Zeitschrift des Verbandes der Studierenden aus Kurdistan e.V.
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Zeitschrift des Verbandes der Studierenden aus Kurdistan e.V.
Hejmar / Nummer: 43 Adar / März 2016 Zeitschrift des Verbandes der Studierenden aus Kurdistan e.V. Kovara Yekîtiya Xwendekarên Kurdistan (YXK) INHALT Editorial Politik und Gesellschaft 5 17. Jahrestag des Internationalen Komplotts gegen die kurdische Freiheitsbewegung » » JXK - Studierende Frauen aus Kurdistan 11 Villayet-e Faqih - die Realität der Kurd_innen in Ostkurdistan » » PJAK-Jugend 32 Kapitalistische Moderne » » YXK Berlin 35 Demokratischer Konföderalismus » » YXK Bochum 36 Falsche Annäherungen an die Demokratische Autonomie » » Die Abdullah-Öcalan-Akademie der Sozialwissenschaften Frauenbefreiung 13 Von den Jungtürken bis Erdogan: eine Reise in die dunkle Geschichte der Türkei » » YXK Marburg 44 Erklärung der JXK–Jinên Xwendekar ên Kurdistan » » JXK (Studierende Frauen aus Kurdistan) 17 Geopfert für die Interessen der eigenen Machterhaltung – PDK/KDP im Fokus des Verrats » » Yilmaz Pêşkevin Kaba 47 Bijî 8‘ê adarê! - Erklärung der JXK zum 8. März » » JXK (Studierende Frauen aus Kurdistan) 21 Kritik des Modells Südkurdistan Herrschaft zweier Clans statt Demokratie » » YXK Berlin 25 Kurd_innen in Deutschland – zwischen zwei Dimensionen der Unterdrückung » » YXK Marburg 49 Liebe und Frau » » Abdullah Öcalan 54 Sara, Rojbîn, Ronahî... » » YXK Marburg 57 Die Rolle der Frau in Rojava » » Pelin (YXK Bochum) 59Jîneolojî » » Dastan (YXK Stuttgart) Ideologie 28 Über die Bedeutung von Selbstverwaltung und Selbstverteidigung » » JXK MARBURG 61Männlichkeit » » Ein Genosse in der YXK Berlin HOCHSCHULGRUPPEN REGION NORD [email protected] [email protected] [email protected] [email protected] [email protected] II REGION NRW [email protected] [email protected] [email protected] [email protected] [email protected] [email protected] [email protected] [email protected] REGION SÜD [email protected] [email protected] [email protected] [email protected] [email protected] [email protected] [email protected] [email protected] [email protected] JXK (ehem. YXK JIN) [email protected] www.yxkonline.de/yxk-jin 64 Das Symbol der kurdischen Frau: Şehîd Zîlan » » Şilan (YXK Marburg) 82 Die diplomatische Dimension des demokratischen Konföderalismus » » Abdullah-Öcalan-Akademie der Sozialwissenschaften 67 „black lesbian feminist mother poet warrior“ » » Helin (JXK Marburg) Kultur, Religion und Sprache Jugend und Internationalismus 69 An alle Jugendlichen, deren Herzen im Takt der Freiheit schlagen » » Abdullah Öcalan (Imrali Insel, April 2015) 72 Internationalist_innen in Rojava rufen die Jugend auf, sich dem Widerstand in Bakûr anzuschließen » » ANF/ISKU (14.01.2015) 75 Europa und Freiheit » » Rûken Sterk 90 Die Êzîden und das Êzîdentum » » YXK Bielefeld & Yilmaz Pêşkevin Kaba 98 A REQÛÎM FOR THE DEAD GAZELLES » » Erivan Mus 100TEMMUZUN ÇOCUKLARI » » Hüseyin Aslan 101Dersa Pênca » » Loqman Turgut 108Buchvorstellungen 77 Das Kommando der YDG-H Cizîra Botan hat die YPS ausgerufen » » YPS-Botan 79 Aufruf an die Jugendorganisationen in Europa! » » DTK Jugend KOMMISSIONEN [Ständige Kommissionen] [email protected] [email protected] [email protected] [email protected] WEBSITE 80 Abschlussresolution des 1. Dem-Genç Kongres » » Dem-Genç IMPRESSUM Verband der Studierenden aus Kurdistan e.V. tinyurl.com/ yxk-fb c/o ISKU Spaldingstraße 130, 20097 Hamburg @YXKonline www.yxkonline.de [email protected] EDITORIAL Liebe Leser_innen, liebe Genoss_innen, die 43. Ausgabe der Ronahî-Verbandszeitschrift der JXK und YXK erscheint zu einem Zeitpunkt des extrem zugespitzten Krieges in Kurdistan. Die derzeitige Phase mit ihren wichtigen Entwicklungen wird das Schicksal der kurdischen Bewegung sowohl in Kurdistan als auch hier vor Ort in großem Maße bestimmen. Gerade in der jetzigen Situation müssen die internationale Solidarität und die Rolle der Jugend und Frauen überall in den Vordergrund treten. Es liegt an uns, auf den Krieg gegen die Kurd_innen, das PKK-Verbot, die zunehmenden Repressionen und die Totalisolation von Abdullah Öcalan, die nun seit einem Jahr andauert, angemessen zu reagieren und zu antworten. Die Jugend und die Frauen in Kurdistan haben sich für den Weg der Selbstverteidigung und Selbstverwaltung entschieden. Überall rufen sie zum aktiven Widerstand gegen das kapitalistische, nationalistisch-etatistische und patriarchale System auf. Dementsprechend liegen diese Themen im Zentrum dieser Ausgabe. Das Verständnis für die Ideologie der kurdischen Freiheitsbewegung muss stärker werden. Die häufigen Missverständnisse über die Konzepte von Selbstverwaltung, demokratischer Autonomie und Frauenbefreiung stehen dem gemeinsamen Kampf im Weg und führen zur ständigen Entfremdung von der kurdischen Realität. Die Frage danach, was Selbstverteidigung und Selbstverwaltung bedeuten, wie wir sie in unserem praktischen Leben anwenden und die revolutionäre Bewegung in Kurdistan verstehen und unterstützen müssen, steht momentan auch im Fokus der Neustrukturierung, in welcher sich die JXK und die YXK aktuell befinden. In unseren bevorstehenden Kongressen sollen neue Perspektiven entwickelt werden, die sowohl der Realität in Kurdistan als auch unser Realität als kurdische Jugend in Europa gerecht werden. Das kurdische Neujahrs- und Frühlingsfest Newroz steht in diesem Monat bevor. Dieses Fest, das in mehreren Kulturen gefeiert wird, stellt für uns Kurd_innen ein besonderes Symbol für den Widerstand dar. Diesen Widerstandsgeist müssen wir wieder aufleben lassen - der Frühling muss wieder Frühling werden. Machen wir diesen Frühling gemeinsam zu einer revolutionären Phase, indem wir einen verstärkten Kampf gegen den Faschismus führen. Ohne diesen Widerstand können wir den kalten Winter nicht überwinden. Berxwedan jîyan e! Mit solidarischen Grüßen, eure Ronahî-Redaktion »» Internationaler Komplott gegen Öcalan RONAHÎ #43 17. Jahrestag des Internationalen Komplotts gegen Abdullah Öcalan 17. Jahrestag des Internationalen Komplotts gegen die kurdische Freiheitsbewegung » » JXK - Studierende Frauen aus Kurdistan Die Kurdische Frage ist eines der gravierendsten gesellschaftlichen Probleme des Nahen und Mittleren Ostens. Sie hält die Gesellschaften Syriens, Iraks, Irans und vor allem der Türkei über die Grenzen der bestehenden Nationalstaaten hinweg in Atem. Die kurdische Identität ist nach wie vor nicht akzeptiert, sodass Kurd_innen ihre kulturellen und politischen Rechte vorenthalten werden. In der Vergangenheit wurde die kurdische Identität vollständig verleugnet und verboten. Dagegen richtet sich seit langem Widerstand, unter anderem der der 1978 gegründeten Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), deren Mitbegründer und damals wie heute führender Theoretiker und Praktiker Abdullah Öcalan ist. Die PKK wandte sich gegen die Verleugnung und Unterdrückung der Kurd_innen; zunächst durch die sozialwissenschaftliche Erforschung, Organisierung und Aufklärung der Bevölkerung Kurdistans, nach dem Militärputsch in der Türkei von 1980, der jegliche zivile Opposition unmöglich machte, aber auch mittels des Guerillakampfes. Der bewaffnete Konflikt zwischen der -5- RONAHÎ #43 »» Internationaler Komplott gegen Öcalan Freiheitsbewegung, die sich rasch um die PKK bildete und dem türkischen Staat, kostete über 45.000 Menschenleben, etwa 4.500 Dörfer und Siedlungen wurden zerstört, Millionen wurden zu Flüchtlingen. Seit den frühen 90er Jahren sucht die PKK den Dialog mit den Staat, um eine friedliche Lösung des Konflikts herbeizuführen. Die mehrfachen Versuche sich einander anzunähern – wie einseitige Waffenstillstände – gingen zumeist auf die Initiative Abdullah Öcalans zurück, der sich innerhalb der kurdischen Freiheitsbewegung, aber auch gegenüber allen Konfliktparteien immer wieder für eine friedliche Lösung der kurdischen Frage stark machte. In diesem Sinne verließ er 1998 Syrien, dem die Türkei mit Krieg drohte, würde es weiterhin Abdullah Öcalan auf dem eigenen Staatsterritorium dulden, Richtung Europa, um hier den Weg für einen Frieden in Kurdistan zu ebnen. Die historische Entwicklung des Internationalen Komplots gegen Abdullah Öcalan trägt sich wie folgt zu: zu führen. Die Odyssee ging weiter. Am 2. Februar 1999 landete Rêber Apo in Nairobi, Kenia. Er wurde in der dortigen griechischen Botschaft untergebracht. Der15. Februar 1999 ist der Tag, der Verschleppung des Parteivorsitzenden im Rahmen einer Geheimdienstoperation, an der die CIA und Mossad maßgeblich beteiligt waren. Sie lieferten ihn an die Türkei aus. Bereits einen Tag später wurde er auf die Gefängnisinsel Imrali gebracht. Die Häftlinge, die sich zu dieser Zeit noch auf Imrali befanden, wurden in andere Gefängnisse verlegt. Abdullah Öcalan war bis 2009 der einzige Inhaftierte auf dieser Insel und befindet sich seit April 2015 in Totalisolation. Seit Rêber Apos Verschleppung und Inhaftierung spiegelte sich in seiner Behandlung stets die Haltung des türkischen Staates zur kurdischen Frage im Allgemeinen wieder. Jeder Eskalation des Konflikts ging eine Verschärfung von Abdullah Öcalans Haftbedingungen vorraus. Seine Behandlung ist daher ein präziser Gradmesser für die Haltung des türkischen Der Druck Syriens auf die PKK stieg zunehmend an. Staates gegenüber den Kurd_innen. Im Folgenden Am 9. Oktober 1998 ist Abdullah Öcalan gezwun- soll auf die Rolle der Beteiligten am internationalen gen, aufgrund eines internationales Bündnis – in das Komplott eingegangen werden. u.a. auch Europa involviert war, Syrien und den Li- Israel sah die Türkei als einen willkommen Alliierbanon zu verlassen. Dieser Tag markiert den Beginn ten. Ein großes Land mit einer großen Armee, weldes internationalen Komplotts gegen Rêber Apo so- ches an das von der israelischen Regierung verhasste wie die kurdische Freiheitsbewegung und deren Be- Syrien grenzt. Zu Israels Freude gab es territoriale strebungen nach Frieden. Streitigkeiten zwischen der Türkei und Syrien über Am 12. November 1998erreichte Abdullah Öcalan ursprünglich syrisches Gebiet, das während der franItalien und beantragte Asyl. Es wurde versucht, eine zösischen Mandatszeit an die Türkei übergeben wurfriedliche und demokratische Lösung für den Kon- de. Diese Gebiete beinhalten u.a. Antiochia (heute flikt mit Beteiligung Europas zu finden. Zehntau- Antakya) und den strategisch wichtigen Hafen von sende Kurd_innen aus Europa machten sich auf den Mersin. Nachdem die Türkei und Israel einen Vertrag Weg nach Rom, um ihre Solidarität mitRêber Apo zu zur militärischen Zusammenarbeit unterzeichneten, bekunden. Im selben Monat begannen die Türkei schickte die Türkei im Sommer 1998 ihre Truppen und die USA enormen Druck auf die italienische Re- an die syrische Grenze und drohte mit einer Invasigierung auszuüben. Damit sollte verhindert werden, on, sollten sie Abdullah Öcalan nicht ausliefern oder dass Asyl gewährt wird. Nach etlichen Gesprächen vertreiben. Berater der Mossad halfen türkischen und Verhandlungen zwischen Abdullah Öcalan und Geheimdiensten, seine Spur zu verfolgen. Sie inforder italienischen Regierung verlässt dieser am 16. mierten auch die italienische Regierung über seine Januar 1999 Italien und trifft kurze Zeit später in bevorstehende Ankunft in Rom. Italien fürchtete die Moskau ein. Trotz anerkanntem Asyl war es ihm drohenden Repressionen seitens der Türkei, aber genicht möglich in Russland zu bleiben, da die USA nauso die Rache des kurdischen Volkes, sollten sie bereits Druck auf die russische Regierung ausübte. Abdullah Öcalan ausliefern. Sie entschieden sich So reiste Rêber Apo letztendlich nach Griechenland also dazu, ihm kein Asyl zu gewähren und zu deporum Gespräche mit dem Ministerpräsidenten Simitis, tieren, statt ihn auszuliefern um beide Seiten zu bedem Außen- und Innenminister Pangalos u. Populu- schwichtigen. Was sich während des Aufenthalts des polas und dem Chef des Geheimdienstes Savrakakis Vorsitzenden in Nairobi zutrug, hielt der griechische -6- »» Internationaler Komplott gegen Öcalan Botschafter Jorgos Kostoulas in einem Tagebuch fest, das jetzt als dienstlicher Bericht über die Vorgänge dem Außenministerium vorliegt. Die Athener Zeitung TaNea veröffentlichte die als „streng geheim“ klassifizierte Chronik. Wie das Blatt an den Text kam, ist unklar. Seine Authentizität wird jedoch vom griechischen Außenministerium nicht bestritten. Ein wenig vorteilhaftes Licht wirft der Bericht vor allem auf den zurückgetretenen Außenminister Theodoros Pangalos und dessen Bürochef Vassilis Papajoannou. Aber auch Ministerpräsident Kostas Simitis standen neue innenpolitische Stürme bevor. RONAHÎ #43 hätten wir Abdullah Öcalan nie festnehmen können“, berichtete der frühere türkische Ministerpräsident Bülent Ecevit. Am 4. Februar 1999 besuchte der Repräsentant der CIA den damaligen Geheimdienstchef Atasagun und schlug vor, gemeinsam mitdem MIT zu arbeiten. Bedingung dafür sollte sein, dass Abdullah Öcalan lebend in die Türkei gebracht und ihm ein fairer Prozess gemacht wird. Ausgangspunkt der Operation war die Stadt Antalya: Dort spielte ein sieben köpfiges Team türkischer Nahkampfspezialisten unter CIA-Anleitung Szenarien für die Entführung Rêber Apos aus Nairobi durch. Am 10. Februar flog Die Aufzeichnungen des Botschafters belegen: Au- der von einem türkischen Industriellen gecharterte ßenministerium und Geheimdienst behandelten den Business-Jet in Richtung Kenia ab, fünf Tage später Fall Abdullah Öcalan mit unbegreiflicher politischer wurde Abdullah Öcalan verschleppt. Fahrlässigkeit und diplomatischem Dilettantismus. Der Kovorsitzende des KCK-Exekutivrats Cemil Politisch brisant vor allem: Die damalige von der Bayık antwortete auf die Frage, was all diese Länder Athener Regierung gegebene Darstellung, Rêber zusammengebracht habe, am 16. Jahrestag des interApo habe entgegen dem Rat der Griechen die Re- nationalen Komplotts wie folgt:„Ich möchte betonen, sidenz verlassen, sich den kenianischen Behörden dass weder der Vorsitzende noch unsere Gesellschaft anvertraut und sei deshalb in die Hände türkischer Feindseligkeit gegenüber den Gesellschaften von Agenten gefallen, trifft offenbar nicht zu. Botschaf- Europa, Russland, Griechenland und Amerika hegen. ter Kostoulas berichtet, sowohl das Ministerbüro als Das Problem sind die Staaten selbst, die für ökonomiauch der griechische Geheimdienst hätten ihn tage- schen und politischen Nutzen keinerlei menschliche, lang massiv bedrängt, Abdullah Öcalan loszuwer- moralische oder internationale Werte kennen. Der den, egal wie und sei es „mit Gewalt“. Der Bürochef Vorsitzende repräsentiert eine Lebensphilosophie, die des Außenministers habe sogar telefonisch Weisung Demokratie und Freiheit als Zukunft der Menschheit. gegeben, den Vorsitzenden notfalls zu betäuben, in Deshalb ist es gerechtfertigt zu sagen, dass alle am einem Bettlaken aus der Residenz zu schaffen und Komplott beteiligten Kräfte wahre Feinde von Devor irgendeinem Hotel auf die Straße zu setzen. Am mokratie und Freiheit sind. Diese Besonderheit ist es, 15. Februar stellen die Kenianer dem griechischen die sie zusammengebracht hat. Der Vorsitzende wurBotschafter ein Ultimatum: Abdullah Öcalans An- de ohne jegliche Wahrung von Recht, Gesetz oder wesenheit sei bekannt, er müsse bis zum Nachmit- menschlichen und moralischen Werten auf die Insel tag desgleichen Tags das Land verlassen. Man sei Imralı gesperrt; seinen eigenen Worten nach wurde bereit, ihm ein Flugzeug für die Reise in ein Land er gekreuzigt. Eigentlich wurde in der Person von seiner Wahl zur Verfügung zu stellen. Bleibe Abdul- Rêber Apo die gesamte Menschlichkeit, allen voran lah Öcalan, wisse man nicht, was in der nächsten die kurdische Gesellschaft und unsere Bewegung geNacht passieren könne, drohen die Kenianer. Bot- kreuzigt. Das ist eine große Skrupellosigkeit.“ schafter Kostoulas eröffnet Abdullah Öcalan, dass er ausgeflogen werden soll. Nach langem hin und her Diese Tatsachen lassen sich nur verstehen, wenn die Umstände des Kurdistan-Konflikts Berückwilligt er schließlich ein, sich von den Kenianern sichtigung finden: nach Amsterdam ausfliegen zu lassen. Dort hofft er Asyl zu finden. Was Botschafter Kostoulas nicht Der Mittlere Osten erlebt gerade einen 3. Weltkrieg, weiß: Während die Beamten des kenianischen Au- der sich von den klassischen Definitionsgedanken eißenministeriums Abdullah Öcalan den Flug „in ein nes Weltkrieges unterscheidet. Land seiner Wahl“ versprechen, steht das Reiseziel Des Öfteren ist der Mittlere Osten Spielbrett der westlängst fest. Bei der Suche nach Abdullah Öcalan hat lichen Staaten und ihrer Profitgedanken. Die Regime die CIA eine wichtige Rolle gespielt. „Ohne die USA welche die kapitalistischen Systeme im Mittleren -7- RONAHÎ #43 »» Internationaler Komplott gegen Öcalan Osten installiert haben, reproduzieren die Probleme oder produzieren neue Probleme anstatt sie zu lösen. Die Probleme der Region reichen bis in die Antike zurück und sind nicht so leicht zu erfassen. Auch die Probleme im Islam zu suchen ist eine sehr oberflächlige und falsche herangehensweise. Dem kapitalistischen System ist es zwar gelungen sich bis in alle Kontinente und alle Kulturen auszubreiten, doch den Mittleren Osten konnte es, trotz mehrere Versuchen seit dem 19. Jahrhundert, nicht vereinnahmen. Um die Probleme des Mittleren Ostens zu lösen braucht es keine künstlichen Nationalstaaten, sondern eine tiefgehende Analyse. Diese Analysen machte Rêber Apo schon vor seiner Verschleppung und stellte somit eine Gefahr für die kapitalistische Moderen dar. Zu Zeiten des Komplotts gab es bedeutende Umbrüche im Mittleren Osten. Rêber Apo und die Freiheitsbewegung beeinflussten die vier Teile Kurdistans maßgeblich. Das Ziel, ihm den Einfluss zu nehmen und von der kurdischen Bevölkerung zu entfremden, ist fehlgeschlagen. Die kurdische Gesellschaft hat sich um Abdullah Öcalan zusammengeschlossen und mit der Freiheitsbewegung vereint. Der internationale Komplott stellt somit eine Intervention in den mittleren Osten dar und ist der erste Schritt des 3. Weltkrieges. Nach der Verschleppung folgten militärische Interventionen im Irak und Afghanistan und die Intervention des gemäßigten Islams durch Fethullah Gülen und der AKP, bis hin zum „arabischen Frühling“ und der desolaten Situation heute in Syrien mit dem fanatisch- dogmatischen Faschismus den der IS darstellt. Dieses Komplott richtet sich also nicht gegen eine Person, oder alleine der kurdischen Gesellschaft, sondern gegen die demokratische Vision des Mittleren Ostens. Am Beispiel Rojava können wir sehr deutlich erkennen, dass der Demokratische Konföderalismus und die Demokratische Nation die einzige Lösung für den Mittleren Osten ist. In Rojava haben die Kurd_innen, nicht nur heroisch gegen den IS gekämpft, sondern auch gezeigt, dass ein basisdemokratisches Modell funktionsfähig ist. Denn keine Nation kann die verschiedenen Kulturen, Ethnien und Minderheiten, die in dieser Region leben, vereinen und befreien. das auf Deutsch übersetzte Buch „Jenseits von Staat, Macht und Gewalt“. Der Demokratische Konföderalismus beschreibt eine nicht-staatliche Selbstverwaltung der Zivilgesellschaft und beruht auf Kommunen, Räten und Kommissionen in denen die verschiedenen Bereiche der Gesellschaft, vor allem die Jugendlichen und Frauen, sich autonom organisieren. Angelehnt an Abdullah Öcalans Ideen wurde die Union der Gemeinschaften Kurdistans gegründet die seit 2004 vor allem in Nordkurdistan (Südosttürkei) eine Basis-Organisierung vorantreibt. Rêber Apo wurde durch mehrere Kongresse, in denen die von der Basis gewählten Vertreter_innen der KCK abstimmten, zum Vorsitzenden der Union der Gemeinschaften Kurdistans(KCK) gewählt. Auch die Entwicklungen in Rojava und die aktuellen Entwicklungen in Bakûr (Osten und Südosten der Türkei) stehen damit im Zusammenhang. Abdullah Öcalan hatte vor seiner Gefangennahme in Syrien gelebt und dort in der Basis eine jahrelange Aufklärungsarbeit betrieben. Die demokratischen Strukturen in Rojava und die Verteidigung um Selbstverwaltung in Städten wie Cizîr, Sûr, Silopî, Silvan etc. seitens der Volksverteidigungseinheiten YPS und YPS Jin orientieren sich ebenfalls am Gesellschaftsmodell der kurdischen Freiheitsbewegung. Die kurdische Freiheitsbewegung, allen voran die PKK, hat immer wieder betont, dass Abdullah Öcalan für sie eine zentrale Rolle einnimmt. Auf theoretischer und praktischer Ebene hat er wichtige politische Fortschritte initiiert und ihnen oft genug den nötigen Nachdruck verliehen: die Geschlechterfrage in den Vordergrund des Engagements zu stellen, einseitige Waffenruhen auszurufen und Friedens-Delegationen zu entsenden, die eigenen Positionen und Fehler selbstkritisch zu hinterfragen, auf die andere Konfliktpartei zuzugehen etc. Diese Rolle wird von der kurdischen Seite stets betont und wurde vom türkischen Staat faktisch anerkannt. Abdullah Öcalan legte 2009 die „Roadmap zu Verhandlungen“ vor, auf deren Grundlage eine Reihe von Gesprächen zwischen Vertreter_innen der PKK und dem MIT in Oslo sowie Abdullah Öcalan und dem MIT auf İmralı stattfand. Somit wurde er auch von der AKP-RegieNach seiner Gefangennahme schrieb Abdullah rung – wie von den Vorgängerregierungen auch – als Öcalan mehrere Verteidigungsschriften in denen Gesprächspartner akzeptiert und in den Austausch er Ideen für eine Demokratische-Ökologische Ge- zwischen den Konfliktparteien einbezogen. Dieser schlechterbefreite Gesellschaft formulierte - darunter „Oslo-İmralı-Prozess“ wurde geheim geführt und -8- »» Internationaler Komplott gegen Öcalan RONAHÎ #43 im Sommer 2011, nach den Parlamentswahlen in der Türkei vom Staat abgebrochen. Es folgte eine Totalisolation gegen Abdullah Öcalan, die ab Juli 2011 anderthalb Jahre andauern sollte. Wie die Erfahrung bereits mehrmals gezeigt hat, nimmt Gewalt den Platz von Dialog ein, wenn dieser abgebrochen wird, aber eigentlich notwendig wäre, um Konflikte zu lösen. Während des Jahres 2012 eskalierte die Gewalt zwischen dem türkischen Militär und der Guerilla der PKK wie seit den 90er Jahren nicht mehr – regierungsnahe Kreise sprachen von einer „tamilischen Lösung“ der kurdischen Frage, womit sie die militärische Zerschlagung der Bewegung unter Inkaufnahme tausender ziviler Opfer und schwerster Menschenrechtsverletzungen meinten. eigenen Bedingungen vom türkischen Staatsgebiet an; dieser Rückzug ist Anfang September 2013 zwar gestoppt worden, da die türkische Regierung seit dem Frühjahr 2013 ihre militärische Infrastruktur in Nordkurdistan massiv ausbaut, doch der Waffenstillstand wurde sowohl von der Guerilla als auch weitestgehend vom Militär eingehalten. Es kam in der Friedens- Verhandlungsphase nur zu vereinzelten Gefechten. Die wohl wichtigste dieser Erklärungen war das zu Newroz 2013 veröffentlichte „Manifest“, auch Newroz-Erklärung genannt. Diese richtete sich vor allem an die türkische Gesellschaft, denn in ihr rief Öcalan alle Teile der Gesellschaften in der Türkei dazu auf, aufeinander zuzugehen und ein gemeinsames und friedliches Leben nach demokratischen und menschlichen Werten aufzubauen. Öcalan erklärte, dass nunmehr die Zeit des bewaffneten Kampfs vorüber sei und dieser durch einen politischen Kampf mit demokratischen Mitteln ersetzt werden würde. Solange diese Repression fortbesteht, kann der Staat nicht das Prädikat eines Rechtsstaats für sich in Anspruch nehmen, geschweige denn einen Prozess hin zu Verhandlungen führen. Als klar wurde, dass der Friedensprozess konkrete Ergebnisse erzeugte, veränderte Recep Tayyip Erdoğan, im direkten Gegensatz zur Erklärung Abdullah Öcalans für eine friedliche Lösung der kurdischen Frage, seine Einstellung und bemühte sich aktiv für die Beendigung der laufenden FriedensverDieser Versuch scheiterte. Die Guerilla ging stattdes- handlungen durch die Isolation des kurdischen Resen in eine Offensive über und zwang das Militär in präsentanten im Gefängnis. Seit dem 05. April 2015 manchen Regionen Nordkurdistans (Südosttürkei) keinerlei Kontakt zu seiner Familie und zu seinem zurück in seine Kasernen. In Kurdistan, der Türkei Verhandlungsteam hat. Die türkische Regierung und Europa protestierten Kurd_innen in massenhaf- entschied sich, eingehend mit der Isolation von Abten Aktionen des zivilen Ungehorsams. Im Herbst dullah Öcalan, eine Krieg gegen die kurdische Zivil2012 traten die politischen Gefangenen in den tür- bevölkerung zu führen, die über 300 Menschen das kischen Gefängnissen – seit 2009 durch Massenver- Leben kostete. Die Ausgangssperren und die aggresfahren gegen zivile Strukturen bis zu 10.000 Perso- sive Kriegsführung und Stimmung halten bis heute nen – in einen unbefristeten Hungerstreik. Eine ihrer an. zentralen Forderungen war, die Aufhebung der Tota- Abdullah Öcalan alle Rechte zustehen, die für Gefanlisolation gegen Rêber Apo sowie seine Freiheit, um gene – auch in türkischer Haft – selbstverständlich Grundlagen für einen ernsthaften Friedensprozess zu sind. Dazu zähl vor allem das Recht auf juristische schaffen. Der Druck auf die Regierung war so stark, Verteidigung. Seit Juli 2011 wurde Öcalans Anwäldass sie Ende 2012 erneut Gespräche mit Abdullah tInnen jeglicher Besuch bei ihrem Mandanten unterÖcalan suchte. Sie ließ ihn durch eine schriftliche Er- sagt, was einem eklatanten Verstoß jeglicher rechtsklärung öffentlich zu Wort kommen, woraufhin der staatlicher Standards gleichkommt. Hingegen laufen Hungerstreik beendet wurde. Gerichtsverfahren gegen Öcalans VerteidigerInnen. Die Aufzählung solcher Selbstverständlichkeiten kann mit dem Zugang zu Kommunikationsmitteln fortgesetzt werden. Öcalan ist es als einzigem Gefangenen der Türkei nicht gestattet zu telefonieren. Zum einen sollten auch andere Teile der Zivilgesellschaft wie Journalist_innen, Aktivist_innen, Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens oder Freund_innen und Als Antwort auf die Newroz-Erklärung rief die Uni- Familie Besuchsrecht auf İmralı erhalten, zum anon der Gesellschaften Kurdistans (KCK) einen dau- deren sollte der Austausch über Briefe, Telefon etc. erhaften Waffenstillstand aus und kündigte einen Öcalan derart zur Verfügung stehen, dass er mit den schrittweisen Rückzug der Guerilla-Einheiten nach verschiedenen Akteur_innen des Konflikts frei kom-9- RONAHÎ #43 »» Internationaler Komplott gegen Öcalan munizieren kann. In Gesprächen mit Politiker_innen der HDP betont Öcalan immer wieder, dass ihn Delegationen öfters, als einmal im Monat, besuchen müssten, um die Gespräche zu intensivieren und auszuweiten – gegebenenfalls täglich. Sie sollten unter anderem mit einer Einstellung der politischen, polizeilichen und juristischen Operationen gegen die kurdische Bewegung einhergehen und zu belastbaren Ergebnissen führen wie der Einführung des Kurdischen als offiziell anerkannte Sprache des öffentlichen Lebens und ähnlichen kulturellen Rechten, dem Herabsetzen der undemokratischen 10%-Wahlhürde für das Parlament der Türkei und der Anerkennung kommunaler Selbstverwaltung oder der Freilassung der tausenden politischen Gefangenen, zu denen gegen Ende eines Lösungsprozesses auch Abdullah Öcalan gehören muss. Dass vor allem seine Freilassung eine Hauptforderung von Millionen von Menschen ist, zeigte der jährlich stattfindende Sternenmarsch nach Straßburg. Tausende Menschen aus ganz Europa demonstrierten in Straßburger Innenstadt mit den der Forderung „Freiheit für Öcalan und allen politischen Gefangenen in der Türkei!“. Seit über zwei Jahren findet auch in Straßburg vor der europäischen Kommission eine Dauermahnwache statt. dullah Öcalan und die PKK definiert und formuliert haben.“ So drückte es Mahmut Sakar, Rechtsanwalt Abdullah Öcalans auf der 8.EUTCC-Kurdistan-Konferenz aus. Das Beenden der Totalisolation bzw. die sofortige Freilassung sind außerordentlich wichtig, weil sich nach dem Zustand Rêber Apos erkundigt werden muss. Seit April 2015 gibt es keinerlei unabhängige Erklärung von der Insel Imrali. Seinem gesetzlichen Vertreter, seiner Familie sowie seinen Anwält_innen wird der Besuch verwehrt. Zudem hat die Geschichte gezeigt, dass dieser Konflikt nicht militärisch gelöst werden kann. Es muss ihm möglich sein, sich an seine Berater zu wenden und zur Öffentlichkeit und Presse zu sprechen. Frieden und Verhandlungsprozesse sind ohne ihn nicht möglich. Alle demokratischen und friedensliebenden Kräfte der Welt müssen sich vereinigen um den Verlauf dieses Krieges mit ungewissem Ausgang zuverändern. Azadî ji bo Rêber Apo! JXK - Studierende Frauen aus Kurdistan Die Rolle Öcalans für das kurdische Volk ist von äußerster Bedeutung und Wichtigkeit, zumal er im Bezug auf die kurdische Frage direkter und indirekter Verhandlungspartner ist. Er selbst hat den größten Beitrag für eine friedliche Lösung der kurdischen Frage samt den geistigen und philosophischen Dimensionen geleistet. Die Beziehung zwischen Rêber Apo und dem Volk geht über eine politische hinaus. „Das Problem der kurdischen Frage hat eine 200-jährige Geschichte und gesellschaftliche Ursachen. Es hat nicht mit Abdullah Öcalan und der PKK begonnen. Aber bis zu Abdullah Öcalan und der PKK waren auf dem Wege der Assimilation und Ausbeutung bedeutende Strecken zurückgelegt worden, die Verbindungen der kurdischen Gesellschaft zur Geschichte der Aufstände waren losgerissen worden, den Kurden waren die Identität und ihre Geschichte genommen worden. Abdullah Öcalan selbst war es, der von Neuem eine innovative und moderne kurdische Identität prägte. Die Frage, die wir heute die kurdische Frage nennen, ist also die Frage nach Identität und Demokratisierung, die Ab- 10 - »» Kurd_innen in Ostkurdistan RONAHÎ #43 Villayet-e Faqih - die Realität der Kurd_innen in Ostkurdistan » » PJAK-Jugend Über die Wahl des “gemäßigten” Hassan Rouhani im Jahr 2013 zeigten sich internationale Medien und Menschen mit vermeintlicher Kenntnis über iranische Politik begeistert. Was sie 40 Jahre nach der Gründung der islamischen Republik noch immer nicht anerkennen ist, dass die Entscheidung der iranischen Bevölkerung nicht zählt. Genauso wenig zählt die Schein-Unterscheidung zwischen einem „Hardliner“ und einem „Gemäßigten“. Die Realität im Iran seit 1979 ist das von Ayatollah Khomeini formulierte und entwickelte Staatssystem des Villayet-e Faqih. Obwohl ein Parlament, eine Regierung und ein Präsident existieren, bestimmen der Wächerrat und die Ajatollah über alle wichtigen Angelegenheiten im Iran. Beide sind in der Verfassung der islamischen Republik institutionalisiert. Die Ajatollah und der Wächterrat entscheiden direkt oder indirekt darüber, wer zu Wahlen antritt und welche Gesetze das Parlament verabschieden kann. Vor allem kann der Ajatollah in allen außenpolitischen Angelegenheiten bestimmen und herrschen. Echte Opposition, die die Grundsätze des Staates hinterfragt, wird unterdrückt, entführt oder ermordet. Dies verwandelt jegliche Hoffnung auf einen politischen Wandel in Richtung eines „demokratischen“ Systems, was die Regierung zu sein glaubt, zu einer enttäuschenden Illusion. Atomabkommen aushandelte, stellte er keine Forderungen bezüglich der menschenrechtlichen Situation im Iran. Die Angst der Opposition ist, dass das Atomabkommen die Existenz dieser Regierung noch eher legitimieren wird, indem die Märkte dem Westen geöffnet und dadurch die dortige Wirtschaft stärker wird. Die eigentlichen, oben genannten Herrscher über den Iran dachten, dass es wohl an der Zeit wäre, eine Vereinbarung mit dem Westen zu treffen, als die Sanktionen die iranische Wirtschaft und damit die Bevölkerung bedrohten. Westliche Unternehmen, die seit Jahren von der Öffnung des iranischen Marktes träumten, hatten schon seit einiger Zeit Einfluss genommen, damit das geschieht. Als der Westen das dabei jedoch nur eine Diktatur durch eine andere. Während der Revolution von 1979 gab es seitens ethnischer Gruppen im Iran Aufstände - allen voran von den Kurd_innen. Die Kurd_innen wurden auf brutale Weise zerschlagen, als der Staat Tausende Soldaten gegen sie einsetzte, die schreckliche Gräueltaten begangen. In dieser Phase fanden „ethnischen Säuberungen“ in der Region Naghadeh statt. Im September Der Osten Kurdistans (Rojhilat), der den zweitgrößten Teil Kurdistans darstellt, untersteht seit der Gründung der Islamischen Republik einer theokratischen Regierung, die die Kurd_innen einer zweifachen Unterdrückung aussetzt: einer Unterdrückung der Kultur und Sprache auf der einen Seite und einer religiösen Unterdrückung auf der anderen. Die Mehrheit der Kurd_innen in Rojhilat sind sunnitisch. Die Unterdrückung funktioniert nicht über das Verbot der kurdischen Kultur oder Sprache, sondern über das Darstellen des „Persischen“ (Kleidung, Sprache, Tradition, Musik) als das „Zivilisierte“ im Gegensatz zur „unzivilisierten“, „rückständigen“ kurdischen Kultur und Sprache. Kurdisch wird dargestellt als ein verfälschter Ausläufer des Persischen in den „wilden“, ländlichen Regionen im Iran. Über das Schulsystem wird versucht, eine Generation von Kurd_innen zu kreieren, die sich für ihre Herkunft schämt. Bisher waren sie damit nicht sehr erfolgreich, obwohl beDie iranische Bevölkerung wählte Rouhani nicht, stimmte Aspekte dieser Politik viele kurdische Juweil er „gemäßigt“ oder erwünscht war, sondern weil gendliche und ihre Selbstwahrnehmung in der einen er unter den Bösen das kleinere Übel war. Die Anzahl oder anderen Weise beeinflussten. von Morden an kurdischen und belutschischen Stu- Im Jahr 1979 erreichten die Menschen im Iran eine dent_innen und Oppositionellen ist während seiner Revolution, von der sie soziale Gerechtigkeit und Amtszeit angestiegen, was das wahre Wesen dieses Demokratie forderten. Die Theokraten versprachen, Menschen offenlegt. diesen Forderungen entgegen zu kommen, ersetzten - 11 - RONAHÎ #43 »» Kurd_innen in Ostkurdistan 1979 wurden 46 Männer, Frauen und Kinder im Dorf Garna in Naghadeh massakriert. Die Morde und Vertreibungen in dieser Region wurden von den Azeri Nachbarn begangen und von den Revolutionsgarden unterstützt. Auch in der Region Urmiye gab es einen Zustrom an Azeris, die nun in der Stadt Urmiye die Mehrheit ausmachen. Die Neuankömmlinge stellen eine wirtschaftlich sehr starke Gruppe dar, welche die Kurd_innen als untergeordnete Bürger_innen betrachtet. Die Politik des iranischen Staates setzte das Fundament für eine Beziehung dieser beiden ethnischen Gruppen, die auf Misstrauen, Feindseligkeit und Verachtung beruht. Die PJAK (Partei für ein freies Leben in Kurdistan) setzt auf den Demokratischen Konföderalismus als eine Möglichkeit, diese Widersprüche zu beseitigen. Die harte Realität eines zukünftigen iranischen Bürgerkriegs ist jedoch, dass sich die politische Führung der Azeri, die militärisch von Azerbaidschan und der Türkei gestützt wird, gegen solche multikulturellen und toleranten Regionen stellen würde. Der Iran ist eine tickende Zeitbombe. Es gibt unzählige Gründe dafür, warum die Regierung früher oder später durch aufsteigende Massen zerfallen wird, die alle ihre eigenen Absichten und Ziele verfolgen. Sei es die Armut, der Mangel an Gerechtigkeit, der religiöse Druck auf das alltägliche Leben im Iran, die ethnische Unterdrückung von Minderheiten - und nicht zu vergessen die ethnischen Spannungen, die die Staatspolitik in dem Glauben verursacht hat, sie könne davon profitieren. Während der Revolution von 1979 gab es relativ wenige ethnische Zusammenstöße, doch zukünftige Veränderungen im Iran werden noch viel mehr von ethnischen Kämpfen gezeichnet sein. traditionell und geschichtlich gesehen kurdischen Regionen für sich beanspruchen. Im Januar 2014 schlug Osman Ahmadi, ein kurdischer Abgeordneter im Parlament, vor, durch die Teilung „West-Azerbaidschans“ eine kurdische Provinz zu gründen. Die Azeris im Parlament wurden wütend und erklärten, West-Azerbaidschan werde niemals geteilt. Dies ähnelt sehr dem, was türkische Nationalist_innen über die Türkei sagen. Kein Mitglied des Parlament spricht jemals offen über separatistische Gedanken im Iran, obwohl sie wissen, dass es zukünftig ethnische Konflikte geben wird. Sie wissen auch, dass es eine Zeit geben wird, in der sie ihre eigene ethnische Gruppe organisieren müssen werden, um so viel Land wie möglich für sich zu erobern. Die Teilung von „Azerbaycan-e Gharbi“ wird solche Ansprüche erschweren. Die Rolle der PJAK, die Bewegung, die sich nach der Kapitulation der KDP-Iran und der Komela erneut bewaffnete, ist folgende: Sie muss kontinuierlich Druck auf den iranischen Staat ausüben, um Verhandlungen zu erzwingen, Menschen darauf vorbereiten, was bevorsteht und den Menschen ein ehrliches Verständnis für den Widerstand für ein freies Leben näher bringen. Die PJAK wird unter der neuen Generation von Kurd_innen in Rojhilat stark unterstützt, da sie noch einmal zeigt, dass die Kurd_innen aufstehen, sich dem Feind stellen und stolz auf ihre Identität und Herkunft sein können. Die Jugendlichen von Maku im Norden bis nach Ilam im Süden studieren und verstehen den Demokratischen Konföderalismus und die Werte der Freiheit, Toleranz, Egalitarismus und Ökologie, die daraus entspringen. Der morgige Tag wird noch unbekannte Veränderungen im Iran bringen. Die kurdische Bevölkerung Rojhilats wird, wie es in Rojava der Fall war, auf die Guerilla zählen, um ihr Leben und ihr Land zu schützen, gegen eine Macht, die vielleicht noch brutaler und zynischer sein könnte als der „Islamische Staat“. Gleichwohl muss jede_r Kurd_in bereit sein für den Tag, an dem endlich der Widerstand von Rojhilat beginnt. Während der Periode von Shah Reza, dem Vater des letzten Shah, wurden die zwei historischen kurdischen Regionen Mukriyan und das nördliche, Kurmanci-sprachige Urmiye zu einer Region namens „Azerbaycan-e Gharbi“ - „West-Azerbaidschan“ vereint. Zur selben Zeit wurde die Ardalan-Region in Sanandaj zu „Kurdistan“ umbenannt. Das war eine gezielte Strategie um die kurdische Identität in den PJAK-Jugend (Partiya Jiyana Azad a Kurdistanê Regionen unter Druck zu setzen und eine Mentalität Partei für ein Freies Leben in Kurdistan) in die Azeris zu pflanzen, dass „Azerbaycan-e Gharbi“ azeri ist und dass die einzig kurdische Region im Iran die „Kurdistan“-Region sein kann. Für die heutige Zeit bedeutet das, dass die Azeris im Iran die - 12 - »» Von den Jungtürken bis Erdoğan RONAHÎ #43 Von den Jungtürken bis Erdogan: eine Reise in die dunkle Geschichte der Türkei » » YXK Marburg W enn wir uns die Geschichte der nationalen komplette Vereinheitlichung der Individuen sein, Unabhängigkeitskämpfe anschauen, se- eine Türkisierung des osmanischen Territoriums, das hen wir oft, dass Freiheit in der Gründung zu dieser Zeit und auch heute noch von Menschen eines eigenen Nationalstaats gesucht wurde. Um sich verschiedener Kulturen bewohnt war und ist. Geleitet gegen Kolonialismus, Leugnung und Vernichtung zu von der Ideologie des Pantürkismus wurden je nach schützen, wurden Nationalstaaten als Ziel von Be- Quelle zwischen 500.000 und 1.500.000 Armenier_ freiungsbewegungen definiert und angestrebt. Trotz innen, Suryoye, Êzîd_innen und Griech_innen Opdieser vermeintlichen Schutzfunktion des National- fer eines Völkermords. Auch Kurd_innen waren an staates ist heute einzugestehen, dass Nationalstaa- diesen Morden aktiv beteiligt. Ihnen wurden bei der ten nicht in der Lage sind, die Unterdrückungen der Staatsgründung Rechte versprochen, jedoch wurden Menschen zu beheben. Wie auch in der Selbstkritik die Kurd_innen später selbst zu Opfern des gleichen der PKK formuliert, ersetzen neue Nationalstaaten Systems. Auf dieser faschistischen Mentalität beruht lediglich alte Fesseln durch neue. Nationalismen der türkische Staat bis heute noch. Eine Aufdeckung zwängen Menschen in eine Identität, die z.B. über der türkischen Republikgeschichte soll verdeutlidas Sprechen einer bestimmten Sprache, über einen chen, worauf dieser Nationalstaat historisch aufbaut bestimmten Glauben oder und wie dieser Staat noch über die Idee der Überimmer seine eigene Gelegenheit einer „Rasse“ schichte verschleiert, um „Keiner der bestehenden Nationalstaaten ist von definiert ist und radiesich aufrecht zu erhalten. allein entstanden. Ausnahmslos haben sie alle eine ren alle aus, die nicht in kriegerische Vergangenheit.“ Das Osmanische Reich das Bild dieser „Nation“ wurde von verschieAbdullah Öcalan passen. Menschen einer densten Ethnien und Nation finden sich unter religiösen Glaubensgeeiner unklar definierten, meinschaften bewohnt. angeblichen Identität zusammen. Diejenigen, die Es war eine Art Mosaikgesellschaft, die unter dem sich dieser Identität annehmen, sind Teil dieser Na- millet-System (arab.: Religionsgemeinschaft) orgation, während diejenigen, die sich nicht assimilieren nisiert war, eher ein nebeneinander statt miteinander. lassen, bis heute vom System des Nationalstaats mar- Zu erwähnen ist jedoch, dass die islamische Glauginalisiert und ermordet werden. bensgemeinschaft in allen Punkten gegenüber den Am Beispiel des türkischen Staates können wir sehen, wie dieses Konstrukt von einem Nationalstaat seit einem Jahrhundert überlebt hat, und zwar auf Kosten von Millionen von Leben und auf Kosten der Kulturen und Sprachen dieser Region. Die diesem Staat zugrunde liegende Ideologie ist geschichtlich nicht erst in der „Atatürk-Ära“ zu suchen. Schon früh kam die jungtürkische Idee eines Vatans - „Vaterland“ - auf, und die damit verbundene Frage, wem dieses Land gehört? Die Antwort darauf sollte eine restlichen Gemeinden vorherrschte, sprich hier fand eine religiöse Diskriminierung der nicht-muslimischen Gruppierungen statt. Trotzdem genossen die Religionsgemeinschaften eine gewisse Autonomie. Hierbei konnten sie sich selbst organisieren und somit selbst verwalten. Sie unterstanden dabei allesamt der absoluten Herrschaft des Sultans. In der Tanzimat-Periode von 1839-1876 versuchte man das bröckelnde Imperium neu aufzustellen, um weltpolitisch den aufsteigenden Großmächten die Stirn bieten zu - 13 - RONAHÎ #43 »» Von den Jungtürken bis Erdoğan können. Hintergrund dieser Entwicklung waren unter anderem die nationalistischen Tendenzen in Europa, die zur politischen Destabilisierung des osmanischen Reiches führten. Mit der Einführung der ersten osmanischen Verfassung von 1876 waren praktisch alle Bürger_innen vor dem Gesetz gleichgestellt. Jedoch sollte alsbald Abdülhamit II. die alleinige Herrschaft an sich reißen und für mehr als 30 Jahre in der Personalunion Sultan/Kalif herrschen. In jener Zeit litten vor allem die Minderheiten des osmanischen Reiches, insbesondere in Form der Massaker von 1894-1896 an den Armenier_innen, welche als Vorboten für den Völkermord an den Völkern Anatoliens in Folgezeit gesehen werden. Als politische Gegenkraft zum Sultan bildete sich eine Gruppe (Ittihat ve Terakki Cemyeti/Komitee für Einheit und Fortschritt), die sich auch „Jungtürken“ nannte. Diese Gruppe verstand es auch, andere Minderheiten des Reiches für ihr Engagement zu gewinnen, denn Überschneidungspunkte gab es in der Forderung der Wiedereinführung der Verfassung/Parlaments, wobei eine Gleichberechtigung der Völker wieder erlangt werden sollte. Wie fatal diese Kooperation enden würde, lässt sich am Völkermord ablesen. Schon auf dem Parteikongress in Saloniki 1907 beschlossen die Jungtürken, anatolischen Boden zu „türkisieren“. Von nun an entwickelte sich eine Ideologie des Panturanismus und Panislamismus (Vereinigung aller Turkvölker im Gebiet Turan bzw. Vereinigung aller islamischen Völker, wobei ersteres stark überwog). Zu den Gründervätern dieser Ideologie zählt unter anderem Ziya Gökalp, selbst kurdischer Abstammung. In Unruhezeiten konnte sich der rechtsextreme Flügel der Partei unter Enver Pasa, Talat Pasa und Cemal Pasa politisch durchsetzen, die von nun an die Regierungsgeschäfte im Alleingang führten. An der Seite des deutschen Kaiserreiches trat man in den 1. Weltkrieg ein. Deutsche Generäle waren damit beauftragt, das marode Militär der Osmanen zu erneuern. Die Armenier_innen bezichtigte man fortan des Landesverrats, weil sie angeblich mit dem Feind (Russland) kooperierten. Diese Lüge nutzte man aus, um nun unter dem Deckmantel der „Sicherheitsmaßnahmen“ die Armenier_innen in den Osten, besser gesagt in die syrische Wüste, zu deportieren. Ab 1915 fielen mindestens 500.000 Armenier_innen diesen Gräueltaten zum Opfer. Der „perfekte“ Anlass, um den genannten Beschluss der Türkisierung zu vollziehen. In den Jahren bis zur Staatsgründung sollten weitere hunderttausende Armenier_innen, Griechen_innen, Assyrer_innen/Aramäer_innen, Êzîd_innen und auch Kurd_innen dieser Politik zum Opfer fallen. Es wurden „ethnische Säuberungen“ durchgeführt sowie nicht-muslimische und nicht-türkische Läden boykottiert und wirtschaftlich marginalisiert. Ziel war es, die zukünftigen nationalen Grenzen sowohl im Westen als auch im Osten zu „bereinigen“ (homogenisieren/assimilieren) und eine starke Zentralisierung vorzunehmen. Somit wurde dem osmanischen Reich der letzte Hauch von konföderalen Strukturen genommen (z. B. das millet-System mit einer gewissen Selbstverwaltung der Religionsgruppen und selbstverwalteten Provinzen wie z. B. eyâlet-i Kurdistân). Das explosive Gemisch aus den religiösen Normen des millet-Systems und westlichen Konzepten wie Nationalismus und Rassentheorie führten zum exklusiven türkischen Rassismus, der bis heute ohne Veränderung vorherrscht. Das explosive Gemisch aus den religiösen Normen des millet-Systems und westlichen Konzepten wie Nationalismus und Rassentheorie führten zum exklusiven türkischen Rassismus, der bis heute ohne Veränderung vorherrscht. Die Verantwortlichen des Genozids konnten unter anderem durch deutsche Hilfe fliehen. Mit dem Friedensvertrag von Sèvres fand der 1. Weltkrieg sein Ende für das Osmanische Reich, hierbei wurde den Armenier_innen ein eigener Staat und den Kurd_innen Autonomie zuteil, die nach einer Abstimmung auch in einer Staatlichkeit hätte enden können. Jedoch wurde dieser Vertrag von der Nationalbewegung unter Mustafa Kemal abgelehnt. Dieser verstand es auch, die östlichen Stammesvorsitzenden für sich zu gewinnen, die somit im „türkischen“ Befreiungskrieg an dessen Seite kämpften. Nachdem die imperialistischen Mächte erfolgreich - 14 - »» Von den Jungtürken bis Erdoğan geschlagen werden konnten und der Vertrag von Lausanne unterzeichnet war, fanden von nun an Minderheiten in den Plänen der türkischen Regierung keinen Platz mehr. Nach der Staatsgründung 1923 standen Unterdrückung, Assimilierung und Massaker auf der Tagesordnung. In den Istanbuler-Prozessen von 1919/1920 wurden die Verantwortlichen des Genozides in Abwesenheit zum Tode verurteilt, nur ein paar dieser Urteile wurden tatsächlich vollstreckt. Mustafa Kemal selbst setzte sich dafür ein die Urteile auszusetzen. Dies kommt einem Schlussstrich gleich, sich nicht mit seiner eigenen Geschichte auseinanderzusetzen. Selbst Mitglied bei den Jungtürken, war Mustafa Kemal von denselben Idealen und Konzepten beeinflusst wie z. B. der Architekt des Genozides Talat Pasa, der in Berlin auf offener Straße vom armenischen Studenten Tehlirian erschossen wurde. In Reaktion auf die leeren Versprechen Atatürks erhoben sich die Kurd_innen zu mehreren Aufständen wie in Kocgirî, Six Said-Aufstand, Agri-Aufstände und zuletzt dem Dêrsim-Aufstand. Eine lange Kette von Aufständen, die sich allesamt gegen die Ausblendung der kurdischen Identität einsetzen und mit der Friedhofsstille 1939 in Dêrsim ihr Ende fanden. Von der Gründung der Republik bis ins Jahr 1946 herrschte die CHP als einzige Partei im faschistischen Einparteiensystem. Bezüglich der Verantwortlichkeit für die damaligen Massaker sagte Selahattin Demirtas, Co-Vorsitzender der HDP: „Bis 1946 herrschte das Einparteiensystem vor, sprich es gab nur eine Partei, die der CHP. Jetzt soll nicht jeder denken, die CHP sei als Alleinverantwortliche für die damaligen Massaker verantwortlich, denn damals waren alle heutigen Parteien in der CHP vertreten und profitierten von ein und derselben Mentalität“. Diese faschistische Mentalität, die von den Jungtürken losgetreten wurde, beeinflusste und beeinflusst bis heute das politische Geschehen in der Türkei und formt auch dementsprechend die Gesellschaft. Die türkische Geschichte ist voller dunkler Schandtaten, in denen sich die „jungtürkische Mentalität“ bemerkbar machte bzw. macht. So ist z.B. die Vermögenssteuer aus den Jahren 1942-1944 zu nennen, die auf eine „Türkisierung“ der Wirtschaft abzielte. Die Einführung dieser Vermögenssteuer war übrigens die Folge eines Freundschaftspaktes zwischen der Türkei und dem Nazi-Regime im Jahr 1941. Hierbei wurden übertriebene Steuern auf Vermögen erhoben: Die Unterscheidung erfolgte nach der Religionszugehörigkeit: RONAHÎ #43 Muslime hatten 4,94 %, Griechen 156 %, Juden 179 %, Armenier 232 % an Steuern zu entrichten. Zu nennen ist noch der Pogrom gegenüber Minderheiten im Jahre 1955, die sich in den Großstädten Istanbul, Izmir (diese Stadt wird noch immer als „gâvur Izmir“ - „ungläubiges Izmir“ - bezeichnet; Grund: vor der Republik lebten hier noch zehntausende Griech_innen) und Ankara zutrugen. Bei diesen gewalttätigen Ausschreitungen kamen mehr als ein dutzend Menschen ums Leben. Weiterhin kann von einer regelrechten Leugnung der kurdischen Identität, Sprache und Kultur gesprochen werden. Öcalan spricht davon, dass nach den Aufständen zwischen 1925-1938 eine Politik betrieben wurde, die versuchte, „das Problem aus der Welt zu schaffen, indem sie es für nicht existent erklärte“. So wurden kurdische Schriften, Musik, Namen und selbst Buchstaben der kurdischen Sprache verboten. Nicht nur Widerstände, sondern selbst das „Bekennen“ zum Kurdischsein wurden kriminalisiert, als sei alles eine einzige große Lüge. Die Jahre zwischen 1960-1980 waren für die Türkei eine Phase ständiger (Re-)Organisierung von politischen Strömungen und Regierungswechseln. Die Jahre zwischen 1960-1980 waren für die Türkei eine Phase ständiger (Re-)Organisierung von politischen Strömungen und Regierungswechseln. Ende der 60er Jahre fingen viele verschiedene linke und revolutionäre Gruppen an, sich zu organisieren. Die zahlreichen Gruppierungen ignorierten leider oft den türkischen Faschismus und ließen in ihren politischen Arbeiten die kurdische Frage außer Acht. Aus diesem Grund wurde eine politische Organisierung erforderlich, die Kurdistan als Kolonie definierte und erkannte, dass die Zustände im Osten der Türkei Ergebnis einer faschistischen Politik gegen Kurd_innen sind. Ein linker, revolutionärer Kampf auf türkischem Staatsgebiet konnte nicht geführt werden, ohne die Kurd_innen mit einzubeziehen. Erstmals wurde dann die kurdische Frage von einigen wenigen Bewegungen benannt und thematisiert. So nahm die Arbeiterpartei der Türkei (TIP) die kurdische Frage in ihr Parteiprogramm und brachte es 1965 im Parlament zur Sprache. Deniz Gezmis, der Teil der türkischen 68er-Bewegung war, sprach kurz vor seiner Hinrichtung im Jahr 1972 die folgenden Worte: „Ich gehe für die Freiheit und Geschwisterlichkeit der Kurd_innen und Türk_innen würdevoll in den Tod“. In der Zeit ab - 15 - RONAHÎ #43 »» Von den Jungtürken bis Erdoğan den 68ern fingen Kurd_innen an, ihre Identität und Geschichte neu zu definieren und sich politisch zu organisieren. Nach jahrelanger Organisierung, Diskussionen und Spaltungen ging 1978 aus den Apocis, den von Abdullah Öcalan inspirierten Jugendlichen, die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) hervor, die sich damals als marxistisch-leninistisch verstand. Nach dem dritten erfolgreichen Militärputsch in der Türkei unter der Führung von Kenan Evren im Jahr 1980 verstärkten sich die Repressionen gegen die linken, potenziell „gefährlichen“ Bewegungen, zu denen auch die noch junge PKK gehörte. Es folgte eine große Festnahme- und Hinrichtungswelle. Im Kontext der zunehmenden Repressionen nahm die PKK 1984 den bewaffneten Kampf gegen den türkischen Staat auf. tischen und revolutionären Bewegungen dort. Solange die faschistische Grundhaltung des türkischen Staates weiterbesteht, können die Völker im Mittleren Osten nicht befreit werden. Wer von Antakya nach Mêrdîn fährt, wird verstehen, wie unglaublich absurd die Idee eines Nationalstaates auf jedem Boden eigentlich ist. Dementsprechend können auch weitere Nationalstaaten keine Lösung bedeuten. Denn Freiheit bedeutet, dass Pluralität zugelassen, akzeptiert und gelebt wird. Eine freie Gemeinschaft kann sich nicht über eine einzige, für alle verbindliche „nationale Identität“ definieren. Sie sollte stattdessen gekennzeichnet sein durch Solidarität, Basisdemokratie und Gleichheit ohne Gleichmacherei. Was kann Nationalismus einem dagegen geben, außer ein Stück Stoff, dass sich Nationalflagge nennt? Die Unterdrückung betraf nicht allein die Bewegung. Repressionen, willkürliche Morde und Zwangsassimilierung gehörten zum Alltag der Kurd_innen in der Türkei. Kurd_innen wurde das Recht auf Verteidigung vor dem Gericht und auf Bildung in der Muttersprache genommen. Jeglicher Widerstand gegen den Faschismus des Staates wurde sofort mit Gewalt beantwortet. Die türkische Republik hat schon vom Zeitpunkt ihrer Gründung an tiefe, schmerzhafte Narben im Leben vieler Menschen hinterlassen. Ihre Geschichte ist gezeichnet von Genoziden, die bis heute verleugnet werden und deren Verantwortliche niemals zur Rechenschaft gezogen wurden. Ein Genozid folgte dem nächsten. Die Schmerzen der Massaker in Kocgirî, Dêrsim, Maras und Sivas sind bis heute nicht vergessen. Noch immer fließen die Tränen der Angehörigen der Opfer von Roboskî, Suruc, Amed und Ankara. Bis heute erkennen wir, dass sich an der Haltung dieses Staates nichts verändert hat. Der Faschismus des türkischen Staates nimmt seit Erdogan wieder eine scheußlichere Gestalt denn je an. Die aktuellen Massaker vor allem im Südosten der Türkei sind allerdings keine plötzlichen Entwicklungen, die nur aus der diktatorischen Regierung Erdogans resultieren, sondern müssen als ein weiteres Beispiel einer langen Kette von Genoziden betrachtet werden, von denen sich der türkische Staat ernährt. Die Ausgangssperren, die in Nordkurdistan verhängt werden, die Zivilist_innen, die willkürlich ermordet werden, die Repressionen gegen all jene, die die Zustände offen ansprechen; das sind alles Antworten auf die immer stärker werdenden, wirklich demokra- - 16 - »» Şengal - verkauft und verraten RONAHÎ #43 Şengal - verkauft und verraten Geopfert für die Interessen der eigenen Machterhaltung – PDK/KDP im Fokus des Verrats » » Yilmaz Pêşkevin Kaba N ach den Angriffen des Islamischen Staates (IS)in Şengal in der Nacht vom 2. auf den 3. August 2014 und den damit verbundenen Massakern und Vertreibungen hunderttausender Êzîd_innen und anderer Minderheiten wie Christ_innen oder Schiit_innen mit dem Ziel eines Völkermordes war deutlich: So wie es bisher war, kann und darf es nicht weitergehen! Eine Änderung der politischen und gesellschaftlichen Situation ist für den Schutz und die Verteidigung von Şengal unabdingbar. Die labilen bzw. nicht vorhandenen Strukturen zur Selbstverwaltung, zum Schutz und zur Verteidigung waren die ausschlaggebendsten Gründe für das Ausmaß des versuchten Völkermordes, sowie der Vernichtung des Ezidentums in Şengal. Nichtsdestotrotz und vor dem Hintergrund der Erfahrungen der Vergangenheit hat sich die Bevölkerung in Şengal für die Errichtung einer Autonomie/Selbstverwaltung entschieden. Denn bis heute konnte niemand für den Schutz und die Verteidigung der Glaubensgemeinschaft der Êzîd_innen einstehen. Die Gründung des Rates der Ezid_innen von Şengal ist ein wichtiger Schritt in diese Richtung. Die Arbeiten und Tätigkeiten dafür laufen auf Hochtouren, sofern diese nicht systematisch durch die Barzani-Regierung mit ihrer Partei PDK/KDP aufgehalten werden. In vielen Ländern wird der Zuspruch immer größer. Viele Bewegungen, Institutionen, Organisationen, Parteien etc. befürworten das Vorhaben und haben praktische Hilfe zugesagt. Die Barzani-Regierung - 17 - RONAHÎ #43 »» Şengal - verkauft und verraten möchte den anderen Glaubens- und Religionsgemeinschaften sowie ethnischen Gruppen keine weiteren Rechte zugestehen, weil sie ihre Einflusssphäre gefährdet sieht und mit anderen Partnerstaaten wie der Türkei wirtschaftliche Verträge wie u.a. Öl-Abkommen hat. schützen und es würde nicht mal dazu kommen, dass ein Kind zu Schaden nehme. Unter der Angst, dass sie ihren Einfluss in der Region verlieren, machten sie der PKK den Vorwurf, sie versuche Şengal für sich zu vereinnahmen. Nicht nur, dass sie es offiziell unterbanden, sie versuchten auch noch mit allen Mitteln zu verhindern, dass Guerillakräfte sich nach Şengal begeben. Trotzdem machten sich zwölf Freiheitskämpfer_innen über die Berge Şengals auf den Weg. Am Ende waren es neun Freiheitskämpfer_innen der PKK und der YPG/YPJ, die nur durch ihren furchtlosen Einsatz zehntausenden Ezid_innen sowie anderen Betroffenen die Flucht vor den Horden des IS ermöglichten. Nach Beginn des IS-Angriffs auf die ezidische Gemeinschaft und der Flucht der eigentlich zu ihrem Schutz in Şengal stationierten Pêşmerga-Truppen war die Zivilbevölkerung Mord, Barbarei und Gräueltaten des IS ausgesetzt. Das AusDer Angriff auf Şengal war lange geplant und maß der Katastrophe der Unmenschlichkeit wird imabzusehen mer offensichtlicher. Davon zeugen tausende Frauen, Vor dem Angriff haben schon viele Anzeichen die Be- welche noch immer gefangenen gehalten werden, der fürchtungen bestärkt. Es war kein Angriff, der unvor- systematische Organverkauf und viele weitere Gräuhergesehen kam. Schon seit Anfang Juni 2014 gab es eltaten. die ersten Absprachen und Zusammenschlüsse des IS mit regionalen Gruppen, sowohl militärische als auch Die Zahlen der in Şengal stationierten Pêşmerpolitische. Das erste gemeinsame Ziel war die „feind- ga-Kräfte der Regionalregierung Kurdistans (KRG) liche“ Übernahme von Mosul. Mit der Übernahme und deren Ausrüstung hätten mit geringem Einsatz von Mosul war es nur ein Frage der Zeit bis Şengal den Angriff des IS verhindern können. Hier muss als nächstes angegriffen würde. Die kurdische Frei- auch vor nationalen und internationalen Gerichten heitsbewegung hat diese Entwicklung aufmerksam eine unterlassene Hilfeleistung geprüft und dementbeobachtet und die mediale und auch diplomatische sprechend geahndet werden. Öffentlichkeit vorgewarnt, um dem Vorhaben Einhalt Alle Bestrebungen und Errungenschaften nach Friezu gebieten. Sowohl die Zentralregierung des Iraks den, Freiheit, Demokratie und Menschlichkeit u.a. in als auch die Regionalregierung Süd-Kurdistans wur- Form von Selbstverwaltung und Selbstschutz durch den entsprechend kontaktiert, um ein gemeinsames die Bevölkerung in Şengal versucht man mit Mitteln vorgehen dagegen zu planen und Şengal zu schützen. wie Kriminalisierung, Repressalien, Verhaftungen Die Erfahrungen aus Rojava, wie der IS vorgeht und und vor allem großen Lügen zu verhindern. Diese was sie für Mittel der Unmenschlichkeit anwenden, Bestrebungen sind der Regierung um Barzani und waren mehr als nur Grund genug, sie aufzuhalten und der PDK/KDP ein Dorn im Auge. somit zu verhindern, dass sie Şengal erreichen. Der Präsident der KRG, Masud Barzani, der laut Mit der Begründung, dass zuvor Mosul eingenom- der Verfassung nicht mehr rechtmäßiger Präsident men wurde und dadurch die entsprechenden Kräften ist, und seine Partei PDK/KDP, welche/r durch seianderweitig eingesetzt seien und dass sich die Regio- ne „Untätigkeit“ in Verruf geraten ist, gilt der größte nalregierung Süd-Kurdistans um den Schutz kümme- Unmut und der Vorwurf des Verrats. Erst durch seine re, zog sich die Zentralregierung des Iraks aus Şengal „Untätigkeit“ wurde das Massaker des Islamischen zurück. Auch das Angebot der PKK an die Regional- Staates IS an der Bevölkerung in Şengal möglich geregierung Süd-Kurdistans, eine Gruppe von Gueril- macht. Die Kriminalisierungs- und Repressionspolila zu entsenden, wurde mit der Aussage abgelehnt, tik gegenüber der êzîdisch-kurdischen Bevölkerung, es gäbe über zehntausend Pêşmerga, die Şengal be- aktiven Politikern_innen und anderen Minderheiten - 18 - »» Şengal - verkauft und verraten wird weiterhin durchgeführt. Um dies zu verhindern und diesem entgegenzuwirken, ist eine Solidarität mit den Vorhaben und Zielen der Bevölkerung in Şengal von großer Bedeutung. Zu erwähnen ist zudem, dass auch Helfer_innen u.a. aus Deutschland von dieser unmenschlichen Politik betroffen waren und sind. Mit Beginn der humanitären Hilfe sind viele Freiwillige auch aus den Reihen der êzîdischen Föderationsmitgliedsvereine aus Deutschland in die Flüchtlingslager in Duhok und Zaxo mit Hilfstransporten und Sachspenden zur Hilfe geeilt. Die Bevölkerung Şengals zum Verhalten der PDK/ KDP RONAHÎ #43 junge Frauen sowie Kinder dem Feind überließen. Als Führung der êzîdîschen Menschen und des Hauses der Êzîd_innen akzeptieren wir dieses Verhalten nicht und erklären deutlich, dass wir den Verrat der KDP nie vergessen werden, noch in Vergessenheit geraten lassen werden. Wir werden uns nie wieder zu jemandes Spielball machen lassen. […] Sie haben uns zurückgelassen und sind geflohen. Wir werden dies nie akzeptieren oder das Geschehene vergessen. Sie sollten sich von Şengal fern halten, dort wo unsere Grabstätten sind und die nur der Gemeinschaft der Êzîd_innen gehört. Wir werden unseren Kampf fortsetzen und unser Land nach der Befreiung niemals verlassen. […] Şengal ist weder das Eigentum von Barzani, noch der PDK/KDP.“. Immer wieder ist den Aussagen der Bevölkerung von Şengal klar und deutlich zu entnehmen, dass vor allem die PDK/KDP für das Massaker in und um Şengal mitverantwortlich ist. In vielen Erklärungen haben sich die Betroffenen dazu geäußert und erklärt: Den Verrat der PDK/KDP werden wir nicht vergessen! Die Mitglieder des Hauses der Êzîd_innen erklärten auch, dass sie die Hilfe der PKK im Kampf um Şengal und den Tod der vielen Märtyrer_innen nie vergessen werden. Sie wissen es zu schätzen, dass es die Kämpfer_innen der PKK, der YPG und der YPJ mit allen Möglichkeiten und trotz aller Hindernisse geschafft haben, ein noch schlimmeres Massaker zu „Den Verrat der PDK/KDP werden wir nicht verges- verhindern. Auch die Unterstützung des Aufbaus der sen und das Schicksal keiner politischen Partei mehr Selbstverwaltung und der Selbstverteidigung wird überlassen – wir werden uns niemandem unterwerfen mit großer Befürwortung begrüßt. und unseren Weg der gerechten Geschwisterlichkeit Aktionen und militärische Aktionen zur Befreiweiter verfolgen.“ ung Şengals Mehr als 17000 Mütter, junge Frauen sowie Kinder An der Verzögerung der Befreiung von Şengal ist wurden dem IS durch die Flucht der Pêşmerga re- maßgeblich die PDK/KDP verantwortlich. Immer gelrecht überlassen. In vielen Presseerklärungen hat wieder gab es von Seiten der kurdischen Freiheitssich vor allem das Haus der Êzîd_innen im Gebiet bewegung die Absicht und Bestrebung einer gemeindes Şengalgebirges/ Mala Êzîdiya Şengal, dem viele samen militärischen Operation, um die Region zu Stämme aus der Region angehören, zum Verhalten befreien. Nicht nur, dass die PDK/KDP dem nicht der PDK/KDP geäußert: zugestimmt hat, sie hat es durch ihr Schweigen unnö„Jede_r, die/der nicht hinter dem Glauben der Êzîd_ tig in die Länge gezogen. innen steht, soll es unterlassen ihm zu schaden. Wir Die YBŞ (Widerstandseinheiten Şengals - Yekîneyên verfolgen die gerechte Sache unserer êzîdîschen Mit- Berxwedana Şengal) sind maßgeblich in Zusammenmenschen. Wir wurden verraten und wissen sehr gut, arbeit mit den Freiheitskämpfer_innen der HPG/ wer uns feindselig gegenüber steht. Sie versuchen YJA-Star (Volksverteidigungskräften der PKK) und nun ihren Einfluss auf die êzîdîschen Menschen wie- der Volksverteidigungseinheiten YPG sowie der der zu stärken. Wir ermahnen, haltet euch von uns Frauenverteidigungseinheiten YPJ aus Rojava/ Nordfern. Die KDP hat uns zurückgelassen und ist geflo- syrien dafür verantwortlich, dass weitere Übergriffe hen, ohne die Menschen zu warnen, zu organisieren verhindert und viele Regionen in und um Şengal beoder Hilfe für sie zur Verfügung zu stellen. [...] Es ist freit wurden. Gemeinsam vermochten sie bei der Besinnlos, dass die KDP nun versucht die Vergangenheit freiung des Şengal-Gebiets erste Erfolge zu erzielen. vergessen zu machen und weiterhin behauptet ‚Wir Höhepunkt waren die Befreiung des Stadtzentrums werden Şengal befreien‘, nachdem sie 17000 Mütter, von Şengal am 19.12.2014 und die gesamte Befrei- - 19 - RONAHÎ #43 »» Şengal - verkauft und verraten ung Şengals am 13.11.2015. Die PDK/KDP und allen voran Mesud Barzani haben nach diesen Befreiungsaktionen immer wieder versucht, die Errungenschaften für sich zu vereinnahmen und in ihren Medien den Kampf als ihren dargestellt. Sie versuchen immer wieder ihr Ansehen zu verbessern und sich für die internationale Öffentlichkeit als Helden gegen den IS darzustellen, wie in Rojava so auch in Şengal. Unsere Föderation in Solidarität sowie in Verantwortung und Verpflichtung Viele kurdische und internationale Organisationen, Institutionen, Vereine in Kurdistan, aber auch die kurdische Bevölkerung in ganz Europa verurteilen diese Vorgehensweise. Aus unser aller Sicht ist diese Vorgehensweise ein politischer Akt, welcher im Zusammenhang mit der steigenden Repression gegen êzîdisch-kurdische Aktivist_innen steht. Als Föderation der Êzîdischen Vereine in Deutschland und Vertreter tausender Êzîd_innen bundesweit/weltweit möchten wir weitere Genozide an den Bevölkerungs- und Glaubensgemeinschaften durch das Erheben unserer Stimme für Frieden und Freiheit verhindern. Durch unser verantwortliches Handeln können und müssen wir weitere Katastrophen und ein noch größeres Verbrechen an der Menschheit gemeinsam verhindern. Mit allen Möglichkeiten werden wir die Selbstverwaltung und die Selbstverteidigung der Bevölkerung in Şengal fördern, fordern und unterstützen. Selbstverständnis der Föderation der Êzîdischen Vereine – Federasyona Komelên Êzîdiya (FKÊ): Die Föderation der Êzîdischen Vereine e. V. vertritt die Interessen der in ihr organisierten ÊzîdInnen/êzîdischen Kurd_innen unabhängig von deren Herkunft und politischer Orientierung. Zu den Arbeitsschwer- punkten der Föderation der Êzîdischen Vereine e. V. gehört die gelungene Integration der Mitglieder in die Mehrheitsgesellschaft, der Erhalt und die Pflege des kulturellen Erbes des ÊzîdInnentums sowie soziale und humanitäre Hilfestellung für Flüchtlinge und Notbedürftige in Europa und den Herkunftsländern der Êzîd_innen. Zur Erreichung ihrer Ziele arbeitet die Föderation der Êzîdischen Vereine e. V. auch eng mit Immigrant_innenverbänden und Menschenrechtsorganisationen in Deutschland zusammen. Durch ein breites Netzwerk ist die Föderation mit anderen êzîdischen und kurdischen sowie weiteren Organisationen aus dem Nahen Osten in Europa eng verknüpft. Yilmaz Pêşkevin Kaba reist sehr häufig, als Mitglied von Menschenrechts- und Wahlbeobachterdelegationen nach Kurdistan (in die kurdischen Regionen Syriens, des Iraks und der Türkei). Er setzt sich in verschiedenen Organisationen in Celle und Hannover, aber auch auf Bundesebene u.a. für eine »bessere« Partizipation der Migrant_innen am gesellschaftlichen und politischen Leben ein. Dort ist er vor allem für die Bereiche Flüchtlingspolitik, Jugend, diplomatische Beziehungen und Öffentlichkeit mitverantwortlich. Er ist auch Vorstandsmitglied der Föderation der Êzîdischen Vereine (FKÊ e.V.), sowie des Demokratischen Gesellschaftszentrums der Kurd_innen in Deutschland (NAV-DEM e. V.). Hintergrundartikel zu Şengal: www.kurdistan-report.de - Şengal ist befreit – Şengal ist frei (Die Befreiungsaktion ist ein wichtiger Schritt für die Menschlichkeit) - 20 - »» Kritik an KDP RONAHÎ #43 Kritik des Modells Südkurdistan - Herrschaft zweier Clans statt Demokratie » » YXK Berlin er südliche Teil Kurdistans (Başûr, „Nordirak“) wird insbesondere von Vertretern_innen der westlichen Medien und Politik häufig als Musterbeispiel für Stabilität und Demokratie dargestellt. In den chaotischen Jahren nach der amerikanischen Irakinvasion im Jahr 2003 galten die kurdischen Pêşmerge als Stabilitätsfaktor in Başûr. Für D ihre Zusammenarbeit mit der amerikanischen Besatzungsmacht wurde den Kurd_innen im Nordirak ein Autonomiestatus zugestanden, der ihnen weitgehende wirtschaftliche, politische und militärische Unabhängigkeit von der irakischen Zentralregierung gewährte. In den anschließenden Regierungsjahren des Präsidenten Mesûd Barzanî (seit 2005) kam es Barzani und Erdoğan pflegen eine sehr enge (wirtschaftliche und militärische) Beziehung. Barzani forderte die PKK mehmals auf, die Kandil-Gebirge zu verlassen und willigte den Bombardements der Türkei gegen die Guerilla ein. - 21 - RONAHÎ #43 »» Kritik an KDP Wirtschaftlich befindet sich Başûr in einer schwerwiegenden Krise, die vor allem auf einer einseitigen und stark vom Ausland abhängigen Wirtschaftspolitik basiert. Darüber können auch die vielen Neubauten, Einkaufszentren und Luxusautos nicht hinwegtäuschen, die man auf den Straßen Hewlêrs erblickt.2 Seit Monaten werden Lehrer_innen, Beamt_innen und Peşmerge nicht mehr bezahlt. Zudem sind praktisch alle Wirtschaftsbereiche außer der Ölproduktion zusammengebrochen. Nahrungsmittel, Industriegüter und sogar Wasser muss vorwiegend aus der Türkei importiert werden, obwohl die landwirtschaftlichen Voraussetzungen günstig sind.3 Das südkurdische Öl wird fast ausschließlich über die Türkei exportiert, was auch im Export zu einer massiven Abhängigkeit von einem Land führt, das zeitgleich gegen Kurd_innen im westlichen und nördlichen Teil Kurdistans vorgeht. Eine basisdemokratische Organisierung der Gesellschaft würde hingegen bedeuten, die reichhaltigen Ressourcen Südkurdistans für die Versorgung der Bevölkerung zu erschließen. Wie in Rojava zu Kommunale Selbstverwaltung und Konföderatio- beobachten ist, würden Menschen auf Ebene von nen statt autokratischem Nationalismus Kommunen, Stadteil- bzw. Dorfgemeinschaftsräten Die Demokratisierung auf Grundlage kommunaler und Gebietsräten über die Produktion ihrer eigenen Selbstverwaltungsstrukturen stellt die Hauptvoraus- Lebensgrundlagen entscheiden und dies in Form von setzung für die Befriedung des Nahen und Mittleren Kooperativen institutionalisieren4. Dies würde eine Ostens dar. Seit der Durchsetzung des nationalstaat- Diversifizierung der südkurdischen Wirtschaft und lichen Paradigmas im Rahmen des Vertrags von Lau- eine bessere Orientierung an den tatsächlichen Besanne (1923) durch die imperialen Mächte England dürfnissen der Menschen ermöglichen: zwei Grundund Frankreich haben sich die Konflikte in der Re- lagen für eine nachhaltige und vor allem unabhängigion deutlich verschärft, was zu endlosen militäri- gere Entwicklung der südkurdischen Wirtschaft. schen, wirtschaftlichen und politischen AuseinanderDie Politik der beiden größten südkurdischen Parsetzungen führte. Das letzte traurige Beispiel dafür teien KDP und PUK, die seit 2005 gemeinsam die ist Syrien, aber auch der Irak ist seit der Invasion der Regierungen stellten, ist hauptverantwortlich für die Amerikaner_innen praktisch zusammengebrochen. aktuelle Lage. Insbesondere das vom Präsidenten Im Gegensatz zur zentralistischen und monopolistiMesûd Barzanî betriebene korrupte System stellt ein schen Kontrolle durch den Nationalstaat, verfolgt die großes Problem dar, da Privilegien auf Grund von kurdische Freiheitsbewegung die Vision kommunal Clanzugehörigkeit und politischer Hörigkeit vergeorganisierter, selbstverwalteter und föderativer Zuben werden. Alle wichtigen politischen Posten, wie sammenschlüsse in der Region1. Eine basisdemokradas des Geheimdienstchefs oder des irakischen Fitische Selbstverwaltung, wie wir sie auch in Rojava nanzministers, sind mit Verwandten Barzanîs besetzt (Westkurdistan/Nordsyrien) und Bakur (Nordkurdiund der Beamtenapparat künstlich aufgebläht. Zustan/Osttürkei) sehen, setzt nicht auf das nationalgleich wird die Meinungs- und Pressefreiheit massiv staatliche Paradigma, sondern auf die Freisetzung aller gesellschaftlichen Kräfte auf den verschiedensten 2 vgl. „Wo genau liegt Kurdistan?“, http://monde-diplomaEbenen. tique.de/artikel/!490561 (12.01.16) zu einem starken wirtschaftlichen Aufschwung, der vor allem durch die relativ stabile Sicherheitslage ermöglicht wurde. In Folge der Gebietsgewinne des IS im Jahre 2014 wurden jedoch die Schwächen des Modells Başûrs deutlich. Seither befindet sich die autonome Region Kurdistan in einer ernsthaften wirtschaftlichen, politischen und militärischen Krise. Schlimmeres konnte nur durch die Hilfe der Volksverteidigungskräfte (HPG), den bewaffneten Kräften der kurdischen Freiheitsbewegung, an Orten wie Şengal, Mexmûr oder Hewlêr (Erbîl) verhindert werden. Aus Sicht der kurdischen Freiheitsbewegung und ihrem Paradigma des ‚Demokratischen Konföderalismus‘ müssen einige zentrale Schwachstellen des südkurdischen Gesellschaftsmodells benannt werden. Ohne entscheidende Veränderungen entlang der Paradigmen Basisdemokratie, Frauenbefreiung und Ökologie wird es nur schwer möglich sein, diese kulturell vielfältige Region langfristig zu stabilisieren. 1 vgl. Abdullah Öcalan. „Demokratischer Konföderalismus“. Neuss: Mesopotamien-Verlag, 2012. 3 vgl. „Barzanis Machtkampf in Irakisch-Kurdistan“, http:// www.heise.de/tp/artikel/46/46300/1.html (12.01.16) 4 vgl. Flach/ Ayboğa/ Knapp. „Revolution in Rojava“. Hamburg: VSA Verlag, 2015. - 22 - »» Kritik an KDP RONAHÎ #43 eingeschränkt5 und durch gleichgeschaltete Medien gezielt Desinformationen verbreitet, wie sich z.B. an der jüngsten KDP-Berichterstattung über die Befreiung Şengals zeigte.6 Demonstrationen werden mittlerweile häufig gewalttätig niedergeschlagen. Der seit 2005 regierende Präsident Barzanî hätte laut Verfassung schon im Jahr 2013 abtreten müssen. Obwohl die zweijährige, verfassungswidrige Verlängerung seiner Amtszeit im August 2015 endete, weigert sich Barzanî weiterhin seine Macht abzugeben. Es kann also nicht einmal von einer funktionierenden repräsentativen Demokratie in Başûr gesprochen werden. Das Konzept des ‚Demokratischen Konföderalismus‘ baut auf einer politischen Selbstbestimmung auf, deren Basis die Kommune darstellt. Diese Einheit von ca. 40-150 Haushalten in der Stadt bzw. allen Haushalten eines Dorfes auf dem Land verwaltet sich mithilfe verschiedener Kommissionen und einer Doppelspitze aus Mann und Frau selbst. Lebensbereiche wie Bildung, Sicherheit oder Wirtschaft werden von allen Mitgliedern der Kommune diskutiert und Entscheidungen nach dem Konsensprinzip gefällt. In einer Region wie Başûr, in der u.a. verschiedene religiöse, ethnische, politische Identitäten beheimatet sind, stellt die basisdemokratische und selbstbestimmte Auseinandersetzung miteinander die einzig nachhaltige und friedliche Perspektive dar. Wozu ein autoritäres und monopolistisches Herrschaftssystem im Stile Barzanîs führt, ist an den aktuellen gesellschaftlichen Spannungen zu erkennen. Insbesondere in Şengal stellt sich die KDP offen gegen den Aufbau êzîdischer Selbstverwaltungs- und Selbstverteidigungsstrukturen, die derzeit mithilfe der kurdischen Freiheitsbewegung aufgebaut werden.7 liche Sprache.8 Darüber können auch medial stark beachtete Künstlerinnen wie Helly Luv oder ein paar hundert weibliche Pêşmerge (insgesamt gibt es ca. 190.000 Pêşmergekräfte) nicht hinwegtäuschen. In einem Verfassungsentwurf des südkurdischen Regionalparlaments aus dem Jahr 2009 wird die Scharia als maßgebliche Quelle für die Gesetzgebung festgelegt, was von vielen Frauenrechtsaktivistinnen in Başûr kritisiert wird. Mithilfe türkischen Kapitals wurde einer Vielzahl islamistischer Privatschulen und Universitäten sowie Moscheen und Hilfsorganisationen die Arbeit ermöglicht, was zu einer zunehmenden Radikalisierung der Gesellschaft führt. Auf den Straßen Südkurdistans ist dies deutlich zu spüren, z.B. durch immer mehr Frauen, die den schwarzen Hijab tragen. Politisch flankiert wird diese Gesellschaftsveränderung durch islamistische Parteien, die ideologisch und wirtschaftlich eng mit der türkischen AKP verbunden sind. Auf Grund dieser Entwicklungen spricht die Co-Vorsitzende des kurdischen Nationalkongress‘ (KNK), Nilüfer Koç, mittlerweile davon, dass der steigende Einfluss der Radikalislamisten in Kurdistan für die Selbstbestimmung der Kurd_innen gefährlicher sei als die türkische Besatzungsarmee. 9 Obwohl auf politischer Ebene auch Gesetze erlassen wurden, welche die Frauenrechte stärken, sind Zwangsheirat, Kinderheirat, weibliche Genitalverstümmelung und fehlende Bildung für Mädchen und Frauen noch immer große gesellschaftliche Probleme. Nicht ohne Grund versteht die kurdische Freiheitsbewegung den Kampf gegen patriarchale Unterdrückungsverhältnisse als die wichtigste Aufgabe auf dem Weg zu einer freiheitlichen und demokratischen Gesellschaft.10 Durch die autonome Organisierung der Frauen auf allen gesellschaftlichen Ebenen der Befreiung und autonome Organisierung der Frau Selbstverwaltung wird der 5000-jährigen Geschichte statt patriarchaler Unterdrückung des Patriarchats eine wirkungsvolle Struktur entgeAuch im Bezug auf die Lage der Frau müssen die süd- gengestellt. In selbstverwalteten Frauenhäusern bilkurdischen Verhältnisse kritisiert werden. Geschätzte den sich Frauen selbst weiter und können sich ihrer 12.000 Ehrenmorde zwischen 1991 und 2007, Selbst- Unterdrückung in der Gesellschaft bewusstwerden. verbrennungen und allein 14 Selbstmordversuche von Patriarchale Gewalt wird offensiv und auf Grundlage Frauen im Jahr 2014 in Silêmanî sprechen eine deut- autonomer Frauenentscheidungen angegangen. Das Prinzip des Co-Vorsitzes (Mann und Frau) und eine 5 vgl. „Peitschenhiebe für die Meinungsfreiheit“, http://www. heise.de/tp/artikel/22/22353/1.html (12.01.16) 6 vgl. „PUK Shengal Executive: KDP Press shouldn‘t be trusted“, http://anfenglish.com/kurdistan/puk-shengalexecutive-kdp-press-shouldn-t-be-trusted (12.01.16) 7 vgl. „Sengal ein Jahr nach dem Beginn des Genozids“, Kurdistan Report 181, September/ Oktober 2015. 8 „Kurdische Kämpferinnen“, http://monde-diplomatique.de/ artikel/!5208302 (13.01.16) 9 Brauns/ Kiechle. „PKK“. Stuttgart: Schmetterling Verlag, 2010. 10 Vgl. Öcalan. „Die Revolution der Frau“. Neuss: Mesopotamien-Verlag, 2014. - 23 - RONAHÎ #43 »» Kritik an KDP 40%ige Mindestquote von Frauen in allen Strukturen der Selbstverwaltung sollen die gesellschaftliche Teilhabe der Frau auch strukturell stärken.11 Dies alles geschieht auf Grundlage einer 40-jährigen Auseinandersetzung der kurdischen Freiheitsbewegung mit Formen patriarchaler Gewalt. Das Ergebnis dieses Prozesses ist dementsprechend deutlich vielschichtiger als die autonome militärische Organisierung der Frauen in Form der YPJ in Rojava oder der YJA-STAR in Bakur, worauf sich westliche Medien gerne beziehen. Ökologisch orientierte Dorfgemeinschaften statt Urbanisierung und Bauboom Natur besteht. Diese sollen sich entsprechend der Paradigmen Basisdemokratie, Frauenbefreiung und Ökologie organisieren. In Bakur tritt dafür insbesondere die Mesopotamische Ökologiebewegung ein.12 Zugleich wird die Idee einer ökologischen Industrie diskutiert, inspiriert durch Überlegungen Murray Bookchins oder europäischer Ökologiebewegungen. Ziel ist die Rückbesinnung auf ein nachhaltiges Verhältnis zwischen Mensch und Natur ohne den Nutzen moderner Technologien zu vernachlässigen. Die aktuellen Konflikte in Başûr sind Ausdruck dafür, dass die politischen und wirtschaftlichen Verantwortungsträger_innen keine Antwort auf die zentralen Fragen unserer Zeit haben: Wie kann gesellschaftliche Vielfalt demokratisch organisiert werden? Welche Hierarchien verhindern das friedliche Zusammenleben der Menschen? Wie kann der Mensch seine Lebensgrundlagen nachhaltig sichern? Die KDP und die anderen politischen Kräfte Başûrs täten gut daran, sich bei ihrer Suche nach Antworten an den Visionen der kurdischen Freiheitsbewegung zu orientieren, anstatt auf kurzsichtige Machtpolitik zu setzen. Mesopotamien ist eine der fruchtbarsten und wasserreichsten Regionen der Welt. In allen Teilen Kurdistans konnten sich die Menschen jahrtausendlang selbst versorgen und mit den Produkten aus Ackerbau und Viehzucht Handel miteinander betreiben. Insbesondere die Dorfgemeinschaft schaffte es bis in die Zeit der Kapitalistischen Moderne hinein erfolgreich, ihre Mitglieder mit lokalen und natürlichen Produkten zu versorgen. Durch die rasante Urbanisierung in Folge der Industrialisierung gerieten ländliche Gebiete in eine starke Abhängigkeit von städtischen Zentren. 12 vgl. Ayboğa, „“Wandel des ökologischen Bewusstseins Den Höhepunkt der Angriffe auf das dörflich-kom- stärken!“, Kurdistan Report 181, September/ Oktober 2015. munale Leben in Kurdistan stellt die Zerstörung von 4000 Dörfern in Nordkurdistan durch die türkische Armee dar. Damit wurde nicht nur die Unterstützung der bewaffneten Kräfte der kurdischen Freiheitsbewegung angegriffen, sondern auch die Selbstversorgung kommunaler Gemeinschaften. Der Bauboom in südkurdischen Städten wie Hewlêr zeugt von einer ähnlichen Entwicklung. Praktisch alle Arbeitsplätze finden sich in der Ölindustrie oder in der staatlichen Verwaltung, wodurch viele Menschen zum Umzug in die Stadt gezwungen sind. Gegen den Zusammenbruch der Landwirtschaft Başûrs insbesondere nach den Giftgasangriffen unter Saddam Hussein wurden keine wirkungsvollen Maßnahmen ergriffen. Dass selbst Wasser aus der Türkei importiert werden muss zeigt, wie wenig nachhaltig und kurzfristig die Sicherung der Lebensgrundlagen geplant wird. Im Gegensatz dazu wird sowohl in Rojava als auch in Bakur der Erhalt und (Wieder-)Aufbau von Dorfgemeinschaften unterstützt, da ein Bewusstsein für die negativen Folgen der Verstädterung für Mensch und 11 vgl. Flach/ Ayboğa/ Knapp. „Revolution in Rojava“. Hamburg: VSA Verlag, 2015. - 24 - »» Kurd_innen in Deutschland RONAHÎ #43 Kurd_innen in Deutschland – zwischen zwei Dimensionen der Unterdrückung » » YXK Marburg R assismus ist nicht immer für das normale Auge sichtbar und taucht des Öfteren im Alltag auf, ohne dass wir es wirklich registrieren. Denn Rassismus ist ein tief verankertes und verschleiertes Phänomen, das unsichtbar in den Köpfen der Menschen wandert. Als PoC/Migrant_in in Deutschland war fast jede_r mindestens einmal Opfer eines alltagsrassistischen Angriffs. Wie stark der Rassismus im Alltag, in Taten und Worten unterschwellig zum Vorschein kommt und wie unterbewusst dies geschieht, ist den meisten Menschen gar nicht bewusst. Aber wie können wir Rassismus am besten erkennen und definieren und müssen wir das überhaupt? Rassismus sollte keiner klaren Definition unterliegen, denn es gibt nicht den „einen“ Rassismus, von dem Menschen betroffen sind. Die Rede ist von Rassismen, die sich in Tat und Wort oft unterscheiden. Rassismus sollte deshalb nicht von kollektiven Übereinstimmungen definiert werden, sondern vom Empfinden des Individuums. Deshalb kann nur das Individuum selbst darüber Auskunft geben, wann und wo Rassismus beginnt. Natürlich sind wir als Kurd_innen, die in Deutschland leben, auch betroffen von alltagsrassistischen Angriffen. Denn Rassismus beginnt nicht erst bei der Tatsache, dass wir in der Schule oder auf dem Arbeitsplatz nach unseren Essgewohnheiten gefragt werden. Er beginnt viel früher und macht sich zum ersten Mal mit dem Wort Integration bemerkbar. Wenn ich mich als Mensch mit Migrationshintergrund in Deutschland nicht zu Hause fühle, liegt es nicht daran, dass ich mich nicht der deutschen Kultur öffnen möchte, sondern dass ich mich der Welle von Integration seit meiner Geburt beugen muss. Und trotz des kläglichen Versuchs seit der Kindheit, dem Integrationsmodell gerecht zu werden, werden wir auf allen Ebenen benachteiligt. Der Staat versucht durch seinen Staatsapparat passende Bürger_innen zu erschaffen, die durch die Integrationsfabrik laufen müssen, bevor sie in diesem Land leben können. Doch wie sollen Menschen ihre Identität und ihre Wahrheit unterdrücken, um eine neue unästhetische Lüge anzunehmen, die von der Kapitalistischen Moderne durch die Synthese von Staat und Kapital geboren worden ist? Wenn wir die deutsche Sprache nicht beherrschen, werden wir nicht ernst genommen. Wenn wir sie beherrschen sind die „Deutschen“ überrascht. Und wenn Leute versuchen, etwas „Gutes“ zu tun und nicht ausländerfeindlich zu wirken, ist es meist ein weiteres Beispiel für Alltagsrassismus. Rassismus stellt deshalb ein offensichtliches ein gesellschaftliches Problem dar und schränkt die gleichberechtigte Teilhabe am sozialen Leben ein. Es muss deshalb offen über Rassismus gesprochen werden. Denn nur viel zu oft wird dieses Thema auf den rechten Rand der Gesellschaft geschoben. Aber die Rassismen tragen keine Springerstiefel und Glatzen, sondern kommen direkt aus der Mitte der Gesellschaft. Pegida und andere rechtsgesinnte Organisationen zeigen dies klar und deutlich, indem sie mehr und mehr an Zuwachs gewinnen. In Deutschland akklimatisiert sich Rassismus aufgrund vorhandenen, tief verankerten rassistischen Gedankengutes. Natürlich bietet nicht nur Deutschland einen perfekten Nährboden für Rassismus, auch in anderen Ländern ist Rassismus ein fortlaufendes Problem. Deshalb ist die Frage nach Rassismus nicht durch geschichtliche Abrisse zu beantworten. Rassismus entsteht durch Nationalstaaten und wird stetig durch diese reproduziert. Aus diesem Grund kennt Rassismus auch keine nationalen Grenzen und bietet eine intersektionale Angriffsfläche auf die in Deutschland lebenden Kurd_innen. Da Kurdistan keine Nationalgrenzen hat, wird die kurdische Bevölkerung in den Grenzen der umliegenden Staaten unterdrückt und massakriert. Sie werden auf ihrem eigenen Boden in ihrer eigenen Heimat verfolgt und - 25 - RONAHÎ #43 »» Kurd_innen in Deutschland unterdrückt. Gleichzeitig werden die in der BRD lebenden Kurd_innen aufgrund ihrer Migration benachteiligt und diskriminiert. Kurd_innen sind demnach in beiden Ländern nicht wirklich willkommen, zum anderen in beiden Ländern unterdrückt. Als Frau, als Alevitin, als Kurdin. Wir in Deutschland lebenden Kurd_innen werden aber nicht nur von den deutschen Mitbürger_innen diskriminiert, sondern auch von den hier lebenden Türk_innen. Denn sowohl in der BRD als auch in der Türkei gehören Kurd_innen nicht der Mehrheitsgesellschaft, sondern einer Unterdrückten Identität an. Vor ein paar Jahren noch mussten sich Kurd_innen in Deutschland als Türk_innen vorstellen, weil deutsche Bürger_innen noch nie etwas von Kurd_innen gehört hatten. Die Frage und das Interesse an ethnischen Gruppen auf der Welt ist eben nicht so spannend, wie die Frage nach Ländergrenzen. Hierbei ist zu erkennen, dass selbst die Mentalität der Menschen traurigerweise nationalen Grenzen unterliegt. Amtlich werden in Deutschland lebenden Kurd_innen nur als Kurd_innen erfasst, wenn sie angeben, im eigenen Land politisch verfolgt zu werden. Ansonsten werden sie mit der jeweiligen Staatsangehörigkeit registriert. Doch der Rassismus gegenüber den kurdischen Migrant_ innen ist noch viel größer. Die meisten Kurd_innen sind aus der Heimat geflüchtet in der Hoffnung, dass in Deutschland ein angenehmeres Leben auf sie wartet, dass sie hier ihre Sprache sprechen dürfen und auch keiner politischen Verfolgung mehr unterliegen. Aber die Realität sieht leider anders aus. Selbst in Deutschland wollte kein Mensch die kurdische Realität verstehen oder sehen. Die einzige Kraft, die sich der Realitäten Kurdistans annimmt und für die Rechte der Kurd_innen Widerstand leistet, ist die PKK. Sie ist in Deutschland seit 1993 auf der Terrorliste und seit 2004 stuft auch die Europäische Union die PKK als terroristische Vereinigung ein. Somit haben die Kurd_innen in Deutschland weder die Chance auf einen legitimen, legalen politischen Kampf gegen die faschistischen Staaten, die Kurdistan wie eine Kolonie besetzen, noch das Recht ihre Identität sowie Kultur aufrecht zu erhalten. Was ist ein Gesellschaft, ein Volk ohne ihre Kultur? Die Kultur spiegelt die Identität jeglicher Gesellschaften und Völker wieder. Ohne diese Kultur und ohne ihre Sprache, stirbt ein Volk und die damit zusammenhängende schöne Vielfalt auf der Welt. Was viele nicht wissen oder wahrhaben wollen ist, dass die PKK den Kurd_innen ihre Identität und Kultur zurück gegeben hat. Dennoch besteht die BRD auf ihrem PKK-Verbot und beraubt die Kurd_innen ihrer Kultur und ihres Kampfes um ein selbstbestimmtes und befreites Leben. Der erste Satz in der deutschen Verfassung lautet: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ Doch die Würde der in Deutschland lebenden Kurd_innen wird mit Füßen getreten aus Rücksicht auf den NATO-Partner Türkei. Obwohl die Weltöffentlichkeit seit Jahren positiv über Rojava und die PYD-Strukturen berichtet, versucht die BRD nicht das illegitime Verbot der PKK zu überdenken. Deutschland und die Türkei verbinden außerordentlich vielfältige und intensive Beziehungen, die Jahrhunderte zurückreichen. Die gute Beziehung zwischen Türkei und Deutschland geht bis in die Zeit des Osmanischen Reichs zurück. Die vorerst nur wirtschaftliche Beziehung, änderte sich im ersten Weltkrieg. Beide Staaten wurden zu „Waffenbrüdern“ und pflegten vier Jahre lang auch ein militärisches Bündnis. Heute pflegen die Länder politische, kulturelle, wissenschaftliche, menschliche und wirtschaftliche Beziehungen. Deutschland ist der wichtigste Handelspartner der Türkei. Nicht zu verleugnen ist, dass der Rüstungstransfer aus Deutschland direkt zu Menschenrechtsverletzungen beiträgt. Denn schon immer waren die Zivilbevölkerung in Kurdistan oder andere Minderheiten das Opfer der grausamen Kriegspolitik und das erfordert eine starke Militärmacht. Die BRD, die sich eigentlich aufgrund der eigenen Geschichte von Kriegen fern halten sollte, unterstützt mit vollem Bewusstsein die Kriegspolitik der Türkei gegen die Minderheiten. Statt die PKK von der Terrorliste zu entfernen und Druck auf den NATO-Partner auszuüben, kriminalisiert Deutschland weiterhin die Kurd_innen und ihre politischen Arbeiten. Von Menschlichkeit und moralischen Werten kann man hierbei nicht mehr sprechen. Die Handlungen oder besser gesagt die Handlungsunfähigkeit der BRD ist auf zweckorientierte Eigeninteressen zurückzuführen. Die BRD versucht durch Verbotspolitik und Gewalt die Identität und das politische Engagement einer ganze Migrant_innengruppe zu verbieten und die Augen vor der Realität in ihrer Heimat zu schließen. Egal ob bei Demonstrationen, bei Veranstaltungen oder bei Kulturfestivals, die Präsenz der Polizei ist - 26 - »» Kurd_innen in Deutschland erstaunlich. Wovor hat die Bundesregierung denn Angst? Wenn man einem legitimen Kampf um Menschenrechte nicht den Rücken zuwenden würde, gäbe es auch keine Befürchtungen und Ausschreitungen. Nicht nur gegen Artikel 1 des Grundgesetzes wird hierbei verstoßen auch gegen Artikel 8 (Versammlungsrecht). Immer wieder versucht man die Kurd_ innen auf diese Ausschreitungen zu reduzieren, sie in der deutschen Gesellschaft in ein schlechtes Licht zu rücken, um demnach weitere politische und juristische Verbote in die Wege zu leiten und sie zu rechtfertigen. Auch alle Kulturvereine von Kurd_innen in Deutschland stehen unter Beobachtung und es ist kein Einzelfall, wenn mal eben die Polizei hereinschneit. Selbst Bilder oder Flaggen der PKK sind verboten. Die rassistische Haltung der BRD gegenüber den kurdischen Migrant_innen spiegelt sich in ihren Unterdrückungsmechanismen wieder. Obwohl die Kurd_innen in Deutschland eine der größten Migrantengruppe darstellen, werden sie nicht einmal als eigene Migrantengruppe anerkannt. Die kurdische Identität wird einerseits nicht anerkannt, aber es wird rechtlich und auch politisch gegen sie vorgegangen. Diese diskriminierende, paradoxe Art ist uns bereits von der Türkei bekannt. Das Verbot der PKK ist rassistisch und menschenverachtend. Die in Deutschland lebenden Kurd_innen haben nur zwei Möglichkeiten. Entweder die Augen schließen vor den Geschehnissen in Kurdistan und ihre Identität aufgeben. Oder sie verteidigen ihre Identität und ihre Heimat und nehmen die Kriminalisierung in Kauf. RONAHÎ #43 ösen Fundamentalismus und Nationalismus vereint. Gleichzeitig fließen hier zwei gefährliche Positionen zusammen. Der politische Islam und der Nationalismus. Die Grauen Wölfe haben weitreichende Strukturen in Deutschland, sie sind sogar in der CDU aktiv und versuchen in Deutschland die Politik zu ihren Gunsten zu betreiben. Neben diesen zahlreichen Demonstrationen in den vorherigen Monaten, steigt der Hass gegen die Kurd_innen ins Unermessliche. In Hannover wurde ein Jugendlicher mit einem Messer schwer verletzt und überlebte nur knapp. In Bern fuhr ein Nationalist absichtlich in eine Gruppe kurdischer Jugendlicher. Und das mitten in Europa. Auch medial wird gegen Kurd_innen und gegen die PKK gehetzt. Immer mehr Hasskommentare oder Hassnachrichten, sowie die Aufforderung für ein Massaker an den Kurd_innen sind der Höhepunkt der Geschehnisse. Dennoch werden keine politischen Konsequenzen gezogen. Die Grauen Wölfe bleiben weiterhin in Deutschland legal. Die BRD verschließt nicht nur die Augen vor der Kriegspolitik der AKP-Regierung, sondern trägt Mitschuld an allen Geschehnissen in Kurdistan. Wer keinen Druck auf eine Regierung ausübt, die Zivilist_innen massakriert und den IS unterstützt, hat keine demokratischen Wertvorstellungen und legt mehr Wert auf wirtschaftliche Bündnisse als auf Menschenleben. Das ist nicht nur rassistisch sondern skrupellos und menschenfeindlich. Die Grauen Wölfe jedoch werden in Deutschland toleriert und nicht politisch verfolgt. Sie können ihre politischen Arbeiten frei und in aller Öffentlichkeit betreiben. Auch heute genießen die Grauen Wölfe große Sympathie in der hier lebenden türkischen Bevölkerung. Das durch die ultranationalistische MHP und ihre Anhänger in der Türkei selbst Bücher wie „Mein Kampf“ in die Top-10 rutschen, davon will Deutschland nichts wissen. Nach den Wahlen in der Türkei wurden in einer Nacht 126 HDP Büros angegriffen, dutzende Restaurants von Kurd_innen. Viele Gebäuden von Kurd_innen wurden in Brand gesetzt. Der Faschismus in der Türkei macht keinen Halt vor Kindern oder Älteren. Aber nicht nur in der Türkei finden diese grausamen Aktionen statt. Sie haben auch wieder den Weg nach Deutschland gefunden. Es ist ein faschistischer Mob entstanden, der religi- - 27 - RONAHÎ #43 »» Selbstverwaltung und Selbstverteidigung Über die Bedeutung von Selbstverwaltung und Selbstverteidigung » » JXK MARBURG „Gesellschaften ohne jeglichen Selbstverteidigungsmechanismus verlieren ihre Identität, ihre Fähigkeit zur demokratischen Entscheidungsfindung und ihren politischen Charakter.“ Abdullah Öcalan W ie auch eine Rose sich durch ihre Dornen schützt, um ihre Schönheit frei entfalten zu können, sieht es die kurdische Bewegung als selbstverständlich an, dass jede Gesellschaft sich selbst verteidigen muss, um frei von äußeren Zwängen ein selbstverwaltetes Leben aufbauen zu können. Denn die wahre Schönheit einer roten Rose verbirgt sich in ihrer Gesamtheit, in ihren Dornen sowie in ihren Blüten. Um diese „Theorie der Rose“ zu verstehen, müssen wir uns vor Augen führen, in welchem Verhältnis Staat und Gesellschaft zueinander stehen. Die kurdische Bewegung versteht den Staat und die Gesellschaft als zwei gegensätzliche Phänomene. Auf der einen Seite befindet sich der Staat, der sich von der Versklavung und Isolierung der Menschen ernährt und somit die Gesellschaft erdrückt. Auf der anderen Seite steht die Gesellschaft, die den Staat schon fast als naturgegeben wahrnimmt und dadurch in ein Gefühl der Ohnmacht und Hilflosigkeit verfällt. Eine freie Gesellschaft dagegen bedeutet, dass Menschen ein Bewusstsein für politische Partizipation entwickeln und durch genossenschaftliche, solidarische Beziehungen die Macht des kapitalistischen und egozentrischen Welt- und Menschenbildes durchbrechen. Leider versucht der Staat, den Menschen eine gegenteilige Mentalität aufzudrücken, die sich durch Egoismus, Konkurrenz- und Machtkämpfe ausdrückt. Auch die Geisteswissenschaften verteidigen teilweise Thesen, die diesen vom System auferlegten Zustand des Egoismus als für den Menschen „natürlich“ bezeichnen. Doch Menschen können ohne ihr soziales Umfeld nicht überleben, da die - 28 - »» Selbstverwaltung und Selbstverteidigung Stärke des Menschen in der Kommunalität durch die Gesellschaft besteht. Die Gesellschaft ist der Rückhalt des Individuums und jedes Individuum ist ein Zahnrad seiner Kommune. Der Staat dagegen führt zum Zerfall der Gesellschaft, isoliert die Menschen voneinander und entfremdet sie von ihrer Natur der Gemeinschaftlichkeit. Indem der Staat immer mehr Macht ausübt, wird die Gesellschaft und damit ihre Fähigkeit zur Selbstbestimmung immer schwächer. RONAHÎ #43 möchten, obwohl die Politik unser aller Leben bestimmt. Die Gesellschaften sind sich dem System, in dem sie leben, kaum bewusst und sehen den Staat als unantastbare, unveränderliche Macht an. Wie der Staat unseren freien Willen seit der Kindheit erstickt und uns die Staatsmentalität in die Köpfe pflanzt, ist am Besten durch die Funktionsweise des Bildungssystems in der BRD sichtbar. Wir werden in diesem Bildungssystem auf mehreren Ebenen entmündigt. Zum Einen sind die Inhalte nur darauf ausgerichtet, dass wir so nützlich wie möglich für das System werden. Das wertvolle Wissen über das Leben wird komplett ausgelassen. Stattdessen lenkt uns die staatliche Bildung in eine ganz bestimmte Richtung. Wir müssten eher von Menschenfabriken als von Bildungseinrichtungen sprechen. Diese Menschenfabriken des Systems formen unsere Gedanken bis jede Zelle unseres Körpers dem System verfällt und wir somit Kader des Systems werden. Gerade Studierende sind der Manipulation am stärksten ausgesetzt, denn Akademiker_innen wird ein schönes Leben versprochen, mit Geld, Freiheit und Karriere. Zweitens macht das System einen enormen psychischen Druck auf die Menschen, der Druck, „etwas aus sich machen“ zu müssen, viel Geld zu verdienen und dafür alles in Kauf zu nehmen, aber bloß nicht das System zu hinterfragen und alles hinzunehmen. Und nicht zuletzt werden uns Menschen- und Weltbilder vermittelt, die den Staat legitimieren sollen, wie etwa die Auffassung, Menschen seien ja „von Natur aus“ egoistisch und auf Gewalt ausgerichtet. Wenn solche Thesen immer wieder bestärkt werden, wächst auch die Akzeptanz der Gesellschaft gegenüber dem kapitalistischen Staat. Auf allen Ebenen unseres Lebens entscheidet heute der Staat und macht damit die Menschen, die unter seiner Herrschaft leben müssen, zu entpolitisierten, zweckrationalen und egoistischen Individuen. Dieser Widerspruch von Gesellschaft und Staat macht deutlich, dass die Selbstverwaltung ein notwendige Bedingung für Freiheit ist. Die Menschen in der kapitalistischen Moderne pflegen einen fetischistischen Glauben an den Staat. Sie glauben, dass der Staat die einzige Möglichkeit für ein geregeltes Miteinander ist. Dieser Irrglauben, der auf eine 5000 Jahre alte Tradition zurückzuführen ist, kann nur überwunden werden, wenn Menschen sich als politisch bewusste Subjekte begreifen. Das heißt, dass sie auf ihre eigene Stärke vertrauen und sie nutzen müssen, um partizipieren zu können. Durch diese Entwicklung wird Politik für jeden Menschen zum Teil des Lebens und zu einem dauerhaften Prozess, an dem alle permanent beteiligt sind. Denn Staaten, allen voran die modernen Nationalstaaten, grenzen jegliche Vielfalt aus und homogenisieren die Gesellschaft. Dadurch werden die Menschen ihrer Identität beraubt und von ihrer Realität entfremdet. Eine staatenlose, selbstverwaltete Gesellschaft bindet somit alle ethnischen und religiösen Gruppen und Minderheiten, sowie Men- Auch die kapitalistische Wirtschaft spielt allein den Staaten und Unternehmen in die Hände. schen jeder geschlechtlichen Positionierung ein. Die heutige Realität in den kapitalistischen National- Stellen wir uns mal die Frage, wieviel unserer Arstaaten ist eine andere. Die Idee, dass es „im Westen“ beitskraft in die gesellschaftlichen Interessen fließt Demokratie und Freiheit gäbe, ist ein einziger großer und wieviel unserer Arbeitskraft der Staat durch Irrtum. Inwiefern kann ein Staat denn demokratisch kapitalistische Interessen ausbeutet. Wenn wir die sein, wenn Menschen nur alle vier Jahre mal an Wah- Arbeitskraft näher betrachten, hat sie, wie bereits len teilnehmen und dann in allen anderen Bereichen erwähnt, wie jede andere Ware einen Wert. Die zur der Politik im Dunkeln gelassen werden? Der Be- Produktion benötigte Arbeitszeit bestimmt die Höhe griff der Demokratie, der Freiheit, wie viele weitere des Wertes einer Ware. Beziehen wir das auf die Begriffe werden hierbei vom System ihrer Wahrheit Arbeitskraft, ist es die zur Reproduktion nötige Arberaubt und durch neue falsche Definitionen ersetzt. beitszeit. Der Wert der Arbeit wird also durch die für Die Menschen sind so stark entfremdet, dass sie mit ihre Wiederherstellung benötigten Grundbedürfnisse politischen Prozessen nicht in Berührung kommen eines Menschen bestimmt. Doch die Kapitalist_in- 29 - RONAHÎ #43 »» Selbstverwaltung und Selbstverteidigung nen lassen die Arbeiter_innen nicht nur für den Wert der Arbeit schuften, welche ihre Grundbedürfnisse reproduziert, sondern viel länger. Denn die Kapitalist_innen wollen in dem Produktionsprozess nicht nur eine Ware produzieren die Gebrauchswert besitzt und einen Wert hat, sondern auch einen Mehrwert. Die Herstellung von Produkten basiert nicht auf ihren Gebrauchswertewillen oder auf den Bedürfnissen der Nutzer, sondern ganz allein, um bei der Produktion einen Mehrwert zu erzielen, um Profit zu schlagen. Diesen Mehrwert können die Produzent_innen nur durch die Arbeitskraft als Ware erzielen. Gleichzeitig arbeiten die Arbeiter_innen unter der Kontrolle der Kapitalist_innen. Den Kapitalist_innen gehören nicht nur die produzierten Waren, sondern auch die Arbeitskraft der Mitarbeiter_innen. Die Kapitalist_ innen kaufen die notwendigen Rohstoffe zum regulären Preis und ebenfalls wird den Arbeiter_innen ein Lohn für ihre Reproduktion ausgezahlt. Aufgrund dessen, dass die Arbeiter_innen länger arbeiten als sie letzendlich ausgezahlt bekommen, schaffen sie einen Mehrwert, der in die Tasche der Arbeitgeber_ innen fließt. Wie der Kapitalismus die Arbeitskraft der Menschen ausbeutet, hat Marx sehr gut erkannt und beschrieben. Jedoch kann das Problem der Ausbeutung und der Unterdrückung nicht durch die Diktatur des Proletariats gelöst werden. Denn durch die Erhebung einer Klasse werden Klassifizierungen und Unterdrückung nicht behoben, sondern reproduziert. Das ist auch der Grund, warum der Realsozialismus mehrfach gescheitert ist. Unter basisdemokratischer Organiserung mit Berücksichtigung der Ökologie wird auch die Ökonomie für die Gesellschaft und nicht gegen sie arbeiten. Ökonomische Prinzipien unter moralischen Werten und ohne staatliche Eingriffe, werden kapitalistische Eigeninteressen nach und nach unterbinden. Denn das Problem der Klassen ist nicht seit dem Kapitalismus entstanden, sondern ist eine fortwährende Mentalität der Menschen, die zerstört werden muss. eigenes Bewusstsein und werden gezielt manipuliert und beeinflusst. Dieses System, der Staat, versucht aus allen Gegebenheiten Profit zu schlagen und uns zu Missanthrop_innen zu formen, die ihre Selbstverwirklichung durch den Verlust ihrer Menschlichkeit erlangen. Für ein freies Leben müssen wir uns so gut es geht gegen das herrschende System organisieren und eine starke Gegenbewegung schaffen, die die Gesellschaft in den Mittelpunkt stellt. Unsere Selbstverwaltung und die dazu gehörende Selbstverteidigung wird den Staat Schritt für Schritt schwächen und letztendlich überflüssig machen. Die verbreitete Annahme, dass wir nicht ohne Staat können, ist ein Missverständnis, das uns das System versucht einzutrichtern und das es zu überwinden gilt. Wir brauchen keinen Staat, der Entscheidungen für unser Leben trifft. Wir müssen endlich die Fähigkeit der Selbstverwaltung in uns erkennen und aktivieren. Denn die Gesellschaft selbst weiß am allerbesten, wie sie ihr Leben gestalten will. Das hierarchische Staatssystem kann nicht über unsere Köpfe hinweg über das Wohl der Gesellschaft entscheiden. Deshalb macht es auch wenig Sinn, die Lösung in einer „linken Regierung“ zu suchen. Die Regierung sind nicht rein zufällig alle autoritär, sondern es ist eine wesentliche Eigenschaft von Staaten an sich, autoritär zu sein. Ein Staat mit einem sozialistischen und demokratischen Anspruch ist schlicht und einfach paradox, unsinnig und unmöglich. George Orwells Roman „Animal Farm“ stellt sehr bildlich das Scheitern des Realsozialismus dar, in dem er schreibt, wie die herrschenden Menschen durch genauso autoritäre Schweine ersetzt werden, die durch die Organisierung und Instrumentalisierung aller Tiere an die Macht kommen, doch letzten Endes dieselbe Versklavung fortführen. Aus diesen Entwicklungen können wir viel lernen und die Bedeutung von Selbstverwaltung noch besser verstehen. Die Machtzentralisierung darf nicht einfach nur verlagert werden, sondern muss in der Hand der Basis Die Kapitalistische Wirtschaft, beutet nicht nur die liegen. Das ist der Fehler vieler vergangener sozimenschliche Arbeitskraft aus, sondern auch alle kul- alistischer Revolutionen: sie konnten den Etatismus turellen Bereiche. Kultur, Kunst, Sport und Musik nicht überwinden und haben die Gesellschaft nicht in werden von ihrer eigentlichen Ästhetik entwurzelt den Revolutionsprozess eingebunden. und zu neuen systemkonformen Wirtschaftobjek- Ein Beispiel dafür, dass Selbstverwaltung tatsächten geformt. Die Kultur ist ein Teil der Identität von lich funktionieren kann, ist der Aufbau der demoGesellschaften. Dadurch, dass selbst der Kultur ihre kratischen Autonomie in Rojava, den wir seit JahRealität entzogen wird, verlieren die Menschen ihr ren beobachten können. Dort kommen alle Teile der - 30 - »» Selbstverwaltung und Selbstverteidigung Gesellschaft zusammen und organisieren sich Straße für Straße, Dorf für Dorf, um ihr Leben gemeinsam aufzubauen, sich selbst und andere zu kritisieren und auf basisdemokratischem Weg Lösungen für Probleme zu finden. Machtergreifungen sind gar nicht erst möglich, da die Menschen permanent am Geschehen beteiligt sind. Es ist ein immer fortwährender Prozess, der alle Menschen einbindet. Es ist eine Revolution, die immer weitergeht, und nicht an dem Punkt stehen bleibt, an dem „die Richtigen“ an der Macht sind. Rojava zeigt uns, was für eine Stärke eine Gesellschaft hervorbringen kann, wenn sie sich jenseits von Staat, Macht und Gewalt organisiert. Die starken Repressionen gegen die dortigen Selbstorganisierungen sind kein Zufall. Die Staaten ertragen es nicht, dass Menschen sich Alternativen schaffen und der ganzen Welt zeigen, dass es wirklich funktionieren kann. Vor diesem Hintergrund ist auch die derzeite Lage in Kurdistan zu bewerten. Vor einigen Wochen erklärten die Menschen in Wan (türk. Van) als Antwort auf die Repressionnen des Staates ihre Selbstverwaltung. Zwei Tage darauf wurden 12 Jugendliche kaltblütig vom Staat ermordet. Denn auch der Staat ist sich darüber im Klaren, dass der Aufbau der demokratischen Autonomie auf türkischem Boden das Ende des Staatssystems bedeuten würde. Diese Alternative würde die Pläne des Staates zur Machtausübung zunichtemachen. RONAHÎ #43 Gesellschaft gemeint. Das heißt eine Kraft, die von unten wächst und ihre Stärke auch dadurch erlangt. Wir müssen uns selbst schützen und befreien, denn der Staat wird niemals im Interesse der Gesellschaft handeln. Im Gegenteil hält er sich durch unsere Versklavung aufrecht. So ist auch die Wirtschaft auf einem solidarischen Handel und einer kommunalen Zusammenarbeit aufgebaut. Die Güter werden so weit es geht in Gemeinbesitz gebracht. Alles soll derGesellschaft gehören, denn die Gesellschaft erntet, baut und erwirtschaftet. Warum sollten die Früchte der Gesellschaft nochmals in die Hände von kapitalistischen Großunternehmen fallen? Damit die Gesellschaft ihnen ihre eigenen Produkte abkaufen muss? Die Basisdemokratie wird in Rojava auf alle Ebenen des Lebens übertragen: Ökonomie, Ökologie, wie auf die Bildung und Verteidigung der Gesellschaft. Die Bildung schlägt radikale Wege ein, indem sie alternative Akademien aufbaut. Hier spielt vor allem die Frauenbewegung eine große Rolle. Die heutige Wissenschaft trägt jahrtausendalte patriarchale Muster mit sich und dient nur der Aufrechterhaltung des kapitalistischen Systems. Die Frauenbewegung versucht die Wissenschaft aus einer anti-patriarchalen Perspektive aufzuarbeiten und die Geschichte (der Frauen) durch Jineoloji (d.h.“Frauenwissenschaft“) neu zu schreiben. Das alles muss durch die Selbstverteidigung der Gesellschaft geschützt werden. Diese Form von Verteidigung ist nicht mit dem Militär eines Staates zu vergleichen. Die Staaten versuchen durch ihr Militär bloß, ihr eigenes System und ihre eigene Macht zu schützen. Mit Selbstverteidigung ist in der kurdischen Bewegung dagegen die Verteidigung der - 31 - RONAHÎ #43 »» Kapitalistische Moderne Kapitalistische Moderne » » YXK Berlin D ie Menschheitsgeschichte seit dem Neolithikum (Jungsteinzeit) ist von einschneidenden technologischen, mentalen und gesellschaftlichen Veränderungen geprägt, die bis in unsere heutige Zeit weiterwirken. Mit der Zerstörung der ‚natürlichen Gesellschaft‘, die von einer kommunalen, matrizentrischen und solidarischen Lebensweise in Klans geprägt war, entstanden hierarchische Gesellschaftsformen. Durch die Entstehung der sumerischen Herrschaft in Untermesopotamien (ca. 3000 v. Chr.) verloren die Prinzipien der ‚natürlichen Gesellschaft‘ an Einfluss und wurden von der ersten Form einer hierarchisch-etatistischen Gesellschaft verdrängt, ohne jedoch ganz ausgelöscht zu werden. Seitdem sind die allermeisten Gesellschaften von einer hierarchisch-etatistischen Logik geprägt, die verschiedene Formen fand: die Sklavenhaltergesellschaften, feudale Gesellschaften und die heutige ‚Kapitalistische Moderne‘. Trotzdem existieren Elemente der ‚natürlichen Gesellschaft‘ in Form von Werten wie z.B. Solidarität, engen sozialen Beziehungen und Großzügigkeit weiter1. Um die heutigen Formen menschlichen Zusammenlebens unter Bedingungen der ‚Kapitalistischen Moderne‘ verstehen zu können, müssen wir durch eine anthropologisch-historische Perspektive die Entstehung dieses Gesellschaftssystems nachvollziehen. Nur auf der Grundlage dieser Analyse können wir wirksame und nachhaltige Alternativen zum zerstörerischen kapitalistischen Gesellschaftssystem entwickeln. Unsere Bewegung leistet seit knapp 40 Jahren Widerstand gegen die ‚Kapitalistische Moderne‘ und versucht in allen Teilen Kurdistans und darüber hinaus eine Alternative zu etablieren. Wir stehen damit in der Tradition jahrtausendealter Kämpfe gegen die Zerstörung von kommunalem, solidarischem und hegemoniefreiem Zusammenleben durch hierarchisch-etatistische Gesellschaftssysteme, deren aktuellste Form die ‚Kapitalistische Moderne‘ darstellt. Doch wodurch zeichnet sich das kapitalistische Ge1 Öcalan 2015 sellschaftssystem aus? Seine Basis stellen vier Säulen dar, die wir in unser Analyse der aktuellen Verhältnisse berücksichtigen müssen: das Patriarchat, der Nationalstaat, das kapitalistische Profitsystem und der Industrialismus2. Patriarchat: die Etablierung der ersten Hierarchie3 Die älteste Kolonie ist die Frau. Mit der Entmachtung der Frau am Ende des Neolithikums durch die alten Weisen, die Priester und die jungen Krieger wurde das Grundprinzip der hegemoniefreien und solidarischen ‚natürlichen Gesellschaft‘ zu Fall gebracht und durch das hierarchisch-etatistische Prinzip ersetzt. In der Menschheitsgeschichte entstand somit die erste Hierarchie: Der Mann unterwarf die Frau und setzt sie seitdem massiver Ausbeutung aus. In der ‚Kapitalistischen Moderne‘ erreichen nicht nur die Ausbeutungsverhältnisse im Allgemeinen, sondern insbesondere die Unterdrückung der Frau ihren Höhepunkt. Ohne eine Analyse der Frauenunterdrückung seit der Entstehung der hierarchisch-etatistischen Gesellschaften können wir dementsprechend die ‚Kapitalistische Moderne‘ nicht verstehen. Alle Ausbeutungsverhältnisse können nur vor dem Hintergrund dieser ersten Hierarchie verstanden werden. In der ‚Kapitalistischen Moderne‘ hat sich die Unterdrückung der Frau qualitativ verändert. Sie wird stark sexualisiert und auf reine Äußerlichkeiten reduziert. Ihr Körper wird dabei wie eine Ware behandelt, die z.B. in Form von Brautgeld gehandelt werden kann. Zugleich wird jedes ihrer Körperteile mit einem eigenen Wert versehen und einem Schönheitsideal unterworfen. Moral, Intellekt oder Verstand treten bei der Wahrnehmung der Frau durch die Gesellschaft in den Hintergrund. Tätigkeiten, die traditionell mit der Rolle der Frau assoziiert sind, werden als mehr oder weniger wertlos behandelt. Die Geburt eines Kindes und dessen Erziehung werden nicht entspre2 3 - 32 - Petersen, S. 30. Dieser Abschnitt basiert vor allem auf: Öcalan 2015. »» Kapitalistische Moderne chend ihres essentiellen Werts für die Gesellschaft anerkannt. Zugleich wird die Frau auf Tätigkeiten im Haushalt beschränkt und ist in wichtigen wirtschaftlichen, sozialen, politischen und militärischen Gremien nur geringfügig repräsentiert. Die Familie in ihrer derzeitigen Form stellt die Keimzelle der hierarchisch-etatistischen Gesellschaft dar und unterliegt zugleich dem größten gesellschaftlichen Druck. In ihr werden hierarchische Prinzipien wie die Unterdrückung der Frau oder der Jugend durch das herrschende männliche Familienoberhaupt reproduziert. Der Nationalstaat: abstrakte Macht statt mächtige Könige4 Als Folge der Auseinandersetzungen zwischen der katholischen Kirche und den königlichen Regimen auf der einen Seite und den nationalen Bewegungen (englische Revolution 1640, amerikanische 1776 und französische 1789) auf der anderen, etablierten sich seit dem 18. Jahrhundert Nationalstaaten. Diese aufständischen Volksbewegungen wurden erfolgreich von einer kleinen gesellschaftlichen Gruppe, dem Bürgertum, instrumentalisiert, um eigene ideologische, politische und ökonomische Ziele umzusetzen. Das Hauptinteresse des Bürgertums war die Etablierung und Festigung der kapitalistischen Kapitalakkumulation, mit deren Hilfe sie die Macht der alten Eliten in Frage stellen konnte. Den Nationalismus benutzte das Bürgertum dabei erfolgreich, um Staat und Volk für ihre eigenen Ziele zu gewinnen und seitdem aufrecht zu erhalten. Dabei ging es weniger um heilige Vaterländer, als um die Abgrenzung und Sicherung geographischer Kapitalakkumulationsbereiche, die durch eine gemeinsame Sprache und Tradition zusammengehalten werden konnten. Die Zugehörigkeit zu einer Nation ersetzte die schwächer gewordenen Bindungen durch Stammeszugehörigkeit, Ethnie oder Religion. In zugespitzter Form führte diese Entwicklung zur Ideologie des Nationalismus mit seiner Vorstellung von „Herrenrassen“ und den darauf basierenden nationalen Gewaltorgien des 20. Jahrhunderts. Insbesondere die beiden Weltkriege zeigen, wie stark die nationalstaatliche Logik nachhaltigem menschlichem Zusammenleben widerspricht und insofern Ausdruck einer generellen Krise der ‚Kapitalistischen Moderne‘ ist. Der Nationalstaat stellt eine Fortsetzung der etatis4 Dieser Abschnitt basiert vor allem auf: Öcalan 2015. RONAHÎ #43 tisch-hierarchischen Systeme seit der Entstehung sumerischer Stadtstaaten dar und bedeutet zugleich deutliche qualitative Veränderungen. Die Macht einer Person, z.B. eines Königs, wird ersetzt durch die Macht unpersönlicher, abstrakter Institutionen. Politische Parteien, Armeen oder Bildungseinrichtungen stellen die Grundlage nationalstaatlicher Machtausübung dar und vermitteln den unterdrückten Menschen zugleich den Eindruck, Teilhabe an der Macht zu haben. Parteifunktionäre, Offiziere, Lehrer oder Familienväter üben ihrem begrenzten Rahmen Macht aus, ohne jedoch die Macht nationaler Eliten in Frage stellen zu können. Parteipolitik und Parlamentarismus erwecken den Anschein, verschiedene gesellschaftliche Gruppen wären Teil des Staates und könnten ihn in ihrem Sinne beeinflussen. Dies verschleiert die massive Zentralisierung von Macht im Nationalstaat und die damit einhergehende Schwächung der Gesellschaft5. Durch die starke Verschränkung von Staat und Wirtschaft können Einzelne zudem durch ökonomischen Druck wirksam kontrolliert werden. Das kapitalistische Profitsystem: maximale Ausbeutung durch Individualisierung6 In der ‚natürlichen Gesellschaft‘ waren Gemeinschaftseigentum und Teilen von Besitz maßgebliche Garanten für den gemeinschaftlichen Zusammenhalt Durch das hierarchisch-etatistische Gesellschaftssystem wurden Privateigentum und Akkumulation von Besitz durchgesetzt, um die Organisierung der Gemeinschaft um das solidarische und matrizentrisch geprägte Zentrum herum zu durchbrechen. Diese Entwicklung wurde in der ‚Kapitalistischen Moderne‘ durch das Bürgertum auf die Spitze getrieben, indem Individualismus und analytische Intelligenz in noch nicht gesehenem Ausmaß gegen den moralisch-ethischen Zusammenhalt der Gesellschaft eingesetzt wurden. Die Ausbeutung aller Gesellschaftsgruppen basiert auf der radikalen Zerstörung der moralisch-ethischen Basis der Gesellschaft. Ohne diese zerfällt die Gesellschaft in ihre Einzelteile, die Individuen, und wird somit maximal angreifbar bzw. ausbeutbar. In der ‚natürlichen Gesellschaft‘ wurden die Akkumulation von Besitz und die individuelle Verwaltung dessen als Gefahr für den Zusammenhalt der Gemeinschaft erkannt, abgelehnt und stattdessen eine Geschenk- und Tauschökonomie gelebt. An die 5 6 - 33 - Öcalan 2003 Dieser Abschnitt basiert vor allem auf: Öcalan 2015. RONAHÎ #43 »» Kapitalistische Moderne Stelle gemeinschaftlichen Zusammenhalts tritt in der ‚Kapitalistischen Moderne‘ die individuelle Akkumulation von Besitz. Auf der kapitalistischen Akkumulation von Besitz basierte die Machtstellung des Bürgertums, das deshalb wiederum das Prinzip der privaten Akkumulation unterstützte. Das Bürgertum als Antreiberin der ‚Kapitalistischen Moderne‘ setzte sich durch die Prinzipien der Akkumulation und des Profits gegen alte Machteliten durch. Die Grundtendenzen der Akkumulation und Monopolisierung sind schon in der Entwicklung des ersten hierarchisch-etatistischen Systems der Sumerer zu erkennen, erreichen aber in der ‚Kapitalistischen Moderne‘ ihren Höhepunkt. Konsequenz dieser Entwicklung ist die maximale Ausbeutung von Mensch und Natur, die mittlerweile in Form von Krieg, Naturzerstörung und konfliktträchtiger sozialer Ausgrenzung selbst der ‚Kapitalistischen Moderne‘ die Grundlage zu entziehen droht. und zum anderen durch die Fusion von Wissenschaft und Technik. Als Ergebnis dieser Entwicklungen sieht sich die Menschheit weniger mit Problemen der Produktion, als des Konsums konfrontiert. Überproduktion wird zu einem bedeutenden Problem. Zudem werden durch die industrielle Produktion neue Produktionsquellen gewonnen, die allerdings durch den alleinigen Fokus auf Profit im Interesse einer kleinen Elite nicht in den Dienst der Menschen gestellt werden. Auf der Grundlage der Analyse und Kritik von Patriarchat, dem Nationalstaat, des kapitalistischen Profitsystems und des Industrialismus können wir uns über notwendige Alternativen klar werden. Die kurdische Freiheitsbewegung unter Führung von Abdullah Öcalan hat mit dem ‚Demokratischen Konföderalismus‘ eine starke und konkrete Vorstellung von einer basisdemokratischen, frauenbefreiten und ökologischen Gesellschaft entwickelt. Um zu sehen, dass Industrialismus: die Fabrik als höchste Stufe der sich dieser Vorschlag in der Praxis bewährt und wo es einer Weiterentwicklung bedarf, genügt ein Blick Produktivität7 nach Rojava oder Nordkurdistan (Osttürkei). Anhand der materiellen Produktionsbedingungen und der darauf basierenden Besitzverhältnisse lassen Literatur sich Gesellschaftsformen voneinander unterschei−− Öcalan, Abdullah. Gilgameschs Erben. Von Suden und in ihren jeweiligen Merkmalen beschreiben. mer zur demokratischen Zivilisation. Band 1. Während des Paläolithikums war der unbearbeitete Bremen: Atlantik Verlag, 2003. Stein die zentrale Technik und das Jagen und Sammeln die zentralen Methoden zur Sicherung der le- −− Öcalan, Abdullah. Verteidigungsschriften. Jenseits von Staat, Macht und Gewalt. Köln: Mezobensnotwendigen Grundlagen der Gemeinschaft. Im potamien Verlag, 2015. Neolithikum (Jungsteinzeit) traten der bearbeitete Stein sowie Ackerbau und Viehzucht an deren Stelle. −− Öcalan, Abdullah. Die Revolution der Frau. Internationale Initiative „Freiheit für Abdullah Öcalan Das Sklavenhaltersystem war von der Verarbeitung – Frieden in Kurdistan“, 2014. von Bronze und der rücksichtslosen Ausbeutung des menschlichen (Sklaven-)Körpers für den Produk- −− Petersen, Ulf. „Die Rojava-Revolution zwischen kurdischer Selbstbestimmng und sozialer Utotionsprozess geprägt. In der feudalen Gesellschaft pie.“ Kampf um Kobane. Kampf um die Zukunft spielt die Eisenverarbeitung eine zentrale Rolle, die des nahen Ostens. Küpeli, Ismail (Hrsg). Münszudem ermöglicht, mithilfe des Eisenpflugs immer ter: edition assemblage, 2015. 27-37. größere Landstriche der Produktion zuzuführen. In der ‚Kapitalistischen Moderne‘ treten Land und Mensch hinter die maschinelle Produktion in der Fabrik zurück, was zu einer massiven Produktionssteigerung führt. Anstelle der handwerklichen Produktion in Werkstätten, die seit dem späten Neolithikum besteht, tritt die Maschine in der Fabrik. Ermöglicht wird diese industrielle Produktionsweise zum einen durch den technischen Fortschritt in Form von Dampfmaschine, Lokomotive und später Elektrizität 7 Dieser Abschnitt basiert vor allem auf: Öcalan 2003. - 34 - »» Demokratischer Konförderalismus RONAHÎ #43 Demokratischer Konföderalismus » » YXK Bochum D er demokratische Konföderalismus ist ein Gesellschaftsmodell, das auf der regionalen Selbstverwaltung der Völker basiert. Im Gegensatz zum allgegenwärtigen Nationalstaat, welcher auf der Zentralisierung von Macht und Bürokratie aufbaut, basiert die demokratische Selbstverwaltung auf dem Zusammentreffen aller Völker in Räten, z.B. auf Ebene der Kommune oder weiter gefasster Gebiete. Ziel ist es, die gesamte Gesellschaft in das politische Leben zu integrieren und durch ständige demokratische Aushandlungsprozesse Politik zum alltäglichen Bestandteil des Lebens werden zu lassen. Alle gesellschaftlichen Gruppen sollen die Möglichkeit haben, ihre verschiedenen Ansichten einzubringen, zur Diskussion zu stellen und zur Umsetzung zu bringen. Dieses Demokratieverständnis eröffnet den politischen Raum für alle Gesellschaftsgruppen und berücksichtigt die Bildung verschiedener und vielfältiger politischer Identitäten. Folglich wird die Politik zum Bestandteil des alltäglichen Lebens, da die gesamte Bevölkerung bei den Entscheidungsprozessen ihre Bedürfnisse zum Ausdruck bringen kann. Dieses Gesellschaftsmodell sollte sich nicht nur auf die lo- kale Ebene beschränken, sondern auch auf die Ebene von Stadtteil- bzw. Dorfräten und Regionalräten. Ähnliche Ansätze lassen sich in europäischen Ländern wie zum Beispiel Deutschland und Österreich finden. Beispiel hierfür sind die vom deutschen Parlament unabhängig abgehaltenen Landtagswahlen der 16 Bundesländer. Jedoch werden die Wünsche und Erwartungen der Bevölkerung durch dieses regionale Wahlsystem nicht ausreichend berücksichtigt. Die Wahlen aller Bundesländer werden alle vier Jahre abgehalten. Das hieraus entstehende Problem resultiert aus der mangelnden Einbindung der Wahlberechtigten während der Legislaturperiode. Dies hat sowohl eine schädliche als auch behindernde Auswirkung auf die politische Dynamik der Bevölkerung. Daher bietet der demokratische Konföderalismus Alternativen an: Die Kommunen organisieren sich in Räten und dazugehörigen Kommissionen. Sie wählen ihre Vertreter_innen selbst und legen inhaltlich ihre eigenen Schwerpunkte. Im Gegensatz zum Modell in Europa bietet dieses System in Rojava mehr Flexibilität und geht noch mehr auf die Bedürfnisse und Erwartungen der sich selbst organisierenden Gesellschaft ein. Durch die auf das Volk übertragene Verantwortung steigt die Ernsthaftigkeit bei Entscheidungsfindungen. Das Modell in Rojava unterscheidet sich ganz klar vom Prinzip des Nationalstaats. Dadurch ergibt sich die Chance, die staatliche Militarisierung durch die Selbstverteidigung zurück zu drängen. Nationalstaaten sind letztlich Produkte der Kriegsführung nach innen und nach außen. Daher ist die Selbstverteidigung ein Werkzeug für die Völker, um ihre Identitäten, ihre Fähigkeiten zur demokratischen Selbstentscheidungsfindung und ihren politischen Charakter zu wahren. Daran anlehnend ist die Selbstverteidigung einer Gesellschaft nicht nur auf militärischer Ebene zu sehen, sondern umfasst auch die Schaffung eines politischen Bewusstseins und die Wahrung der kulturellen Identität. - 35 - RONAHÎ #43 »» Demokratische Autonomie - Falsche Annäherungen Falsche Annäherungen an die Demokratische Autonomie » » Die Abdullah-Öcalan-Akademie der Sozialwissenschaften D ie Lehre, die die Kurd*innen aus dem allen Völkern im 19. und 20. Jahrhundert zugestandenen Selbstbestimmungsrecht gezogen haben, und ihre Antwort darauf ist die „Demokratische Autonomie“. Fraglich ist jedoch, inwieweit diese „Demokratische Autonomie“ ihrem Inhalt und Sinn entsprechend richtig diskutiert wird. Für die Einen ist unklar, woher sie kommt, und sie ist unpassend, für manche ist sie die Vorstufe eines unabhängigen, vereinten und demokratischen Kurdistan (als Staat), obwohl man sich von diesem Gedanken bereits verabschiedet hatte, für Andere geht es um einen Staat innerhalb eines Staates ... Wenn das alles nicht der Wahrheit entspricht, drängt sich die Frage auf, was es dann mit der viel diskutierten Wahrheit der Demokratischen Autonomie auf sich hat. Wenn man sich der Thematik mit verschiedenen Versionen von importierten Theorien annähert, wird klar, dass die Demokratische Autonomie, von der unser Vorsit- zender spricht, nicht richtig verstanden wird. Anstatt sie bei denjenigen, die sie in die Diskussion gebracht haben, zu erfragen und zu verstehen, wird eine Bewertung anhand anderer Quellen vorgenommen. Wir müssen sofort anmerken, dass die Demokratische Autonomie an die Perspektive „Staat + Demokratie“ angelehnt ist. Die Autonomie spielt bei dieser Formel die Rolle des Pluszeichens. Das heißt, dass die Autonomie eigentlich die Rolle einer juristischen Brücke zwischen Staat und demokratischer Gesellschaft spielt. Deswegen sprechen wir von einer Formel mit drei Komponenten: „Staat“, „Autonomie“ und „Demokratie“. Um diese Begriffe gibt es Diskussionen, in denen ernsthafte Fehler gemacht werden, die wiederum zu einem falschen Verständnis führen. Aktuell hat der Diskurs um Demokratische Autonomie dem türkischen Staat und der kurdischen Gesellschaft einen neuen Charakter verliehen. Die - 36 - »» Demokratische Autonomie - Falsche Annäherungen Demokratische Autonomie erfordert ihrer Definition entsprechend, im Besonderen für das kurdische Volk, im Allgemeinen für die gesamte Gesellschaft, die Anerkennung durch den Staat. Allerdings erkennt der türkische Staat die Kurd*innen als Volk und Gesellschaft, die ihre Belange selber bestimmen können, noch immer nicht an. Vielmehr wird dem kurdischen Volk ein vielseitiger Genozid aufgezwungen. Deswegen ist zum jetzigen Zeitpunkt aufgrund des zu Newroz 2005 verkündeten „Demokratischen Konföderalismus“ und der „Demokratischen Autonomie“ dem Staat, auch wenn er diese nicht anerkennt, eine greifbare Verwaltung gegenübergestellt. Deshalb kann von zwei Ausrichtungen der Demokratischen Autonomie gesprochen werden. Zum einen wird das Verhältnis zum Staat geregelt. Das ist gleichbedeutend mit dem Pluszeichen in der Formel „Staat + Demokratie“. Die zweite Ausrichtung beschränkt sich nicht auf das Verhältnis zum Staat oder einzufordernde Rechte, sondern betrachtet darüber hinaus den Aspekt der außerstaatlichen Organisierung, mit der beabsichtigt wird, den Staat für das Leben der Gesellschaft unnötig zu machen. Diese zweite Ausrichtung bringt die Demokratische Autonomie mit dem Demokratischen Konföderalismus inhaltlich zusammen. Dies folgt nicht aus der Gleichheit beider Begriffe. Es handelt sich vielmehr um ein praktisches Erfordernis, das damit zusammenhängt, dass sich der bestehende koloniale Staat einer Beziehung mit der Demokratischen Autonomie nicht annähert. Falsche Annäherungen an die Demokratische Autonomie: 1. Annäherungen, welche die Demokratische Autonomie auf eine Ethnie, eine Kultur oder ein Phänomen innerhalb des Volkes oder der Gesellschaft stützen Die Demokratische Autonomie bezieht sich nicht auf eine bestimmte Erscheinung in der Gesellschaft, sondern umfasst sie im Gesamten. In diesem Zusammenhang ist Gesellschaft so zu verstehen, dass damit alle außerstaatlichen Gruppen gemeint sind. Es sind die Teile der Gesellschaft gemeint, die außerhalb des Staatsapparats, der Herrscher*innen und Machthaber*innen stehen. Unser Vorsitzender hatte diese Kreise zum besseren Verständnis „Untergesellschaft“ oder „Volk“ genannt, während die etatistischen Kreise als „Obergesellschaft“ bezeichnet wurden. Der hier verwendete Begriff „Volk“ meint keine Gesell- RONAHÎ #43 schaftsform, sondern behandelt die Außerstaatlichkeit. Die Demokratische Autonomie ist eben das System dieser Untergesellschaft. Demokratische Autonomie ist an die vielfältige Struktur der Gesellschaft angelehnt Die Theorie, aus der die Demokratische Autonomie herrührt, basiert nicht auf einer gespaltenen Gesellschaft, weil jede Art der Spaltung als ein Resultat des hierarchisch-etatistischen Systems gewertet wird. Während zum einen diese Spaltung als Schwächung der Gesellschaft gilt, wird zum anderen die Verwaltung der unendlich vielen Stücke durch die Herrschaft als Legitimation für den Staat betrachtet. Die Demokratische Autonomie basiert auf einem Verständnis, das die Gesellschaft als organisch bzw. lebendig sieht. Nach diesem Verständnis ist die Gesellschaft gesamtheitlich und bietet all ihren Mitgliedern mit ihrem eigenen Wesen und Potenzial die Möglichkeit, darin ihren Platz einzunehmen. Die Gesamtheit der Gesellschaft ersteht aus ihrem moralisch-politischen Charakter. Deswegen wird das Moralisch-politische als gesellschaftliche Natur oder die Natur der Gesellschaft, also als ihr Wesen definiert. Die Gesellschaft lässt sich als die Einheit der Verschiedenheiten definieren, die für- und miteinander Dasein möglich macht. In der Wahrnehmung der Gesellschaft gibt es Farben, Töne, Vielfalt, die als funktionstüchtige Bestandteile eines Organismus ihre Gesamtheit bilden. Diese Theorie akzeptiert weder in der Natur noch in der Gesellschaft einen Monismus. Monismus wird als Sterben begriffen oder etwas zu vernichten. Daher wird die Demokratische Autonomie als System entsprechend dieser allgemeinen Wahrnehmung der Gesellschaft gesehen. Dadurch, dass die Demokratische Autonomie innerhalb der Gesellschaft nicht differenziert (z. B. in Kurd*innen oder Türk*innen, Alevit*innen oder Sunnit*innen, Frauen oder Männer, Mehrheit oder Minderheit ...), stützt sie sich nicht auf bestimmte Teile. Ohnehin wird jede Art der Spaltung der Gesellschaft als Entfernung von ihrem gesamtheitlichen Wesen angesehen und dient nur dem sich stärkenden Staat, der die gespaltenen Teile beherrscht. Demokratische Autonomie hat einen universellen Charakter Weil die Demokratische Autonomie das System der Gesellschaft darstellt, das in strukturellem Wider- - 37 - RONAHÎ #43 »» Demokratische Autonomie - Falsche Annäherungen spruch zum Staat steht und am meisten die Gesellschaft stärkt, umfasst sie die gesamte Gesellschaft. In der etatistischen Epoche, in der wir heute leben, ist aufgrund der Umzingelung der Gesellschaft durch Macht und Staat in jedem Lebensbereich die Demokratische Autonomie so angelegt, dass sie die Gesellschaft stärkt, und kann daher auch kein System mit regionalen Grenzen sein. Die Demokratische Autonomie ist universell, weil sie ein System ist, das überall die Gesellschaft gegenüber dem Staat stärken will. Unabhängig davon, ob sich aus Sicht der Völker ein Problem mit Sprache, Kultur oder Identität stellt, gibt es überall dort, wo die Dualität von Staat und Gesellschaft besteht, einen Bedarf an Demokratischer Autonomie. Das kurdische Volk ist gegenwärtig nicht das einzige, das die Demokratischen Autonomie braucht. 2. Annäherungen, welche die Demokratische Autonomie als „Zentralstaat + lokaler Staat“ betrachten Wahrscheinlich entstehen unter diesem Aspekt am häufigsten fehlerhafte Annäherungen an die kurdische Frage und die Demokratische Autonomie. Demnach würde Demokratische Autonomie „einen Staat für jede Nation“ bedeuten, der einen ersten Schritt für die Vorstellung von einem „unabhängigen, vereinten, demokratischen Kurdistan“ darstelle und dies vorbereite. Aufgrund dessen wird die Demokratische Autonomie als taktisches Manöver beurteilt und daraufhin vehement abgelehnt und behauptet, die PKK tarne sich damit. Werden bewusste Angriffe der Feinde dieser Gesellschaft auch außer Acht gelassen, ist es dennoch erschreckend, dass sich selbst diejenigen in dieser Art äußern, die sich als „sozialistisch“ oder/ Deshalb beabsichtigt die Demokratische Autonomie und „Demokrat*innen“ bezeichnen. Das ist ein einfür alle Völker der Türkei, die Türk*innen einge- deutiges Indiz für die tiefe Ignoranz gegenüber der schlossen, die gesamte Gesellschaft zu organisieren. PKK. Die Befreiung der Gesellschaft vom Staat ist sogar Die Demokratische Autonomie ist Produkt einer in europäischen Ländern, in denen derartige Proble- Theorie, die eine Lösung außerhalb des Staates me bereits überwiegend überwunden sind, notwen- sucht dig, um die Nachfrage der Gesellschaft zu stärken, Abgesehen davon widerspricht die Anschuldigung, umzusetzen. Deshalb gibt es überall dort, wo Staaten die PKK bereite sich mit der Demokratischen Auexistieren, um der Verteidigung und der Verwirk- tonomie darauf vor, einen „unabhängigen und verlichung der Gesellschaft Rechnung zu tragen, die einten“ Staat auszurufen, dem Geschichts- und LeDemokratische Autonomie bzw. sollte es sie geben. bensverständnis sowie der Demokratielehre der Weil Demokratische Autonomie bedeutet, dass die Demokratischen Autonomie. Unsere Lesart von Gesellschaft vom Staat einfordert, mit all ihren viel- Geschichte sowie die Systemkrise, in der die hierseitigen Komponenten anerkannt zu werden. Nach- archische Staatsform steckt, zeigen uns deutlich auf, dem der Staat die Gesellschaft anerkannt hat, obliegt dass eine staatliche Organisierung oder die Lösung es dieser Gesellschaft selbst, wie sie ihr System mit gesellschaftlicher Probleme auf staatlichem Wege welcher Gesinnung organisiert und auf welche Weise nicht möglich ist. Im Gegenteil ist der als Resultat sie leben möchte. Es mag sein, dass die Demokrati- von Macht und Hegemonie entstandene Staat Ursasche Autonomie durch das kurdische Volk bzw. mit che und Quelle aller gesellschaftlichen Probleme. ihm auf die Tagesordnung gekommen ist, das bedeu- Ohne diese Quelle auszutrocknen und sich von dietet jedoch nicht, dass sie nur für die Kurd*innen gilt. sem Geist, diesen Institutionen und Systemen zu beGenauso wie sie auch für andere Völker geeignet ist, freien, ist die dauerhafte Lösung gesellschaftlicher umfasst sie darüber hinaus alle Gegebenheiten der Probleme nicht möglich. Aus dieser Perspektive ist pluralistischen Gesellschaft. Indem sie alle Gruppen der Staat die Wurzel allen Übels. Von daher ist es aus und Kreise in der Gesellschaft gegen den Staat stärkt, Sicht derjenigen, die die Lösung gesellschaftlicher bietet sie die Möglichkeit, dass jede*r mit ihrer oder Belange anvisieren, undenkbar, nach dem Geist und seiner Farbe im Rahmen demokratisch-kommunaler Körper eines Konstrukts zu streben, das alle ProbleWerte am Leben partizipieren kann. Daher ist die me verursacht. Demokratische Autonomie ein System der gesamten Gesellschaft mit all ihren Komponenten, die es auch Die PKK hat dieses Thema mit ihrem Paradigmenwechsel von ihrer Agenda gestrichen. Ihrem Paradigals ihres begreifen sollten. ma gemäß wird das hierarchisch-etatistische System - 38 - »» Demokratische Autonomie - Falsche Annäherungen mit all seinen Versionen, die zentralistische Zivilisation selbst, nicht als gesellschaftlicher Fortschritt in der Geschichte verstanden, sondern als Rückschritt. Im Zentrum der Tatsache, dass die Völker und insgesamt die Gesellschaftlichkeit derart geschwächt wurden und sich in einer sich selbst nicht genügenden Position befinden, werden die systematischen Spaltungsoperationen des Staates gegen die Gesellschaft realisiert. Die am konstantesten ausführbare und strategische Arbeit des Staates ist der systematische Versuch der Spaltung der Gesellschaft. Gespaltene Gesellschaften, die ihre Ganzheitlichkeit verloren haben und keine organische Einheit mehr bilden, sind schwache Gesellschaften. In einem solchen Fall ist die Einheit der Vielfalt der Gesellschaft zerstört und ihre Kräfte fließen nicht zusammen. Auf diese Weise wird eine Gesellschaft geschaffen, die sich selbst nicht genügt und wie eine Herde gelenkt wird. Von daher sind am gegebenen Punkt Staatsaufbau oder Partnerschaft mit dem Staat, Machtteilung oder Staatswerdung aus Sicht der PKK und ihrer ideologischen Linie nicht nur gegen die eigenen Absichten gerichtet, sondern furchtbare Tatsachen, gegen die ein erbitterter Kampf geführt werden muss. Die PKK wird nicht stärker, je staatlicher sie wird, sondern umgekehrt wird sie erfolgreicher, wenn sie von innen und außen ihren Kampf gegen den Staat verstärkt. Darum verteidigt sie die Ansicht, dass der einzige Weg zum wahrhaften Menschsein über die völlige Loslösung vom hierarchisch-etatistischen System führt. Sie setzt ihre gesamte Energie für den Kampf ein, um sich im Allgemeinen vom staatsfixierten, im Besonderen vom modernen kapitalistischen Leben zu lösen. Indem die PKK diese vollständige Loslösung als „dritte Geburt“ definiert, lädt sie alle Menschen ein, wahrhafte Menschen zu werden. Währenddessen sind die Behauptungen, die PKK wolle einen Staat gründen oder die Demokratische Autonomie bilde eine Grundlage für den Staat, mit der Realität unvereinbar. Für die PKK sind es einzig Erfolgskriterien, für die Revolution aktiv zu sein, entsprechend der gesellschaftlichen Natur mit den sogenannten moralisch-politischen Werten in Einklang zu leben und diesen Werten weitere hinzuzufügen. Der Weg dahin führt dazu, von außerhalb des Staates gegen ihn und all seine Versionen einen Kampf zu führen. RONAHÎ #43 3. Ein damit zusammenhängender weiterer Irrtum und eine entsprechende Annäherung besagen, dass die Demokratische Autonomie mit Grenzen spiele und gegen die einheitliche Beschaffenheit des Staates sei Unterschiede zwischen einheitlichem und Nationalstaat Grundlage für die Ansätze, welche die Demokratische Autonomie als ein Projekt darzustellen versuchen, das die unitäre Struktur (Einheit) des Staates aufheben will, ist neben den falschen Kenntnissen über sie auch die Tatsache, dass der Unterschied zwischen unitärem/einheitlichem und Nationalstaat nicht bekannt ist und diese beiden oft vertauscht werden. Im allgemeinen Bewusstsein hat sich das Urteil verankert, bei beiden Formen handele es sich um dieselbe. Ihre Grundeigenschaften haben hier eine große Rolle gespielt. Dabei muss gesagt werden, dass beide Modelle zur Beschreibung zweier verschiedener Dimensionen von Staat benutzt werden. Wir können ihre grundlegendsten Unterschiede so formulieren: Während der Nationalstaat einen Wandel der Seele des Staates, seiner Philosophie, seiner Mentalität und Ideologie zu Zeiten der kapitalistischen Moderne zum Ausdruck bringt, wird unter dem einheitlichen Staat die Organisierungsform oder -methode des Staates verstanden. Ersteres beschreibt also das Wesen des Staates, während Letzteres dessen Form betrifft. Folglich muss der Nationalstaat nicht in seiner Form dem einheitlichen Staat ähneln, genauso wie im einheitlichen Staat die Nationalstaatsmentalität überwunden und sich demokratischen Standards angenähert werden kann (siehe Frankreich). Der einheitliche Staat ist eine Staatsform, die ihre Hegemonie konstitutionell nicht mit der Bezirks- und Regionaladministration teilt, sondern die Leitung/ Verwaltung auf eine zentrale Autorität konzentriert. In diesem Zentrum entstehen Verfassung und Gesetze, die in allen Teilen des Landes angewendet werden. Diese Facette, die mit der einheitlichen Eigenschaft eines Staates zu tun hat, musste von den meisten uns heute bekannten einheitlichen Staaten überwunden werden. Diese Eigenschaft konnte noch bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts weitergeführt werden. Obwohl Großbritannien beispielsweise ein einheitlicher Staat ist, haben Schottland, Wales und Nordirland ihre eigenen Rechte, Parlamente und Regierungen. Dasselbe gilt auch für Spanien und Frankreich. Also ist die - 39 - RONAHÎ #43 »» Demokratische Autonomie - Falsche Annäherungen „Einheit“ des Staates kein Hindernis für seine Demokratisierung. Wenn von einer Demokratisierung des Staates die Rede ist, geht es genau genommen darum, dass er dem Volk gegenüber sensibel wird. Diese Staatsform kann dabei eine hilfreiche Rolle spielen. Von daher kann die Demokratische Autonomie mit den nötigen Regelungen trotz der „einheitlichen“ Form des Staates ohne Probleme angewendet werden (siehe die oben genannten Beispiele), was auf der anderen Seite jedoch verlangt, dass alles nationalistische Gedankengut des Staates von dominanter/ hegemonialer „Nation“, das die außerhalb seiner hegemonialen Gesinnung stehenden Volksgruppen und Minderheiten unter der „Nationalstaatslogik“ zu verschmelzen versucht, unbedingt überwunden werden muss. Also befindet sich der Nationalstaat mit seinen assimilierenden, einfarbigen, verharrenden, unterdrückenden, rassistischen und verleugnenden Eigenschaften permanent in Widerspruch und Konflikt. Unser Vorsitzender Apo schildert das so: „So wie oftmals vorgekommen, können die Kräfte der Zivilisation und Demokratie genau so wie die Kräfte der Kapitalistischen und Demokratischen Moderne auf der Grundlage von gegenseitiger Akzeptanz der Existenz und Identität sowie Anerkennung der Selbstverwaltung in Frieden miteinander leben. Unter diesen Rahmenbedingungen und Umständen können alle demokratisch-konföderalen und politischen Formationen, die sich inner- oder außerhalb der Grenzen des Nationalstaates befinden, mit dem Nationalstaat friedlich zusammen leben. Der Demokratische Konföderalismus kann, einerseits sowohl die aus dem Nationalstaatssystem begründeten Nachteile überwinden, und bietet andererseits die beste Methode, um für die Politisierung des Volkes zu sorgen.“ Die Demokratische Autonomie ist nicht das Projekt der Trennung, sondern der Gesamtheit Die Demokratische Autonomie ist kein Ergebnis eines vergeblichen Wunsches nach einem eigenen Staat und der dafür nicht vorhandenen Grundlagen. Die Demokratische Autonomie orientiert sich an keinerlei geographischen Grenzen und befasst sich auch gar nicht damit. Mit dieser Eigenschaft steht sie keinem Widerspruch zum einheitlichen Staat. Entgegen der Behauptung, dieses Projekt führe zur Spaltung, sorgt dieses Modell, das eine Formel dafür ist, wie gemein- sames Leben mit dem Staat möglich ist, für die freie Einheit der gesamten Gesellschaft. Es ist das System, das trotz Vielfalt eine Einheit möglich macht. Es ist der einzige Weg, die unterschiedlichen Farben, Töne und die Vielfalt leben zu lassen und der gesellschaftlichen Natur somit gerecht zu werden. Sie ist das Gegengift für den monistischen Genozidcharakter des Nationalstaats und bedeutet zugleich ein alternatives System für die Menschen. Anders, als man meinen könnte, ist es nicht die Demokratische Autonomie, die trennt und spaltet, sondern der Nationalstaat. Denn die nationalstaatliche Organisierung zwingt alles und jeden zur Gleichheit. Es gibt jedoch im Kern der Natur und der Gesellschaft keine Einfarbigkeit und Gleichheit. Diese Eingrenzung (Monismus) ist ein konstruiertes Produkt der hegemonialen Mentalität, die sich selbst ins Zentrum von allem setzt und sich allem aufzuzwingen versucht, was jedoch aufgrund des Widerspruchs zur Natur nicht aufrechterhalten werden kann. Obwohl sogar die als „Wunderprodukt“ des Nationalstaates geltenden europäischen Staaten dieses Modell abgelegt haben, halten später davon beeinflusste Länder wie die Türkei noch immer daran fest. Will man sich näher vor Augen führen, wie mörderisch der Nationalstaat ist, dann ist es mehr als ausreichend, sich die jüngere Geschichte der türkischen Republik anzuschauen. Das als „Garten der Völker“ geltende Anatolien ist im Laufe dieser Geschichte zum Grab vieler dort lebender Völker geworden. Seit sehr langer Zeit in Anatolien lebende Völker wurden regelrecht ausgelöscht. Rumän*innen, Armenier*innen und Aramäer*innen können dafür als Beispiel genannt werden. In der Zeit der nationalstaatlichen türkischen Republik sind nichtmuslimische Völker einem physischen Völkermord unterzogen, vertrieben und verjagt worden. Wenn auch muslimische Völker einem physischen Massaker durch die türkischen Republik ausgesetzt waren, wurden sie doch vielmehr kulturell massakriert, wobei andere muslimische Völker auf diese Weise komplett „turkisiert“ wurden. Völker, die hinter ihrer Identität gestanden haben, sind sehr selten anzutreffen. Die ethnische, sprachliche, kulturelle und kommunale Assimilation sorgte dafür, dass die unterschiedlichen Farben der Völker ausgelöscht wurden. So ist das Phänomen der unnatürlichen Einfarbigkeit entstanden. Man kann sagen, das kurdische Volk da- - 40 - »» Demokratische Autonomie - Falsche Annäherungen gegen habe seine eigene Farbe und Vielseitigkeit zu schützen versucht, große Opfer dafür gebracht und der nationalstaatlichen Mentalität großen Schaden zugefügt. Mit dieser Eigenschaft versucht es mit seinem Widerstand, dem „Garten der Völker“ wieder zu seiner früheren Schönheit zu verhelfen. Daher ist es absurd, das kurdische Volk als separatistisch zu beschuldigen, was von Nationalstaatsseite nur behauptet wird, um die eigenen Massaker und Spaltungsversuche zu verdecken. Während das kurdische Volk für ein Zusammenleben der Völker in Einheit steht, deren Lösungsprojekt die Demokratische Autonomie darstellt, ist es die türkische Herrschaft, die mit ihrer politischen Organisierung, dem Nationalstaat, Land und Volk spalten und ermorden will. Weder mit unserem Zeitalter noch mit der Natur oder dem Niveau des kurdischen Volkes lassen sich die Anomalie und der Fluch, den der Nationalstaat und seine Mentalität gebracht haben, weiter aufrechterhalten. Es ist für die Völker an der Zeit, dieses überholte System zu überwinden. Das, was die türkische Republik durchlebt, hängt mit dieser Realität eng zusammen. Sie durchlebt eine Phase der Spannungen und der damit verbundenen Erschütterungen, die daraus resultiert, dass sie zum einen auf Veränderung und Transformation angewiesen ist und sich gleichzeitig an ihre klassische Haltung krallt. Da, wo es Staaten gibt, ist die Demokratische Autonomie auf der Grundlage von Demokratie und Kommunalität um den Wiederaufbau der Gesellschaft bemüht, weshalb sie sich von den gesetzten Grenzen der Nationalstaaten nicht einengen lässt. Der Grund für die grenzenlose Demokratische Autonomie ist die Gesellschaft, die keine Grenzen kennt. Wie schon oben erwähnt, dies ist ein universelles Projekt. Der gesellschaftlichen Organisierung ist sowohl ein dem monistischen Staat entgegenwirkender vielfältiger Charakter eigen als auch der Drang, sich außerhalb des Staates zu bewegen. Daher ist es in strategischer Hinsicht am besten, wenn die Demokratische Autonomie nicht einen einzigen unorganisierten Menschen zurücklässt, das Zusammenleben der Menschen vom Staat fernhält und die Gesellschaft zur Selbstständigkeit führt. In der Demokratischen Autonomie erhalten alle Verschiedenheiten die ihnen abgesprochenen RONAHÎ #43 Rechte zurück Ein wichtiger Aspekt dabei ist, dass die Demokratische Autonomie keine spezifisch geographische Besonderheit hat, dieser Umstand ist jedoch kein Hindernis für eine geographisch definierte Autonomie. Also kann sie aufgrund der Vielfalt der Gesellschaft die Wichtigkeit geographischer Besonderheiten nicht außer Acht lassen. Andernfalls versagt sie Teilen der Gesellschaft die Ausdrucksmöglichkeit. Beispielsweise kann eine Ethnie in einer Region, in der sie stark vertreten ist, ihre eigene Autonomie aufbauen, genauso wie Angehörige dieser ethnischen Gruppe, die an einem anderen Ort leben, nichtsdestotrotz auch einen Platz in diesem System einnehmen können. Wenn wir das Beispiel der Kurd*innen näher betrachten, werden wir mit Leichtigkeit erkennen können, dass die Autonomie auf die eben genannte Art und Weise praktiziert werden muss. Bekanntlich leben die Angehörigen des kurdischen Volkes in vielen unterschiedlichen Regionen, beispielsweise bis zu fünf Millionen allein in Istanbul. Hier würde eine Annäherung an die Autonomie nach lediglich geographischen Kriterien (regionale Autonomie) entsprechend der quantitativen und qualitativen Realität der Kurd* innen keine Lösung bieten. Daher kann die Demokratische Autonomie nicht nur als eine geographisch allein auf Kurdistan begrenzte Angelegenheit verstanden werden. Die an die Vielseitigkeit der Gesellschaft gebundene Entwicklung der Demokratischen Autonomie wird den Staat, sofern er sie anerkennt, für die Demokratie sensibilisieren, und die daraus resultierenden Rechte werden allen Volks- und anderen Gruppen zugutekommen. Daher wird, wie vorhin schon erwähnt, nicht nur das kurdische Volk von den verlangten Rechten profitieren. Wenn wir von der Türkei sprechen, dann gilt dies für alle Volksgruppen in Anatolien und Kurdistan. Alle anderen, zum Beispiel Tscherkess*innen, Las*innen, Georgier*innen, werden in einem demokratischen und freiheitlichen Rahmen ebenfalls ihre autonomen Rechte nutzen und sich als eigenständige ethnische Gruppen selbst autonom organisieren können. Sie werden die Möglichkeit haben, ihre eigene Sprache, Kultur, Geschichte zu lernen und zu leben. All diese ethnischen Gruppen werden ihren Platz im demokratischen System als dessen Bereicherung einnehmen. Darüber hinaus werden auch die Ezid*in- - 41 - RONAHÎ #43 »» Demokratische Autonomie - Falsche Annäherungen nen, Alevit*innen, Christ*innen und viele andere Glaubensrichtungen oder religiöse Minderheiten ihren Glauben wie gewünscht ausleben und sich selbst mobilisieren können. Indem sich der Staat vom Standpunkt des Nationalstaates (Nationalismus) distanziert, wird er sich gegenüber allen gesellschaftlichen Vereinigungen gleich gerecht verhalten müssen. Nur dann wird die „demokratische Republik“ als Staatsmodell entstehen können. Die Staaten, die der Gesellschaft keinerlei Rechte zuerkannt und mit ihrer nationalstaatlichen Perspektive ihr Territorium in einen einzigen Friedhof der Völker und Kulturen verwandelt haben, können noch so oft behaupten, demokratisch sensibilisiert zu sein. Unter diesen Umständen werden sie nie demokratische Ansichten teilen. Wir können die türkische Republik nur als „demokratische“ betiteln, wenn sie sich mit allen Volksgruppen in Anatolien verträgt und alle unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppierungen die gleichen Rechte bekommen und freie Meinungsäußerung praktizieren können. Ausdruck in der Formel „Staat (+) Demokratie“. Gleichzeitig bedeutet Demokratische Autonomie, vom Staat seine Vielfalt einzufordern Die Staaten haben den Völkern und der Gesellschaft als Ganzem einen Großteil ihrer Rechte vorenthalten. Daher müssen die heutigen Staaten für die Demokratie empfänglich bzw. sensibel gemacht werden. Es ist ganz verständlich, dass dem Staat gegenüber gewisse Forderungen gestellt werden. Aus der Perspektive der Gesellschaft steht es außer Frage, dass von ihm etwas verlangt wird. Denn der Staat verkörpert ein System, das alle Bereiche der Gesellschaft kontrolliert, Richtungen vorzugeben versucht und im Alltag Einfluss nimmt. Das eigene System außerhalb des Staates aufzubauen ist eine andere Sache. Aber da man mit dem Staat zusammenlebt, sollte man die Beziehung zu ihm betrachten und von demjenigen Staat, der sich der Demokratie nicht annähern will, seine Rechte verlangen. Forderungen an ihn machen die Gesellschaft oder den Einzelnen nicht direkt abhängig von ihm. 4. Annäherungen, die Demokratische Autonomie Es ist genau umgekehrt. Diese Forderungen resulals Gesellschaftssystem zu begreifen, das nichts tieren aus einem freiheitlichen Standpunkt. Wenn mit dem Staat zu tun hat also gesellschaftliche Bereiche aufgrund der selbstWir leben in einem Zeitalter der Staaten und Staats- ständigen Organisierung erweitert werden und die grenzen, von denen wir umgeben sind, obwohl wir organisierte Gesellschaft unabhängig vom Staat ihre uns keine Grenzen zur Grundlage machen. Demnach eigenen Zuständigkeitsbereiche einrichtet, ergibt das findet die Demokratische Autonomie im Kern ihren Sinn. Also wird die Forderung an den Staat mit der Zerstörungen durch den türkischen Staat - 42 - »» Demokratische Autonomie - Falsche Annäherungen RONAHÎ #43 von ihm unabhängigen Organisierung der gesellschaftlichen Bereiche einen Sinn ergeben. Anderenfalls macht es keinen Sinn, gegen den Staat Widerstand zu leisten. Das Wichtige ist, die Beziehungen zu Staaten mit noch bestehenden internen Grenzen nicht mit der staatsunabhängigen gesellschaftlichen Organisierung zu vertauschen und keines der beiden Modelle zu bevorzugen, sondern beide gleichzeitig laufen zu lassen. gehört zur Definition der direkten Demokratie. Dass Gemeinschaften und moralisch-politische Werte als Bestandteil der gesellschaftlichen Natur zugrunde gelegt werden, gehört zur Definition der kommunalen Demokratie. All diese Ausführungen unterscheiden das Verständnis der Demokratischen Autonomie in ihrem Aufbau und Wesen grundsätzlich von real praktizierten Modellen und vom Verständnis anderer Autonomien. Genau so, wie die Demokratische Autonomie nicht nur zwischen Staat und Gesellschaft und im Rahmen des Wissen-Macht-Komplexes wirkt, ist es ebenfalls falsch zu behaupten, dass sie nur außerhalb des Staates und ohne jegliche Relation zu ihm zu bestehen habe. In einem Satz ausgedrückt hieße das im Ergebnis die Kooperation anderer Autonomieverständnisse mit dem Staat im Gegensatz zur außerstaatlichen gesellschaftlichen Organisierung der Demokratischen Autonomie. Wir sind nun oft genug darauf eingegangen, dass die Demokratische Autonomie eine außerstaatliche Organisierungsmethode ist. Nun werden wir anhand mehrerer Beispiele auf der Welt erläutern, wie sie mit dem Staat und den jeweiligen Gesetzen koexistieren wird. Dabei muss jedoch ein weiterer, nicht ganz unwichtiger Punkt angesprochen werden. Besonders bei den Staaten, in denen Autonomie verwirklicht wurde, wird von einer staatszentrierten Perspektive ausgegangen, was zur Folge hat, dass die kommunale Organisierung der moralisch-politischen Gesellschaft nur sehr begrenzt möglich ist. Deshalb ist eine derartige Autonomie von ihrem Verständnis her weit davon entfernt, die Grundlage oder Perspektive der Demokratischen Autonomie und des Demokratischen Konföderalismus zu bilden. Es sind eher die Modelle, die bei einer Machtteilung zur Wirkung kommen. Der wesentliche Unterschied zwischen der Demokratischen Autonomie und den anderen autonomen Modellen ist der Umstand, dass unser Autonomieverständnis auf demokratischer Grundlage basiert. Dieser demokratische Charakter bringt folglich auch mit sich, dass sie, ohne ein Teil des Staates zu sein, auch ohne Aufteilung der Befugnisse bzw. der Herrschaft funktionieren kann. Also bedeutet Demokratische Autonomie nicht, dass sie einen Staat im Staate entstehen lässt. Es heißt, dass sie die Autonomie des Volkes gegenüber dem Staat gewinnt und auch schützt. Neben der außerstaatlichen Organisierung gehört eine demokratische Lebensweise zur Definition von Radikaldemokratie. Dass alle Menschen aktive Elemente der Politik sind, - 43 - RONAHÎ #43 »» JXK - Jinên Xwendekarên Kurdistan Erklärung der JXK – Jinên Xwendekar ên Kurdistan » » JXK (Studierende Frauen aus Kurdistan) Am 24.01.2016 fand in Kassel unser Kongress der YXK-Jin statt, an dem 40 Freundinnen aus dem gesamten Bundesgebiet und den Vertreterinnen der Jinên Ciwanên Azad und Cenî daran teilnahmen. Der Kongress fand in einer Phase statt, in der Zivilist*innen einem aggressiven Krieg in Nordkurdistan ausgesetzt waren, der bis heute noch anhält. Gerade Frauen leiden besonders unter der türkischen Kriegsführung. Sie werden vertrieben, bekämpft und ihre Leichen geschändet. Denn es sind besonders Frauen, die einen erbitterten Widerstandskampf führen, deren Willen der türkische Staat zu brechen versucht. Wir, als Studierende Frauen, sehen es als unsere Aufgabe eine Vorreiterolle im Kampf gegen Sexismus und Patriarchat einzunehmen. A uf unserem Kongress haben wir unsere Beschlüsse, Arbeiten und ihre Ergebnisse reflektiert und bewertet. Noch immer müssen wir feststellen, dass die Arbeiten der gesamten YXK als Priorität gelten und die Bedeutung der Jin-Arbeiten so ständig in den Hintergrund rücken. Dieser Analyse des aktuellen Zustandes möchten wir mit mehr Autonomie und stärkerer Jin-Arbeit entgegenwirken. Daher entschlossen wir uns für eine Umbenennung der YXK-Jin in: Jinên xwendekar ên Kurdistan - JXK | Studierende Frauen aus Kurdistan - JXK. „Jin“ darf kein Zusatz sein, was an den eigentlichen Namen angehängt wird, sondern muss ein fester Bestandteil unseres Namens sein. Selbstverständnis der YXK-JIN Die alten Beschlüsse vom letzten Jahr wurden zunächst vorgelesen. Beschlüsse der YXK-Jin (2015) 1. Die Frauen innerhalb der YXK organisieren sich als YXK-Jin autonom und halten eigene Versammlungen ab. 2. In den Regionaltreffen/Verbandssitzungen nimmt die YXK-Jin einen autonomen Platz ein, trifft sich ein bis zwei Stunden vor den Verbandssitzungen und erstellt ihre eigene Planung. 3. Alle Frauen der YXK-Jin treffen sich einmal vor dem YXK-Zwischenkongress sowie einmal vor dem YXK-Kongress zu einer Konferenz, um eigene Beschlüsse gemeinsam zu diskutieren,Projekte zu planen und die Kandidatinnen der YXKJin für den Vorstand zu wählen. 4. Die YXK-Jin führt ihre eigenen Bildungsarbeit mit dem Motto: „Selbsterkennung – Selbstbehauptung“ durch. Die Vorstandsmitglieder der YXK-Jin kommen zeitnah zum Kongress zusammen, um sich für ihre zukünftige Arbeit zu bilden. Alle Frauen der YXK-Jin bilden inihren jeweiligen Ortsgruppen und Städten Lesekreise, welche auf die Regionen erweitert werden. Jede Frau, die im Namen der YXK-Jin an einer Bildungsveranstaltung, an einem Lesekreis etc.teilgenommen hat, wird die erlangte Bildung an andere Frauen anhand von Veröffentlichungen von Artikeln in der Verbandszeitschrift „Ronahî“ und der Homepage weitergeben. - 44 - »» JXK - Jinên Xwendekarên Kurdistan RONAHÎ #43 5. Die YXK-Jin übernimmt zwei Artikel in der setzen. Es ist nicht unsere alleinige Aufgabe, das Organisation der Verbandszeitschrift „Ronahî“ Patriarchat zu bekämpfen. Das Patriarchat in uns und verfasst genderspezifische Beiträge. selbst,sowohl in den Männern muss getötet werden. 6. Die YXK-Jin nimmt frauenspezifische Anlässe Es wurde auch nochmal die Wichtigkeit betont, dass wahr und gestaltet diese aktiv. Dies sind voral- wir uns gegenseitig kennen und kennenlernen. Das lem der 6. Februar (Tag gegen Genitalverstüm- sollte für die Jin-Arbeit unabdingbar sein. Außerdem melung), der 8. März (Frauen-Kampftag), der 1. Sonntag im Mai und der 25. November (Kampf- sollte eine gemeinsame Haltung gezeigt werden können. Auch wenn es unterschiedliche Meinungen gibt, tag gegen Gewalt an Frauen). sollten wir versuchen, diese zusammenzuführen und 7. Die YXK-Jin macht es sich zur Aufgabe, ak- als JXK mit einer gemeinsamen Meinung in Ortstiv die Aufklärung der Morde an den Freundingruppen-, Regional- und Verbandssitzungen aufzunen Sakine Cansiz, Fidan Doğan und Leyla Şaytreten. lemez zu fordern. 8. Die YXK-Jin greift alle Kampagnen der kurdischen Frauenbewegung auf und trägt diese auf die universitäre Ebene und kooperiert in den Universitäten bzw. Städten mit anderen Frauenorganisationen. 9. Die YXK-Jin nimmt autonom an internationaler Vernetzungsarbeit mit anderen jungen Frauen und Organisationen teil und organisiert Delegationen. Des weiteren wurde daran erinnert, dass nicht nur (Cis-)Frauen vom patriarchalen System betroffen sind, sondern auch Menschen, die sich fernab von Zweigeschlechtlichkeit positionieren. Es gibt den Wunsch, LGBT*I-Communities miteinzubeziehen und mit ihnen zusammenzuarbeiten. Auf dieser Basis wurden obige Beschlüsse ergänzt und überarbeitet. 10. Die YXK-Jin vertritt sich durch ihre eige- JXK Beschlüsse 2016 ne Transparente und Flyer. In der sozialen Öf- 1. Die Frauen innerhalb der YXK organisieren sich fentlichkeit nimmt sie autonom ihren Platz ein als JXK autonom und halten regelmäßig eige(Homepage/ Facebook/ Email). ne Versammlungen ab. Dies gilt sowohl für die Ortsgruppen, als auch auf Regional- und VerÜber die einzelnen Punkte wurde daraufhin diskubandsebene. Die JXK-Arbeiten haben den gleitiert. Es wurde zunächst festgestellt, dass die Arbeichen, wenn nicht einen höheren Rang als die ten der gesamten YXK bisher immer als Priorität galYXK-Arbeiten und sollen dementsprechend ten, was sich auch an der Teilnahme und der Struktur ernst genommen werden. der Kongresse zeigt. Die Bedeutung der Jin-Arbeiten 2. In den Regionaltreffen/Verbandssitzungen rückt ständig nach hinten, da wir als Frauen auch in nimmt die JXK einen autonomen Platz ein, allen anderen Strukturen vertreten sein müssen. Destrifft sich und erstellt ihre eigene Planung. Dahalb sollte ab sofort eingeführt werden, dass jede bei soll die JXK selbst entscheiden, wieviel Zeit JXK-Gruppe in allen Orstgruppen eigenständige, sie benötigt und sich den Raum nehmen, den sie wenn möglich wöchentliche Sitzungen abhält. Der braucht. Währenddessen sollen auch die männJXK sollte radikal eine größere Bedeutung gegeben lichen Genossen eigene Sitzungen abhalten, in welchen sie sich kritisch mit ihrer eigenen werden, denn wir sind Vorreiterinnen dieser Arbeit. Männlichkeit und ihrem Verhalten auseinanderAuch bei YXK Sitzungen sollten wir eine Sitzung setzen und ihre eigene Rolle reflektieren. davor oder danach einführen und darauf achten, uns dabei genug Zeit zu nehmen, weil es des Öfteren vor- 3. Alle Frauen der JXK treffen sich einmal vor dem YXK-Zwischenkongress sowie einmal vor dem kommt, dass wir ständig zeitlich unter Druck gesetzt YXK-Kongress zu einer Konferenz, um eigene werden und dann auch noch kritisiert werden, wenn Beschlüsse gemeinsam zu diskutieren, Projekte wir mal länger unter uns sind. Diese Kritik sollten zu planen und die Kandidatinnen der JXK für wir abwenden können. den Vorstand zu wählen. Während wir eigene Sitzungen abhalten, sollten die männlichen Genossen sich mit ihrer eigenen Männlichkeit und dominantem Verhalten auseinander- 4. Die JXK führt ihre eigenen Bildungsarbeit mit dem Motto: „Selbsterkennung –Selbstbehauptung - Selbstverteidigung“ durch. Die Vor- - 45 - RONAHÎ #43 »» JXK - Jinên Xwendekarên Kurdistan standsmitglieder der JXK kommen zeitnah zum Kongress zusammen, um sich für ihre zukünftige Arbeit zu bilden. Alle Frauen der JXK bilden in ihren jeweiligen Ortsgruppen und Städten Lesekreise, welche auf die Regionen erweitert werden. Jede Frau, die im Namen der JXK an einer Bildungsveranstaltung, an einem Lesekreis etc. teilgenommen hat, wird die erlangte Bildung an andere Frauen anhand von Veröffentlichungen von Artikeln in der Verbandszeitschrift „Ronahî“ und der Homepage weitergeben. 13. Berichte der JXK-Ortsgruppen/Regionen sollen monatlich an den JXK-Vorstand geschickt werden. 14. Die JXK selbst wählt die Frauen für den YXK-Vorstand. Struktur der JXK und des Vorstandes: Auch die JXK hat den Anspruch, die Arbeiten auf einer basisdemokratischen Grundlage zu führen. Damit nicht alles vom Vorstand getragen wird, ist es wich5. Die JXK schreibt Artikel in der Organisation der tig, dass die Basis den Vorstand ablöst. Der Vorstand Verbandszeitschrift „Ronahî“ und verfasst gen- hat nicht die Aufgabe, alle Verantwortungen zu überderspezifische Beiträge. Dabei soll nicht nur nehmen, und sollte es auch nicht. Auf dem Kongress der JXK-Vorstand, sondern alle Frauen beteiligt wurde folgende Struktur festgelegt: sein, die in der JXK organisiert sind. Aus jeder Ortsgruppe werden 1-3 Jin-Vertreterinnen 6. Die JXK nimmt frauenspezifische Anlässe wahr und gestaltet diese aktiv. Dies sind vorallem der 6. Februar (Tag gegen Genitalverstümmelung), der 8. März (Frauen-Kampftag), der 1. Sonntag im Mai und der 25. November (Kampftag gegen Gewalt an Frauen) und der 9. Januar (Morde an Sakine, Leyla und Fidan) 7. JXK macht es sich zur Aufgabe, aktiv die Aufklärung der Morde an den Freundinnen Sakine Cansiz, Fidan Doğan und Leyla Şaylemez zu fordern. 8. Die JXK greift alle Kampagnen der kurdischen Frauenbewegung auf und trägt diese auf die universitäre Ebene und kooperiert in den Universitäten bzw. Städten mit anderen feministischen Organisationen. Die Zusammenarbeit mit Ceni, JCA, UTAMARA und der Stiftung der freien Frauen aus Rojava (WJA) soll gestärkt werden. gewählt, die dann in der jeweiligen Region im Jin-Regionalvorstand sind. Aus diesem regionalen Jin-Vorstand werden wieder 3-4 Vertreterinnen in den allg. Jin-Vorstand gewählt. Jede Ortsgruppe wählt ihre eigenen Vertreterinnen. Neben den Kommissionen Öffentlichkeit/Presse, Bildung, Finanzen soll es eine weitere Kommission für Selbstverteidigung geben, da wir momentan merken, dass viel mehr Frauen von ihren Familien von der politischen Arbeit abgehalten werden, dass patriarchale Verhaltensweisen immer wieder in der YXK zum Vorschein kommen und dass Gewalt gegen Frauen immer wieder aktuell ist. Es soll dafür innerhalb der Ortsgruppe auch intensive Selbstverteidigungsarbeit geleistet werden. Wir sollten zu direkter Aktion greifen und intervenieren, wenn genannte Fälle vorkommen. Die politische Arbeit ist nicht von unserem direkten Leben zu trennen. Das, wofür wir in der JXK/YXK einstehen, sollten wir auch auf uns anwenden können, sonst ist die politische Arbeit sinnentleert. 9. Die JXK nimmt autonom an internationaler Vernetzungsarbeit mit anderen jungen Frauen und Organisationen teil und organisiert DelegatioDes weiteren sollen Frauen im JXK-Vorstand jeweils nen. 10. Die JXK vertritt sich durch ihre eigene Trans- in den Vorstand von Cenî und in den Vorstand der parente und Flyer. In der sozialen Öffentlichkeit Jinên Ciwanên Azad gewählt werden. nimmt sie autonom ihren Platz ein (Homepage/ Um die Struktur der JXK zu einfacher zu verdeutliFacebook/ Email/ Ronahî). chen, soll eine grafische Darstellung erstellt werden 11. Die JXK bringt sich ab sofort intensiver in die für das Handbuch der YXK. Außerdem gibt es den Veranstaltungen der YXK ein (z.B. bei der De- Wunsch, ein Archiv anzulegen, um Erfahrungen zu lil-Ates-Veranstaltung mit einem eigenen Fuß- sammeln und zu vermitteln, damit Arbeit gespart ballteam oder bei den den H.C.-Literaturprei- wird. sen). Nebenbei soll die JXK ab sofort selbst eine eigene Veranstaltung auf die Beine stellen Jinên Xwendekar ên Kurdistan - JXK 12. Die JXK veranstaltet ihre eigenen Akademien, Studierende Frauen aus Kurdistan - JXK um die ideologische Bildung zu stärken. - 46 - »» Erklärung der JXK zum 8. März RONAHÎ #43 Bijî 8‘ê adarê! - Erklärung der JXK zum 8. März » » JXK (Studierende Frauen aus Kurdistan) er feministische Kampftag am 8. März steht für den Kampf gegen Sexismus, Patriarchat und eine systematische Ausbeutung von Frauen*. Der erste Weltfrauentag fand am 19. März 1911 in Dänemark, Deutschland, Österreich-Ungarn und der Schweiz statt. Mehr als eine Millionen Frauen demonstrierten auf den Straßen, um ihrer Forderung „Heraus mit dem Frauenwahlrecht“ Nachdruck zu verleihen. Zu Ehren der Rolle der Frauen* in der Februarrevolution wurde 1921 der 8. März als internationaler Gedenktag eingeführt. Hundert Jahre später sind viele Forderungen weiterhin weltweit aktuell. D nau wie die Rolle der Jugend, auf dem Weg zu einer freien und selbstverwalteten Gesellschaft nicht zu unterschätzen. Die 5.000 Jahre alte hierarchische Gesellschaft ernährt sich von der Versklavung der Frauen* auf allen Ebenen. Öcalan spricht davon, dass Frauen* die wohl erste kolonisierte Gruppe darstellen. Deshalb ist es ein umso bedeutenderer revolutionärer Akt, dass Frauen* sich verbünden, um diese Hierarchien zu überwinden. Patriarchales Verhalten ist nicht nur auf eine Gruppe von Menschen beschränkt, auch andere Menschen wie Frauen* etc reproduzieren Verhaltensweisen und sie sind verankert in deren Persönlichkeit. Die Diskriminierung, Benachteiligung und die psychische wie auch körperliche Gewalt gegenüber Frauen* setzt sich bis heute, wenn auch auf eine teilweise sehr subtile,aber dennoch raffinierte Weise fort. Auf allen Ebenen, sowohl im privaten als auch im öffentlichen Leben, setzen sich patriarchale Machtstrukturen weiterhin durch. Patriarchale Strukturen finden sich auch dort wieder, wo Menschen eigentlich den Anspruch haben für Frauenbefreiung und Basisdemokratie einzustehen. Es ist einzugestehen, dass selbst die demokratischsten, linkesten Männer sich oft ihres eigenen Verhaltens nicht bewusst sind und viele Machtmechanismen ständig reproduzieren und nicht überwinden können. Für eine wahrhafte Veränderung der Gesellschaft und die Überwindung des kapitalistischen und nationalistisch-etatistischen Systems darf die Frauen*frage nicht als Nebenspruch abgetan werden, was nicht zuletzt daran liegt, dass diese Herrschaftssysteme eng miteinander verflochten sind. Die jahrzehntelange Organisierungsarbeit der kurdischen Frauenbewegung zeigt ihre Früchte seit Jahren in der Rojava-Revolution. Die dortigen Frauen kämpfen nicht nur gegen den IS und das Assad-Regime. Sie haben - und das blenden die Mainstreammedien gerne aus - ein alternatives Gesellschaftsmodell anzubieten, das sie in Rojava in die Praxis umsetzen: eine selbstverwaltete, rätedemokratische und ökologische Gesellschaft, in der Frauen* auf allen Ebenen des Lebens autonom organisiert sind und wo alle Positionen mit einer quotierten Doppelspitze besetzt sind. Frauen* führen eigene Akademien und Kooperativen, gründen Frauenhäuser, Traumazentren und haben eigene bewaffnete Selbstverteidigungseinheiten. Doch allein durch die Repräsentanz von Frauen* werden 5.000 Jahre alte Mentalitäten nicht einfach überwunden. Es gilt deshalb, herrschenden Denkmustern durch alternative Wissenschaften entgegenzuwirken. Die heutigen Wissenschaften sind nicht „objektiv“, wie sie zu sein scheinen, sondern beruhen selbst auf dem patriarchalen System und stützen es sogar. Die Jineolojî ist eine Wissenschaft, die von Frauen* entwickelt wird, um die ungeschriebene Geschichte der Frau* und der demokratischen Zivilisation zu schreiben. Im kurdischen Befreiungskampf haben Frauen* von Anfang an an vorderster Front mitgekämpft, sich nach und nach Räume erkämpft und ihre eigene Organisierung auf die Beine gestellt. Nach dem Motto „Keine freie Gesellschaft ohne freie Frauen*“ werden im Befreiungskampf viele Arbeiten und Kämpfe von Frauen getragen und geführt. Ihre Rolle ist, ge- Was heißt das für uns in Europa? Wir Frauen* haben - 47 - RONAHÎ #43 »» Erklärung der JXK zum 8. März die Möglichkeit, die Geschichte neu zu schreiben, denn es liegt in unseren Händen, die Werkzeuge, die uns die kurdische Frauenbewegung gibt, zu nutzen und daraus etwas großartiges entwickeln zu lassen. und in etwas neues umwandeln. Ein erster Schritt wäre es, die männlich und weiblich konnotierten Eigenschaften zu reflektieren und sehen dass es mehr als diese Kategorien gibt. Wir sollten uns an erster Stelle Wir dürfen jedoch den Krieg in Kurdistan, der im als Genoss_innen, „Hevals“ sehen und dem tatsächMoment auf sovielen Ebenen stattfindet, nicht ver- lich eine Bedeutung zukommen lassen. Das heißt vor allem, nebeneinander auf Augenhöhe zu kämpfen, gessen. anstatt gegeneinander. Das patriarchale und kapitaEs ist nicht nur ein gezielter Krieg gegen Frauen*, listische System unterdrückt uns alle, wenn auch auf sondern ein Krieg gegen die Menschlichkeit. Wenn verschiedene Weise. Diese verschiedenen PerspektiFrauenkörper als eine Art Trophäe behandelt werden, ven und Kämpfe müssen wir bündeln können, anstatt die Körper entblößt werden und die toten Körper der sie gegeneinander auszuspielen. Kämpferinnen zum Posieren und Fotografieren beDas, was wir immer im Hinterkopf behalten müssen, nutzt werden. ist die enge Verbindung von Staat, Patriarchat und Männer, die so etwas tun, versuchen damit den Nerv Kapitalismus. Die Mentalitäten, die uns diese Sysder „Ehre“ zu treffen. Wir sind nicht die „Ehre“ von teme in den Kopf gepflanzt haben, müssen wir nach irgendwelchen anderen Menschen, wir gehören uns und nach überwinden können, um in ein freies Leben selbst. Wir lassen uns davon nicht unterkriegen, an führen zu können. die Stelle unserer gefallenen Genossinnen treten 1000 weitere. Wir sind viele, und genau das ist unser In diesem Sinne schicken wir unsere solidarischen Grüße an unsere Genossinnen, die momentan in KurVorteil. distan gegen das herrschende System ein alternatives Nicht nur in der Türkei und in Nordkurdistan wer- Leben aufbauen und stets Quelle unserer Kraft sind. den Frauen als Instrument zum offenen Rassismus Auch begrüßen wir die Kämpfe aller Frauen* auf benutzt, auch in Deutschland gibt es Tendenzen dazu: dieser Welt, die ihre Fäuste und ihre Stimme gegen Nach der Silvesternacht in Köln. Das heißt auf keinen das Patriarchat erheben. Fall, dass wir die Täter für unschuldig halten. Jedoch wurde im Nachhinein ein subtiler Krieg gegenüber Frauen geführt: Frauen* wurden als Ehre und Stolz Keine freie Gesellschaft und kein freies Leben ohne gesehen und dementsprechend in den Medien behan- die Befreiung der Frauen* – Jin, Jîyan, Azadî! delt. Dieser angebliche „Feminismus“ wurde für rassistische Hetze instrumentalisiert.Deswegen liegt es an uns, diesen Rassist_innen die Stirn zu bieten und gemeinsam zu kämpfen. Wir sind viele und nicht al- JXK - Studierende Frauen aus Kurdistan leine. Das müssen wir uns immer vor Augen halten. Um das zu analysieren sind cis-Männer mit migranMärz 2016 tischer Herkunft aus der Rolle der Opfer in die Rolle der Täter übergegangen, sowie es das patriarchale System seit Jahrtausenden weiter gibt. Der Staat un- Fußnoten terdrückt den Mann, er gibt es der Frau weiter, die Frau unterdrückt die Kinder. Opfer werden zu Tätern. Patriarchat: Gesellschaftsform, in der dem Mann eine bevorzugte Stellung in Gesellschaft und FamiDer 8. März steht für den revolutionären Kampftag lie zukommt der Schwestern, was wir auch nach Deutschland und Europa transportieren. Wir müssen es schaffen, unsere Mauern zu durchbrechen, die wir aufgebaut haben Cisgender: bezeichnet Menschen, deren Geschlechtund den Kampf gegen die kapitalistische und patri- sidentität mit dem bei der Geburt zugewiesenen archale Gesellschaft gemeinsam führen. Die Eigen- Geschlecht übereinstimmt. (Cis=diesseits/ Genschaften die wir ohne wenn und aber angenommen der=Geschlecht) haben, müssen wir reflektieren, auseinandernehmen - 48 - »» Liebe und Frau RONAHÎ #43 Liebe und Frau » » Abdullah Öcalan D ie Liebe, das Thema, das in unser gegenwärtigen Welt am meisten durchgekaut wird, durchlebt ihren niederträchtigsten und sinnentleertesten Abschnitt aller Zeiten. In keiner Ära der Geschichte war die Liebe dermaßen verkommen. Von kurzlebigen Beziehungen bis hin zu Annäherungen öffentlicher Mordtaten werden fade, ja sogar bedrohliche Beziehungen als Liebe bezeichnet. Es ist kaum ein besseres Verständnis von Beziehung denkbar, das die Lebensauffassung des Kapitalismus so gut widerspiegelt. Das gegenwärtige Verständnis von Liebe ist der zweifellose Offenbarungseid für das Ausmaß der Mentalität, die das herrschende System dem Menschen und der Gesellschaft selbst im heiligsten Bereich der Liebe aufzwingt. Die Liebe zu beleben, ist eine der schwierigsten revolutionären Pflichten. Es bedarf großer Mühen, fortschrittlicher Gesinnung und Nächstenliebe. Eines der wichtigsten Kriterien der Liebe besteht darin, sich im Rahmen der zeitgenössischen Weisheit zu bewegen. Als zweites, erfordert es eine ungemein starke Haltung gegenüber dem Wahnsinn des Systems. Drittens: Die Individuen sollten sich die moralische Verpflichtung zu eigen machen, sich gegenseitig nicht einmal in die Augen schauen zu können, solange sie die (kollektive) Rettung und Freiheit nicht verwirklicht haben. Und viertens ist es unent- behrlich, den sexuellen Trieb den vorigen drei Kriterien unterzuordnen. Es ist also absolut notwendig zu wissen, dass jeder Schritt zur Leugnung der Liebe führen wird, sofern der sexuelle Trieb nicht mit der Weisheit, Freiheitsmoral und den Erfordernissen eines politisch-militärischen Widerstandes in Verbindung gesetzt wird. Diejenigen, für die nicht einmal die Möglichkeit besteht, so frei wie ein Vogel ein Nest zu bauen, aber dennoch von Liebe, Beziehung oder Ehe sprechen, haben eigentlich vor der Sklaverei der sozialen Ordnung kapituliert und wissen den Wert des Freiheitskampfs nicht zu schätzen. Es ist ein gravierender Fehler, das Vergnügen am Geschlechtsverkehr, welches zur Fortpflanzung und Weiterführung des Lebens dient, als Liebe zu bezeichnen. Im Gegenteil: Dieses Gefallen, welches auf Geschlechtsverkehr basiert, ist die Leugnung der Liebe. Unter dem Deckmantel der Liebe ermordet die Kapitalistische Moderne die Gesellschaft, indem sie Sexismus wie ein Krebsgeschwür verbreitet. Man sollte verstehen, dass der Sexualinstinkt eine der ältesten Lernformen für das Leben darstellt. Es ist eine Antwort auf die Notwendigkeit das Leben fortzuführen. Die Unmöglichkeit eines Individuums unendlich zu leben, hat es zur Lösung gezwungen, das Potenzial - 49 - RONAHÎ #43 »» Liebe und Frau zu entwickeln, sich in einem anderen Individuum zu reproduzieren. Das, was sich Geschlechtstrieb nennt, bedeutet, dass dieses Potenzial unter günstigen Bedingungen zur Fortpflanzung führt. Es ist sozusagen als eine Lösung für die Gefahr des Aussterbens eines Stammes sowie den Tod zu begreifen. überwinden, indem die freie Frau diese erhoffte Kraft der wahren Liebe um sich herum schafft! Wahre Liebe ist die große Begeisterung, die man für das Gefüge des Universums, in dem es sich ausdrückt, erfährt. Die Worte Mevlanas „Alles im Universum ist Liebe, der Rest ist belanglos.“ könnte eine In der Person der Frau bringt sich dieses universelle wahre Interpretation der Liebe darstellen. Phänomen zum Ausdruck. Das Leben vermehrt sich Wenn Liebe verblendet, kann das zu beschämenden im Leibe der Frau. Die Rolle des Mannes ist hierbei Umständen und größerer Unwissenheit führen. Das äußerst sekundär. Von daher ist es auch aus wissen- mag für die Herrschsucht gelten, aber auch für den schaftlicher Sicht nachvollziehbar, dass die Frau die Sexualtrieb ist das so. Sobald die Liebe jedoch mit Verantwortung der Nachkommenschaft trägt. Zumal Sinn beladen ist, gleicht sie einem Nirwana. Es bedie Frau es nicht nur dabei belässt, den Fötus zu tra- deutet Fenafillah, mit der Wahrheit verschmelzen gen, groß zu ziehen und zu gebären. Sie trägt beina- und eins werden (mystisches Aufgehen in Gott). Es he bis zu ihrem Tod die natürliche Verantwortung ist Enel-hak, („ich bin die Wahrheit“ oder „ich bin für die Fürsorge des Kindes. Also müssen wir daraus Gott“, wobei letzteres das Ebenbild Gottes meint). Es als erstes schlussfolgern, dass die Frau bei jeder se- bedeutet also nichts anderes, als dass sich eine gexuellen Beziehung uneingeschränkt mitentscheiden rechte und freie Gesellschaft für souverän erklärt und muss. Denn jede sexuelle Beziehung trägt das Poten- vollkommene Demokratie erreicht. zial in sich, schwerwiegende Konsequenzen für die Frau hervorzurufen. Es sollte begriffen werden, dass Die Liebe ist verbunden mit der Überwindung sexueine Frau, die zehn Kinder gebärt, physisch aber auch eller Wollust oder besser gesagt mit der Entwicklung seelisch in einen Zustand gerät, der schlimmer als der der gegenseitigen Freiheit entsprechend der menschlichen Moralvorstellungen. Die sexuelle Begierde Tod ist. steht in Zusammenhang mit dem Einbüßen der FreiDie Einstellung des Mannes gegenüber der Sexualität heit und Mittellosigkeit. Es wäre am besten, nicht ist viel mehr verzehrt und verantwortungslos. Dabei nur zwischen Mann und Frau, sondern die Liebe spielt die Unwissenheit und die Blendung der herr- zwischen allen Elementen des Universums nach der schenden Macht eine primäre Rolle. Mit dem Ein- Dialektik ihrer Entstehung zu messen. bruch von Hierarchien und dem dynastischen Staat bedeuten viele Kinder für den Mann eine unverzicht- Selbst im Liebesverständnis von Leila und Majnun bare zu sein. Eine Nachkommenschaft mit dutzen- hat zumindest eine blinde Liebe existiert. Gegenden Kindern ist nicht nur für das Weiterbestehen des wärtig ist nicht einmal die Spur einer blinden Liebe Stammes wichtig, sie stellt zugleich die Garantie für zugegen. Die Folge ist Selbstverleugnung bzw. Nidas Bestehen der Machtherrschaft und des Staates hilismus und ein Drang nach Selbstzerstörung bzw. dar. Sie steht sozusagen für den Erhalt des Staates, Suizidalität. Der Tiefpunkt im Bezug auf den Sinnwelcher als ein Besitzmonopol zu begreifen ist, von verlust der menschlichen Existenz ist erreicht. Die der die Größe der Dynastie abhängig ist. Die Frau Liebe erfordert große Heldentaten, Sieg und Zuneiwird somit als Werkzeug zur biologischen, hegemo- gung. Wer keinen Erfolg hat, wird auch keine Liebe nialen und etatistischen Existenzabsicherung benutzt, haben können. Die Liebe ist stets dem erfolgsbringenden Freiheitskampf gesonnen. Die Liebe nach der indem sie zahlreiche Kinder auf die Welt setzt. ich strebe, kann als eine solche Anstrengung definiert Es heißt, ein Leben ohne die Frau sei nicht möglich. werden. Doch mit der gegenwärtigen Frau ist das ebenso wenig möglich. Eine Beziehung zwischen Mann und Es wird uns der Wahrheit viel näher bringen, die ErFrau, die bis zum Hals in der Sklaverei steckt, ist scheinung der Frau, die seit ihrer Einverleibung in wohl die ruinierendste Beziehung. Es ist also eine der das kapitalistische System aufgetreten ist, am Grad ehrenvollsten und heiligsten Arbeiten der wahrhafti- ihrer Metaisierung (zur Ware werden) zu bewerten. gen Held_innen, die sich mit Herz auf den Weg der Aus Zeiten der klassischen Sklaverei wissen wir sehr Liebe begeben, das finale Chaos des Kapitalismus zu gut, dass die Frau am häufigsten auf dem Markt ge- 50 - »» Liebe und Frau kauft und verkauft wurde. Dieser Zustand wurde in der feudalen Sklavenhaltergesellschaft in Form der Konkubine ebenfalls fortgeführt. Hierbei handelt es sich bei der verkauften Ware um die Frau als Ganzes. Brautgeld und politisch- öffentliche Ertragsquellen sind andere Versionen dieses Rituals, die bis in die Familie vorgedrungen sind. Im kapitalistischen System hingegen kommt hinzu, dass ihr Körper nach der Manier eines Metzgers in Einzelstücke zerlegt und jedem Teil ein Preis gegeben wird. Von ihren Haaren bis zu ihrem Fersen, von ihrer Brust bis zu ihrer Hüfte, von ihrem Bauch bis zu ihrem Geschlechtsorgan, von ihren Schultern bis zu ihren Knien, von ihrer Taille bis zu ihrer Wade, von ihren Augen bis zu ihren Lippen, von ihren Wangen bis hin zu ihrem Hals scheint es keine Stelle zu geben, der kein Wert (Betrag/Preis) zugeordnet wurde. Bedauerlicherweise fragt man sich nicht, ob sie eine Seele hat und ggf. wie dieser Geisteszustand aussieht. Seit jeher gilt sie als geistig unterentwickelt. Die Frau ist in privaten und öffentlichen Bordellen ein freudebereitendes Dienstleistungsgut, eine Gebärmaschine. Die anstrengendste Arbeit, ein Kind auf die Welt zu bringen, wird ihr nicht als solche anerkannt. Für das mühsame Aufziehen von Kindern wird sie nicht im Geringsten entlohnt. In allen wichtigen wirtschaftlichen, sozialen, politischen und militärischen Institutionen wird ihr höchstens ein exemplarischer Platz eingeräumt. Sie ist das unverzichtbare Objekt für Werbung. Sie ist das einzige Wesen, dessen Geschlecht vorwiegend dem Markt als Ware dargeboten wird. Sie ist der Gegenstand aller Flüche und Schläge. RONAHÎ #43 reichend Nachwuchs zu sorgen. Die Hegemonie der Dynastien hängt sehr stark von gerade diesem Nachwuchs ab. Die Frau ist in diesem Status ein unabdingbares Eigentum. Das geht so weit, dass sogar ihr Gesicht jedem anderen als ihrem Besitzer verborgen wird, weil sie die Ehre ihres Besitzers ist. Die Frau ist ein Sexobjekt. Die Sexualität steht in der Natur in Verbindung mit der Fortpflanzung und bezweckt das Fortführen von Leben. Beim Mann hat sich insbesondere mit der Versklavung der Frau zu Zeiten der Zivilisation seine wesentliche Rolle über Sex, die Explosion hemmungsloser sexueller Begierde und ihre Ausartung geprägt. Die Paarungszeit in der Fauna, welche (oft) auf einen jährlichen Zyklus abgestimmt ist, wird vom Mann auf einen 24-Stunden-Takt zu steigern versucht. Die Frau ist gegenwärtig das Instrument, über die man ständig Sex, sexuelles Vergnügen und Herrschaft ausübt. Somit hat die Unterscheidung von privaten und öffentlichen Freudenhäusern (Bordellen) seine Bedeutung verloren. Jedes Haus, ist nun ein privates-öffentliches Freudenhaus, jede Frau ist nun eine Hausfrau. Die Frau ist unentlohnte Arbeiterin ohne Gegenleistung. Die schwierigsten Arbeiten werden ihr gegeben. Im Gegenzug wird sie zu allem Überfluss als mangelhaft etikettiert. Sie wurde so sehr gedemütigt, dass sie tatsächlich daran glaubt minderwertig zu sein, sodass sie die Notwendigkeit verspürt, sich mit beiden Händen an die Krallen und Herrschaft des Mannes zu klammern. Die Frau ist das zierlichste Gut. Marx nennt das Geld „die Königin aller Güter“. Aber auch diese Rolle trifft mehr auf die Frau zu. In Wahrheit ist die Frau „die Königin aller Güter und Waren“. Es gibt keinen Zusammenhang, in dem die Frau nicht dargeboten wird. Es gibt keinen Bereich, in dem die Frau nicht ausgenutzt wird. Mit dem Unterschied jedoch, dass alle Waren eine allgemein akzeptierte Gegenleistung haben. Für die Frau hingegen bleibt nichts als eine große Unverschämtheit übrig, die dreiste Lügen mit dem Wort Liebe tarnen, bis hin zu dem Märchen, “man könne sich der Mühe einer Mutter nicht erkenntlich genug zeigen“. Sie ist diejenige, die andauernd mit vorgetäuschter Liebe betrogen wird. Sie ist es, bei der sich ständig in alles eingemischt wird. Sie ist die Identität, für die man eine genderspezifische Redensart und Tonlage konzipiert hat. Sie ist der Mensch, mit der keine menschliche Freundschaft geschlossen werden kann. Sie ist der Mensch, bei dem selbst der einfühlsamste Mann nicht vor Gewalt zurückschrecken kann. Die Frau ist das Objekt, über das sich jeder Mann als Imperator definiert. Das Interessante an der ganzen Sache ist, dass die Die Frau wurde zunächst zur Haussklavin gemacht. patriarchalisch geprägte Gesellschaft tatsächlich in Dieser Zeitraum ist geprägt von grausamen Zwän- dem Glauben lebt, mit einer so dermaßen mit negagen, Druck, Vergewaltigung, Beschimpfungen und tiven Attributen beschmutzten Persönlichkeit leben Massakern. Die ihr aufgezwungene Rolle besteht zu können. Sie wird anscheinend für eine ausgesproum der materiellen Ordnung willen darin, für aus- chen gehorsame Sklavin gehalten. Eigentlich sollte - 51 - RONAHÎ #43 »» Liebe und Frau es doch äußerst schwierig und erniedrigend für einen vielfältigere Frauenausbeutung repräsentiert. ehrenvollen Mann sein, in einer Partnerschaft mit ei- Man hat ihre Identität untergraben. Die vielfältigen nem als inakzeptabel geltendem Wesen zu leben. Beispiele ihrer Ausbeutung können als die Mutter So sehr Platon auch dafür kritisiert wird, die Frau aller Mühen und Arbeiten, unentgeltliche Arbeiterin, vom Staat und der Gesellschaft ausgeschlossen zu Mindestwerkstätige und Arbeitslose, unersättliche haben, sind solche erniedrigenden Ausprägungen in Lust und Unterdrückungsdrang des Mannes, Gebärseinen Ansätzen wirksam. Dieser Sachverhalt ist bei maschine des Systems, Erzieherin, Werbemittel, Sex recht vielen Philosophen vorhanden und sollte rich- -und Porno-Objekt u.Ä. beschrieben werden. Der tig analysiert werden. Beispielsweise schadet es laut Kapitalismus hat den Grad der Ausbeutung der Frau Nietzsche der Persönlichkeit mit solchen Eigenschaf- wie in keiner anderen Ordnung ausgeweitet. So sehr ten in einer Gemeinschaft zu leben. Wieso ist dann wir es auch nicht möchten, ist es äußerst schmerzhaft die Besessenheit nach Frauen in der Gesellschaft so immer wieder auf den Status der Frau zu sprechen zu groß bzw. stark ausgeprägt? Weil diese Gesellschaf- kommen. Aber die Wahrheit ist für die Unterdrückten ten unterworfen wurden, weil der Mann ebenfalls nicht anders auszulegen. Der herrschende Mann, der unterworfen wurde. Das rührt von der sich ständig nichts von der Frau wissen möchte, greift, um diesen wandelnden Eigenschaft der Sklaverei her. Natürlich Zustand zu vertuschen, zu einer seiner wichtigsten wird man als Mensch, der so sehr an Sklaverei ge- Waffen, und zwar zur unechten Liebesliteratur. Für wöhnt wurde, vorzugsweise einen Partner als nütz- den hegemonialen Mann ist Liebe gleichbedeutend lichen Sklaven für sich beanspruchen. Mit anderen mit der Verschleierung dieser Lügen, einer verdeckte Worten, eine ruinierte Gesellschaft bedeutet eine Respektlosigkeit, der Blindheit des Bewusstseins soruinierte Frau, bedeutet einen gestürzten Mann. Zu- wie der blinden Triebkraft, die an Raum und Bestänsammenfassend: Ohne eine kompetente Aufklärung digkeit gewinnt. Die Tatsache, dass die Frau all dies der Weiblichkeit, ohne die Synthese bzw. Verbindung schluckt, hat mit der Tiefe ihrer Verzweiflung unter von Frauen während der freien matrizentrischen Ord- immensem Druck zu tun. Sie ist dermaßen der manung in der natürlichen Gesellschaft und der freiheit- teriellen und moralischen Lebensbedingungen entlich-bewussten Weiblichkeit in der klassengeprägten rissen worden, dass sie sich in einer Erbärmlichkeit Zivilisation kann keine gemeinsame und ausgewo- befindet, alle erniedrigenden Worte und Angriffe des gene Freundschaft für das Leben geschaffen werden. Mannes als natürlich zu betrachten. Das Pendant dazu bildet ebenso die Neudefinition Ich selbst staune immerfort darüber, wie es die Frau des Mannes bzw. der Männlichkeit, ohne die eine Zu- über sich bringt, in diesem ihr aufgesetzten Status zu sammengehörigkeit nicht möglich ist. Es bedarf einer leben. Jedoch muss ich offen einräumen, zu welchem ganzheitlichen Analyse der Frau in der Summe als Empfinden ich gelangt bin: Kurz bevor ein Tier geObjekt- Subjekt, ohne sich vom heiligen Mutterkult, schlachtet werden soll, wird es sich der Situation bedem Verständnis von Ehre und dem Status als unab- wusst und fängt an, am ganzen Leibe zu zittern. Die dingbare und unentbehrliche Partnerin zu verlieren. Haltung der Frau gegenüber dem Mann erinnert mich Solche Untersuchungen müssen selbstverständlich stets an diese Situation. Der Mann gibt sich solange von narrenhaften Liebesspielen ferngehalten werden. nicht zufrieden, bis die Frau vor ihm zittert. Das ist Man muss überdies Schandtaten wie allen voran Ver- die Hauptbedingung der Herrschaft des Mannes. Der gewaltigungen, Morde, Schläge und Beschimpfun- Schlachter schlachtet das Tier ein einziges Mal, der gen als einen wichtigen Teil dieser Untersuchungen Mann die Frau jedoch sein ganzes Leben lang. aufdecken, die mit der Liebeslüge verschleiert wurden. Die Worte Herodots „Alle Ost-West-Konflikte Das ist die Wahrheit, die unbedingt aufgedeckt werereignen sich wegen Frauen.“ offenbaren eben eine den muss. Diesen Sachverhalt mit Liebesliedern zu bestimmte Wahrheit. Und zwar, dass die Frau als aus- verhüllen ist eine verabscheuenswürdige Handlung. gebeutete Kolonie an Wert gewinnt und somit zum In der Zivilisation werden alle wertlosen Objekte Thema wichtiger Kriege wird. Dies gilt für die gan- und Bedeutungen mit der Liebe in Zusammenhang ze Zivilisationsgeschichte, wobei die Kapitalistische gebracht. Es bedeutet einen Kraftakt für den Mann, Moderne eine tausendfach schwerwiegendere und dem es nicht gelingt bzw. nicht gelingen möchte, sich der Frau in ihrer einfachen Natur zu nähern. Ich wür- 52 - »» Liebe und Frau de einen Mann mit solch einer Bemühung als wahren Helden betrachten. Das Problem rührt nicht von einer einfachen Schwäche oder einem biologischen Unterschied der Geschlechter her. Das Problem geht daraus hervor, dass die hierarchisch-etatistische Gesellschaft die Frau als erstes Objekt der Klassen und Schichten auf die unterste Stufe herabgesetzt hat. Die Frau als (Mutter-)Göttin drückt sich mit dem Bewusstsein über ihre Universalität, sowie ihrem wahrhaftigen Platz im Kraftverhältnis von Demokratie als die Frau aus, die Freiheit und Gleichberechtigung in ihren gesellschaftlichen Beziehungen am besten lebt. In Anbetracht dieser Frau liegt es auf der Hand, dass der Mann es nicht wagen kann, sie zu hausfrauisieren, seine Macht über sie auszuüben, ihr Liebe, Respekt und schon gar nicht eine sexuelle Beziehung aufzuzwingen, sondern lediglich seine Liebe und seinen Respekt gegenüber ihr äußern kann. Es ist als unser grundlegendes moralisches Verständnis anzusehen, dass man die Liebe und den Respekt der ebenbürtigen Frau erst dann erwarten kann, wenn man sich in einer demokratischen Balance gleichberechtigt und frei heißen kann. RONAHÎ #43 Statt „meine Frau“ zu sagen, erfordern die Worte „die Frau, die befreit werden muss“ höhere Priorität. In diesem Fall ist es möglich, die Rahmenbedingungen einer Entstehung der Liebe, festzustellen. Die erste Bedingung für die volle Ausübung des Wahlrechts der Frau ist, dass sie mit dem Mann im Kräfteverhältnis bezüglich Freiheit und Gleichberechtigung gleichgestellt wird. Dafür ist die vollständige Demokratisierung der Gesellschaft eine weitere Grundvoraussetzung. Die zweite Bedingung beinhaltet, dass der Mann bei sich und der hegemonialen Gesellschaft die tausende Jahre anhaltenden und zum Nachteil der Frau reichenden Maßstäbe für Herrschaft überwindet und eine ebenbürtige Machtstellung mit der Frau akzeptiert. Es ist offensichtlich, dass der Kampf im Namen der demokratischen Freiheit und Gleichberechtigung für eben diese Bedingungen das Individuum dem Phänomen der Liebe näher bringen wird. Und dies geht nur, indem wir das Liebesverständnis ablehnen, welches uns bisher vom System vorgegeben wurde. Wenn man sich an diesen moralischen Grundsatz hält, ist möglicherweise das Phänomen überhaupt erst möglich, das man Liebe nennt. Das ist ein Prozess, der erst durch die Heldentaten eines Kampfes für Demokratie, Freiheit und Gleichheit möglich ist. Eine andere Herangehensweise an die Liebe wäre ein Verrat an ihr. Wenn Verrat an der Liebe begangen wurde, kann keine Kreativität oder Erfolg einkehren. In den Reihen der PKK ist eine wahrhaftige Liebe möglich, die sich in Form eines erfolgreichen Heldentums beweist. Wenn wir vom Verständnis der Liebe unser Zeit sprechen wollen, dann wird es jenes sein müssen, das die Liebe von Leila und Majnun weit hinter sich lassen kann, das über jegliche mystische Fachkunst hinausgeht, der Sorgfalt eines Wissenschaftlers bedarf, womit der Weg aus dem Chaos zur Freiheit der Gesellschaft geebnet wird, und das Persönlichkeiten für sich gewinnt, die ihre Tapferkeit und Hingabe mit ihrem Erfolg beweisen können. Eine selbstbewusste Männlichkeit darf diese Art von Frauenbefreiung nicht als Hindernis, sondern muss sie als eine äußert selbstlose Unterstützung verstehen. - 53 - RONAHÎ #43 »» Sara, Rojbin, Ronahî Sara, Rojbîn, Ronahî... » » YXK Marburg Wir schreiben das Jahr 2016. Es sind nun drei Jahre vergangen, seit unsere drei Genossinnen mitten in Paris kaltblütig ermordet wurden. Was sich am 09. Januar 2013 in den Räumlichkeiten des kurdischen Informationsbüros in der Nähe des Pariser Nordbahnhofs ereignete, hat eine sehr tiefe Wunde hinterlassen, die auch heute, nach drei Jahren, nicht verheilt ist. Denn an diesem kalten Januarabend wurden drei Genossinnen, drei revolutionäre Freundinnen ermordet, die sich auf dem Weg des politischen Kampfes um Freiheit, Frieden und Geschlechterbefreiung vereinigt hatten. Drei Freundinnen mit Träumen, Wünschen und einer großen Lebensfreude wurde das Leben genommen. Was genau ereignete sich am 09.01.2013 im kurdi- ahî, die sich gegen den Mörder stellte, mit Kopf- und schen Informationsbüro? Bauchschüssen hingerichtet. Die letzte Kugel wurde Das Kurdistan-Informationsbüro (CIK) befindet sich Heval Rojbîn in den Mund geschossen. Dunkelheit... in der Rue la Fayette 147. Eine relativ ruhig liegen- Was genau in der Zwischenzeit im Inneren des Büde Gegend mit vielen Geschäften und Wohnungen. ros geschah, ist ungewiss. Der Täter verschwand, die Im Büro befanden sich die PKK-Mitbegründerin und Tür fiel zu. Stundenlang blieben die Anrufe an die Aktivistin Sakine Cansız (Sara), die Pariser Vertre- Freund_innen unbeantwortet. Die Tür wurde nicht terin des Nationalkongresses Kurdistan (KNK) Fi- geöffnet. Als die Sorge größer wurde und es schon dan Doğan (Rojbîn) und ein Mitglied der kurdischen Mitternacht geworden war, fand man die drei LeichJugendbewegung Leyla Şaylemez (Ronahî). Als es name der Freundinnen auf dem Boden des Büros. am besagten Tag an der Tür klingelte, zögerten die Der erste Schock saß bei allen Freund_innen sehr Freundinnen nicht und öffneten der bekannten Per- tief. Unverständnis, Unklarheit, Wut und Trauer verson die Tür. Schüsse fielen! Heval Sara und Heval breitete sich. Klar war von Anfang an Eines: Dies Rojbîn wurden durch Kopfschüsse und Heval Ron- war ein politischer Mord und der türkische Staat, so- - 54 - »» Sara, Rojbin, Ronahî wie die dunklen Kräfte waren involviert. Ömer Güney – erster Verdächtiger, erste Festnahme Ömer Güney wurde kurze Zeit nach den Morden vom französischen Staatsanwalt Francois Molins als Hauptverdächtiger festgenommen. Aufzeichnungen einer Überwachungskamera zufolge soll Güney sich zur Tatzeit in den Räumen des Büros aufgehalten haben. Auf seiner Jacke wurden später DNA-Spuren eines Opfers entdeckt und in seiner Tasche Schmauchspuren. Ömer Güney war seit zwei Jahren ein aktives Mitglied im kurdischen Verein in Paris. Vor Ort gab er den Freund_innen eine falsche Identität von sich bekannt und zeigte großes Interesse an den Arbeiten. Aufgrund seiner guten Französischkenntnisse half er vielen Kurd_innen dort als Dolmetscher. Er pflegte mit vielen Jugendlichen eine gute Beziehung und gewann schnell das Vertrauen der Vereinsmitglieder. Nach der Festnahme von Ömer Güney gab der ehemalige MIT-Agent Murat Sahin, der in der Schweiz lebt, in einem Interview bekannt, dass Güney zur selben, auf linke Organisationen spezialisierte Einheit gehöre, wie er selbst. Eine Frau, die seine in Ankara stationierte Einheit führte, hatte ihm ein Bild von Güney gezeigt und erklärt, dass er ein „Hevalci“ sei und er sich das Bild gut merken solle. Später, unmittelbar nach den Morden, konnte er die Person auf dem in der türkischen Presse weit verbreiteten Bild von Ömer Güney mit der auf der ihm damals vorgelegten Aufnahmen identifizieren. Doch bei diesem Hinweis blieb das Ganze nicht. Im Januar 2014 gab es in der Türkei einen großen Machtkampf zwischen der AKP-Regierung, sowie der Gülen-Bewegung. Während beide Seiten mit harten Mitteln ihren Machtkampf führten, wurde im Internet zunächst eine Tonaufnahme veröffentlicht. In dem über zehn Minuten dauernden Gespräch von Ömer Güney mit zwei türkischen Agenten ist zu hören, wie sie Mordpläne und Fluchtwege planen. Darüber hinaus wurden noch viele andere Namen von kurdischen Politiker_innen genannt, an denen auch Morde geplant sind. Wenige Tage danach tauchte ein weiteres Dokument auf. Ömer Güney wird in diesem Dokument mit dem Mordattentat beauftragt. Das Dokument ist mit Unterschriften von Mitgliedern des türkischen Geheimdienstes versehen. Hintergrund – Wie sind diese Morde zu bewerten? RONAHÎ #43 Fest steht, dass Sakine Cansiz bewusst als Ziel ausgewählt wurde. Es handelt sich bei den Morden um äußerst gut organisierte, geplante und professionell ausgeführte Taten. Die Morde in dieser Form können nicht von einer einfachen Person verübt worden sein. Fest steht, dass dieser Mord von professionellen Kräften ausgeführt wurde. Kräfte, die eine friedliche Lösung der Kurdenfrage verhindern wollen, Kräfte wie die türkische „Gladio“, die sich auf internationale Kräfte stützen und vom tiefen Staat unterstützt werden. Die Morde in Paris waren kein Zufall, sondern wurden äußerst bewusst geplant, sehr professionell strukturiert und sind als politische Morde zu bewerten. Zweifellos wurden die Morde aus mehr als nur einem Grund verwirklicht. Solch politisch motivierten Morde werden nicht aus einfachen Gründen begangen. Schon gar nicht so professionell durchgeführte Morde. Deshalb muss man sich im Hinblick auf die Hintergründe weit aus dem Fenster lehnen. Kurz vor dem Massaker wurde der 68-tägige Hungerstreik von über Tausenden politischen Gefangenen mit dem Aufruf von Abdullah Öcalan beendet. Die AKP-Regierung war in eine ausweglose Lage geraten und sah sich gezwungen, Gespräche mit Abdullah Öcalan aufzunehmen. Die Gespräche zwischen Ankara und Imrali gelangen nun auch an die Öffentlichkeit. Sowohl von Abdullah Öcalan, als auch aus Kandil und der kurdischen Bevölkerung war ein großes Interesse und Unterstützung zu sehen, um das Blutvergießen zu beenden. An erster Stelle sollten diese Morde die anlaufenden Gespräche zukünftig verhindern und den Friedensprozess sabotieren, der ins Rollen gekommen war. Kurz nach den Morden gab Hüseyin Celik, der stellvertretende Parteivorsitzende der AKP, bekannt, dass es sich ihrer Vermutung nach bei den Morden, um eine „interne Abrechnung“ handle. Zwischen Abdullah Öcalan und Sakine Cansiz soll es schon seit Jahren Streitigkeiten gegeben haben. Weiterhin führten sie an, dass es sich bei den Morden um Provokationen handle, um eine friedliche Lösung der kurdischen Frage zu verhindern. Offensichtlich macht sich bei diesen Aussagen bemerkbar, dass die türkische Regierung auf ihrer psychologischen Kriegsführung beharrt. Es ist offensichtlich, dass die türkische Seite versucht, diesen heimtückischen Mord zu verschleiern, zu manipulieren und zu verdrehen. - 55 - RONAHÎ #43 »» Sara, Rojbin, Ronahî Die Rolle Frankreichs... Auch Frankreichs Einfluss und Rolle darf bei diesen Morden nicht außer Acht gelassen werden. Nach Erdogans Vorwürfen, die EU würde den „Terroristen“ Raum bieten, gab der für die Anti-Terror-Angelegenheiten zuständige französische Richter Thierry Fragnoli bekannt, dass insgesamt vier Richter, acht Staatsanwälte und 28 Kommissare ausschließlich im Hinblick auf die Kurd_innen in Frankreich arbeiten würden. Viele politisch aktive Kurd_innen, unter anderem auch Sakine Cansiz, standen 24 Stunden lang unter Beobachtung und waren starken Repressionen ausgesetzt. Der Staat führte so seine staatlichen Repressionen und seine enge Zusammenarbeit mit der Türkei durch. Die Festnahme von Adem Uzun darf in diesem Zusammenhang ebenfalls nicht vergessen werden. Adem Uzun war im Namen des KNK nach Paris gereist, um dort an einer Konferenz über die Entwicklungen in Westkurdistan am 13. Oktober in den Räumlichkeiten des französischen Parlaments teilzunehmen. Am 06. Oktober wurde er während einer Razzia in Paris festgenommen. che Informationen benachrichtigt, über die Frankreich verfügt. Frankreich schweigt. Auch wurde die Geheimhaltungspflicht über weitere Informationen nicht aufgehoben, die eventuell das Verfahren beschleunigen könnten. In welchem Zustand und wo sich Ömer Güney befindet, ist ebenfalls fragwürdig. Die juristische Untersuchung mit all den öffentlichen Hinweisen auf die Hintermänner oder Unterstützer wurde abgeschlossen. Zugleich führt Frankreich seine Beziehungen mit der Türkei fort. Weder Erdogan noch andere staatliche Vertreter_innen wurden bis dato von Frankreich konfrontiert, geschweige denn von ihnen Aufklärung oder Kooperation gefordert. Kein Interessenbereich? Ist euer Schweigen das Eingeständnis eurer Mitschuld? Aber auch dieses Schweigen und die Ignoranz hat Frankreich mit schweren Folgen miterleben müssen. Ende 2014 wurde die Satirezeitung Charlie Hebdo und kurze Zeit danach 130 Menschen Opfer fundamentalistischer Anschläge. Frankreich ist in einen Krieg involviert, von dem sie nicht wegkommen werden, wenn sie ihre politisch und ökonomischen Der Eingang zum Gebäude, in dem sich auch das Interessen über Gerechtigkeit und Wahrheit stellen. Kurdistan Informationszentrum befindet, wird durch Solange die Morde an den drei Freundinnen nicht viele Kameras in der Umgebung erfasst. Direkt ge- aufgeklärt werden, wird Frankreich in dieser Dungenüber des Büros befindet sich der Supermarkt Car- kelheit bleiben. refour, welche über eine 360°-Kamera verfügt. Die Und auch wir werden nicht schweigen und bei jeder Ermittlungsbehörden haben bis heute noch keine Gelegenheit für die Aufklärung der Morde kämpeinzige Erklärung dazu abgegeben. Viele weitere und fen. Wir wollen Gerechtigkeit für Sara, Rojbîn und ähnliche Indizien gestalten das Ganze in eine sehr Ronahî. Der türkische Staat und die EU müssen mit unseriöse und fragliche Richtung. ihrer Unterdrückungs- und Vernichtungspolitik geBei dem Attentat auf Charlie Hebdo wurden mit Hil- genüber Kurd_innen aufhören und die Forderungen fe der modernsten Überwachungstechniken, über die der kurdischen Bevölkerung nach Frieden und Freider französische Staat verfügt, die Täter in wenigen heit unterstützen. Dieser Anschlag war nicht nur geStunden komplett ausfindig gemacht. Es ist deshalb gen die Freiheitsbewegung gerichtet, sondern gegen sehr fragwürdig, was die Aufklärung der Morde vom den fortschrittlichen Kampf der kurdischen Frau. Die 09.01.2013 so schwer macht. Wie unter solch stren- Vorreiterrolle der Freundinnen in diesem Kampf geger Beobachtung ein derartiger Mord geschehen gen patriarchale, feudale und sexistische Strukturen konnte, bleibt fragwürdig. Oder gibt es etwas zu ver- war der kapitalistischen Moderne ein Dorn im Auge. Dieser Mord war ein gezielter Angriff gegen unseren heimlichen, Frankreich? Kampf. Aber sie hat ihn nicht geschwächt, sondern Auch drei Jahre nach den Morden wird weder von uns noch einmal bewusst gemacht, wie richtig wir in der französischen Regierung, noch von der türki- diesem Kampf sind und dass wir ihn niemals aufgeschen Regierung das Interesse oder der Wille ge- ben werden! zeigt, die Morde aufzudecken. Weder wurden Angehörige der Opfer, noch die kurdische Öffentlichkeit, JIN – JIYAN – AZADÎ ! die auch nach drei Jahren die Morde noch immer Sara – Rojbîn – Ronahî, Berxwedan heya dawî. nicht verkraftet hat, kontaktiert oder über zusätzli- Sara – Rojbîn – Ronahî, Widerstand bis zum Schluss! - 56 - »» Rolle der Frau in Rojava RONAHÎ #43 Die Rolle der Frau in Rojava » » Pelin (YXK Bochum) „Wir sind nicht bloß Frauen, die gegen den IS kämpfen. Wir kämpfen, um die Mentalität der Gesellschaft zu verändern und der Welt zu zeigen, wozu Frauen fähig sind. Wir wollen nicht, dass die Welt uns wegen unserer Waffen kennt. Wir wollen, dass sie unsere Ideen kennen.“ Sozdar, Kommandeurin bei der YPJ D er 12. November 2013. An diesem Tag wurde in Rojava im Westen Kurdistans (Nordsyrien) die Autonomie ausgerufen. Für die Menschen und insbesondere die Frauen in diesem Gebiet hat das fundamentale Veränderungen mit sich gebracht. Schaut man nur 5 Jahre zurück in die Vergangenheit, galt die Frau noch als Besitz des Mannes. Sie war seine „Ehre“ und zugleich auch immer eine Garantie für sein ganz persönliches Wohlbefinden und seine Bequemlichkeit. Sie war sein schönes Aushängeschild. Sein Spielzeug. Ein Objekt. Vielleicht schon im Kindesalter verheiratet und nun als Zweitoder Drittfrau, ist sie an den Herd gebunden und verantwortlich für zahlreiche Kinder. Ausgebeutet und missbraucht wird sie gezielt vom gesellschaftlichen Leben und von Bildung ferngehalten. Vom Baath-Regime wurden den Kurd_innen elementare Rechte, wie das Wahlrecht, die Muttersprache und sogar die Staatsbürgerschaft genommen. Auch alle anderen ethnischen und religiösen Minderheiten werden im Gegensatz zur arabischen Bevölkerung stark ökonomisch und sozial benachteiligt. Noch - 57 - RONAHÎ #43 »» Rolle der Frau in Rojava heute haben terroristische Organisationen wie Daesh (ISIS/IS), die im Zuge des syrischen Bürgerkriegs aufgeblüht sind, tausende Frauen und Mädchen, insbesondere Ezidinnen und Christinnen verschleppt, gefoltert, sie zu ihren Sexsklavinnen gemacht und den Menschenhandel wieder eingeführt. lah Öcalan, der 1978 die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) mitbegründete. Dieses „Detail“ bleibt von den Mainstream-Medien jedoch völlig unbeachtet. Somit werden die Motive dieser Frauen neutralisiert und man nimmt ihnen ihre politische Identität. Sie sind aber keine Maskottchen oder Aushängeschilder Aber was wäre die kurdische Kultur ohne den Wi- im Kampf gegen Daesh (ISIS/IS). Sie beteiligen sich derstand? Schon in den 1990er Jahren hat sich auf als Subjekte im zweifachen Kampf für eine befreite Initiative der Yekîtîya-Star in Rojava eine starke Frau und eine befreite Gesellschaft. Frauenbewegung entwickelt. Die Frau wurde über „Wir sind nicht bloß Frauen, die gegen den IS ihre Rechte und ihre Geschichte aufgeklärt und wei- kämpfen. Wir kämpfen, um die Mentalität der Getergebildet. So wurde das Fundament für die heute sellschaft zu verändern und der Welt zu zeigen, stattfindende Revolution erbaut. Seit 2011 gibt es in wozu Frauen fähig sind. Wir wollen nicht, dass die Rojava zwei Frauenakademien, 26 Bildungszentren, Welt uns wegen unserer Waffen kennt. Wir wollen, einige Frauenhäuser und Frauenräte. Alle Institutio- dass sie unsere Ideen kennen.“ – Sozdar, Kommannen haben die Funktion des Schutzes, der Beratung deurin bei der YPJ und Bildung der Frau. So wird außerdem gegen patri- Aber wie könnte man auch sonst die Frauen aus Roarchale Strukturen innerhalb der eigenen Gesellschaft java öffentlich feiern, während die PKK als terrorisgekämpft. Nicht nur in der Praxis sind Frauen an al- tische Vereinigung eingestuft ist? len Prozessen beteiligt. Die Gleichstellung der Frau ist auch gesetzlich fest verankert. Zwei Beispiele hierfür sind zum einen die 40%-Quote für die Beteiligung von Frauen und zum anderen das Hev-SerokSystem (Prinzip der Doppelspitze). Gesetzliche Änderungen werden der Bevölkerung, unter anderem durch die von Frauen für Frauen geschriebene Zeitschrift „Dengê Jîyan“ mitgeteilt. So wurde in einer Ausgabe beispielsweise das nun geltende Verbot für Kinder-/Zwangsheirat und Berdêl (Mädchentausch) veröffentlicht. Weiterhin hat sich im Jahr 2013 autonom von der YPG (Volksverteidigungseinheiten), die YPJ (Frauenverteidigungseinheiten) gegründet. Mit geschätzten 15.000 Kämpferinnen beteiligen sich Frauen allen Alters militärisch am Kampf gegen Daesh (ISIS/IS) und dem Assad-Regime und verteidigen Menschen mit ihrem Leben. Die Mainstream-Medien sind häufig begeistert von den Kämpferinnen der YPJ und loben ihren mutigen Kampf gegen so barbarische Feinde wie den sogenannten „Islamischen Staat“. Frauen aus dem Mittleren Osten werden erstmalig, zumindest in dem Maße, auch von Modezeitschriften wie „Marie Claire“ als glorreiche Kämpferinnen porträtiert. Allerdings ist zu erwähnen und daran zu erinnern, dass alle eben beschriebenen Fortschritte auf eine ganz bestimmte Ideologie zurück zu führen sind. Die Fortschritte basieren auf dem Demokratischen Konföderalismus, formuliert von Abdul- 58 - »» Jîneolojî RONAHÎ #43 Haben wir Rêber Apo wirklich verstanden? Jîneolojî » » Dastan (YXK Stuttgart) D ie Wissenschaft der Frau – Jîneolojî. Ein durchaus interessanter Begriff, zumal der Wissenschaftsbegriff zuweilen das Erste ist, was der_die normale Student_in in seinem/ihrem ersten Semester definiert bekommt. In den Sozialwissenschaften ist eine der wichtigsten Prämissen, dass es nicht die eine soziale Realität gibt. Die Sozialwissenschaften versuchen sich an das, was soziale Realität ist, durch qualitative oder quantitative Arbeit heranzutasten. Dennoch ist trotz dieser bescheidenen Begrifflichkeit der Wissenschaft auch die Sozialwissenschaft geprägt von Denkern, die durchaus totalitär und fast schon deterministisch im Umgang mit ihren eigenen Theorien waren. Beschäftigt man sich mit dem Positivismusstreit oder mit dem Anspruch der realistischen Theorie der internationalen Beziehungen, die wirklich alles, was auf der Bühne der Weltpolitik geschieht, mit einer negativen Anthropologie zu erklären sucht, so wird einem schnell bewusst, dass es höchste Zeit ist, in Forschung und Wissenschaft das zu etablieren, was Jîneolojî ist. Zunächst ist es wichtig, Jîneolojî von der allgemeinen Frauenfrage zu trennen. Hier geht es nicht um die Analyse der Frauenbewegung, der Guerilla, der Mütter oder sonstiger rollengebundener Subjekte. Vielmehr geht es um die Wissenschaft, die ganz im Sinne des Erkenntnisgewinns voranstellt, dass noch gar nicht klar ist, was eine Frau nun wirklich ist. Da Frauen, frei nach Serok Apo, die älteste kolonialisierte Gruppe der Welt sind, ist auch ihre Rolle in der Welt der Wissenschaft eine, die von dieser Fremdbestimmung beherrscht wird. Tatsächlich bestehen gerade die Reihen der linken Klassiker aus einer intellektuellen patriarchalen Elite. Sozialwissenschaft besteht eben aus der Analyse der gesamten Gesellschaft, wozu Frauen ebenfalls gehören. Dass dies nicht der Fall ist, wenn es nach den Gründervätern des klassischen Kommunismus geht, wird klar, wenn man sich mit Serok Apos direkter Kritik des Realsozialismus des 20. Jahrhunderts und der Selbstkritik der PKK auseinandersetzt. Die Analyseeinheiten Bourgeoisie und Proletariat verbergen eine Bandbreite an anderen sozialen Konfliktgruppen, die gehört werden müssen um eine wahrhaft egalitäre Gesellschaft zu erschaffen. Ob das nun die Missachtung der Jugend oder die Kolonisierung der Frau ist: Sowohl in Theorie als auch in Praxis wird es Zeit, die bisherige Rhetorik und bisherige theoretische Rahmen zu überdenken. Genau das macht Jîneolojî möglich. So ist es ein Beitrag über die Frauenbewegung, wenn man einen Artikel - 59 - RONAHÎ #43 »» Jîneolojî über Frauen in der Guerilla schreibt. Jîneolojî wäre es jedoch einmal zu erheben, wie viele junge Frauen es denn sind, die tatsächlich erst zwischen den kurdischen Bergen und dem tagtäglichen Kampf gegen die Besatzerstaaten überhaupt Lesen und Schreiben lernen und was der Grund dafür ist. Es ist Jîneolojî zu erheben, für was Frauen sich in unserer Gesellschaft denn eigentlich selbst halten, wie sie ihre Kolonialisierung eigentlich selbst erleben und einschätzen. Es ist Jîneolojî ein wissenschaftliches Vakuum herzustellen, innerhalb dessen endlich die genaue Frage nach dem Sein der Frau beantwortet werden kann. Besonders zu betonen ist die ästhetische und moralische Komponente, die diese Wissenschaftsform nach Serok Apo hat. So ist nicht nur - wie bereits aufgeführt - die politische Theorie eine Denkschule, welche von Männern dominiert wurde und weiter wird, nein, auch die Moral ist eine patriarchale Moral geworden, wie Serok sagt. Tatsächlich mag diese Verbindung von Moral und Wissenschaft dem ein oder anderen modernen Zeitgenossen der Forschung unwissenschaftlich und irrational vorkommen. Hält man sich jedoch an die griechische Antike und sogar weiter noch an den zoroastrischen Ursprung dessen, was wir heute Philosophie nennen, so wird klar, dass es doch der Erkenntnisgewinn ist, der Menschen zu moralischen Wesen macht. tionalen Intelligenz der Frau und der analytischen Intelligenz des Mannes darlegt, so muss uns bewusst werden, dass nur die Frau selbst diesen Weg begehen kann. Blickt man in die Realität der kurdischen Frau im zivilen Leben, ob nun in Kurdistan oder im Exil, so wird oft schmerzhaft bewusst, dass auch in der freien Gesellschaft das Leben dieser Frauen von Männern diktiert wird. Allein im politischen Aktivismus zeigt sich eine Weigerung des autonomen Handelns, des sich Loslösens von männlichen Akteuren, die im Zweifelsfall den Ton ansagen. Leider zeigt sich auch in der Ciwanên Azad (kurdische Jugend) die Dominanz des Männerbildes nach außen, obwohl mindestens genauso viele junge Frauen wie junge Männer an Demonstrationen, Sitzungen und sonstigem teilnehmen. Im Bewusstsein als YXK, als Teil der gesamten kurdischen Jugend und nicht als eine Art intellektueller Elite, die vom Elfenbeinturm aus weise Worte zum Plebs wirft, ist es die allererste Aufgabe diesen Geist der Jîneolojî zu verinnerlichen und weiterzugeben. Bloßer Militarismus, bloßer Aktivismus darf kein Selbstzweck sein. Gerade eine Theorie, wie die des Demokratischen Konföderalismus, hat Serok Apo Jahre der intensiven Studien gekostet. Wie soll diese Theorie dann verinnerlicht werden, wenn unsere Jugend keinen Umgang damit hat? Genauso, wie sich kein YXK-Mitglied zu schade sein Schon immer war es der Erkenntnisgewinn, der Men- sollte, Militanz und Stärke im Widerstand der Praxis schen vor die Frage des Moralischen, des Guten ge- zu zeigen, so sollten keine Jugendlichen, die in einer stellt hat. Um zum Vakuum zurück zu kommen, ist Realität fern der institutionalisierten Bildung leben, es doch die deontologische Ethik Kants, die gedeu- wie die Universität sie eine ist, keinen Bezug zur thetet hat, dass es die intrinsische Motivation und der oretischen Arbeit im Rahmen der PKK haben. Es gab intrinsische gute Wille ist, der Menschen zu mora- genügend laute Revolutionen, die schnell verpufft lisch handelnden Wesen macht. Natürlich ist Wis- sind. Lasst uns endlich im Sinne des Erkenntnisgesenschaftstheorie ein verzwicktes Feld, und diese winns eine stille Revolution des Wissens anspornen, Interpretation der Jîneolojî mag nicht jeden vollends die kein Ende haben wird. befriedigen, dennoch halte ich gerade diese Prämisse Jîn, Jîyan, Jîneolojî û Azadî ! einer fast schon in sich geschlossenen Wissenschaft der Frau, eine sich selbst entdeckende Lehre, eine Quellen: jineoloji.com, jineoloji.org Denktradition der Ästhetik und Ethik für die, die dann tatsächlich aus der bloßen abstrakten theoretischen Diskussion den Geist macht, den die kurdische Frau verinnerlichen muss, um ihre eigene Revolution zu schaffen. Die Werkzeuge sind uns durch Theorie und Praxis der PKK gegeben. Die Umsetzung ist jedoch ein harter Prozess, der tatsächlich nicht diktiert wird. Erinnern wir uns nämlich daran, wie Serok Apo die grundlegende Unterscheidung zwischen der emo- - 60 - »» Männlichkeit RONAHÎ #43 Männlichkeit » » Ein Genosse in der YXK Berlin Liebe Genossen, ja ich schreibe bewusst Genossen. Vor Kurzem erschien im Kurdistan Report Nr. 182 ein Artikel mit der Überschrift „Vor allem der Mann muss sich ändern“. Immer wieder wird das Thema der Männer auf Verbandsebene angesprochen, aber auch in den Ortsgruppen immer wieder thematisiert. Es geht um dominantes Redeverhalten, Freundinnen, die deswegen nichts sagen und an vielen Stellen eine zu geringe Auseinandersetzung mit unserer Rolle als Männer in der Gesellschaft. Rêber Apo sagt dazu:„Die Begriffe von Macht und Herrschaft anhand des Mannes zu analysieren, gestaltet sich äußerst schwierig. Es ist weniger die Frau, die sich einer Veränderung verweigert, sondern vielmehr der Mann“ (vgl. Abdullah Öcalan – Die Revolution ist weiblich). Wir wissen, und das ist auch die Stärke der Analyse unserer Bewegung, dass sie im Gegensatz zu klassischen marxistischen Denkern die Frauenfrage nicht als Nebenwiderspruch abtut. Viele Marxist_innen verstehen unter dem Hauptwiderspruch die Überwindung des Kapitalismus und erst danach, sozusagen als Nebenwiderspruch, die Befreiung der Frau. Im Gegenteil dazu sagen wir: „Keine Befreiung der Gesellschaft ohne die Befreiung der Frau“. Oder wie es in vielen Städten Rojavas auf großen Bannern über den Straßen heißt: „Jin, Jiyan, Azadî“ (Frau, Leben, Freiheit). Doch was bedeutet es, sich mit seiner Rolle als Mann in der Gesellschaft auseinanderzusetzen? Was bedeutet es, wenn Rêber Apo sagt, dass er den Mann in sich getötet hat? Doch was heißt das für mich ganz persönlich? Es bedeutet, dass ich einen langen Kampf für mich und gegen mich (meine Männlichkeit) aufgenommen habe, von dem ich weiß, dass er nicht enden und dass er weiterhin von viel Kritik geprägt sein wird. Doch durch die Kritik lerne ich und ich wachse. Wenn ich fünf Jahre zurückblicke, sehe ich mich als jemanden, der vor allem durch Wissen dominierte, der nie darüber nachdachte, was das Wort Reproduktionsarbeit bedeutete und für den es selbstverständlich war, nicht über seine Ängste zu sprechen. Ich möchte euch daher mitnehmen auf eine kleine Reise. Am Anfang stehe ich, der zwar gegen Sexismus, Rassismus und die ganzen anderen ‚–Ismen‘ ist, doch der sich theoretisch kaum bis gar nicht damit auseinandergesetzt hat. Ich war dagegen, weil das einfach dazugehörte, wenn man sich in linken Kreisen bewegte. Ich erinnere mich an einen Moment in unserer Gruppe: Eine Freundin versuchte immer wieder vor allem meine dominante Rolle anzusprechen, doch wurde sie insbesondere von den Genossen als „ultra krasse Feministin“ abgetan (natürlich war das negativ gemeint). Die nächste Erinnerung ist Sookee (eine queer-feministische Rapperin), deren Texte ich beim Arbeiten höre. Ich denke viel darüber nach was sie sagt. Sie spricht von Rollenbildern, gesteht eigene Fehler ein, rappt zum Thema Sprache und Konstruktion und hilft mir dadurch sehr. Ich beginne einiges klarer zu sehen. Später dann kommt das Thema Sexualität dazu. Übergriffe. Was bedeutet es jemanden zu küssen ohne zu fragen? Ich beginne mehr darauf zu achten. Immer wieder sehe ich, wie Typen „im VorDie Befreiung der Frau ist auch die Befreiung des beigehen“, ganz „beiläufig“ mit ihrer Hand über den Mannes Po einer Frau streifen, sehe wie die Typen den Frauen Es beginnt mit der Erkenntnis, dass die Befreiung der hinterherpfeifen. Immer häufiger sehe ich das, immer Frau auch die Befreiung des Mannes bedeutet. Denn mehr denke ich darüber nach. Was bedeutet es sich obwohl wir als Männer in fast allen Bereichen des als Frau im öffentlichen Raum zu bewegen? ZuLebens privilegiert sind, leiden wir doch zugleich un- nehmend fange ich an, mit Freundinnen darüber zu ter unserer eigenen Männlichkeit. Unsere Männlich- reden. Die Gespräche eröffnen viele neue Perspekkeit muss Dreh- und Angelpunkt unseres Kampfes tiven, beschreiben Situationen, Momente, die mich sein, wenn wir wirklich eine befreite Gesellschaft erschaudern lassen. Was die Freundinnen schon alles anstreben. erleben mussten! Jede, wirklich jede kann unzählige - 61 - RONAHÎ #43 »» Männlichkeit solcher Geschichten erzählen. Ich beginne mehr dazu zu lesen, Bücher, Texte und im Netz, auf Blogs und Videos zu schauen. Immer wieder finde ich mich in Situationen wieder, wo ich mich selbst reflektiere, um nicht so dominant, Raum einnehmend oder aufdrängend zu sein. Ich erkenne mehr und mehr das Problem der Männlichkeit. Erkenne, wie hilfreich Feminismus für mich ist. Feminismus ist hilfreich für uns Männer! Die Auseinandersetzung damit bedeutet einen immensen Gewinn. Es bedeutet viele Konzepte, vieles von dem was uns unterdrückt, zu überdenken. Es bedeutet die Loslösung von diesem einen Bild des starken Mannes. Bedeutet die Identität neu zu denken und neu zu performen. Es führt zu der Auseinandersetzung von uns Männern mit dem Patriarchat und was es mit uns macht. Ist es z.B. ein Zeichen von Schwäche als Mann zu weinen? Vielleicht sehen wir es als Stärke, vielleicht bedeutet weinen Schwäche, aber müssen wir dann nicht schwach sein um stark zu sein? Hab ich jemals darauf geachtet, wie meine Körperhaltung, die Körperhaltung von Männern in der Öffentlichkeit ist, wie viel Platz sie einnimmt und im Gegensatz dazu die von Frauen? Die Auseinandersetzung damit bedeutet das Aufwerfen von Fragen. Und das ist der Punkt an dem ich mich gerade befinde. Immer noch am Beginn einer langen Reise. natigen Bildung in einer Männereinheit muss jeder Mann einmal auf die Plattform. Er muss einen Bericht über seine Rolle als Mann und seine Auseinandersetzung mit seiner Männlichkeit schreiben, den er dann vor allen Männern vorliest. Dann dürfen ihm die Freunde Fragen stellen und ihn kritisieren, was er sich anhören muss, ohne sich zu verteidigen. Dabei wird zwar der Freund kritisiert, doch oftmals merken viele andere an sich ähnliche Züge, ähnliche Verhaltensweisen. Dadurch wird durch das Individuum die Gesellschaft kritisiert. Ich selbst merke zunehmend, wie ich das Konzept von Kritik und Selbstkritik verinnerliche und dadurch einen neuen Schritt zur Entwicklung einer reflektierteren Persönlichkeit erreicht habe. Vor Kurzem hat mich im Plenum eine gute Freundin, mit der ich schon seit einigen Jahren eng befreundet bin, dafür kritisiert, dass ich mich in die Arbeit der JXK eingemischt habe. Und das vor unserer gesamten Ortsgruppe. Trotzdem weiß ich, weil wir beide das Konzept sehr ernst nehmen, dass sie mich kritisiert und dadurch auch die anderen Freunde und die Gesellschaft, um mir zu helfen mich zu entwickeln. Ich nehme ihre Kritik an, weil ich weiß, dass sie nicht darauf abzielt mich schlecht zu machen, sondern mir zu helfen. Unserer Freundschaft hat das nicht geschadet und auch für die anderen Freund_innen bin ich Was heißt das für dich heval, Freund? kein schlechterer Mensch, nur weil diese Kritik laut Das heißt, von unseren Freundinnen zu lernen, ohne ausgesprochen wurde. in Ohnmacht zu verfallen. Es bedeutet nicht, dass man, weil man ein Mann ist (das heißt sich als Mann Es hat viel Zeit und Gespräche gekostet, um diesen verortet und von der Gesellschaft so gelesen/gedeutet Punkt zu erreichen. Unseren Kampf als etwas Kolwird), schlecht ist. Es bedeutet nicht, dass die Frau lektives in jeder Hinsicht zu verstehen. Etwas, dass besser ist. Es bedeutet, dass ich als Mann mit vie- der eine Teil, nicht ohne den anderen erreichen kann. len Privilegien geboren werde, ohne dafür etwas tun Ein Kampf, der nicht ehrlich und nicht wahrhaft ist, zu müssen. Das heißt für dich, dass du einen Kampf wenn er nur von einem Teil geführt wird. Denn durch führen musst, mit deinen Freunden, gegen dich und die Kritik der Anderen lernen wir. Nicht umsonst ist eines unserer zentralen Werkzeuge die Methode von doch für dich. Kritik und Selbstkritik. Das Konzept der Plattform als Konzept der BeNeue Räume schaffen, den Verband stärken, die freiung? Befreiung erkämpfen Aber durch dich kämpfst du auch gegen die Gesellschaft und für ihre Befreiung. Das Konzept der Platt- Ich habe versucht ein bisschen von mir zu erzählen, form hat die Bewegung entwickelt um dem zentralen Freunde. Ich hoffe es regt euch an und hilft euch. Kampf, dem der Befreiung der Frau, ein Werkzeug an Doch die Auseinandersetzung mit unserer Männlichdie Hand zu geben. Die Idee dahinter ist, durch Kritik keit sollte nicht auf der individuellen Ebene bleiben, an einem Individuum die Gesellschaft und die in ihr weil das nicht funktionieren kann. Wir wollen kollekwirkenden Mechanismen offenzulegen. Kurz gesagt tiv leben, also müssen wir kollektiv lernen. funktioniert es wie folgt: Im Laufe einer mehrmo- Wenn wir uns die Freundinnen anschauen, sollten - 62 - »» Männlichkeit wir uns ihre Doppelbelastung im Verband vor Augen führen und verstehen, was das bedeutet. Die Freundinnen sind nicht nur ein sehr aktiver Teil der YXK, sondern auch der JXK. Sie müssen sich oft häufiger, teils doppelt so häufig treffen wie wir als Männer und demnach auch sehr viel mehr Aufgaben übernehmen und Zeit investieren. Noch immer ist es so, dass wenn sich z.B. auf der Verbandssitzung die JXK trifft, die Männer oftmals sehr widerstrebend zusammenkommen und auch nur teilweise über sich reden, weil Organisatorisches ihnen gerade wichtiger erscheint. Das muss sich ändern! Warum also schaffen wir keine neuen Räume und arbeiten dafür, uns als Männer zu treffen, um mithilfe der Methoden unserer Bewegung, feministischer Literatur, der Jineologî und mithilfe der Worte der Freundinnen an uns zu arbeiten? Wenn wir neue, sichere Räume schaffen, werden wir unseren Verband immens stärken und mit sehr viel mehr Klarheit und Offenheit arbeiten können. Ich möchte an alle Freunde appellieren, die Werkzeuge zu nutzen, die uns von der Bewegung an die Hand gegeben wurden. Wir können so viel gegen das System kämpfen wie wir wollen, gegen Faschismus und gegen Kapitalismus. Wenn wir uns nicht mit uns selbst, mit unserer Männlichkeit auseinandersetzen, werden wir es nie schaffen in einer befreiten Gesellschaft zu leben. Oder wie es Rêber Apo formulierte: „Aus der Erfahrung unseres Kampfes weiß ich, dass der Befreiungskampf der Frau, sobald er den Bereich des Politischen betritt, mit äußerst heftigen Widerständen konfrontiert ist. Doch ohne im politischen Raum zu siegen, kann es keine bleibenden Errungenschaften geben. Ein Sieg im politischen Bereich heißt dabei nicht, dass die Frau die Macht übernimmt. Ganz im Gegenteil bedeutet der Kampf gegen etatistische und hierarchische Strukturen, solche Strukturen zu schaffen, die sich nicht an einem Staat orientieren und zu einer demokratischen und ökologischen Gesellschaft mit Freiheit für die Geschlechter führen. So wird nicht nur die Frau, sondern die gesamte Menschheit gewinnen.“ - 63 - RONAHÎ #43 RONAHÎ #43 »» Şehîd Zîlan Das Symbol der kurdischen Frau: Şehîd Zîlan » » Şilan (YXK Marburg) „Ich möchte der Ausdruck des Freiheitskampfes meines Volkes sein. Gegen die Politik des Imperialismus, die Frau zu versklaven, möchte ich die Bombe an meinem Leib entzünden und zeitgleich meine ganze Wut zeigen und das Symbol des Widerstandes der kurdischen Frau sein. Mein Lebenswille ist stark. Mein Wunsch ist ein erfülltes Leben durch eine große Aktion. Der Grund für diese Aktion ist meine Liebe zu den Menschen und zum Leben.“ Şehîd Zîlan Aber wer ist Zîlan und was kann eine Frau mit 25 dazu bewegen, solch eine Aktion durchzuführen? Zeynep Kınacı, mit Kämpfer_innennamen Zîlan, kam im Jahre 1972 im Zentrum von Malatya (kurd. Meletî) zur Welt. Die aus einer mittelmäßig, patriarchal und kemalistisch geprägten Familie stammende Zîlan absolvierte die Grundschule, sowie das Gymnasium in Malatya. Ihr Studium zur Reisebegleiterin und psychologischen Beraterin absolvierte sie ebenfalls dort. Anschließend arbeitete sie einige Jahre als Krankenschwester im Bereich der Radiologie. Zeynep Kınacı genoß eine liberale Erziehung und fand den Kontakt und ihre Sympathie zur kurdischen îlan – dieser Name wird in der kurdischen Ge- Freiheitsbewegung während ihrer Zeit am Gymnasischichte immer wieder mit Widerstand, Auf- um. Zîlan fing an Interesse an der Ideologie der PKK ständen und Aufopferung assoziiert. Dieser zu entwickeln, während sich diese Anfang der 90er Name steht in unser Vergangenheit für zwei beson- Jahre noch in der Aufbauphase befand. Sowohl die dere Geschehnisse: 1930 wurden während der Ara- wirtschaftlichen Hindernisse, als auch politisch, gerat-Aufstände im Zîlan-Tal (Wan) hunderttausende sellschaftliche Haltungen hinderten sie Langezeit an Kurd_innen Opfer türkischer Staatsgewalt. Am 30. ihrer Identitätsfindung. Juni 1996 verwirklichte Şehîd Zîlan (Zeynep Kınacı) während einer Militärparade in Dersîm eine Aufop- 1994 begann sie sich in Adana aktiv an den Arbeiten ferungsaktion. Dabei kamen viele türkische Soldaten der Bewegung zu beteiligen. Ein Jahr lang führte sie dort die Parteiarbeit. Zu den Arbeiten gab sie damals ums Leben. folgende Bewertung ab: „Eine ernsthafte Bildungsphase habe ich nicht durchmachen können. Da es auf der Führungsebene zu einigen Festnahmen kam und ich dadurch keine große Unterstützung erlangen Z - 64 - »» Şehîd Zîlan RONAHÎ #43 konnte. Auch aufgrund einer bürgerlichen und unwirksamen Haltung des Einzelnen und trotz meines großen Interesses, einen Persönlichkeitswandel zu vollziehen, gelingt mir die Weiterentwicklung und meine Erfolgserzielung nicht.“ 1996 zeigte sie im Angesicht der Kriegshaltung gegenüber der Freiheitsbewegung eine sehr militante Haltung. Eines ihrer letzten Worte an ihre Genoss_ innen war: „Ich möchte das Symbol der kurdischen Frau werden.“ 1995 schloss sich Zîlan in Dersîm der ARGK-Guerilla an. Beweggründe ihres Anschlusses waren vor allem die existentielle Vernichtung der Kurd_innen, dem sie damals im mittleren, sowie nahen Osten ausgesetzt waren. Das Bewusstsein und die Identität des Mit diesem Versprechen verwirklichte sie am 30. Juni 1996 in Dersîm während einer Militärparade eine Aufopferungsaktion und sprengte sich in die Luft. Bei diesem Anschlag kamen fünf Soldaten ums Leben. Zudem wurden 35 Soldaten schwer verletzt. Mit dieser Aktion hinterließ Genossin Zîlan innerhalb der Guerilla und der Bevölkerung eine sehr tiefe Wirkung. Diese Aktion wurde innerhalb der Bewegung zu einer Wende. Eine Frau Mitte 30, mit Träumen und Wünschen, mit einer starken Persönlichkeit und einer großen Lebensfreude beendet so ihr Leben. Warum? Für viele Menschen ist es schwer, für solch einen Anschlag Verständnis aufzubringen. Es klingt absurd und unmenschlich. Aber... In den 90ger Jahre wurde weder die Existenz einer kurdischen Identität noch Kurdistan als ein geografischer Ort anerkannt. Die kurdische Sprache, kurdische Namen, kurdische Musik und Kultur waren verboten. Kurd_innen wurden als „Bergtürken“ diffamiert und einer starken Assimilations- und Vernichtungspolitik ausgesetzt. Dörfer wurden komplett verbrannt und vernichtet, Menschen zur Flucht getrieben und tausende festgenommen und ermordet. Viele verschwanden während der Untersuchungshaft und man hörte nie wieder etwas von ihnen. Auf der anderen Seite erlebte die Freiheitsbewegung in den 90er Jahren den Höhepunkt ihrer Gefechte, sowie Verluste innerhalb der eigenen Reihen. Viele Freund_innen verloren die Motivation, anderen fiekurdischen Volkes, konnten ihrer Ansicht nach nur len, aber auch viele Menschen schlossen sich der Bemit Widerstand aufrechterhalten bleiben. Für diesen wegung an. Kampf waren geschichtliches Bewusstsein, kühne Entschlusskraft und eine große Verantwortung an Zeitgleich gab es 1996 ein Bombenattentat auf Aberster Stelle notwendig. Innerhalb der Guerilla entwi- dullah Öcalan in der Parteischule in Damaskus, welckelte sie ihre Persönlichkeit entscheidend weiter. In che um Haaresbreite gescheitert ist. Punkten wie Entschlossenheit, Moral und Bewusst- Und inmitten dieser Realität verwirklichte Genossin sein entwickelte sie eine starke Haltung. Zîlan eine Aufopferungsaktion. Ihre Verbundenheit Sie interessierte sich vor allem für die Kurd_innen und ihre Geschichte, die Anfänge der Menschheitsgeschichte, die PKK sowie die Haltung und Verbundenheit zu Abdullah Öcalan. zu Abdullah Öcalan verdeutlichte sie in ihren Briefen an das kurdische Volk, an die Frauenbewegung und an den Vorsitzenden selbst. Dieser Anschlag auf Abdullah Öcalan war für sie in keinster Weise zu akzep- - 65 - RONAHÎ #43 »» Şehîd Zîlan tieren. Als Antwort dagegen richtete sie die Bomben an ihrem Leib an den Feind. Die Aktion von Sehid Zîlan war keine einfache Selbstmordaktion. Abdullah Öcalan bewertet ihre Aktion als eine vollkommen der Zeit angemessenen, plan- und aufopferungsvolle, mutige und mit kühlem Kopf durchdachte Aktion. Eine Angriffsaktion mit einer sehr weitreichenden Dimension. Sie war direkt an den Feind gerichtet. Gegen die Politik des Imperialismus, die Frau zu unterdrücken und zu versklaven. In Anbetracht der Sabotage, Attentate und erfolgreichen Operationen, erklärte sie, welche taktische Aktionsverständnis die Bewegung verfolgen muss. Eine Antwort, mit der sie ihre Verbundenheit zu dem Vorsitzenden nochmal Ausdruck verleihen wollte. Serokatî ergänzt folgenden wichtigen Punkt: „Die von der Genossin Zîlan durchgeführte Aktion ist zugleich auch ein Schlag gegen das genannte Selbstmordverständnis. Wenn ihr sterbt, dann sterbt richtig! Wenn ihr angreift, dann greift richtig an!“ Dieser Anschlag auf den Feind war nicht aus Verzweiflung, sondern aus Stärke und Widerstand, aus Verbundenheit zur Freiheitsbewegung. Sie sah ihre Aktion als Pflicht für den Kampf. Hierbei wird das musterhafte und tiefe Begreifen der ideologisch- politischen Linie der PKK deutlich. Es ist eine vollkommen mit geschichtlichen Aspekten der Menschheit verbundene, eine organisierte, eine mutige, aufopfernde und mit einem freien Willen durchgeführte Tat. Es ist eine Aktion der freien Frau, die mit dem Leben sehr verbunden war. Heval Zîlan zeigt den Frauen als Wegweiserin den Weg in eine freie Welt. Indem sie sich gegen den Feind gestellt hat und mit erhobenem Kopf die Unterdrückung nicht akzeptiert hat, sich dagegengestellt und diese in ihrer Praxis widergespiegelt hat. Ihre Haltung zeigt, wie sehr sie die Ideologie der Freiheitsbewegung verinnerlicht hatte. Ihre Praxis zeigt: eine große Aktion. Ein organisiertes Leben. Die ideologisch - politische Reife. Die Art, das Verhalten, das Erreichen eines hohen Tempos. „Wenn du lebst, lebe richtig! Wenn du stirbst, stirb richtig. Wenn du angreifst, dann greif richtig an. So einfach ist es.“ - Şehîd Zîlan. - 66 - »» Audre Lorde RONAHÎ #43 „black lesbian feminist mother poet warrior“ » » Helin (JXK Marburg) A udre Lorde kam 1934 in New York City auf die Welt und wuchs im Viertel Harlem auf. Nach der Schule schloss sie ihr Studium der Bibliothekswissenschaft ab. Schon früh begann Audre Lorde ihre Gefühle, Lebensrealitäten und Kämpfe durch Dichtung zu übermitteln. Ihre ersten Gedichte schrieb sie im Alter von 13 Jahren. Später positionierte sie sich als lesbisch und brachte ihre darauf bezogenen Gedanken und Gefühle auf Papier. Nicht nur in den USA, sondern auch in Deutschland war sie in Frauenbewegungen aktiv und wirkte dort bei der afro-deutschen Bewegung mit. „I am not free while any woman is unfree, even when her shackles are very different from my own.“ In ihrem Kampf setzte sie sich viel mit sich selbst, aber auch mit den Geschichten anderer Frauen auseinander. Sie legte viel Wert darauf zuzuhören, zu verstehen und mitzukämpfen. Die mehrheitlich weißen Frauenbewegungen kritisierte sie sehr scharf. Sie machte stets deutlich, dass Frauensolidarität wichtig sei, betonte jedoch die Notwendigkeit, verschiedene Positionierungen mitzudenken, die im gemeinsamen Kampf als Frauen oft nicht mitgedacht wurden und betrachtete feministische Thematiken im Kontext von Rassismus, Homophobie, Klassismus und Antisemitismus. Auch wenn alle Frauen Unterdrückungen als Frauen erleben, sind diese Unterdrückungen nicht dieselben. Die Vielfalt der Frauen sah Audre Lorde dennoch als eine Bereicherung des gemeinsamen Kampfes an, weil wir voneinander lernen können, Privilegien aufdecken und einen Umgang damit finden müssen. In ihren Worten kennt die Unterdrückung von Frauen „keine ethnischen Grenzen, aber das bedeutet nicht, dass sie innerhalb dieser Differenzen identisch ist. Denn jenseits von Schwesterlichkeit ist immer noch Rassismus“. Sie zeigte auch patriarchale Einflüsse auf Männer auf: “Men who are afraid to feel must keep women around to do their feeling for them while dismissing - 67 - „My silences had not protected me. Your silence will not protect you.“- Audre Geraldine Lorde. In ihren Worten „schwarz, lesbisch, Feministin, Mutter, Dichterin und Kämpferin“. RONAHÎ #43 »» Audre Lorde us for the same supposedly „inferior“ capacity to feel deeply. But in this way also, men deny themselves their own essential humanity, becoming trapped in dependency and fear.” Wer ihren Kampf und ihre Arbeit verstehen will, muss diese vielschichtige Positionierung begreifen. Audre Lorde setzte sich mit allen Teilen ihrer Identität auseinander und sagte, dass sie jeden Teil als Quelle ihrer Kraft ansieht. Sie schrieb und dichtete über ihr Schwarzsein, ihr Frausein, Muttersein, Lesbischsein und über weibliche Sexualität. Auch mit ihrer Krebserkrankung, an dessen Folgen sie 1992 starb, beschäftigte sie sich intensiv in ihrem „Krebstagebuch“ und setzte sie mit ihren verschiedenen Anteilen in Verbindung. Dichtung betrachtete sie als ihre Bestimmung, durch die sie nicht nur von Erfolgen und positiven Gefühlen, sondern auch von der harten Realität, von ihrem „intensiven, ungemilderten Schmerz“ erzählen konnte; über Wut, Trauer und Empörung. Ihre Dichtung beinhaltet jedoch vor allem die Botschaft: Befreie dich selbst. Niemand wird kommen und dich aus deinen Ketten lösen. Erhebe deine Stimme. Trau dich, Mut zu zeigen. Dein Schweigen wird dich nicht schützen. Erkenne deine Stärke und nutze sie. - 68 - »» Grußbotschaft an Jugendbewegung in Europa RONAHÎ #43 Über die Delegation zum 2. Kongress der Demokratischen und Freien Jugendbewegung in Europa An alle Jugendlichen, deren Herzen im Takt der Freiheit schlagen » » Abdullah Öcalan (Imrali Insel, April 2015) I m Kampf der demokratischen Gesellschaft bedarf es für die Kategorie Jugend einer besonderen Behandlung. Die Jugend ist in ihrem Sozialisierungsprozess mit vielen Fallen konfrontiert. Während sie auf der einen Seite traditionell patriarchale Gesellschaftsmuster aufweist und auf der anderen Seite sich mit den ideologischen Vorgaben der gegebenen Ordnung herumschlägt, verfügt sie über eine dynamische Beschaffenheit, die für Innovationen offen ist. Gegenüber den Geschehnissen ist sie unheimlich unreif. Unter den Einflüssen der älteren Generation ist sie weit davon entfernt zu begreifen, welche Rolle ihr zugemessen wird. Die unzähligen listigen Verführungen der kapitalistischen Gesellschaft rauben der Jugend geradezu den Atem. All diese Gegebenheiten machen eine spezifische und von allen Fallen befreiende, der Natur der Jugend entsprechende gesellschaftliche Bildung zwingend notwendig. Eine Gesellschaft, die ihre Jugendlichen verliert, oder umgekehrt eine Jugend, die ihre Gesellschaft verliert, ist nicht nur besiegt, sondern hat darüber hinaus ihr Existenzrecht verloren und dieses verraten. Alles andere ist Zerfall, Auflösung und Untergang. Dagegen ist es die Hauptaufgabe der Gesellschaft als Hauptwerkzeug zur Erhaltung ihrer eigenen Existenz Bildungseinrichtungen zu etablieren. Inhaltlich gilt es wissenschaftliche, philosophische, künstlerische und sprachliche Interpretationen von Wissens-Macht-Komplexen zu trennen und somit eine Bewusstseins-Revolution zu realisieren. Andernfalls ist es nicht möglich, das moralisch politische Gewebe der gesellschaftlichen Existenz zu funktionalisieren. und unvorstellbaren Praxen ausgesetzt. Der Aufstieg der hierarchischen Gesellschaft war nach der Frau ausschlaggebend für die Situation der Jugend. Nicht ohne Grund fühlt sich die Ordnung als stärkste Ordnung, welche die Jugend unter ihre Kontrolle bringt. Die später auftretenden Staatsformen werden alle der Jugend ähnliche Ausführungen aufzwingen. Eine Jugend, die eine solche Gehirnwäsche bekommt, kann für alle Zwecke ausgenutzt werden und an vorderster Stelle für schwere Arbeiten instrumentalisiert werden. Im Wesentlichen kann man sagen, dass durch das aus der Schwäche und Kraft der Alten resultierende Verhältnis von Abhängigkeit und Zähmung der Jugend dazu führt, dass sie vom herrschenden System vereinnahmt wird, um sie mit voller Kraft zum Vorreiter des Systems zu machen. Wir müssen nochmals betonen: Die Jugend ist kein physisches, sondern ein gesellschaftliches Phänomen. Die Jugend hat allen systematischen Angriffen zum Trotz nichts von ihrer Neugier und Wärme verloren und verfolgt entschlossen das Ideal einer freien Gesellschaft. Der Slogan „Entweder freies Leben oder keins“ sollte wie eine Fahne der Jugend hochgehalten werden. Die Bildung der Jugend ist eine Aufgabe, die große Mühen und viel Geduld erfordert. Daneben verfügt die Jugend mit ihrer Dynamik über die Möglichkeit legendäre Offensiven zu starten. Sofern sie Ziel und Methode gut verinnerlicht hat, gibt es keine Hindernisse, die sie nicht beseitigen kann. Sobald die Jugend ein zielorientiertes und systematisches Leben als Hauptdisziplin begreift und sich dafür mit Geduld und Entschlossenheit engagiert, kann sie bei historiEs ist schwierig eine Jugend aufzuhalten, die nach ih- schen Prozessen den wichtigsten Beitrag leisten. rer Freiheit strebt. Die Jugend ist jene Gruppe, welche In der demokratischen Jugendbewegung wird eine den Systemen am meisten Kopfschmerzen bereitet. Offensive unter Anführung von Kadern mit den oben Weil dies durch die Geschichte hindurch bekannt ist, genannten Eigenschaften beim Kampf für eine demowird die Jugend unter dem Namen Bildung geopfert kratische Gesellschaft der Garant für den Erfolg sein. - 69 - RONAHÎ #43 »» Grußbotschaft an Jugendbewegung in Europa Eine gesellschaftliche Bewegung hat ohne die Dynamik der Jugend begrenzte Erfolgsaussichten. Für die heutige Jugend können große Träume nur Bedeutung erlangen, wenn sie Auswege aus der bestehenden Systemkrise der Gesellschaft bieten. Eine Jugend ohne Träume kann sich vor Degeneration und dem vollständigen Verlust des Lebens nur retten, indem sie zu ihren wahren Träumen zurück findet. Die endgültige Krise und den dadurch resultierenden Chaoszustand des kapitalistischen Systems zu begreifen, ist Voraussetzung um einen Ausweg zu finden. Somit wird ihr die Verinnerlichung von Werten einer demokratischen, frauenbefreiten und ökologischen Gesellschaft die Möglichkeit für einen historischen Erfolg geben. Auf diese Weise wird die Jugend sich zum einen selbst neu strukturieren und zum anderen beim Aufbau der ersehnten Gesellschaft ihre wahre Rolle einnehmen. Alles wird sich anhand der korrekten und tiefgründigen Beteiligung der Jugend an dieser historisch-gesellschaftlichen Offensivphase entscheiden. die durch tausendjährige Feldzüge und Eroberungen beabsichtigt aber nicht realisiert werden konnten. Leere Träume, sowie die Abhängigkeit von einem unwürdigen Leben sind Grund dafür, dass die heilige Heimat von Göttinnen und Göttern freiwillig verlassen wird. Einem Volk kann keine größere Katastrophe und kein schlimmeres Elend widerfahren. Aus diesem Anlass wiederhole ich, was ich zuvor bereits gesagt habe: „Lasst uns unser Wasser, unsere Erde, unsere Energie kommunalisieren und ein freies Leben, eine freie Gesellschaft aufbauen!“ Ohnehin ist der Kapitalismus eine Krankheit und führt zum Ende der menschlichen Art. Dies geschieht dadurch, dass ihre Lebensweise einem Krebsgeschwür im Körper gleicht. Das Aussterben der Menschheit bedarf keiner Meteoriten oder anderer Naturkatastrophen. Die unglaubliche Ausbeutung der Natur genügt, denn sie vernichtet die gesamte Ökologie und Umwelt. Ähnlich wie die Pest zu seiner Zeit vernichtende Folgen hatte, werden innerhalb von 30 Jahren verheerende Ereignisse stattfinden, wenn der Kapitalismus nicht gestoppt wird. Genmanipulierte Lebensmittel, übermäßiger Konsum, sowie Fettleibigkeit u.ä. Probleme verbreiten sich wie ein Krebsgeschwür. Arbeitslosigkeit, welche vor allem die Jugend betrifft, führt zu Massenauswanderung in fremde Metropolen, insbesondere in Richtung Europa. So werden die Menschen in eine Lage gedrängt, fühlt sich die Jugend dieser Vergangenheit näher. Die Demokratisierung der Gesellschaft hat die höchste Priorität. Wie bei allen revolutionären Massenbewegungen zu sehen ist, wird dies von Frauen und Jugendlichen angeführt. Diese beiden Kräfte stellen die wichtigsten demokratischen Subjekte dar. Die Führungsrolle zu übernehmen ist keine leichte Aufgabe, z.B erfordert es für die Teilnahme jedes einzelnen Menschen zu sorgen. Es bedeutet, nicht zuzulassen, dass das kapitalistische System den Menschen verEine Alternative zu sein ist nur möglich, indem man wahrlosen lässt. Die Führungsrolle bedeutet immer im Gegensatz zu den vier Standbeinen der Kapita- wieder an diese Pflichten zu erinnern und es zu wielistischen Moderne (Nationalstaat, Industrialismus, derholen. Patriarchat und Kapitalismus) sein eigenes System Die Jugend, welche die moderne Welt schnell beentwickelt. Demokratische Gesellschaftlichkeit, greift, verspürt eine große Wut gegenüber der hoffÖko-Industrie und Demokratischer Konföderalismus nungslosen Situation im mittleren Osten, in die sie können unter dem Namen der Demokratischen Mo- geraten ist. Gegenüber der Stammesordnung und derne als Alternative vorgeschlagen werden. Mit dem dem Nationalismus der mittelöstlichen Gesellschaft Erbe der Demokratischen Zivilisation und der Eini- spürt sie Erschöpfung und Ausweglosigkeit. Aufgung von Systemgegnern um das neue System herum grund gemeinsamer Spuren von Geschichte und Kulwerden die Erfolgschancen gesteigert. tur, welche eine demokratische Wahrheit beinhalten, Um die vielen Kriege und Kämpfe zu überwinden, die fortlaufen und auf geschichtlich-gesellschaftlichen Ungerechtigkeiten basieren, bietet der Demokratische Konföderalismus eine Lösung. Gegen das eigentliche Hindernis, welches die Kapitalistische Moderne und der Nationalstaat als Hauptverantwortliche darstellen, ebnet die Lösung des Demokratischen Konföderalismus den Weg für Frieden, Gerechtigkeit und Freiheit. Eine demokratische Lösung für irgendeinen Brennpunkt in der Region kann eine Kettenreaktion in verschiedenen Krisengebieten mit Wirkungen für die gesamte Region auslösen. Dafür existieren zahllose Beispiele in der Geschichte. Dadurch, dass der demokratische Konföderalismus allen Gemeinschaften, Institutionen und Verschiedenheiten ermöglicht, sich am besten wieder zu finden, - 70 - »» Grußbotschaft an Jugendbewegung in Europa RONAHÎ #43 wird er lebensfähiger. cherheitsbereich im Kampf um Freiheit und GleichDass dieses System nicht bekannt oder offiziell ist, heit auf aktivste Weise ihren Platz einzunehmen und liegt an der ideologischen Hegemonie des herrschen- den Erfolg zu erzielen. den Systems. Auch wenn es keine offizielle Definiti- Ihr wertvollen Jugendlichen aus Europa, euer Leben on davon gibt, waren die Gesellschaften in der Ge- mitten im Zentrum des Kapitalismus und der Burschichte mehrheitlich konföderalistisch organisiert. geoisie ist schwer. Ihr müsst euch effektiv schützen Für die Frauen und Jugendlichen, die den größten und eure Gefühle, in die Heimat zurück zu kehren, Bedarf an Frieden und Freiheit haben, sind vielseiti- lebendig halten. Dass dürft ihr niemals vergessen ge Frauen und Jugendzusammenschlüsse als zivilge- und müsst eure Verbundenheit zur Heimat fortsetzen. sellschaftliche Institutionen von großer Bedeutung. Dort könnt ihr ein gewöhnliches und einfaches LeOrganisationen, welche die geschichtlichen und ak- ben aufbauen, doch dass kann auch euer Ende sein, tuellen politischen Ziele der Jugendlichen und Frau- das ist nicht meine Art und Weise. en ansprechen, können zum einen die Hindernisse der konservativen Gesellschaft und des despotischen Staates überwinden und zum anderen für die gesamte Gesellschaft Institutionen bilden, an denen man sich orientieren kann. Qualitativ und Quantitativ sind diesen Zielen entsprechende und entschlossen organisierte Jugend- und Frauenzusammenschlüsse die Garantie für den Erfolg der Zivilgesellschaft. Wenn ihr wirklich an die Sache glaubt und die Last eines Volkes tragen wollt, müsst ihr eine Prioritätenreihenfolge haben. Für mich ist das so. Für mein Volk habe ich alles andere aufgegeben, etwas anderes zählt für mich nicht. Bis ich sterbe werde ich für den gerechten Kampf des kurdischen Volkes Widerstand leisten. Wer an meiner Seite stehen will, muss dies wissen und dementsprechend mit mir diesen Weg geEine Dachorganisation als „Demokratische Konföde- hen. Ansonsten müssen sie ihren eigenen Weg gehen. ration“, die alle zivilgesellschaftlichen Institutionen Doch wenn ihr an diese Sache glaubt und etwas maumfasst, kann in Solidarität mit ähnlichen Organi- chen wollt, müsst ihr mir folgen und ein Leben mit sationen innerhalb des eigenen Landes und anderer Prinzipien führen. Länder in Form einer demokratischen Föderation das Ich habe die Demokratische Moderne entwickelt und eigene System vollenden. vorgeschlagen, um diese Probleme zu sehen und zu Da die Jugend in der Organisierung der Demokrati- beheben. Diese Vorschläge sollen dazu führen unsere schen Gesellschaft im Mittleren Osten die treibende Menschen vor der schmutzigen Lebensweise des KaKraft ist, kann sie ihre Rolle in konföderalen Organi- pitalismus zu retten. Die kapitalistische Lebensweise sationsformen wahrnehmen. Es ist mir wichtig, dass absorbiert die Frau, die Jugend und das Leben insFolgendes bekannt ist: Es ist klar, dass die Entwick- gesamt. Grade in diesem Zusammenhang muss die lung des freien Bewusstseins und der organisatori- Jugend in Europa noch viel vorsichtiger sein. schen Fähigkeiten eines Jugendlichen und vor allem einer jungen Frau mit Sicherheit die schwierigste aber auch entscheidendste Aufgabe ist. Wir werden unseren Mühen und unserem Fleiß gerecht werden. Ich betone immer wieder: Ich bin immer noch jung. Mein Aufruf an die Frau gilt auch für die Jugend. Ich liebe die Jugend und alles was ich tue ist für die Jugend. Wir haben jung angefangen und wir werden es jung zu Ende bringen. Meine Geduld, Arbeitsweise und meinTempo können als Vorbild genommen werden. Wird dies realisiert, ist der restliche Weg erleuchtet. In einer Zeit wo auf der ganzen Welt Gesellschaftsgenozide stattfinden und vor allem der mittlere Osten in Flammen steht, messe ich eurem Jugendkongress, den ihr in Europa verwirklicht, historische Bedeutung zu und begrüße ihn. Insbesondere die jungen Frauen und die gesamte Jugend grüße ich vom ganzen Herzen. Wir haben jung angefangen und bringen es jung zu Ende! Ich rufe alle Jugendlichen, deren Herzen im Takte der Freiheit schlagen, in der kommenden Phase dazu auf, im wirtschaftlichen, sozialen, politischen und im Si- 71 - RONAHÎ #43 »» Aufruf an die Jugend Internationalist_innen in Rojava rufen die Jugend auf, sich dem Widerstand in Bakûr anzuschließen » » ANF/ISKU (14.01.2015) Internationalistische Kämpfer_innen aus den Reihen der YPG (Yekîneyên Parastina Gel – Volksverteidigungseinheiten) und YPJ (Yekîneyên Parastina Jin – Frauenverteidigungseinheiten) haben eine Erklärung veröffentlicht, in der sie den Widerstand in Bakûr (Nordkurdistan) grüßen. Die Revolutionär_innen rufen die Jugend auf, sich dem Widerstand der YPS (Yekîneyên Parastina Sivîl – Zivilverteidigungseinheiten) und YPS-Jin (Yekîneyên Parastina Sivîl-Jin – Zivile Frauenverteidigungseinheiten), sowie den Guerillakräften HPG (Hêzên Parastina Gel – Volksverteidigungskräfte) und YJA-Star (Yekîtîya Jinên Azad-Star – Verband der freien Frauen-Star) anzuschließen. D ie Pressekonferenz der internationalen Kämpfer_innen wurde an der Grenze zwischen den Städten Qamişlo in Rojava und Nisêbîn (türk. Nusaybin) in Bakûr abgehalten. Die Erklärung auf Kurdisch, Spanisch, Deutsch und Englisch ruft alle Jugendlichen weltweit auf die Revolution in Kurdistan zu unterstützen. men sind, um sich dem Kampf für die Befreiung anzuschließen. Wir leben in einer Zeit des anhaltenden Krise. Während im Herzen des Leviathans der Feind die Menschen weiterhin auf gründlichste und schlechteste Weise abstumpfen lässt, sie betäubt und versklavt, gehen die Schranken im Krieg verloren. Heute lebt die Unterdrückung von 500 Jahren KapiDie Presseerklärung der deutschen, französischen talismus in unzähligen Formen. und spanischen Revolutionär_innen lautet wie folgt: Die Herrschenden kennen keine Grenzen, wenn es „Wir sind Revolutionär_innen aus aller Welt, die darum geht ihren Reichtum zu sichern und ihre Interaus ihrem eigenen Willen nach Kurdistan gekom- essen zu verfolgen. Wenn wir auch nur auf die Nachrichten eines einzigen Tages blicken, fällt es leicht - 72 - »» Aufruf an die Jugend in Verzweiflung zu versinken. Und das ist genau der Punkt. Wir sollen glauben, dass es keine Alternative gibt, dass das System, in dem wir leben, die einzige Wahl ist. Als die Sowjetunion zusammengebrochen ist, wurde gesagt, dass wir „am Ende der Geschichte“ angekommen sind. Aber nun, 25 Jahre später, sehen wir erneut, dass der Kapitalismus weder im Stande war, noch jemals sein wird, unsere Probleme zu lösen. Im Gegenteil hat er mit jeder so genannten Lösung die Probleme nur multipliziert. Das System gedeiht auf Unterdrückung. Die Unterdrücker brauchen uns. Sie können ohne uns nicht existieren, aber wir können ohne sie. Sklaverei, Krieg und Leid, Einsamkeit und Verzweiflung sind weder Schicksal noch Zufall, sie sind unvermeindliche Eigenschaften einer kapitalistischen Gesellschaft. Es ist deshalb unsere dringenste Pflicht, sich dagegen zu organisieren. So sehr, sie auch versuchen unser Gewissen zu überwältigen und ihre Wahrheit in unsere Herzen zu pflanzen – wir lassen uns nicht RONAHÎ #43 länger täuschen. Die Alternative existiert direkt vor unseren Augen. Der Widerstand der PKK (Partiya Karkerên Kurdistanê – Arbeiterpartei Kurdistans) gegen die Besatzer, namentlich vor allem gegen den türkischen Staat, besteht seit mehr als 40 Jahren. Die PKK kämpft für die Freiheit und Autonomie, nicht nur der Kurd_innen, sondern für alle Völker des Mittleren Ostens. Vor 4 Jahren entzündete der Funke im westlichen Kurdistan, genannt Rojava, das dann von der syrischen Besatzung befreit wurde. Die Menschen aus Rojava haben sich selbstorganisiert und gemeinsame eine umfassende soziale Revolution geführt. Überall wurden Räte und Kommunen für die lokalen Verwaltungen und Kooperativen gegründet, als Basis für eine neue Wirtschaft. Der historische Widerstand zur Verteidigung der Revolution, der Kampf der Guerilla, die Befreiung der Frau, radikale Demokratie und Ökologie als Fundament einer alternativen Gesellschaft – dies sind unsere Hoffnungen für das 21. Jahrhundert. Wir ziehen Mut und Hoffnung aus der “Die Revolution ist nicht nur Krieg und Waffen tragen, die Revolution bedeutet, das Leben richtig zu verstehen. Um dieses Leben zu verteidigen, und die Werte der Menschlichkeit, sind wir bereit, in diesem schwersten Krieg Erfolg zu haben.” Günter Hellstern Günther Hellstern (Rüstem Cudi) ist am 23. Februar in Al Shadadi (Rojava) im Kampf gegen den IS/Daisch gefallen. Foto: Fimstill aus einer Reportage von „Vice News“ - 73 - RONAHÎ #43 »» Aufruf an die Jugend Revolution in Kurdistan. stellen sich die Menschen sämtlichen EinschüchteDie aktuelle Lage ist sehr kritisch. Der Krieg in Nord- rungsversuchen entgegen, davon zeugen der unerkurdistan, dem durch die Türkei besetzten Teil, wütet schütterliche Mut und der Willen, die täglich auf den seit einem halben Jahr. Die Angriffe, auf die von der Straßen Nordkurdistans zu sehen sind. Erst vor kurGuerilla kontrollierten Gebiete, durch die türkischen zem wurden die Zivilverteidigungseinheiten YPS/ Besatzungstruppen am 24. Juli wurden von den Men- YPS-Jin nach dem Vorbild der YPG/YPJ in Rojava schen durch die Deklaration der Demokratischen Au- gegründet, um den Widerstand zu unterstützen und tonomie in vielen Gebieten Nordkurdistans beant- zu verteidigen. wortet. Sie bilden Kommunen und Gemeinderäte, so Wir gratulieren zur Gründung der YPS/YPS-Jin und wie in Rojava. Geführt durch die Jugend der YDG-H senden unsere herzlichsten Grüße und unseren Res(Yurtsever Devrimci Gençlik Hareketi – Patriotisch pekt an die YDG-H/YDG-K. Viele unserer Genoss_ Revolutionäre Jugendbewegung) und der YDG-K innen sind in diesem Kampf gefallen. Ihr Andenken (Yurtsever Devrimci Gençlik Kadın – Patriotisch gibt uns Kraft und ihre Opfer werden nicht vergeRevolutionäre Frauenbewegung), organisieren die bens sein. Wir werden die Flamme der Revolution Menschen ihre Selbstverteidigung und errichten Bar- mit unserem ganzen Herzen und Geist weitertragen. rikaden in ihren Vierteln. Der türkische Staat sieht Unser Platz ist hier, Seite an Seite mit unseren Gedies als eine Bedrohung für seine Autorität, die seit noss_innen, kämpfend für ein freies Kurdistan und den letzten Jahren sowieso nur noch symbolisch in einen freien Mittleren Osten. den kurdischen Gebieten existierte und greift daher Wir rufen alle Revolutionär_innen weltweit auf – mit äußerster Brutalität an. schließt euch dem Widerstand an. Dies ist nicht die Seit Monaten widersetzen sich die Menschen nun, allen voran die revolutionäre Jugend, der zweitgrößten Armee der NATO. Die schweren Kämpfe gehen in den Städten Cizîr (türk. Cizre), Silopî (türk. Silopi), Kerboran (türk. Dargeçit), Şirnex (türk. Şırnak), sowie in den Vierteln Sûr (türk. Sur) und Farqîn (türk. Silvan) der Stadt Amed (türk. Diyarbakır) weiter. Zeit um daheim zu sitzen und zu überlegen was sein könnte. Wir bauen die Zukunft auf und verteidigen sie jetzt. Wir rufen nach Widerstand und Solidarität. Aufstand gegen die imperialistischen Mächte. Greift die Einrichtungen des türkischen Staates überall auf der Welt an. Kommt nach Kurdistan und tretet den Kräften der YPG/YPJ, YPS/YPS-Jin und der GuerilWährend der Wintermonate schränkt der Schnee den la bei!“ Bewegungsraum der Guerilla stark ein. Das ist der Grund, warum der Feind alles versucht, um den Willen der Menschen vor Beginn des Frühlings zu brechen. In den 90er Jahren hat der Staat tausende von Dörfern niedergebrannt, um die Bevölkerung von der Guerilla zu trennen und die Menschen zur Flucht zu zwingen. Heute versuchen sie es erneut, sie greifen die Menschen mit Panzern, Helikoptern und schwerer Artillerie an. Täglich gibt es Berichte über Kinder, Jugendliche und ganze Familie, die durch Staatskräfte hingerichtet wurden. Der Staat hat tausende seiner besten Einheiten und schweren Waffen in die kurdischen Regionen entsandt, um den revolutionären Aufstand niederzuschlagen. Die Besatzungstruppen haben Ausgangssperren in allen kurdischen Städten ausgerufen, Wasser und Strom gekappt und streuen weiter anti-kurdische Propaganda, während sie alle türkischen Medienquellen zensieren. Trotz alledem - 74 - »» Europa und Freiheit RONAHÎ #43 Europa und Freiheit » » Rûken Sterk H evala1 Avaşin hatte ein großes Gefühl für die Freiheit und Kurdistan. Ich möchte mit euch Hevala Avaşin kennenlernen, eine Freundin, die die falsche Freiheit Europas nicht akzeptierte und eine Wunsch nach wahrer Freiheit besaß. Deswegen wahr die Freundin immer in der Mitte des Kampfes, bis sie sich dann dem Krieg in Rojava anschloss. Hevala Avaşin, Ivana Hoffmann, war eine Freundin aus Deutschland und ließ am 7. März 2015 in Til Temir2 ihr leben. Sie wurde im September 1995 in Emmerich, Deutschland, als Tochter einer deutschen Mutter und eines togolesischen Vaters geboren. Im Alter von 14 Jahren begann sie mit der politischen Arbeit. Im Zentrum des Kapitalismus aufgewachsen, erhob sie sich schon früh gegen Ungerechtigkeit, Unterdrückung und Ungleichheit und begab sich auf die Suche nach Freiheit, doch in Europa fand sie diese nicht. Heval Avaşin organisierte sich in Deutschland 1 2 Heval [kurdisch]: Freund_in Til Temir: Stadt in Rojava, Westkurdistan, Nordsyrien in der kommunistischen Organisation MLKP. Um Freiheit zur Politik zu machen, kämpfte sie gegen Sexismus und Rassismus. Doch damit begnügte sie sich nicht und der Kampf reichte ihr nicht. Im Frühling 2014 kam sie nach Rojava und nahm ihren Platz im internationalen Tabor3 der MLKP ein. Hevala Avaşin wollte Freiheit und kam dafür nach Rojava. Sie glaubte die Revolution in Rojava könne eine Beispiel für den gesamten mittleren Osten werden und müsse deswegen verteidigt und beigestanden werden. Sie verstand die Verteidigung der Revolution Rojavas als die Verteidigung der Zukunft aller Völker und wollte deswegen ihren Platz in dieser Revolution einnehmen und ihre Rolle darin spielen. Hevala Avaşin schrieb in einem ihrer Briefe:“Ich kann nicht einfach mit ansehen wie unsere Schwestern, Brüder, Mütter und Väter für Freiheit und gegen Kapitalismus kämpfen. Ich möchte mich, wie sie auch, diesem Kampf anschließen und wenn ich nach Deutschland zurückkehre werde ich auf meine Freund_innen und mein Umfeld in Deutschland mit Kraft, Wille und Kampfgeist einwirken. Hevala Avaşin wollte nach Deutschland zurückkehren um den Kampf in Deutschland zu stärken und ihrem Umfeld wieder eine Perspektive geben, weil es in Deutschland Perspektive, Hoffnung, Wille und Kamfgeist nicht gibt und durch Liberalismus und Kapitalismus die Menschlichkeit getötet wurde. Dinge jenseits von Materialismus, wie Ethik, Menschlichkeit, Sozialismus, Freiheit, Gleichheit, gibt es nicht. Die Menschen arbeiten, wie Sklaven, nur für Geld. Durch den Einfluss von Liberalismus können sich die Menschen nicht miteinander organisieren, jede_r bleibt für sich allein und Glaube und Hoffnung sind gebrochen. Wegen dieser Tatsachen wollte Hevala Avaşin nach der Revolution in Rojava in ihre Heimat zurückkehren und ihre Bevölkerung organisieren. Sie wollte mit einem neuem Geist, einem starken Willen und einer starken Perspektive des Demokratischen Konföderalismus dort ein neues System aufbauen. 3 - 75 - Tabor [kurdisch]: Einheit, militärisch RONAHÎ #43 »» Europa und Freiheit Ihre Freund_innen sagen:“Hevala Avaşin liebte das Leben. Jedoch nicht jenes, dass die Menschen in Europa leben. Die Mehrheit der Menschen in Deutschland schweigt. In der Bevölkerung gibt es Traurigkeit und Hoffnungslosigkeit. Der Einfluss des Systems, der Schulbildung und der Arbeit zeichnet sich in ihrem Gesicht ab. Aber Heval Avaşin und die Freund_ innen in Rojava können die Auswirkung von Freiheit in den Gesichtern der Menschen sehen, Freude und Liebe für das Leben machen sich sichtbar. Hevala Avaşin baute schnell soziale und freie Beziehungen zu ihren Freund_innen auf, sie sang immer Lieder und schrieb sie auch selbst. Sie war ihren Freund_innen sehr hilfsbereit gegenüber. Manchmal wurde sie sehr wütend, besonders über vorhandene Ungerechtigkeit und Unterdrückung. Sie war immer vorne im Kampf, besonders im Kampf gegen Rassismus und Faschismus. Am Anfang, als sie neu nach Rojava kam, hatte sie es sehr schwierig. Besonders was die Sprache anging. Sie sprach weder kurdisch noch türkisch. Sie konnte sich nicht ausdrücken, deswegen war es besonders schwierig. Doch sie lernte schnell kurdisch und somit war diese Schwierigkeit überwunden. Heval Avaşin wollte ihren Platz an der Front einnehmen. Von dem Level der Frauenorganisierung und Wissen über die Frau war sie sehr beeindruckt. Demokratischer Konföderalismus, Frauenideologie und Frauenorganisierung zog ihr Interesse an und sie sagte:“Für mich sind diese Begriffe sehr neu“. nichts. Wegen Europa ist Kurdistan in den Zustand von Krieg und Sklaverei verfallen. In der Geschichte hat Europa bis zum heutigen Tag immer unserem Feind die Hand gegeben. Wie können wir Hilfe für etwas Gutes erwarten, dass von ihnen kommt? Wir könnten stattdessen auch fragen, warum so wenig Menschen aus Europa kommen? Denn Liberalismus schafft Menschen ohne Gewissen und Leidenschaft, die nichts außerhalb ihrer Eigenenbedürfnisse sehen können. Viele Menschen gingen von hier nach Europa, wünschten sich ein schönes, ruhiges Leben. Aber in Europa sehen sie, dass das Leben nicht im geringsten so gemütlich ist, sondern das alles Lügen waren. Doch unsere gefallenen Freund_innen zeigen uns, dass es nichs angenehmeres und schöneres als den Kampf für das Heimatland gibt. Wenn wir Freiheit wollen, müssen wir kämpfen. Entweder kämpfen wir für den Aufbau eines neuen Systems, einer neuen Perspektive, eines neuen Lebens und einer neuen Mentalität und verteidigen diese oder wir werden auch zu Sklaven. Dies ist nicht nur ein militärischer Krieg sondern auch ein psychologischer Spezialkrieg. Europa ist spezialisiert auf diese Methoden, sie haben viel Erfahrung mit dreckigem Krieg gegen die Bevölkerung. Wir glauben nicht an ihre Lügen, wir sehen das wahre System und werden mit all unseren Kräften ein demokratisches und föderales System aufbauen und verbreiten. Das ist der Wunsch der Gefallenen an uns. Heval Avaşin truf eine B.K.C. und spielte im Krieg ein aktive Rolle. Sie war bei den Freundinnen der YPJ sehr bekannt, wollte das Leben der YPJ lernen Die Gefallenen sind unsterblich. und sich im bewaffneten Frauenkampf und der Frauenphilosphie stärken. Sie fragte sehr viel und ihre Neugier für den bewaffneten und politische Kampf war sehr groß. Sie kämpfte mit ihrer BKC, die sie erschienen in „Silava“ Kovara Tevgera Jinên Civon ihrer gefallenen Freundin, übernahm, bis sie wan Rojava Hejmar: 7 Ĉile-Sibatê 2016 selbst als şehid4 fiel. Hevala Avaşin war mit ihrer Neugier, Liebe und Kampfgeist ein Beispiel für die gesamte Menschheit. Oft fragen Menschen hier warum Freund_innen/Genoss_innen aus Europa hierher kommen? In Europa gibt es doch Freiheit, alles gibt es, sie haben ein ruhiges schönes Leben, warum kommen sie hierher? Die Freund_innen kommen hierher, weil es in Europa keine wahre Freiheit gibt. Europa wird als schön dargestellt, doch dies ist eine Lüge, in Europa gibt es 4 şehid [kurdisch]: Martyrer_in, Gefallene_r - 76 - »» YPS Botan RONAHÎ #43 Das Kommando der YDG-H Cizîra Botan hat die YPS ausgerufen » » YPS-Botan »Dieser Kampf ist nicht nur ein Kampf für die Kurd_innen, es ist ein Kampf um Freiheit für alle in der Türkei lebenden Bevölkerungsgruppen. Deswegen sollten wir diesen Kampf als unser aller Kampf begreifen. Seit dem 14.12.2015 herrscht ein Bürgerkrieg in Nordkurdistan. Angesichts der Brutalität des türkischen Militärs gegenüber der kurdischen Zivilbevölkerung ist Selbstverteidigung ihr legitimes Recht.« YPS-Botan kämpften noch entschlossener für ein freies und demokratisches Kurdistan. A n die kurdische Bevölkerung und an die Weltöffentlichkeit, das kurdische Volk kämpft entschlossen und unerbittlich gegen die seit Jahrhunderten herrschende Besatzungs- und Assimilationspolitik in den Gebieten Kurdistans. Während des Widerstandskampfes war das kurdische Volk gezwungen seine Heimat zu verlassen, es verlor alles an Hab und Gut und gab ihr Leben her. Doch das kurdische Volk hat sich nicht, wie von der besatzerischen Politik erhofft, einschüchtern und unterdrücken lassen. Ganz im Gegenteil, sie wurden bestärkt in ihren Werten und sie An der Spitze des kurdischen Volkes stehend hat Botan für ein würdevolles Leben in ganz Nordkurdistan einen bedeutenden Widerstandsgeist gezeigt. Und heute weitet sich dieser Widerstandswille aus, auf alle Berge, Täler und Städte Kurdistans. 2015 hat die seit Jahren für die Selbstbestimmungsrechte der Kurden_innen kämpfende Widerstandsbewegung in Teilen Kurdistans die Selbstverwaltung ausgerufen, für den Aufbau eines kommunalen und demokratischen Lebens. Der Aufbau demokratischer Autonomie verbreitet Hoffnung und Freude in der Bevölkerung Kurdistans. Entgegen der Unterdrückungs- und Besatzungspolitik des türkischen Staates, leistet das kurdische Volk Widerstand, in dem es für die Selbstbestimmung ihrer Sprache und Kultur kämpft, in dem es die Wasserversorgung und Energieversorgung sowie das Land weitestgehend kommunalisiert. Der türkische Staat mit seiner Regierung und seinem Militär geht mit aller Härte gegen die Selbstverteidigungs- und Selbstverwaltungsbestrebungen der Kurd_innen vor, er belagert Städte Nordkurdistans und verübt ein Massaker an der Zivilbevölkerung. Die dazu schweigende Gesellschaft in der Türkei als auch die schweigende Weltöffentlichkeit, begibt sich durch ihr Schweigen in eine Mitschuld. Deswegen ru- - 77 - RONAHÎ #43 »» YPS Botan fen wir die Menschen in der Türkei und in aller Welt auf sich solidarisch mit dem kurdischen Widerstand zu zeigen. Dieser Kampf ist nicht nur ein Kampf für die Kurd_innen, es ist ein Kampf um Freiheit für alle in der Türkei lebenden Bevölkerungsgruppen. Deswegen sollten wir diesen Kampf als unser aller Kampf begreifen. Seit dem 14.12.2015 herrscht ein Bürgerkrieg in Nordkurdistan. Angesichts der Brutalität des türkischen Militärs gegenüber der kurdischen Zivilbevölkerung ist Selbstverteidigung ihr legitimes Recht. Bis zu diesem Zeitpunkt hat die Jugend in Nordkurdistan sich als YDG-H organisiert, doch besteht die Notwendigkeit, dass die Jugend ihren Widerstand ausweitet. In der momentanen Situation ist es so, dass die ganze Zivilbevölkerung einen Kampf in Nordkurdistan führt. Angesichts des Massakers ist es unsere Pflicht durch Selbstverteidigung und eine verstärkte Organisierung für unsere Existenz und Selbstverwaltung und gegen jegliche Form von physischem, politischem und kulturellem Genozid anzukämpfen. Um für unser Recht auf Leben zu kämpfen und gegen diese Vernichtungspolitik verkünden wir die Ausweitung unseres Kampfes als YEKÎNEYÊN PARASTİNA SİVÎL A BOTANÊ (YPS -BOTAN) (dt.: Zivile Verteidigungseinheiten Botans). Die YPS-BOTAN als die Triebkraft des kurdischen Widerstands in den autonomen demokratischen Gebieten Botans wird den Widerstands- kampf für die Erhaltung unserer Existenz, unserer Kultur und unseren Landes noch entschlossener bis zum Ende gehen. Dieses Versprechen geben wir allen Völkern Kurdistans und Botans. YPS-Botan kämpft für die Freiheit des Vorsitzenden Öcalans und für die Völker Kurdistans. Wir sehen den von Öcalan angestoßenen Paradigmen der demokratischen Ökologie und der freiheitlichen Frau als eine der wichtigsten Aufgaben an, welche wir als die Grundlagen für den sich entwickelnden Demokratischen Konföderalismus ansehen. Wir rufen die Bevölkerung auf die sich errichtenden demokratischen Autonomiegebiete wie Cizîr, Sîlopya, Hezex, Şirnex, Nisebîn, Kerboran und die Städte und ihre Stadtteile in Botan nicht zu verlassen und ihren Widerstand für ein freies und demokratisches Kurdistan zu verstärken. Die seit Jahren an vorderster Front kämpfende Jugend und die Frauen von Botan rufen wir auf mit YPS-BOTAN um unsere Existenz und Menschenwürde zu kämpfen. Revolutionäre Grüße, YPS-BOTAN Kommando Gründung der YPS in Nisebîn am 26.12.2015 - 78 - »» Aufruf der DTK-Jugend RONAHÎ #43 Aufruf an die Jugendorganisationen in Europa! » » DTK Jugend Wir grüßen alle Jugendorganisationen im Geiste des Widerstandes für Selbstverwaltung! Es ist bekannt, das während die faschistische Politik der Türkischen Regierung auf höchster Stufe andauert, die kurdische Bevölkerung darauf mit Selbstverwaltung antwortet. Die Menschen dort haben in vielen Gegenden Kurdistans (hier: Nord Kurdistan / Ost-Türkei A.d.Ü.) die Selbstverwaltung ausgerufen und die Gesellschaft hat damit ganz deutlich dargestellt, dass sie sich selbst organisieren kann. D ie rassistisch mörderische Politik der Regierung ist gegen den Willen der Bevölkerung. Deswegen verhängt der Staat in vielen Gebieten Ausgangssperren, in denen die Selbstverwaltung ausgerufen wurde, wie z.B. in Sûr, Cizre, Silopi und Nusaybin. In diesen Gegenden wurden Menschen gezwungen die Städte zu verlassen, viele Zivilist*innen wurden getötet und die Städte zerstört. Auch wenn manche Ausgangssperren wieder aufgehoben wurden, bestehen sie in vielen Gegenden seit Monaten. Innerhalb von sechs Monaten wurden hunderte Menschen, vornehmlich Frauen und Kinder, von der Regierung abgeschlachtet. Besonders die Frauen, die vielerorts die Aufstände anführen, wurden zum Ziel der Regierung. Einige von ihnen wurden hingerichtet, nackt ausgezogen und vom Staat zur Schau gestellt. lichkeit internationales Recht verletzt und Europa hat geschwiegen, weil es keine Sanktionen eingeleitet hat. Daher laden wir alle sozialistischen, demokratischen und revolutionären Jugendorganisationen ein, den Widerstand in Kurdistan in ihren Ländern zu unterstützen, einerseits wegen des Schweigens Europas und anderseits wegen des Faschismus in der Türkei. Wir wünschen euch Erfolg bei euren Kämpfen, Revolutionäre Grüße DTK Gençlik (DTK Jugend) Menschen ins Krankenhaus zu bringen wurde vom Staat verhindert, die Entscheidung des Gerichtshof für Menschenrechte wurde nicht beachtet und das Rechtssystem wurde deaktiviert. Auch die Meinungsfreiheit wurde komplett abgeschafft, alle Demonstrationen und Kundgebungen wurden verboten. Viele Verhaftungen wurden durchgeführt. Trotz all dessen beharren die Menschen auf Selbstverwaltung gegen alle Tendenzen des Staates. Von heute an hat dieser Kampf in Kurdistan eine neue Stufe erreicht. Während die Menschen Widerstand leisten und dabei ihre Kraft aus der Ideologie der Freiheit schöpfen, setzt der Staat auf alle Arten von Unterdrückung, Terrorismus und Vernichtung. In manchen Gegenden handelt es sich gar um eine genozidähnliche Auslöschungspolitik. Auch Europa ist an diesen Verbrechen beteiligt, in dem es schweigt. Die Türkei hat mit ihren Verbrechen gegen die Mensch- - 79 - RONAHÎ #43 »» 1. Dem-Genç Kongress An die Presse und Öffentlichkeit Abschlussresolution des 1. Dem-Genç Kongres » » Dem-Genç AKP-Regierung und des Staates auf die ultimativ dagegen ankämpfende Jugend und Bevölkerung die Entschlossenheit entwickelt ein freies Leben aufzubauen. Wir würdigen am Beispiel der in diesem Prozess gefallenen MärtyrerInnen wie die Märtyer Faruk, Märtyrin Sidar, Märtyrer Seyitxan, Märtyrin Bermal, Märtyrer Bilal, Märtyrin Dilan Kortak, Märtyrer Haşim, Märtyrer Hacı Birlik, Märtyerin Ekin Wan, Märtyrer Çekwar und das 35-Tage alte, in den Armen der Mutter in Cizre getötete Baby Muhammed, alle unsere gefallenen MärtyrerInnen und GenossInnen und wiederholen unser Versprechen ihr Andenken aufrecht zu erhalten. I n einer Phase, in der die Geographie des Mittleren Ostens seitens internationaler und regionaler Mächte in einen Chaos gezogen wird, und in der die Rojava Revolution für alle unterdrückten Völker zur Hoffnung geworden ist, hat unser Volk aus Nordkurdistan in dieser Phase einen ruhmreichen Widerstand der Selbstverwaltung in der Anführung der Jugend gezeigt, indem sie sich selbst durch eine historische Verantwortung heraus organisiert, und den 1. Kongres der Jugendförderation der Demokratischen Vereine (Dem-Genç) mit der Würdigung der im Widerstand für Selbstverwaltung gefallenen Märtyrer umgesetzt hat. Der 1. ordentliche Kongres ist mit dem Motto “lasst uns als Dem-Genç organisieren und das freie Leben aufbauen” erfolgreich praktiziert worden. Unser Kongres gratuliert unserem gesamten Volk und feiert die Befreiung Şengals und grüßt alle in der Befreiungsoffensive aktiven FreiheitskämpferInnen. Weder die faschistischen Schergen des IS noch die dahinter steckenden dunklen Mächte werden mit den in Til Temir (Syrien) an unserer Bevölkerung verwirklichten Massaker jemals ihr Ziel erreichen.Wir gedenken all unseren gefallenen PatriotInnen unseres Volks, und wiederholen mit großer Entschiedenheit unseren Wiederstand dermaßen zu erhöhen, bis die Genocidmentalität der Kolonialisten endgültig beseitigt ist. Auch der Märtyrer für Frieden und Demokratie Tahir Elçi wurde neben der Şeyh Mutahhar Moschee (Sur, Amed) ermordet. Mit ihrem Wiederstandsgeist hat die patriotische Bevölkerung Ameds den Mördern Tarih Elcis die Antwort auf seine Abschlachtung gegeben. Wir als Dem-Genç wollen nochmal Tarih Elci mit Respekt würdigen und versprechen seinen Den heldenhaften Widerstand um Selbstverwaltung Kampf für Frieden und Demokratie fortzuführen. und den Geschichte schreibenden Kampf unserer Damit die kurdische Freiheitsbewegung und die Bevölkerung unter der Leitung der Jugend in Nukurdische Jugend die Kurdenfrage mit demokrasaybin, Sur, Cizir, Silvan, Silopi und Gever grüßend tisch-friedlichen Wegen zum Erfolg führen kann hat hat unser Kongres gegen den totalen Angriff der der Volksrepresentant und Kurdenführer Abdullah - 80 - »» 1. Dem-Genç Kongress RONAHÎ #43 Öcalan mit großer Sorgfalt und Sensibilität gehandelt trägt, wird große Erungenschaften für die Jugend und und entsprechende Schritte eingeleitet. unserem Volk bringen. In kurzer Zeit können wir mit Dem gegenüber hat die AKP-Regierung und der Staat, großen Schmerzen und Hindernissen leben. Allerdie keine Lösungsansätze hatten, auf eine Nicht-Lö- dings wird dieses neue Modell vom demokratischen sung bestanden, die Isolation unseres Vorsitzenden und freien Leben das Ergebnis sein. Bei unserem vertieft, in Amed, Suruc, und zuletzt in Ankara beim Kongres ist der Wille zum Ausdruck gekommen dem Massaker an der patriotischen, demokratischen, sozi- Widerstand der Selbstverwaltung als Jugend mit unalistischen Bevölkerung sein wahres Gesicht gezeigt serer Vorreiter-Mission gerecht zu werden und als Juund bewiesen, dass sie keine Unterschiede zum IS gendliche, sowie junge Frauen mit Entschlossenheit das freie Leben aufzubauen. Mit der Erkenntnis, dass aufweisen. die Jugend sich nur mit Widerstand befreien kann, Die kurdische Jugend und das patriotische Volk, das geben wir bekannt, dass die Jugend mit großer Hinnicht von kolonialen und herrschsüchtigen Mentali- gabe und Überzeugtheit ihrer historischen Aufgabe täten regiert werden will, hat das eigentliche Gesicht und Verantwortung nachkommen und die Demokrader AKP erkannt und sich in dem sie die Selbstver- tische Nation aufbauen wird. waltung und den Widerstand ausgerufen hat, ihre eigene Lösung verwirklicht. Die Selbstverwaltungen In diesem Sinne rufen wir alle patriotischen, demoals reine Angelegenheit von Schutzgräben und mit kratischen, sozialistischen Jungendliche und unser Waffen zu begreifen und die an die Zivilbevölke- gesamtes Volk dazu auf sich für ein ehrenhaftes Lerung und Jugend gerichteten Massaker nicht sehen ben um unseren Vorsitzenden herum zu vereinen, den zu wollen, bedeutet das Freiheitsstreben eines Volkes Widerstandskampf für Selbstverwaltung zu erhöhen nicht sehen zu wollen. Die Selbstverwaltung ist der und noch aktiver zu kämpfen. Ausdruck des Wunsches der jahrzehnte Widerstand leistenden kurdischen Bevölkerung und Jugend sich Revolutionäre Grüße Dem-Genç frei und selbst zu regieren. Die Selbstverwaltung, die eine historische Bedeutung - 81 - RONAHÎ #43 »» Diplomatie im Demokratischen Konföderalismus Die diplomatische Dimension des demokratischen Konföderalismus » » Abdullah-Öcalan-Akademie der Sozialwissenschaften s gibt viele verschiedene Definitionen für die Diplomatie. Diese haben alle einen wahren Anteil und erläutern die verschiedenen Seiten der Diplomatie: Macht, strategische Denkweise, politischer Wille und historische Akkumulation im Zusammenhang mit der Diplomatie. „Diplomatie ist Krieg ohne Waffen“ oder „Krieg ist Diplomatie mit Waffen“ und ähnliche Definitionen sind die beliebtesten. Für diplomatische Arbeiten beauftragte Institutionen und Personen, die an bestimme Mächte gebunden sind, versuchen die Interessen der Mächte zu schützen, andere Parteien von ihrem Willen zu überzeugen und mit wenig Leistung großen Gewinn zu erzielen. Zu diesem Ziel geführte Gespräche und Aktivitäten umfasst in dem Sinne die Diplomatie. Öffentlichkeitsarbeit, Propaganda, Werbung, Lobbyarbeit sind in diesem Zusammenhang zu sehen. Die Diplomatie wird oft als innerstaatliche Beziehung erfasst. Jedoch verwandeln die Globalisierung und Fortschritte in der Massenkommunikation die Welt seit 50 Jahren in ein kleines Dorf. Infolgedessen kommt es zu ernsten Veränderungen hinsichtlich des Umfangs und der Akteure der Diplomatie, wobei der Inhalt derselbe bleibt. Beispielsweise entwickeln internationale Unternehmen, demokratische Massenorganisationen, Gewerkschaften, NGOs (Nicht-Regierungsorganisationen) und nationale Befreiungsbewegungen von nahezu allen Institutionen die legalen sowie illegalen diplomatischen Beziehungen und Arbeiten. Aus diesem Grund ist die Diplomatie nicht mehr nur eine staatlich-systematische Arbeit. Trotzdem ist die Diplomatie überwiegend eine innerstaatliche und von Staaten kontrollierte Arbeit. E Dass die innerstaatliche Diplomatie zur Lösung von Problemen beiträgt, wird zu einer ernsthaften Illusion. Besonders Staaten und Kapitalgruppen haben Probleme, die sie im eigenen Interesse nicht lösen wollen. Völker und Nationen könnten unabhängig von Umfang und Tiefe der Probleme einen Lösungs- weg finden, würde man sie auf sich allein gestellt lassen. In solche Situationen setzen Mächte des globalen Kapitals die offizielle Diplomatie ein, um problemlösend zu wirken und täuschen somit die Öffentlichkeit. Darüber hinaus besitzen sie eine zweite Aufgabe. Sie besteht darin, Möglichkeiten zur Problemlösung zu beseitigen. Heutzutage sind unzählige Beispiele dafür vorhanden. Nicht nur den mittleren Osten sondern die Welt betreffend sind das Kurdistan- und Palästina-Problem die ersten historischen Probleme, die einem einfallen. In beiden Fällen wird die Lösung mithilfe demokratisch-politischer Methoden, gegenseitigen Respekts und der Anerkennung der nationalen sowie gesellschaftlichen Identität durch globale Kapitalmonopole und nationale Staatsmächte verhindert. Hierfür wird für die jeweiligen Situationen mal die Achse der Diplomatie, mal der Weg der Assimilation und der Massaker verwendet. Dass die Diplomatie solch eine verfluchte Rolle spielt, ist die andere Seite bzw. die Mission, die der Diplomatie von den Staatsmonopolen gegeben wurde. Genau aus diesen Gründen gehört es zu den größten Albträumen der Staaten, wenn die unterdrückten und unter kolonialen Bedingungen lebenden Völker beginnen, in diesem Bereich Arbeit zu leisten. Sie werden jeden Weg nutzen, um die in diesem Bereich geführte Arbeit durch Völkergruppen, gesellschaftspolitische Bewegungen, demokratische Massenorganisationen und ähnliche Gruppierungen zu verhindern. Besonders die über Staatsgrenzen hinausgehende diplomatische Arbeit zwischen Gesellschaften und die Zusammenarbeit von nichtstaatlichen Organisationen und ihre Beziehungen untereinander grenzen die Bereiche ein, in denen der Staat Wirkung zeigen kann. Diese Organisationen erschweren es dem Staat gegen die Interessen der Völker Aktionen durchzuführen. Und so eine Situation gefällt den Staaten nicht. Aus diesem Grund probieren sie jegliche Wege aus, um nichtstaatliche Beziehungen und Aktionen zu verhin- - 82 - »» Diplomatie im Demokratischen Konföderalismus dern. Von Erpressung, Bedrohung und Verhaftung bis hin zur Ermordung von Aktivist_innen werden alle Wege als zulässig angesehen. Dass heutzutage tausende Organisationen mit NGO-Status akzeptiert werden und in Ruhe Tätigkeiten ausführen können, die zum größten Teil Untereinheiten der Geheimdienste sind, ist ebenfalls ein Mittel der Staaten. Sollten nun die echten demokratischen Bewegungen und Organisationen infolgedessen diesen Bereich verlassen? Ohne Zweifel würde solch ein Verständnis im Interesse der Kapital- und Machtmonopole liegen. Auch wenn gegen das globale Kapital, globale und demokratische Bewegungen unter sich keine Verflechtung Zustande bekommen haben, heißt es nicht, dass sie das diplomatische Feld vollständig den Kapital- und Machtmonopolen überlassen haben. Es ist jedoch eine Tatsache, dass ernste Schwächen in der Umstrukturierung vorhanden sind. Nicht-staatliche Diplomatie Der demokratische Konföderalismus bedeutet nicht die Trennung vom Staat. Im Gegenteil macht er den Staat sensibel hinsichtlich der Demokratisierungsprobleme der Gesellschaft. Er schwächt zugunsten der Dezentralisierung den monotonen und monopolistischen Zentralismus. Er erlaubt es der Gesellschaft, sich selbst zu verwalten. Von jeder Identität, jedem Geschlecht, jeder Religion, jeder Konfession, sowie jedem Beruf und ähnlichen gesellschaftlichen Gruppen können die Menschen an Entscheidungsprozessen teilnehmen und sich direkt oder indirekt durch Vertretungen selbst verwalten. Kurz gesagt, ist es die wahre und vom jeweiligen Gebiet ausgeübte Demokratie. Deswegen sind der Charakter, der Zweck und das Ziel der Diplomatie innerhalb des demokratischen Konföderalismus anders als die klassisch bekannte Diplomatie. An erster Stelle wird es keine klassische Diplomatie oder zwischenstaatliche Diplomatie sein. Sie wird zwischen den Völkern für solidarische Lebens- und Arbeitsverhältnisse sorgen und hinsichtlich gemeinsamer Organisationen ihren Dienst leisten. Müsste man dieser Diplomatie einen Namen geben, wäre der passende Begriff dazu „Völkerdiplomatie“ oder „Diplomatie der Völker“. Die strategische Denkweise, den politischen Willen und die Macht im Verhältnis zu dieser Diplomatie zu betrachten, würde den Völkern einen Vorteil verschaffen. Ohne im Hintergrund die strategische Denkweise, den politischen Willen und die Macht zu RONAHÎ #43 besitzen, ist es nicht möglich erfolgreich zu sein. Die demokratische Moderne ist in den letzten vierhundert Jahren ein Verhängnis für die Welt geworden und befreit sich vom Nationalstaat, der in keiner Weise zur Natur der mittelöstlichen Gesellschaft passt, in dem er die Wege zur Demokratie öffnet. In diesem Zusammenhang besitzt der demokratische Konföderalismus nicht die strategische Orientierung, ein Staat zu werden. Das Ziel ist die Selbstverwaltung der Gesellschaft ohne einen Staat, wobei das Volk mit freiem Willen an gemeinsamen Organisationen teilnimmt und sich somit selbst verwaltet. Ohne diese strategische Gesinnung kann die Diplomatie keine Diplomatie des demokratischen Konföderalismus sein. Gewiss wird diese Diplomatie auch eine Beziehung zum Staat haben. In diesen Beziehungen ist das Hauptziel die Demokratisierung der Staaten. Je mehr der Wille und das Recht des demokratischen Konföderalismus akzeptiert werden, umso mehr wird auch der Wille und das Recht eines Staates akzeptiert, wobei sie in ihren Unterschieden und gleichen Grundlagen zusammen leben können. Andernfalls wird die Legitimität des demokratischen Konföderalismus schwierig sein. Dies gilt auch in Beziehungen mit Staatsvereinigungen wie den USA und der EU. Das heißt, wenn diese internationalen Institutionen die Legitimität des demokratischen Konföderalismus, seinen Willen und sein Rechtswesen anerkennen, so wird der demokratische Konföderalismus auch ihre Legitimität, ihren Willen und ihre Rechte anerkennen. Die strategische Denkweise des demokratischen Konföderalismus wird auf diese Art und Weise geführt werden. Die Diplomatie benötigt eine kontinuierliche Macht Sicherlich ist für eine gesunde Diplomatie das alleinige Vorhandensein der strategischen Denkweise nicht ausreichend. Ein politischer Wille ist ebenfalls notwendig. Mit politischem Willen ist nicht die Regierung oder die Exekutive gemeint. Heutzutage gibt es viele Regierungen und Staaten, die keinen unabhängigen politischen Willen besitzen. Mit dem politischen Willen ist hier die mit dem freien Willen geschaffene autonome Verwaltung durch Vereinigungen des demokratischen Konföderalismus gemeint. Die Verwaltung wird sich ihrer Verantwortung gegenüber der Gesellschaft bewusst sein. In allen Arbeiten wird sie den Vereinigungen des demokra- - 83 - RONAHÎ #43 »» Diplomatie im Demokratischen Konföderalismus tischen Konföderalismus gegenüber Rechenschaft ablegen müssen. Sie wird außerdem, wenn sie während der Vertretung der Gesellschaft Schwächen aufweist, entlassen und zur Rechenschaft gezogen werden. Der demokratische Konföderalismus wird einen politischen Willen haben, der von den Kräften der Vereinigungen Nutzen tragen wird. Die Verwaltung bzw. Regierung wird sich gegenüber keiner Macht, außer den Komponenten des demokratischen Konföderalismus, in keinster Weise schuldig fühlen und wird die Interessen der Einheiten des demokratischen Konföderalismus als Maßstab verwenden. Der generelle Charakter der Diplomatie besteht darin, dass sie ständig Macht benötigt. Dies ist nicht nur finanzielle oder militärische Macht. Wenn man in dem vorhandenen internationalen System von Macht spricht, fällt einem in der Regel militärische, politische und finanzielle Macht ein. Sicherlich ist dies eine Folge der heute von der kapitalistischen Moderne erschaffenen Realität. In dem demokratischen Konföderalismus werden diese „Mächte“ auch verpflichtend vorhanden sein. Jedoch werden die grundlegenden Machtquellen und Parameter anders als die grundlegenden Machtquellen und Parameter sein, die von der kapitalistischen Moderne erschaffen wurden. Die grundlegende Machtquelle der Diplomatie im demokratischen Konföderalismus wird die eigene Macht der autonomen Vereinigungen sein, also die organisierte Macht. Der Indikator für ihre Macht wird nicht das Militär und das Geld auf den Banken sein. Die historisch gesellschaftliche Akkumulation, die organisierte Volksmacht und die stabile politische Stellung wird die Machtquelle der Diplomatie sein. Sie wird in der Politik flexibel, bei Kompromissen offen, aber gebunden an Grundsätze und hierbei kompromisslos sein. Die Macht wird, wie Repräsentant Apo es sagte, „auch wenn sie die ganze Welt besiegen könnte, nicht angreifen und wird jedoch Widerstand auch dann leisten, wenn die ganze Welt auf sie zukommt“. tische Nationalkongress. Die Kurden suchen Wege und Methoden die nationale Einheit herzustellen, ohne in Konfrontation mit Einheitsstaaten zu geraten. Sie wissen, dass das Verändern der Grenzen so nutzlos wie der Nationalstaat ist, und dass dies zum Ursprung aller Probleme, also zu neuen Staaten führen würde. Diese Suche gehört zur Tagesordnung der Kurden. Es ist möglich, dies mit Nationalkongressen zu verwirklichen. Das heißt, beginnend bei den Friedhöfen, Dörfern und Straßen, das Volk in Kommunen, Nachbarschaftsräten, Bezirk- und Provinzräten, und weiterhin in Regionalräten zu organisieren und zur Selbstverwaltung zu erziehen. Und zwar ohne mit den vorhandenen nationalstaatlichen Grenzen zu spielen. Darüber hinaus ist das Ziel, in gleicher Form und in allen Teilen, diese Organisierungen mit konföderalen Bindungen, untereinander zu verbinden und somit das freie Kurdistan zu verwirklichen. Mit der Gründung eines Nationalkongresses, der dieses Ziel verfolgt, werden auch einige andere Institutionen entstehen. Eine Nationalversammlung und ein Nationalrat werden die Folge sein. Sicherlich wird es bei solch einer nationalen Institutionalisierung auch auf internationaler Ebene einen Ausschuss der nationalen Diplomatie geben. Derzeit besitzen die kurdischen Organisationen aus den vier Teilen, insbesondere im Süden als autonome kurdische Region, internationale Beziehungen. Fast alle kurdischen Organisationen haben mit der ganzen Welt diplomatische Beziehungen. Leider sind die Beziehungen miteinander äußerst begrenzt. Dies ist ein Ergebnis der imperialistischen „Teile- und Herrsche-Politik“ und muss unbedingt überwunden werden. Auch aus diesem Grund ist ein kurdischer Nationalkongress notwendig. Dieser Kongress wird zunächst die Beziehungen zwischen Kurd_innen und den Völkern Kurdistans organisieren und ein bestimmtes Niveau erzielen. Die Probleme, welche zwischen den Kurd_ innen und den Völkern Kurdistans entstehen werden, wird sie im Wege des demokratischen Dialoges auf eine gewaltfreie Art und Weise lösen. Sie wird die1. Nationale Diplomatie se Entscheidungen auf prinzipieller Ebene treffen Während der Teilung des mittleren Ostens durch die und diese Entscheidung überprüfende Institutionen imperialistischen Kräfte wurden Kurdistan, das kur- gründen. Weiterhin wird sie für nationale Themen dische Volk und andere Völker Kurdistans zwischen eine diplomatische Vertretungsinstitution gründen, vier kolonialistischen Staaten aufgeteilt. Repräsen- ohne die authentisch geführte diplomatische Arbeit tant Apo bezeichnet dies als die „Kurden-Falle“. In aller anderen Institutionen zu verleugnen. Diese nasolch einer Zersplitterung, ist eines der Hauptziele tionale Diplomatieinstitution wird von der Nationalder Kurden die nationale Einheit und der demokra- versammlung ihre Rechte und Pflichten erhalten und - 84 - »» Diplomatie im Demokratischen Konföderalismus RONAHÎ #43 gegenüber dieser Versammlung verantwortlich sein a) Die Demokratisierung der autonomen Region Kurdistan im Süden, die Einrichtung von einer bzw. Rechenschaftspflicht haben. In allen internaPolitik, welche die nationalen Errungenschaften tionalen Plattformen wird diese befugte Institution schützt und entwickelt, der Zusammenhalt zwidie Interessen der Völker Kurdistans vertreten. Ihre schen Kurden und den Völkern Kurdistans, die Grundsätze, Strategien und Taktiken werden beZusammenarbeit und zunehmende Entwicklung stimmt, und sie wird eine öffentliche Diplomatie als einer Einigkeit müssen als Ziel genommen werBasis haben. den. Dies wird wiederum die diplomatischen Beziehungen und die Entwicklung des Kampfes um 2. Die Diplomatie des demokratisch-konföderalen Demokratie zum Ziel haben. Der sich in diesem Kurdistans mit den Gebilden aus den vier Teilen Teil entwickelnde demokratische Charakter wird Um in Nordkurdistan den demokratischen Konfödie Unterdrückung von Bewegungen nicht zulasderalismus auszurufen, werden weiterhin Vorbereisen. Im Gegenteil wird sie eine Beziehungsebetungen getroffen. Wir befinden uns in einem Prozess, ne haben müssen, die den Weg für sie frei macht. Unser Volk in diesem Teil und die Völker Kurwelcher mit dem Slogan „demokratische Türkei distans sollten mit dem Parlament, den beruflikonföderales Kurdistan“ beschrieben wird. Im jetzichen Organisationen und den Vereinigungen auf gen Stadium wird entweder der türkische Staat seine der Grundlage der Freiheit in Beziehung treten. Verfassung ändern, wobei der nationale kurdische Im Konkreten sollen jegliche Vereinigungen und Wille, die Gleichheit auf der Grundlage der Untergesellschaftlichen Organisationen des demokraschiede, und die Rechte und Freiheiten anerkannt tisch-konföderalen Kurdistans als bereichernd werden. Oder die Völker Kurdistans werden, ohne etangesehen werden. In den Beziehungen sollen sie was von dem Staat zu erwarten, ihre eigenen Lösunnach den Prinzipen des demokratischen Konfögen praktizieren und das konföderale Kurdistan mit deralismus handeln. den gesamten Institutionen ausrufen. Andere Wege b) Ostkurdistan ist geographisch, sowie demograsind nicht übrig geblieben. Ob dieser Prozess mit Gephisch gesehen der zweitgrößte Teil Kurdistans. walt oder demokratischem Dialog bestritten wird, ist Der demokratische Konföderalismus hat das Povollständig von der Haltung des türkischen Staates tenzial dazu, bei der Demokratisierung Irans und abhängig. Das demokratisch-konföderale Kurdistan des mittleren Ostens eine wichtige Rolle zu überwird direkte diplomatische Beziehungen zu den Genehmen. Unser Volk aus diesem Teil stand den bilden aus allen Teilen Kurdistans haben, vor allem Bewegungen in den anderen Teilen nie gleichgültig gegenüber und unterstützte die Bewegungen mit der autonomen Region Kurdistan im südlichen im Rahmen seiner Möglichkeiten immer. Zuletzt Teil Kurdistans. Wenn sich eine eigene Macht entzeigte das Volk Ostkurdistans seine Präferenz für wickelt hat, wird man von dem demokratisch-konföRepräsentant Apo und die PKK mit Widerständeralen Kurdistan eine Vorreiterrolle in der Entwickden nach dem internationalen Komplott gegen lung der Diplomatie auf nationaler Ebene mit allen Repräsentant Apo und erlangte eine angemessene Teilen Kurdistans erwarten können. Der Grund hierorganisatorische Führung mit der PJAK (Partei für liegt darin, dass das südliche Gebilde sich nicht für freies Leben Kurdistan). Der demokratische auf Basis der inneren Kraft und Dynamik, sondern Konföderalismus und die PJAK, die Kurden und auf Basis des äußeren Macht und Zusammenarbeit die Völker Kurdistans und die gesellschaftsverentwickelt. Der Glaube, dass sie die nationale Diplotretenden politischen Parteien, demokratischen matie fördern und die nationalen Gewinne schützen Massenorganisationen, sowie kulturelle, humanistische, berufliche und ähnliche Organisatiowerden, würde nicht der Wahrheit entsprechen. Die nen sollten die Gleichheit trotz der Unterschiede Revolutionssituation für Kurdistan wird derzeit in bewahren, den Zusammenhalts- und Einigungsheftigster und offenster Form in Rojava und Nordgeist entwickeln, eine nationale demokratische kurdistan gelebt. Aus diesem Grund wird die Revogemeinsame Politik erschaffen und diese praktilution in Rojava und Bakur die Vorreiterrolle bei dem zieren. Weiterhin würde der demokratische KonKampf um den demokratischen Konföderalismus föderalismus es dem iranischen Staat und seiner übernehmen können. Die Ziele der Diplomatie zwiRegierung ermöglichen, hinsichtlich des demoschen den Gebilden aus den Teilen Kurdistans könkratisch-friedlichen Wegs im Sinne einer Demonen folgendermaßen aufgezählt werden: kratisierung zu agieren. - 85 - RONAHÎ #43 »» Diplomatie im Demokratischen Konföderalismus c) Westkurdistan ist geographisch, sowie demographisch gesehen der kleinste Teil Kurdistans. Das der Kontrolle des syrischen Staates übergebene Volk hat in diesem Teil, nach dem Norden, am frühsten den nationalen, demokratischen Kampf kennengelernt und am stärksten an diesem Kampf teilgenommen. Sie unterstützten die Entwicklungen in den anderen Teilen nur begrenzt und nahmen so das erste Mal an den wesentlichen Elementen der Revolution teil. Früher haben besonders die politischen Führungen im Süden Westkurdistan als Rückzugsgebiet, logistisches Unterstützungsdepot und zunehmend als Hinterhof bewertet. Unser Volk in diesem Teil sah sich infolgedessen natürlicherweise nicht als Subjekt und Besitzer des Kampfes, sondern als ein passiver Unterstützer des Kampfes, falls es hier Aufgaben bekam. Dass sich die PKK seit 1979 von der Türkei aus auch in Richtung des mittleren Ostens ausbreitete und dass besonders das Interesse, die Bildung und die intensiven Bemühungen seitens Repräsentant Apo und der PKK vorhanden waren, führten dazu, dass dieser Teil heute ein wesentliches Element und Hauptfaktor der Revolution geworden ist. Zum einen die Baath-Partei und folglich starker Druck des Staates und zum anderen die Erweiterungen der Sowjetunion bzw. die chauvinistisch-kommunistischen und sozialistischen Parteien haben dazu beigetragen, dass die Kurden den Kräften der Ordnung rechts und links mit Abstand gegenüber standen. Auch wenn einige Personen und Familien sich in solchen Gruppen befanden, stand die überwältigende Mehrheit solchen Parteien zweifelnd gegenüber und versuchte immer von den Bewegungen fern zu bleiben. Jedoch sahen sie in der PKK-Bewegung die Hoffnung zur Befreiung und schlossen sich mit ganzer Kraft dem Kampf an. Das demokratisch-konföderale Kurdistan muss sich hinsichtlich der Organisierung des Volkes von Rojava (Westkurdistan), des national-demokratischen Rechts und der Thematik der Erlangung der Freiheit anstrengen. Die hier organisierte Tev-Dem (Volksrat Westkurdistan) und unser Volk müssen mit den Kommunen und Räten, politischen Parteien, demokratischen Massenorganisationen und den gesellschaftlichen Gebilden ihre Beziehungen entwickeln. Mit dem demokratisch-konföderalen Verständnis werden die Gleichheit auf Grundlage der Unterschiede, die nationale Einheit, die Demokratie und die Freiheit als Ziele festgelegt. 3. Die Auslandsdiplomatie des demokratisch-kon- föderalen Kurdistans Es ist undenkbar, dass das demokratisch-konföderale Kurdistan sich von der Außenwelt abgrenzt und lediglich begrenzt mit den Einheitsstaaten in Beziehung gerät, in denen es sich befindet. Sicherlich werden die Beziehungen mit der Außenwelt primär die Beziehungen mit den Einheitsstaaten schaffen. Hierfür gibt es verständliche politische, wirtschaftliche, kulturelle, rechtliche sowie psychologische Gründe. Die türkischen, arabischen und persischen Völker, sowie die im selben Gebiet lebenden Minderheiten sind ein gemeinsames Erbe der Geschichte. Hauptsächlich durch die Herrschenden hervorgerufene und zeitlich die Völker unter ihre Macht reißende Konflikte, Wiedersprüche und Kränkungen zwischen den Völkern führten zur Unsicherheit. Der demokratische Konföderalismus wird diese Probleme überwinden. Aber verwirklichen wird dies die gerechte und auf Freiheit basierende Diplomatie zwischen den Völkern. Zwischen den Staaten sind ähnliche Konstellationen denkbar. Die hunderte Jahre alte gemeinsame Geschichte, die gemeinsamen Verluste und die Gewinne sind eine vorhandene Grundlage hierfür. Ziele wie die Abgrenzung zu den Staaten, die das demokratisch-konföderale Kurdistan isolieren, sind nicht Thema. Bei Akzeptanz des demokratisch-konföderalen Kurdistans, des politischen Willens, der Rechte und Freiheiten werden sie das Recht darauf haben Gründungspartner zu sein. Wenn diese nicht akzeptiert werden und die Kurden den Konföderalismus ankündigen und im Nachhinein Vereinbarungen hinsichtlich des gemeinsamen Lebens getroffen werden, wird dies ein Grund dafür sein, dass sie Vorrang als Partner in der Diplomatie haben werden. Wenn diese beiden Möglichkeiten nicht in Kraft treten, werden die Kurden sich zwangsläufig trennen müssen. In solch einer Situation wird die Feindschaft nicht bis in die Unendlichkeit andauern. Selbst in so einer Situation wird das demokratisch-konföderale Kurdistan für die Beziehungen mit den Nachbar-Einheitsstaaten natürlicherweise eine stabile Perspektive haben. Weder wird es sich dem Staat gegenüberstellen, noch sich dem Staat zuwenden. Es wird Beziehungen aufbauen, wenn der Staat gegenüber der Demokratie sensibel wird und kämpfen, wenn der Staat in demokratischen Angelegenheiten unzugänglich wird. Ziel ist die übermäßige Zentralisierung des Staates für Demokratie sensibel zu machen. Und dies ist - 86 - »» Diplomatie im Demokratischen Konföderalismus keine Arbeit, die ohne Beziehung, Dialog und Verhandlung ablaufen kann. Das Ziel ist nicht, sich vom Staat zu trennen. Im Gegenteil ist das Ziel, Partner mit dem Staat zu werden und bei internationalen Beziehungen, Außensicherheit, nationalen Kosten und Außenhandel bzw. bei allen Themen, die das Land betreffen, gemeinsam über den Staat zu wirken. Bei Themen, die die lokalen Regierungen betreffen, wird der demokratische Konföderalismus jedoch den befugten Verwaltungen das Entscheidungsrecht übergeben. Demnach: a) Die demokratisch-konföderale Selbstverwaltung, die Demokratische Autonomie, wird natürlicherweise in enger Beziehung und Zusammenarbeit zu dem nationalen Parlament stehen. RONAHÎ #43 die gesellschaftlichen Gruppen frei ausdrücken, organisieren und in jedem Bereich des Lebens selbst vertreten können. Dies wird für die freiwillige Einigung wie Hefe und Teig sein. Für das gemeinschaftliche Leben müssen neben konstitutionellen und gesetzlichen Regelungen auch Lösungswege für die Probleme, die in der Praxis auftreten können, gefunden und praktiziert werden, um eine fortschrittlichere Einigung zu erzielen. Das Mittel hierfür ist die Diplomatie zwischen den Völkern. Das gleiche Verständnis gilt auch für die Beziehungen mit den Völkern aus den arabischen und persischen Ländern. In der Tat kann es sein, dass die Gründung einer internationalen, demokratischen und mittelöstlichen Konföderation zu den Aufgaben des demokratisch-konföderalen Kurdistans gehören kann, wobei das demokratisch-konföderale Kurdistan eine Vorreiterrolle spielen könnte. Das demokratisch-konföderale Kurdistan wird auch auf globaler Ebene mit den demokratischen Mächten diplomatische Beziehungen haben. Des weiteren wird es zu den diplomatischen Aufgaben gehören, mit den globalen demokratischen Mächten gegen den globalen Kapitalismus Beziehungen aufzubauen, die vorhandenen zu stärken und hierbei eine zentrale Rolle zu übernehmen. b) Die Leitung der demokratisch-konföderalen (außerstaatlichen) Selbstverwaltung wird eine enge Beziehung und Koordination zu der nationalen (staatlichen) Regierung haben. Hiermit ist eine gleichberechtigte Beziehung gemeint, wobei die Interessen des einen nicht für die des anderen geopfert werden. Außerdem werden zwischen den konföderalen Institutionen selbst auch ähnliche Beziehungen geschaffen. Viele Themen, die mehrere konföderale Verwaltungen oder Demokratische Autonomien angehen, müssen nicht direkt auch die nationale Regierung interessieren, d.h. 4. Die Diplomatie zwischen den Komponenten des die nationale Regierung muss nicht in jedem Fall demokratisch-konföderalen Kurdistans und den eingreifen. Komponenten aus den anderen Teilen Die Diplomatie zwischen Völkern Das Projekt des demokratischen Konföderalismus ist kein Projekt, das nur in Bezug auf Kurd_innen und Kurdistan entwickelt wurde. Es ist kein Projekt, welches nur für eine ethnische Gruppe, eine Region oder eine religiöse Schicht entwickelt wurde. Heute gibt es in der Türkei sieben Verwaltungsregionen. Es könnten in großer Anzahl demokratisch-konföderale Regionen, demokratisch-konföderale Selbstverwaltungen usw. geschaffen werden. Alle Teile der Gesellschaft in der Türkei können bei Bedarf demokratisch-konföderale Verwaltungen gründen, an die sie glauben und bei denen sie sich selbst organisieren können. Die Alevit_innen, Las_innen, Tscherkess_innen, Assyrer_innen, Griech_innen, Jüd_innen, Araber_innen und weitere Teile der Gesellschaft können demokratisch-konföderale Selbstverwaltungen gründen. Für die Entwicklung der Demokratie und gemeinsamer Interessen ist der gesündeste Weg der, auf dem sich Der demokratische Konföderalismus ist nicht nur das Gebilde einer Ethnizität, Region, Religion oder Konfession und auch nicht das Gebilde der Völker, denn auch dies wäre unzureichend. Er ist ein Gemeinschaftsgebilde, in dem sich alle Gesellschaftsgruppen mit ihrer eigenen Identität, Kultur, Glauben und den eigenen wirtschaftlichen Interessen frei ausdrücken, organisieren und sich selbst vertreten können. Dies führt dazu, dass sie gemeinsam demokratisch leben können. Aus diesem Grund ist der Konföderalismus keine Umstrukturierung, die wie der Nationalstaat monoton ist. Im Gegenteil werden hier alle Unterschiede als Bereicherungen angesehen. Und es gehört zu den unverzichtbaren Prinzipien des gemeinsamen Lebens, eine Einigung zu erzielen, die auf Gleichheit basiert. Das Ziel ist nicht, alle Komponenten in einem Schmelztiegel zu verschmelzen, sondern gemeinsam als gemeinsame Gründer des Rechts und der Pflichten zu leben. Dies ist die Bedingung für die Entwicklung der diplomatischen - 87 - RONAHÎ #43 »» Diplomatie im Demokratischen Konföderalismus Beziehungen zwischen den Komponenten. Das erste unterdrückte Geschlecht und die unterdrückte Klasse der Frauen und die Freiheitsbewegung der Frauen gehören zu den wesentlichen Bauteilen des demokratischen Konföderalismus. Die Frauenbewegung des demokratisch-konföderalen Kurdistans wird mit den Frauenbewegungen und Vereinigungen aus den anderen Teilen Kurdistans und den Nachbarländern ihre diplomatische Beziehung auf höchster Ebene beibehalten. Dies wird zunehmend zu Solidarität und Einheit führen. In gleicher Weise werden auch andere Bewegungen und Vereinigungen organisatorische Beziehungen haben und diplomatische Arbeiten miteinander führen. Die Aufgabe des demokratisch-konföderalen Kurdistans wird sein, die Arbeit zwischen den Bewegungen unter seinen Schutz zu nehmen. Auch auf globaler Ebene müssen die Bewegungen Beziehungen zu anderen demokratischen Bewegungen haben, um diplomatische Solidarität zu gewährleisten. Man könnte fragen, ob all diese Beziehungen sich nicht gegenseitig widersprechen würden. Nein, sie würden sich nicht widersprechen. Dass die Arbeiterbewegung beispielsweise zunehmend kontinentale und globale Beziehungen entwickelt, würde weder den konföderalen Regelungen, noch den Gesetzen der Einheitsstaaten widersprechen. Ohnehin wird es in dem vom Volk bestimmten gesellschaftlichen Vertrag keinen Platz für solche restriktiven und verbietenden Haltungen geben. Es heißt: Je mehr Freiheiten, desto mehr Demokratie und je mehr verbietende Gesetze, desto weniger Demokratie gibt es. Mit anderen Worten kann man sagen: Je weniger Staat, desto mehr Gesellschaft und je mehr Gesellschaft, desto mehr Demokratie. Schließlich werden die Kurd_innen mit diesen komplexen diplomatischen Beziehungsnetzen selber bestimmen, wie sie untereinander und mit anderen Völkern das kulturelle und rechtliche Leben gestalten werden. Sie werden selbst entscheiden, was für eine Position sie in der Welt einnehmen wollen, wie sie mit der Welt, welche ihre Kultur und ihren Glauben, sowie ihre Identität bis heute nicht akzeptiert hat, umgehen wollen und was sie der Welt geben bzw. von ihr erwarten werden. Die Kurd_innen haben zunächst mit großer Aufopferung an der Gründung der Republik teilgenommen und wurden anschließend im Käfig des Nationalstaates eingekerkert und erfuhren weiterhin Massaker, Exil, Armut und Identitätslosigkeit. Nun werden sie selbst entscheiden können, wie sie damit umgehen und diese Zustände ordnen werden. Auch wie sie die Rechnung begleichen, dass sie im eigenen Land noch nicht einmal Immigranten sein konnten, werden sie selbst entscheiden. Es wird die Rede davon sein, sich vom Käfig des Nationalstaates zu befreien und anschließend mit gegenseitigem Respekt, rechtlicher Gleichheit und Gleichheit innerhalb von Unterschieden, eine freie Demokratie auf Basis des gemeinsamen Lebens zu gründen. Der Nationalstaat harmoniert nicht mit unserem historisch-gesellschaftlichen Gewebe. Die Gesellschaften aus Anatolien, Mesopotamien und anderen mittelöstlichen Gebieten und die gesellschaftlichen, kulturellen und historischen Traditionen sind im Grunde dem demokratischen Konföderalismus gegenüber offen. Die Geschichte liefert hierfür zahlreiche Beispiele. In der Hegemonie des englischen Imperialismus wurde der Nationalstaat als das Dominante in die Region eingeführt und ist somit der Hauptgrund für die derzeitige Zersplitterung des Landes und die Unlösbarkeit der Probleme. Das heißt, der Kleinstaatennationalismus ist nicht nur der Grund für die Probleme der Türkei, sondern auch der Grund für die strukturellen Probleme im mittleren Osten. Die zionistischen Ideologen schufen einen Begriff, welcher dem türkischen Nationalismus eigen ist: Sie sprachen von „Weiß-Türken“ und beschrieben die Ideologie als den anatolischen Zionismus. Heute sind die Weiß-Türken der Grund, warum unsere Gesellschaft im Meer aus Blut ertränkt wird. Der demokratische Konföderalismus ist das Grundmodell für die Lösung der genannten Probleme, für die Gleichheit innerhalb der Unterschiede, für die Demokratie und das Leben in Freiheit. Ähnlich wie in Kurdistan können beispielsweise in Hatay und Adana die Araber_innen ihre eigenen demokratischen Selbstverwaltungen entwickeln. Sie können sich frei organisieren und ausdrücken, und von der Bildung in ihrer Muttersprache bis hin zu kulturellen Entwicklungen auf höchster Ebene können sie ein freies Leben gestalten. Dies gilt in gleicher Weise für die Las_innen am Schwarzen Meer, die Griech_innen am Ägäischen Meer, die Armenier_innen, die Tscherkess_innen und so weiter. Die Vorreiterrolle beim Übergang vom Nationalstaat in eine demokratische Türkei werden die Kurd_innen haben, wobei sich alle Schichten der Gesellschaft frei organisieren können. Jedoch entwickeln die Kurden, obgleich sie große Preise gezahlt haben, ihr Lösungsmodell nicht nur für die Region Kurdistan und das kurdische Volk, sondern für die - 88 - »» Diplomatie im Demokratischen Konföderalismus ganze Türkei. Sogar für den Iran, Irak, Syrien und alle anderen mittelöstlichen Völker. Die Organisierung dieses Modells, also alle demokratisch-konföderalen Institutionen (städtisch, lokal oder regional) werden untereinander ihre Beziehungen auf konföderalen Grundlagen aufbauen. Somit wird man nicht unter der Diktatur der Wenigen, wie in Kapital- und Machtmonopolen, leben müssen. Die Stabilisierung des komplexen gesellschaftlichen Beziehungsnetzes, welches alle Bereiche des Lebens umfasst, wird ohne den Kapital- und Machtmonopolen eine offene Tür zur Ausnutzung zu lassen, zu den Hauptbemühungen der Völkerdiplomatie gehören. Die Diplomatie, die seit tausenden von Jahren das Spielfeld der Herrscher gewesen ist, wird nicht mehr ein Mittel für die Vertiefung und Entwicklung der Unlösbarkeit der Probleme sein. Mit dem demokratischen Konföderalismus werden alle gesellschaftlichen Schichten ihre eigene Diplomatie entwickeln und diese als Mittel der Problemlösung gestalten. Sie werden ihre eigenen Lösungen selbstständig gestalten, ohne Hilfe von anderen zu erwarten, ohne um Erlaubnis zu fragen und ohne zu betteln. Das demokratisch-konföderale Kurdistan ist geehrt, egal wie hoch der Preis dafür sein wird, solch eine Vorreiterrolle in diesem geschichtlichen Prozess und dieser Aktion zu spielen! - 89 - RONAHÎ #43 RONAHÎ #43 »» Êzîden und das Êzîdentum Die Êzîden und das Êzîdentum » » YXK-Bielefeld & Yilmaz Pêşkevin Kaba Wer sind die Êzîd_innen? Die Definition der Bezeichnung/des Wortes Die Glaubensgemeinschaft der Êzîd_innen gehört zu den ältesten noch bestehenden der Welt. Der Großteil der Angehörigen dieser Gemeinschaft lebt – bedauerlicherweise gegenwärtig in der Vergangenheitsform »lebte« – im Şengal-Gebiet (Südkurdistan/Nordirak). Über Jahrhunderte hinweg erlebten die Êzîd_innen Verfolgung, Unterdrückung, Zwangskonvertierung/-islamisierung, Verleumdung, unzählige Massaker und Genozide. Seit den Staatsgründungen der Türkei, des Irans, des Iraks und Syriens im Zuge der territorialen Verschiebungen nach dem 1. Weltkrieg, wurde es bis heute versäumt, der Stimme der Êzîd_ innen Gehör zu verleihen. So wurde ihr Status als Glaubensgemeinschaft bisher nicht anerkannt, weder durch die Besatzer Kurdistans noch durch die Vereinten Nationen. Ein Versäumnis, das seither bittere Konsequenzen nach sich zieht. Ezda ist kurdisch und einer der vielen Namen Gottes (Xweda/Xwedê: „der, der sich selber erschaffen hat“). Es heißt übersetzt: „der, der mich erschaffen hat“ (Ez - da / Min – da). Das Wort Êzîdî heißt somit „die Anhänger Gottes“. Das Wesentliche hier führt darauf zurück, dass Gott alles und jenes und auch sich selbst erschaffen hat. Ethnische Zugehörigkeit, Sprache und besondere Hauptmerkmale des Glaubens Die Êzîd_innen sind von der Volkszugehörigkeit Kurd_innen und entsprechen zur heutigen Zeit ca. 2,5% des gesamten kurdischen Volkes. Alle Êzîd_innen sprechen hauptsächlich den meist gesprochenen kurdischen Dialekt Kurmancî. Einer der Hauptmerkmale ist, dass das Êzîdentum einen ethnokonfessionellen Charakter hat, sprich eine nur unter den Kurd_ - 90 - »» Êzîden und das Êzîdentum innen vorhandene Glaubensgemeinschaft ist. Daher kommt auch die Bezeichnung Ursprungsglaube/-religion der Kurden, da diese in vielen Bereichen die Grundlage des Kurdentums ist. Im Glauben des Êzîdentums hat die Natur (Xweza: „das, dass sich selber erschafft“) einen besonderen bis zu heiligen Stellenwert. Heilige Elemente sind u. a. Sonne/Feuer, Wasser, Luft/Wind und die Erde. Auch die Wiedergeburt gilt als ein Teil der Natur. Die Natur ist die Schöpferin/Gottheit, welche die Mutter aller Geschöpfe und Lebewesen ist. Aus diesem Grund verlangt die Natur auch den gegenseitigen Respekt aller Geschöpfe und Lebewesen. RONAHÎ #43 setzte sich die Bezeichnung „Yezid_innen“ und „Jesid_innen“ durch. Aufgrund dieser Schreibweise, offenbarten sich weitere Möglichkeiten diesen Namen anders zu identifizieren. Muslimische Kritiker konnotierten den Namen äußerst negativ, da hier die „Yezîd_innen“ mit dem Kalifen der Umayyaden, Yazid ibn Mu’awiya in Verbindung gebracht wurden. Die schiitischen Muslime sahen in Yazid den Verantwortlichen für den Tod Husseins, dem Enkelsohn des Propheten. Inzwischen bedient sich die Mehrheit der Etymologie - die „Êzid_innen“, die sich an der kurdischen Selbstbezeichnung ez da („Gott schuf“) orientiert. Neben dem Vorwurf mit Yazid ibn Mu’awiya zu sympathisieren, wurde Tawisî Melek mit dem Teufel gleichgesetzt. Vor allem wird auf Seiten des Islams Tawisî Melek, der als erster von sieben Engeln von Gott erschaffen wurde, mit Satan, auch Schaitan beDas Ursprungsland bzw. Siedlungsgebiet der Êzid_ zeichnet, identifiziert und diffamiert. Diese Vorstelinnen ist Kurdistan. Bedingt durch die labile gesell- lung legitimierte Pogrome gegen das êzîdische Volk. schaftliche und politische Lage aufgrund der Beset- Tatsächlich sprechen die Êzid_innen das Wort Teuzung Kurdistans, waren und sind die Êzid_innen dazu fel nicht aus und lehnen es auch ab, Gott eine Pergezwungen ihre Heimat zu verlassen. Zu erwähnen sonifizierung des „Bösen“ gegenüberzustellen, da ist auch, dass sie einer doppelten Verfolgung ausge- dies Zweifel an der Allmacht Gottes bedeuten würsetzt waren und sind: als Glaubensgemeinschaft und de. Damit geht auch die Vorstellung einher, dass der auch als Angehörige des kurdischen Volkes. Mensch in erster Linie selbst für seine Taten verantDie Zahl der Êzîd_innen wird weltweit auf ca. 1 bis wortlich ist. 1,5 Millionen geschätzt. Vor den Übergriffen auf Seit wann existiert der Glaube? Şengal (03.08.2014) waren folgende Zahlen aktuell: Süd-Kurdistan ca. 3 %, Şengal/Laliş und Region ca. 6 Zu den Ursprüngen der Êzid_innen gibt es bis heute %, Europa ca. 21 %, Kaukasus ca. 10 %, Nord-Ame- keine allgemein anerkannten Aussagen. Der Glaube rika ca. 2%, West-Kurdistan ca. 1%, Nord-Kurdistan entwickelte sich aus dem Mithras-Kult, der bis ins 14. Jahrhundert v. Chr. zurückreicht und Ähnlichkeica. 0,01 %. ten mit dem altindischen Gott Mitra aufweist. HistoAufgrund der schon erwähnten feindlichen Lebensrisch gesichert, lässt er sich auf den Reformator Şêx bedingungen in Nord-Kurdistan auf der einen Seite Adî (*ca. 1075 – †1160) zurückführen. Sein Grabdurch die Türkei und in Süd-Kurdistan auf der andemal in Laliş, in Süd-Kurdistan (im nördlichen Irak), ren Seite durch den Irak, flohen seit den 80er Jahren gilt als zentrales Heiligtum. Das Êzîdentum hat seiviele Êzid_innen nach Deutschland. Überwiegend ne Wurzeln in dem indogermanischen Glauben der siedelten sie sich in Nordrhein-Westfalen und in NieKurden und ist eine Mischung aus dem Naturglaube, dersachsen an, wodurch eine êzîdische Gemeinschaft der Verehrung der Sonne, und dem Glauben an eine in Deutschland entstand. Gottheit. Es wird mehr als Lebenseinstellung und Wie kommt es zu den unterschiedlichen Bezeich- -philosophie praktiziert. nungen der Êzid_innen? Wer ist Tawîsi Melek? Die Herkunft der Bezeichnung „Êzid_innen“ ist bis heute unbekannt. Vorwiegend wurden in wis- Die êzîdische Glaubenslehre besagt, dass Gott aus senschaftlichen Publikationen „Êzid_innen“ (engl. sich selbst heraus eine weiße Perle schuf, durch de„Yazidis“) verwendet. Im deutschsprachigen Raum ren Explosion das gesamte Universum entstand. Aus Die Hauptpilgerstätte und das wichtigste Glaubenszentrum der Êzid_innen ist Laliş, welches in Süd-Kurdistan liegt. Laliş ist auch unter der Bezeichnung Sonnen- und Feuertempel bekannt. - 91 - RONAHÎ #43 »» Êzîden und das Êzîdentum seinem Licht entstanden sieben Engel, welche bei der Entstehung der Erde mitwirkten. Zudem symbolisieren die Engel die Naturgesetze. Der wichtigste unter ihnen ist der siebte Erzengel Tawisî Melek, der als Stellvertreter Gottes (Xweda) auf der Erde gilt und oft auf Abbildungen als historisches Sonnensymbol und als Pfau (Königssymbol) zu erkennen ist. Tawisî Melek ist weder ein ausgestoßener, noch ein gefallener Engel und gilt als Ikone des êzîdischen Glaubens. Das erste und wichtigste Gebot Gottes war, dass sich die Engel niemandem außer ihm selbst unterwerfen dürfen. Als Gott Adam erschuf, prüfte er die Engel und befahl ihnen, sich vor ihm zu verneigen. Alle verneigten sich, bis auf Tawisî Melek. Dieser hatte das erste Gebot Gottes nicht vergessen und huldigte damit seiner Allmächtigkeit. So wurde er zum Oberhaupt aller Engel erkoren. Gott erkannte seine Loyalität und vertraute ihm in menschlichen Angelegenheiten. Tawisî Melek wird als Gottesvertrauter, Vorbeter und Leitfigur der Engel betrachtet. Der ihm zugeordnete heilige Wochentag ist der Mittwoch (kurdisch: Çarşem; Tag der Vollendung der Erde). Zudem wird ihm der Planet Merkur zugeordnet, der auch für Mittwoch steht. Daher gilt der Mittwoch unter den Êzîd_innen als Ruhetag. Was kann zur Glaubensvorstellung gesagt werden? Die Glaubensgrundzüge: Der Glaube wurde bis in die jüngste Zeit mündlich überliefert und ist eine monotheistische Religion (Ein-Gott-Glaube). Wichtig sind folgende Wesen im Êzîdentum: Xwedê, Ezda, Padşa, die sieben Erzengel (Siebenschaft) mit ihrem Oberhaupt Tawisî Melek sowie weitere heilige Persönlichkeiten. Es gibt heilige Schriften bezüglich der Êzid_innen, u. a. das „Buch der Offenbarung“, das Kitêba Cilwê. Die Bücher und Schriften wurden 1911 und 1913 veröffentlicht, wobei in ihnen wohl nicht alle Glaubensvorstellungen der Êzid_innen vollständig authentisch wiedergegeben sind. In der êzîdischen Glaubensvorstellung gibt es keinen dualistischen Konflikt zwischen Gut und Böse. Die Existenz eines negativen Wesens, das ohne die Fürsprache Gottes handelt, besteht nicht. Der Mensch hat die Fähigkeit durch seinen eigenen Verstand zu denken, ebenso zu sehen und zu hören, um vernunftgelenkt Entscheidungen zu treffen. Daher ist der Mensch zunächst selbst für sein Wirken verantwortlich. Aus diesem Grund existiert lediglich das Böse im Menschen selbst. Ansonsten könne Gott nicht allmächtig sein. Folglich ist die Aussprache des bösartiBedeutung Tawisî Meleks gen Wesens ein Zeichen für Zweifel an der Allmäch„Tawisî Melek şahda îmana min e“ – Tawisî Melek tigkeit Gottes. ist der Zeuge meines Glaubens [an einen Xweda]. Äußere Merkmale des Glaubens Tawisî Melek gilt als Grundlage des êzîdischen Monotheismus und als Symbol des mutigen Einsatzes Keine Existenz einer autonomen bösen Gestalt; ethdes Verstandes sowie als Grundlage des Gottes- und nokonfessioneller Charakter; keine Missionierung – als Êzîdî wird man geboren: “Ein Êzîdî kann ein guter Menschenverständnisses des êzîdischen Glaubens. Mensch sein, aber um ein guter Mensch zu sein, muss Prinzip und Verkörperung von Tawisî Meleks - Mut man nicht Êzîdî sein.“; keine Offenbarungsreligion und Einsatz des eigenen Verstandes: das Tun, was Êzîden haben keinen Propheten; keine Buchreligion man selbst für richtig hält; die Konsequenzen aus sei- kein heiliges Buch, hauptsächlich durch mündliche nem Tun selbst tragen; für seine Taten selbst RechenTradierung (Qewls); kein Alleingültigkeitsanspruch: schaft ablegen; eigene Meinungsbildung; manchmal „Jede Religion ist ein Teil der Wahrheit”. gegen den Strom schwimmen; Befehlen nicht blind Folge leisten; selbstbewusst auftreten; stets kritisch Beispiel für den Alltag bleiben; Dinge hinterfragen; Mitmenschen ein VorHeke tû kesekî bi bînî - Xêrekê vêre bigehînî - Nebêjê bild sein; niemanden verurteilen. tû ji kî dînî.: „Wenn Du jemandem begegnest - Lass ihr eine gute Tat zukommen - Frag nicht danach, welcher Religion sie angehört.“ - 92 - »» Êzîden und das Êzîdentum RONAHÎ #43 Innere Merkmale des Glaubens Drei Hauptgruppen: Das Kernmerkmal ist Tawisî Melek. Gut und Böse sind eins - Keine Trennung von Gut und Böse zu zwei autonomen Figuren. Es bestehen nur wenige religiöse Gebote und Verbote. Qewls sind keine Regelwerke, sondern philosophische Texte. Liebe gilt als Fundament der Erde und der menschlichen Existenz. Es wird keine Unterteilung zwischen gläubigen oder ungläubigen Menschen aufgrund der Religionszugehörigkeit vorgenommen. Toleranz der Vielfalt als Respekt gegenüber der Schöpfung Gottes gilt als sehr wichtig. −− Die Mirîds, machen den Großteil der Gesellschaft aus. −− Die Pîrs (Würdenträger) sind für gesellschaftliche Angelegenheiten sowie für religiöse Riten zuständig. −− Die Şêxs (Würdenträger) sind für politische Angelegenheiten sowie für religiöse Riten verantwortlich. Des Weiteren gibt es den religiösen Rat, die Civata Ruhanî. Die Aufgabe des Rates beinhaltet u. a. die Beratung und die Beschlussfassung über religiöse, Wie sieht das Gesellschafts- und Kastensystem bei gesellschaftliche und/oder politische Fragen und Anden Êzid_innen aus? gelegenheiten. Der Reformator Şêx Adî gründete im 11. Jahrhundert Das Kastensystem ist keinesfalls gleichzusetzen mit das Kastensystem im Êzîdentum. einer weltlichen Hierarchie. Sie dient lediglich als Nach der êzîdischen Mythologie wurde Şêx Adî vom Schutzfunktion des Glaubens, aufgrund von Verfolobersten Engel Tawisî Melek auserkoren und erhielt gungen und Pogromen. Rechtlich und wirtschaftlich gesehen, gibt es keinen Unterschied in den verschievon ihm seine geistige und spirituelle Macht. denen Kasten. Die Êzid_innen werden in ihren GlauGrundlegend besteht die Gliederung ihrer Gesell- ben hineingeboren. In der jeweiligen Kaste ist ausschaft aus drei Kasten: die Şêxs (Schech/Sheikh), Pîrs schließlich eine Heirat erlaubt (Endogamie). („der Ältere“) und die Mirîds („das Volk“). Die Şêxs und Pîrs gehören zu der geistlichen Kaste, welche die Ist es möglich zum Êzîdentum zu konvertieren? Aufgabe besitzt, den Mirîds die religiöse Lehre zu Die Möglichkeit zu konvertieren gibt es nicht. Als vermitteln. Die Aufrechterhaltung von Ritualen, wie Êzîd_in wird man geboren, d.h. beide Elternteile bspw. die Zeremonien bei Festen, Beerdigungen und müssen êzîdisch sein. Dies dient lediglich der ErhalTaufen sowie die Lösung von Konflikten zwischen tung und heißt nicht, dass sie sich über andere Glauden Mirîds und die Vermittlung des Glaubens, ste- bensgemeinschaften stellen. Es heißt „ein Êzîde muss hen im Zentrum ihrer Aufgabenbereiche. Sie stehen ein guter Mensch sein, aber um ein guter Mensch zu in gegenseitiger Verpflichtung und Verantwortung in- sein, muss man kein Êzîde sein.“ Die Êzid_innen nerhalb der Gesellschaft. sind nicht der Auffassung, Andersgläubige von der Die êzîdischen Siedlungsgebiete waren und sind räumlich voneinander getrennt. Daher legte Şêx Adî aus organisatorischen Gründen fest, dass sich sowohl die Angehörigen der Pîrs als auch der Şêxs auf die êzîdischen Mirîds aufteilen. So bekam jeder Mirîd seinen eigenen Şêx und Pîr. eigenen Religion überzeugen zu müssen bzw. missionieren zu wollen. Sie behaupten auch nicht, der wahre Glaube zu sein, da sie davon ausgehen, dass jeder ein Teil der Wahrheit ist. Die Şêxs unterscheiden sich von den Pîrs in der Hinsicht, dass sie in der gesamten êzîdischen Gemeinschaft noch eine administrative Aufgabe besitzen. Diese besteht darin politisch-soziale Probleme zu lösen, um die Gemeinschaft sowohl nach außen als nach innen zu vertreten. Bei Problemen können sich die Gläubigen jedoch auch an Pîrs und Şêxs wenden, die für andere Mirîds zuständig sind. „Wesentlicher Bestandteil des êzîdischen Glaubens ist der Glaube an eine Wiedergeburt nach dem Tode (Metempsychose). Die Reihe der Wiedergeburten verläuft nach êzîdischem Glauben kreisförmig. Die Menschen sind nach der Theologie der Êzid_innen frei geboren und haben in ihrem Leben einen freien Willen. Ein Mensch ist gut, wenn er gut denkt, gut redet und Gutes tut. Gute Taten führen zur Ganzheit und Ewigkeit. Ein guter Mensch hat eine reine Seele, Welche Bedeutung hat der Tod im Êzîdentum? - 93 - RONAHÎ #43 »» Êzîden und das Êzîdentum die dann in den Himmel aufgenommen werden kann. Hat der Mensch sich aber schlecht und böse verhalten, so muss er sich so lange im Kreis von Wiedergeburten auf der Welt bemühen, bis er das Licht, den richtigen Weg und die Wahrheit gefunden hat.“ Welche Stellung nimmt die Frau im Êzîdentum ein? Im êzîdischen Glauben sind Mann und Frau gleichberechtigt. Es gelten für den Mann sowie für die Frau die gleichen Gebote und Verbote. Vor der Verfolgung der Êzid_innen im 6. und 7. Jh. v. Chr. hatten die Frauen im êzîdischen Glauben ein höheres Ansehen als die des Mannes. Die Frau war und ist im Êzîdentum etwas wertvolles, etwas Heiliges, da sie die Erde mit der Menschheit bereicherte. Nach dem allmächtigen Gott und Tawisî Melek wird die Frau geehrt (durch die Erwähnung in den êzîdischen Gebeten), denn sie trug dazu bei, dass Nachfolger existierten (das Geschöpf das Leben erschafft). Die Frau hat in jeglichen Situationen ein Mitspracherecht. Zudem wird die Meinung der Frau besonders hoch angesehen. Sie erhält viel Respekt und Akzeptanz im êzîdischen Glauben. Doch nach der Verfolgung und der Zwangsislamisierung der Êzid_innen, hat sich der Standpunkt der Frau ein wenig geändert. Die Einflüsse und das Umfeld des Islams haben es nicht möglich gemacht, dass die Position der Frau im Êzîdentum wie vorgeschrieben erhalten bleibt. Der Rollentausch diente der Anpassung an die anderen Religionen. Im Vergleich zur 1. Generation der Frauen, sind die 2. sowie die 3. Generation der in Deutschland Lebenden eigenständiger und wählerischer in vielen Aspekten im alltäglichen Leben, was auch von der êzîdischen Gesellschaft positiv aufgenommen wird. Die Stellung der Frau zeichnet sich weiterhin so aus, dass sie frei ihre Meinung äußern kann und genauso wie der Mann das Recht hat, bei politischen Veranstaltungen und Diskussionen der Êzid_innen mitzuwirken. Sie wird zudem bei wichtigen êzîdischen Angelegenheiten und Entscheidungen bevorzugt mit einbezogen. praktiziert. Diese Regel besagt, dass Êzid_innen innerhalb ihrer Kaste ehelichen sollen. Dies sieht eine Ehe mit Andersgläubigen nicht vor. Denn als Êzîd_in wird man nur geboren. Die Möglichkeit zum Êzîdentum zu konvertieren ist aus den Tatsachen der Vergangenheit (Sicherheitsschutzfunktion vor dem Islam nach der Zwangsislamisierung) zurzeit nicht möglich. Die Frau hat in der Ehe die gleichen Rechte wie der Mann, d.h. die Aufgabenverteilung im Haushalt sowie die Erziehung der Kinder wird beiden zugeteilt. Im êzîdischen Glauben sollen die Eheleute sich mit gegenseitigem Respekt und Akzeptanz behandeln. Auch der Frau steht es zu arbeiten zu gehen und den Haushalt mit zu finanzieren. In allen wichtigen Entscheidungen wird die Frau mit einbezogen und kann ihren Standpunkt dazu vertreten. Die Frau ist keineswegs dem Mann untergeordnet. Welche Rolle hat das Kopftuch in der êzîdischen Religion? Die êzîdischen Frauen tragen kein Kopftuch. Grundsätzlich schreibt der êzîdische Glaube nicht vor, ein Kopftuch zu tragen. Oftmals tragen heutzutage die älteren Frauen bei den Êzid_innen ein Kopftuch, was ein Überbleibsel des islamischen Einflusses in der Heimat war und noch bestehen blieb. Aus diesem Grund ist es den älteren Frauen aus Gewohnheit selbst überlassen, ob sie ein Kopftuch tragen oder nicht. Nur bei Trauerfeiern, sprich auf Beerdigungen, trägt die êzîdische Frau aus Respekt und als Zeichen der Trauer für die/den Verstorbene_n sowie für die Hinterbliebenen ein Kopftuch. Ausschließlich wird zu besonderen religiösen Zeremonien eine Kopfbedeckung getragen, da gewisse Rituale dies vorgeben. Die Frau trägt das Kopftuch leicht auf dem Kopf, sodass die Haare noch zu sehen sind. Wie sieht das êzîdische Frauenbild heute aus? Mit dem Einfluss der Freiheitsbewegung Kurdistans kam es zu Verschiebungen hinsichtlich des Frauenbildes. Heute kämpfen auch êzîdisch-kurdische Frauen für Freiheit, Frieden und Menschlichkeit. Einer der Heirat ersten Schritte zur Befreiung der êzîdisch-kurdischen Früher waren Eheschließungen dem starken Einfluss Frau war die Gründung der »Widerstandseinheit der der Familien ausgesetzt, jedoch sind diese Formen Frauen von Êzîdxan« (YJÊ), welche u. a. maßgeblich der Ehe zu seltenen Ausnahmen geworden. Im êzî- an der Befreiung von Şengal beteiligt waren. Auch dischen Glauben gibt es keine Vorschriften aus der die Aktivitäten im Volksrat von Şengal sind ein wichsich herleiten ließe, dass die Eltern über die Ehepart- tiger Schritt zur Veränderung der gesellschaftlichen ner entscheiden. Im Êzîdentum wird die Endogamie und politischen Lage und Situation der êzîdisch-kur- - 94 - »» Êzîden und das Êzîdentum RONAHÎ #43 dischen Frau. Unter anderem gilt diese neue Heranund Vorgehensweise als Antwort auf das Massaker und den versuchten Völkermord, dem die Êzid_innen ausgesetzt waren. Auch die Tatsache, dass noch immer tausende Frauen in IS-Gefangenschaft sind, führte zum Umdenken und zum Handeln, was sich als ein wichtiger Einfluss der neuen Organisierung herausstellte. sich aus den kurdischen Wörtern „çar“ für vier und „şem“ für Woche zusammen. Gemeint ist damit der vierte Wochentag, also der Mittwoch, da der erste Tag der Woche im kurdischen Kalender der Sonntag ist. „Sor“, ebenfalls aus dem kurdischen, trägt die Bedeutung „rot“. Das Neujahrsfest wird am ersten Mittwoch im April (Nach dem gregorianischem Kalender, der erste Mittwoch nach dem 13. April) gefeiert. Vor allem sind Frauen und Mädchen von den brutalen Angriffen und der Unmenschlichkeit des IS betroffen Der êzîdischen Mythologie zufolge erreichten die Sonnenstrahlen an jenem Mittwoch zum ersten Mal die Erde, sodass sich der Himmel rot färbte. Daher stammt der Name „roter Mittwoch“. Mit den Sonnenstrahlen kam auch Tawisî Melek erstmals auf die Erde. Daher zählt der Mittwoch als „Ruhetag“ der Êzîd_innen. Ein weiterer Brauch an Çarşema Sor ist das Färben von Eiern, so wie es heute auch die Christen an Ostern tun. Diese sollen die Urperle darstellen, durch deren Explosion das gesamte Universum entstanden ist. Die gefärbten Eier sollen an die Vollendung der Erde und dem damit einhergehenden Beginn des Lebens erinnern. Die Terrorgruppe IS entführt und vergewaltigt Frauen und verkauft sie zur sexuellen Ausbeutung. Mit ihrer Interpretation des Islam begründet sie ihre patriarchale Gewaltherrschaft. Imame vollziehen auf einige Stunden befristete »Eheschließungen«, um Frauenhandel und -versklavung zu legitimieren. Menschenrechtsorganisationen schätzen, dass über 2.000 Frauen auf den von den IS-Milizen errichteten Sexsklavinnenmärkten in Mossul verkauft und vergewaltigt wurden und das über 4.000 weiteren noch bevorsteht. Es sind vor allem êzîdisch-kurdische und christliche Frauen und Kinder von diesen Gräueltaten betroffen. Einige konnten befreit werden bzw. aus der Gefangenschaft des IS entkommen. Diese Menschen sind höchst traumatisiert. Die humanitäre Situation vor Ort ist katastrophal und das Ausmaß des Genozids wird immer klarer und deutlicher – ohne Zweifel ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit und ein Armutszeugnis für die Menschheit. Welches sind die wichtigsten Regeln im Êzîdentum? −− Rastî (Wahrheit/Gerechtigkeit): Jede_r Êzîd_in ist dazu verpflichtet, stets die Wahrheit zu sagen, sich vor der Lüge hüten und zu seinem Wort und zu seinen Entscheidungen stehen. −− Nasin (Kenntnis): Jede_r Êzîd_in muss sich und seine Umgebung kennen, dementsprechend einen stabilen und guten Glauben besitzen. −− Şermî (Schamgefühl): Jede_r Êzid_in sollte sich vom Bösen fern halten. Es heißt, ein Mensch, der Schamgefühl besitzt, nimmt sich nichts Böses vor und verursacht keine beschämenden Tätigkeiten. Weitere Feste sind Cejna Şêşims/ Rojê (Fest zu Ehren der Sonne), Cejna Xwudan (Fest zu Ehren der Ahnen und Heiligen) und Cejna Êzî (Fest zu Ehren der Gottheit, des Êzîdentums, des Tawisî Meleks). Am ersten Dienstag im Dezember beginnt die Fastenzeit. Es gibt insgesamt neun Fastentage, welche auf drei Wochen verteilt sind. Von Dienstag bis Donnerstag wird gefastet, an den darauffolgenden Freitagen finden die jeweiligen Feste statt. Die Sonne wird von den Êzid_innen besonders geehrt und als das Symbol Gottes am Himmel betrachtet. Sie nennen sie „Şêşims/Rojê“. Im Êzîdentum ist der Erzengel „Şemsedîn“ dafür verantwortlich, die Strahlen der Sonne zur Erde zu begleiten. In der êzîdîschen Mythologie nimmt die Sonne eine zentrale Rolle ein. Auch in den Gebeten, Schriften etc. wird die Besonderheit und Wichtigkeit der Sonne hervorgehoben. Sogar einzelne Gebete sind ganz der Sonne gewidmet, wie z.B. der Qewlê Şêşims. Während ihrer Gebete wenden die Êzid_innen ihr Gesicht der Sonne zu. Aus diesem Grund wurden sie in früherer Zeit „Êzdaî-Şemsanî“ (Sonnenanbeter) bezeichnet. Welches sind die wichtigsten Feste und Feiertage Das „Cejna Êzî“-Fest bildet den Höhepunkt der Feider Êzid_innen? erlichkeiten nach den vorangegangenen Fastentagen. Çarşema Sor ist das religiöse Neujahrsfest und setzt An dem ersten Dienstag im Dezember eines Jahres fasten die Êzid_innen drei Tage, d.h. bis einschließ- 95 - RONAHÎ #43 »» Êzîden und das Êzîdentum lich Donnerstag, wobei täglich nur von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang gefastet wird (ca. 12 Stunden). Der erste eines Monats beginnt am 14. des christlichen Kalenders. Am 4. Tag, immer ein Freitag, wird das „Cejna Êzî“ (Fest des Êzîdentums) gefeiert. Die Bedeutung der Feier für die Êzid_innen ist mit Weihnachten bei den Christ_innen gleichzusetzen. Der Ursprung der Feier ist sehr alt und bezieht sich auf die Verehrung der Sonne (Şêşims). Auch im Êzîdentum/Kurdentum nimmt die Sonne einen hohen Stellenwert ein und wird als das sichtbares Symbol der Gottheit verstanden. Im Ur-Êzîdentum wurde die Sonne gar als Gottheit angebetet (deswegen die Bezeichung der Êzîden „Rojperest - Sonnenanbeter“). Daher fällt der wichtigste Feiertag der Êzid_innen in die Sonnenwende. Da die Tage zur Sonnenwende immer kürzer werden und die Sonne immer weniger zu sehen ist, fasten die Êzid_innen. Mit dem Feiertag wurde also ursprünglich das Ende der kurzen Tage gefeiert. Es ist das Fest zu Ehren der Gottheit und des Êzîdentums. Cejna Xidir Nebî / Cejna Xidir Îlyas Xidir Ilyas ist der Schutzpatron der Kranken, Reisenden und Armen. Xidir Nebî ist die Persönlichkeit der Liebe und der Wünsche. Beide Brüder wurden vom „Wasser der Ewigkeit“ getränkt und erlangten so die Unsterblichkeit. Dem ersten Donnerstag und Freitag im Februar widmen die Êzid_innen den beiden Brüdern. Zuvor wird von Montag bis Mittwoch gefastet. Traditionell wird in der Nacht vor dem Fest ein salziges Brot (Poxin/Pêxun) gebacken und ein süßer Weizenbrei vorbereitet. Über Nacht, so glauben die Êzid_innen, wird das Poxin von Xidir Ilyas und Xidir Nebî gesegnet. „Zusammenfassend kann man sagen, dass der êzîdische Glaube ein Glaubenssystem mit universellen Prinzipien zu Ethik und Moral, richtig und falsch, Gerechtigkeit, Wahrheit, Loyalität, Barmherzigkeit und Liebe ist.“ Yasar Kemal zu den Gebeten der Êzîden Sonne und erzählt ihr das, was in diesem Augenblick sein Herz spricht. Vielleicht sind dieses die schönsten Gebete, die die Menschheit je hervorgebracht hat. Vielleicht entspringen die schönsten Lieder, die schönsten Dichtungen diesen Gebeten. Vielleicht wurzeln alle Legenden und Sagen Mesopotamiens in diesen Gebeten […]“. Gesellschaftliche und politische Vertretung in Deutschland u. a.: FKÊ (u. a. Mitglieder sind: der Rat der Ezdischen Frauen MJÊ, der Bündnis der Êzîdischen Jugend HCÊ, die Plattform der êzîdisch-kurdischen SängerInnen PHKÊ) Selbstverständnis der Föderation der Êzîdischen Vereine – Federasyona Komelên Êzîdiya – FKÊ Die Föderation der Êzîdischen Vereine e. V. vertritt die Interessen der in ihr organisierten êzîdischen Kurd_innen unabhängig von deren Herkunft und politischer Orientierung. Zu den Arbeitsschwerpunkten der Föderation der Êzîdischen Vereine e. V. gehört die gelungene Integration der Mitglieder in die Mehrheitsgesellschaft, der Erhalt und die Pflege des kulturellen Erbes des Êzîdentums sowie die soziale und humanitäre Hilfestellung für Flüchtlinge und Notbedürftige in Europa und den Herkunftsländern der Êzîd_innen. Zur Erreichung ihrer Ziele arbeitet die Föderation der Êzîdischen Vereine e. V. auch eng mit Immigrant_innenverbänden und Menschenrechtsorganisationen in Deutschland zusammen. Durch ein breites Netzwerk ist die Föderation mit anderen êzîdischen und kurdischen sowie weiteren Organisationen aus dem Nahen Osten in Europa eng verknüpft. Deren Forderungen als gesellschaftliche und politische Vertreter_innen sind u. a.: −− Die internationale Anerkennung der Êzid_innen als eigenständige und unabhängige Glaubensgemeinschaft. Yaşar Kemal ist ein kurdischer Autor und Schriftstel- −− Die Selbstverwaltung der Êzid_innen soll durch ler. Er ist ein vielfach ausgezeichneter und einflussdie EU, USA und UN anerkannt und ihre demoreicher Autor und schrieb einst über die Êzid_innen kratischen Bestrebungen unterstützt werden. in seinem Werk „Firat suyu kan akiyor baksana“ fol- −− Die Unterstützung Şengals sowie aller Regionen gendes: „[...] dreimal am Tag wenden sie sich der Êzid_innen auf allen Ebenen, zur Prävention der Sonne zu und beten. Ihre Gebete sind nicht einweiterer Massaker. studiert wie unsere. Jeder der will, mag er Kind, jung −− Die Klassifizierung und Einstufung der Massaker oder alt, Emir oder Scheich sein, stellt sich vor die und Gräueltaten vom 03.08.2014 (und der folgen- 96 - »» Êzîden und das Êzîdentum den Zeit) als Genozid durch die verantwortlichen Institutionen der UN sowie die Anerkennung des 3. August als internationaler Tag des Völkermords an den Êzid_innen. −− Die êzîdischen »Widerstandseinheiten Şengals« (YBŞ) und die »Widerstandseinheit der Frauen von Êzîdxan« (YJÊ), welche den Schutz und die Verteidigung der Êzid_innen in Şengal gewährleisten, sollen als solche anerkannt und ihre Ausrüstung und Ausbildung zur weiteren Bekämpfung des IS gefördert werden. −− Ein konsequentes und gemeinsames Handeln gegen die Terrormiliz Islamischer Staat (IS). −− Internationale Fonds und politische Unterstützung für den Wiederaufbau des Şengal-Gebiets sowie die Einrichtung eines Hilfskorridors, um den dort erforderlichen Wiederaufbau zu ermöglichen. Quellen u. a.: −− FKÊ – Föderation der êzîdischen Vereine −− http://www.yêzîdische-religion.de/41292/home. html −− http://www.ezw-berlin.de/html/3_171.php −− http://www.ciwanen-ezidi.de/pdf/êzîdische_Feiertage.pdf −− Kizilhan, Jan, Die Yeziden: eine anthropologische und sozialpsychologische Studie über die kurdische Gemeinschaft, 1997. Dieser Text entstand in Zusammenarbeit zwischen YXK-Bielefeld und Yilmaz Pêşkevin Kaba (Vorstandsmitglied der Föderation der Êzîdischen Vereine e.V.) - 97 - RONAHÎ #43 RONAHÎ #43 »» A reqûîm for the gazelles A REQÛÎM FOR THE DEAD GAZELLES » » Erivan Mus ‘Seba şêhîdanê Sirûcî’ dengbeje destê xo berde binê goşê xo û dest pê kerde: lajê mi, ez nêwazena ti bibî karkerê şewe! gameke vengê xo birna û newe ra dest pê kerde: eke to zîne seba rayîrê ey bajarê bênomî bidî estora xo rî baxçeyê hejîranê ma de hêjîrî benê perperikî sîyayî û rîyê dinya ra vilabenê IT’S TERRIBLE! ê perperikî kamcîn pelî ser ro nişî, O wişk beno... ALL OF THE BUTTERFLYS ARE FROM HEAVEN, PEAHENS TOO. lajê mi, bi nê çimanê xo mi erdî dî ezmanî dî koyî dî mi awaza xo vete, mi veng da qulingan dormeyeyê mi eşt mi kincî ver bi vayî piştî gilî daranê zîyaran ra mi hevîya xo awe de raşt nêkerd mi to arde dinya, mi to şit mi to rit mi to pişt mi to kincanê sîyayan ra pawit mi verê to da tîje mi to vengan ra wedarit. mi nêwaşt çareyê to erd ro qinîyo ti nika kewtî eskeranê şewe mîyan ti vanê ez şina xezalan kişena xebera mi kenê meşo! IF YOU GO, YOU CAN NEVER COME BACK HOME! NEVER! ez xelîyek binî to dest ra şo weyveyek ez gilîyanê to bimûne ez erdîşa to bitaşî nêbi ez pîzeyê to mird bikî to ver bi bajarî bişawî dilopeka murekebî bidilopnî fekê to ti biwanî ti bimûsî ti binusî la ti biwanî îlla kî ti biwanî, lajê mi. LET THE SUNSHINE IN! (all together, with one voice) xezalî ke ti vanê ez şêrî bikişî înan to roje hîrê cemî lawnayo ti nêzanê eqrevî kewtî gona to perdeyo sîya anto ti çiman ser ro - 98 - »» A reqûîm for the gazelles ti vanê wina nîyo ez heqîqet mûsaya heqîqet ge ge perde anceno heqîqet ser ro rastîya gancidayîşî û yewî kiştişî mayeke başêr kam zano la reyna zî mi efû bike ezebê dewa eqrevanê şewe ez nêwazena ti ê xezalanê rindikan bikişî! Hesrî kewtî çimanê dengbeje, vengê ci bi zîz. Va ez hînî nêeşkena vaje. THE END “dengbejeka lal û kore na serebute ra behs kerde: “ameyêne vatiş ke bê ey keso ke na serebûte bizanayêne çin bi” ney ra serran serran cuwaver; welatekê koyan ê xezalanê qer û belekan de (ke înan bi heybetê xo asmên de qoş kerdêne, hewayî viskurneyêne) merdiman seba nê koyanê nizdîyanê homayan û roja aştîya heme merdiman roje hîrê rêyî verê xo dayêne tîje û dûa kerdêne. ne ney welatî ra ne zî welateko bînî ra kesî nêftarayêne înan ra yewe bikişî. rojek xortekî çimsûrîye kerd û xo da mîyanê koyanê berzan ro rîvayet beno ke ey pîya xo ra hîris û çar xezalî kişt.” NOTHİNG CAN END AT ONCE TIME (ALL NEED A SECOND TIME!) Erivan Mus - 99 - RONAHÎ #43 RONAHÎ #43 »» Temmuzun çocukları TEMMUZUN ÇOCUKLARI » » Hüseyin Aslan Temmuza çıkıyorlardı birazdan anın penceresinden öyle şenlenmiştiki - yüzleri kuşların göç ettiği mevsimdi sanki suyla konuşan gemiler gibi geçiyorlardı o eski denizin sırtından komşuydular Tanrıyla yanlış uykulardan uyanan ölü çocuklar otuz iki not bıraktılar aramıza hiç bu kadar sessiz kalmamıştı toprak oyuncaklara bakarak haydi bir gören olur sustuğunuzu uzatın ayaklarınızın sesini Ankaraya - 100 - »» Dersa Penca(n) RONAHÎ #43 Dersa Pênca » » Loqman Turgut Mamik: Ferşê devê kanîkê rê nade heywanîkê. Çi ye?1 DIALOG I. Xecê: Sertac tu çend pirtûkan dixwînî? Sertac: Ez sê pirtûkan dixwînim. X: Tu sê pirtûkan dixwînî? S:Erê! Hersê pirtûk jî baş in. Bavê min jî gelek pirtûkan dixwîne. Tu pirtûkan naxwînî? X: Nexêr, ez pirtûkan naxwînim. S: Ez fêm nakim. Tu çima pirtûkan naxwînî? X: Ez naxwînim ji ber ku çavên min baş nabînin. S: Tu wî çiyayî nabînî? X: Belê Sertac, ez wî çiyayî dibînim! S: Tu tiliyên destên min nabînî? X:Belê Sertac S: Tu çend tiliyan dibînî? ez tiliyên destên X: Ez deh tiliyan dibînim. S: Ez dibêjim, çavên te baş dibînin! X: Ez wan tiştan baş dibînim, lê tiştên piçûk baş nabînim. S: Niha êdî ez fêm dikim tu çima naxwînî! II: Sertac: Gul, tu wê xwendekara nû dibînî? Gul: Belê, ez wê dibînim. Çima tu dipirsî? S: Ji ber ku ez nizanim navê wê çi ye. G: Ez jî nizanim navê wê çi ye. S: Tu ji mamoste Siyo napirsî, gelo navê wê çi ye? G: Çima tu bi xwe napirsî? S: Ji ber ku ez fedî dikim. G: (gul dikene.) S: Gul, çima tu dikenî? 1 Antwort: Qeşa - 101 - te jî dibînim! RONAHÎ #43 »» Dersa Penca(n) G: Niha ez fêm dikim! Tu ji wê xwendekara nû hez dikî, ne wisa? S: Nexêr!! Ez hêj jê hez nakim. G: Tu hêj jê hez nakî? S: Tu çi dibêjî? Gul: Rojbaş mamoste! Siyo: Rojbaş Gul! Çawa yî? G: Bijî (Sax bî) baş im. Tu jî baş î? S: Zor spas. Gul, ma tu wî deriyî nag[i]rî? G:Ser çava (ser serê min, ser çavê min), mamoste. (ew derî dig[i]re.) Mamoste Siyo, dibêjin xwendekareke nû heye. Tu navê wê nizanî? S:Ez bawer dikim ku navê wê Şînê ye. Tu wî kurikê (kurê) çavreş jî dibînî? G:Belê mamoste, ez wî dibînim, ew kî ye? S:Ew jî xwendekarekî nû ye. Ez dibejim2, ku Şînê xwîşka wî ye. G: Mamoste Siyo, tu navê wî nizanî? S: Nexêr, ez navê wî hêj nizanim. Gul: Skender! Mamoste Siyo bawer dike, ku navê wê Şînê ye. Sertac: Şînê navekî xweş e, ne wisa?! G: Erê. Lê tiştekî din jî heye! S: Ew tişt çi ye? G: Birayekî wê jî heye. Em nizanin navê wî çi ye, lê ew çavreş e. S: (Ew dikene.) G: Tu çima dikenî? S: Ji ber ku tu ji wî xwendekarê çavreş hez dikî! G: Nexêr, ez hêj navê wî jî nizanim! S: Lê tu çawa dibêjî, ku ez ji xwîşka wî hez dikim û tu baş dizanî ku ez navê wê jî nizanim?! G: Xebera te ye! VOKABULAR av, fdas Wasser bawerkirin, bawer k glauben cixare, f die Zigarette çiya, çiyê, vî çiyayî, m der Berg derî, dêrî, vî deriyî, mdie Tür dev, m der Mund, adj. vor 2 Hier heißt dies nicht „ich sage“ sonder vielmehr „ich meine, ich vermute“; im Kurdischen würden die Ausdrucke wie: „bi ya min“ (meiner Meinung nach), „ez zen dikim“ oder „bi zena min“ (ich vermute) können manchmal durch andere Konstruktionen, solange es durch Kontext erlaubt wird, ersetzt werden. - 102 - »» Dersa Penca(n) din andere fedîkirin, fedî k sich schämen ferş, m flache Gestein heywanîk, f Verniedlichung, von heywan (der Tier) jê ( =ji wê/ ji wî) von ihr/ihm kanîk, f kleine Quelle kevir, kêvir, vî kevirî, m der Stein li ... xistin, li ... x schlagen nan, nên, vî nanî, m das Brot niha jetzt pel, m/f das Blatt (lebendige f; zum Schreiben und Drucken m) qeşa, f das Eis rê nade er/sie/es hindert ser çava(n) liebend gerne ser seran û ser çavan verstärkte Bedeutung von ser çavan spas (sipas) danke ´ tiştek, (m) irgend etwas van, pl.obl. diese (hier) vê, f.obl., vî, m.obl. diese; dieses; dieser wan, pl.obl. jene (dort) wê, f.obl., wî, m.obl. jene; jenes; jener xebera te ye! Du hast Recht. Du bist im Recht. xweş schön, angenehm, gut DIE ZAHLEN bîst 20 bîst û yek 21 bîst û du 22 bîst û sê 23 sî 30 çil (çel) 40 pêncî 50 şêst 60 heftê 70 heştê 80 not 90 - 103 - RONAHÎ #43 RONAHÎ #43 »» Dersa Penca(n) sed 10 GRAMMATIK a Die Substantive und alle Nomen, die wie Substantive gebraucht werden sowie die demonstrativen Adjektive werden dekliniert. Die Deklination hat zwei Fälle: Direkter Fall und Kasus Oblikus. Bei dieser Lektion werden wir die grundlegendste Funktion des Kasus Oblikus lernen: der Fall der Ergänzung des direkten Objekts eines Verbs. Das Geschlecht und die Zahl des Substantivs zeigen sich im Kasus Oblikus. I. Wir fangen mit dem Feminin an. Ezafe zeigt sich beim Feminin mit der Endung –a; wie bei pirtuka te, xwîşka min, usw. Die Unterscheidung für den Kasus Oblikus ist, wenn der Substantiv mit einem Konsonanten endet, -ê und wenn er mit einem Vokal endet, -yê. Folglich lautet der Nomen pirtûk im Kasus Oblikus pirtûkê und der Nomen tilî, tiliyê. Verwechseln Sie nicht die Ezafe für den Maskulin im Singular mit dem Kasus Oblikus-Feminin im Singular! Die Demonstrativ- Adjektive ev und ew werden im Kasus Oblikus- Feminin im Singular zu vê und wê. Zum Bsp. ev pirtûk hat die Form vê pirtûkê und ew tilî hat die Form wê tiliyê im Kasus Oblikus. Hier einige Beispiele: Em wê pisîkê dig[i]rin. Wir fangen diese Katze. Em dersê dixwînin. Wir lesen (studieren) die Lektion. Tu devê wê pirtûkê dig[i]rî. Du schließt das Buch. Ez xwendekarê dibînim. Ich sehe die Studentin. Die Unbestimmtheitsendung (–ek) im Feminin hat im Kasus Oblikus die Ergänzung –ê. Daraus folgt -ek-ê: pirtûk-ek-ê, tili-y-ek-ê. Hier einige Beispiele: Em pisîkekê dig[i]rin. Em dersekê dixwînin. Tu devê pitûkekê dig[i]rî. Ez xwendekarekê dibînim. Sollte ein Ezafe im Kasus Oblikus auftreten, so bleibt die Ezafe- Endung und das Merkmal für den Kasus Oblikus wird weggelassen. Anders gesagt, man sagt „ ew kitêbê dixwîne“ er liest das Buch, wenn man aber, anstatt kitêbê (mein Buch als Komplement des direkten Objekts im Satz) kitêba min (mein Buch) nimmt, so sagt man das Kasus Oblikus- Merkmal weglassend, „ew kitêba min dixwîne“ (er liest mein Buch). Beispiele die Ezafe- Verbindungen als Komplement des direkten Objekts haben: Em pisîka te dig[i]rin. Em dersa dirêj Tu devê pitûka nû dig[i]rî. Ez xwendekareke nû dibînim. dixwînin. Zuletzt nehmen wir den Satz „ew vê pirtûkê dixwîne“ (er liest dieses Buch). Wie würde dieser Satz lauten, wenn das Substantiv pirtûkê durch ein weiteres Wort bestimmt ist, wie z. B. nû (neu)? Ev wird zu vê aber kitêba nû bleibt, da Ezafe dominant ist: „ew vê pitûka nû dixwîne“ (er liest dieses neues Buch). - 104 - »» Dersa Penca(n) RONAHÎ #43 Achte auf die folgende Beispiele! Em vê pisîkê dig[i]rin. aber: Em vê pisîka reş dig[i]rin. Ew wê dersê dixwînin. aber: Ew wê dersa te dixwînin. devê vê pirtûkê dig[i]rî. Tu aber : Tu Ez aber : Ez devê vê pirtûka nûdig[i]rî. wê xwendekarê dibînim. wê xwendekara nû dibînim. II. Beim direkten Fall gibt es keinen Unterschied zwischen Singular und Plural. D.h. pirtûk bezeichnet sowohl „das Buch“ als auch „die Bücher“. Wobei im Kasus Oblikus alle Substantive im Plural die –an (bzw. –a in der gesprochenen Sprache) haben. Folglich lautet die Pluralform von pirtûk pirtûkan und von heval hevalan. Hier einige Beispiele: Ez keçan dibînim. Ich sehe die Mädchen. Tu hêkan dixwî. Du ißt Eier. Em çar kitêban dixwînin. Wir lesen vier Bücher. Der Plural von ev und ew sind van (diese hier) und wan (jene dort). Den vorangegangenen Beispielen fügen wir die Demonstrativ- Adjektive dazu: Ez van keçan dibînim. Tu wan hêkan dixwî. Em van çar kitêban dixwînin. Einige Beispiele die demonstrieren, dass die Ezafe- Endung erhalten bleibt, aber der Kasus Oblikus weggelassen wird: Ez keçên qelew dibînim. Tu hêkên spî dixwî. Em çar kitêbên we dixwînin. Wenn das Substantiv durch ein weiteres Wort näher bestimmt ist und mit den Demonstrativ- Adjektiven auftaucht, bleibt die Ezafe- Endung erhalten und die demonstrativen Adjektive erscheinen im Kasus Oblikus. Beispiele: Ez van keçan dibînim. aber:Ez van keçên qelew dibînim. Tu wan hêkan dixwî. aber:Tu wan hêkên spî dixwî. Em van çar kitêban dixwînin. aber:Em van çar kitêbên we dixwînin. - 105 - RONAHÎ #43 »» Dersa Penca(n) III. Wir haben als letztes den Maskulin im Singular zu behandeln, da sie ein wenig komplizierter ist. Ein maskuline Substantiv das von einem Demonstrativ- Adjektiv begleitet wird kriegt im Kurmancî die -î (-yî ) als Endung. Die Demonstrativ- Adjektive ev und ew werden zu vî und wî im Kasus Oblikus für maskuline Substantive. D.h. diese Hand (ev dest) und jener Bruder (ew bira) würden im Kasus Oblikus vî destî und wî brayî heißen. Achten Sie auf folgende Beispiele: Ew vî tiştî dixwaze. Er/Sie will diese Sache. Em wî kûçikî dig[i]rin. Wir fangen jenen Hund. Tu çima vî nanî dixwî? Warum ißt du dieses Brot? Ez wî çiyayî dibînim. Ich sehe jenen Berg. Die Unbestimmtheitsendung –ek (-yek) bekommt einen –î im Kasus Oblikus. Also sind bira-y-ek-î, dest-ek-î Formen im Kasus Oblikus. Beispiele mit dem unbestimmten direkten Objekt: Ew tiştekî dixwaze. Em kûçikekî dig[i]rin. Tu nanekî dixwî. Ez çiyayekî dibînim. Seien Sie nicht überrascht, wenn das Substantiv mit einem Wort näher bestimmt, im Kasus Oblikus steht, die Ezafe erhalten bleibt und die Oblikus- Endung verschwindet: Ew tiştê spî dixwaze. Em kûçikê te dig[i]rin. Tu nanê xwe dixwî. Ez çiyayê bilind (hoch/ ≠ nizm= niedrig) dibînim. Wie bereits erwähnt, wenn das Substantiv durch einen Demonstrative- Adjektiv und ein weiteres Wort bestimmt ist, so erscheint das Demonstrativ- Adjektiv im Kasus Oblikus (vî, wî), wobei das Substantiv die Ezafe- Endung bekommt. Hier einige Beispiele: Ew vî tiştî dixwaze. aber:Ew vî tiştê spî dixwaze. Em wî kûçikî dig[i]rin. aber:Em wî kûçikê te dig[i]rin. Tu çima vî nanî dixwî. aber: Tu çima vî nanê xwe dixwî? Ez vî çiyayî dibînim. aber:Ez vî çiyayê bilind dibînim. Bis hier unterscheiden sich die Formen des Maskulin Singular im Kasus Oblikus von den Formen des Feminin Singular nicht. Wenn das Substantiv (Maskulin Singular) ohne Demonstrativum allein im Kasus Oblikus ist, so ist die Form komplizierter. - 106 - »» Dersa Penca(n) RONAHÎ #43 Anstelle der Endung –î (-yî) ändert sich das Vokal e oder a der letzen Silbe. D.h. nanî wird zu nên, çavî wird zu çêv. Dieses nennt man Ablaut. Die Substantive, die keinen e und a in ihren letzten Silbe beinhalten, bleiben so wie sie sind in nördlichen Dialekten, dagegen in Behdinan und Hekarî bekommen sie die Endung –î (-yî). Daraus folgt das man die drei folgenden Formen für das maskuline Substantiv auswendig lernen muss: direkter Fall, einfaches Kasus Oblikus und Kasus Oblikus mit einen Demonstrativum. Die Liste der Substantive die wir bis jetzt hatten: aş êş vî aşî bav bêv vî bavî bira birê vî birayî çavçêvvî çavî destdêstvî destî devdêvvî destî gagêvî gayî hevalhevêlvî hevalî kiras kirês vî kirasî nannênvî nanî ÜBUNGEN 1. Übersetzen Sie! Ez te nabînim. Tu tiştekî naxwazî? Ew nag[i]rî. Em pisîkan nag[i]rin. Hûn derî nag[i]rin. Ew dersê naxwînin. Ew dersa pêşîn naxwîne, lê ew dersa diduyan dixwîne. Tu destê min nabînî. Hûn kitêban dibînin. Em hêkan dixwin. dixwaze. Tu pirtûkê dig[i]rî. Mamoste derî dig[i]re. Ew tiştan dibînin. Dara çiyê dibîne. Ew tiştekî 2. Verneinen Sie affirmative Sätze in der Übung 1 und wandeln Sie die negierten Sätze in affirmative Sätze, dann übersetzen Sie sie ins Deutsche! 3. Fügen Sie die Demonstrativen (ev oder ew) an den Sätzen der Übung 1 zu! Zum Bsp.: Ez xwendekarê dibînim. > Ez wê xwendekarê dibînim. 4. Fügen sie die Modifikationen (min,te oder Adjektive) an den Sätzen der Übung 1 hinzu! Zum Bsp.: Ez xwendekarê dibînim. > Ez xwendekara baş dibînim. 5. Fügen Sie die Zahlen 1-100 in 10 Sätze der Übungen Ihrer Wahl hinzu und übersetzen Sie sie ins Deutsche! - 107 - RONAHÎ #43 »» Buchvorstellungen Buchvorstellungen nicht mit Worten beschrieben werden, aber die Worte von hevala Sara sprühen vor Lebendigkeit und unbeschreiblicher Kraft des Widerstands. Sie beschreibt, wie selbst in den kontrolliertesten, berüchtigtsten Gefängnissen Zeitungen produziert, Widerstand organisiert und mit der Partei draußen kommuniziert wurde. Wie die Gefangenen PKK’ler_innen das Newroz-Fest von Mazlum Dogan, den 15. August und die ersten Volksaufstände (serhildan) eingesperrt miterlebten. Sie stellt dar, wie die Gerichtsprozesse abliefen und wie im Allgemeinen mit linken Gefangenen in der Türkei und Kurdistan umgegangen wurde. Sakine Cansiz zeigt uns in ihrem zweiten Buch erneut, was es bedeutet, eine Revolutionärin zu sein, was es bedeutet, an etwas zu glauben und dafür zu kämpfen. YXK Berlin Sakine Cansiz: „Mein ganzes Leben war ein Kampf“. 2. Band: Gefängnisjahre Sara | Sakine Cansız Im zweiten Teil ihrer Autobiografie schreibt Sakine Cansiz über ihre Gefängnisjahre. Von 1979 bis 1990 war sie in verschiedenen Gefängnissen in Kurdistan und der Türkei inhaftiert. Sie beschreibt in eindrücklicher Sprache, mit welcher Stärke sie dem türkischen Staat trotzte. Trotz intensiver Folter und dem Verrat anderer PKK’ler_innen, zeigte hevala Sara eine immense Kraft, mit der sie den anderen Gefangenen ein beispielloses Vorbild war. Durch ihre Überzeugung und den Glauben an die Partei verschaffte sie sich selbst unter den berüchtigsten Gefängniswärtern wie z.B. Esat Oktay Yildiran Respekt. Sie sorgte somit dafür, dass keine der Frauen Verrat beging. Die Folter in den Gefängnissen des türkischen Staates kann ISBN 394 532 6117 | Preis 12€ Verfügbar bei: Mezopotamien Verlags- und Vertriebs GmbH Gladbacher Str. 407B, 41460 Neuss Tel.: +49 (0) 2131 4069093 Email: [email protected] Weitere Bestelladressen: Cenî – Kurdisches Frauenbüro für Frieden e.V. Postfach 10 18 05 40009 Düsseldorf Tel: +49 (0) 211 5989251 Email: [email protected] ISKU | Informationsstelle Kurdistan e.V. Spaldingstr. 130–136 20097 Hamburg Tel: + 49 (0) 40 42102845 Email: [email protected] - 108 - Am 17. Jahrestag seiner Verschleppung fordern wir: Freiheit für Abdullah Öcalan Was passiert gerade in Kurdistan? De rI St e r r o r i s i e r tRo j a v a , u n ds e i nl a n g j ä h r i g e rHe l f e r , d e rt ü r k i s c h eP r ä s i d e n tE r d o g a n , t e r r o r i s i e r t d i ek u r d i s c h e nGe b i e t ei nd e rT ü r k e i . E r d o g a nh a ts i c hf ü rKr i e gu n dS t a a t s t e r r o rg e g e nd i eBev ö l k e r u n ge n t s c h i e d e n . Hu n d e r t ev o nt o t e nZ i v i l i s t e nu n dz e r b o mb t eS t ä d t es i n dd i eBi l a n zd e r l e t z t e nWo c h e n–n i c h ti nS y r i e n , s o n d e r ni nd e r T ü r k e i ! Autonomieforderungen Di eAu t o n o mi e ,d i es i c hd i eK u r d I n n e ni nRo j a v a( S y r i e n )e r k ä mp f th a b e n ,l ä s s td e nt ü r k i s c h e nS t a a ti mme ra g g r e s s i v e ra u fF o r d e r u n g e nn a c hme h rS e l b s t b e s t i mmu n gd e rK u r d I n n e n i nBa k u r( T ü r k e i )a g i e r e n . E r d o g a na b e rs c h l i e ß ta l l eGe s p r ä c h ek a t e g o r i s c ha u su n ds e t z tv o l l a u fBü r g e r k r i e gu n de i n e»mi l i t ä r i s c h eL ö s u n g «, d i ee sn i c h tg e b e nk a n n . Di ee i n z i g emö g l i c h e L ö s u n gs i n dGe s p r ä c h eü b e rd i ep o l i t i s c h e nF o r d e r u n g e nd e rk u r d i s c h e nBe v ö l k e r u n g . Unermüdlicher Einsatz für den Frieden S e i tv i e l e nJ a h r e nv e r s u c h tÖc a l a n , g ü n s t i g e r eBe d i n g u n g e nf ü re i n ef r i e d l i c h e , p o l i t i s c h eL ö s u n g Wer ist Abdullah Öcalan? d e sK o n fli k t sh e r b e i z u f ü h r e n .J a h r e l a n gf ü h r t ee rmi td e rt ü r k i s c h e nRe g i e r u n gGe s p r ä c h eü b e r e i n eL ö s u n g . 2 0 0 9l e g t ee rs e i n e»Ro a d ma pf ü rd e nF r i e d e n «v o r . 2 0 1 3s t o p p t es e i nAu f r u fz u m Abdullah Öcalan wird von Rü c k z u gd e rGu e r i l l ae f f e k t i vd e nb e wa f f n e t e nK o n fli k ti nd e rT ü r k e i .I mme rwi e d e ri s te rd i e Kurdinnen und Kurden als ihr politischer Repräsentant anS t i mmed e sF r i e d e n su n dd e r V e r n u n f t . gesehen. Als ihr bedeutends- Isolationshaft statt Gespräche ter Vertreter im Kampf um Do c hE r d o g a nwi l l wi l l d i e s eS t i mmez u mS c h we i g e nb r i n g e n . De s we g e ni s tÖc a l a na u fd e rI n s e l Rechte und Demokratie gilt er I mr a l i v ö l l i gv o nd e rAu ß e n we l ta b g e s c h n i t t e n . 1 1J a h r el a n gwa re rd e re i n z i g eHä f t l i n ga u fd e r als Symbol für die Freiheit der I n s e l –b e wa c h tv o nme h ra l s1 0 0 0S o l d a t e n . Nu ni s te re i n e rv o n4Hä f t l i n g e ni nI s o l a t i o n s h a f t . KurdInnen. Er wendet sich geS e i tE n d eJ u l i 2 0 1 1h a tÖc a l a nmi tk e i n e mAn wa l ts p e c h e nk ö n n e n . Öc a l a nh ä l ts od e n» E u r o p a - gen Separatismus und SezesRe k o r d «f ü rHa f to h n eZ u g a n gz uAn wä l t e n : ü b e r4½ J a h r e !S e i tAp r i l 2 0 1 5g a be sk e i n e r l e i Be - sionismus und präsentiert als s u c h eme h ra u fd e rI n s e l . Di e s eZ u s t ä n d ema c h e nI mr a l iz u ms c h l i mms t e nd e ro h n e h i nb e r ü c h- Lösungsperspektive einen det i g t e nt ü r k i s c h e nGe f ä n g n i s s e , z u mt ü r k i s c h e nGu a n t a n á mo . mokratischen Mittleren Osten mit gleichberechtigten VölÖcalans Freiheit ist notwendig Öc a l a n sF r e i h e i ti s tn i c h tn u re i n eF o r d e r u n gv o nMi l l i o n e nK u r d e n .Z u s a mme nmi td e rF r e i l a s - kern – wie es in Rojava (Nords u n gd e ra n d e r e np o l i t i s c h e nGe f a n g e n e ns t e l l ts i ee i n e nn o t we n d i g e nS c h r i t ta u fd e mWe gz u m syrien) vorgelebt wird. Die F r i e d e nd a r . Öc a l a nwi r da l l s e i t sa l sS c h l ü s s e l fi g u rf ü re i n e nwa h r e nF r i e d e n s p r o z e s sb e t r a c h t e t . weltweite Kampagne für seiE rh a te i n ef r i e d l i c h eL ö s u n ga u fd i eAg e n d ad e rK u r d e ng e s e t z t .S e i n e» Ro a d ma p «i s td e rb i s ne Freiheit hat 10,3 Millionen Unterschriften gesammelt. d a t oe i n z i g eu mf a s s e n d eF r i e d e n s p l a n . E rmu s sf r e i u n di nd e rL a g es e i nz uk o mmu n i z i e r e n . TIME Magazine kürte ihn Warum sind wir hier? 2013 zu einer der 100 weltDi ee r n e u t eT o t a l i s o l a t i o nÖc a l a n su n dd e rGe f ä n g n i s i n s e l I mr a l i wa rd a sS t a r t s i g n a l f ü rd i ej e t z i - weit einflussreichsten Perg e nE s k a l a t i o n .E r d o g a nt u ta l l e s ,u me i n ef r i e d l i c h eL ö s u n gz ub l o c k i e r e n . Wi rwo l l e nF r i e d e n sönlichkeiten. Er ist Autor u n de i n ed e mo k r a t i s c h eL ö s u n gi nK u r d i s t a nu n dd e rT ü r k e i . Wi rh a l t e nÖc a l a nmi ts e i n e nK o n- zahlreicher Bücher. z e p t e nf ü re i n ed e mo k r a t i s c h eAu t o n o mi ei ne i n e rd e mo k r a t i s c h e nRe p u b l i kf ü rd e nGa r a n t e n e i n e rs o l c h e nL ö s u n g . Wi rwo l l e ns e i n eF r e i h e i t , j e t z t ! Deshalb: Stopp der Massker in Kurdistan! Sofortige Aufhebung aller Belagerungen und Ausgangssperren! Respekt für die kurdischen Forderungen nach Autonomie! Nur freie Menschen können verhandeln: Freiheit für Öcalan und alle politischen Gefangenen in der Türkei! Isolationsfolter beenden, Imrali schließen! Frieden in Kurdistan Internationale Initiative »Freiheit für Abdullah Öcalan – Frieden in Kurdistan« P F1 0 0 5 1 1 , 5 0 4 4 5K ö l n , i n f o @f r e e d o mf o r o c a l a n . c o m, www. f r e e d o mf o r o c a l a n . c o m, www. f r e e o c a l a n . o r g F e b r u a r2 0 1 6