Idyllisches Niemandsland

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Idyllisches Niemandsland
Idyllisches Niemandsland
Anmerkungen zur Malerei von Tina Haber
„Das war schon merkwürdig, vor meinen Augen die Landschaft zu haben, die ich hunderte von Malen
auf dem Foto gesehen hatte. Die Tiefe wirkte erschreckend künstlich. Ich hatte weniger das Gefühl
angekommen zu sein, als den Eindruck, jemand hätte die Landschaft eilig dem Foto entsprechend
nachgestellt.“
Murakami Haruki, Wilde Schafsjagd
Francis Crick war wahrhaftig kein Esoteriker. Bei den Freuden der Menschen, ihren Leiden, ihren
Erinnerungen, ihren Zielen, ihrem Sinn für Ihre eigene Identität und Willensfreiheit - bei alldem handele es
sich in Wirklichkeit nur um „das Verhalten einer riesigen Ansammlung von Nervenzellen und dazugehörigen
Molekülen“, formulierte er in seinem 1994 erschienenen Buch „Was die Seele wirklich ist“. Gemeinsam
mit seiner Kollegin Margaret Mitchison entwickelte der für seine Entdeckung der DNA nobelpreisgekrönte
englische Molekularbiologe die Theorie, dass der Traumschlaf nichts anderes als eine Art „Selbstreinigu
ngsversuch“ des Gehirns darstelle. Er war der Überzeugung, dass das Gehirn die Gelegenheit nutze, um
überschüssige, „abgenutzte“ Bilder, Erinnerungen oder Assoziationen zunächst aufzurufen, und sie dann
aus seinem Speicher zu löschen. Dieses „reverse Lernen“ solle, so Crick, ein „Überlaufen“ des neuronalen
Netzes verhindern und Platz für Neues schaffen.
Tina Habers Gemälde zeigen Park- und Heidelandschaften, Gebirgspanoramen, nächtliche Palmenstrände,
Topfpflanzen und Vasen-Arrangements. Sie wirken, als entstammten sie dem Traumschlaf einer Malerei,
die in einem Akt der Selbstreinigung die unzähligen, abgenutzten Bilder aufruft, die ihr Gedächtnis bis zum
Überlaufen verstopfen. All die Motive, an denen sich Kunstschüler, Naturalisten, Volkshochschulkurse und
Expressionisten versucht haben – Motive mit traditionellen Themen wie Stillleben, Portrait und Landschaft,
die in unendlich vielen Versionen in Apotheken- und Bäckerzeitschriften und Kalendern oder als Fototapete
gedruckt worden sind. Mit diesen Motiven würde sich die Malerei in ihren Träumen auch der Demütigungen
entledigen, die sie durch die massenhafte, banale Reproduktion erleben musste. Gerne würde sie die
Flure in Altersheimen vergessen, in denen Van Goghs Kornfelder auf billigen Abreißkalendern die Verse
Salomons und Aphorismen Jean Pauls illustrieren, die Großküchen, in denen Berghänge und Mohnfelder
von Fettschwaden umweht werden, die bunten, traurigen Flecke an Bürowänden, die aussehen wie Strände
oder Gärten, in denen man niemals ankommt.
„Tulpen“ ist der lapidare Titel einer 2005 entstandenen, großformatigen Gouache
auf Hartfaserplatten, auf der Tina Haber eine verschwommene Parklandschaft abbildet. Das Bild mutet an,
als sei es durch ein Säurebad gezogen worden: Wässrig zerläuft das Grün aus Baumkronen und
Rasenflächen, fleckig tritt leuchtendes Rot und sattes Gelb aus Blütenfeldern hervor. Habers Malerei führt in
eine Art idyllisches Niemandsland, das merkwürdig ort- und zeitlos erscheint. Durch den wiederholten,
wässrigen Farbauftrag vergröbern sich die von ihr aufgegriffenen Motive. Auf den spröden Oberflächen der
häufig Wand füllenden Gouachen, die sie aus mehreren Hartfaserplatten zusammensetzt, entstehen neue,
kontemplative Landschaften. Während sich die Motive in Farbe, Licht und Schatten zersetzen und sich
immer weiter von ihren realen Vorbildern ablösen, scheint es, als würde die Essenz ihrer Entstehung zu
Tage treten – all die individuellen und kollektiven Erinnerungen und Sehnsüchte, mit denen sie aufgeladen
sind, die massenmedialen und kunstgeschichtlichen Transformationen, die sie durchlaufen haben, das
populistische Lebensgefühl, das ihre Vereinnahmung als Souvenir, Einrichtung und Dekoration kennzeichnet.
Es ist der Bruch zwischen kollektiven, standardisierten Schönheitsvorstellungen und der grenzenlosen
Banalität, die sich in idealisierten Landschaften, Stillleben und Portraits offenbart, die Haber interessiert:
„Die starke Verbreitung und permanente Anwesenheit dieser Bilder in privaten und öffentlichen Räumen
führt zu einem Abnutzungsprozess – sowohl auf einer visuellen als auch einer inhaltlichen Ebene. Die Bilder
erschöpfen sich an der Oberfläche. Während sie mit einer allseits bekannten Symbolik überfrachtet sind,
mangelt es ihnen an wirklicher Substanz. Das führt zu einem Missverhältnis, das geradezu gespenstische
Züge annehmen kann. An diesem Punkt setze ich mit meiner Malerei an. Ich suche nach einem noch
spürbaren Rohzustand der strapazierten Motive.“ Um diesen „Rohzustand“ sichtbar oder erfahrbar zu
machen, geht Haber einen paradox anmutenden Weg. Sie lässt ihre Motive nicht zur Ruhe kommen, sie
verleiht ihnen auch keine verloren gegangene Würde, sondern sie strapaziert sie nach allen Kräften weiter.
Das Fototapeten - Motiv, das ihrer Arbeit „Pool 1“ (2005) zugrunde liegt, zeigte ursprünglich die romanischen
Bögen eines Klostergangs, durch die man über ein Schwimmbecken hinweg auf das blaue Meer
hinausblickt. Die Sicht aus dem zivilisierten, begrenzten „Inneren“ hinaus in die unendliche Weite der Natur
ist spätestens seit der Malerei der deutschen Romantik symbolisch befrachtet. Caspar David Friedrichs
Figuren versenken sich mit dem Betrachten des Naturschauspiels in das Göttliche. Die dunkle, irdische
Gegenwart verbindet sich mit dem hellen, überirdischen Jenseits, einer verheißenden Zukunft. Ein ähnlicher
Blick findet sich auch in Katalogen für Pauschalreisen oder eben auf Fototapeten wieder. Selbst wenn der
„Blick nach draußen“ inzwischen durchaus säkularisiert erscheint und zum Klischee geworden ist, vermittelt
er nach wie vor dieselben Gefühle: Fernweh und die Sehnsucht nach Transzendenz.
Auf Habers „Pool“- Gemälde scheint der klassische Kontrast zwischen Innen und Außen auf die Spitze
getrieben. Der Säulengang erscheint so dunkel und schwer wie ein Kerkerverlies, reduziert auf die reine
Form. Ohne ablenkende Details blickt man direkt auf eine imaginäre, jenseitige Landschaft hinaus, in
der lichtes Grün und Himmelblau zu einer monströsen Idylle verschwimmen, die eigentlich nur noch der
Vorstellung einer Landschaft entspricht. Denn tatsächlich trifft der Blick ins Freie auf eine Wand aus Farbe.
Dort, wo eigentlich der Himmel, das Meer, Berge oder eine Reihe von Baumkronen liegen müssten, findet
sich ein abstraktes Gemisch aus alledem – eine ausgewaschene Projektionsfläche, die eine Vielzahl von
anderen Bildern nachhallen lässt, andere Orte, die erinnert, erdacht, gemalt oder abgemalt wurden. In
der Lasur von Habers Werken gerinnen Kunstgeschichte und Spuren von Erzählungen zu traumartigen
Momentaufnahmen.
Der Eindruck von Räumlichkeit entsteht bei Haber durch den Kontrast zwischen Schärfe und Unschärfe, der
zwar einen Vorder- und Hintergrund definiert, aber beide aufeinander prallen lässt wie zweidimensionale
Flächen. Wie die Falz eines Posters oder die Linien zwischen den Bögen einer Fototapete ziehen sich die
Rillen zwischen den Hartfaserplatten über Habers Wand füllende Gemälde, die die „gute alte Zeit“ abbilden
wie eine verlassene Kulisse. Hierin ähneln sie den Bildern des Malers
Peter Doig. Dessen auf Schnappschüssen, Film- und Zeitungsbildern beruhende
Bilder hat der Londoner Kunstkritiker Adrian Searle als „kostümierte Historienmalerei“ bezeichnet, deren
Szenerien „falsch wie ein aufgeklebter Bart sind“. Wie bei Doig ist es auch auf Habers Bildern fast unmöglich
festzustellen, wo die Wahrheit liegt, was gesehen oder was erfunden wurde, und was wir selbst erfinden.
Vertraut und anonym zugleich, könnten ihre an- und aufgelösten Landschaften sowohl Déjà-vu- als auch
Jamais-vu-Erlebnisse auslösen, wie sie sich in Momenten größter Erschöpfung einstellen: ein falsches
Wiedererkennen oder das Gefühl von Fremdheit in einer vertrauten Umgebung.
Oliver Koerner von Gustorf
Idyllic No Man’s Land
Remarks on the paintings of Tina Haber
“Still, it was unsettling seeing with my very own eyes a scene I had by now seen hundreds of times in a
photograph. The depth of the actual place seemed artifical. Less my being there than the sense that the
scene had been temporarily thrown together in order to match the photograph”
Haruki Murakami, A Wild Sheep Chase: A Novel
Francis Crick was by no means a mystic. As he wrote in his book, The Astonishing Hypothesis: The
Scientific Search for the Soul (1994): “You, your joys and your sorrows, your memories and your ambitions,
your sense of personal identity and free will, are in fact no more than the behavior of a vast assembly of
nerve cells and their associated molecules.” The English molecular biologist, who was awarded the Nobel
Prize as co-discoverer of DNA, had developed the theory with his colleague Margaret Mitchison, that dream
sleep represents nothing more than the brain’s attempt at “self-cleansing.” He was convinced that the brain
uses this opportunity to first call up “superfluous and disturbing” images, memories and associations, and to
then erase them from the cortex. This “reverse learning” is, according to Crick, designed to prevent an
overcrowding of the neural network and thus create space for the new.
Tina Haber’s paintings portray park and country landscapes, mountain panoramas, nocturnal palmed
beaches, arrangements of potted plants and vases. They seem to have emanated from the dream sleep of
painting which, in its act of self-cleansing, has called up all those countless, worn-out images clogging its
memory to overflowing. All the motifs that have engaged art students, naturalists, community college
professors and expressionists – motifs with such traditional subjects as the still-life, portrait and landscape,
which have been printed in an endless multiplicity of versions in druggist or baker’s newsletters, as calendars
or as photo wallpaper. With these motifs, painting in its dreams is also relieved of the humiliation it has
endured through a multitude of banal reproductions. It would gladly forget the corridors of nursing homes in
which Van Gogh’s corn fields illustrate verses by Solomon or aphorisms by Jean Paul on cheap tear-off
calendars, the cafeteria kitchens in which mountainsides and poppy fields are smudged with layers of
grease, the colorful, sad spots on office walls that look like beaches or gardens at which one never arrives.
“Tulpen” (Tulips, 2005) is the succinct title of a large format gouache on panels of hardboard, upon which
Tina Haber depicts the blurry landscape of a garden park. The picture appears to have been put in an acid
bath: green melts like running water from the lawn and crowns of trees, blotches of bright red and lush yellow
obtrude from the fields of blooms. Haber’s painting leads one into a sort of idyllic no man’s land that seems
curiously out of time and place. Through the repeated watery applications of color the motifs selected
become crude. On the rough surfaces of the often wall-sized gouaches that she assembles from multiple,
panels of hardboard, new contemplative landscapes are created. As the motifs disintegrate into color, light
and shadow and become ever-further detached from their real subjects, the true essence of their creation
appears – all the individual and collective memories and longings with which they are charged, the massmedia and art-historical transformations through which they have passed, the populist attitude towards life
that characterizes their collection as souvenir, furnishing or decoration.
It is the break between collective, standardized concepts of beauty and the boundless banality manifested in
idealized landscapes, still-lives and portraits that interests Haber: “The extensive dissemination and permanent presence of these images in
private and public spaces leads to a process of erosion – on the level both of the visual and of content. On
the surface, the images are exhausted. Although over-loaded with well-known symbolism, they are devoid
of true substance. This leads to a disparity that can take on an utterly eerie quality. It is at this point that I
situate myself with my painting. I am looking for a natural state of these worn out motifs that is still palpable.”
In order to make this “natural state” visible or experienced, Haber takes a seemingly paradoxical route. She
does not allow her motifs to come to rest, she confers no lost dignity upon them, but instead, she further
exhausts them to extremes.
The photo wallpaper motif that underlies her work “Pool 1” (2005) originally showed the romantic arches of a
cloister portico through which it is possible to look out over a swimming pool to the blue sea. This view from
a civilized, finite “interior” out into the infinite vastness of nature has been symbolically transported since the
painting of the German Romantics. Caspar David Friedrich’s figures are submerged into the divine through a
contemplation of the spectacle of nature. The dark, earthbound present is connected with the light,
transcendental hereafter – a promising future. Similar vistas are also to be found in catalogues for package
tours or even again on photo wallpaper. Even when the “view beyond” has meanwhile come to seem
completely secularized and cliché, it still continues to communicate that same feeling of wanderlust and the
longing for transcendence.
In Haber’s “Pool” painting the classic contrast between inside and outside seems to be taken to extremes.
The arched portico seems as dark and heavy as a prison dungeon reduced to pure form. One looks out
directly, without distracting details, upon an imaginary, otherworldly landscape in which bright green and skyblue melt into a monstrous idyll that only just approximates the idea of a landscape. In reality, our gaze into
the beyond is met with a wall of color. There, where the sky, the sea, mountains or a row of treetops should
properly lie, is found only an abstract mélange of all of them – a washed-out projection surface that echoes
with a multitude of other images, other places remembered, conceived, painted or portrayed. In the glaze of
Haber’s works art history and traces of narratives coalesce into dreamlike snapshots.
The impression of three-dimensionality is created in Haber’s works through the contrast between sharpness
and blurriness, which despite defining a fore and background nonetheless allows them to collide with each
other like two-dimensional surfaces. Like the crease of a poster or lines between sheets of photo wallpaper,
the grooves stretch between the hardboard panels of Haber’s wall-sized paintings, which portray the “good
old days” like a deserted set. In this they resemble the works of painter Peter Doig, whose images, based on
snapshots and pictures from films and newspapers, have been described by the London art critic Adrian
Searle as “costumed historical painting” with sceneries that are “as fake as a glued-on beard.” As in Doig’s
work, it is also almost impossible in Haber’s images to determine where the truth lies, what was seen or
invented, and what we ourselves invent. Simultaneously familiar and anonymous, her tinctured landscapes
are capable of triggering both déjà-vu as well as jamais-vu experiences, as they occur in moments of
extreme exhaustion: a false recognition or the feeling of strangeness in familiar surroundings.
Oliver Koerner von Gustorf