Er verleiht Dichtern Flügel und verhüllt die Welt mit

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Er verleiht Dichtern Flügel und verhüllt die Welt mit
Wissen
Zauber in Grau
Er verleiht Dichtern Flügel und verhüllt die Welt mit seinem Zauber.
Doch was ist das, Nebel? Und was hat die alte
Wetterhexe damit zu tun? Wir lüften den Schleier.
Text Susanne Rothenbacher
Foto: Corbis
Friedrich Wilhelm Güll, 1812 – 1879
Schweizer Familie 45/2012
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Wissen
Foto: Topic Media
Matthias Claudius, 1740 – 1815
Schweizer Familie 45/2012
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Wie eine Daunendecke legt sich der Nebel übers Land.
Fotos: bab.ch/Mauritius Imagess, bab.ch/Blickwinkel
Hermann Hesse, 1877 – 1962
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Schweizer Familie 45/2012
V
or über hundert Jahren schrieb
Hermann Hesse das Gedicht
«Im Nebel». Wer die Zeilen an
einem Novembertag liest, an
dem der Himmel tief und grau über der
Landschaft hängt und alle Farben verwischt, dem schleicht sich eine Schwere
ins Herz. Fast könnte man einverstanden
sein mit dem Schriftsteller, wenn er das
Gedicht in der tristen Erkenntnis gipfeln
lässt: «Leben ist Einsamsein. Kein Mensch
kennt den andern, jeder ist allein.»
In unzähligen Gedichten muss der Nebel als Metapher für Melancholie herhalten. Krimi-Autoren wiederum lassen es
nebeln, um das Unheimliche zu betonen.
Die Liste von Krimis voller Nebel ist lang:
Es gibt die «Jagd im Nebel» von Graham
Greene, den «Nebel über dem Hafen» von
Georges Simenon, und auch der «Mord
im Nebel» fehlt nicht. Der schauerlichste
aller Nebel aber kriecht durch John Carpenters Horrorfilmklassiker «Nebel des
Grauens»: Der Streifen, 1980 gedreht, lässt
einem auch heute noch die Haare im Nacken aufstehen.
Tatsächlich zementiert die Kunst den
schlechten Ruf des Nebels. «Es gibt kaum
Beispiele aus Film und Literatur, die den
Nebel positiv darstellen», bestätigt Werner
Eugster. Der 48-jährige Geograf bildet an
der ETH in Zürich Agronomen und Umweltwissenschafter aus. Nebenbei gehört
er zu den weltweit etwa 150 Wissenschaftern, die den Nebel erforschen. Nebel
­bereichert sein Leben nicht nur beruflich
– Werner Eugster betreute schon For- 
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Wissen
Schlafen ist sinnlich.
Spüren Sie den Unterschied?
Nebel ist eine Wolke, welche die Erde berührt.
mindestens zehn- bis hundertmal grösser
als Nebeltröpfchen, deren Durchmesser
geringer als derjenige eines Menschenhaares ist. «Weil Nebeltröpfchen so klein
sind, bleiben sie in der Luft schweben und
fallen nur äusserst langsam auf den Boden», erklärt Eugster. Verregnet wird man
auf einem Nebelspaziergang also nicht –
es legt sich höchstens eine feine Fisselschicht auf Kleider und Gesicht.
Werner Eugster leitet seine Vorlesungen gern mit dem Gedicht «Wenn die Nebelfrau kocht» von Hanna Hanisch ein,
weil es, wie er findet, wunderbar erklärt,
wie Nebel entsteht:
Fotos: plainpicture, ddp images/dapd
Erich Kästner, 1899 – 1974
schungsprojekte in den Nebelwäldern von
Mittelamerika –, sondern auch in der
Freizeit: «Als Orientierungsläufer be­
­
trachte ich Nebel als Herausforderung:­
Im N
­ ebel zeigt sich, wie gut man im Kartenlesen ist.»
Wenn die Nebelfrau kocht
Höchste Zeit also für eine Ehrenrettung
des Nebels. Wobei es nicht ganz einfach
ist, etwas zu fassen, was nicht zu fassen ist.
So haftet bereits dem Versuch, zu bestimmen, was Nebel ist, etwas Verschwommenes an. «Nebel ist eine Wolke, welche die
Erdoberfläche berührt und in der die Sicht
unter 1000 Metern liegt», sagt Eugster.
Wenn – wie in diesen Tagen – über dem
Mittelland eine dicke graue Suppe liegt,
dann ist das also streng genommen kein
Nebel, sondern Hochnebel. Immerhin beträgt die Sicht unter dem Hoch­nebel mehr
als 1000 Meter. Steigt man dann auf die
Rigi und blickt auf das N
­ ebelmeer hinunter, ist dieses eine Schichtwolke: «Wir
haben drei verschiedene ­Begriffe – Nebel,
Hochnebel und Schichtwolke – für dieselben Wassertröpfchen, die sich wie Zuckerwatte über dem Tal ausbreiten.»
Damit sich die Wassertröpfchen bilden
können, braucht es sogenannte Kondensationskeime, also winzige Staubpartikel,
die in der Luft schweben. Genauso entstehen auch Regentropfen – nur sind diese
Wer hockt hinterm Berge,
verhutzelt und grau?
Die alte Hexe,
die Nebelfrau.
Sie schöpft aus der Pfütze,
kocht graudicke Grütze.
Mischt Wasser mit Luft,
mengt Sonne mit Tau.
Das gibt eine Suppe!
Das gibt ein Gebrau!
Ein Löffel Warm,
zwei Handvoll Kalt –
schon brodelt’s am Berge.
Schon dampft es im Wald.
Eine Prise Wind,
halb kalt, halb lau. –
Hihi, so schmeckt es der Nebelfrau.
Die Grütze blubbert,
steigt über den Rand.
Hu, was für ein Nebel!
Verschwunden das Land.
«Ein Löffel Warm, zwei Handvoll Kalt»
– das entspricht unserer herbstlichen
Wetterlage, wenn die Luft über Nacht bis
zum Taupunkt abkühlt. Und weil kalte
Luft schwerer ist als warme, sinkt sie zu
Boden: «Deshalb sammelt sich Nebel stets
am tiefsten Punkt eines Tals.» Da das
Schweizer Mittelland im Grunde nichts
anderes als ein grosser Talkessel ist, mit
vielen Seen und Flüssen, die für genug
Feuchtigkeit sorgen, erstaunt es nicht,
dass es sich im Herbst mit Nebel füllt.
Eine Rechnung mit 13 Unbekannten
Es ist so sicher wie das Amen in der Kirche, dass der Herbstnebel übers Land fällt.
Dennoch bekommen ihn auch die Meteorologen nur schlecht zu fassen. Deshalb
sind sie bei der Vorhersage von Nebel äusserst zurückhaltend. «Wetterprognosen
werden mit Hilfe von Modellrechnungen
erstellt», erklärt der Berner Geograf Ralph
Rickli, 56, der sich seit über 30 Jahren mit
Meteorologie befasst und das Wetter vorhersagt. «Ein Modell ist immer eine Vereinfachung. Deshalb geht in der Meteo­
rologie auch der Spruch um, dass im
Grund alle Modelle falsch, aber einige
ganz nützlich sind.»
Um das Wetter für mehrere Tage vorhersagen zu können, müssen die Rechenmodelle den globalen Wasserkreislauf
realitätsnah abbilden, erklärt Ralph Rickli.
«Was überaus komplex ist.» Immerhin
müssen dafür 13 Grössenordnungen berechnet werden – von grossen Luftwellen
über winzige Kondensationskeime in der 
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Wissen
Ein Teil von
«Weil Nebeltröpfchen so klein sind,
bleiben sie in der Luft schweben und fallen
nur ­äusserst langsam auf den Boden.»
Werner Eugster, Geograf
Foto: zvg
Atmosphäre bis zur Temperatur und
Feuchtigkeit der verschiedenen Luftschichten. Das ist einer der Gründe, weshalb es so schwierig ist, zu erkennen, ob es
am nächsten Tag Nebel haben wird oder
nicht, wie hoch er liegt – und ob er beispielsweise im Rheintal bis Chur oder nur
bis Buchs reicht.
Mammutbäume trinken Nebel
Wer glaubt, das Schweizer Mittelland sei
das grösste Nebelloch der Welt, der
täuscht sich. «Am nebligsten ist es in der
Stadt St. John’s im kanadischen Neufundland, aber auch San Francisco ist für seine
Nebelhäufigkeit bekannt», sagt Werner
Eugster. Nebel ist ein weltweites Phänomen und wird rund um den Globus erforscht. Und während wir über den Nebel
jammern, wird er in andern Ecken der
Welt als Lebensspender begrüsst. «Mittlerweile gibt es in Südamerika, in afrikanischen Wüsten und in Nepal zahlreiche
Projekte, bei denen aus Nebel Trinkwasser
gewonnen wird», sagt Werner Eugster.
Dazu werden riesige Netze aufgestellt, in
deren Maschen die Nebeltröpfchen hängen bleiben. Mit einem 40 Quadratmeter
grossen Netz können auf diese Weise bis
zu 200 Liter Wasser pro Tag gesammelt
werden.
In seinen eigenen Forschungen hat
sich Werner Eugster damit auseinandergesetzt, wie viele Schadstoffe der Nebel
enthält. Dafür sammelte er am östlichsten
Ausläufer des Faltenjuras Nebel und kam
zum Schluss: «In einem Nebeltröpfchen
sind Substanzen wie Stickstoff viel stärker
konzentriert als in einem Regentropfen.»
Deshalb sei es nicht empfehlenswert, in
der Nähe von Grossstädten Trinkwasser
aus Nebel zu sammeln: «Der Nitratgehalt
ist zu hoch.»
Für Bäume aber taugt Nebelwasser allemal. So nutzte im spanischen Valencia
eine Gruppe von Wissenschaftern die Nebelnetze, um einen vom Feuer verheerten
Gebirgszug wieder aufzuforsten. «Ohne
die Nebelnetze hätten die Baumsetzlinge
in den ersten Jahren künstlich bewässert
werden müssen», sagt Eugster.
In Spanien mussten die Nebeltröpfchen aus der Luft gefischt werden, weil
Bäume Wasser – und auch Nährstoffe –
vor allem über die Wurzeln aufnehmen.
Eine Baumart jedoch kann «Nebel trinken»: Von den Mammutbäumen, die an
der Küste Kaliforniens wachsen, weiss
man, dass sie in der Trockenzeit einen
grossen Teil ihres Wasserbedarfs direkt
aus dem Nebel gewinnen. Ob das die Bäume in den berühmten tropischen Nebelwäldern ebenfalls können, ist bis heute
umstritten. «Für die Epiphyten aber, die
Pflanzen, die auf den Bäumen wachsen, ist
der Nebel wichtig.»
Bestes vom
Schweizer Bauernhof.
Und den Wein versüsst er auch
Auch hierzulande tut der Nebel der Natur
Gutes. Wie eine Daunendecke legt er sich
über die Herbstlandschaft und verhindert,
dass sich der Boden zu früh zu schnell abkühlt. «Für die Landwirtschaft ist das sehr
wichtig: Gefriert der Boden, können die
Winterkulturen nicht mehr wachsen», erklärt Werner Eugster. Zudem mögen die
Pflanzen das diffuse Licht, das der Nebel
schafft: «Im Nebel betreiben sie deutlich
effizienter Fotosynthese als bei starkem
Sonnenschein.»
Ebenso düngt Nebel die Pflanzen:
«Weil sich die Nebeltröpfchen mit allem,
was sie enthalten, wie ein Film auf die
Blätter legen, können diese Substanzen
wie Stickstoff direkt aufnehmen.» Im
Obstbau wiederum nebeln die Bauern die
Bäume ein, um sie vor frühem oder spätem Frost zu schützen: «Es klingt zwar
paradox, aber es funktioniert: Die Eisschicht, die sich bildet, verhindert, dass
der Stamm gefriert.»
Dass hingegen die Menschen kaum je
Gutes im Nebel sehen, wertet der Psychoanalytiker Peter Schneider, 55, eher als
soziales denn als psychologisches Pro­
blem: «Es gehört zum guten Ton, ge­
meinsam über das trübe Grau zu klagen.»
Oft übersehen wir dabei, «dass es diese 
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Kleine Wetterkunde
Conrad Ferdinand Meyer, 1825 –1898
melancholische Herbststimmung braucht,
damit wir uns auf den Frühling freuen
können».
Nebel nimmt den Dingen die Konturen, dämpft die Geräusche; Nebel verzaubert die Welt. Anstatt zu jammern, sollten
wir tun, was uns der Nebel nahelegt: uns
aus der klammen Feuchte in die warme
Stube zurückziehen, ein Feuer anzünden
und eine Flasche Wein öffnen – am besten einen Edelsüssen, der nur gekeltert
werden kann, wenn sich in den letzten
Tagen vor der Ernte noch ein wenig Nebel
über die reifen Trauben legt und einen
Pilz ­
namens Edelfäule spriessen lässt.
Und vielleicht finden wir jetzt sogar die
Musse, ein Gedicht zu lesen – beispielsweise den «Novembertag» von Christian
Morgenstern:
Nebel hängt wie Rauch ums Haus,
drängt die Welt nach innen;
ohne Not geht niemand aus;
alles fällt in Sinnen.
Leiser wird die Hand, der Mund,
stiller die Gebärde.
Heimlich, wie auf Meeresgrund
Träumen Mensch und Erde.
■
Dunst: Die Sichtweite ist zwar weiter als
1000 Meter, aber winzige Partikel trüben die Sicht. Das können Wassertröpfchen oder auch trockene Aerosole sein.
Nebel: Eine Wolke, die den Boden
berührt. Die Sichtweite im Nebel beträgt weniger als 1000 Meter.
Reif: Damit Reif entstehen kann,
braucht es Minustemperaturen. Reif
sind Nebel- oder Regentröpfchen, die
auf den Pflanzen gefrieren.
Raureif: Ist Reif, der dem Wind entgegenwächst. Die schönsten Raureif-Strukturen bilden sich an der Nebelobergrenzen. Dort hat es mehr Turbulenzen in
der Luft als an der Untergrenze.
Tau: Wenn Wasserdampf auf eine
kalte Oberfläche trifft, kondensiert das
Wasser, und es bildet sich Tau.
Wolken: Der wesentliche Unterschied
zwischen Wolken und Nebel ist, dass
die Wassertröpfchen in den Wolken
viel grösser sind.
www.sf.tv/sfmeteo/wetterlexikon.php
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