Der Begriff moderner Kindheit bei Rousseau und

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Der Begriff moderner Kindheit bei Rousseau und
Der Begriff moderner Kindheit bei Rousseau und
reformpädagogische Konzepte - ein Vergleich
von Mathias Hamp
Vorwort
Eine der prominentesten Quellen verschiedener alternativer pädagogischer Konzepten ist
Jean-Jacques Rousseau (1712-1778). Mit seinem Werk „Emile oder Über die Erziehung“ aus dem
Jahre 1762 sollte er zum ausgemachten Vordenker vieler Reformpädagogen wie u.a. Key,
Montessori, Pestalozzi, Freinet, Fröbel, Diesterweg werden, die sein pädagogisches Konzept sowie
seine Kindheitsauffassung auf verschiedene Weise rezipierten. Dieses Referat dient zur Erhellung
der Frage, welche denn die Motive sein könnten, die die genannten Personen aus dem
Gedankengut Rousseaus schöpften. Die Antwort auf diese Frage liefert die Wirkungsgeschichte
Rousseaus, wobei hier nur auf einige Aspekte des Kindheitsverständnisses eines Rousseaus
eingegangen werden soll.
Zunächst sollten aber noch die etwas missverständlichen Begriffe „moderne Kindheit“ und
„Reformpädagogik“ betrachtet werden. Möchte man Benner glauben schenken, so verstand
Rousseau unter diesen Begriff, dass dieser „im Unterschied zur Kindheit in altständischen
Gesellschaften nicht nur etwas Unbekanntes [sei], sondern […] für Erwachsene ein Unbekanntes
bleiben würde.“ Gegenwärtig verbindet man allerdings mit diesem Begriff eher den Wandel der
Kindheit und der Generationenverhältnisse, wobei einige der Auffassung sind, Kindheit sei ein
schwindendes Phänomen. Der zweite Begriff „Reformpädagogik“ wird alzu oft als epochales
Phänomen der Wende vom 19. zum 18. Jhdt. Verstanden, wobei gerne übersehen wird, dass
Pädagogik und Reform zwei Grundkonstanten menschlichen Lebens sind. Wenn Pädagogik die Art
und Weise ist, wie man die junge Generation von heute auf die Herausforderungen von morgen
vorbereitet, so wirkt sie wohl wie eine unentwegte Reform des Menschen, der sich den neuen
Umständen entsprechend anpassen muss.
Widmen wir uns nun der Fragestellung, in dem wir erst die beiden Positionen beschreiben und
schließlich vergleichen.
1│Kindheitsbegriff bei Jean-Jacques Rousseau – De la perfectibilité de l’homme
Angesichts des umfassenden Lebenswerks des frz. Aufklärers, der seinen berühmten
„Gesellschaftsvertrag“ im gleichen Jahr wie „Emile“ veröffentlichte, sei an dieser Stelle auf den
Überblickscharakter der folgenden Darstellung hingewiesen. Eine auf literaturwissenschaftliche
Methoden basierende Rezeptionsanalyse würde nicht nur die Beschäftigung der entsprechenden
Primärtexte erfordern, sondern auch die Bezugnahme auf das gesamte Lebenswerk notwendig
machen. Weiterhin wird das pädagogische Werk hier weder in seinem kulturkritischen Kontext noch
in seinen Staatsphilosophischen Gehalt Erwähnung finden.
Jean-Jacques Rousseau ging im Gegensatz zu den Vorstellungen der altständischen
Gesellschaft davon aus, dass die Zukunft eines jeden Kindes unbestimmt ist.
Optimistisch betrachtete er den Mensch mit der Eigenschaft ausgestattet, sich
Fähigkeiten anzueignen, was er mit dem Begriff perfectiblité verband. Aufgrund dieser Bereitschaft
zur Vervollkommnung muss auch die Ausbildung des Heranwachsenden durch eine "naturgemäße
Erziehung" unterstützt und begleitet werden, denn - so Rousseau - "jeder Charakter hat seine
eigentümliche Haltungsweise, nach der er gelenkt werden muss, und es ist im Hinblick auf den
glücklichen Erfolg der Mühe, die man aufwenden muss, von Wichtigkeit, dass er gerade in dieser
und keiner anderen Weise gelenkt werde". So wird an den Erzieher die überaus anspruchsvolle
Aufgabe herangetragen, seinen Schüler zu beobachten und kennen zu lernen. Das Ziel dieser
Annäherung sei es, die Lernfähigkeiten und -bedürfnisse des Kindes zu entdecken, um auf indirekte
Weise darauf lenkend Einfluss nehmen zu können. Rousseau setzte dabei voraus, dass das Kind
nur dann in der Lage sei, seinen Lebens- und Lernweg zu finden, wenn die Bedingungen dafür
optimiert werden. Der Mensch habe - so meint Rousseau - "durch verderbliche Einflüsse" seine
"Natürlichkeit" verloren. Die Konsequenz, die er aus dieser Überlegung zog, war die, dass der
Schüler "in einem von der verdorbenen Umwelt isolierten 'pädagogischen Bezug'" leben und lernen
solle, um sich so "unverfälscht entfalten zu können". Bis heute ist diese anti-soziale Haltung in
Rousseaus Erziehungskonzeption ein weithin bekannter Kritikpunkt, zumal er keine schlüssige Idee
zur Verwirklichung eines solchen Raums liefern konnte, in der sich das Kind metonymisch gesehen
als Tabula Rasa vom Speisesaal in die Wildnis entrückt sieht. Die Idee eines Raums frei von
gesellschaftlichen Forderungen und Einflüssen, in dem das Kind seine Individualität in freier
Auseinandersetzung mit der Mannigfaltigkeit der Welt entwickeln sollte, bot aber auch die
Möglichkeit eine neue Trennung zwischen Mensch und Bürger aufzuwerfen. Entbunden von
gesellschaftlichen Zwängen kann das Kind und später der Erwachsene als Außenstehender ein in
den Zeiten der Aufklärung so ersehntes gesellschaftskritisches Bewusstsein entwickeln.
Zusammenfassend
weist
also
Rousseaus
Erziehungsgedanke
folgende
wesentliche
Gesichtspunkte auf. Erstens wird die individuelle Natur des Lernenden berücksichtigt.
Selbstständig lernt er von der Natur. Der zweite Aspekt betont die Erfahrung, die von den Dingen
ausgeht. Zuletzt wird Erziehung von Rousseau auch als Begegnung zwischen Generationen
verstanden, wobei er dem Kindheitsstatus erstmals einen eigenständigen Status fernab von
Bedeutungen à la „noch nicht“ oder „unvollständig“ zuspricht.
M1 Der Perfectiblité-Begriff Rousseaus:
Le même instinct anime les diverses facultés de
est le premier principe de la curiosité; principe
naturel
au
coeur
humain,
mais
dont
le
l'homme. A l'activité du corps, qui cherche à se
développement ne se fait qu'en proportion de nos
développer, succède l'activité de l'esprit qui cherche
passions
à s'instruire. D'abord les enfants ne sont que
philosophe relégué dans une île déserte avec des
remuants, ensuite ils sont curieux; et cette curiosité
instruments et des livres, sûr d'y passer seul le reste
bien dirigée est le mobile de l'âge où nous voilà
de ses jours; il ne s'embarrassera plus guère du
parvenus. Distinguons toujours les penchants qui
système du monde, des lois de l'attraction, du calcul
viennent de la nature de ceux qui viennent de
différentiel: il n'ouvrira peut-être de sa vie un seul
l'opinion. Il est une ardeur de savoir qui n'est fondée
livre, mais jamais il ne s'abstiendra de visiter son île
que sur le désir d'être estimé savant; il en est une
jusqu'au dernier recoin, quelque grande qu'elle
autre qui naît d'une curiosité naturelle à l'homme
puisse être. Rejetons donc encore de nos premières
pour tout ce qui peut l'intéresser de près ou de loin.
études les connaissances dont le goût n'est point
Le désir inné du bien-être et l'impossibilité de
naturel à l'homme, et bornons-nous à celles que
contenter pleinement ce désir lui font rechercher
l'instinct nous porte à chercher.
sans cesse de nouveaux moyens d'y contribuer. Tel
(Rousseau (1762): Émile ou de l’éducation. S. 154.)
et
de
nos
lumières.
Supposez
un
2│Kindheitsverständnis im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jhdts.
Hintergrund vieler alternativer pädagogischer Konzepte aus diesen Jahrzehnten war die Tatsache,
dass im Zuge der Industriellen Revolution und der anderen sozio-kulturellen Umwälzungen sich
die Familienstrukturen in Europa veränderten, was wiederum zu neuen Kindheitsverständnissen
führte. Staatliche Bildung wurde dennoch nicht als Möglichkeit zur Formung moderner Menschen,
sondern vielmehr als „Herrschaftswerkzeug“ verstanden. In Preußen verstand man das
Bildungswesen und seine politische Funktionalisierung als wirkungsvolles Mittel, um den
gesellschaftlichen Wandelungen, die sich in Deutschland mit zunehmender Industrialisierung
immer offenkundiger bemerkbar machten, durch traditional-autoritäre Volksbildungskonzepte zu
begegnen und ihre Wirkungen zu kontrollieren. Gleichzeitig wurde die Gegenwartsferne des
deutschen Curriculums moniert. Genauer gesagt wurde das mechanische Auswendiglernen,
„Abfragen und Abhören zu Hause gepaukten Stoffes“ kritisiert. Die Jahrhundertwende
verzeichnete einen wahrhaftigen Boom an neuen Konzepten, die mehr oder weniger in das
deutsche Schulwesen Eingang fanden. Bevor ich auf einzelne pädagogische Konzepte näher
eingehe, seien vier Hauptströmungen dieser Reformvorschläge erwähnt:
Kunsterziehungsbewegung Als den geistigen Führer der Kunstbewegungserziehung kann man
Alfred Lichtwark (1852-1914) ansehen, der Stilverfall auf künstlerischem Gebiet beklagt und
Wege für die Erneuerung aufzeigt. Die Gruppe um Alfred Lichtwark geht davon aus, dass
Kreativität als Ausgangspunkt künstlerischen Schaffens nicht nur bei begnadeten Künstlern,
sondern allgemein im Kindesalter vorhanden ist. Damit stellt die Kunsterziehungsbewegung dass
Herzstück, der Reformpädagogik dar. Im Sinne der Reformer, mehr als in unserem heutigen
Kunstverständnis. Sowohl die Dichtung, Sprache, Musik, Gymnastik als auch jegliche Form der
Weltdeutung werden ihr zugeordnet.
Jugendbewegung 1901 kommt mit der Gründung des “Wandervogel“ eine Jugendbewegung in
Gang,
in
der
Studentische
Gruppen
eigenständige
Jugendgruppen
gründen.
Diese
Jugendbewegung ist alles andere als homogen. Einig sind sie sich im Wesentlichen nur im
Protest gegen die gängige Schulerziehung und die bürgerliche Lebensform, die sie als verkrustet
ansehen. Diese sieht sie von der industriellen Entwicklung dominiert und wendet sich gegen die
Vereinsamung in den Großstädten und die nicht mehr natürliche Lebensweise ihrer Bewohner.
Gemeinsam haben sie auch die Verherrlichung einer bürgerlichen und einfachen Lebensordnung.
Arbeitsschulbewegung Die Idee der Arbeitsschulbewegung sollte mit wirtschaftlicher
Bedarfsarbeit den Schülern den pädagogischen Wert vermitteln, dass auf vollbrachte Leistung
ökonomische Erträge folgen. Das Bildungsideal ist hierbei einen sozial brauchbaren Menschen zu
schaffen. Mit handwerklicher Arbeit steht die enge Verbindung des praktischen Tun mit geistigen
Akten in den Vordergrund und weitet gleichzeitig den Arbeitsbegriff auf. Der bekannteste Vertreter
dieser Bewegung ist Georg Kerschensteiner. Sein Ideal war eine Schule des schaffenden
Lernens, die zahlreiche manuelle Tätigkeiten in den Unterricht einbezieht, um die ganzheitliche
Entfaltung aller geistigen, seelischen und körperlichen Kräfte im Kind anzuregen.
Landerziehungsheimbewegung Die Landerziehungsheimbewegung kommt 1889 mit der
Heimgründung von Cecil Reddie in Abbotsholme in Gang und breitet sich schnell in europäische
Länder aus. Als roter Faden kann man den Gedanken betrachten, dass junge Menschen von den
negativen Einflüssen der kritisierten Zivilisation fernzuhalten und ihnen eine gesunde,
naturgemäße und vernünftige Lebensweise zu ermöglichen. Dabei soll ein Lernen gewährleistet
sein bei dem die körperlichen und seelischen Kräfte gleichermaßen angesprochen werden und
gefördert werden, wie die intellektuellen.
Bewegung vom Kinde aus
Eine große Gruppe von Pädagogen mit Berthold Otto, Ellen Key und Maria Montessori wendet
sich entschieden gegen Unterricht in formalen Stufen bei dem Lernen bei richtiger Aufarbeitung
und Anordnung des Stoffes als machbar verstanden wird. Sie kritisieren den einseitig orientierten
Lernstoff der Pädagogen und kritisieren dass der Erziehungsprozess als ein von außen nach
innen führender Vorgang verstanden wird. Sie erinnern an Rousseau, der die Seele als etwas
Tätiges und hervorbringendes sieht und gehen von einem von anfangen im Kinde bestehen
Kraftzentrum aus, dass seine Entwicklung vorantreibt ohne dass äußere Einwirkungen erfolgen
müssen. Deshalb meint Erziehen für sie in erster Linie wachsen lassen, für das die Erzieher in
erster Linie die Freiräume bereitstellen und Hindernisse aus dem Weg räumen müssen.
Drei
berühmte
Pädagogen
der
Jahrhundertwende
–
Konzeptionen,
Kindheitsverständnisse und mehr
Vor genau hundert Jahren übergab die schwedische Pädagogin Ellen Key
(1849-1926) ihr Hauptwerk Das Jahrhundert des Kindes der Öffentlichkeit. An der
Schwelle des anbrechenden Jahrhunderts formulierte sie ein noch heute
bewegendes Plädoyer für den Glauben an die Zukunft der Menschheit in den Kindern. Ansatz
ihres Konzeptes ist, dass das Kind von Geburt an ein Individuum ist. Diese Individualität, die bei
vielen Pädagogen noch als Ausdruck von negativen Wesenszügen gewertet wurde, gilt für sie als
eine wichtige Eigenschaft. Die Herausbildung dieses Individuellen, Einzigartigen beim Kind ist Ziel
der Erziehung, d. h. das Zulassen der ‚natürlichen‘ Entwicklung aus den vorhandenen
Ressourcen. Die Förderung der Individualität wird von Ellen Key im Vergleich zu Rousseau aber
stärker an den Bedürfnissen des Kindes ausgerichtet, ihre Definition der natürlichen Entwicklung
ist bei ihr nicht zu einem Dogma entartet, das die Rolle des Menschen in der Gesellschaft
verleugnet. Um dieses o. g. Ziel zu erreichen soll eine leichte Führung vorhanden sein, die nicht
Ziele vorgibt, sondern das Ausprobieren ermuntert. Dennoch basiert Keys Erziehungsgedanke
auch auf sehr pragmatische Elemente, wie z.B. gemeinsames, pünktliches Essen, leises
Verhalten und andere Gebote dessen Missachtung auch Strafe nach sich ziehen konnte.
Revolutionär an den Ideen Keys ist neben der Betonung des Individuellen vor allem die
grundsätzliche Ablehnung von physischer Gewalt in der Erziehung bis hin zur Forderung eines
gesetzlichen Verbots der Züchtigung in den Schulen.
M2 Ellen Key schreibt 1900:
man behutsam mit den feinen Fäden in der Seele
„Ruhig und langsam die Natur sich selbst helfen
des Kindes umge-hen, weil man dann weiß, daß es
lassen und nur sehen, daß die umgebenden
diese Fäden sind, die einstmals das Gewebe der
Verhältnisse die Arbeit der Natur unterstützen, das
Weltgeschehnisse bilden werden. (...) Dadurch, daß
ist Erziehung. (...) Erst wenn man im Kind die neuen
die Menschen all dieses in ganz neuer Weise fühlen
Schicksale des Menschengeschlechts ahnt, wird
werden, da sie es alles im Lichte der Religion der
Ent-wicklung
sehen,
wird
das
zwanzigste
M3 Rezeption von Rousseau?
Jahrhundert das Jahrhundert des Kindes werden. Es
Rousseau sagt irgendwo: „Alle Erziehung scheitert
wird es in zweifacher Bedeutung: in der, daß die
daran, dass die Natur weder Eltern zu Erziehern
Erwachsenen end-lich den Kindersinn verstehen
erschafft,
werden, und in der anderen, daß die Einfalt des
werden…“ Wie wäre es, wenn man endlich anfinge,
Kindersinns auch den Erwachsenen bewahrt werden
dieser
wird. Dann erst kann die alte Gesellschaft sich
einzusehen,
erneuern.“ (Flitner, Kudritzki (1982): S.52-54)
Erziehung gerade darin verborgen liegt – nicht zu
noch
Anweisung
dass
Kinder,
um
der
Natur
das
größte
erzogen
zu
zu
folgen
und
Geheimnis
der
erziehen!? (Key (1921): Das Jahrhundert des Kindes.
S.121.)
Die Italienerin Maria Montessori (1870-1952) entwickelte pädagogisches und
therapeutisches Spielzeug und gründete in Italien die nach ihr benannten
Kindergärten. Das Kind soll in seiner Entwicklung unterstützt werden. Im Bezug auf
die schulische Förderung legt sie besonderen Wert auf die Freiheit des Kindes. Diese Freiheit sei
eine Grundvoraussetzung für das Gelingen der Erziehung. Ziel der Erziehung ist, dass der
Mensch „Herr seiner selbst ist und daher sein eigenes Verhalten nötigenfalls nach irgendeinem
Zwang des Lebens ordnen kann“. Diese, auch bei Ellen Key zu beobachtende, starke Betonung
der freiwilligen Unterordnung zeigt, dass beide Pädagoginnen sich, trotz vieler visionärer Ideen,
nicht aus ihrer eigenen Zeit ‚wegdenken‘ konnten. Eine pragmatische Erziehung musste sich in
die gängige Moral, die nun einmal die Hierarchie innerhalb der Gesellschaft als etwas Natürliches
ansah, integrieren lassen. Auf ihre besondere Kritik tragen die krankmachenden Zustände an
Schulen, die erst durch sozialmedizinische Untersuchungen allgemein bekannt wurden. Die durch
die Untersuchungen geschehene öffentliche Aufdeckung der Kinderarbeit, die ein ernstes
Problem darstellte, führte zu einer allgemeinen Entrüstung, die eine neue Art von
Zusammenarbeit zwischen Ärzten und Lehrern nach sich zog. Die Einführung der Schulhygiene
und die damit erreichten Veränderungen werden von Maria Montessori als ein erster Schritt zur
sozialen Befreiung des Kindes angesehen.
Historisch beschreibt Maria Montessori die
jahrtausendealte Tradition, dass Eltern sich als Vorbild für das Kind präsentieren, und seine
Erziehung an den Bedürfnissen der Erwachsenen ausrichten. Ziel dieser Erziehung „war, das
Kind dem Erwachsenen gefügig zumachen ...“. Die hierbei behilfliche körperliche Züchtigung von
Kindern, die in „allen pädagogischen Bestrebungen, ja in der ganzen Pädagogik ... bis in unsere
Tage hinein“ wurde von ihr strikt als Sinnbild Unterdrückungsherrschaft abgelehnt. Über den
Widerspruch zwischen dem rasanten Fortschritt, den Maria Montessori aufgrund ihres hohen
Alters sehr deutlich wahrgenommen haben muss, und der Entwicklung des menschlichen
Bewusstseins äußert sie sich sehr besorgt. Nicht nur um der Kinder willen, sondern um die
Erstarrung der gesamten Gesellschaft überwinden zu können fordert sie den Aufbau einer
kindgemäßen Welt.
M4
Mögliche
Rousseau
Rezeption
bei
kommende
Generation
zu
starken
Menschen
Montessori
erziehen, und dies will bedeuten, dass wir sie zu
Der Mensch, der durch eigene Bemühungen alle die
selbständigen und freien Menschen machen müssen.
für sein Behagen und sein Fortkommen im Leben
(Montessori (1913): Selbsttätige Erziehung im frühen
nötigen Handlungen verrichten kann, ist Herr einer
Kindesalter. Stuttgart)
selbst
und
vervielfältigt
seine
Fähigkeiten,
vervollkommnet sich als Individuum. Wir müssen die
Peter Petersens (1884-1952) Erziehungskonzepte konzentrieren sich auf die
Schulbildung, die er in seiner Universitätsschule in Jena umzusetzen suchte. Im
Klassenzimmer, das Petersen als angemessenes und anregendes Umfeld ansah,
sollten die Schüler mit ihrem “angelegte und treibende Bildungsdrang“ ihre individuelle
Persönlichkeit entfalten. In seinen Hauptwerken „Pädagogik der Gegenwart“ (1937) und „Der
kleine Jena-Plan“ formulierte er seine Gedanken zur Lerngemeinschaft, einem Lebenskreis der
vom als Führer agierenden Lehrer in pädagogischer Absicht so geordnet ist, dass jedes Glied des
Lebenskreises genötigt (gereizt, aus sich heraus getrieben) wird, um als ganze Person zu
handeln und tätig zu sein. Zu seinen konkreten Ideen gehören die Ablehnung der traditionellen
Klassenform, die er in “Stammgruppen“ eingeteilt sehen will: Untergruppe: Kinder des 1.-3.
Schuljahres; Mittelgruppe: Schüler des 4.-6. Schuljahres; Obergruppe: Schüler des 6./7.-8.
Schuljahres; Jugendlichengruppe: Schüler des 8./9.-10. Schuljahres. Der Gedanke hinter diesen
Stammgruppen ist es die Bildung von Leistungsgruppen zu verhindern, um verschiedene
Synergieeffekte zwischen den Schülern zu ermöglichen, so dass auch die leistungsschwächeren
Schüler integriert sind. Innerhalb dieser Struktur stellt Petersen vier Urformen des Lernens, die für
ihn alle gleichwichtig sind, in den Mittelpunkt. Gespräch, Unterhaltung, Spiel, Arbeit und Feier.
Gemäß Potthoff legt Petersen mit seinem Jena-Plan die ausgewogenste Schulkonzeption der
reformpädagogischen Bewegung. Lernen ist für Petersen ein individueller Vorgang, bei dem
Lernanregungen von Mitschülern und des Lehrers stattfinden. Dabei hat die arbeit in der Gruppe
einen besonders hohen Stellenwert. Die gesamte schulische Arbeit ist in den Wochenplan
eingeteilt und wird von der gesamten Schulgemeinde, auf die auch die Eltern einen
entscheidenden Einfluss haben, ein.
Gemeinsamkeiten der verschiedenen pädagogischen Konzepte im deutschen Kaiserreich
Unter den Gemeinsamkeiten der verschiedenen neuen Schulkonzeptionen ist in erster Linie die
Emanzipation des Kindes zu nennen. Man muss die Individualität der Kinder und Jugendlichen
respektieren, ihre Begabungen finden und fördern. Deshalb lässt man ihnen einen großen
Spielraum, der die ungehinderte Entfaltung ermöglicht, hin zu einem ganzheitlichen Lernen, dass
den Körper und alle Sinne anspricht, um optimales Lernen zu gewährleisten. Deshalb kann man
Bildung nicht als reine Vermittlung des Wissens ansehen. Die Lehrerrolle, muss komplett neu
überdacht werden, weg vom strengen „Pauker“ mit seinem diktatorischen Frontalunterricht, hin zu
einem antiautoritärem “Helfer“, der die Schüler an die Hand nimmt, und durch den Dschungel des
Wissens begleitet. Bildung ist eine Aufgabe, sie ist die Hoffnung für die nachfolgenden
Generationen in einer besseren Welt zu leben. Die Bildung ist ständigen Veränderungen
ausgesetzt und nur soweit wiederholbar, als sie dem Leben der jungen Generation entspricht. Die
Pädagogik muss von jeder Generation neu durchdacht werden und von den Bedürfnissen der
Kinder dieser Generation
abhängig gemacht werden. Die Reformpädagogen fordern eine
entsprechende Lernumgebung und Lernbedingungen für den Gebrauch der Körpers, der Sinne
und des Verstandes. Deshalb wird das Kind aus den destruktiven Prozessen des städtischen und
industriellen Lebens herausgehalten. Landerziehungsheime und weitere sozialpädagogische
Einrichtungen sprießen fernab von Industrieller Revolution, und Verstädterung. Dies sind Stätten
der Behütung und der Entwicklung, in denen Kinder abseits der alltäglichen Verwüstung lernen
können, indem sie das Mögliche einer gestalteten Welt und einer moralisch einwandfreien
Ordnung erfahren können, dort wird versucht, zwischen Lernumwelt und praktischer Welt eine
Brücke
zu bauen. Diese Gemeinschaft soll über das Konkurrenzdenken in der Gesellschaft
außerhalb dieser Institutionen erhaben sein. Ausgrenzung soll hier ein Fremdwort bleiben, und
die Schüler sollen sich in den Grundwerten der Demokratie üben. Sie sollen verstehen, dass die
Verschiedenheit etwas Gutes ist und sollen sie daraufhin auch weiterentwickeln.
3│Vergleich
Mit Ausnahme von Peter Petersen scheint keine explizite bzw. gründliche Rezeption von
Rousseaus Œuvre durch die Vertreterinnen und Vertreter der deutschen Reformpädagogik
belegbar. Dabei bezeichne ich dann eine Rousseau-Rezeption als gründlich, wenn die
Bandbreite der von Rousseau erörterten Themen - die Kulturkritik, die Pädagogik im
engeren Sinn und die Staatsphilosophie - nachweislich aufgenommen und verarbeitet wird.
Nur bei Petersen lässt sich dies wenigstens ansatzweise belegen, obgleich auch er viele
Themenaspekte aus dem Rousseauschen Gesamtwerk nicht aufgenommen hat.
Es ist ohne Zweifel kritisch festzustellen, dass nicht jede Kulturkritik, nicht jedes Konzept
der Vervollkommnungsfähigkeit, nicht jede Berufung auf ein natürliches Prinzip der
Selbsttätigkeit im Lernen, nicht jeder Ruf nach eigenständiger Kindheit und Jugend, nicht
jede Forderung nach einem umfassenden Erziehungsanspruch von Rousseau beeinflusst
sein muss. Verblüffend scheint dennoch, dass die Semantik reformpädagogischer Literatur
- ganz deutlich bei Montessori und Wyneken - inhaltliche Übereinstimmungen mit
Rousseauschen Gedanken erkennen lassen, ohne diese nachweisen zu können. Nimmt
man Ellen Keys bibliographisches Ungefahr (`Rousseau sagt irgendwo ...') zum Vorbild
eines vom wissenschaftlichen Ethos exakter Quellenangabe befreiten Schreibens, kann
man sich vorstellen, dass später auch noch auf diesen Rest kultureller Errungenschaften
verzichtet werden konnte. Es empfiehlt sich daher in der Tat, bei Rousseau sehr genau
nachzulesen, um nicht zweifelhaften Fährten zu folgen und bei der Verbreitung von
Legenden
mitzuwirken.
Eine
Empfehlung,
deren
Befolgung
nicht
nur
bei
den
Reformpädagogen selbst, sondern auch bei vielen Editoren, Interpreten und Theoretikern
zu vermissen ist.
Es fällt auf, dass die Vertreterinnen und Vertreter der reformpädagogischen Bewegung
`Vom Kinde aus' wie auch diejenigen der `Arbeitsschulpädagogik' und vermutlich auch
diejenigen der `Kunsterziehungsbewegung' fast keine explizit auf Rousseau bezogene
Rezeptionsarbeit betrieben zu haben schienen. Als überwiegend praktische Pädagogen
ließen sie sich wahrscheinlich vom `Zeitgeist der neuen Erziehung' mitreißen und von den
breit diskutierten Ergebnissen der neueren kinderpsychologischen Forschungen in der
Reformierung ihrer praktischen Schularbeit beeinflussen. Entsprechende pädagogische
Tagungen haben Foren des Austauschs geschaffen und Konturen einer Bewegung der
'Neuen Erziehung' mit unterschiedlichen Akzentuierungen abgebildet. Die Einbettung in
historisch-reformtheoretische Kontexte besorgten später die Kompilatoren, Editoren,
Interpreten und Theoretiker der reformpädagogischen Strömungen bzw. die Erfinder der
Reformpädagogik überhaupt. Die Nachzeichnung vieler auf Rousseau zurückgehender
Spuren beruht weniger auf überprüfbaren Belegen und mehr auf Behauptungen, auf
Missverständnissen oder Wunschvorstellungen. Ein bezeichnendes Missverständnis
offenbart sich darin, dass viele Reformpädagogen - symptomatisch bei E. Key, aber auch
bei P. Petersen belegbar - Rousseaus Texte als Rezeptologien zu Instrumentalisieren
suchten und damit den paradoxalen Textbau, die Grundstruktur einer pädagogischen bzw.
politischen Theorie und womöglich Rousseaus Anliegen insgesamt verfehlten. Man muss
demnach feststellen, dass die meisten Vertreterinnen und Vertreter der Reformpädagogik
in
einer
Weise
das
Rousseausche
Werk
rezipiert
haben,
die
weder
philologisch-texthermeneutischen noch historisch-kritischen Standards stand hält. Von
einer expliziten Rousseau-Rezeption kann daher - um dieses bereits erwähnte Defizit noch
einmal herauszustellen - nicht gesprochen werden.
Literatur, Links & Co.:
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2
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60
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www.reformpaedagogik.de
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www.prof-kraft.de
www.ibe.unesco.org