Hai Zurück aus Island Ausflugsziel Berlin Sinn und Wahrheit / Gedicht.. Frauenfreizeit 2010 / Gedichte Unbekanntes Mädchen Gedichte Interview mit dem Theater Sycorax Zum Theaterstück „Kommt ein Mann zur Welt“ Wahnsinn im Staatstheater Kassel Bürgerlied Buchbesprechung: Depressionen Ausgesucht und zusammengestellt... Lene in Not Mutterland – Vaterland / Im Wartestand Später mal ein Kind / Sinnespark Der Mann... Kommission zur Förderung der Inklusion Der Hausidiot / Gedankengut Für Loba Ein Neues Outing tut Not Verhältnis psychisch Kranker zu Ihrer Umwelt Mit der Krankheit umgehen Klinke und Irrlichter in einem Taschenbuch Gedicht / Umzug PSZ LeserInnenbriefe, Kommentare und Rückmeldungen sind erwünscht! Anschrift: Die KLINKE c/o Psycho-Soziales Zentrum Geiststraße 2 - 4 48151 Münster Tel. 0251/39937-0 E-Mail: [email protected] Treffpunkt der Redaktion: Donnerstag 17.15 – 18.45 Uhr Cafe Paul (Geiststraße 49 – 51) Auflage: 1500 Redaktion (im engeren Sinne, neben vielen externen “Textlieferanten“) dieser Ausgabe: Hans-Jürgen Blümel, Regina Borgerding, Nina Burmeister, Jens Dombrowski, Jürgen Knoch, Eduard Lüning, Gerd Potthoff, Dieter Radtke, Jürgen Rath, Anke S., Regina Schmick, Vera Schnieder, Martin Schröer, Regina Seehausen, Thomas Speich, Andreas Stork, Charlotte Tözlin Internetbetreuung: Christoph Aschenbrenner Verantwortlich: Michael Winkelkötter Dank an: Petra Wagner Illustrationen: Jens Dombrowski, Jürgen Knoch, Thomas Riesner, Ingo Wabnik Seite 4 5 7 8 10 11 15 16 17 18 19 20 21 22 24 25 26 28 29 30 34 36 38 39 41 42 44 45 46 49 50 Uns gibt es auch online: www.muenster.org/klinke Seite 2: Nina Burmeister Vormerken: Titelbild: Gerd Potthoff Fotos: Jens Dombrowski, Ralf Emmerich, Gerd Potthoff, Jürgen Rath, Anke S. , Regina Seehausen Lesung der Irrlichter in der Studiobühne der Universität Münster, Domplatz 23 a Sonntag, 08. Mai um 19.00 Uhr, Eintritt: ermäßigt 4 €, Vollzahler 6 € Sie können die Arbeit der Klinke-Redaktion tatkräftig unterstützen! Wenn Ihnen die aktuelle Ausgabe gefallen hat und Sie uns aktiv helfen wollen, auch in den nächsten Jahren weiterhin für die Belange von (ehemals) psychisch kranken Menschen einzutreten, dann freuen wir uns über eine Geldspende, die direkt für die Arbeit der Redaktion (Druckkosten, Satztechnik, Arbeitsmaterialien usw...) verwandt wird. Spendenkonto: Förderkreis Sozialpsychiatrie e. V., Bank für Sozialwirtschaft, Bankleitzahl 370 205 00, Stichwort: „Klinke“, Konto Nr. 72 24 200 Klinke 3 Über das Verstehen Ein kleiner lyrischer Essay Wenn wir verstehen wollen, müssen wir uns einlassen, müssen zuhören, hinhören, unvoreingenommen sein, mit unverstelltem Blick, neugierig, frei von Vorstellungen und vorgefassten Meinungen, weil wir nur so bereit sein werden, das zu sehen, was ist. Wenn wir wirklich verstehen wollen, brauchen wir Mut, den Mut, Bekanntes loszulassen, Fremdes wahrzunehmen, neue Wege zu gehen, Neuland zu betreten. Wenn wir verstehen wollen, müssen wir stark sein, stark genug, um das Neue, das Unbekannte aushalten zu können. Wenn wir verstehen wollen, müssen wir achtsam sein, dürfen uns nicht aus lauter Geltungssucht ein vorschnelles Urteil bilden und aus Überheblichkeit bewusstseinslos Phrasen herunterbeten. Wenn wir verstehen wollen, müssen wir weise sein, weise genug, um zu wissen, dass wir nichts wissen. Wir müssen wissen, dass das, was wir wissen, provisorisch ist, und nur ein Tropfen, gemessen an dem Ozean unseres Nichtwissens. Wir brauchen Mut und Stärke, um unsere Unwissenheit aushalten zu können. Wenn wir verstehen wollen, müssen wir uns gewahr sein, dass die Welt jenseits unseres Horizontes unermesslich groß ist und dass das, was wir mit unserem kleinen Geist zu erfassen vermögen, im Vergleich zum Ganzen allenfalls die Größe einer Erbse hat, und uns dennoch stetig und aufrichtig bemühen, weiter hinaus zu schauen. Wenn wir verstehen wollen, müssen wir demütig sein. Wir dürfen nicht dem Irrglauben verfallen sein, wir seien dem zu Verstehenden überlegen. Es braucht Mut, innere Stärke und Weisheit, diese Ebenbürtigkeit aushalten zu können. Wer das zu Verstehende nicht als gleichwürdig zu sich selbst anerkennt, wird es niemals verstehen lernen. Wenn wir verstehen wollen, dürfen wir uns nicht vormachen, etwas verstanden zu haben, das wir in Wirklichkeit nicht verstanden haben, denn dann machen wir uns allenfalls ein Bild. Ein Bild aber entspricht dem, was wir bereits in uns tragen und nicht dem, was es zu verstehen gilt. Dann werden wir in die Irre gehen und das vermeintlich Verstandene, das falsche Bild, mit uns nehmen, wie die schlechte Kopie eines Kunstwerkes, werden es in einem Fach unserer Vorstellung ablegen, in das es nicht hineingehört. Wenn wir wirklich verstanden haben, machen wir uns keine fachgerechten Bilder mehr und brauchen keine Fächer für die Bilder in uns. Denn was man zu verstehen gelernt hat, fürchtet man nicht mehr, dann braucht es nicht mehr die Flucht in ein blind übernommenes Wissen, kein ängstliches Verschanzen hinter einem hermetisch abgeschlossenen Denksystem, welches trügerisch Halt und Sicherheit verspricht. Wenn wir wirklich gelernt haben, von innen her, aus uns selbst heraus zu verstehen, dann können wir wahrhaftig helfen, dann können wir wahrhaftig heilen. Dann können wir selbstständig auf unseren eigenen Füßen stehen und selbstbewusst aus unserem eigenen inneren Wissen schöpfen. Wer heilen will, muss verstehen lernen, und verstehen lernen heißt lieben lernen. Denn nur die Liebe, nichts als die Liebe heilt wirklich. Regina Seehausen Klinke 4 Entstehung psychischer Erkrankungen ist immer vielschichtig Klinke: Worin sehen Sie die Ursachen einer psychischen Erkrankung? Moser: Früher waren Psychiater eher von einer biologistischen Sichtweise geprägt. Dies hängt natürlich auch mit deren Ausbildung zusammen. Psychologen hingegen betonten immer sehr stark den sozialen Aspekt bei der Entstehung einer psychischen Erkrankung. Ich denke, dass beide Disziplinen mittlerweile voneinander gelernt haben und gewissermaßen aufeinander zugegangen sind. Es ist jetzt unstrittig, dass es für die Entstehung und auch für die Behandlung einer psychischen Erkrankung multifaktorielle Erklärungsansätze geben muss und entsprechend auch die Behandlung auszurichten ist. Moser: Manchmal ist bei psychischen Erkrankungen eine gewisse familiäre Vorbelastung anzunehmen. Oft sind es Belastungen und schwierige Lebenssituationen, die in der Kindheit und Jugend auftreten. Manchmal jedoch, und dies ist meine Erfahrung, ist das Auftreten einer psychischen Erkrankung ohne nachvollziehbare Vorbelastung festzustellen. Klinke: Was halten Sie vom sog. „Stress-Vulnerabilitätsmodell? Klinke: Bedarf es bei psychisch kranken Menschen eines anderen Zugangs als bei Menschen in einer Krise? Moser: Das Modell liefert sicherlich eine gute Erklärung für die Entstehungsbedingungen von psychischen Erkrankungen. Aber wie eben bereits gesagt: Nicht immer ist ein Stressor auszumachen. Moser: Jeder Mensch kann in schwierigen Lebenssituationen in eine Krise geraten. Es zeichnet eine Krise aus, dass es sich um eine vorübergehende Leidenssituation handelt. Eine solche Krise kann oft mit Hilfe einer Psychotherapie bewältigt werden, wenn sich eine Behandlungsnotwendigkeit abzeichnet. Dies ist aber längst nicht immer erforderlich. Psychische Erkrankungen hingegen „verschwinden“ nicht einfach wieder sondern benötigen oftmals eine längere und auch wiederkehrende Behandlung. Bei Ängsten, Depressionen oder bei einer Zwangserkrankung z.B. hilft oftmals eine Psychotherapie. Dabei spielt es natürlich eine Rolle, wie schwer ausgeprägt und wie lange die Störung vorhanden ist und ob sich der Patient oder die Patientin auf eine Behandlung einlassen kann. Bei Psychosen gibt es unterschiedliche Verläufe. Ich kenne Patienten, die mehrere psychotische Episoden hatten und danach auch ohne Medikamente ausgekommen sind. Wieder andere lernen durch eine Psychotherapie, besser mit der Erkrankung umzugehen. In der Regel aber ist bei diesen Erkrankungen eine medikamentöse Behandlung notwendig. Klinke: Können Sie bitte den Unterschied zwischen Psychotherapeuten und Psychiatern erklären? Und wie erleben Sie die Zusammenarbeit dieser beiden Berufsgruppen? Moser: Psychiater sind Ärzte, die das Fach Medizin studiert haben und den Schwerpunkt „Psychiatrie“ gewählt haben. Psychologen dagegen haben das Fach Psychologie studiert. Bei ärztlichen Psychotherapeuten und psychologischen Psychotherapeuten hingegen gibt es ein und dieselbe Zusatzausbildung: eben die zum Psychotherapeuten. Diese Ausbildung unterscheidet sich nicht. Die Zusammenarbeit von Psychiatern und psychologischen Psychotherapeuten hat sich in den letzten Jahren meiner Erfahrung nach verbessert. Diskutiert wird derzeit eine Erweiterung der Kompetenzen der psychologischen Psychotherapeuten im Hinblick auf „ krank schreiben“ und Verordnung von z.B. gängigen antidepressiven Medikamenten. Derzeit ist dies noch nicht möglich und muß immer von einem Arzt übernommen werden. Klinke: Welche Rolle spielt das Alter bei psychischen Erkrankungen? Es ist häufiger zu lesen, dass psychotische Erkrankungen im Alter nicht mehr so stark ausgeprägt sind. Ist dies auch Ihre Erfahrung? Klinke: Ist die Psychiatrie derzeit nicht zu sehr an Erklärungsmodellen interessiert, die wir als biologistisch orientiert bezeichnen würden – d. h. das Entstehen einer psychischen Erkrankung auf biologische Vorgänge im Körper zu reduzieren ohne soziale Aspekte zu berücksichtigen? Moser: In meine Praxis kommen immer mehr Menschen im fortgeschrittenen Lebensalter. Es ist mein Eindruck, dass Depressionen hier im Vordergrund stehen. Das Alter bringt ganz spezifische Belastungen mit sich, die manchmal auch eine psychotherapeutische Behandlung notwendig machen. Bei Menschen mit Klinke 5 psychotischen Erkrankungen ist es auch meine Erfahrung, dass die Beeinträchtigungen etwas in den Hintergrund rücken. schreiben? Welche Rolle spielt die Geschlechtszugehörigkeit bei psychischen Erkrankungen? Moser: In meine Behandlung kamen früher mehr Frauen als Männer. Dies hat sich aber zwischenzeitlich verändert. Männer haben offenbar gelernt, besser über ihre Probleme und Gefühle zu sprechen. Mittlerweile suchen genauso häufig Männer die Unterstützung durch eine Psychotherapie. Allerdings unterscheiden sich die Probleme zwischen den Geschlechtern. Bei Männern sind es häufig Existenzängste, Probleme am Arbeitsplatz oder Burn-Out-Symptome, während bei Frauen Ängste und Gesundheit, Partnerschaft und Familie in Vordergrund stehen. Aber auch hier gibt es Angleichungsprozesse. Klinke: Nach der Veröffentlichung von Aderhold zur erhöhten Sterblichkeit nach der Einnahme von Neuroleptika stellt sich für viele Psychiatriepatienten die Frage, ob diese Medikamente eigentlich viel zu schädlich sind und eine (langfristige) Einnahme abzulehnen ist. Moser: Es ist schon länger bekannt, dass die langjährige Einnahme von Neuroleptika gesundheitliche Beeinträchtigungen mit sich bringen können. Es ist immer ein Prozess der Abwägung, ob diese Medikamente eingenommen werden müssen oder nicht. Es gibt gute Gründe und Erfahrungswerte, weiterhin bei der Behandlung von Psychosen auf Neuroleptika zu setzen. Neuere Medikamente sind inzwischen deutlich nebenwirkungsärmer. Klinke: Vielen Dank für dieses Interview! Klinke: Unterscheiden Sie in Ihrer Arbeit in die Kategorien psychisch krank / psychisch gesund? Moser: Diese Kategorien definiert zum einen jeder für sich selbst. Solange sich jemand selbst annehmen kann und subjektiv zufrieden ist, stellt sich in der Regel auch nicht die Frage nach Krankheit oder Gesundheit. Erst wenn Leidensdruck entsteht, kommt auch der Begriff der Krankheit ins Spiel. Schwieriger ist es da bei Menschen, die sich selbst als gesund erleben, allerdings die Umwelt sehr stark unter diesen Menschen bzw. deren Verhalten leidet. Dies ist häufiger bei Menschen der Fall, bei denen aufgrund der Erkrankung eine Einsicht in Behandlungsbedürftigkeit fehlt. Hier bedarf es eines sensiblen Umgangs mit dem Bedürfnis und Recht nach Selbstbestimung und der Fürsorgenotwendigkeit. Zur Person: Barbara Moser, Jahrgang 1957, ist Diplom-Psychologin und Psychologische Psychotherapeutin. Barbara Moser hat seit 1996 ihre Praxisräume in Münster-Hiltrup. Davor arbeitete sie in der LWL-Klinik Lengerich wie auch in der dortigen Institutsambulanz, Schwerpunkt: Arbeit mit Menschen, die sowohl eine geistige Behinderung wie auch eine psychische Erkrankung haben. Klinke: Gibt es einen Unterschied in der Arbeit mit Männern und Frauen? Können Sie die Unterschiede bitte be- Klinke 6 Glanzvoller Auftritt der „Irrlichter“ Die Studio-Bühne war am 2. Mai 2010 beim Auftritt der „Irrlichter“ (KünstlerInnen aus dem Umfeld der Psychiatriezeitschrift „Klinke“) gut besucht, über 60 BesucherInnen verhalfen dem neuen Auftrittsort zu einem gelungenen Einstand. sparsam eingesetzter Dramatik vor. Viele Akteure wären noch zu nennen, erwähnt werden soll hier nur Bernhard Fechner mit sensibler und melodischer Gitarrenbegleitung, die für die nötigen Atempausen sorgte. Michael Winkelkötter führte durch ein abwechslungsreiches Programm, von Kabarett über nachdenkliche Lyrik bis zu Kurzgeschichten, die unter die Haut gingen, wurde vielerlei für das Publikum geboten, das dafür nicht mit Beifall sparte. Michael Winkelkötter konnte ebenso wie die KünstlerInnen und BesucherInnen mit dem Ablauf des Abends zufrieden sein. Als Chefredakteur der „Klinke“ engagiert er sich schon seit rund 20 Jahren für die Öffentlichkeitsarbeit von Psychiatrie-Erfahrenen, um in der Gesellschaft Aufmerksamkeit für ihre Anliegen zu erlangen und der noch vorhandenen Ausgrenzung und Stigmatisierung entgegen zu wirken. Die „Klinke“ selber existiert schon seit 1977 und ist somit eine der ältesten deutschen Psychiatriezeitschriften und eine der wenigen, die unabhängig von einer stationären Einrichtung sind. Mit der gelungenen Irrlichter-Lesung Nr. 9 wurde die Erfolgsgeschichte weiter geschrieben, zur Zufriedenheit aller Beteiligten. Besonders Regina Seehausen als Putzfrau Frau Kaltebier, die einen Mann im Ohr hat, sprich Tinnitus, der aber fälschlicherweise unterstellt wird, Stimmen zu hören, konnte mit ihrem neuen Kabarettstück wieder manchen Lacher ernten. Jens Dombrowski trug Widmungsgedichte für Hölderlin, Rilke und Benn sowie jeweils ein Originalgedicht der genannten Dichter auswendig und mit Dieter Radtke Frau Kaltebier jetzt auf YouTube In dem Kabarettstück „Find’st Dich beim Psychiater ein, kommst kränker raus als vorher rein“ live während der 9. Irrlichter-Lesung am 02. Mai 2010 in der Studiobühne Münster www.kaltebier.ds-vision.de (Die kölsche Putzfrau „Frau Kaltebier“ erzählt, während sie die Bühne putzt, von ihrem merkwürdigen Besuch bei dem Psychiater Dr. Schmalspur……) Klinke 7 Der Dichter und die Psychiatrie (Teil 4: Zwei die sich brauchen: der Hypochonder und der Pathologe- ein Briefwechsel) Erster Brief des Hypochonders Sehr geehrter Pathologe, ich hab da mal eine Frage: ist die Krankheit eine Droge, und Gesundheit eine Sage? Auch die Heiler, andrerseits, haben oft ein kleines Ego; unterhalb des Halbgottkleids spielen viele noch mit Lego. Denn es sitzt, hab ich gelesen, mancher Mensch – trotz Schöpfungskrone, tief in seinem innern Wesen gar nicht gern auf seinem Throne. Geh ich Ihnen hier zu weit, oder stimmt es, was ich sage? Ihre Antwort, die hat Zeit – noch besteht kein Grund zur Klage. Voller Angst hinabzusteigen quälen ihn Gesundheitsmythen; an den neuronalen Zweigen treibt der Wahnsinn bunte Blüten. Schönen Gruß, Ihr Hypochonder! Die Antwort des Pathologen Hypochonder, guten Tag! Vielen Dank für Ihre Zeilen! Ihre Analyse mag gar ein Stück ihr Leiden heilen. Viele Kranke, ihrerseits, sind doch gerne unsre Kunden; als Gewinn des Selbstmitleids legt man „Liebe“ auf die Wunden! Doch es herrscht auf dieser Welt – so auch in der Medizin, nun einmal das große Geld – dem kann keiner sich entzieh n. Mag der Brief auch Schmerz bereiten wünsch ich Ihnen doch nur Gutes; dass sie auch in schweren Zeiten fröhlich sind und guten Mutes. Und so dient die Krankheitslehre bald nur noch dem Kapital; dass sich sein Profit vermehre wird Gesundheit oft zur Qual! Gott zum Gruß, Ihr Pathologe! Klinke 8 Zweiter Brief des Hypochonders Pathologe, kann es sein, ist der Mensch vielleicht ein Zwitter – als Patient das Burgfräulein, und als Arzt der weiße Ritter? Leuchtet nicht in unserm Leiden dann erst hell des Guten Stern, um das Böse zu vermeiden auf dem Weg zu unserm Herrn? Beide spielen ihre Rollen im Gesundheitsgrenzverkehr; um die Heilung zu verzollen muss ja erst die Krankheit her. Hiermit will ich Abschied nehmen und den Schweinehund besiegen; widme mich den schönen Themen, die mir so am Herzen liegen. Dramen und Tragödien sind doch schon seit Alterszeiten (mehr noch als Komödien) Dinge die uns Lust bereiten. Freundlich grüßt Ihr Hypochonder! Die Antwort des Pathologen Hypochonder, jetzt ganz ehrlich: bleiben Sie mal auf dem Boden – abzuheben ist gefährlich in den Krankheitsepisoden! Trägt die Medizinerzunft langsam auch groteske Züge – noch entscheidet die Vernunft im Gesunheitsdienstgefüge. Wenn ich Sie da recht verstehe, hat das Leiden diesen Sinn: in der Arzt- Patientenehe steigert es den Lustgewinn. Dieses bitte nie vergessen (auch wenn Sie der Wahnsinn schafft): handeln Sie niemals besessen – dazu wünsch ich Ihnen Kraft! Dass die Krankheit eine Quelle eines echten Ethos ist, gilt wohl nicht für alle Fälle – auch gesund bin ich ein Christ! Leb’n Sie wohl, Ihr Pathologe! Jens Dombrowski Klinke 9 Ein Klavier, ein Klavier! Der Pianist (für Roland Halemba) Sitzt ein Mensch vor einem Kasten, tanzt mit seinen Fingerspitzen über schwarz- und weiße Tasten – dringt Geräusch aus allen Ritzen. Sitzen Menschen, meist auf Stühlen, lauschend um die zwei herum; sich dem Meister nah zufühlen bleiben ihre Münder stumm. Wenn er’s kann, was oft der Fall, ist Musik das Endergebnis; und mit einem lauten Knall endet unser Tonerlebnis. Das verstimmte Klavier Ein Instrument von Meisterhand war wohl für Höheres bestimmt; doch keiner je ein Mittel fand – es war nie wirklich gut gestimmt. Jens Dombrowski „Ach, wenn ich doch ein Flügel wär , – so groß und elegant geschwungen, schon gäb ich schöne Töne her, – da wär mein Leben glatt gelungen.“ Es spielte mal, ganz ohne Ziel, ein Kind auf unserm Piano; es kitzelte der neue Stil, – da waren plötzlich beide froh. Jens Dombrowski Klinke 10 The Köln Concert Frédéric Chopin (für Keith Jarrett) Ich höre ihn, und möchte meinen: er spricht von wunderschönen Sachen; die Töne tanzen selbst im kleinen Prelude, dass alle Herzen lachen. Es ist vom ersten Ton an Zauber (der Dichter hält den Atem an); ich bin für heute Kurzurlauber – und frage: wer ist dieser Mann? Ein Pianist, der ihn belebt, darf das auf seine eig’ne Weise; doch wenn er nicht nach Höh’rem strebt bleibt er allein auf seiner Reise. Doch sein Gesicht spielt keine Rolle, (mein altes Ich wird neu durchdrungen); ich treibe auf der CD-Scholle, bis auch der letzte Ton verklungen. Der Dichter, der das Ganze sieht, spricht leider nur zu Minderheiten; doch weil es mich zur Schönheit zieht wird er mich stets ein Stück begleiten. Your music is a way of life, a magic rhythm flows beneath; in endless ocean I will dive – so play it once again, oh Keith! Jens Dombrowski Jens Dombrowski Herbstbeginn Früchte fallen vor die Füße mir von Gottes Lebensbaum; von der Sonne Abschiedsgrüße – golden glänzen Zeit und Raum. Und ich löse von den Dingen mich für Gottes Lebenslicht; denn es wird ein zähes Ringen mit des Winters Eisgesicht. Doch im ewig jungen März wartet Gottes Lebenslust; und so schlägt mein reifes Herz ungerührt in meiner Brust. Jens Dombrowski Klinke 11 Abwesenheit 30.04.2010 Kein Gedicht über Liebe Die Liebe wartet Am fremden Ufer – Unendlich fern Ein Blick aus Deinen Augen Der meinen Blick Niemals kreuzt – Und Du lachst immer Einen Augenblick zu spät Steine Die Stadt ist ein Labyrinth Abertausend Augen Denen ich verfallen bin 05.05.2010 Die Zärtlichkeit der Steine – Sie saugen sich voll Mit Wärme Wenn die Sonne Auf sie scheint Ich – ein Jäger Mit einer untauglichen Waffe – Ein hässlicher bitterer Blick Steht mir ins Gesicht Geschrieben Steine – Sie träumen vom Tod Weil sie selbst nicht leben Und trotzen Witterung Und Verfall Es gibt nur ein Gedicht Welches mich schöner malt – Das letzte ungeschriebene Gedicht Auf den Grabsteinen – In den Lüften Bis auch sie zerrieben werden – Staubiger Sand im Getriebe Und im Räderwerk Der Uhren Und immer setze ich Neu an zu Irrgärten – Verschlungenes Material – Worte Niemand findet in mir Ein Ziel Staub von toten Steinen Liegt zärtlich in der Luft Er weht in alle Fugen Und bedeckt als gelber Teppich Die Welt Nur die Fragen schweben Anmutig in der Luft Über dem Häusergewirr der Stadt Dieter Radtke Ich atme Staub Und spüre – ich lebe noch In der festgefügten Und flüchtigen Zärtlichkeit Der Steine Dieter Radtke Klinke 12 Wasserspiele 02.05.2010 Die Fährte führt In den Fluss Ich folge ihr Bis tief ins Wasser Ich werde ein Fisch Und lebe und vergesse Der Prophet Und Flugzeuge fallen Und schweben sacht In den Wolken Die sich spiegeln über mir In der Oberfläche Des Wassers 16.10.2010 Das Ende der Zuversicht – Mein Herz ist eine offene Wunde Gras wächst über Ruinen Ich träumte vom Tod Und sah blühendes Leben Kinder baden und ich umspiele Ihre schmalen Füße Und sie rufen Wenn sie mich bemerken: Da ist ein Fisch Leer sind die Kirchen Um Mitternacht im Regen Der Türmer von Lamberti Begrüßt den neuen Tag Und ich tauche tief Immer tiefer ins Vergessen Bis ich selbst das Vergessen bin Und Wasser und Wolke Und alles und nichts Dieser Tag ist rot angestrichen Im Kalender – Hauptgewinn In der Lotterie des Lebens Dieter Radtke Und Kinderlachen in der Stube Die Haare aber werden grau Orkane rasen über die Erde – Ausgedörrt und wüst Der Prophet will sich nähren Von Heuschrecken und wildem Honig Die Bienen aber sind tot Die Seelen verkauften sich An die Welt flimmernder Bilder Der Rufer in der Wüste – Er hat sich isoliert Durch die Taubheit und Blindheit Durch ein wagemutiges Wort Dieter Radtke Klinke 13 Einsame Gestalten Krepieren nach Auschwitz 01.01.2010 30.07.2010 „Trab Trab“ Waren die verspotteten Helden meiner Jugend – Du bist krepiert Er sie es sind krepiert Die große keifende Frau Und der kleine Mann Mit der brüchigen Stimme – Ihr seid krepiert Sie sind krepiert Ich und wir leben Auf Messers Schneide Bepackt mit Einkaufstaschen – Im Bahnhofsbereich verstrickt In endlosen Zwist Horrorfilme lehren uns: Krepieren ist schön Jetzt lacht man Verstohlen über mich – Jemand nannte mich „Feldmaus“ – Mein Gedicht Ist mein Messer Ins Herz der Welt: Ich krepiere Den unscheinbaren Dichter Mit den glühenden Gedichten der Vergeblichkeit Millionenfach Im Herztakt aller Toten Ihr aber: Begrabt nicht die Hoffnung! Der Menschen Ein Denkmal setzt Die es eigentlich nicht verdienten Die Zeit der Horrorfilme Ist eine schnell-lebige Zeit Dieter Radtke Dieter Radtke Lichtrettung Vision 22.10.2010 25.10.2010 Traumverloren fand ich mich – Ich war Ritter Der traurigen Gestalt – Das Herz pochte immer laut Vor Empörung und Liebe Am Grunde meiner Seele Wohnte das Tier mit den Hörnern Eine Spinne kroch aus meinem Leib Eigensinn aber knechtete Und warf mich zurück – Im Keller isoliert Musste ich mich ducken Deine Hände schlossen sich Zur Faust Und angststarrend sah ich In das Wolfsauge des Feindes Der Kampf mit mir Zerriss mich im Innersten Bis ich im Abgrund Nur noch beten konnte Verzweifelt erhoben im Traum Fand ich das Gegenglück – Jenes geistige Gold – Leuchtende Substanz der Heilung Und doch: ich wusste mich Nicht verlassen – Beflügelt – In schimmernder Rüstung Durchstieß ich die Gitter Der äußeren Welt Am Horizont des neuen Morgens Brach sich Sonnenlicht An Tieren und Untieren Und schien neu und verwandelt In mein inneres Auge Und fand die Rettung in mir – Jenen göttlichen Kern – Ewiges Licht meiner Seele Am Ende sah ich: Dem Wunder die Hand hinhalten Ist schön und kostbar Dieter Radtke Der Kelch der Finger öffnet sich Und empfängt Dein Blut Der Berührung Dieter Radtke Klinke 14 Urlaub in Schoorl An einem Montagmorgen fuhren wir vom PSZ aus nach Schoorl an der Niederländischen Küste. Wir waren zwanzig Leute und drei Betreuer. Die Fahrt dauerte fünf Stunden. Wir bezogen Quartier in einem Feriengruppenhaus. Wir blieben fünf Tage dort. Die meisten von uns liehen sich Fahrräder aus; andere fuhren mit dem Bus. Wir gingen zum Strand und in die Stadt. Wir fuhren nach Bergen und Alkmaar. Wir sahen die Fußball-WM, eines Abends haben wir gegrillt Am Freitag fuhren wir wieder zurück. Es war ein schöner Urlaub! Hans-Jürgen Blümel Schoorl Krisenjahr Zweitausendzehn. Urlaub auch in schweren Zeiten, um mal wieder Licht zu sehn – mag es meine Seele weiten! Ja, das ist es was uns fehlt: für die Zukunft die Vision; täglich uns der Abstieg quält, und von „Oben“ klingt s wie Hohn! Bergen, Schoorl und Alkemaar, und ein Badetag am Meer, sind ein Pluspunkt für das Jahr – ach, was fällt der Abschied schwer! Jens Dombrowski Der Hai in der Türkei Nachdem meine beiden Freunde sich aus der Türkei verabschiedet hatten, wollte ich alleine das gegenüberliegende Dorf erkunden, gegenüber dem Hafenbecken, ca. 1 km entfernt. look down!“ Außerdem machte er ein Photo. Ich befolgte die Anweisung und richtete meinen Kopf weiter nach oben. Am Ufer angekommen sagte jemand „Nice photo“. In Münster angekommen, legte ein Freund mir ein Photo aus einer Zeitschrift vor. Es handelte sich offenbar um jenes, welches der Mann im Flugzeug geschossen hatte. Es zeigte meine Wenigkeit, wie ich nach oben schaute. Unter mir befand sich ein ungefähr 5 m langer Hai mit einem scheußlichen Gebiss. Der Mann im Boot und der im Boot und der im Flugzeug haben mir das Leben gerettet. Ich vergaß die Episode bis vor einigen Monaten. Es war bestimmt immer derselbe Hai, der bei Flut im dunklen, vermüllten Hafenbecken nach Nahrung suchte. Peter Birkhoff Also schwamm ich los. Auf halbem Wege kam mir ein Schnellboot entgegen, in dem zwei Einheimische saßen. Der eine rief: „Fleet is dangerous, shark is coming!“ Ich machte mich sofort auf den Rückweg. Unterwegs spürte ich etwas am rechten Fuß. Es konnte eine kalte Meeresströmung sein oder etwas, worüber ich lieber nicht nachdenken wollte. Als ich noch so 200 m vom Ufer entfernt war, flog ein Sportflugzeug über mich hinweg, in dem ein Mann an der offenen Seitentür stand. Er rief: „Don’t Klinke 15 Zurück aus Island gern würde. Ich richtete mir ein Tagebuch ein mit einer bestimmten Anzahl von Seiten für jeden Reisetag, um einerseits eine Schreibblockade zu überwinden und andererseits einen Schreibrausch zu vermeiden. „Reisen ist doch eine wunderbare Form, der Seele bei der Arbeit zuzuschauen.“ so schrieb Jens Clausen mir als Widmung in sein Buch ,Das Selbst und die Fremde‘, das ich als Vorbereitung für meine Islandreise gelesen habe und über das ich eine Rezension in der Klinke 2009 schrieb. Die Reise begann mit einem Bad in der Blauen Lagune, einem der fünf schönsten Bäder der Welt. Den Höhepunkt erreichte mein Islandaufenthalt am sechsten Tag, bei der Umrundung eines Berges in der Vulkanzone; aus Erdlöchern kam heiße Luft. Ich hob einen Lavastein auf und legte ihn wieder zurück mit den besten Wünschen für mich und die Welt. Danach fühlte ich mich begleitet von Engeln und Elfen. Wie auch sonst so manches Mal in meinem Leben habe ich bei diesem Urlaub hoch gepokert: 20 Jahre lang habe ich davon geträumt, 10 Jahre lang dafür gespart und in 7 Jahren über 30 Bücher gelesen, die ich mit Island verband. Mein Hauptmotiv für die Reise war, mich in einem Land wiederzufinden, in der ein Magmaherd nur 2200 m unter der Erdoberfläche sich bewegt und das zu einer Jahreszeit, in der die Nächte nur drei Stunden lang sind. Auf dem absoluten Tiefpunkt der Reise war ich, als wir am siebten Tag stundenlang bei starkem Sturm auf einer Piste durch die Hochlandwüste fuhren. Während eines Stopps stolperte ich über einen Stein und stürzte; zum Glück bekam ich dabei nur ein paar Schürfwunden an den Händen. Zu dem Zeitpunkt war es gut, in einer Reisegruppe zu sein, die fürsorglich, freundlich und friedlich war. Immerhin schrieb ich ein kleines Testament auf, falls ich nicht lebend zurückkehren würde. Auch nahm ich Tabletten von meinem Psychopharmakum für sieben Wochen mit, falls wegen Widrigkeiten wie einem Vulkanausbruch sich meine Rückreise verzö- Zwei Tage später lachte mein Herz wieder und ich konnte Reykjavik erobert. Als Souvenirs nahm ich u.a. einen Wollpullover und eine CD ,Vikivaki‘ mit Volksmusik mit nach Hause. So wie ich mich kenne, werde ich die meisten isländischen Namen und Orte vergessen. Meine umfangreichen Notizen und Fotos werden mein Gedächtnis stützen. Die Freude, so eine Reise machen zu können, soll mir helfen, Ärger und Verdruß demnächst im Alltag zu begegnen. Anke S. Klinke 16 Ausflugsziel Berlin Kurfürstendamm, Brandenburger Tor. Abends sind wir in einer sehr gemütlichen Pizzeria gewesen. Ich ging wieder früh schlafen. Am Mittwoch stand die Besichtigung des Plenarsaals auf dem Programm. Achim kannte eine Dame von den Grünen, von der waren wir zum Gratismittagessen im Plenarsaal eingeladen. Ich sah dem Tag der Abfahrt nach Berlin sehr gespannt entgegen. Ein Freund sagte mir, ich solle ihm einen Berliner Bären mitbringen. Wir trafen uns morgens um 9.00 Uhr, zur Abfahrt um 10.00 Uhr gings los. Ohne Stau fuhren wir bis Berlin. Die Spannung auf Berlin wuchs. Wir fuhren in den Grunewald ein. Berlin gefiel mir sehr gut. Ich hatte sie mir viel industrieller vorgestellt. Berlin hatte den Charakter von Münster. In Berlin Grunewald waren wir im St. Michaelhaus untergebracht. Die Pension war ein bisschen bescheiden, aber dafür billig. Den ersten Abend machten wir in Berlin nichts anderes mehr als zu essen. Ich ging schlafen, ich war sehr müde. Ich finde es ein bisschen komisch, dass die Politiker trotz ihrer hohen Diäten auch noch gratis Essen kriegen. Nach dem Essen lauschten wir einer Fragestunde zu. Wir hätten aber lieber eine Debatte gehört. Ich habe mir den Plenarsaal viel größer vorgestellt. Berühmte Politiker haben wir leider nicht gesehen. Am nächsten Morgen gings nach dem Frühstück zur Spreefahrt per Schiff. Sightseeing durch Berlin. Es war beeindruckend. Mittags sind wir zu einem schönen See gefahren und haben Kaffee getrunken. Das Ende des Tages wie üblich mit Essen, heute chinesisch. Dann sind wir in der Straßenbahn verschiedene Sehenswürdigkeiten angefahren: Donnerstag fuhren wir nach Potsdam Sanssouci besichtigen. Leider nur von außen, der Eintritt war so teuer. Den letzten Abend beendeten wir beim Italiener. Abends saßen wir noch im Biergarten zusammen. Freitagmorgen war die Abfahrt näher gerückt. Für meinen Bekannten hatte ich leider keinen Berliner Bären gefunden. Als letztes kaufte ich noch Ansichtskarten. Der Nachhausweg ging wieder ganz problemlos – staufrei. Charlotte Tözlin Klinke 17 Sinn und Wahrheit Wer lügt, weiß die Wahrheit, doch ich kenn’ sie nicht. Was immer von Wert scheint, dass in mir was aufkeimt – ich trau’ keinem Licht. Es lässt sich erhärten, dass zehn ungleich acht. Doch so ist’s mit Werten: Sie mehrfach sich kehrten und kehren sich noch. Die Welt zerfließt stetig – Gestirn treibt dahin. Es ist nichts befestigt. Gält’ ein Wert doch ewig! Er stiftete Sinn. Wer straft, sich gut auskennt, doch ich kenn’ kein Recht. Wer irgendwas auslegt, der irrt, weil’s nicht feststeht. Ich glaube ihm nicht. Zwar nicht zu bestreiten ist greifbarer Tand, doch Völker sich scheiden: Moral kann nicht einen durch ungleichen Stand. Der Glanz eines Wertes – man oft damit blufft. Denn scheinbar Gerechtes, aus Gier man verficht es und so manch’ Leid schafft. Herrscht Gott, so herrscht Weises – ist beides geklärt? Denn mit welchem Maß misst ein Gott, was denn wahr ist? Er hätt’s uns gelehrt! Das Hirn erbringt Weises und Wissen, so scheint’s. Doch ungewiss bleibt es, welch’ Ethos birgt Wahres – drum wahrscheinlich keins. Ich wühle nach Werten, nach währendem Sinn. Ich will darauf setzen, dass mit solchen Schätzen auch ich wertvoll bin. Ich trau’ keinem Wert. Trät’ Sinn doch zutage! Birgt ihn wohl ein Traum? Ersehne, recht bange, die Kunst und die Gabe, das Wahre zu schau’n. Jürgen Rath Der Stern Gelassen sein – sich lösen von der Last, dass minder erscheine sie, wenn sie so fern ... Es weise tun: das Glück erspür’n mit Rast. Es nähert sich nun – am Grund glänzt ein Stern ... Jürgen Rath Klinke 18 Frauenfreizeit 2010 Mit 9 Frauen und 3 Betreuerinnen vom PSZ fuhren wir am 17. Mai 2010 los in Richtung Eiderstedt, Schleswig-Holstein. Nach guter Fahrt kamen wir an unserem Ziel an: ein großes reetgedecktes Haus und eine große Wiese mit zwei Strandkörben. Das Haus war ganz aus Holz und wir hatten Doppel- und Dreibettzimmer. Wir kochten für uns selbst und saßen im Esszimmer an der langen Tafel gemütlich zusammen Welch ein Glück, dass wir als Betreuerin eine gelernte Physiotherapeutin dabei hatten, so waren die Abende mit Rücken-, Igel- und Fußmassage ausgefüllt bei schöner Musik. Der dritte Tag war ein Sonnentag, an dem wir draußen frühstückten und dann nach St. Peter-Ording fuhren. Dort verbrachten wir den Tag im Strandkorb und mit Spaziergängen am Meer und mit Muschelsuchen. Das Meer war 11 Grad kalt. Am ersten Abend gingen wir ans Meer auf die Promenade und zwei Frauen gingen mit bloßen Füßen ins Meer; das war kalt und erfrischend! Einen Tag machten wir einen Ausflug nach Friedrichstadt, wo viele Tee- und Souvenirläden waren. Wir kauften noch jede Menge Fisch fürs Abendessen. Am Abreisetag frühstückten wir wieder draußen und waren uns einig: Das war ein schöner Urlaub! Hier kommen wir noch mal wieder hin! Regina Borgerding Eine Psychose ist... im Flugzeug über dem Meer über den Wolken dahinziehen die Wolkendecke als Schneelandschaft wahrnehmen und die geschlossene Gesellschaft verlassen, um im Schnee zu wandern Anke S. „Bild Zweier“ Ich hege tiefes Vertrauen zu Dir Aber ich zweifele oft – An mir · Die Blume am Wegrand Das Lächeln der Wegblume Zwischen Bürgersteigbordstein Und Straßenrinne/ -gosse entwachsen Anvertrautes Anvertrauen Anheimgegeben Liebevoller Blick Hingabe · Was gebe ich? Streift an mir vorüber Streift mich und streift zu mir · Bild zweier Mädchen mit dem unbekannten Namen Fremde in meinen Armen Andreas Stork – VlothoFestival „Umsonst und Draußen“ 1978 · Klinke 19 Unbekanntes Mädchen Mädchen mit den blauen Augen Hast mich um den Schlaf gebracht Bis zum frühen Morgen Habe ich nur an dich gedacht Diese Nacht ist wie verklärt, im Radio Spielen sie schon seit Stunden wehmütige Lieder Ich denke nur noch an dich, ich sehne mich so Wann sehe ich dich endlich wieder Ich kann dich nicht mehr vergessen Bin vor Liebe ganz aufgeregt War selbst noch im Traum von dir besessen Die Sehnsucht hat mich wieder aufgeweckt Müde geht das alte Jahr Draußen fällt schon der erste Schnee Ich wünschte du wärest jetzt da Denn die Sehnsucht tut so weh Jürgen Knoch „Unbekanntes Mädchen · Zeichnung: Jürgen Knoch Klinke 20 nicht so es hätte angefangen werden können das Sein im Jetzt wir singen ein Lied sagen uns das kann sein Das Leben es hätte begonnen zu fragen was sei mit Dir zu singen ein Lied und warten bis wir froh Ingo Wabnik ich liebe Dich und sehe zu dass Du feierst immerzu Klinke 21 Der Fantasie der Zuschauer Flügel geben Interview mit Monika Korn, Simon Schwering, Johannes Beyer, Ina Krüll, Paula Artkamp und Manfred Kerklau vom Theater Sycorax Klinke: Bitte schildern Sie uns, wie die Theatergruppe Sycorax entstanden ist Altersstruktur ist weit gefächert, es können junge und auch ältere Menschen mitmachen. Insgesamt darf das Ensemble aber nicht mehr als 15 Menschen umfassen, da wir ansonsten einfach nicht mehr gut miteinander arbeiten können. Neben dem Ensemble gibt es noch viele weitere Bereiche, die Sycorax ausmachen. Wir denken dabei an die Regiearbeit, die durch Paula Artkamp und Manfred Kerklau gemacht wird, an das Bühnenbild, die Kostüme, die Öffentlichkeitsarbeit. Da wir einen hohen künstlerischen Anspruch verfolgen, muss auch das Licht und die Musik sehr professionell sein. Sycorax: Am Anfang stand bei Paula Artkamp die Idee, ein integratives Theaterprojekt, zusammengesetzt aus psychisch kranken Menschen und Menschen ohne Psychiatrieerfahrung, zu gründen. Aus diesem Grund sind verschiedene psychiatrische Kliniken angefragt worden, ob grundsätzlich eine Zusammenarbeit vorstellbar wäre. Die Resonanz auf diese Anfrage war sehr bescheiden. Schließlich ist die Idee im Psycho-Sozialen-Zentrum positiv aufgenommen worden. Von dort wurde Interesse an einer Zusammenarbeit signalisiert. Zu Anfang sollte uns von Seiten des Psycho-Sozialen-Zentrums noch ein „Psychiatrie-Profi“ zur Seite gestellt werden. Doch nachdem eine Mitarbeiterin ein Mal an einer Probe teilgenommen hatte, wurde darauf verzichtet. Es war wohl deutlich geworden, dass diese Idee auch ohne „Psychiatrie-Profis“ umzusetzen ist. Klinke: Welche Rolle spielt es bei Sycorax, ob jemand der Mitspieler oder Mitspielerinnen eine psychische Erkrankung hat – ist dies vielleicht sogar eine Voraussetzung? Sycorax: Nein, eine Voraussetzung ist dies sicher nicht. Wir fragen nicht danach, ob jemand Psychiatrieerfahrung hat. Dies ist für unsere Theaterarbeit auch nicht wichtig. Wir wissen aber voneinander, dass einige aus dem Ensemble betroffen sind. Dem Ensemble war es von Anfang an wichtig, dass nicht ständig die „psychiatrische Brille“ aufgesetzt wird und alles und jedes in irgendeine psychiatrische (Krankheits-) Kategorie einzuordnen ist. Daher war es wichtig, auf die Mitarbeit von „PsychiatrieProfis“ zu verzichten. Klinke: Wie gelangt man in das Ensemble und was sind die Voraussetzungen, mitzuspielen? Sycorax: Wenn wir ein neues Projekt planen, dann sind auch immer Interessierte eingeladen, sich bei uns vorzustellen. Dies machen wir z. T. auch öffentlich bekannt. Natürlich ist es auch möglich, sich bei uns zu bewerben. In den anstehenden Übungen und Proben schauen wir dann, ob eine Zusammenarbeit möglich ist. Jede(r) geht unterschiedlich mit der Erfahrung um, auf der Bühne zu stehen. Dies ist nicht für jeden etwas. Das Wichtigste ist natürlich, Spaß und Freude an der Theaterarbeit mitzubringen. Aber das ist natürlich nicht alles. Der oder diejenige muss auch in das Ensemble passen, menschlich gesehen. Grundvoraussetzungen sind Zuverlässigkeit und auch Kontinuität und die Bereitschaft, sich auf diese spezielle Situation einzulassen. Natürlich ist es beim Theaterspielen wichtig, sich Abläufe merken zu können. Textsicherheit kommt dann noch dazu. Vorerfahrungen in der Theaterarbeit sind aber keine Voraussetzung. Klinke: Wie finanziert sich das Theater Sycorax? Sycorax: Für das Theater Sycorax gibt es keine Regelfinanzierung. Für jedes Projekt müssen neue Gelder beantragt werden. Das Theater ist ein eingetragener Verein und Mitglied im Paritätischen. Finanziell werden wir u. a. von der Stadt Münster und dem Förderkreis Sozialpsychiatrie e. V. unterstützt. Auch gibt es einen gemeinnützigen Förderverein „Sycorax“. Klinke: Wieviel Stücke habt Ihr bisher aufgeführt und was bedeutet eigentlich Sycorax? Sycorax: Sycorax ist der Name einer Hexe aus William Shakespeares Stück „Der Sturm“, welches wir auch aufgeführt haben. Sycorax klingt auch wie ein Medikament, von daher haben wir diesen Namen für gut geeignet gehalten. Das Theater Sycorax hat seit 1996 insgesamt 16 Stücke aufgeführt, die nächste Produktion ist in Planung. Klinke: Wie setzt sich das Theater Sycorax zusammen? Klinke: Wie groß ist der „Aufwand“ der Mitarbeit? Die Stücke sind immer sehr gut gespielt und inszeniert – überhaupt macht das Theater einen sehr professionellen Eindruck. Sycorax: Der Anteil von Frauen und Männern ist ungefähr gleich groß. Da immer auch Veränderungen im Ensemble stattfinden, schwankt es entsprechend. Die Sycorax: Das ist richtig. Wir arbeiten sehr intensiv und auch professionell. In der „heißen Phase“, d. h. beim Entstehen eines neuen Stückes, proben wir 1 – 2 x in Klinke 22 der Woche, meistens an den Wochenenden. Das Lernen der Texte muss noch dazu gerechnet werden. Für einige Rollen ist Gesang wichtig. Dass muss dann noch extra geübt werden. Da kommt einige Zeit zusammen. Es ist gut sich das vorher bewusst zu machen. serer Gesellschaft. All das, was in unserer Gesellschaft ein Thema ist, kann auch bei Sycorax zum Thema gemacht werden. Ein politischer Anspruch steht nicht im Vordergrund. Wenn wir uns aber mit der Gesellschaft beschäftigen, dann bedeutet dies sicherlich auch mit der Politik. Der Reichtum unserer Theaterarbeit ist es, die Fantasie des Zuschauers beflügeln zu können. Dabei wollen wir sicherlich auch unterhalten, dies aber mit einem klaren künstlerischen Anspruch. Die Regie achtet darauf, dass sich die Zuschauer auch in dem Stück wieder finden können. Klinke: Hilft das Theaterspielen bei der Bewältigung einer psychischen Krankheit oder einer Krise? Gibt es vielleicht auch einen therapeutischen Ansatz in der Theaterarbeit? Sycorax: Zum therapeutischen Anspruch gibt es ein klares Nein. Den verfolgen wir mit unserer Theaterarbeit sicher nicht. Wir haben einen künstlerischen Anspruch. Zu Beginn des Theaterprojektes wurde von Psychiatrie-Profis die Befürchtung geäußert, dass die Arbeit sogar schädlich sein könnte. Die Erfahrungen zeigen aber klar, dass dies nicht zutrifft. Im Gegenteil. Mit der Theaterarbeit ist bei fast allen ein „Wachsen“ verbunden. Die Arbeit gibt Selbstbewusstsein. Jede(r) wird so genommen, wie sie oder er ist. Das Entstehen eines Stückes ist auch ein großer persönlicher Erfolg, ein persönlich sehr schönes Ereignis. Hier kann entsprechend Selbstbewusstsein wachsen. Alle sind stolz auf das Ergebnis, über den sehr positiven Zuspruch des Publikums. Klinke: Sycorax spielt vor allen Dingen im Theater Pumpenhaus. Wie ist das zu erklären? Sycorax: Das Theater Pumpenhaus ist der langjährige Kooperationspartner unseres Theaters. Die Zusammenarbeit ist sehr erfreulich, die Bühne gut für unsere Vorstellungen geeignet. Dies wollen wir auch in der Zukunft weiter fortsetzen. Klinke: Kennt Ihr auch das Bühnenprogramm der Klinke, die „Irrlichter“? Sycorax: Ja, die Irrlichter sind uns bekannt. Wir haben einige Aufführungen gesehen. Auch Ihr arbeitet sehr professionell und überzeugend. Die Irrlichter sind sicherlich eine gute Ergänzung zu Eurer Zeitungsarbeit. Klinke: Welche Themen werden bei Eurer Theaterarbeit aufgegriffen? Versteht Ihr Eure Arbeit auch politisch? Sycorax: Das Theater und die gespielten Stücke haben unterschiedliche Themen. Es geht dabei z. B. um Arbeitslosigkeit, also auch um soziale Themen. Wir verstehen unsere Theaterarbeit als Spiegelbild un- Klinke: Vielen Dank für das Interview. Wir wünschen Euch weiterhin viel Erfolg mit Eurer Theaterarbeit!!! Klinke 23 Zum Theaterstück „Kommt ein Mann zur aufgeführt von der Theatergruppe Sycorax (Theater im Pumpenhaus Ende Oktober 2010) Welt“, Teil 1 Führung entlassen, ging es ans Shoppen und auch Brunos Lied lief im Radio. Der Lebensberatung Pro Vita-Fen musste er zwar gestehen, manchmal einfach tot sein zu wollen, aber es ertönte ein Stimmenchaos aus dem Off und die neue Parole: new track, hey Massenpublikum. Ein Mann kam zur Welt, aus den Tiefen des Mutterschoßes oder aus chilenischer Erde (wie Zeitungen nach dem Grubenunglück titelten), es wurde dargestellt als beschwingte Nummernrevue, als Parforceritt durch das Leben von Bruno Benjamin Raphael Stamm, er war auch nur ein Mensch, heißt es am Schluss … und er handelte und irrte unter der Begleitung eines Chaos sich widerstreitender Stimmen. Vom eigenen Vater ungewollt, wurde er zur Welt gebracht und wuchs gut behütet auf. Erste Liebeswirren und das Heranreifen zum Mann fanden Ausdruck im Refrain eines Liedes: sie hat ihm den Kuss gegeben, mir aber nicht. Wechselfälle des Lebens – auf der Suche nach der entschwundenen Suse wird Bruno in der Erotikabteilung fündig, wo Suse gerade eine Peitsche für ihren Freund kaufen möchte. Wiedergefunden und verloren wird das Glück, bei der harten Arbeit in der Kiesgrube schweigen die Stimmen, Bruno ist frei, aber hat alle Lieder vergessen. Am Ende lauern Altern und Sterben – das Lied mit Refrain „dumm – in den Himmel kumm“ hat ungeahntes Hitpotenzial, vor dem Absturz in Alzheimer gibt es noch ein bisschen Luxus und Erinnerung an schöne Momente, der Tod wird schön sein – „Ich höre auch nichts mehr“ und „Er war auch nur ein Mensch“ – aber wer hat diese Stimmen gesprochen? Und fremde Stimmen riefen: alles ist auch anders möglich. Die Individuation, das Werden zum Künstler zeitigte weitere Enttäuschungen: alles kam dem Juror bekannt vor – Wolke, Herold, Kippenberger. Das politische Erwachen gipfelte im Schuss des Revolutionärs, der Veränderung verhieß. Was folgte, war Liebe in Zeiten des Arrests und „die Hoffnung, dass ein Ende singend aufzuheben sei.“ Nach guter Dieter Radtke Foto: Ralf Emmerich Klinke 24 Teil 2 Bei aller Fülle des Lebens, die auf der Bühne gezeigt wurde, bleibt plakativ der Eindruck des Schildwortes ‘reduziert’, das an einer Matratze hängt. Auf dieser Matratze wurde er gezeugt – ungewollt – und zeugte selber seinen Sohn. Das Unvollkommene in den verschiedenen Bereichen des Lebens ist zu spüren. Beziehungen, Produktion und Kreativität, Konsum und Erleben im Genuss sind Elemente eines misslungenen Individuationsprozesses – dar- gestellt wurde die Hauptfigur durch drei Schauspieler – psychisches Clonen? Zum Schluss wird der Vergänglichkeit des menschlichen Körpers und Verstandes ein Ahnen von Transzendenz angehängt. Ich als Frau denke: während zum Leben eine Mannes Zeugen und Arbeiten gehören, gelingt es nicht jeder Frau Gebären und Arbeiten zusammenzukriegen. Die Frage bleibt: wo bleibt der Wille? Anke S. Wahnsinn im Staatstheater Kassel Theater Sycorax gibt ein Gastspiel vor vollen Rängen Um es vorweg zu nehmen: es war das kleine Haus, das wir im April 2010 im Rahmen eines Theaterfestivals füllten. Das Theaterensemble ,Chaosium‘ hatte Sycorax und zwei weitere Gruppen anlässlich seines zwanzigjährigen Bestehens nach Kassel eingeladen. Die integrativen Theatergruppen boten eine Woche lang Theaterwahn pur. Der Titel war Programm: hier konnten Menschen mit einer psychischen Erkrankung eine Woche lang einem interessierten Publikum ihr ganzes Können zeigen. Den Anfang machte die Bohnice Theater Company aus Prag mit dem Stück „Naked Life“, eine Art bildhaft-fragmentarische Collage selbst erlebter Kämpfe, Siege und Niederlagen. Die beiden weiteren Abende gestaltete das gastgebende Ensemble ,Chaosium‘. Zuerst spielte die Haupttruppe „Don Q“ – Don Quijote in der Psychiatrie, eine Satire über Idealismus und Wahnsinn. Das zweite Stück mit dem Titel „Die Reise der Vögel“ behandelte den Prozess der Selbstfindung der Menschen. Die kleinere Gruppe von ,Chaosium‘ erzählte von diesem Abenteuer in poetischen Bildern und Texten. Am vorletzten Abend zeigte das Theater ,hArt times‘ aus Hannover sein neues Stück „Best song of my life“. In ihm entwickelten die Schauspieler, von ihrem Lieblingslied ausgehend, kurze Geschichten über wichtige Ereignisse in ihrem Leben. Zum Abschluss der Aufführungen präsentierten wir vom Theater Sycorax dann unser Stück „Kommt noch was“ (siehe auch Klinke Nr.35). Der Abend endete mit einer Party im zentralen Treffpunkt des Festivals, dem Cafe „Dock 4“, mitten in der Kasseler Innenstadt. Dort wurden auch die aufgeführten Stücke jeweils am darauf folgenden Tag besprochen. Es zeigte sich, dass die Theaterarbeit mit Menschen mit einer psychischen Erkrankung sehr viel Sensibilität erfordert. Auch wurde deutlich, dass die Auffassungen darüber, was die Schauspieler in einem Stück von sich preisgeben können, oft weit auseinander liegen. Das Festival bot in entspannter Atmosphäre die Möglichkeit, Eindrücke über die Theaterarbeit der anderen Gruppen zu sammeln und die eigene Leistung so noch einmal aus einer neuen Perspektive zu beurteilen. Es war ein wahnsinnig gutes Gefühl, dabei zu sein. Jens Dombrowski Klinke 25 Bürgerlied Anonymus/Zusatztexte von Jürgen Rath „Ob wir gelbe, rote Kragen, Helme oder Hüte tragen, Stiefel tragen oder Schuh, Oder ob wir Röcke nähen Und zu Schuhen Drähte drehen: Das tut, das tut nichts dazu. Drum ihr [Wir, die] Bürger, drum ihr [ihr als] Brüder, Alle eines Bundes Glieder, Was auch jeder von uns tu –“ Nein! Denn ihr nur, ihr seid Glieder, Einst sind wir der Bauch, den wieder Füll’n müsst ihr. So geht das zu. Ihr seid arm und Bein und Glieder, Einst sind wir der Bauch, den wieder Füll’n müsst ihr. So geht das zu. Ob wir können präsidieren Oder müssen Akten schmieren, Ohne Rast und ohne Ruh’, Ob wir just Collegia lesen Oder aber binden Besen: Das tut, das tut nichts dazu. „Alle, die dies Lied gesungen, So die Alten, wie die Jungen, Tun wir, tun wir was dazu! [,]“ Dass wir sind an Rechten reicher Alle gleich und wir noch gleicher. Tut für uns doch was dazu, Dass euch künftig wir ausnützen, Denn Gesetze, die euch schützen, Die gesteh’n wir euch nicht zu. Ob wir stolz zu Rosse reiten, Oder ob zu Fuß wir schreiten Fürbaß unserm Ziele zu, Ob uns Kreuze vorne schmücken Oder Kreuze hinten drücken, Das tut, das tut nichts dazu.“ „Tun wir, tun wir was dazu!“ Wenn von Rang ihr auch seid niedrig, Lasst uns wehr’n den Herr’n einträchtig, Die uns zwingen immerzu! Die heut’ euer Recht verletzen, Wollen morgen wir ersetzen, Ob nun wir, tut nichts dazu. Zu diesem Lied und den zusätzlichen Versen „Hoffmann von Fallersleben, der Dichter der deutschen Nationalhymne, sagt, dass dieses Bürgerlied im Mai 1845 für den Elbinger Bürgerverein geschrieben wurde. Die für diesen Text verwendete Melodie des Liedes ,Prinz Eugen, du edler Ritter‘ sorgte seinerzeit für den satirischen Pfeffer.“ (Booklet der CD „Alle die dies Lied gesungen“ von Zupfgeigenhansel) „Aber ob wir [Darum lasst uns] Neues bauen Oder [Und nicht] Altes nur verdauen, Wie das Gras verdaut die Kuh, Ob wir in der Welt was schaffen Oder nur die Welt begaffen: Das tut, das tut nichts dazu. Heute sollen die zusätzlichen Verse, die auf die für Jahrzehnte ungelöste soziale Frage (Verelendung) in Europa im späteren Verlauf des 19. Jahrhunderts bezogen sind, für den „satirischen Pfeffer“ sorgen. Ob im Kopfe etwas Grütze Und im Herzen Licht und Hitze, Dass es brennt in einem Nu – Oder ob wir hinter Mauern Stets im Dunkeln träge kauern: Das tut, das tut was dazu. Diese kritischen Verse richten sich nicht gegen das Bürgerlied und dessen unbekannte(n) Autoren, zumal man ja über dessen/deren Werdegang nichts weiß. Aber das Bürgertum im Allgemeinen, das „dies Lied gesungen“ (Bürgerlied), das also jene, die „Kreuze hinten drücken“ (ebd.) zur Solidarität aufgerufen hatte, um die Verhältnisse zu verbessern zum vermeintlichen Vorteil aller, verriet die Interessen der Besitzlosen und des sich rasch vergrößernden Proletariats, sobald es die Macht in Europa früher (Frankreich) oder später (Deutschland) eroberte. Nur eine Minderheit der Bourgoisie (Bürgertum) engagierte sich für dessen soziale Rechte, statt von dessen Verelendung zu profitieren. Ob wir rüstig und geschäftig, Wo es gilt zu wirken, kräftig Immer tapfer greifen zu, Oder ob wir schläfrig denken, ‘Gott wird’s schon im Schlafe schenken’ – Das tut, das nichts dazu. Begleittext von Jürgen Rath Klinke 26 Der Psychiater und sein Entwurf „Was tun Sie“, wurde der Psychiater gefragt, „wenn Sie einen Patienten behandeln?“ – „Ich mache einen Entwurf von ihm“, sagte der Psychiater, „und sorge, dass er ihm ählich wird.“ – „Wer? Der Entwurf?“ – „ Nein“, sagte der Psychiater, „der Patient.“ Frei nach Bertolt Brecht „Wenn Herr K. einen Menschen liebte“ aus „Geschichten von Herrn Keuner“ Regina Seehausen Klinke 27 Rezension über das Buch „Depression – Wege aus der dunklen Nacht der Seele“ von Rüdiger Dahlke Erkrankung die besonders typisch in unsere Zeit passe, im Zeitalter von Globalisierung, Konkurrenzkampf oder der materiellen Übersättigung. Häufige Auslöser der Krankheit seien zum Beispiel Jobverlust oder Verlust des Lebenspartners, zum Beispiel durch Trennung. In dem vorletzten Kapitel des Buches geht es dann um die Bedeutung der Symptome. Denn Krankheit ist nach Rüdiger Dahlke kein willkürliches Schicksal oder Zufall, sondern eine Chance zu innerem Wachstum. Es soll nämlich durch Krankheit ein Wachstumsschritt erzwungen werden, der bei dem Kranken nicht erfolgt ist. So habe zum Beispiel Antriebsschwäche den Sinn einmal Innezuhalten und seine Lebenssituation zu überdenken. Sinnlosigkeitsgefühle wollen zur verstärkten Sinnsuche animieren, bei Schuldgefühlen sollte man sich fragen, was man dem Leben bisher schuldig geblieben ist, und Schlaflosigkeit zeige an, das man mit dem Tag und dem Leben überhaupt nicht fertig wird und abschließen kann. Im letzten Kapitel geht es schließlich um die „Wege aus der dunklen Nacht der Seele“, nämlich verschiedene Therapien aus dem schulmedizinischen, aber auch aus dem esoterischen Bereich. Man wird jedoch einige Sachen in dem Buch nicht verstehen, wenn man nicht einige frühere Bücher von Dahlke oder Torwald Detlefsen kennt. So tauchen zum Beispiel Begriffe wie „Urprinzipienlehre“, „Schattenbereiche der Seele“ oder auch „Individuationsweg“ oder „Archetypen“ auf. Einige Begriffe haben Detlefsen und Dahlke von C.G. Jung übernommen, stellen diese Begriffe aber in ihren eigenen weltanschaulich esoterischen Bereich, während C.G. Jung ja weltanschaulich neutral war, weil er sich als Naturwissenschaftler sah. So sollte man die Bücher „Krankheit als Weg“, oder „Schicksal als Chance“ von Detlefsen oder auch das Buch „Das senkrechte Weltbild“ von Nikolaus Klein kennen, im letzten wird die Urprinzipienlehre ausführlich erklärt. Es ist natürlich eine Schwäche des Buches, dass man zum Verständnis andere Bücher kennen sollte. Auch Dahlkes Gedankengänge über Depression sind nicht immer Allerweltsmeinung. Außerdem kann einem das Lesen, zum Beispiel die Schilderung der Depression in Kunst und Mythos, runterziehen, wenn man selber zu Depressionen neigt. Aber andererseits enthält das Buch auch sehr viel Wissenswertes über die Depression und kann doch schon einige wichtige Erkenntnisse über die Erkrankung anregen. Das Buch „Depression – Wege aus der dunklen Macht der Seele“ von Rüdiger Dahlke ist im Wilhelm Goldmann Verlag erschienen und kostet gebunden 19,50 Euro und als Taschenbuch 9,95 Euro. Der Doktor der Medizin, Psychotherapeut und esoterische Heiler Rüdiger Dahlke ist durch das Buch „Krankheit als Weg“, das er zusammen mit dem Psychologen und Esoteriker Torwald Detlefsen geschrieben hat, bekannt geworden. Es folgten dann weitere Nachfolgebücher ohne die Mitwirkung von Torwald Detlefsen. Das waren Bücher wie „Krankheit als Sprache der Seele“, „Aggression als Chance“, „Lebenskrisen als Entwicklungschance“, und so weiter. Ein Nachfolgebuch von „Krankheit als Weg“ ist nun auch dieses Buch, in dem sich Dahlke ausführlich zu Depressionen äußert. Er habe selbst nie eine Depression gehabt, doch die Beschäftigung mit dieser Erkrankung habe ihn reicher gemacht, schreibt er. Im ersten Kapitel geht es als Einstimmung in die Welt der Depressionen um die Erkrankung in „Kunst und Mythos“. Es werden auch Gedichte zitiert, die die Krankheit und das Leiden der Betroffenen eindrucksvoll schildern. Intensiv beschäftigt sich Dahlke dann mit dem Leben und Werk von Hermann Hesse, der in seinem Leben immer wieder Depressionen bekam und schließlich damit zu leben lernte. Es werden zwei längere Abschnitte aus Hermann Hesses Romanen zitiert, in einem davon geht es um einen Selbstmord. In weiteren Kapiteln beschreibt Dahlke Tatsachen der Erkrankung, aber auch seine vielfältigen Gedankengänge zum Thema Depression. Es sei eine Martin Schröer Klinke 28 Und Du sehnst Dich so nach diesem einem Atemzug, der Dich am Leben lässt und Dir sagt, dass alles hier vergessen ist. von Silbermond Ich glaub`ich brauch` frische Luft Von Clueso Ausgesucht und zusammengestellt von Nina Burmeister Klinke 29 Lene in Not Sie ist allein. Allein mit ihrer Angst. Unruhig und nervös in erregter, aufgewühlter Anspannung steht sie in der Schlange fremder Menschen. Menschen, die sie noch niemals zuvor in ihrem Leben gesehen hat. Menschen, die sie wahrscheinlich, ja, die sie hoffentlich, nie jemals wiedersehen wird, in diesem dunklen, fremden, stickigen Flur. Ein penetranter Geruch nach Bohnerwachs liegt in der Luft, raubt ihr die frische Luft zum Atmen, benebelt ihr die Sinne. Sie wäre jetzt lieber an einem anderen Ort. Sie wünscht sich weg, weit weg von hier, egal wohin, nur nicht hier. Die Schlange steht jetzt schon bis zur Haustür und es ist noch nicht einmal neun Uhr. Immer neue Menschen kommen jetzt, schieben von hinten nach. Es liegt eine aufgestaute Unruhe in der Luft. Man kann die unterdrückten Aggressionen förmlich spüren. Sie würde jetzt am liebsten laut aufschreien. Doch sie darf nicht. Sie muß jetzt Ruhe bewahren. Jetzt bloß ruhig bleiben. Ruhig Blut, sagt sich Lene. Sie braucht diese Wohnung. Unbedingt! Lisa bestimmt gut helfen können, da ist Lene sich sicher. Überhaupt Wohnungssuche. Diese Wohnungssuche ist das letzte, was Lene jetzt noch gebrauchen konnte. Eigentlich besitzt sie ja eine schöne preiswerte Zwei-Zimmer-Wohnung, Altbau, in guter Innenstadtlage gelegen. Eigentlich! Denn aus ihrer Wohnung muß Lene jetzt raus, sagt das Sozialamt. Weil die Wohnfläche zu groß ist. 52 qm groß ist ihre Wohnung. 45 qm maximal sind erlaubt. Da läßt die Sachbearbeiterin nicht mit sich reden. Da nützt es auch nichts, daß die Wohnung super günstig ist, viel günstiger als vom Sozialamt erlaubt. Auch nicht, daß sie persönlich mit Annegret bei Frau Schlenker, so heißt ihre Sachbearbeiterin, vorgesprochen hat. Knallhart und eiskalt war sie dort abgewiesen worden. Interessiert hatte sich Frau Schlenker erst ihre Krankheitsbiographie und die besonderen Lebensumstände angehört. „Das tut mir alles sehr leid“, hatte sie dann in einem beiläufigen kühlen Ton gesagt. „Doch mir sind da leider die Hände gebunden. Ich kann auch nicht einfach die Gesetze ändern.“ Lene hatte sich selten psychisch so nackt und hilflos gefühlt. Annegret hatte die ganze Zeit nur still vor sich hingeschwiegen. Richtig peinlich war Lene das gewesen. Eigentlich hatte Lene mit Lisa auf Wohnungssuche gehen wollen. Lisa ist, oder vielleicht sollte man besser sagen, Lisa war Lenes Betreuerin. Doch Lisa ist jetzt im Babyurlaub. Mit Annegret, ihrer neuen Betreuerin, versteht sich Lene nicht so gut. Die will doch sowieso immer nur reden. Quatschen und Kaffee trinken. Für praktische Sachen ist die sowieso nicht zu gebrauchen. Einmal sollte sie für Lene beim Sozialamt anrufen, weil sie an dem Tag wirklich keine Zeit hatte. Doch sie hat sich einfach geweigert. Hinterher hat sie dann alles abgestritten. Manchmal glaubt Lene, daß diese Annegret noch lebensuntüchtiger ist als viele der psychisch Kranken. Ach wäre damals doch nur Lisa dabei gewesen. Das hatte sich Lene so sehr gewünscht. Die hätte dieser Frau Schlenker sicherlich richtig die Meinung gegeigt. War die erst mal richtig in Fahrt die Lisa, dann war die nicht mehr so leicht zu bremsen. Lisa das Energiebündel, der Powerzwerg haben alle sie nur genannt. Alle hat sie angesteckt mit ihrer Vitalität und Fröhlichkeit. Auch jetzt muß Lene wieder unwillkürlich an Lisa denken. Für ihr Privatleben interessiert sich Annegret da schon mehr. Manchmal bohrt sie in ihren intimsten Gedanken und Gefühlen. Ob sie schon mal einen Freund hatte, hat sie Lene einmal gefragt. Das war ihr höchst unangenehm gewesen. Am liebsten wäre sie im Boden versunken. Nein, trauen kann man dieser Frau Annegret wirklich nicht. Ob sie nun will oder nicht, bei der Wohnungssuche ist Lene auf sich ganz allein gestellt. Da muß sie jetzt durch, gucken, wie sie das irgendwie schafft. In solchen Augenblicken wünscht sie sich die alten Zeiten mit Lisa zurück. Oft weiß man ja erst hinterher, was man an einem Menschen hatte, dann wenn diese Person nicht mehr da ist. Bei der Wohnungssuche hätte ihr „Hallo! Junge Dame. Hallo! Hallo! Hören sie mich“, wird Lene urplötzlich aus ihren tiefsten Gedanken gerissen. Der Vermieter spricht sie persönlich an. „Wollen sie die Wohnung jetzt haben oder nicht?“ Lene ist richtig baff. Der Vermieter scheint sie zu mögen. Das hat sie eben schon beim Betreten der Wohnung gemerkt. Wie der sie angeschaut hat. Richtig unangenehm ist ihr das gewesen. „Ja sicher. Sicher doch“, sagt sie ganz überrascht. „Ich muß nur noch erst mit dem Sozialamt reden. Ich bekomme nämlich Sozialhilfe. Ist das ein Problem für sie?“ „Wie bitte. Nee. Das kannst du vergessen. Mädchen. Hätte ich gewußt, daß du Sozialhilfe kriegst, hätte ich dich niemals eingeladen. Komm schon, Kleine, Klinke 30 ich habe keine Zeit für so’n Scheiß“. Kleine sagt er zu ihr. Ja doch, sie hat richtig gehört. Kleine sagt er und er erdreistet sich auch noch, sie am Jackenärmel zu tatschen. Jetzt nur nicht ausflippen sagt sich Lene. Jetzt um Himmels Willen bloß cool bleiben. Aber sie ist eh viel zu schwach, um jetzt noch groß Widerstand zu leisten. Sie fühlt sich wehrlos und hilflos ausgeliefert. So wie immer. So wie damals .... bei Vater! Traum. Mit schmerzverzerrtem Gesicht starrt er sie an. Wie ein Ertrinkender. Er ruft sie um Hilfe. Doch sie rettet ihn nicht. Sie kann ihm nicht helfen. Sie kann sich nicht bewegen. Sie möchte um Hilfe schreien. Doch sie kann nicht. Sie ist wie gelähmt, in eiserne Ketten gelegt. Hilflos muß sie mitansehen, wie er vor ihren Augen versinkt. Noch einmal erscheint sein todtrauriges Gesicht vor ihren Augen. Dann ist er plötzlich verschwunden. Niedergeschlagen verläßt Lene die Wohnung. Sie sieht noch wie ihr eine junge Wohnungsinteressentin hämisch hinterher grinst, während sie in der tiefsten Verzweiflung das Haus verläßt. Das fängt ja gut an, denkt sich Lene. Deprimiert und frustiert tritt sie schließlich den Heimweg an. Am Kiosk an der Ecke kauft sie sich auf den Schock erst mal Alk, Felskrone Bier, fünf Flaschen für 3,35 Euro. An der Kasse vor ihr erblickt sie plötzlich Timo, den hübschesten Jungen der gesamten PsychoSzene. Lene spürt, wie sie nervös wird. Unauffällig schielt sie die ganze Zeit zu ihm hinüber. Wie intuitiv dreht er sich plötzlich zu ihr um. Er schaut ihr tief in die Augen und grüßt sie freundlich mit dem schönsten Lächeln. Lene schaut verlegen zur Seite, spielt ihm vor, als sehe sie ihn nicht. Dabei ist Timo so süß! Er hat kakaobraune Augen und eine Stimme süß wie Espresso mit Schokolade, findet Lene. Doch sie erwidert seine Blicke nicht, sie ignoriert ihn einfach und zeigt ihm die kalte Schulter. Sie hat keine Erfahrung in diesen Dingen, mit der Liebe und zu tiefen Gefühlen. Zu große Nähe macht ihr Angst. Diese Dinge sind nicht für mich bestimmt. Anderen bereiten sie Freude und Glück, mir brächten sie doch noch nur Leiden und Schmerzen. Ich würde dich eh nur unglücklich machen, liebster Timo, resümiert sie traurig. Timo wendet sich schließlich betroffen von ihr ab. Sie sieht noch, wie er niedergeschlagen den Kiosk verläßt. Noch einmal dreht er sich zu ihr um. Ein letztes mal sieht er sie an. Ganz kurz mit dem verzweifelsten Blick in den Augen. Lange noch schaut sie ihm nach, wie er die Straße hinuntergeht, bis er schließlich an der nächsten Straßenbiegung verschwunden ist. Am nächsten Morgen erwacht Lene mit einem tierischen Kater. Sie hat schreckliche Kopfschmerzen. Höllentief schluchzend zu neuem Leben erwacht, so fühlt sich Lene. Sie liebt solche sarkastischen Wortspiele. Es hilft ihr, die Verzweiflung zu ertragen. Es ist heute Samstag, der 17. September. Ein trüber Spätsommertag. Nach dem Aufstehen raucht sie erst mal zwei Zigaretten, trinkt eine halbe Kanne Kaffee. Schwarz, auf nüchternen Magen. Sie hat keinen Appetit. Ihr ist kotzübel. Sie hat keine Lust. Zu rein gar nichts. Sie zieht sich dann trotzdem an. Beim Bäcker kauft sie sich die neueste Zeitung. Auf Seite Zwei liest sie von dem neuen Antidiskriminierungsgesetz. Niemand darf auf Grund seiner Behinderung diskriminiert werden. Eigentlich eine gute Sache, denkt Lene. Sie blättert dann weiter. Zielstrebig sucht sie nach den Wohnungsanzeigen. Sie will es jetzt wissen. Jetzt erst recht! Sie telefoniert den ganzen Morgen. Zwischendurch muß sie immer wieder an Timo denken. Die meisten Vermieter fragen sie gleich nach ihrem Beruf und verlangen eine Einkommensbescheinigung. Lene ist dann jedesmal ganz verlegen, legt einmal vor Schreck gleich wieder auf. Beim siebten Anruf hat sie endlich Glück. Frau Tischbein, so heißt die Vermieterin, ist sehr freundlich zu ihr am Telefon. Das mit der Sozialhilfe sei auch kein Problem für sie. Gleich am Montag solle sie doch bei ihr vorbeischauen. Am Montag ist Lene schon ganz früh auf den Beinen. Die Sonne lacht freundlich zum Fenster herein, als sie die Vorhänge ihrer Mansarden aufzieht. Gut gelaunt zieht sie sich an, macht sich im Bad frisch und frühstückt dann gemütlich und ausgiebig. Schon um fünf vor zehn ist sie bei Frau Tischbein. Frau Tischbein ist eine ältere Dame mit einem altmodischen Knoten im ergrauten Haar. Der Sohn von Frau Tischbein ist auch da. Er nennt sie Mütterlein, sie sagt mütterlich Wölfi zu ihm. Etwas sonderbar findet Lene das schon. Doch die beiden machen einen gutmütigen Eindruck auf sie. Etwas skurril zwar, aber auf eine merkwürdig vertrauenswürdige Art und Weise. Sie solle doch erst mal mit dem Sozial- Zu Hause angekommen trinkt sie erst mal eine Dose Bier. Auf EX. Nach dem vierten Bier wird sie endlich etwas ruhiger. Sie fällt in einen dumpfen, unruhigen Schlaf. In der Nacht schläft sie unruhig. Sie hat schreckliche Alpträume. Immer wieder erscheint ihr Timo im Klinke 31 amt reden. Wenn die grünes Licht geben, könne sie die Wohnung haben. Lene ist überglücklich. Im Café bestellt sie sich dann einen Milchkaffee. Der Kellner, ein Italiener, ist sehr freundlich, und übertrieben bemüht um sie. Er mag die beiden. Das spürt sie. „Ich hätte gerne einen Cafe au Latte“. Timo muß immer solche Scherze machen. Der Kellner ist im ersten Moment etwas perplex. Er braucht einen kleinen Augenblick bis er die Fassung wiedergefunden hat Dann muß er herzhaft über Timos kleinen Scherz lachen. Timo und Lene grinsen sich vielsagend an. „Was macht ihr denn hier. Ihr könnt euch das doch überhaupt nicht leisten. Ihr seid doch psychisch krank“. Lene zuckt unwillkürlich zusammen. Willy Brockmann betritt plötzlich die Bühne. Wie eine besenkte Wildsau stürmt er das Café. Der hat ihr gerade noch gefehlt, dieser Unhold, der Wüstling, denkt sie. Eine unheilvolle Aura geht von diesem Willy Brockmann aus. Auf dem Heimweg begegnet ihr überraschend Timo. Sie sieht ihn gleich, wie er auf dem Fahrrad die Straße herunterkommt, lange noch bevor er sie bemerkt. Als er sie schließlich dann doch erblickt, schaut er demonstrativ zur Seite. Sie grüßt ihn freundlich, fast euphorisch und läuft direkt auf ihn zu. Er kann ihr gerade noch ausweichen. Er fährt fast in sie hinein, mit seinem Mountain Bike. Völlig überrascht starrt er sie an, mit einem ungläubigen Staunen in den Augen. Sie strahlt ihn herausfordernd an. „Hallo“, sagt er noch ganz verlegen. „Hallo“, erwidert sie in einer Mischung aus Schüchternheit und Koketterie. Lene muß selbst über ihre kühne Art staunen. „Ich habe endlich eine neue Wohnung“, sagt sie freudig, ganz leise. Sie flüstert fast. „Gratuliere“, erwidert er ebenso leise und sehr vertraut. „Das müssen wir unbedingt feiern“. Timo freut sich fast noch mehr als sie über die neue Wohnung. „Ich habe noch 2,50 Euro. Wenn wir im Nordpark Pfandflaschen sammeln gehen, kriegen wir bestimmt noch viel mehr Kohle zusammen. Drei, vier Euro sind da locker drin. Ich kenne eine super Stelle. Die Liegewiese, gleich am Pappelwäldchen gelegen. Am Wochenende ist da immer. Party. Die Besoffenen schmeißen dann immer die Flaschen in den Wald. Das ist ein guter Platz zum Pfand suchen“. Sie suchen eine gute Stunde lang. Mensch kommt sich immer näher. Die Zeit vergeht kurzweilig, wie im Fluge. „So jetzt haben wir genug beisammen“, sagt Timo plötzlich „Darf ich die Dame auf eine Tasse Kaffee einladen. In einem Lokal ihrer Wahl?“. „Sehr gerne der Herr“, erwidert sie in distinguiertem Tonfall. Vornehm reicht sie ihm ihren Arm. Er hakt sie sich unter, während er sie in gespielt galanter Manier aus dem Wäldchen führt. Als sie eben auf die Lichtung hinaustreten, bricht plötzlich die Sonne aus den Wolken hevor. Die späte Sommersonne überzieht die Landschaft mit einem golden leuchtenden Band. Der so still gelegene Nordpark entfaltet noch einmal seine ganze sommerliche Pracht. Die Natur zeigt sich heute von ihrer schönsten Seite. Nur für sie, so scheint es Lene. Wie im Traum geht sie an Timos Seite. Sie schwebt fast. Sie kann ihre Seelen im Gleichklang schwingen hören. Sie fühlt es. Sie war noch niemals so glücklich in ihrem Leben. Man kann dem Glück nicht immer davon laufen, denkt sie. Das ist ihr schönster Tag heute. Heute ist endlich sie mal dran. Es liegt eine unbeschreibliche Magie in der Luft. Man kann die Luft geradezu knistern hören. Die anderen Menschen spüren es auch. Ein altes Ehepaar dreht sich ganz plötzlich nach ihnen um. Wildfremde Menschen lächeln sie an. Noch niemals schien Lene ihr Leben so leicht. Sie fühlt sich frei und unbeschwert. Im Supermarkt an der Ecke tauschen sie dann das Pfand ein. ,,4,50 Euro. Ein guter Tag“, sagt Timo. Lene strahlt ihn glücklich an. Timo wird ziemlich ungehalten. Er stellt Willy zur Rede. Lene hat Timo noch niemals so wütend gesehen. „Ich lasse dich zwangseinweisen, du Penner“, tönt Willy Brockmann. Er grinst sie böse und höhnisch an. Timo gibt schließlich genervt auf. Er hat keine Lust auf diesen kaputten, verkommenen Zyniker. Er läßt sich die Rechnung kommen. Der Kellner schaut ihn beim Bezahlen bedauernd und vielfragend an. Fast fluchtartig verlassen sie das Café. Draußen hat es zu regnen angefangen. Ihre Stimmung ist nun endgültig im Keller. Traurig blicken sie sich an. Ein herrlicher Tag geht zu Ende, ein wunderschöner Augenblick ist auf einmal grausam zerstört. Wehmütig schauen sie sich noch einmal in die Augen. Ein wenig verlegen nehmen sie schließlich Abschied. „Tschüß“, sagt Timo noch. „Es war ein wunderschöner Tag. Ich werde ihn niemals vergessen“. Dann ist er auch schon verschwunden. Niedergeschlagen tritt sie den Heimweg an. Der Herbst ist auf einmal mit ganzer Macht eingekehrt. Vom Sommer keine Spur mehr. Müde bahnt sie sich durch Regen und Matsch ihren Weg nach Hause. Als sie endlich völlig durchnässt zu Hause ankommt, ist sie total erschöpft. Sie geht auch gleich zu Bett. Ein ereignisreicher Tag geht zu Ende. Noch einmal gehen ihr die vielen verschiedenen Bilder des Tages durch den Kopf. Dann ist sie auch schon eingeschlafen. Am nächsten Morgen ist sie schon um sieben Uhr wach. Sie ruft dann gleich um neun Uhr bei Frau Schlenker im Sozialamt an. Den ganzen Tag versucht sie verzweifelt, ihre Sachbearbeiterin zu sprechen. „Die ist heute krank“, erfährt sie schließlich von einer Kollegin. „Versuchen sie es morgen doch noch einmal“. Am nächsten Morgen ist Frau Schlenker immer noch krank. Sie versucht es bei der Vertretung. Ohne Erfolg. Schließlich lässt sie sich mit der Abteilungsleiterin verbinden. Die Dame ist sehr freundlich zu ihr am Telefon. Drei Tage später hat sie endlich die Zusage. „Sie können die Wohnung anmieten“, erfährt sie von der Abteilungsleiterin. Lene ist überglücklich. Sie ruft sofort bei Frau Tischbein Klinke 32 an. Die hat aber eine schlechte Nachricht für sie. „Die Wohnung ist leider schon vermietet“, sagt sie bedauernd. „Ich dachte sie wollten die Wohnung nicht mehr haben“, erklärt sie fast entschuldigend. Als sie aufgelegt hat bekommt Lene erst mal einen Schreikampf. Noch niemals in ihrem Leben war sie so abgrundtief enttäuscht. Sie braucht ein paar Minuten bis sie die Fassung wiedergefunden hat. Es sollte eben einfach nicht sein, resümiert sie traurig. Epilog: Einige Wochen später nach vielen Mühen, Ärger und noch mehr Stress, hat Lene endlich doch noch eine Wohnung gefunden. Die neue Wohnung ist sieben qm kleiner, dafür aber 30 Euro teurer als die alte. Nach einem kurzen Aufenthalt in der Psychiatrie erholt sich Lene langsam wieder von dem vergangenen Streß. In ihrer neuen Wohnung hat sie sich inzwischen einigermaßen eingelebt. Jürgen Knoch Blümchenkaffeestunde 12.01.2010 Meine Gedanken – Aufflatternde Vögel Aus dem Nest der Stille Fische Ich gehe Schritte In die Luft – In den Wolken liegt Eine Blumenwiese aus Wort Und Laut – Wir gehören wie die Fische in das Wasser und wenn unser Planet nur noch aus Wüstensand besteht, dann sind wir schon längst gestorben Wahrheit und Scherz Mischen sich – Milch Und Zucker – In der Kaffeestunde Angekommen Nina Burmeister Der Blümchenkaffee Ist mein Augenzeuge – Sein Duft liegt wolken– Leicht in der Luft Wie ein Lächeln Über Blume und Kaffee Und Welt Dieter Radtke Klinke 33 Mutterland – Vaterland 09.03.2010 (für alle Litauendeutschen) Pagarschwen Das Spiel meiner Geige war lauter Als das Schweigen der Toten – Hans, den die Mine zerriss – Paul, den die Partisanen lynchten Und der einen entsetzlichen Tod starb Am nächsten Tag suchten sie Zuflucht Im Schnaps und ertränkten die Bilder Der Zerstörung – ich spielte auf Zur Hochzeit und zum Totentanz – Die Toten waren unter uns Wie ein unsichtbares Band Angurklen Hier spielte niemand Geige Richard fuhr werktags mit dem Bummelzug Nach Tilsit – unter der Arbeit Seiner Hände wuchsen Tisch und Stuhl Und Sarg aus dem Nichts Heute bin ich der einzige Überlebende Jemand, der Buch führen will Über Lebende und Tote – die Bilanz Lässt sich erst ziehen – wenn niemand Mehr lebt, der aufrechnen will – niemand Braucht Erinnerung – diese schöne Lügnerin Dieter Radtke (Erläuterung: Pagarschwen und Angurklen sind die Geburts-/ Wohnorte meiner Mutter und meines Vaters. In den ersten beiden Strophen begleite ich als fiktiver Geiger in Pagarschwen die teils leidvollen Geschehnisse, die vor allem im zweiten Weltkrieg alltäglich waren. In der dritten Strophe geht es nüchterner zu, das Arbeitsleben meines Vaters (Richard) wird beleuchtet. Das Fazit am Schluss lautet: erst wenn niemand mehr aufrechnet und wenn die Zeitzeugen von der Bühne abtreten, wird Versöhnung zur umfassenden und unumkehrbaren Realität werden.) Klinke 34 Im Wartestand 2. Fassung vom 09.02.2010 Schwere Koffer Gefüllt bis an den Rand Mit unermüdeten Träumen Schleppe ich hingebungsvoll Durch dunkle Bahnhofshallen Wohin sich selten Ein Vogel verirrt Träume warten In den Tiefen des Gepäcks Zärtliche Hände – In der Erinnerung streicheln sie Meine Seele Ich bade im Rost Alter abgenutzter Züge Und verpasse den Schnellzug Zu Dir – das Herz friert Ausgerissen – entblößt Im Wartestand Alle Türen sind verrostet Und zugefroren – alle Signale Sind tot – mein Bahnsteig Markiert das unerlöste Ende der Welt – Morgen aber taut es Von den Rändern Wind stößt Durch das Bahnhofsdach Und fegt den Rost hinweg Die Signale beleben sich Ich höre den Klang Deiner Stimme – Träume kommen Aus schweren Koffern Und machen sich flügelleicht Auf den Weg Ich spüre aus der Distanz Deine zärtliche Hand Nach Marc Chagall, Zeichnung Jürgen Knoch Die Taube bringt Über die Fluten der Einsamkeit Den Ölzweig vom Paradies Dieter Radtke Klinke 35 Später mal ein Kind werden Sinnespark Ich möchte später ein Kind mal werden, ein Kind fröhlich, unbeschwert. Lustvoll Erlebtes wird mich noch stärken. Ich bin unverzagt, mit Herz. Von trauten Menschen, die mir nie wehtun, beschützt und geliebt ich bin. Drum bin ich wertvoll und bin beherzt nun. In diesem Lied und Gedicht mischt sich erheblich Dichtung und Wahrheit, sofern es die darin erwähnten Personen betrifft. Den Sinnespark hingegen beschreibe ich weitgehend dem Eindruck gemäß, den er auf mich machte. Dieser Park befindet sich auf dem Gelände des Alexianer-Krankenhauses in Münster-Amelsbüren. Hab’ mich gern – kann mich wehr’n; born to win. . Wir schlendern beide mit heit’rem Gefühl. Der Weg führt im Kreise – der Weg ist das Ziel. Ich will ein junger Spund einmal werden, unversehrt und unbeschwert. Und Abenteuer werden mich stärken. Ich bin unverzagt, mit Herz. Kein Mensch hat mich je versucht zu brechen. Drum kein Leid mich lang’ bedrückt. So bin ich standhaft; mich kann nichts schrecken. Bezaubernd der Garten; still ruht der Teich. Was wir empfangen, macht uns gar so reich. Entschwunden die Zeiten – ‘s ist nur Augenblick. Die Herzen sich weiten – wir schlendern ins Glück. Ich liebe mich – finde dich; auf ins Glück! Ich hab’ dich gern, Augenstern; auf ins Glück! Dann hocken uns wir zwei ins Grüne und plaudern vertraut. Als Zeugen stehen Monolithe; die geben keinen Laut. War auf dem Wege einst jung zu werden; vergaß alten Schmerz und Pein. Begann schon Liebe und Lust zu lernen, heiter und beherzt zu sein. Doch war’n mir Wunden recht bald geschlagen. Darum brachen and’re auf. Mir schwand der Mut; ich kann nur verzagen. Eine Augenweide – wie bunt die Flora blüht! Segen für uns beide – heilsam für’s Gemüt. Klangsteine, -hölzer, -glöckchen, wohltu’nder Ohrenschmaus. Welch’ Kleinod sie hier schöpften, mein Freund spricht sanft es aus: Schlechtes Spiel, und ich fühl’ mich verbraucht. Ich möcht’ so gerne ein Kind mal werden, das Glückseligkeit gewinnt. Bin unverzagt und greif’ nach den Sternen. Und ich weiß, dass mir’s gelingt, die Frucht der Träume einmal zu ernten. Ich werd’ lieben – werd’ geliebt. Will später mal was ganz Tolles werden; und ich weiß, dass mir’s gelingt. Will später mal was ganz Tolles werden – „Die hab’n die Kranken wohl sehr lieb“ – dafür lieb’ ich ihn sehr! Ich konnt’s nicht sagen, sondern schwieg – und nun liebt er mich nicht mehr. Jürgen Rath aber ach! Ich zerbrach schon als Kind. Ich bin so schwach und zerbrach schon als Kind. Jürgen Rath Klinke 36 Klinke 37 „Der Mann Adô Tokayâ“ und werdet wach. Seht, wie ihr lebt. Ergreift selbst eure Zügel. Werdet wach, das Elend zu sehen, in dem ihr verbracht eure Zeit, euer Los, nutzlos und schwach. Ergreift eure Zügel. Lenkt euer Los. Seid eigen. Seid eure eigenen Herren. Ihr, all die Bürger dieser Stadt.“ Ihm floss das Wasser zu, das Edle. Ihm waren die Lande weit um die Wasser. Ihm war der Strom und der Thron. Seine Lande waren gesegnet voll der Früchte. Golden reifte das Korn, und die Untertanen lobten die gütige Hand des Herrn Adô Tokayâ. Sie freuten sich ihres Da-Seins und priesen die Sonne und das Licht. So lebten sie und so lebten sie glücklich. Ein Aufruhr entstand. Laut ward es auf dem Platz. Die Stimmen: „Hinweg. Hinweg mit ihm, diesem anderen Herrn. Wir sind glücklich und frei. Hinweg.“ Die Anderen: „Lasset uns warten. Lasset uns hören. Was er sagt, trägt. Trägt uns ins Frei. Ohne Zügel und Zwang. Da ist doch was dran. Wartet und hört. Seht selbst die Verheißung, die hier wird benannt. Sehet und kommt. Kommt voller Freude mit in dies Land.“ So die Anderen. Eines fernen Tages nun entstand Unruh im Land. Denn es wurde bekannt, dass ein mächt’ger Herrscher ward gesandt. Gesandt, um zu bringen die neue Botschaft ins alte Land. Kunâ ManChu geheißen, ritt er in die große Stadt des Herrn Adô Tokayâ. Sein Bote eilte ihm voran und blies ins Horn, zu sammeln die Bürger, die Kinder und die Alten, die Frauen und die Lahmen. Seinen Bogen entrollt, gab er diese Kunde: Es war keine Freude, es war auch kein Friede, es war Zwist überall. Kunâ ManChu verließ diese Stadt. Er hatte getan, wofür er bestimmt. Dass Frieden und Freiheit jeder sich nimmt. Und nimmt er sich’s nicht, so ist es sein Los. Jeder bestimmt, wann und wo er sich Freiheit nimmt. „Höret und sehet von diesem prächtigen Herren. Er, der sich aufgemacht, zu richten dies freie Wort, zu richten dies Wort an euch. Befreit euch. Befreit euch Andreas Stork, 2010 Klinke 38 Aus der Kommission zur Förderung der Inklusion Seit Januar 2010 vertrete ich als Betroffene die Menschen mit psychischer Behinderung in der Kommission zur Förderung der Inklusion von Menschen mit Behinderungen (KIB). Hier sind zwei Texte, in denen ich Themen aus der Kommission verarbeitet habe: Bekanntmachung müssen als unzureichend bezeichnet werden. Wir haben an dieser Stelle das Problem aufgezeigt. Die Verantwortlichen können es beheben, wenn sie guten Willens sind. Nachtrag In der Kommissionssitzung am 27.05.2010 entkräftete Dr. Gollmer das Argument, dass gerade Menschen im betreuten Wohnen keine Versorgung am Wochenende erfahren könnten. Er sagte, ein freier Träger, z.B. das Alexianer-Krankenhaus, erhalte vom LWL nur die Genehmigung für das betreute Wohnen, wenn in gewisser Hinsicht ein Wochenendangebot bestehe. Im Januar 2010 lag der KIB ein Bericht über den psychiatrischen und psychosozialen Krisennotdienst an Wochenenden vor. Die zukünftige Finanzierung des Dienstes ist dadurch gesichert, dass die Honorarkräfte für ihre Bereitschaft, die Telefonberatungen und die Hausbesuche jeweils eine Pauschale von der Stadt bekommen und die Stadt wiederum z.T. von der LWL-Klinik monatlich eine Rückvergütung erhält. Ich denke: die Information über Wochenendangebote wird zurückgehalten, um die Nachfrage gering zu halten. Wir Menschen mit einer psychischen Erkrankung spüren jedoch, wenn unsere Anliegen abgewehrt werden. Vielleicht würde so manches Schicksal weniger dramatisch verlaufen, wenn es für die Betroffenen leicht und kräftemäßig erschwinglich wäre, Hilfe in Krisen am Wochenende zu bekommen. Der Dienst besteht seit 1995. Ein Tandem, bestehend aus einem ärztlichen und einem nichtärztlichen Mitarbeiter, ist von freitags von 20.00 Uhr bis montags 8.00 Uhr – also 60 Std. am Stück – im Einsatz. „Im Jahr 2007 wurden 6602 Stunden Rufbereitschaft an 58 Krisennotdienstterminen geleistet. Dabei waren die Mitarbeiter bei 535 Klienten 647 Stunden im Einsatz. Die Ausgaben betrugen in 2007 47810 Euro.“ (Bericht S. 3) Da der Dienst sehr anstrengend ist, bestehen Schwierigkeiten, Ärzte dafür zu finden. Mit dem neuen Finanzierungskonzept soll auch dem Personalmangel entgegengewirkt werden. Inklusion Seit Anfang 2009 gilt die Behindertenrechtskonvention (BRK), das ist das Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, auch in Deutschland. Das bedeutet, dass die Menschenrechte ausdrücklich auch für Menschen mit psychischer Behinderung gelten. Die Behindertenpolitik hat sich geändert, weil Der Kontakt zum Krisennotdienst erfolgt über die Notfallhilfen aus der Tageszeitung, die LWL-Klinik, die Telefonseelsorge sowie über die Feuerwehr oder die Polizei. Zielgruppe sollen „besonders psychiatrisch Ersterkrankte mit noch nicht oder schwer definierbaren Störungen und ihre Angehörigen, aber auch schwer und chronisch psychisch kranke Menschen sein. Informationen über die Wege, den Krisennotdienst in Anspruch nehmen zu können, werden kaum bekannt gemacht. Dr. Gollmer, der Leiter des sozialpsychiatrischen Dienstes beim Gesundheitsamt, welches auch für die Verwaltung des Krisennotdienstes verantwortlich ist, sprach deshalb von einem hochschwelligen Angebot, als er in der KIB nach der Erreichbarkeit des Dienstes gefragt wurde. 1.) die Betroffenen einbezogen werden, 2.) eine Abkehr vom medizinischen Modell hin zum sozialen Modell festgeschrieben wird. D. h. Menschen mit Behinderungen werden nicht länger über Defizite definiert. Es gilt in der Gesellschaft Vielfalt statt Einfalt. 3.) die Prinzipien Selbstbestimmung, Teilhabe und Inklusion gelten. Es sollen Bedingungen geschaffen werden, die niemanden ausschließen und die die Bedürfnisse von Menschen mit unterschiedlichen Behinderungen berücksichtigen. In diesem Zusammenhang bedenkenswert ist, dass sich der Bereich des betreuten Wohnens seit 2004 vervierfacht hat und dass in diesem Bereich keineswegs von den verschiedenen Trägern eine Wochenendbetreuung gesichert ist und der Krisennotdienst prinzipiell für diese Zielgruppe nicht vorgesehen ist. Es besteht insofern ein großer Bedarf einem klein gehaltenen Angebot gegenüber. Die ambulante Versorgung von psychisch kranken Menschen in Münster am Wochenende und deren Die Schrift der Bundesregierung ,all inclusive’ – Die neue UN-Konvention – umfasst mehr als 40 Seiten mit 50 Artikeln. Voraussichtlich dauert der politische Prozess, der jetzt am Anfang steht, noch Jahre. Es bietet sich aber eine Sichtweise an, dass die eigene persönliche Situation in einem weltweiten und geschichtlichen Zusammenhang eingebunden ist. Die Regierungen haben sich verpflichtet, ihre Politik an den Menschenrechten zu orientieren, diese sind jedoch nicht auf juristischem Wege einklagbar. Klinke 39 In den kommenden Klinkeausgaben wird Gelegenheit sein, auf verschiedene Artikel der BRK einzugehen. Bei Diskussionen in der Redaktion ist das Thema ,Arbeit‘ ein zentraler Kritikpunkt, wenn es um Barrieren im Leben von Menschen mit psychischer Behinderung geht. In Artikel 27 ,Arbeit und Beschäftigung‘ wird formuliert Für Menschen mit psychischer Behinderung ist die Annahme dieser Möglichkeiten vielleicht eine Herausforderung, nicht zu resignieren und sich neue Ziele zu setzen und anzugehen, d.h. an der eigenen Willensbildung zu arbeiten. Das eigene Selbstverständnis bezüglich der Teilnahme am gesellschaftlichen Leben hat mehr Gewicht bekommen. Es ist sicher schwierig, sich selbst einzuschätzen. Die Chance, als Bürokraft eine Stelle zu finden, ist größer als First Lady von den USA zu werden. Grundsätzlich gilt m. E.: es gibt Menschen, die brauchen mehr als eine Chance, und diese möglicherweise nicht nur zweite, sondern auch zehnte Chance muss gewährt werden. Es kann nicht sein, dass ein Mensch arbeiten will, aber nicht kann, wobei auch gilt, dass das Können nicht nur von außen, sondern auch von innen bestimmt wird und nach Förderung verlangt. Das alles zu begreifen und zu erfahren, ist eine Lebensaufgabe , die jedem Einzelnen in unserer Gesellschaft real zugebilligt werden sollte. 1.) „Die Vertragsstaaten anerkennen das gleiche Recht von Menschen mit Behinderungen auf Arbeit, dies beinhaltet das Recht auf die Möglichkeit, den Lebensunterhalt durch Arbeit zu verdienen, die in einem offenen, integrativen und für Menschen mit Behinderungen zugänglichen Arbeitsmarkt und Arbeitsumfeld frei gewählt oder angenommen wird.“ Die Anerkennung dieses Rechtes soll durch verschiedene Maßnahmen konkretisiert werden. Außerdem gilt: 2.) Die Vertragsstaaten stellen sicher, dass Menschen mit Behinderungen nicht in Sklaverei oder Leibeigenschaft gehalten werden und dass sie gleichberechtigt mit anderen vor Zwangs- und Pflichtarbeit geschützt werden.“ Nach der Devise ,denke global, handle lokal‘ möchte ich in diesem Zusammenhang schließen: es besteht die weltweit gesetzliche Grundlage für Selbstbestimmung auch in deinem Leben. Wenn du also mit Vertretern der Gesellschaft – Ärzten, Psychologen, Sozialarbeitern und Betreuern – zu tun hast, fasse in Worte oder versuche zum Ausdruck zu bringen deine Bedürfnisse, deine Träume, deine Pläne, deine Wünsche für dein Leben. Damit sind nicht alle Ungerechtigkeiten im Arbeitsleben ausgeräumt. Das Recht auf Arbeit wird auch für „gesunde Menschen“ nicht verwirklicht. Die Arbeitswelt entzieht sich weitgehend der politischen Einflussnahme. Es sind aber zwei Pole – ein positiver und ein negativer – beschrieben, zwischen denen sich meine Entwicklung vollziehen kann. Vera Schnieder Unbedingt vormerken! 10. Irrlichterlesung am 08. Mai 2011 um 19.00 Uhr in der Studiobühne Münster Domplatz 23a 48143 Münster Eintritt: 4 € / 6 € Klinke 40 „Der Hausidiot“ Er sitzt da und stört mich. Ich weiß, sobald ich den geringsten Blickkontakt zu ihm aufbaue, wenn ich meinen Blick durch’s Lokal schweifen lasse, beginnt er zu agieren und zu reagieren. Auf eigenartige Weise verhält er sich. Im wahrsten Sinne des Wortes. Eigen-Artig. Idiotisch halt, gehe ich vom altgriechischen Wortsinne idios = eigentümlich, eigenartig aus. Er ist immer da. Immer. Seine Blicke machen mich nervös. Sein Grimassenschneiden trifft mich. Ich meide es, ihn sehen zu müssen, und setze mich so, dass ich ihn weitestgehend ausblenden kann. Wieso stört er mich? Wieso nehme ich keinen direkten Kontakt zu ihm auf, indem ich ihn z. B. grüße. Ich könnte ihm auch über die Bedienung ein Bier ausgeben oder so. In einer anderen Nacht und in einem anderen Lokal habe ich dergleichen einmal getan. Es hat sich eine interessante Entwicklung ergeben. Doch ich scheue mich. Ich scheue ihn. Er macht mir vielleicht im tiefsten Herzen Angst. Angst vor meinen eigenen Anteilen. Angst, weil ich Impulse zu auffälligem Verhalten in mir unterdrücke? Weil ich unentdeckt als Psycho leben will? Nicht auffallen! Der Hausidiot. Andreas Stork, 31. August 2010 „Gedankengut“ - Ob Christ, Buddhist, ob Atheist, Egal, Hauptsache: kein Faschist! In meinem Wohnviertel fallen mir in der letzten Zeit Aufkleber auf mit der Schrift „Fight Fascism“, also „Bekämpft Faschismus“. Gezeigt wird eine schwarz gekleidete Person mit ebensolcher Gesichtsmaske, die in der rechten Hand einen Stein zu werfen droht. So sieht’s für mich aus. Und bei jedem Vorbeigehen frage ich mich: Halte ich es für gerechtfertigt, Gewalt mit Gewalt zu bekämpfen, auf Intoleranz ebenso mit Intoleranz zu antworten. Nein, sage ich mir. Wer beansprucht mehr Legitimation? Der „Autonome Schwarze Block“ oder die „Braunhemden“. Beide haben in meinen Augen kein Recht darauf, ihre Ansichten mit Gewalt durchzusetzen. Dies Recht hat niemand. Kurzum: Jedes Mal, wenn ich an einem Laternenpfahl oder Straßenschild mit besagtem Aufkleber vorbei laufe, denke ich: Ihr seid nichts besser. Ihr wähnt euch auf der moralisch ‚besseren‘ Seite als Antifaschisten. Aber mit der deutlich zu erkennenden Drohgebärde des Steinewerfens macht ihr euch selbst unglaubwürdig. Schade nur, dass euch das selbst nicht auffällt. Andreas Stork, Frühjahr 2010 Klinke 41 13.07.2010 15.07.2010 Für Loba Für Loba Der Mais wächst es stört ihn nicht dass Loba stirbt Trösterin auf Todes Schwelle Schwarze Weise Dunkler Rubin Sonnenstrahl auf Wintergräbern Morgenröte Morgenstern bist da für uns und da für uns warst Kind und Mann und wärmende Mutter Ein Tag, eine Woche höchstens zwei Monate Die Schultern des Doktors sind gebeugt (flüstert er mit dem Fräulein, der Helferin) Er ist empfindsam geblieben. Karstens Herz: schreiendes Blut und Tränen blanke Augen die lange, sehr lange nicht versiegen wollen Mein Lebensgrund mein Lebenssinn Uns Überlebenden die unsere Liebe zu dir verbindet die blutende Herzen und dir dein Grab bereitet haben bleibt dich gehen zu lassen aus Schmerz zerrissenen Händen Ach, wäre es nur dein Himmel auf Erden Unser Schmerz ist stumm und will nicht verstummen Du kehrst zurück zur Erde unwiederbringlich behütest uns aus deinem Hundehimmel Regina Schmick Regina Schmick (Der Rubin ist in der Esotherik Der Stein des Lebens und der Liebe; Anmerkung der Autorin) Klinke 42 16.07.2010 08.08.2010 Morgenspaziergang LOBAs Tag, der 7te August Ich übe den Blick auf Sonnen beschienene Felder Ich weine Tränen um dich unzählig wie Gras Es ruhen die Weiden und dehnen sich sanft aus im frühen Licht Die Weide Spätsommer grün wartet im Kirchenglockengeläut dass du sie umsamtest Glitzernder Tau auf leuchtendem Gras So schwarz die Hündin vor sattem Grün Schwarz die Hündin vor sattem Grün Und wieder die Sieben! Du reckst deine Nase in den Wind Dein gnädiger Tod wartet bis ich selbst stehen kann Bist mir Sorge bist mir Trost Heute Nacht bist du durchs dunkle Tal gewandert Dies Bild bewahr ich mir für Hungerjahre Regina Schmick Wenn der Morgen graut schaust du dich kurz um und gehst in Licht und grüne Wiesen Ich höre deine Läufe auf dem Asphalt und höre nicht auf sie zu hören Regina Schmick Am 07. August 2010 gegen 15.00 Uhr nachmittags ist unsere Hündin LOBA eingeschlafen. Der Tierarzt hat sie von einem fortschreitenden, bösartigen Tumor erlöst. LOBA hat uns von drüben Botschaften gesendet und gesagt, dass es ihr gut geht und, dass es wunderschön dort ist. Sie hat uns sehr bereichert. Ihre Asche wird im Wald hinter dem Haus verstreut, wo sie nach Herzenslust buddeln kann. Klinke 43 „Ein Neues Outing tut Not“ Fange ich bei mir an. Kürzlich hatte ich zwei schlaflose Nächte. Im Gemeindegebet schloss meine Frau eine Fürbitte für mich ein. Erst ärgerte ich mich, als ich dies erfuhr. Später fragte ich mich, warum ich so reagiert hatte. Ich bin in unserer Gemeinde nicht der einzige mit psychiatrischer Erfahrung. Im Gegenteil. In unserer Gemeinde fühlen sich viele Menschen gut aufgehoben, die woanders an den Rand gedrängt werden. Was also befürchte ich von mir wohlgesonnenen Menschen, die mir mit Verständnis begegnen. Schäme ich mich? Warum scheue ich mich, Sätze zu sagen, wie: „Ich bin ,psychisch‘ krank. Seit meinem 23. Lebensjahr. Ich bin Epileptiker. Seit meinem 27. Lebensjahr. Ich bin Minderleister (,schwerbehindert‘). Seit meinem 35. Lebensjahr. Ich bin Frührentner. Seit meinem 41. Lebensjahr.“ Warum fällt es mir schwer, mich in Begriffen wie psychische Erkrankung, Behinderung oder Schwerbehinderung wieder zu finden. Will ich mein Leiden selbst nicht wahrhaben? Will ich es vor mir und vor anderen verbergen? Diese Selbstverleugnung gilt es bewusst zu überwinden. Ich will mir zutrauen, heraus zu treten aus dem Kreis der Frührentner und Psychotiker, der Depressiven und anderer, und zu sagen: „Hier bin ich. Ich bin so wie ich bin. Und so bin ich gut. Ich bin gut als Mensch mit einer offiziell bescheinigten Leistungseinschränkung. Ich bin gut, gerade hier, als Überlebender vieler innerer und äußerer Katastrophen. Ich bin gut als Mensch mit besonders wertvollen Erfahrungen. Andere können diese Erfahrung vielleicht gar nicht machen.“ Ich brauche mich also nicht zu schämen. Ich will lernen, zu mir zu stehen. Auch öffentlich. Auch auf die Gefahr hin, auf Unverständnis zu stoßen. Ein Neues Outing tut also Not. Andreas Stork Klinke 44 Dieser Bericht basiert auf eigenen und mir zugetragenen Erfahrungen Über das Verhältnis psychisch kranker Menschen zu ihrer Umwelt genen Schwächen und Unzulänglichkeiten, wenn man einen vermeintlich Schwächeren vor sich hat. Einige „Normalos“ setzen psychisch behindert mit doof gleich. Manche Menschen haben eine verzerrte Wahrnehmung über psychisch Kranke, dieses wird auch über diverse Medienberichte geschürt, in denen psychisch Kranke regelrecht vorgeführt werden. Sie werden dann auch manchmal mit Verbrechern, die irgendeine abnormale Verhaltensweise an den Tag legen, in einen Topf geworfen. Manche „Normalos“ können auch die Zusammenhänge nicht überblicken. Sie denken z. B, das mit Robert Enkes war ganz schlimm. Der arme Kerl hatte Depressionen und hat sich umgebracht, weil er unter anderem mit dem Druck, dass das mit seiner Depression an die Öffentlichkeit kommt und er dann seine Kariere möglicherweise an den Nagel hängen muss, nicht mehr zurechtkam. Das ist in ihren Augen schlimm, schlimm, schlimm, aber hopp, da kommt ja so ein „Psycho“ um die Ecke, ich weiß zwar kaum etwas über ihn, aber der ist ja behindert (z. B. auch wegen Depressionen), das ist so ungeheuer komisch. Es ist ja auch so ein erhebendes Gefühl unbedeckt die ei- Zugegeben, wenn man tief in einer Krise steckt, leidet oft die Kommunikation mit der Umwelt. Das hat aber nichts mit Doofheit zu tun und gibt sich auch wieder, wenn man aus der Krise wieder herausgekommen ist. Man sagt, das Leben ist wie eine Achterbahn. Das stimmt, aber wir sitzen nicht alle in einem Wagen. Jeder hat seine eigene Achterbahn. „Normalos“ glauben oft: Einmal „Psycho“ immer „Psycho“ und kriegen gar nicht mit, dass wir auch Höhen und nicht nur Tiefen haben und uns dann auch dementsprechend verhalten. Abschließend möchte ich betonen, dass es auch viele „Normalos“ gibt, die uns akzeptieren und respektieren. N. N. Klinke 45 Mit der Krankheit umgehen Manchmal tut es gut, Bilanz zu ziehen, festzuhalten, wie die eigene Situation in Bezug auf einen Aspekt des Lebens aussieht: 1.) Zur Ruhe kommen b) der Status Ärzte, die eine eigene Praxis haben, sind Unternehmer. Wenn ich Probleme am Arbeitsplatz habe und davon sprechen möchte, kann ein angestellter Arzt mich eher verstehen. Seit 1997 mache ich Autogenes Training. Dabei handelt es sich um eine Kurzversion, die meine Ärztin entwickelt und nach langer Überzeugungsarbeit mir beigebracht hat. In vier Phasen spreche ich meinen ganzen Körper, Puls und Atem, mein Sonnengeflecht und meine Stirn an. In jeder Phase spreche ich in Gedanken einen positiven Satz, den ich nach Rücksprache mit meiner Ärztin ändern kann. Mit folgenden Sätzen habe ich in den vergangenen Jahren versucht, mich zu beruhigen: c) das Alter Je älter ich werde, desto wichtiger ist mir, dass mein Arzt ebenfalls Lebenserfahrung und auch fachliche Erfahrungen gesammelt hat. Es wird auf mich – jetzt 56 Jahre alt – zukommen, dass ich mit einer jüngeren Ärztin zurecht kommen muss. Das wird schwierig, denke ich. • • • • • Ich gehe meinen Weg Schritt für Schritt Gedanken sind gleichgültig, Ruhe ist wichtig Überall und jederzeit Ruhe und Gelassenheit Ich bin mir meiner selbst bewusst Ich bin bei anderen Menschen ganz ruhig, fest und frei • Ich bin hoffnungsvoll und zuversichtlich • Ich nehme mich an d) das Geschlecht Eine gleichgeschlechtliche Arzt / Patient -Beziehung halte ich für belastbarer, was den emotionalen Kontakt und die Stabilität der Beziehung angeht. Aus dieser Einstellung ergibt sich, dass Frauen es nicht ganz so leicht wie Männer haben, weil es mehr männliche Ärzte gibt. Ich mache das Autogene Training morgens im Bus, zu Hause auf dem Bett und wann immer es mir einfällt. Ein Durchgang dauert nur fünf Minuten; manchmal mache ich zwei oder mehr Durchgänge an einem Stück. Zum Schluss strecke und recke ich mich. Grundsätzlich sehe ich es so: in dem Maße, in dem ich in der Lage bin, die Begegnung mit meiner Ärztin zu gestalten, in dem Maße bin ich auch fähig, andere Situationen, mein Leben im Allgemeinen zu gestalten. Oft genug muss ich feststellen, dass ich rappelig und nervös bin. Doch das kann ich mit den Übungen in Schach halten, und insgesamt bin ich nicht so schnell gestresst und aufgeregt wie früher. „Danach dürfen Sie süchtig werden.“, sagte meine Ärztin beim Üben. Die differenzierteste Unterstützung erhalte ich seit über 20 Jahren in Briefen von einem angestellten Arzt mit Therapieausbildung, der in der Ambulanz einer Bezirksklinik in Bayern arbeitet. Es stimmt, was meine niedergelassenen Ärztin hier vor Ort mir oft gesagt hat: ich bin selbst meine beste Therapeutin. Sie ist meine Supervisorin; ich behalte das Heft in der Hand. Eine Entspannungmethode zu erlernen – sei es Autogenes Training oder sei es Progressive Muskelentspannung nach Jacobson – kann ich nur empfehlen. 3) Übergewicht Vor vier Jahren beschloß ich, mein Gewicht – ich wog ca. 83 kg bei einer Größe von 1,72m – zu reduzieren. Den einen Grund für mein Übergewicht, das Medikament Clozapin, konnte ich nicht ändern. Ich war jedoch bereit, meine Ess- und Trinkgewohnheiten von Grund auf umzustellen. Um mich mental einzustimmen, bestellte ich Broschüren aus dem Verzeichnis ,Publikationen für Verbraucher und Fachkräfte‘ über die 2.) Die Arztwahl Es hat Jahre gedauert, bis ich bereit war, gegen meine Psychose, für meine Normalität, ein Medikament zu nehmen. Es war ein Schritt der Anpassung. Ich blieb aber kritisch, was die Auswahl meines Psychiaters anging. Folgende vier Kriterien sind für mich wichtig: a) die Ausbildung Es spielt eine Rolle für mich, dass der Arzt außer einer Fachausbildung auch psychologisch, psychotherapeutisch Ahnung hat, weil ich die Medizin nur als Grundlage sehe, auf der ich aufbauen kann, die mich befähigen soll, für das Leben zu lernen. Deutsche Gesellschaft für Ernährung e.V. Postfach 930201 60457 Frankfurt Sie empfiehlt, verschiedene Lebensmittel verschieden zu gewichten: Grundsätzlich ist das Trinken von Klinke 46 viel, viel Wasser angesagt. Darauf aufbauend sollte man Obst und Gemüse in großen Mengen zu sich nehmen und dabei die Regel „5 am Tag“ beachten, d.h. jeden Tag fünf verschiedene Sorten von den bunten Lebensmitteln auf dem Speiseplan zu bringen und damit auch Krebs vorzubeugen. In der Tat gehe ich bei der Planung meiner Hauptmahlzeit von Gemüse aus und esse viel Salate. Brot, Kartoffeln, Getreide und Nudeln sind danach wichtig. Deshalb esse ich morgens ein Müsli. Milchprodukte, Fleisch, Fisch und Eier dürfen schon weniger sein. Mit Fetten sollte man sparen und Salziges, Süßes und Alkohol nur als Ausnahme zu sich nehmen. Es gibt auch Situationen, da bin ich so genervt und gereizt, dass ich mein Gegenüber verletze; da bin ich so blockiert, dass ich nichts sagen kann, nicht reagieren kann, wenn mich jemand anspricht. Dann erlebe ich Ablehnung und Unverständnis. Es endete die Beziehung zu einer anderen Patientin, die meine Ärztin angeregt hatte, aufgrund einer Provokation meinerseits, und sie, die Ärztin, gab mir den Rat, ein psychologisches Buch über Kommunikation – ‘Anleitung zum Unglücklichsein’ von Paul Watzlawik zu lesen. Das lehne ich jedoch ab. Statt dessen nehme ich mir Jahre Zeit, um die gesammelten Werke von Dorothee Sölle (1929-2003) einer Befreiungstheologin, nachzuvollziehen. Immer noch zähle ich täglich Kalorien anhand der folgenden Broschüre: Ich glaube, dass durch eine intensive Beziehung zu Jesus Christus sich auch meine Beziehungen hier auf der Erde verbessern können. Durch seine Liebe kann ich mich selber akzeptieren, auch wenn es anderen anders geht und Disharmonie herrscht bzw. man sich aus dem Wege geht. Sven-David Müller-Nothmann Kalorienampel (mit 3000 Lebensmitteln) Knaur Verlag Um abzunehmen, versuche ich, bei 1200-1500 Kalorien zu bleiben, ansonsten bei 1700-1900. Ich habe es aufgegeben, mich durch Essen zu trösten. Ich genieße das Essen jedoch sehr. Immer wieder freue ich mich auf meine Mahlzeiten; sie sind oft das Schönste an einem Tag. Anke S. Im Laufe eines Jahres nahm ich 14 kg ab. Grundsätzlich nehme ich im Winter ca. 4 kg zu. Mein Körper reagiert instinktiv bei Kälte mit dem Signal „verschaff dir Energie!“ Im Sommer aber auch umgekehrt: “gib Fett ab!“ Das finde ich o.k. Ich fühle mich gut in Futter, bin aber mit meinen 69 kg zufrieden. 4.) Immer wieder daneben - ins Fettnäpfchen Es gibt Tage, da fallen mir wichtige Dokumente aus der Hand, und ich muß sie auf dem Fußboden zusammensuchen; da renne ich gegen Schreibtischecken und bleibe mit dem Blusenärmel an den Türklinken hängen, weil ich so fahrig bin. Das ist mir peinlich und unangenehm in den jeweiligen Situationen. Ich kann dann einfach nicht darüber lachen und leide unter meiner Ungeschicklichkeit. Zu meinem alltäglichen Erleben gehört auch, dass ich Angst vor Nähe habe. Ich bin in Beziehungen schnell verwirrt. Es ist kein Zufall, dass ich Single bin. Es gibt Beziehugen, in denen ich mich akzeptiert fühle in meiner Art zu kommunizieren; dann erzähle ich ganz viel von mir und meinen Erlebnissen; teilweise bin ich dabei so angestrengt, dass ich überlaut rede, so dass man mir nicht mehr zuhören mag. Manchmal halte ich mich zu meiner eigenen Sicherheit an Floskeln der Höflichkeit, die ich in meiner Familie gelernt habe oder mir im Laufe meines Lebens ausgedacht habe. Ein wirklicher Kontakt kommt dadurch aber nicht zustande. Klinke 47 Notizen zum Tod Heute möchte ich sie finden – sie tot, ich lebendig; ich habe die Vorstellung: sie ist erhöht; ich habe den Eindruck: ich bin hier unten – : es ist eine Eiche, zwischen deren Wurzeln sie ruht, an deren Stamm ein Vogelhäuschen hängt, vor der ich ruhiger werde. „Ich bin dankbar für dein Verständnis. Du erspürtest, dass ich ehrgeizig bin und dass ich kaum in der Lage bin, bei allen Anstrengungen das Leben zu genießen – Gründe für ein schweres Leben, Schwächen, die ich bedaure.“ Meine Trauer über den Verlust derjenigen, die vom Tod erfasst wurden, ist nun hier präsent. Noch ist in mir die Angst vor dem Tod größer als die Freude auf ihn. Er ist ein Risiko beim Abenteuer des Lebens. So wie das Leben ist jedoch auch er ein Geschenk. Ein Glück, dass das lebenslange Ringen um die materielle und um die geistige Existenz ein Ende hat. Mit ihm ist Hoffnung verbunden auf ein Leben ohne Beschränkungen, in der Weite, die die Seele sich sucht, auf ein ewiges Leben. Jetzt aber heißt es: wirklich Abschied nehmen, weiter laufen und stille werden. Anke S. Sonniges Lied Da war ein Herz, nach Liebe schreiend. Ich küsste sie am Fluß; Leute spazierten des Weges und riefen: „Hey, hey, hey.“ – (Wo seid ihr heut gewesen?) „Wir spazierten im Zoo daher und unterhielten uns gut.“ Nun, sitze ich hier denke an meine Liebe sie ist in Amerika nun, ein Freund kommt rein bald, wir erzählen uns was und trinken „Selters“ Matu Klinke 48 Klinke und Irrlichter jetzt auch in einem tollen Taschenbuch erschienen „seit langem bin ich schwindelfrei, ich lasse dich auch gern vorbei...“ Wolfgang Brandl „gedankenschwer und federleicht“: Das Buch verleiht dem Schreiben einen Halt, es bündelt die vielen Texte, Gedichte, Skizzen, Gedanken und Zeichnungen. Dieser Publikation ging eine Ausstellung voraus, in der Texte, graphische Arbeiten und Lesungen aus dem Umfeld der Psychiatrie auf spannungsreiche Weise vorgestellt wurden. Es sind Werke, die uns beeindrucken und anrühren, welches uns zu Herzen gehen, weil sie von Herzen kommen. Sie regen uns zum Nachdenken an, weil sie manches in Frage stellen, was in fest gefügter, so genannter Normalität als selbstverständlich und richtig gilt. Die Texte wie auch die Zeichnungen beeindrucken dabei gleichermaßen in ihrer Vielfalt, Bandbreite und Qualität und berühren durch die Originalität, Offenheit und ihren Humor. Der individuelle Ton von 24 Autorinnen und Autoren wird auf der beiliegenden CD hörbar. Sie haben daher die Möglichkeit, u. a. auch die Irrlichter käuflich zu erwerben und auf einer CD zu Hause in Ruhe auf sich wirken zu lassen. Dabei fehlt dann auch nicht das bissige „Psüschatter-Lied“! Das Buch, herausgegeben vom Kunsthaus Kannen der Alexianer Münster GmBH ist incl. CD für 18 Euro im Kunsthaus Kannen, aber auch im Buchhandel erhältlich. Falls es dort nicht vorliegt, kann es unter ISBN 3-930330-19-9 bestellt werden. Klinke 49 „Auf Ostern zu“ Mondbeschien’ne Nacht – gibt mir Kraft. Leuchtet mir den Weg, welcher mir so fehlt. Deine Stimme durch die Nacht Erwacht / Ertönt / Erlöst Glockenhell / Ruft Sei acht-sam / zu Dir In dieser Nacht. Dein Gesang tönt frisch / Nach der Wacht. Mit Bedacht / Wählst Du / Aus. O, Mond, Du Mond / Gesicht Söhnst mich aus / mit deiner Nacht. Andreas Stork Das Psycho-Soziale Zentrum ist vorübergehend umgezogen! Warum? Dauer: Umbau und Sanierung des Gebäudes an der Paulstr. 19 Voraussichtlich 1 Jahr Neue Adresse der Büroräume: Geiststraße 2 - 4, 48151 Münster (Eckgebäude Weseler Str./Geiststraße) Die Büroräume in der Geiststraße 2 – 4 sind zu den bekannten Zeiten geöffnet. Die Telefon- und Faxnummern bleiben erhalten. Sowohl die alte als auch die neue Anschrift haben ihre Gültigkeit. Neue Adresse des Freizeitbereichs: Geiststraße 49 - 51, 48151 Münster Klinke 50