DAS MUSICAL
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DAS MUSICAL
DAS MUSICAL kann als die musikali sche Antwort Amerikas auf die aus Europa importierte Operette angesehen we rden. Es ist nicht möglich, den Begriff »Musical« präzise zu definieren, da sich das Genre ständig ändert und in einer möglic hst hanmoni schen Synthese von Stoff, Text, Musik, Darstellung, Tanz und Ausstattung den jeweils aktuell en Trends der Zeit zu entsprechen sucht. Ein Musical läuft meist viele Monate, oft auch viele Jahre lang und fo rdert Spitzenleistungen von allen Mitwirkenden; Voraussetzungen dafür sind freilich auch ein entsprechendes Topmanagement sowie die perfekte Beherrschung des gesamten Theaterapparates. Showbusiness - das große Geschäft mi t der Kunst - ist die Zauberfonmel, mit der die Bühnen am New Yorker Broadway die Menschen, nicht nur in den USA, seit mehr als hundert Jahren begeistern. Die drei Bestandtei le des Musicals sind : das Buch, das Libretto und die Musik. Die wichtigste Voraussetzung zur Entstehung ei nes Musicals ist das Buch, das häufig einen historischen Stoff behandelt. Der Produzent hat die Aufgabe, Geldgeber zu finden, die das Vorhaben finanzieren; er engagiert die Autoren für das Libretto und die Musik, die Stars und den Regisseur. Der Librettist hat die Aufgabe, das Buch "musicalgerecht" zu überarbeiten. Er muss dabei berücksichtigen, was jedes Musical verlangt: Gefü hl und Spannung, Humor, Liebesbeziehungen und ablenkende Nebenhandlungen. Das gilt auch für den Komponisten. Die Melodien sollen so schmissig sein, dass sie zu Schlagern werden. Auch der Komponist muss sich an bestimmte Regeln halten, die für jedes Musical gelten: Es müssen bestimmte Lied- und Musikformen vorkommen, die für melodische und rhythmi sche Vielfalt sorgen. Einige charakteristische Liedformen: 1. Der Song Das ist der schön polierte Schlager, der sofort ins Ohr geht, den der Zuhörer mitsingen zu können glaubt. Inhaltl ich ist er von geringer Bedeutung, weil in ihm nur zusätzlich illustri ert wird, was bereits geschehen ist. 2. Die Ballade Sie ist meistens ein inniges Liebeslied, in dem Heid in und/oder Held ihr Gefüh l beschre iben, allein oder im Duett. Die Form der Ballade wird ebenfalls dann gewählt, wenn HeIdi n oder Held ein Selbstgespräch fUhren, um sich mit ihrem bisherigen Leben ause inander zu setzen. Die Ball ade ist auch gesungenes Erzählen ei ner Geschichte. 3. Die Rhythmusnummcr (Rhythm Song) Rhythmus signalisiert Dramatik. Mit dieser Fonn des Songs wird die Handlung vorangetrieben, sie gibt der Show neues Tempo. 4. Das komische Lied (Comedy Song) Der Comedy Song hat entspannende Funktion; er ist ein bel iebtes Mittel, den Personen der Nebenhandlung etwas mehr Aufmerksamkeit zu widmen. Es gibt zwei Fonnen des Comedy Songs - in der einen wird die Pointe sorgfaltig vorbereitet, in der anderen geht es Schlag auf Schlag. Je nach Komik des Songs wird der Refrain so platziert. dass dem Publikum durch sein Lachen kein Witz entgeht. S. Der nette Song (Charm Song) Er soll das Publikum verzaubern, soll handelnde Personen sympathischer werden lassen. Er ist trefflich gee ignet, besonders wichtige Charakterzüge von Heid in und Held herauszustellen. Musik und Text sind geschickt ausbalanciert - sanft, optim istisch, gef<iIl ig, lieb. 6. Die musikalische Szene (Musical Scene) Eine solche Sequenz, die je nach Stück dramatisch, komisch, lyrisch oder poetisch sein kann, ist das Herzstück eines Musicals. Über einen längeren Zeitraum wird die Handlung weitergefLIhrt, fast opemhaft. In fruheren Zeiten war die Musical Scene fast aussch li eßlich Aktschlüssen vorbehalten. Lileralurhinweis: Joachim SonderhofTlPeter Weck, "Musical", Georg Westennann Verlag, Braunschwcig, 1986 213 Eine Straße in New York; der Librettist Arthur Laurents gestaltete diese Szene, in der einander die beiden "Streetgangs", die Jets und die Sharks, feindlich gegenüberstehen, in Entsprechung der ersten Szene von Shakespeares "Romeo und Julia", in der die verfeindeten Familien in einem Fechtkampfaneinander geraten. West Side Story Die "West Side Story" ist ein außergewöhnlich erfolgreiches Musical nach dem Buch von Arthur Laurents, den Songtexten von Stephen Sondheim und der .Musik von Leonard Bernstein. Die Uraufführung fand am 26. 9. 1957 im Winter Garden Theatre in New York statt. Die deutschsprachige Erstaufführung war am 25. 2. 1968 in Wien. Schon am Ende der 40er-Jahre hatte der Choreograph Jerome Robbins die Idee, aus Shakespeares "Romeo und Julia" eine Liebesgeschichte des 20. Jh. zu machen. Der Autor des Buches, Arthur Laurents, machte " Romeo" schließlich unter dem Namen Tony zum AnfUhrer einer berüch tigten "Streetgang" (Straßenbande), der Jets, die sich ganz als "eingesessene" Amerikaner fühlen. "Julia" wird unter dem Namen Maria als eben erst eingewandertes Mädchen aus Puerto Rico geschildert, dessen Bruder Bernardo die Sharks anführt. Diese ebenso gefahrliche Gang versuc ht den Jets die Macht in West-Manhattan zu entreißen. Bei einem Fest lernt Tony (Romeo) Maria (Julia) kennen und verliebt sich augenblicklich in sie. Vgl. die Szenen bei Shakespeare und im Musical: Romeo und J ulia 1. Akt, 5. Szene West Side Story 1. Akt, 4. Szene Ein Saal im Hause Capulet Das Fest ist in vollem Gange. Romeo erblickt Julia und ist ihr sofort verfa llen. Tybalt, Julias Cousin, erkennt den maskierten Romeo und fordert ihn - Graf Capulet gre ift ein. Auch Julia hat sich in Romeo verliebt. Eine Turnhalle Bei einem wilden Tanzfest trifft Tony auf Maria. Die bei den erleben das Wunder der spontanen Zuneigung. Das ärgert Bernardo; er schickt Maria in Begleitung von Chino (flir den er Maria aus Puerto Rico hat kommen lassen, damit er sie heirate) nach Hause. Die Jets und Sharks beschließen, nach dem Fest in Doc's Drugstore einen Kriegsrat abzuhalten. Tony aber interessiert sich nur mehr für Maria. 214 Das Bild ze igL den ausgelassenen Tan z der Puertorican erinnen be im Fest, das dem im Hause der Ca pu lets entspricht. Das Liebespaar lernt sich kennen. Bühnenverlage Sikorski KG., Hamburg HB 92a: "Maria" ry "b,I,(" Ma · n a I Slowly and freely 3 Iv p~ ...- Thc most bcau I.i fulsound I ---=-./':\ r,' Slowly 3 ...- r.I r.I p ~ : -::---- -#- ~ • I~ . Iv ~3---, ev-: heard: ~o ------ M, ri - a, Ma-ri ~3~ a, Ma ri-a, Ma- ri - a , • r - 3---, ~ 3 ---, r- 3-. r - 3 --, A ll thebeau-ti-ful soundsofthcworldin a , I J.. ~t-__ ~ .J i - .J- .J Refrain erese. I '" . ... 8 sm - g1e word: Ma ." ri · a. ~ 3 ---, Ma · ri - a. Ma Ti . a, ~ ., I" ------ . I hc~e:- -hn rall . .-- 3 ---, ~ 9 --, ~ M, ri . a, M, ri -. -.,., , ~9 ,. rall. ,-9- • j/ if m Ma · ri - a. M, " ~oderalely ~wannly ) 3- .; mf .-9 - 215 ,. ~ r-- J ----, 3~ ~'# I~ . ri - a juS! met a J'vc ,.*~ I~l!: I~C'. I. " 3- : I , ]' f --+ -.., -.J. , ., ,. H mo. nev - er bc Ihe same to - +f Ma ri - a , 1\ And ,/ ---- I I., .., sud-den-ly I've found how . ::--- - won-der-ful -I- -*' , "-. ' J ~ girl named Ma · jusl kisscd a -- I J .., =t ~ M,· "'- asound can ~ : I I I mf ~ . • I -i mf ! I'vc - ri-a ~ f -.- -::) ,. * Y ~ ... AU. I~ will sud-dcn-ly !hat name ~ I '~' . A,d ri - a girl namcd Ma ~_ 3 ~ f ~ I --' - _,"_no IY ~ ri - a ., p , , .' loud and therc 's mu- sie 5ay it ,. H play-ing. : - '" - , : soft and it's i-{-' ~ a1 - most " I~ , , ,.ti 11 " 1 , : r Ma - --------- ci - a , 1'11 Tenderly 'I P J -.Je -=.f - ,- n . a. 1";\ PP[> _ .. " nev-er stop say-ing:"Ma 1";\ ~3~ .'~ I~ F Ifo'. 216 likc I -{ ~ 'M, pray-ing ~ : I 'I" it - 3- ' S" r ~ 3 -. ~ 1"/",:\ ri - a I : r ,; 1 J~ ~ I" ..;.. In der nächsten Szene gesteht Tony Mafia seine Liebe; auch flif diese Szene lieferte Shakespeare die direkte " Vorlage" : Romeo und Julia 2. Akt, 2. Szene Balkon in Capulels Garten Romeo erklärt Julia seine ewige Liebe. Sie beschließen einander zu heiraten. Die Amme holt Julia ins Zimmer zurück. West Side Story I. Akt, 5. Szene Dunkle Seitenstraße Tony besingt seine Mafia; sie lauscht ihm auf einer Feuerleiter sitzend. Die bei den verabreden sich für den nächsten Tag am Hintereingang eines Brautmodengeschäftes. Marias Mutter ruft sie ins Zimmer zurück. Maria Heut Nacht, heut Nacht Ich sah dich heute Nacht, Ich sah dich, und die Erde blieb stehn! Heut Nacht, heut Nacht Es gibt nur eins heut Nacht Was du bist - was du tust - dich zu sehn ... Bei Tag, da ahnte ich ein Wunder, und nun hat diese Stunde Das Wunder wahr gemacht. Gib acht, gib acht: Die Erde, die uns trug, ward ein Stern Heut Nacht! Tonight, tonight, It all began tonight, I saw you and the world went away. Tonight, tonight, There's ooly you tonight, What you are, what you da, wh at you say. Today, all day I had the feeling A miracle would happen. I know now I was right. For hefe you are, And what was just a world is a star Tonight! Beide Heut Nacht, heut Nacht Wie licht der Himmel lacht Von hunderttausend Sternen erhellt ... Heut Nacht, heut NachtWer hat den Glanz gebracht? Fliegt ein Stern, ein Komet, durch die Welt? Bei Tag war unsre Erde trübe, Sie schlief so grau und müde, Doch nun ist sie erwacht ... Hast du's gemacht? Die Erde, die uns trug, ward ein Stern Heut Nacht! (Sie laissen sich. Maria geht hinein.) 80th Tonight, tonight, The world is full of light, With suns and moons aB over the place. Tonight, tonight, The world is wi ld and bright. Going mad, shooting sparks into space. Today the world was just an address, A place for me to live in, No better than all right, But here you are And what was just a world is a star Tonight! (They kiss. Maria goes inside.) Maria Unmittelbar an die "Balkonszene" sch ließt die Beschreibung des puertoricanischen Alltags an; neben der überaus schmissigen Musik, die durch den Wechsel des 3/4- und des 6/8- Taktes geprägt ist, spielen die humoristisch-ironischen Texte, die den unzu- länglichen technischen Entwicklungsstand in Puerto Rico charakterisieren, eine ebenso wichtige Rolle wie der gestaltende Vortrag, in dem die mangelhafte Aussprache des (amerikanischen) Englisch ein z usätzliches komisches Element bildet. 217 HB 92c: "I Like to Be in America" Diese witzige Nummer gehört ins Fach des (rhythmischen) "Comedy Songs". Während des wiederkehrenden Refrains hat das Publikum Gelegenheit, über die zuvor servierte Pointe zu lachen oder zu schmunzeln. Im Refrain werden die Verhältnisse in den USA dargestel lt, während das jeweils unmittelbar anschließende Couplet die Missstände in Puerto Rico schildert. Piil mosso > > > .'-------11 »> rh. ====> > > i~ ~ • Lightly mp + ". ca, 10) i, in 3. Im - mi - grant goe.s 10 4. I like the shores of I. I likc 10 be 2. Au - to - mo-bilc A A A A m" mcr m" LA ic:. " ~' , , - 3. No-bod-y knows in 4. Knobs on u" doors in A A - mcr m" mer mer - i, in A A i, in A A m" oa. -J- I -w ~' ......". mcr m" mcr ~':'~':'~- --== i i i i ~ 218 mc sieel -los yours - I : ~. A A by um hel is ~~~ j , I. Ev -'ry - thing [ = in 2. Wi - re spake wh:!el in 1,0) 1 I ~ ~~ ~~ , 10) ". 1--~1 A ". m" o -kay Chro-mi Man- y Com-fon - ". ". ". ". 1>5- - , ,m,," [oe Ver - y big doal Ri - co's Puer - to W.rr to wall floors Fo< I ~:J:~ f- ~ in i, A A mer - i mer _ i in A A mer - i mer _ I in .. ~ ~ ~ ca! ca! - ,~ ca! V ~ if f 11.-3. 114. [1_-3- <l I. 2. I like "li Ih, dri"" , cit Su I will '0 3. 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Maria Und mache Jahr um Jahr Maria Make of our hfes one Iife, Unser Gelöbnis wahr - Day after day, one life. Beide Wir sind vom heutigen Tag Both Now it begins, now we start One hand. one heart; Even death won 't part us now. Ein Herz - ein Schlag Ewig, bis zum Jüngsten Tag. Obwohl Tony Maria versprochen hat, die Konflikte zwischen den Jets und den Sharks zu be enden, kommt es zur blutigen Auseinandersetzung, bei der Tony schließlich Marias Bruder Bernardo ersticht. Nach dem Ende des 1. Aktes ist die Frage nach der Weiterführung der Liebesbeziehung völlig offen; die Sharks wollen Bernardos Tod rächen, Maria aber hält zu Tony. Beide träumen von Versöhnung zwischen den Gangs. Die Rivalitäten gehen aber weiter, Tony wird die falsche Nachricht hinterbracht, Maria wäre von ihrem ehemaligen Liebhaber Chino umgebracht worden. Er sucht den vermeintlichen Mörder in den mitternächtlichen Straße New Yorks und trifft plötzlich Maria, die nach ihm gesucht hat. Das Glück der Begegnung ist kurz; aus dem Schatten eines Hauses tritt Chino und erschießt Tony. Nach dem sinnlosen und tragischen Mord reichen einander die verfeindeten Parteien über dem Toten hinweg die Hand. Auch diese Szene entspricht genau dem Vorbild in Shakespeares Drama, wo es auf dem Friedhof zur Versöhnung der Montagues und der Capulets kommt. Auf einer nächtlichen Straße findet Maria ihren ermordeten Bruder. Ähnlich wie bei Shakespeare ist dieser tragische Ausgang Resultat einer Kette von Missverständnissen. 220