Die Schule der Trunkenheit

Transcription

Die Schule der Trunkenheit
DIE SCH U LE DER TRU N K EN HEIT
D I E SC H U L E
D ER T R U N K EN H EI T
Eine kurze Geschichte des gepflegten Genießens
Mit Illustrationen von Angela Dwyer
VICTORIA BAR
DAS BUCH UND DIE AUTOREN
Die VICTORIA BAR – Heimat der Schule der Trunkenheit – eröffnete
im Jahr 2001 in der Potsdamer Straße in Berlin, unweit des Potsdamer
Platzes.
Geschäftsführer und Barchef ist der im selben Jahr vom Gault Millau zum Barkeeper des Jahres gekürte Stefan Weber, an seiner Seite
als Compagnon Beate Hindermann und schließlich Gonçalo de Sousa
Monteiro, der sich in der Zwischenzeit mit dem Buck and Breck selbstständig gemacht hat. Um die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit sowie um
die Kunstsammlung und Kuration der jährlichen Ausstellung in der Bar
kümmert sich Kerstin Ehmer. Die Vier erdachten die »Schule der Trunkenheit«.
Sie begründeten auch in Deutschland den Trend zur Erweiterung des
Wissens um den Alkohol als Kulturgut und sehen ebendarin das Ziel
ihres Buches.
Der britische Independent nahm die Victoria Bar in seine Liste der
50 besten Bars der Welt auf. Sie wurde vom Playboy und Glenfiddich
zur Bar des Jahres gekürt. In den Bar-Rankings für die Hauptstadt belegt
sie jedes Jahr einen der ersten drei Plätze. Ein prominenter Ort beheimatet also die »Schule der Trunkenheit«, real existierend als Hort von
Trinkkultur und -sitte. Täglich geöffnet ab halb sieben und bereit, jedem
Interessenten die Probe aufs Exempel zu ermöglichen.
Victoria Bar
Potsdamer Straße 102
10785 Berlin
www.victoriabar.de
Zweites Semester: Der Wodka
»Ich bin kein schwerer Trinker.
Manchmal vergehen Stunden,
ohne dass ich einen Tropfen anrühre.«
Noel Coward
L
as Vegas, 1955. Der Rezeptionist des Sands Hotel traute seinen
Ohren nicht, als er die Frühstücksbestellung aus dem 13. Stock entgegennahm und fragte zur Sicherheit nochmals nach. Humphrey Bogart
war im Haus. Mit ihm Lauren Bacall, Frank Sinatra, Judy Garland, Swifty Lazar, die Romanoffs und ein paar andere. Sie waren im Privatjet zu
Noel Cowards Kabarett-Premiere angereist und hatten eine Reihe nebeneinander liegender Suiten gebucht. Die Premierenfeier war lang und
feucht gewesen. Zum Frühstück orderten die Damen und Herren respektable 300 Bloody Marys. In der folgenden Stunde pendelten Kellner
mit Tabletts voller klirrender Gläser wie die Flieger der Luftbrücke durch
die teppichgedämpften Korridore des Hotels.
Wodka war das Getränk der Stunde. Der klare Brand aus den russischen Weiten hatte sich als neues Modegetränk rasant in Los Angeles verbreitet. Wirklich gesellschaftsfähig wurde er durch eine legendäre
Party, die Joan Crawford 1947 auf ihrem Anwesen für die Crème de la
Crème Hollywoods gab. Auf dieser Party gab es zum ersten Mal nichts
anderes zu trinken als Wodka und Champagner. Die Schauspielerin
wirkte damit stilbildend in Hollywood. Viele ihrer Kollegen schätzten
51
 ZWEITES SEMESTER !
den Wodka, weil er ihnen ermöglichte, auch nach einer durchzechten
Nacht ohne Fahne am Set zu erscheinen. Er stand nun für eine leichte,
elegantere Lebensart und Trinkkultur. Die Firma Smirnoff bewarb ihn
in den fünfziger Jahren als »weißen Whisky« mit dem Slogan: »It leaves
you breathless!«, was doppeldeutig sowohl atemlos als auch ohne Alkoholfahne meinte.
Bloody Mary
Sie ist der wohl berühmteste Vertreter der Drinkgruppe der »Corpse
Reviver« oder Katergetränke. In ein großes Longdrinkglas mit drei, vier
Eiswürfeln geben wir eine gute Portion Wodka (4 bis 5 cl), dazu 2 cl Sangrita Pikante (ein würziger Gemüsesaft), einen Spritzer Worcestersauce,
einen Spritzer Zitrone, etwas Tabasco, Selleriesalz und frisch gemahlenen schwarzen Pfeffer. Das Ganze wird mit Tomatensaft aufgefüllt und
ordentlich umgerührt. Wir empfehlen zur Dekoration des Drinks eine
knackige Selleriestange.
Der Drink wurde zum ersten Mal 1921 von Pete Petiot in der New
York Bar in Paris serviert. Wodka war bereits in den zwanziger Jahren in
Frankreich bekannt. Der russische Hochadel hatte sein Lieblingsgetränk
schon vor 1917 auf seine Sommerresidenzen in den französischen Seebädern mitgebracht. Nun saßen weißrussische Emigranten in den Pariser Bars und bekämpften Heimweh und Revolutionskater mit Bloody
Marys. Im zaristischen Russland gab es ein ähnliches, etwas einfacheres
Getränk mit dem Namen »Rote Katjuschka«, das aus Wodka und Tomatensaft bestand. Es gibt einige noch nahrhaftere Varianten der klassischen Bloody Mary: Eine ist der selten angebotene Bull Shot, bei dem
der Tomatensaft durch doppelt konzentrierte Kraftbrühe ersetzt wird.
Die zweite Variante nennt sich »Clamato«, ein populärer Drink der amerikanischen Ostküste. Statt Tomatensaft verwendet man Muschelsud
oder Muschelwasser. Eine Mischform aus Bloody Mary und Bull Shot
heißt folgerichtig Bloody Bull und besteht aus Wodka und jeweils einer
Hälfte Tomatensaft und einer Hälfte Consommé.
52
 DER WODK A !
Ihre Funktion im Alltag eines geübten Trinkers verdeutlicht bestens
ein Zitat von Hervé Chayette und Alain Weill aus ihrem Buch Les Cocktails: »Selten erlebt man das Gefühl, nicht genau zu wissen, ob man isst
oder trinkt. Ob es schlecht oder gut sei, ob man noch die Exzesse der vergangenen Nacht verteufeln oder sich der Lust hingeben soll, gleich wieder einzusteigen, wo man aufgehört hat.«
Aber wie hatte es der Wodka geschafft, den amerikanischen Markt
zu erobern? In seiner Heimat hatten die Bolschewiki der russischen
Volksdroge zunächst den Kampf angesagt. Der Export war zusammengebrochen, und auch die letzten Destillerien, die sich bis dahin in privater
Hand befunden hatten, wurden verstaatlicht. Die Vermögen ihrer Besitzer wurden eingezogen, und sie mussten das Land verlassen.
Als ehemaliger Hoflieferant und einer der reichsten Männer Russlands war Pjotr Smirnov besonders gefährdet. Er wurde mehrmals verhaftet und zum Tode verurteilt, jedoch stets in letzter Minute begnadigt. Schließlich gelang ihm auf abenteuerlichen Umwegen die Flucht
über Polen bis nach Konstantinopel und von dort aus nach Paris. Im
Handgepäck hatte er das Wissen zur Herstellung seines ausgezeichneten Wodkas und genügend Startkapital für die Eröffnung einer neuen
Brennerei in Courbevoie bei Paris. Mitte der zwanziger Jahre traf auch
Rudolph Kunett, der ehemalige Getreidelieferant der Smirnovs, in Paris
ein. Auch er war vor der Revolution geflohen und besuchte Frankreich
als Repräsentant der amerikanischen Kosmetikfirma Helena Rubinstein.
Kunett kaufte Smirnov die Namensrechte seines Wodkas für den
amerikanischen, mexikanischen und kanadischen Markt ab. Er erwartete ein baldiges Ende der Prohibition und war sich sicher, Wodka in den
USA etablieren zu können. Neun lange Jahre sollte er warten müssen.
Dann endete am 5. Dezember 1933 das Alkoholverbot, und schon zu
Beginn des neuen Jahres startete Rudolph Kunett die Produktion unter
dem Namen Smirnoff and Sons im zweiten Stock eines Lagerhauses in
Bethel, Conneticut. Doch er kam über das Anfangsstadium nicht hin-
53
 ZWEITES SEMESTER !
aus. In ihren besten Zeiten hatte die Firma acht Angestellte und produzierte nicht mehr als 6000 Kisten Wodka pro Jahr. Erst als John G.
Martin, Miteigner der ursprünglich kanadischen Firma Heublein, die
sich vor allem im Weinhandel und mit Importen ausländischer Spirituosen etabliert hatte, ihm 14 000 Dollar und die Garantie eines Chefsessels
bot, ging es mit der Vermarktung von Smirnoff Vodka in den USA steil
bergauf. Der umtriebige Geschäftsmann Martin fand in seinem Freund
Jack Morgan den geeigneten Partner, um sein Produkt an den Mann zu
bringen. Morgan besaß ein gutgehendes Lokal in Los Angeles mit dem
Namen »Cock and Bull Restaurant«. Im Nebenberuf war er Limonadenfabrikant und hatte in England die Lizenz zur Herstellung von Gingerbeer erworben, einem Getränk auf der Basis von frischer Ingwerwurzel, Zitronensaft, Zucker und Wasser. Nach Beendigung der Prohibition
sank die Nachfrage für sein nur schwach alkoholisches Produkt. Die beiden Freunde kombinierten im Jahre 1947 im »Cock and Bull Restaurant« Wodka und Gingerbeer zu einem Longdrink, der vor allem dem
ehemals russischen Getreidebrand in den USA zum Durchbruch verhelfen sollte.
Der Moscow Mule
Bei diesem Drink aus der Frühzeit des Wodkas in Amerika wird heute
irrtümlicherweise häufig Gingerbeer durch das einfacher herzustellende
Gingerale, einer simplen Limonade, ersetzt. Der Geschmack beider Produkte unterscheidet sich jedoch erheblich. Abgerundet wird der Drink
durch einen Spritzer Zitronensaft, Gurkenschale und ein Stück frischen
Ingwer.
Martin und Morgan bewarben ihren Longdrink mit einer großangelegten Kampagne. Dafür ließen sie einen Henkelbecher aus Kupfer entwickeln, und auf Plakaten sah man bekannte Filmgrößen wie Woody
Allen oder Groucho Marx unter einem Haufen Kupferbecher hervorlugen. Mitarbeiter der Firma Heublein promoteten den Drink zusätzlich
auf sehr persönliche und effektive Weise: Mit einer Polaroid-Kamera,
54
 DER WODK A !
damals einer aufsehenerregenden Novität, zogen sie durch die Bars und
baten die Barmixer, ihnen einen Moscow Mule zuzubereiten. Dabei fotografierten sie ihn zweimal. Ein Bild schenkten sie dem Bartender und
mit dem anderen gingen sie in die nächste Bar, um zu beweisen, dass jede
Bar, die etwas auf sich hält, Moscow Mule serviert.
»Der Mensch lebt nicht vom Brot allein.
Nach einer Weile braucht er einen Drink.«
Woody Allen
Doch zurück ins Amerika der frühen fünfziger Jahre. Der Kalte Krieg ließ
die Begeisterung für den weißen Whisky etwas abkühlen. Die Stimmung
während der McCarthy-Ära mit ihren Komitees zur Bekämpfung unamerikanischer Umtriebe war angespannt. Wodka? Kam das nicht direkt
aus dem Feindesland? Warum wurde der Moscow Mule ausgerechnet
mit Woody Allen und Groucho Marx beworben? Waren die nicht auch
Kommunisten? Und war nicht ganz Hollywood vom bolschewistischen
Bazillus durchsetzt?
1953 gab es in New York eine Anti-Wodka-Demonstration, die von
wohlmeinenden Patrioten angeführt wurde und an der sich auch eine
Abordnung der ABU (American Bar Tenders Union) beteiligte. »Wir
brauchen keine kommunistischen Drinks!« – »Nieder mit Moscow
Mule!« – »Boykottiert Smirnoff!« war auf ihren Plakaten zu lesen. Die
Firma Smirnoff reagierte mit großformatigen Anzeigen in den wichtigsten Tageszeitungen. In ihnen wurde dargelegt, dass ihr Wodka mitnichten in bolschewistisch verseuchten Breitengraden, sondern tief im Herzen des konservativen New England, in Connecticut, ausschließlich aus
amerikanischem Getreide hergestellt wurde. Der Siegeszug des russischen Nationalgetränks im Land des Klassenfeindes ließ sich durch die
55
 ZWEITES SEMESTER !
hysterischen Warnungen vor dem angeblich kommunistischen Alkohol
nicht aufhalten. Seine wachsende Beliebtheit ist nicht nur das Ergebnis
geschickter Marketingstrategien, sondern vor allem die Konsequenz eines historisch bedingten Strukturwandels der amerikanischen Getränkeindustrie. Die Prohibition hatte Amerika nicht trockengelegt, sondern
die Entwicklung seiner Alkoholindustrie jäh unterbrochen. Der Konsum war in die Illegalität abgewandert und die Profite landeten in den
Taschen der organisierten Kriminalität. Ebenfalls profitiert haben die
Spirituosen-Hersteller, die in Kanada und Kuba produzierten. Sie legten große Vorräte an, mit denen sie den amerikanischen Markt nach der
Aufhebung der Gesetze am 5. Dezember 1933 überschwemmten. Der
Eintritt der USA in den Zweiten Weltkrieg zwang die amerikanischen
Hersteller erneut unter staatliche Kontrolle. Ihr Alkohol wurde zur Erzeugung kriegswichtiger Güter wie Treibstoff und Gummi benötigt.
Nach dem Krieg kehrten 100 000 durstige Soldaten in ihr Land zurück.
Die Nachfrage nach Hochprozentigem stieg sprunghaft an, und Wodka
bot eine schnelle Lösung dieses Problems. Er brauchte weder jahrelange Lagerzeit noch teure Fässer und passte mit seiner Gradlinigkeit und
Effizienz zum Lebensgefühl der Nachkriegsjahre. 1950 verkauften amerikanische Produzenten 40 000 Kisten Wodka. Fünf Jahre später waren
es bereits 1,1 Millionen, und 1956 vervierfachte sich der Konsum innerhalb eines einzigen Jahres.
Etliche Brennereien entstanden im Corn-Belt des Mittelwestens, in
Kentucky, Tennessee und Illinois. Mit russischklingenden Namen wie
»Bolshoi«, »Anatevka«, »Majorska« oder »Katinka« und folkloristischer
Aufmachung versuchten sie ihren Produkten eine vordergründige Authentizität zu verleihen. Als James Bond 1962 im Kampf gegen Doktor No zum ersten Mal seinen Martini mit Wodka statt mit Gin orderte, war eine Ikone der amerikanischen Bar-Kultur gefallen. 1963 wurde
in den USA zum ersten Mal mehr Wodka als Whisky getrunken. Und
1976 überholte der Wodka den Gin. In den achtziger Jahren begann die
schwedische Marke Absolut, den Markt mit einem neuen Konzept zu
56
 ZWEITES SEMESTER !
erobern. Das puristische Flaschendesign wurde zum Gegenstand einer
künstlerisch ambitionierten Werbestrategie. Die Zusammenarbeit mit
Andy Warhol und anderen namhaften Künstlern, Fotografen, Modemachern, Architekten, also Kreativen aller Sparten, machten Absolut zum
Kult in den Bars der Young Urban Professionals. Heute ist der Wodka
fest in die Trinkgewohnheiten Amerikas integriert und aus keiner Bar
mehr wegzudenken. Der Markt wächst weiter, und man schätzt, dass
heute jede zweite Flasche, die über den Ladentisch eines Liquor Store
geht, eine Flasche Wodka ist.
»Wem da dürstet, der komme zu mir und trinke …
Wer aber von dem Wasser trinken wird,
das ich ihm gebe, dem wird ewiglich nicht dürsten,
sondern das Wasser, das ich ihm geben werde,
wird in ihm ein Quell ewigen Lebens sein.«
Johannes Evangelium, Kapitel 4, Vers 7-15
Hier fließt es also, das berühmte Wasser des Lebens, Aqua vitae seinerzeit genannt. Von diesem Bibel-Zitat leiteten die bereits 1100 nach
Christus mit der Kunst der Destillation experimentierende italienischen
Mönche den Namen für ihr Erzeugnis ab. Und Wasser heißt es noch immer, Wässerchen, um genau zu sein, denn Wodka ist nichts anderes als
die Verniedlichungsform von Voda, dem Wasser. Das versteht man in
Polen. Aber auch in Russland. Und beide Länder beanspruchen für sich,
die Geburtsstätte dieses Getränks zu sein. Russland belegte durch den
Historiker William Pokhlebkin anhand von Akten aus einem Kloster bei
Moskau die erstmalige Herstellung von Aqua vitae aus Getreide im Jahr
1430. Pilgernde Mönche hatten in Rom die neue Kunst der Destillation
entdeckt und mit nach Hause gebracht. In Ermangelung von Trauben
beziehungsweise Wein griffen die Heimgekehrten im Kloster Chudow
erstmalig auf Getreide als Rohstoff für ihre Brände zurück. Dies gilt den
58
 DER WODK A !
Russen als Geburtsstunde des Wodkas. Polen konterte mit einer älteren Chronik aus dem Jahre 1405, dem ersten schriftlichen Zeugnis für
die Bezeichnung Wodka, die damit einen hochprozentigen Schnaps aus
Roggen beschreibt. Gekränkter Nationalstolz, wirtschaftliche Interessen und politische Spannungen führten schließlich dazu, dass man die
Streitfrage dem europäischen Gerichtshof vorlegte. Im Jahr 2003 wurde
hier ein Urteil zu Gunsten Russlands gefällt. Ein Beschluss, der in Polen
bis heute nur zähneknirschend akzeptiert wird. Auch wir werden nicht
eindeutig klären können, wo die Wiege des Wodkas tatsächlich stand.
Fakt ist, dass Polen schon im 13. Jahrhundert ein bedeutendes Zentrum landwirtschaftlicher Produktion war. Seine Getreideüberschüsse
wurden auf der Weichsel zur Ostseeküste und von da nach ganz Mitteleuropa verschifft. Die Grundstoffe für die Herstellung von Wodka waren
also verfügbar. Wenn das Wissen um die neue Technik des Destillierens
wirklich mit Mönchen aus Italien in den Osten gelangte, so ist es also
durchaus vorstellbar, dass sie zuerst in Polen daran arbeiteten, bevor sie
weiter nach Russland zogen.
Im Hochmittelalter wurde Wodka in Polen vor allem als medizinischer Heiltrunk oder kosmetisches Tonikum empfohlen. Und in dieser
Verwendung wurzelt vermutlich auch die polnische Tradition des Aromatisierens. Früh entstanden mit Eberesche, Apfel, Schlehe, Wacholder,
Honig und Nuss aromatisierte Sorten, von denen sich einige bis heute
erhalten haben (Krupnik, Jarzebiak). »Gorzalka« nannte man hingegen
den einfachen Roggenschnaps der Bauern. Erstmals aktenkundig wird
die Herstellung von Wodka in größeren Mengen unter König Johann Albrecht, der noch kurz vor seinem Tod den Polen das Recht, ihren Wodka
zu brennen und zu verkaufen, übertrug. Im folgenden 16. Jahrhundert,
dem sogenannten goldenen Zeitalter, wird Polen zu einer Adelsrepublik.
Kleinadel (Szlachta) und Magnaten wählten den König und wirkten bei
der Gesetzgebung mit. In Krakau gründete man die erste Universität,
italienische Einflüsse der Renaissance prägten Künstler und Architekten. Religiöse Toleranz ging einher mit einer Belebung des Wirtschafts-
59
 ZWEITES SEMESTER !
lebens. Nachdem man 1565 damit begonnen hatte, den Handel und die
Produktion von Wodka zu besteuern, beschränkte man 1572 das Recht
der Destillation allein auf den Adel. Als Zentren seiner Herstellung kristallisierten sich Krakau und vor allem Poznan mit seinem wasser- und ertragreichen Agrarumland sowie einer verkehrstechnisch zentralen Lage
heraus. Hier zählte man im Jahre 1580 bei 20 000 Einwohnern schon
49 Brennereien. Mitte des 18. Jahrhunderts exportierte man Wodka
aus Poznan über Danzig bis nach Sankt Petersburg, über die Oder bis
nach Deutschland und Holland und über Breslau nach Schlesien, Wien
und weiter nach Moldawien, Ungarn und bis an die Schwarzmeerküste.
1772, 1793, 1795 erfolgte in drei Etappen die Aufteilung Polens zwischen Russland, Österreich und Preußen.
Österreich erhielt dabei Galizien, Russland die ostpolnischen Gebiete bis zum Bug, Preußen bekam Westpolen mit Posen und Teile von
Schlesien. Im russischen Teilungsgebiet bestätigte Katharina die Große das Privileg des polnischen Adels auf die Herstellung von hochwertigem Wodka. In Poznan hingegen profitierte man von der zunächst
ausgleichenden Politik Friedrich Wilhelm III … Er gründete das Großherzogtum Posen, in dem 521 000 Polen mit 218 000 Deutschen und
50 000 Juden friedlich unter einer bilingualen preußischen Verwaltung
vereint werden sollten. Diese stillen Jahre bescherten der Region unter
dem Stadthalter Antoni Radziwill, einem Freund Chopins und Goethes,
die Selbstverwaltung. Die Bauernbefreiung im Jahr 1823 führte zu einer
hohen Zahl wirtschaftlich starker mittelgroßer Höfe. In dieses Jahr fällt
auch die Gründung der bis dato größten Destillerie Polens. In einem ehemals für ein preußisches Kavallerie-Regiment erbauten Gebäudekomplex begann der neue Eigner Hartwig Kantorowicz mit der Herstellung
eines Wodkas ganz besonderer Güte. Bei seiner Präsentation im Wodka-Wettbewerb einer Poznaner Zeitung sollen die Juroren einstimmig
»Wyborowy!« gerufen haben, was so viel bedeutet wie extra klarer, feiner
Wodka. Kantorowicz übernahm diesen Ehrentitel als offiziellen Namen
seines Erzeugnisses.
60