Chemiestadt mit Tradition und Zukunft: Wesseling
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Chemiestadt mit Tradition und Zukunft: Wesseling
Georg Schwedt Chemiestadt mit Tradition und Zukunft: Wesseling am Rhein 2014 2 Inhalt Vorwort 1. Über den Beginn der Industrialisierung 2. 4 5 3. Von der Chemischen Fabrik Wesseling über Degussa zu Evonik Industries 17 Von der Union Kraftstoff (UK) zur Shell Rheinland Raffinerie 23 4. Von den Rheinischen Olefinwerken (ROW) zu LyondellBasell 31 Literaturnachweise 3 38 Vorwort Die Industriegeschichte der drei großen Chemieunternehmen in Wesseling am Rhein stellt ein Spiegelbild der globalen Industriegeschichte nicht nur in Deutschland dar. Die einmalige Lage zwischen Köln und Bonn am Rhein vermittelt schon durch die großräumigen Anlagen ein Bild chemischer Großtechnik, sowohl am Tage als ganz besonders in der Nacht. Von einer frühgeschichtlichen Besiedlung (durch Federmesser‐ Leute der Altsteinzeit), der Zeit der Römer, über die Erwähnung, dass das Kloster Montfaucon (in der Champagne) um 820 die Grundherrschaft der „Waslicia“ (Siedlung eines Wasilio) erhält, bis zum Pipelineverbund mit Rotterdam, Wilhelmshaven und dem Ruhrgebiet sowie Standorten der Firmen LyondellBasell, Evonik Industries und Shell Rheinland heute reicht die Geschichte der Stadt Wesseling am Rhein südlich von Köln. Ein beeindruckender Blick in die Industrielandschaft bietet sich dem Reisenden zwischen Köln und Bonn aus der Rheinuferbahn, der heutigen Stadtbahnlinie 16. Der folgende Text wurde zum Teil bereits 2010 in der Zeitschrift „Chemie für Labor und Biotechnik“ (CLB 61. Jg., Heft 07‐08) vom Autor, der zugleich Mitherausgeber dieser Zeitschrift ist, publiziert und aus Anlass der Informationsveranstaltung am 20. Mai 2014 zum Zwecke der Gründung des Vereins ChemNet Rheinland wesentlich ergänzt und überarbeitet. 4 1. Über den Beginn der Industrialisierung Der kleine Ort zwischen Köln und Bonn war um 1700 nur als Ge‐ spannwechselstelle für die Treidelschifffahrt auf dem Rhein bekannt. Eine erste Keimzelle im beginnenden Industriezeitalter war eine 1793/94 errichtete Gerberei. Das „Haus Ruttmann“ gehörte zu der 1794 von J. Werotte und H. Krings gegründeten Sohllederfabrik. Sie entwickelte sich zu einer der bedeutendsten Gerbereien zwischen Rhein und Mosel. Das unter Denkmalschutz stehende „Haus Ruttmann“, Teil der ehemaligen Schmitz‐ Dumont’schen Lederfabrik, gegründet als Sohllederfabrik von J. Werotte und H. Krings 1794 – in der Nähe der St. Germanuskirche (Foto: G. Schwedt) Die Spezialität der Sohllederfabrik war „eichenlohgares, in zweijähriger Grubengerbung erzeugtes schweres Sohlleder“. 5 Briefkopf der Lederfabrik (Sammlung W. Drösser) Nach W. Drösser wurde die Lohe von der Mosel, der Saar, dem Rhein und aus der Eifel bezogen, die Häute aus Südamerika. 1842 wurde bereits eine Dampfmaschine in Betrieb genommen. 1861 ging die Gerberei an Krings Neffen Hermann Schmitz, der sich Schmitz‐Dumont nach seiner Frau Sophie du Mont nannte. 1932 wurde die Firma geschlossen. Die Bleiweißfabrik in der Clarenburg 1843 entstand eine Bleiweißfabrik in der Clarenburg. Die Kölner Kaufleute Wilhelm Otto Waldthausen und Robert Hölterhoff hatten das Gebäude von dem auf Burg Stammeln ansässigen Heinrich Breuer erworben, der die sogenannte Clarenburg als Gutshof betrieb. Burg Stammeln ist ein ehemals als Wasserschloss angelegtes Hofgut (heute denkmalgeschützt) nordwestlich von Heppendorf, zur Stadt Elsdorf gehörend, etwa 30 km westlich von Köln zwischen Bergheim und Jülich (in der Mitte des Rheinischen Braunkohlenreviers). Wilhelm Otto Waldthausen ist im „Kölner‐Adreß‐Buch“ 1846 mit den Angaben „Farb‐ u. Materialwaarenhandel, Cremmser u. Bleiweißfabrik (Fabrik zu Clarenburg‐ 6 Wesseling), Fa. Waldthausen & Hölterhoff“ eingetragen. Waldthausen ist der Name einer aus Braunschweig in der Mitte des 17. Jahrhunderts eingewanderten, in Essen ansässigen Patrizier‐ und Industriellenfamilie, die weitverzweigt einen großen Einfluss auf die Entwicklung des Wirtschaftslebens im rheinisch‐westfälischen Industriegebiet ausübte. Briefkopf der Bleiweiß‐Fabrik (Sammlung W. Drösser) Das Bleiweiß (basisches Bleicarbonat: 2 PbCO3 x Pb(OH)2) wurde bereits nach dem neuen deutschen Kammerverfahren gewonnen: Danach wurden dünne Bleiplatten den Dämpfen von Essigsäure und Wasser und auch Kohlendioxid ausgesetzt, wodurch eine weiße Masse entstand. In der Allgemeinen Deutschen Gewerbe‐Ausstellung in Berlin 1844 erhielt die Fabrik die silberne Preismedaille für ihr „gutes Kremserweiß, zu 7 10 Taler die 100 Pfd.“, und für das „reine Bleiweiß zu 8 Taler die 100 Pfd.“ (nach J. Dietz 1962). Bei dem Kremserweiß handelt es sich um ein nach einem älteren Verfahren, 1756 von Michael Ritter von Herbert in Klagenfurt entwickelt, hergestelltem Bleiweiß (mit Hilfe von Gärungskohlensäure aus Weintreber anstelle des durch Verbrennung von Braunkohle gebildeten Kohlen‐ dioxids). Auf der 1. Weltausstellung in London 1851 wurde das „Claren‐ burger Weiß“ durch seine „besondere und deckkräftige Qualität“ gelobt. Die Bleiweißfabrik nannte sich nach dem Ausscheiden von Hölterhoff „Wilhelm Otto Waldthausen Wilhelm Sohn auf der Clarenburg bei Cöln. Kremser und Bleiweiß Fabrik“. 1853 und 1855 wurde je ein Dampfkessel in Betrieb genommen. Bereits 1860 stellte man die Produk‐ tion auf Teer und Öle um – die Fabrik hieß im Volksmund daher auch „Tarrefabrik“. Zwischen 1860 und 1893 wurden neue Kessel aufgestellt. Daneben betrieb die Firma eine Holzimprägnieranstalt, in der Eisenbahn‐ schwellen, Telegraphenstangen, Leitungsmasten u.a. mit Teer getränkt wurden. 1908 stellte die Teerfabrik Kohlenwasserstoffe, speziell Öle, Benzin und Naphtha her. Die Rohstoffe wurden aus Gasfabriken in Deutschland und auch in Frankreich bezogen. J. Dietz berichtet, dass die „schwarzen Kesselwagen in den Güterzügen der Rheinuferbahn (…) dem Werke“ entstammten. 1910 wurde durch ein Feuer ein Teil der Anlagen zerstört. Nach Errichtung eines Neubaus konnte die Produktion wieder aufgenommen werden. Nach dem Ersten Weltkrieg ging das Unternehmen an die Firma Höttger GmbH in Berlin‐Wilmersdorf über. Nach einem weiteren Brand im Jahr 1922 wurde der Betrieb in der Zeit der wirtschaftlichen Rezession nach und nach eingestellt. Im Band „Wesseling in alten Ansichten“ ist zu lesen, dass die „Villa Waldhausen [sic], oder auch Gut Clarenburg“ an der Bonner Straße, „im Zuge der 8 Erweiterung der ‚Union Kraftstoff‘ nach dem Zweiten Weltkrieg“ den „Erweiterungsplanungen weichen“ musste. Von der Firma H. & F. Zimmermann zur Chemischen Fabrik Wesseling 1880 gründeten die Brüder Heinrich Zimmermann (1846‐1899) und Franz Zimmermann (1852‐1909), Söhne des Wirts und Brannt‐ weinbrenners Heinrich Zimmermann, eine Chemische Fabrik (ab 1905 Chemische Fabrik Wesseling – s. Kap. 2). Sie gelten als Pioniere der chemischen Industrie in Wesseling und begründeten eines der größten Industriezentren im Rheinland. Zu ihren Verdiensten zählen auch zahl‐ reiche Maßnahmen zur Verbesserung der Lebensqualität ihrer Arbeiter. Heinrich und Franz Zimmermann (Fotos: Unternehmensarchiv Evonik) Heinrich Zimmermann besuchte ab 1860 die Königliche Provinzial‐ Gewerbeschule zu Köln und interessierte sich dort vor allem auch für die sich damals durch das Wirken von Justus Liebig (1803‐1873) rasch entwickelnde Chemie. 9 In seinem Abschlusszeugnis ist zu lesen: „In der Chemie und zwar im ganzen Gebiete der unorganischen Chemie hat er sich gründliche Kenntnisse erworben (…)“ und weiterhin: „Bei den praktischen Uebungen im chemischen Laboratorium und während seiner freien Zeit hat er sich mit der Zusammenstellung und dem Gebrauche der Apparate, sowie mit der Benutzung der chemischen Reagentien in hohem Grade vertraut gemacht.“ (Drösser 2008) Die 1833 gegründete Königliche Provinzial‐Gewerbeschule zu Cöln gehört zu den Vorgänger‐Einrichtungen der heutigen (1971 gegründeten) Fachhochschule Köln, in der die vorhandenen Ausbildungseinrichtungen miteinander verbunden wurden. Heinrich Zimmermann setzte seine Ausbildung in Köln anschließend für sechs Semester an der Königlichen Gewerbe‐Akademie in Berlin (1821 eröffnet) fort, aus der durch Zusammenschluss mit der Bauakademie Schinkels 1879 die Königliche Technische Hochschule (heute TU Berlin in Charlottenburg) entstand. Gründer der Gewerbeakademie war der in Kleve geborene Christian W. Beuth (1781‐1853) – als „Vater der Ingenieure“ bezeichnet. Heinrich Zimmermann schloss seine Ausbildung am 25. Juli 1866 in Berlin ab. In seinem Abgangszeugnis werden ihm für die „Arbeiten im anorganischen Laboratorium“ gute und im „Entwerfen von chemischen Anlagen“ sogar sehr gute Kenntnisse bescheinigt. Er bekam zunächst eine Anstellung als Chemiker und Komptorist in der Zuckerfabrik C. Pfeiffer & Co. in Köln‐Ossendorf. Sein weiterer Werdegang führte über Stationen als Ingenieur und Hüttendirektor 1873 zum Betriebsleiter des Alaunwerkes Freienwalde (Oder), welches zum Komplex der „Chemischen Fabrik Kunheim & Co.“ gehörte. Das Unternehmen wurde von dem Berliner Kaufmann Heinrich 10 Kunheim (1781‐1848) zur Herstellung chemischer Grundstoffe zusammen mit dem Bankier Behrend 1826 am Molkenmarkt 6 gegründet – mit wissenschaftlicher Unterstützung durch den Chemiker Sigmund Friedrich Hermbstädt (1760‐1833, seit 1809 Professor für Chemie und Technologie an der neugegründeten Universität Berlin). 1829 wurde in der Neuen Köpenicker Straße eine Produktionsstätte für Holzessig, Bleisalze, Glaubersalz, Salzsäure u.a. Chemikalien errichtet. Seit 1864 war Kunheims Sohn Dr. Hugo Kunheim (1838‐1897), der in Göttingen als Chemiker promoviert hatte, im Unternehmen tätig. 1877 übernahm Kunheim die technische Leitung. Heinrich Zimmermann wurde sein Betriebsleiter und beide erhielten „ein Patent auf das Verfahren zur industriellen Herstellung der Cyan‐Komplexverbindung Kaliumferrocyanid, Ausgangsstoff zur industriellen Herstellung des Mineralfarbstoffes Berliner Blau“. (nach: Chemiefreunde Erkner e.V./Chemie‐Geschichte – www.chemieforum‐ erkner.de). Das Verfahren beruhte auf der Gewinnung aus einem Abfall‐ produkt, das bei der Gewinnung von Leuchtgas für die Straßen‐ beleuchtung anfiel. Da die Transportkosten für das vor allem in den 11 Kokereien an der Ruhr entstehende Abfallprodukt zu hoch waren, entschloss sich Zimmermann, in der Nähe seiner Heimatstadt Köln, in Wesseling, eine Fabrik aufzubauen. Es wird berichtet, dass Zimmermanns Schwägerin Elise von Thenen auf ein Zeitungsinserat gestoßen war, in dem ein „für ein Fabriketablissement geeignetes Gelände in Wesseling am Rhein“ zum Verkauf angeboten wurde. Elise Zimmermann, geb. von Thenen (Unternehmensarchiv Evonik) Heinrich Zimmermanns Bruder Franz, der Kaufmann geworden war, hatte Elise von Thenen geheiratet, die eine beachtliche Mitgift in die Ehe einbrachte. Ihr Vater, Eberhard von Thenen, hatte durch Grundstücks‐ verkäufe in Köln ein erhebliches Vermögen erworben. Am 29. Mai 1880 stellten die Brüder Zimmermann ein Konzessionsgesuch zur Anlage einer Fabrik „behufs Anfertigung chemischer Präparate“ auf dem Gelände der früheren Heymann’schen Papierfabrik. In den Jahren 1876 bis 1880 hatte die Firma Heymann und Sohn in dem vorherigen Besitz des Bürgermeisters von Geyr Stroh‐ und Packpapier hergestellt. Am 1. Juni 1880 wird im Handelsregister des 12 Amtsgerichts Bonn die neue Fabrik in Wesseling unter der Bezeichnung „H. & F. Zimmermann“ eingetragen. Die Konzession wird am 3. Januar 1881 – nach zahlreichen Einwendungen von Anwohnern und aufgrund von Gutachten – unter Auflagen, u.a. eine Überdachung der gelagerten Gasreinigungsmassen, verfügt. Verkehrstechnisch mussten die Produkte über die Bahnstation Sechtem und von dort mit Pferdefuhrwerken oder über die Werft (in Godorf – noch ohne Kran) mit Kippkörben und dann einer Feldbahn in das Wesselinger Werk transportiert werden. 1883 wurde das am nördlichen Ortsausgang gelegene Grundstück am Sandberg erworben und ab 1893 befand sich der gesamte Betrieb auf diesem Gelände. Es gab im 19. Jahrhundert immer wieder Proteste von Bürgern – so u. a. in einem Brief an die Kölnische Zeitung vom 27. Mai 1882: „Sonderbarerweise hat die Polizeibehörde stillgeschwiegen dazu, dass diese Fabrik in der unmittelbaren Nähe des Rheines und dicht an der Köln‐ Mainzer Chaussee einen riesigen Berg Rückstände von der Gasreinigungs‐ masse anhäufte, der große Menge Schwefel enthält und dessen geradezu erstickender, stinkender Dunst besonders bei Regenluft die Passanten dieser sehr verkehrsreichen Chaussee stark belästigt.“ Nach 1893 expandierte die Fabrik, in deren Leitung Josef Zimmermann nach dem Tod seines Vaters Heinrich Zimmermann einstieg. Zwischen 1880 und 1900 erfolgte ein Ausbau der Fabrikanlagen um Laboratorien, ein Lager (Turmbau), Verwaltungsgebäude (Comptoir‐ Gebäude) sowie Kamin‐ und Kesselgebäude. 1901 wurde eine Schwefelsäurefabrik genehmigt und errichtet. Sie produzierte die Schwefelsäure aus dem Abfall der Farbenproduktion nach dem Bleikammerverfahren. 13 J. Dietz berichtet, dass die Firma bereits 1900 den Bau einer Schwefelsäurefabrik geplant habe, „um die großen Schwefelhalden zu verwerten“. Der Bezirksausschuss in Köln habe aber auf den Einspruch der Gemeinde hin die Genehmigung zunächst versagt. Der Handelsminister jedoch gestattete den Bau einer Fabrik, die 1901‐1902 auf einem 35 Morgen großen Gelände zwischen Landstraße und Rhein entstand. Weiterhin ist bei J. Dietz zu lesen, dass ein „Berg noch schwefelhaltiger Gasreinigungsmasse, fast 100 000 t, der hier jahrelang lagerte, (…) erst im Laufe des 1. Weltkrieges abgebaut“ worden sei. 1900 wurde der Bau einer Schwefel‐ und Salpeterfabrik beantragt – mit wiederum zahlreichen Einsprüchen. Trotzdem wurde am 12. Juni 1901 die Genehmigung durch den Königlichen Minister für Handel und Gewerbe erteilt. W. Drösser berichtet ausführlich über die Probleme, die sich nicht nur durch Emissionen sondern auch durch Konkurrenten für das Unternehmen der Gebrüder Zimmermann ergaben. Auch wenn am Sandberg rationeller und günstiger produziert werden konnte, u.a. durch den Einbau einer Seilbahn und den Einsatz einer Dampfmaschine: „Inzwischen war sowohl der Markt für das Ausgangsprodukt Gasmasse als auch für das Absatzprodukt Kaliumferrocyanid heftig umkämpft.“ Eine entscheidende Veränderung trat 1905 ein. Durch Vermittlung der Degussa (1873 als Deutsche Gold‐ und Silber‐Scheideanstalt vormals Roessler in Frankfurt am Main gegründet) vereinigten sich die bisherigen größten Konkurrenten, die Firmen H. & F. Zimmermann sowie L. Vossen & Co. in Neuß (mit je 37 %) unter Beteiligung der Degussa (mit 12 %) zur Chemischen Fabrik Wesseling AG (CFW). 1909 arbeiteten 100 Menschen in der Fabrik (Fortsetzung s. in Kap. 2). Das Unternehmen bildete damit die Keimzelle der heutigen Evonik Industries im Norden der Stadt. Im Gelände der ursprünglichen Fabrik von 14 1880 befindet sich heute das Rheinforum als Ort unterschiedlicher Veranstaltungen der Stadt. An einem Gebäude der ehemaligen Fabrik befindet sich eine Gedenktafel mit folgendem Text: „1793/1794 erbaut war das Haus von 1821‐1849 Amtssitz des Bürgermeisters von Hersel. 1880 erwarben es die Brüder Zimmermann, die Begründer der Chemischen Fabrik Wesseling. Seit 1919 diente es der ‚Rheinbraun‘ als Bürogebäude. Heute ist es im Besitz der Stadt Wesseling.“ Ehem. Gebäude der Rheinbraun / heute Areal Rheinforum (Foto: G. Schwedt) Bei der Rheinbraun handelt es sich um die Reederei Braunkohle GmbH. Am 1. Januar 1919 wurde die „Vereinigungsgesellschaft Rheinischer Braunkohlenbergwerke mbH, Abteilung Schiffahrt“ mit dem Sitz in Wesseling gegründet – ab 1. April 1920 unter dem Namen „Rheinisches Braunkohlen‐Syndikat GmbH“: „Als Sitz des Unternehmens in Wesseling erwarb man von der katholischen Kirchengemeinde das Gelände der ehemaligen Zimmermannschen Fabrik (heute „Rheinhotel“, „Rheinforum“ usw.)…“ (W. Drösser 2008) 15 Am 1. April 1901 war die Eisenbahnstrecke Vochem‐Brühl‐ Wesseling für den Verkehr eröffnet worden. Dadurch war zunächst einmal die Verbindung mit dem Braunkohlenrevier hergestellt worden. Im selben Jahr nahm auch die Werft zwischen Godorf und Wesseling den Betrieb auf. Mit dem Bau der auch für die Chemische Fabrik Wesseling wichtigen Rheinuferbahn, welche die Städte Köln und Bonn über Wesseling verbindet, wurde 1904 begonnen. Josef Dietz schrieb 1962 in „Wesseling. Ein Heimatbuch“ dazu, dass jahrzehntelang die hiesige Industrie unter dem Mangel einer Bahnverbindung gelitten habe. Sie sei fast nur auf den Wasserweg angewiesen gewesen, der aber im Herbst und Winter unsicher oder sogar unmöglich gewesen sei. Alle Konsum‐ und Produktionsartikel hätten mit großen Unkosten per Achse nach und von Sechtem oder Brühl gebracht werden müssen und so wäre der Wettbewerb mit anderen Werken erschwert gewesen. Der Ruf nach einer Bahnverbindung sei jahr‐ zehntelang ohne Erfolg geblieben. 1905/1906 wurde die Rheinuferbahn dann für den Güter‐ und Personenverkehr freigegeben. 16 2. Von der Chemischen Fabrik Wesseling über Degussa zu Evonik Industries heute (Quelle: Stadtarchiv Wesseling) Nachdem 1905 aus dem Unternehmen F. & H. Zimmermann die Chemische Fabrik Wesseling entstanden war, nahm die Nachfrage nach dem „Gelbkali“ (gelbes Blutlaugensalz oder Kaliumferrocyan) vor allem im Ersten Weltkrieg ab, da die Geschäftsbeziehungen zu den Hauptab‐ nehmern in England und in den USA unterbrochen waren. Chemische Fabrik H. & F. Zimmermann (1903) (Foto: Unternehmensarchiv Evonik) 17 Nach dem Ersten Weltkrieg verlagerten sich die Schwerpunkte der Produktion auf Schwefelsäure und auch auf Eisenoxidpigmente sowie auf die Produktion von Schwefel. Zur Zeit des Nationalsozialismus übernahm 1940 Degussa 51 % des Aktienkapitals. 1943 wurde eine Extraktionsanlage zur Gewinnung von Schwefel in Betrieb genommen, in der man (wie auch in der UK – s. in Ursula Froitzheim 2004) kriegsbedingt fehlende Arbeitskräfte durch Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter ersetzte. Bereits im Zweiten Weltkrieg wurde die Produktion von Verstärkerfüllstoffen für die Gummiindustrie aufgenommen – so im September 1943 das Produkt Silteg AS 5, einem speziellen Aluminiumsilicat. Nach dem Krieg konnte die Produktion in den weitgehend unzerstört gebliebenen Gebäuden ab 1947 mit teils neuen Produkten (Schädlingsbekämpfungsmitteln – Basis: Gasreinigungsmasse, Schwefel und Cyanid) fortgeführt werden. 1959 wurde das Nachfolge‐Unternehmen der Brüder Zimmermann CFW zu 100 % von der Degussa übernommen und so zur Zweigniederlassung Wesseling. Zu Beginn der 1950er Jahre errichtete die Degussa unmittelbar neben der CFW eine Blausäureanlage, die 1953 in Betrieb genommen wurde. Die Blausäure wurde aus den teilweise von der Union Rheinische Braunkohlen Kraftstoff AG (UK) gelieferten Produkten Methan und Ammoniak gewonnen. 18 BMA‐Anlage (Foto: Unternehmensarchiv Evonik) 1957 ging die BMA‐Anlage (Blausäure aus Methan und Ammoniak) in Betrieb. Blausäure wurde für das Vorprodukt Cyanurchlorid (2,4,6‐ Trichlor‐1,3,5‐triazin – farbloses cyclisches Trimeres des Chlorcyans Cl‐CN) zur Synthese von optischen Aufhellern sowie von Unkrautvernichtungs‐ mitteln benötigt. 1980 wurden beide Werke – die CFW und das Degussa Blausäurewerk – organisatorisch zusammengefasst. „Das Evonik‐ Geschichtsportal“ (März 2014) schreibt dazu: „Die in Wesseling produzierte Blausäure ist Ausgangsstoff für eine Vielzahl von Evonik‐ Produkten, die in der kunststoffverarbeitenden und pharmazeutischen Industrie ebenso unverzichtbar sind, wie in der Metallveredelung, in der Farbherstellung und bei der Produktion von Pflanzenschutzmitteln.“ Anlagen für weitere Produkte wie Methylmethacrylat (MMA) wurden errichtet. Im Rahmen von Produktionserweiterungen kam es auch zur Herstellung von Methionin – beispielsweise als Zusatz für Tierfutter. 1978 entstand eine Produktionsanlage zur Herstellung von Zeolithen als Phosphatersatzstoffe in Waschmitteln – bis 2001 in Betrieb. Die Herstellung von „Blaufarben“ endete 2002. 19 Bereits durch die Übernahme der Degussa und der STEAG (1937 als Steinkohlen‐Elektrizitäts AG in Lünen gegründet – seit 2003 vollständig zum RAG‐Konzern) war ein weltweit diversifizierter Montan‐, Energie‐ und Chemiekonzern entstanden. Seit dem 12. September 2007 führt das Unternehmen einen neuen Namen, der infolge der Umstrukturierung des Mutterkonzerns RAG (Ruhrkohle AG, 1916 als Konsolidierungsunternehmen der deutschen Steinkohleförderung gegründet), zu der die Degussa gehörte, Evonik‐ Degussa lautet – als Tochter der Evonik Industries, wobei Evonik im Unterschied zu den historischen Namen ein reines Kunstwort ist. Die Geschäftsfelder Chemie, Energie und Immobilien der RAG wurden 2006 ausgegliedert. Da der Name RAG zu sehr mit Bergbau und Kohle verbunden war (und im Englischen rag auch Lumpen bedeutet!), erfolgte die genannte Umbenennung. Als wichtigste Verkaufsprodukte heute sind u.a. PMMA (Polymethacrylat)‐Lackperlen (z. B. für Straßenmar‐ kierungsfarben, Containerlacke – Methylmethacrylat‐Herstellung in Wesseling seit 1964), Methionin (als Aminosäure in der Tierernährung), Ultrasil (Silica‐Produkte als Verstärker für Kautschuk, z. B. für Autoreifen), Sident (Silica für Zahnpasta) zu nennen. 1997 wurden die Aktivitäten der Methacrylatchemie auf eine neue hundertprozentige Tochtergesellschaft, die Agomer GmbH, mit Sitz in Hanau‐Wolfgang übertragen. Als Herzstück der Produktion und Forschung in Wesseling wird heute (2014) die Produktgruppe der Silica und Silikate bezeichnet. Der Rohstoff ist Wasserglas, aus einer Schmelze erstarrte, glasartige, amorphe und wasserlösliche Alkalisilicate – je nach Alkalien als Natron‐, Kali‐ oder seltener Lithiumwasserglas bezeichnet. Wasserglas wurde erstmals 1818 von dem Chemiker und Mineralogen Johann Nepomuk von Fuchs hergestellt (1774‐1856; 1807 20 Professor an der Universität Landshut, ab 1826 in München), der sich vorwiegend mit dem Grenzgebiet zwischen Mineralogie und Chemie beschäftigte. Fuchs gab dem neuen chemischen Produkt auch den Namen Wasserglas. Zur Herstellung werden Gemenge aus Quarzsand und Natrium‐ oder Kaiumcarbonat unter Entwicklung von Kohlendioxid bei Temperaturen von etwa 1100 bis 1200 °C geschmolzen (Na2CO3 + n SiO2 Na2O SiO2 + CO2 ‐ mit n zwischen 1 bis 4). Das abgekühlte Glas wird dann zu einem Pulver verarbeitet. Durch Lösen in Wasser kann es (bei hohen Temperaturen und unter Druck) entweder zu flüssigem Wasserglas als klare alkalische Lösung oder auch als gallertartige bis feste Masse (Gel) gewonnen werden. Evonik bezeichnet Silikate und Silica (Siliciumdioxid) als chemische Universalstoffe, „die in den unterschiedlichsten Bereichen des täglichen Lebens von Nutzen sind. Sie dienen als Verstärkerfüllstoffe für Kautschukprodukte, beispielsweise bei Autoreifen, um die Haltbarkeit zu erhöhen und den Energieverbrauch zu senken, als Klär‐ und Absorptionsmittel, zum Beispiel bei der Bierherstellung und als Füllstoffe für Druckfarben, Zahnpasten und Klebstoffe. Silica verbessern darüber hinaus das Fließverhalten von Pulvern, beispielsweise von Löschpulvern oder Gewürzen.“ Nach eigenen Angaben betreibt Evonik in Wesseling die weltweit größte Produktion dieser Chemikalien und hier befindet sich zugleich das sogenannte „Silica‐Kompetenzzentrum für Forschung und Entwicklung“. 21 2014 wird die Zahl der Mitarbeiter in Wesseling mit rund 1200 auf einem Areal von 330.000 Quadratmetern (50 Fußballfelder) – in 17 Fertigungsanlagen mit einer Produktion von jährlich 500 Tausend Tonnen angegeben. EVONIK Industries an der Josef‐Zimmermann‐Straße in Wesseling EVONIK Industries in Wesseling 2014 (Fotos: G. Schwedt) 22 3. Von der Union Kraftstoff (UK) zur Shell Rheinland Raffinerie 1937 entstand in Wesseling die Union Rheinische Braunkohlen Kraftstoff AG (UK). Aus heimischer Braunkohle sollten im Rahmen der Autarkiebestrebungen des nationalsozialistischen Deutschen Reiches synthetische Treibstoffe produziert werden. Die für das Bergius‐Pier‐ Verfahren eingesetzte Braunkohle wurde im nahe gelegenen Rheinischen Braunkohlenrevier abgebaut – im Tagebau Berrenrath und in der Grube Vereinigte Ville. Dort wurde die Braunkohle getrocknet und aufbereitet und mit der Querbahn bzw. der „Schwarzen Bahn“ von Berrenrath nach Wesseling transportiert. Für das produzierte Benzin wurde der Rhein als Transportweg für die Tankschiffe und auch die Bahn genutzt. Lageplan von Berrenrath, heute Ortsteil von Hürth, nach 1800 (Kloster Burbach) 23 Rekultivierungsgebiet Berrenrath heute (www.forschungsstellerekultivierung.de) Das Bergius‐Pier‐Verfahren ist nach den beiden physikalischen Chemikern Friedrich BERGIUS (1884‐1949; Chemie‐Nobelpreis 1931) und Matthias PIER (1882‐1965; Chemiker in der BASF) benannt. F. Bergius M. Pier Die Kohlehydrierung zu Benzin (auch als „Kohleverflüssigung“ bezeichnet – heute auf Erdöl umgestellt) beruht auf Forschungen von Bergius zur katalytischen Hochdruckhydrierung. In dem von Pier entwickelten speziellen Verfahren wird Braunkohle mit Schwerölen zu einem Brei (mit 50‐60 % Feststoffanteil) angeteigt. 24 Als Katalysatoren werden Wolfram‐ und Molybdänsulfide verwendet. In großen Reaktionsöfen wird das Gemisch bei Drücken von 200 bis 700 bar und 480 °C mit eingepresstem Wasserstoff zur Reaktion gebracht. So ließen sich aus einer Tonne Kohle und 100 Kubikmeter Wasserstoffgas etwa 600 kg Benzin gewinnen. Zur Herstellung des Wasserstoffs aus Wassergas (Gemisch aus Kohlenstoffmonoxid und Wasserstoff nach: C + H2O CO + H2) benötigte man zusätzlich Kohle, so dass aus insgesamt 4 Tonnen Kohle 1 Tonne Benzin produziert wurde. Schematische Darstellung des Bergius‐Pier‐Verfahrens zur Kohleverflüssigung Union Kraftstoff (UK) im Bau 8.9.1939 Foto UK, Slg. StA Wesseling 25 1941 wurde mit der Produktion von Benzin in Wesseling‐Süd begonnen. 1942 wurden 250 000 Tonnen produziert. Im Juli und Oktober 1944 wurden die Anlagen mehrmals bombardiert und ab Ende Oktober des Jahres 1944 war das Werk stillgelegt. Logo der UK – Slg. StA Wesseling Union Kraftstoff AG 1943 –Foto UK, Slg. StA Wesseling Nach dem Zweiten Weltkrieg verbot der Alliierte Kontrollrat die Produktion von Treibstoffen. Daher nutzte die Union Kraftstoff AG (UK) die Hydrieranlage zur Herstellung von Ammoniak nach dem Haber‐Bosch‐ Verfahren für die Düngemittelindustrie. 26 Ab 1949 konnten wieder Treibstoffe produziert werden, wofür als Basis nun jedoch Erdöl eingesetzt wurde. Zusätzlich wurde nach einem im Unternehmen entwickelten Verfahren, dem Peukert‐Hilberath‐Verfahren, Methanol produziert, durch welches sich die UK in den 1960er Jahren eine führende Stellung auf dem Weltmarkt sicherte. Die Rohölkapazität stieg von 250 000 auf jährlich mehrere Millionen Tonnen. Ab 1985 wurden auch Düsentreibstoffe und ab 1986 Schmierstoffe produziert. 1989 wurden Teile der UK (Verarbeitung und Vertrieb) in die DEA Mineralöl AG eingebracht. Die Deutsche Erdöl‐AG (DEA) ist eine Tochtergesellschaft des 1908 in den USA gegründeten Mineralölkonzerns Texaco, der 1989 37 000 Beschäftigte hatte. Sie nannte sich zunächst Deutsche Texaco AG (Sitz in Hamburg). Luftbild Werk UK Wesseling 13.06.1992 ‐ Foto UK, Slg. StA Wesseling 27 Die Muttergesellschaft Texaco wurde 1901 in Beaumont (Texas) als Texas Fuel Company gegründet und fusionierte im Jahre 2001 mit der Chevron Corp. (bereits 1875 entstanden) zur Chevron/Texaco. Die Chevron Corp. ist einer der weltweit größten Ölkonzerne (Hauptsitz San Ramon/Kalifornien), der in 180 Ländern der Welt aktiv ist. Die ver‐ bliebenen Aktivitäten der UK wurden in der RWE‐DEA AG zusammen‐ geführt. Der Schwerpunkt des UK‐Werkes Wesseling lag in der Herstellung hochwertiger Mineralölprodukte und petrochemischer Grundstoffe. Die RWE war 1898 als Rheinisch Westfälische Elektrizitätswerk AG durch die bereits vorhandenen Firmen Elektrizität‐AG vormals Lahmeyer & Co und die Deutsche Gesellschaft für elektrische Unternehmungen entstanden, um zunächst die Stadt Essen mit Elektrizität zu versorgen. 1902 ging die Mehrheit an der RWE an August Thyssen und Hugo Stinnes (mittels eines Konsortiums unter Beteiligung der Deutschen Bank, der Dresdner Bank und der Disconto‐Gesellschaft) über. Auf dem Gelände der Stinnes‐Zechen entstand auch das erste Elektrizitätswerk. Danach expandierte die Gesellschaft rasch und entwickelte sich als heutige RWE AG zu einem Holdingunternehmen mit den Konzern‐ bereichen Energie, Bergbau und Rohstoffe sowie Mineralöl und Chemie. In der wechselvollen Firmengeschichte erfolgte schließlich im Jahr 2002 eine Fusion mit der Shell‐Raffinerie in Köln‐Godorf zu Shell und DEA Oil GmbH Rheinland Raffinerie Werk Wesseling, 2004 als Shell Deutschland Oil GmbH Rheinland Raffinerie Werk Wesseling. Und somit ist die Raffinerie der ehemaligen deutschen Mineralölgesellschaft RWE DEA in Wesseling als Werk Süd Teil der Rheinland Raffinerie. Es produziert neben Mineralölprodukten vor allem Aromaten, Olefine und Methanol als Grundprodukte für die petrochemische Industrie. 28 Der Markenname Shell bedeutet im Englischen Muschel (auch Logo des Unternehmens). Als Kuriositätengeschäft wurde die Firma 1833 im Londoner Eastland durch den jüdisch‐orthodoxen Händler Marcus Samuel (1799‐1872), aus einer Familie, die 1750 aus Holland und Bayern eingewandert war, gegründet. Marcus Samuel verkaufte u.a. Muscheln, u.a. kleine Nippes‐Schachteln mit aufgeklebten Muscheln, welche als „Geschenk aus Brighton“ an junge Besucherinnen des Badeortes verkauft wurden. Er entwickelte sich zu einem Exporteur, baute ein weltweites Handelsnetz auf und sein ältester Sohn Marcus Samuel, 1. Viscount Bearsted, weitete das Geschäft auf Ölprodukte aus. Marcus Samuel jun., 1. Viscount Bearsted (1853‐1927) Er wandte sich zusammen mit einem Bruder auch dem Transport von Kerosin zu Beleuchtungszwecken zu. Ab 1890 baute das Unternehmen unter dem Namen The Shell Transport and Trading Company Öltank‐ schiffe, ab 1897 durch die Förderung und Raffinierung von Öl erweitert. Die Kammmuschel wurde so zum Logo des Unternehmens. 1907 schloss sich der Niederländer Henri Deterding (1866‐1939) mit seiner Petroleum‐Firma (60 % Anteile) mit M. Samuels Firma zusammen. Das niederländische Unternehmen nannte sich nun Royal 29 Dutch Petroleum Company – 2005 wurden beide Firmen als Royal Dutch Shell mit Firmensitz in Den Haag vereinigt. Die Shell Rheinland Raffinerie – mit dem Werk Nord in Köln‐Godorf und dem Werk Süd in Wesseling – verfügt über eine Rohölverarbeitungs‐ Kapazität von mehr als 16 Millionen Tonnen. Daraus werden Kraftstoffe wie Ottokraftstoffe, Flugturbinen‐ und Dieselkraftstoff, leichtes Heizöl, Propan als Autogas und Butan als Treibgas sowie auch Bitumen für den Straßenbau gewonnen. Die genannten Produkte werden zu 38 Prozent über Schiffe, 28 Prozent über Tanklastwagen und 22 Prozent über eine Pipeline befördert. 11 Prozent der speziellen Produkte gelangen über eine Rohrleitung direkt zu LyondellBasell – und nur etwa ein Prozent verlässt das Werk per Schiene. Die Shell AG bezeichnet beide Standorte als Veredlungsstandorte, „von dem täglich auf verschiedenen Wegen fast 85.000 Tonnen Rohöl in den Wirtschaftskreislauf zurückgegeben werden.“ (Webseite der „Shell Rheinland Raffinerie – Über uns“ 2014) Blick von der B 9 auf die Anlage der Shell Rheinland Raffinerie Tor 9 30 bzw. auf das Betriebsgelände mit Tank‐ wagen – März 2014 (Fotos: G. Schwedt) 4. Von den Rheinischen Olefinwerken zu LyondellBasell Am 27. August 1953 gründeten die BASF und Shell gemeinsam die Rheinischen Olefinwerke – ROW. Sie verarbeiteten das Endprodukt Naptha (Leichtbenzin), das heute aus unterirdischen Rohrleitungen von den benachbarten Raffinerien bezogen wird, in Crackern (bei Temperaturen von ca. 850 °C) zu Ethylen und Propylen. Diese Monomere werden anschließend polymerisiert. Die aus Polyethylen hergestellten Produkte vertrieben die beiden Firmen jeweils mit eigenen Markennamen. In der Mitte der 1990er Jahre erfolgte eine weltweite Neuordnung des Kunststoffgeschäftes. 1997 entstand als Joint Venture von BASF und Shell die Elenac GmbH (Sitz in Kehl und Straßburg) zur Produktion und zum Vertrieb von Polyethylen (PE). Die PE‐Pilotanlagen und auch die PE‐Forschung der BASF in Ludwigshafen sowie die Rheinischen Olefinwerke in Wesseling wurden in der Elenac GmbH zusammengeführt. Als Targor GmbH mit Sitz in Mainz bildet sich als ebenfalls Joint Venture von BASF und Hostalen PP (Hoechst) ein Unternehmen zur Produktion und zum Vertrieb von Polypropylen. Beide Unternehmen führten in der Targor GmbH Produktions‐ und Forschungsaktivitäten zusammen (darunter auch den Chemiepark Knapsack der ehem. Hoechst AG). 1998 übernahm die Elenac GmbH die Hostalen GmbH (Tochter‐ gesellschaft der ehem. Hoechst AG) und damit Produktionsstandorte u. a. in Frankfurt am Main und in Münchsmünster. Am 1. Oktober 2000 wurden die Elenac GmbH, die Targor GmbH und Montell (PP‐Aktivitäten der Shell AG) unter dem Namen Basell als Joint Venture von BASF und Shell vereinigt. Durch die Fusion entstanden zahlreichen Überschneidungen in den Tätigkeitsfeldern. 31 Im Jahre 2005 führten dann Verhandlungen von BASF und Shell Chemicals zum Verkauf von Basell an Nell Acquisition, einer Tochtergesellschaft des Unternehmens Access Industries, New York. Als Verkaufspreis wurden 4,4 Milliarden Euro genannt. Im Juli 2007 kündigte Basell bereits die Übernahme des US‐ Wettbewerbers Lyondell Chemical für 19 Milliarden US‐Dollar an, eines Unternehmens, das zuvor durch Fusion der ehemaligen Firmen Millenium Chemical und Equistar entstanden war. Ende November 2007 erfolgte die Fusion und es entstand dadurch die LyondellBasell Industries. Nach der BASF und der DOW Chemical Company ist dieses Unternehmen nun der drittgrößte unabhängige Chemiekonzern weltweit. Auf der Webseite von LyondellBasell (März 2014) sind weitere Details aus der sehr komplexen Firmengeschichte zu erfahren: 1985 wurde Lyondell Chemical Company von ausgewählten chemischen und Raffinerieanlagen von der Atlantic Richfield Company (ARCO) gebildet. Die ARCO ist ein amerikanischer Ölkonzern, 1866 durch Charles Lockhart in Phildalephia gegründet, 1874 von John D. Rockefeller aufgekauft (gehörte zu dem 1911 zerschlagenen Standard Oil Trust). Der Name ARCO entstand 1966. 1977 fusionierte ARCO mit der Anaconda Aluminiums Corporation. 1989 wurde Lyondell von der ARCO zu einem Unternehmen entwickelt, das an der New York Stock Exchange (NYSE – größte Wertpapierbörse der Welt, unter dem Namen Wall Street bekannt) gelistet ist. 1998 erwirbt Lyondell Chemical Company ARCO. 2000 ist Basell durch die Fusion von Montell, Targor und Elenac gebildet worden – als ein 50/50 Joint Venture zwischen BASF und Shell. 32 2005 – Unternehmensarchiv LyondellBasell 2007 verschmelzen dann Lyondell und Basell zu LyondellBasell mit Standort Wesseling/Knapsack. LyondellBasell Industries N. V. ist eine nach den Gesetzen der Niederlande gegründete Aktiengesellschaft mit den Hauptverwaltungssitzen in Rotterdam und Houston, Texas. In Wesseling werden Kunststoff‐Granulate und ‐Pulver zur Anwendung in Trinkwasserrohren, Formteilen für Spritzgussverfahren, Haushaltsgegen‐ ständen wie Schüsseln und Eimern, für Folien, Autoteile und für Produkte in der Medizin produziert. Die folgenden Texte über die Produktion stammen aus dem Buch des Autors „Experimente um die Kunststoffe des Alltags“ (2013) bzw. von der Webseite des Unternehmens für Wesseling: „Basis ist ein Rohstoff, den wir alle kennen: das Erdöl. In Raffinerien entsteht neben Benzin, Diesel und Schweröl auch Naphtha, ein Haupteinsatzstoff, der zur Kunststoffherstellung erforderlich ist. Naphtha 33 ist ein Gemisch aus unterschiedlichen Kohlenwasserstoff‐Ketten. Von der benachbarten Shell‐Raffinerie, über Pipeline und zum Teil auch per Rheinschiff, wird der notwendige Einsatzstoff zum Basell‐Standort Wesseling/Knappsack geliefert. Hier beginnt nun die erste Stufe, um aus einem Rohölprodukt Kunststoffe zu erzeugen. Das Naphtha wird bei bis zu 850 Grad Celsius thermisch aufgebrochen, um die einzelnen ‚Bausteine‘ nutzen zu können. Im Fachjargon heißt dieser Vorgang ‚Cracken‘ (engl. crack = aufbrechen). In zwei großen Anlagen – der OM4 und der OM6 – den so genannten ‚Crackern‘ – werden die großen Molekülketten in kleinere gasförmige Moleküle getrennt. Dabei entstehen als Hauptprodukte Ethylen‐ und Propylenmoleküle, die so genannten Monomere. Da ohne ‚Cracken‘ an eine Kunststoffherstellung überhaupt nicht gedacht werden kann, werden die ‚Cracker‘ auch als das ‚Herz‘ des Standortes bezeichnet. Die Monomere werden in einem weiteren Verfahren zu langen Molekülketten unterschiedlicher Struktur, den so genannten Polymeren (Polypropylen und Polyethylen) wieder zusammengesetzt. Diesen Vorgang nennt man Polymerisation. Die verschiedenen Polymerisationsverfahren entscheiden mit über das jeweilige Kunststoffprodukt. So verzweigen sich die Monomer‐Molekül‐Ketten unter hohem Druck anders als bei niedrigem Druck. Dies hat Auswirkungen auf die Elastizität oder Festigkeit des produzierten Kunststoffs. Am Standort werden mehrere Verfahren zur Weiterverarbeitung von Propylen und Ethylen eingesetzt. Ziel bei der Polymerisation ist immer, die Struktur der Polypropylen‐Molekülketten oder der Polyethylen‐Molekülketten so zu verändern, dass die gewünschten Produkteigenschaften erzielt werden.“ 34 GPWS – Gasphasen‐Wirbelschicht‐Anlage zur Produktion von LUPOLEN (Foto: Unternehmensarchiv LyondellBasell) Zu den Produkten aus Wesseling ist zu erfahren: Polyethylen „Mit weit über eine Million Tonnen Jahresproduktion ist Polyethylen das wichtigste Erzeugnis des Werkes Wesseling. Verkauft wird das Produkt unter dem Handelsnamen Lupolen (Ludwigshafener Polyethylen). Mit Fertigstellung einer neuen Polyethylen‐Anlage im Jahre 2004 wird am Standort Wesseling auch Hostalen (Hoechster Polyethylen) produziert. Lupolen wird hauptsächlich zur Herstellung von Folien, Fässern, Kanistern, Rohren, Rohrleitungen, medizinischen Verpackungen und Autotanks verwendet. Auch im täglichen Gebrauch stößt man immer 35 wieder auf Lupolen: etwa bei Einkaufstüten, Flaschendeckeln, Nahrungsmittelverpackungen oder Frischhaltefolien. Ein besonderes Produkt, das mit dem neuen Hostalen‐Verfahren erzeugt wird, ist CRP 100. Hierbei handelt es sich um ein Polyethylen, das gleichzeitig steifer und zäher als seine Vorgängermaterialien ist. Das zu Rohren verarbeitete CRP 100 kann einem 25 Prozent größeren Innendruck und höheren Betriebstemperaturen standhalten. Polypropylen Das Polypropylen‐Produkt Moplen dient der Herstellung von Verpackungen, Seilen, Netzen, Teppichböden, Spritzgussartikeln oder Rohren. Durch eine besondere Prozessvariante entsteht das sogenannte Impact‐Copolymer, das für schlagzähe Anwendungen wie Hartschalen‐ koffer oder Stoßstangen Verwendung findet. Zur Polypropylen‐Produkt‐ familie gehört auch das Random‐Copolymer, ein weicheres Polymer, wie es etwa für biegsame Küchenvorratsbehälter zum Einsatz kommt. Metallocene ist ein weiterer Teil der Polypropylen‐Produktfamilie. Es zeichnet sich durch besondere Festigkeit aus und besitzt zudem einen hohen Schmelzpunkt. Auf Grund dieser Eigenschaften wird diesem Material ein hohes Zukunftspotenzial prognostiziert.“ Meilensteine in der Geschichte der Kunststoffe waren, die auch auf der Webseite von LyondellBasell (Geschichte) genannt werden, u.a.: 1975 Inbetriebnahme der ersten Hostalen (Polyethylen hoher Dichte HDPE)‐ Prozessanlage 1982 Einführung des Spheripol‐Verfahrens (zur Zeit am häufigsten eingesetzte Polyolefin‐Prozesstechnologie) von der Vorgängerfirma Montedison (ital. Mischkonzern in Mailand) 1985 Bildung von Lyondell Chemical Company (gegründet aus chemischen und Raffinerieanlagen der Atlantic Richfield Company 36 1990 2005 2007 2008 ARCO – 1866 als Atlantic Refining durch Charles Lockhart in Philadelphia gegründet) Erwerb von Polyethylen niedriger Dichte (LDPE) und Polypropylen (PP) produzierender Unternehmen von Rexene (AkzoNobel) durch Lyondell Access Industries (private US‐amerikanische Industriegruppe, 1986 gegründet) kauft Basell Lyondell und Basell werden zu LyondellBasell Industrie Übernahme von Solvay Engineered Polymers, Inc. Die Industriekulisse Ende März 2014 – von der B 9 in Wesseling aus gesehen (Foto: G. Schwedt) 37 Literaturverzeichnis Archiv für Wirtschaftskunde GmbH (Hrsg.): 75 Jahre Chemische Fabrik Wesseling 1880‐1955, Darmstadt (1955). Basell Polyolefine GmbH/ Braun, Henri (Hrsg.): 1953‐2003 Standort Wesseling. Mit Basell der Zukunft verpflichtet, Basell Polyolefine GmbH, Wesseling 2003. Dietz, Josef: Wesseling. Ein Heimatbuch, Gemeinde Wesseling (Hrsg.) 1962. Drösser, Wolfgang: „Rheinbraun“ in Wesseling, Verein für Orts‐ und Heimatkunde e.V., Wesseling 2003. Drösser, Wolfgang: Wesseling, Berzdorf, Keldenich, Urfeld. Geschichte – Bilder, Fakten, Zusammenhänge, Wesseling 2008. Froitzheim, Ursula: Arbeit als Kriegsbeute. Der Einsatz von Fremd‐ und Zwangsarbeitern in Wesseling 1939‐1945. In Zusammenarbeit mit dem Archiv der Stadt Wesseling. Im Auftrag der Stadt Wesseling, Wesseling 2004. Hansen, Antje: Degussa Standort Wesseling (Festschrift zum 100‐jährigen Jubiläum), Bochum 2005. Joest, Hans‐Josef: Kraftakte. Ein halbes Jahrhundert Union Kraftstoff in Wesseling, Econ, Düseldorf/Wien/New York 1987. Landschaftsverband Rheinland (Hrsg.)/Bearbeiter Helmut Rönz: Rheinischer Städteatlas Wesseling, Lieferung XVI Nr. 88, Böhlau Verlag, Köln/Weimar/Wien 2007. Schwedt, Georg: Experimente rund um die Kunststoffe des Alltags, Wiley‐VCH, Weinheim 2013. Schwedt, Georg: Plastisch, elastisch, fantastisch. Ohne Kunststoffe geht es nicht, Wiley‐VCH, Weinheim 2013. Schwedt, Georg: Wesseling und die Petrochemie. Von der Gerberei bis zu den Kunststoffen – Rheinuferbahn als Verbindung, in: Chemie für Labor und Biotechnik (CLB) 61, (2010), 305‐309. Tüllmann, Wolf: Wesseling in alten Ansichten, Europäische Bibliothek, Zaltbommel/Niederlande 1983. 38 Impressum Herausgeber: Redaktion: Druck: Stadt Wesseling – Der Bürgermeister Stadtarchiv Prof. Dr. Georg Schwedt Hausdruckerei Stadt Wesseling, Mai 2014 39