ddr revisited - Bertz + Fischer Verlag

Transcription

ddr revisited - Bertz + Fischer Verlag
DDR REVISITED
Mediale Umcodierungen
Claus Löser
36
RECHERCHE FILM UND FERNSEHEN NR. 1/2007
NOVALIS – DIE BLAUE BLUME
Christoph Schiller, D 1993
Buch und Regie: Herwig Kipping
Kamera: Matthias Tschiedel
Produktion: DEFA,
Thomas Wilkening Film
Quelle: Deutsche Kinemathek
Vorab
Die Krise der DEFA war vor allem eine Glaubwürdigkeitskrise der von ihr gelieferten Bilder.
Spätestens seit dem „Kahlschlag“ des 11. Plenums vom Dezember 1965, nachdem die Administration mit dem berühmt-berüchtigten Jahrgangsverbot unmissverständlich ihre Ablehnung einer wirklichkeitsnahen Kinematographie exekutiert hatte, gelang es ostdeutschen
Filmemachern nur noch in Ausnahmefällen, zu authentischen Reflexionen durchzudringen.
Als im Herbst 1989 die DDR kollabierte, gerieten auch DEFA und Fernsehen in den Strudel
der Erosion. Dies war folgerichtig – gehörten doch die staatlichen Bilderfabriken ebenso zum
realsozialistischen Zwangssystem wie Partei-, Wirtschafts- und Sicherheitsapparat. Übergangslos wandelte sich das privilegierte Terrain, auf dem sich die DEFA-Regisseure eben
noch bewegt und auf dem sie kritische Einwürfe gewagt oder als bloße Vollzugsbeamte agiert
hatten, zur frei verhandelbaren Konkursmasse eines auslaufenden Gesellschaftsmodells.
Dieser abrupte Wechsel mutet nachgerade tragisch an, vor allem, wenn man die DDR-Situation ins Verhältnis zu jener in der Sowjetunion setzt. War es in der UdSSR 1985 nach der
Inthronisierung Michail Gorbatschows zum Generalsekretär der KPdSU und vor allem ein
Jahr später mit der Ausrufung von Glasnost und Perestroika zu einem tiefen Wandel auch in
der Kulturpolitik gekommen, hatten sich die Machthaber in der DDR bis zuletzt erfolgreich
allen Reformansätzen verweigert. Während so in der UdSSR in den Jahren zwischen 1985
und 1990 unter anderem mit Arbeiten von Elem Klimow, Rolan Bykow, Alexej German oder
Wadim Abdraschitow zahlreiche wichtige und bleibende Beiträge zur Weltfilmkunst veröffentlicht werden konnten (die teilweise schon vorher entstanden, aber verboten waren), blieb ein
vergleichbarer Innovationsschub bei der DEFA aus. Anders auch als beim DDR-Fernsehen,
das sich in den „heißen“ Wochen der friedlichen Revolution von 1989/90 kurzzeitig überaus
großer Beliebtheit erfreute, wurde die DEFA dieser finalen Popularität beraubt. Das staatliche
ostdeutsche Filmschaffen kippte binnen weniger Wochen von innerer Agonie in äußere Irrelevanz um. Endlich von allen zensorischen Hemmnissen befreit, hätten theoretisch nun jene
Filme gedreht werden können, auf die ein potentielles Publikum lange, zu lange, gewartet
hatte. Einerseits gab es dieses Publikum nach dem Herbst 1989 aber nicht mehr, da sich
die DDR-Bevölkerung insgesamt in einen unvermittelten Transformationsprozess geworfen
sah. Andererseits war mit der Umwertung der konkreten Lebenswirklichkeiten auch deren
mediale Spiegelung obsolet geworden. Der sich anschließende Text will versuchen, auf einige
Phänomene bei der Umcodierung von Bildern aus und von der DDR in der unmittelbaren Zeit
nach dem politischen Umbruch von 1989 hinzuweisen.
2 NACHSPIEL DDR DDR REVISITED
1 Unter kulturpolitisches Verdikt
waren gefallen: DAS KANINCHEN BIN
ICH von Kurt Maetzig, DENK BLOSS
NICHT, ICH HEULE von Frank Vogel,
BERLIN UM DIE ECKE von Gerhard
Klein, KARLA von Herrmann
Zschoche, JAHRGANG 45 von Jürgen
Böttcher und WENN DU GROSS BIST,
LIEBER ADAM von Egon Günther.
Frank Beyers SPUR DER STEINE
wurde nach der Freigabe systematisch verleumdet, später aus dem
Spielplan genommen und verboten.
Foto links:
GOOD BYE, LENIN!
Daniel Brühl, D 2003
Quelle: X-Verleih
37
2 Gemeint sind jene Absolven­tinnen
und Absolventen der Filmhochschule in
Potsdam-Babelsberg, die Jahrgängen
zwischen etwa 1948 und 1958 entstammen und die als aktive Filmemacher
aus verschiedenen Gründen kaum zum
Zug kamen. Zu ihnen gehören Jörg Foth,
Karl-Heinz Lotz, Dietmar Hochmuth,
Evelyn Schmidt oder Jan Bereska. Vgl.:
Dietmar Hochmuth (Red.), DEFA NOVA
– Nach wie vor? Versuch einer Spuren­
sicherung, Freunde der Deutschen
Kinemathek e.V. Berlin 1983 (Schriftenreihe Kinemathek Heft 82)
3 Welcher Film nun wirklich der
letzte originäre, d. h. in der DDR gedrehte
und zur Premiere gebrachte DEFA-Film
war, bleibt ein wenig strittig. MOTIVSUCHE
von Dietmar Hochmuth und BIOLOGIE! von
Jörg Foth wurden zwar nach Peter Kahanes DIE ARCHITEKTEN uraufgeführt, fallen
aber bezüglich ihrer zeitgeschichtlichen
Relevanz weniger signifikant aus. Nach
dem Ende der DDR wurden in PotsdamBabelsberg unter dem DEFA-Label noch
bis 1992 Filme produziert. Vgl.: Ralf
Schenk (Red.), Das zweite Leben der
Filmstadt Babelsberg. DEFA-Spielfilme
1946 – 1992, Berlin 1994
Foto rechts:
DAS LAND HINTER DEM REGENBOGEN
D 1990/91
Buch und Regie: Herwig Kipping
Kamera: Roland Dressel
Produktion: DEFA, KAG „DaDaeR“
Quelle: Deutsche Kinemathek
38
Letzte Innenansichten
In der allerletzten Phase der ostdeutschen Eigenstaatlichkeit – in der Zeit nach dem Mauerfall am 9. November 1989 bis zum Beitritt am 3. Oktober 1990 – versuchten einige DDRFilmemacher der „verlorenen Generation“2, das am eigenen Leib erfahrene, kulturpolitische
Manko im Schnelldurchlauf auszugleichen. Ihre Filme gerieten jedoch in eine historische
Phasenverschiebung von globaler Bedeutung und verschwanden unabhängig von ihrer
Qualität in den Blindfeldern der Augenblickswahrnehmung. Signifikant für diese rezeptive
Schere ist das gern als „letzter DEFA-Film“3 bezeichnete Gesellschaftsresümee DIE ARCHITEKTEN von Peter Kahane (Premiere: 27. Mai 1990). Die Geschichte einer Gruppe ehrgeiziger
Architekten, die mit der Arbeit an einem Großprojekt alle Illusionen über die Veränderbarkeit
der Gesellschaft und über ihre eigene Funktion in diesem Gemeinwesen verlieren, muss
als Gleichnis auf den Zustand vieler DDR-Filmemacher gelesen werden. Der Regisseur und
sein Drehbuchautor Thomas Knauf hatten bereits seit Mitte der achtziger Jahre an dem Stoff
gearbeitet, waren aber bei der Studioleitung immer wieder hingehalten und/oder abgewiesen
worden. Im Augenblick der lang ersehnten Mittelfreistellung und erst recht nach Beginn der
Dreharbeiten sahen sie sich mit dem zunehmenden Einbruch der Realität in ihre Inszenierung konfrontiert. Das in die Schublade verbannte Manuskript löste sich, plötzlich der Zugluft
eines veränderten Außenklimas ausgesetzt, quasi unter den Händen seiner Urheber auf. Was
eben noch Brisanz versprach, mutierte zum konservatorischen Unterfangen. In dem Maße, in
dem die im Buch entworfenen Situationen von der Wirklichkeit überholt wurden, sah sich die
beabsichtigte Authentizität einer eigendynamischen Metamorphose hin zur Kulisse unterworfen. Um der für den Film vorgesehenen Glaubwürdigkeit visuell überhaupt noch nahe zu
kommen, mussten Teile der DDR schließlich im Studio nachgebaut oder Außenaufnahmen
mit aufwändigen Absperrungen und Umbauten vorgenommen werden. Aber DIE ARCHITEKTEN
ist als Film nicht nur an den sich rasant ändernden Umgebungsbedingungen und am Abhandenkommen des Publikums gescheitert. Befangen in den Zwängen einer allzu abgestandenen, schaumgebremsten DEFA-Tradition – mit ihren stets kunstgewerblichen Dekors, den
steifen Dialogen, der verkleisternden Musik und vor allem der behäbig-linearen Erzählweise
– dupliziert der Film höchstens das Scheitern seiner Helden. Als Membran für die sich ringsum vollziehenden Veränderungen versagte DIE ARCHITEKTEN: Dem Verschwinden der DDR
vermochte er keine adäquaten, d. h. bleibenden Bilder abzutrotzen, da er sich der überholten
ästhetischen Methoden genau dieses verschwindenden Systems bediente.
In diesem Dilemma bewegten sich auch andere ostdeutsche Produktionen. An Elan und
Stoffen mangelte es den Regisseuren des Übergangs zwar nicht, doch verfing sich ihre Verve
offenbar rasch in der Trägheit des ausführenden Apparats, auf den sie bei der Umsetzung
ihrer Ideen nun einmal angewiesen waren; in der mangelnden Flexibilität der technischen
Gewerke ebenso wie in jener der Verwaltungsetagen. Am radikalsten gebrochen mit der
ästhetischen Erblast des DEFA-„Stallgeruchs“ hat wohl noch Herwig Kipping, der 1992 mit
DAS LAND HINTER DEM REGENBOGEN ein wüstes, mit Signalen aus dem christlichen und
stalinistischen Bilderkanon jonglierendes Märchen über gesellschaftliche und individuelle
Utopien und deren unerbittliches Zerbrechen an der Staatsräson entworfen hat. Kippings
Bilder einer versunkenen DDR delirieren in ihrem Überschwang und ihrem fast infantilen
RECHERCHE FILM UND FERNSEHEN NR. 1/2007
ALLEMAGNE ANNÉE 90 NEUF ZÉRO
Dreharbeiten –
Jean-Luc Godard, F 1991
Buch und Regie: Jean-Luc Godard
Kamera: Stephan Benda, Andreas
Erben, Christophe Pollock
Produktion: Antenne 2, Brainstorm
Prod., Peripheria, Gaumont
Quelle: Deutsche Kinemathek
Eklektizismus am Rande des Größenwahns, halten sich aber keinen Moment lang an überkommenen Vorgaben auf, entwickeln gerade dadurch wirkliche Originalität. Sein fiktives Dorf
Stalina wird zum hybriden Schauplatz eines in den fünfziger Jahren angesiedelten Hexensabbats, der sich zum durchaus wirksamen Gleichnis für die regressiven Kontinuitäten von
40 Jahren DDR-Sozialismus ausformt. Die Grünen-Politikerin Antje Vollmer, 1992 Mitglied
der Vergabejury für den Bundesfilmpreis, bescheinigte dem Werk, eine „Teufelsaustreibung
mit den Mitteln der Kunst, mit wilden Bildern der Befreiung, des Hasses und einer Traurigkeit ohne jedes Maß“4 zu sein. Unter anderem ihr Plädoyer sorgte für die Prämierung
mit dem Filmband in Silber nebst 700.000 D-Mark, auf deren Grundlage Kipping schon ein
Jahr später das Nachfolgeprojekt NOVALIS – DIE BLAUE BLUME realisieren konnte. In seinem
Novalis-Film entwickelte Kipping die Methoden seines preisgekrönten Erstlings weiter,
ignorierte das Raum-Zeit-Kontinuum noch maßloser. Die unglückliche Biografie des Georg
Friedrich Philipp Freiherr von Hardenberg (1772 – 1801) alias Novalis diente ihm als Folie für
einen Rundumschlag gegen diverse historische Überväter von Bismarck über Hitler bis Stalin
und Ulbricht, an deren Machtanspruch noch jedes Aufbegehren scheitert und sich auf fatale
Weise gegen die Rebellierenden selbst richtet. Im Finale heben der Dichter und seine früh
verstorbene, wiedererstandene Geliebte auf einem Motorrad aus dem Berliner Olympiastadion in den Sternenhimmel ab, lassen ein bizarres Stelldichein deutscher Mythen und
Irrlichter hinter sich. Vieles an NOVALIS erscheint absurd oder trashig und einer streng
geschichtlichen Analyse hält der Film ganz sicher nicht stand – aber seine Bilderwelten sind
wiederum ausgesprochen originell. Seit 1993 hat Herwig Kipping keinen Film mehr realisieren können. Seine beiden, nach 1989 wie in einem Fieberrausch entstandenen Arbeiten
harren heute ihrer Wiederentdeckung als seltene Beispiele einer visuellen Eigenständigkeit
zwischen den Zeiten und Systemen und zwischen allen Stühlen sowieso.
Zwischenbemerkung
Die angesprochene Schwerfälligkeit von Spielfilmprojekten bei der Reaktion auf aktuelle
Zeitläufte ist diesen immanent und kann ihren Urhebern nicht angelastet werden. Wie der
Fall von DIE ARCHITEKTEN jedoch zeigt, kann im Umkehrschluss zeitgeistlicher Anpassungseifer aber auch – so er nicht in einem zeitlosen ästhetischen Gestus wurzelt – zu beschleunigter Alterung führen. Mediale Relevanz lässt sich nun einmal nicht erzwingen, sie bedarf
tragfähiger Konzepte, die über die Launen der Tagespolitik hinausreichen. Der DEFA-Dokumentarfilm hatte im Vergleich zur Spielfilmproduktion in der Endphase der DDR zumindest
partiell zu höherer Qualität gefunden und konnte deshalb in der Auflösungs- und Neuorientierungsphase auch zu souveräneren Ergebnissen finden. Zwischen 1989 und 1993 sind
zahlreiche wichtige Arbeiten von Dokumentaristen entstanden, in denen die Balance zwischen
zeitgeschichtlicher Authentizität und ästhetischer Nachhaltigkeit viel besser austariert werden konnte als in den Produktionen ihrer fiktional arbeitenden Kollegen. Diese Leistungen
können hier nur kurz gestreift werden. Es waren jene Filmemacherinnen und Filmemacher,
die sich einer von Jürgen Böttcher ab Mitte der sechziger Jahre entwickelten, für DDR-Verhältnisse damals neuartigen „Schule des Beobachtens“ verpflichtet fühlten und die damit
die Errungenschaften des „Cinéma Vérité“ weitgehend ideologiefrei in die DEFA-Filmsprache
40
RECHERCHE FILM UND FERNSEHEN NR. 1/2007
einbringen konnten. Neben Jürgen Böttcher selbst (DIE MAUER, 1990) als Nestor dieser
Bewegung (*1931) sowie dem von ihm inspirierten Volker Koepp (*1944) mit seinen Zyklen
über die Kleinstadt Wittstock und die Region Mark Brandenburg kamen während des großen
Paradigmenwechsels um 1989/90 einige relativ junge Regisseurinnen und Regisseure zum
Zug, die wichtige und bleibende Bildzeugnisse von der verschwindenden DDR lieferten. In gelungener Form-Inhalt-Synthese reagierten sie zeitgemäß auf die sich verändernden Rahmen­
bedingungen, griffen dabei gleichzeitig wertvolle DEFA-Traditionen auf und entwickelten
diese weiter. Erwähnt seien hier nur Namen und Titel wie die von Helke Misselwitz mit WER
FÜRCHTET SICH VORM SCHWARZEN MANN? (1989), Petra Tschörtner mit BERLIN – PRENZLAUER
BERG (1990), Gerd Kroske und Andreas Voigt mit LEIPZIG IM HERBST (1989), Thomas Heise mit
EISENZEIT (1991) oder Sibylle Schönemanns VERRIEGELTE ZEIT (1990).
4 Antje Vollmer, Endlich: ein neuer
deutscher Film, in: die tageszeitung
Berlin vom 03.07.1992, S. 15
5 Dietrich Leder, Allemagne année
90 neuf zéro, in: Blimp Nr. 21 (1992)
6 Danièle Heyman / Jean-Michel
Frodon, Die Einsamkeit der Geschichte, in: die tageszeitung
19. September 1991
Blicke von außen
Anfang 1991 begibt sich Jean-Luc Godard in den Osten Deutschlands, um hier eine einstündige Auftragsarbeit für den französischen Fernsehsender Antenne 2 zum Thema „Einsamkeit“ zu drehen. Obwohl er durch sein Vaterhaus stark von der deutschen Kultur – namentlich
von der Romantik und der Philosophie Hegels – geprägt wurde, hatte er sich nie zuvor für
mehr als ein paar Stunden östlich des Rheins aufgehalten. In der DDR war nicht ein einziger
Film aus dem umfangreichen Œuvre des wegweisenden Regisseurs in den offiziellen Verleih
aufgenommen worden. Nun führen ihn eigene Dreharbeiten doch noch in die Babelsberger
Filmstudios – um in den Kulissen von Herwig Kippings DAS LAND HINTER DEM REGENBOGEN
eine kurze Szene von ALLEMAGNE ANNÉE 90 NEUF ZÉRO, seinem 68. Film, aufzunehmen. Neben
Potsdam und Berlin dienen Weimar, Buchenwald, das Lausitzer Braunkohlengebiet und der
Hafen von Stralsund als Stationen auf der letzten Reise des Spions Lemmy Caution, dessen
Mission als „Schläfer“ mit dem Fall der Mauer ausgelaufen ist und der nun seinen Heimweg
in den Westen sucht. Nicht unbedingt der geografischen Logik entsprechend durchstreift
der Held aus Godards Klassiker ALPHAVILLE nun die Trümmer des Realsozialismus. Eddie
Constantine wirkt wie ein leibhaftiges Reptil des Kalten Krieges, das sich stumm durch die
sorgfältig kadrierten Tableaus bewegt. Godard geht es bei seinem Exkurs in die Nicht-mehrDDR als ein „Land großer Einsamkeit“5 primär um die Brechungen deutscher Nationalkultur
in den großen Katastrophen des 20. Jahrhunderts und um eine eigene Positionsbestimmung
dazu. Zitate von und Verweise auf Grimmelshausen, Benjamin, Marx, Hegel, Spengler, Mann,
Schiller, Goethe, Kafka, Luxemburg, Freud, Hitler, Lang, Murnau, Fassbinder und andere
verknüpfen sich zu einem dichten Netz aus kulturhistorischen Chiffren, das Godard über die
vorgefundene Wirklichkeit legt, um sich innerhalb ihrer Dynamik zu verorten. Die Spuren der
DDR sind ihm dabei auch Spuren, die weit bis vor 1949 zurückreichen. Wenn seine Reisebilder teilweise auch wie Illustrationen zu den vorher im Kopf oder Buch verfassten Thesen
erscheinen, gelingen ihm doch eine ganze Reihe von prägnanten Schlaglichtern. Diese hohe
dokumentarische Evidenz ist vor allem seinem sprichwörtlichen Improvisationstalent zu danken. Seine Bilder aus einem heruntergekommenen Friseursalon oder einer Hafenkneipe an
der Ostsee könnten auch aus einem Film Jürgen Böttchers stammen. Die DEFA selbst sieht
er äußerst kritisch, als eine verachtenswerte Gesellschaft, die „Schweinereien gemacht hat“6
2 NACHSPIEL DDR DDR REVISITED
41
MAX UND MORITZ RELOADED
Franziska Petri, D 2004/05
Regie: Thomas Frydetzki
Buch: Eckhard Theophil
Kamera: Dany Schelby, Jens Harant
Produktion: Next Film, Kinowelt
Quelle: Kinowelt
7 Ebenda
8 Der Filmtitel ist eine Anlehnung
an Tobe Hoopers Horror-Klassiker
THE TEXAS CHAINSAW MASSACRE
(1974), in Deutschland gekürzt als
BLUTGERICHT IN TEXAS in den Kinos
gelaufen.
42
und als Fortsetzung des Versuchs, die Wirklichkeit an staatsdoktrinäre Ideale anzu­gleichen.
Sein eigenes Verfahren ist dem diametral entgegengesetzt: „Ich habe eine Geschichte, die
anderen auch, die Geschichte ist zwischen uns. Das Kino dient dazu, um dazwischen zu
erzählen.“7 Das Visionäre an Godards Untersuchung des gerade wiedervereinigten Deutschlands besteht in der eindrucksvoll vermittelten Erkenntnis, dass mit dem Verschwinden des
politischen Ostens auch der Westen seine Funktion verlieren muss.
Mit dem Privileg des Draufblicks ausgestattete Regisseure wie Godard oder Marcel
Ophüls (NOVEMBERTAGE, 1990) konnten sich ohne Zweifel unbefangener zur sich auflösenden
DDR und ihrer verschwindenden Bilderwelt ins Verhältnis setzen als ostdeutsch sozialisierte
Regisseure. Die Perspektive von außen vernachlässigt infolge mangelnder Detailkenntnis
zwangsläufig manches, vermag jedoch auch Ansichten freizusetzen, die dem durch autobiografische Erfahrungen verstellten Binnenblick verwehrt bleiben. In den Kontext des
fremden Blicks fügt sich bedingt auch Christoph Schlingensiefs Wiedervereinigungs-Farce
DAS DEUTSCHE KETTENSÄGENMASSAKER8, Anfang 1990 in wenigen Tagen auf einem stillgelegten Industriegelände in der Nähe von Dortmund heruntergedreht. Mit spürbarer Lust an
parodistischer Überhöhung und politischer Unkorrektheit gelang ihm unter dem Motto „Sie
kamen als Freunde und wurden zu Wurst“ eine wirkungsvolle Demontage aller pathetischen
Gesten, mit denen das offizielle Deutschland die Beendigung der Nachkriegszeit zelebrierte.
Schlingensief und seine illustre Schar von Kombattanten (u. a. Alfred Edel, Volker Spengler,
Dietrich Kuhlbrodt, Irm Herrmann, Udo Kier) erzählen die Geschichte der von Leipzig in die
Bundesrepublik ziehenden Clara, die im Westen statt wohlwollender Brüder und Schwestern
nur degenerierte Kretins eines üppig ausgestatteten Sozialstaates vorfindet, die ihr an Leib
und Leben wollen. Die Bundesrepublik wird zum Moloch, der sich schamlos den Osten und
dessen Bewohner einverleibt, diese im wahrsten Sinne des Wortes „verwurstet“. Die DDR
erscheint hingegen in einem kurzen Prolog als Plattenbau-Gulag, dessen Bruchstücke
mühselig mit Losungen der Partei zusammengehalten werden. Das Erstaunliche an dieser
RECHERCHE FILM UND FERNSEHEN NR. 1/2007
MAX UND MORITZ RELOADED
DAS DEUTSCHE KETTENSÄGENMASSAKER
D 2004/05
Quelle: Kinowelt
Irm Hermann, D 1990
Regie, Buch, Kamera: Christoph Schlingensief
Produktion: DEM
Quelle: Deutsche Kinemathek
Perspektive ist, dass der Westen nicht nur nicht besser, sondern noch trister und verdorbener als der Osten daherkommt und Clara mit Abstand die positivste Figur des gesamten
Films verkörpert. Als fröhlicher Spielverderber des nationalen Fusionstaumels zog
Schlingensief genau die Reaktionen auf sich, die er beabsichtigt hatte: Gegen seinen Film
wurde Strafanzeige wegen Gewaltverherrlichung erstattet, die Betreiber des zur Premiere
vorgesehenen Kinos „Babylon“ in Berlin-Mitte zogen entsetzt ihre Zusage zur Aufführung
zurück. Presse und Öffentlichkeit waren polarisiert und das KETTENSÄGENMASSAKER avancierte zum Hit der kleinen, auf subversive Ware spezialisierten Programmkinos.
Nachtrag
Es brauchte 15 Jahre, bis ein Film mit ostdeutschem Entstehungshintergrund Schlingensiefs
Ball zurückspielte. Thomas Frydetzki realisierte 2005 mit MAX UND MORITZ RELOADED einen
rüden, Russ Meyer gewidmeten Regelverstoß, der die Konstellation Schlingensiefs von 1990
umkehrte. In seiner auf Cinemascope gedrehten, vagen Wilhelm-Busch-Adaption werden
zwei unverbesserliche Brüder aus Hamburg in ein thüringisches Resozialisierungslager
überstellt, das von einstigen NVA-Offizieren unterhalten wird. Der 1988 von Leipzig nach
Ludwigsburg übergesiedelte, frühere Underground-Filmer Frydetzki macht in stark überzeichneten, comic-ähnlichen Episoden einen grellen Bilderbogen über die Vielfalt ost-westdeutscher Kommunikationsdefizite auf, der inhaltlich und stilistisch nahezu jedes Tabu
bricht. Nach all den moralisierend-bedeutungsschweren Autorenfilmen und der Schwemme
von verklärenden Komödien zum Thema war MAX UND MORITZ RELOADED endlich ein ebenso
erfrischender wie respektloser Anti-Film mit einem ganz neuen, ostdeutsch akzentuierten
point of view. Allerdings wollte kein Mensch dafür an der Kinokasse eine Eintrittskarte kaufen.
2 NACHSPIEL DDR DDR REVISITED
43