ProPublica – Pia Dangelmayer - International Center for Journalists

Transcription

ProPublica – Pia Dangelmayer - International Center for Journalists
ProPublica – Pia Dangelmayer
41 Stationen, eine Stunde 28 Minuten. So lange dauert es, um von meiner Wohnung
in Crown Heights in Brooklyn in die nördliche Bronx zu kommen. So lange dauert es,
bis ich die Menschen treffe, über die ich seit Wochen Daten sammle, Gerichtsakten
auswerte, recherchiere. 41 Stationen, die meiste Zeit unterirdisch. Die Linie 2 startet
in Brooklyn, fährt quer durch Manhattan, in die Bronx, diesen Stadtteil von New York,
den viele New Yorker nur betreten, wenn sie zu einem Spiel der Yankees fahren. Die
Endstation ist „241st Street“ – zweihunderteinundvierzigste Straße. Grand Central
liegt an der 42sten Straße. Die Bronx ist weit weg – genau deshalb fahre ich dort hin.
Die letzten 18 Stationen fährt die U-Bahn oberirdisch, oder besser: Sie kriecht.
Langsam und quietschend schiebt sich der Zug über die Gleise, unter uns kleine
Häuser, ein Deli neben dem anderen, in der Ferne Hochhausblöcke mit
Sozialwohnungen, NYCHA, wie die New Yorker sagen. Die Bronx von oben ist viel
grüner als erwartet. Friedlich, irgendwie. Irgendwann bin ich die einzige Weiße im
Zug, ich bemerke es und denke gleichzeitig, dass es keine Rolle spielen sollte. Aber
es spielt eine Rolle, das weiß ich spätestens seit unserer Recherche, seit Menschen
auf die Straße gehen und „Black Lives Matter“-Plakate tragen, eigentlich seit immer.
Immer noch.
„241st street“, klingt es aus den Lautsprechern, nur wenige steigen hier noch aus.
Der Zug ist fast leer, der Putztrupp wartet schon am Bahnsteig. In wenigen Minuten
wird die Bahn zurückfahren. Ich bleibe erstmal hier. Seit sieben Wochen arbeite ich
bei ProPublica, einem investigativen Non-Profit-Newsroom, der mit seinen
Recherchen schon zwei Pulitzer Preise gewonnen hat. Sieben Wochen Recherche
sind hier nichts – und genau deshalb wollte ich hierher. Denn die Journalisten bei
ProPublica haben etwas, was in vielen Redaktionen Mangelware ist: Zeit. Hier gibt
es keinen fixen Sendetermin, keinen Andruck. Hier wird die Geschichte veröffentlicht,
wenn sie gut ist. Seit meinem zweiten Tag sitze ich an dieser Recherche – Sarah,
meine Co-Reporterin, arbeitet schon seit einem Jahr an dem Thema. Und noch
wissen wir nicht, dass unser Report dieses Jahr wohl nicht mehr veröffentlicht
werden wird.
ProPublica hat seit kurzem ein neues Zuhause: 155 Avenue of the Americas, im
dreizehnten Stock, eine ganze Etage, hoch über den Dächern von Soho. Aus dem
Sitzungszimmer sieht man das neue One World Trade Center. Die Redaktion musste
umziehen, denn sie erlebt einen seltenen Luxus: sie wächst. Mehr als 50 Mitarbeiter
arbeiten heute in dem Großraumbüro – vor 7 Jahren hat die Redaktion mit weniger
als 20 angefangen. Auf eine Stelle als Fellow bewerben sich 150 junge Journalisten
– und auch ich musste mich noch einem kurzen Bewerbungsgespräch am Telefon
stellen, bevor ich hier anfangen durfte. Chefredakteur Steve Engelberg ist es wichtig,
dass man sehr gut Englisch schreibt und spricht und Spaß an investigativer
Recherche hat. Denn wer hier Fellow ist, wird voll eingespannt.
1 Der Slogan von ProPublica ist „journalism in the public interest“. Der Newsroom, der
2008 gegründet wurde, ist fast ausschließlich spendenfinanziert, das Budget 2013
betrug 10 Millionen Dollar, von denen mehr als 80 Prozent in den Journalismus
fließen. Damit kann man vieles aufdecken. Ein Kern der Recherche ist hier der
Freedom of Information Act (FOIA): Viele Recherchen beruhen nicht auf geheimen
Dokumenten, sondern auf offiziellen Daten, die bisher noch nicht öffentlich waren.
Man merkt schnell, was für ein mächtiges Instrument dieses
Informationsfreiheitsgesetz sein kann.
Kurz bevor ich kam, hat ProPublica eine Datenbank zur Qualität von Chirurgen
veröffentlicht – ein Projekt, für das die Redaktion mehrere Jahre lang
Krankenkassendaten gesammelt und gemeinsam mit Experten ausgewertet hat. Im
Frühjahr haben sie einen großen Bericht über leerstehende Militärbauten in
Afghanistan veröffentlicht und die Verschwendung von Steuergeldern angeprangert.
Im September konnten sie zusammen mit der New York Times eine Recherche zu
den Snowden-Dokumenten und der Rolle von AT&T veröffentlichen, an der die
Kollegen monatelang gearbeitet haben. Alles exklusive, einzigartige Geschichten, die
so noch nicht geschrieben wurden. „Ich glaube, investigativer Journalismus ist die
einzige Chance, um im Journalismus zu überleben“, sagt Steve Engelberg.
„Nachrichten kann man heute fast überall bekommen, aber neue, gut recherchierte
Geschichten, das können nur wir Journalisten.“
Und das zahlt sich aus. Der Etat steigt, ProPublica gewinnt jedes Jahr unzählige
Preise, dieses Jahr sind unter anderem zwei Emmy Awards für eine Kooperation mit
PBS Frontline dazu gekommen. Überhaupt kooperieren die Kollegen sehr häufig: Da
ProPublica selbst nur auf der eigenen Homepage publiziert, werden alle größeren
Recherchen mit Zeitungen, Zeitschriften, dem Radio oder eben dem Fernsehen
veröffentlicht. Zudem können andere Medien fast alle Geschichten kostenlos
übernehmen. Denn es geht den Machern nicht allein um Ruhm und Ehre, sondern
vielmehr um die Wirkung, den „impact“.
Um die Wirkung von Geschichten zu vergrößern, hat ProPublica auch eine Liste
spannender Recherchen anderer Medien auf der Homepage, die so genannten
„MuckReads“. Ist es in Deutschland eher unüblich, auf gute Recherchen anderer
Häuser zu verweisen (gerne heißt es ja nur „nach Medienberichten“), sieht
ProPublica genau darin eine Chance. „Wenn wir andere gute Recherchen
empfehlen, dann zeigen wir dem Leser, was guter Journalismus ist und stärken so
auch unsere eigene Glaubwürdigkeit“, sagt Steve Engelberg. Deshalb kommen auch
regelmäßig Journalisten in die Redaktion und erzählen bei so genannten „Brown
Bags“ (einem Treffen in der Mittagspause, bei dem jeder sein Essen in einer brown
bag mitbringt) von ihren Recherchen. Ich konnte hier Kollegen von der New York
Times und dem New Yorker erleben.
2 Die Redaktion trifft sich regelmäßig abseits der normalen Arbeit: Mal zeigt Bloomberg
eine Einführung in seine Datenbank, mal tauscht man sich bei Pizza über die besten
Geschichten des Jahres aus. Die Stimmung bei ProPublica ist ausgesprochen gut,
die meisten Kollegen sind offen und interessiert. Und auch wenn viele, wie überall in
New York, gerne am Schreibtisch essen: Mit ein bisschen Hartnäckigkeit habe ich es
auch schnell zu gemeinsamen Lunch-Dates geschafft.
Doch New York ist keineswegs nur Arbeit. In welcher anderen Stadt kann man
samstags 30 km durch die Stadt radeln, über extra gesperrte Straßen, durch
berühmte Hochhausschluchten, sonntags einen mehrstündigen Gospel-Gottesdienst
in einem umgebauten alten Theater besuchen und montags zu einem Tanzcontest
gehen, bei dem Vogue-Tänzer jede Woche ab 2 Uhr nachts in einem Club
gegeneinander antreten? Eben, New York. Und genau hier wollte ich hin. Ich habe
als Austauschschülerin schon Michigan erkundet und war in den letzten Jahren als
Reporterin in Iowa, Indiana und Arizona unterwegs. Ich weiß, wie ländliche Regionen
in den USA aussehen – und ich kannte auch New York. Hier aber war ich mir sicher:
In dieser Stadt will ich mal leben. Als ich am ersten Abend mit meiner WG auf der
Dachterrasse stand, vor uns Manhattan im Sonnenuntergang, das Rauschen der
Autos unter uns und über uns der Himmel voller Flugzeuge, da wusste ich: Hier bin
ich richtig.
„You can take the girl out of New York, but you can't take New York out of the girl.“
Ich weiß nicht mehr, wer das gesagt hat, aber es stimmt. Wer diese Stadt in sein
Herz lässt, den lässt sie nicht mehr los. Klar, New York ist riesig, laut, oft schmutzig,
manchmal ruppig, im Sommer zu heiß, im Winter zu kalt, zu teuer sowieso, und das
Armutsgefälle ist riesig. Wenn man aber dort lebt, entdeckt man auch die Faszination
hinter den Touristenattraktionen. Im August habe ich mit meiner Mitbewohnerin der
Band Caribou gelauscht, umsonst, im East River Park, die Sonne spiegelte sich
gegenüber in den Häusern von Brooklyn, wir tanzten. Eine Woche später saß ich mit
Freundinnen auf einem Parkplatz in der Lower East Side: „Shakespeare in the
Parking Lot“. Eine Theaterkompanie spielt gegen Spenden, MacBeth auf dem
Klappstuhl, mit Pizza in der Hand.
Der Sommer ist unglaublich in New York – der erste richtige Regen kam am 10.
September. In einer Stunde ist man am Strand, Coney Island mit verwunschenen
Achterbahnen und Karaoke auf der Promenade, Surfer, Hipster und Hotdog an den
Rockaways oder unendliche Weite am Jones Beach. Eine Freundin und ich haben
die Oyster Happy Hour zur wöchentlichen Tradition gemacht, ich war mit Kollegen
beim Labour Day Barbecue und habe mir von Bekannten die „Vorzüge“ von Google
in New York zeigen lassen (free food! eine Feuerwehrstange zum Runterrutschen!
Lego!). Kurz: Ich war eigentlich jeden Abend nach der Arbeit unterwegs, denn ich
ahnte schon, dass zwei Monate in dieser Stadt zu kurz sein könnten.
3 Ich ahnte nicht, dass ich so viel arbeiten würde. Ich hatte mich bewusst entschieden,
nicht für meinen Heimatsender, den Bayerischen Rundfunk zu arbeiten, und meine
Stammredaktion Report München hat mir diese Freiheit ermöglicht (danke!). Ich
wollte eintauchen, lernen, ankommen – ab dem zweiten Tag war ich dank der guten
Betreuung von Jennifer, die für die Fellows zuständig ist, Teil eines festen Teams bei
ProPublica. Zusammen mit Sarah, meiner Co-Reporterin, und zwei freien
Journalistinnen habe ich recherchiert, wie die Polizei in New York ein Zivilrecht
missbraucht, um Leute aus ihrer Wohnung oder ihrem Geschäft zu schmeißen –
während eine Verurteilung im Strafgericht den Vorwürfen oft nicht standhält. Einzelne
Fälle kannten wir bereits, aber wir wollten die Analyse auf breitere Beine stellen. Das
ist eine ganz typische Herangehensweise bei ProPublica: Nicht nur Einzelfälle
sammeln und den Experten einordnen lassen, sondern selbst die Makroebene
erschließen – hier wird Journalismus schon fast zur Wissenschaft.
Wir haben insgesamt Gerichtsakten zu 1162 Fällen analysiert. Das hieß für mich fast
vier Wochen lang täglich vor dem Computer sitzen, jede Akte einzeln durchschauen,
die wichtigsten Daten in eine Excel-Tabelle eintragen, bis zu 60 Fälle am Tag. Ich
saß im Büro oder im Supreme Court in Queens oder Brooklyn, je nachdem, wie die
Akten zugänglich waren. Man lernt dabei nicht nur viel über das amerikanische
Rechtssystem, sondern auch über Datenschutz: Fast alle Akten waren öffentlich,
nicht geschwärzt, und voller Details: Name, Adresse, Telefonnummer, Hautfarbe, ja
sogar Sozialversicherungsnummer. Und wenn in der Akte mal eine Lücke ist, helfen
Datenbanken weiter – hier gibt es zusätzlich sogar Angaben zu Krediten oder zur
Registrierung im Wählerverzeichnis. Das erleichtert die Fallrecherche ungemein,
wäre in Deutschland aber unvorstellbar. Zum Glück.
Im zweiten Monat haben wir dann die Tabellen gereinigt, ausgewertet, in Karten
übertragen (ich muss und kann noch sehr viel lernen), Thesen erstellt und mit dem
Reporting begonnen: Ich konnte endlich raus „ins Feld“. Zusammen mit einem
jungen Fotografen aus der Bronx war ich mehrere Tage dort unterwegs, bin von Deli
zu Deli, von Liquor Store zu Imbiss, um ein Gesicht zu den Akten zu bekommen, um
die andere Seite der Fälle zu hören. Nach wochenlanger Recherche vor dem
Rechner habe ich diese Zeit noch mehr genossen. Meine Recherchen und die
Reportagen, die ich daraus geschrieben habe, werden Teil des Reports, der
kommendes Jahr erscheinen soll.
Zwischendrin habe ich noch eine Analyse der besten Artikel über die Flüchtlingskrise
in Europa geschrieben. Das Thema hat anfangs in den USA – und vor allem auf der
Homepage von ProPublica – noch keine große Rolle gespielt, ganz anders als in
Deutschland. Und hier war meine Chance. Die Redaktion hatte dann die Idee, auch
den wöchentlichen Podcast dem Thema Flüchtlinge zu widmen. Dass ich am
Mikrofon spreche, obwohl Englisch nicht meine Muttersprache ist, war für alle
selbstverständlich, und so durfte ich mit dem Kollegen Sebastian Rotella die aktuelle
Flüchtlingspolitik analysieren und ein klein wenig meine Rundfunk-Erfahrung bei
ProPublica einbringen.
4 Was bleibt nach zwei Monaten Arthur Burns Fellowship? Die Erkenntnis, dass zwei
Monate immer zu kurz sind. Und dass ich alles noch einmal genauso machen würde.
Ich habe den Sonnenuntergang im Outdoor-Kino, auf der Dachterrasse oder auf der
Brooklyn Bridge genossen. Ich habe viel über Datenrecherche gelernt, habe abseits
der Touristenströme recherchiert und sonntags unter freiem Himmel getanzt. Wer
täglich einen Artikel schreiben will, ist hier falsch. Wer das amerikanische Leben an
sich kennenlernen will, auch. Denn New York ist nicht ganz Amerika – aber vielleicht
mit das Beste davon. Und wer spannenden Journalismus mit beeindruckenden
Journalisten machen will, ist hier genau richtig. Wir haben gut zusammengearbeitet
und wollen das, wenn möglich, auch in Zukunft fortsetzen.
Und es bleiben 20 wunderbare andere Fellows, die zum Teil New York mit mir
unsicher gemacht haben. Die immer noch mein Handy vibrieren lassen und mich
meistens zum Lachen bringen. Erinnerungen an Drinks über den Dächern
Washingtons, House of Cards-Atmosphäre im Capitol, Karaoke-Klänge in Airlie.
Danke, Arthur F. Burns. Können wir nächstes Jahr noch einmal mit?
5