Leseprobe zu Sherry Thomas: Eine fast perfekte Ehe MIRA
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Leseprobe zu Sherry Thomas: Eine fast perfekte Ehe MIRA
Leseprobe zu Sherry Thomas: Eine fast perfekte Ehe MIRA Taschenbuch Band 25553 © 2008 by Sherry Thomas Originaltitel: Private Arrangements Übersetzung: Alexandra Hinrichsen 1. KAPITEL London, 8. Mai 1893 Es gab nur eine Form der Ehe, die Gnade in den Augen der High Society fand. Die gute hielt man für vulgär, da man ehelichem Glück ungefähr die Haltbarkeit eines Soufflés zubilligte. Die unglückliche Ehe aber war – selbstverständlich – noch vulgärer, ungefähr gleichzusetzen mit der Erfindung des Fräulein von Teese, mit der man an die vierzig Hintern auf einmal versohlen konnte: unaussprechlich eben, denn fast die Hälfte der feinen Gesellschaft kannte die unglückliche Ehe aus erster Hand. Nein, eine Ehe konnte die Wechselfälle des Lebens nur dann überdauern, wenn sie auf distanzierte Höflichkeit gründete, und man war sich allgemein darüber einig, dass Lord und Lady Tremaine die Meister der distanzierten Höflichkeit waren. Während ihrer zehn Jahre andauernden Ehe hatte keiner der beiden je ein böses Wort über den anderen verloren, nicht gegenüber den eigenen Eltern, Geschwistern, Busenfreunden und erst recht nicht gegenüber Fremden. Ja, es kam nicht einmal zum kleinsten Streit zwischen den beiden, wie die Dienerschaft bezeugen konnte. Sie stellten einander nie öffentlich bloß und kannten keinerlei Meinungsverschiedenheiten. Jedes Jahr wieder wies irgendeine grünschnäbelige Debütantin darauf hin, dass die zwei ja auch auf verschiedenen Kontinenten wohnten und einander nach dem Tag ihrer Hochzeit nie mehr gesehen hatten – als ob das nicht ohnehin jeder wusste. Die Älteren schüttelten dann den Kopf. Was für ein dummes junges Ding! Die sollte nur abwarten, bis sie von dem heimlichen Verhältnis ihres Angebeteten erfuhr. Oder endgültig nicht mehr in den Mann verliebt war, den sie geheiratet hatte. Dann würde sie begreifen, wie wunderbar das Arrangement war, das die Tremaines seit Jahren lebten: Höflichkeit, Distanz, Freiheit – und das alles vom ersten Tag ihrer Ehe an, ohne dass sie sie sich mit lästigen Gefühlen herumschlagen mussten. Tatsächlich durfte man das wohl als die perfekte Verbindung bezeichnen. Deshalb blieb so mancher Mund in einigen der vornehmsten Speisezimmer Londons speerangelweit offen stehen, als bekannt wurde, dass Lady Tremaine wegen Ehebruchs und böswilligen Verlassens seitens ihres Gatten die Scheidung eingereicht hatte. Das gleiche Bild bot sich zehn Tage später in vielen eleganten Salons voller Perserteppiche, als Lord Tremaine zum ersten Mal seit vollen zehn Jahren wieder englischen Boden betrat. Was sich danach abspielte, verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Es klingelte nämlich an der Tür des Hauses der Marchioness of Tremaine, die ihr getreuer Butler Goodman daraufhin öffnete. Davor stand ein Fremder – einer der attraktivsten Männer, die Goodman je gesehen hatte: groß, muskulös, eine ausgesprochen imposante Erscheinung. "Guten Tag, Sir", sagte Goodman ungerührt. Ein Angestellter der Marchioness starrte oder stotterte nicht, selbst wenn er noch so beeindruckt war. Er erwartete, dass der Mann ihm nun eine Karte überreichen oder den Grund des Besuchs nennen würde. Stattdessen gab der ihm seinen Hut. Goodman ließ verwirrt den Türgriff los und nahm die satinbezogene Kopfbedeckung entgegen, während der Mann auch schon an ihm vorüber ins Foyer schritt. Ohne sich umzudrehen oder ein einziges Wort der Erklärung für diese Überrumpelung, zog er sich sodann die Handschuhe aus. "Sir", sagte der Butler verstimmt, "die Hausherrin hat Ihnen keine Erlaubnis erteilt, ihr Heim zu betreten." Der Fremde drehte sich um und schenkte Goodman einen Blick, unter dem der sich zu seiner Schande am liebsten zusammengerollt und geschluchzt hätte. "Es handelt sich hier doch um das Haus der Tremaines?" "In der Tat, Sir." "Würden Sie mich dann freundlicherweise darüber unterrichten, seit wann der Herr des Hauses eine Erlaubnis bräuchte, um einzutreten?" Goodman begriff nicht. Seine Herrin war die Elisabeth I. ihrer Zeit: eine Königin ohne König. Dann ging ihm plötzlich und zu seinem Entsetzen ein Licht auf. Der Unbekannte war der Marquess of Tremaine, der ewig abwesende, praktisch gesehen gewissermaßen fast verstorbene Gemahl der Marchioness und Erbe des Dukes of Fairford. "Ich bitte vielmals um Verzeihung, Mylord." Goodman bewahrte Ruhe, wie man es von einem Butler erwarten durfte, und nahm Lord Tremaines Handschuhe entgegen. Allerdings begann er leicht zu schwitzen. "Man hat uns nicht von Ihrem Kommen in Kenntnis gesetzt. Ich lasse sofort Ihre Zimmer herrichten. Darf ich Ihnen inzwischen eine Erfrischung servieren?" "Sie dürfen, und Sie dürfen ferner dafür sorgen, dass mein Gepäck hereingeschafft wird", erklärte Lord Tremaine. "Weilt Lady Tremaine daheim?" Die Stimme des neuen Hausherrn klang ganz normal und gab keinerlei ungewöhnliche Gefühlsregungen preis. Er hätte auch geradewegs von seinem üblichen Nachmittagsschläfchen im Club heimgekehrt sein können. Und das nach zehn Jahren! "Lady Tremaine unternimmt einen Gesundheitsspaziergang im Park, Sir." Lord Tremaine nickte. "Danke." Er ging zur Treppe. Ohne nachzudenken, trottete Goodman hinter ihm her, woraufhin Tremaine sich umwandte und eine Augenbraue hochzog. Goodman wurde derzeit nicht mehr gebraucht. Irgendetwas am Haus seiner Gemahlin hier in London fand Lord Tremaine befremdlich. Es war erstaunlich elegant. Eigentlich hatte er, was die Einrichtung anging, eher etwas in der Art erwartet, wie er es von seinen Nachbarn in der Fifth Avenue kannte: pompöser Stil, überall Vergoldungen, eine Nachahmung der letzten Tage von Versailles sozusagen. Zwar besaß Lady Tremaine ein paar Stühle aus der Zeit, aber denen konnte man ansehen, dass viele Samthosen mit ihnen Bekanntschaft geschlossen hatten, und sie wirkten eher bequem denn luxuriös. Weiterhin fehlten die klotzigen Kommoden und ausufernden Mosaikverzierungen völlig, die er im Geiste sonst mit englischen Häusern verband. Das Heim seiner Gemahlin hingegen erinnerte ihn eher an eine bestimmte Villa in Turin, am Fuße der italienischen Alpen, in der er in seiner Jugend ein paar glückliche Wochen verbracht hatte – ein Haus mit Tapeten in sanftem Gold und zartem Aquamarin, kostbare Fayencen voller Orchideen auf zarten gewundenen Eisenständern und dazu Möbel aus dem letzten Jahrhundert. Während seiner ganzen Jugend, in der er von einem Haus ins andere umgezogen war, hatte er sich nur auf dem Anwesen seines Großvaters und in jener Villa wirklich heimisch gefühlt. Er hatte es dort geliebt, weil die Zimmer so hell, freundlich und nicht voller Möbel waren; dafür gab es überall Pflanzen, die wunderbar krautig dufteten. Bis er die Bilder an den Wänden des Salons entdeckte, hielt er die Ähnlichkeit dieses Hauses mit der Villa in Turin noch für Zufall. Doch im Salon hatte Lady Tremaine Gemälde derselben Künstler aufgehängt, deren Werke sich auch in seinem Haus in Manhattan fanden: Sisley, Morisot, Cassat und Monet, dessen Bilder man schändlicherweise einmal mit unfertigen Entwürfen für Tapetenmuster verglichen hatte. Sein Herz schlug schneller. Auch im Speisezimmer hingen weitere Monets und ein Degas. Für ihre Galerie schien Lady Tremaine gleich eine ganze Impressionisten-Ausstellung aufgekauft zu haben: Renoir, Cezanne, Seurat und dann noch ein paar Maler, von denen niemand außerhalb der klatschsüchtigen Künstlerkreise von Paris jemals gehört hatte. Lord Tremaine blieb mitten in der Galerie stehen, weil er einfach nicht weitergehen konnte. Sie hatte dieses Haus so eingerichtet, dass es nach ihrer Heirat vor zehn Jahren ein wahr gewordener Traum für ihn gewesen wäre. Während ihrer langen verzückten Gespräche damals musste er ganz offensichtlich von seiner Vorliebe für schlichte Häuser und moderne Kunst erzählt haben. Er erinnerte sich, wie sie ihm ganz bezaubert gelauscht hatte, an ihre Fragen, ihr brennendes Interesse an allem, was mit ihm zu tun hatte. War die Scheidung vielleicht nur ein neuer Trick von ihr? Eine klug gestellte Falle, um ihn wieder einzuwickeln, nachdem alles andere versagt hatte? Würde er sie nackt und parfümiert in seinem Schlafzimmer vorfinden, sobald er die Tür dazu öffnete? Er fand seine Appartements und stieß die Tür auf. Nein, sie lag nicht auf dem Bett, weder nackt noch bekleidet. Es gab gar kein Bett. Und auch sonst nichts. Das Schlafzimmer war so groß und so leer wie der amerikanische Westen. Im Teppich waren keine Druckstellen von Möbelbeinen zu erkennen. An den Wänden verrieten keine hellen rechteckigen Flecken, dass hier bis vor Kurzem Bilder gehangen hätten. Auf dem Boden und den Fensterbrettern lag eine dicke Staubschicht. Das Zimmer stand seit Jahren leer. Aus irgendeinem unerfindlichen Grund bekam er plötzlich keine Luft mehr. Der Herrensalon hingegen war blitzsauber und vollständig eingerichtet mit Lesesesseln, Regalen voller Bücher, einem Schreibtisch mit Tintenfass und Papier darauf, ja, selbst ein Topf mit blühendem Amarant fand sich. Im Vergleich hiermit sprach das leere Schlafzimmer eine deutliche Sprache, wurde zu einem schmerzlichen Symbol. Vielleicht war das Haus wirklich nur dazu eingerichtet worden, ihn hierher zurückzulocken. Doch das war zehn Jahre her – fast eine Epoche. Seitdem schien er für das Leben seiner Gemahlin bedeutungslos geworden zu sein. Er stand noch immer in der Tür und starrte in das leere Schlafzimmer, als der Butler mit zwei Dienern und einem Schrankkoffer herbeikam. Die gähnende Leere des Zimmers ließ den Butler auffallend erröten. "Wir brauchen höchstens eine Stunde, um durchzulüften und alles wieder einzurichten, Sir." Beinahe hätte er Goodman angewiesen, sich die Mühe zu ersparen und das Zimmer so unwirtlich zu lassen. Aber damit hätte er preisgegeben, wie schockiert er war. Daher nickte Lord Tremaine nur. "Ausgezeichnet." Der Prototyp der neuen Stempelmaschine, den Lady Tremaine für ihre Fabrik in Leicestershire bestellt hatte, weigerte sich, die in ihn gesetzten Erwartungen zu erfüllen. Die Verhandlungen mit dem Werftbesitzer aus Liverpool zogen sich höchst unbefriedigend in die Länge. Und sie musste auch noch die Briefe ihrer Mutter – zehn an der Zahl – beantworten, die diese ihr seit dem offiziellen Scheidungsgesuch geschrieben hatte. Darin stellte Mrs. Rowland offen die Zurechnungsfähigkeit ihrer Tochter infrage und ging fast so weit, sie als so blöd wie ein Hammelbein zu deklarieren. Damit hatte Lady Tremaine ja durchaus gerechnet. Das folgende Telegramm von Mrs. Rowland – eingegangen vor vier Stunden – verursachte ihr dann allerdings endgültig Kopfweh: Tremaine in Southhampton von Bord gegangen. Wie sehr Lady Tremaine Freddie auch einzureden versuchte, dass dies in der gegebenen Situation fast zu erwarten gewesen war – Wir müssen die Papiere unterschreiben und uns bezüglich der Vermögenswerte einigen, Liebling. Da musste er irgendwann zurück nach England kommen –, Tremaines Ankunft konnte nur neuen Ärger bedeuten. Ihr Gemahl. In England. So nah, wie er es ihr seit zehn Jahren nicht mehr gewesen war – einmal abgesehen von den bedauerlichen Vorkommnissen in Kopenhagen 1888, also vor fünf Jahren. "Broyton soll morgen Vormittag freundlicherweise ein paar Konten für mich überprüfen", sagte sie zu Goodman, während sie ihm Schal, Hut und Handschuhe überreichte, als sie Zuhause eintraf. Dann ging sie zur Bibliothek. "Bitten Sie doch außerdem Miss Etoile zum Diktat zu mir. Und sagen Sie Edie, ich trüge heute Abend das cremefarbene Samtkleid statt dem aus violetter Seide." "Mylady …" "Ach, das hätte ich fast vergessen. Ich habe heute Morgen mit Lord Sutcliffe gesprochen. Sein Sekretär hat gekündigt. Ich habe Ihren Neffen für die Stelle empfohlen. Er soll sich morgen um zehn Uhr früh vorstellen. Sagen Sie ihm, Lord Sutcliffe sucht einen ehrlichen Mann, der nicht viele Worte macht." "Zu freundlich von Ihnen, Mylady", bedankte sich Goodman. "Ihr Neffe ist ein vielversprechender junger Mann." Sie blieb vor der Bibliothekstür stehen. "Wenn ich es mir recht überlege, soll Miss Etoile doch erst in zwanzig Minuten bei mir erscheinen. Und sorgen Sie bitte dafür, dass ich bis dahin nicht gestört werde." "Aber Mylady, Seine Lordschaft …" "Seine Lordschaft wird den Tee heute nicht mit mir nehmen." Sie drückte die Tür auf und stellte fest, dass Goodman noch immer wartete und keine Anstalten machte, sich zu entfernen. "Was ist denn, Goodman? Haben Sie wieder Rückenschmerzen?" "Nein, Mylady, das ist es nicht, es geht vielmehr …" "Um mich", sagte eine Stimme in der Bibliothek. Die Stimme ihres Gemahls. Für einen langen Augenblick war sie wie versteinert und konnte nur daran denken, dass sie Freddie, Gott sei Dank, nicht mit heimgebracht hatte, wie sie es nach einem gemeinsamen Nachmittagsspaziergang oft tat. Ansonsten war sie nicht in der Lage, einen einzigen klaren Gedanken zu fassen. Das Blut schoss ihr in den Kopf. Erst wurde ihr heiß, dann kalt. Die Luft schien auf einmal zum Schneiden dick, sodass Atmen unmöglich war. Geistesabwesend nickte sie Goodman zu. "Sie können gehen." Goodman zögerte. Hatte er Angst um sie? Lady Tremaine betrat die Bibliothek und ließ die schwere Eichentür hinter sich zufallen. Die Fenster des Zimmers gingen nach Westen und boten so eine Aussicht auf den Park. Das noch immer kräftige Sonnenlicht fiel durch die Scheiben herein und malte rechteckige helle Flecken auf den orientalischen Teppich mit seinen verschlungenen Mustern aus Mohnblüten und Granatäpfeln, Rosen und Elfenbein. Tremaine hatte die Hände auf den Mahagonischreibtisch hinter ihm gestützt und die langen Beine ausgestreckt. Er sah aus wie Michelangelos Adam, als wäre der von der Decke der Sixtinischen Kapelle gesprungen und hätte einen teuren Edelschneider beraubt, um danach hier einen Besuch zu machen. Lady Tremaine fing sich wieder. Sie starrte ihn ja an, als wäre sie noch immer das neunzehnjährige Mädchen von damals. "Hallo, Camden." "Hallo, Gigi." Seitdem er sie verlassen hatte, durfte kein Mann sie mehr so nennen. Es war ihr Spitzname aus Kindertagen. Sie zwang sich, die Bibliothek zu durchqueren. Entschlossen stellte sie sich direkt vor ihn, um zu zeigen, dass sie keine Angst hatte. Dabei hatte sie die sehr wohl. Er besaß Macht über sie, eine Macht, die weit über seine gesetzlichen Rechte als Ehegatte hinausging. Obwohl sie groß war für eine Frau, musste sie den Kopf zurücklegen, um ihm in die Augen zu sehen, die dunkelgrün waren wie Malachite aus dem Ural. Dann nahm sie den Duft nach Sandelholz und Zitrone wahr – einst der Inbegriff des Glücks für sie. "Bist du hier, um in die Scheidung einzuwilligen oder um Schwierigkeiten zu machen?" Wozu um den heißen Brei herumreden? Wenn man den Stier gleich bei den Hörnern packte, konnte er einen wenigstens später nicht unverhofft hinterrücks angreifen. Er zuckte die Schultern. Den Gehrock und die Krawatte hatte er abgelegt. Ihr Blick verweilte ein wenig zu lang auf der gebräunten Haut seines Halses. Das teure Hemd aus Batist betonte seine breiten Schultern und muskulösen Arme. "Ich bin hier, um dir meine Bedingungen mitzuteilen." "Was meinst du mit Bedingungen?" "Ein Erbe. Du bringst einen Erben zur Welt, und ich stimme der Scheidung zu. Andernfalls werde ich die Namen der Herren nennen, mit denen du die Ehe gebrochen hast. Dir dürfte bekannt sein, dass du dich nicht wegen Ehebruchs von mir scheiden lassen kannst, wenn du dieselbe Sünde begangen hast, vermute ich?" "Du beliebst zu scherzen. Einen Erben? Von mir? Jetzt?" "Bisher war mir der Gedanke, mit dir zu schlafen, einfach zuwider." "Tatsächlich?" Sie lachte, dabei hätte sie ihm viel lieber das Tintenfass gegen die Schläfe geschlagen. "Beim letzten Mal schien es dir ganz gut zu gefallen." "Eine großartige Theateraufführung", erklärte er leichthin. "Aber ich bin ja auch kein schlechter Schauspieler." Wieder fühlte sie, wie dieser entsetzliche, lähmende Schmerz sich in ihr ausbreitete. Dabei hatte sie geglaubt, dass sie den nie wieder spüren würde. Sie rang um Fassung und versuchte zu verdrängen, wie weh er ihr tat. "Leere Drohungen. Ich pflege kein intimes Verhältnis zu Lord Frederick." "Wie rein und keusch. Ich sprach aber von Lord Wrenworth, Lord Acton und Mr. Williams." Erstaunt holte sie tief Luft. Woher wusste er das alles? Sie war doch so vorsichtig und diskret vorgegangen! "Deine Mutter hat mir geschrieben." Er beobachtete sie. Offenbar amüsierte ihn ihr Ärger darüber. "Natürlich wollte sie mich lediglich in wahnwitzige Eifersucht treiben, damit ich zurück nach England segele und dich an meine Seite zwinge. Bestimmt wirst du ihr das verzeihen." Wenn das keine mildernden Umstände für einen Mord an der eigenen Mutter waren … Gleich morgen würde sie ein Dutzend sehr ausgehungerter Ziegen in Mrs. Rowlands geliebtes Gewächshaus treiben und anschließend den englischen Vorrat an Haarfärbemitteln aufkaufen, damit die Frau aller Welt ihren grauen Ansatz präsentieren musste. "Dir bleibt die Wahl", sagte er freundschaftlich. "Entweder wir regeln die Dinge unter uns, oder aber die Herren müssen unter Eid aussagen. Du weißt ja, dass jedes Wort in sämtlichen Zeitungen abgedruckt werden würde." Sie erbleichte. Freddie war ein echter Heiliger, bereit, mit ihr all die Hässlichkeiten und Beschwernisse einer Scheidung durchzustehen. Aber würde selbst er sie noch lieben, wenn ihre verflossenen Liebhaber öffentlich die Affären mit ihr bekannt machten? "Warum tust du das?", fragte sie laut. Schnell versuchte sie sich zu beruhigen und holte tief Luft. Lord Tremaine würde jede Gefühlsregung nur als Schwäche auslegen. "Meine Anwälte haben dir ein ganzes Dutzend Briefe geschickt. Du hast nicht einen beantwortet. Wir hätten die Ehe annullieren lassen können und dabei wenigstens ein Mindestmaß an Würde gewahrt, ohne uns diesen Zirkus anzutun." "Und ich dachte, mein Schweigen hätte dir vielleicht verraten, was ich von deinem Vorschlag hielt." "Ich habe dir hunderttausend Pfund angeboten!" "Mein Vermögen dürfte sich auf das Zwanzigfache belaufen. Doch selbst wenn ich keinen einzigen Sou besäße, würde diese Summe nicht ausreichen, damit ich mich vor einen Richter Ihrer Majestät stellte, um zu schwören, dass ich dich nie angerührt habe. Wir wissen doch beide, dass wir es damals gemacht haben – als kleinen Abschiedsgruß." Sie zuckte zusammen, und ihr wurde heiß. Leider nicht nur aus Wut. Die Erinnerung an jene Nacht – nein, sie durfte jetzt nicht daran denken. Außerdem hatte sie sowieso längst alles vergessen. "Du machst das doch noch immer wegen Theodora von Schweppenburg. Bestimmt willst du mich weiter dafür bestrafen." Er bedachte sie mit einem kühlen Blick, unter dem ihr früher die Knie gezittert hatten. "Wie kommst du nur auf eine solche Idee?" Was sollte sie darauf schon antworten, ohne dabei ihre schwierige und hässliche Vergangenheit zu erwähnen? "Bitte, wie du willst", sagte sie so gleichmütig wie möglich. "Ich habe eine Einladung heute Abend, die ich keinesfalls absagen werde. Gegen zehn sollte ich wieder daheim sein. Eine halbe Stunde nach meiner Rückkehr hätte ich dann eine Viertelstunde für dich." Er lachte auf. "So ungeduldig wie stets, mein liebe Marchioness. Nein, heute werde ich dein Schlafzimmer nicht besuchen. Ich bin müde von der Reise. Außerdem brauche ich ein paar Tage, um über meine Abscheu hinwegzukommen, nachdem ich dich nun wiedergesehen habe. Glaube übrigens bitte nicht, dass ich mich an irgendwelche idiotischen Zeitvorgaben zu halten gedenke. Ich werde mich so lange in deinem Bett aufhalten, wie es mir beliebt – keine Minute mehr oder weniger. Was du willst, spielt dabei gar keine Rolle." Unerhört! Ihr blieb der Mund offen stehen. "Das ist der lächer…" Plötzlich beugte er sich vor und legte ihr den Zeigefinger auf die Lippen. "Wenn ich du wäre, würde ich den Satz lieber unvollendet lassen. Sonst wird es dir später noch leidtun." Mit brennenden Lippen drehte sie heftig den Kopf weg. "Selbst wenn du der letzte Mann auf der Welt wärst, würde ich dich nicht in meinem Bett haben wollen – und dabei habe ich seit zwei Wochen jeden Abend nichts als Spargel gegessen." "Sie zaubern überraschende Bilder in meinen Kopf, teure Lady Tremaine. Beim letzten Mal erfreuten sich sämtliche anderen Männer der Welt durchaus bester Gesundheit, und du hast dich auch ohne jegliches Aphrodisiakum wie eine Tigerin gebärdet." Er stellte sich gerade hin. "Heute kann ich dich nicht länger ertragen. Ich wünsche einen angenehmen Abend. Bitte richte deinem Liebhaber meine Grüße aus. Hoffentlich ist er mir nicht gram dafür, dass ich meine ehelichen Rechte einfordere." Er ging, ohne sich noch einmal umzuwenden. Auch das tat er nicht zum ersten Mal. Lady Tremaine sah zu, wie sich die Tür hinter ihrem Gemahl schloss, und verfluchte den Tag, an dem sie das erste Mal seinen Namen gehört hatte.