Virginitätsbescheinigung und Hymenrekonstruktion
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Virginitätsbescheinigung und Hymenrekonstruktion
Wissenschaftliche Sitzung der GGGB 21.Oktober 2015 / Berlin Virginitätsbescheinigung und Hymenrekonstruktion - ärztliche Hilfeleistung oder Grenzüberschreitung Sibil Tschudin © Annegret Soltau Gyn. Sozialmedizin & Psychosomatik Frauenklinik Fallvignette 1 – Bahar 1 Teil 1 Die 15-jährige, in der Schweiz geborene B. mit türkischer Abstammung kommt 2003 in Begleitung ihrer Mutter. Diese wünscht eine Untersuchung auf Jungfräulichkeit hin, nachdem die Tochter eine Nacht lang mit ihrem Freund unterwegs war. B. ist mit einer solchen Untersuchung einverstanden. Es zeigt sich ein unauffälliges äusseres Genitale mit intaktem Hymen. Fallvignette 1 – Bahar 1 Teil 2 Die 17-jährige B. wird uns 2005 von der Kinderklinik zugewiesen bei positivem Schwangerschaftstest. Kindsvater ist ein 19-jähriger Türke, mit dem sie seit 3 Jahren befreundet ist. Es besteht eine SS in der 15. SSW. 6 Monate zuvor war ein türkisches Paar auf B.s Eltern zugekommen und wollte seinen Sohn mit B. verheiraten. B. und ihre Eltern lehnten ab. Kurz darauf wurde B. in die Türkei verschleppt, dort misshandelt und vergewaltigt. B.s Eltern reisten nach und willigten schliesslich auf massiven Druck hin in die Heirat ein. B. kam dann mit ihren Eltern in die Schweiz zurück. Aus Angst vor Repressionen seitens der Eltern und Schwiegereltern wünscht B. die Apruptio. Nach Indikationsstellung erfolgt die Abortinduktion. Fallvignette 1 – Bahar 1 Teil 3 Zur Verhütung erfolgt eine Implanon-Einlage B. wird bis 2009 bei uns in der Abteilung für Gyn. Sozialmedizin und Psychosomatik betreut, zwischendurch stellt sie sich auch auf unserer Notfallstation vor Nach Ablauf der 3-jährigen Liegedauer wird das Implanon im April 2009 entfernt. B. entscheidet sich für das Evra-Pflaster zur weiteren Verhütung B. gibt zu diesem Zeitpunkt bekannt, dass sie mittlerweile geschieden ist und plant im Herbst zu heiraten. Fallvignette – Bahar 2 Fallvignette – Bahar 2 Fallvignetten – Bahar 1 + 2 Virginitätsnachweis Zwangsheirat unerwünschte Schwangerschaft Hymenrekonstruktion Mythos Jungfräulichkeit Verlust der Jungfräulichkeit Jungfräulichkeits-Kult Jungfräulichkeitsnachweis Female employees at Medical Legal Institute (MLI) in Baghdad check the equipment in the room where virginity tests are performed on June 28, 2012. Iraqi women face court-ordered virginity tests that often show they were virgins until marriage but shame them nonetheless. (ALI AL-SAADI/AFP/Getty Images) Jungfräulichkeit als Voraussetzung für die Ehe Wiederherstellung der Jungfräulichkeit French Muslim women are seen in Clichy-sousBois, near Paris April 22, 2007. A ''hymenoplasty'' - an operation that re-sews the hymen - is increasingly popular among young women of North African descent in France. Credit: Reuters/ Victor Tonelli "Many of my patients are caught between two worlds," said Dr. Abecassis. They have had sex already but are expected to be virgins at marriage according to a custom that he called "cultural and traditional, with enormous family pressure". Wiederherstellung der Jungfräulichkeit Hymen-Rekonstruktion Das Jungfernhäutchen ist das Symbol der Jungfräulichkeit und hat in manchen Kulturen eine große soziale Bedeutung. Durch die Verwendung von Tampons, beim Sport und durch sexuelle Kontakte kann das Jungfernhäutchen verletzt werden. Es kann vollständig rekonstruiert werden, indem seine Reste oder die Vaginalschleimhaut verwendet werden, um am Vorbild des natürlichen Jungfernhäutchens ein künstliches herzustellen. Für wen? Frauen aus Kulturen, in denen das Jungfernhäutchen Symbol für Jungfräulichkeit ist und der Blutfleck auf dem weißen Laken in der Hochzeitsnacht von Bedeutung ist (ein Irrglaube, da beim ersten Geschlechtsverkehr nicht alle Jungfernhäutchen bluten). Vaginal-Schönheitschirurgie Alles, was Sie über diesen Eingriff wissen müssen! Der Eingriff: Zusammennähen des zerrissenen Jungfernhäutchens oder Rekonstruktion mithilfe der Vaginalschleimhaut. Wiederherstellung der Jungfräulichkeit Die Hymenrekonstruktion Die Hymenrekonstruktion (Wiederherstellung des Jungfernhäutchens,der Jungfräulichkeit) Es sind zumeist psychische, religiöse aber auch sozialökonomische Beweggründe die Wiederherstellung des Jungfernhäutchens durchführen zu lassen. Je nach Kulturkreis ermöglicht oft erst diese kleine, ungefährliche Schönheitsoperation (Hymenrekonstruktion, Rekonstruktion des Jungfernhäutchen) zu heiraten, psychische Stabilität oder aber auch ein wirtschaftliches Auskommen zu erlangen. Die Operation selbst ist einfach durchzuführen und das Erreichen eines perfekten, voll zufriedenstellenden Ergebnisses ist dabei sehr wahrscheinlich. Wiederherstellung der Jungfräulichkeit Jungfernhäutchen - Hymen Unterschiedlichste Formen Keine Deflorationsblutung bei >50% Jungfernhäutchen - Hymen Sorge der Mütter! Virginitätsbescheinigung und Hymenrekonstruktion Hymenoplasty - Virginity 2.0 ärztliche Hilfeleistung oder Grenzüberschreitung? ärztliche Hilfeleistung oder Grenzüberschreitung Fragen medizinisch Antworten Fragebogenerhebung CH Spitäler ethisch Falldiskussion unter Beizug juristisch gesellschaftlich psychologisch des Spitaljuristen Erstellung von hausinternen Richtlinien Praxis der Hymenrekonstruktion in der Schweiz Fragebogen versandt an 100 CH Kliniken im Jahr 2004 Rücklauf 68, davon 55 deutsche und 13 französische Schweiz 43 Kliniken (63%) mit Problem der Hymenrekonstruktion konfrontiert Anzahl Anfragen / Jahr: Dumont dos Santos. Zur Praxis der Hymenrekonstruktion in der Schweiz. Dissertation. 2011 Praxis der Hymenrekonstruktion in der Schweiz Häufigkeit der Nennung der Herkunft der Patientinnen Praxis der Hymenrekonstruktion in der Schweiz Indikationsstellung Praxis der Hymenrekonstruktion in der Schweiz Durchführung des Eingriffes Kostenübernahme Praxis der Hymenrekonstruktion in der Schweiz Schlussfolgerungen Die Hymenrekonstruktion ist in der Schweiz ein selten durchgeführter Eingriff Die Kliniken in der deutschen Schweiz scheinen etwas mehr mit dem Thema konfrontiert zu sein Haltung der ÄrztInnen in der deutschen Schweiz kritischer / restriktiver, in der franz. Schweiz steht die Autonomie der Pat. im Vordergrund Es existiert keine einheitliches Konzept betreffend die Vorgehensweise Falldiskussion – Bestätigung Virginität – Fall Anamnese: • Frau A: 20 j G0 • Türk. Muslimin, in CH aufgewachsen • Seit 1 Jahr Partnerschaft mit gleichaltrigem Landsmann • Wiederholter GV, COC seit 2008 vor einigen Tagen: • körperliche Gewalt durch den Partner • Lösen der Partnerschaft durch Patientin • Ex-Partner informiert Familien über stattgehabten GV Falldiskussion – Bestätigung Virginität – Fall Notfall Frauenklinik USB • Patientin kommt in Begleitung der Mutter und 3 Freunden • Dringender Wunsch Virginität vor der Mutter zu bescheinigen • Patientin fühlt sich von Familie körperlich bedroht • Es gehe „ um Leben und Tod“ • Angst von Familie umgebracht zu werden, falls Bestätigung der Virginität nicht erbracht werden kann • Untersuchung Folgetag in Psychosomatik sei zu spät, stationäre Aufnahme sei nicht hilfreich, man müsse jetzt handeln Falldiskussion – betreuende Ärztin • Sofortiger, enormer Handlungsdruck • Sorge, dass durch unterlassene Hilfe, der Patientin etwas zustösst • Zwiespalt: Falschaussage, um die Patientin zu schützen? • Verärgerung, dass – interkulturelle Konflikte, die die Patientin bewusst eingegangen ist, durch Arzt gelöst werden sollen – durch Familie der zeitliche Rahmen diktiert wird Falldiskussion – Fragen • Ist man verpflichtet eine (sofortige) Untersuchung durchzuführen? • Handelt es sich um unterlassene Hilfeleistung, wenn man nicht untersucht? • Ausstellung eines Zertifikats statthaft? – Nur wenn Virginität effektiv vom Befund her anzunehmen ist? – Auch im Sinne einer „Falschaussage“ zum Schutz der Patientin? Falldiskussion – Ergebnisse / Fazit Rechtliche Ebene: • Recht auf Selbstbestimmung steht von juristischer Seite her im Vordergrund • Wenn im Notfalldienst keine Überprüfung und Bestätigung der Virginität erfolgt, so erfüllt dies nicht den Tatbestand unterlassener Hilfeleistung • Eine (auch schriftliche) Lüge ist kein Strafbestand • Die Abgabe von (schriftlichen) Zertifikaten seitens unserer Institution (USB) ist problematisch Falldiskussion – Ergebnisse / Fazit Team-Ebene: • Die Haltungen der MitarbeiterInnen sind unterschiedlich und bewegen sich zwischen den Polen „Gewährung der Autonomie“ und „Verweigerung einer Toleranz der Intoleranz und einer Unterstützung von die Frauen unterdrückenden und bevormundenden Massnahmen“. • Die Festlegung von institutionellen Rahmenbedingungen, die den Einzelnen gleichwohl einen gewissen Ermessensspielraum im Umgang mit der Situation einräumen, werden begrüsst. Falldiskussion – Wiederherstellung der Virginität – Fall Anamnese: • 17j. Irakerin • Praktikum Altersheim (Ziel: Pflegeassistentin) • Verlobt mit in Deutschland lebendem Iraker • Traditionell • muss jungfräulich in die Ehe gehen Vorgeschichte: • 14j. rechtsmedizinische Untersuchung nach Vergewaltigung • Damals Angabe, dass bereits GV mit Freund gehabt Heute: • Pat. distanziert sich von damaligem Verhalten • Erscheint jetzt mit Kopftuch Falldiskussion – Reflexion der gewünschten Leistung • Mit der Durchführung der Hymenrekonstruktion unterstützen wir eine Massnahme, die aus unserer Sicht zur Unterdrückung der Frau dient • Gleichzeitig leisten wir einen Beitrag an einen „Betrug“ und setzen uns über die Gebote einer anderen Kultur hinweg • Andererseits kommen wir dem von der Frau vorgetragenen Wunsch nach und bewahren sie vor den möglichen Folgen, wenn heraus kommt, dass sie nicht mehr Jungfrau ist Falldiskussion – ethische Aspekte Prinzipien der biomedizinischen Ethik – – – – Nichtschaden (Nonmalefizienz) Wohltun (Benefizienz) Respekt der Autonomie Gerechtigkeit Beauchamp T L, Childress J F. Principles of Biomedical Ethics, 2001 Falldiskussion – ethische Aspekte Frauenärztin über Jungfernhäutchen-Rekonstruktion: “Welches Frauenbild unterstütze ich”? 5. Dezember 2010 / TAZ Falldiskussion – Handhabung FK USB • Massgebend für die allfällige Indikationsstellung resp. Durchführung der Operation ist die von der Patientin geäusserte subjektiv wahrgenommene Bedrohung • Ziel der Intervention ist dementsprechend die Abwendung einer Gefährdung der Patientin • Die Indikation soll erst nach eingehender Beratung und Überprüfung dahingehend, ob obige Gegebenheiten vorliegen, erfolgen • Die Patientin sollte primär dazu angeregt werden, alternative Lösungsmöglichkeiten zu suchen Falldiskussion – alternative Lösungsmöglichkeiten hausinterne Richtlinien hausinterne Richtlinien SGGG Richtlinien Virginitätsbescheinigung und Hymenrekonstruktion Danke für die Aufmerksamkeit! Sibil Tschudin © Annegret Soltau Gyn. Sozialmedizin & Psychosomatik