Familienmodelle
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Familienmodelle
Netzwerk-Treffen Oktober 2013 Familienmodelle im Wandel • • • • Die Familie der vorindustriellen Zeit stellt sich im wesentlichen als Arbeits- und Wirtschaftsgemeinschaft dar, in der die Einzelperson in den Hintergrund rückte. Der Zwang zur Solidarität, das gemeinsame Erreichen der Zwecke und Ziele standen im Vordergrund, wofür sehr häufig persönliche Konflikte in den Hintergrund traten. In Westeuropa entstanden vor allem Familienformen von Bauern und Stadtbürgern, die neben der Kernfamilie primär durch den Einbezug von Dienstboten und unverheirateten Verwandten ausgezeichnet sind. Sippenstärkende Bräuche – wie Polygamie, Brautkauf und Kinderehen – wurden im Christentum schon früh explizit verboten. Lebensformen, bei denen mehrere Generationen und unter Umständen mehrere parallele Ehen (z.B. von Brüdern) inklusive Dienstboten unter einem Dach in einem Lebens- und Wirtschaftsverband lebten, kamen eher in Südosteuropa vor. • • Mit dem Aufstieg des Bürgertums in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts entsteht das Leitbild der bürgerlichen Familie: Lebenslange Gemeinschaft von Vater-Mutter-Kind. Dieses Familienleitbild war normativ und wirkt bis heute noch fort. Zentrale Merkmale: • • • • • • • Trennung von Wohnung und Arbeitsstätte -> Voraussetzung für die Privatisierung des familialen Zusammenlebens Hausangestellte und Dienstboten werden räumlich ausgegliedert und erhalten den Status von Angestellten. Liebe und Intimität prägen die Beziehungen zwischen den Familienmitgliedern. Liebe wird zum Ehe stiftenden Motiv. Polarisierung der Geschlechterrollen: Der Mann bekommt die Rolle des Ernährers, die Frau wird aus der Produktion ausgeschlossen und auf die Rolle der Hausfrau, Gattin und Mutter verwiesen. Kindheit wird zu einer selbständigen anerkannten Lebensphase – die Erziehung der Kinder wird zur neuen "natürlichen" Bestimmung der Frau. Fokussierung der Familie auf Erziehung und Bildung der Kinder Beziehung zwischen den Ehegatten und nicht die Beziehung zur Sippe oder zum Clan wird betont. • • Seit den 1960er Jahren hat die Familie zwar nach wie vor eine hohe Wertigkeit und gehört fest in den Lebensplan vieler junger Menschen, doch die Formen der Familie entsprechen immer seltener dem Familienideal der bürgerlichen Familie. Empirisch ist der Wandel der Familienstrukturen an einer Schrumpfung der Haushaltsgrösse (zahlreiche kinderlose oder Ein-Kind-Familien), einem Rückgang der Eheschliessungen, (nicht notwendig aber der Paarbindungen, nicht-eheliche Lebensgemeinschaften), der Zunahme der Scheidungen, einem Rückgang der durchschnittlichen Geburten pro Frau, eine Zunahme der Frauenerwerbsarbeit und verkürzter Dauer partnerschaftlicher und familiärer Bindung feststellbar. Durch die hohe Scheidungsrate entstehen auch immer mehr Stieffamilien (auch "Patchwork-Familien" genannt), in denen Kinder unterschiedlicher Herkunft zusammenleben. • • Durch die demographische Entwicklung und den Wandel der Lebensformen seit den 1960er Jahren hat die moderne Kleinfamilie ihre Stellung eingebüsst und befindet sich also in Konkurrenz mit zahlreichen anderen alternativen Lebensformen. Man spricht daher von einer Pluralisierung der Lebensformen. Alternative Formen des Zusammenlebens: • • Nichteheliche Lebensgemeinschaften: die nichtehelichen Lebensgemeinschaften ohne bzw. mit Kindern gehören heute zur Normalität unserer Gesellschaft und erhielten eine breite soziale Akzeptanz. Die Ein-Eltern-Familien: Bedingt durch die steigende Scheidungsquote und die Zunahme lediger Frauen mit Kindern erhöhte sich die Zahl der Ein-Eltern-Familie. • • • • • Alleinlebende: Diese Form ist in Westeuropa weitverbreitet. Alleinleben ist aber nicht gleichbedeutend mit Alleinsein. Gerade bei den jüngeren Alleinwohnenden hat jeder Dritte einen festen Partner und lebt so in einer Art von "living apart together". In vielen europäischen Ländern ist es zu einer Verzögerung der Familiengründung gekommen. Dies wird mit der Bildungsexpansion der letzten Jahrzehnte und mit dem Ausbau der Bildungschancen junger Frauen assoziiert. Ebenfalls kam es zu einem klaren Rückgang der Geburtenhäufigkeit. Die demographische Alterung verstärkte sich. In einigen europäischen Ländern erhöhte sich auch der Anteil kinderlos bleibender Frauen und Männer. • • Hinzu kommt der soziale Wertewandel seit den 1970er Jahren, durch den traditionelle Pflicht- und Akzeptanzwerte (Ordnung, Leistung, Pflichterfüllung) immer mehr an Bedeutung verlieren, während Selbstentfaltungswerte (Gleichbehandlung, Selbstverwirklichung, Pflichterfüllung) und die Planung eines individuellen Lebensentwurfes immer höher eingestuft werden. Dies trifft besonders auf die Institution der Ehe zu. Denn diese hat für die Erfüllung bestimmter Bedürfnisse (z.B. Sexualität) und als materielle Versorgungsinstanz (für die Frau) an Bedeutung verloren. In Kernfamilien mit zwei Erwachsenen findet eine Pluralisierung der familialen Erwerbsarrangements statt: das vor allem vorherrschende Leitbild Ernährermodell wird zunehmend durch das Zuverdienermodell oder auch das Doppelversorgermodell (etwa Doppelkarrierepaare) abgelöst. • • • • • • Das Hauptgewicht der Erziehungswerte "Gehorsam und Unterordnung" hat sich auf die Werte "Selbständigkeit und freier Wille" verlagert, was auch den Wandel vom Befehlshaushalt zum Verhandlungshaushalt mit sich brachte. Glaube, Tradition und Autorität verlieren als verbindliche Lebensorientierung an Gewicht, sie werden von Wissenschaft und Rationalität abgelöst. Selbstverständlichkeit und Verbindlichkeit der tradierten Werte werden zunehmend hinterfragt. Aspekte wie emotional-affektive Beziehung und Intimität sind Werte, die betont werden, wenn junge Eltern nach den Vorteilen von Kindern gefragt werden. Beziehungen zwischen den Familienmitgliedern sind weniger durch hierarchischen und autoritären Umgang miteinander geprägt, sondern viel mehr durch den Anspruch auf Partnerschaftlichkeit und Gleichberechtigung bestimmt. Es wird ein Wandel der Machtbalance zwischen Eltern und Kindern durch eine "Emanzipation" des Kindes konstatiert. Die Funktion der Kinder als potentielle Altersunterstützung erledigt sich mit der Einführung sozialer Sicherungssysteme. • • • Viele Eltern weisen ihren Kindern neue Persönlichkeitsprofile zu und erziehen sie verstärkt zu Selbständigkeit, Unabhängigkeit, Partnerschaftlichkeit und/oder Selbstbewusstsein. Individuelle Lebenspläne werden den veränderten Rahmenbedingungen oft unter Schwierigkeiten angepasst, was sich besonderes deutlich an der Vereinbarkeit von Familie und Beruf bei Frauen sowie der innerfamilialen Arbeitsteilung zeigt. Beruflich qualifizierte Frauen wägen grundsätzlich zwischen einer Karriere im Kinderzimmer oder im Beruf ab, was auch die Verkürzung der elterlichen Phase dokumentiert – das Alter der Mutter bei der Geburt des ersten Kindes ist höher – als vor einigen Jahrzehnten. Die Ehe verlor ihren Monopolanspruch auf das Zusammenleben, behielt aber ihren Stellenwert vor allem in Hinblick auf den Kinderwunsch. Der Verbindlichkeits- und Verpflichtungscharakter der Ehe, nicht aber der Familie hat abgenommen. • • • • Kinder legitimieren heute die Ehe, früher war es umgekehrt. Durch die Planbarkeit der Schwangerschaft entwickelte sich Mutterschaft vom ungewollten Schicksal zur Lebensentscheidung und erhielt damit eine neue Relevanz. So kann sie als individuelle Glückserfahrung und als Selbsterfahrung gesehen werden. Mit dem ökonomischen Bedeutungsverlust ist somit ein psychischer Bedeutungszuwachs von Kindern einhergegangen. Der Zugewinn an individuellen Freiheitsgraden bei der Ausgestaltung von intimen Beziehungen birgt auch das erhöhte Risiko ihres Scheiterns. Die gestiegenen emotionalen Ansprüche an die Qualität der ehelichen Partnerschaft führen heute schneller zu unerfüllten Bedürfnissen und Konflikten, was neben dem Wegfall ökonomischer und sozialer Zwänge die wichtigste Ursache der gestiegenen Scheidungshäufigkeit sein dürfte. • • • Gleichzeitig setzte sich – was Generationenbeziehungen betrifft – das Muster von Intimität auf Abstand endgültig durch. Dreigenerationenfamilien – wo Grosseltern, Eltern und Kinder zusammenleben – wurden selten. Aufgrund der Verlängerung der Lebensdauer und wegen der Verringerung der Kinderzahl haben Menschen heutzutage mehr vertikale und weniger horizontale Familienbeziehungen, d.h. Familiensysteme umfassen immer mehr Generationen, aber jeweils nur wenige Mitglieder derselben Generation. Die höhere Lebenserwartung verlängert auch die gemeinsame Lebenszeit von Familiengenerationen, so dass sowohl die Eltern-Kinder-Beziehungen wie auch die Enkelkinder-Grosseltern-Beziehungen viel länger erhalten bleiben. Die Grosseltern-Rolle wird vermehrt aufgewertet. • • Die Konzepte von sevgi, saygı, şeref und namus, die für das Wertgefüge in der traditionell-islamisch-türkischen Kultur von zentraler Bedeutung sind, garantieren das enge Eingebundensein in ein soziales Netz, das soziale Kontrolle ausübt und gegenseitige Unterstützung gewährt. Kinder sollen sich unterordnen, gehorsam sein, sich konform verhalten und Loyalität zeigen, damit ein hoher Grad an Zusammenhalt und gegenseitiger Abhängigkeit gewährleistet bleibt. Prozesse und Erziehungsziele wie Individuation, Autonomie, Initiative, Aktivität oder Neugier sind bei Kinder unerwünscht. • Im weiteren Sinne bezeichnet namus die Familienehre und ist für die innerfamiliären Autoritätsbeziehungen von grosser Bedeutung. Im engeren Sinn bezieht sich namus auf die sexuelle Unberührtheit der unverheirateten weiblichen Familienmitglieder und ist damit stark geschlechtsspezifisch. • Der Begriff şeref (Ehre, Ansehen, Achtung) steht für die persönliche Würde des einzelnen Individuums. Şeref erwerbe, wer grosszügig ist, wer viele Schuldner habe. Im Unterschied dazu könne die Ehre (namus) nicht erworben, sondern nur verloren werden. • Saygı (Achtung, Respekt) regelt die Beziehung der Jüngeren zu den Älteren bzw. der Kinder zu den Eltern. Die Kinder schulden in ländlichen islamischen Gesellschaften Eltern Respekt und Achtung. • Sevgi (türkisch Liebe) bezieht sich auf die Verantwortung der Eltern für ihre Kinder bzw. die Verantwortung der älteren Geschwister für die jüngeren. Im Gegenzug schulden die jüngsten den älteren Familienmitgliedern Achtung und Respekt in Form von saygı. • • • • • • Eltern hoffen auf finanzielle Unterstützung im Alter. Gegenseitige, materielle Abhängigkeit der Generationen Verwirklichung der elterlichen Wünsche Trennung der Geschlechter Gemeinschaftliche Familienkultur: enger Familienzusammenhalt Konzept des "namus" • beruht auf der Reinheit der Frau • Männer kontrollieren die Sexualität ihrer Frauen • Wiederherstellung der verlorenen Ehre durch anerkannte Taten • niedriger Status der Frauen in der Familie • sozialer Status steigt bei der Geburt eines Jungen • Autoritätsstruktur • Erwachsene üben die Autorität über Kinder und Männer die Autorität über Frauen aus. • Mädchen: Anpassung und Abhängigkeit Patriarchale Grossfamilie (Süd/Ost-Europa u.a.) Patrilokale Siedlungsweise: Söhne bleiben im Haushalt ihrer Väter, Frauen heiraten dort ein. Grossfamilien: Vorrang des Familienverbands über wirtschaftliche Erwägungen. Clandenken stark ausgeprägt. Frühe Heirat. Kaum Ledige. Kaum uneheliche Kinder. Sehr repressive Sexualmoral. Die Braut muss jungfräulich an die Familien ihrer zukünftigen Besitzer übergeben werden. Herrschaft der Grosseltern/ Vorrang der "Blutsbande" West/Nord-Europäische Familienform Heirat erst auf der Grundlage wirtschaftlicher Selbständigkeit möglich. Vorrang des Wirtschaftsbetriebs. Keine Grossfamilien. Auch grosse Haushalte setzen sich immer nur aus einem Ehepaar zusammen, hinzu kommen eventuell unverheiratete Geschwister sowie Lehrlinge, Zöglinge, Gesinde. Clandenken nur schwach ausgeprägt (ausser im Adel). Späte Heirat. Viele Ledige. Viele uneheliche Kinder. Relativ liberale Sexualmoral. Herrschaft der Eltern/Vorrang der Wirtschaft Agrargesellschaft (zum Teil auch kultureller Hintergrund heutiger Migrantenfamilie) Gemeinschaft tiefere formale Bildung Ehe/Familie ist vor allem eine ökonomische und politische Institution. Ehepartner werden daher von der Verwandtschaft (mit) ausgesucht. Familie lebt eingebettet in der Nachbarschaft und Verwandtschaft. Neben der Kernfamilie auch ledige Geschwister, Gesinde, Zöglinge. Vielfach aber auch ärmere und daher kleinere Familien. Patrioder Matrilokalität. Industriegesellschaft (zuerst in den höheren Schichten ohne Besitz, v.a. Bildungsbürgertum) Individuum höhere formale Bildung Familie dient ausschliesslich der Reproduktion: Trennung von Wohn- und Arbeitsstätte. Idee der Liebesheirat. Emotionalisierung und Intimisierung der Familie Keine Einbindung der Kernfamilie in umfassendere Clan- und Sippenstrukturen Starke Überbetonung der Kernfamilie (Eltern-KindBeziehung) Viele Kinder, von denen viele früh sterben. Investitionen in Erziehung niedrig, ökonomischer und politischer Nutzen von Kindern u.U. gross. Migrantenfamilien: grosse Anpassungsleistung an die Aufnahmegesellschaft; dies führt zu einem erhöhten Stressfaktor im Familienalltag. Trennung von Öffentlichkeit und Privatsphäre Verstärkte Tendenz zur Zweigenerationen-Kernfamilie. Tendenz zur Neolokalität (Neuansiedlung) Selbständiges Haushalten der einzelnen Familiengenerationen Keine MehrgenerationenHaushaltungen Der frühe Tod wird seltener, Ehen der Tendenz nach annähernd gleichaltrig Tendenz zu weniger Kindern, die seltener sterben. Steigende Investition in Erziehung. Pädagogisierung und Intimisierung der Beziehung zu wenigen Kindern