ddr revisited - Bertz + Fischer Verlag
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DDR REVISITED Mediale Umcodierungen Claus Löser 36 RECHERCHE FILM UND FERNSEHEN NR. 1/2007 NOVALIS – DIE BLAUE BLUME Christoph Schiller, D 1993 Buch und Regie: Herwig Kipping Kamera: Matthias Tschiedel Produktion: DEFA, Thomas Wilkening Film Quelle: Deutsche Kinemathek Vorab Die Krise der DEFA war vor allem eine Glaubwürdigkeitskrise der von ihr gelieferten Bilder. Spätestens seit dem „Kahlschlag“ des 11. Plenums vom Dezember 1965, nachdem die Administration mit dem berühmt-berüchtigten Jahrgangsverbot unmissverständlich ihre Ablehnung einer wirklichkeitsnahen Kinematographie exekutiert hatte, gelang es ostdeutschen Filmemachern nur noch in Ausnahmefällen, zu authentischen Reflexionen durchzudringen. Als im Herbst 1989 die DDR kollabierte, gerieten auch DEFA und Fernsehen in den Strudel der Erosion. Dies war folgerichtig – gehörten doch die staatlichen Bilderfabriken ebenso zum realsozialistischen Zwangssystem wie Partei-, Wirtschafts- und Sicherheitsapparat. Übergangslos wandelte sich das privilegierte Terrain, auf dem sich die DEFA-Regisseure eben noch bewegt und auf dem sie kritische Einwürfe gewagt oder als bloße Vollzugsbeamte agiert hatten, zur frei verhandelbaren Konkursmasse eines auslaufenden Gesellschaftsmodells. Dieser abrupte Wechsel mutet nachgerade tragisch an, vor allem, wenn man die DDR-Situation ins Verhältnis zu jener in der Sowjetunion setzt. War es in der UdSSR 1985 nach der Inthronisierung Michail Gorbatschows zum Generalsekretär der KPdSU und vor allem ein Jahr später mit der Ausrufung von Glasnost und Perestroika zu einem tiefen Wandel auch in der Kulturpolitik gekommen, hatten sich die Machthaber in der DDR bis zuletzt erfolgreich allen Reformansätzen verweigert. Während so in der UdSSR in den Jahren zwischen 1985 und 1990 unter anderem mit Arbeiten von Elem Klimow, Rolan Bykow, Alexej German oder Wadim Abdraschitow zahlreiche wichtige und bleibende Beiträge zur Weltfilmkunst veröffentlicht werden konnten (die teilweise schon vorher entstanden, aber verboten waren), blieb ein vergleichbarer Innovationsschub bei der DEFA aus. Anders auch als beim DDR-Fernsehen, das sich in den „heißen“ Wochen der friedlichen Revolution von 1989/90 kurzzeitig überaus großer Beliebtheit erfreute, wurde die DEFA dieser finalen Popularität beraubt. Das staatliche ostdeutsche Filmschaffen kippte binnen weniger Wochen von innerer Agonie in äußere Irrelevanz um. Endlich von allen zensorischen Hemmnissen befreit, hätten theoretisch nun jene Filme gedreht werden können, auf die ein potentielles Publikum lange, zu lange, gewartet hatte. Einerseits gab es dieses Publikum nach dem Herbst 1989 aber nicht mehr, da sich die DDR-Bevölkerung insgesamt in einen unvermittelten Transformationsprozess geworfen sah. Andererseits war mit der Umwertung der konkreten Lebenswirklichkeiten auch deren mediale Spiegelung obsolet geworden. Der sich anschließende Text will versuchen, auf einige Phänomene bei der Umcodierung von Bildern aus und von der DDR in der unmittelbaren Zeit nach dem politischen Umbruch von 1989 hinzuweisen. 2 NACHSPIEL DDR DDR REVISITED 1 Unter kulturpolitisches Verdikt waren gefallen: DAS KANINCHEN BIN ICH von Kurt Maetzig, DENK BLOSS NICHT, ICH HEULE von Frank Vogel, BERLIN UM DIE ECKE von Gerhard Klein, KARLA von Herrmann Zschoche, JAHRGANG 45 von Jürgen Böttcher und WENN DU GROSS BIST, LIEBER ADAM von Egon Günther. Frank Beyers SPUR DER STEINE wurde nach der Freigabe systematisch verleumdet, später aus dem Spielplan genommen und verboten. Foto links: GOOD BYE, LENIN! Daniel Brühl, D 2003 Quelle: X-Verleih 37 2 Gemeint sind jene Absolventinnen und Absolventen der Filmhochschule in Potsdam-Babelsberg, die Jahrgängen zwischen etwa 1948 und 1958 entstammen und die als aktive Filmemacher aus verschiedenen Gründen kaum zum Zug kamen. Zu ihnen gehören Jörg Foth, Karl-Heinz Lotz, Dietmar Hochmuth, Evelyn Schmidt oder Jan Bereska. Vgl.: Dietmar Hochmuth (Red.), DEFA NOVA – Nach wie vor? Versuch einer Spuren sicherung, Freunde der Deutschen Kinemathek e.V. Berlin 1983 (Schriftenreihe Kinemathek Heft 82) 3 Welcher Film nun wirklich der letzte originäre, d. h. in der DDR gedrehte und zur Premiere gebrachte DEFA-Film war, bleibt ein wenig strittig. MOTIVSUCHE von Dietmar Hochmuth und BIOLOGIE! von Jörg Foth wurden zwar nach Peter Kahanes DIE ARCHITEKTEN uraufgeführt, fallen aber bezüglich ihrer zeitgeschichtlichen Relevanz weniger signifikant aus. Nach dem Ende der DDR wurden in PotsdamBabelsberg unter dem DEFA-Label noch bis 1992 Filme produziert. Vgl.: Ralf Schenk (Red.), Das zweite Leben der Filmstadt Babelsberg. DEFA-Spielfilme 1946 – 1992, Berlin 1994 Foto rechts: DAS LAND HINTER DEM REGENBOGEN D 1990/91 Buch und Regie: Herwig Kipping Kamera: Roland Dressel Produktion: DEFA, KAG „DaDaeR“ Quelle: Deutsche Kinemathek 38 Letzte Innenansichten In der allerletzten Phase der ostdeutschen Eigenstaatlichkeit – in der Zeit nach dem Mauerfall am 9. November 1989 bis zum Beitritt am 3. Oktober 1990 – versuchten einige DDRFilmemacher der „verlorenen Generation“2, das am eigenen Leib erfahrene, kulturpolitische Manko im Schnelldurchlauf auszugleichen. Ihre Filme gerieten jedoch in eine historische Phasenverschiebung von globaler Bedeutung und verschwanden unabhängig von ihrer Qualität in den Blindfeldern der Augenblickswahrnehmung. Signifikant für diese rezeptive Schere ist das gern als „letzter DEFA-Film“3 bezeichnete Gesellschaftsresümee DIE ARCHITEKTEN von Peter Kahane (Premiere: 27. Mai 1990). Die Geschichte einer Gruppe ehrgeiziger Architekten, die mit der Arbeit an einem Großprojekt alle Illusionen über die Veränderbarkeit der Gesellschaft und über ihre eigene Funktion in diesem Gemeinwesen verlieren, muss als Gleichnis auf den Zustand vieler DDR-Filmemacher gelesen werden. Der Regisseur und sein Drehbuchautor Thomas Knauf hatten bereits seit Mitte der achtziger Jahre an dem Stoff gearbeitet, waren aber bei der Studioleitung immer wieder hingehalten und/oder abgewiesen worden. Im Augenblick der lang ersehnten Mittelfreistellung und erst recht nach Beginn der Dreharbeiten sahen sie sich mit dem zunehmenden Einbruch der Realität in ihre Inszenierung konfrontiert. Das in die Schublade verbannte Manuskript löste sich, plötzlich der Zugluft eines veränderten Außenklimas ausgesetzt, quasi unter den Händen seiner Urheber auf. Was eben noch Brisanz versprach, mutierte zum konservatorischen Unterfangen. In dem Maße, in dem die im Buch entworfenen Situationen von der Wirklichkeit überholt wurden, sah sich die beabsichtigte Authentizität einer eigendynamischen Metamorphose hin zur Kulisse unterworfen. Um der für den Film vorgesehenen Glaubwürdigkeit visuell überhaupt noch nahe zu kommen, mussten Teile der DDR schließlich im Studio nachgebaut oder Außenaufnahmen mit aufwändigen Absperrungen und Umbauten vorgenommen werden. Aber DIE ARCHITEKTEN ist als Film nicht nur an den sich rasant ändernden Umgebungsbedingungen und am Abhandenkommen des Publikums gescheitert. Befangen in den Zwängen einer allzu abgestandenen, schaumgebremsten DEFA-Tradition – mit ihren stets kunstgewerblichen Dekors, den steifen Dialogen, der verkleisternden Musik und vor allem der behäbig-linearen Erzählweise – dupliziert der Film höchstens das Scheitern seiner Helden. Als Membran für die sich ringsum vollziehenden Veränderungen versagte DIE ARCHITEKTEN: Dem Verschwinden der DDR vermochte er keine adäquaten, d. h. bleibenden Bilder abzutrotzen, da er sich der überholten ästhetischen Methoden genau dieses verschwindenden Systems bediente. In diesem Dilemma bewegten sich auch andere ostdeutsche Produktionen. An Elan und Stoffen mangelte es den Regisseuren des Übergangs zwar nicht, doch verfing sich ihre Verve offenbar rasch in der Trägheit des ausführenden Apparats, auf den sie bei der Umsetzung ihrer Ideen nun einmal angewiesen waren; in der mangelnden Flexibilität der technischen Gewerke ebenso wie in jener der Verwaltungsetagen. Am radikalsten gebrochen mit der ästhetischen Erblast des DEFA-„Stallgeruchs“ hat wohl noch Herwig Kipping, der 1992 mit DAS LAND HINTER DEM REGENBOGEN ein wüstes, mit Signalen aus dem christlichen und stalinistischen Bilderkanon jonglierendes Märchen über gesellschaftliche und individuelle Utopien und deren unerbittliches Zerbrechen an der Staatsräson entworfen hat. Kippings Bilder einer versunkenen DDR delirieren in ihrem Überschwang und ihrem fast infantilen RECHERCHE FILM UND FERNSEHEN NR. 1/2007 ALLEMAGNE ANNÉE 90 NEUF ZÉRO Dreharbeiten – Jean-Luc Godard, F 1991 Buch und Regie: Jean-Luc Godard Kamera: Stephan Benda, Andreas Erben, Christophe Pollock Produktion: Antenne 2, Brainstorm Prod., Peripheria, Gaumont Quelle: Deutsche Kinemathek Eklektizismus am Rande des Größenwahns, halten sich aber keinen Moment lang an überkommenen Vorgaben auf, entwickeln gerade dadurch wirkliche Originalität. Sein fiktives Dorf Stalina wird zum hybriden Schauplatz eines in den fünfziger Jahren angesiedelten Hexensabbats, der sich zum durchaus wirksamen Gleichnis für die regressiven Kontinuitäten von 40 Jahren DDR-Sozialismus ausformt. Die Grünen-Politikerin Antje Vollmer, 1992 Mitglied der Vergabejury für den Bundesfilmpreis, bescheinigte dem Werk, eine „Teufelsaustreibung mit den Mitteln der Kunst, mit wilden Bildern der Befreiung, des Hasses und einer Traurigkeit ohne jedes Maß“4 zu sein. Unter anderem ihr Plädoyer sorgte für die Prämierung mit dem Filmband in Silber nebst 700.000 D-Mark, auf deren Grundlage Kipping schon ein Jahr später das Nachfolgeprojekt NOVALIS – DIE BLAUE BLUME realisieren konnte. In seinem Novalis-Film entwickelte Kipping die Methoden seines preisgekrönten Erstlings weiter, ignorierte das Raum-Zeit-Kontinuum noch maßloser. Die unglückliche Biografie des Georg Friedrich Philipp Freiherr von Hardenberg (1772 – 1801) alias Novalis diente ihm als Folie für einen Rundumschlag gegen diverse historische Überväter von Bismarck über Hitler bis Stalin und Ulbricht, an deren Machtanspruch noch jedes Aufbegehren scheitert und sich auf fatale Weise gegen die Rebellierenden selbst richtet. Im Finale heben der Dichter und seine früh verstorbene, wiedererstandene Geliebte auf einem Motorrad aus dem Berliner Olympiastadion in den Sternenhimmel ab, lassen ein bizarres Stelldichein deutscher Mythen und Irrlichter hinter sich. Vieles an NOVALIS erscheint absurd oder trashig und einer streng geschichtlichen Analyse hält der Film ganz sicher nicht stand – aber seine Bilderwelten sind wiederum ausgesprochen originell. Seit 1993 hat Herwig Kipping keinen Film mehr realisieren können. Seine beiden, nach 1989 wie in einem Fieberrausch entstandenen Arbeiten harren heute ihrer Wiederentdeckung als seltene Beispiele einer visuellen Eigenständigkeit zwischen den Zeiten und Systemen und zwischen allen Stühlen sowieso. Zwischenbemerkung Die angesprochene Schwerfälligkeit von Spielfilmprojekten bei der Reaktion auf aktuelle Zeitläufte ist diesen immanent und kann ihren Urhebern nicht angelastet werden. Wie der Fall von DIE ARCHITEKTEN jedoch zeigt, kann im Umkehrschluss zeitgeistlicher Anpassungseifer aber auch – so er nicht in einem zeitlosen ästhetischen Gestus wurzelt – zu beschleunigter Alterung führen. Mediale Relevanz lässt sich nun einmal nicht erzwingen, sie bedarf tragfähiger Konzepte, die über die Launen der Tagespolitik hinausreichen. Der DEFA-Dokumentarfilm hatte im Vergleich zur Spielfilmproduktion in der Endphase der DDR zumindest partiell zu höherer Qualität gefunden und konnte deshalb in der Auflösungs- und Neuorientierungsphase auch zu souveräneren Ergebnissen finden. Zwischen 1989 und 1993 sind zahlreiche wichtige Arbeiten von Dokumentaristen entstanden, in denen die Balance zwischen zeitgeschichtlicher Authentizität und ästhetischer Nachhaltigkeit viel besser austariert werden konnte als in den Produktionen ihrer fiktional arbeitenden Kollegen. Diese Leistungen können hier nur kurz gestreift werden. Es waren jene Filmemacherinnen und Filmemacher, die sich einer von Jürgen Böttcher ab Mitte der sechziger Jahre entwickelten, für DDR-Verhältnisse damals neuartigen „Schule des Beobachtens“ verpflichtet fühlten und die damit die Errungenschaften des „Cinéma Vérité“ weitgehend ideologiefrei in die DEFA-Filmsprache 40 RECHERCHE FILM UND FERNSEHEN NR. 1/2007 einbringen konnten. Neben Jürgen Böttcher selbst (DIE MAUER, 1990) als Nestor dieser Bewegung (*1931) sowie dem von ihm inspirierten Volker Koepp (*1944) mit seinen Zyklen über die Kleinstadt Wittstock und die Region Mark Brandenburg kamen während des großen Paradigmenwechsels um 1989/90 einige relativ junge Regisseurinnen und Regisseure zum Zug, die wichtige und bleibende Bildzeugnisse von der verschwindenden DDR lieferten. In gelungener Form-Inhalt-Synthese reagierten sie zeitgemäß auf die sich verändernden Rahmen bedingungen, griffen dabei gleichzeitig wertvolle DEFA-Traditionen auf und entwickelten diese weiter. Erwähnt seien hier nur Namen und Titel wie die von Helke Misselwitz mit WER FÜRCHTET SICH VORM SCHWARZEN MANN? (1989), Petra Tschörtner mit BERLIN – PRENZLAUER BERG (1990), Gerd Kroske und Andreas Voigt mit LEIPZIG IM HERBST (1989), Thomas Heise mit EISENZEIT (1991) oder Sibylle Schönemanns VERRIEGELTE ZEIT (1990). 4 Antje Vollmer, Endlich: ein neuer deutscher Film, in: die tageszeitung Berlin vom 03.07.1992, S. 15 5 Dietrich Leder, Allemagne année 90 neuf zéro, in: Blimp Nr. 21 (1992) 6 Danièle Heyman / Jean-Michel Frodon, Die Einsamkeit der Geschichte, in: die tageszeitung 19. September 1991 Blicke von außen Anfang 1991 begibt sich Jean-Luc Godard in den Osten Deutschlands, um hier eine einstündige Auftragsarbeit für den französischen Fernsehsender Antenne 2 zum Thema „Einsamkeit“ zu drehen. Obwohl er durch sein Vaterhaus stark von der deutschen Kultur – namentlich von der Romantik und der Philosophie Hegels – geprägt wurde, hatte er sich nie zuvor für mehr als ein paar Stunden östlich des Rheins aufgehalten. In der DDR war nicht ein einziger Film aus dem umfangreichen Œuvre des wegweisenden Regisseurs in den offiziellen Verleih aufgenommen worden. Nun führen ihn eigene Dreharbeiten doch noch in die Babelsberger Filmstudios – um in den Kulissen von Herwig Kippings DAS LAND HINTER DEM REGENBOGEN eine kurze Szene von ALLEMAGNE ANNÉE 90 NEUF ZÉRO, seinem 68. Film, aufzunehmen. Neben Potsdam und Berlin dienen Weimar, Buchenwald, das Lausitzer Braunkohlengebiet und der Hafen von Stralsund als Stationen auf der letzten Reise des Spions Lemmy Caution, dessen Mission als „Schläfer“ mit dem Fall der Mauer ausgelaufen ist und der nun seinen Heimweg in den Westen sucht. Nicht unbedingt der geografischen Logik entsprechend durchstreift der Held aus Godards Klassiker ALPHAVILLE nun die Trümmer des Realsozialismus. Eddie Constantine wirkt wie ein leibhaftiges Reptil des Kalten Krieges, das sich stumm durch die sorgfältig kadrierten Tableaus bewegt. Godard geht es bei seinem Exkurs in die Nicht-mehrDDR als ein „Land großer Einsamkeit“5 primär um die Brechungen deutscher Nationalkultur in den großen Katastrophen des 20. Jahrhunderts und um eine eigene Positionsbestimmung dazu. Zitate von und Verweise auf Grimmelshausen, Benjamin, Marx, Hegel, Spengler, Mann, Schiller, Goethe, Kafka, Luxemburg, Freud, Hitler, Lang, Murnau, Fassbinder und andere verknüpfen sich zu einem dichten Netz aus kulturhistorischen Chiffren, das Godard über die vorgefundene Wirklichkeit legt, um sich innerhalb ihrer Dynamik zu verorten. Die Spuren der DDR sind ihm dabei auch Spuren, die weit bis vor 1949 zurückreichen. Wenn seine Reisebilder teilweise auch wie Illustrationen zu den vorher im Kopf oder Buch verfassten Thesen erscheinen, gelingen ihm doch eine ganze Reihe von prägnanten Schlaglichtern. Diese hohe dokumentarische Evidenz ist vor allem seinem sprichwörtlichen Improvisationstalent zu danken. Seine Bilder aus einem heruntergekommenen Friseursalon oder einer Hafenkneipe an der Ostsee könnten auch aus einem Film Jürgen Böttchers stammen. Die DEFA selbst sieht er äußerst kritisch, als eine verachtenswerte Gesellschaft, die „Schweinereien gemacht hat“6 2 NACHSPIEL DDR DDR REVISITED 41 MAX UND MORITZ RELOADED Franziska Petri, D 2004/05 Regie: Thomas Frydetzki Buch: Eckhard Theophil Kamera: Dany Schelby, Jens Harant Produktion: Next Film, Kinowelt Quelle: Kinowelt 7 Ebenda 8 Der Filmtitel ist eine Anlehnung an Tobe Hoopers Horror-Klassiker THE TEXAS CHAINSAW MASSACRE (1974), in Deutschland gekürzt als BLUTGERICHT IN TEXAS in den Kinos gelaufen. 42 und als Fortsetzung des Versuchs, die Wirklichkeit an staatsdoktrinäre Ideale anzugleichen. Sein eigenes Verfahren ist dem diametral entgegengesetzt: „Ich habe eine Geschichte, die anderen auch, die Geschichte ist zwischen uns. Das Kino dient dazu, um dazwischen zu erzählen.“7 Das Visionäre an Godards Untersuchung des gerade wiedervereinigten Deutschlands besteht in der eindrucksvoll vermittelten Erkenntnis, dass mit dem Verschwinden des politischen Ostens auch der Westen seine Funktion verlieren muss. Mit dem Privileg des Draufblicks ausgestattete Regisseure wie Godard oder Marcel Ophüls (NOVEMBERTAGE, 1990) konnten sich ohne Zweifel unbefangener zur sich auflösenden DDR und ihrer verschwindenden Bilderwelt ins Verhältnis setzen als ostdeutsch sozialisierte Regisseure. Die Perspektive von außen vernachlässigt infolge mangelnder Detailkenntnis zwangsläufig manches, vermag jedoch auch Ansichten freizusetzen, die dem durch autobiografische Erfahrungen verstellten Binnenblick verwehrt bleiben. In den Kontext des fremden Blicks fügt sich bedingt auch Christoph Schlingensiefs Wiedervereinigungs-Farce DAS DEUTSCHE KETTENSÄGENMASSAKER8, Anfang 1990 in wenigen Tagen auf einem stillgelegten Industriegelände in der Nähe von Dortmund heruntergedreht. Mit spürbarer Lust an parodistischer Überhöhung und politischer Unkorrektheit gelang ihm unter dem Motto „Sie kamen als Freunde und wurden zu Wurst“ eine wirkungsvolle Demontage aller pathetischen Gesten, mit denen das offizielle Deutschland die Beendigung der Nachkriegszeit zelebrierte. Schlingensief und seine illustre Schar von Kombattanten (u. a. Alfred Edel, Volker Spengler, Dietrich Kuhlbrodt, Irm Herrmann, Udo Kier) erzählen die Geschichte der von Leipzig in die Bundesrepublik ziehenden Clara, die im Westen statt wohlwollender Brüder und Schwestern nur degenerierte Kretins eines üppig ausgestatteten Sozialstaates vorfindet, die ihr an Leib und Leben wollen. Die Bundesrepublik wird zum Moloch, der sich schamlos den Osten und dessen Bewohner einverleibt, diese im wahrsten Sinne des Wortes „verwurstet“. Die DDR erscheint hingegen in einem kurzen Prolog als Plattenbau-Gulag, dessen Bruchstücke mühselig mit Losungen der Partei zusammengehalten werden. Das Erstaunliche an dieser RECHERCHE FILM UND FERNSEHEN NR. 1/2007 MAX UND MORITZ RELOADED DAS DEUTSCHE KETTENSÄGENMASSAKER D 2004/05 Quelle: Kinowelt Irm Hermann, D 1990 Regie, Buch, Kamera: Christoph Schlingensief Produktion: DEM Quelle: Deutsche Kinemathek Perspektive ist, dass der Westen nicht nur nicht besser, sondern noch trister und verdorbener als der Osten daherkommt und Clara mit Abstand die positivste Figur des gesamten Films verkörpert. Als fröhlicher Spielverderber des nationalen Fusionstaumels zog Schlingensief genau die Reaktionen auf sich, die er beabsichtigt hatte: Gegen seinen Film wurde Strafanzeige wegen Gewaltverherrlichung erstattet, die Betreiber des zur Premiere vorgesehenen Kinos „Babylon“ in Berlin-Mitte zogen entsetzt ihre Zusage zur Aufführung zurück. Presse und Öffentlichkeit waren polarisiert und das KETTENSÄGENMASSAKER avancierte zum Hit der kleinen, auf subversive Ware spezialisierten Programmkinos. Nachtrag Es brauchte 15 Jahre, bis ein Film mit ostdeutschem Entstehungshintergrund Schlingensiefs Ball zurückspielte. Thomas Frydetzki realisierte 2005 mit MAX UND MORITZ RELOADED einen rüden, Russ Meyer gewidmeten Regelverstoß, der die Konstellation Schlingensiefs von 1990 umkehrte. In seiner auf Cinemascope gedrehten, vagen Wilhelm-Busch-Adaption werden zwei unverbesserliche Brüder aus Hamburg in ein thüringisches Resozialisierungslager überstellt, das von einstigen NVA-Offizieren unterhalten wird. Der 1988 von Leipzig nach Ludwigsburg übergesiedelte, frühere Underground-Filmer Frydetzki macht in stark überzeichneten, comic-ähnlichen Episoden einen grellen Bilderbogen über die Vielfalt ost-westdeutscher Kommunikationsdefizite auf, der inhaltlich und stilistisch nahezu jedes Tabu bricht. Nach all den moralisierend-bedeutungsschweren Autorenfilmen und der Schwemme von verklärenden Komödien zum Thema war MAX UND MORITZ RELOADED endlich ein ebenso erfrischender wie respektloser Anti-Film mit einem ganz neuen, ostdeutsch akzentuierten point of view. Allerdings wollte kein Mensch dafür an der Kinokasse eine Eintrittskarte kaufen. 2 NACHSPIEL DDR DDR REVISITED 43