Das Geheimnis von Val Mentiér

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Das Geheimnis von Val Mentiér
Das Geheimnis von Val Mentiér, Roman • © 2008 - 2010 by Frank Adlung, Braunschweig • http://www.sternenlade.de
Erstelldatum 12.08.2010 10:44
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Frank Adlung
Das Geheimnis von Val Mentiér
Roman
Wichtiger Hinweis: Die Texte des Autors Frank Adlung, insbesondere die des Romans "Das Geheimnis von Val
Mentiér", sind durch notarielle Hinterlegung urheberrechtlich geschützt. Ein Herunterladen und Ausdrucken ist nur
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Verfälschung des Inhalts, sowie öffentliche Verbreitung ohne Genehmigung des Autors sind untersagt und werden
zur Anzeige gebracht und strafrechtlich verfolgt.
Sind wir schon bereit...
...für eine neue Wahrheit?
...für eine neue Definition der Zeit?
...für eine zweite Welt?
...für das größte Geheimnis der Menschheit?
In diesem Roman stolpert der Freizeitalpinist Sebastian Lauknitz ungewollt in eine
ihm völlig unbekannte, neue Welt voller Wunder und Gefahren. Plötzlich findet sich der
Romanheld in einem ganz neuen Leben wieder, in einem Leben nach dem Tod, wie er glaubt,
das er zunächst erst einmal begreifen lernen muss. Die temperamentvolle, sensible und grazile
Schönheit Antarona, sowie ein seltsamer Arzt helfen ihm dabei, verschweigen ihm aber ein
ungeheuerliches Geheimnis...
Frank Adlung
31.08.2010
Das Geheimnis von Val Mentiér, Roman • © 2008 - 2010 by Frank Adlung, Braunschweig • http://www.sternenlade.de
Erstelldatum 26.06.2011 06:21
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Für Hellas
Ich träumte.., und ich sah dich!
Ich wachte.., und ich sah dich!
Ich begann zu schreiben.., und ich sah dich!
Ich lese meine Geschichte..,
und ich sehe unser Leben...
...das uns das Schicksal nicht vergönnte.
Frank Adlung
26.06.2011
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Erstelldatum 06.04.2011 23:42
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Prolog
Es begann leicht zu nieseln, als Martin Fährkamp die letzten Häuser der Stadt hinter sich ließ und das
Gaspedal auf der geraden, freien Strecke beinahe durch das Bodenblech trat. Die Beschleunigung drückte ihn
sanft in den Sitz seines Audi Twister und ein Gegenstand auf dem Beifahrersitz machte einen Satz gegen die
Rückenlehne. Fährkamp legte fast beschützend seine Hand darauf, um sicher zu gehen, dass der Grund seines
Betriebsausflugs nicht im Fußraum verschwand.
Ein Buch lag neben ihm auf dem Sitz und eigentlich sollte man das bei dem Journalisten eines der
größten deutschen Boulevardblätter nicht für außergewöhnlich halten. Doch der Anblick dieses Buches zog
jeden, der es sah, automatisch in seinen Bann. Ein Buch war freilich nichts Ungewöhnliches. Doch schon der
lederne Einband dieses Exemplars würde jeden Antiquar faszinieren. Das runde Symbol einer Sonnenkachina
und mehrere geheimnisvolle, unbekannte Zeichen waren in das schmutzige, dunkle und rissige Leder geprägt.
Martin lächelte bittersüß, als er daran dachte, dass er für diese Lektüre fast seinen Job aufs Spiel gesetzt
hatte. Einige Male schon hatte er Streit mit seinem Chefredakteur Meier-Witt, weil er Hinweisen auf eine
sensationelle Story all zu intensiv nachgegangen war. Journalistenarbeit ist nüchterne Schreibtischarbeit, war
dessen Devise. Martin Fährkamp allerdings besaß das nicht immer gesunde Talent, hinter jeder Story ein
Abenteuer zu wittern. Doch er wusste auch, dass dies sein Erfolgsrezept war, mit dem er sich in nur drei Jahren
vom einfachen Volontär bis in die oberste Kaste der freien Journalisten hochgearbeitet hatte.
Als Martin das ledergebundene Buch vor zwei Wochen zufällig auf einem Göttinger Flohmarkt
entdeckte, war es wohl seine journalistische Neugier, die ihn dazu bewog, es zu kaufen. Und zunächst sah es so
aus, als wäre nur der seltsam gestaltete Umschlag interessant. Der Inhalt schien Fährkamp eher unwichtig. Er
machte den Eindruck eines Tagebuchs, von einem vor Phantasie übersprudelnden Sechstklässler verfasst. Gegen
den antik aussehenden Lederumschlag sah der Einband direkt billig aus: Ein in jedem Papierwarengeschäft
erhältliches liniertes Tagebuch, sehr eng und klein beschrieben und mit phantasievollen Zeichnungen versehen.
Einige Seiten waren mit einer Geheimschrift beschrieben, wie sie Schüler oft für intime Eintragungen
verwendeten. Fast hätte Martin den Lederumschlag vom Band getrennt, hätte er seinen Flohmarktkauf nicht
zufällig seinem früheren Schulfreund, einem anerkannten Anthropologen gezeigt:
»Hier haben wir einmal einen Schüler, der seine Freizeit nicht bei einem Ballerspiel am Computer
verbringt«, begutachtete sein Freund das Buch. »Wer das verfasst hat, war im Unterricht sehr aufmerksam.
Dieser hier hat nicht nur in Geschichte aufgepasst, er hat in seiner Phantasie die Geschichte in einer
mittelalterlichen Epoche der Menschheit einfach umgeschrieben, um nicht zu sagen umgelenkt! Mensch Martin,
du bist ständig auf der Suche nach der einen guten Story. Hier hast du mal einen außergewöhnlich begabten
Schüler mit einer für einen Jugendlichen viel zu ausgeprägten Handschrift. Schreib doch mal darüber, was ein
talentiertes Kind in der Lage ist, hervorzubringen!«
Dieses Urteil seines Freundes war für Fährkamp der Stein des Anstoßes. Die Nachforschungen am
Rande seiner Arbeit brachten jedoch nichts zu Tage, das wert gewesen wäre in der Zeitung zu erscheinen. Der
einzige Hinweis auf den Autor des handgeschriebenen Buches fand sich in der oberen linken Ecke der ersten
Seite: Basti Lauknitz stand da zu lesen.
Martin Fährkamp hatte nie viel für Bücher übrig, es sei denn, sie dienten irgendwelchen Recherchen.
Dieses Tagebuch jedoch ließ ihn nicht mehr los. Er studierte Seite für Seite und es las sich wie ein in
Stichworten verfasster Abenteuerroman. In seinem Journalistenkopf arbeitete es. Er malte sich in Gedanken aus,
einen jugendlichen, hochtalentierten Schriftsteller mit seiner Hilfe zum berühmten Autoren zu machen.
Exklusivbericht - Der Weg von der Schulbank zum Bestsellerautor, die Schlagzeile sah er im Geiste schon
gedruckt. Und er, Martin Fährkamp, würde diesen jungen Autor auf seinem literarischen Ruhmesweg mit seiner
regelmäßigen Kolumne begleiten. Doch irgendwie war da noch mehr...
Fährkamp hatte meist den richtigen Riecher für eine große Story. In diesem Fall ließ ihn das Gefühl
nicht mehr los, dass hinter diesem Tagebuch mehr stecken könnte, als nur die Phantasien eines Jugendlichen.
Martin fuhr mit dem Buch zu Kurt Brauchtreu, einem Restaurator im Kunsthistorischen Museum, der ihm noch
einen Gefallen schuldig war. Brauchtreu behielt das Buch drei Tage. Dann rief er Fährkamp an und sie
verabredeten sich im Museum. Das Ergebnis der Untersuchung war enttäuschend. Allerdings nicht für Martin
Fährkamp. Das Leder des Umschlags konnte keinem bekannten Tier zugeordnet werden. Kurt Brauchtreu hatte
viele uralte, ledergebundene Bücher untersucht und klassifiziert. Hier aber musste er passen. Für Fährkamp war
dies erst recht ein Grund weiter nachzuforschen. Er musste den Autor dieses Tagebuchs finden! Er war der
Schlüssel zu diesem sonderbaren Werk.
Martin gab den Namen Basti Lauknitz in eine Internet-Suchmaschine ein, ohne sich viel davon zu
erhoffen. Er fand zwei Einträge. Zum einen gab es einen Berliner Stadtteil Lauknitz, zum anderen einen
Sebastian Lauknitz, der im Zusammenhang mit einem Ehemaligentreffen angezeigt wurde. Fährkamp klickte auf
diesen Eintrag. Es handelte sich um ein Klassentreffen einer Einschulungsklasse Jahrgang 1968 einer kleinen
Dorfschule bei Braunschweig in Niedersachsen.
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Dieses Klassentreffen war der einzige brauchbare Hinweis, dem Fährkamp nachgehen konnte. Weitere
Recherchen musste er vor Ort führen, um weiter zu kommen. Er kannte schon im Voraus die Reaktion seines
Chefredakteurs, als er um einen offiziellen Auftrag in dieser Sache bat. Sein Vorgesetzter hielt nichts von einem
journalistischen Riecher für eine große Story und schon gar nichts davon, dass Fährkamp auf Kosten des
Verlagshauses in das zweihundert Kilometer entfernte Braunschweig fahren wollte. Er hörte sich etwas an von
»...dummer Jungenstreich als vager Hinweis auf Nichts« und »...wissen Sie noch, damals, die Sache mit Hitlers
Tagebüchern..., war auch ein Riesenflop damals...« Fährkamps Chef kannte nur eine Antwort auf so ein
unsicheres Unternehmen: Nein!
Der Journalist Martin Fährkamp aber war stolz auf seinen Dickschädel. Fünf Zentimeter an der
dünnsten Stelle! Das Zauberwort hieß: Überstundenabbau! Vier Tage blieben Fährkamp für seine
Nachforschungen. In dieser Zeit suchte er drei Schulen auf, besuchte zwei pensionierte Lehrer, befragte die
Bewohner eines kleinen Dorfes und die Nachbarn einer Stadtwohnung, die mit einem Sebastian Lauknitz
jahrelang Tür an Tür wohnten, ihn aber dennoch so gut wie nicht kannten. Schließlich bekam er einen
entscheidenden Hinweis von einer Angestellten des Einwohnermeldeamtes, was insofern erstaunlich war, als
solche Institutionen Auskünfte für gewöhnlich wie Kostbarkeiten vergaben.
Martin Fährkamp fuhr stadtauswärts. Sein Ziel auf der regennassen Landstraße war eine Einrichtung
mit dem nüchternen Namen Psychotherapeutische Klinik Rosenberg. Martin dachte daran, dass man noch vor
einigen Jahren weitaus weniger zimperlich war, mit der Beschreibung solcher Orte. Die abwertende
Bezeichnung Irrenanstalt war heute gottlob endgültig überholt.
Eine Ansammlung von Häusern, eine Ampel und eine Kreuzung. Fast wäre Fährkamp an seinem Ziel
vorbeigerauscht. Er schaffte es gerade noch, sich einzuordnen und nicht aus der Kurve zu fliegen. Er bog in die
Einfahrt der Anstalt ein und lenkte seinen Twister auf einen Seitenstreifen neben einem Glashäuschen, auf dem
»Information« stand...
Dreißig Minuten später ging Martin in Begleitung eines Pflegers über das Klinikgelände, das
geheimnisvolle Tagebuch lässig unter den rechten Arm geklemmt. Links und rechts wurde er von Gestalten
angestarrt, die wie lauernde Gespenster an Hauswänden oder unter Bäumen herumstanden. Gestalten, die aus
leeren oder unnatürlich großen Augen blickten, wirre, zusammenhanglose Sätze sprachen, oder versuchten, ihn
zu berühren. Fährkamp lief ein eiskalter Schauer über den Rücken. Das nasse Wetter war allerdings kaum
Schuld daran. Martin hatte bereits aufgegeben, sich den Weg einzuprägen, den sie gingen. Der Pfleger im
weißen Arbeitsanzug führte ihn in ein größeres, dreistöckiges Gebäude, durch annehmlich gestaltete Gänge und
schließlich in einen gemütlichen Raum, der ihn an einen Gemeinschaftsraum in einem Seniorenheim erinnerte.
»Warten sie hier bitte einen Moment..., nehmen sie solange Platz«, sagte sein Begleiter und verschwand
wieder auf dem Flur. Hinter der angelehnten Tür drangen gedämpfte Geräusche an Fährkamps Ohr. Er wanderte
um einen großen Tisch herum, den eine lachsfarbene Tischdecke und ein Blumenarrangement zierte. In der Ecke
stand ein moderner Plasmafernseher mit Heimkinoanlage. Ein großes Regal an der Wand gegenüber beherbergte
Bücher und Bildbände, zusammengewürfelt aus allerlei Themen, die miteinander nichts gemein hatten. Bunte,
aber potthässliche Bilder hingen an allen vier Wänden. Alle schienen vom gleichen Künstler gemalt und ein
geübtes Auge erkannte sofort, dass die Werke nach der vorherrschenden Farbe des taubenblauen Teppichs
ausgewählt wurden. Die Vorhänge an den Fenstern waren in einem ansprechenden Violett gehalten. Ein
kleinerer runder Tisch stand etwas verloren vor den Fenstern. Auf ihm türmten sich verschiedene Zeitschriften,
unter anderem ein paar Ausgaben, in denen Fährkamp seine eigenen Reportagen wusste. Eine geschmacklose
Deckenlampe aus den Siebzigern warf ungesundes Licht in den Raum.
Die Tür öffnete sich wieder und der Pfleger kam mit einem älteren Mann zurück. Fährkamp schätzte ihn
auf Mitte Fünfzig. Das gepflegte Äußere des Mannes konnte jedoch leicht über sein wahres Alter
hinwegtäuschen. Er hatte ein freundliches Gesicht, klare, strahlende Augen, graues, volles Haar und einen
Dreitagebart aus glitzernd weißen Haarstoppeln. Dieser Mann strahlte Integrität, Intelligenz und Offenheit aus.
Aber auch etwas Geheimnisvolles, etwas Unergründliches, wie eine Angst, einen Ausschluss von Erlebnissen
aus seinem Herzen und seinem Geist. In sein Gesicht hatten sich leichte Falten gegraben, die ihn nicht älter
erscheinen ließen, dennoch von einem sehr bewegten Leben erzählten. Trotzdem schien seine Haut einem
jüngeren Menschen zu gehören. Alle Eigenschaften dieses Mannes passten irgendwie nicht zueinander, ließen
viele Widersprüche in sich vermuten.
»Lauknitz..., Sebastian Lauknitz, sie möchten mit mir sprechen?« Seine offene Begrüßung überraschte
Fährkamp, denn sie passte ganz und gar nicht in diese bedrückende Kulisse einer psychiatrischen Klinik. »Wir
können uns setzen«, bot Lauknitz mit einer Handbewegung an und fuhr fort: »Möchten Sie einen Kaffe, einen
Tee, oder ein Glas Wasser?« Sebastian Lauknitz wies mit der offenen Hand zur Tür: »Wir haben hier auch eine
gemütliche Caféteria, wenn sie möchten.«
Der Pfleger im Hintergrund murmelte irgendetwas von »...später noch mal wieder...« und schloss die
Tür hinter sich. Lauknitz setzte sich und bot Fährkamp den Platz ihm gegenüber an. Martin Fährkamp zog es
jedoch vor, stehen zu bleiben. Er legte das alte Tagebuch vor Sebastian Lauknitz auf den Tisch und wusste
sofort, dass er voll ins Schwarze getroffen hatte.
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Lauknitz starrte auf das Tagebuch vor sich und seine Gedanken schienen ihn augenblicklich in weite,
unendliche Fernen zu entführen. Er sah nur auf das Buch, bewegte sich nicht und sprach nicht. Sein Gesicht
zeigte keinerlei Regung, als sei es plötzlich zu Stein geworden.
Diese Apathie wurde Fährkamp allmählich unheimlich. Er beugte sich zu Lauknitz herab und fragte
vorsichtig: »Kennen sie dieses Buch?«
Sebastian Lauknitz reagierte nicht. Seine Augen schienen auf das Sonnensymbol auf dem
Lederumschlag festgenagelt. Man hätte eine Stecknadel im Raum fallen lassen können, sie wäre aufgeschlagen,
wie eine Porzellantasse.
Fährkamp forschte jetzt eindringlicher nach: »Sie sind doch Basti Lauknitz, der Basti Lauknitz, der
seinen Namen in dieses Buch geschrieben hat, oder?« Martin Fährkamp sah sich hilflos um. Dann versuchte er
es erneut:
»Hören sie, Herr Lauknitz, wenn ich sie erschreckt habe, oder alte Wunden berührt habe, dann tut es
mir leid, ehrlich. Aber können sie mir sagen, ob sie dieses Buch geschrieben haben, oder ob es ihnen gehört?
Vielleicht können sie mir etwas über dieses Buch erzählen, ich wäre ihnen sehr dankbar dafür!«
Allmählich löste sich Sebastian Lauknitz aus seiner Reglosigkeit. Er erhob sich langsam, fast feierlich
von seinem Stuhl, sah Fährkamp eindringlich an und sprach leise: »Herr Fährkamp.., ich bedanke mich für ihren
Besuch, aber es ist wohl besser für uns alle, wenn sie jetzt wieder nach Hause fahren. Und bitte... Kommen sie
nicht mehr wieder!«
Ein Journalist gibt nicht auf. Fährkamp versuchte seinen Gegenüber zu beruhigen: »Bitte, warten sie..,
ich möchte nur etwas über das Buch wissen...« Er schob sich zwischen Sebastian Lauknitz und die Tür, ging
dann aber wieder zum Tisch hinüber. Er wollte Lauknitz nicht zu sehr bedrängen. Wenn dieser sich unter Druck
gesetzt fühlte, erfuhr er vielleicht nie, was es mit dem rätselhaften Buch auf sich hatte.
Als Lauknitz zögerte, sich zurückzuziehen, sah Fährkamp seine Chance: »Von welchem Tier stammt
das Leder des Umschlags? Und was ist das für eine Geheimschrift?« Er ließ seine Worte wirken.
Lauknitz schien wieder in seine Apathie zu verfallen. Er setzte sich auf den Stuhl zurück, langsam,
innerlich abgekämpft, wie ein Kriegsheimkehrer. Er machte eine müde Handbewegung, als wolle er alles
Unangenehme von sich fortwischen. Dann sah er Fährkamp aus leeren Augen an: »Warum wollen sie das
wissen?«
»Weil ich glaube, dass ein Schicksal hinter diesem Buch steckt. Ein Schicksal, das es wert wäre, den
Menschen dieser Welt davon zu erzählen. Und weil ich die Wahrheit herausfinden möchte.« Fährkamp machte
eine Pause, bevor er nachhakte: »Das wollen sie doch auch, dass alle die Wahrheit kennen, oder?«
Fährkamp setzte jetzt alles auf eine Karte, weil er fühlte, dass die nächsten Minuten darüber entscheiden
würden, ob es eine Story geben würde, oder nicht. Oh ja, er wusste, dass es eine Geschichte gab, das erzählte
ihm seine journalistische Erfahrung. Doch ob er diese Story jemals bekommen würde, hing davon ab, wie weit
sich Lauknitz ihm anvertrauen würde.
»Ok«, drängte der Journalist weiter, »wir haben den Umschlag genau untersucht. Das Leder stammt von
keinem der Menschheit bekanntem Tier. Auch der Code der Geheimschrift konnte selbst mit der besten Software
nicht dechiffriert werden. Können sie nicht verstehen, dass mich das neugierig macht und ich die Wahrheit
erfahren möchte?«
»Die Wahrheit..?« Lauknitz sah ihn eindringlich an, schüttelte leicht den Kopf. »Welche Wahrheit
meinen sie denn?«
»Es gibt immer nur eine Wahrheit auf der Welt«, stellte Fährkamp entschlossen fest. Aber in diesem
Augenblick war er sich nicht mehr so sicher. Sein Gefühl sagte ihm, dass er einer Sache auf der Spur war, die zu
begreifen er vielleicht gar nicht in der Lage war.
»Ja, es gibt nur eine Wahrheit auf der Welt...«, gab Lauknitz müde zu, »...aber wenn einem die
Wahrheit nicht geglaubt wird...« Sebastian Lauknitz stützte sich mit den Ellenbogen auf die Tischplatte und
schlug sich die Handflächen vor die Augen. »Was aber, wenn es nicht nur eine Wahrheit gibt, weil es eben nicht
nur eine Welt gibt?« Aus Lauknitz Mund klang dies nicht mehr als eine Frage. Es klang wie eine Feststellung!
Fährkamp wollte nun alles wissen, um jeden Preis: »Wie meinen sie das.., nicht nur eine Welt?« Er
legte freundschaftlich seine Hand auf Lauknitz Schulter und fuhr beschwörend fort: »Erzählen sie mir doch
einfach ihre Wahrheit. Ich werde ihnen zuhören!«
Lauknitz sah ihn mit rot geriebenen Augen an: »Ja, sie werden mir zuhören, sicher werden sie das. Aber
ob sie mir glauben werden...?«
»Ich werde ihnen zuhören«, versicherte Fährkamp, »ob ich ihnen glaube, hängt freilich davon ab, was
sie mir erzählen. Und wenn sie mir wirklich die Wahrheit sagen...«
»Da haben wir es ja wieder...« Sebastian Lauknitz sprang von seinem Stuhl hoch, dass dieser polternd
hinter ihm umfiel. »Ich habe schon einmal die Wahrheit gesagt, die Wahrheit und nichts als die Wahrheit und
was habe ich davon?« Er schrie es in einer Verzweiflung heraus, dass Fährkamp erschrocken zurückwich. »Ja,
ich habe die Wahrheit erzählt, weil ich auch gehofft habe, dass man mir hilft! Dafür sitze ich jetzt hier drinnen
und habe angeblich eine manische Persönlichkeitsspaltung! Ich bin nicht verrückt!«
Allmählich beruhigte er sich wieder. Resigniert sprach er weiter: »Ich habe mich daran gewöhnt, dass
ich ein seelisches Problem haben soll. Ich habe einfach aufgegeben, dagegen aufzubegehren, verstehen sie? Sie
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haben mich vollgepumpt mit irgendwelchem Mist, der mir gut tun sollte. Sie haben mich so lange damit
zugeschüttet, bis meine Wahrheit so aussah, wie sie es wollten. Jetzt erzähle ich ihre Wahrheit und habe meine
Ruhe. Ich habe mein Essen und Trinken, habe ein Dach über dem Kopf und muss mich um nichts mehr
kümmern.«
Er machte eine Pause, bevor es vorwurfsvoll aus ihm herausbrach: »Und jetzt kommen sie und wollen
wieder die andere Wahrheit! Hören sie, Herr Fährkamp, ich bin nicht verrückt, aber langsam werde ich es! Was
wollen sie? Eine Wahrheit, die niemand für die Wahrheit hält? Wollen sie mir hier drinnen Gesellschaft leisten?
Nur zu! Sie sind gerne eingeladen, herzlich willkommen im Club der gespaltenen Persönlichkeiten!«
»Sebastian«, Fährkamp versuchte so einfühlsam wie möglich vorzugehen, »vertrauen sie mir einfach,
ja? Ich bitte sie, was haben sie noch zu verlieren? Erzählen sie mir doch einfach ihre Geschichte und was es mit
diesem Buch auf sich hat. Ich höre ihnen zu und wenn ich auch nur ein Quäntchen Wahrheit darin wittere, nur
ein ganz klein wenig Glaubhaftigkeit, dann.., ich schwöre ihnen, dann sorge ich dafür, dass sie in Zukunft ganz
in Frieden, frei und sorglos leben können, wo immer sie wollen. Und wenn ich ihnen nicht glauben sollte, sage
ich ihnen rechtzeitig Bescheid und behellige sie nie wieder. Ist das Ok für sie? Was sagen sie dazu?«
Lauknitz nickte bedächtig mit dem Kopf: »Ich glaube, ich vertraue ihnen. Ich denke dass sie es ehrlich
so meinen, wie sie es sagen. Na gut, was genau wollen sie wissen?«
»Alles«, sagte Fährkamp bestimmt, »von Anfang bis Ende. Erzählen sie einfach ihre Geschichte, oder
was sie erlebt haben, oder was sie erzählen möchten, fangen sie einfach an, von da ab, wo sie glauben, dass es
wichtig ist. Ich werde einfach nur dasitzen und zuhören. Sagen sie mir, was sie über dieses Buch wissen, frei von
der Leber weg!«
Sebastian Lauknitz schloss kurz seine Augen und dachte einen Moment lang nach. Dann sah er
Fährkamp mit klarem Blick an, lehnte sich auf dem Stuhl zurück und fing an zu erzählen...
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Pressemitteilung
»Mein Name ist Sebastian Lauknitz und das da ist mein Tagebuch. Ich werde Ihnen jetzt meine
Geschichte erzählen. Also hören Sie gut zu, halten Sie den Mund und..., unterbrechen Sie mich nicht! Was ich
ihnen berichte, ist meine eigene Geschichte. Ich versuche sie genau so zu erzählen, wie sie sich zugetragen hat.
Aber sie wird Ihnen so phantastisch und unglaubwürdig vorkommen, als sei sie ein Märchen. Und vermutlich
werden Sie das, was ich Ihnen erzählen werde, für eine Lüge halten. Niemand hat es mir jemals geglaubt. Sogar
ich selbst wache oft in der Nacht schweißgebadet auf und glaube alles nur geträumt zu haben. Aber diese
Geschichte ist wahr. Sie ist so wahr, wie jeden Morgen wieder die Sonne aufgeht. Sie ist mein Leben. Doch das
Schlimmste daran ist, dass man seinem Schicksal niemals entgehen kann, egal, wo und in welcher Welt...«
Sebastian Lauknitz erzählte seine Geschichte und Martin Fährkamp hörte gespannt zu und ließ ein
Diktiergerät mitlaufen. Was dieses Gerät in mehreren Sitzungen aufzeichnete und was Fährkamp später in die
Tastatur seines Computers tippte, las sich nicht mehr nur wie ein nüchterner Zeitungsbericht. Was der
abgebrühte, hart gesottene Journalist Martin Fährkamp von Lauknitz erfuhr, war das Fantastischste, was er
bisher gehört hatte und stellte alles in Frage, was er über diese Welt zu wissen glaubte.
Sebastians Geschichte klang so unglaubwürdig und doch so realistisch, dass Fährkamp die folgenden
Wochenenden damit zubrachte, Sebastian Lauknitz staunend zuzuhören. Sein journalistischer Verstand sagte
ihm, dass Lauknitz die Wahrheit sprach.., eine Erkenntnis, welche die gesamte Menschheit verändern konnte,
eine Wahrheit, für welche die Menschen jedoch möglicherweise noch gar nicht bereit waren...
Angefangen hatte alles vor vielen, vielen Jahren. Damals war Sebastian Lauknitz schlank, drahtig und
trainiert und noch dunkelhaarig und ohne Bauchansatz. Man sagte ihm ein gutmütiges, hilfsbereites Wesen und
ein freundliches Auftreten nach, sowie einen einfachen, wachen und gesunden Menschenverstand und einen viel
zu ausgeprägten Gerechtigkeitssinn. Seinem Aussehen nach hielten ihn die Leute immer wieder für einen
Italiener, oder Franzosen.
Mit 1,70 Metern Körpergröße und eher nicht sehr kräftiger Statur entsprach er in seinem
Erscheinungsbild weniger dem Klischee eines Bauarbeiters, sondern eher eines Angestellten oder Künstlers.
Und tatsächlich fühlte er sich auch stets zu Höherem berufen. Doch Faulheit in der Ausbildung und die eigene
Bequemlichkeit, etwas zu ändern, ließen ihn weiterhin Baustellengerüste und Rohbauten erklimmen.
Die Geschichte begann damit, dass er im Bauwagen seines elterlichen Stuckateurbetriebes saß und die
Lokalzeitung seines Kollegen mitlas. Sebastian war schon immer zu geizig, sich eine eigene Zeitung zu kaufen.
Eine Mark zehn täglich für die neuesten gedruckten Nachrichten? Das konnte er günstiger haben! Im Laufe
seiner fünfzehnjährigen Tätigkeit im Hochbau hatte sich Lauknitz die Fähigkeit angeeignet, in der Pause die
ausgebreitete Tageszeitung seiner Kollegen auf den Kopf gestellt mitzulesen. Inzwischen konnte er Texte auf
den Kopf gedreht ebenso gut lesen, wie richtig herum gestellte.
Was Sebastian Lauknitz an diesem nasskalten Augusttag aus der Zeitung seines Kollegen erhaschte,
sollte sein ganzes Leben verändern. Nein, anders: Es sollte sein bisheriges Leben plötzlich beenden und ihn in
ein neues, ganz anderes, abenteuerliches Leben hineinkatapultieren. Aber das konnte er zu diesem Zeitpunkt
noch nicht ahnen.
Mit drei Kollegen saßen er schon den ganzen Vormittag im Bauwagen. Bereits am Nachmittag des
Vortages trieb sie der Regen vom Fassadengerüst herunter. Das Material, das sie an die Gesimse der alten
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denkmalgeschützten Fassade angetragen hatten, war inzwischen abgeregnet. Das war die unangenehme Seite
seines Berufes. Baustuckateure waren immer von der Witterung abhängig.
Am Morgen kamen sie schon bei Nieselregen auf die Baustelle. Es war dämmerig und sie blickten
gegen den trüben Himmel, um die Intensität des Niederschlags abzuschätzen. Kollege Günter kletterte auf das
Gerüst, um ihre Möglichkeiten zu bestimmen.
Lustlos kam er kurz darauf in den Bauwagen zurückgeschnäuzt. »Da ist heute wohl nichts zu machen.
Alles nass. Auch die Schablonenlättchen, die wir gestern angeschlagen haben.«
Dieter, Sebastians zweiter Kollege, sah nicht einmal von seiner Zeitung auf, die er sich inzwischen auf
dem Tisch ausgebreitet hatte. Dieter war ein kleiner, korpulenter Mann. Sein immer freundliches Gesicht
erinnerte an das eines dicken, lustigen Pennälers. Er hatte das Gemüt einer Dampflokomotive. Lauknitz konnte
sich nicht erinnern, dass ihn jemals etwas auch nur annähernd aus der Ruhe gebracht hatte.
»Wollen wir noch warten, ob es aufhört, oder gleich nach Hause fahren?« Günter hängte seine
Arbeitsjacke an den Haken und drehte am Knopf des Ölradiators, wohl in der Hoffnung, dass es dadurch
schlagartig wärmer werden würde. »Hey, Kollege, was machen wir jetzt?« Er wurde langsam ungeduldig und
stand vor seinen Kollegen am Tisch, wie ein Händler an seinem Marktstand.
Endlich sah Dieter von seiner Zeitung auf. »Lass uns doch erst mal Frühstück machen, dann sehen wir
weiter«.
Umständlich schob sich Günter in der mit Geräten überfüllten Bude an seinen Platz und packte seine
Brotbox aus. Günter war groß und wuchtig. Seine mächtige Hakennase erinnerte Sebastian an den Räuber
Hotzenplotz, eine alte Geschichte aus seiner Kindheit. Nur sein mittlerweile schütteres, eisgraues Haar passte
nicht so ganz ins Bild.
Zwischen zwei Thermoskannen und einer Flasche Bier hindurch erhaschte Lauknitz gelangweilt die auf
dem Kopf stehenden Kolumnentitel von Dieters Zeitung. Aufwärtsstrebende Konjunktur stand da. Das hörten sie
ständig, merkten jedoch nichts davon. NATO greift erneut in Bosnien- Konflikt ein. Das war schon interessanter.
NATO- Kampfflugzeuge griffen einen serbischen Panzer an. Die bosnischen Serben sollten zu einem
internationalen Friedensplan gezwungen werden. Historische Knochenfunde im Schweizer Kanton Wallis.
Diese Meldung interessierte Sebastian wirklich. Als Freizeit- Alpinist war er schon überall im Wallis
unterwegs. Auf fast alle Viertausender hatte er im Laufe der letzten zwölf Jahre seinen Fuß gesetzt. Die Berge
konnten ihm nicht hoch und die Gletscher nicht weit genug sein. Gerade, als er weiterlesen wollte, blätterte
Dieter zum Sportteil um.
Also musste Sebastian warten, bis Dieter seiner Sportnachrichten überdrüssig wurde und das Blatt von
vorn zu lesen begann. Das tat er immer. Nur heute nicht. Außerdem wurde Sebastians Geduld auf eine harte
Probe gestellt, denn seine Kollegen waren ausgesprochene Fußball- Fans. Am aktuellen Bundesliga- Geschehen
konnten sich die beiden ihre Köpfe heiß reden, denn nicht immer waren sie einer Meinung mit den jeweiligen
Schiedsrichtern. Günter und Dieter konnten selbst an solch kalten Tagen rote Köpfe bekommen, wenn es darum
ging, ihre Favoriten aufsteigen zu sehen.
Es wurde Mittag. Sie beschlossen, ihre Baustelle für heute unverrichteter Dinge zu verlassen. Dieter
schlug den Zeitungsteil Nachrichten aus aller Welt nicht mehr auf. Die Knochenfunde im Wallis hatten Lauknitz
aber neugierig gemacht. Eigentlich interessierte ihn alles, was die Schweiz betraf. Vor allem ihre Bergwelt hatte
ihn seit je her begeistert und fasziniert.
Auf dem Heimweg kaufte er sich am Kiosk selbst eine Ausgabe der Zeitung. Ausnahmsweise! In seiner
kleinen Zweizimmerwohnung überflog Sebastian dann beim Abendessen den Artikel:
Historische Knochenfunde im Schweizer Kanton Wallis. Visp. Bei Wegarbeiten am Zwischbergenpass,
nahe dem Schweizer Urlaubsort Saas Fee, wurden mehrere menschliche Skelette gefunden. Nach Angaben der
Walliser Kantonspolizei handelt es sich dabei wahrscheinlich um eine alte Begräbnisstätte. Unklar ist noch,
warum die Gebeine bislang nicht entdeckt wurden. Die Fundstätte liegt unmittelbar am Rand eines unbefestigten
Pfades am Fuße des viertausend Meter hohen Weissmies. Ungewöhnlich sei auch die Anordnung des Fundes, so
der leitende Untersuchungsbeamte: Die Knochen liegen derart verstreut, als seien die Toten aus großer Höhe
zwischen die Felsen geworfen worden. Ein archäologisches Team hat inzwischen mit der Untersuchung der
Fundstelle begonnen.
Lauknitz saß am Tisch, sah fassungslos auf die Nachricht und vergaß seine Pizza. Am
Zwischbergenpass! Ausgerechnet! Warum gerade dort? Augenblicklich schob er seinen Pizzateller zur Seite,
kramte hektisch die Landeskarte dieser Gegend aus seinem Bücherschrank und breitete sie auf dem Tisch aus.
Das Herz schlug ihm bis zum Hals, ihm wurde abwechselnd kalt und heiß. Sebastian starrte auf das dick
hineingekritzelte rote Kreuz am Rand der dargestellten Felsen des Tällihorns, direkt neben der gestrichelten
Linie, dem Pfad hinauf zum Zwischbergenpass.
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Das Versteck
Sebastian Lauknitz Gedanken flogen schleierhaft dreizehn Jahre in der Zeit zurück. Damals war er
unsterblich verliebt. Sie hieß Janine. Doch die Frau seines Herzens hatte Leukämie. Gemeinsam kämpften sie
gegen den Tod an. Dennoch verschlechterte sich ihr Zustand täglich. Als klar wurde, dass die Ärzte ihre
Krankheit nicht würden heilen können und sie Sebastian mit der Bitte bedrängte, ihr seine Bergwelt zu zeigen,
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die er während seiner Bergsteigerei kennen gelernt hatte, fasste er eine letzte Hoffnung. Er redete sich ein, so wie
Klara in Heidi, dem gleichnamigen Kinderfilm, so könnten die Berge auch seine große Liebe heilen und ihre
gemeinsame Zukunft retten.
Ganz fest glaubte er daran, dass die Macht dieser hohen Welt, die er bereits erfahren hatte, ihm etwas
schuldig war und ihm das Leben seiner geliebten Janine zurückgeben könnte.
Sie erlebten die wundervollsten Wochen, die er bis dahin in seinem Leben erfahren durfte. Das
Abbrechen der Chemotherapie ließ Janine aufblühen, wie eine Rose im Sommer. Nie zuvor empfand Sebastian
sie so lieblich und schön, nie zuvor war ihre Beziehung inniger, tiefer und leidenschaftlicher.
Aber es war das Aufblühen einer Rose vor dem Winter. Wie das Aufflackern einer Glühlampe, bevor
sie sich für immer in Dunkel hüllt, so strahlte auch sie, um dann plötzlich all ihre Kraft zu verlieren. Dass Janine
ihre letzte Energie gab, um noch ein klein wenig Lebensfreude mit ihrem Basti zu erleben, darauf war Lauknitz
nicht gefasst.
Er liebte sie über alles und wollte sein Leben für das ihre geben. Aber das war nicht möglich. Als sie
aufbrach zu ihrer letzten Wanderung, lächelte sie. Und für Sebastian Lauknitz wurde es der längste Abschied
seines Lebens.
Janines Kopf lag zwischen medizinischen Geräten. Sie war wach. Sie hatte Schmerzen, doch sie zeigte
sie nicht, hatte sie nie gezeigt, während der ganzen Zeit ihrer Krankheit. So lieblich und zerbrechlich lag sie da.
Sie war blass, ihre Augen waren gerötet und ihre schwarzen Haare, die Sebastian so an ihr liebte, waren kurz.
Doch das sah er nicht mehr. Er hielt ihre Hand, wie einen zerbrechlichen Schatz, wie etwas Heiliges, das er
beschützen wollte. Er blickte in die tiefen Seen ihrer Augen, die noch nichts von ihrem Glanz eingebüßt hatten.
Am liebsten wollte er sie auf seine Arme nehmen und sie forttragen, irgendwohin, wo kein Schicksal die beiden
je würde erreichen können. Doch diesen Ort gab es nicht. Jedenfalls glaubte Lauknitz das damals.
Er wünschte sich, ihr etwas von seiner Kraft geben zu können, irgendetwas tun zu können, damit sie
zusammenbleiben konnten. Die Verzweiflung und Hilflosigkeit drückte ihm den Hals zu, dass es ihm schwer
fiel, zu ihr zu sprechen. Sebastian streichelte ihre Hand anstelle von Worten, die seine verkrampfte Brust
zurückhielt und sie verstand es. Selbst in dieser Stunde hoffte Lauknitz noch auf ein Wunder, bat Gott, er möge
doch ein winziges Quäntchen Gnade zeigen und ihnen eine Chance geben. Gott hörte ihn nicht. Er gab ihm auch
kein Zeichen, er ignorierte ihn. Er bestrafte eine junge Liebe. Wofür?
Wie viele Stunden hatte Sebastian an ihrem Bett gesessen? Hatte er ihr Blumen mitgebracht? Kam
zwischendurch ein Arzt, oder eine Schwester und störte ihre letzte Zweisamkeit? Was hatte er ihr alles gesagt?
War es Morgen, Nachmittag oder Abend?
Sie hatte ihn angelächelt und er küsste ihre trockenen Lippen, das wusste er noch. Ihr Lächeln traf ihn
wie eine Schockwelle und riss sein Herz von den Füßen. Dieses Lächeln, dass er so an ihr liebte, das die kleinen
Grübchen um ihren Mund zauberte, dieses Lächeln zu dieser Stunde, das ihm vor Ausweglosigkeit die Sinne
raubte. Verzweiflung, Wut, Angst und eine kleine Hoffnung, an der Sebastian festhielt, wie an einem Schilfhalm
vor dem Wasserfall. Dieses Lächeln begleitete ihre letzten Worte:
»Glaube daran.., wir sehen uns wieder, Basti.., drüben.., irgendwann. Ich liebe Dich...« Ihre Hand hatte
plötzlich keine Kraft mehr. Sebastian saß neben ihr und weinte. Wie lange er an ihrer Seite saß, wusste er nicht
mehr.
Irgendwann ging er durch die Nacht. Und er ging und ging immer weiter, einen Schritt vor den anderen,
bis die Sonne den Horizont erhellte. Er sah Vögel in den Gärten, aber er hörte sie nicht. Autos sah er
umherfahren, doch ihr Motor war still. Sebastian sah Menschen sich unterhalten, stimmlos. Wohin war er
gegangen, wie lange war er unterwegs?
Die Sonne ging unter, Basti legte sich in seiner Wohnung aufs Bett, drückte sein Gesicht in das Kissen.
Weinen konnte er nicht mehr. Alles aus ihm war ausgegossen, sein Körper war leer, kalt, nur noch eine lebende,
schmerzende Hülle ohne Sinn. Er hatte das Telefon herausgezogen und die Klingel abgestellt. Lethargisch lag er
da und wollte nur noch sterben, wollte bei seiner Janine sein, wollte mit ihr gemeinsam ihren Weg gehen, hatte
Angst, dass sie ihm davonlief.
Danach stieg Sebastian Lauknitz erneut auf die Berge. Weiter und höher als jemals zuvor. Wer ihn
beobachtete, konnte vermuten, er sei auf der Suche nach Gott selbst. Und so falsch war das auch gar nicht.
Antworten waren es schon, die er suchte. Auf der Suche nach dem Sinn solcher Schicksalsentscheidungen wurde
Basti Lauknitz zum Eremit. Er ging mit einer unendlichen, inneren Leere seiner Arbeit nach und lebte nur noch
für das Wochenende, an dem er in den Bergen der Westalpen oder im Granit der norddeutschen Mittelgebirge
herumstieg, immer auf der Suche nach etwas, von dem er selbst nicht wusste, was es war.
Fast dreizehn Jahre lang geisterte er ruhelos über die Walliser Bergwelt. In dieser Zeit lernte er. Oder
anders: Die Natur dieser Hochgebirgswelt lehrte ihn, das Leben wert zu schätzen, so einfach, bescheiden und
hart es auch sein mochte.
Lernen konnte er auch etwas über Menschen. Da waren diese, die mit alpinen Heldentaten prahlten, die
er aber sich nicht hundert Meter von der Seilbahnstation entfernen sah. Es gab auch jene, die er anfänglich für
verschlossen und unfreundlich hielt, die aber spektakuläre Rettungseinsätze leiteten, als wäre es ganz alltäglich.
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Während dieser vielen Bergtouren ergab es sich immer öfter, dass Lauknitz seine Ortskenntnis
ausnutzte und sich als Hochtourenführer verdingte. Gegen Bezahlung natürlich. Und Illegal, denn in der Schweiz
musste man ein diplomierter Bergführer sein, um Touren führen zu dürfen.
Basti ließ sich für diesen Dienst mit Gold bezahlen. Für eine leichte Tour gab es ein oder zwei
Goldvreneli, für eine schwierigere Route verschwand schon mal ein Krügerrand oder ein amerikanischer
Goldeagle in seiner Tasche. Doch diese Goldmünzen hätte er, wollte er sie aus der Schweiz nach Deutschland
ausführen, verzollen, oder zumindest anmelden müssen. Nun, das war ihm zu aufwendig! Und er brauchte das
Geld nicht wirklich.
So suchte er sich ein kleines Versteck irgendwo in den Felsen des Grächner Plattje und trug seinen
Führerlohn jeweils dort hinauf. In Plastiktütchen eingewickelt, verbarg er seine kleinen Schätze unter einem
markanten Stein.
Aber die Zeit blieb nicht stehen. Sein kleiner Schatz wurde größer und die Berge belebter. Immer mehr
Wanderer kamen in die Nähe seines Verstecks, das mittlerweile Goldmünzen im Wert von über dreißigtausend
Schweizer Franken beherbergte.
Lauknitz beschloss sich einen anderen Platz für seine Bergführerkasse zu suchen. Es sollte hoch und
abgelegen sein. So einsam, dass es als unwahrscheinlich galt, dass ein Wanderer je in seine Nähe gelangte.
Irgendwann lud Basti das inzwischen ziemlich schwere Päckchen in seinen Rucksack und wanderte los.
Von Gondo aus, hinter dem Simplonpass, an der schweizerisch- italienischen Grenze gelegen, stieg er
talaufwärts. Das Zwischbergental wurde zu dieser Zeit allenfalls von ein paar Alpinisten besucht. Ein langes,
urwüchsiges Tal, das der Tourismus hatte links liegen lassen. An seinem Ende wird das Tal heute noch vom
4023 Meter hohen Weismies und dem Zwischbergengletscher begrenzt. Der Gletscher hat jedoch inzwischen
durch die Klimaerwärmung einiges von seiner einstigen Größe eingebüßt.
Ein unbefestigter Wanderpfad führte am Fuße des Tällihorn- Südgrates zum Zwischbergenpass hinauf.
Dahinter lag der Touristenrummel von Saas Fee mit seinen Sommerskiregionen. Eine kleine Felsnische am Fuße
des Tellihorngrates wurde das neue Versteck für Bastis kleinen Schatz. Das war vor einer halben Ewigkeit...
Der Gedanke, dass jetzt eine Schar von Archäologen in der Nähe seiner Goldmünzen im Berg
herumstocherten, beruhigte ihn nicht gerade. Sollten die ausgerechnet über sein Versteck stolpern, würde es
schwer sein, zu beweisen, dass sie sein Eigentum gefunden hätten, das er noch dazu illegal erworben hatte.
Sebastian starrte auf seine kalt gewordene Pizza und überlegte krampfhaft, was er tun konnte, um die
Entdeckung seines verborgenen Goldes zu verhindern. Schnellstens musste er dort hinauf steigen und seine
Bergführerkasse woanders verstecken, oder sie im Schließfach einer Schweizer Bank deponieren. Mussten die
auch gerade jetzt und gerade dort oben diese bekloppten Knochen finden?
Eigentlich ärgerte er sich mehr über seine eigene Einfältigkeit, Goldmünzen in einer Felsnische zu
verstecken. Wer tut so etwas Bescheuertes? Er, Sebastian Lauknitz! Schön, nun musste er die Suppe auslöffeln!
Sollte er jetzt einfach nach Saas Fee fahren und über den Zwischbergenpass steigen? Was aber, wenn die
Behörden den Pass wegen der Fundstelle gesperrt hatten?
Besser war es schon, von Gondo her aufzusteigen. So würde er schon von weitem erkennen können, ob
sich die Fundstelle in der Nähe seines Versteckes befand. Sollten dort oben Archäologen bei der Arbeit sein,
würden die sich freilich fragen, weshalb ein einsamer Wanderer auf dieser Seite des Weismies in den Felsen
herumstieg. Aber er musste etwas tun...
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Drei Tage später fuhr Basti Lauknitz ins Wallis. Urlaub nach dem Wochenende wurde ihm widerwillig
gewährt. Hilfreich war wohl die Tatsache, dass sein Chef und sein Vater dieselbe Person verkörperten.
Bei herrlichstem Walliser Sommerwetter entstieg er in Gondo gegen Mittag dem Postbus. Gondo war
ein kleines Dorf, an die Felsen der tiefen, gleichnamigen Schlucht geklebt. Damals gab es dort so gut wie kein
Gästehaus. Die hellgrauen Steinhäuser und die Kirche, wie aus den steil aufragenden Felsen geschlagen, duckten
sich an die zerklüftete Bergwand. Es war erstaunlich, mit welcher Phantasie die Bewohner ihr Dorf in diese
enge Schlucht gesetzt hatten, stets von Steinschlag oder Bergsturz bedroht. Schier senkrecht ragten Wald und
Fels darüber in die Höhe, die Bergspitzen darüber nicht mehr einsehbar.
Sebastian schulterte seinen schweren Rucksack und ging los, nur ein Ziel vor Augen: Die kleine
Felsgrotte am Ende des Zwischbergentals. Gondo schien wie ausgestorben, als er zwischen den grauen Häusern
zum Diveriabach hinabging. Intuitiv versuchte er beim Gehen keine Geräusche zu machen. Wovor hatte er
Angst? Es war hier alltäglich, dass Bergwanderer aus dem Bus stiegen und das Tal hinauf wanderten.
Doch irgendwie hatte Basti ein ungutes Gefühl, so ein Brummen im Bauch, als würde er etwas
Ungesetzliches tun. Der Fahrweg führte ihn über den Bach und auf der anderen Seite in Serpentinen wieder
hinauf. Über ihm ragte eine düstere, walddurchsetzte Felsfassade auf, die sich in einem Wirrwarr von Grün und
Grau verlor.
Endlich, hinter einer Biegung spuckte ihn der Wald aus und gab ihm den Blick auf das Tal frei.
Vereinzelt dastehende Châlets säumten den asphaltierten Weg, der sich parallel zum Bach das Tal
hinaufschlängelte. Links und rechts steile Waldhänge, gekrönt von schroffen Felsen. So hatte er das
Zwischbergental in Erinnerung. Verändert hatte sich seit seinem letzten Besuch scheinbar gar nichts. An einigen
Stellen wurde die Fahrstraße ausgebessert. Vermutlich hatten Lawinen oder Steinschläge ihre Zeichen
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hinterlassen. Hier und dort entlang des Weges zeugten Spuren von Bergstürzen und Murniedergängen, die in den
letzten Jahren erschreckend zunahmen. Lauknitz fragte sich, wie weit die Menschen ihre Welt mit
Treibhausgasen und anderen Umweltbelastungen bereits geschädigt hatten.
Seine Gedanken wurden abrupt unterbrochen. Ein Helikopter donnerte plötzlich über die steile
Felskante hoch über ihm und wummerte das Tal hinauf. Unter der Maschine hing eine Last, die aussah, wie ein
den Hubschrauber von unsichtbarer Hand begleitender Stein.
Sofort lenkte Sebastian seine Aufmerksamkeit wieder auf sein Ziel. Buddelten die dort oben immer
noch an der Fundstelle herum? Krampfhaft überlegte Basti, was er tun sollte, falls ein Haufen wissbegieriger
Menschen in der Nähe seines kleinen Schatzes herumstöberte. Sie würden es kaum tolerieren, dass ein
Bergwanderer in ihrer Umgebung seinerseits in den Felsen herumstieg.
Bevor er weitere Überlegungen anstellen konnte, störte ein neues Geräusch. Ein Auto kam hinter ihm
die Fahrstraße heraufgefahren. Ein schwarz lackierter japanischer Geländewagen brauste so eilig an Sebastian
vorüber, dass ihm der Luftzug den Straßenstaub ins Gesicht schleuderte. Sandkörner knirschten in seinem Mund
und Bastis Abneigung gegen Autos in den Bergen nahm in dieser Sekunde erheblich zu.
Ob das Fahrzeug ebenfalls zur Fundstelle unterwegs war? Mit dem Blick auf die Uhr legte Lauknitz
einen Schritt zu. Noch vor der Dämmerung wollte er sich ein Bild davon machen, was ihn dort oben erwarten
würde. Dann musste er sich noch eine geeignete Stelle für sein Biwakzelt suchen.
Auf den Matten von Zwischbergen, wo das Tal etwas weiter wurde, stand eine Familie am Hang und
rechte Heu zusammen. Ein kleiner Trecker mit Anhänger stand am Wegrand. Ein Wunder, dass ihn der
Geländewagen von vorhin nicht umgefahren hatte. Diese Bergbauernfamilie waren bislang die einzigen
Menschen, denen Sebastian in diesem Tal begegnete. Es hatte in den letzten Jahren nichts von seiner
Abgeschiedenheit und Ursprünglichkeit eingebüßt.
Am Nachmittag war der Wald offener Almlandschaft gewichen. Acht Kilometer hatte Lauknitz
zurückgelegt. Immer noch bewegte er sich talaufwärts, inzwischen auf Wanderpfaden. Die Sonne brannte heiß
und der Rucksack wurde ihm leidig schwer. Bunte Blumen leuchteten überall auf den kurzgrasigen, trockenen
Weiden und nur vereinzelt unterbrach noch ein verkrüppeltes Arvenbäumchen das Landschaftsbild. Der Geruch
von Schafkot und Latschenkiefern lag in der Luft. Dieser Duft war Basti so vertraut, dass er das Gefühl hatte,
nach langer Reise nach Hause zu kommen. Wie viele hundert Male dieses Empfinden in ihm geweckt wurde und
wie oft er es wieder vergessen hatte, wusste er nicht. Während vieler hundert Touren, die er in den letzten zwölf
Jahren hier oben allein, oder mit Freunden gegangen war, hatte er viele Eindrücke immer wieder begrüßen und
verabschieden gelernt. Sebastian Lauknitz war ein Teil dieser Berge geworden, so wie diese hohe Welt ein Stück
von seinem Selbst geworden war.
Doch diesmal war etwas anders. Sein inneres Empfinden sagte ihm, dass etwas Geheimnisvolles, etwas
Düsteres und Unheimliches auf ihn lauerte. Es war nicht das Gefühl, das man als lang erfahrener Berggänger vor
einem Sturm oder Gewitter empfindet. Nicht einmal annähernd so, als bewegte man sich unter lawinenträchtigen
Hängen. Es war mehr, tiefer, endgültiger. Es war, als spürte er, dass ihm die Hölle selbst begegnen würde. Der
Tag war schön. Aber dieses dumpfe, undefinierbare Gefühl in seinem Bauch belastete ihn.
Im Trott seines Marsches folgte Lauknitz einer Wegkehre. Im nächsten Moment blieb er stehen. Vor
ihm am Wegrand stand der schwarze Geländewagen. Er hatte Gesellschaft bekommen. Zwei weitere Fahrzeuge
gleicher Baureihe und Farbe standen auf der anderen Wegseite. Davor konnte Basti noch zwei geländegängige
Lastwagen erkennen, sowie zwei weitere Pkw. Ein ungewohnter Fuhrpark für solch eine einsame Gegend!
Die Fahrzeuge standen verlassen in der Mittagshitze. Die Grillen gaben ihr monotones Konzert zum
Besten. Sonst herrschte Stille. Nicht einmal eine Alpendohle war zu hören. Eine Weile wartete Sebastian noch
ab, ob sich jemand in der Nähe der Fahrzeuge zeigte. Als nichts geschah, setzte er seinen Weg fort.
In Höhe der Gmeinalp, einem kleinen verlassenen Weiler, hörte er wieder den Helikopter. Offenbar war
er irgendwo gelandet und startete jetzt wieder. Mit ohrenbetäubendem Lärm tauchte die Maschine über dem
Abbruch des Zwischbergengletschers auf, gewann rasch an Höhe und flog davon. Sebastian wurde das Gefühl
nicht mehr los, dass die Geschichte des historischen Knochenfundes spektakulärer war, als die Presse verlauten
ließ.
Der Wanderweg, mittlerweile zu einem unscheinbaren Bergpfad ausgedünnt, führte Sebastian jetzt
durch Geröll. Der Moränenschutt ließ nur noch vereinzelte Grasgesellschaften gedeihen. Rechts vor ihm erhob
sich der Felsgipfel des Tällihorns, dahinter die weiße Spitze des Weismies, über viertausend Meter hoch.
Eine Weile wanderte er noch parallel zum sprühenden Wildwasser des Zwischbergenbachs, dann folgte
Lauknitz dem Pfad auf den Kamm der rechten Seitenmoräne. Bis hierher reichte der Gletscher schon lange nicht
mehr. Einst stieß er bis in den Talkessel vor. Nun bildete ein riesiger, eineinhalbtausend Meter breiter Felsabsatz
seine Abbruchgrenze. Irgendwann, in gar nicht allzu ferner Zukunft würde das Eis ganz verschwunden sein. Die
allgemeine Klimaerwärmung würde dafür sorgen.
Während Sebastian auf dem First des Moränenwalls höher stieg, beobachtete er die Tällihorn Ostwand.
Am Fuße des Südgrats lag sein Versteck in der Felsnische. Wenn er auch noch keine Details erkennen konnte, so
sah er doch bereits die Stelle, die sein Ziel war. Erleichtert stellte Sebastian fest, dass sich keine Menschenseele
dort herumtrieb. Es würde also ein Leichtes sein, seine Goldkassette aus der Nische zu holen.
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Den höchsten Punkt der Moräne hatte er noch nicht erreicht, als er seinen raschen Gang abrupt stoppte.
Lauknitz konnte jetzt den Zwischbergengletscher bis zum Pass hinauf einsehen. Unter dem mächtigen Felsriegel,
am rechten Rand des Gletscherarms befanden sich viele Menschen. Um Genaueres zu erkennen, war er noch zu
weit entfernt. Aber er konnte ausmachen, dass dort am Gletscherrand, direkt an der Route zum
Zwischbergenpass, eine kleine Zeltsiedlung entstanden war. Hätte er es nicht besser gewusst, so hätte er
annehmen können, auf das Basislager einer Himalaya- Expedition zu blicken.
Beruhigt stellte Sebastian fest, dass diese Stelle ungefähr achthundert Meter von seinem Versteck
entfernt lag. Zudem war der Blick zwischen beiden Orten durch den Fuß des Tällihorn Südgrats unterbrochen.
Was auch immer die Leute dort am Gletscher treiben mochten, er würde seine Goldkassette aus dem Versteck
holen und sich einen Biwakplatz suchen. Am Morgen würde er dann über den Pass nach Saas Fee gehen.
Obwohl Basti sicher war, dass ihn niemand beobachten konnte, stieg er nicht mehr so konzentriert, wie
vorher. Er stolperte den Geröllhang zur Tällihorn Ostwand hinauf und hatte den Eindruck, dabei einen
Riesenlärm zu machen. Jedes Klappern einer Felsschuppe und jeder losgetretene Stein ließ ihn
zusammenzucken. Unnatürlich laut empfand er die Geräusche und bildete sich ein, das Echo würde sie bis zur
Ausgrabungsstätte tragen.
Wovor hatte er eigentlich Angst? Er holte sich doch nur zurück, was sowieso sein Eigentum war.
Freilich hatte er die Goldmünzen nicht ganz legal erworben, dennoch gehörten sie ihm! Sollte ihn allerdings ein
Polizist mit dem Gold antreffen, würde es ihm schwer fallen, zu erklären, woher er die vielen Goldmünzen hatte.
Und beweisen hätte er seine Aussage erst recht nicht können, denn eine Kaufquittung existierte nicht. Auf den
Gedanken, dass so viele verschiedene Goldmünzen eventuell aus Einbrüchen stammten, konnte der Phantasie
eines Gesetzeshüters ohne weiteres entsprungen sein.
Erstaunlicherweise hatte Sebastian keine Mühe, die Felsnische im chaotischen Steingewirr zu finden.
So gut hatte er sich die Stelle damals eingeprägt, dass er sie schon von weitem auf Anhieb erkannte. Zufrieden
stellte er fest, dass sich die Kassette noch genau so unter der Felsplatte in der Nische befand, wie er sie damals
zurück gelassen hatte. Lediglich die Plastiktüten, in die Basti die Holzkassette eingewickelt hatte, waren etwas
spröde geworden.
Für einen Moment öffnete Lauknitz das Holzkästchen. Blitzblanke Goldmünzen und Schmuck
funkelten ihm in der Nachmittagssonne entgegen. Er hatte gar nicht mehr daran gedacht, dass sich auch
Schmuck in seiner Kassette befand. Die Panzerketten und Armbänder, die er noch trug, als er für immer
Abschied von Janine nahm, hatten nichts von ihrem Glanz eingebüßt.
Vorsichtig verschloss Sebastian das Kästchen wieder und sicherte es zusätzlich mit kräftigen
Gummibändern, bevor er es im Rucksack verstaute. Dieses kleine, handgeschnitzte Kästchen aus braunem Holz
hatte einst seinem Großvater gehört. Der hatte es im zweiten Weltkrieg aus Rumänien mitgebracht. Was für eine
lange aufregende Geschichte so ein Gegenstand erzählen könnte. Irgendwo in einem Kriegsgefangenenlager von
einem einsamen Soldaten geschnitzt, hatte es den Weg nach Deutschland gefunden, um letztlich in einer
Felsnische im einsamsten Winkel der Schweiz eine Hand voll Goldmünzen zu behüten. Lauknitz Gedanken
wurden unterbrochen. Der Wind trug plötzlich Lärm von den Zelten her um den Grat herum.
Hastig setzte Sebastian seinen Rucksack auf und machte sich auf den Rückweg. Überrascht war er, dass
ihm das Gewicht trotz des Goldes nicht schwerer vorkam, als zuvor. Durch das schwere Biwakgepäck hatte er
sich wohl an die große Belastung gewöhnt. Wenn überhaupt würde er die Folgen am nächsten Tag zu spüren
bekommen.
Als Sebastian aus dem Schatten der Felswand heraustrat, sah er den Grund für den Lärm. Eine wahre
Karawane von Menschen hatte sich von der kleinen Zeltstadt her in Bewegung gesetzt. Mit großen Rucksäcken
und viel Gerät beladen zogen die Männer talwärts. Auf dem Moränenwall würden sich ihre Wege kreuzen,
spätestens aber würde Basti an den geparkten Autos auf diese Gesellschaft treffen. Doch gerade das wollte er
vermeiden. Sebastian hatte keine Lust, vielleicht noch irgendwelche unangenehmen Fragen beantworten zu
müssen.
Nach kurzer Überlegung stieg Basti in direkter Linie zur Moräne über das Geröllfeld ab. Dabei legte er
ein Tempo vor, das jedem Beobachter als Flucht erscheinen musste. Lauknitz wollte jedoch unbedingt vor der
Kolonne den mysteriösen Parkplatz passiert haben, um sich dann in aller Ruhe einen stillen Biwakplatz zu
suchen.
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Seltsame Begegnung
Bald ließ Sebastian Lauknitz die Absteigenden weit hinter sich zurück. Als er die Autos wieder
erreichte, hörte und sah er nichts mehr von der Kolonne. Er marschierte einfach talabwärts und überlegte, wo er
sein Biwak aufschlagen könnte. Dabei erinnerte sich Basti an die Stelle, an der er mit Janine biwakierte, als sie
ihre letzten gemeinsamen Tage verlebten.
Von Zwischbergen aus führte ein Pfad in ein kleines, verstecktes Seitental. In Alpweiden eingelagert
befanden sich dort mehrere kleine Bergseen. Der größte von ihnen war auf der Landkarte mit Tschawinasee
bezeichnet. Diesen einsamen Ort hatte Basti in romantischer Erinnerung. Wenn das Wetter hielt, konnte er noch
einen Tag dort bleiben, bis er seinen Weg nach Saas Fee fortsetzen würde.
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Mit dem neuen Ziel vor Augen schritt Sebastian leichtfüßig neben dem Großen Wasser zurück. Es
verging nicht viel Zeit, da hörte er hinter sich Motorengeräusch. Die Autos kamen herabgefahren. Lauknitz hatte
kein großes Interesse daran, gesehen zu werden, also duckte er sich hinter einen Felsblock und ließ die
Fahrzeugkolonne vorüberrollen. Die fuhren nicht gerade zimperlich und hüllten ihn für Sekunden in Staub.
Dann wurde es still in den Bergen. Sebastian glaubte, sein Abenteuer wäre damit beendet. Er hatte sein
Gold, würde noch einen Tag lang in dem kleinen, verschwiegenen Tal von Vergangenem träumen und dann
wieder seinem Alltag und seiner Baustelle entgegenfahren. Er konnte nicht wissen, dass sein Abenteuer nun erst
beginnen würde...
Die Sonne wurde golden. Eine Alpendohle krächzte in den Felsen und ihr rauher Ruf verebbte
schallend. Von irgendwo her trug der Wind das leise Läuten von Herdenglocken. Der Arvenwald, durch den
Basti Lauknitz stieg, ließ nicht mehr viel vom abendlichen Licht durch seine Zweige. Ein stiller Pfad führte
hinauf, steil und steinig. Einige Male stolperte er über eine Wurzel. Allmählich trat Müdigkeit an die Stelle
seiner anfänglichen Euphorie. Ihm wurde bewusst, dass er ja seit dem Vormittag über zwanzig Kilometer und
zweitausend Höhenmeter bewältigt hatte.
Jetzt wollte Basti nur noch zu seinem Biwakplatz, etwas essen und schlafen. Ab und zu führte ihn der
Weg über eine Lichtung, von der aus er das Tal hinab fast bis nach Gondo sehen konnte. Dort unten lag die Welt
schon im Schatten. Nur die nahen Felsgipfel an der zwei Kilometer entfernten Grenze zu Italien lagen noch im
goldenen Licht. Bald würden sie sich rötlich färben. Sebastian liebte diese Augenblicke, in der sich die Sonne
vom Tag verabschiedete.
Der Talkessel von Tschawina mit seinen sonnenverbrannten Alpweiden lag still und friedlich im
Abendlicht, als Lauknitz aus dem Wald trat und zum See hinaufstieg. Kleine Waldraine und Felsstufen
durchsetzten die steile Almlandschaft. Der Grat im Osten, die Grenzlinie zwischen der Schweiz und Italien, lag
noch im Abendsonnenschein. Eine Gruppe Steinböcke zog friedlich an ihm entlang. Es hätte alles so schön sein
können...
Der Schritt über die letzte Felsstufe an den See ernüchterte Sebastian auf der Stelle. Auf der anderen
Seite des Sees, wo sich eine weite Grassenke hinzog, stand ein Zelt. Ein einsames, verlassenes Kuppelzelt,
ähnlich dem seinen, nur größer. Also campierte hier schon jemand! Dieser Gedanke schoss ihm wie ein Blitz
durch den Kopf.
Basti wollte aber lieber alleine sein und überlegte, was er jetzt tun sollte. Mit dem Gedanken, dass die
Alpe groß genug für zwei Wanderer war, beruhigte er sich zunächst. Das fremde Zelt stand in der Senke, doch er
wusste, dass sich ein Stück weiter oben noch ein weiterer, kleinerer See befand, wo er einst mit Janine zeltete.
Sebastian beschloss sich dorthin zurückzuziehen.
Vor dem einsamen Zelt blieb er einen Augenblick lang stehen. Es war geschlossen. Davor stand ein
nicht gerade sauberer Topf und eine halb mit Wasser gefüllte Blechschüssel. Ein paar im Kreis angeordnete
Steine hatten ein kleines Feuer im Zaum gehalten. Ein kleiner Klappstuhl aus Metallrohr und Tuch lag daneben.
So sehr er seine Augen auch anstrengte und umherspähte, Lauknitz konnte keinen Menschen weit und
breit entdecken. Vielleicht gehörte das Zelt zu der kleinen Almwirtschaft »Waira« drüben am Hang? Sebastian
betrachtete die Feuerstelle genauer. Es befand sich keine lose Asche darin. Es war auch nicht sehr windig
gewesen. Also konnte es gut und gerne zwei Tage her sein, als das Feuer seinen Besitzer gewärmt hatte.
Basti beließ es dabei, stieg zu dem kleineren See hinauf und begann sein Kuppelzelt zwischen zwei
Felsen aufzuschlagen. Die Öffnung richtete er nach Osten zum Bergschatten hin aus.
Im letzten Licht der Sonne schob er seinen Rucksack ins Zeltinnere und kramte eine Konserve
Mexikanischer Bohnensuppe, Brot und Esbit- Brennstoff heraus. Ausgedörrtes Wurzelholz für ein Lagerfeuer
fand er reichlich zweihundert Meter tiefer auf dem Almboden. Für die Feuerstelle hatte Sebastian eine
Riesenauswahl an Steinen: Runde, kantige und flache. Er baute sich rasch einen richtigen kleinen Herd, auf dem
dann seine Dosensuppe dampfte.
Es ging Sebastian richtig gut. Er hatte sein Gold zurück, saß in seinen Wollponcho gehüllt auf einem
Steinblock vor seinem Zelt, eine Steinschuppe mit den Bohnen auf den Beinen und löffelte genüsslich vor sich
hin. Die Grillen, die zum Sonnenuntergang schwiegen, begannen erneut ihr aufdringliches Konzert. Die ersten
Sterne sahen ihm neidisch beim Essen zu.
Plötzlich verebbte das Zirpen der Grillen. Ungewöhnlich. Nur der leise säuselnde Wind war noch zu
vernehmen. Stille ringsum. Oder doch nicht? Hatte er nicht gerade rechts ein Rascheln gehört? Sebastian sah
angestrengt über sein Feuer hinweg in die Dämmerung. Schemenhaft zeichneten sich hinter der silbernen
Wasserfläche des Sees Felsblöcke ab. Darüber düster die Felsen des Cima Verosso.
Basti starrte in die zunehmende Dunkelheit. Vielleicht waren es die Steinböcke, die er bei seiner
Ankunft oben am Grat gesehen hatte? Sicher zogen sie in der Dämmerung in geschützteres Gelände...
»Sie sollten das essen, solange es noch heiß ist..!« Die mächtige Stimme schlug neben Sebastian ein,
wie ein Blitz. Er sprang auf, die Steinschuppe polterte zu Boden, nur die Dose und den Löffel hielt er noch in
den Händen. Neben seinem Zelt stand ein großer, kräftiger Mann, von den tanzenden Flammen des kleinen
Feuers schemenhaft beleuchtet. »Oh, ich habe sie erschreckt, verzeihen sie mir, ich habe keine Manieren.«
Langsam ging der Mann ohne Manieren um Bastis Feuer herum, suchte den Boden nach etwas ab, auf
das er sich setzen konnte und pflanzte sich schließlich mit verschränkten Beinen ihm gegenüber an das
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Lagerfeuer. »Ambühel. Bruno Ambühel, mein Name.« Seine Stimme mit Schweizer Dialekt dröhnte in die Stille
der Nacht.
Lauknitz stand immer noch da, wie vom Blitz berührt. Was dachte sich dieser Kerl? Schlich sich von
hinten an, jagte ihm einen Heidenschreck ein und besaß dann noch die Frechheit sich einfach an seinem Feuer
den Hintern zu wärmen. Verkniffene Augen mit buschigen, kantigen Augenbrauen blickten Basti aus einem
ernsthaften Gesicht an. Die mächtige Nase seines ungebetenen Gastes saß über einem breiten,
zusammengepressten Mund. Seine Mundwinkel hatten sich als Grand Canyon in sein Gesicht gegraben, das von
kurzen, schon lichten Haaren umrahmt war. Mit seinem großen, aber keineswegs übergewichtigen Körperbau
sah Sebastians Gegenüber wie ein mürrischer Bauarbeiter aus.
»Ich glaube ihr Essen wird kalt.« Seine volumöse Stimme klang plötzlich gelangweilt. »Ich habe ihren
Feuerschein gesehen. Dort unten, das ist mein Zelt.«, fuhr er fort, während er mit einem Daumen hinter sich wies
und mit der anderen Hand seine Taschen abklopfte und offensichtlich etwas suchte.
»Das dachte ich mir!«, erwiderte Sebastian langsam betont, fast vorwurfsvoll. Er hatte inzwischen
seinen Schreck verdaut und war bereit, dem Eindringling die Zähne zu zeigen. Er rechnete sich aber wenig
Chancen aus, sollte ihm dieser Fremde an die Krawatte wollen. »Guten Abend!«, fügte Basti nach einer Weile
hinzu, als Bruno ohne Manieren schwieg und immer noch seine Taschen durchstöberte. Die Grillen begannen
erneut zu musizieren.
»Sind sie Strahlgänger?«, warf Bruno einen Augenblick später völlig zusammenhanglos in die Nacht
und als Sebastian nicht gleich antwortete: »Ich meine, haben sie Kristalle gesucht, dort oben am Tällihorn?«
Lauknitz ahnte plötzlich, dass ihn dieser Mann schon länger beobachtet hatte, viel länger, als er glaubte,
vielleicht sogar..? Nein, das konnte nicht sein! Es war keine Menschenseele zu sehen, als er seine Kassette aus
der Felsnische holte. Vielleicht war er in der Kolonne, die von der archäologischen Fundstätte herabkam? Auf
einem Mal fühlte sich Sebastian ertappt. Er sah Bruno Ambühel an, dass er ihm sowieso nicht glauben würde
und dass er seine Unsicherheit längst spürte.
Ambühel hatte endlich gefunden, was er gesucht hatte, zauberte aus einer seiner Taschen ein Päckchen
Zigaretten hervor und steckte sich eine davon zwischen die breiten Lippen, die zu grinsen begannen. »Da oben
gibt es keine Kristalle.« Erneut suchte er in seinen Taschen, wahrscheinlich nach Feuer. »Ich hab' sie gesehen,
drüben vom Abbruch aus, sie haben die Arbeiten am Fuße des Passes beobachtet?« Diese Feststellung ließ er
wohl nur aus Höflichkeit wie eine Frage klingen.
»Ich wollte über das Tällijoch ins Laggintal«, antwortete Lauknitz etwas barscher, als beabsichtigt,
»habe aber den Übergang nicht gefunden«, fügte er noch rasch hinzu.
Bruno Ambühel gab seine verzweifelte Suche nach Streichhölzern auf und angelte sich einen
brennenden Zweig aus dem Lagerfeuer. »So, so, Tällijoch...« Er zündete die Zigarette an, paffte einmal
genüsslich in die Luft und beugte sich zu Basti hinüber, dass sein Gesicht im Schein der Flammen wie das eines
zuckenden Teufels aussah. Mit überlegenem Blick stellte er ungewöhnlich leise fest: »Ein Joch liegt aber auf
einem Grat oder einem Kamm, aber nicht am Fuße einer Felswand...«
»Soll das ein Verhör werden, oder was soll das?«, fragte Sebastian, inzwischen mit deutlich genervtem
Akzent.
Bruno lehnte sich abrupt wieder zurück und sein Gesicht wurde im Schatten wieder friedlicher. »Oh,
entschuldigen sie«, seine Stimme klang jetzt freundlicher, »das passiert mir oft, ist bei mir wohl eine berufliche
Angewohnheit. Ich bin bei der Polizei in Bern.«, fügte er lächelnd hinzu.
Lauknitz starrte ihn einen Moment lang an, als hätte sich die Apokalypse bestätigt. Was machte ein Cop
auf einer einsamen Alm, gerade zu der Zeit, wo er sein Gold aus seinem Versteck holte? Das konnte doch kein
Zufall sein, oder? Was wusste dieser Bruno Ambühel? Hieß er wirklich so, oder war das nur ein Vorwand?
Ambühel schien seine Gedanken zu erraten: »Da haben sie mal keine Angst. In der Schweiz wird
niemand verhaftet, nur weil er den Übergang über einen Pass dort gesucht hat, wo es keinen geben kann.«
Das klang so sarkastisch, dass Sebastian ihm nun kein Wort mehr glaubte, egal, was er noch sagen
würde. Bruno saß ihm gegenüber, starrte ihn mit durchdringenden Augen an und rauchte. Er war sich offenbar
darüber bewusst, welchen Eindruck seine Ausstrahlung auf Basti machte. Sein Selbstbewusstsein schien
unerschütterlich. Und wie zur Bestätigung ließ er nun die Katze aus dem Sack, die er bislang um den heißen Brei
herumreden ließ: »Sie wissen, was dort oben auf dem Gletscher gefunden wurde?«
Seine durchdringende Art war Sebastian unheimlich. »Ja, ich habe es in der Zeitung gelesen«, gab er zu,
»aber deshalb bin ich nicht hier, ich wollte, wie ich schon sagte, übers...«
»Ja, ja, ich weiß schon, über das Tällijoch in das Laggintal, das sagten sie bereits.«, unterbrach ihn
Bruno ungeduldig. Sebastian spürte genau, dass Ambühel ihm kein einziges Wort glaubte. Bruno sah ihn wieder
schweigend an und rauchte. Er sah Basti nur an und er bekam ein schlechtes Gewissen.
»Welches Interesse sollte ich wohl als Deutscher an einem Haufen dämlicher, vergammelter Schweizer
Knochen haben?«, fragte Lauknitz aufgebracht und hoffte, Bruno damit zu noch weiteren Informationen zu
provozieren.
Doch Ambühel sah ihn nur weiter mit bohrendem Blick an, wie man eine Heuschrecke ansieht, die
gerade von einer Tarantel verspeist wird. »Das weiß ich noch nicht.«, stellte er leise, mehr für sich selbst fest. Er
resümierte weiter: »Wieso wandert ein Tourist aus Deutschland im langweiligsten Tal der Schweiz zum
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langweiligsten Berg im Tal, an seine langweiligste Felswand...« Er ließ mit einer Pause seine Worte wirken,
wartete aber gar nicht auf eine Antwort von ihm: »Ja, den Übergang nicht gefunden...«, er hob beschwichtigend
die Hände, »Ok, bitte schön, nichts für ungut, wir freuen uns natürlich über jedes touristisches Interesse an
unseren Bergen. Vielleicht haben sie ja doch auch nur nach Mineralien gesucht?« Er ließ diese Frage einfach als
Vorwurf stehen.
Allmählich platzte Sebastian Lauknitz der Kragen. Was wollte der von ihm? Wollte er sein Gold, dann
verstand er nicht, warum der es sich nicht einfach nahm, denn körperlich konnte Basti ihm ja nicht viel
entgegensetzen. Beabsichtigte Bruno andererseits nur ihn auszufragen, warum kam er dann nicht endlich auf den
Punkt? Oder hatte es mehr mit den Knochenfunden zu tun, über die Basti ohnehin nur das wusste, was in der
Zeitung stand?
»Hören sie«, versuchte es Lauknitz ein letztes Mal, »ich wandere gern allein über die Berge, ich genieße
die Natur, die Ruhe und gelegentlich schreibe ich darüber Gedichte und ich wollte wirklich nichts weiter, als
hinüber ins Laggintal. Von ihren Knochenfunden weiß ich nichts weiter, als bei uns in Norddeutschland in der
Zeitung stand«, Sebastian redete sich richtig in Fahrt, »und ihre bescheuerten Knochen interessieren mich ehrlich
gesagt einen Dreck! Ich bin weder ein Reporter, noch ein verkappter Archäologe, noch sonst irgendetwas! Ich
bin ein Stuckateur, der einfach mal in der Natur ausspannen will, Ok? Ist das jetzt bei ihnen angekommen?«
Ambühel zog die Augenbrauen hoch, erstaunt, einen solchen Redeschwall zu hören. Ihm wurde
offenbar klar, dass er keinen Schwerverbrecher vor sich hatte, der sich in den Bergen versteckte. Plötzlich wurde
er umgänglicher: »Ich hatte mich lediglich gewundert, wieso ein Tourist acht Kilometer talaufwärts zurücklegt,
anschließend wieder acht talabwärts, um sich dann in einem Seitental zu verstecken.«
Sebastian beruhigte sich wieder und erklärte: »Ich kenne diesen romantischen, stillen Platz von früheren
Touren her und wollte...«
»Ach, sie waren schon häufiger in diesem Tal?«, unterbrach ihn Ambühel. »Tut mir leid, ich wollte sie
nicht unterbrechen, aber...« Nun unterbrach er sich selbst. Es schien, als wüsste er zunächst nicht, was er sagen
sollte. Dann holte er tief Luft, warf seine Zigarettenkippe mit einer ausholenden Bewegung in das Feuer und
erklärte Sebastian in vertraulichem, geheimnisvollen Tonfall: »Also, das ist seltsam, das mit den Knochen. Wir
haben insgesamt 36 komplette Skelette gefunden...« Er ließ diese Information eine Weile wirken.
»Was ist an einer historischen Begräbnisstätte mit 36 Skeletten so seltsam?«, fragte Basti, neugierig
geworden.
Er riss Ambühel mit seiner Frage aus dessen Gedanken und der antwortete knapp: »Dass es eben keine
Begräbnisstätte ist, das genau ist seltsam daran!«. Bruno zündete sich eine neue Zigarette an. »Die Gebeine lagen
so verstreut, als hätte man sie punktgenau, wie eine Bombe aus einem Flugzeug geworfen!«
»Ja und..?«, drängte Sebastian ihn weiter zu erzählen, »wo ist das Problem? Vielleicht haben die damals
die Leichenteile auseinandergepflückt, um sie besser transportieren zu können?«
Ambühel sah Basti nachdenklich an und erwiderte: »Ja, schon möglich. Einer der Archäologen hat eine
ähnliche Theorie...« Bruno zog bedächtig an seiner Zigarette, als musste er sich die nächsten Worte erst
überlegen. »Die Grenze zu Italien ist dort drüben.«, er nickte mit dem Kopf hinüber zum Grat, der inzwischen
nur noch eine Silhouette war und fuhr dann fort. »Italien war im dritten Reich Deutschlands Verbündeter. Viele
Flüchtlinge versuchten damals hier und anderswo über die Grenze in die neutrale Schweiz zu gelangen.« Er
machte eine kurze Pause. »Viele versuchten das: Juden, Kommunisten, alliierte Kriegsgefangene, die
entkommen waren, oder Piloten, die von den Deutschen abgeschossen wurden. Es wurde natürlich versucht, das
zu verhindern.«
Lauknitz kombinierte in lauten Gedanken weiter: »Sie glauben, man hat sie abgefangen, drüben in
Italien ermordet, hierher transportiert und hier abgeladen? Glauben sie das wirklich? Ich dachte immer, die
Schweiz sei damals so gut bewacht gewesen?«
»War sie auch«, klärte Ambühel ihn auf, »wäre trotzdem möglich gewesen, vielleicht um die
Schweizarmee eines Verbrechens zu beschuldigen und um politischen Druck auszuüben, wer weiß...« Er
schwieg eine Weile. Dann sah ihn Bruno ernst an und Basti wusste, dass er ihm immer noch misstraute und noch
nicht alles erzählt hatte: »Da ist aber noch etwas...«
»Was jetzt noch, sind ihre Skelette etwa wieder zum Leben erwacht?« Sebastian versuchte witzig zu
sein. Doch Bruno Ambühels todernste Miene erdrückte jeden weiteren Humor.
»Einige der Gebeine sind älter als der erste Weltkrieg.« Er nickte gewichtig, bevor er hinzufügte: »Sehr
viel älter, einige so alt, wie das Römerreich. Und wir glauben, dass in tieferen Schichten noch mehr Gebeine
liegen.«
Nun verstand Lauknitz gar nichts mehr. »Aber das beweist doch, dass die Knochen von einer
Begräbnisstätte stammen, die Menschen seit langer Zeit benutzt haben, oder?«, warf er unsicher ein.
»Schon«, entgegnete Ambühel, »aber noch vor zwei Monaten?« Er sah Basti fragend an.
»Heißt das etwa...«, Sebastian traute sich nicht, den Gedanken zuende auszusprechen.
»...Dass einige der Knochen erst zwei Monate alt sind, ja. Manche auch ein halbes Jahr, einige zwei
Jahre.«, gab Bruno mit verzweifeltem Gesicht zu.
»Das heißt, sie ermitteln in einem oder mehreren Mordfällen, ja?«, fragte Basti neugierig.
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Bruno Ambühel sah ihn an, wie ein Kind, dass sein Einmaleins nicht begriffen hatte. »Nein, tun wir
nicht, das heißt...«, er machte eine kurze Pause, »eigentlich doch, ach ich weiß es nicht. Man kann ja verrückt
werden dabei, so verzwickt ist das!«
»Was?«, fragte Sebastian drängend.
»Nach unseren Untersuchungen«, fuhr Bruno nüchterner als zuvor fort, »sind nur einige der Leichen an
fremder Gewalteinwirkung gestorben. Meist die älteren.« Ambühel zündete sich an der halb aufgerauchten
Zigarette schon wieder eine neue an. »Wir sind noch mitten in den Untersuchungen, aber soviel können wir
schon sagen... Das bleibt aber unter uns!« Er sah Lauknitz eindringlich und warnend an. »Ich weiß nicht, wie die
das heute machen, mit irgendwelchen Strahlenmessungen, oder so.., ist ja auch egal. Aber diese Archäologen
haben herausgefunden, dass einige der Skelettierten erst vor kurzem eines natürlichen Todes, beziehungsweise
einige an der Pest gestorben sind.«
Sebastian sah eine Weile ungläubig zu ihm hinüber. Sollte das ein schlechter Witz sein? Die Pest galt in
Europa seit langem als ausgestorben! Irgendwie glaubte er Ambühel nicht. »Aber wir leben im zwanzigsten
Jahrhundert! Da setzt sich niemand auf einen alten, stinkigen Knochenhaufen, um zu sterben, selbst, wenn er die
Pest hat.«, gab Sebastian zu bedenken.
Ambühel nickte bedächtig. »Das ist es ja gerade!«
»Also doch Mord.«, warf Basti ein und sah den Berner Polizisten erwartungsvoll an.
Dieser erwiderte Sebastians Blick und hatte seinen beherrschten Gesichtsausdruck zurückgewonnen.
»Das eben versuche ich herauszufinden!« Einen Augenblick später setzte er hinzu: »Dann läuft mir ausgerechnet
im verstecktesten Winkel der Schweiz ein deutscher Tourist über den Weg, der wiederum ausgerechnet in der
Nähe des Fundorts, an einer tristen Felswand einen Pass sucht und angeblich nicht findet, den selbst ein
Halbblinder mit bloßem Auge erkennen würde. Und diesen Touristen treffe ich dann später und noch mal
ausgerechnet bei meinem Zelt wieder.« Bruno wartete einen Moment die Wirkung seiner Worte ab, bevor er
seine Gedanken fortsetzte. »Sie müssen zugeben, dass dies schon eine sehr seltsame Konstellation ist, oder?«
Lauknitz war ziemlich irritiert. Dieser Typ klagte ihn schon wieder an! Was hatte er eigentlich mit
diesen beschissenen Knochen zu tun? »Glauben sie etwa, ich habe vor zwei Monaten einen Pestkranken hier
heraufgeführt, ihn auf den Knochenhaufen gesetzt, ihn festgehalten und gewartet, bis er abgekratzt ist, und
komme jetzt wieder hierher zurück, nachdem die Sache in jeder Zeitung stand? Das kann doch wohl nicht ihr
Ernst sein, oder?« Mittlerweile war Sebastian ein wenig wütend geworden.
Ambühel zuckte mit den Schultern. »Ich glaube gar nichts! Ich muss herausfinden, was da vor sich geht
und untersuche alles, was mir verdächtig erscheint. Auch sie!« Missmutig beförderte er seine Kippe in das Feuer
und fügte ruhiger hinzu: »Nehmen sie’s nicht persönlich!«
Na der hatte vielleicht Nerven! Der Polizist verdächtigte Sebastian, einen Pestpatienten im Hochgebirge
auf einem Haufen Knochen sterben gelassen zu haben, doch er sollte es nicht persönlich nehmen! Lauknitz
fehlten die Worte. Andererseits war er beruhigt, dass Ambühel offensichtlich nichts von seiner Bergführerkasse
wusste.
Plötzlich stand Bruno auf. Seine Gestalt warf einen mächtigen Schatten im schräg einfallenden
Mondlicht. »Wo werden sie morgen hingehen?« Sebastian konnte das Lauernde in seiner Frage nicht überhören.
»Weiß ich noch nicht, ich habe ein paar Tage Urlaub und möchte die Natur genießen«, gab er
unbestimmt zurück.
Ambühel wandte sich schon um und im Gehen rief er noch über seine breite Schulter: »Wir sehen uns
morgen, gute Nacht!« Dann verschmolz er mit der Dunkelheit. Basti wurde plötzlich kalt, obwohl er kurz zuvor
noch geschwitzt hatte. Es viel ihm schwer, die letzte Stunde gedanklich nachzuvollziehen. Lauknitz war hier
heraufgestiegen, um seine Goldmünzen zu holen und plötzlich war er ein Verdächtiger in einem Mordfall, der
aber eigentlich gar keiner zu sein schien.
Mit einem Mal wollte Sebastian nur noch eines: Schleunigst nach Hause zurückfahren und wieder an
seine alltägliche Arbeit gehen. Doch um gleich aufzubrechen, war er zu müde. Der Tag heute hatte seine Spuren
hinterlassen. Innerlich noch lange nicht beruhigt, kroch Lauknitz in sein Zelt und stellte seinen Taschenwecker
im Licht der Taschenlampe auf drei Uhr früh. Er wollte hier verschwinden, bevor dieser eigenartige Polizist aus
seinem Zelt kroch. Noch bevor die Archäologenkolonne wieder heraufkam, konnte Basti am Zwischbergenpass
sein und nach Saas Fee absteigen. Er würde nicht mehr versuchen, ein Schließfach bei irgendeiner Bank zu
mieten, sondern auf dem kürzesten Weg die Heimreise antreten!
Angestrengt lauschte er noch auf verdächtige Geräusche, bis ihn die Müdigkeit ins Reich der Träume
entführte. Sein Kopf ruhte in dieser Nacht auf dreißigtausend Schweizer Franken.
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Absturz
Seine Taschenuhr riss Sebastian aus dem Tiefschlaf. Trotzdem er sich noch unendlich müde fühlte, war
er auf der Stelle hellwach. Zunächst blieb er still liegen und lauschte. Außerhalb seines Zeltes schien die Welt
noch in nachtkalter Starre zu liegen. Lauknitz hoffte inständigst, dass dies auch für einen Berner Polizeibeamten
galt.
Mit steifen Bewegungen schälte er sich aus seinem Schlafsack. Das Öffnen des Reisverschlusses schien
ihm die ganze Welt aufzuwecken. Eiskalte, neblige Luft schlug ihm entgegen, als er sich aus dem Zelteingang
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zwängte. Doch seine Aufregung unterdrückte das Kälteempfinden. Nur mit seinem Lederhemd bekleidet schlich
sich Sebastian zum Anfang der Senke, in der das polizeiliche Zelt stand. Hinter einen Fels geduckt, spähte er
hinab. Dort unten blieb alles still. Ein paar Schuhe standen vor dem Eingang. Also schlief Bruno Ambühel noch.
Zufrieden mit seiner Feststellung huschte Basti zurück zu seinem Biwak. Mit sicheren Griffen baute er
sein Zelt ab und verstaute es im Rucksack, ohne auch nur ein Geräusch zu verursachen. Sein Bowiemesser und
die kleine Axt steckte er sich in den breiten Ledergürtel. Wozu, war ihm eigentlich selbst nicht so recht klar.
Wollte er sein Gold mit dem Dolch gegen Schweizer Gendarmen verteidigen? Lauknitz schüttelte den Kopf über
seine eigene Einfältigkeit, schulterte den Rucksack und ging los. Nein, er schlich! Wie ein gemeiner Dieb stahl
er sich in der anbrechenden Morgendämmerung fort.
Vorsichtig setzte Basti Lauknitz in der Dunkelheit einen Fuß vor den anderen, bemüht, ja nicht auf
einen Felsen zu treten, oder einen losen Stein anzustoßen. Es war erbärmlich kalt und nicht einfach, mit steifen
Gliedern beinahe elfengleich und geräuschlos über eine unebene Alpweide zu schleichen. Jetzt war Basti
dankbar für seine Lederbekleidung, die er stets in den Bergen trug. Einmal auf Körpertemperatur erwärmt, war
sie der beste Schutz gegen morgendliche Frische.
Plötzlich fiel es ihm wie Schuppen von den Augen, dass Ambühel möglicherweise auch wegen seiner
Kleidung misstrauisch geworden war. Gewöhnlich laufen Wanderer in High-Tech-Ware durch die Berge.
Sebastians indianerhaftes Aussehen musste freilich die Phantasie eines Polizisten anregen. Für ihn war Basti
vielleicht ein durchgeknallter Psychopath, der hier oben sein Unwesen trieb.
Lauknitz musste still in sich hineinlächeln. Bei seinem Aussehen und seinem gestrigen Verhalten
musste genau dieser Eindruck bei Ambühel entstanden sein. Wer ist schon so beknackt und rennt in
Indianerklamotten ein beschwerliches Tal hinauf zu einer Felswand, läuft wieder hinunter und versteckt sich
dann in einem verschwiegenen Seitental? Der Cop konnte ja nicht ahnen, dass Basti seit zwölf Jahren über diese
Berge wanderte und für sich etwas Zeit im Einklang mit der Natur suchte. Ebenso konnte Ambühel nicht wissen,
dass er sich seit jeher für das Leben der amerikanischen Indianer interessierte und viele Praktiken daraus hier in
den Bergen umsetzte, wo man kaum einen Menschen traf, der einen deshalb auslachte. In der Stadt wäre
Sebastian in diesem Aufzug keine zehn Meter weit gekommen, ohne einen Massenauflauf heraufzubeschwören.
Als er den Wald erreicht hatte, beschleunigte Lauknitz seinen Schritt. Auf Geräusche brauchte er nun
keine Rücksicht mehr zu nehmen, er glaubte sich mit seinem kleinen Schatz schon in Sicherheit. Das zweite Mal
in zwei Tagen hetzte er nun dieses Tal hinauf. Sebastian glaubte ganz fest daran, dass er nie wieder in seinem
Leben sich so würde beeilen müssen.
Die Sonne kroch hinter den Bergen hervor, als er beinahe an der Stelle angelangt war, die gestern noch
von dem ungewöhnlichen Fuhrpark besetzt war. Strahlenlanzen schossen über Felsen und Almwiesen, brachen
sich ihren Weg durch Arvenzweige. Augenblicklich erwachte die Welt. Eine Alpendohle ließ ihr erstes heiseres
Krächzen hören, irgendwo pfiff ein Murmeltier und das windverwehte Läuten einer Herdenglocke verlieh dem
sonnigen Morgen friedliche Feierlichkeit.
Gewöhnlich genoss Basti Lauknitz solche Naturstimmungen. An diesem Morgen jedoch beschleunigte
er seinen Schritt. Zwar war er sich dessen gewiss, einen mehrstündigen Vorsprung zu haben, doch irgendein
inneres Gefühl trieb ihn an. Zwischendurch kamen ihm Zweifel an seinem eigenen Verhalten. Was trieb ihn so
zur Eile? Wer sagte eigentlich, dass dieser Berner Gesetzeshüter ein Interesse daran hatte, ihm zu folgen? Was
bildete er sich eigentlich ein? Ein Polizist hatte doch eigentlich ganz andere Sorgen, oder? Sicher lag der noch
gemütlich in seinem Schlafsack und träumte von einem Riesenberg Knochen!
Der Gedanke an einen möglichen Verfolger ließ Sebastian jedoch keine Ruhe mehr. Nach einer
weiteren halben Stunde Aufstieg setzte er den Rucksack ab und kramte seinen Feldstecher hervor. Aufmerksam
suchte er die einsehbaren Stellen der Fahrstraße ab und bekam einen Schreck. Unweit der Stelle, wo das
versteckte Tschawinatal mündete, entdeckte er die Fahrzeugkolonne von gestern. Die Autos bewegten sich nicht.
Drei Personen standen daneben und schienen sich angeregt zu unterhalten. Die anderen saßen offenbar in den
Fahrzeugen. Basti versuchte zu erkennen, ob Ambühel einer von ihnen war, doch die Entfernung war zu groß.
Dann stiegen die drei Figuren in die Autos und die Kolonne setzte sich in Bewegung.
Lauknitz nahm seinen Rucksack wieder auf und stiefelte weiter. Selbst, wenn Ambühel in zehn Minuten
am Parkplatz wäre und ihm folgen würde, konnte er ihn nicht mehr erreichen, da war sich Basti sicher. Solange
er denken konnte, war seine Aufstiegsleistung in der Höhe und in den Morgenstunden am effektivsten. Dieser
Knochenpolizist musste schon sehr gut sein, wollte er Sebastian einholen.
In zwei Stunden würde Sebastian auf dem Zwischbergenpass stehen und drei Stunden später im
Touristengewühl von Saas Fee untertauchen. Insgeheim freute er sich schon auf eine gewisse Konditorei, in der
es den besten Apfelstrudel von Saas Fee gab. Diese Leckerei gedachte sich Basti noch anzutun, bevor er den Bus
nach Brig besteigen würde. Dachte er...
Um halb neun Uhr hatte Sebastian Lauknitz bereits den dritten Bach übersprungen und stand am Fuße
des Moränenwalls. Eine Glanzleistung von einem Aufstieg! Was es doch ausmachte, wenn einem eine heimliche
Angst im Nacken saß! Eine halbe Stunde später blickte er vom höchsten Punkt der Moräne durch sein Fernglas
und suchte den Wanderpfad im Tal ab. Er konnte bis zur Gmeinalp hinabblicken, dahinter machte das Tal eine
Biegung und war nicht mehr einzusehen. Keine Menschenseele war dort unten zu entdecken. Zufrieden
schwenkte Sebastian den Feldstecher zurück und...
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Frank Adlung • Storchenweg 6 • 38112 Braunschweig • Tel.: (05 31) 2 45 73 73 • Mobil: (01 60) 5 20 21 12
07.04.2011
Das Geheimnis von Val Mentiér, Roman • © 2008 - 2010 by Frank Adlung, Braunschweig • http://www.sternenlade.de
Erstelldatum 06.04.2011 23:42
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Er hielt den Atem an. Rasch drehte Basti am Rädchen, um die Schärfe nachzustellen. Kein Zweifel!
Kurz vor dem Moränenwall marschierte eine einzelne Person mit weit ausgreifenden Schritten bergwärts. Bruno
Ambühel! Wie um alles in der Welt machte er das? So ein Tempo war mehr als rekordverdächtig!
Lauknitz wurde augenblicklich klar, dass dieser Berner Gesetzeshüter noch irgendetwas von ihm wollte.
Und der wusste auch, wohin Basti ging. Wäre er nach Gondo abgestiegen, hätten ihn die Insassen der
Fahrzeugkolonne gesehen. Er wusste in diesem Moment, dass er einen Wettlauf würde gewinnen müssen, wollte
er seine Goldmünzen behalten. Basti war nur nicht ganz klar, welches Interesse Ambühel wirklich an seiner
Person hatte. Vermutlich brachte er ihn immer noch mit diesen geheimnisvollen Knochenfunden in Verbindung.
Lauknitz hatte natürlich kein Interesse daran, deshalb seinen Rucksack von ihm durchsuchen zu lassen.
Vor Sebastian lag der nördliche Arm des Zwischbergengletschers. Dort vorn, unter dem mächtigen
Felsriegel lag die Ausgrabungsstätte und hinter ihm der Aufstieg zum Pass. Am Zeltdorf musste er
normalerweise vorüber, um den Pass zu erreichen. Was aber, wenn dort schon jemand auf ihn wartete? Jemand,
der während der Nacht dort Wache gehalten hatte und an diesem Morgen über Funk veranlasst wurde, ihn
aufzuhalten? Sebastian schüttelte den Kopf. Mittlerweile dachte er schon wie ein flüchtiger Schwerverbrecher.
Paradox!
Lauknitz fasste einen schnellen Entschluss. Den Felsriegel bergwärts zu umgehen würde ihm nicht
sonderlich schwer fallen. Es wäre einerseits eine Abkürzung und er hätte bereits einen Teil der Höhe bis zum
Pass bewältigt, während Ambühel an der Ausgrabungsstätte garantiert noch Zeit vertrödeln würde. Außerdem
konnte der Polizist das Gelände von unten her schlechter einsehen, während Sebastian seinerseits seinen Gang
von oben herab gut beobachten konnte. Die andere Seite des Passes kannte Basti von früheren Touren her, wie
seine Westentasche. Dort würde er Ambühel schon abhängen. Doch allzu sicher war er sich nicht.
Während er im Blockgeröll des Felsriegels aufstieg, dachte Sebastian darüber nach, was er Ambühel
erzählen sollte, falls der ihn wider erwarten einholen sollte. Weshalb war er heute morgen so fluchtartig
aufgebrochen? Die abenteuerlichsten Erklärungen fielen ihm ein, nur keine einzige, die annähernd plausibel
geklungen hätte. Zwischendurch überlegte Basti, ob er nicht einfach die Wahrheit erzählen sollte, auch auf die
Gefahr hin, dass Ambühel ihm keinen Glauben schenken würde.
Die Felsen des Riegels entpuppten sich steiler und höher, als er es sich vorgestellt hatte. Sebastian
schwitzte aus allen Poren. Links ging es weiter hinauf. Davor ein kleines Schneefeld. Er musste es unter allen
Umständen im Felsschatten des Riegels umgehen. Auf der weißen Fläche des Schnees wäre er für Ambühel
selbst von unten her gut zu erkennen gewesen. Allmählich neigte sich das Gelände und Basti ging über fast
ebenes Blockgeröll. Weiter vorn befand sich eine mächtige Felsabbruchkante. Sie musste direkt hoch über der
archäologischen Fundstätte liegen. Vermutlich war sie einmal durch einen Bergsturz entstanden, dessen
Trümmer der Gletscher auf seiner Wanderung mitgenommen hat.
Genau auf diesen Abbruch hielt Lauknitz zu. Vorsichtig schob er seinen Oberkörper zwischen
Felsblöcken an die Kante heran, um in die Tiefe zu spähen. Er war überrascht, das Zeltdorf in schwindelnder
Tiefe direkt unter ihm zu sehen. So hoch hatte er den Felsriegel nicht eingeschätzt. Sebastian wagte nicht, mit
dem Feldstecher hinabzuschauen. Seine Position war nach Süden hin ausgerichtet und eine einzige
Sonnenrefflektion auf dem Glas hätte Ambühel seinen Standort verraten können.
Mit zusammengekniffenen Augen beobachtete Basti das Gelände von der Moräne bis zu den Zelten. Da
plötzlich entdeckte er ihn! Ambühel hatte die Stelle, an der er den Hang hinaufgestiegen war, bereits passiert.
Bruno folgte ihm also nicht in die Felsen. Doch wenn er sein Tempo beibehielt, würde er dennoch vor Sebastian
auf der Passhöhe sein. Das gefiel ihm nicht und er überlegte, was er tun sollte. Das Tal wieder hinuntersteigen
war nicht möglich, denn von dort kam ja die Kolonne herauf.
Sebastian beschloss, erst einmal weiter zu beobachten. Kurz bevor Ambühel die Fundstätte erreicht
hatte, schlüpften zwei Gestalten aus einem der größeren Zelte und gingen ihm entgegen. Der Polizist sprach kurz
mit den beiden Männern, die wild gestikulierten und auf das große Zelt zeigten. Dann verschwanden sie
zusammen unter der Zeltplane. Vergeblich wartete er darauf, dass Ambühel wieder darunter hervortrat.
Basti wurde nicht ganz klar, was er davon zu halten hatte. Erst verfolgte ihn Ambühel in einem
Gewaltmarsch und nun ließ er sich sogar soviel Zeit, um mit diesen Typen eine Zeltkonferenz abzuhalten. Oder
galt sein eiliger Aufstieg am Ende gar nicht ihm? Waren die Ängste, die er ausgestanden hatte völlig
unbegründet?
Seine Augen begannen zu tränen. Sebastian wischte mit dem Hemdärmel darüber, ohne das Zelt auch
nur einen Moment unbeobachtet zu lassen. Was machten die da drinnen? Mittlerweile kam er auf den Gedanken,
dass seine Aufregung ganz umsonst gewesen war und Ambühel gerade jetzt dort unten gemütlich beim
Frühstück saß. Ja, genau so war es wohl!
Allmählich beruhigte sich Lauknitz mit der Vorstellung, dass er sich wieder einmal nur viel zu viel
eingebildet hatte. Von einer tonnenschweren inneren Last befreit, blickte er erleichtert, aber weiterhin neugierig
hinab. Er wollte sich nur noch anschauen, was geschah, wenn die Kolonne heraufkam und dann endlich weiter
nach Saas Fee gehen.
Geduldig wartete er. Wie lange Sebastian Lauknitz so auf das Zeltdorf starrte, konnte er nicht mehr
sagen. Nur eines wusste er noch: Die Sonne schien vom wolkenlosen Himmel, dennoch fror er. Eine eigenartige
Kälte drang in ihn, als hätte jemand die Tür zu einem riesigen Kühlschrank aufgestoßen. Vielleicht nur ein
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kühles Lüftchen! Doch die Sonne stand schon hoch über den Bergen. Eigentlich musste ihm unheimlich warm
gewesen sein. Basti beruhigte sich damit, dass es wohl die Anstrengung der letzten Stunden war, die ihn so
empfinden ließ.
Plötzlich überkroch ihn eine Welle eisiger, feuchter Kälte, so, als würde er durch einen dichten Nebel
steigen. Noch indem er darüber nachdachte, klapperte hinter ihm eine Felsschuppe oder ein Stein. Erschrocken
drehte sich Sebastian um und erstarrte.
Was er sah, gab es nicht. So etwas konnte es nicht geben! Er musste eingeschlafen sein und träumte, das
war die einzige Erklärung! Das Fernglas drückte in seine Rippen und schmerzte. Nein, er war wach! Aber er sah
etwas, das es nicht geben konnte! Wie von Geisterhand hingezaubert, lag plötzlich eine dunkelgraue Wolke mit
weißen, ausgefaserten Rändern wie ein riesiger Wattebausch hinter ihm über dem steinigen Blockgelände. In der
Wolke stand ein Mann, oder ein Wesen, Lauknitz konnte es nicht sofort erkennen. Eine schemenhafte Silhouette,
die einem gehörnten Menschen ähnelte. Sebastian hatte das Gefühl, dem Teufel persönlich gegenüberzustehen.
Die Gestalt bewegte sich langsam auf ihn zu. Basti versuchte sich aufzurichten, doch der schwere
Rucksack zog ihn zurück. Ein panischer Ruck, dann kam er endlich hoch. Gleichzeitig trat die Gestalt aus dem
wabernden Nebel. Ein Wesen, wie aus einem Since-Fiction-Film. Da stand ein riesiger Mann vor ihm, der
irgendwelche Fellteile am Leib trug. Sein teilweise bloßer, muskulöser Körper war mit Ledergurten und
irgendwelchen Schwertern behangen und auf seinem mächtigen Schädel saßen zwei große, bedrohlich wirkende
Hörner. Seine dunklen Augen blickten Sebastian erstaunt, ja fast ängstlich an, als hätte er gesehen, was Lauknitz
selbst in diesem Moment erblickte.
Schweigend standen sie sich gegenüber. Die Gestalt machte zögernd einen Schritt auf Sebastian zu. Er
wollte zurückweichen, stieß an einen Stein und verlor mit dem schweren Rucksack das Gleichgewicht. Da fiel er
plötzlich ins Bodenlose. Eine durchdringende Kälte umgab ihn. Das war das Letzte, was Sebastian Lauknitz
bewusst wahrnahm. Dann herrschte finstere Stille und Leere.
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Der Alte
Basti Lauknitz konnte nicht mehr genau sagen, wie lange er ohne Bewusstsein gewesen war. Es ist auch
nicht wichtig, denn Zeit hatte von da an eine andere Bedeutung für ihn.
Ein wahnsinniger Kopfschmerz und Schwindelgefühl waren die ersten Empfindungen, die er spürte. Als
chronischer Migränepatient waren ihm Kopfschmerzen nichts unbekanntes. Doch dieser Schmerz stand in
keinem Verhältnis zu den Migräneanfällen, die er bis dahin erlebt hatte. Sein Schädel drohte beim geringsten
Augenzwinkern zu explodieren und schürte eine würgende Übelkeit. Sebastian fror erbärmlich und sein Körper
fühlte sich an, als hätte eine Lokomotive Billard mit ihm gespielt. Vorsichtig versuchte er sich auf die Seite zu
drehen, um die hämmernde rechte Schläfe auf seine Hand zu pressen.
Sebastian spürte einen weichen, knisternden Untergrund. Gleichzeitig stieg ein fürchterlich muffiger
Gestank in seine Nase. Es erinnerte ihn an den Kaninchenstall seines Großvaters, in dem er sich als Kind
herumtrieb. Die Übelkeit verstärkte sich und drohte ihn zu ersticken. Zitternd rollte er sich seitlich zusammen,
den pochenden Kopf auf beide Hände gelegt. Selbst das Denken verursachte Schmerzen. Aber zumindest war es
dunkel und still. Lauknitz versuchte ruhiger zu atmen und irgendwann erlöste ihn tiefer Schlaf von Übelkeit und
Schmerz.
Als er erneut aufwachte, spürte er ein drängendes Bedürfnis. Zögernd bewegte Sebastian seinen Kopf.
Das Hämmern war verschwunden, die Migräne abgeklungen. Aber Schultern und Rücken schmerzten nach wie
vor. Es war immer noch dunkel. Er überlegte krampfhaft, wo er sich befand. Sein Kopf schien wie leergefegt.
Lauknitz erinnerte sich an einen Traum. Er wurde verfolgt und traf dann auf eine Teufelsgestalt. Der
Traum war sehr deutlich. Aber wo war er, bevor er träumte? Wo war er jetzt? Es fiel ihm schwer, seine
Erinnerungen zurückzuholen. Da war dieser Polizist. Ach ja, Basti hatte seine Bergführerkasse geholt und wollte
nach Saas Fee. Und dann war da nur noch dieser Traum mit der Teufelsgestalt.
Unter Schmerzen drehte sich Sebastian auf den Rücken. Dunkelheit. Er drehte den Kopf nach links und
rechts. Dunkelheit. Augenblicklich nahm er wieder diesen unangenehmen Geruch wahr. Es stank nach Leder,
nasser Erde, Fisch und noch einigen anderen widerlichen Dingen. Ein Parfum von Chanel war jedenfalls etwas
ganz anderes! Wo zum Kuckuck war er?
Dem Geruch nach befand er sich in einem Stall, oder Geräteschuppen. Irgendwo im dunklen Nichts
erkannte Sebastian einen Lichtschimmer, der durch einen Türspalt oder Riss hereinfiel. Wie kam er hierher und
vor allem: Wo war er hier? Die wichtigste Frage, die sich ihm jedoch immer nötiger aufdrängte, war die nach
einem Ort für gewisse menschliche Verrichtungen.
Zunächst brauchte er mal Licht, um sich zu orientieren. Dabei stellte sich ihm gleich die nächste Frage:
Wo war sein Rucksack? Umständlich tastete Lauknitz seinen Körper ab. Verwundert stellte er fest, dass er nur
noch seine Lederhose trug. Wo war seine restliche Kleidung? Sebastian griff in die Hosentasche und zog sein
Feuerzeug heraus. Das war immerhin noch da!
Das flackernde Flämmchen hüllte den Raum in ein unruhiges, diffuses Licht. Ein heilloses Chaos von
unbekannten Gegenständen umgab ihn plötzlich und ohne jede Vorwarnung. An einem groben Deckenbalken
hingen irgendwelche unförmigen Töpfe, gebündelte Gräser und kleine Sträucher. Von einem anderen
Stützbalken hingen Lebensmittel herab: Schinken, Würste, Zwiebeln, Knoblauch und an einem Faden sogar
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Fische, vermutlich getrocknet. Alles um Basti herum erinnerte an das Innere einer Trapperhütte aus den
Lederstrumpfgeschichten. Das Feuerzeug wurde heiß, versengte seinen Daumen und ging aus.
Als nächstes versuchte er sich aufzurichten. Auf einem Mal durchfuhr ihn ein stechender Schmerz, er
zuckte zusammen und rutschte von seinem Lager. Unsanft landete er auf einem harten, kalten Boden, stieß gegen
irgendwelche Dinge und löste damit ein nicht enden wollendes Scheppern und Klappern aus. Irgendeine
komplizierte Konstruktion schien in sich zusammenzufallen. Gleichzeitig spürte Sebastian im Rücken und in der
Brust einen Schmerz, der ihn zu ersticken drohte. Auch sein linkes Bein tat fürchterlich weh und fühlte sich
merkwürdig steif an. Die Schmerzen trieben ihm Tränen in die Augen. Lauknitz atmete schwer und dann bekam
er einen Hustenanfall, dass ihm Hören und Sehen verging.
Plötzlich brach helles Licht in die Dunkelheit und ließ seine Umgebung sofort zu gleißendem Nebel
verschwimmen. Sebastian lag am Boden und sah auf ein schemenhaftes Viereck, aus dem grelle Helligkeit
hereinflutete. Im Strahlenkorridor bewegte sich umständlich eine Schattengestalt auf ihn zu.
»Ah, hat Falméras Erde euch wieder, Talris sei Dank!« Die schemenhafte Gestalt humpelte heran.
»Macht es euch nur auf dem Boden bequem, wenn euch Vater Balmer’s Schlafstatt nicht gut genug ist.«
Lauknitz rätselte, ob diese Stimme einem Mann oder einer Frau gehörte. Sie war hoch und krächzend und klang
geradezu lächerlich, als sie ein langgezogenes, meckerndes Lachen erklingen ließ.
Die Gestalt blieb gebeugt vor Sebastian stehen und blickte auf ihn herab, wie ein Metzger ein Schwein
betrachtete, das er zu schlachten gedachte. Dann wandte sie sich abrupt um. »Na, wollen mal sehen, ob wir hier
nicht ein wenig Luft hereinbekommen, hi, hi, hi«, nörgelte das humpelnde Wesen vor sich hin und etwas lauter:
»Habt sicher Hunger, wie ein Felsenbär, was?«
Die Stimme klang wie eine Mischung aus Schweizer Deutsch und irgendwelchen lateinischen Lauten.
Doch Basti verstand sie, wenn auch nur mit einiger Mühe. Dann schwangen Fensterflügel auf und ließen genug
Licht herein, um deutlicher sehen zu können.
Es war ein Mann. Nein, falsch. Es war ein kleines, gebeugtes Männlein, etwa einen Meter fünfzig groß,
mit einem wenig ausgeprägten Buckel, der seinen Träger aber nicht im geringsten zu behindern schien. Ein
freundliches, spitzbübisches Gesicht lachte Sebastian an. Die unzähligen Falten und Runzeln, die sein Antlitz
wie tiefe Gräben durchzogen, verstärkten noch den Eindruck eines ständig grinsenden Gesichts. Eine große
Knollennase saß zwischen wieselflinken, lachenden Äuglein. Die kleine verschrumpelte, zahnlose Öffnung
darunter, musste dann wohl der Mund sein. Dafür erinnerten die übergroßen Ohren des Männleins an die einer
Fledermaus. Bei kräftigem Wind musste er wahrscheinlich Acht geben, um nicht wie ein Drachen einfach
davongetragen zu werden. Ein Kranz weißer, unordentlicher und überlanger Haare, die auf die Kopfhaut geklebt
schienen, gab ihm letztlich das Aussehen eines zu groß geratenen Gnoms.
Das ganze Männchen steckte in einer laienhaft zusammengenähten, viel zu weiten Lederhose. Der
schmuddelige, geflickte Umhang aus braunem Leder schien ebenfalls für eine deutlich größere Person
geschneidert worden zu sein. Der Rückenteil des Mantels war mit langem, zottigem Fell besetzt, was der ganzen
Gestalt ein noch skurrileres Aussehen verlieh. Kurze Beinchen steckten in Fellstiefeln, die indianischen
Mokkasins nicht unähnlich waren.
Frische, warme Sommerluft strömte herein, nachdem das Männlein alle drei Fenster des Raumes
aufgestoßen hatte. Eigenartigerweise schienen die Fenster keine Glasscheiben zu besitzen. Nicht einmal einen
Rahmen konnte Sebastian erkennen. Irgendwie fühlte er sich in einen alten Wildwestfilm versetzt.
Der übergroße Zwerg kam zu ihm herangehumpelt, zog sich einen klobig gezimmerten, wackeligen
Stuhl heran und setzte sich vor Sebastian hin. Neugierig betrachtete er ihn, wie einen soeben gefangenen,
seltenen Schmetterling. Er nickte sinnend und während er ihn weiter begutachtete, murmelte er vor sich hin:
»Siehst du, Balmer, du hattest Recht, das Reich der Toten ist nicht endgültig. Die Prophezeihung ist mächtiger!«
Sebastian Lauknitz verstand nichts von alledem. Es war ihm auch egal, denn ein anderes, viel
dringenderes Problem rief sich wieder in Erinnerung. Trotz seiner übervollen Blase, die zu bersten drohte, wollte
er aber nicht so unhöflich sein und gleich mit der Frage nach einer Toilette herausplatzen. Er versuchte den
Druck zu ignorieren und fragte: »Wo bin ich?«
Das Männlein wiegte sich auf seinem Stuhl bedächtig hin und her: »Ihr könnt ganz sorglos sein, Herr,
bei Väterchen Balmer seid ihr so sicher, wie im Schoße der Sonne, will ich meinen.« Ein leises, meckerndes
Lachen folgte.
»Ja, das glaube ich gerne, aber ich meinte vielmehr, an welchem Ort ich mich befinde«, entgegnete
Sebastian.
»Nun, das sagte ich euch bereits«, das Männchen schüttelte verständnislos seinen Kopf, »in der Obhut
von Balmer’s Hütte seid ihr sicher!«
Lauknitz gab es auf, sonst würde er sich gewiss noch in die Hose machen! Den Ort konnte er später
klären. Dringend notwendig wurde aber die Information über den Ort der Verrichtung menschlicher Bedürfnisse.
Gezwungenermaßen wurde Basti direkter: »Darf ich mal ihre Toilette benutzen?«, fragte er peinlich berührt.
Sein Gegenüber sah ihn so verständnislos an, als hätte er den Wunsch geäußert, ihm eine heiße
Kartoffel ins Gesicht zu drücken. »Was dürft ihr von wem benutzen?«, fragte der Gnom zurück.
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Allmählich traten Sebastian Schweißperlen auf die Stirn, denn er befürchtete ernsthaft, dass er sich
einnässen würde, bevor die Frage nach dem Abort geklärt war. »Ich meine, haben sie eine Toilette, auf die ich
mal gehen kann«, versuchte er es noch einmal, etwas lauter.
Die Antwort des Männchens ließ Basti schier verzweifeln: »Welche Leute meint ihr denn, Herr, und
was sollen die haben?« Der Alte sah ihn an, wie ein Kind, das auf einen Elefanten im rosa Röckchen traf.
In seiner Verzweiflung wurde Sebastian lauter, als beabsichtigt: »Mann, ich muss mal pissen!« Der alte
Kauz blickte ihn aber nur mit einem verständnislosen Kopfschütteln an. Da griff sich Sebastian mit beiden
Händen vor den Schritt und tat, als schüttelte er sich vor Krämpfen, was auch augenblicklich der Fall gewesen
wäre, hätte sich das Verständigungsproblem weiter hingezogen. Doch diese Geste verstand sogar ein buckliges
Männlein.
»Ihr müsst euch erleichtern!«, rief er aus, hörbar erfreut, dass er mich endlich verstanden hatte.
»Weshalb sagt ihr das nicht gleich!« Und mehr zu sich selbst fügte er hinzu: »Sind alle seltsam, die aus dem
Reich der Toten zurückkehren...« Dann sprang er auf seine Beinchen, griff Sebastian unter die Arme und half
ihm hoch.
Lauknitz erwiderte nichts. Heilfroh, endlich ein dringendes Problem loszuwerden, wunderte er sich
nicht einmal darüber, mit welch ungeahnter Kraft das Männchen ihn stützte. Trittsicher, als tat er nie etwas
anderes, führte er ihn zur Tür hinaus. Rasch wurde Sebastian bewusst, dass er allein gar nicht hätte stehen
können. Er fühlte sich schwach und sein Körper schien ein einziger Klumpen Schmerz zu sein. Nur mühsam
setzte er ein Bein vor das andere.
Ein ungewöhnlich warmer Sommertag begrüßte ihn draußen. Lauknitz trat auf einen kleinen Platz aus
festgetretenem Erdreich. Vor ihm wogte saftiges Gras einer bunt blühenden, weitläufigen Alpwiese, die rechts
und links von dichtem Tannenwald begrenzt war. Dazwischen schien das Gelände in ein tiefes Tal abzufallen.
Den Horizont füllten mächtige, weiße Berge, deren gleißende Schneegipfel hoch in den tiefblauen Himmel
stießen. Augenblicklich umgab ihn das friedliche Summen von Insekten und ein Duft von Blumen und frisch
gemähtem Gras.
Sein Gastgeber führte Basti um die Hütte herum. Es war eine niedrige, aus rohen Steinen und
Holzstämmen zusammengefügte Alphütte, die an der Längs- und Giebelseite je einen kleinen, kaputten Anbau
besaß. Ein leerer, hölzerner Trog stand in einiger Entfernung im Gras, der in besseren Zeiten wohl mit kühlem
Wasser gefüllt war.
Der Alte führte ihn auf einem kleinen Pfad ein Stück den Hang hinauf. Auch hinter der Hütte sah
Sebastian vergletscherte Gipfel in den Himmel wachsen. Sie schienen zum Greifen nahe. Und tatsächlich
erkannte er nur einen bewaldeten Hang, der diese Almlandschaft vom Fuß der Berge trennte. Er kannte diese
Berge nicht. Das wunderte ihn, denn es gab kaum einen Gipfel in den Walliser Alpen, dessen Antlitz, egal von
welcher Seite aus gesehen, ihm nicht bekannt war.
Nach dreißig Metern den Hang hinauf, standen sie am Rand einer großen Senke. Riesige Felsbrocken
lagen überall herum, wie die Ausläufer eines längst vergessenen Bergsturzes. In der Mitte lag in kurzes Almgras
eingebettet ein kristallklarer Bergsee. Ein kleiner sprühender Bach bildete einen Zu- und Ablauf.
Zwischen zwei hausgroßen Felsblöcken stand Sebastians ersehntes Ziel: Ein unscheinbares
Toilettenhäuschen aus Holz, das dennoch recht stabil aussah. Die gesamte Konstruktion stand auf einem fünfzig
Zentimeter hohen Steinsockel. Ein kleines Loch in der Tür sollte offensichtlich für Belüftung sorgen. Solche
urtümlichen Toiletten waren ihm von verschiedenen Alpenclubhütten her wohlbekannt. Auch der dort
herrschende Duft war ihm stets in Erinnerung geblieben.
Um so mehr erstaunt war er, als er im Innern des Aborts keinen üblen Geruch wahrnahm. Ein Blick in
die Öffnung des Plumpsklos zeigte gähnende, schwarze Leere. Ein Gurgeln, wie von einem tiefen Wasser war zu
hören. Lauknitz vermutete einen unterirdischen Bach. Offenbar hatte man die Toilette auf einem offenen
Felsspalt über dem Fließgewässer errichtet. Dafür gab es jedoch kein Toilettenpapier. So sehr Basti auch suchte,
er fand keines. An dessen Stelle lag ein Haufen breiter Blätter in der Ecke. Die Pflanze, die dieses Grün
gespendet hatte, war Sebastian ebenfalls nicht bekannt. Er war absolut im falschen Film! Ein Plumpsklo mit
fließendem Wasser, doch am Klopapier sparten sie hier!
Während seiner Erleichterung dachte Lauknitz darüber nach, wo er da eigentlich hingeraten war.
Irgendwo bei Saas Fee war er ganz sicher nicht. Dort kannte er jeden Berg. Das Laggintal konnte es auch nicht
sein, denn solch hohe Berge, die einen Talkessel fast völlig umschlossen, gab es dort nicht.
Nachdem er das dringende Geschäft erledigt hatte, humpelte er mühsam und unter viehischen
Schmerzen zu dem Alten hinüber, der an einen Felsen gelehnt saß, eine Pfeife rauchte und auf den kleinen See
hinabblickte. Umständlich setzte sich Sebastian neben ihn. Sein Tabak stank erbärmlich, so dass Basti sich
fragte, ob der Alte ihn aus Kuhmist schnitt.
Nun, nachdem ein Problem gelöst war, hatte Basti viele Fragen. Doch er wusste nicht so recht, wie er
beginnen sollte. »Ich bin Sebastian Lauknitz«, begann er umständlich, »haben sie mich verarztet?«
Der Alte sah ihn erneut verwundert an, sagte dann aber freundlich: »Nein, sie haben euch nur
hergebracht. Dass ihr noch lebt verdankt ihr Väterchen Balmer.«
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Seine Antwort irritierte Sebastian, aber er musste endlich unter allen Umständen wissen, was eigentlich
geschehen war. »Wo ist denn dieses Väterchen Balmer?«, bohrte er weiter. »Und wer hat mich eigentlich hierher
gebracht und wo ist das hier?«
Das Männlein sah ihn an und schüttelte verständnislos seinen greisen Kopf. »Zu viele Fragen auf
einmal habt ihr, junger Herr«, stellte er fest und fuhr nach einer Pause fort: »Väterchen Balmer sitzt genau neben
euch, wenn ich nicht irre!« Sein leises meckerndes Lachen unterstrich die gewichtige Aussage.
»Also sie sind Herr Balmer...«, versuchte Sebastian es weiter. Doch bevor er nachhaken konnte,
unterbrach ihn der Alte mit einer energischen Handbewegung.
»Wen meint ihr denn immer mit „Sie“? Sie haben euch nur zu mir gebracht. Hier gibt es aber nur
Väterchen Balmer! Högi Balmer, das bin ich! Högi Balmer, Sohn des Forath Balmer, aus dem Leibe der
Minneha Balmer, geborene Zusäntis.« Seine Erklärung kam dem Schwall aus einem Dammbruch gleich.
Allmählich begriff Lauknitz, dass der Alte, Högi Balmer, unablässig in der dritten Person sprach.
Insgeheim vermutete Basti, dass er nicht mehr alle Nadeln auf der Tanne hatte und hoffte inständigst, dass er
wenigstens in der Lage war, ihn darüber aufzuklären, an welchem Ort er sich befand.
»Können sie mir...« Sebastian überlegte kurz, sah den alten, wunderlichen Kauz an und begann noch
einmal. »Könnt ihr mir sagen, wo wir hier sind?«
»Auf den Weiden des Högi Balmer, wenn ich nicht irre!« Nach der prompten Antwort ließ er wieder
sein Meckerlachen erklingen.
Lauknitz gab sich aber nicht mehr damit zufrieden. »Ich meine, welches Tal ist das hier?«, setzte er
nach.
Balmer zog seine grauen, buschigen Augenbrauen hoch und antwortete artig: »Val Mentiér, das dort
unten, das ist das Val Mentiér!«
Damit konnte Sebastian nun gar nichts anfangen. Ein Tal mit diesem französisch klingenden Namen
war ihm nicht bekannt, obwohl es keinen Ort zwischen dem Mont Blanc und der Eigernordwand gab, an dem er
nicht schon einmal gegessen oder geschlafen hatte. Und für das Engadin oder das Bündnerland waren diese
hohen Berge zu zahlreich. Plötzlich wurde ihm bewusst, was er da dachte. Absurd! Er schüttelte den Kopf über
sich selbst. Wie sollte er wohl von Saas Fee ins Engadin gekommen sein? Er musste es anders versuchen!
»Hören sie..., hört einmal, Herr Balmer...«, wagte er einen neuen Versuch.
Doch der Alte unterbrach ihn sogleich wieder: »Högi Balmer ist kein Herr, Herr! Ihr seid der Herr!
Nennt mich Väterchen, oder Vater Balmer, aber nicht Herr, das steht dem alten Balmer nicht an. Ihr seid der
Herr und ich der alte Balmer, der eben mit Mühsal noch sein Trockengras einbringen kann.«
»Ja, schön«, sagte Sebastian ungeduldig, »hört, Vater Balmer, ich war auf dem Wege von der
italienischen Grenze nach Saas Fee, das zweigt vom Mattertal ab. Dann hatte ich wohl diesen Unfall. Und jetzt
würde ich gern wissen, wo ich bin. Wo liegt das Val Mentiér?«
Der alte Balmer sah ihn mit fragendem Blick an, zuckte dann mit der Schulter und sprach resignierend:
»Wer aus dem Reich der Toten zurückkehrt, redet wirr.« Traurig fuhr er fort: »Ich verstehe die Dinge nicht, die
ihr sagt, Herr. Aber ihr seid von den Toten zurück, da ist das wohl so. Väterchen Balmer wird euch wieder
gesund machen und ist stolz darauf, dass sie euch zu ihm brachten und nicht zur alten Seherin. Die hätte euch
bloß mit ihren seltsamen Tränken vergiftet.«
Lauknitz gab es auf. Weiß Gott, auf welchem Weg er bei diesem durchgeknallten, alten Kauz gelandet
war! Basti wurde klar, dass dessen Geist hier oben in der Einsamkeit der Berge offenbar irreparablen Schaden
genommen hatte. Der Typ hatte echt den letzten Schuss nicht mehr gehört! Angestrengt überlegte Sebastian, was
er nun tun sollte. Als erstes wollte er seine Klamotten und seinen Rucksack wiederhaben. Dann brauchte er
dringend ein Telefon!
»Vater Balmer«, begann er von Neuem, »habt ihr hier irgendwo in der Nähe ein Telefon?«
Am Blick des Alten erkannte er schon, dass auch diese Frage zu nichts führen würde. »Was ist Telefon?«
Enttäuscht winkte Lauknitz ab. »Ist schon gut, nicht so wichtig, vergesst es!« Högi Balmer sah
Sebastian fragend an, doch er blickte in die entgegengesetzte Richtung und tat, als bewundere er die weißen
Gipfel über dem Bannwald. Lauknitz konnte es nicht fassen. Er war verletzt, konnte sich kaum anrühren und
befand sich in der Obhut eines irren, alten Einsiedlers im wahrscheinlich verborgensten, hintersten,
vergessensten Winkel der Schweiz! Das musste natürlich mal wieder ihm passieren! Allmählich wurde er echt
sauer!
Auf jeder noch so kleinen, bescheidenen Berghütte in der Schweiz gab es ein Telefon, oder zumindest
ein Funkgerät! Aber er musste ausgerechnet bei einem alten, senilen Almöhi landen, der nicht einmal den
Begriff „Telefon“ kannte! Wie zum Teufel kam er eigentlich hier her? Es war wie ein Alptraum. Trotz der
Situation musste er grinsen: Es war ein „Alptraum“, ein Alpen-Trauma! Aber so einfach gab ein Basti Lauknitz
nicht auf!
Abrupt wandte er sich wieder Väterchen Balmer zu und sah gerade noch, wie dieser die Tätowierungen
auf Sebastians Oberarm anstarrte. Wie ein ertappter Dieb sah er rasch zur Seite. Lauknitz vermutete, dass er in
dieser Einsamkeit nie ein Tattoo gesehen hatte und musste lächeln. Dabei zeigten seine Tattoos noch durchaus
vertretbare Bildchen. Wo bei anderen eine nackte Frau oder ein Totenkopf die Haut zierte, trug er indianische
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Symbole, wie eine Sonnenkachina, einen Bären und eine Schildkröte. Aus Liebeskummer hatte er sich diese
Bildchen vor Jahren stechen lassen. Den inneren Schmerz wollte er damit nach außen tragen. Doch irgendwie
funktionierte das nicht!
In diesem Augenblick wurde ihm bewusst, dass er noch immer kein Hemd trug. Er fragte Vater Balmer
nach seiner restlichen Kleidung und nach seinem Rucksack. Der Alte stützte ihn wieder und Sebastian schob
seinen schmerzenden Körper zur Hütte zurück. Dort setzte ihn Högi auf eine roh zusammengezimmerte klobige
Bank neben dem Eingang und verschwand im Innern der windschiefen, einfachen Behausung.
Während er Balmer drinnen rumoren hörte, betrachtete Sebastian die hohen Gipfel ringsum. Die Sonne
brannte und er verspürte Durst, den er aber erst einmal verdrängte. Lauknitz versuchte, die Höhe der Berge
abzuschätzen und kam zu dem Schluss, dass sie fast alle über der Viertausendmetergrenze liegen mussten. Nun,
so viele Orte mit Viertausendern gab es in den Alpen nicht. Trotzdem konnte er nicht bestimmen, wo er war.
In Gedanken starrte er die blaue Leere des Himmels an, die lediglich ab und zu von dem fliegerischen
Kunststück einer Alpendohle unterbrochen wurde. Die Leere des Himmels..! Plötzlich fiel es ihm wie Schuppen
von den Augen und er bekam eine Gänsehaut! Schlagartig wurde ihm klar, was hier nicht stimmte!
Sebastian kam nicht mehr dazu, seine Überlegung zu vollenden. Vater Balmer schob sich umständlich
durch die Hüttentür ins Freie. Auf dem Arm trug er Bastis restliche Kleidung. Seinen Rucksack schleifte er
achtlos hinter sich her durch den Dreck. Erst wollte Lauknitz protestieren, verwarf diesen Gedanken aber sofort
wieder. Er konnte ja froh sein, dass dieser Alte, so verrückt er auch sein mochte, ihn in seinem ärmlichen Heim
aufnahm. Sein derzeitiger Zustand erlaubte es ihm wohl kaum, große Ansprüche zu stellen.
»Ein wunderliches Zeug führt ihr da mit euch, Herr«, stellte Högi Balmer fest. Dann sah er Lauknitz
fragend an. »Welcher Schneider vermag Leder mit so feinen Stichen zu nähen und welcher Weber stellt so festen
Stoff her?« Mit seiner rauen Hand strich er prüfend über das synthetische Material des Rucksacks. Sebastian
wunderte sich, dass dieser Hinterwäldler nicht einmal einen handelsüblichen Rucksack kannte.
»Das ist ein künstlich hergestelltes Material«, erklärte ihm Lauknitz. »Die Nähte am Rucksack und an
der Lederkleidung hat die Maschine gemacht.«
Vater Balmer’s Blick verriet ihm, dass er nichts verstanden hatte. Sebastian hatte das Gefühl mit einem
zwar aufgeweckten, aber vergreisten Fünfjährigen zu sprechen. Langsam kam ihm der Verdacht, er hätte seine
Alm seit siebzig Jahren nicht mehr verlassen. Dabei schätzte er Högis Alter auf ungefähr fünfundsiebzig!
Vermutlich hatte der sein ganzes Leben nur hier zwischen diesen Bergen verbracht. Wenn man andererseits ihn,
Basti, nach seinem Absturz extra zu diesem Kauz gebracht hatte, wieso kannte der dann keinen Rucksack? Basti
erinnerte sich, dass er in der Hütte lediglich ein Tragegestell aus Holz und einen Tragekorb gesehen hatte.
Die vielen offenen Fragen machten Sebastian gereizt und müde. Er verstand nicht, weshalb ihn seine
Retter hierher abschoben, anstatt ihn mit dem Helikopter in ein Krankenhaus zu fliegen. Schließlich war
Sebastian Lauknitz zahlendes Gönner-Mitglied der Schweizerischen Rettungsflugwacht!
Oder hatte das alles mit den seltsamen Knochenfunden am Zwischbergenpass zu tun? Steckte etwa
Bruno Ambühel hinter Alledem? Hatte der ihn womöglich an einen einsamen Ort bringen lassen, um zu
verhindern, dass er seine Theorie über die Knochenfunde ausplauderte? Vielleicht wollte der Polizist sicher
gehen, dass niemand von den erst kürzlich an der Pest Verstorbenen erfuhr? Aber wo hatte Ambühel ihn dann
hinbringen lassen? Wo war er hier?
In diesem Augenblick fiel Sebastian wieder der Himmel ein. Er war Leer! Aber der Himmel war
niemals leer! Ständig zogen Flugzeuge ihre Bahn am Zenit und hinterließen Kondensstreifen. Kurze Streifen bei
klarem Wetter und mächtige, sich auffedernde Bahnen bei höherer Luftfeuchtigkeit. Über die Schweiz und die
Alpen führten unzählige Flugrouten. Bei einem Wetter wie heute, musste man normalerweise die Flugzeuge in
Scharen am blauen Himmel blitzen sehen!
Doch der Himmel war leer! Jungfräulich spannte sich das blausamtene Tuch über den weißen Bergen
auf. So sehr er sich auch anstrengte und die blaue Kuppel absuchte, Sebastian entdeckte nichts. Nicht einmal das
Geräusch eines Helikopters oder einer Maschine der Almwirtschaft hatte er seit seinem Erwachen gehört.
Allmählich kam er zu einer ungeheuerlichen Vermutung! Die hatten ihn einfach in die einsamste Gegend eines
Landes, vermutlich irgendwo auf dem Balkan, verschleppt, um einen unliebsamen Zeugen loszuwerden! So
verlassen musste diese Gegend sein, dass nicht einmal ein Flugzeug sie überflog.
»Was habt ihr, Herr, fühlt ihr euch nicht wohl?« Den alten Balmer hatte er beinahe vergessen, so
beschäftigten ihn seine Gedanken. »Ihr seid sehr blass«, stellte der Alte fest. »Väterchen Balmer wird euch Essen
und Trinken bereiten, damit ihr wieder zu Kräften kommt!« Damit wandte er sich um und verschwand erneut in
seiner Hütte.
Sebastian saß auf der Bank in der Sonne und überdachte seine nächsten Schritte. Viel konnte er
augenblicklich nicht tun, denn er war kaum in der Lage, selbstständig zur Toilette zu gehen. Nüchtern betrachtet
befand er sich in einer Situation, in der er jedem und allem hilflos ausgeliefert war. Jedes Mal, wenn er seine
Lage neu überdachte, wurde sie noch befremdlicher. Seine Gedanken schienen sich zu überschlagen und sich in
einem Wirrwarr von Fragen zu verlieren.
Der Alte stellte sich bewusst dumm, wenn Sebastian eine Frage an ihn richtete, die seinen
Aufenthaltsort klären konnte. Lauknitz war davon überzeugt, dass Högi von irgend jemandem davon beauftragt
worden war, ihn hier am Ende der Welt ohne brauchbare Informationen festzuhalten. Wahrscheinlich würde das
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nicht für immer sein, denn in seinem Zustand wäre es selbst einem Kindergartenkind nicht schwer gefallen, ihn
irgendwo zu verscharren, wenn man ihn für immer beseitigen wollte. Nein, man hatte sich sogar die Mühe
gemacht, ihn zu verbinden. Das ließ Sebastian für den Moment vermuten, dass er noch gebraucht wurde.
Väterchen Balmer klapperte mit blechernen Gegenständen in der Hütte und rumorte, dass man meinen
konnte, er ringe mit einem übermächtigen Feind. Lauknitz nutzte die Gelegenheit und untersuchte seinen
Rucksack. Ein Tragegurt war an seiner Befestigung angerissen. Auch sonst wies das Material deutliche Spuren
eines Sturzes auf. Die Oberfläche war an vielen Stellen verschrammt und verschmutzt. Ein Steigeisen und der
Eispickel hingen noch in der Verschnürung. Mehr Sorgen machte sich Basti allerdings um das, was sich im
Innern befand. Er öffnete die obere Verschnürung und tastete blind nach dem Inhalt. Deutlich fühlte er das in
eine Plastiktüte gewickelte Kästchen mit seinen Goldmünzen. Soweit er das ertasten konnte, war es unversehrt.
Es heraus zu nehmen und genau in Augenschein zu nehmen, traute er sich nicht. Bislang schien niemand seinen
Rucksack durchsucht zu haben und so sollte es auch bleiben. Wozu unnötig schlafende Drachen wecken?
In der Seitentasche befanden sich noch immer sein Höhenmesser und der Kompass. Obgleich es sinnlos
war, folgte Sebastian der mechanischen Gewohnheit und sah auf die Ziffernblätter. Die himmelhohen Berge
umschlossen Balmers Hütte im Norden, Westen und Süden, während das Tal sich nach Osten hin öffnete. Auf
dem Höhenmesser las er zweitausendsechshundert Meter ab. Dafür, dass hier noch eine sehr üppige Flora
gedieh, war das schon eine ganz enorme Höhe. Aber vielleicht hatte das Ding beim Sturz Schaden genommen
und zeigte keine korrekten Werte mehr an.
Was im Widerspruch zu seiner ganzen Situation stand, war die Tatsache, dass sich offenbar niemand
die Mühe gemacht hatte, seine Sachen zu durchsuchen. Das beruhigte ihn zwar einerseits, warf andererseits
jedoch die Frage auf, wer derart gleichgültig sein konnte, dagegen aber sehr darauf bedacht, ihn, wenigstens für
eine Weile, verschwinden zu lassen. Jedenfalls hielten es diejenigen, die ihn in diese Wildnis gebracht hatten,
nicht für nötig, sein Gepäck nach Hilfsmitteln zu durchsuchen, die ihm eventuell bei einer Flucht helfen konnten.
Selbst seine beiden Messer fühlte er noch im Rucksack. War man sich so sicher, ihn an einen so abgelegenen Ort
gebracht zu haben, von dem eine Flucht sowieso schier aussichtslos war?
Sebastian erinnerte sich, dass er seinen Feldstecher um den Hals trug, als die Verbindung zu seinem
Bewusstsein abriss. Doch das Fernglas war nicht bei den Sachen, die ihm der Alte zurückgab. Wurde ihm das
Fernglas ganz bewusst entwendet, oder war es bei seinem Sturz verloren gegangen? Angestrengt versuchte er
sich zu erinnern. Lauknitz wusste noch, dass er etwas kaltes spürte. Etwas, wie einen eisigen, feuchten Wind, der
plötzlich nach ihm griff. Dann war da noch dieser Nebel..., und dieses Wesen! Das Bild kehrte allmählich in
seinen Kopf zurück. Da war ein Tier, ein Wesen, das reif für eine Fantasiegeschichte gewesen wäre. Oder hatten
ihm seine Sinne im Schreck des Sturzes etwas vorgegaukelt? Aber in seiner Erinnerung sah er es doch vor sich,
wie es dastand und ihn mit erschreckten Augen ansah!
Indem er tief durchatmete, überlegte Sebastian, was realistisch sein konnte. Was er ganz deutlich in
seiner Erinnerung trug, waren Hörner. Ein Kopf mit den Hörnern eines Rindviehs, die überall auf den Walliser
Almen anzutreffen waren. Das war es! So ein dämliches Rindvieh hatte ihn vermutlich umgerannt und den
Abhang hinunter gestoßen. Dabei waren wohl der neugierige Polizist aus Bern und seine Archäologen auf ihn
aufmerksam geworden. Und nun hatten sie ihn an einen Ort verfrachtet, von dem aus er niemandem von den
Aktivitäten am Zwischbergengletscher berichten konnte. Wie praktisch! Dieser Bruno Ambühel hatte von
Anfang an vor gehabt, einen unliebsamen Zeugen verschwinden zu lassen, das war Sebastian jetzt klar. Und die
blödeste Kreatur auf Gottes Erden, eine dumme Kuh, hatte ihm zufällig dabei geholfen!
Basti war sich sicher, den Ablauf nun rekonstruiert zu haben. Blieb nur noch die Frage: Wohin hatten
sie ihn verschleppt, von welchem Flecken Erde sie so sicher sein konnten, dass eine Flucht zurück in die
Zivilisation zu Fuß unmöglich war? In Gedanken überflog er die ihm bekannten Gebirgsregionen des Planeten
Erde. Sie mussten hinsichtlich der Landschaftsstruktur den Alpen zumindest ähnlich sein. Viel Auswahl fiel ihm
dabei nicht ein: Neuseeländische Alpen, Kyrgistan, Norwegen? Kanada und die USA schloss Sebastian aus. Die
typischen schlanken und hohen Douglasfichten, die es dort gab, konnte er hier nirgends entdecken. Die Arven,
Tannen und Fichten, die Balmers Hütte umgaben, waren in der Art, wie sie ihm von den Alpen her bekannt
waren...
Seine Spekulationen wurden abrupt unterbrochen. Der Alte humpelte aus der Hütte, einen kleinen roh
behauenen Holztisch vor seinen Bauch gedrückt. Er stellte den massiven, krummbeinigen Tisch, den Sebastian
nicht einmal in seinem Bauwagen geduldet hätte, vor ihm ab. Eine solche hölzerne Krücke hätte ein Basti
Lauknitz gerade noch als Brennholz akzeptiert. Der Alte verschwand erneut in seiner Behausung, um gleich
darauf wiederum mit vollen Armen von Essbarem zu erscheinen. Er lud Käse, Wurst, Schinken und trockenes
Brot auf den Tisch. Dazu eine undefinierbare Art von Wurzel und verschiedene grüne Blätter in einer
Holzschale. Eine weitere Schale mit einer rahmartigen Substanz folgte nach einem weiteren Gang in die Hütte.
Dazu unförmige Holzteller und angerostete Messer, die man mit offensichtlicher Mühe versucht hatte, wieder
blank zu polieren. Ein Krug aus grobem Ton, sowie Becher aus demselben Material folgten beim dritten
Hüttengang.
Anschließend wackelte Väterchen Balmer zu einem offenen Kamin hinüber, der an die Hüttenwand
zum kleinen Anbau hin gemauert war. Mit einer ausgefaserten Schnur und einem kleinen Gerät, das Lauknitz
noch nie zuvor gesehen hatte, entzündete er ein lustiges Feuer und legte noch etwas trockenes Holz nach.
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Daraufhin schob er eine dünne, genau eingepasste Steinschuppe in den Kamin über das Feuer. Zuletzt schnitt er
grobe Scheiben vom Brotlaib, belegte sie mit den grünen Blättern und strich dick den weißen Rahm darüber. Die
Brotscheiben schob er auf die Steinschuppe. Dann griff er nach einer größeren Steintafel, die neben dem Kamin
stand und stellte sie vor die Kaminöffnung, offenbar um das Entweichen der Hitze zu verhindern. Zufrieden und
mit stolzem Blick kehrte er zu Sebastian an den Tisch zurück.
Es war unzweifelhaft das romantischste, gediegenste, aber auch einfachste Abendessen, dass Basti bis
dahin angeboten wurde. Der Ofen verbreitete einen wohligen Duft von verbranntem Arvenholz und garendem
Essen. Vermischt mit dem Geruch von frischem Heu und geschlagenem Holz, sowie den Düften vom Käse und
dem Schinken, ließ ihm die Komposition das Wasser im Munde zusammen laufen. Er hatte einen Mordshunger,
das wurde ihm in diesem Augenblick bewusst.
Der Alte machte eine einladende Geste: »Esst Herr, ihr sollt rasch wieder zu Kräften kommen!« Und
wie ganz nebenbei fügte er kaum hörbar hinzu: »Werdet sie noch brauchen, wenn ich nicht irre, hi, hi, hi.«
Unsicher griff Lauknitz nach dem Laib Brot und säbelte sich mit dem stumpfen Messer ungelenk eine
grobe, ausgefranste Scheibe herunter. Wäre das Brot von einem wilden Tier zerrissen worden, es hätte kaum
schlimmer aussehen können. Doch Väterchen Balmer schien es zu gefallen. Offensichtlich war es ganz normal
für ihn, dass man Brot nicht zerschnitt, sondern in groben Stücken auseinander riss. Ebenso wurde wohl mit
Schinken, Käse und allen anderen Lebensmitteln verfahren, denn der Alte freute sich wie ein Kind an
Weihnachten, als Sebastian sich bemühte, ein großes Stück vom Schinken zu lösen. Dieser war jedoch so hart,
dass er bei dem Versuch selbst eine Kreissäge zum Glühen gebracht hätte. Er war versucht, sein Bowiemesser
aus dem Rucksack zu holen, um diesem Martyrium ein Ende zu bereiten. Doch eine innere Eingebung warnte
ihn davor, seine Geheimnisse aus dem Innern seines Gepäcks allzu früh preiszugeben. Also begann Lauknitz die
Schinkenkeule zu vergewaltigen, um ihr ein Stück geräucherten Fleisches abzuringen.
Inzwischen waren die Brotscheiben im Ofen fertig gegart. Balmer schob die Steintafel mit zwei Hölzern
zu Seite und holte die dampfenden »Baguettes« aus dem Kamin. Der Rahm war ähnlich, wie bei einem Käse,
zerlaufen und teilweise in das knusprige Brot eingezogen. Es roch wunderbar und Sebastian konnte es kaum
erwarten, davon zu kosten. Beinahe verbrannte er sich den Mund. Die Brote schmeckten ausgezeichnet, ein
wenig nach Schaf oder Ziege, aber sehr köstlich. Ein ganz besonderes, feines Aroma, ähnlich einer mediterranen
Gewürzmischung, war wohl den eingelegten Blättern zu verdanken. So sehr abstoßend er die einfache
Zubereitung zunächst empfand, um so angenehmer überrascht war er vom Ergebnis Balmers Kochkunst.
Lauknitz stopfte alles in sich hinein und ihm wurde klar, dass er einige Tage ohne Essen gewesen war.
Die listigen Äuglein des Högi Balmer beobachteten jede seiner Bewegungen, während sie aßen.
Sebastian wurde das Gefühl nicht los, dass der Alte irgend ein Geheimnis an ihm zu entdecken suchte. Seine
Blicke wurden Basti unangenehm. Um ihm zu bedeuten, dass er satt war und um seinen bohrenden Blick zu
unterbrechen, lehnte sich Sebastian demonstrativ zurück. Mit einem verschmitzten Lächeln tat Högi es ihm nach,
allerdings nicht ohne einen heftigen Rülpser auszustoßen, der einer Fehlzündung im V-Twin- Motor einer Harley
Davidson nicht unähnlich war.
Väterchen Balmer gewahrte sofort seinen missbilligenden Blick, obwohl Sebastian bemüht war, seine
Abscheu nicht zu zeigen: »Was schaut ihr, hat es euch nicht geschmeckt?«
Dann sah er Lauknitz schuldbewusst an und fragte fast reumütig: »Könnt ihr nicht die Luft aus dem
Bauch lassen.., war das Essen nicht nach eurem Munde?«
»Doch, doch, das Essen war vorzüglich«, versuchte Sebastian einzulenken, »aber...«
»Es war zu schwer, ja? Bekommt es eurem Magen nicht?« Basti merkte deutlich, dass Balmer
verzweifelt bemüht war, sein Befinden zu analysieren. Offenbar war er sehr darauf bedacht, dass es seinem Gast
gut ging.
»Na ja...«, erklärte Sebastian ihm zögernd, »...dort, wo ich her komme, gilt es als nicht schön, die Luft
so geräuschvoll aus dem Bauch zu lassen.«
Balmer sah ihn an, wie ein Frosch, der seine eigene Zunge verschluckt hatte. »Was tut ihr dann, damit
ihr nicht entzwei reißt?« Er schüttelte seinen struppigen Kopf und sagte verständnislos: »Sind alle seltsam, die
aus dem Reich der Toten zurückkehren!«
»Was meint ihr mit dem Reich der Toten«, fragte Sebastian und sah nun seinerseits aus, wie der
würgende Frosch. »Ihr sprecht ständig vom ›Reich der Toten‹. Heißt das, ihr habt mich wieder zum Leben
erweckt?«
Väterchen Balmer schüttelte sein greises Haupt jetzt entschlossener: »Nein, das kann Vater Balmer
nicht, das kann nur die alte Waldlerin. Ihr wart nicht mehr tot, als sie euch zu mir brachten, Herr, aber sie sagten,
ihr seid aus dem Reich der Toten zurückgekehrt.«
»Also hat mich die alte Waldlerin ins Leben zurück geholt?« Beharrlich versuchte Lauknitz weiter, dem
Alten genauere Informationen zu entlocken. Doch Väterchen Balmers Antworten wurden immer dubioser:
»Nein Herr, ihr wart nicht bei der Waldlerin, ihr seid lebend aus dem Reich der Toten zurück
gekommen. Danach haben sie euch zu mir gebracht.«
Allmählich wurde Basti ungeduldig: »Aber wie kann jemand erst tot sein und dann plötzlich wieder
leben, ohne dass ihn ein Arzt behandelt? Schaut einmal, Vater Balmer«, bohrte er weiter, »wenn einer richtig tot
ist, dann wird er nicht einfach wieder von selbst lebendig...«
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»Das denken die Leute von Volossoda auch«, versuchte Balmer sich zu erklären, »aber manchmal ist es
so, dass einer aus dem Reich der Toten zurückkehrt, auch wenn lange Zeit ins Land gezogen ist, seit die Wächter
seinen Leichnam ins Totenreich schickten«.
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Lauknitz sah den Alten eine Weile an. Der hatte doch nun wirklich nicht mehr alle Latten am Zaun!
Aber was sollte er tun? Im Augenblick seines lädierten Zustands war er ihm hilflos ausgeliefert. Vor allem
wusste er nicht einmal, wo er sich eigentlich befand.
Langsam wurde Sebastian müde, horchte aber dennoch weiter in den Alten hinein, denn er wollte
endlich wissen, was mit ihm geschehen war:
»Vater Balmer.., was ist denn nun schon wieder Volossoda und wer bitteschön sind diese Wächter,
könnt ihr mir das bitte sagen? Versteht mich nicht falsch, ich möchte nicht unhöflich sein, aber ich weiß nicht,
was mit mir passiert ist. Ich wache plötzlich in eurer Hütte auf und ihr erzählt mir von irgendwelchen mir
unbekannten Orten, von denen ich nie im Leben gehört habe und von irgendwelchen Wächtern...«
»Ja, Vater Balmer weiß, dass die Gedanken derer, die das Totenreich wieder verlassen haben, wirr sind
und dass sie alles vergessen haben, wer sie waren, woher sie kamen und was sie vor dem Totenreich taten.« Der
Alte sprach mit freundlichem, aber bestimmten Tonfall, als sei seine Erklärung das Normalste der Welt.
Versöhnlich fuhr er fort:
»Seht mal, Volossoda ist ja unser Land, das Land in dem wir leben, das uns unser täglich Brot gibt, das
Land am Rande des ewigen Eises, habt ihr das alles vergessen?« Bevor Basti antworten konnte, sprach er weiter:
»An die Wächter am Tor zum Reich der Toten erinnert ihr euch auch nicht? Sie bringen ja die
Gestorbenen an das Tor zum Totenreich und geleiten sie hinüber!«
Für Sebastian Lauknitz hatte der Alte eine totale Vollklatsche, das war sonnenklar! Es war ihm
unheimlich, sich diesem Spinner auszuliefern, oder zumindest im Moment auf ihn angewiesen zu sein. Doch er
konnte sich so gut wie gar nicht selbstständig und nur unter viehischen Schmerzen bewegen. Wenn hier niemand
anderer aufkreuzte und so sah es augenblicklich aus, dann brauchte er Högi. Und so verrückt alles aus Balmers
Munde klang, so hatte er doch etwas Beruhigendes, wenn auch nicht viel davon. Aus seinen ehrlichen,
fröhlichen Augen sprach nicht offensichtlich der Wahnsinn. Er hatte Basti bisher höflich und mit sehr viel
Respekt und Gastfreundschaft behandelt und wenn er ihm hätte ein Leid zufügen wollen, so hatte er sicherlich
genug Gelegenheit dazu. Dennoch musste Sebastian rasch feststellen, wo er war, wo noch andere Menschen in
der Nähe lebten und wie er sie erreichen konnte.
Verzweifelt begann er noch einen letzten Versuch: »Sagt einmal, Vater Balmer, könnt ihr mich nicht zu
anderen Leuten bringen, die mir helfen können, oder zu einem Arzt?«
Balmer sah ihn enttäuscht und traurig an: »Vater Balmer ist nicht gut zu euch, was, ihr seid etwas
Besseres gewohnt, als Högi Balmers Hütte, so ist es doch, nicht wahr?« Verzweifelt suchte der Alte nach Worten
und er tat Sebastian fast leid:
»Ihr könnt nirgendwo anders hin, Herr, es ist zu gefährlich für euch. Aber Vater Balmer wird alles für
euch tun, damit ihr euch hier wohl fühlt und wieder Kraft bekommt. In Högi Balmers Hütte seid ihr in
Sicherheit, Herr! Wenn ihr einen Wunsch habt, so sagt es nur, Vater Balmer wird ihn euch erfüllen, wenn ich
nicht irre...«
Bastis Geduld war am Ende. Er wurde entschlossener:
»Ja, ich habe einen Wunsch. Ich möchte zu einem Arzt gebracht werden!« Der Klang seiner Stimme
wurde barsch und er sah, dass der Alte erst erschrocken aufsah, dann aber betreten auf seine Füße blickte.
Unterwürfig fragte er:
»Was ist das, Herr, ein Arzt?«
Lauknitz saß Högi Balmer gegenüber und wusste nicht mehr was er sagen sollte. Wollte ihm der Alte
tatsächlich einreden, er wüsste nicht, was ein Arzt ist? Wollte der ihn verschaukeln? Oder war sein Kopf bereits
so vernebelt, dass er schlicht vergessen hatte, dass es Ärzte auf dieser Welt gab? Die Art, wie er danach fragte,
was ein Arzt sei, ließ zwar nichts von Irrsinn erkennen, aber das bedeutete nichts. Sebastian hatte schon davon
gehört, dass Menschen wirklich ernsthaft an die aus ihrem eigenen Irrsinn entstandenen vermeintlichen
Wahrheiten glaubten. Immer mehr kam er zu dem Schluss, dass der Alte hier oben in der Einsamkeit allmählich
seinen Verstand verloren hatte und in seiner kleinen Welt einsam dahinvegetierte. Freilich, er war exzellent in
der Lage, sich selbst zu versorgen, doch Lauknitz fragte sich, wer so bescheuert gewesen war, ihn ausgerechnet
zu diesem Eremiten zu bringen, denn alles, was über den Horizont seiner Berghütte hinausging, schien auch aus
seinem Gedankengut gelöscht.
Obwohl es Sebastian sinnlos vorkam, antwortete er ihm:
»Vater Balmer, ihr wollt mir allen Ernstes weismachen, dass ihr nicht einmal wisst, was ein Arzt ist, ein
Mediziner, ein studierter Mensch, der sich mit Heilkunde auskennt?«
Plötzlich hellten sich Balmers Gesichtszüge auf, als hätte er etwas lang Vermisstes wieder gefunden.
Gerade hatte Sebastian daran gedacht, er würde jetzt unweigerlich in seinem Irrsinn versacken, fragte er ihn
erwartungsvoll:
»Herr, meint ihr am Ende einen Medicus?«
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»Ja, ein Medicus«, entgegnete Basti voller Hoffnung, »einer, der mit Medizin heilt, nicht nur mit
Kräutern; jemand der einem in den Bauch sehen kann, ein Doctus Medicus!«
In seinem Leben hatte Sebastian nur hin und wieder mal ein paar lateinische Begriffe aufgeschnappt
und er hatte nicht gedacht, dass die ihm in dieser Situation helfen würden. Aber sie schienen Wunder zu wirken!
Der Alte wusste plötzlich, wovon Lauknitz sprach.
»Vater Balmer hat schon nach dem Medicus geschickt. Die Sonne wird zweimal erwachen, dann werdet
ihr ihn sehen, Herr!« Erleichtert, seinem Gast einen Wunsch erfüllt zu haben, plapperte Balmer los, wie ein
aufgescheuchter Truthahn:
»Der Medicus von Falméra ist ein kluger Mann. Er wird rasch kommen, sobald er Vater Balmers
Nachricht bekommen hat. Dann könnt ihr den Medicus fragen, Herr, der weiß vieles, das euch Vater Balmer
nicht sagen kann. Die Leute im Val Mentiér vertrauen dem Medicus, er ist gut zu allen Menschen. Er hat schon
viele Menschen gesund gemacht, auch einige, die von der Waldlerin nicht geheilt werden konnten. Dem Holzer
hat er sogar das Laufen wiedergegeben. Der ist jetzt besser zu Fuß, als Högi Balmer, wenn ich nicht irre, hi, hi,
hi.«
Das Laufen wiedergegeben... Sebastian kann nicht sagen, dass er alles verstanden hätte, was aus Balmer
in diesem Augenblick heraussprudelte. Doch anscheinend hatte der Alte noch so viel Grips im Kopf, dass er
jemanden geschickt hatte, Hilfe zu holen. Das beruhigte Basti. Er befand sich nicht in unmittelbarer
Lebensgefahr, also konnte er getrost auf die angekündigte Hilfe warten, sofern das nicht wieder ein Flop war. In
der Zwischenzeit würde er versuchen, noch mehr von dem irren, alten Zwerg zu erfahren. Natürlich konnte
Sebastian nicht zwischen dem unterscheiden, was die Wahrheit war und dem, was Högi Balmers eigenem Wahn
entsprang.
Balmer bemerkte seine Nachdenklichkeit und begann, das klobige Holzgeschirr und die Reste ihrer
Mahlzeit fort zu räumen. Den Krug mit dem Getränk, eine süßsäuerliche, weinartige Flüssigkeit, die nach
vergorenem Obst schmeckte, ließ er stehen. Vorsichtig probierte Sebastian das Gesöff und kam zu dem Schluss,
dass es nicht mehr Prozent Alkohol haben dürfte, als ein normales Bier.
Nachdem der Alte den Tisch leergeräumt hatte, setzte er sich kurz neben Sebastian auf die Bank. Dabei
bemerkte Basti etwas, das ihm zuvor nicht aufgefallen war. Högi Balmer roch. Nein, er stank! In Wahrheit
dünstete er eine gigantische, bestialische Wolke aus Schweißgeruch, Käseduft und dem Gestank nach Vieh aus,
dass ihm beinahe schlecht wurde. Vermutlich sah Högi reinigendes Wasser nur einmal im Monat kurz an seinem
Körper vorbeihuschen. Sebastian bemühte sich nicht zu zeigen, dass ihn Högis Aroma zu ersticken drohte. Vor
ein paar Stunden, als dieser ihn zur Toilette brachte, war ihm dessen Duft dank Bastis zum Bersten gefüllter
Blase nicht aufgefallen. Jetzt raubte er ihm den Atem! Balmer schien zu erraten, dass er eine unangenehme
Wirkung auf seinen Gast hatte und stand wieder auf.
»Högi Balmer bringt jetzt sein Vieh ein«, erklärte er, während er sich entfernte, »er ist in einer Stunde
zurück, erfreut euch einstweilen noch an der Sonne!« Mit diesen Worten verschwand er hinter der Hütte.
Müde lehnte sich Sebastian Lauknitz gegen die Hüttenwand. Einen Augenblick lang schloss er die
Augen und lauschte. Er hörte den Wind, wie er durch die Wipfel der Tannen und Fichten fuhr, nahm
verschiedene Vögel wahr und vernahm das Konzert vieler hundert Insekten. Es war der friedlichste Klang, der
ihm bis dahin zu Ohren gekommen war. Einen Moment lang vergaß er seine Schmerzen, vergaß den verrückten
Alten und seine eigene, ausgesetzte Situation.
Dann sammelte sich in seinem Kopf neue Energie, die Fragen stellte. Welcher Tag war heute
eigentlich? Müsste er heute nicht schon wieder arbeiten? Was war, wenn er nicht rechtzeitig auf seiner Baustelle
erschien? Man würde doch nachforschen, wo er verblieben war? Seine Leidenschaft für das Bergsteigen war
allgemein bekannt. Aber wo würde man suchen? Und wann würde man aufhören zu suchen? Niemand wusste,
dass Sebastian im Zwischbergental unterwegs war. Irgendwann würde er einfach als verschollen gelten!
Lauknitz fragte sich inwieweit Bruno Ambühel, der Schweizer Polizist, mit seinem Hiersein zu tun
hatte. War er von der Felskante den Abhang hinunter gestürzt, direkt vor dessen Füße? Ließ er den unliebsamen
Zeugen Sebastian Lauknitz verschwinden, indem er ihn an das Ende der Welt deportierte? Alle Fragen blieben
offen.
Mit einem Mal wurde Sebastian klar, dass er die Antworten nur selbst finden konnte. Dazu musste er so
rasch wie möglich wieder beweglich werden, denn irgendwie glaubte er nicht so recht an die Geschichte des
Alten, dass dieser nach Hilfe geschickt hatte. Die müsste ja längst da sein! Überall auf der Welt gab es
Hubschrauber, die fast jeden Ort und sei er noch so abgelegen, innerhalb von ein paar Stunden erreichen
konnten. Wieso sollte ein Arzt zu ihm hier herauf kommen?
Je mehr Sebastian darüber nachdachte, gewann er den Eindruck, dass man ihn hier oben für eine Weile
isolieren wollte. Aber weshalb betrieb man einen solchen Aufwand mit ihm? Welches Geheimnis war so
wertvoll zu schützen, dass man einen Menschen verschwinden lässt? Eine Geheimsache von nationalem oder
internationalem Interesse? Das war eher unwahrscheinlich, denn die Weltgeschichte hatte gezeigt, dass
unbequeme Zeitzeugen in der Regel einfach liquidiert wurden.
Lauknitz kam zu dem Schluss, dass er zunächst die Ankunft des geheimnisvollen Arztes abwarten
wollte. Trotzdem wollte er sich darauf vorbereiten, sich selbst helfen zu müssen. Irgendwie vermutete er, dass es
genau darauf hinauslaufen würde.
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Da Högi Balmer vermutlich noch eine Weile fort sein würde, beschloss er, seinen Rucksack
durchzusehen. Einige Dinge, die ihm vielleicht noch sehr wertvoll werden könnten, wollte er vorsichtshalber den
neugierigen Blicken des Alten entziehen. Zuerst band sich Sebastian mit einem alten Bundeswehrriemen seine
beiden Bowiemesser und das Jagdmesser um die Hüfte. Ein wenig erschien ihm das lächerlich, denn sollte hier
jemand mit einer Schusswaffe auftauchen, würden ihm das wenig nützen. Dann schob er den Kompass, den
Höhenmesser und seine Taschenuhr in die Gürteltasche, die er gewöhnlich ständig bei sich trug.
Seine Kassette mit dem Gold konnte er im Moment nicht verschwinden lassen. Die verbarg er im
Fußteil des Rucksacks zwischen getragenen Socken. Den Gedanken, dass der Duft der Socken neugierige Blicke
abschrecken könnte, verwarf er gleich wieder. Högi Balmers Eigengeruch hing immer noch in der Luft. Ihn
zumindest würde der Verwesungsgeruch Bastis Fußkleider nicht abhalten.
Das Fernglas, mit dem er noch Bruno Ambühel beobachtet hatte, konnte er nicht finden. Es war wohl
bei seinem Absturz verloren gegangen. Die Schweizer Landeskarte von der Umgebung um Gondo schob sich
Lauknitz in die Gesäßtasche. Er wollte sie später noch studieren. Vielleicht gab es in ihr doch noch eine
naheliegende Antwort auf sein unverständliches Abenteuer.
Ebenso wie seine Papiere und seine Taschenlampe, verschwanden Sebastians Feuerzeuge in seiner
Hosentasche. Es wurde reichlich eng in seinen Taschen, aber das war ihm egal. Er wusste nicht, was ihm noch
bevorstand, er wollte einfach auf alles vorbereitet sein.
Etwa zehn Minuten mochten vergangen sein, er hatte seinen Rucksack bereits wieder verschlossen, als
Sebastian ein seltsames Geräusch vernahm. Es klang wie das luftige Pfeifen, das Segelflugzeuge und manchmal
auch Deltaflieger im Flug verursachten. Nur einen Lidschlag später huschte ein mächtiger Schatten über die
Wiese vor der Hütte. Irgend etwas großes musste die Hütte überflogen haben. Doch er konnte nichts sehen, die
Hütte an deren Wand er saß, verdeckte die Sicht. An die Hüttenwand gestützt versuchte er sich hoch zu rappeln,
zu mehr reichte es nicht. Bei der Geschwindigkeit, mit der sich dieses Flugobjekt fortbewegte, würde er sowieso
nichts mehr sehen. Statt dessen erklang plötzlich in weiter Entfernung eine Art Schrei, grässlich und
furchteinflößend, etwas, das Sebastian noch nie zuvor gehört hatte. Dem Klang nach hätte es ein riesiger Vogel
sein müssen. Andererseits hörte es sich aber auch wie das Brüllen eines Raubtieres an.
Lauknitz erschrak und hielt den Atem an, um besser hören zu können. Aber alles blieb still. Zu still!
Jetzt fiel ihm auf, dass selbst die Vögel, die in der Umgebung munter gezwitschert hatten, plötzlich verstummt
waren. Ebenso die Insekten. Ihr Summen und Zirpen war einer Totenstille gewichen, die Sebastian Angst
machte. Nur der Wind ließ noch seinen monotonen Atem hören.
Was zum Himmel war das? Ein abstürzendes Segelflugzeug? Nein, der Schrei klang wie etwas
Lebendiges. Vielleicht ein großer Vogel, ein Reiher etwa? Aber warum verstummte bei seinem Schrei die ganze
übrige Tierwelt? Etwas Unheimliches lag in der Luft, das er sich nicht erklären konnte. Gebannt lauschte er noch
eine Weile und die Zeit erschien ihm wie eine Ewigkeit.
Dann hörte er ganz weit entfernt Hundegebell. Und wie zur Aufhebung eines unsichtbaren Banns, hob
das Konzert der Insekten wieder an. Sebastian wagte wieder zu atmen. Das Zirpen und Summen, das die lastende
Stille ablöste, hatte den Charakter einer Entwarnung. Doch was war die Bedrohung gewesen? Innerlich
verfluchte er seine Unbeweglichkeit und seine lähmende Verletzung. Seine Ausgeliefertheit wurde ihm gerade
jetzt bewusst.
Indes kam das Bellen der Hunde näher. Es hörte sich jedoch nicht bösartig an, eher ausgelassen und
Sebastian versuchte sich damit zu beruhigen, dass mit den Hunden auch Menschen kommen würden. Seine
Skepsis aber blieb, denn woher sollte ich wissen, ob diese Menschen Freund oder Feind waren. Er redete sich
ein, dass Hunde von Feinden immer bösartig klingen mussten. Was sollte er auch anderes tun? Er war seiner
eigenen Situation ausgeliefert!
Sebastian mochte keine Hunde! Noch nie, und seine Abneigung gegen diese Spezies war in seinem
Umfeld allgemein bekannt. Dummerweise spürten das stets auch alle Hunde. Sein ablehnendes »Weg!« und
»Pfui!« animierte sie gewöhnlich erst recht dazu, an ihm hochzuspringen und seine vor Angst glühenden
Wangen mit ihren rauhen Zungen zu liebkosen. Seinen jeweiligen vorübergehenden Herzstillstand schienen sie
in der Vergangenheit meist nicht bemerkt zu haben.
Dieser setzte aktuell wieder ein, als zwei große, wolfsartige Geschöpfe um die Hütte gesaust kamen.
Als sie ihn bemerkten, versuchten sie einen Haken in seine Richtung zu schlagen und rannten sich fast
gegenseitig über den Haufen. Sie hetzten heran, warfen ihre vier Vorderpfoten auf Sebastians Schoß und bliesen
mir ihren stinkenden Atem ins Gesicht.
Herzstillstand! Zu »Weg!« und »Pfui!« kam er erst gar nicht. Ihre Köpfe ruckten abwechselnd vor und
zurück, sie beschnupperten ihn, als würden sie ihr Abendessen prüfen und wedelten so ausgelassen mit ihren
Schwänzen, dass diese wie wild gewordene Besen gegen den kleinen massiven Tisch klopften.
Sein Herzstillstand war von so anhaltender Dauer, dass eine Reanimation eigentlich nicht mehr möglich
gewesen wäre. Die Erlösung kam in Form eines dünnen Pfiffes, noch entfernt. Wie synchron geschaltete
Maschinen fuhren die Hunde zurück und hetzten unschlüssig zwischen Sebastian und der Hüttenecke hin und
her. Ein weiterer Pfiff, schon näher, entschied ihr Handeln. Wie ein Blitz waren sie plötzlich verschwunden.
Erleichtert konnte Basti aufatmen. Allerdings nicht sehr lange. Schon fegte das Hundepaar wieder um
die Ecke, rannte sich erneut gegenseitig um und ließ wiederum seine Pfoten auf seinen zitternden Beinen ruhen.
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Aus den hechelnden Schnauzen hingen zappelnde, tropfende Zungen, die den Speichel zielgenau auf seine
Hosen beförderten.
»Ah, habt ihr euch schon mit meinen Lieblingen angefreundet?«
Mit diesen Worten bog Högi Balmer um die Hüttenecke, einen derben Stab in der einen Hand und ein kleines
dürres Lämmchen auf dem Arm. Etwas weiter hinten zog eine Schafherde in Sebastians Blickfeld.
Na der machte ihm vielleicht Spaß! Eher war es wohl so, dass Högis Köter ihn mit ihren Attacken
begrüßten. Basti lächelte nur krampfhaft und hielt seinen Mund.
Der Alte setzte das Lämmchen behutsam auf den Boden. Unbeholfen tapste es seiner Herde entgegen,
während sich der Alte hinkend Sebastian zuwandte. Eine Handbewegung von ihm genügte und die beiden Hunde
hetzten davon, stürmten auf die Herde zu und umkreisten die Schafe, wie Cowboys ihre Rinder.
»Sind prachtvolle Tiere, die zwei, nicht wahr?« Als Basti nichts sagte, fuhr Balmer fort: »Haben sich ihr
Abendessen heute mehr als verdient, waren richtige Helden, die beiden. Haben einen Gor in die Flucht getrieben.
Hat mir zwei Lämmer gerissen, das Biest! Das dritte Lämmchen«, der Alte nickte in Richtung der Herde,
»verdankt sein Leben Rona und Reno.«
»Sind das die beiden Hunde, Rona und Reno?«, fragte Lauknitz.
»Ja, sind doch prachtvolle Tiere, die beiden nicht..?« wiederholte sich Balmer.
Sebastian dachte an das geheimnisvolle Flugobjekt und an den Schrei und fragte:
»Ich habe so etwas wie einen Schrei gehört, war das dieser Gor, der die Schafe gerissen hat?«
Der Alte nickte nur nachdenklich und wandte sich zur Hüttentür. Aber so konnte er Basti nicht abspeisen, das
wollte er jetzt genau wissen! Seine Frage, die keinen Kompromiss mehr zuließ, hielt ihn auf:
»Was ist denn eigentlich ein Gor?«
Balmer hielt inne, drehte sich zu ihm um und fragte erstaunt:
»Habt ihr denn alles vergessen?« Er wiegte seinen Kopf unentschlossen hin und her und fügte dann
hinzu: »Dann wollt ihr das jetzt gar nicht wissen!«
Das Klang wie eine Feststellung, nicht wie eine Frage. Er wollte noch einmal nachhaken, doch Balmer
verschwand mit einer nicht gekannten Flinkheit in der Hütte. Es war offensichtlich! Er wollte darauf nicht
antworten! Erneut musste sich Lauknitz die Frage stellen: Was war hier los? Aber vielleicht wollte er es wirklich
nicht mehr wissen, denn eigentlich war sein Bedarf an seltsamen Dingen an diesem Tag bereits mehr als erfüllt.
Er versuchte alles Geschehene noch einmal nachzuvollziehen. Aber langsam drohte ihm der Schädel zu platzen.
Das alles war einfach zu viel für einen Tag! Und wie zur Bestätigung krähte Balmers Stimme aus dem Innern der
Hütte:
»Högi Balmer bereitet euch nun ein gemütliches Nachtlager. Der Tag war gewiss sehr anstrengend für
euch, wenn ich nicht irre, hi, hi, hi! Mögt ihr erst einmal schlafen, morgen zeigt sich die Welt wieder in einem
neuen Licht!«
Er hatte recht. Ihm fielen zwar noch nicht buchstäblich die Augen zu, dennoch war Sebastian sehr
müde. Ausgelaugt, kraftlos. Außerdem konnte er nichts weiter tun, als abwarten. Vielleicht würde sich morgen
alles aufklären!
Högi Balmer rumorte noch eine Weile in der Hütte. Rechtzeitig zum Sonnenuntergang erschien er
wieder im Türrahmen. Glutrot versank die Sonne hinter den Bergen auf der anderen Talseite. Kupfern glühten
die eisbedeckten Flanken im letzten Licht des Tages. Kein Vogel war mehr zu hören, selbst die Grillen
unterbrachen ihre Symphonie, als galt es, andächtig und würdig den Tag zu verabschieden.
Dann glomm nur noch ein letzter Schein an den vereinzelten kleinen Wolken, die wie einsame Schafe
am Himmel zogen. Augenblicklich wurde es kühl und Sebastian fror. Gleichzeitig begannen die Grillen ihr
Nachtkonzert, nur hin und wieder unterbrochen vom fernen Muhen einer Kuh oder dem Blöken eines Schafes.
Peinlich berührt bedeutete Basti dem Alten, dass er sich noch einmal zum See oberhalb der Hütte hinauf
begeben musste. Der hielt das scheinbar für ganz normal, hakte Sebastian unter, half ihm hoch und führte ihn
vorsichtig um die Hütte. Als sie die Alpweide oberhalb der Hütte erreicht hatte, musste Basti noch einmal
staunen: Die Wiesen um den halben See herum wurden von einer großen Herde bevölkert. Ziegen, Schafe, Kühe
und zwei Pferde oder Maulesel konnte er schemenhaft erkennen. Der silberne Mond hüllte alles in einen
friedlichen, märchenhaften Schein. Ein paar Kühe glotzten sie dumm und verwundert an, als sie den Pfad zum
Plumpsklo abwärts stiegen.
Dieser letzte Spatziergang hatte Sebastian dann so angestrengt, dass er kommentarlos auf das weiche
Lager in der Hütte fiel, das ihm Väterchen Balmer extra in einer Ecke hergerichtet hatte. Basti registrierte noch,
dass sein Rucksack an das Kopfende gelehnt stand, dann entführte ihn die bleierne Müdigkeit ins Land der
erlösenden Träume.
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Falméras Medicus
Als er am Morgen erwachte, lag Sebastian Lauknitz zunächst eine Weile bewegungslos da, versuchte
sich zu erinnern, was geschehen war und hoffte aus tiefstem Herzen, dass alles nur ein böser Traum gewesen
war, aus dem er nun erlöst werden würde. Doch sehr schnell gewahrte er wieder den muffigen Geruch der alten
Hütte. Der Alptraum war noch nicht vorüber. Schlimmer: Es war gar kein Traum! Seine Erinnerungen von
gestern waren die Wirklichkeit! Wie sehr hatte er gehofft, in seiner Wohnung aufzuwachen, den Wecker
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auszustellen und sich für die Arbeit fertig zu machen. Statt dessen lag er wiederum auf einem nach Moder
riechenden Lager, spürte jeden Knochen in seinem Körper und hatte erneut ein dringendes menschliches
Bedürfnis.
Wieder war es stockdunkel, bis auf den winzigen Schimmer einfallenden Lichts, der ihn mehr blendete,
als dass er ihm zum Sehen verhalf. Sebastian erinnerte sich an seinen Rucksack am Kopfende des Lagers und
tastete nach seinem Eispickel. Er zog ihn aus der Schlaufe, stützte sich darauf und versuchte sich von der
Schlafstatt zu erheben. Eine Bombe schien ihm in Rücken und Brust zu explodieren. Der stechende Schmerz
trieb ihm Tränen in die Augen und übertrumpfte die Schmerzen in den Beinen, in den Armen, in der Schulter...
Er kam zu dem Schluss, dass es wohl einfacher war, festzustellen, welcher Teil seines Körpers nicht
schmerzgepeinigt war. Mit zitternden Knien schob er sich vorsichtig durch die Hütte, dem Lichtschimmer
entgegen. Anstelle eines Türschlosses konnte er nur einen groben Riegel ertasten, der sich mit einem knallenden
Geräusch anheben ließ.
Augenblicklich stand Sebastian in flutendem Sonnenlicht, sah auf eine in allen Farben blühende
Almwiese, auf dunkelgrüne Tannenwälder und auf mächtige, schneebedeckte Berge, die an Höhe selbst den
Himalaya zu übertrumpfen schienen. Das Panorama, das ihn bereits gestern beeindruckte, lag wie gewaschen im
Glanz des klaren, neuen Tages. Ein leichter warmer Wind trug den würzigen Duft von Blüten, Heu und Wald
herüber. Die Insekten ließen bereits ihr vielstimmiges Summkonzert hören und eigentlich konnte es keinen
friedlicheren Ort geben, wären da nicht immer noch diese bohrenden Fragen: Was war passiert, wo war er hier
und wie kam er hierher?
An den Türrahmen gestützt sah er sich um. Von dem Alten war nichts zu entdecken. Sicher betreute er
seine Herde. Basti konnte wohl auch kaum annehmen, dass Högi nichts besseres zu tun hatte, als den lieben
langen Tag darauf zu warten, bis sich sein Pflegegast vom Krankenlager erhob. Also hatte Sebastian nun das
Problem, selbstständig die Toilette zu erreichen. Dabei trieb ihm schon der Weg durch die Hütte den Schweiß
auf die Stirn. Verzweifelt suchte er nach einem längeren Gegenstand, als dem Eispickel, auf den er sich stützen
konnte. Doch es war nichts Brauchbares zu entdecken.
»Ihr schlaft lange in den Tag, Herr!« Die Stimme des Alten unterbrach plötzlich den Frieden des
Morgens. »Habt gut geschlafen, wenn ich nicht irre. Wartet, Väterchen Balmer wird euch jetzt helfen. Müsst
euch wieder erleichtern, was?«
Wie aus dem Nichts war er in Sebastians Rücken am Hüttenanbau aufgetaucht. Er stützte sich auf
seinen Hirtenstab und hielt in der anderen Hand zwei krumme Holzstangen.
»Diesmal schafft ihr den Weg allein, Herr, Vater Balmer hat euch ein paar Stützen gebaut«, dabei hob
er die rohen Holzstangen an. Er humpelte heran und wäre Basti in besserer Verfassung gewesen, hätte er lachen
können. Denn bei seinem Gang hätte Balmer die Stützen selbst gut gebrauchen können. Dankbar nahm Sebastian
die hölzernen Teile entgegen. Überraschenderweise entpuppten sie sich als sehr brauchbar und äußerst bequem.
Ihr kruckeliges Aussehen hatte Sinn! Etwas oberhalb der Mitte waren sie etwas S-förmig gebogen, so dass man
sich mit den Händen darauf stützen konnte. Von der Länge her passten sie genau unter seine Arme. An den
oberen Enden hatte Balmer zwei Querhölzer als Auflagen angebracht und mit Fellstücken überzogen. Ein
Orthopäde hätte die Gehhilfen nicht perfekter entwerfen können.
Lauknitz nahm die Gehhilfen und stolzierte ein paar Mal damit auf und ab. Balmer freute sich wie ein
kleines Kind an Weihnachten, als er sah, dass ihm die Hölzer eine große Hilfe waren. Er klatschte sich vor
Freude mit den Händen auf die Schenkel, bis er in eine Staubwolke gehüllt war, die sein schmutziger Umhang
freisetzte. Dazu ließ er sein meckerndes Lachen hören. Irgendwie erinnerte er Sebastian an den Zwerg Albrecht
aus der Nibelungensage.
Ungeduldig bedeutete ihm Sebastian, dass er dringend zu einem bestimmten Ort müsste. Balmer
verstand sofort und rief ihm froh nach: „Geht nur, geht nur, ihr kennt ja den Weg!“
Trotz der Krücken, mit denen er sich nun besser fortbewegen konnte, lähmten ihn viehische Schmerzen,
sogar das Atmen fiel ihm schwer. Inständigst hoffte er darauf, dass der von dem Alten angekündigte Arzt bald
auf der Alm auftauchen würde. Aber da waren wieder diese Zweifel, ob der nicht ebenso Balmers Phantasie
entsprungen war, wie dieser seltsame Vogel, den er „Gor“ nannte. Sebastian musste sich zur Ruhe zwingen und
die Ankunft des Arztes abwarten. Etwas anderes konnte er im Moment nicht tun.
Die Sonne brannte vom azurblauen Himmel und er stakste unter ihrer Glut den Pfad hinauf. Rechts, an
ein paar kleinen Felsen entdeckte er etwas besonderes im hohen Gras: Leontopodium, Edelweiß! Die Blume, die
im Wallis bis auf ein paar ihm bekannte Stellen so gut wie ausgestorben war; hier wuchs sie so zahlreich und
groß, dass er beinahe sein dringendes Vorhaben vergaß. Dicht an dicht leuchteten die dollargroßen, weißen
Sterne aus dem Almgras hervor. Solche großen Blüten konnte Sebastian bisher bei einem Edelweiß nirgendwo
sonst beobachten. Diese Entdeckung gab ihm plötzlich neuen Mut, seine skurrile Situation zu ertragen. Er setzte
seinen Weg mit etwas mehr Zuversicht fort.
Später saß Lauknitz in der Sonne am Felsen nahe dem hochalpinen Wasserklosett und ärgerte sich über
seine eigene Unüberlegtheit. Weder hatte er seinen Tabak und seine Pfeife mitgenommen, noch hatte er an
Waschutensilien oder Rasierzeug gedacht. Am See in der Senke gab es ein paar geeignete Stellen, an denen sich
selbst ein Invalider hätte waschen können. Und seine Pfeife hatte er seit seiner Abfahrt in Braunschweig nicht
benutzt. Zu hektisch waren die letzten Tage gewesen.
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Sebastian raffte sich auf und ging den Pfad zurück. Als er die Hütte wieder erreichte, war von Balmer
nichts zu entdecken. Auch die Hunde oder die Herde konnte er nirgends erspähen. Friedlich und verlassen lag
alles im Glanz der Sommersonne. Basti nahm eine Plastiktüte aus seinem Rucksack, warf sein Waschzeug und
die Tabaktasche hinein und wollte den Reißverschluss gerade zuziehen, da fiel ihm sein Kästchen mit dem Gold
ein...
Das konnte nicht im Rucksack bleiben! Woher sollte er wissen, was ihn hier noch erwarten würde?
Vielleicht kam der Arzt mit einem Stab von Polizisten daher, die möglicherweise seinen kleinen Schatz
beschlagnahmen würden? Kurzentschlossen nahm er eine kleine Felltasche, die er an der Wand entdeckte und
verstaute neben dem Waschzeug und dem Tabak auch seine Kassette darin. Irgendwo zwischen den Felsen
wollte er sie verstecken, oder eingraben. Rasch steckte er sich noch meine beiden Bowiemesser in den Gürtel,
hängte sich Balmers Felltasche um und verließ die Hütte.
Zwanzig Minuten später saß er wieder am sonnenbeschienen Felsen, zündete sich eine Pfeife an und
nahm das Gelände bis hinunter zum See in der Senke in Augenschein. Nahe der Stelle, wo der Bach in den See
mündete, erhoben sich einige Felsen in der Alplandschaft. Wie eine natürliche Burgfestung ragten sie etwa
dreißig Meter über der Mündung auf. Dahinter verloren sie sich in einem Wirrwarr aus wahllos hingewürfelten
Felsbrocken. Selbst die Schneeschmelze im Frühjahr würde dieser kleinen Bastion nichts anhaben können. Wenn
Sebastian dort einen geeigneten Platz finden würde...
Entschlossen klopfte er seine Pfeife aus, steckte sie ein und stelzte mit den neuen Gehhilfen den Hang
hinab zum See. So besessen war er von dem Gedanken, sein Gold in Sicherheit zu bringen, dass er beinahe
schon die Schmerzen nicht mehr spürte. Die riefen sich aber um so deutlicher in Erinnerung, als er zwischen den
Felsen herumstieg. Jedes Hinaufstemmen oder Festhalten wurde zur Qual. Die Gehhilfen machten die Aktion
auch nicht leichter, im Gegenteil. Wo sie ihm auf den Grashängen halfen, behinderten sie ihn jetzt. Doch
irgendwo liegen lassen wollte er sie auch nicht.
Fast wollte er sein Vorhaben schon aufgeben und vor dem stechenden Schmerz in Brust, Hüfte und
Beinen kapitulieren, als er den perfekten Platz für seine Kassette fand: Zwischen den auserodierten Felszacken
entdeckte Sebastian eine Stelle, die mit kurzem Gras bewachsen war. Ringsum türmten sich Felsblöcke und ein
mächtiger, abgeflachter Brocken überdeckte eine kleine, gerade mal fünfzig Zentimeter große Nische. Staub und
kleine Steinchen lagen auf dem trockenen Boden. Vorsichtig kratzte Lauknitz mit dem Bowiemesser den Boden
aus, legte eine passende Felsschuppe hinein, umwickelte sein Kästchen mit der Plastiktüte und stellte es darauf.
Dann stopfte er kleinere Felsbrocken wie ein Puzzle vor die kleine Grotte.
Plötzlich drang Hundegebell an sein Ohr, gerade, als er einen großen, flachen Felsblock zur Sicherung
vor die verbaute Grotte wuchten wollte. O nein, Balmers Hunde! Und wo die sich herumtrieben, konnte der Alte
auch nicht weit sein. Wahrscheinlich war Balmer zur Hütte zurückgekehrt, hatte sein Fehlen bemerkt und Rona
und Reno auf die Suche nach ihm geschickt. Lauknitz hasste diese stinkenden Mistköter! Stets ging er allen
Hunden aus dem Weg, doch die Möglichkeit schien ihm hier nicht vergönnt.
Jeden Augenblick rechnete er damit, dass diese Viecher wie der Blitz durch die Felsen gesaust kamen.
Jedoch wusste er auch, dass der alte Balmer niemals in der Lage sein konnte, ihnen so rasch zu folgen. Basti
legte seine ganze Kraft in die Anstrengung, das Felsungetüm vor die verbaute Grotte zu wuchten und schaffte es
mit unsagbaren Schmerzen in der Seite. Das hätte er lieber nicht tun sollen! Die Sicherheit seines Eigentums
schien es ihm jedoch wert zu sein. Dann griff er mit bloßen Händen Erde, Staub und kleines Geröll und warf es
zwischen die Felsplatte und den Grotteneingang. Obenauf setzte er Moos, das er aus einer anderen Nische riss.
Wenn es anwachsen würde, war es ein zuverlässiges Zeichen dafür, ob jemand sein Versteck entdeckt hatte.
Eigentlich war es paradox, was er tat. Schon wieder versteckte Sebastian Lauknitz seine Goldmünzen, etwas, das
er selbst vor noch nicht ganz einer Woche für hoch idiotisch erklärt hatte und das ihn ja erst in diese Lage
gebracht hatte, in der er sich befand!
Als er die Hunde des Alten über den Hügel hetzen sah, war es ihm bereits gelungen, vom Felsen an den
See zu kommen. Seinen Schmerz verbiss er sich und tat so, als ginge er froh seiner Morgentoilette nach. Doch
selbst, als die Hunde ihn fast erreicht hatten, war von Högi Balmer noch nichts zu sehen. Sebastian hoffte nur,
dass diese dämlichen Tölen nicht witterten, wo er gewesen war und ihn verraten würden.
Aber die hatten ganz anderes im Sinn. Wie zwei von einer Sehne geschnellte Pfeile schossen sie auf
Basti zu, umkreisten ihn mit freudigem Gebell und dem üblichen Schwanzgewedel. Aha, das war wohl in ihrer
Sprache der Ausruf: „Hallo Herrchen, hierher, wir haben ihn gefunden!“ Glücklicherweise blieben ihm diesmal
ihre rauhen, nassen Zungen im Gesicht erspart.
Ihre Aufgabe, den Pflegegast zu finden, war für sie anscheinend damit erledigt. Plötzlich war Sebastian
nicht mehr von Interesse. Statt dessen rasten sie wie Kometen auf den See zu und schlugen spritzend auf der
Wasseroberfläche auf. Sie tollten ausgelassen im Wasser umher und Basti gewann den Eindruck, dass sie
geradezu froh waren, ihn am See entdeckt zu haben. Er gestand sich ein, dass er eher dankbarer dafür war, dass
sie sein Versteck nicht gewittert hatten.
Endlich kam Väterchen Balmer den Hang herabgehumpelt. „Ah, ihr seid sehr reinlich, Herr!“ Kaum,
dass er Luft holen konnte, prustete er seine Bemerkung heraus. Ein wenig ärgerte Sebastian Högis aufdringliche
Verfolgung, obwohl ihm klar war, dass er dem Alten zu großem Dank verpflichtet war.
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Frank Adlung • Storchenweg 6 • 38112 Braunschweig • Tel.: (05 31) 2 45 73 73 • Mobil: (01 60) 5 20 21 12
07.04.2011
Das Geheimnis von Val Mentiér, Roman • © 2008 - 2010 by Frank Adlung, Braunschweig • http://www.sternenlade.de
Erstelldatum 06.04.2011 23:42
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„Habt ihr euch um mich gesorgt, oder habt ihr den Auftrag mich zu bewachen?“ Sebastian wusste, er
hätte ihm diese Frage so nicht stellen sollen, doch in seiner Erregung platzte er einfach damit heraus und
augenblicklich tat ihm sein Verhalten leid.
Aber Balmer schien den sarkastischen Unterton gar nicht zu bemerken: „Väterchen hat sich um euch
geängstigt, Herr, doch scheint ihr wohlauf zu sein, hi, hi, hi!“
„Na was sollte mir in dieser friedlichen Welt hier bei euch schon geschehen,“ gab Sebastian provokativ
zurück, „hier gibt es doch nur eure Herde, die Hunde und... Gors.“ Wenn er glaubte, der Alte würde darauf
eingehen, so hatte er sich getäuscht.
„Ja, ja, Gors,“ erwiderte Högi nur gleichgültig und fügte mahnend hinzu: „Und Felsenbären!“
„Ach, Felsenbären..?“ Sebastian sah Balmer erstaunt und fragend an. „Gibt es da vielleicht noch einige andere
unfreundliche Wesen, vor denen ich auf eurer Alm auf der Hut sein sollte?“ Sein Sarkasmus, der schon Viele zur
Verzweiflung getrieben hatte, fruchtete bei Balmer jedoch überhaupt nicht. Er schien seine Worte mit der
Blauäugigkeit eines Kindes hinzunehmen.
„Ja Herr, alle die, welche eure Gedanken in der Welt der Toten vergessen haben: Gore, Felsenbären,
Eishunde, Robrums und manchmal können auch Elsiren einem Menschen Schaden zufügen. Nur Sonnenherz
nicht, sie ist die einzige, die ihre Angriffe nicht zu fürchten braucht, denn sie spricht mit ihnen! Nur vor den
wilden Horden ist auch sie nicht sicher. Vor ihnen seid ihr bei Väterchen Balmer aber gut aufgehoben, sie
kommen nicht so weit herauf, sie fürchten die Berge und ihre Bewohner. Doch wenn ihr erst einmal Torbuk und
Karek begegnet...“
„Halt, stopp, genug!“ Mit einer ausholenden Handbewegung unterbrach er Balmer in seinem Redefluss,
der eine ganz neue Eigenart von ihm zu sein schien. „Das reicht, nicht alles auf einmal, da muss ich erst mal dran
längs kommen!“
„Dran was müsst ihr kommen, Herr?“ Der Alte stand nun seinerseits mit fragendem Blick vor ihm. An
dieser Stelle wurde Sebastian endgültig bewusst, dass sie zwar in fast der gleichen Sprache kommunizierten, sich
aber dennoch nicht verstanden. Högi konnte mit seiner ziemlich schnodderigen Umgangssprache nicht viel
anfangen und Sebastian begriff kaum etwas von dem, was dieser ihm von seiner Welt vermitteln wollte, die
offenbar nur in seinem kranken Kopf existierte. So kamen sie auf Dauer gesehen nicht weiter!
Resigniert winkte Basti ab. „Hört, Vater Balmer“, fuhr er ruhig fort, „es interessiert mich nicht, was hier
alles so sein Unwesen treibt. Ich warte hier nur auf euren Arzt und will so rasch wie möglich wieder nach Hause,
versteht ihr?“
Der Alte zuckte mit seinen gebeugten Schultern und sah ihn verständnislos an. Lauknitz spürte, dass sie
sich gern hatten, etwa so, wie ein Enkel seinen Großvater, aber zwischen ihnen stand die Tatsache, dass sie kaum
etwas miteinander anzufangen wussten. Zu verschieden waren ihre Welten, glaubte Sebastian. Und er ahnte ja
noch gar nicht, wie wörtlich sich dieser Gedanke bewahrheiten sollte...
Eine Weile sahen sie sich an ohne etwas zu sagen. Dann brach Balmer das Schweigen und es klang ein
wenig nach einer hergesuchten Hinhaltetaktik:
„Ihr braucht nicht mehr zu warten, Herr, der Medicus wird hier sein, wenn die Sonne ihren höchsten Stand
überschritten hat.“ Er sagte das mit einer so ruhigen Selbstverständlichkeit, als würde der Arzt in Rufweite nur
darauf warten, dass Balmer ihm ein Zeichen gab. Sebastian wusste nicht, was er davon halten sollte. Erst war es
ganz ungewiss, wann dieser Doktor hier aufkreuzen würde und nun sollte er sie schon in drei Stunden mit seiner
Anwesenheit überraschen.
„Nun“, gab Basti wie ganz natürlich zurück, „dann habe ich ja noch etwas Zeit, meine Körperpflege zu
beenden, oder?“ Insgeheim hoffte er, dass sich Balmer mit seinen Worten dazu bewegen ließ, ihn eine Weile
allein zu lassen. Wer wusste schon, ob er mit seiner Ankündigung nicht doch Recht behalten würde und dieser
lang ersehnte Arzt endlich eintrudeln würde. Wie ein Ferkel wollte Sebastian ihm denn doch nicht unter die
Augen treten! Seine letzte Dusche lag mindestens vier Tage zurück. Selbst für einen Doktor in dieser Umgebung
konnte das nicht unbedingt angenehm sein.
„Schön, schön, frönet nur ausgiebig dem klaren, kalten Wasser, wenn es euch beliebt, Vater Balmer
sieht derweil nach seinem Vieh!“ Damit wandte er sich zum Gehen. Ohne sich umzublicken rief er noch über die
Schulter: „Ich lasse euch Reno und Rona da, Herr, sie werden auf euch Acht geben, sind gute Tiere, die beiden..,
gute Tiere!“
Aha, das hatte ihm noch gefehlt! Acht geben! Ihn kontrollieren und bewachen, oder was hieß das, auf
ihn Acht geben? Diese beiden Drecksköter waren doch Balmers verlängerter Arm! Wenn sie auch nur blöde
Hunde waren, verborgen blieb ihnen mit Sicherheit nichts, was er tat. Er sah noch, wie der Alte den Biestern am
anderen Seeufer etwas zurief, so, wie man einem Lehrling befiehlt, einen Eimer Wasser zu holen.
Augenblicklich kamen die Hunde aus dem Wasser heraus. Sie schüttelten so kräftig die Nässe aus ihrem Fell,
dass um sie herum ein kleiner Regenbogen entstand. Als wäre es das Normalste der Welt, trotteten sie gleich
darauf am Ufer entlang, zu Sebastian zurück. Wie zur Bestätigung, dass sie nun bei ihm bleiben würden,
tänzelten sie kurz schwanzwedelnd um ihn herum. Dann legten sie sich in einiger Entfernung in die Sonne und
nahmen scheinbar keine Notiz mehr von ihm. Fast hatte er den Eindruck, dass sie sich freuten, dass ihnen der
Alte eine so leichte und bequeme Aufgabe gegeben hatte. Aber was tat er denn da? Sebastian sprach diesen
stinkenden Kläffern menschliche Empfindungen zu! Begann er jetzt selbst schon durchzudrehen? Das waren
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Hunde, ganz gewöhnliche, ordinäre, mit schwarzem Fell überzogene lästige Kreaturen, die ihm hier so rein gar
nichts nützten!
In aller Ruhe genoss Sebastian das frische Wasser. Nackt ließ er sich hineingleiten, um sich gründlich
abzuseifen. Es war allerdings so erbärmlich kalt, dass sich alles in ihm zusammenzog. Das Unangenehmste war,
sich in dieser eisigen Flüssigkeit die Haare zu waschen. Beinahe blieb sein Herz stehen, als er den Kopf unter
Wasser tauchte. Mit gnadenlosen Klammern hielt ihn das Gletscherwasser umfangen. Wie sehr sehnte er sich
nach seiner wohl temperierten Dusche in seiner kleinen Wohnung! Zwangsläufig drängte sich ihm die Frage auf,
wie Balmer im Winter seine Körperreinigung vollzog. Bei dem Duft, den er ausströmte, war das jedenfalls schon
im Sommer äußerst selten.
Nach seiner Waschaktion fühlte sich Lauknitz schon wesentlich besser, obwohl die Schmerzen an
seinen lädierten Körperteilen zugenommen hatten. Dankbar für etwas Ruhe setzte er sich an die warmen Felsen.
Die Sonne hatte sie angenehm aufgeheizt. Sebastian stopfte seine Pfeife neu und blies graue Wölkchen in den
blauen Himmel.
Rona und Reno lagen friedlich in der Sonne und rührten sich nicht. Lediglich ihre spitzen Ohren stellten
sich bei jedem Geräusch wie Parabolantennen auf und suchten drehend nach der Ursache. Friedlicher konnte es
nicht sein und es erinnerte Sebastian an einen Tag, als Janine noch lebte. Sie waren im Wallis unterwegs und
biwakierten auf einer Almweide ähnlich dieser hier und saßen genauso an einem See an die Felsen gelehnt. Oft
nach Janines Tod wünschte er sich dorthin zurück. Jetzt war er genau wieder an so einem Ort der Ruhe und des
Friedens. Nur waren anstatt seiner Janine zwei hechelnde, sabbernde Vierbeiner bei ihm. Dennoch ließ er seinen
Erinnerungen freien Lauf.
Janine hatte damals solche Momente insbesondere gegen Abend sichtlich genossen. Sie waren ihr
Offenbarung. Sebastian glaubte, er verstand es damals nicht so recht. Doch mittlerweile um so mehr. Es ist
dieser absolute Frieden, der sich nach eines Tages Tat herabsenkt, zur Besinnung ruft und einem zufriedenen
Gefühl Raum lässt. Einer Empfindung, die einem bewusst werden lässt, dass man diesen Tag gelebt hat. Wie ein
stilles Gebet schweigt dieser Moment, um für diesen Tag zu danken. Auch, um zu ergründen, was dieser Tag
nachhaltig für jeden selbst bedeutet. Wer viel einsam in den Bergen unterwegs war, kennt diesen Augenblick
und schätzt ihn heilig. Niemals wird so jemand auf den Einfall kommen, diese Minuten mit lautem Geplapper
oder hektischem Tun zu stören. Leider sind es nur wenige, die diese Erfahrung im Herzen tragen.
Zweimal war er mit Janine an solchen Orten gewesen. Jedes mal war es etwas Besonderes, dort zu
biwakieren. Warum solche Orte für ihn inzwischen beinahe mystischen Charakter besaßen, wusste er nicht. Es
war eine Empfindung, die sich im Laufe der Jahre in ihm eingeprägt hatte. So etwas entsteht einfach, ohne dass
man eine Erklärung dafür hat. Es ist etwas, das in einem wohnt, Bestand über die Zeit hinweg hat und
niemandem sonst zugänglich ist. Es ist wie eine Verbindung zwischen dem Ort und dem Herzen, die man spüren
kann, nicht jedoch sehen oder hören.
Im Geiste sah er Janine wieder vor sich. Sie trug ihr knallgelbes, weit ausgeschnittenes, leichtes
Minikleid mit Spaghettiträgern, das Sebastian ihr in einer Grächner Boutique gekauft hatte. Ihm schwanden fast
die Sinne, wie er sie so vor sich sah, in dem knappen, wehenden Kleidchen, an dem sie auch noch wie zufällig
einige der oberen Knöpfe offen gelassen hatte. Es gelang ihm nicht, sich ihrem verführerischen Blick zu
entziehen.
Auf dieser einsamen, weltvergessenen Alpweide, in frühabendlicher Windstille verloren sie beide die
Beherrschung. Lediglich das gelbbraune Steilhanggras, die lichten, sie umgebenden Arven und die friedlich
singenden Vögel wurden Zeugen, wie sie die Gewalt über ihre Sinne verloren und sich einfach ihren Gefühlen
hingaben und ihren geheimsten Wünschen freien Lauf ließen. Ihr Rucksack blieb liegen, wo er hinfiel und sie
schwebten in unbeschwerter Selbstvergessenheit. Mit leisem, unscheinbarem Rascheln floss Janines Kleid ins
Gras. Die Sonne senkte bereits leicht ihre Lider, ließ ihr warmes Licht zwischen langen Schatten über das weite
Grasland gleiten und umschmeichelte zwei nackte, aufgeheizte Körper mit weicher Wärme. Die Bäume ringsum
schwiegen, das kurze, trockene Gras zitterte leicht im fächelnden Abendföhn und das rotgoldene Licht der
frühen Dämmerung floss an ihren Körpern herab und ließ sie kupfern schimmern. Dann hörte Basti nur noch
ihren jagenden Atem, das Summen der Insekten und Janines hauchende Stimme: »Glaube daran.., wir sehen uns
wieder.., drüben.., irgendwann. Ich liebe Dich...« Immer und immer wieder hörte er sie sagen: Ich liebe Dich!
Und jedes Mal drang es lauter an sein Ohr, es steigerte sich, bis es so klang, als würde es ihm Janine mit all ihrer
Kraft in sein Bewusstsein schreien...
Nein, es war Bellen. Wirkliches Bellen von Hunden! Sebastian war eingeschlafen! Als er zu sich kam,
gewahrte er gerade noch, wie Rona und Reno aufgeregt bellend den gegenüberliegenden Hang hinaufstürmten.
Was hatten sie nur gehört oder gewittert, was sie so in Aufregung versetzte? Mit der flachen Hand schirmte Basti
seine Augen vor dem Sonnenlicht ab und spähte zum Hang hinauf, wo die beiden Hunde gerade laut kläffend
seinem Blick entschwanden.
Aber so sehr er sich auch bemühte, es war nichts zu erkennen. Friedlich und verlassen lag die
Alplandschaft vor ihm. Ein wenig war er schon froh, die beiden Köter endlich los zu sein. Wer weiß, was mit
denen war! Vermutlich hatte Balmer sie gerufen. Hunde, das wusste er, können noch Töne hören, die Menschen
akustisch gar nicht mehr wahrnehmen. Sebastian wollte gerade die Felltasche aufnehmen und zur Hütte zurück
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gehen, da erschien jemand oben auf dem Hügelkamm, genau an der Stelle, wo er den Blickkontakt zu Rona und
Reno verloren hatte.
Er war so überrascht, dass er zunächst gar nicht reagierte. Eines aber war ihm sofort klar: Diese Person
dort oben war nicht Högi Balmer! Wer immer es war, er schien sich hier gut auszukennen. Ohne sich weiter
orientieren zu müssen, kam er zielstrebig in Sebastians Richtung herabgeschlendert. Eilig schien es sein
Besucher nicht zu haben. Dass es ein Mann war, erkannte Lauknitz bereits an seinem Gang. Die Hunde kamen
jedoch nicht zurück, worüber er natürlich keineswegs traurig war.
Gespannt wartete er auf den plötzlichen Besucher. Vielleicht hatte er ein Funkgerät dabei, oder wusste
zumindest, wo sich das nächste Telefon befand. Augenblicklich durchfuhr ihn ein Schreck! Was, wenn dies dort
Bruno Ambühel war? Basti beobachtete den Herannahenden und beruhigte sich gleich wieder. Die ganze Statur
des Fremden passte nicht zu dem Berner Polizisten. Dieser hier war schlanker und hatte einen leichteren Schritt.
Bruno Ambühels Schritt kannte er. Schließlich hatte er einige Stunden damit zugebracht, seine Gangart
eingehend zu studieren! Sein Besucher musste Sebastian inzwischen gesehen haben, er winkte mit dem Arm
herab und beschleunigte seinen Gang. So, wie es aussah, hatte er nichts bei sich: Keinen Rucksack, keinen
Wanderstock, nicht einmal zusätzliche Kleidung. Er konnte also kaum von sehr weit her kommen.
Möglicherweise der Wirt einer nahegelegenen Clubhütte oder eines Bergrestaurants? Basti stützte sich bequem
auf seine Gehhilfen und erwartete sein Näherkommen.
In wenigen Minuten stand der Fremde vor ihm. Ein gutaussehender, sportlicher Mann in ungefähr
Sebastians Alter, jemand, den man vom Aussehen her als einen „Frauenschwarm“ bezeichnen würde. Er hatte
kurze, etwas ungepflegte, braune Haare und ein freundliches, fast jungenhaftes Gesicht, aus dem ihn zwei große,
ehrliche Augen anstrahlten. Dieser Mensch schien ihm vom ersten Augenblick an sympathisch. Sein
Dreitagebart verlieh dem Fremden den Charakter eines lässigen, unbeschwerten Abenteurers. Ein unzerstörbares
Lächeln begrüßte Basti. Der Schalk stand dem Ankömmling im Gesicht und überschrieb die deutlichen Zeichen,
die von der Reife und Erfahrung eines Mannes erzählten.
»Ah, da seid ihr ja, seid gegrüßt unter dem blauen Himmel Volossodas.« Der Fremde reichte Sebastian
zur Begrüßung seine Hand und fuhr fort: »Väterchen Balmer berichtete mir bereits, dass ihr euch gut erholt habt
und schon einen Lieblingsplatz hier oben habt.« Dabei huschte ein überlegenes Grinsen über sein Gesicht. Doch
selbst das konnte Basti nicht den Schrecken nehmen, der ihm bei der Begrüßung dieses fremden Mannes in die
Glieder fuhr!
Zwei Umstände passten ganz einfach nicht zu diesem Menschen, in dem er bereits seinen Retter sah: Er
sprach genau so in der seltsamen Sprache und in der dritten Person, wie Högi Balmer. Seinem offenen und
unbeschwerten Auftreten zufolge hoffte Lauknitz mit der Assoziation auf eine moderne Ausdrucksweise einem
normalen Menschen zu begegnen, nicht jedoch einem neuen, jüngeren Almöhi.
Die zweite Tatsache, die ihn an diesem Mann zweifeln ließ, war seine Kleidung. Sie wurde Sebastian
erst beim zweiten Hinsehen bewusst. Wo er eine normale Jeans erwartet hatte, trug dieser Mensch eine
naturweiße, grobe Leinenhose. Ihr Stoff glich der einer mexikanischen Landarbeiterhose, die Basti aus
Spielfilmen kannte, während ihr Schnitt ihn sehr an eine Strumpfhose erinnerte. Seine Füße steckten in
einfachen, kurzen Lederstiefeln, die eigentlich eher einem mittelalterlichen Hofnarren gehören sollten. Sie liefen
vorn spitz zu und neigten sich etwas in die Höhe, während ihr Schaft aus weichem, dünnerem Leder zu bestehen
schien, den er nach unten hin umgekrempelt hatte.
Sein Hemd, das er über den Bund trug und das aus dem gleichen Material bestand, wie seine Hose,
erinnerte vom Aussehen her an die Pioniere aus dem Amerika des siebzehnten Jahrhunderts. Ein breiter,
fellbesetzter Ledergürtel zog das Hemd um die Hüfte zusammen. An ihm baumelten mehrere bunte Beutel aus
Stoff oder Leder, sowie zwei kleine Kürbisflaschen. Solche Flaschen hatte Sebastian zuletzt als Kind bei seinen
Großeltern gesehen. An der Seite steckte ein mittelgroßer Dolch mit Holzgriff im Gürtel des Besuchers. Eine
nierenlange Schaffellweste rundete das skurrile Bild ab.
Lauknitz war bemüht, sich seine Überraschung nicht anmerken zu lassen. Andererseits war er über
dieses Erscheinungsbild dermaßen perplex, dass ihm schlicht die Worte fehlten. Genau so ungläubig, wie er
Högi Balmer angesehen hatte, betrachtete er diesen Mann, der aber zumindest augenscheinlich wesentlich
intelligenter wirkte.
Als Lauknitz nicht gleich auf seine Begrüßung reagierte, ergriff der Fremde erneut das Wort: »Ihr
scheint überrascht zu sein, mich zu sehen...« Er sah Basti eine Weile erwartungsvoll an, bevor er verstehend
nickte: »Nun, ich bin Arzt und möchte Euch helfen. Die meisten hier nennen mich Falméras Medicus oder
Doktor, es gibt aber auch genug andere, die weniger rücksichtsvoll sind, was die Bezeichnung meiner Zunft
angeht. Ihr müsst wissen, dass die meisten Menschen hier mit ihren Leiden zu irgendwelchen Heilern oder
Kräuterweibern gehen, die dann wochenlang daran herumexperimentieren und sich von ihren Anbetern aushalten
lassen.«
»Und ihr seid ein richtiger, studierter, promovierter Arzt?« Mit dieser Frage sah ihn Sebastian
herausfordernd an. Sein Grinsen verbreiterte sich noch, als er antwortete:
»Ja sicher, aber meine Urkunde habe ich nicht mitgebracht. Wenn ihr die sehen wollt, müsst ihr euch
schon nach Falméra bemühen. Aber alles zu seiner Zeit. Jetzt wollen wir erst einmal sehen, wie ich euch wieder
gesund bekomme.«
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Die Skepsis in Sebastian wurde stärker. Irgendwie passte alles nicht zusammen. Ein in mittelalterliche
Lumpen gekleideter Arzt, der promoviert haben will, sich jedoch einer Sprache bediente, als wäre er ein
Gesandter des ehemaligen Österreichischen Kaisers... Was sollte er von alledem halten? Basti wollte das jetzt
wissen und drängte nach:
»Nehmt es mir bitte nicht übel, Herr Doktor, aber, wenn es euch nichts ausmacht, mir eine Frage zu
beantworten: Wo und wann habt ihr eigentlich studiert und wo und wann habt ihr eure Doktorarbeit
geschrieben?« Das musste ihn nun doch ins Schleudern bringen, dachte Lauknitz... Dachte er aber auch nur!
Diese Frage schien den Medicus nicht im mindesten zu verunsichern.
»In Falméra!«, kam die prompte Antwort.
»Ja, aber was ist Falméra?«, bohrte Sebastian weiter, »Ist das eine Kreisstadt, ein Verwaltungsbezirk, vor allem,
von welchem Land? Ich habe noch nie etwas von Falméra gehört!«
»Das habt ihr sehr wohl, Herr, doch ihr wisst es nicht mehr. Ihr seid gestürzt und habt eine Amnesie
erlitten. Dazu kommt, dass alle, die bisher aus dem Reich der Toten zurückgekehrt waren, auch ohne Sturz an
einer Amnesie litten. Sie kamen zurück, als sei ihr Gedächtnis gelöscht worden...«, entgegnete er.
Sebastian sah den Doktor verzweifelt an und konnte nicht glauben, was er gehört hatte. Vor allem
wurde ihm schlagartig klar, dass dieser Doktor das gleiche Spiel mit ihm trieb, wie der Alte. Die wollten ihn in
die Irre führen! Sie wollten ihm glauben machen, er befände sich im Lande Nirgendwo oder Sonstwo! In was für
eine miese Geschichte war er da geraten? Allmählich wurde Sebastian echt sauer: »Also Herr Doktor.., bevor sie
an mir herumdoktorn, will ich genau wissen, wo ich hier bin, wie ich hier hergekommen bin und wie ich wieder
nach Hause komme. Ich habe nämlich einen Job und wenn ich mich da nicht wieder zurückmelde, kann ich mir
einen anderen suchen. Und außerdem...«, Basti redete sich richtig in Rage, »...finde ich es eine Frechheit
sondergleichen, mich hier einfach festzuhalten!«
Den Arzt schien sein Redeschwall nicht besonders zu beeindrucken. Er hockte sich ihm gegenüber hin,
seine Hände machten eine Geste, die ihm bedeuten sollte, das gleiche zu tun und außerdem seine Unschuld
beteuern sollte. So sprach er in ruhigem Ton auf Sebastian ein:
»Herr, es will euch hier niemand festhalten und schon gar nicht einfach! Wenn ihr es wünscht, könnt ihr
augenblicklich gehen, wohin es euch beliebt. Ihr seid kein Gefangener, sollt ihr wissen! Als Medicus muss ich
jedoch empfehlen, euch zuvor von mir untersuchen und behandeln zu lassen. Ihr habt offensichtlich ein paar
kleinere Frakturen und eine Amnesie, die solltet ihr nicht unbeachtet lassen! Außerdem gibt es einiges, das ihr
nicht wissen könnt, das euch aber gefährlich werden kann. Ich mag euch gerne darüber aufklären, doch müsst ihr
euch in Geduld üben. Eines nach dem anderen! Bevor ihr eine allzu rasche Entscheidung trefft, lasst euch sagen:
Ihr seid nicht der, der ihr zu sein glaubt!«
»Oh doch, Doktor Falméra, ich weiß schon, wer ich bin...!« Basti wollte diesem Arzt unbedingt klar
machen, dass er sehr wohl noch Herr seiner Gedanken war. »Ich weiß nicht, was für eine Sauerei ihr hier
verstecken wollt«, begann er von neuem, »aber ich weiß ganz genau, dass ich, Sebastian Lauknitz, noch alle
Sinne beisammen habe. Ich weiß auch, dass ich irgend jemandem in die Quere gekommen bin und man mich
hierher verschleppt hat, um etwas Bedeutendes zu vertuschen. Und wenn ihr glaubt, dass ihr mich mit einer
fadenscheinigen Geschichte, oder mit einer angeblichen Amnesie isolieren und mundtot machen könnt, dann
habt ihr euch aber gewaltig geschnitten!«
Mit tiefgründigen, durchdringenden Augen sah ihn der Doktor an und schwieg. Dann nickte er
gewichtig mit dem Kopf und fragte Lauknitz ruhig: »Gut, wie ihr meint. Dann erklärt mir mal, wo ihr euch hier
befindet und wie ihr hier her kommt? Ist euch ein Ort bekannt, der diesem hier gleicht?« Er zog die
Augenbrauen hoch, um seiner Frage Nachdruck zu verleihen und als Sebastian nicht gleich antwortete, fuhr er
fort:
»Habt ihr nichts seltsames erlebt? Wenn ich euch sagte, ihr seid nicht der, der ihr zu sein glaubt, so habe
ich das auf eure Amnesie bezogen. Ihr glaubt Sebastian Lauknitz zu sein. Euer Name ist aber Areos, nur ihr
wisst es nicht mehr! Ihr glaubt an einen Traum, den ihr während eures Gesundschlafs hattet. Dieser Traum war
so komplex, dass er für euch zur Wahrheit wurde. Nun verwechselt ihr Traum und Wirklichkeit!«
Als er den Doktor ungläubig und kopfschüttelnd ansah und dieser zweifelsohne erkannte, dass
Sebastian ihn für einen Spinner hielt, warf er mit einer einzigen Frage seine ganze innere Sicherheit über den
Haufen:
»Areos.., Lauknitz, wie auch immer, beschreibt mir doch einmal, wie der gehörnte Mensch aussah, den
ihr in eurem Traum gesehen habt! War er groß? Hatte er einen Fellumhang? Trug er ein großes Schwert und
einen breiten Gürtel? Hattet ihr das Gefühl zu frieren, bevor ihr ihm begegnet seid...?«
Plötzlich lief Sebastian Lauknitz eine Gänsehaut über den Rücken. Und er zweifelte! Seine innere
Stärke, seine Überzeugung und sein Glaube an sich selbst, die er immer für unerschütterlich hielt, begannen zu
wanken. Wenn dieser Medicus nicht Gedanken lesen konnte, wovon er eigentlich ausging, woher wusste der
dann von dem Wesen, das Basti vor seinem Sturz zu sehen geglaubt hatte und woher wusste er von seinem
Empfinden der Kälte vor diesem Unfall? Niemandem hatte er davon erzählt! Sebastian schwirrte der Kopf vor so
vielen Ungereimtheiten.
Verwundert sah er den Doktor an und wusste nicht, wie er nun reagieren sollte. Er war völlig
verunsichert. Am liebsten wäre Sebastian mit einem Schrei explodiert, oder ganz still in so ein kleines Loch
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gekrochen, aus dem gewöhnlich Ameisen kommen. Mit anderen Worten, Lauknitz glaubte sich immer noch in
einem bösen Traum gefangen, den er nun ganz schnell beenden wollte. Ja, es war nicht anders möglich, all das
hier träumte er nur! Allerdings hatte er nichts dagegen, wenn dieser Traum augenblicklich endete. Es wäre ein
guter Zeitpunkt!
Sebastian schloss seine Augen und versuchte sich darauf zu konzentrieren, den Traum zu beenden und
aufzuwachen. Strudel entstanden in seinem Kopf. Erinnerungen wirbelten durcheinander, alte und neue, ohne
Ordnung oder System. Ein heilloses Chaos von Gedanken durchzog ihn. Aber diesem Traum konnte er nicht
entfliehen. So sehr er sich auch bemühte, er war in ihm gefangen!
Eine Stimme holte ihn zurück: »Warum lasst ihr euch nicht von mir untersuchen und ich beantworte
euch die Fragen, die in euch brennen? Wenn ihr es aber vorzieht, mich und das alles hier zu ignorieren und euch
ohne Rat und Schutz aufmacht, wohin auch immer, so garantiere ich euch, werdet ihr nicht weit kommen.
Spätestens, wenn ihr den wilden Horden in die Hände fallt, ist eure Reise zu ende. Also, was habt ihr im
Augenblick zu verlieren?«
Unverändert saß ihm der Doktor gegenüber. Oh doch, er hatte etwas zu verlieren! »Meinen Job, meine
Arbeit, versteht ihr, Doktor Falméra, wenn ich nicht am Montag wieder... Welcher Tag ist heute überhaupt?«
Der Medicus neigte leicht seinen Kopf nach vorn, als hätte er Basti nicht richtig verstanden: »Was
meint ihr mit welchen Tag? Heute ist der Tag heute und morgen ist morgen, so wie gestern eben gestern gewesen
ist. Es ist der dritte Tag nach Vollmond in der Zeit vor der Ernte!«
Lauknitz musste erkennen, dass er so nicht weiter kam: »Also gut, ist ja auch egal. Nur, wenn ich in
zwei Tagen nicht wieder zu Hause bin, macht jemand anderes meine Arbeit, ich habe dann keinen Job mehr, um
mir meinen Lebensunterhalt zu verdienen, begreifen Sie.., äh, begreift ihr das, Herr Doktor Falméra?«
Etwas beleidigt kam die Antwort: »Mein Name ist nicht Falméra, genauso wenig, wie ihr Lauknitz
heißt. Falméra ist unsere Stadt. Mich nennt man nur Falméras Medicus, weil ich der einzige studierte Arzt bin,
den dieses Land je gesehen hat...«
»Was?«, unterbrach ihn Sebastian, »der einzige Arzt weit und breit? Ist das hier etwa ein
Entwicklungsland? Oh du grüne Neune, das glaubt man doch nicht, was für ein Land ist das hier eigentlich?
Falméra zum Beispiel! Nie gehört von dieser Stadt! In welchem Land liegt Falméra?«
»Nun, Falméra ist eine Stadt von drei Städten und liegt im Lande Volossoda. Na ja, genau genommen
liegt Falméra vor der Küste Volossodas, Falméra ist nämlich eine Insel. Versteht ihr, Falméra liegt auf einer
Insel vor der Küste von Volossoda... Nein! So geht das nicht. Seht einmal her!« Der Doktor nahm ein Stöckchen
und malte eine grobe Karte in den Ufersand des Bergsees:
»Also, das hier ist die Küste von Volossoda.« Er malte eine kurvige senkrechte Linie und fuhr fort:
»Auf der Landseite, vor den Bergen, also im Mündungsgebiet des Flusses, liegt Quaronas, die zweitgrößte Stadt
hier. Weiter landeinwärts beginnt das Val Mentiér, ein langes Tal, das am ewigen Eis endet.« Der Medicus wies
mit der Hand talwärts: »Dort unten, weit unten, da liegt das Dorf Imflüh, die nächste Siedlung von hier aus. Es
gibt noch vier weitere Dörfer das Tal hinab, bis man Quaronas erreicht. So, auf der Seeseite...« Er fuhr wieder
mit dem Stöckchen durch den Sand. »...liegt die Insel Falméra mit der Stadt Falméra. Das ist unsere Stadt...«
»Unsere Stadt? Was meint ihr damit?«, wollte Sebastian wissen. »Heißt das, diese andere Stadt,
Quaronas, gehört jemand anderem? Und in welchem Land liegt denn Volossoda zum Kuckuck, ich verstehe das
alles nicht...« In der Tat verstand Lauknitz nur Bahnhof. Dieser Arzt wollte ihm hier eine Welt vorgaukeln, die
nur in seiner Einbildung zu existieren schien, ebenso wie bei Högi Balmer. Offensichtlich litten hier alle an ein
und derselben Krankheit: An einer blühenden Phantasie!
»Volossoda ist das Land!« erklärte der Doktor mit Nachdruck.
»Aber auf welchem Kontinent liegt dieses Land Volossoda«, fragte Lauknitz.
Der Arzt sah zu Boden und antwortete lehrbuchmäßig: »Es gibt hier keinen Kontinent! Hier gibt es nur
Volossoda. Hinter den Bergen ist das ewige Eis und das Reich der Toten, aber bis dorthin ist bisher kaum
jemand gelangt. Und wenn doch einmal einer dort war, so ist er, wie ihr, mit einer seltsamen Amnesie
zurückgekehrt und war seither nicht mehr er selbst. Dort wo die Sonne Ruhe hält, liegt Zarollon, die dritte Stadt
Volossodas. Und noch weiter dahinter liegt das raue, kalte Land. Nur Jäger gelangen manchmal dorthin. Auf der
anderen Seite, dort, wo die Sonne und das Licht leben, ist der große Sumpf. Weit dahinter, wo die Sonne alles
verbrennen lässt, leben die Unbekleideten. Einige unseres Volkes treiben Handel mit ihnen und die Reise dorthin
ist sehr lang und beschwerlich.«
Resignation machte sich in Sebastian breit. Er war genau so schlau, wie vorher. Von dem, was ihm der
Doktor Medicus zu erklären versuchte, verstand er rein gar nichts. Irgendwie befand er sich im völlig falschen
Film. Das brachte ihn auf einen Gedanken: Vielleicht wurde er das Opfer einer Film-Show, wo man ihm für ein
Medien-Spektakel etwas vorgaukeln wollte? Hatte man mit ihm so etwas, oder etwas ähnliches vor? Sollte er
das Opfer einer versteckten Kamera werden?
Dieser einzige Arzt eines angeblichen Phantasielandes wollte ihm allen Ernstes weismachen, sein
bisheriges Leben sei nur ein Traum gewesen, eine Amnesie, die er angeblich in einem Reich der Toten erlitten
hatte. Wie idiotisch klang das denn? Sollte er das etwa ernst nehmen? Sein ganzes bisheriges Leben, an das er
Erinnerungen hatte, so komplex, wie nichts anderes in seinen Gedanken, sollte nur geträumt sein? Es hatte nie
statt gefunden? Das war totaler Schwachsinn! Und Sebastian wollte sich auch nicht weiter verulken lassen!
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Aber da war diese Sache mit dem gehörnten Schwertträger, den er vor seinem Sturz gesehen hatte. Eine
Figur, die es nicht geben konnte, die er sich nur eingebildet haben konnte. Dennoch wusste der Doktor davon,
obwohl Sebastian weder ihm noch Balmer davon erzählt hatte. Er dachte nach. Wenn er das, was er für
unmöglich hielt ausschloss, blieben noch zwei Möglichkeiten: Entweder er hatte im Schlaf gesprochen, als er in
Vater Balmers Hütte lag, oder... Aber nein, das war kaum möglich.., oder doch? War es möglich, dass es diese
Figur, dieses Wesen tatsächlich gab und er, Sebastian Lauknitz, die Möglichkeit ihrer Existenz nur ausschloss,
weil er sie nicht für möglich hielt? Basti schüttelte seinen Kopf, wie um wieder klar denken zu können und
bemerkte zu spät, dass er es laut aussprach:
»Bei dem Gedanken kann man ja irre werden!«
Falméras Medicus erhob sich und seine Stimme klang beruhigend und durchaus auch vertrauenswürdig:
»Ich werde versuchen, euch alles nach und nach zu erklären. Aber lasst uns zunächst zur Hütte zurück
gehen, damit ich euch untersuchen und behandeln kann. Allmählich werdet ihr schon alles verstehen, glaubt mir.
Und bis dahin seid ihr bei Väterchen Balmer gut aufgehoben!«
Glaubt mir..! Aber gerade das war es ja: Sebastian glaubte ihm kein Wort! Und ob er in Balmers Hütte
gut aufgehoben war, lag wohl eher im Auge des Betrachters! Lauknitz fand, dass es inzwischen an der Zeit war,
aus diesem Alptraum aufzuwachen und dass er an seiner Verputzmaschine in der Akkordkolonne seines
Stuckateurbetriebes viel besser aufgehoben war! Ihm war aber auch klar, dass er im Augenblick nicht viel ändern
konnte.
Eine Sache aber wollte er gleich auf dem Weg zur Hütte klären: »Sagt mal, Medicus, woher wusste
Vater Balmer eigentlich, wann ihr hier sein würdet? Kann der etwa auch hellsehen?«
Der Arzt lachte herzlich und machte eine wegwerfende Handbewegung: »Das, mein Bester, hat nichts
mit Magie oder Parapsychologie oder sonst dergleichen zu tun! Balmer kennt eine Felskanzel am Ende der Alm,
von wo aus er beinahe das ganze Tal bis hinunter nach Fallwasser überblicken kann. Er mag alt sein, aber er hat
Augen, wie ein Gor. Wenn irgendjemand oder irgendetwas sich seiner Alm nähert, dann weiß er das schon einen
Tag vorher!«
»Fallwasser? Ist das auch eines der Dörfer im Tal?« Lauknitz ertappte sich bei der Frage nach etwas, an
dessen Existenz er nicht glaubte und erschrak, wie rasch man sich doch etwas einreden lässt.
»Ja, Fallwasser ist das vorletzte Dorf im Tal.« Des Doktors Bestätigung kam wie aus der Pistole
geschossen. »Das Tal macht dort einen Knick und trennt sich durch eine tiefe Schlucht in zwei Teile. Ganz in der
Nähe befindet sich ein hoher Wasserfall. Der gab dem Dorf seinen Namen. In der kalten Zeit, wenn Schnee und
Eis das Land bedecken, ist die Schlucht unpassierbar. Nur die härtesten Jäger sind dann noch in der Lage,
Quaronas oder Falméra zu erreichen.«
Basti war erstaunt, dass jemand wie dieser Doktor, der zweifelsfrei eine gehobenere Intelligenz besaß,
selbst an so einen Bockmist glaubte. Die Komplexität, mit der er seine Phantasiewelt ausschmückte,
beeindruckte Sebastian sogar. Der Medicus redete davon, als sei es das normalste der Welt. Für ihn jedenfalls
das normalste seiner Welt, auch wenn sie nur in seinem Kopf existierte.
In diesem Augenblick stand für Sebastian fest: So schnell, wie möglich wollte er wieder fit werden. Er
wollte seinen Rucksack nehmen, seine Goldmünzen von den Felsen holen und ins Tal absteigen. Dann würde
sich ja zeigen, wo er sich befand! Irgend einen Laden, oder ein Postamt musste es doch geben, wo man ihm
sagen konnte, wo er war. Anschließend würde er den nächsten Bus oder Zug besteigen und die Heimreise
antreten.
Eigenartig, wie wankelmütig doch das Empfinden eines Menschen ist! Tagein, tagaus hatte Sebastian
seinen dreckigen, anstrengenden Job an der Verputzmaschine verflucht, hatte sich über den staubigen Kratzputz
geärgert, oder über den Kunststoffputz, der sich kaum mehr von den Händen entfernen ließ. Jeden Tag war er
erneut der Willkür seines Meisters ausgesetzt und dachte zu jeder Stunde daran, einfach auszubrechen aus
diesem eintönigen, langweiligen Leben. Doch plötzlich wurde ihm bewusst, wie sehr er genau das vermisste!
Nur, weil ihm seine dreckige, eintönige und langweilige Welt eines bot: Die Sicherheit und Bequemlichkeit zu
wissen, wo er war, wohin er gehörte und was er am nächsten Morgen tun würde...
Zwei Schatten, kamen plötzlich hinter einem Felsen hervor geschossen. Seine Gedanken wurden mit
brachialer Gewalt unterbrochen. Ein fürchterlicher Schreck durchfuhr seine Glieder und er stürzte rückwärts in
die Arme des Doktors.
»Na, ganz schön schreckhaft seid ihr ja, lasst euch schon von Rona und Reno in die Flucht schlagen!«
Der Doktor fand das furchtbar amüsant. Basti hingegen konnte darüber gar nicht lachen. Eine unbekannte
Gegend, von der er nicht wusste, wie er in sie hinein geraten war, vollgestopft mit durchgeknallten Typen... Da
sollte er nicht schreckhaft werden?
»Die beiden Mistviecher gehen mir schon auf den Puffer, solange ich hier bin«, polterte er los, besann
sich dann aber, weil er das unbestimmte Gefühl nicht los wurde, dass die beiden Hunde alles verstehen konnten.
Merklich leiser teilte er dem Medicus mit: »Ständig kreuzen die beiden auf, wenn ich es nicht gebrauchen
kann!«
Der Arzt nickte verständnisvoll und sagte entschuldigend: »Was sollen sie machen? Vater Balmer hat
ihnen aufgetragen, auf euch acht zu geben. Die beiden gehorchen aufs Wort. Ihr könnt mir glauben, die zwei
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sind sehr treue Seelen und ich an eurer Stelle würde mich glücklich schätzen, sie in meiner Nähe zu haben, ob
hier oben, oder unten im Tal.«
»Mag ja sein«, gab Lauknitz zurück, »aber ich konnte Hunde noch nie ausstehen. Könnt ihr also Balmer
sagen, dass er seine Hunde liebenswürdigerweise von mir fernhalten soll? Ich wäre euch sehr verbunden!«
Der Doc zog eine Grimasse, als wäre er nicht sicher, wie er sich dazu äußern sollte. Er versuchte
Sebastian eindeutig zu beschwatzen: »Vielleicht macht ihr da einen Fehler. Ihr habt alles aus eurem Leben
vergessen. Offensichtlich auch die Gefahren, in die man hier geraten kann. Ihr wärt gut beraten, jeden Schutz
anzunehmen, den man euch bietet. Die beiden Hunde...«
»Die beiden Hunde sind im Augenblick die einzige Gefahr, die ich hier erkennen kann«, unterbrach
Basti ihn barsch. »Und ich habe gar nichts von meinem Leben vergessen! Vor einer Woche bin ich friedlich
meiner Arbeit nachgegangen und habe mein Leben gelebt... Ohne Hunde und Menschen wie euch und Balmer,
die, verzeiht mir meine Direktheit, offensichtlich nicht in der Lage sind, Realität von Phantasie zu
unterscheiden!«
Der Doktor hob beschwichtigend seine Hände: »Ich weiß, es ist für euch schwer zu glauben, aber was
ihr für euer Leben gehalten habt, diese deutliche Erinnerung, ist nichts weiter, als ein Traum, dem ihr verfallen
wart. Es gab bisher nicht viele, die verletzt aus dem Reich der Toten zurückkamen, doch bei allen zeigte sich das
gleiche Verhaltensmuster: Sie litten an einer Amnesie bezüglich ihrer Herkunft und erzählten von einem Traum,
den sie für die Wahrheit hielten. Manche haben es nicht geschafft in die Wirklichkeit zurückzukehren und sind
irr geworden. Ihr zeigt eine ähnliche Eigenschaft.« Er machte eine kurze Denkpause, bevor er weiter sprach:
»Ihr seid nicht irgendwer. Ihr seid Areos! Ihr glaubt jetzt ein anderer zu sein, doch wenn ihr erst einmal
genesen seid, werdet ihr nach und nach erkennen, wer ihr wirklich seid.«
Lauknitz sah ihn verwundert an: »Aber wer ist Areos? Ich meine, wer sollte ich eurer Meinung nach
sein, wenn nicht Sebastian Lauknitz aus Braunschweig? Wer ist dieser Areos, wo wohnt er, was arbeitet er, wer
sind seine Eltern?«
Falméras Medicus ging eine Weile schweigend neben ihm her, bevor er antwortete. Immer stärker hatte
Sebastian das Gefühl, dass dieser Arzt sich in seiner eigenen Phantasie verzettelte. Abrupt blieb dieser stehen,
sah Basti mit wachen Augen an und sagte in ruhigem Ton: »Da ihr von eurem wirklichen Leben nichts mehr
wisst, halte ich die Zeit für verfrüht, euch dies zu erklären. Ihr würdet mir wahrscheinlich sowieso kein Wort
glauben. Ihr solltet erst einmal gesund werden und wieder zu Kräften kommen. Während eurer Genesung will
ich euch gern immer wieder besuchen und euch eure Fragen beantworten. Aber versteht bitte, es ist so Vieles,
dass eurem Gedächtnis wiedergegeben werden muss, dass es allmählich geschehen sollte, um euch nicht zu
überfordern. Bis dahin kann ich euch nur raten, auf Vater Balmer zu hören, denn glaubt mir: Ihr schwebt in sehr
großer Gefahr!«
Der Medicus ging weiter und schob Sebastian vorwärts. Diese Geste sprach Bände. Er würde jetzt nicht
weiter mit Lauknitz diskutieren. Im Grunde war es Basti recht. Er war an einem Punkt angelangt, wo er sowieso
nicht mehr zuhören konnte, ohne am Verstand des Doktors zu zweifeln. Und das sollte ein Arzt sein!
Sebastians Plan stand fest: Gesund werden, seine Flucht vorbereiten und eines Nachts seine
Goldkassette holen und zu Tal steigen. Spätestens in der nächst größeren Stadt würde sich ja herausstellen, wo er
sich befand.
Erleichtert setzte er sich auf die Bank, als sie Balmers Hütte erreichten. Der Doktor verschwand im
Dunkel der Behausung, kam jedoch gleich wieder heraus, einen dunkelbraunen, ledernen Tornister in der einen
Hand und einen wackeligen Schemel in der anderen. Er setzte sich Sebastian gegenüber und begutachtete ihn
von Kopf bis Fuß, als würde er ihn das erste Mal in seinem Leben sehen.
»Also gut, wollen mal sehen, wie es um euch steht«, begann er. »Zieht am besten mal euer Hemd aus!«
Er musterte Bastis Oberkörper und besonders seine Tätowierungen. Doch anders als Balmer wunderte er sich
nicht über die Hautbilder, sonder betrachtete sie mit normalem Interesse. »Ein paar schöne Bilder habt ihr da«,
war alles was er dazu bemerkte.
Er tastete Bastis Brust ab, dann die Seiten und löste dabei einen viehischen Schmerz aus, der Lauknitz
die Tränen in die Augen trieb. Fast bekam er keine Luft mehr. Doch Falméras Medicus ließ nicht locker:
»Das müsst ihr jetzt ertragen! Ich muss wissen, ob ihr innere Verletzungen davongetragen habt«,
erklärte Sebastians neuer Hausarzt.
»Wäre es nicht besser, das zu röntgen?«, fragte Lauknitz. Dabei hatte er die Hoffnung, dass dieser
Einwand den Arzt dazu bewegen würde, ihn zu Tal schaffen zu lassen. Doch Sebastian hatte sich getäuscht.
»Tragt es mir bitte nicht nach, aber ich kann euch nur auf diese Weise behandeln. Bald werdet ihr das
verstehen, bitte habt etwas Geduld und Vertrauen, ja?«
Machte der Doktor Witze? Vertrauen sollte er? Worauf denn? Auf zwei abgedrehte Typen, die sich
weitab von der realistischen Spur bewegten? Nein, Vertrauen ging hier gar nicht! Solange Sebastian jedoch auf
fremde Hilfe angewiesen war, musste er alles wohl oder übel hinnehmen.
Zum Abschluss der Untersuchung setzte der Doktor eine wichtige Mine auf und sah Lauknitz mahnend
an: »Ihr habt drei Rippen angebrochen. Das muss ich fest bandagieren. Ihr solltet Drehbewegungen vermeiden
und euch auch sonst nicht heftig bewegen. Ich empfehle euch ruhige Spaziergänge um den See. Eure Gehhilfen
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werden euch dabei gute Dienste erweisen. Am Becken und an den Schenkeln habt ihr böse Prellungen erlitten.
Das wird noch eine Weile weh tun und noch einen fürchterlichen Muskelkater auslösen.«
Falméras Medicus bereitete einen Verband aus grobem Leinenstoff vor, der eigentlich eher als
Putzlappen zu gebrauchen war. Sebastian wollte aber weitere Diskussionen vermeiden und fügte sich für den
Moment in sein Schicksal. Die Stoffstreifen wickelte der Medicus so eng um seinen Brustkorb, dass ihm schlicht
die Luft weg blieb.
Der Doktor bemerkte seinen inneren Protest und kam einer Bemerkung zuvor: »Das muss so fest sein,
damit eure Rippen wieder schön fest zusammenwachsen. Das dauert eine Weile und ihr müsst euch unbedingt
schonen!«
»Wie lange braucht das ungefähr, bis ich mich wieder normal bewegen kann?«, wollte Lauknitz wissen.
Der Doktor wiegte den Kopf unschlüssig hin und her, ließ sich dann aber doch zu einer Prognose
hinreißen: »Na ja, so dreißig bis vierzig Tage werdet ihr schon Ruhe halten müssen. Und auch danach solltet ihr
große Belastungen noch etwas vermeiden.«
»Aber ich kann Vater Balmer doch nicht so lange zur Last fallen!«, wandte Sebastian ein.
Der Arzt winkte ab und beruhigte ihn: »Ihr fallt ihm nicht zur Last, glaubt mir! Balmer ist über etwas
Abwechslung ganz froh. Macht euch keine Sorgen, wir alle hier sind euch verpflichtet, aber dazu später mehr..!«
»Ja und ihr«, bohrte Sebastian weiter, »akzeptiert ihr meine Krankenkassenkarte, oder darf ich nachher
eine saftige Rechnung begleichen?«
»Krankenkassen.., was?«, fragte der Doktor verwundert. »Ich weiß nicht, was ihr meint, aber seid
unbesorgt, ihr schuldet mir nichts, ihr schuldet hier niemandem etwas, außer der Verpflichtung, eurer Berufung
zu folgen!«
Sebastian konnte nun ihm nicht ganz folgen. »Die Verpflichtung, meiner Berufung zu folgen, wie meint
ihr denn das?«, fragte er neugierig und erstaunt zugleich
»Das...«, erklärte Falméras Medicus geheimnisvoll, fast flüsternd, »das besprechen wir, wenn ihr euch
wieder ganz gesund fühlt! Vorerst sorgt dafür, dass es euch gut geht, genießt die Landschaft, die klare Luft hier
oben und den Frieden.., vor allem den Frieden!«
Er sagte das so eigenartig, dass Sebastian versucht war, noch mehr aus ihm heraus zu locken. Doch des
Doktors Blick verriet ihm, dass dieser sich zu keinen weiteren Erklärungen würde hinreißen lassen. Also beließ
es Basti dabei.
Er nahm Balmers Fellbeutel mit seinen Sachen auf den Schoß und suchte nach seiner Pfeife und seinem
Tabak. Dabei fiel eines seiner Bowiemesser aus dem Beutel, direkt vor die Füße des Medicus. Ehe er es
verhindern konnte nahm der Doktor es auf, hielt es hoch und begutachtete es, während er es in der Hand drehte.
»Ein gutes Messer habt ihr da, fast schon ein kurzes Schwert«, stellte er fest. Bevor Sebastian etwas
sagen konnte, legte er es vor ihm auf den Tisch, beugte sich zu ihm vor und riet ihm betont: »Das solltet ihr
immer bei euch tragen! Habt es stets griffbereit, egal wie friedlich sich die Welt hier oben für euch darstellen
mag. Hier oben seid ihr zwar in guten Händen, doch weiß man niemals im Voraus, was alles geschehen kann...«
»Was könnte denn beispielsweise alles geschehen, was nicht geschehen sollte?«, fragte Lauknitz
genauso geheimnisvoll und provokant zugleich. Dabei sah er den Doktor mit in Erwartung hochgezogenen
Augenbrauen an.
»Ich wollte euch nicht beunruhigen. Ihr seid hier am sichersten«, gab der zurück, »aber man kann
niemals vorsichtig genug sein, das meine ich damit!«
Doch genau mit dieser Aussage beunruhigte er Sebastian! Diese ewige Geheimnistuerei, die fremde
Landschaft und das eigenartige Verhalten Balmers und des Doktors, all das trug ja nicht gerade dazu bei, eine
ihm unbekannte Gegend so zu genießen, als befände er sich auf einer Erholungsreise! Statt weiter darauf
einzugehen, stopfte Basti seine Pfeife und begann zu rauchen.
Wie einem stillen Signal folgend, zog auch der Doktor eine Pfeife aus der Tasche und tastete nach
Tabak. Mit einer Handbewegung bedeutete ihm Sebastian, sich seines Tabakbeutels zu bedienen. Falméras
Medicus ließ sich nicht lange bitten. Wenn er auch sonst in einer Phantasiewelt zu leben schien, hier war seine
reale Vorstellung noch intakt!
»Ihr habt einen wohlschmeckenden Tabak, wie ich bemerken muss«, sagte er zwischen zwei
Paffwolken.
»Ja, den bekommt man...«, Sebastian beugte sich geheimnisvoll vor, »bei mir Zuhause am Kiosk, dort
wo ich herkomme, an dem Ort, der nach eurer geschätzten Meinung nur meinen Träumen entsprungen ist...«
Lauknitz sah den Doktor an und entdeckte ein flüchtiges, kaum wahrnehmbares Lächeln in seinen
Augen. Das verunsicherte ihn erneut, denn es erzählte ihm, dass der Arzt etwas Wesentliches vor ihm verbarg
und dass der vielleicht doch nicht ganz so verrückt war, wie es den Anschein hatte. Inzwischen war Sebastian
jedoch klar geworden, dass er nur mit List und Geduld hinter das Geheimnis von diesem mysteriösen Val
Mentiér kommen konnte.
Der Doktor, in dessen Ankunft er die Hoffnung seiner Rettung aus dieser Lage gesehen hatte, blieb über
Nacht auf Högi Balmers Alm. Gegen Abend kam Balmer mit dem Großteil seines Viehs von den Weiden
irgendwo oberhalb des Bannwaldes. Rona und Reno begrüßten ihn stürmisch. Die beiden hatten den ganzen Tag
über in der Nähe der Hütte gedöst und waren plötzlich zum Leben erwacht.
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Während der Alte ein karges Abendessen vorbereitete, saß Sebastian mit dem Medicus von Falméra vor
der Hütte. Auf der anderen Talseite tauchte die tief stehende Sonne Flanken und Gletscher in die Farben des
Feuers. Die Gletscher und Firne schienen sich wie Fluten aus geschmolzenem Gold talwärts zu wälzen. Dieses
Farbenspiel, das Wispern des Windes und der Duft nach sommerlicher Weide assoziierten Basti eine friedliche
Welt, die in Ordnung schien. Und doch brannte in ihm eine Unruhe und Ungewissheit, die in seinem Bauch
bohrte, wie ein glühendes Schwert. Seine Gedanken konnten sich nur um eine Frage drehen: Wo war er hier, was
war passiert..?
Erneut versuchte er dem Doktor ein paar Informationen zu entlocken: »Sagt, Herr Medicus, wie heißen
diese Berge dort drüben?«
Die Antwort war enttäuschend: »Hier nennt man sie das Gebirge von Volossoda. Dahinter liegen die
Berge der schlafenden Sonne.«
»Nein, ich meine, wie die einzelnen Berge heißen.« Lauknitz bemühte sich nicht ungeduldig zu werden.
»Dort, wo ich herkomme, hat jeder Berg einen eigenen Namen. Oft geben die Namen das Aussehen des Berges
wieder.«
Der Doktor zuckte verständnislos mit den Achseln: »Diese Berge dort haben keine Namen. Wozu auch?
Selten gelangt jemand in ihre Nähe. Und noch seltener spricht jemand mit ihnen.«
Kopfschüttelnd sah Sebastian den Doktor an. Dessen Gesichtsausdruck ließ keinen Zweifel an der
Ehrlichkeit seiner Worte. Er wollte ihn also nicht zum besten halten. Seine Antwort erschien Sebastian
glaubwürdig. Allerdings hatte er noch nie gehört, dass Menschen, die am Fuße hoher Berge lebten, es
unterlassen haben, diese mit Namen zu benennen. In den Alpen hatte jeder Berg, jedes Joch, ja sogar jeder Grat
seine eigene Bezeichnung. Hier schien es niemandem wichtig zu sein. Freilich wusste Basti, dass es auf dieser
Welt Gebirgsgegenden gab, die so dünn besiedelt waren, dass die Berge keine Namen trugen. Doch diese Berge
waren mit Ausnahme von vielleicht den Alaska Range und dem Himalaya auch nicht sehr hoch. Die Berge, die
sich hier erhoben, waren jedoch so hoch, dass sie zumindest auf einer Landkarte mit Namen verzeichnet sein
mussten.
Wieder war Lauknitz mit seiner Frage in eine Sackgasse gelaufen. Und wieder wurde ihm klar, dass er
die Antwort auf seine Fragen nur im Tal finden würde. Nun, er war weder gefesselt, noch eingesperrt. Bald
würde er sich die Antwort holen!
Balmer trug das Abendessen auf: Getrocknete Pökelfleischstreifen, die so hart waren, dass man damit
locker jemanden hätte erschlagen können. Dazu alten Käse, der in Sachen Härtegrad dem Pökelfleisch in nichts
nachstand und schließlich frisches Brot, das wider erwarten innen weich und außen knusprig war. Selten hatte
Sebastian ein würzigeres Brot gegessen. Dazu stellte Balmer eine bauchige, fast runde Flasche auf den groben
Tisch: »Zur Feier des Tages und auf das Wohl des Doktors«, verkündete der Alte stolz und entkorkte die
geheimnisvolle Flasche.
Sofort schlug Basti der Geruch von Alkohol entgegen. Der Inhalt durfte wohl ziemlich hochprozentig
sein. Der Doktor bekam leuchtende Augen, als der Alte seinen Becher mit der braunen, transparenten Flüssigkeit
füllte: »Balmer, Balmer, mein lieber Högi«, scherzte er und drohte im Spaß mir dem Zeigefinger, »woher habt
ihr denn den Mestas, und einen so guten noch dazu?«
»Den habe ich von einem guten Geist bekommen, gegen meine müden Beine«, grinste Balmer
verschmitzt. »Ist zur inneren Anwendung...«, setzte er noch hinzu.
»Ja, ja, innere Anwendung«, nickte der Doktor und leerte seinen Becher in einem Zug. Er verzog sein
Gesicht, als hätte er eine Hand voll Maikäfer verschluckt und ließ ein wohliges Grunzen erklingen. Balmer tat es
ihm nach. Dann sahen beide erwartungsvoll Sebastian an. Ihr Blick richtete sich auf seinen Becher, dann auf ihn.
»Zum Wohlsein«, sagte der Doktor und nickte ihm zu. »Trinkt! So etwas gutes bekommt ihr nicht alle
Tage!« Die beiden sahen ihn an, als erwarteten sie im nächsten Augenblick ein Wunder zu sehen.
Sebastian nahm einen winzigen, vorsichtigen Schluck von diesem übel duftendem Gesöff und es
schmeckte wie eine Schale überreifer Johannisbeeren, die man ein halbes Jahr lang in einer Plastiktüte vergessen
hatte. Seine beiden Tischgenossen ermunterten ihn mit auffordernden Blicken zu einer intensiveren Probe.
Diesmal schluckte er etwas herzhafter. Und er bereute es sogleich. Lauknitz bekam den vollen Geschmack zu
spüren, der ihm automatisch die Tränen in die Augen trieb. Doch das lag eher am hochprozentigen
Alkoholgehalt. Geschmacklich ordnete er dieses Zeug in die Kategorie Likör ein, ähnlich dem, den es bei ihm zu
Hause gab und der in seiner Nachbargemeinde produziert wurde. Dieser Likör war nur etwas dünnflüssiger, und
schmeckte intensiver nach vergorenen Beeren, Honig und nach Auszügen von Rosen, Veilchen und Thymian.
Dieses Getränk war gewöhnungsbedürftig, aber nicht ungenießbar.
Anerkennend nickte er Balmer und dem Medicus zu: »Donnerwetter! Das ist ja ein schwerer Tropfen,
aber saugut! Schmeckt ein bisschen, wie die ausgepresste Seele des Paradieses!«
Die freuten sich, wie zwei aufgezogene Spielzeugclowns und der Doktor rief, inzwischen reichlich
albern: »Oh, das habt ihr aber schön gesagt! Ich wusste es doch, alles könnt ihr gar nicht vergessen haben!«
Sehr rasch bemerkte Basti die Wirkung, die der Alkohol auf seine beiden trinkfreudigen Gastgeber
hatte. Wäre er gesundheitlich dazu in der Lage gewesen, hätte er sich still und heimlich von ihnen verabschiedet
und sich in talwärts auf den Weg gemacht. Doch wie eine Mahnung aus dem Hintergrund, spürte auch er
plötzlich die Wirkung des Likörs. Er empfand ein leichtes Summen in seinem Kopf und seiner Wahrnehmung
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fiel es schwer, seinen Augen zu folgen. Dennoch fühlte er sich sehr gut dabei. In ihm breitete sich eine
Unbeschwertheit aus, ja fast ein Gefühl der Unbesiegbarkeit. Ohne, dass er es verdrängen konnte, verfiel
Sebastian wieder seinen Erinnerungen an Janine. Plötzlich sah er in geistigen Bildern Ausschnitte ihrer
vergangenen ungezügelten Liebesstunden. Es war beinahe so, als erlebte er das alles noch einmal...
Das raue, grölende Lachen seiner Trinkgenossen holte ihn wieder auf den Boden der Tatsachen. Basti
war beeindruckt, wie schnell die beiden betrunken wurden. Gerade mal eine halbe Stunde und sie waren voll,
wie tausend Mann! Seine eigene Auffassungsgabe funktionierte nur noch schleppend, dennoch bekam er mit,
dass die beiden Witze über irgendwelche Frauen machten, die alles andere als stubenrein waren. Sie hatten eher
den Charakter von geschmacklosen Äußerungen, wie man sie bei Bordellbesuchern vermuten würde. Dieser
Schnaps hatte anscheinend eine ähnliche Wirkung, wie die Tollkirsche.
Die ganze Situation bereitete Sebastian Unbehagen. Ärgerlich beschloss er, von diesem Zeug keinen
einzigen Tropfen mehr anzurühren. Statt dessen beabsichtigte er sich schlafen zu legen. Unsicher hangelte
Sebastian im Dämmerlicht nach seinen Gehhilfen. Vor dem Schlafengehen stieg er noch einmal zum See hinauf,
auch wenn der Weg dorthin beschwerlich war. Er tröstete sich jedoch mit der Illusion, dass die regelmäßigen
Gänge am späten Abend eine gute Übung war, um so rasch als möglich wieder fit zu werden.
Klangen der Doktor und Balmer eben noch wie ein Sieg feierndes Heerlager, so ebbte der Trinklärm
allmählich ab, je mehr sich Lauknitz von der Hütte entfernte. Er wich dem friedlichen Wispern des Windes, dem
Rauschen der Bäume und dem Zirpen nachtaktiver Grillen. Hinter dem Hügelkamm, der den Blick auf das
Toilettenhäuschen und den See freigab, erstarb der Klang der exzessiven Ausschweifung vollends. Nur noch er
und die Berge. Und eine plötzlich aufkeimende Sehnsucht nach Janine. Die empfand er in solchen einsamen
Minuten immer sehr stark. Doch heute war es weniger die Sehnsucht, als denn pures Verlangen, das in ihm
brannte. Die körperliche Sehnsucht besiegte die geistige. Erneut stellte sich in seinem Kopf die Erinnerung ein,
als er mit Janine am See im Zwischbergental vor einer halben Ewigkeit nicht nur die Sterne beobachtete.
Allmählich wurde Sebastian bewusst, welche Seifenblase seine Gedanken durchwanderte und er zwang
sich zur Konzentration. Lauknitz atmete tief durch und spürte, dass ihm die klare, nächtliche Bergluft gut tat.
Auch den abklingenden Einfluss des Alkohols auf seine Motorik nahm er wahr. Dieses Getränk, das der Doktor
„Mestas“ nannte, schien eine Wirkung, ähnlich der entaktogenen Discodroge Ecstasy zu haben. Dass er nicht
mehr von diesem Teufelszeug konsumiert hatte, stimmte ihn beruhigend.
Als er sein Ziel fast erreicht hatte, huschten wieder einmal zwei schemenhafte Schatten an ihm vorüber.
Rona und Reno! Sebastian erkannte sie an ihrem unverkennbaren Hecheln. Offenbar waren sie inzwischen zu
seinem persönlichen Schatten geworden. An diesem Abend war er allerdings zu müde, um noch ärgerlich darauf
zu reagieren. Mit Gleichgültigkeit akzeptierte er ihre Anwesenheit. Sie waren immer irgendwo in seiner Nähe
und stets musste er darauf gefasst sein, von ihrem Übermut über den Haufen gerannt zu werden.
Heute Abend war ihm ihre Gesellschaft eigentlich gar nicht so lästig. Nachdem er den Scheitelpunkt des
Plateaus erreicht hatte, stand Lauknitz oberhalb des Sees und hielt nach den beiden Kläffern Ausschau. Leise
pfiff er durch die Zähne. Er hielt es für sinnvoller, dass sie ihn gleich begleiteten, als dass sie ihm wieder wie aus
dem Nichts einen Schrecken einjagten. Die beiden mussten feine Ohren haben. Sein leiser Pfiff zauberte sie
augenblicklich auf die Bildfläche. Sie sprangen mit sichtlicher Freude heran, als hätten sie ihn an diesem Tag
zum ersten Mal gesehen.
Spontan beschloss Sebastian, noch einen Rundgang um den See zu machen. Rona und Reno brauchten
keinen gesonderten Befehl, um ihm zu folgen. Der Pfiff war Aufforderung genug. Brav, wie zwei abgerichtete
Blindenhunde trotteten sie neben ihm her. Eigenartigerweise empfand er das als angenehm. Da er sie ohnehin nie
wirklich loswerden konnte, beschloss er eine Art Vertrauensverhältnis zu ihnen aufzubauen.
An diesem Abend begann Sebastian mit den Hunden zu reden. Freilich verstanden sie ihn nicht, oder
zumindest nicht die Bedeutung meiner Worte. Doch glaubte er, wenn sie sich an seine Stimme gewöhnten,
würden sie irgendwann an seinem Tonfall erkennen, was er meinte. Um sie an sich zu gewöhnen, begann er
einfach, ihnen seine Lebensgeschichte zu erzählen. Oft bezog er die beiden Hunde in seine Erzählung mit ein,
indem er ihnen Fragen stellte. Natürlich verstanden sie die nicht, doch Sebastian konnte an ihren Reaktionen
erkennen, dass sie sich angesprochen fühlten. Offensichtlich erkannten sie die feinen Nuancen seiner Stimmlage
und ordneten diese richtig zu.
Im Lichtschein des Mondes humpelte Basti um einen einsamen See und unterhielt sich mit zwei
struppigen, wolfsähnlichen Hunden. Wenn ihm das jemand vor drei Wochen prophezeit hätte, er würde ihn für
übergeschnappt gehalten haben.
Lauknitz genoss die friedliche Stille. Er verharrte an einem Felsen am See und rauchte noch eine Pfeife.
Reno und Rona standen drei Meter vor ihm, lauschten angespannt in die Nacht hinaus und hätte er nicht ihren
hechelnden Atem gehört, würde er wohl vermutet haben, sie wären versteinert.
Sein Blick richtete sich zum Himmel. Ein Teppich von Millionen funkelnder Sterne spannte sich über
ihm auf. So klar, hell und deutlich hatte er den Sternenhimmel nie zuvor gesehen! Es schien, als könnte er die
unterschiedliche Entfernung der glitzernden Punkte zur Erde erkennen.
Einen kurzen Augenblick lang gewahrte er den Niedergang einer Sternenschnuppe. Aus alter Tradition
schloss er die Augen und wünschte sich etwas. Vielleicht war er auch schon verrückt geworden, oder es lag an
diesem alkoholischen Getränk „Mestas“, aber er wünschte sich in diesem Moment nicht, von diesem Ort zu
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verschwinden. Statt dessen wünschte er sich, wieder bei Janine zu sein. Selbstverständlich wusste er, dass dies
nicht möglich sein würde, in diesem Augenblick jedoch war es sein innigster Wunsch.
In der nächsten Sekunde kamen ihm seine eigenen Gedanken kindisch vor. Sebastian schüttelte sie von
sich ab, klopfte seine Pfeife aus und begann seinen Rückweg zur Hütte. Wie aus einer Starre erwacht, reagierten
seine beiden Begleiter und liefen bei Fuß rechts und links neben ihm her durch die friedliche Nacht.
Das Heerlager war verstummt, als Sebastian zur Hütte kam. Die großen Helden hatten ihre glorreichen
Schlachten am weiblichen Geschlecht in Mestas ertränkt. Wie geschlagene Helden sahen sie jetzt aus. AltRecke Balmer in sich zusammengesunken mit dem Kopf auf der Platte seines rohen Tisches und Ritter Medicus
hing mit baumelnden Armen und zur Seite gekipptem Kopf auf seinem Stuhl. Seinem halb geöffneten Mund
entfuhr ein Geräusch, das Schrotsägen bei nassem Holz verursachen, ansonsten hätte man annehmen können, er
hätte sich von seinem irdischen Dasein verabschiedet. Balmer hingegen klang eher wie der verreckende Motor
eines alten Lastkraftwagens. Sebastian befürchtete schon, die Coproduktion ihres Schnarchkonzerts würde den
ganzen Berg zum Einsturz bringen.
Er tastete sich in das Dunkel der Hütte und brauchte eine ganze Weile, um einen Kerzenstumpen zu
erhaschen. Angezündet verbreitete der ein spärliches Licht, in dem Basti nach etwas suchte, mit dem er die
beiden Helden draußen vor der Kälte der Nacht schützen konnte. Reiner Egoismus! Er wollte nicht, dass sein
einziger Arzt eine Lungenentzündung bekam!
Ein paar große, dichte Tierfelle war das einzige, das er finden konnte und ihm geeignet erschien. Diese
warf er Balmer und dem Doktor über die Körper. Sie bemerkten es nicht einmal und rührten sich nicht. Leicht
hätte er annehmen können, sie seien tot, wenn ihn nicht ihr Atem vom Gegenteil überzeugt hätte.
Rona und Reno rollten sich neben ihrem Herren zusammen und Sebastian legte sich auf dem Lager in
der Hütte zur Ruhe.
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Gors Angriff
Früh am Morgen wachte Sebastian auf. Es war ein stechender Schmerz im Rücken, der ihn weckte. Der
Schritt vor die Hütte bot ihm einen Anblick zum totlachen: Der Doktor schien in der Nacht vom Stuhl gekippt zu
sein. Er hatte sich daneben auf dem nackten Boden ausgestreckt und die Felle notdürftig über sich gezogen.
Balmers Felle lagen unbeachtet neben dem Tisch. Er selbst lag an der Hüttenwand und wurde von zwei lebenden
Fellen gewärmt. Rona und Reno hatten sich dicht an ihm zusammengerollt. Von weitem sah es aus, als schliefe
dort ein riesiges Fellmonster mit seinen beiden Jungen. Drei haarige Leiber, zu einem Knäuel vereint, das sich an
drei Stellen in unterschiedlichem Intervall hob und senkte. Man konnte leicht den Eindruck gewinnen, dort
schlummerte ein riesiges außerirdisches Wesen ohne Kopf, Arme und Beine.
Die Sonne war noch nicht aufgegangen und diesige Schwaden hingen in der Luft. Die klaren
Sommertage wollten sich anscheinend allmählich verabschieden. Leichter Tau lag glitzernd auf der Wiese. Der
Wind, der am Vorabend leicht von den Gletschern wehte, schien ebenfalls noch in tiefem Schlaf zu liegen. Kein
Lüftchen regte sich.
Lauknitz ging zurück in die Hütte, holte sein Waschzeug und humpelte in Richtung See. Rona und
Reno hoben nur kurz den Kopf, überlegten wohl, ob sie ihm folgen sollten, entschieden sich aber dafür, die
gemeinsame Wärme mit ihrem Herrchen noch eine Weile zu genießen. Sebastian war froh, einmal ohne die
beiden Anhängsel zu sein.
Zum ersten Mal seit seinem Aufenthalt hier oben, konnte er ungestört nur Sebastian Lauknitz sein. Er
ließ sich an diesem Morgen ausgesprochen viel Zeit. Bedächtig tat er jeden Schritt und entdeckte bei jedem
Meter etwas Neues in der vielfältigen Flora. Manche Kräuter und Pflanzen kannte er aus dem Harz und aus dem
Wallis, andere wiederum waren ihm völlig unbekannt und er glaubte sie zum ersten Mal zu sehen. Erstaunt war
er über den blauen, stengellosen Enzian, der hier in bechergroßen Trichtern wuchs. Auch das schwarze
Kohlröschen, das Sebastian nur daumengroß in Erinnerung hatte, erreichte hier oben das fünffache Ausmaß.
Einige Wolkenfetzen zogen oben am Berg dicht über dem Bannwald zu den Gletschern hinauf. Diese
leuchteten noch nicht im gleißenden Weiß. Wie bleigraue Rückenpanzer vorzeitlicher Echsen lagen sie
schweigend zwischen den Bergen, die durch den Dunstschleier nur schemenhaft zu erkennen waren.
Rechts über dem See, wo die Alpweide noch steiler zu den Felsflanken hin anstieg, war eine Herde von
Tieren unterwegs, die einerseits seinen heimischen Steinböcken glich, jedoch andererseits wesentlich größere
Hörner trugen, die noch mehr nach hinten eingerollt waren. Er hätte schwören können, irgendein Witzbold hatte
da Steinböcke mit Mufflons gekreuzt. Aber diese Tiere dort oben schienen ihm von einer Größe, die eher einem
Wasserbüffel gleich kam. Offenbar war hier alles größer, als er es bislang kannte.
Am See musste Sebastian erbärmlich frieren, bis er das Gefühl hatte, vollständig sauber zu sein. Es
kostete eine sagenhafte Überwindung und alles an und in ihm zog sich zusammen. Verbissen kämpfte er sich
durch sein ihm selbst auferlegtes Reinigungsritual, bestimmt durch die anerzogenen, gern ausgeführten
Zivilisationsregeln seines Städterlebens. Hier draußen ging es allerdings nur schlicht darum, nicht völlig zu
verdrecken und mit dem Eigengeruch den Ziegen Konkurrenz zu machen.
Von Balmers Viehherde, die gewöhnlich am See graste, war an diesem Morgen nichts zu entdecken.
Vermutlich kannten die Viecher den täglichen Weg auf die Hochalm auswendig und hatten sich in der Macht des
Gewohnheitstriebs selbstständig in Bewegung gesetzt.
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Nach seinem Waschgang setzte sich Lauknitz an die Felsen und stopfte sich eine Pfeife. Er bemerkte,
dass sein Tabak allmählich zur Neige ging. Das war zwar nicht lebenswichtig, aber unangenehm. Da kam ihm in
den Sinn, den Doktor zu bitten, ihm bei seinem nächsten Besuch, denn den hatte er ja angekündigt, etwas Tabak
mitzubringen. Vielleicht konnte er ihm ja sogar etwas zum Lesen besorgen, selbst wenn es nur Zeitschriften sein
würden.
Sebastian dachte die Idee weiter. Möglicherweise würde er sich dazu überreden lassen, einen Boten
damit zu beauftragen. Diesen konnte Basti dann mit einer Nachricht zum nächsten Postamt, oder zu einer
Telefonzelle schicken, um Hilfe zu holen. Schließlich war er Gönnermitglied in der Schweizerischen
Rettungsflugwacht und in der Schweiz verunglückt. Sollten die sich also bitte darum kümmern, dass er wieder
nach Hause, oder zumindest in ein Krankenhaus gebracht wurde, wo er medizinisch fachliche Hilfe bekommen
konnte.
Missmutig blickte Lauknitz auf sein Handtuch, das er zum Trocknen über eine Felsnase gehängt hatte.
Frische Wäsche hatte er ebenso dringend nötig! Wenn er wenigstens etwas Waschpulver bekommen könnte.
Högi Balmers Hütte hatte er danach durchsucht, leider erfolglos. Und bei dem Duft, den der Alte verströmte,
konnte er annehmen, dass seine Klamotten das letzte Mal zu seiner Konfirmation Kontakt mit Wasser und Seife
hatten.
So nach und nach wurde Sebastian bewusst, wie viele Dinge er entbehren musste, an die er sich im
Leben so sehr gewöhnt hatte, die er als ganz selbstverständlich hinnahm. Auf seinen unzähligen
Hochgebirgstouren in den letzten Jahren, hatte er zwar gelernt, Entbehrungen zu ertragen und Unbequemlichkeit
hinzunehmen, doch immer nur freiwillig und auf Zeit. Stets wusste er, dass er, sobald er einer Situation
überdrüssig wurde, wieder in einer trockenen, warmen Gaststube sitzen konnte, oder die Möglichkeit hatte, sich
mit einer ausgiebigen Dusche in körperliches Wohlbefinden zu versetzen. Er konnte seine Bergtour abbrechen,
wann immer ihm danach war und jederzeit in sein wohlbehütetes Zuhause zurückkehren.
Diese Bergtour, die er hier erlebte, war nicht einfach mal so zu beenden. Er war gefangen in dieser
unangenehmen Situation. Aber er hatte die Willenskraft, diese so lange zu ertragen, bis er sich aus eigenen
Kräften aus ihr befreien konnte. Und das war nur eine Frage der Zeit. Nein anders: Sebastian glaubte, dass es nur
noch eine Frage der Zeit sein würde, der Zeit, wie er sie bisher kannte! Dass man einer persönlichen Lage gar
nicht mehr entrinnen kann, diese Vorstellung existierte für ihn nicht...
Seine Pfeife war aufgeraucht. Inzwischen versuchte die Sonne den Kampf mit den Nebelschleiern für
sich zu entscheiden. Nur zögerlich wichen die luftigen, weißen Gebilde der herabstrahlenden Wärme. Und mit
jedem Meter, den der kosmische Ofen für sich gewann, erwachte das Leben auf dem Berg. Als tauchte die Alm
aus einer Lähmung auf, wurden Farben kräftiger, Geräusche deutlicher und vielfältiger, und überhaupt schien
wieder Bewegung in die Welt zu kommen. Der Morgen schüttelte sich aus dem nasskalten Mantel der Nacht.
Diesen Moment zu genießen, tat Sebastian gut. Schon immer waren ihm die Stunden der Sonnenaufund untergänge die liebsten. Das Atem holen der Welt nach einer friedlichen Nacht, oder das Ausatmen nach
einem bewegten Tag faszinierte ihn immer wieder. Es war, als würde alles auf diesem Planeten für einen
Augenblick innehalten, um sich neu zu sammeln.
Einmal mehr war er Zeuge der Geburt eines Tages. Zum ersten Mal nahm er sich die Zeit, diese
Almlandschaft um sich herum bewusst und mit allen Sinnen aufzunehmen.
Der blumendurchsetzte Grasteppich der Alpweide streckte sich wie ein Hochplateau einen knappen
Kilometer in alle vier Himmelsrichtungen. In der Mitte befand sich die Senke mit dem See, dessen Wasser aus
der Ferne wie ein Blautopas schimmerte. Auf der halben Längsseite wurde er von den Felsen eingefasst,
zwischen denen Lauknitz seine Goldkassette versteckt hatte. Wie ein Wall begrenzte ein lang gezogener Hügel
das Hochplateau. Dahinter fiel das Grasgelände leicht ab. Auf diesem Hang stand Balmers Hütte.
Er fragte sich, warum Balmer sein Häuschen an den Hang geklebt hatte, anstatt es auf diesem Plateau zu
errichten. Vermutlich lief die Senke im Frühjahr nach der Schneeschmelze regelmäßig mit Schmelzwasser voll.
Dass Balmer eine Abneigung gegen Wasser hatte, erzählten Basti ja bereits seine Ausdünstungen.
Möglicherweise wollte er auch sein Vieh nicht direkt bei der Hütte haben. Hier in der Senke diente der See als
natürliche Viehtränke. Die Tiere würden diesen Ort nach einem langen Tag auf der Hochalm kaum aus freien
Stücken verlassen. Dieses Plateau diente Balmer offenbar als ein riesiger, offener Stall.
Zu beiden Seiten hin begrenzte dichter Tannenwald die grüne Fläche. Bergwärts wurde die Alm
ebenfalls von Nadelwald umschlossen. An den beinahe eckigen Enden bildeten sich breite Schneisen. Sebastian
vermutete, dass sie weiter hinauf führen würden. Dahinter schien es nur noch Wald zu geben, der wie ein Meer
aus Bäumen nach einigen hundert Metern gegen graue Felsen zu branden schien. Diese Felsen ragten wie eine
senkrechte, von Stufen, Vorsprüngen und Rissen durchzogene Mauer mindestens dreihundert Meter hoch auf.
Oben auf der Abbruchkante standen wiederum Tannen, als würden sie auf einen geeigneten Zeitpunkt warten,
um in die Tiefe zu springen. Und noch höher darüber erhoben sich schneeweiße Bergspitzen in den Himmel,
deren Flanken und Gletscher von Bastis Standort aus nicht einsehbar waren. Sein erfahrener Blick verriet ihm,
dass diese Berge viertausend Meter und höher sein mussten.
Der Kreis dieser Eisgiganten umschloss die Szenerie im Süden und im Westen. Im Norden schien ein
tiefes Tal, das Balmer Val Mentiér nannte, zwischen ebenso hohen Gipfeln und der Alm zu liegen. Nur im Osten
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sah es so aus, als würden nicht ganz so hohe Berge den Horizont abschließen. In dieser Richtung sah Lauknitz
nur den Wald und er vermutete, dass sich dort unten das Val Mentiér fortsetzte.
Weit oben, an den hohen Gipfeln und an den Graten hingen noch Wolkenfetzen, wie zähe, luftige
Gebilde, die sich mit aller Macht gegen den Wind stemmten und sich am Fels verkrallten, um nicht abgetrieben
zu werden. Doch stellenweise erlahmte ihre Anhänglichkeit und sie trieben weit hinaus, wo sie sich zerfaserten
und auflösten. Manche Bergflanke und manches Gipfeleisfeld, von den lästigen, nassen Gebilden befreit,
erstrahlte in hellgoldenem Glanz. Die Felsflanken waren mit frischem Weiß, wie mit Puderzucker überzogen. Es
hatte also in der Höhe geschneit.
Die Herde Wildtiere, die Sebastian weiter oben beobachtet hatte, war in Richtung der westlichen
Schneise weiter gezogen. Sie strebten wahrscheinlich höhere Gefilde an. Aus Erfahrung wusste er, dass Tiere,
die nach oben zogen, gutes Wetter versprachen. Über der hohen Felskante im Süden tauchte ein Adlerpaar auf
und begann am Himmel seine weiten Kreise zu fliegen. Windverwehtes Läuten von Balmers Herde untermalte
alles mit einem beruhigenden Ton. An Stellen, wo die durchscheinende Sonne den Tau trocknete, begannen die
Grillen mit ihrer Ouvertüre.
Der Frieden, den dieses harmonische Bild vermittelte, brachte Lauknitz innerlich zur Ruhe, ja es
vermittelte sogar ein wenig Glücksgefühl. Trotz der vielen Ungewissheiten fühlte er sich zum ersten Mal seit
einigen Tagen wieder etwas wohler. Dafür arbeitete sein Geist auch wieder ausgeglichener und begann erneut
Fragen zu stellen.
Was meinte der Doktor damit, er würde sich in großer Gefahr befinden? Welcher Gefahr sollte er denn
in dieser friedlichen, ruhigen Gebirgswelt ausgesetzt sein? Außer der natürlich, in die ihn jene bringen konnten,
die dafür gesorgt hatten, dass er sich überhaupt auf dieser Alm befand. Vielleicht meinte der Medicus gar nicht
diesen Ort, wenn er von Gefahren sprach. Möglicherweise bezog sich seine Sorge auf Leute, die Sebastian
Lauknitz beseitigen wollten... Auf Leute, wie Bruno Ambühel? Und immer wieder warf sich von selbst die Frage
auf, wo er sich hier denn eigentlich befand.
Hatte man ihn nach Kyrgistan verschleppt, oder in die neuseeländischen Alpen, oder wohin? Vor allem:
Weshalb? War er jemandem zu unbequem geworden, wollte man ihn isolieren, oder wurde er auf eine Aufgabe
vorbereitet? Wiederum musste er an die Möglichkeit einer Fernseh- Show denken, in der er vielleicht der
ahnungslose Kandidat war. Doch wie hing Ambühel da mit drin? Spielte er mit seinen Knochenfunden nur den
Lockvogel? Dann wäre der Aufwand allerdings riesig gewesen und konnte in keinem Verhältnis zum Produkt
stehen.
Lauknitz kämpfte mit zu vielen Puzzleteilen, die einfach nicht ineinander passen wollten. In welcher
Konstellation konnten die vielen Fragmente eine plausible Erklärung ergeben? Seine Gedanken liefen gegen eine
Betonmauer. Jede Möglichkeit, die er zu durchdenken begann, lief ins Leere, weil sie einfach nicht zu dem
passte, was er hier erlebte.
Ein Kaffee wäre jetzt nicht schlecht! Wenn er in der Vergangenheit nachdachte und mit seinen
Hypothesen nicht weiter kam, half ihm ein guter Kaffee stets auf die Sprünge. Doch dieses in aller Welt
gebräuchliche, wohlschmeckende Getränk, schien Balmer völlig unbekannt zu sein. Weder bot er ihm bislang
einen Kaffee an, noch fand Basti welchen zwischen den chaotisch angeordneten Dingen in Högis Behausung.
Kaffee hatte in Sebastians Leben bis zu diesem Zeitpunkt eine große Bedeutung. Er diente ihm nicht nur
zum wach werden, sondern eignete sich auch sehr gut als vorbeugendes Mittel gegen seine Migräne, die ihn
regelmäßig überfiel. Unwillkürlich dachte er darüber nach, wie er sich hier oben längere Zeit gegen
Migräneattacken wappnen sollte, wenn er keinen Kaffee bekam und auch seine Tabletten gegen Verspannungen
zur Neige gehen würden...
Ein plötzlich über ihm auftretendes Geräusch unterbrach Sebastians Gedanken. Es war ein kurzes
pfeifendes Rauschen, ähnlich dem, welches er am ersten Tag vor Balmers Hütte gehört hatte. Zog das Adlerpaar,
das er vorhin beobachtet hatte, so dicht über die Felsen, dass er seinen Luftzug hören konnte? Gespannt suchte er
den Himmel über sich ab. Außer einigen Nebelfetzen war nichts zu entdecken. Den Himmel hinter den Felsen,
an denen er saß, konnte er freilich nicht einsehen.
Wieder vernahm er das unheimliche Geräusch, diesmal wesentlich näher und lauter. Unvermittelt brach
es ab, gefolgt von einem Laut, als würde jemand einen nassen Sandsack in das Almgras fallen lassen. Diese
Laute kamen eindeutig von jenseits der Felsen. Erschrocken fuhr Lauknitz auf, steckte seine Pfeife ein und
humpelte mit seinen Krücken vorsichtig um die Felsen herum. Die Wiese stieg links um die Felsen herum stetig
an und ließ die grauen Zacken niedriger erscheinen. Vorsichtig bewegte er sich von Steinblock zu Steinblock.
Seine Schmerzen schienen von der inneren Anspannung wie weggezaubert. So leise er das mit seinen Gehhilfen
konnte, schlich Basti an den Felsen entlang. Nach ein paar Minuten war das Gelände so weit angestiegen, dass es
ihm erlaubte, über den Felsriegel zu spähen. Er konnte jedoch nichts weiter erkennen, als verstreut liegende
Gesteinstrümmer und die ansteigende Alpweide. Aufmerksam suchte er den Himmel gegen den Bannwald hin
ab. Er war leer. Lediglich kleine, ausgefranste Reste von Wolken zogen fliehend dahin.
Hatte er sich etwas eingebildet? Nein, das Rauschen und der Plumps waren deutlich zu hören!
Vielleicht hatte sich oben an der Felskante ein Block gelöst und war auf dem Alpgrund aufgeschlagen? Aber
wäre das nicht noch lauter gewesen? Allmählich begann er an seinem Verstand zu zweifeln. Vermutlich drehte
er langsam durch! In seiner Situation war das auch kaum mehr verwunderlich.
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Nachdem er sich wieder etwas beruhigt hatte, beschloss Sebastian, an seinen Waschplatz am Fuße der
Felsen zurückzukehren, um noch eine Weile sein Alleinsein zu genießen. Balmer und der Medicus lagen gewiss
noch im Rausch. Unbedacht und in Gedanken noch bei den beiden Zechern war er um eine vorstehende Felsnase
herumgehumpelt und prallte augenblicklich wie gegen eine unsichtbare Wand...
Sebastian erstarrte. Der Schreck ließ seinen Herzschlag aussetzen und er glotzte ungläubig auf etwas,
das einem Alptraum entsprungen sein musste. Mit einem Mal wurde ihm ganz flau im Bauch und seine Sinne
drohten zu schwinden. Heiße und kalte Schauer liefen ihm über den Rücken. Etwa zehn bis fünfzehn Meter vor
ihm wuchs etwas aus dem Boden, das eigentlich nur eine Halluzination sein konnte. Er stand da, ungläubig, zu
keiner Bewegung fähig, und starrte hinüber zu diesem Wesen. Gleichzeitig spürte er etwas Warmes sein
Hosenbein hinab rinnen...
Dort drüben stand ein Saurier, oder ein Drache, wie aus einem Märchen, oder was auch immer. Und er
hatte sich vor Schreck in die Hose gemacht. Aber das war im Augenblick Nebensache.
Dieses Vieh, das ihm einen Steinwurf entfernt gegenüberstand, war offensichtlich aus der Epoche des
Jura übrig geblieben. Es hatte ungefähr die Größe eines Elefanten und seine Farbe variierte zwischen Grün, Grau
und Braun. Wie die Darstellung eines chinesischen Drachen besaß es vier Beine, wobei die Vorderbeine
kräftiger ausgeprägt schienen. Sein Kopf ähnelte dem eines Hundes, freilich viel größer. Zwei graugelbe, kalte
Augen musterten Sebastian. Das Maul war mit verhältnismäßig kleinen, aber sehr spitzen Zähnen besetzt. Auf
dem Kopf befanden sich stehende, kleine Hornplatten, die sich über den Hals und den restlichen Körper
fortsetzten und auf dem Rücken mit einer Höhe von ungefähr einem halben Meter am größten waren. Die
gesamte Oberseite des Körpers, einschließlich des langen Halses, war mit einer Art Schuppen besetzt. Die Beine
waren kurz und stämmig und endeten in drei Zehen mit fürchterlichen Krallen, sowie einem Sporn nach hinten,
der wie bei einem Hahn etwas höher angesiedelt war. Zwei mächtige Schwingen, wie die einer Fledermaus,
saßen an den Schultern des Biestes und bedeckten beinahe seine gesamte Flanke. Das Tier stellte seine Flügel
etwas vom Körper ab, wie Vögel das tun, wenn sie sich etwas verausgabt haben. Ein mächtiger Schwanz, der ein
Drittel der gesamten Körperlänge ausmachte, wedelte in schlangenhaften Bewegungen hin und her. Die Reihe
aufgestellter Hornplatten nahm an Größe zum Schwanzende hin ab. Dort jedoch befanden sich noch einmal drei
sehr spitze Platten, mindestens vierzig Zentimeter groß, die sicherlich eine fürchterliche Waffe sein konnten. Ihre
Anordnung erinnerte Sebastian an die hinteren Flügel und das Leitwerk eines Flugzeugs.
Lauknitz stand wie gelähmt da und starrte fassungslos auf dieses Wesen, das er bisher nur aus Märchen
kannte, das aber tatsächlich existierte und lebendig von ihm stand. Sein dringlichster Wunsch war, auf dem
Absatz kehrt zu machen und mit dem Tod im Nacken um sein Leben zu laufen. Doch ihm wurde ganz schnell
klar, dass er gar keine Chance gehabt hätte. Wozu hätte dieses Vieh sonst seine Flügel gehabt?
Intuitiv erinnerte er sich an das empfohlene Verhalten bei der Begegnung mit einer Schlange. Still
halten! Nun, das war leichter gedacht, als getan. Basti zitterte nämlich dermaßen, dass dieses Wesen dort
annehmen musste, er würde sich rasch bewegen. Zu großen Denkanalysen war er gar nicht fähig. Rein instinktiv
versuchte er ganz langsam und vorsichtig rückwärts zu gehen, zurück in Richtung der schützenden Felsen, aber
ohne dieses Monster aus den Augen zu lassen.
So plump ihm dieses Biest auch erschien, seine Wahrnehmung musste aber sehr empfindlich und wach
sein. Es knickte seine Vorderbeine ein wenig ein, senkte seinen Vorderkörper, und streckte seinen Hals vor.
Dabei begann sein Schwanz wild hin und her zu schlagen. Wehe dem, der jetzt in seinen Wirkungskreis geriet!
Schweißgebadet versuchte sich Sebastian weiter Schritt für Schritt zurück zu ziehen. Das musste diesem
Tier offenbar missfallen. Plötzlich stieß es einen markerschütternden Schrei aus und seinem Rachen entfuhr eine
weiße Wolke, die sich augenblicklich blau färbte und dann Orange. Ein Feuerball raste auf Lauknitz zu, hüllte
ihn in eine sengende Welle, verpuffte jedoch gleich wieder und hinterließ einen Gestank nach einem Dutzend
Körbe verfaulter Eier. Er war völlig überrumpelt. Die Möglichkeit, dass es Drachen gab, hatte Sebastian bisher
ausgeschlossen und wurde eines Besseren belehrt. Aber, dass diese auch noch wie im Märchen Feuer spucken
konnten, dass setzte doch allem die Krone auf!
Viel Schaden hatte der missgelaunte Flammenwerfer nicht angerichtet. Ein paar der feinen Härchen, die
Sebastians Arme besiedelten, waren zu winzigen Kügelchen zusammengeschrumpft, das war alles. Andererseits
hatte er auch nicht den Bedarf herauszufinden, was dieses Fabeltier noch alles konnte, oder um wie viel heißer
sein Atem bei Verschlechterung seiner Laune noch werden konnte. Also blieb er erst einmal stehen und bewegte
sich nicht. Der durchdringende Schrei steckte ihm aber noch in den zitternden Knochen. Es war derselbe Schrei,
den er am ersten Tag hörte, als dieser riesige Schatten Högi Balmers Hütte überflog.
Das also war ein Gor! Nun, der Name passte. Allmählich wurde Basti auch klar, weshalb ihn der Alte
und der Doktor ermahnt hatten, nicht auf die Gesellschaft von Rona und Reno zu verzichten. Und ein paar
Minuten später sollte ihm das so richtig bewusst werden...
Das wütende Monster, das anscheinend aus der Siegfried- Sage entflohen war, beruhigte sich auch
dadurch nicht, dass Sebastian es aufgegeben hatte, sich zurückzuziehen. Als rüstete es sich zum Sturmangriff
schlug es einmal weit ausholend mit seinen riesigen Schwingen und nahm eine geduckte Haltung ein. Dann
schnellte es drei Schritte vor und blieb abrupt wieder stehen. Wohlgemerkt, drei Schritte gemessen an seiner
Körpergröße!
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07.04.2011
Das Geheimnis von Val Mentiér, Roman • © 2008 - 2010 by Frank Adlung, Braunschweig • http://www.sternenlade.de
Erstelldatum 06.04.2011 23:42
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Die Absicht dieses Urzeitviehs war Lauknitz völlig klar. Er sollte das Sahnehäubchen auf dessen
Frühstück werden! So fieberhaft er auch nach einem Ausweg suchte, er konnte keine Möglichkeit entdecken,
ihm seinen Appetit auszureden. Und da ihm die ganze Situation sowieso aussichtslos erschien, meinte er, alles
auf eine Karte setzen zu müssen.
Tiere ließen von ihren Opfern ab, wenn ihnen die Situation zu unbequem wurde, hatte Sebastian einmal
gehört. Nun, dies war ein Tier. Ein urzeitliches zwar, aber doch immer noch ein Tier! So flink er konnte, bückte
er sich, griff wahllos nach einem der vielen herumliegenden Steine, holte aus und warf ihn dem Monster an
seinen hässlichen Schädel. Das hätte er besser gelassen!
Der Stein flog in einem eleganten Bogen durch die Luft und krachte dumpf gegen die Stirn des
Drachen. Der stieß wiederum seinen fürchterlichen Schrei aus und schüttelte ärgerlich sein hässliches Haupt.
Mehr konnte seine Verteidigung dieses Biest nicht beeindrucken. Statt dessen pustete es ihm einen zweiten
Feuerball entgegen, diesmal schon intensiver. Es stank nach versengtem Haar und Lauknitz hatte das Gefühl,
verbrennen zu müssen. Glücklicherweise war es wohl nur Gas, das sehr rasch verpuffte. Natürlich wusste er in
dieser Situation nicht, wie viel heftiger die Hustenanfälle dieses Wesens noch werden konnten.
Auf jeden Fall hatte er das Biest jetzt so richtig sauer gemacht. Es schnaubte und schrie, als sei es selbst
das Opfer und ging unmissverständlich in Angriffstellung. Schon setzte es zum Sprung an, um Sebastian in
tausend Fetzen zu reißen. Genau in diesem Moment schossen zwei braune Pfeile aus dem Nichts heran. Rona
und Reno!
Einer von beiden Hunden, welcher, das konnte Basti im Eifer des Gefechts nicht gleich erkennen,
verbiss sich im Hals des Sauriers, der andere sprang zwischen dessen Beinen hin und her, unschlüssig, an
welcher Stelle er das Tier angreifen sollte. Das Vieh bäumte sich auf, schlug mit seinem Schwanz um sich,
stellte drohend seine Schwingen auf und machte einen Lärm, dass man meinen konnte, die Pfeife einer
Dampflokomotive und das Triebwerk eines Düsenjets versuchten sich gegenseitig an Lautstärke zu
übertrumpfen.
Lauknitz seinerseits hob einen Stein nach dem anderen auf und zielte mit den schweren Geschossen auf
den mächtigen Leib des Untiers. Und das wurde immer wütender. Wild warf es seinen Kopf hin und her. Rona
hing noch immer an seinem Hals und flog wie ein nasser Scheuerlappen von einer Richtung in die andere, ließ
das Biest jedoch nicht los und knurrte böse. Aus dem Hals des Drachen rann Blut und spritzte durch die Luft.
Reno flitzte noch immer unter dem massigen Körper des Viehs umher und versuchte das Wesen an
einer geeigneten Stelle anzufallen. Wie Granaten ließ Basti seine Steine auf den Bauch des Drachen donnern.
Irgendwie hatte er das Gefühl, dass es jetzt an ihm war, die beiden Hunde Balmers aus ihrer Zwickmühle zu
befreien. Sie hatten ihm die Zeit verschafft, die er brauchte, um Luft zu holen. Jetzt konnte er zurückhusten!
So gezielt wie möglich versuchte er mit seinem Bombardement die Weichteile des Tieres zu treffen.
Irgendwie musste er damit auch Erfolg gehabt haben, denn plötzlich knickte der Drache in den Vorderläufen ein,
krachte schwer zu Boden und schrie wie am Spieß. Doch der war noch lange nicht am Ende!
Heftig mit seinen großen Schwingen rudernd sprang er wieder auf die Beine und versuchte Rona mit
einem seiner Krallenfüße abzustreifen. Doch er konnte sie nicht erreichen und Rona ihrerseits hing mit der
eisernen Klammer ihres Gebisses wie ein unliebsames Schmuckstück weiter an seinem Hals. Der wies
mittlerweile eine klaffende Wunde auf, aus der unablässig Blut strömte. Überall hin spritzte der rote Lebenssaft.
Blut klebte an den Felsen, im Gras und an Balmers Hunden. Der Platz glich inzwischen einem Schlachtfeld.
Das Urtier hatte es endlich aufgegeben, Rona abschütteln zu wollen. Sein Instinkt sagte ihm wohl, dass
es zwecklos war. Dafür wandte es sich nun Reno zu, der immer noch versuchte, seine Flanke anzugreifen. Es
schnappte nach ihm und stieß neue Feuerbälle aus, die aber nur noch den Charakter einer Fehlzündung hatten
und wirkungslos verpufften. Offensichtlich ging dem Biest der Gasatem aus. Es drehte sich wie wild, schlug mit
den Flügeln und sein Schwanz zuckte unkontrolliert herum.
Bastis nächster Stein, ein besonders großer, traf das Tier an der Schulter. Es ließ von Reno ab und
drehte sich zu ihm um. Sein Schwanz schwang ebenfalls plötzlich herum. Diese Bewegung kam für Reno völlig
unerwartet. Das bewaffnete Schwanzende traf den Hund voll in die Flanke. Er jaulte auf und flog in hohem
Bogen gegen die Felsen, wo er mit einem dumpfen Laut aufschlug und zu Boden fiel. Vor Schreck schrie
Sebastian seinen Namen, doch er rührte sich nicht mehr.
Sogleich beschäftigte sich der Drachen wieder mit Rona, die nach wie vor wie eine Klette an seinem
Hals hing. Als hätte das Biest aus der Situation gelernt, schlug es seinen ganzen Körper gegen die Felsen, die
inzwischen mehr rot als grau waren. Das war dann auch für Rona zu viel. Sie ließ von dem Urzeitvieh ab und
begann es in größerem Abstand laut bellend zu umrunden.
Der Drache blieb mit gesenktem Haupt stehen und glotzte Lauknitz an. Und der hielt seine letzte Stunde
für gekommen. Es war nun unerheblich, ob er weglaufen wollte oder nicht. Intuitiv hob er noch einmal einen
Stein auf und erwartete die endgültige Attacke. Doch plötzlich und unerwartet brach der Saurier zur Seite, zum
See hin aus. Er ruderte mit seinen Schwingen und lief zuerst am Ufer entlang und dann den Hügel hinauf. Wie
schnell das Biest war! Es nahm einen weit ausholenden Anlauf und versuchte sich auf der Hügelkuppe in die
Luft zu erheben. Es gelang ihm aber erst beim dritten Versuch wieder Hügel abwärts. Schwerfällig wie ein
Globemaster Transportflugzeug hob es ab und gewann nur allmählich an Höhe.
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Mit markerschütterndem Schrei überflog es ein paar Mal den Schauplatz des Kampfes und verschwand
dann hoch oben am Bergansatz über der Felsenkante. Rona hetzte noch einige dutzend Meter hinter dem
Drachen her, gab es jedoch schließlich auf. Hinkend und mit heraushängender Zunge kam sie zu Sebastian
zurück geschlichen.
In diesem Augenblick erschienen zwei Gestalten auf dem Hügelkamm. Zweifelsohne waren das der
Doktor und Balmer, die der Kampflärm wohl aus ihrem Delirium gerissen hatte. Wie ein Schnellläufer kam der
Medicus den Hang herab gerannt, gefolgt vom humpelnden Balmer. Hätte Sebastian die ernste Situation nicht
noch in den Knochen gesteckt, er hätte über das Bild, das die beiden boten, lachen müssen. Während der Doktor
elegant jeden Felsen und jedes Gewächs übersprang, wackelte der Alte wild gestikulierend zwischen den
Hindernissen hindurch abwärts.
Falméras Medicus erreichte Sebastian als erster. Angesichts des vielen Blutes, das nun die Landschaft
zierte, etwas blass um die Nase. Und in der Tat sah es in der näheren Umgebung so aus, als hätte ein moderner
Künstler seinen roten Farbtopf aus Wut mit einem Vorschlaghammer bearbeitet. Dann schnaufte Högi Balmer
heran und Lauknitz war sich nicht sicher, wer heftigere Atemgeräusche hervorbrachte, der Drache oder der Alte.
»Bei den heiligen drei Türmen der Götter von Tálinos, was war denn hier los?«
Fassungslos und gehetzt sah sich Balmer um und suchte offenbar nach dem Übeltäter, der seine schöne,
grüne Almweide mit roter Farbe bespritzt hatte. Rona trabte zu ihm heran, legte ihre Pfoten auf seinen Bauch
und leckte ihm den Hals, als wollte sie sich für das Geschehene entschuldigen.
Dann erblickte der Alte seinen anderen Hund. Regungslos lag Reno an der Stelle, an der er gegen die
Felsen schlug. Sebastian bekam Angst, Balmer könnte annehmen, er hätte seinen Hund so zugerichtet und das
Blut würde von ihm stammen. Stotternd versuchte er eine Erklärung, aber Högi Balmer hörte gar nicht zu. Er
wankte zu Reno hinüber, ließ sich auf die Knie fallen und streichelte liebevoll das struppige, blutverschmierte
Fell des Hundes.
Verzweifelt sah Sebastian den Doktor an: »Ich kann nichts dafür, das Vieh war plötzlich da..., dann
kamen die Hunde dazu...« Falméras Medicus hob beschwichtigend die Hand. Er musterte ihn und fragte: »Ihr
seid unverletzt?«
»Ja, aber Reno hat es übel erwischt, glaube ich...« Die Sorge, die in Sebastians Antwort mitschwang
war echt. Und sie erstaunte ihn selbst. Es war das erste Mal in seinem Leben, dass er für einen Hund Mitgefühl
empfand. Grundsätzlich hasste er alle Hunde, seit er denken konnte. Diesen stinkenden, sabbernden und
hechelnden Kreaturen ging er aus dem Weg, wo immer er sie auch antraf. Doch an diesem Tag begann er, zwei
Hunde regelrecht lieb zu gewinnen. Das mag vielleicht auch etwas mit Dankbarkeit zu tun gehabt haben.
Dennoch hielt er es plötzlich nicht mehr für unmöglich, dass zwei Hunde seine Freunde werden konnten.
Als Reno ihn seinen Namen sagen hörte, erwachte er wieder zum Leben. Er spitzte seine Ohren, hob
den Kopf und ließ ihn wieder kraftlos zurücksinken. Der Doktor hockte sich neben Balmer und untersuchte die
tiefe Wunde, die quer über die Seite von Renos Körper verlief. Reno zuckte bei jeder Berührung zusammen und
winselte erbärmlich. Rona lag, mit Vorderpfoten und Schnauze an Renos Kopf, still da und beobachtete
aufmerksam Balmer und den Doktor, als wollte sie sichergehen, dass die beiden Menschen ihren Reno auch
wirklich richtig behandelten.
Seufzend erhob sich der Doktor, sah Lauknitz an und schüttelte langsam den Kopf: »Da ist nichts mehr
zu machen, der kommt nicht mehr auf die Beine.«
»Was heißt das, da ist nichts mehr zu machen«, fragte Sebastian aufgebracht. »Wir werden es doch
wohl wenigstens versuchen, oder?« Hoffnungsvoll sah er den Medicus an.
Der zuckte verzweifelt mit den Achseln und sagte leise, damit Balmer es nicht hören sollte: »Die
Wunde ist zu groß, zu tief und er hat zu viel Blut verloren. Ich würde ihn nur noch quälen, wenn ich an ihm
herumdoktorn würde. Das beste wäre...«
Er sprach nicht zu ende, machte aber ein unmissverständliches Zeichen mit dem Daumen an seiner
Kehle vorbei. Basti verstand sehr wohl, dass sie Reno von seinen Schmerzen erlösen sollten. Högi Balmer hing
sehr an seinem Hund und der Doktor wollte seine Absicht nicht so offensichtlich kund tun.
Das brauchte er auch gar nicht. Der Alte begriff auch ohne das forensische Urteil des Doktors, wie es
um Reno stand. Er rappelte sich stöhnend hoch, wankte ein paar Sekunden und sah sich um. Dann ging er
zielstrebig zu den Steinen hinüber, die Sebastian dem Urvieh an den Leib geschmettert hatte und hob den
größten von ihnen auf. Rona blickte mit den traurigsten und treuesten Augen, die Basti je bei einem Hund
gesehen hatte, zu Högi auf, als der sich fast feierlich vor Reno hinstellte, den groben Stein in seinen beiden
erhobenen Händen. Rona begriff offenbar, was nun folgen sollte und akzeptierte es still. Sie leckte Reno
vorsichtig über das Hundegesicht.
Das war zu viel für Sebastian. »Nein!«, hörte er sich laut und bestimmt sagen. »Nein, das tun wir
nicht!« Er wiederholte es bewusst und mit Nachdruck. Der Alte rührte sich nicht, sah nicht einmal zu ihm
herüber. Beruhigend legte der Doktor seine Hand auf Bastis Arm und sagte gewichtig: »Versteht doch, das muss
jetzt sein. Es geht nicht anders. Soll sich der Hund unnötig herumquälen?«
Erst war Sebastian unschlüssig, doch unvermittelt wurde ihm klar, dass dieser Hund leben sollte. Eine
innere Stimme befahl ihm, dafür zu sorgen, dass dieses Tier nicht sterben musste! Er wollte nicht hier sein und
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dies war auch nicht seine gewohnte Umgebung. Aber er war nun einmal hier und dieser Hund hatte versucht ihn
vor diesem Drachen zu beschützen. Jetzt ging ihn das auch etwas an!
»Nein«, fuhr er entschlossen fort, »ihr werdet Reno nicht mit diesem Stein erschlagen, wie eine giftige
Schlange! Er hat mir das Leben gerettet und hat mehr als verdient, weiter zu leben!«
»Na sieh einmal an«, hörte Lauknitz den Doktor erstaunt sagen, »mal davon abgesehen, dass dies nicht
nur von uns abhängt, wechselt ihr eure Ansichten wohl mit dem Wetter, was? Gestern noch habt ihr Balmers
angeblich räudige Köter in den letzten Winkel des ewigen Eises verflucht. Und nun wollt ihr einen von ihnen aus
dem Reich der Toten zurück holen.«
»Reno ist noch nicht tot«, entfuhr es Lauknitz, »so schnell stirbt es sich nicht!« Er trat Falméras
Medicus in den Weg, der einen Schritt auf Reno zugehen wollte.
Augenblicklich redete sich Sebastian in Rage: »Verdammt noch mal, was soll das! Ihr lebt hier
abgeschieden in der Einsamkeit der Natur, noch dazu wie ein Paar dummer Heiden im Mittelalter und kommt
offensichtlich gut dabei zurecht. In Högi’s Hütte habe ich getrocknete Pflanzen und Kräuter gesehen. Ihr werdet
ja wohl irgendein so’n heilendes Grünzeug auf Lager haben, das diesem armen Hund hier wieder auf die Beine
helfen kann, oder?«
Basti ließ seinen Ausbruch eine Weile wirken. Selbst Balmer drehte sich nun erstaunt zu ihm um und
ließ die Hände sinken. Das bestätigte ihn und er nahm erneut verbalen Anlauf: »Dieses Tier hat ohne zu zögern
sein Leben eingesetzt, um mir zu helfen. Und solange Reno nicht tot ist, werde ich dasselbe für ihn tun!«
»Nein, noch ist er nicht tot«, gab der Doktor zu, »er wird es aber bald sein, wenn wir hier noch lange
herumreden!«
Sebastian sah den Doktor erstaunt an, ungläubig bezüglich seiner plötzlichen Sinneswandlung.
»Heißt das, ihr wollt ihm helfen?«, fragte er vorsichtig.
»Nein, ihr werdet ihm helfen«, entgegnete der geheimnisvoll, »und ich werde euch dabei helfen!«
Anscheinend hatte der Doktor begriffen, dass es sinnlos war, ihm sein Vorhaben auszureden. Die Erkenntnis
machte Sebastian Mut:
»Na schön«, sprudelte es aus ihm heraus, »ihr seid der Doktor hier. Was könnt ihr mir raten, was ich tun
soll, damit Reno am Leben bleibt? Oder wie sonst könnt ihr mir helfen?«
Der Doktor sah ihn noch ein wenig zweifelnd an: »Ist euch klar, worauf ihr euch da einlasst?
Möglicherweise müsst ihr rund um die Uhr neben diesem Hund wachen, ihn pflegen und mit ansehen wie er sich
vielleicht Tage oder Wochen lang herumquält und es dann letztlich doch nicht schafft. Und ihr wollt doch so
schnell wie möglich wieder fort von hier, oder?«
Den sarkastischen Unterton in seiner Mahnung überhörte Lauknitz und brachte ihn mit einer
energischen Handbewegung zum Schweigen, als er fortfahren wollte.
»Lasst das jetzt«, sagte er vorwurfsvoll, »ihr wisst genau, dass ich noch eine Weile zum Verbleiben
gezwungen bin, oder wollt ihr das bestreiten?« Basti holte tief Luft: »Also los jetzt, was kann ich tun, Herr
Doktor?«
Falméras Medicus entließ einen tiefen Seufzer in die mit Blut bespritzte Landschaft und begann zu
kooperieren: »Also zunächst mal müssen wir Reno zur Hütte bringen. Sollte er das überleben, werden wir seine
Wunden reinigen und ich werde den tiefen Riss in seiner Seite nähen. Väterchen Balmer mixt eine Tinktur aus
Heilkräutern«, bestimmte er, indem er den Alten ernst ansah. »Alles andere hängt dann von den Göttern, von
euch und eurer Pflege ab...«
Högi Balmer, in der zu recht erwachten Hoffnung, seinen Hund doch nicht zu verlieren, beendete seine
Trauer und begann hektisch zu suchen: »Es braucht etwas zum Tragen..., etwas um Reno zu tragen, brauchen
wir..., es sollte etwas sein...«, dabei griff er nach der Tasche mit Sebastians Waschzeug, die immer noch bei den
Felsen lag und ebenfalls mit Blut verschmutzt war.
»Alles Quatsch!«, unterbrach ihn Lauknitz. Jetzt war er in seinem Element. »Wir nehmen das hier!«,
bestimmte er einfach. Dabei hob er seine Gehhilfen auf, knöpfte seine Lederjacke zu und zog die Krücken als
Stiele hindurch, so dass das Ganze eine durchaus brauchbare Trage ergab.
Der Doktor hob bewundernd seine Augenbrauen, konnte sich aber eines bissigen Kommentars nicht
enthalten: »Und wie um alles bei den Göttern wollt ihr selbst wieder zur Hütte gelangen?«
Na, der sollte sich wundern! »Das wird schon irgendwie gehen! Los jetzt, fasst ihr dort an«, befahl er
Balmer, »und wenn der Herr Doktor gnädigst die Güte haben wollen, am anderen Ende...«
Falméras Medicus hatte die Güte! Er und Balmer hoben Reno hoch und gingen vorsichtig los. Rona
wich ihnen keinen Meter von der Seite. »Geht schon, nehmt keine Rücksicht auf mich, ich komm’ schon klar«,
rief Sebastian und begann sich unter höllischen Schmerzen ebenfalls in Bewegung zu setzen.
Dabei fragte er sich, wo die Schmerzen waren, als er sich gegen das urzeitliche Monster verteidigen
musste. Er kam auf den Gedanken, dass seine Schmerzen wohl zu einem Teil bloße Einbildung waren.
Schmerzen, die sich nur in seinem Kopf abgespielt hatten. Wenn die Ablenkung groß genug war, spürte er sie
gar nicht mehr. Also zwang er sich selbst zur Ablenkung. Das war einfach. Er begann nach dem Gor Ausschau
zu halten, ob der nicht doch noch einmal aus dem Hinterhalt angriff. Insgeheim aber wusste er, dass der erst
einmal die Schnauze voll hatte und sicherlich damit beschäftigt war, seine eigenen Wunden zu lecken.
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Dann erst wurde ihm ganz plötzlich bewusst, was er da eigentlich erlebt hatte. Er hatte mit einem Tier
gekämpft, dass es nur in Märchen und alten Mythen gab, das es nicht geben konnte. Aber es war da! Groß,
lebendig und echt. Das war kein Traum, das war die Wirklichkeit! Nur würde ihm diese Wirklichkeit niemand
glauben. Wem immer Sebastian auch davon hätte erzählen wollen, er würde ihn für verrückt gehalten haben. Er
wusste, dass es keine Feuer speienden Drachen geben konnte. An diesem Tag aber wollte ihn einer zum
Frühstück verspeisen!
Da er sich sicher war, nicht unter Wahnvorstellungen zu leiden, begann er darüber nachzugrübeln,
wieso eine Kreatur existieren konnte, welche die gesamte Menschheit für eine Legende hielt und deren Existenz
selbst in der Vergangenheit, bisher nicht bewiesen werden konnte. Gewiss, er hatte schon verschiedentlich von
Genmanipulationen gehört und in manchen Fantasy- Filmen hatte man die phantasievollsten Monster bereits
mehr als einmal zum Leben erweckt. Aber eben nur auf der Leinwand, zweidimensional! Dieses Vieh, das ihn
angegriffen hatte, war eindeutig dreidimensional und lebte. Und wie es lebte!
In Gedanken fuhr sich Sebastian wie zur eigenen Bestätigung, dass er noch nicht völlig durchgedreht
war, durch die Haare. An einigen Stellen waren seine Haarspitzen zu winzigen Kügelchen zusammengeschmort.
»Blödsinn!«, hörte er sich zu sich selbst sprechen, »ich weiß doch noch, was ich sehe! Dieses Vieh war definitiv
da!«
Aber woher kam es? Hatten es diese verrückten Macher und Lenker dieser Welt am Ende doch getan?
Hatten die mit Genmaterial herumgebastelt, um irgendwelche Kreaturen zu züchten, womöglich irgendwelche
biologischen Kampfmaschinen für ihre ewigen Kriege? Unsinn! Es gab keine biologischen Maschinen! Aber
dieses Biest dort bei den Felsen, das gab es, da biss die Maus keinen Faden mehr ab!
Auf dem gesamten Weg zur Hütte zerbrach er sich seinen Schädel darüber, wer um alles in der Welt der
Natur derart ins Handwerk gepfuscht haben mochte. War das auch der Grund für seinen erzwungenen Aufenthalt
in diesen Bergen? Wollte jemand gerade das, was er an diesem Tag erlebt hatte, vor der übrigen Welt geheim
halten? War Sebastian Lauknitz unabsichtlich in das schrecklichste, unvorstellbarste und absurdeste Geheimnis
der Erde gestolpert?
Für den Weg zur Hütte brauchte Basti länger, als ihm lieb war. Natürlich hatte er dadurch Zeit, über
alles nachzudenken. Das Schicksal Renos jedoch, war ihm in diesem Moment wichtiger. Irgendwie hatte er das
Bedürfnis, sich gerade zu diesem Zeitpunkt für dieses Tier einzusetzen. Entsprechend ungeduldig stolperte er
den steinigen Weg entlang, den Hügel hinauf und auf der Talseite wieder hinab. Bei jedem Schmerz biss er die
Zähne zusammen, was den zweifelhaften Erfolg in sich barg, dass sein Gebiss bald mehr schmerzte, als seine
Rippen.
Sobald er die Hütte erreichte, kam ihm Rona entgegen, strauchelte um Lauknitz herum, dass er fast
noch gestürzt wäre und leckte freundschaftlich seine Hand. Er ließ es zu. Obwohl er es immer schon als ekelhaft
empfand, von Hunden beschnüffelt oder angeleckt zu werden, trieb ihn die innere Abneigung nicht mehr dazu,
das Tier mit Gesten und Worten grob davon zu scheuchen. Irgendwie war zwischen ihm und diesen zwei
Hunden plötzlich ein Vertrauensverhältnis entstanden, das er nicht erklären konnte. Vielleicht war es aber auch
nur die Dankbarkeit, die ihn so empfinden ließ und die sich bald wieder verflüchtigen würde. Sebastian war sich
selbst nicht ganz klar über seine Gefühle für diese beiden Hunde, die an diesem Tag offensichtlich sein Leben
gerettet hatten.
Der Doktor und Balmer hatten eine der immer noch herumliegenden Decken auf dem Holztisch vor der
Hütte ausgebreitet und Reno darauf gelegt. Mit aufgekrempelten Hemdsärmeln stand der Doktor über Balmers
Liebling gebeugt und betastete die tiefen Wunden des Hundes. Der Alte lehnte etwas abseits im Schatten der
Hütte, unschlüssig, was er im Augenblick tun sollte.
Ohne aufzublicken sagte der Doktor: »...Wasser, ich brauche heißes Wasser...!«
Mit einem scharfen Messer begann er damit, das Fell Renos abzurasieren, um die Wunden freizulegen.
»...Wasser, Väterchen Balmer, heißes Wasser!«, rief er fordernd, als er bemerkte, dass sich der Alte noch nicht
vom Fleck gerührt hatte.
Balmer erwachte aus seiner Nachdenklichkeit und verschwand übertrieben hektisch in der Hütte. Kurz
darauf erklang aus dem Dunkel seiner Behausung ein Scheppern und Rumoren, dass Sebastian annehmen
musste, er würde seine Behältnisse und Gefäße mit einem dicken Knüppel verprügeln. Offenbar suchte er etwas,
das er seit Langem nicht mehr benutzt hatte und dessen Aufenthaltsort er nur noch vermuten konnte. Bildlich
stellte sich Basti das Durcheinander vor, dass er in seiner ohnehin schon unordentlichen Hütte veranstaltete und
musste grinsen.
»Ja, ja, der alte Balmer...«, schüttelte Falméras Medicus leicht belustigt den Kopf, »...ein Chaot,
liebenswürdig zwar, aber ein hoffnungsloser Chaot!«
Wie um diese Ansicht zu widerlegen, erschien Högi Balmer mit gleich drei riesigen Tonschüsseln im
Eingang und stellte sie neben die Feuerstelle am Haus. Dann hinkte er mit zwei Holzeimern davon, um Wasser
zu holen. Da er sich zu beeilen versuchte, sah sein wackeliger Gang noch komischer aus. Irgendwie erinnerte er
Sebastian an einen in Panik flüchtenden Pinguin.
Nur kurz sah der Doktor von seinem behelfsmäßigen Operationstisch auf: »Kommt her und helft mir
mal!«, forderte er Lauknitz auf und konzentrierte sich gleich wieder auf seine Arbeit.
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»Jawohl, Doktor Falméra«, antwortete Sebastian und trat an den Tisch. Allerdings konnte er sich kaum
vorstellen, inwieweit er eine brauchbare Hilfe darstellen würde.
»Andreas.«, hörte er den Doktor sagen.
Sebastian verstand nicht recht. »Bitte?«, erkundigte er sich.
»Das ist mein Name«, erklärte der Medicus knapp, »Andreas, ihr könnt mich Andreas nennen, wenn ihr
mögt.«
»Alles klar«, bestätigte Basti. Nichts war klar! Denn er konnte sich gar nicht so spontan auf die plötzliche
Vertrautheit einlassen, geschweige denn, sofort wie ganz selbstverständlich damit umgehen.
Für den Doktor schien das nicht weiter von Belang zu sein. Er deutete mit dem Kopf auf eine kleine
Schale, die neben Reno auf dem Tisch stand. Sebastian nahm sie und hielt sie dem Doktor unschlüssig entgegen.
Ohne seinen Blick zu heben streifte er Renos blutverklebte Haare am Schalenrand von seinen Fingern. Mit
Besteckteilen aus einem undefinierbaren, weißlichen Material spreizte er Renos große Wunde, so dass weißes
Fleisch hervortrat. Sofort sickerte Blut in der Wunde nach.
»Abtupfen!«, befahl der Doktor, indem er mit dem Kopf auf einen kleinen Stapel zerrissenen weißen
Stoffes wies. Lauknitz nahm einen der ausgefransten Lappen, knüllte ihn so zusammen, dass er die Stofffasern
mit den Fingern umklammert hielt und tupfte mit dem Bausch vorsichtig in die Wunde. Das Gewebe saugte das
Blut sofort auf. Schon war es rot durchtränkt und er musste zum nächsten Stück greifen. Dabei erstaunte ihn,
dass der Doktor so spontan auf seine Zuverlässigkeit vertraute. Er setzte schlicht voraus, dass Sebastian wusste,
was zu tun war. Entweder entsprang sein Verhalten einer Einfältigkeit, oder seiner Menschenkenntnis. Lauknitz
glaubte an Letztere.
Ein hohles Scheppern unterbrach den Gedanken. Basti musste nicht hinsehen, um zu wissen, dass
Balmer vom Bach zurück war und nun seinen großen Kessel mit Wasser füllte. Dann registrierte Sebastian mit
seitlichem Blick, dass er sämtliche Steinplatten an seinem Ofen entfernte, bis eine Feuerstelle offen lag, die eher
einem Opferstein glich. Ein an der Hütte angebrachter hölzerner Schwenkarm hielt dann die Eisenkette mit dem
Haken, der den Kessel über der Feuerstelle schweben ließ. Mochte der Alte noch so chaotisch sein, wie es der
Doktor nannte, so wusste er sich dennoch mit seinen einfachen Mitteln und offensichtlichem Einfallsreichtum
sehr gut zu helfen.
Ein wahres Höllenfeuer entfachte er auf dem Steinpodest und schneller als erwartet stand ihnen heißes
Wasser zur Verfügung. Mit flinken und sicheren Bewegungen reinigte der Medicus die klaffende Wunde.
Anschließend wühlte er suchend in einem Sortiment weißer, großer Nähnadeln.
»Elfenbein!«, fuhr es Sebastian durch den Kopf, »Du meine Güte! Er benutzt Nadeln aus Knochen!«
»Ich habe Nähnadeln aus Stahl in meinem Rucksack«, erklärte er laut und sah den Doktor erwartungsvoll an.
»Mit Nylonfaden kann ich aber auch dienen«, fügte er noch rasch hinzu.
Falméras Medicus nickte nachdenklich: »Ja, das könnte helfen... Lasst einmal sehen...«
Humpelnd eilte Sebastian zur Hütte und suchte sein Survival- Päckchen aus seinem Rucksack. In seiner
Pedanterie wollte er immer auf alle Situationen und plötzlichen Lebensumstände vorbereitet sein und trug so
ständig ein kleines Paket mit brauchbaren Utensilien in seinem Gepäck mit herum. Es enthielt eine kleine
Schere, ein Schweizer Taschenmesser, Angelhaken, Drachenschnur, Nähnadeln, einen Bleistift, ein paar
Metallklammern und vieles mehr.
Stolz legte er das geöffnete Päckchen auf den Tisch. Der Doktor musterte es kurz, zog anerkennend
seine Augenbrauen hoch und bediente sich. So ziemlich jeder Gegenstand seines Sammelsuriums fand die
Zustimmung des Arztes und kam zum Einsatz. Erstaunt fragte er sich, was das hier für ein Doktor war, der nicht
einmal die einfachsten chirugischen Instrumente in seiner Tasche hatte. Elfenbeinnadeln und Spreizer aus
Knochen! Wie krank war das denn? Tupfer aus Stoffresten! Sie befanden sich schließlich nicht in der Schlacht
um Austerlitz! Was also stimmte hier nicht?
Ständig fiel Sebastian etwas auf, das nicht normal war! Ein Arzt, der mit altertümlichen Geräten
umherreiste, ein Fabelwesen, das wirklich existierte und Menschen attackierte, Berge, von denen er als
begeisterter Alpinist nie etwas gehört hatte, das seltsame Verhalten Balmers und des Doktors, und, und, und...
Er hatte das Gefühl, sich in einer völlig anderen Welt zu befinden, die ihre eigene Geschichte hatte und
anderen, ihm völlig unbekannten Naturgesetzen gehorchte. Eine Welt, die nur in einem Traum entstehen konnte.
Seit seinem Aufbruch ins schweizerische Zwischbergental hatte er immer wieder das Gefühl, aus einem lästigen
Traum aufwachen zu müssen, in den er wer weiß wie geraten war. Doch so sehr er sich auch bemühte, er konnte
nicht aufwachen! Er war schon wach. Hellwach sogar! Und eigentlich konnte er froh sein, seine Berge um sich
zu haben. Nur befand er sich nicht irgendwo im Wallis, sondern auf einer Alm in einem unbekannten Gebirge,
mit einem durchgeknallten Almöhi und einem Arzt, der im Freien eine Operation wie auf einem mittelalterlichen
Schlachtfeld durchführte!
Sebastian schüttelte den Kopf, wie, um sich alle unbegreiflichen Einflüsse der letzten Tage aus seinen
Gedanken zu schütteln. Ein fragender Blick von Falméras Doktor war der ganze Erfolg. Der konzentrierte sich
gleich wieder auf seine Behandlung. Balmer brachte endlich eine Schüssel dampfenden Wassers und der
Medicus begann die Wundränder, die er zusammen zu nähen gedachte, von altem, getrocknetem Blut zu
reinigen. Mit geübten Stichen zog er die aufklaffende Wunde mit Sebastians Stopfnadel und einem Stück seiner
Drachenschnur zusammen und verknotete das Ende. Für den festen Verband, der verhindern sollte, dass sich
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Reno die Verletzung wieder aufkratzte und dass Schmutz hinein geriet, mussten Balmer und Sebastian den
scheinbar leblosen Körper hochheben, während der Doktor ihn verband.
Zuletzt trugen sie Reno gemeinsam auf ein weiches Heulager neben der Hüttentür. Rona kroch zu ihm,
rollte sich neben ihm zusammen und wich nicht mehr von seiner Seite. Das musste Liebe sein, dachte Lauknitz
und lächelte zufrieden.
»Na, seid ihr jetzt glücklicher...« Falméras Medicus sah ihn fragend an, wie ein Schuljunge, der eine
Belohnung für eine besondere Leistung erwartete.
»Ja, Herr Doktor von Falméra, sehr sogar!« Der etwas bissige Unterton in Bastis Stimme ließ sich nicht
ganz vermeiden. »Wäre es nach euch gegangen, wäre das arme Vieh elendig verblutet, nicht?«
Medicus von Falméra zog eine Grimasse: »Ja, ja, das arme Vieh... Gestern war das arme Vieh noch ein
stinkender...«
»Lasst es einfach, OK?«, unterbrach ihn Sebastian genervt. »Gut, ich habe meine Meinung eben geändert«, gab
Basti offen zu, »aber muss der Herr Doktor jetzt für alle Zeiten darauf herumhacken?«
»Andreas.., ihr könnt mich Andreas nennen, das tun alle hier...«, versuchte er zu beschwichtigen. »Ihr
habt ein sehr schlechtes Bild von mir, denke ich. Glaubt ihr denn wirklich, ich hätte nicht versucht, Väterchen
Balmers Hund zu retten? Das stand nämlich von vornherein fest! Aber ich fand es nun einmal interessant,
herauszufinden, wie weit ihr gehen würdet, um einem Hund, dem ihr euer Leben verdankt, zu helfen. Ich glaube
ich habe ein besseres Bild von euch, als ihr von mir!«
In diesem Punkt hatte er Recht! Und Sebastian war dankbar, dass er hier zwei Menschen vor sich hatte,
denen ein Leben, egal welcher Kreatur es gehörte, etwas bedeutete. Dennoch fand er die Gelegenheit günstig,
den Doktor und Balmer mit seinen Fragen festzunageln, die ihm auf der Seele brannten.
»Ist OK, Doktor.., äh, Andreas. Aber jetzt erklärt mir mal etwas. Was zum Teufel war das für ein Vieh,
vorhin? Irgendwie bin ich doch hier im falschen Film, oder?« Insgeheim hoffte er, dass Andreas ihm an dieser
Stelle offenbarte, dass er sich tatsächlich mittendrin in einem Filmset befand. Aber das wäre zu einfach
gewesen...
»Das war ein Gor...«, entgegnete der Doktor sehr nachdenklich. Zu Balmer gewand fügte er hinzu:
»Aber ich habe noch nie davon gehört, dass ein Gor Menschen angegriffen hat. Was meint ihr Väterchen, warum
er das getan hat?«
»Moooment mal!«, unterbrach er Andreas. »Verzeiht, aber die vordringlichste Frage ist hier doch wohl:
Wo kommt so eine Missgeburt überhaupt her? So ein Tier gibt es doch gar nicht!«
Ihm war klar, dass er sich mit dieser Behauptung selbst lächerlich machte. Es gab dieses Tier! Und hätte
sich Sebastian immer noch in den Gedanken geflüchtet, sich in einem fürchterlichen Alptraum zu befinden, so
klärte sich diese Frage rasch beim Anblick Renos neben dem Hütteneingang!
Zur Bestätigung bekam er Andreas Antwort: »Es gibt den Gor sehr wohl, wie ihr mir hoffentlich
beipflichten könnt, vorausgesetzt, ihr seid halbwegs bei frischem Verstand. Es gibt leider nicht nur einen von
ihnen!« Dann sah er Basti plötzlich überrascht an: »Und außerdem... Was soll denn das eigentlich heißen, sich
heimlich, still und leise, noch dazu mutterseelenallein wegzuschleichen und durch die Landschaft zu streunen?
Hatte ich euch nicht gewarnt, dass es hier Tiere gibt, auf deren Speiseplan ihr womöglich stehen könnt?«
Nun, das hatte er tatsächlich! Doch wie konnte Sebastian ahnen, dass in diesen Bergen ein Tier lebt, von
dem der Rest der Menschheit wusste, dass es nur in Märchen existierte? Irgendwo her musste dieses Biest aber
gekommen sein. Oder jemand musste es gezüchtet haben. Das war es eigentlich, was Basti wissen wollte!
»Schön, wie auch immer...«, fing er von neuem an, »aber irgendwoher müssen der Gor oder die Gore
doch kommen, wenn sie denn nicht vom Himmel gefallen sind, oder?«
Andreas sah ihn erstaunt an. Dann schüttelte er den Kopf und zuckte mit den Schultern: »Irgendwo her
kommen? Nein, die waren schon immer da! In den ältesten Schriftrollen von Falméra sind sie bereits erwähnt.
Der Mythologie nach, an die ich nebenbei bemerkt, als Gelehrter nicht ganz glaube, wurden die Gore einst vom
Sonnengott geschaffen, um die Menschenkinder vor dem Bösen zu beschützen.«
»Na, da muss ja wohl etwas ganz schön in die Hose gegangen sein...«, warf Sebastian dazwischen,
»denn soweit ich mich dunkel erinnern kann, wollte der Gor da oben, vor noch nicht ganz drei Stunden meinen
Hintern als Brotaufstrich verwenden!«
»Gore sind Raubtiere, als solche also hauptsächlich Fleischfresser.«, fuhr der Doktor unbeirrt fort. »Sie
reißen Schafe, ja.., sie richten auch sonst oft ganz schönen Flurschaden an, aber dass sie Menschen anfallen...?«
Fragend sah er Väterchen Balmer an. Der wiegte nachdenklich seinen struppigen Kopf hin und her. Er hatte also
auch keine Erklärung!
»Ja, aber wie kommt es«, bohrte Sebastian weiter, »dass außer in eurer Gegend hier, bisher noch
niemand etwas von einem Gor gehört oder gesehen hat? In meiner Kultur gelten solche Wesen als nicht existent,
oder zumindest als ausgestorben...«
Andreas sah ihn zweifelnd an: »In eurer Kultur? Ihr stammt aus unserer Kultur, genauso wie ich und
Väterchen Balmer und alle anderen, die hier leben. Das hatte ich euch doch schon erklärt, nicht wahr? Ihr kennt
Gore ebenso, wie wir alle, ihr habt es durch eure Amnesie nur vergessen! Die einzige Frage ist doch hier:
Warum hat der Gor euch angegriffen?« Dabei sah er wieder zu Balmer hinüber, der aber nur ein ziemlich
dummes Gesicht dazu machte.
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Dies war auch bei weitem nicht die einzige Frage! Lauknitz hatte noch eine Menge Fragen! Doch
insgeheim gab er es auf. Als Antwort würde man ihm immer wieder seine angebliche Amnesie anbieten. Das
führte zu rein gar nichts!
»Vielleicht sollte man den Holzer fragen...«, dachte Balmer laut, für alle hörbar. Er beschäftigte sich
immer noch mit der einzigen Frage des Doktors. »Möglicherweise kann der etwas von Sonnenherz erfahren...
Sie weiß ja viel von allen Tieren!«
Ungeduldig fuhr Sebastian dazwischen: »Entschuldigt bitte, es geht mich ja nichts an, aber wer zum
Kuckuck ist der Holzer und wer ist Sonnenherz, wenn die Frage gnädigst erlaubt ist?«
»Ihr kennt sie beide«, begann Andreas, »aber ihr hab das alles...«
Müde unterbrach ihn Basti: »Ja, ich weiß, die Amnesie. Ich habe es vergessen, ist schon klar!« Er holte tief Luft
und forderte: »Hört mal: Vergesst doch einfach mal, dass ich es vergessen habe, ja? Tut so, als wäre ich das erste
Mal in diesem Land und erklärt mir einfach, wer der Holzer und wer Sonnenherz ist, okay?«
Andreas nickte zustimmend und erzählte bereitwillig: »Der Holzer, seinen richtigen Namen kenne ich
nicht einmal...«, dabei sah er Balmer fragend an, »...lebt als Holzbauer in Fallwasser, ein Dorf im Tal, das vor
der Schlucht liegt und das man von hier oben aus nicht sehen kann. Seine Tochter wird von allen hier nur
Sonnenherz oder Krähenmädchen genannt, weil sie ein immer sonniges und gutmütiges Wesen in sich trägt. Ihre
besondere Gabe scheint aber zu sein, dass sie mit Tieren sprechen kann. Versteht mich nicht falsch, Sebastian,
als Arzt glaube ich an so etwas nicht wirklich. Tatsache ist aber, dass sie mit ihrer Gabe schon viele Menschen
verblüfft und vielen Menschen geholfen hat. Fragt mich nicht, wie sie das macht, aber auf irgend eine Weise
scheint dieses Mädchen alle Tiere zu verstehen. Ich weiß da zum Beispiel von einer Sache...«, er sah wieder zu
Balmer hinüber, als erhoffte er sich von ihm eine Bestätigung der Richtigkeit seines Berichts, »...wo sie einmal
allein am Nordufer des Mentiérsees eine Begegnung mit einem Felsenbären hatte. Jeden anderen hätte der Bär
zerrissen und ihn gefressen. Sonnenherz hatte ihn gestreichelt und mit ihm geredet, ohne dass ihr etwas
geschehen wäre. Zwei Jäger, die auf seiner Spur waren haben es genau beobachtet. Die Jäger berichteten, dass
sie von Sonnenherz gebeten wurden, den Bären nicht zu verfolgen, denn sie hätte diesem gesagt, dass er sich aus
dem Tal in die Berge zurückziehen sollte. Na ja, dieser Bär wurde in unseren Tälern nie wieder gesichtet«
Der Doktor unterbrach kurz seine Ausführungen. Dann machte er eine Geste, die offensichtlich sein
eigenes Unverständnis über diese Geschichte ausdrücken sollte und fuhr fort: »Wie gesagt, ich weiß nicht, ob es
sich wirklich so zugetragen hat und ich glaube auch nicht ernsthaft an so etwas. Aber die Menschen hier erzählen
sich viele ähnliche Geschichten über Sonnenherz. In allen ist sie mit den Tieren, egal welcher Gattung, sehr
vertraut.«
Wieder sah Andreas den Alten fragend an, als erwartete er von diesem eine Erklärung für das
Phänomen. Balmer trat bedächtig an sie heran, beugte sich vor und sprach geheimnisvoll leise: »Ja, das Mädchen
hat Zauberkräfte! Sie weiß, was die Tiere denken. Sie ist auch die einzige, die Elsiren ungestraft berühren darf.
Sie ist schon etwas Besonderes, des Holzers Tochter, und eine außergewöhnliche Schönheit noch dazu.« Bei
diesem Zusatz zwinkerte er sie schelmisch an. Raunend sprach er weiter:
»Die Leute im Tal sagen, sie trägt das Mal der Könige und das Zeichen der Götter und dass sie einmal
im Mondschein auf einem riesigen Meeresungeheuer durch die See geritten ist. Außerdem erzählen sich die
Menschen in den Dörfern, dass sie einmal als kleines Kind im Wald verschollen war und tagelang von einer
Schar Krähen vor Raubzeug behütet wurde. Viele nennen sie deshalb auch das Kähenmädchen..., gewiss auch
wegen ihrer pechschwarzen Haare...« Der Alte unterbrach seine Darstellung und blickte sich ein paar Mal
suchend um, als vermutete er hinter jedem Gebüsch einen heimlichen Zuhörer. Voller Überzeugung setzte er
noch hinzu:
»Wenn irgendwer etwas über die Gore weiß, das wir nicht wissen, dann ist es Sonnenherz, oder ihr
Vater. Außerdem erzählen sich die Leute, Sonnenherz hätte schon einigen von Torbuks Kriegern das Fürchten
gelehrt...«
Andreas pflichtete ihm bei, jedoch nicht unbedingt aus so inbrünstiger Überzeugung: »Mein Rückweg führt
mich am Haus des Holzers vorbei. Ich werde ihm einen Besuch abstatten. Vielleicht erfahre ich etwas, das
diesen Angriff von heute erklärt.« Basti zugewandt sprach er eine Nuance bestimmter:
»Und für euch, Sebastian Lauknitz, heißt das: Hört auf Väterchen Balmer und streunt nicht ohne
Begleitung in den Bergen herum. Ihr seht, was daraus werden kann! Ich hoffe, ihr habt aus eurem Abenteuer von
heute gelernt, dass es hier oben nicht nur so friedliche Geschöpfe wie Reno und Rona gibt!«
»Ja, ist ja schon gut«, erwiderte Sebastian mürrisch, »ich weiß, es gibt auch noch Elsiren, ihr erwähntet
es gerade...«
Andreas machte eine wegwerfende Handbewegung: »Elsiren braucht ihr hier nicht zu fürchten. Die kommen
nicht so weit herauf. Sie leben in den Sümpfen an der Küste und gelangen manchmal in der Zeit der großen
Sonne in unsere Wälder unten im Tal. Aber sie sind so scheu, dass ihr kaum je eine zu Gesicht bekommt.«
»Aha«, gab Sebastian knapp zur Antwort. Er glaubte dem Doktor kein Wort! Und wenn er heute nicht
den aggressiven Auftritt dieses Gors am eigenen Leibe erfahren hätte, so würde er all dieses Gerede um
Sonnenherz, Elsiren und Felsenbären als phantasievollen Hinterwäldlertratsch abtun. Doch seine Erfahrungen
von diesem Vormittag hatten ihn gelehrt, nicht alles als erfundene Erzählung zu werten. Ein wenig Wahrheit
schien hier an jeder Legende zu haften.
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Sein Ziel stand nach wie vor fest: Rasch gesund werden und schleunigst von hier verschwinden! Dann
würde sich ja zeigen, wie viel Wahrheit und welche kuriosen Geheimnisse in diesen Bergen verborgen waren.
»Wann gedenkt ihr denn wieder von hier fort zu gehen«, fragte er den Doktor, wie ganz nebenbei und
versuchte, völlig desinteressiert zu klingen. In Wirklichkeit brannte diese Frage schon seit gestern Abend in ihm.
»Morgen früh werde ich wieder zu Tal steigen, werde zwei Tage in meiner Praxis in Quaronas nach
dem Rechten schauen und dann nach Falméra zurückkehren. Aber spätestens in zwei oder drei Wochen schaue
ich wieder zu euch herauf..., und bitte...« Andreas drückte ihm wie zur Beschwörung die Hände auf sein Knie,
»macht in dieser Zeit keinen Blödsinn, ja? Tut, was euch Väterchen Balmer sagt und hört auf seinen Rat! Wie
ich schon erwähnte, ihr habt noch eine Aufgabe. Ihr werdet noch gebraucht! Also unterlasst irgendwelche
abenteuerlichen Alleingänge, versprochen?« Dabei sah er Sebastian eindringlich und mit ernstem Gesicht in die
Augen.
»Ja, gut, ich werde mich bemühen«, versicherte er ihm. Dennoch wusste Sebastian schon zu diesem
Zeitpunkt, dass er sich niemals daran halten würde. Wie auch? Er wurde zu einem wachen Geist erzogen, der
Fragen stellte. Antworten würde er nur finden, wenn er auch danach suchte. In der Obhut und Gefangenschaft
um Balmers Hütte hätte er kaum welche bekommen!
Am Abend sah Lauknitz lange zu den hohen Bergen hinauf. Jeden Gipfel, und jeden Grat versuchte er
sich einzuprägen. Im Geiste verglich er sie mit den ihm bekannten Bergen. Doch nicht eine dieser Formationen
war mit seinen Erinnerungen identisch.
Wie am Vortag, lag der samtrote Schein der untergehenden Sonne auf den mächtigen Bergen. Die
Felsrippen in den Eisflanken leuchteten dunkelrot, wie frische Wunden. Es kam Sebastian so vor, als hätte der
Gor das Blut aus seiner Halswunde beim Überflug auf diesen Bergen verteilt.
Allmählich senkte sich das schwarze Seidentuch der Nacht über das Land. Der Himmel verlor
Helligkeit und Farbe und eines nach dem anderen entzündeten sich die winzigen Lichtpünktchen der Sterne am
Firmament. Einer glomm heller und deutlicher als alle anderen. Der Polarstern? Über den noch rot
schimmernden Bergen trat er hervor, kaum, dass er die Dämmerung abwarten konnte.
Seit Ewigkeiten hatten sich Seefahrer und Entdecker auf diesem Planeten nach den Gestirnen orientiert
und nach der Sonne ihre Position bestimmt. Genau so hätte Basti herausfinden können, wo auf dieser Erde er
sich befand, wenn... Aber dieses „Wenn“ durchkreuzte in seinem Leben viel zu oft seine Pläne.
...Wenn er es nicht versäumt hätte, wenigstens die Grundkenntnisse von Navigation zu erlernen. In den
Schulen, die er besucht hatte, wurde so etwas nicht gelehrt. Wozu auch? Schließlich sollte er als ein
funktionierendes Mitglied der Gesellschaft erzogen und ausgebildet werden. In dieser Gesellschaft war nicht
vorgesehen, dass sich jemand so weit außerhalb der Zivilisation bewegte, dass er nur mit Hilfe der Gestirne
seinen Weg zu den Menschen zurück finden musste.
Sein Ärger richtete sich mehr gegen sich selbst. Da ging er jahrelang die einsamsten Alpentouren und
bewunderte auf Gletschern nächtelang den Sternenhimmel, doch sich danach zu orientieren, war ihm nicht
möglich. Jeder Seefahrer konnte das! Augenblicklich nahm er sich vor, sich nach seiner Rückkehr intensiv damit
zu beschäftigen. Still lächelte er in sich hinein. Der Vorsatz war ja rasch gefasst, aber würde er ihn auch
ausführen? Erfahrungsgemäß war das alles sehr schnell vergessen, sobald er sich wieder in seinem schützenden
Heim befand und seine nach Diesel stinkende Verputzmaschine das einzige war, das ihn täglich forderte.
Dennoch wurde ihm ganz nüchtern bewusst, wie sehr er sich tagaus, tagein blind auf die schützende
Glocke seiner gesellschaftlichen Zivilisation verlassen hatte. Stets bewegte er sich nur in einem ihm
wohlbekannten Rahmen. Doch nun zeigte sich: Wehe, wenn er ihn verließ!
Leises Herdengeläut drang an sein Ohr und unterbrach seine Selbstkritik. Balmer und Andreas brachten
das Vieh ein. Der Medicus war spontan mit dem Alten gegangen, denn die Hunde fielen erst einmal aus. Rona
konnte weder mit gutem Zureden, noch mit Zerren oder Schieben dazu bewegt werden, sich ihrer Aufgabe zu
widmen. Sie lag an Renos Seite und rührte sich nicht mehr vom Fleck. Für den Alten war es ohne Hilfe
schwierig, die ganze Herde im Zaum zu halten und über das unebene Gelände zu führen. Stellte er einer
abtrünnigen Kuh nach, so verlief sich zu gleichen Zeit ein Lämmchen in den Felsen.
Rona und Reno waren schnell. Sie konnten praktisch an zwei Orten gleichzeitig sein, während Balmer
die Herde vorantrieb. Mit seinem morgendlichen Waschausflug hatte Sebastian den Alten ungewollt in die
Situation gebracht, dass er auf sich allein gestellt war. Also wollte er ihn an den nächsten Tagen begleiten.
Der Doktor setzte sich zu ihm auf die Bank, während Balmer sein Tragegestell auspackte. Käse, eine
Kanne Milch, ein paar Streifen Trockenfleisch und einiges Gemüse, das Sebastian ebenfalls unbekannt war,
förderte er zu Tage. Basti sah Andreas erstaunt an:
»Ihr wart Einkaufen...?«
»Was meint ihr mit... Einkaufen?«, fragte der ebenso verwundert zurück.
»Na, ihr habt doch irgendwo Lebensmittel eingekauft, wenn ich recht sehe! Also seid ihr auf einem
Markt gewesen, oder in einem Geschäft, oder...« Andreas unterbrach ihn freundlich lächelnd:
»Nun beruhigt euch mal wieder! Wir waren nirgendwo und schon gar nicht auf einem Markt. Was ihr
hier seht, stellt Väterchen Balmer selbst her. Der braucht keinen Markt, oder ein..., wie hieß das gleich...?«
Damit war für ihn das Thema beendet.
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Andreas kramte demonstrativ seine Pfeife hervor und tat, als suche er verzweifelt nach Tabak. So ein
Schlitzohr! Es war glasklar, was er wollte! Seine Ohren bekamen augenblicklich Besuch, als Basti seinen
Tabakbeutel neben ihm auf die Bank legte. Er stopfte seine Pfeife sehr großzügig und fuhr paffend fort:
»Also..., wie die meisten hier..., Väterchen Balmer ist Selbstversorger... Macht sogar seine
Gebrauchsgegenstände selbst...« Wie zum Hinweis nickte er zu Sebastians Krücken hinüber. »...Und das gar
nicht mal so schlecht, was?«
»Ja, aber ich habe überhaupt keine Vorräte in seiner Hütte gefunden. Da gibt’s ja nicht mal ein Stück
Brot! Wo hat der das ganze Zeug?«
»Felsenbären, mein Bester..., Felsenbären!« Der Doktor paffte die Worte hinter zwei dicken
Rauchwolken her.
»Was zum Kuckuck haben Felsenbären damit zu tun, fangt ihr schon wieder mit euren Räubergeschichten an?«,
fragte Basti ungeduldig.
Andreas legte ihm seine Hand auf den Arm. »Felsenbären...«, Paffwolke. »...Die würden ihm auf den
Pelz rücken, wenn er das ganze Zeug hier in der Hütte hätte...« Doppelte Paffwolke.
Eingehüllt in Paffwolken aus Sebastians Tabakbeutel hakte dieser nach: »Er muss sie ja nicht unbedingt
hereinbitten, oder?«
Der Doktor sah ihn an und begann überlegen zu grinsen: »Sicher..., nur..., Felsenbären lassen sich nicht
einladen, oder ausladen..., oder gar aussperren... Kommen und gehen, diese Biester, wann es ihnen beliebt, ob
uns das nun passt, oder nicht!«
Als Sebastian ihn nur ungläubig ansah, erklärte er weiter: »Die haben unten in den Dörfern schon
massive Holzhäuser aufgebrochen..., hat nur eine Fleischsuppe gewittert, das Vieh und stand schon in der
Stube... Die fackeln nicht lange..., die kommen..., wer ihnen im Wege steht..., hat ein Problem!«
»Und wie viele von diesen Viechern gibt es hier oben?«, wollte Lauknitz wissen.
Andreas paffte nachdenklich vor sich hin. Dann hob er unwissend die Schultern: »Väterchen Balmer meint, es
sind zwei Jungbären, die von den Bergen der schlafenden Sonne herübergekommen sind. Manchmal findet er
ihre Spuren und sie haben ihm ein Schaf, oder eine Kuh gerissen. Dann scheinen sie wieder für einen halben
Sommer lang wie von Volossodas Erde verschluckt.«
»Kann man die Viecher nicht zur Strecke bringen?«, fragte Sebastian.
Der Doktor dampfte genüsslich weiter: »Sie töten...? Sicher..., geht schon..., aber kriegen muss man die erstmal!
...Balmer hat schon ein paar Mal die Jäger kommen lassen, nachdem ihm sein Vieh gerissen wurde..., nur außer
Spuren hatten die nie etwas gefunden.«
Na das waren ja tolle Aussichten... Da machte Sebastian Zwangsurlaub in einem abgelegenen
Höhenluftkurort, der das herrlichste Panorama bot, aber auf der anderen Seite mit tausend Gefahren drohte.
»Und wo...«, begann Basti von neuem, »...hat nun Balmer seine Vorräte gebunkert?«
Andreas wies mit seinem Daumen hinter die Hütte. »In seiner Festung auf der Hochalm...«, er blies neue
Tabakwolken in die abendliche Luft, »...wo tagsüber sein Vieh weidet. Ist’n mächtiger Bau, seine
Vorratskammer, da kommt nicht einmal ein Felsenbär dran, werdet’s noch kennen lernen, denke ich.«
Balmer deckte den Tisch. Frisches Brot, Käse, Schinken und Milch. Und... Mestas! Die Felsenbären
schienen sich bei diesem Anblick aus des Doktors Geist verabschiedet zu haben. Doch aus Sebastians noch lange
nicht.
»Was machen wir eigentlich, wenn es einem dieser ach so seltenen Felsenbären einfällt, sich
ausgerechnet für heute Abend unangemeldet zum Abendessen einzuladen?«, fragte er und sah Andreas
herausfordernd an.
»Feuer...«, sprach Falméras Medicus nachdenklich, »...die Biester mögen kein Feuer! Außerdem würde
Rona ihn rechtzeitig wittern und Laut geben. Wir hätten genügend Zeit, auf das Hüttendach zu klettern. Wenn es
denen zu umständlich wird, um an ihr Futter zu kommen, geben sie meist auf und trollen sich.«
»Na, euer Wort in des Schicksals Gehörgang«, antwortete Basti und fügte sarkastisch hinzu: »Dann will
ich mal hoffen, dass ihr nach dem Mestas noch dazu in der Lage seid, ein Dach zu erklimmen. Gestern sah das
wohl eher etwas anders aus, was?«
Andreas zog eine Grimasse. Er hielt den Gedanken anscheinend für überflüssig. Dabei beließ es
Sebastian. Etwas bereitete ihm jedoch Kopfzerbrechen: Gore, Felsenbären, Eishunde und irgendwelche wilden
Horden... Und der Doktor spazierte wie zum Vergnügen ohne eine Schusswaffe durch die Berge? Auch bei
Balmer hatte er bislang kein Gewehr, oder eine Pistole entdecken können.
»Sagt, Herr Doktor, was haben eure Jäger für eine Bewaffnung? Um solch ein Vieh, wie einen Bären zu
erledigen, braucht man doch sicher ein Gewehr mit ziemlich großem Kaliber, nicht wahr?« Er wusste nicht,
welche Antwort er auf seine Frage erwartet hatte, doch ganz sicher nicht diese:
»Was ist ein Gewehr?«, fragte Andreas, »Nein, unsere Jäger benutzen eigentlich nur Bogen, oder
Kolbenbogen...«
»Wie jetzt..., gegen Felsenbären mit Pfeil und Bogen?«, unterbrach ihn Sebastian ungläubig.
»Sicher...«, bestätigte er, »...Pfeil und Bogen..., die beste Distanzwaffe..., die Steinschleuder ist zu ungenau...«
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»Sagt, mal, Herr Andreas, Doktor von Falméra..., wollt ihr mich hier verulken? Kein Mensch geht mit
Pfeil und Bogen auf einen Bären los, wir leben doch nicht in der Steinzeit! Dort, wo ich herkomme, hat man für
so etwas großkalibrige Karabiner. Zur Not machen wir so ein Vieh mit einer Panzerfaust platt!«
»Gewehr, Banserwaust, Karabira, so etwas kennen wir hier nicht. Unsere Jäger wissen ihre Waffen sehr
gut zu führen«, sprach er fast schon beleidigt. »Für Felsenbären tauchen sie die Pfeile in ein pflanzliches,
lähmendes Gift, das schaltet ihre Behändigkeit aus und man kann sie mit Steinen erschlagen.«
Sebastian wollte nicht glauben, was er hörte: »Lähmendes Gift...? Lasst mich raten: Mestas!«
Andreas fand seinen Einwurf nicht witzig und sah ihn tadelnd an.
»Das glaubt man doch nicht..., mit Steinen erschlagen...«, sprach Lauknitz mehr zu sich selbst, und
schüttelte verzweifelt den Kopf.
»Ja«, fuhr der Doktor fort, »manchmal werden Felsenbären auch mit lebenden Ködern in Fallgruben
gelockt und dann...«
»Ja, ich weiß..., mit Steinen erschlagen!«, beendete Sebastian den Satz für ihn.
»Richtig, und bisher hatten wir damit immer Erfolg!« Der Trotz in seiner Stimme war nicht zu
überhören.
»Gütiger Himmel, ich bin in der Steinzeit gelandet«, entfuhr es Basti wie eine Offenbarung, an die er natürlich
selbst nicht glaubte. Andreas sah ihn nur seinerseits kopfschüttelnd an. Es war klar, dass sie aus zwei
verschiedenen Welten kamen. Nur, wie wörtlich er das nehmen sollte, war ihm kaum bewusst.
Wieder einmal war er mit diesen Menschen an einem Punkt des Dialogs angelangt, wo er nicht mehr
weiter wusste. Hier stieß er an eine unsichtbare Grenze zwischen ihm und diesem Val Mentiér mit seinem Högi
Balmer, dem Doktor, diesen seltsamen Tieren, die sie hier züchteten und diesen ganzen Bergen ringsum, die ihm
völlig unbekannt waren. Er beschloss, es für heute aufzugeben. Alles weitere Nachbohren würde zu nichts
führen und er wollte sich nicht mit denen herumstreiten, die ihm ihre Gastfreundschaft gewährten.
Statt dessen widmete er sich den aufgetragenen Speisen. Diese waren nicht unbedingt üppig und
vielfältig, aber sie schmeckten ausgezeichnet. Andreas und Väterchen Balmer griffen fast gleichzeitig nach dem
Krug mit Mestas, so dass ihre Hände kollidierten und beinahe den Krug umrissen.
Sebastian grinste in die Runde: »Na, wenn Felsenbären ebenso auf das Zeug stehen, dann kann das hier
ja alles noch ganz schön spaßig werden...«
Andreas fand die Bemerkung weniger lustig. Er zog ein säuerliches Gesicht. Balmer hingegen klatschte
sich freudig auf den Schenkel und grunzte zufrieden. Gleichzeitig goss er sich und dem Doktor eine gut
gemeinte Portion Mestas ein. Beide prosteten sich zu und waren der einhelligen Meinung, wieder einmal einen
Gor in die Flucht geschlagen zu haben. Dass es ja eigentlich Rona und Reno gewesen waren, sowie Bastis
Steinbombardement, das dieser Kreatur den Appetit verdorben hatte, interessierte zu dieser Stunde niemanden
mehr. Tunlichst verkniff er sich einen Hinweis auf die Tatsache, dass die Herren Mestas- Jünger ja erst auf der
Bildfläche erschienen waren, als der Kampf bereits vorüber war.
Zu seiner Beruhigung stellte Sebastian fest, dass Balmer und dem Doktor ein alkoholischer Absturz an
diesem Abend erspart blieb. Der Krug war rasch geleert und der Alte kam nicht auf die Idee ihn erneut
aufzufüllen. Dennoch wurde es nach Bastis Gefühl ziemlich spät, bis sie sich in der muffigen Hütte zur Ruhe
legten. Väterchen Balmer bettete sich auf seine Felle am Boden, Andreas belegte Balmers Bett und Sebastian
schlief auf seinem neuen Lager.
Der Morgen begrüßte sie wiederum mit bombigem Hochsommerwetter. Keine Wolke, kein Tau. Dafür
duftete die ganze Umgebung bereits zum Sonnenaufgang nach Heu, Wald und Blumen. Ein warmer Dunst lag
über der Welt, wie ein betörender, die Sinne berauschender Dampf. Basti kannte so etwas aus dem Wallis und
dem Allgäu. Waldrausch nannten es die Bergbewohner. Alles Lebende, Mensch wie Tier wurde nervös,
sentimental, oder hitzig, und das Liebesleben in den Bergen steigerte sich zur Ekstase. Waldrausch! Schwerer
Blütenstaub, feuchtwarme Luft, Sonne und jede menge Mücken! Außer den kleinen Blutsaugern, die wohl diese
Höhe mieden, bot Högi Balmers Alm das komplette Programm.
An diesem Morgen fühlte sich Sebastian wie neu geboren. Ein eigenartiges Gefühl durchzog ihn. Er
fühlte sich stark genug für neue Taten, gleichzeitig schwer genug, um nur diesen Tag mit seinen Blumenwiesen
zu genießen. Er mochte hinunterstürmen ins Tal, im nächsten Moment jedoch lieber vor der Hütte sitzen und die
Stunden verträumen, als wäre er hier oben bereits zu Hause. Er war froh und Melancholisch. In seinem Körper
inszenierte sich ein Wechselbad der Empfindungen. Schwerelos Dahinschreiten in der süßen Leichtigkeit des
Raums... Es hatte ihn erwischt. Waldrausch!
»Wir werden Regen haben...« Väterchen Balmer war hinter ihm aus der Hütte getreten. Verwundert sah
Sebastian ihn an. Högi bemerkte seinen Blick und sinnierte nachdrücklich: »Es wird bald sehr viel regnen... Das
Wasser wird wie eine Lawine den Berg hinabrauschen, wartet’s nur ab!«
Sebastian wusste zwar, dass der Alte viel Blödsinn erzählte, jedoch hing an seinen Hirngespinsten
immer ein kleines Gramm Wahrheit. Aber gerade dieses kleine Gramm machte ihm Sorgen. Wie bei Balmer ein
kleines Gramm aussehen konnte, hatte der vorherige Tag gezeigt.
Auf den Fellen an der Hüttenwand regte sich Reno. Er versuchte mit der Hinterhand hoch zu kommen,
sackte jedoch wieder auf sein Lager zurück. Rona stand schwanzwedelnd und erwartungsvoll daneben. Zur
Begrüßung kraulte Basti beiden den Hals und drückte Reno wieder auf sein Lager zurück. Er sprach ihm gut zu,
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er sollte liegen bleiben und hatte das Gefühl, dass dieser ihn verstand. Dann begutachtete er die von Andreas
genähte Wunde. Sie war frisch verschorft und sah nicht entzündet aus. Anschließend griff er sich Balmers
Wassereimer und seine Krücken. Der Bach war nicht weit und die Hunde brauchten Wasser! Rona konnte selbst
nach Wasser suchen, doch Reno musste erst einmal versorgt werden.
Leise pfiff Sebastian durch die Zähne, um Rona zum Mitkommen zu bewegen. Doch sie wich nicht von
Renos Seite. Er vermutete, dass sie eher verdursten würde, als ihren Reno allein zu lassen.
Als er wenig später zwei Tonschalen vor Reno und Rona aufstellte und diese mit frischem Wasser
befüllte, erwachten beide zu neuem Leben. Reno drehte sich, dass seine Pfoten rechts und links der Schale
ruhten und schleckte das Kühle Nass mit lautem Geräusch in sich hinein, als wäre er beinahe ausgetrocknet.
Rona erfreute sich ebenfalls am klaren Bergwasser. Als sie genug gesoffen hatte, sahen sie Lauknitz mit
dankbaren, treuen Augen an.
»Habt zwei neue Freunde gefunden, denke ich«, bemerkte Balmer, indem er sein Tragegestell schnürte.
»Tja, sieht wohl ganz so aus, was?«, gab Basti lachend zurück. Seine Angst, Högi könnte vielleicht eifersüchtig
werden, war völlig unbegründet. Er freute sich wie ein Kind, dass seine beiden Hunde dem Gast ihre Sympathie
entgegenbrachten. Das spornte Sebastian natürlich noch mehr an, sich um sie zu kümmern.
Verschlafen und taumelnd, wie ein Volltrunkener erschien nun auch Andreas auf der Bildfläche. Er
reckte seine Glieder der Sonne entgegen und kratzte sich wild die unordentlichen Haare. »Ich habe wohl
geschlafen, wie ein Toter...«, brachte er stöhnend hervor.
»Ja«, bestätigte Sebastian, »...und geschnarcht, wie ein Lebendiger...«
Andreas lachte aus vollem Hals, als wäre ihm ein besonderer Streich gelungen: »Ja, das höre ich nicht zum
ersten Mal!« Er nahm die hölzerne Kelle, die neben vielen anderen Dingen an der Hauswand hing, schöpfte sich
Wasser aus dem Eimer und sog sich gierig den Mund voll, um es gleich wieder auszuspucken. Die zweite Kelle
voll Wasser trank er in einem Zug leer.
Anschließend ließ er seinen Blick über die Berge schweifen, nickte nachdenklich und sprach mehr zu
sich selbst:
»Na, dann will ich mal aufbrechen. Ist schon recht spät. Mag nicht im Dunkeln auf dem Weg herumstolpern.«
Balmer hielt in seiner Tätigkeit inne, prüfte ebenfalls die Landschaft und den Himmel und sah dann
Andreas an:
»Ihr tut recht daran, euch zu eilen, wollt doch nicht zu Tal schwimmen, wie?« Dabei ließ er sein meckerndes
Lachen erklingen.
Es sah absolut nicht nach Regen aus, doch wer wusste schon, ob der Alte nicht doch Recht behalten
würde, schließlich kannte er sich in seinen Bergen aus.
Balmer schnürte dem Doktor noch ein Bündel aus Kräutern und legte ihm noch die Reste des
Abendessens dazu. Andreas sah noch einmal nach Reno, lud sich dann seine Tasche um, nahm seinen Proviant
von Balmer entgegen und behängte seinen Gürtel noch mit einer Kürbisflasche voll Wasser. Zum Abschied
umarmten sich beide. Zuletzt wandte sich der Doktor Sebastian zu. Er reichte ihm die Hand und ermahnte ihn
noch einmal ausdrücklich, stets Väterchen Balmers Anweisungen zu folgen. Natürlich nur zu Bastis eigener
Sicherheit!
Ohne sich noch einmal umzuschauen, marschierte er los, die Hangwiese abwärts. Bevor er hinter dem
Blumenteppich verschwand, hob er noch einmal die Hand zum Gruß. Plötzlich war Sebastian wieder mit dem
Alten und seinen Hunden allein und augenblicklich spürte er diese Leere, die Andreas in ihrer Mitte hinterließ.
Balmer war nun ebenfalls Aufbruchbereit und stapfte bergwärts, seinem Alpvieh entgegen. Basti rief
ihm noch nach, dass er an einem der nächsten Tage mit ihm gehen wollte.
»Ist schon recht..., tut das..., wird schon recht sein, aber kommt erst einmal zu Kräften!« Ohne seinen
Aufstieg zu unterbrechen, warf er ihm die Worte über seine Schulter zu und wackelte davon.
Sebastian setzte sich zu Rona und Reno, streichelte den beiden abwechselnd das Fell und dachte
darüber nach, was er hier wohl noch alles erleben würde.
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Geheimnisvolle Entdeckungen
Ungefähr drei Wochen nach dem Besuch des Doktors begannen jene Ereignisse, die Sebastian Lauknitz
schließlich daran zweifeln ließen, dass er jemals wieder in sein wohl bekanntes, bequemes und zivilisiertes
Leben würde zurückkehren können...
Der Tag, an dem Andreas sie verließ und der Alte sich wortkarg seiner Herde zuwandte, gestaltete sich
träge. Sebastian döste mit Rona und Reno untätig in der Sonne, holte ab und zu Wasser, durchforstete Balmers
Hütte nach etwas Essbarem und teilte sich schließlich mit den Hunden drei letzte Streifen von Balmers
Trockenfleisch. Irgendwann um die Mittagszeit kam er auf den Gedanken, Tagebuch zu führen. Schon früher
schrieb er die Erlebnisse seiner Bergtouren in kleine Chinakladden. Jetzt wollte er ausführlich Tagebuch führen,
um bei seiner Rettung einen vollständigen Bericht abgeben zu können. Das in bunte Seide gebundene Büchlein
aus seinem Rucksack beherbergte noch unzählige unbeschriebene Blätter, die gefüllt werden wollten. So begann
Sebastian seine Aufzeichnungen. Zwischendurch sprach er mit den beiden Hunden, als wären sie
verständnisvolle Zuhörer gewesen. Sie sahen ihn mit treuem Blick an und spitzten die Ohren, jedes Mal, wenn er
das Wort an sie richtete. Er glaubte, sie spürten die Freundschaft, die er ihnen entgegenbrachte.
Gegen Abend kam Balmer wie gewohnt mit seiner Herde von der Hochalm. Sie verzehrten zusammen
die Köstlichkeiten, die er wie gewohnt, seinem Tragegestell entzauberte. Inzwischen zogen von den nördlichen
Bergen mächtige, grauviolette Wolkenbänke heran. Allmählich wurde Basti bewusst, dass die Prophezeihung
des Väterchens keineswegs nur leeres Geschwätz waren. Da braute sich mächtig etwas zusammen!
Es verging keine Stunde, schon kam Wind auf, der sich von Minute zu Minute steigerte und die Bäume
am Waldrand ordentlich durchschüttelte. Gelbe Schwaden von Blütenstaub zogen eilig über die Almwiese und
flohen wirbelnd den Gletschern entgegen. Über den Bergen im Norden hing bald eine violettschwarze Kulisse.
Die im letzten Sonnenschein davor stehenden, leuchtenden Gipfel strahlten in unnatürlich reinem Weiß. Schon
hüllten erste Wolken die hohen Flanken ein. Bald war auch der letzte Berg mit dem herannahenden Wetter zu
einem dichten Grau verschmolzen. Blitze zuckten in dem entfernten Gebräu und ließen die Wolken plastisch
hervortreten und gespenstisch leuchten.
Auch über Balmers Hausbergen zog nun das Wetter seinen ganzen Unmut zusammen. Die gleißenden
Schneefelder verdunkelten sich, gaben schwarzen Wolken nach, die erst die Gletscher, dann den Bannwald
eroberten. Immer heftiger fegte der Wind durch die engen Reihen der Arven und Fichten, dass diese sich bis zu
ihrer halben Höhe hernieder beugten.
Väterchen Balmer begann alle losen Teile an der Hüttenwand in das Innere seiner Behausung zu
verfrachten. Dann trug er Reno in die Hütte. Rona folgte ihm, wie ein Magnet. Selbst den groben, schäbigen
Tisch drehte Balmer um und beschwerte ihn mit Steinen. Sebastian fragte sich, ob das nicht doch ein wenig
übertrieben war. Als alles gesichert schien, setzte sich Balmer zu ihm auf die Bank und sie warteten auf das
Wetter.
Ihre Geduld wurde nicht lange auf die Folter gespannt. Zuerst waren es eine Reihe kurz aufeinander
folgender Blitze, die bedenklich nahe in den Wald einschlugen und Sebastian zusammenzucken ließen. Kurz
darauf folgte ein Donnern und Krachen, als würde ein Schlachtschiff all seine Geschütze auf einmal abfeuern.
Das Echo hallte von den Bergwänden wieder und verstärkte noch den Effekt. Erneut zischten Blitze kreuz und
quer durch das Wolkengebräu, gefolgt vom Paukenschlag ihrer dramatischen Begleitmusik.
Dann öffnete der Himmel all seine Schleusen. Wie das Wasser einer überschwappenden
Brandungswelle rauschte von einer Sekunde zur anderen ein Platzregen auf die Alm, der den Eingeschlossenen
augenblicklich jegliche Sicht nahm. Ihnen blieb nur noch die Flucht in die schützende Hütte. Drinnen öffnete
Lauknitz den Fensterladen einen Spalt, um hinaus zu sehen. Doch außer einer grauen, rauschenden Wand konnte
er nichts entdecken.
Vater Balmer entzündete zwei Öllampen aus Blech. Sofort verbreitete sich ein warmes, flackerndes
Licht. Sie setzten sich auf die kleine Holzbank vor dem gemauerten Ofen und warteten. Reno lag mit seiner
treuen Freundin daneben. Außer zum Schlafengehen hatte Basti die Hütte kaum länger als eine Minute lang
betreten. In diesem Moment kam sie ihm größer und geräumiger vor, als anfangs angenommen.
Wie stumme Geister standen die verschiedensten Werkzeuge und Geräte in den Ecken und warfen
durch das Licht der Lampen Schatten, wie tanzende Gespenster. Ebenso fanden sich Gebrauchsgegenstände an
den Wänden, oder als Unterlast an der Hüttendecke, wo sie sich mit einigen getrockneten Lebensmitteln und
Kräutern die mächtigen Balken teilten. Sebastian befragte Väterchen Balmer nach Gebrauch und Handhabung
aller Gegenstände und der wurde nicht müde, ihm jedes einzelne zu erklären.
Da gab es beispielsweise zwei aneinander fixierte, krumme Knüppel mit einer Eisenspitze am
gemeinsamen Ende, welche er als Pflug benutzte. Eine Art Brettersteg mit einseitig hochgezogenen Unterlatten
entpuppten sich als ein brauchbarer Schlitten. Ein grober, einfacher Rahmen, aus dessen Hölzern fast zwanzig
Zentimeter lange Holzkrallen ragten, diente Balmer als Transportschlitten für Heu. Und neben vielen anderen,
durchaus nützlichen Dingen hing an der Wand ein altes verrostetes Schwert. Es war eines jener Schwerter, die
Basti oft im Fernsehen in Ritterfilmen bewundern konnte, nicht sehr groß, jedoch ziemlich schwer, so dass
berechtigte Zweifel daran aufkommen mussten, ob sein Träger ein normalwüchsiger Mann gewesen war.
Noch bevor er Väterchen Balmer über diese historische Waffe befragen konnte, entstand plötzlich
draußen ein Poltern, Krachen und Rumoren. Die Erde begann leicht zu beben und lies einige kleine Gegenstände
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aus den Regalen zu Boden scheppern. Augenblicklich stand Rona mit gespitzten Ohren im Raum und auch Reno
hob angespannt seinen Kopf. Dann drang ein von Sekunde zu Sekunde stärker werdendes Rauschen an ihr Ohr,
das sich zum Orkan steigerte.
Fragend sah Basti den Alten an. Der beugte sich vor und sprach beinahe feierlich: »Das Wasser
kommt!«
»Wie, das Wasser kommt...?«, fragte Lauknitz kopfschüttelnd. »Meint ihr eine Lawine, oder Mure, oder was
kommt da?«
Ängstlich, ja fast schon ehrfürchtig schlug Vater Balmer die Handflächen aneinander, wippte mit dem
Oberkörper vor und zurück und sprach: »Es ist das Wasser von den Bergen, Herr... Manchmal nimmt das Wasser
etwas von dem mit, was Väterchen Balmer den Bergen genommen hat. Die Götter in den Bergen senden uns den
gelben Hauch der Leidenschaften, aber sie fordern auch. Vor zwei Jahren haben sie Högi Balmer zwanzig Stück
Vieh genommen!«
An irgendwelche Götter glaubte Sebastian natürlich nicht. Also konnte es sich allenfalls um einen
Sturzbach handeln, der durch den heftigen Regen ausgelöst wurde. Dazu hatte wohl der milde Wind mehr als
üblich Gletschereis zum abschmelzen gebracht, dessen Wasser rasch die Bäche füllte.
Das wollte er genau wissen. Mit seinen Krücken humpelte er zur Tür. Er musste sich geradezu dagegen
stemmen, um sie aufzudrücken, so gewaltig lag der Wind darauf. Unverhofft sprangen ihm Sturm und Regen ins
Gesicht. Ein unheimliches, ohrenbetäubendes Rauschen klang drüben von der Almwiese herüber. Doch so sehr
sich seine Augen auch bemühten, das Grau der Regenwand zu durchdringen, er konnte nichts erkennen.
Entschlossen humpelte er in die Hütte zurück und durchkramte seinen Rucksack nach dem
Regenponcho. Er warf ihn sich über die Schultern und band die Kapuze zu. Als der Alte dies sah, sprang er von
seiner Bank auf und hielt ihn am Arm fest:
»Ihr dürft dort nicht hinaus, Herr, das Wasser wird euch mit fortnehmen bis hinunter in das Meer! Hört
auf Väterchen Balmer, Herr, bleibt..., so hört doch, es ist gefährlich dort draußen!«
»Ja, ist ja gut«, versuchte Sebastian ihn zu beruhigen, »ich will ja nur mal nachsehen, dass uns das
Wasser nicht bedroht, OK?«
Aber Balmer ließ nicht locker: »In Högi Balmers Hütte seid ihr sicher, Herr, glaubt eurem Väterchen..., bitte...,
bleibt, hier drinnen seid ihr sicher!«
»Ich gehe nur ein kleines Stückchen... Will mal nachsehen..., nur ein paar Schritte!« Damit ließ Basti
den Alten in der Hütte zurück und stapfte hinaus. Sofort wurde er wie von einer unsichtbaren Faust gepackt. Der
Sturm griff in seinen Regenponcho und drohte ihn augenblicklich aus dem Stand zu werfen. Mit aller Kraft und
der Hilfe seiner Krücken stemmte er sich dagegen. Mühsam schob sich Sebastian auf die Almwiese hinaus, dem
Getöse entgegen.
Plötzlich, wie hergezaubert, war der Alte neben ihm. Er griff ihm unter die Arme und sie drückten sich
gemeinsam gegen den heftigen Sturm vorwärts. Schnee und Regen peitschte ihnen ins Gesicht und riss Basti fast
die Kapuze vom Kopf. Sein Regenponcho wurde zur reinen Dekoration. Die Windböen griffen hinein und
schleuderten ihm den nassen Gummistoff um die Ohren und vor das Gesicht, dass ihm Hören und Sehen
verging. Im Nu war er trotz des Umhangs völlig durchnässt.
Sie stapften über die Almwiese hinauf, dem Waldrand entgegen, mit zusammengekniffenen Augen und
der Hand vor Nase und Mund, um überhaupt atmen zu können. Jäh tauchte ein großer Schatten im Wettergebräu
vor ihnen auf und wuchs hoch über ihre Köpfe. Zunächst glaubte Lauknitz an einen mächtigen Felsen, der sich
oben über dem Bannwald in der Felswand gelöst hatte. Doch als er ihn berührte, zog er rasch seine Hand zurück!
Es war Eis!
Vor ihnen lag ein riesiger Eisblock, wie ein zweistöckiges Haus, so groß! Wo kam der her? Basti blickte
bergwärts, doch das war sinnlos. Keine zwei Meter weit konnte er in diesem Höllenwetter sehen. Das Ding
konnte nur von den Gletschern oben stammen! Er malte sich im Geiste aus, was es bedeutete, wenn hier unten
schon so ein riesiger Eisblock von den Gletschern lag, die er bisher nur in weiter Höhe herabblinken sah. Hier
waren offenbar größere Naturgewalten am Werk, als er es sich vorstellen konnte.
Plötzlich, wie zur Bestätigung standen sie abrupt vor einem Abgrund! Aus dem Nichts tauchte er auf!
Die Almwiese endete einfach und zu ihren Füßen schäumten und wirbelten schmutziggraue Wassermassen in
der Tiefe. Balmer konnte ihn gerade noch zurückreißen, als der weiche Almboden unter ihren Füßen nachgab
und in die unbändigen Fluten stürzte. Dort unten wurden Eisblöcke und ganze Baumstämme zu Tal
geschwemmt. Eine gewaltige Schlucht hatte das Wasser in den Almboden gegraben. In ihr wälzte sich der Schutt
der Berge zu Tal!
Sebastian hatte genug gesehen! »Ihr braucht euch nicht zu ängstigen, Väterchen Balmer, der ganze Mist
geht hier durch und an der Hütte vorbei!«, brüllte er den Alten durch den Sturm hindurch an. Balmer nickte nur
und zog ihn vom Abgrund weg, zurück in Richtung Hütte.
Pitschnass, aber dankbar schlossen sie wenig später die Hüttentür hinter sich. Die Stille, die sie mit
einem Mal umgab, schien Sebastian mehr in den Ohren zu dröhnen, als das Wetter draußen. Freudig wurden sie
von Rona und Reno begrüßt, obwohl sie ja nur einige Minuten fort waren.
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Noch einen ganzen Tag lang tobte das Wetter. Einige Male hörten sie es noch fürchterlich Rumpeln und
Lauknitz glaubte, der Erdrutsch würde die ganze Alm mitsamt der Hütte den Berg hinabspülen. Doch Väterchen
Balmers Heimstatt blieb stehen.
Dann beruhigte sich der Himmel. Am Morgen beschlossen sie gemeinsam zum See hinauf zu steigen,
um festzustellen, welchen Flurschaden das Unwetter dort oben angerichtet hatte.
Auf dem Weg dorthin dachte Sebastian darüber nach, welche Gebirgsregion dieser Erde von solch
schlimmen Wettern überzogen wurde. Solche heftigen Regenfälle waren ihm nur aus Südamerika und Asien
bekannt. Dort sprach jedoch kein Volk Deutsch mit Schweizer Akzent! Also blieb die Frage zur Bestimmung
seines Aufenthaltsortes weiter ungeklärt.
Als sie den See erreichten, bot sich ihnen ein völlig unbekanntes Bild. Der See war auf das Doppelte
seiner ursprünglichen Größe angeschwollen und erreichte mit seinem Ufer beinahe das kleine Toilettenhäuschen.
In seinem Wasser trieben mächtige Eisblöcke umher. Sie glitzerten im Licht wie riesige Diamanten. Der Abfluss
des Sees hatte den natürlichen Wall des Almbodens durchbrochen und gigantische Felsblöcke freigelegt.
Zwischen ihnen hindurch gurgelte nun das Wasser zu Tal. Vor den Felsen stapelte sich gebrochenes und
ausgerissenes Baumholz in Massen.
Väterchen Balmer patschte sich freudig auf seinen Schenkel, als er das viele Holz sah: »Seht, Herr, seht
doch, wie viel Bauholz die Götter dem alten Balmer geschenkt haben...! Gibt viel Arbeit, Herr, viel Arbeit, das
alles. Muss nur alles trocken gelegt werden..., viel Arbeit.«
Mit einem Blick in die Runde versuchte Basti zu klären, welch guter Geist Balmer diese viele Arbeit
beschert hatte. Es war wohl der Gott der Zerstörung. Denn oben an der Felskante über dem Bannwald erkannte
er einen riesigen Einschnitt, der vorher noch nicht da gewesen war. Ebenso hatte sich das Bachbett unten an der
Felsinsel am See verbreitert und war tiefer geworden. Es schien jedoch nicht mehr Wasser zu führen, als zuvor.
Die Felsinsel, in der Lauknitz seinen Goldschatz verborgen hatte, stand unversehrt über dem Chaos.
Eine unvorstellbare Lawine aus Eistrümmern, Felsblöcken, Schlamm, Wasser und gerodeten Bäumen
musste sich bei dem Unwetter hier durch und an seinem Versteck vorbei gewälzt haben. Sebastian hielt es für ein
blankes Wunder, dass Högi Balmers Hütte davon verschont geblieben war. Von Balmers Vieh indes war nichts
zu sehen. Wahrscheinlich hatte die Herde irgendwo Schutz gesucht.
»Väterchen Balmer wird nun nach seinem Vieh sehen.« Aha, er wusste also, wohin sich seine Tiere
verkrochen, wenn es ungemütlich wurde.
»Nun, dann werde ich Väterchen Balmer begleiten!«, entschied Basti. Der Alte sah ihn teils
vorwurfsvoll, teils verständnislos an, sagte aber nichts. Vielleicht war es ihm sogar recht, dass Basti mit ihm
ging, konnte er auf diese Weise doch sicher sein, dass er sich nicht selbstständig in der Gegend herumtrieb.
Sie zogen los, zunächst am See entlang, zu der Stelle, an der die aufgetürmten Felsen das Wasser ins
Tal entließen. Hier wurde ihm das ganze Ausmaß des Unwetters bewusst. Talwärts hatte sich hier eine
ungeheuerliche Schlucht in den Almboden gefressen, in deren Tiefe nun friedlich ein kleines Bächlein murmelte.
Dass an dieser Stelle noch vor ein paar Stunden tosende Wassermassen ins Tal stürzten, konnte man kaum
vermuten. Bei diesem Anblick hoffte Sebastian nur, dass sich Falméras Medicus rechtzeitig in Sicherheit
gebracht hatte. Welche Zerstörungen das Wetter im Tal angerichtet hatte, konnte er angesichts solcher Urgewalt
nur erahnen.
Nahe am See überquerten sie den neu ausgewaschenen Bachlauf. Mit seinen Krücken gelangte Basti
sicherer hinüber, als der Alte mit seinem Almstab. Am Ende des Sees fanden sie den Kadaver einer Kuh.
»Elsa...«, sprach Balmer leise seufzend, »...war trächtig, die Gute, hätte ein schönes Kälbchen
geworfen..., ein schönes Kälbchen..., ja.«
Dass er jedes einzelne Viehzeug mit Namen kannte, wunderte Lauknitz schon nicht mehr. Viel zu lange
lebte er offenbar schon mit seinen Tieren hier oben in der Abgeschiedenheit. Allmählich jedoch begann
Sebastian diesen alten Kauz zu verstehen. Vielleicht hatte er viel Schlimmes erlebt, bevor er sich hier oben von
allem gesellschaftlichen Leben zurückgezogen hatte.
»Sagt einmal, Väterchen, wart ihr niemals verheiratet?«, fragte ihn Sebastian neugierig.
»Was ist das..., ver-hei-ra-tet?«, entgegnete Högi verwundert. Augenblicklich wusste Lauknitz, dass er sich
wieder an diesem Punkt befand, wo die Verständigung schwierig oder gar unmöglich wurde. Diesmal jedoch
wollte er nicht aufgeben!
»Nun, verheiratet heißt, dass ein Mann und eine Frau, die sich sehr gern haben, ihr Leben miteinander
teilen, zusammen leben, Kinder haben und großziehen. Das heißt, dass sie sich zusammen an der Blütenpracht
des Frühlings erfreuen und gemeinsam gegen Unwetter kämpfen und dass sie sich ihrer Kinder erfreuen.
Verheiratet heißt...«
Der Alte legte ihm seine Hand auf den Arm: »Ja, ja..., Väterchen Balmer weiß schon, was ver-hei-ra-tet
bedeutet!«
Daraufhin schwieg er eine ganze Weile. Basti ließ ihn. Er würde ihm davon erzählen, wenn er bereit dazu war.
Ihn zu drängen, wäre nicht nur sehr unhöflich gewesen, es hätte wahrscheinlich auch nichts genützt.
Sie erreichten den westlichen Waldrand, von dem aus eine große Schneise weiter bergwärts anstieg. Der
Sturm hatte ziemlichen Raubbau an den Arven und Fichten betrieben. Das gab eine riesige Menge Nutzholz! Nur
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wer sollte das aus dem Wald holen, lagern und bearbeiten? Väterchen Balmer kaum! Der schaffte es ja gerade
noch, sich um sein Vieh zu kümmern.
Durch nasses Gras stiegen sie weiter die Schneise hinauf und Sebastian fiel auf, dass der Boden hier wie
von einem großen Wildwechsel ausgetreten war. Eine breite Spur zog sich zwischen den Bannwäldern hinauf.
Über ansteigendes Gelände folgten sie ihr. An dieser Stelle hatte Lauknitz am Morgen des Gor- Angriffs die
Wildherde beobachtet. Er sah kurz zurück und war erstaunt, welche Höhe sie bereits erreicht hatten. Wie ein
kleiner, blauer Fleck lag der See unter ihnen, eingebettet in die grüne Alpweide.
»Schön war sie...«, begann der Alte zu reden, »...schön, wie die Königin der Elsiren... Sie war die
Schönste im Dorf, meine Marienka..., die kleinste der Trogler- Töchter...« Er machte eine Pause, aber Sebastian
unterbrach ihn nicht. Nach einer Weile fuhr er fort:
»...Auf dem Markt traf ich sie zum ersten Mal... Wie die aufgehende Sonne..., so schön. Goldene Haare
hatte sie..., wie reine Tränen der Götter... War ein lustiges, fröhliches Ding... Wie ein Herz..., wir waren wie ein
Herz...«
Wie ein Herz! Schöner hätte Basti Liebe auch nicht beschreiben können! Er sah Balmer an und
bemerkte kleine Tränen auf seinen runzligen Wangen. Seine Gedanken schienen sich in seiner Vergangenheit zu
verlieren.
»Ja, Herr, ich war einmal verbunden..., ver-hei-ra-tet! ...Ein schönes Fest war das. Das halbe Tal kam,
um sich mit uns zu freuen, um mit uns zu feiern... Viele Menschenkinder und alle waren frohen Sinnes, ...sie
sangen, tanzten... Wir waren ein Herz...«
Einige Zeit stiegen sie schweigend nebeneinander her. Sebastian spürte, dass Väterchen Balmer noch
mehr im Herzen trug, dass seine Geschichte noch lange nicht zu Ende war. Sollte der Rest so persönlich gewesen
sein, dass er ihn für sich behalten wollte? Oder wusste er nicht, wie er sich ausdrücken sollte?
Balmer hielt plötzlich an und stützte sich schwer auf seinen Almstab. Seine Augen waren feucht.
Traurig sah er Sebastian an:
»Niemals wieder..., Vater Balmer wollte niemals wieder darüber sprechen...«, begann er. »...Wir waren
ein Herz... Wir lebten in einem kleinen Haus im Dorf Mittelau..., nicht lange... Aber wir waren ein Herz...«
Der Alte nickte schwer, ging weiter, nur drei Schritte, dann blieb er wieder stehen. Er begann zu zittern,
stützte sich auf seinen Stab und lies sich ächzend ins noch feuchte Almgras sinken. Dann sprach er mit einer
gezwungenen Festigkeit in seiner Stimme, die Basti erschreckte:
»Wir waren ein Herz... Und dann kam Torbuk... Er war noch jung..., genau wie ich..., aber schon so
böse, wie er noch heute ist... Er kam mit seinen wilden Horden ins Dorf geritten. Haben alles geplündert, was
nicht verborgen lag. Er riss Marienka aus Balmers Garten direkt auf sein Pferd. Väterchen Balmer konnte nichts
tun..., überall waren Krieger mit Lanzen..., überall schreiende Menschen..., alles ging in Flammen auf..., konnte
nichts tun. Sie zogen ab und Väterchen Balmer hörte seine Marienka rufen... Sie rief Högi Balmers Namen, aber
Högi Balmer konnte nichts tun. Wir waren ein Herz..., Marienka ruft noch immer nach Balmer... Vater Balmer
hört sie jede Nacht..., immer wieder..., jede Nacht.«
»Habt ihr sie nicht befreien können?«, fragte Sebastian den Alten vorsichtig.
»Quaronas..., die Burg von Quaronas..., kein Menschenwesen kommt da hinein, wenn es Torbuk nicht will«,
erzählte Väterchen Balmer weiter. »Zehn Tage später..., Högi Balmer war vor Gram schon tot... Marienka kam
nach zehn Tagen zurück... Sie war auch tot..., ihr Gesicht war tot, ihr Leib war tot, ihre Augen hatten das Leben
verloren. Herr..., sie war ein Geist, glaubt mir..., sie sprach nicht mehr, lachte nicht mehr, sang nicht mehr... Sie
konnte schön singen, Troglers Tochter, glaubt mir, Herr, sie konnte singen, wie ein Vogel in der erwachenden
Sonne. Aber sie sang niemals mehr wieder.«
Balmer wischte sich mit seinem groben, schmutzigen Ärmel über die Augen. Sein Blick war stumm und
seine geröteten Augen sahen in eine weite Ferne. Der Wind spielte mit seinen wenigen verbliebenen Haaren,
doch er bemerkte es nicht. Mit ausdruckslosem Gesicht fuhr er fort:
»Herr..., wir waren ein Herz..., aber es war tot. Neues Leben wuchs in ihrem Leib. Sein Leben!
...Torbuks Leben! So wollte er mächtiger werden, als sein Vater Tramon. Alle Frauen des Landes sollten seine
Zucht in sich tragen. Es war sein Wille... Sie sollten ihm eine ganzes Volk von ergebenen, starken Kriegern
schenken. Alle Frauen..., auch meine Marienka. Viele Frauen waren tot, gute Frauen..., und sie trugen doch
Torbuks Leben in sich... Viele Männer waren tot..., viele verbundene Herzen waren tot... Troglers Tochter wollte
das Leben nicht, das sie in sich trug. Sie wollte es töten... Jäger haben sie am Fuße des großen Fallwassers
gefunden..., sie fand ihren Frieden bei den Göttern der drei Türme...«
Als Balmer geendet hatte, kam Sebastian alles so still vor, dass er meinte, die Felsen flüstern zu hören.
Plötzlich sah diese Alm nicht mehr so schön, bunt und romantisch aus. Noch verstand er nicht die
Zusammenhänge, doch spürte er instinktiv, dass in Balmers Geschichte mehr Wahrheit steckte, als er es
womöglich würde verkraften können. Dazu fühlte er sich völlig verunsichert. Konnte ich dem Alten irgendwie
seine Anteilnahme ausdrücken?
»So hört, Väterchen Balmer«, redete er ihm zu, »versucht eure Marienka so im Herzen zu behalten, wie
am Tag eurer Verbundenheit. Tut so, als sei sie am Felsen verunglückt...«
»So ist das ganze Volk von Volossoda am Felsen verunglückt«, unterbrach Balmer seine Ansprache.
»O, nein! Das Volk dort unten stirbt noch immer..., jeden Tag..., jeden Mond..., über viele Ernten hinweg.«
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Väterchen Balmer sah ihm unverhofft mit festem Blick in die Augen: »Torbuk ist alt, nur noch ein
grausamer Schatten seiner Selbst. Aber Karek, sein Sohn... Er ist das grauenhafte Abbild seines Vaters. Mit
seinen wilden Horden schändet er das Land... Unter seiner Gewalt sterben die Herzen der Menschen..., stirbt das
Volk! Keine Tochter ab sechzehn Sommern ist vor seinen Horden sicher. Viele Kinder sind schon Kareks
Kinder..., viel zu viele sind seine Brut, die weiter keimt, wächst und aufgeht in böser Erde!«
Langsam, wie von einer unsichtbaren Kraft gezogen, stemmte sich der Alte an seinem Stock hoch, stand
schwankend da und blickte über die Almlandschaft hinaus in das Land zu seinen Füßen. Der Wind bewegte
leicht seinen alten, ausgefransten Mantel. Leise, mehr zu sich selbst, setzte Väterchen Balmer seine Gedanken
fort, als sehe er bereits die Zukunft:
»Doch nun ist die Zeit der Prophezeihung gekommen. Der Befreier steht vor den Toren Quaronas und
Falméras und Zarollons. Er wird das Schwert Tálinos ergreifen, das Schwert der Götter und der Könige und wird
mit seiner leuchtenden Klinge die Prophezeihung erfüllen. Er wird die Tränen der Götter unter das Volk säen
und die Armut und Angst vertreiben. Er wird den Achterrat führen und die Windreiter um sich sammeln und das
Böse vernichten. Er wird mit der Macht der drei Türme und der Macht der Götter Frieden und Wohlstand im
Land schaffen...«
»Verzeiht, Väterchen Balmer, aber wer ist dieser Befreier? Er erinnert mich an einen Mythos, an den
Sohn eines Gottes, an den die Menschen in meinem Kulturkreis glauben und den sie...«
»Dieses hier«, unterbrach der Alte seinen Satz, »dieses Land, Herr, dieses Volk, und die Götter der drei
Türme, das ist eure Kultur! Ihr wollt es noch nicht verstehen, aber all dies ist eure Kultur und eure Bestimmung!
Und wenn unser Befreier erst geboren ist...«
»Wie, den gibt es noch gar nicht?«, unterbrach Basti erstaunt Balmers Hymne.
Der Alte sah ihn seltsam an und fast umspielte ein Lächeln seine vertrockneten Lippen: »O doch, Herr, es gibt
ihn bereits! Er weiß es nur noch nicht. Er ist schon unter uns, aber die Macht der Götter hat ihn noch nicht
erreicht. Er muss in seinem Herzen noch geboren werden. Er muss selbst seine Bestimmung finden. Er wird
großes Leid erfahren und der Schmerz in seinem Herzen wird ihm zeigen, dass nur er es sein kann, der das Volk
befreien wird. Er wird das Schwert Tálinos führen und die Menschen Volossodas werden ihm folgen, wie die
Windreiter ihm folgen werden, weil sie die Zeichen der Götter und der Könige an ihm erkennen. Torbuk und
Karek werden ihre wilden Horden um sich scharen, weil sie ihn fürchten werden. Sie werden ihre Krieger gegen
ihn aussenden, doch sie werden ihn nicht bezwingen, denn die Macht der Götter wird wie eine mächtige Kraft
über ihm wachen...«
Behutsam fasste Lauknitz Balmers Arm: »Väterchen, wir sollten weiter gehen...«
Mit Sorge bemerkte er, dass Balmer immer mehr in seine Scheinwelt abdriftete und Sebastian befürchtete, dass
er über kurz oder lang nicht mehr in der Lage sein würde, normal zu denken. Auf gar keinen Fall wollte er mit
einem Irren durch diese unbekannte Bergwelt stiefeln und nach einer Herde suchen, die sich weiß Gott wo
verkrochen hatte.
Basti war nicht recht klar, welche Teile von Högis Geschichte er glauben sollte, und welche nicht. Er
war sich sicher, dass dieser seine Erinnerungen mit seinem Glauben und irgendeiner Mythologie vermischte. Das
Resultat schien ihm Genugtuung zu geben für das, was er irgendwann einmal erleiden musste und das sein Geist
vielleicht nie wirklich verarbeiten konnte. Vielleicht beruhigte sich seine Seele mit dieser Geschichte, dass ein
Erlöser kommen wird. Aber was musste dieser alte Mann Schreckliches erlebt haben, um geistig in so ferne
Welten abzutreiben? Kriegsheimkehrer, das wusste Lauknitz, zeigten ähnliche Verhaltensweisen.
Ohne ein Wort stiegen sie weiter hinauf, bis sich unvermittelt die Schneise weitete und ein völlig neues
Bild frei gab. Vor ihnen öffnete sich ein riesiges, fast ebenes, kurzgrasiges Weideland. Zwischendurch war die
Weide von Felsblöcken und größeren Steinen durchsetzt. Wie ein großes Plateau dehnte sich diese Alm nach
allen Seiten aus. Ein Paradies für Wildtiere und Herdenvieh.
Der Alte ging weiter, folgte einem unsichtbaren Pfad mitten in die Landschaft, die Sebastian ein wenig
an die Winnetou- Filme in seiner Kindheit erinnerte. An einer markanten Felsgruppe schienen sie den
Scheitelpunkt der Alm erreicht zu haben. Unerwartet tauchten neue Bergspitzen am Horizont auf. Das Panorama
raubte Basti den Atem. Und wusste er bisher nicht, wo auf dieser Welt er sich befand, so war er nun völlig ratlos.
Die mächtigen Bergketten, die vor ihm auftauchten, waren höher und ausgedehnter, als er es sich je
hätte vorstellen können. Links, im Süden schlossen sie an Balmers Hausberge an. Dazwischen lagen noch Täler
und Almen, wie diese hier.
»Was sind das für Berge, Väterchen?«, fragte er Balmer staunend. Der Alte blieb stehen, wischte sich
mit dem Ärmel über die verschwitzte Stirn und holte dann mit seinem Almstock weit aus: »Das sind die Berge
der kalten Weite, des ewigen Eises..., ist der Sitz der Götter, dort oben.«
»Aha«, bestätigte Basti knapp, »aber, sagt, Väterchen, was liegt hinter diesen Bergen?« Für Sebastians
Verständnis endete jedes Gebirge irgendwo einmal. Dahinter gab es wiederum Täler, in denen Menschen lebten,
oder der Ozean begann.
»Dahinter...«, sprach Balmer nachdenklich, ...dahinter..., ja..., dahinter ist nichts mehr..., nur weiter
Berge und das ewige Eis.«
»Aber irgendwann, irgendwo muss dieses ewige Eis doch mal enden, oder? Ich meine, was kommt
hinter den ewigen Eis? Und auch diese Berge müssen doch Täler haben, oder?« Mit Nachdruck forschte er
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weiter in den Alten hinein. Ein unendliches Gebirge gab es auf diesem Planeten nicht, das wusste er genau.
Allenfalls konnte es sein, dass dieser armselige Mensch nie aus seinem Tal herausgekommen war und tatsächlich
nicht wusste, was sich hinter dieser Gebirgskette befand.
»Herr, niemals hat einer das Ende des ewigen Eises gefunden. Nur wenige haben sich bisher dort hinauf
gewagt. Einige haben es versucht, haben die drei Türme der Götter finden wollen... Nie ist einer von dort
zurückgekehrt. Man kann nicht in das ewige Eis gehen, dort ist das Reich der Toten!« Damit war für Högi
Balmer die Sache erledigt. Sebastian konnte weiter bohren, fragen oder Mutmaßungen anstellen, für den Alten
endete die Welt dort drüben, wo die Reihen schneeweißer Berge den Horizont begrenzten.
Nun, Lauknitz glaubte fest daran, in nicht allzu ferner Zukunft in einem Flugzeug zu sitzen und über
Balmers ewiges Eis hinweg nach Hause zu fliegen. Niemals wäre er auf den Einfall gekommen, dass dieses
ewige Eis noch sein Schicksal bestimmen würde...
Sie fanden Balmers Herde an einem Waldrand der gegenüberliegenden Seite der Alm. Die Tiere
schienen wohlauf. Nach Balmers Zählung durfte er nicht mehr als die trächtige Kuh und ein Schaf verloren
haben. Das Schaf, so hoffte er, mochte sich nur verlaufen haben. Gemeinsam trieben sie das Vieh am Waldrand
entlang zurück in Richtung der Schneise. Plötzlich tauchte hinter einer Bodenwelle das Dach einer Hütte auf.
Wie angewurzelt blieb Sebastian stehen. Balmer jedoch trieb das Vieh weiter. Er hetzte hinter ihm her:
»Was zum Donnerwetter ist das da vorne, Väterchen?«, fragte er.
»Das ist Högi Balmers Vorratshaus, Herr, unser Essen, Herr!«, war die stolze Antwort.
Je näher sie kamen, desto größer wuchs das Bauwerk aus der Landschaft. Es war nicht nur eine Holzhütte, wie
sie Högi Balmer unten am Hang besaß. Was hier immer mehr ins Bild rückte, war ein kleines Dorf! Drei oder
vier kleine Hütten konnte Sebastian erkennen. Sie waren ebenso windschief und grob gezimmert, wie Balmers
Wohnhütte unten am Hang. Doch in ihrer Mitte, alles überragend, stand ein Haus von der Größe und Höhe einer
Lagerhalle. Dieses Gebäude musste wenigstens zweistöckig sein!
Als sie das Haus erreichten, beeindruckte Sebastian allein schon seine Architektur. Der ganze Bau stand
auf zehn mächtigen Säulen, aus großen Felsstücken gemauert, fast drei Meter hoch, eineinhalb Meter im
Durchmesser. Je vier Säulen reihten sich unter jeder Seite des Hauses und zwei etwas dickere Säulen stützten die
Mitte. Auf jeder Säule ruhte eine riesige Steinplatte, wie es Lauknitz von den Häusern im Wallis her kannte.
Allerdings waren diese Steinplatten von einer Größe, dass sie kaum drei Mann allein bewegen konnten. Auf
diesen Steinplatten lagen schwere Balken, von der Sonne schwarz gebrannt. Die erste Etage war mit
Steinmauern und Stützsäulen aus Felsblöcken errichtet. Gerade mal kopfgroße Öffnungen dienten offensichtlich
als Fenster und für die Belüftung. Das zweite Geschoss, aus kräftigen Holzbalken gezimmert, mutete an, wie
darauf gesetzt. Das Dach war mit großen Steinschuppen bedeckt, die wohl auch der heftigste Sturm nicht aus
ihrer Verankerung wehen konnte.
Vier kleinere Hütten und ein kleines Backhäuschen umlagerten das Vorratshaus, wie eine Stadt eine
Burg umgab. Geräte und Behältnisse, die an den Hüttenwänden hingen, verrieten deutlich ihren Zweck. Eine
Hütte diente Balmer offenbar zur Käseherstellung, während eine andere wohl die Funktion einer großen
Räucherkammer erfüllte. Die hintere Hütte schien Werkzeuge und Geräte zu beherbergen. Das letzte Häuschen
diente dem Alten vermutlich als Arbeitshaus. In ihm fanden sich zwei Webstühle, ein Arbeitsplatz zur
Holzbearbeitung, sowie eine Vorrichtung, die zum Schmieden geeignet schien. Es war völlig unmöglich, das
Balmer dies alles allein mit seinen bloßen Händen geschaffen hatte. Um so etwas zu bauen, bedurfte es schon
einiger Helfer.
Sebastian war sehr beeindruckt und zeigte das ganz deutlich. Stolz präsentierte ihm Balmer sein kleines
Reich. Schlagartig wurde Lauknitz klar: Hier fand das wirkliche Leben und Wirken des Högi Balmer statt! Seine
Hütte unten am Hang, in der er schlief, in der er Gäste empfing, war anscheinend nur Fassade, existierte
offensichtlich nur, um das Bild eines verarmten, alten Männleins aufrecht zu erhalten. Aber warum das ganze
Theater? Diese Frage stellte Basti ihm nun ganz offen.
»Herr, es gibt viel Böses in diesem Land..., sehr viel Böses. Die wilden Horden würden mit einer
ganzen Armee hier oben einfallen, wenn sie um dieses Geheimnis wüssten. Sie würden Väterchen Balmer auf
den Boden nageln und alles plündern, was ihnen von Wert und Nutzen erscheint.«
»Aber, Väterchen, habt ihr denn gar keine Angst, dass all dies hier doch irgendwann von Jemandem
entdeckt wird?«, fragte Sebastian verwundert.
»Wisset, Herr, die Menschen unten in den Tälern haben Angst vor den hohen Bergen und den
Gletschern, in denen die Geister der Toten wohnen. Alle fürchten sich vor dieser unwegsamen Welt. Seit vielen
Jahren ist niemand mehr hier herauf gekommen. Falméras Medicus und einige wenige andere kennen meine
Hütte. Doch nur der Doktor und der Achterrat kennen den Weg. Der Pfad ist viel zu beschwerlich, als dass es
jemandem einfallen könnte, Vater Balmer zu besuchen. Die meisten Menschen im Tal wissen nicht einmal, dass
Vater Balmer hier oben lebt.«
Augenblicklich wurde Basti einiges klar! Es war also gar kein Hexenwerk, dass er hier oben isoliert
war. In einer derart ausgedehnten Hochgebrigslandschaft, die noch dazu so extrem dünn besiedelt war, bedurfte
es keines allzu großen Aufwands, einen Menschen verschwinden zu lassen, ohne ihn zu töten. Man musste ihn
nur auf ein abgelegenes Grasplateau zu einem unbekannten, verrückten Eremiten verfrachten und konnte
beruhigt sein, dass dieser Mensch wie in einem Safe verwahrt war. So war das also! Er hatte nur so rein gar
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keine Ahnung, wer hinter alledem steckte. Doch so viel verstand er allmählich: Der alte Högi Balmer wurde in
dieser Sache wahrscheinlich ebenso benutzt, wie Sebastian selbst. Vermutlich kannte nicht einmal Högi die
ganzen Zusammenhänge in Bezug auf Sebastians Person.
Immer fester webte sich sein Entschluss, gesund zu werden und sich aus eigener Kraft aus dieser
Situation zu befreien. Na die, wer immer auch die verantwortlichen Macher waren, die würden sich noch gehörig
über Sebastian Lauknitz wundern! Einen Basti Lauknitz sperrte man nicht einfach bei einem alten, verwirrten
Almöhi in der Einsamkeit der Berge ein! Vermutlich wussten die gar nicht, dass sie einen geschulten und
erfahrenen Alpinisten eingefangen hatten. Das sollte denen noch sauer aufstoßen! Von seiner Überlegenheit
überzeugter denn je, bekam Sebastian richtig gute Laune! Er stellte eine Krücke an die Wand des Vorratshauses
und bot Väterchen Balmer an, ihm zur Hand zu gehen.
Der freute sich über Bastis Interesse und führte ihn in den nächsten Tagen und Wochen in mancherlei
alte Handwerkskunst ein, oder zeigte ihm einige alte Techniken bei der Käseherstellung, in der Fellgerbung, bei
der Hausschlachtung, sowie in der Schmiedekunst und Holzverarbeitung. In den Wochen seiner Genesung
durchlief Sebastian mehrere regelrechte Lehren als Auszubildender und hatte den Eindruck, dass ihn Balmer
unbewusst an eines Sohnes statt annahm.
An diesem Tag jedoch begann Lauknitz erst einmal Balmers wirkliche Welt zu entdecken. Das Leben,
das Högi hier führte und von dem Sebastian eine ganz falsche Vorstellung hatte, konnte nicht das schlechteste
sein. Nur eben einsam! Sehr einsam! Aber es schien ein für Balmer sehr erfülltes Leben zu sein. Sebastians
Aufenthalt bei ihm war für ihn sicherlich eine hochwillkommene Abwechslung, keine Frage! Doch nahm er
Bastis Gesellschaft freiwillig hin, oder wurde sie ihm aufgezwungen? Jede neue Erkenntnis und Entdeckung
warf hier auch neue Fragen auf, die sich jedoch immer wieder in einer einzigen, wichtigen Frage zentralisierten:
Wo war Sebastian hier und wie und warum kam er hierher?
Balmer griff sich nach und nach die Kühe aus seiner Herde und begann sie zu melken. Sebastian
entleerte die Milch- Eimer in einen großen Kessel in der Käsehütte und entzündete auf Geheiß des Alten ein
Feuer in der Feuerstelle, über die der Kessel mittels eines hölzernen Arms geschwenkt werden konnte. Dann half
er Balmer, indem er Holz zerkleinerte.
Die Sonne schien inzwischen hinter den Wolken hervor und das Arbeiten machte Spaß. Manche
Bewegung schmerzte noch höllisch und einige Tätigkeiten fielen Sebastian sehr schwer. Dennoch hatte er den
Eindruck, rasch zu gesunden.
Nach dem Melken zeigte ihm Väterchen Balmer den Zugang zum Vorratshaus. Eine lange, stabile
Leiter, unter dem mannshohen Fußboden des Hauses verwahrt, verschaffte ihnen Zugang zum balkonartigen
Podest am Giebel und zur kleinen Eingangstür. Ein einfacher Riegel hielt diese verschlossen. Im Innern schlug
Basti eine merklich kühlere Luft entgegen, als sie draußen vorherrschte. Hier im Halbdunkel gab es entgegen
seiner Vermutung keinerlei Regale oder Schränke. Sämtliche Vorräte baumelten schlicht und einfach von der
Decke herab. Einiges war auch in Fässern am Boden untergebracht, doch das wesentliche von Balmers Vorräten
hing frei in der Luft, unerreichbar für Mäuse, Ratten und anderes Gezücht. Eine schmale, knarrende Stiege führte
in die obere Etage. Auch hier fanden sich alle Vorräte in hängender Weise untergebracht. Eine einfache Leiter
gewährleistete den Zugang zum Dachboden, der vollgestopft schien mit duftend frischem Heu.
Gleich neben der Eingangstür im Untergeschoss hing ein breites Regalbrett an zwei Hanfschlaufen frei
unter der Decke. Auf diesem standen drei gleiche Blechkannen mit Deckel. Balmer griff die erste mit den
Worten: »Dies ist das wichtigste, Herr..., das wichtigste für den Käse..., ohne das gibt es keinen Käse...«
Draußen sah Sebastian in die Kanne und war enttäuscht. Eine leicht weißliche, transparente,
unangenehm riechende Brühe schwappte darin. Er sah Balmer fragend an.
»Der Ursaft der Milch, Herr..., Ohne den gibt es von der Milch keinen Käse...« Damit nahm er den
ganzen Inhalt und goss ihn in die frische Milch im Kessel, die bereits über dem Feuer erwärmte. »Jetzt dürft ihr
rühren, Herr..., immer kräftig, aber langsam und gleichmäßig rühren!«
Dabei drückte er Lauknitz aber keineswegs einen Löffel oder eine Kelle in die Hand, sondern einen
Gegenstand, der mehr Ähnlichkeit mit einer Harfe hatte, als mit einem Rührwerkzeug. Wie vom Alten gezeigt,
führte Sebastian das Gerät behutsam durch die weiße Flut.
»Achtet darauf, Herr, es darf nicht wärmer werden, als ein Stein in der Sonne..., nicht wärmer, die
Milch..., nicht wärmer!«, ermahnte er ihn.
Als die Milch allmählich dicker wurde, sich in winzige Flocken verwandelte und sich eine transparente
Brühe bildete, in der sich die Flocken absetzten, geriet Sebastian in Panik. Er glaubte, Balmers ganze Milch des
Tages verdorben zu haben. Der kam lachend heran, klopfte ihm anerkennend auf die Schulter und rief fröhlich:
»Sorgt euch nicht, Herr..., keine Angst..., das muss so sein..., ihr habt gerade Käse gemacht!«
Lauknitz sah Balmer verblüfft an: »Diese Brühe hier soll Käse sein?«
»Freilich noch nicht ganz fertig, Herr, aber verzagt nicht, der Rest macht sich wie von selbst!«, beruhigte er ihn.
Dann holte er ein großes Leinentuch aus der Ecke der Hütte, schwenkte den Kessel vom Feuer weg und
begann das Tuch gleich einem Fischernetz am Kesselrand in die Brühe zu tauchen. Ein Ende des Tuchs hatte er
an zwei Ecken verknotet und sich um den Hals gehängt. Die weißen Flocken in der Brühe spielten bei diesem
Abenteuer wohl die Fische. Balmer beugte sich tief über den Kessel, zog das Tuch mit entblößten Armen über
den Grund des Gefäßes und hob es vor seiner Brust wieder heraus. Alsgleich verknotete er auch diese beiden
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Ecken, so dass er einen Sack mit gefangenen weißen Flocken in den Händen hielt. An einen zweiten
Schwenkarm hängte er diesen Sack und ließ ihn in den Kessel abtropfen.
Mit Bewunderung verfolgte Sebastian Balmers routinierte Handgriffe. Den schweren Kessel mit der
blanken Brühe schafften sie ins Freie. Dort befüllte Balmer die Blechkanne mit der Flüssigkeit und bat Basti
diese wieder auf das Regal im Vorratshaus zu stellen, wohlgemerkt hinter die anderen beiden Kannen!
Anschließend stieß er den Kessel um und ließ die trübe Brühe im Gras der Alm versickern.
In der Hütte ließ der Alte den Sack mit den Flocken in eine runde, flache Holzform gleiten, legte die
Tuchenden darüber zusammen und beschwerte alles mit einem Holzdeckel und groben Felsbrocken. An den
Seiten lief noch Brühe heraus, doch bald verließ nur hin und wieder noch ein Tropfen Flüssigkeit die Form.
»Was geschieht jetzt damit?«, wollte Sebastian wissen.
»Das, Herr..., das will euch Vater Balmer gern zeigen«, verkündete er stolz und stieg Basti voran in das
Vorratshaus. Im hinteren Ende des Hauses, hinter hängenden Säcken und Beuteln, baumelten weitere
Regalbretter frei von der Decke. Auf jedem lagen drei in Tücher gewickelte, metergroße runde Teile. Behutsam
nahm Balmer ein Teil vom Brett und legte es auf einen kleinen Tisch. Als er das Tuch entfernte, kam ein runder
Käse zum Vorschein! Der Alte nahm ein frisches Tuch, trocknete den Käseleib damit ab, griff in einen Topf mit
Salz und rieb das runde Ding damit ein. Zuletzt wickelte er das Tuch wieder um den Leib und legte ihn zurück in
das Hängeregal. So verfuhr er mit jedem Käse. Rund dreißig Stück dieser Käseräder zählte Lauknitz auf den
Hängebrettern.
»Will umsorgt werden, wie ein Kind, der Käse... Brauchen viel Pflege, die guten Stücke..., viel Pflege,
sonst verderben sie«, klärte er Sebastian auf.
Er war beeindruckt und stolz zugleich. Er, Sebastian Lauknitz, hatte an diesem Tag zum ersten Mal in
seinem Leben einen echten Käse selbst hergestellt! Und das Verfahren schien erschlagend einfach zu sein!
Zufrieden, wohl auch ein wenig aus der Puste setzte sich Sebastian vor der Hütte in die Sonne. Dankbar
beobachtete er die friedlich grasende Herde des Alten, während dieser den Käsekessel mit frischem Wasser
auswusch und zum Trocknen aufhängte.
Balmer hatte an diesem Ort Arbeit, die ihn ein ganzes Leben lang zu jeder Stunde beschäftigen konnte.
Dennoch bemerkte Sebastian keinen Stress an diesem Menschen. Keinerlei Hektik bestimmte sein Tun und
Erfolgsdruck schien er gar nicht zu kennen. Er verrichtete hier oben freudig seine Arbeit, die genug Früchte trug,
um ihn großzügig am Leben zu erhalten. Er war halt nur ständig allein.
Sebastian fragte sich, ob Balmer glücklich war. Plötzlich erinnerte er sich an die Tränen in seinem
Gesicht, als er von seiner Marienka erzählte. Vielleicht wünschte er sich gerade sie an seine Seite.
Möglicherweise träumte er von spielenden Kindern auf der Alm, die unter seiner Obhut heranwuchsen und von
ihm lernten, so, wie Sebastian an diesem Tag von ihm gelernt hatte. Nein, glücklich war er sicher nicht!
Vermutlich war er sogar sehr lange unglücklich und einsam gewesen. Doch die Zeit hatte ihn wohl gelehrt, mit
seinem Schicksal zufrieden zu sein.
Nachdem sie noch etwas Brennholz zerkleinert und eingelagert hatten, schärften sie gemeinsam noch
einige Werkzeuge. Zuletzt schloss Balmer gewissenhaft alle Türen und sie begannen, die Herde talwärts zu
treiben. Am See angelangt, stellten sie fest, dass sich das Wasser schon merklich zurückgezogen und einen
Streifen aufgeweichten Bodens hinterlassen hatte. An dieser Stelle trieben sie das Vieh auf die andere Seite der
neu entstandenen Schlucht.
Balmers Hütte erschien Sebastian wie ein nieder gekauerter Unterschlupf. Der Tag bei seinem
Vorratshaus hatte ihm andere Dimensionen gezeigt. Dagegen empfand er diese Wohnstatt plötzlich als eine
Erdhöhle. Rona und Reno begrüßten sie stürmisch. Obwohl er Rona anmerkte, dass sie am liebsten mit ihnen
gegangen wäre, blieb sie doch beharrlich an Renos Seite.
Wieder wechselte Sebastian Renos Verband und stellte fest, dass er rascher gesundete, als er selbst. Die
Wunde war vollständig verkrustet und wies nicht eine eiternde Stelle auf. Der Doktor hatte ganze Arbeit
geleistet! Bevor er beiden Hunden ihr Futter und frisches Wasser vor die Nasen stellte, bürstete er ihnen das Fell
aus. Sie genossen es mit Hingabe.
»Herr, ihr verwöhnt sie mir noch zu sehr! Die wollen nachher gar nicht mehr mit der Herde ziehen...,
viel zu verwöhnt, die beiden...«. Sebastian ignorierte Balmers Mahnung. Schließlich war er den beiden Hunden
etwas schuldig. Und diese beiden schienen ihm zur Zeit die einzigen Geschöpfe zu sein, die nicht in
irgendwelchen Phantasien lebten. Rona und Reno indes quittierten seine Fürsorge mit Freundschaft und
Vertrauen. Immer mehr fiel ihm auf, dass sich Rona mehr zu ihm gesellte, als zu Balmer. Das war ihm peinlich,
denn die beiden Hunde waren ja Högis Lieblinge, ja vielleicht sogar so etwas, wie ein Kinderersatz. Väterchen
Balmer hingegen schien die Entwicklung nicht zu stören.
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Die nächsten Tage glichen sich und brachten wenig Abwechslung, oder Veränderung. Sebastian pflegte
sich und die beiden Hunde, während Balmer sein Vieh auf die Hochalm trieb und sich den ganzen Tag an seinem
Vorratshaus beschäftigte. Ab und zu begleitete er den Alten und half ihm bei der Verrichtung seiner Arbeit.
Genauso oft jedoch gab Basti vor, bei der Hütte bleiben und sich schonen zu wollen. Tatsächlich wartete er nur,
bis Balmer mit seinem Vieh außer Sichtweite war. Dann griff er sich seinen Rucksack und die Gehhilfen und
erkundete die Umgebung des Sees. Dabei dehnte Sebastian seine Entdeckungsreisen immer weiter aus.
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Erstelldatum 06.04.2011 23:43
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An einem Tag stieg er hinter dem See über die Alm auf, zwischen teils monumentalen Felsbrocken
hindurch, bis an den Rand des Bannwaldes. Ihm folgte er in der Richtung, in der nach des Doktors Sandskizze
Falméra liegen sollte. Eine verschwiegene, kleine Schneise quälte er sich hinauf und gelangte auf ein kleines, mit
kargem Gebüsch bewachsenes Plateau. Den Rand des Plateaus bildete eine gigantische, vorspringende
Felsplatte. Sie ragte ins Nichts hinaus. Wie die Zunge aus dem Kopf eines riesigen Tieres, stieß der Felsen aus
dem Wald freistehend über den Abgrund und gab den Blick weithin über mindestens zwei Täler frei.
Lange saß Basti auf dieser Felskante und studierte das Land unter ihm. Bald erkannte er, dass sich nicht
zwei Täler unter ihm hinzogen, sondern nur eines, welches durch eine fast unüberwindbare Felsenschlucht in
zwei Welten geteilt war. Hatte nicht der Doktor von einer Felsbarriere gesprochen? Er versuchte Einzelheiten zu
erkennen und verfluchte sich, weil er bei seinem Sturz sein Fernglas verloren hatte.
Weit hinten im Tal glaubte er den Ansatz eines großen Sees erkennen zu können, war sich aber nicht
sicher. Doch ein oder zwei Ansammlungen von Hütten glaubte Basti unterscheiden zu können. Er bildete sich
sogar ein, dass aus einigen kleine Rauchsäulen in den Himmel stiegen. Die Dimensionen jedoch waren so
gewaltig, dass er nicht einmal eine Straße ausmachen konnte. Ein kleines Dorf sah er erst recht nicht!
Dagegen machte ihm der Ausblick schonungslos bewusst, dass er wohl mehrere Tage unterwegs sein
würde, wenn er die Alm verließ, um nach Hilfe zu suchen. Zog er seine Unkenntnis über die Geografie dieses
Landes mit in Betracht, so würde es vielleicht eine Woche dauern, bis Sebastian die ersten Menschen traf. Von
Högi Balmers Alm bis zu der Stelle, wo er ein Dorf vermutete, mochte es schon eine ausgewachsene Drei- TageWanderung sein.
In Anbetracht seiner Fluchtpläne nahm sich Sebastian vor, an einem der nächsten Tage noch einmal hier
heraufzukommen, um eine Skizze von dem Tal zu seinen Füßen anzufertigen. Vielleicht hatte er sie noch bitter
nötig, wenn er sich dort unten zurechtfinden musste.
An einem anderen Tag kämpfte sich Lauknitz durch den Bannwald hindurch, bis an den Fuß der alles
überragenden Felswand, die er vom See aus erkennen konnte. Dort stieg er an den Felsen entlang nach Westen,
also in Richtung Högi Balmers Hochalm. Seine Neugier trieb ihn dazu, festzustellen, ob es nicht einen Pfad
durch die Felsen hinauf gab. Von der Felskante oben hätte Sebastian leicht bis hin zu Balmers Vorratshaus sehen
können. Doch die Felsen erwiesen sich als glatte, abweisende Wand.
Lediglich eine riesige Höhle konnte er entdecken. Sie lag verborgen zwischen zwei kolossalen
Felsvorsprüngen, deren Grund bereits der Wald erobert hatte. Fast wäre er am Eingang vorbei gelaufen, so
verborgen lag er. Ein kleiner Bach, der aus dem fünf bis sechs Meter hohen und beinahe vier Meter breiten
Eingang sprudelte, erweckte sein Interesse. Sebastian vermutete einen Wasserfall und folgte dem Bach aufwärts.
Er nahm sich vor, diese Höhle, die wie eine riesige Grotte wirkte, später genauer zu untersuchen. Vielleicht
konnte sie ihm noch einmal als Versteck dienen, sollte seine Flucht scheitern.
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Dann regnete es zwei Tage lang. Es wurde kalt. Trotzdem zog Väterchen Balmer mit der Herde auf die
Hochalm. Am ersten Tag begleitete Basti ihn und machte sich beim Holzhacken nützlich. Den zweiten Tag
vergammelte er vor Högis Hütte auf der Bank, schrieb in seinem Tagebuch und beschäftigte sich mit den
Hunden. Reno wurde zusehends ungeduldiger und Basti begann mit ihm Laufübungen zu veranstalten. Rona
tänzelte dabei neben ihnen her, als wollte sie Reno mit Nachdruck zu mehr Bemühen animieren.
Als einen Tag später wieder die Sonne auf das Land schien, wurde Sebastian rastlos. Er konnte es nicht
erwarten, dass der Alte mit seiner Herde davonzog. Kaum war dieser fort, rüstete auch er sich zum Aufbruch.
Das Land hinter Balmers Hochalm lockte seine Neugier. Das Gelände dort oben war riesig und da Sebastian
wusste, dass Balmer mit seiner Herde nach Nordwesten hin, zu seinem Vorratshaus ziehen würde, konnte er ihm
gut aus dem Weg gehen.
Vorsichtig folgte er Balmers frischer Spur. Auf dem vom Regen aufgeweichten Boden konnte er
deutlich erkennen, welchen Weg Balmers Herde genommen hatte. Das Väterchen zog mit seinen Tieren
schnurgerade auf die Mitte der Alm zu. Also folgte Basti dem Waldrand an der südlichen Begrenzung der Alm.
Die Gehhilfen benutzte er nur noch an heiklen Passagen zur Unterstützung. Mehr und mehr legte er
seinen Ehrgeiz in den Versuch, ohne sie auszukommen. Es ging erstaunlich gut. Selbst das Tragen des
Rucksacks schmerzte nicht mehr unerträglich. Stets schob er sich bei seinen Ausflügen den Eispickel in den
Gürtel. Dabei hatte Sebastian weniger im Sinn, einen der hohen Berge zu besteigen. Nach seiner Erfahrung mit
dem Gor fühlte er sich mit einer Waffe einfach sicherer. Zwar glaubte er nicht ernsthaft an Felsenbären,
Robrums und anderen Hirngespinsten des Doktors und Balmers, aber er wollte auch kein Risiko eingehen. An
die Existenz von Feuer speienden Drachen hatte er ja auch nie geglaubt. Dennoch stand plötzlich einer
wahrhaftig vor ihm.
Immer auf der Hut vor irgendwelchem Raubzeug wanderte er drei Stunden lang über unbekanntes Land.
Das felsdurchsetzte, ausgedehnte Gelände fiel mit sanfter Neigung ab. Kurzes, von der Sonne gelb gedörrtes
Gras bescherte ihm ein angenehmes Gehen, wie auf einem Teppich. Tausende von Insekten ließen ihr
beruhigendes Konzert erklingen. Der sich immer wieder neu formende Ausblick malte ein Bild, das friedlicher
nicht sein konnte. Grünes bis gelbbraunes Almgras, graue Felsen, zur Linken begrenzt vom Tiefgrün des
Fichtenwaldes. Waldbedeckte Hügel und darüber schneebedeckte Berge bildeten den Horizont unter blau
aufgespanntem Himmel. Trotzdem spürte Basti eine unsichtbare Spannung, die noch einige Überraschungen
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verhieß. Es war nicht rational erklärbar, doch irgendetwas Geheimnisvolles lag in der Luft, machte Sebastian
unruhig, ließ ihn immer weiter die Gegend erforschen. Dabei achtete er weniger auf die ihm teils unbekannte
Flora. Die geologischen und geografischen Eigenschaften dieser unbekannten Welt zogen ihn viel mehr in ihren
Bann.
Allmählich fiel das Terrain steiler ab. Immer häufiger bevölkerten Krüppelkiefern die Gegend und der
Weg wurde beschwerlicher. Die Vegetation ging in lichten Arvenwald über. Einige der Bäume trugen bereits die
gelbe Tracht des Herbstes. Mittlerweile befand sich Sebastian in lockerem Waldbestand auf einem abwärts
geneigten Hang. Ein leises Rauschen, das er schon eine ganze Weile im Ohr hatte, wurde stetig lauter. Irgendwo
im Tal musste ein großer Bach oder Fluss ins Tal stürzen.
Bald wirkte die ganze Umgebung unheimlich auf ihn. Das mochte daran liegen, dass er von Wald
umgeben war, der ihm keine freie Sicht mehr bot. Vielleicht war es auch das Rauschen des unbekannten
Wassers, das ihn einschüchterte, weil er kaum noch ein anderes Geräusch wahrnehmen konnte. Jedenfalls
beschloss Sebastian gerade den Rückweg anzutreten, als er plötzlich etwas Unnatürliches durch die Bäume
hindurch leuchten sah.
Zunächst sah es aus, wie eine große, lehmfarbene Mauer. Vor Aufregung begann er zu schwitzen.
Vorsichtig stieg er noch einige Meter durch den Wald, um besser sehen zu können. Dann fiel es ihm wie
Schuppen von den Augen: Dort drüben auf der anderen Hangseite, führte ein Weg vom Tal bergwärts! Der
gegenüberliegende Hang war ohne Waldbestand. Felsdurchsetztes Wiesengelände sah Sebastian dort in der
Sonne liegen. Deutlich konnte er erkennen, dass es sich nicht um einen schmalen Wildpfad handelte, sondern um
einen breiten, von Menschenhand angelegten Weg! Wie versteinert stand er da...
Diesen Weg sollte er ganz sicher nicht finden! Weder Andreas, noch Högi Balmer hatten seine Existenz
jemals erwähnt. Doch es gab diesen Weg, der offenbar nicht selten von Menschen benutzt wurde! Dass man ihm
diese Tatsache verschwiegen hatte, erzählte ihm wiederum deutlich, dass er auf Balmers Alm festgehalten
werden sollte. Jetzt erklärte sich auch, weshalb ihn der Doktor ermahnte, nicht allein in der Gegend
herumzulaufen. Wollte er verhindern, dass Sebastian einen Weg zurück in die Zivilisation fand?
Angestrengt dachte er nach. Um an diesem Tag noch etwas Entscheidendes zu unternehmen, war es
eindeutig zu spät. Er musste zurück auf Väterchens Alm. Am nächsten Morgen jedoch wollte er gezielt diesen
Weg auf der anderen Seite dort drüben erkunden. Sobald es sein Zustand zuließ, konnte er womöglich über ihn
ins Tal gelangen!
In Sebastians Kopf entstanden immer deutlichere Fluchtpläne. Dabei überlegte er, was Balmer
eigentlich tun konnte, um sein Verschwinden zu verhindern. Er war allein, langsam, behindert und alt. Was
würde er tun, wenn er seine Flucht entdeckte? Den Doktor anrufen? Womit?
Mit einem Mal fuhr es ihm wie ein Blitz durch den Kopf: Was, wenn Balmer eines dieser neumodernen
Mobiltelefone besaß? Leicht konnte Högi so ein Gerät vor ihm verstecken. Das hätte auch seine Frage
beantwortet, weshalb der Alte so genau wissen konnte, wann der Doktor auf seiner Alm erscheinen würde. Mehr
und mehr fügte sich ein Teil des großen, geheimnisvollen Puzzels an das andere. Und jede neue Erkenntnis oder
Möglichkeit musste Sebastian bei seiner Flucht berücksichtigen. Der Gedanke schoss ihm kurz durch den Kopf,
Balmer zu beobachten, ob er heimlich ein Handy oder Funkgerät benutzte. Doch diese Idee verwarf er gleich
wieder. Unmöglich konnte er dem Alten den ganzen Tag lang am Rockzipfel kleben. Aber er war gewarnt!
Wenn er die Möglichkeit in Betracht zog, dass Balmer ein geheimes Kommunikationsmittel besaß und
vielleicht in der Lage war, ihm bei der Flucht irgendwelche Häscher auf den Pelz zu schicken, so musste er sich
äußerst vorsichtig bewegen, um nicht in eine Falle zu tappen. Vor allem musste er seine Entdeckung dieses
Weges vor Högi geheim halten. Gleichzeitig würde er jedoch erkunden müssen, wohin ihn dieser Pfad führte.
Ein Blick zum Stand der Sonne klärte die Situation für den Moment. Er musste zurück, sonst lief er
Gefahr, dass Balmer seinen Ausflug entdeckte und seine Flucht bereits im Vorfeld vereiteln ließ. Der Rückweg
gestaltete sich wesentlich schwieriger, was Basti dem Umstand zuschrieb, dass er nun gegen die Zeit lief.
Gerade mal eine halbe Stunde vor Balmer traf er bei dessen Hütte ein. Dabei war er sich keineswegs
sicher, dass der Alte nicht doch seinen Abstieg beobachtet hatte. Fieberhaft verbarg Sebastian die Spuren seines
Ausflugs. Den Rucksack verstaute er wieder an seinem Schlaflager, er reinigte seine Stiefel, Brachte Rona und
Reno rasch frisches Wasser und breitete sein Tagebuch vor sich aus, als hätte er sich den ganzen Tag damit
beschäftigt.
Hegte Väterchen Balmer Argwohn, so zeigte er es nicht. Froh gelaunt stellte er sein Tragegestell neben
Sebastian auf der Bank ab und setzte sich. »Für wen schreibt ihr, Herr?«, wollte er wissen.
»Ich schreibe für mich selbst«, entgegnete Lauknitz und der Alte machte ein Gesicht, als hätte er ihn
noch nie zuvor gesehen. In seinem Vorstellungsvermögen schien die Option nicht zu existieren, dass jemand
etwas für sich selbst notierte. Balmer schüttelte den Kopf, erhob sich und schickte sich an, das Abendessen von
seinem Gestell zu binden. Wie nebenbei ließ Sebastian sein Tagebuch verschwinden und half ihm bei seinen
Tätigkeiten. Ganz beiläufig fragte er:
»Väterchen, sagt, wie viele Wege gibt es hier eigentlich, die ins Tal führen?«
Balmer überlegte nicht lange: »...Nur der Weg, den der Medicus genommen hat..., sehr beschwerlich, der Pfad,
steil und kaum zu finden..., fast unsichtbar und sehr steil..., würdet euch die Knochen brechen, in eurem
Zustand!«
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Basti war verblüfft. Entweder log der Alte mit schauspielerischer Sicherheit, oder er hatte tatsächlich
keine Ahnung von dem Weg, den Sebastian am Nachmittag entdeckt hatte. Jedoch hielt er es für absurd zu
glauben, Balmer würde diesen breit angelegten Weg nicht kennen. Er lebte eine Ewigkeit hier oben und soll
niemals dort hin gelangt sein? Wahrscheinlicher war wohl, dass er die Aufgabe hatte, ihn ein Weggehen
auszureden. Das passte eher zu der Annahme, dass man ihn hier oben festhalten wollte. Die einzige Frage, über
die er dennoch immer wieder stolperte, war, weshalb man solch einen Aufwand mit ihm betrieb.
Für ihn stand jedenfalls fest, dass er mit der Vorbereitung seiner Flucht zuerst diesen Weg erkunden
wollte. Er musste wissen, wohin dieser führte und woher er kam. Es war nicht unbedingt nötig, dass er mit seiner
Bergführerkasse bepackt den Leuten in die Arme lief, die ihn in dieses Naturgefängnis verfrachtet hatten.
In Sebastians Kopf entstand ein Plan. Am nächsten Morgen wollte er wieder mit dem Alten gehen.
Wenn er stets bei der Hütte blieb, musste Högi zwangsläufig früher oder später misstrauisch werden. Also würde
er ihn bis auf die Hochalm begleiten und plötzlich vorgeben, Schmerzen zu bekommen. Doch anstatt zurück zu
gehen, würde er den Bergweg erkunden. Ein gutes Stück Anmarsch hätte er damit bereits geschafft. Die einzigen
Sorgen machte ihm sein Zustand. Die heimlichen Ausflüge der letzten Tage gingen nicht spurlos an seiner
Verletzung vorüber. So sehr Lauknitz sich auch auf die Gehhilfen stützte, neuerlich auftretende Schmerzen
konnten diese nicht verhindern.
Der Abend verging damit, dass er sich um Rona und Reno kümmerte. Beide hatten sich inzwischen
daran gewöhnt, dass er ihr Fell bürstete. Schwanzwedelnd zeigten sie ihm ihre Begeisterung, wenn er Balmers
alte Holzbürste zur Hand nahm. Es war nur ein grobes Stück Holz, in das jemand wahllos kleine Holzstäbchen
hineingetrieben hatte. Ein Sebastian unbekanntes, ziemlich hartes und helles Holz garantierte wohl die solide
Qualität dieses Gegenstands.
Mit Väterchen Balmer sprach er nur noch belanglos über das Wetter, die Heuernte und über seine Tiere.
Für tief greifende Gespräche mit Högi war er einfach zu müde. Im übrigen wusste er ja, wohin diese führten.
Unvermittelt sagte Väterchen Balmer etwas, das dann doch noch seine wache Aufmerksamkeit forderte:
»Habt etwas gefunden, das die beiden mögen, wenn ich nicht irre...« Dabei wies er mit dem Messer in
seiner Hand auf Rona und Reno, die Sebastian immer noch unermüdlich bürstete. Als wäre es nur eine
lächerliche Nebensache, fuhr er fort:
»Ein Gor ist eben nicht nur etwas, das man fürchten muss..., hat auch sein Gutes, das Tier..., ist nicht
alles schlecht an ihm...«
Lauknitz sah den Alten an und war sich nicht sicher, ob der wieder einmal fantasierte, oder eines seiner
Geheimnisse preis gab.
»Wie meint ihr denn das, ein Gor hat auch sein Gutes?«, fragte er neugierig. Balmer zeigte auf die Bürste, die
Sebastian noch in der Hand hielt und erklärte ihm wie ganz selbstverständlich:
»Ist aus der Rückenplatte eines Gors gemacht, die Kratze... Und seine Zähne stecken drin. Lag vor
vielen Wintern unter einer Lawine, das Biest..., konnte wohl nicht schnell genug davon, als der Schnee kam.
Väterchen Balmer hat sich daraus eine feine Kratze gemacht..., so ist das!«
Das, was Sebastian für Holz gehalten hatte, war demnach keines. Beim näheren Hinsehen konnte er
feststellen, dass dieses Material so gar keine Maserung besaß. Es ähnelte sehr dem ihm bekannten Elfenbein oder
Hirschhorn. Etwas belustigt entfernte er die Hundehaare aus der feinen Kratze, wie sie Balmer zu nennen
pflegte. Unter fein verstand er allerdings etwas anderes. Doch in Anbetracht der Umgebung und der Umstände
konnte man die Bezeichnung durchaus gelten lassen.
Wenn die Schilderung des Alten der Wahrheit entsprach, gab es Gore in diesen Bergen nicht erst seit
gestern. Das schwächte nun auch Sebastians Theorie über Genmanipulation. Mit einem neuen Puzzleteilchen,
das nicht ins Bild passte, ging er schlafen.
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Morgens hörte er Väterchen Balmer schon früh rumoren. Er wühlte im kleinen Anbau der Hütte herum.
Sicher suchte er etwas, dass er nicht finden konnte. Bei dem Chaos, das er hier führte, kein Wunder! Die penible
Ordnung, die er in seinem Vorratshaus auf der Hochalm hielt stand dazu im krassen Gegensatz.
Stürmisch wurde Sebastian von seinen neuen Freunden Rona und Reno begrüßt. Überrascht stellte er
fest, dass Reno wieder vorsichtig umher lief, humpelnd noch und wackelig, aber voller Unternehmungsgeist.
Väterchen Balmer fand er wie vermutet im kleinen Anbau. Er kniete vor einem Haufen Gerümpel und bemerkte
ihn nicht einmal.
»Gutem Morgen Väterchen«, rief er laut, »wenn jetzt ein Felsenbär daher käme, hätte der aber ein
leichtes Spiel mit euch!«
Högi Balmer erschrak dermaßen, dass er aufsprang und mit seinem Kopf krachend an eine aufgehängte
Holzwanne schlug. Ebenso schnell, wie er aufgefahren war, saß er wieder auf seinem Hinterteil und rieb sich
seine lichten Haare. Dabei machte er ein Gesicht, als hätte er eine pure Zitrone verspeist.
»Wollt ihr den alten Vater Balmer in das Reich der Toten befördern?«, krächzte er, »Einem so einen
Schreck einzujagen..., welcher Robrum hat euch nur geritten!« Und mehr zu sich selbst schimpfte er: »Kann
einem ja das Essen in die Kleider rutschen, so ein Unflat, so ein...«, und etwas lauter: »Herr, warum schleicht ihr
euch an, wenn Väterchen Balmer nicht hinsieht?«
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»Es tut mir leid«, lachte Sebastian, »ich dachte nicht, dass ihr so schreckhaft seid, wo ihr doch daran
gewöhnt seid, dass so viel Raubzeug bei euch unterwegs ist..., Guten Morgen erst einmal!«
»Weiß nicht, was an so etwas gut ist«, knurrte der Alte fast beleidigt.
Lauknitz ging schmunzelnd auf ihn zu. »Kommt, ich helfe euch auf«, bot er ihm an. Dafür jedoch verfluchte er
sich gleich wieder. Balmer strömte wieder einmal einen strengen Duft aus, bei dem er weiß Gott keine Furcht
vor einem Raubtier haben musste. Jedem Felsenbären hätte sein Geruch dermaßen die Nase verätzt, dass er
schleunigst das Weite gesucht hätte. Allmählich kam Sebastian hinter das Geheimnis, weshalb der Alte nie von
einem Gor angegriffen wurde...
»Was sucht ihr schon zu so früher Stunde?«, fragte er Balmer. Der murmelte irgend etwas
unverständliches in seinen Stoppelbart und fiel erneut über den Haufen Unrat her, der in der Ecke des Anbaus
gestapelt war. Er zerrte an einem Holz, dass sich als Stuhlbein entpuppte. Doch das grob behauene Sitzmöbel
hatte sich derart zwischen den anderen Dingen verkeilt, dass es gar nicht daran dachte, sich auch nur einen
Zentimeter zu bewegen. Väterchen Balmer riss an dem Holz herum, wie ein Hund, mit dem man um einen Stock
streitet. Dabei tanzte er hin und her, hüpfte und fluchte. Sebastian war erstaunt, wie viel Ähnlichkeit der Alte
plötzlich mit Rumpelstilzchen besaß, einer Märchenfigur der Brüder Grimm.
Belustigt fragte er ihn: »Väterchen..., wäre es nicht besser, ihr würdet den Gerümpelhaufen von oben
abtragen, um an das Gesuchte zu gelangen?«
Högi Balmer hielt in seinem Bemühen inne, seine ganze Hütte am Stück abzureißen und sah ihn
nachdenklich an. Dann machte er eine wegwerfende Handbewegung, warf einen großen Metallreif, der auf dem
Boden lag auf den Sperrmüllhaufen und sagte in fröhlichem Singsang:
»Ach, Herr, es ist nicht so wichtig. Vater Balmer hat nur nach einem Werkzeug gesucht..., nur nach
einem Werkzeug, gar nicht so wichtig..., kann warten!«
Sebastian glaubte ihm nicht ein Wort! Kein Mensch steht morgens früher auf, um ein Werkzeug in
einem chaotischen Müllhaufen zu suchen, das er an seinem Arbeitsplatz ohnehin fein säuberlich aufgehängt
vorfindet. Forschend fragte ihn Basti:
»Väterchen, wenn ihr möchtet, kann ich den Raum etwas aufräumen, so dass ihr an alles besser heran
könnt. Ich habe den ganzen Tag Zeit und könnte mich nebenbei noch mit Rona und Reno beschäftigen. Ich
würde alles nach draußen tragen, anschließend auskehren und dann alles wieder...«
»Nein, nein, nein...«, unterbrach ihn Balmer, »das müsst ihr nicht tun, ist nicht nötig, Herr, ruht euch
nur aus und erfreut euch des schönen Sonnenscheins!« Damit schob er Sebastian aus dem Schuppen und
verriegelte die grobe Tür.
»Väterchen, was suchtet ihr den so verzweifelt?«, fragte er neugierig. Doch Högi Balmer tat so, als
hätte er ihn gar nicht gehört. Er schulterte sein Tragegestell, nahm seinen Almstab und war schon im Begriff,
loszuziehen.
»Darf ich euch heute wieder begleiten, Väterchen?« Mit dieser Frage hatte er wohl nicht gerechnet. Ein
Lächeln huschte über sein Gesicht und begeistert erwiderte er:
»Aber freilich, Herr, Vater Balmer freut sich, dass ihr mit ihm gehen wollt! Ist gut für euch, die
Bewegung, sehr gut für euch. Kommt nur, Herr, kommt und zieht mit der Herde!«
Lauknitz setzte seinen vorbereiteten Rucksack auf, nahm seine Krücken und folgte dem Alten. Sofort
erhoben sich Rona und Reno, nahmen schwanzwedelnd den Platz an seiner Seite ein und wollten fast platzen vor
Auftrieb. Verwundert stellte er fest, dass sie inzwischen eher ihm folgten, als Balmer! Sie brauchten keinen
Befehl, um wie ein Schatten an seiner Seite zu sein. Wie zwei unauffällige Bodyguards folgten sie ihm, wann
immer er sich außer Sichtweite entfernte.
»Ihr zwei bleibt heute noch hier!«, befahl Sebastian mit kompromisslosem Klang, »Reno ist noch zu
unsicher, für einen Aufstieg und du, Rona, bleibst bei ihm!« Dabei wies er mit dem Finger auf die Hütte.
Kopfschüttelnd zweifelte er an seinem eigenen Verstand. Er redete mit den Hunden, als wären sie verständige
Menschen. Doch erstaunlicherweise hielten sie inne und sahen ihn mit bettelndem Blick an.
»Ihr beiden bleibt heute bei der Hütte!«, wiederholte er. Prompt machten beide kehrt, trotteten zu ihrem
Platz an der Hüttenwand zurück und legten sich in die Sonne.
»Sie gehorchen euch jetzt mehr als Väterchen Balmer, Herr«, stellte der Alte fest. Es war Sebastian
peinlich und er hatte das Gefühl, Högi seine beiden Hunde weggenommen zu haben. Doch Balmer betrachtete
die Entwicklung mit Freuden. Über das ganze Gesicht strahlend fuhr er fort:
»Habt da zwei treue Gefährten gefunden, denke ich, sind sehr treue Seelen, die beiden..., könnt ihr
Väterchen Balmer glauben, Herr, zwei treue Seelen sind das. Väterchen ist froh darüber, dass sie jemanden
haben, wenn er einmal in das Reich der Toten hinübergeht. Ihr mögt sie doch, die beiden..., nicht wahr, Herr, sie
sind jetzt eure Freunde, treue Seelen, die beiden...«
Eine Weile musste Basti darüber nachdenken, was er darauf antworten sollte. Nun kam es ihm so vor,
als wollte ihn der Alte gar nicht bewachen. Eher hatte er jetzt den Eindruck, dass der ihn mehr und mehr wie
einen Sohn annahm. Laut seinen Erzählungen hatte er ja keine Kinder, etwas, das ihn offensichtlich sehr traurig
stimmte. Mit Basti sah er wohl die Gelegenheit gekommen, einem Sohn sein Lebenswerk anzuvertrauen.
Möglicherweise wechselte er unbewusst aus einer Bewacherrolle in eine Vaterrolle. Jetzt tat er ihm leid. Vor
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allem fühlte Basti sich bei dem Gedanken nicht wohl, ihn eines Tages zwangsläufig enttäuschen zu müssen. Sehr
bald schon würde er sich auf den Weg machen, wieder nach Hause zu finden, in seine eigene Welt.
Ein seltsames Empfinden beschlich ihn. Plötzlich empfand er seinen Aufenthalt hier oben nicht mehr so
sehr als Gefangener. Eher war er der Tourist, der bald von einem abenteuerlichen Urlaub Abschied nehmen
musste, um in seinen monotonen Alltag zurückzukehren. Ein wehes Gefühl in seinem Bauch wehrte sich gegen
seinen Verstand, der ihm klar zu machen versuchte, dass er nicht in diese Welt gehörte und zu seinem Leben
zurückkehren musste. Es war der Gedanke an den Abschied von unvergesslichen Ferien.
Zu Balmer sagte er: »Väterchen, wir werden Rona und Reno schon wieder daran erinnern, was ihre
Aufgabe ist, sobald Reno wieder völlig gesund und fit ist. Schließlich sind sie in erster Linie Hirtenhunde! Sorgt
euch also nicht, Väterchen, ich verziehe sie schon nicht zu Schoßhündchen.«
Der Alte nickte beruhigt: »Ist schon recht, Herr, Väterchen Balmer weiß, ihr versteht ihn.« Damit
stapfte er los, der Viehherde entgegen, die es bergauf zu treiben galt. Ohne die zwei Hunde war das wohl nur
möglich, weil das Vieh den Weg seit Jahr und Tag kannte. Die Kühe, Schafe und Ziegen mussten nur ihrer
eigenen täglichen Spur folgen.
Während Högi und Sebastian die breite Schneise hinauf stiegen und hier oder dort ein dummes Stück
Vieh auf den rechten Weg zurück wiesen, dachte Basti nach. Im Grunde war dies hier kein schlechtes Leben, ja
fast ein besseres, als er es kannte. Hier schrieb einem niemand vor, was man den lieben langen Tag zu tun oder
zu lassen hatte. Balmer konnte sich seine Arbeit frei einteilen und ohne Berufsstress für sein Leben sorgen. Er
zahlte keine Steuern, war niemandem verantwortlich, als sich selbst und lebte von dem, was die Berge ihm
gaben. Er, Sebastian hingegen war stets mit der hoch gelobten Zivilisation im Konflikt.
Sehr schnell wurde ihm bewusst, was ihm Högi Balmer gezeigt hatte: Die Zivilisation, die er in den
ersten Tagen auf Högis Alm vermisst hatte und ihm bis dahin Schutz bot, hatte ihn auch jahrelang eingeengt.
Balmer engte nichts ein. Er genoss zwar keinen Schutz gegen Raubzeug, Naturgewalt und Unversehrtheit gegen
Leib und Leben, doch er war frei! Niemand erwartete von ihm, dass er punkt vier Uhr morgens aufstand, um sich
einer bestimmten Tätigkeit zu widmen. Niemand erlegte ihm Regeln auf, in welcher Form er für sein
Fortkommen zu sorgen hatte, niemand forderte von ihm eine Leistung ohne Entgelt. Was Högi Balmer gab, gab
er gern, von Herzen und ohne Zwang.
Über seine Gedanken verlor Sebastian beinahe sein Ziel aus den Augen: Die Erkundung des entdeckten
Weges, der ihn in seine heile, schützende, aber auch fordernde Welt, in sein Zuhause nach Norddeutschland
zurückbringen sollte.
Noch bevor sie den Almboden erreichten, begann er zu humpeln. Bei der Wanderung über den
Almboden verzog Sebastian schmerzhaft das Gesicht, wenn das Väterchen ihn ansah. Und in der Mitte der
Alpweiden, wo die Herde zu Balmers Vorratshaus abschwenkte, blieb er stehen und rieb sich schmerzverzerrt
seine angeschlagenen Rippen.
»Ihr habt noch Schmerzen, Herr, nicht wahr?« Väterchen Balmer blieb mit besorgtem Blick stehen. »Ist
wohl besser für euch, wenn ihr heute wieder zu Balmer Heimstatt zurückgeht und Ruhe sucht. Habt euch doch
zu arg angestrengt, denke ich, viel zu früh angestrengt. Der Medicus wird mit Väterchen Balmer ins Gericht
gehen, wenn er hört, dass ihr euch nicht schont..., wird böse sein mit Vater Balmer, der Medicus, richtig böse!«
Als Lauknitz nicht gleich antwortete, fuhr er fort: »Ihr solltet besser zurückgehen, vorsichtig, könnt
euch viel Zeit lassen, Väterchen Balmer kommt allein zurecht, Väterchen Balmer kommt immer allein zurecht.
Habt also keine Sorge, Väterchen Balmer wünscht, dass ihr bald wieder gesund seid, Herr, sonst nichts. Ihr
müsst Väterchen Balmer nicht helfen, ihr seid Vater Balmers Gast und müsst nicht...«
»Ist schon gut, Väterchen«, beruhigte ihn Sebastian, »es sind nur die Schmerzen, ich helfe euch doch
gern, ich kann ja auch viel von euch lernen. Ich gehe gern mit euch auf die Alm, ehrlich! Ich fühle mich nur
heute nicht ganz wohl, wisst ihr?«
Sebastian staunte über sich selbst und die Gabe so schauspielerisch sicher lügen zu können. Gleichzeitig
meldete sich sein Gewissen. Es tat ihm leid, diesen alten, gutherzigen Mann auf so abscheuliche Art belügen zu
müssen. Mit Selbstverachtung dachte er daran, was Balmer bereits alles für ihn getan hatte. Er pflegte ihn, gab
ihm zu Essen und zu Trinken, gab ihm ein Dach über dem Kopf und sein Vertrauen. Er wollte ihm sicher nichts
Böses, möglicherweise war er selbst nur das Opfer eines Plans, den er nicht verstand. Und nun belog Sebastian
ihn, um ihn noch dazu sehr bald wieder zu verlassen.
Schäbig kam er sich plötzlich vor. Auch wenn er unfreiwillig hier war, so regten sich doch Zweifel in
ihm, ob es der richtige Weg war, sich wie ein Dieb von Högi Balmer und seiner Alm davonzustehlen. Es gab
jedoch auch keine Alternative. Also humpelte er mit ehrlich schlechtem Gewissen langsam zurück, allerdings
nur so weit, bis Balmer mit seinem Herdenvieh seinen Blicken entschwand. Dann umging er die Herde in einem
großen Bogen und trat am anderen Ende der Alm in den lichten Wald ein. Vorsichtig folgte er dem bereits
erkundeten Gelände bis zu der Stelle, an der er den Weg auf der anderen Hangseite entdeckt hatte.
Ständig auf der Hut vor neuen Überraschungen schlich er zwischen den Bäumen hindurch bergab. Mit
Sorge dachte er daran, dass er den ganzen Weg auch wieder zurück musste. Im Talboden stieß er schließlich auf
einen breiten, reißenden Gebirgsbach, den er unmöglich überqueren konnte. Das Wasser hätte Sebastian
augenblicklich davon gespült. Ob er wollte, oder nicht, er musste am Ufer entlang steigen, bis sich eine
Möglichkeit bot, auf die andere Seite zu gelangen. Missmutig stellte Lauknitz fest, dass die Vegetation am Ufer
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üppiger und dichter war, als oben im Wald. Sein Vorhaben geriet ins Stocken. Auch den entdeckten Weg konnte
Sebastian von hier unten nicht mehr einsehen.
Kurz entschlossen stieg er den Hang wieder so weit hinauf, bis ein Gehen zwischen den Bäumen
erträglich war. In der Tiefe rauschte der wilde Bach und er stieg parallel zu ihm tiefer in den Wald. Allmählich
fiel ihm auf, dass dieser Wald eine Besonderheit in sich barg. Je weiter er in ihn eindrang, desto höher wurden
die Bäume. Die Dichte des Unterholzes nahm dafür ab. Wie verzauberte Riesen standen die hellrotbraunen
Stämme auf dem Waldboden. Einige von ihnen besaßen einen Umfang von mehr als zwanzig Metern. Ihre Höhe
konnte Sebastian nicht einmal abschätzen, denn sie wuchsen schier in den Himmel, so dass er bis zu ihrer Krone
nicht sehen konnte. Der Fuß dieser Bäume erschien ihm wie ein riesiger Felsen.
Lauknitz fühlte sich wie in einem urzeitlichen Wald und hätte ihn plötzlich ein prähistorisches Monster
verfolgt, so hätte ihn das nicht mehr gewundert. Es verfolgte ihn kein Saurier! Statt dessen endete der Wald nach
einer halben Ewigkeit. Wie abgeschnitten trat er durch die letzten Riesenbäume und stand wieder auf einer
grünen Wiese, die von großen Felsbrocken durchsetzt war. Einige normale Arvenbäume säumten den Waldrand,
zwanzigfach von ihren großen Brüdern überragt. Vor Sebastian lag ein leicht ansteigendes Almplateau.
Weiter oben sah er das Wildwasser des Bergbaches über Felsen und Steine springen. Dort suchte sich
das Wasser seinen Weg durch ebenes Gelände. Jenseits davon wand sich wie ein heller Streifen der
geheimnisvolle Weg hinauf. Eine mächtige, graue Felsbarriere schien alle Vegetation zu begrenzen. Darüber
warfen sich gigantische, weiß gekleidete Gipfel in das Blau des Firmaments auf. Bläulich schimmernde
Eispanzer füllten die Zwischenräume. Himmelhohe Firne glänzten im Sonnenlicht herab.
Parallel zum wild schäumenden Bergbach stieg Lauknitz weiter. Die Sonne heizte ihm mächtig ein und
er musste sich rasch einiger Kleider entledigen. Das tosende Brausen des Baches verschluckte jegliches
Geräusch. Die Urgewalt der Gletscherwasser bahnte sich unermüdlich und unaufhaltsam ihren Weg ins Tal.
Als Sebastian einmal zurück blickte, erschrak er. Eine mächtige, alles überragende, grüne Wand
erstreckte sich zu beiden Seiten des Weidelandes. Erst jetzt wurde ihm so richtig bewusst, wie hoch diese Bäume
wirklich waren, durch die er geschritten war. Beinahe zweihundert Meter hohe Baumriesen wiegten sich sanft im
Wind, wie friedlich und gemächlich dahinwandelnde Türme. Nie zuvor hatte er von solchen Bäumen gehört,
geschweige denn, welche gesehen!
Dieses beeindruckende Bild faszinierte ihn so stark, dass er seinen Rucksack absetzte, sich auf einem
Stein niederließ und die Ansicht in seinem Tagebuch festhielt. Die Zeichnung sah anschließend so phantastisch
aus, wie das Original: Wie der Einbildung eines Märchens entsprungen.
Nach einer weiteren halben Stunde Aufstiegs erreichte er eine Stelle, an der er den wilden Gebirgsbach
überqueren konnte. Ein riesiger Schwemmboden zähmte das Wasser und zwang es in ein nur zehn Zentimeter
tiefes und fünfzig Meter breites, sandiges Becken. Ruhig und friedlich floss das milchige Gletscherwasser dahin.
Beim durchwaten setzte Sebastian seinen Ehrgeiz dahinein, seinen Fuß auf Felsen zu setzen, die aus dem kalten
Nass ragten. Seine Gehhilfen erwiesen sich hierbei als äußerst vorteilhaft.
An einer Stelle, wo das Wasser eine kleine Sandbank im Kiesbett frei ließ, stockte ihm plötzlich der
Atem. Deutlich zeichnete sich in dem feinen, vom Bach angeschwemmten Sand eine Spur ab. Nun ist eine Spur
im Hochgebirge nicht ungewöhnlich. Doch diese war nicht nur ungewöhnlich. Sie erschreckte ihn! Es schien die
Spur eines Menschen zu sein, doch so übergroß, dass der Verursacher mindestens sechs Meter hoch aufrecht
gehen musste. Deutlich waren die Fußabdrücke im Sand zu sehen: Ferse, Mittelfuß und Ballen. Der große, innen
liegende Zeh war jedoch links wie rechts kleiner, schien wie verkümmert.
Fassungslos starrte er auf die Fährte. Was für ein Riese musste hier durchgelaufen sein? Tief drückten
sich die Spuren in den Bachgrund. Das erzählte Basti, dass hier ein Wesen von beträchtlicher Größe und
Gewicht die Seiten des Baches gewechselt hatte. Unwillkürlich musste er an die Geschichten über Yetis denken.
Affenähnliche, große, zottige Wesen, die man in den unberührten Weiten des Himalaya- Gebirges vermutete. Er
persönlich glaubte nie an die Existenz von Yetis. Aber er glaubte ja auch nie an die Existenz von Drachen! Nach
seiner Begegnung mit den Ungeheuer auf Balmers Alm hielt Sebastian nichts mehr für ausgeschlossen.
Die Fährte konnte noch nicht sehr alt sein. Vermutlich war das unbekannte Wesen in den frühen
Morgenstunden dort unterwegs gewesen. Angesichts der Vorstellung, dass in seiner Nähe etwas unterwegs war,
dass, wie der Drache, sein Leben auslöschen konnte, verspürte Basti kaum mehr den Mut, weiterzugehen. Doch
er musste feststellen, wo er war und wie er wieder nach Hause kommen konnte. Den Gedanken, Balmer nach der
Fährte zu fragen, verwarf er gleich wieder. Was hätte er ihm erzählen sollen, wo er die Spur gefunden hatte? So
hätte Sebastian ihm gleich beichten können, dass er sich heimlich in den Bergen herumtrieb.
Fast trockenen Fußes gelangte er auf die andere Seite. Hier musste er wieder etwas absteigen, denn der
geheimnisvolle Weg schwenkte weiter unten seitlich ab und verlor sich in der Weite der Alplandschaft. Endlich
erreichte er sein Ziel! Dieser Weg, der sein Interesse nicht mehr los ließ, wurde ganz offensichtlich von
Menschen benutzt. Er war sehr ausgetreten, was auf eine hohe Frequentierung hinwies.
Eine Zeit lang stand er da, unschlüssig, ob er dem Pfad bergauf, oder bergab folgen sollte. Sebastian
entschied sich für aufwärts, da der Weg hinab ins Tal sicher mehr Zeit beanspruchte und er ja auch wieder
zurück musste. Aufgeregt und wachsam folgte er der Spur der Zivilisation und stellte fest, dass die den Charakter
eines gut angelegten Wanderweges besaß. Monoton wand sich der Weg durch verstreute Felsen über die
Alplandschaft, stets parallel zu der mächtigen Felsbarriere, die nicht zu enden schien.
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Da blieb ihm fast das Herz stehen! Ahnungslos war er, einer Wegbiegung folgend, um einige Felsen
herumgegangen, als ihn urplötzlich etwas anglotzte, das ihm einen Riesenschrecken einjagte. Als wäre er gegen
eine unsichtbare Mauer gelaufen, prallte er zurück! Genau neben dem Weg, so, dass man unweigerlich damit
konfrontiert wurde, wenn man aus der Deckung der Felsen trat, stand eine fünf bis sechs Meter hohe, düstere
Götzenfigur. Auf mehreren, in den Boden gerammten Pfählen, die dicht mit dunklen Tierfellen behangen waren,
saß ein mächtiger, hölzerner Kopf. Eine in schrillen Farben bemalte, grob geschnitzte Fratze blickte Sebastian
böse an. Der Künstler hatte offenbar sein ganzes Talent darauf verwendet, das Gesicht so teuflisch wie nur
möglich aussehen zu lassen. An Stelle der Augen hatte man grobe Löcher in den Holzschädel gebohrt und langes
Almgras hineingesteckt, so dass sie aussahen, als wollten auslaufende Augen mit langen Klauen nach dem
Betrachter der Figur greifen. Aus der Stirn des Kopfes ragten zwei große, leicht gebogene Hörner, wie Sebastian
sie von Watussi- Rindern her kannte.
Schlagartig erinnerte er sich wieder an das Wesen, das er bei seinem Absturz am Zwischbergenpass
gesehen hatte. Es trug dieselben Hörner, wie diese Götzenstatue! Nun wusste er, dass er keineswegs geträumt,
oder dass ihm seine Phantasie einen Streich gespielt hatte. Der Beweis stand in dreifacher Mannsgröße vor ihm!
Unter dem Kopf waren in einem halben Meter Abstand zwei Querstangen an den Pfählen befestigt, die
wie Arme wirkten. Sebastian musste zwei Mal hinsehen, um zu glauben, was er sah: An diesen Stangen hingen
wahllos angeordnet menschliche Gebeine! Oberschenkelknochen wechselten mit ganzen Schädeln, die sich
gespenstisch im Wind bewegten. Die Unterkiefer waren kunstvoll mit Fasern an den Schädeln festgebunden,
damit sie sich nicht lösten und herab fielen.
Wenn der Wind leicht durch die Knochen fuhr, erklang ein durchdringendes Klappern, als wenn
Nussschalen eine Treppe hinunter kollerten. Von den Tierfellen hingen lange Fasern herunter, die sich im Wind
bewegten und die ganze Figur zum Leben erweckten. Der Anblick dieser ins Nichts gestellten Fratze ließ
Lauknitz kalte Schauer über den Rücken laufen.
Wer stellte so etwas, vor allem warum, mitten in eine Almlandschaft? Sollte die Furcht einflößende
Figur Fremde davon abhalten, diesen Weg zu benutzen? Oder hatte dieses Ding rituellen Charakter? Sebastian
fand keine Antwort auf seine Frage. Statt dessen stellte er bei näherer Untersuchung fest, dass die Knochen und
Schädel echt waren. Es handelte sich keineswegs nur um Plastikimitate. Die Gebeine, die man hier aufgehängt
hatte, stammten von echten Toten!
Tatsächlich verfehlte das Gebilde seine Wirkung nicht, denn Sebastian zögerte, diesem Weg weiter zu
folgen. Wer diese unheimliche Figur aufgestellt hatte, war sicher bereit auch noch andere Mittel einzusetzen, um
ungebetene Gäste fern zu halten. Natürlich hatte er nicht das grenzenlose Interesse, festzustellen, wie weit der
oder die Aufsteller dieses Götzen noch gehen würden, um Fremden den Weiterweg zu verleiden. Dennoch lockte
die Neugier.
Zu wissen, wohin dieser Weg führte, konnte die Antwort auf viele seiner Fragen sein. Im Augenblick
schien es jedoch, dass mit jedem Zusammenhang, den er entdeckte, wieder neue Fragen auftauchten. Nach wie
vor hatte er das Gefühl, in einem fürchterlichen Alptraum gefangen zu sein, aus dem es kein Entrinnen gab.
Dennoch beschloss er, dem Weg noch ein Stück weit zu folgen. In regelmäßigen Abständen fand
Sebastian nun Pflöcke mit Totenschädeln, die am Wegrand in den Boden gerammt waren. Kleine Querstangen,
die man mit Naturfasern an die Pflöcke gebunden hatte, verhinderten, dass die Schädel zur Seite, oder nach vorn
wegkippten. Schön gerade saßen die Schädel mit dem Kiefer auf den Hölzern. Ab und zu gelangte er auch an
neue Götzenfiguren, die der ersten in Sachen Schaurigkeit in nichts nachstanden.
Je weiter er dem Weg folgte, desto karger wurde die Vegetation. Stellenweise hatte das Land schon den
Charakter einer Steppe. Irgendwann gelangte er an einen längeren Holzpflock, an dem ein ganzes menschliches
Skelett hing. An mehreren Querstangen waren die einzelnen Knochen und Glieder fein säuberlich und
anatomisch korrekt mit Fasern oder Lederschnüren angebunden. Zusätzlich hatte man dem Knochenmann eine
Fellweste umgeworfen, ein Stück Fell als Haare auf dem Schädel befestigt, sowie ihm kunstgerecht ein altes,
verrostetes Schwert zwischen die Finger gesteckt. Aus der Entfernung sah es aus, wie ein skelettierter Krieger,
zu neuem Leben erweckt, bereit zu töten, was ihm in den Weg kam.
Gerade, als Sebastian das Schwert näher untersuchen wollte, gewahrte er aus den Augenwinkeln heraus
ein entferntes unregelmäßig auftretendes Blinken. Irgend etwas großes Metallisches schien in weiter Entfernung
das Sonnenlicht zu reflektieren. Es musste sich nahe am Blockgeröll der Felsbarriere befinden. Entweder gab
dort jemand ein Spiegelsignal, oder ein glatter Gegenstand aus Metall bewegte sich im Wind. Von einer zur
anderen Minute begann Sebastian zu frieren. Er hatte plötzlich das Gefühl, von etwas Unheimlichem, tiefgründig
Bösen umgeben zu sein. Als würde er in ein Reich des Todes eintreten, so erstarb jeder Laut des Lebens. Eine
Todesstille umschlich ihn.
Allmählich bemerkte er, dass kein Vogel mehr sang, dass keine Dohle mehr krächzte, ja nicht einmal
mehr ein Insekt summte. Allein der Wind ließ noch ein entferntes, klagendes Geräusch hören. Wie der Hauch
des Todes kam er unsichtbar und geheimnisvoll daher, berührte ihn, griff nach ihm, verflüchtigte sich wieder.
Stille. Nur das Blinken in der Ferne. Alles andere schien gestorben. Eine fürchterliche Leere
umklammerte Sebastian, als wäre alles Leben aus dieser Welt gewichen. Aber da war noch dieses mystische
Blinken...
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Sebastian beschlich eine innere Furcht, die ihn warnte, weiter zu gehen. Doch diesem geheimnisvollen
Lichtsignal wollte er noch auf den Grund gehen. Vorsichtig folgte er weiter dem Weg, stets auf neue
Überraschungen gefasst. Dabei nutzte er jede Deckung aus, um sich ungesehen zu nähern. Wie ein Frontsoldat
sprang er von Felsen zu Felsen, nutzte jede Bodenwelle oder Senke aus und arbeitete sich geräuschlos vorwärts.
Eine halbe Stunde später durchquerte er etwas abseits des Weges eine staubige Senke. Er hatte sich fast
bis auf Sichtweite an das Objekt herangeschlichen, als er endlich aus der Niederung heraus trat, und ihm erneut
der Schreck in die Glieder fuhr! Weit vorn, neben dem Weg, bewegte sich eine Person auf der Stelle. Sebastian
war noch zu weit entfernt, um Genaueres zu erkennen. Aber es sah so aus, als ob sich dort jemand an einem
Felsen zu schaffen machte. War es der heimliche Gestalter der gruseligen Standbilder?
Geduckt schlich sich Lauknitz weiter an. Plötzlich stieß er mit einer seiner Krücken unbedacht gegen
einen Stein, der mit lautem Kollern zur Seite fiel. Sofort erstarrte er, denn er wähnte sich schon entdeckt. Gehetzt
suchte Sebastian nach einer Deckung, fand aber kein geeignetes Versteck. So tief wie möglich duckte er sich in
das Gelände und wartete.
Das Wesen dort vorn jedoch reagierte gar nicht. Es setzte unbeirrt seine Tätigkeit fort. Es bückte sich,
drehte sich zur Seite, wandte sich dem Felsen zu und senkte erneut sein Haupt. Es schien, als würde dort jemand
mit Hingabe Steine aufstapeln. Vielleicht für eine weitere Gruselstatue? Sebastian war erstaunt! War der dort
vorne taub? Bei dieser lastenden Stille musste ihn sein Steinscheppern doch aufgeschreckt haben! Oder verstellte
der sich nur, um Lauknitz in Sicherheit zu wiegen?
Sebastian überlegte, ob er einfach auf den einsamen Gesellen zugehen sollte. Er schien nicht bewaffnet
zu sein. Doch dieser Schein konnte auch trügen! Da fiel ihm etwas ein, das er oft in Wildwestfilmen gesehen
hatte. Ich hob einen handgroßen Stein auf und warf ihn in weitem Bogen auf die andere Seite des Weges. Mit
lautem Krachen und Scheppern schlug er auf dem Geröll auf. Sebastian hielt den Atem an...
In rollendem Echo verhallte der inszenierte Lärm. Doch der vermeintliche Arbeiter dort vorn ließ sich
nicht aus der Ruhe bringen, ja, er sah nicht einmal auf. Stoisch setzte er seine Tätigkeit fort, als würde er seine
Umgebung gar nicht mehr wahrnehmen. Da entschloss sich Basti, ihn einfach mit seiner Anwesenheit zu
überraschen. Was sollte schon Schlimmes passieren, das nicht ohnehin schon geschehen war?
Erhobenen Hauptes schritt er auf die Figur zu, die nicht die geringste Notiz von ihm nahm. Als er
jedoch näher kam, fand seine Verblüffung an diesem Tag ihren Höhepunkt. Kein Mensch stand dort und
verrichtete seine Arbeit! Es war eine neue Götzenstatue, eine weitere Gespensterpuppe, die jedoch
ausgeklügelter nicht hätte gebaut werden können. Auf einem Stock saß der schon gewohnte Schädel mit einer
Perücke verziert. An einer Querstange unter dem Totenkopf hatte man eine alte Jacke aufgehängt, deren Ärmel
sich im Wind hin und her bewegten. Eine weitere Stange, in Hüfthöhe, hielt eine alte Hose, deren Hosenbeine
man am Ende mit Steinen beschwert hatte, damit sie nicht wahllos herumflatterten. Zwischen Ober- und
Unterkörper war die senkrechte Stange getrennt. Diese Stelle war mit frischen Weidenruten, quasi als Gelenk,
versehen und mit Bast umwickelt. Erfasste nun ein Windzug die Jacke, so beugte sich der Oberkörper und drehte
sich etwas zur Seite. Ließ der Wind wieder nach, so richtete sich der Geistermann wie von selbst wieder auf. Aus
der Entfernung glaubte der Betrachter an einen fleißigen Wegarbeiter.
Doch diese Vogelscheuche allein war nicht der Grund für Sebastians grenzenlose Verwunderung. An
diese stummen, grauenvollen Weggefährten hatte er sich ja bereits gewöhnt. Der Anlass seiner Ungläubigkeit
war der Felsen, an dem die Statue aufgestellt war. Von weitem sah er aus, wie jeder andere Felsbrocken. Doch
diesen hier hatte man bearbeitet. Er war schulterhoch, etwa eineinhalb Meter im Durchmesser und rings herum
grob behauen, wie ein Säulenstumpen. Im oberen Drittel aber hatte man ihn schräg abgeschnitten, so dass eine
leicht gewölbte Fläche von mehr als einem Quadratmeter entstanden war.
Diese Fläche jedoch war spiegelglatt. Irgendjemand hatte diese Steinfläche als Tafel benutzt. Eine
handbreit hohe Keilschrift war sauber in den Stein geschlagen. Diese Schrift war zu modern und viel zu sauber
in den Fels gefräst, als dass ein normaler Steinmetz dies hätte bewerkstelligen können.
Selbst die Oberfläche war nicht geschliffen und poliert, sondern regelrecht glasiert, als hätte sie jemand
mit enormer Hitze geschmolzen. Genau so sauber war die Keilschrift gleichmäßig tief in den Stein gegraben. Die
Lettern waren so perfekt ausgebildet, dass sie wie gedruckt aussahen. Sebastian war weder eine solche moderne
Schrift bekannt, noch ein Verfahren, das in der Lage gewesen wäre, einen Felsen so zu bearbeiten. Insgesamt sah
das Gebilde aus, wie ein Grabstein, dem man mit einem Schmelzeisen einen Stempel aufgedrückt hatte. Diese
Steinplatte war so spiegelblank, dass sich die Sonne ab einer bestimmten Position darin spiegelte und das Licht
für wenigstens ein paar Stunden in die Landschaft reflektierte.
Beeindruckt stand Basti vor diesem Felsen, der wohl als Denkmal oder Wegweiser gedacht war. Dieser
Stein war für eine Handwerksarbeit viel zu perfekt. Wie um alles in der Welt hatte ein Bildhauer das
hinbekommen? Sebastian nahm sich die Zeit und fertigte eine Skizze in seinem Tagebuch an. Besonders diese
Schrift hatte es ihm angetan! Sie besaß große, wie auch kleine Buchstaben, die in ihrer Gestalt von erschlagender
Einfachheit waren: Gerade Striche, Bogen, Kreise und Punkte in wechselnder Anordnung. Dieser Stein mit
seiner Inschrift passte so gar nicht in diese Welt ohne Zivilisation. Wer mochte ihn so bearbeitet haben? Eine
weitere Frage, auf die Sebastian vielleicht niemals eine Antwort finden würde!
Ein Blick nach dem Stand der Sonne erzählte ihm, dass es längst an der Zeit war, zurückzukehren.
Wenn er vor Balmer an dessen Hütte sein wollte, musste er sich ganz schön beeilen! Dummerweise wusste er
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noch immer nicht, wohin dieser Weg führte. Er wand sich weiter bergauf, der riesigen Felskante entgegen. Dort
verlor er sich in einem Gewirr aus Felsen. Dahinter konnte Sebastian nur noch hohe, schneebedeckte Berge und
Gletscher erkennen.
War dieser Weg ein Pass? Führte er etwa über diese Berge, möglicherweise auf die andere Seite dieser
Bergkette? Und Balmer wollte diesen Weg nicht kennen? Nun, eher wahrscheinlich war, dass er ihn Lauknitz
verschweigen sollte! Den Alten noch einmal danach zu fragen, wollte er vermeiden. Am Ende würde er noch
misstrauisch und hätte ihm seine Fluchtpläne vereitelt. Also musste Sebastian selbst herausfinden, woher der
Pfad kam und wohin er führte.
Die Entdeckungen dieses Tages ließen Sebastians Gedanken durcheinander schwirren. Diese vielen
Eindrücke machten ihn schwindelig. Ein wenig mochte das wohl auch daran liegen, dass er den ganzen Tag
unter sengender Sonne unterwegs gewesen war. Wahrscheinlich hatte er auch viel zu wenig Flüssigkeit zu sich
genommen. Seine beiden Plastikflaschen, die er am Bach hinter Balmers Hütte gefüllt hatte, waren
ausgetrunken. Im Wald der Riesenbäume hatte er einige kleine Bäche bemerkt. Dort konnte er sich erfrischen.
Auf dem Rückweg fertigte er noch zwei Skizzen von den am Wegrand verteilten, abscheulichen
Vogelscheuchen an. Doch er ahnte, dass diese Gerippe weniger Vögel, als denn Menschen abschrecken sollten.
Aber Menschen waren es, die diesen Weg benutzten! Trotzdem er keine Spuren finden konnte, verriet ihm die
offensichtlich sorgsame Instandhaltung der Mahngebilde, dass der Weg nicht gerade selten begangen wurde.
Der Weg zurück über das Wildwasser und durch den Riesenwald war beschwerlich. Die Anstrengungen
des Tages machten sich deutlich bemerkbar. Als Sebastian die Hochalm erreicht hatte, musste er feststellen, dass
auch Balmer bereits auf dem Heimweg war. Er trieb sein Vieh gerade zur Mitte der Hochalm, als Lauknitz aus
dem Wald trat. Rasch schlug er einen Bogen am Waldrand entlang und hetzte die Schneise hinab. Völlig außer
Atem erreichte er Balmers Hütte.
Auf die Begrüßung von Rona und Reno konnte er sich kaum einlassen. In Windeseile brachte Sebastian
seinen Rucksack ins Haus. Dann setzte er sich mit seinem Tagebuch an den Tisch und wartete auf das
Väterchen. Rona und Reno kündigten sein Erscheinen zuverlässig mit freudigem Gebell an. Als Högi sein
Tragegestell auf dem Tisch absetzte und ihn frohgelaunt begrüßte, war sich Sebastian sicher, dass er seinen
Ausflug nicht bemerkt hatte.
Während Vater Balmer das Essen auf dem Tisch ausbreitete, lief er zum Bach und holte frisches
Wasser. Als er schwer beladen mit zwei vollen Eimern zurückkehrte, erschrak er. Balmer stand am Tisch und
blätterte in seinem Tagebuch! Das hatte ihm noch gefehlt! Nun musste Högi ganz genau wissen, wo er sich
herumgetrieben hatte!
Doch der Alte sah nur kurz auf und sah sich ungeniert weiter Seite für Seite an. Ganz beiläufig
bemerkte er:
»Seltsame Dinge schreibt ihr da in euer Buch, Herr..., seltsame Dinge! Die Bäume habt ihr wohl zu groß
gemalt..., gibt es doch gar nicht, so hohe Bäume... Und seltsame Figuren habt ihr da gemacht...« Dabei sah er
neugierig auf die Skizze des Denkmals, das Sebastian am Nachmittag entdeckt hatte.
Da verstand er gar nichts mehr! Erkannte Balmer nicht die Zeichen, die gerade mal zwei bis drei
Wegstunden von seiner Hochalm in den Fels gehauen waren? Und der Wald mit den Riesenbäumen, fast in
Sichtweite seiner Arbeitsstätte? War der Alte niemals bis dorthin gelangt? Oder wollte Högi mit dieser Art von
Provokation herausfinden, was er noch alles entdeckt hatte?
Seine Spekulationen brachten alle nichts. Sebastian musste ins Tal, dort würden die Antworten auf ihn
warten! Er nahm sich vor, schon an einem der nächsten Tage aufzubrechen. Die Gehhilfen wurden allmählich
zur Dekoration und er hatte in den letzten Tagen durchaus bewiesen, dass er sich in schwierigem Gelände wieder
gut bewegen konnte. So bald wie möglich wollte er den neu entdeckten Weg hinabsteigen. Bei den Dimensionen
dieser Gegend war es ziemlich unsinnig, ihn zuvor zu erkunden. Wie weit würde er denn an einem Tag
kommen?
Nein! Warten wollte er nicht mehr! Warum etwas planen, wo er nicht einmal wusste, wo er sich befand?
Losgehen! Jetzt. Je eher desto besser! Sebastians Entschluss stand fest! Irgendwann würde auch Falméras
Medicus wieder heraufgestiegen kommen. Dann würde es ungleich schwerer sein, sich davon zu schleichen.
Eigentlich konnte der jederzeit wieder hier aufkreuzen. Hatte er nicht etwas von zwei bis drei Wochen gesagt?
Wie viel Zeit war inzwischen vergangen? Eine Woche, oder zwei?
Lauknitz musste zugeben, dass er die Orientierung in der Zeit verloren hatte. Hier oben war Zeit nicht
mehr wichtig. Es gab keine Termine oder Verpflichtungen, also gab es auch keine Zeit in dem ihm bekannten
Sinne. In Högi Balmers Welt wurde Zeit in Gegebenheiten gemessen: Sonnenaufgang, Mittag, Sonnenuntergang.
Das Väterchen benutzte auch Bezeichnungen wie: Zeit der großen Sonne, Mond der fallenden Blätter, oder
Monde des kalten Windes und des Schnees. Auch die Himmelsrichtungen schienen hier eine einfachere
Darstellung zu besitzen. Land der schlafenden Sonne, Land der großen Sonne... Das war Balmers Art, eine
Himmelsrichtung anzugeben. Beinahe erinnerte ihn das an die Orientierung der nordamerikanischen Indianer.
Plötzlich dachte er daran, keine Sonne und keinen Mond mehr zu verlieren. Übermorgen schon wollte
er in Richtung der müden Sonne marschieren. Dann würde er dem geheimnisvollen Weg nach der
schlummernden Sonne hin folgen, um sich dann, im Tal, der geweckten Sonne zuzuwenden. Seine Goldkassette
wollte Sebastian bereits in der nächsten erwachenden Sonne von den Felsen holen, sobald Väterchen Balmer mit
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seinen Herden losgezogen war. Mit Proviant konnte er sich auf dem Weg über die Hochalm aus Balmers
Speicher eindecken. Der Gedanke, dass er den Alten bestehlen würde, kam ihm nun nicht mehr. Schließlich hatte
er ihn ja gegen seinen Willen bei sich beherbergt.
Nachdem sie sich an diesem Abend zur Ruhe gelegt hatten, lag Sebastian noch lange wach. Sein
Vorhaben, ja, man konnte schon sagen seine Flucht, ging ihm nicht mehr aus dem Kopf. Wieder und wieder
spielte er seinen Plan durch, um mögliche Hindernisse zu erkennen, an denen sein Weggehen scheitern konnte.
Die einzige Schwierigkeit sah er darin, genügend Entfernung zwischen sich und Balmer zu bringen, bevor dieser
sein Verschwinden bemerken würde und jemanden benachrichtigen konnte. Vielleicht ließ sich der Alte noch
eine Weile nach seiner Flucht in die Irre leiten? Mit dieser Überlegung schlief Sebastian endlich ein...
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Als er am folgenden Morgen vor die Hütte trat, war Balmer bereits fort. Rona und Reno begrüßten ihn
ungestüm und er vermutete, dass sie jeden seiner Schritte überwachen sollten. Doch sie waren schon so sehr auf
ihn fixiert, dass es ein Leichtes war, mit einem Befehl dafür zu sorgen, dass sie bei der Hütte blieben. Ohne
Gehhilfen stieg Basti mit seinem Rucksack zunächst zu den Felsen am See auf. Ein Blick die Schneise hinauf
klärte die Situation. Balmer war nicht mehr zu sehen. Also führte er seine Herde bereits über die Hochalm.
Die Felsnische, in der er seine Goldkassette versteckt hatte, lag unangetastet im Licht der jungen Sonne.
Beruhigt stieg er weiter über die felsdurchsetzte Weide. Sein Ziel war die Felsgrotte, die er vor Tagen entdeckt
hatte. Sebastian hatte die vage Hoffnung, dass er dort einen Weg auf die hohe Felskante finden würde, von wo
aus er einen besseren Blick auf das Tal vermutete. Jede Erkenntnis über das Gelände, über das er am nächsten
Tag zu Tal steigen wollte, konnte hilfreich sein.
Den Bannwald erreichte er schnell und problemlos. Doch nach der Grotte musste er wiederum lange
suchen. Sie lag so verborgen, dass er große Mühe hatte, ihren Zugang noch einmal zu finden. Vorsichtig stieg
Sebastian am Rande des schäumenden Baches in das Dunkel der Höhle. Auf glitschigen, nassen Steinen fanden
seine Füße nur schwer Halt. Dann verengte sich der Raum. Zwei große Felsen versperrten links und rechts den
Durchstieg. Zwischen ihnen schoss das Wildwasser mit hohem Druck hervor. Der linke, niedrigere Felsriegel
bestand aus brüchigem Gestein und war in natürliche Stufen unterteilt. Vier bis fünf Meter galt es zu
überklettern. Seine Neugier gebot Lauknitz zu erfahren, was dahinter war.
In der Erwartung, eine undurchdringbare Finsternis vorzufinden, schob er seinen Oberkörper über den
nassen Fels. Jenseits dieses Steinriegels empfing ihn erneut eine Überraschung! Keine gähnende Dunkelheit tat
sich vor ihm auf! Statt dessen blickte Sebastian in sehr schwachem Licht auf ein Gewirr von nass glänzenden
Felsen, zwischen denen der Bach unregelmäßig dahinsprudelte. In weiter Entfernung gewahrte er ein Licht,
einen Schimmer nur, der jedoch genügte, den Höhlenraum so weit auszuleuchten, dass er leidlich erkennen
konnte, wohin er trat.
Von oben fielen kleine Rinnsale, oder einzelne Tropfen Wasser herab und begannen Sebastian zu
durchnässen. Er warf einen ärgerlichen Blick hinauf und stellte fest, dass auch von dort Tageslicht herab schien.
Winzige Strahlenkanonen schossen an den Wänden der schwarzen Grotte herab und ließen die fallenden
Wassertropfen wie Diamanten blitzen. Diese Höhle musste, zumindest teilweise, nach oben hin offen sein.
Dennoch war es nass, dunkel und kalt und es schauderte ihn bei dem Gedanken, hier auszurutschen und sich die
Knochen zu brechen. Draußen war Sommer, doch hier in dieser Grotte konnte man ohne weiteres an
Unterkühlung sterben.
Dann lichtete sich das Dunkel. Vor ihm eröffnete sich ein Kessel ungefähr drei Meter weit, umgeben
von den hoch aufstrebenden Felswänden, die weit oben in einer Kante zu enden schienen. Pflanzen wuchsen
über die Kante herab und streckten ihre Wurzeln ins Leere. Ein gigantischer Riss im Fels war es wohl, der dieses
Lichtloch in der Höhle geschaffen hatte. Nach einigen Schritten jedoch führte der einzige Weg wieder in die
Dunkelheit. Die Grotte machte hier einen starken Knick und Sebastian hatte das Gefühl, dass sie nun beinahe in
die entgegengesetzte Richtung führte.
Ohne viel sehen zu können, tappte Lauknitz erneut über glitschige Steine, jederzeit darauf gefasst, für
immer in einem unendlichen, feuchten Loch zu verschwinden. Eine Ewigkeit war er in dieser unwirtlichen
Klamm unterwegs und nur die Neugier trieb ihn weiter. Es wurde empfindlich kalt und nur ab und zu verirrte
sich ein Lichtstrahl in diese tiefe Finsternis. Ein paar winzige Wasserfälle musste Basti erklettern, um weiter
vorwärts zu kommen. Bald war er völlig durchnässt und fror fürchterlich. Dennoch hätte es wenig Sinn gemacht,
einen Pullover oder eine Jacke überzuziehen. Diese würden im Nu vor Wasser triefen.
Irgendwann nahm das Licht am Ende der Höhle wieder zu und Sebastian trat unvermittelt ins Freie. Ein
paar Meter kämpfte er sich noch durch dichtes Gebüsch und Wald, dann stand er da und staunte. Vor ihm
erstreckte sich ein kleines Hochtal mit saftigen Wiesen zu beiden Seiten des Baches, dem er durch das Dunkel
gefolgt war. Die mächtigen Berge, die er bisher nur von Balmers Alm aus über die Felskante strahlen sah,
begrenzten das kleine Tal mit ihren vereisten Mauern. Zu beiden Seiten verdeckte ein breiter Hochwaldgürtel
den Fuß der hohen Berge. Ihre Gletscher jedoch drängten an einigen Stellen bis in den Wald hinein, als
versuchten ihre Zungen an den saftig grünen Weiden zu lecken. Teilweise ragten die Felswände der Bergriesen
so steil auf, dass Sebastian ihre Gipfel erst gar nicht zu Gesicht bekam.
Die Sonne brannte vom Himmel und rasch trockneten seine Kleider, die sich in der Höhle mit Wasser
voll gesogen hatten. Fasziniert wanderte er durch die üppigen Wiesen des Tals, immer entlang des Baches, in
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dem die Gletschermilch aufgewühlt dahin schoss. Rechts und links murmelten kleine Rinnsale von den
Felswänden heran. Sie nährten den Bach, der vor ein paar Tagen auf Balmers Alm zum reißenden Strom
angewachsen war. Wohin diese Wasser endlich flossen, das wollte Sebastian am nächsten Tag ergründen.
Doch in diesem Augenblick genügte es ihm, an diesem Bach entlang zu wandern, die Sonne zu
genießen und sich von den Bildern dieser Natur berauschen zu lassen. Die Wiesen waren übersät mit Blumen in
den vielfältigsten Farben und Formen. Und kannte Lauknitz bis dahin Blumen im Gebirge nur als bescheidene,
kleine bunte Tupfer, so lehrte ihn die Natur dieses Tals, zu was sie noch fähig war. Edelweiß wuchsen hier in der
Größe einer kleinen Untertasse, oder die kräftig rosa schimmernde Blüte des Berghauswurz, die hier eher an eine
Blume der Südsee erinnerte. Vergissmeinnicht wuchs an den Sonnenseiten von Felsbrocken in der Größe der
ihm bekannten, gezüchteten Stiefmütterchen.
Alle paar Schritte musste er stehen bleiben und staunend seine Augen reiben. Überall entdeckte er neue,
ihm unbekannte Wunder der Natur, die selbst seine kühnsten Erwartungen übertrafen. An einigen Felsblöcken in
Waldnähe spross Pfefferminze mannshoch empor und verbreitete weithin einen aromatischen, beruhigenden
Duft, der dann wieder dem süßlichen Geruch von Waldmeister wich, der ebenso üppig zwischen den Bäumen
wuchs. Die Eindrücke dieser Welt begeisterten Sebastian so stark, dass er ganz sein eigentliches Vorhaben
vergaß. Der Ausblick von der Felskante war der Faszination dieser einzigartigen Natur gewichen, von der er nie
etwas gehört, oder gelesen hatte. Er bewegte sich in einer Welt, die verzauberte!
Je weiter Sebastian das Tal hinauf stieg, desto trockener wurde das Gras. Das Gelände wechselte zur
kurzgrasigen Almlandschaft. Latschenkiefern und unzählige Kräuter bestimmten die Duftkulisse. In der Mitte
machte das Tal einen Bogen nach Süden. Als sich ihm die Sicht bis zum Talschluss eröffnete, hielt er den Atem
an. Dieser Anblick übertrumpfte alle Postkartenansichten, die ihm je untergekommen waren. Harmonisch
lichteten sich die Wälder zu kleinen Arvengesellschaften, machten kurzem, gelbgrünem Almgras Platz,
bekränzten sich mit dem leuchtenden Grau mächtiger Moränenwälle, in deren Schoß sich eine strahlend weiße,
gerippte Gletscherzunge zu Tal schob. Optisch machte es den Eindruck, als wolle das Eis das Grün des Tales
einfach überrennen. Dahinter warf sich eine Bastion aus Fels und Eis auf, wie Sebastian sie noch nirgends in den
Alpen erblickt hatte. Auf einer Galerie felsiger Säulen, Pfeiler, Kanten und Flanken thronte eine himmelhohe
Krone von gleißenden Firnen und Eisspitzen, an denen sich kleine, unermüdliche Wolken festkrallten. So
überwältigend stand diese gigantische Kulisse unter dem tiefen Blau des Himmels, dass Lauknitz einfach nur
stumm dastand und schaute. Er kannte Fernsehbilder aus dem Himalaya- Gebirge, die ihn schon beeindruckten,
doch was seine Augen hier erfassten, war von einer solchen Gewaltigkeit, Schönheit und Harmonie zugleich,
dass er dieses Tal am liebsten nie wieder verlassen hätte. Die Sonne übergoss diesen Teil des Tales den ganzen
Tag über mit ihrem Licht. Riesige Felswände schützten es vor ungebändigten Wetterlaunen und der Gletscher
sandte ein ständig kühles Lüftchen in den Talgrund.
Es fiel Basti schwer, sich von diesem Anblick wieder zu trennen, doch die Zeit drängte zur Rückkehr.
Er war in diesem Moment hin und her gerissen zwischen seinem Vorhaben, so schnell wie möglich wieder nach
Hause zu kommen und der Versuchung, einfach noch ein paar Tage hier oben zu bleiben, als ob er Urlaub
machen würde. Dagegen stand jedoch das Argument, dass er hier einige sehr merkwürdige Dinge gesehen und
erlebt hatte, die er aufgeklärt wissen wollte. Denn wie kann man einen unbeschwerten Urlaub genießen, wenn
einem Saurier im Nacken saßen, die es eigentlich nicht geben durfte, wenn von wer weiß von wem menschliche
Skelette in der Landschaft aufgestellt wurden und man als einzige Gesellschaft mit einem alten, durchgeknallten
Almöhi vorlieb nehmen musste. Wenn die Situation irgendwann geklärt war und sich alles als harmlos
herausgestellt hatte, würde er sicher viel Spaß an einem Urlaub in dieser Gegend haben... Ja, wenn...!
Sebastian Lauknitz konnte freilich nicht ahnen, dass sich die Ereignisse bereits am nächsten Tag
überschlagen sollten und er sich erst am Beginn eines dramatischen Abenteuers befand, das sein Leben völlig
verändern sollte und das er bis zum heutigen Tag nicht ganz begriffen hatte...
Auf dem Rückweg hatte Sebastian wesentlich mehr Schwierigkeiten, durch die lang gezogene Grotte zu
gelangen. Der Lichteinfall, der ihm noch am Morgen half, den Weg zu finden, hatte deutlich abgenommen. Die
sich neigende Sonne fiel nicht mehr von oben in den Felsspalt und erreichte nicht mehr den Boden der Höhle.
Mehr rutschte, stolperte und fiel Lauknitz durch die Höhle, als dass er durch sie ging. Eine halbe Ewigkeit später
spuckte ihn der Fels wieder aus. Nach dem Tag in diesem Hochtal kam ihm der Wald unwirtlich, ja fast
bedrohlich vor. Selbst Högi Balmers Alm, über die er kurz darauf schritt, wirkte bedrückender auf ihn, als das,
was er an diesem Tag entdeckt hatte.
Am Waldrand entdeckte Sebastian noch etwas Sonderbares: Unter einem Strauch, der dicke, dunkelrote
Beeren trug, lag ein grobes, schmiedeeisernes Gebilde, dass ihn an eine Bärenfalle aus einem Trapperfilm
erinnerte. Es war leicht angerostet und das Gras wuchs bereits durch die komplizierte Konstruktion hindurch.
Das Gerät musste bereits mindestens einen Sommer lang an dieser Stelle gelegen haben. Er erinnerte sich, dass
Balmer und der Medicus Bären erwähnt hatten. Allerdings vermutete Lauknitz die Anwesenheit dieser Tiere
nicht so nahe bei der Hütte. Möglicherweise hatte der Alte die Fallen nur vorsorglich ausgelegt, denn er
berichtete einmal, dass ein Bär in seine Herde eingefallen war.
Bäume und Felsen warfen bereits lange Schatten, als er sein geheimes Versteck erreichte. Basti stieg
zwischen die Felsen, entfernte Gras und Steine von der kleinen Grotte und zog seine Kassette mit den
Goldmünzen heraus. Wind und Wetter hatten ihr in diesem Erdloch nichts anhaben können. Vorsichtig verstaute
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er seinen kleinen Schatz wieder im Rucksack. Das wievielte Mal eigentlich, seit seinem hastigen Aufbruch in
Norddeutschland?
Vor Balmers Hütte wurde er stürmisch von Rona und Reno begrüßt. Das wunderte ihn, denn er nahm
an, dass sie am Morgen dem Alten auf seine Hochalm gefolgt waren. Die beiden hier anzutreffen, machte
Sebastian misstrauisch. Von Balmers Herde und ihm selbst war nichts zu sehen. Hatte er sie zurückgeschickt, um
ihn zu bewachen? Lauknitz fiel ein Stein vom Herzen, dass die beiden ihm nicht gefolgt waren. Falls Balmer
selbst das Tal nicht kannte, das er an diesem Tag entdeckt hatte, wollte er den Fund geheim halten. Er wusste
nicht, was er hier noch alles erleben würde, bis er endlich in die Zivilisation zurück fand. Dieses Hochtal konnte
ihm vielleicht noch einmal als geheimer Zufluchtsort dienen. Soweit Sebastian das einschätzen konnte gab es nur
diesen einen Zugang durch die Felsklamm. Er lag so versteckt, dass man über ihn stolpern konnte und man
würde ihn dennoch nicht entdecken.
Väterchen Balmer erschien eine halbe Stunde nach ihm bei der Hütte. Rona und Reno kündigten ihn
bereits an, bevor Sebastian ihn noch sehen oder hören konnte. Die beiden erstarrten plötzlich in der Bewegung,
stellten die Ohren auf und stürmten aus dem Stand davon, wie von einer Bogensehne geschnellt. Inzwischen
konnte Basti die Zeichen ihrer Verhaltensweisen so gut deuten, dass er sofort wusste ob sich Freund oder Feind
näherte.
Der Alte kam freudestrahlend den Almhang herab und stellte stolz sein Tragegestell mit prall gefüllten
Beuteln auf den Tisch: »Freuet euch Herr, heute gibt es Gebratenes auf Högi Balmers Tisch! Wenn es euch
beliebt, heizt schon mal den Ofen an, Väterchen Balmer bereitet der Weile den Wafan zu. Ist Väterchen Balmer
direkt vor die Füße gelaufen, das einfältige Tier..., direkt vor die Füße!«
»Was beim Himmel ist denn nun wieder ein Wafan?«, entfuhr es Sebastian. Neugierig sah er zu, wie
der Alte das Zugband eines groben Leinenbeutels zu öffnen begann, der bis zum Bersten gefüllt schien.
Balmer schüttelte unverständlich seinen Zottelkopf und seine Hand vollführte eine gleichgültige
Bewegung in Bastis Richtung. Dabei sagte er verwundert und wohl mehr zu sich selbst: »Bei den Göttern von
Tálinos..., er weiß es nicht mehr! Hat sie für sein Leben gern verspeist, diese Vögel , aber er weiß es nicht mehr!
Hat alles vergessen, drüben, im Reich der Toten..., alles vergessen, als hätte er nie gelebt.«
Er wackelte noch einmal ungläubig sein Haupt hin und her. Dann zog er ein totes Tier aus dem Beutel
und erklärte Sebastian beinahe feierlich: »Ein Wafan! Keinen Braten hattet ihr lieber, als den von einem Wafan,
Herr. ...Bevor ihr in das Reich der Toten aufgebrochen seid«, fügte er noch rasch hinzu, als er bemerkte, dass
Lauknitz etwas sagen wollte.
Der Wafan war offensichtlich ein Vogel. Er hatte Ähnlichkeit mit den Sebastian bekannten
Haushühnern, war aber noch wesentlich größer, als ein Truthahn. Sein Federkleid war dunkelbraun bis schwarz,
an der Bauchseite jedoch flauschig und hellbeige. Das Tier besaß zwei stämmige, schwarze Beine, dafür aber nur
verkümmerte Flügel, die ihm ganz sicher nicht gestatteten, sich in die Lüfte zu erheben. Seinen mächtigen,
grauen Schnabel schien das Riesenhuhn dafür zu nutzen, um im harten Gebirgsboden nach Nahrung zu wühlen.
Er war kräftig, aber nicht zu lang. Ein wenig erinnerte ihn dieser Vogel an einen riesigen Auerhahn.
»So sprecht, Väterchen Balmer, wieso war ich denn überhaupt in das Reich der Toten aufgebrochen?«
Sebastian versuchte den Alten mit dieser Frage zu überrumpeln, vermutete aber, dass er damit keinen Erfolg
haben würde und dass dieser ihm wieder nur irgendwelche seiner Fantastereien zum Besten geben würde.
»Herr..., Väterchen Balmer weiß nicht, wie er das sagen soll... Wisset Herr, Väterchen Balmer musste
dem Medicus beim Sitz der Götter versprechen, nicht mit euch über diese Dinge zu sprechen...«
Der Alte machte eine längere Pause, als musste er sich seine nächsten Worte ganz genau überlegen.
Während dessen band er den Riesenvogel mit einem kräftigen Lederriemen kopfüber an die Hüttenwand. Erst
jetzt fiel Sebastian auf, dass der Kopf des Tieres locker hin und her schaukelte. Balmer musste ihm mit
brachialer Gewalt das Genick gebrochen haben. Der blutige, eingedrückte Schädel des Vogels bestätigte Bastis
Annahme. Väterchen Balmer nahm die Wassereimer und schickte sich an, zum Bach zu humpeln. Sebastian
stand auf und folgte ihm. Um keinen Preis wollte er jetzt locker lassen!
»Also, nun redet schon! Warum wollte ich in das Reich der Toten?« Die Frage drängte er Högi förmlich
auf. Er spürte, wie unangenehm es dem Alten war. Vermutlich wollte er nur Wasser holen, um ihm nicht
antworten zu müssen. Sichtlich gehetzt erreichte er den Bach und füllte die Eimer mit dem klaren Quellwasser.
Högi tat dies so umständlich, dass Sebastian augenscheinlich klar wurde, dass er nur Zeit schinden wollte.
»Väterchen Balmer«, begann Lauknitz erneut, »der Medicus ist nicht hier und er braucht nicht zu
erfahren, was wir miteinander reden! Also... Was wisst ihr über mich und das Reich der Toten? Warum wollte
ich dorthin? Ich kann mich nicht erinnern, jemals von einem Reich der Toten gehört zu haben. Warum sollte ich
also dorthin gewollt haben?«
Der Alte verhielt einen Augenblick in seiner Bewegung. »Dort hin gewollt habt ihr ja auch nicht,
Herr...« Hastig nahm Balmer die vollen Wassereimer auf und trat erstaunlich behände den Rückweg zur Hütte
an. Deutlich sah ihm Sebastian an, dass er sich selbst über seine voreilige Äußerung ärgerte und dass er dieser
Situation nur zu gern entfliehen wollte.
Basti hatte Mühe ihm zu folgen, drängte aber nach: »Väterchen, ihr seid mir noch eine Antwort
schuldig!« Balmer blieb so abrupt stehen, dass ein Schwall Wasser aus beiden Eimern in das Almgras
schwappte. »Herr, Väterchen Balmer hat es dem Medicus versprechen müssen..., der Medicus...«
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»Zum Teufel mit dem Medicus!«, unterbrach ihn Lauknitz barsch, »es geht hier um meine Person..., um
mich, Väterchen Balmer, nicht um den Medicus Andreas, habt ihr das verstanden? Ich habe allmählich die Nase
voll von eurer Geheimniskrämerei, dass das jetzt mal klar ist! Also, Väterchen, habt bitte die Güte und
beantwortet mir einfach nur die Frage: Wie kam ich in das Reich der Toten? Das kann doch nicht so schwer
sein!«
Das Väterchen hielt an, tat einen großen Seufzer und setzte die beiden Wassereimer auf den Boden.
Dann begann er zögerlich zu sprechen, leise, fast flüsternd, als hätte er Angst, der Medicus könnte vom Bruch
seines Versprechens hören:
»Herr.., die Wächter des Totenreichs.., freiwillig seid ihr ja nicht dorthin aufgebrochen... Die dunklen
Wächter brachten euch vor das Tor in das Reich der Toten. Jeder der sein Leben verliert wird dorthin
gebracht...«
»Ihr wollt damit sagen, dass ich tot war, ist es das, was ihr meint?«, fragte Sebastian erstaunt. Insgeheim
glaubte er, dass der Alte wieder einmal seiner Phantasie freien Lauf ließ. Doch die sichere Überzeugung, mit der
Högi sprach, verunsicherte ihn. Er schien wahrhaftig zu glauben, was er sagte.
»Väterchen, wie erklärt ihr euch dann«, begann er von neuem, »dass ich jetzt ziemlich lebendig vor
euch stehe?«
Balmer zog die Falten seiner Stirn noch mehr zusammen und dachte offenbar angestrengt nach. »Das ist es ja,
Herr, ihr seid aus dem Reich der Toten zurückgekehrt! Aber euer Geist ist dort geblieben, denn ihr wisst nichts
mehr von dem, das euer Leben gewesen war.., nichts mehr, gar nichts mehr wisst ihr.«
»Aber wie kann man denn von den Toten zurückkommen, Väterchen, einmal ganz davon abgesehen,
dass ich mich nicht erinnern kann tot gewesen zu sein?« In dieser Frage ließ er schon einen ungeduldigen Klang
mitschwingen, denn es wurde ihm langsam leid, mit diesem verrückten Alten über den Tod zu philosophieren.
»Herr, ich weiß das alles nicht.., fragt den Medicus, der weiß sehr viel darüber. Väterchen Balmer kann
euch eure schwierigen Fragen nicht beantworten. Nur ein oder zwei Mal ist einer aus dem Reich der Toten
zurückgekehrt. Die hatten auch alles vergessen, ihr Leben, woher sie kamen... Die Götter wollten sie noch nicht
haben und haben ihre Körper zurück geschickt, in das Leben. Nur ihren Geist haben sie behalten.«
Unsicher sah er Högi Balmer an. Redete er wieder nur wirr, oder gab es ein Stück Realität an dieser
Geschichte? Sebastian musste zugeben, er wusste nicht einmal, wie viel Wahrheit in dessen eigener
Lebensgeschichte steckte, die er ihm kürzlich auf dem Weg zur Hochalm erzählt hatte.
Lauknitz kniete nieder, schöpfte kühles Wasser aus einem der Eimer und erfrischte sich das Gesicht und
die Stirn. Bei solchen Gedanken konnte man ja wahnsinnig werden! Dann stand er auf und sah Balmer tief in die
Augen. Schuldbewusst senkte der seinen Blick zu seinen Füßen. Doch nicht so, wie man wegschaut, wenn man
jemanden belogen hat, sondern eher in der Weise, wenn man ein streng gehütetes, verbotenes Geheimnis preis
gegeben hat. Wahnsinn konnte Sebastian in seinen Augen jedenfalls nicht erkennen. Aber gerade das
beunruhigte ihn.
»Sagt, Väterchen«, fing er von neuem an, »kennt ihr denn jemanden persönlich, der schon mal aus dem
Reich der Toten wiedergekehrt ist? ...Ich meine jemanden, den ihr auch schon kanntet, bevor er in das
Totenreich aufgebrochen war?«
Gedankenverloren schüttelte Balmer sein greises Haupt und sprach wie zu sich selbst: »Nein, die
anderen beiden kamen aus dem Reich der Toten wie Fremde, keiner im Tal kannte sie mehr. Sie waren schon vor
zu sehr langer Zeit in das Reich der Ewigkeit aufgebrochen. Sie waren die Väter unserer Großväter. Zu lange
her.., die kannten wir ja nicht mehr, viele Sommer alt... Dann kamen sie zurück und wussten nichts mehr. Sie
wurden als die sehr Alten in die Gemeinschaft der Dörfer aufgenommen.
»Ja, Väterchen, aber sie waren doch Fremde für euch, oder nicht?«, bohrte Basti weiter. Er beobachtete,
wie Balmer angestrengt nachdachte. Solche Gedankengänge schienen sein Gehirn allmählich zu überfordern.
»Sie waren keine Fremden, Herr, denn sie kamen ja aus dem Reich der Toten. Sie waren ja einmal
durch die Pforte in die Ewigkeit gegangen.., aus unserem Tal, Herr, aus unseren Dörfern.., aus unseren
Familien...«
»Na schön, Väterchen«, unterbrach er ihn, »aber was ist mit mir, kanntet ihr mich denn schon, bevor ich
in das Reich der Toten aufbrach?«
Balmer runzelte die Stirn und wiegte zweifelnd seinen Kopf hin und her. Sebastian spürte, dass die
Wahrheit aus ihm heraussprudeln wollte. Doch irgend ein Zwang befahl ihm zu schweigen. Gerade wollte er die
Wassereimer zu seinen Füßen aufnehmen und weiter gehen...
»Herr..., ja, Väterchen Balmer kannte euch bereits, bevor ihr in das Reich der Toten eingetreten seid.«
Er schlug sich mit den Fingerknöcheln an den Kopf, als würde er sich selbst dafür bestrafen wollen, ein großes
Geheimnis verraten zu haben. Dann schien sein Mitteilungsbedürfnis für eine Weile über sein Schweigegelübde
gesiegt zu haben:
»Es ist ja nicht so, Herr, dass ihr nur irgendwer seid... Jedem Mann, jeder Frau und jedem Kind in
diesen Tälern seid ihr wohl bekannt, Herr.«
Verwundert sah Lauknitz den Alten an. Entweder tischte er ihm da eine dicke Lüge auf, um die
Wahrheit nicht preisgeben zu müssen, oder aber er verfiel wieder einmal in den Wahn seiner Einbildung.
Sebastian packte den Alten am Arm und sah ihn durchdringend an:
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»Väterchen.., sagt mir ja bloß die Wahrheit! Ich hab’ jetzt echt keinen Nerv mehr auf eure Rätsel,
versteht ihr?« Vater Balmer trat erschrocken einen Schritt zurück und sah betreten zu Boden. Dann legte er
beschwichtigend seine Hände auf Sebastians Arm:
»Versteht doch, Herr.., Väterchen Balmer musste es dem Medicus versprechen... Nichts sollte ich euch
sagen, bis der Medicus vom Hofe Falméras zurück ist.« In seiner bedrängten Lage versuchte der Alte verzweifelt
die richtigen Worte zu finden. »Herr, der Medicus besitzt das Vertrauen Falméras und jeder in diesen Tälern
achtet ihn. Herr.., vergebt dem alten Vater Balmer.., aber er darf euch nichts sagen, bis der Medicus seinem
Gebieter, dem König Bental, Sohn des Tramon berichtet hat, ob ihr sein...« Abrupt hörte Balmer zu sprechen auf
und presste verlegen die Lippen zusammen.
»Ob ich sein.., was?« Sebastian drängte Vater Balmer, weiter zu sprechen.
Doch der hob die beiden Wassereimer auf und setzte wankenden Schrittes seinen Weg zur Hütte fort, ohne sich
noch einmal umzudrehen. Dabei sprach er mit sich selbst, was so klang, als wollte er sich selbst ermahnen:
»Vater Balmer ist kein Plappermaul.., oh nein, das ist er nicht. Hat sein Versprechen gegeben, zu
schweigen, bis Falméras Medicus wieder zurück ist... Vater Balmer ist zu gut, hat schon zu viel gesagt. Högi
Balmer, Sohn des Forath Balmer und der Minneha Balmer, aus dem Leibe der Zusäntis, ist kein Schwätzer.., oh
nein, das ist er nicht.., bei Talris und den Göttern von Tálinos, Vater Balmer wird nun stumm sein, wie er es
versprochen hat!«
Dieses Bekenntnis, treu zu schweigen, wiederholte er, bis sie die Hütte erreichten. Lauknitz trottete
hinter ihm her, entmutigt, weil er ihm wieder keine Informationen entlocken konnte und dachte nach. Was
meinte der Alte mit: ...bis der Medicus seinem Gebieter, dem König Bental, Sohn des Tramon berichtet hat, ob
ihr sein..? Was sollte er für diesen König sein? Ein Feind, jemand auf den er seit langem wartete, ein Helfer in
der Not..? Dieser König, wenn er denn nicht nur in Högi Balmers Phantasie existierte, kannte ihn doch gar nicht!
Auf das Geschwafel Balmers konnte er sich einfach keinen vernünftigen Reim machen.
Wieso war er nach Balmers Meinung jedem in diesen Tälern bekannt? Niemals zuvor war er in dieser
Gegend gewesen und auch sonst kannten nicht viele Leute den Stuckateur Sebastian Lauknitz aus Braunschweig.
Was für ein Interesse konnten die Menschen hier an ihm haben? Sebastian besaß keine besonderen Fähigkeiten
und war auch mit keinen außergewöhnlichen Begabungen ausgestattet, die auch nur im Entferntesten für
jemanden von Nutzen sein konnten. Schließlich kam er zu dem Schluss, dass man ihn mit jemandem
verwechselte. Vielleicht begann diese Verwechselung sogar schon, als er dem Schweizer Polizisten Bruno
Ambühel begegnete. Überhaupt hatte alles Ungewöhnliche erst durch sein Zusammentreffen mit diesem Berner
Gendarmen begonnen...
»Väterchen bereitet euch jetzt den leckersten Wafan, den euer Gaumen je verspürt hat, Herr...«
Inzwischen hatten sie die Hütte erreicht und Vater Balmer begann den totgeschlagenen Vogel zuzubereiten.
Dabei dokumentierte er jede seiner Handlungen, so dass Sebastian das Gefühl hatte, einem Universitätsprofessor
bei seiner Vorlesung zu folgen.
Während Lauknitz den großen Ofen an der Hüttenwand in Gang setzte, begann der Alte das erlegte Tier
zu reinigen. Reno und Rona umtänzelten ihn dabei aufdringlich. Offenbar versprachen sie sich einige
Leckerbissen, die für sie abfallen würden. Als das Wasser im Kessel kochte, legte Balmer den Vogel auf ein
Holzgitter und übergoss ihn mehrmals mit dem siedenden Nass. Augenblicklich stand der Alte in einer
mächtigen Dampfwolke, die sich nur langsam verzog. Rona und Reno hielten skeptisch Abstand. Als Balmer mit
puterrotem Kopf wieder aus der Wolke auftauchte, sah er selbst aus, wie ein nasses Huhn. Seine wenigen Haare
hingen ihm in feuchten Strähnen im Gesicht und sein Umhang fiel schlaff und nass von seinen gebeugten
Schultern.
Vorsichtig begann Väterchen Balmer dem Vogel die Federn auszurupfen. Dabei hatte er zwei
geflochtene Körbe neben sich stehen. In den einen warf er die kleinen weichen Federn des Wafan, während er
die großen, kräftigeren Federn in den anderen Korb sortierte:
»Muss locker in den Körben liegen, das Federkleid, Herr.., ganz locker, damit alles schön trocknet und
nicht schimmelt. Werden noch gut gebraucht, die Federn, denkt Herr.., nicht jeden Tag bekommt Väterchen
Balmer einen Wafan!«
Anschließend hielt Bastis Gastgeber den riesigen Vogel in die Flammen des Ofens. Er schwenkte ihn
darin hin und her und schien dabei Mühe mit seinem Gleichgewicht zu haben. Sebastian wunderte sich, dass er
sich dabei nicht die Hände verbrannte, oder sich seine eigenen Haare absengte. Es sah zum Schießen aus! Etwa
so, wie wenn ein kleiner Zwerg in einem Höllenfeuer mit einem nackten Monstervogel kämpft. Auf diese Weise
versuchte der Alte die letzten stecken gebliebenen Federkiele zu entfernen. Als der Kampf mit dem Monster
endlich gewonnen war, warf Balmer das Federvieh krachend auf das Holzgitter zurück.
Dann schärfte er an einem Stein ein spitzes Messer und trennte das Tier vorsichtig vom After bis zum
Hals auf. Balmer griff in den geöffneten Brustkorb des Wafan und brach ihn mit einem fürchterlichen Knacken
auseinander. Ein nicht gerade angenehmer Duft entwich dem Inneren Balmers Beutetiers. Rona und Reno jedoch
schien der Geruch zu gefallen. Sie waren schlicht aus dem Häuschen. Wie kleine tanzende Teufel umkreisten sie
den Alten, der mit beiden Händen in den Innereien herumwühlte und beinahe schon mit seinem Oberkörper in
dem toten Vogel verschwunden war. Gelegentlich warf Balmer den beiden Hunden etwas zu, das sie akrobatisch
im Fluge schnappten und auf der Stelle hinunter schlangen.
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Nachdem er den Wafan ausgenommen hatte, steckte Balmer den Vogel auf einen Bratspieß und hängte
ihn über das Feuer: »Schön drehen müsst ihr den Braten, Herr.., immer schön drehen und lasst die Flammen
nicht zu hoch stehen, eine schöne Glut müsst ihr halten, Herr.., eine schöne Glut!«
Damit ließ er Sebastian und den Riesenvogel allein. Na der war vielleicht witzig! Wie sollte Basti wohl
Holz nachlegen, jedoch verhindern, dass Flammen daraus schlugen? Er machte die Erfahrung, dass Braten über
offenem Feuer etwas ganz anderes war, als ein paar Dosenwürstchen auf einer elektrischen Kochplatte zu
erhitzen. So focht Sebastian einen ungleichen Kampf gegen die Flammen und gegen einen Klumpen Fleisch, der
für eine ganze Kompanie ausgehungerter Soldaten gereicht hätte.
Nach einer Weile kam Balmer wieder aus der Hütte, eine Schale unter dem Arm, die er neben dem Ofen
absetzte. Eine undefinierbare, beinahe blumig duftende, dicke Brühe befand sich darin. Väterchen Balmer nahm
einen langstieligen Holzlöffel, tauchte ihn in die Schale und strich den Braten mit der Tinktur ein. Mit der Hilfe
des Alten lernte Sebastian das Holz im Kamin vorsichtig so zu drehen, dass die Flammen niedrig gehalten
wurden und die blanke Glut ihren Vogel garte.
Jemand, der noch nie auf diese Weise gekocht hat, wird das wohl nicht glauben, aber das war ihre
Beschäftigung der nächsten drei Stunden: Basti drehte den Spieß und Högi Balmer beschmierte den Vogel
immer wieder mit seiner Soße. Der Erfolg war freilich sichtbar. Allmählich bildete der Geflügelbraten eine
goldbraune, saftige Kruste, deren Wohlgeruch den Weg in ihre Nasen fand und ein unbändiges Hungergefühl
auslöste. Sebastian konnte sich nicht erinnern, wann ihm das letzte Mal so stark das Wasser im Munde
zusammenlief.
Er verzichtete darauf, Balmer noch einmal mit seinen Fragen bezüglich seiner Person und dem Reich
der Toten zu konfrontieren. Statt dessen erkundigte er sich nach der Bärenfalle, die er oben am Rand des
Bannwaldes gefunden hatte.
»Sind schlaue Biester, diese Felsenbären, Herr, ganz schlaue Biester. Wo sie einmal böse Erfahrungen
gemacht haben, bleiben sie meist weg. Väterchen Balmer hat viele solcher Bärenfänge aufgestellt, Herr, an den
Waldgrenzen und Lichtungen. Ihr müsst Acht geben, Herr, wenn ihr unterwegs seid, müsst vorsichtig sein,
Herr.., immer schauen, wohin ihr tretet.., sehr vorsichtig! Schlägt einem glatt das Bein ab, Herr, so ein
Bärenfang.«
»Und...«, wollte Sebastian wissen, »habt ihr schon einmal einen Felsenbären gefangen, mit euren
Bärenfängen?«
Der Alte verzog das Gesicht und schüttelte den Kopf.
»Sind sehr schlau, diese Biester.., sehr schlau, Herr. Einen hatte ich im Fang, vor drei Sommern war
das, Herr.., oben auf der Hochalm. Hatte sich selbst den Fuß abgefressen und ist auf und davon, Herr.., versteht
ihr? Auf und davon ist er und ward nicht mehr gesehen.., sehr schlau, diese Biester. Väterchen Balmer hat ihn
gesucht, bis hinunter zum Bach ist er gelaufen. Im Wasser hörte die Spur einfach auf.., sehr gerissen und schlau,
diese Felsenbären!«
Interessiert hörte er Högi zu. Allerdings galt seine Aufmerksamkeit weniger dem Bären, als denn mehr
der Tatsache, dass der Alte den Bach kannte, der parallel zu dem von ihm entdeckten Weg verlief. Es war sehr
wahrscheinlich, dass Balmer auch den Weg und seine Bedeutung kannte. Doch darüber schwieg er sich aus.
»Wann wart ihr zuletzt an diesem Bach?«, wollte Sebastian nicht ganz ohne Hintergedanken wissen.
»Tiere fliehen doch gewöhnlich in die Richtung, aus der sie kamen, oder?« Vielleicht hätte ihm Balmer
unbewusst verraten, was sich hinter dem Bach und im Tal befand. Doch er schien ebenso gerissen zu sein, wie
sein Felsenbär. Er lenkte Sebastians Frage mit seiner Antwort in eine tote Ecke:
»Ich sagte euch doch, Herr.., die sind schlau, diese Felsenbären.., tun immer etwas anderes, als man
denkt. Haben ihren eigenen Kopf diese Biester.., gerade, wenn sie verletzt sind, Herr.., führen sogar gute Hunde
in die Irre, glaubt dem alten Balmer, Herr.« Dabei wies er mit einer Handbewegung zu Rona und Reno hinüber,
die sich inzwischen vor der Bank zusammengerollt hatten und müde zu ihnen herübersahen.
Entweder war Balmer so naiv und einfach vom Wesen, dass er nicht näher über seine Frage nachdachte,
oder er war derart gewitzt, dass er ihn klar durchschaute und bewusst ausspielte. Doch das konnte er an diesem
Abend nicht mehr herausfinden. Am nächsten Morgen würde er die Gastfreundschaft Balmers verlassen und
selbst herausfinden, wohin dieser Weg führte.
Plötzlich tat ihm der Alte leid. Högi hatte sich stets um ihn bemüht, ihn versorgt und umsorgt. Wie
einen eigenen Sohn hatte er ihn behandelt und er kam sich reichlich schäbig vor, weil er ihn ohne Gruß oder ein
Wort des Dankes verlassen wollte. Außerdem wollte er an Högis Vorratshaus auf der Hochalm Halt machen und
sich von seinen Vorräten bedienen. Er wusste ja nicht, wie lange er unterwegs sein würde, bevor er Hilfe fand.
Nie zuvor hatte Sebastian eine Gastfreundschaft derart missbraucht. Für ihn stand jedoch fest, dass er
irgendwann einmal zurückkommen würde, um sich bei Högi Balmer großzügig zu bedanken.
Der Wafan, dessen Bräunung Basti skeptisch mitverfolgt hatte, stand zum Sonnenuntergang dampfend
auf dem Tisch. Dabei lernte er die Tischsitten des Val Mentiér kennen. Väterchen Balmer tranchierte den Vogel
nicht etwa so, wie es Sebastians Vater bei der alljährlich wiederkehrenden Weihnachtsgans tat. Nein, er riss und
pflückte das gebratene Tier nach allen Regeln der Kunst mit brachialer Gewalt auseinander. Im Handumdrehen
sah ihr Essen aus, als wäre ein Wolfsrudel darüber hergefallen. Bevor er Balmer noch sein Bowiemesser zur
Zerteilung anbieten konnte, ruhte eine zerfranste Riesenkeule auf seinem hölzernen Teller.
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Sebastian stopfte so viel von dem leckeren Vogel in sich hinein, bis er ernsthaft zu platzen drohte.
Proviant, den er im Bauch hatte, würde er nicht tragen müssen, redete er sich ein. Und tatsächlich konnte er zum
einen nicht allzu viele Lebensmittel in seinem Rucksack unterbringen. Ebenso wenig wusste er, wie lange sein
tragbarer Vorrat würde reichen müssen, bevor er halbwegs zivilisierte Menschen angetroffen hätte, die bereit
gewesen wären, ihm weiter zu helfen.
Während des Essens, das beinahe den Charakter eines Abschiedmahls besaß, kreisten seine Gedanken
um das Problem, wie er sich in aller Frühe davonstehlen konnte, ohne den Alten aufzuwecken, oder Rona und
Reno auf den Plan zu rufen. Väterchen Balmer hatte sich zwar sehr schnell daran gewöhnt, dass Sebastian meist
noch vor Sonnenaufgang die Hütte verließ, um ein gewisses Örtchen aufzusuchen, doch wenn er dies plötzlich
mit geschultertem Rucksack getan hätte, wäre der Alte sicherlich misstrauisch geworden.
Der rettende Einfall kam ihm beim Blick auf den noch glühenden Kamin: Der kleine Anbau der Hütte,
Balmers Rumpelkammer! Mit dem Argument, Platz zu schaffen, wollte er seinen Rucksack dort verstauen. So
wäre Balmer bei seinem Verlassen der Hütte nicht misstrauisch geworden. Rona und Reno konnte er mit einem
besonders großzügigen Happen des Wafans dazu bewegen, keinen Mucks von sich zu geben. Sie würden sich
ohne großes Freudengebell auf die Leckerbissen stürzen, wie ausgehungerte Schießhunde und damit eine Weile
beschäftigt sein.
Väterchen Balmer hängte den Rest des Wafans nach dem Mahl am Balken der Hüttendecke auf, genau
zwischen zwei Büschel irgend eines undefinierbaren, getrockneten Krauts, dass sehr intensiv duftete.
»Das hält die Fliegen fern, Herr, damit sie keine Eier in das Fleisch legen.., sind sehr lästig, diese
Fliegen.., gehen an alles, was nicht geräuchert ist.., sehr lästig, glaubt dem alten Balmer, Herr.«
»Aha«, antwortete Lauknitz interessiert, »und was ist das für ein Kraut, das Ungeziefer abschreckt«
Dabei befühlte er die strohigen, länglichen grüngrauen Blättchen, die ähnlich dem Edelweiß einen pelzigen
Belag aufwiesen. Der Duft war angenehm, aber mit nichts vergleichbar, das er jemals gerochen hatte.
»Sind die jungen Triebe der schwarzen Elsirenbeere, Herr.., früh im Jahr muss man sie schneiden, sehr
früh, Herr.., noch vor der Blüte, damit sie ihren vollen Duft hergeben«, erklärte ihm der Alte. »Vater Balmer holt
sie vom Waldrand, dort, wo die Hochalm beginnt. Könnt sie auch kurz mit kochendem Wasser übergießen,
Herr.., dann frisches Fleisch damit einreiben. Hält sich dann bis zum Räuchern frei von allen Plagegeistern, das
frische Wild, Herr.., mögen den Geruch gar nicht, diese lästigen kleinen Geschöpfe.«
Von Elsirenbeeren hatte Sebastian bis dahin ebenso wenig etwas gehört, wie von Wafans, Gors,
Torbuks oder Kareks. Es war ihm inzwischen auch egal. Am Morgen wollte er aufbrechen und diese verrückte
Welt des Högi Balmer für immer verlassen. Obwohl er zugeben musste, dass diese Welt an landschaftlichen
Reizen alles übertraf, was er bis zu diesem Zeitpunkt kennen gelernt hatte. Dennoch wollte er so rasch als
möglich fort von hier. Menschen, die offenbar Gott spielten und mit Genmanipulation Gore und Wafans
züchteten, gehörten einfach nicht in Sebastians Weltbild. Außerdem bezweifelte er, dass der Rest dieser Welt
von solch ungeheuren Eingriffen in die Natur wusste. Schließlich wurde nie etwas auch nur annähernd Ähnliches
in den Nachrichten erwähnt.
Da er eine Antwort nur im Tal finden würde, begann er systematisch und so unauffällig wie möglich
seinen Gang zurück in die Zivilisation vorzubereiten. Mit dem Hinweis an Balmer gerichtet, dass er die meisten
seiner Dinge im Augenblick kaum brauchte, verfrachtete Sebastian seinen vorbereiteten Rucksack und den
Eispickel in den Schuppen hinter der Hütte. Er deponierte ihn gleich hinter der Tür, um ihn mit einem Griff in
die Finsternis zu finden. Um Wasser brauchte er mir vorerst keine Gedanken zu machen. Soweit Lauknitz das
beurteilen konnte, war dieses Land von einer Vielzahl von klaren Gebirgsbächen durchzogen.
Als Väterchen Balmer noch einmal zum Bach hinüber ging, um frisches Wasser zu holen, nahm
Sebastian ein großes Stück des Wafan von seinem Haken und verfrachtete es ebenfalls in den Abstellraum. Dann
schlenderte er noch etwas bergauf, nur so, um sich nach dem reichhaltigen Essen die Beine zu vertreten, wie er
dem Alten glaubhaft machte.
Doch aus den Augen des Väterchen suchte er sich eine erhöhte Stelle und prägte sich noch einmal den
Weg auf die Hochalm ganz genau ein. Am Morgen würde er ihn ja im Dunkeln finden müssen. Vor allem wollte
er sich nicht schon beim Übergang über den Bach oben am See die Füße nass machen. Denn die würden ihn
noch eine ganze Weile tragen müssen, da war sich Sebastian sicher. Marschblasen würden gerade im Abstieg
sehr hinderlich sein.
Wie jeden Abend in den letzten Tagen saßen Högi Balmer und Lauknitz vor der Hütte auf der Bank und
beobachteten den Sonnenuntergang, der sich allmählich unter der Decke der Nacht verkroch. Sebastian fragte
das Väterchen nach verschiedenen Pflanzen aus, die er an diesem Tag auf seinen Wiesen entdeckt hatte und er
verriet ihm bereitwillig ihre Namen, klärte ihn über ihre heilsame Wirkung oder über ihr starkes Gift auf und
freute sich, dass er ein so reges Interesse an seiner Welt hatte. Sie redeten über handwerkliche Fähigkeiten, von
denen der Alte offenbar mehr als genug besaß und mutmaßten, wie sich das Wetter wohl in den nächsten Tagen
entwickeln würde.
Irgendwie nahm Sebastian Abschied von einem Menschen, der ihm so sonderbar erschien, wie kein
anderer zuvor. Körperlich empfand er Balmer als so abstoßend, wie kein anderes Geschöpf auf der Erde, den
Gor einmal ausgenommen. Seelisch jedoch verabschiedete er sich von einem der gutmütigsten Wesen, die ihm je
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begegnet waren. Wie ganz selbstverständlich hatte Högi sein Leben, sein Zuhause und seine Speisen mit ihm
geteilt, ohne auch nur eine Gegenleistung dafür einzufordern.
Vielleicht sah er Sebastian wie einen Sohn, den er mit seiner Marienka nicht haben durfte. Was würde
er empfinden, wenn Basti ihn nun so enttäuschte und einfach grußlos von ihm fort ging? Verbissen überlegte er,
wie er ihm seine Anerkennung aussprechen konnte, ohne ihn von seinem Fortgehen in Kenntnis zu setzen. Fast
gleichzeitig kam ihm eine Idee, nichts ahnend, was er damit viel später noch auslösen würde. Bevor sich
Sebastian zum Schlafen niederlegte, ging noch einmal in Balmers Gerümpelraum an seinen Rucksack, nahm
eine Goldmünze aus seiner Kassette und steckte sie sich in die Hosentasche...
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Unheimliche Dörfer
An einen ausgiebigen, erholsamen Schlaf war nicht zu denken. Die Aufregung vor dem Abstieg ins Tal
und wohl auch die Angst, er könnte zu lange in den Tag hinein schlafen, ließen Sebastian nur dahindösen.
Schwitzend wälzte er sich auf seinem Lager hin und her, schreckte bei jedem noch so leisen Geräusch hoch,
drehte sich herum und schlief wieder etwas ein, um sich Minuten später erneut unruhig herumzudrehen.
Die scheinbar endlose Nacht endete mit seinem spontanen Entschluss, zeitiger als geplant aufzubrechen.
Sebastian erhob sich von seinem derben Lager und taumelte zur Tür, wie immer, wenn er des Nachts einmal
hinaus musste. Wie in jeder Nacht rührte sich Balmer mit keinem Mucks. Dennoch hatte Basti das Gefühl einen
Höllenlärm zu veranstalten. Allein das Knarren der Hüttentür empfand er in dieser Nacht als so ohrenbetäubend
laut, dass er die Tür in Abständen nur stückweise und ruckartig öffnete, um die Geräuschkulisse so klein wie
möglich zu halten.
Dieses ungewohnte Verhalten rief natürlich sofort Rona und Reno auf den Plan. Inständig betete er zu
den Mächten des Himmels, die beiden mögen nicht zu bellen beginnen. Sie bellten nicht. Keinen Laut gaben die
beiden von sich, standen nur schwanzwedelnd da und musterten erwartungsvoll jede seiner Bewegungen. Noch
während Sebastian vorsichtig die Tür hinter sich zu zog, kraulte er beide abwechselnd hinter den Ohren.
Die beiden Hunde folgten ihm natürlich auf Schritt und Tritt, als er sich dem Schuppen zuwandte. Er
nahm das Stück Wafan und warf es den beiden hin. Wie vorausgesehen stürzten sich die beiden auf das arme
Stück Fleisch, so dass Sebastian beinahe befürchtete, dass es zu schreien beginnen könnte. Mit diesem
Leckerbissen waren Balmers Hunde soweit abgelenkt, dass sie zunächst gar nicht registrierten, wie er seinen
Rucksack aufnahm.
Sebastian trat an die Bank vor der Hütte, griff in seine Hosentasche, holte das Goldstück hervor, das er
sich am Abend eingesteckt hatte und legte es gut sichtbar auf Högi Balmers Sitzplatz. Dann wandte er sich zum
Gehen. Augenblicklich waren Rona und Reno an seiner Seite, bereit, ihn überall hin zu begleiten. Na da hatte er
ja etwas angerichtet!
Freute er sich erst, dass sie ihm im Laufe der Wochen so zutraulich geworden waren, so sehr ärgerte er
sich jetzt darüber. Schnell konnten sie sein Unternehmen zum Scheitern bringen. Doch Lauknitz erinnerte sich
an einen Trick, den er schon einmal angewandt hatte. Er zeigte auf ihren Platz bei der Bank und befahl ihnen
leise: »Ihr bleibt heute bei der Hütte!« Zweimal musste er es sagen, dann zogen sich die beiden an ihren Platz
zurück und legten sich hin, ihn immer noch aufmerksam beobachtend. Ohne ein weiteres Wort ging Sebastian
los, vorsichtig und leise auftretend, als könnte er mit seinen Schritten die ganze Welt aufwecken.
Anfangs stieg er noch übertrieben vorsichtig, denn die Gehhilfen, die ihm der Alte geschnitzt hatte und
auf die er sich zeitweise noch gestützt hatte, ließ er bewusst bei der Hütte zurück. Sie hätten ihn nur behindert.
Sehr schnell stellte Sebastian fest, dass er sie gar nicht mehr benötigte.
Als er den kleinen See oberhalb Balmers Hütte erreichte, blieb er einen Augenblick stehen. Wie er
vermutet hatte, stand Balmers Herdenvieh zwischen ihm und der kleinen Furt, die über den Bach führte.
Marschierte er mitten durch die Tiere, lief er Gefahr eines davon zu erschrecken. Wie rasch eine Herdenpanik
ausbrechen kann, wusste Sebastian aus vielen Cowboyfilmen. Oft genügte nur das Niesen eines Eichhörnchens
und die ganze Bande war weg! Was für ihn weitaus bedeutsamer war, ergab sich aus der Tatsache, dass sich
Balmers Viehzeug bei einer Panik nicht gerade leise verhalten würde, was wiederum Balmers Hunde und nicht
zuletzt ihn selbst auf den Plan gerufen hätte.
Kurz entschlossen setzte Sebastian seinen Weg um den See herum fort. Den Bach am Zulauf des Sees
zu überqueren, war nicht angenehmer, als an seinem Ablauf. Dann kam er an der Stelle vorbei, wo er von dem
Gor angegriffen wurde. Högi Balmer hatte ihm zwar versichert, dass diese Kreatur so bald nicht wieder
auftauchen würde, doch wer wusste das schon so genau. Entsprechend nervös schlich sich Sebastian an den
Felsen vorbei.
Gerade hatte er den Kampfplatz von vor vier Wochen passiert, da hörte er hinter sich einen dumpfen
Aufschlag und ein Getrappel, wie von hetzenden Füßen. Erst blieb er still stehen, wagte nicht zu atmen und auf
seiner Stirn brach der Schweiß in Bächen hervor. Wieder ein tappendes Geräusch hinter ihm! Von wegen, der
Gor leckt erst einmal seine Wunden! Dieser Gedanke schoss ihm augenblicklich durch den Kopf. Während ihm
der Angstschweiß in die Augen rann, Sebastian aber sonst zu keiner Bewegung fähig war, überlegte er
fieberhaft, was er tun sollte. Konnte das Biest im Dunkeln sehen? Würde es sich sofort auf ihn stürzen, wenn er
ihm das Gesicht zuwandte? Basti lauschte...
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Zwei Tapser und ein wütendes Schnauben! Wie damals, dachte er und spürte sein Herz bis zum Hals
hinauf schlagen. Nur an diesem Morgen waren Rona und Reno nicht da. Er hatte ihnen ja ausdrücklich
eingebläut, zu bleiben, wo sie waren! Wieder das Schnauben..., ein Stein kollerte hinter ihm über den Boden...
Der Wald, überlegte er, starr vor Schreck... Wenn er es bis zum Wald am Beginn der Schneise schaffen
konnte, dann war er vielleicht in Sicherheit. Dieser Gor konnte ihm kaum mit seinen mächtigen Schwingen
durch das Unterholz folgen, er würde sich schlichtweg die Flügel brechen! Würde er das wirklich?
Das tappende Geräusch hinter Basti näherte sich. Er überlegte nicht mehr. Aus dem Stand versuchte er
so schnell wie möglich vorwärts zu stürmen. Doch er hatte gar nicht mehr an seinen Rucksack gedacht! Mit
fünfzehn Kilo auf dem Rücken beschleunigt niemand von Null auf Fünfundzwanzig in zwei Sekunden...
Genau zwei Schritt weit kam er, dann hielt jemand seinen Fuß fest. Sein Oberkörper mit dem Rucksack
reagierte nicht so rasch und überholte den Rest von ihm. In hohem Bogen flog Sebastian durch die Luft und
landete unsanft auf seinen Rippen, die doch gerade erst verheilt waren. Der plötzliche Schmerz, der wie ein
heißes Schwert durch seinen Leib fuhr, ließ ihn den Gor für Sekunden vergessen. Der ging sofort zum Angriff
über und trabte los! Seine stampfenden Tritte schienen Sebastian zu überrollen...
Doch wie durch ein Wunder hetzte der Gor als schemenhafter Schatten an ihm vorüber.., und dann noch
einer.., und noch einer.., und... Basti blickte staunend hinter den riesigen, flüchtenden Gestalten her, die sich vor
dem Himmel im Norden als springende Silhouetten abhoben. Mächtige, geschwungene Hörner tanzten auf
massigen Leibern dahin. War das Högi Balmers Herde?
Dann sprang es ihm wie Schuppen von den Augen! Lauknitz erinnerte sich an einen der ersten Tage auf
Balmers Alm. Oben auf der Schneise beobachtete er eine kleine Gruppe von Wildziegen, die den ihm bekannten
Mufflons sehr ähnlich waren, nur viel größer. Er wurde von Ziegen ins Bockshorn gejagt!
Ihm fiel ein solcher Stein vom Herzen, dass er Angst bekam, Högi Balmer könnte unten in seiner Hütte
davon erwachen. Seine Gedanken gingen mit ihm selbst ins Gericht: Das war ja ganz großartig! Sebastian
Lauknitz, der erfahrene Bergführer, der die Westalpen wie seine Westentasche kannte, der das Matterhorn mit
Turnschuhen eroberte, erschrak bei der ersten Begegnung mit einer Bergziege zu Tode! Super! Ein
Haselmäuslein piepst und der große Held der weißen Berge macht sich ins Hemd. Ganz toll!
Wütend über sich selbst, rappelte sich Sebastian wieder hoch und klopfte den Dreck von seinen
Kleidern. Er hatte sich die Hände und das Kinn aufgeschrammt und an der Seitennaht seiner Lederhose klaffte
ein kleines Loch. Noch keinen Kilometer von Balmers Hütte entfernt und schon aufgelaufen. Na das konnte ja
noch interessant werden!
Die Wildziegen zogen die Schneise hinauf, nahmen den Weg, der Sebastian noch bevor stand. Die
rechte Hand am Griff seines Bowiemessers stieg er weiter bergan. Bald folgte er der ausgetretenen Spur, die
Balmers Vieh tagtäglich erneuerte. Um das Vorratshaus des Alten auf der Hochalm nicht zu verfehlen, hielt sich
Lauknitz stur am rechten Waldrand. So erreichte er noch weit vor Sonnenaufgang die Vorratsspeicher des Högi
Balmer.
Aus dem Vorrat des Alten nahm sich Sebastian ein großes Stück Hartkäse mit, ein ebenso großes Stück
Trockenfleisch, sowie einen Laib Brot und zwei Äpfel, die so groß waren, dass er sie kaum mehr in seinen
Rucksack bekam. Danach verschloss er Balmers Vorratslager wieder gewissenhaft und machte sich auf den Weg
quer über die Hochalm, in Richtung des Riesenwaldes.
Ein leichter Wind, kaum mehr als ein Hauch wehte über die Hochalm und bewegte ab und zu einen
Strauch, oder ein kleines Bäumchen. Jedes Mal fuhr Sebastian vor Schreck zusammen, ahnte einen Gor oder
einen Felsenbären. Einerseits wünschte er sich den Sonnenaufgang herbei, um besser sehen zu können,
andererseits war er froh, dass Balmer noch eine Weile schlummern würde.
Immer noch stieg er mit Vorsicht und Bedacht, als hätte er das Väterchen selbst hier noch aufwecken
können. Beinahe lautlos schritt Sebastian über den grünen Teppich des Almgrases. Nur gelegentlich stieß er
gegen einen Stein, oder eine Wurzel. Ruhig und friedlich lag die Alm da. Die abnehmende Sichel des Mondes
beschien das Land nur noch sehr spärlich. Lediglich das verhaltene Konzert einiger Nachtinsekten war bei
genauerem Hinhören zu vernehmen. Wenn Sebastian angestrengt lauschte konnte er bisweilen den Wind hören,
wie er die Blätter und Zweige der kargen Sträucher bewegte. Irgendwo vom Wald herüber schrie ein Käuzchen
seinen Klageruf zum Mond hinauf.
Leise und in regelmäßigem Takt wippten die Riemen und Schnallen seines Rucksacks gegen seinen
Körper. Dieser kaum vernehmbare Klang beruhigte ihn. Das Geräusch verleitete ihn zu der Assoziation, er
befände sich im Aufbruch zu einer Bergtour. So oft war er in der Vergangenheit über stille Almen gewandert,
einen der mächtigen Gipfel des Wallis zum Ziel. Wie oft war er schon so gedankenversunken gestiegen, die
Route, den Gletscher, den Grat, die Flanken im Geiste nach den Möglichkeiten ihrer Begehbarkeit abschätzend.
Dieser Morgen konnte einer von vielen sein...
Er war es aber nicht! Und genau das war der Punkt, der dieses ungute, krampfende Gefühl in Sebastians
Bauch hinterließ. Es war eben keiner dieser friedlichen Aufstiege der Vergangenheit, bei denen er versuchte, den
Menschen und ihrer nervigen Zivilisation auf Zeit zu entfliehen. Paradox! Jahrelang befand er sich immer wieder
in der Stimmung solcher Aufbrüche, die ihn in die reine, friedliche Natur führen sollten. An diesem Morgen aber
stieg Sebastian ab, um genau diese Zivilisation zu suchen, die Menschen, die in ihrer Gemeinschaft
Geborgenheit und Schutz versprachen.
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Eigenartig wie wankelmütig dieser Mensch, Basti Lauknitz, doch war! Erst entfloh er der
Gemeinschaft der Menschen, die ihn mit ihren selbst auferlegten Zwängen, Regeln und Gesetzen belasteten, um
dann festzustellen, dass er auf Dauer ohne ihre schützende Hand gar nicht leben konnte. Aber vielleicht blickten
seine Augen ja auch stets durch die Brille der jeweils vorherrschenden Gegebenheit. In dieser Stunde gestand er
sich zum ersten Mal bewusst ein, dass er, Sebastian Lauknitz, eines dieser unsteten, unangepassten, aber auch
bequemen Wesen war, welches permanent bemüht war, der gegenwärtigen Situation zu entfliehen, sofern diese
unangenehm wurde.
Hin und her gerissen zwischen der inneren Ruhe, die er beim Anblick dieser friedlichen, nächtlichen
Landschaft entwickelte und der Tatsache, dass er nicht wusste, wie sicher er sich jederzeit wieder in sein
Zuhause würde flüchten können, gelangte Sebastian auf den höchsten Punkt der Alm, einer kaum als solche zu
erkennenden, sanften Kuppe.
Vor ihm, im Westen, breitete sich der freie Blick auf das Panorama der fernen Bergkette aus, die
Balmer einmal als den Sitz der Götter und das ewige Eis bezeichnet hatte. Hell, beinahe gläsern lagen sie unter
dem Schein der Mondsichel. Nur vier oder fünf Täler trennten Sebastian von diesen gewaltigen Bergen.
Dennoch schienen sie im nächtlichen kalten Licht unendlich weit entrückt. Dort, wo sich das Gebirge weiter
nach Süden ausbreitete, schienen die Gipfel in greifbare Nähe gerückt. Lauknitz sprach diesen Blickwinkel den
nächtlichen Lichtverhältnissen zu. An seinem Erkundungstag, im Licht der Mittagssonne, sah alles viel
ansprechender und heimeliger aus. An diesem nachtkalten Morgen fühlte er sich in der fremden Landschaft sehr
viel verlorener, als in der strahlenden Sonne vor ein paar Tagen. Möglicherweise lag das auch an der inneren
Gewissheit, an jenem Abend wieder sicher in die Geborgenheit von Balmers Hütte zurückkehren zu können.
Diese beruhigende Sicherheit hatte er an diesem Tag nicht. Er konnte nicht wissen, wohin ihn sein Weg führte
und ebenso wenig, was ihn im Tal erwartete.
Beim sanften Abstieg über die Almwiese dachte Sebastian darüber nach, ob er im Tal zunächst in einem
Hotel übernachten und sich über die Rückreisemöglichkeiten informieren sollte, oder ob es klüger war, sich
gleich nach dem Bahnhof durchzufragen und den ersten Zug in Richtung Norddeutschland zu besteigen. Da er
nicht genau wusste, in welchem Landstrich er sich befand, blieben all diese Überlegungen zunächst rein
akademischer Natur.
Allmählich schob sich die dunkle Mauer des Waldes in sein Blickfeld. Inzwischen konnte Sebastian
auch das Rauschen des Gebirgsbaches im Tal hören. Natürlich hatte er an diesem Morgen den Eindruck, es wäre
um so viel lauter als vor einigen Tagen, so, dass es Väterchen Balmer aufwecken würde. Vermutlich aber trug
die klare Luft der weichenden Nacht den Klang deutlicher herüber, als er das am Tage empfunden hatte.
Fieberhaft versuchte er die Stelle wieder zu finden, an der er am Tag seiner Entdeckungsfahrt in den
Wald eingetreten war. Dies erwies sich als schwierig, da es keinen hart abgegrenzten Waldrand gab, sondern
einen allmählichen Übergang der Almlandschaft in Gebüsch und vereinzelt stehenden, kleineren Bäumen, bis zu
lichtem Baumbestand, der immer dichter wurde. Und je mehr Sebastian in den Wald vordrang, desto dunkler
wurde die Umgebung und um so phantasiereicher schlugen seine Gedanken Purzelbäume. Plötzlich waren all die
Wesen, aus Balmers Kopf entsprungen, allgegenwärtig: Gore, Felsenbären, Eishunde...
Hinter jedem Strauch, hinter jedem Baum und in jeder Senke erwartete er, dass sich eine dieser
Kreaturen plötzlich auf ihn stürzte, um ihn zu dessen Frühstück einzuladen. Wie ein Dieb schlich er durch das
Unterholz. Bei jedem Knacken eines Astes oder Zweiges gefroren seine Bewegungen für Sekunden und er
starrte in die undurchdringliche Finsternis. Stellenweise zog ein kalter Dunst durch das Dickicht, wie ein
schleichendes Tier auf Beutezug. Ziehende Fetzen von Bodennebel griffen mit kalter Hand nach ihm.
Auf einem Mal hatte Sebastian das Gefühl, als bewegte sich etwas in seinem Rücken. Er sensibilisierte
seine Sinne und konnte deutlich hören, wie etwas hinter ihm her schlich. Es klang wie ein großes Tier, das ihm
heimlich folgte und seinen Schwanz im Laub des Waldbodens schleifen ließ. Unvermittelt blieb Sebastian stehen
und lauschte in die Nacht. Eine zehntel Sekunde lang hörte er noch das schleifende Geräusch, dann war es still.
Jedes Geräusch erstarb. Der Wald schwieg, als erwarte er eine dramatische Handlung. Angestrengt versuchte
Sebastian die Dunkelheit mit seinem Blick zu durchdringen. Sinnlos! Er bewegte sich langsam weiter. Das
geheimnisvolle Rascheln folgte ihm.
Seine Poren öffneten sich und die Schweißdrüsen begannen fieberhaft zu arbeiten. Er versuchte nicht zu
atmen, um einerseits seine Position nicht zu verraten und um andererseits selbst besser hören zu können.
Lauschend versuchte Sebastian die Laute zu trennen, die an sein Ohr drangen. Er konnte deutlich unterscheiden
zwischen seinen Schritten und dem ihm folgenden Rascheln. Einen Augenblick hielt er an, das Geräusch hörte
auf. Ging er weiter, setzte sich auch das unbekannte Wesen wieder in Bewegung. Es folgte Sebastian auf Schritt
und Tritt, ohne offen in Erscheinung zu treten.
War es ein Felsenbär, der nur auf eine günstige Gelegenheit wartete, um plötzlich aus dem Dunkel
heraus zuzuschlagen? Bären waren kluge Tiere, die zunächst genau ihre Möglichkeiten abschätzten, bevor sie
angriffen. Sie besaßen auch die Eigenart, ihre mächtigen Tatzen bisweilen schleifend über den Waldboden zu
ziehen! Kaum, dass Sebastian in diesem Moment noch zu atmen wagte. Hätte er seinen Mund geöffnet, wäre er
an dem Schweiß erstickt, der ihm über das Gesicht lief.
Seine Gedanken überschlugen sich... Konnte er auf einen Baum flüchten? Plötzlich vorwärts stürmen,
den Rucksack abwerfen und auf einen Baum klettern? Wie schnell konnte er sein? Schneller als ein Bär, dessen
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Interesse zunächst seinem Rucksack galt.., vielleicht! Langsam ging er weiter, ohne noch darauf zu achten,
wohin. Die Sinne bis zum Bersten angespannt tat er so, als hätte er seinen Verfolger noch gar nicht bemerkt. Den
Feind in Sicherheit wiegen.., das war die Taktik! Sebastians Augen durchbohrten die Nacht auf der Suche nach
einem Baum, der ihm mit niedrigen Ästen entgegen kam und auf dem er Zuflucht finden konnte, als ihn plötzlich
aus dem Dunkel heraus zwei Licht sprühende Augen anstarrten...
Abrupt blieb Sebastian stehen, schockiert, als wäre er gegen eine unsichtbare Mauer gelaufen. Das
verfolgende Rascheln war verstummt. Statt dessen stierten ihn aus der Finsternis zwei gelbe Punkte an, bewegten
sich leicht hin und her, wie wenn ein Bär seinen riesigen Körper auf seinen Beinen wiegt. Das Biest hatte ihn
umgangen und stand nun direkt vor ihm! Allmählich schwoll auch das Rauschen des Baches an, drang aus der
Tiefe herauf, als würde es Sebastians Ohren sprengen wollen. Es brüllte ihn an und tatsächlich konnte er nicht
mehr unterscheiden, ob ihn der Felsenbär anbrüllte, oder ob es tatsächlich das dort unten dahin schießende
Wildwasser war.
Dann bewegte sich das glühende Augenpaar langsam auf ihn zu und Sebastian glaubte auch
schemenhaft den massigen Körper des Bären zu erkennen, der wankend auf ihn zu trottete. Er versuchte keine
Reaktion zu zeigen, das Biest nicht unnötig zu reizen, nur eben mit seinen Beinen langsam und ruhig
zurückzuweichen. Das Dröhnen des Baches in der Schlucht wurde unerträglich. Und wie weit er auch
zurückwich, die ihn drohend anstarrenden Lichtpunkte folgten ihm! Schritt für Schritt bewegte sich Lauknitz
vorsichtig rückwärts, krampfhaft bemüht, keine hastigen Bewegungen zu machen, die das Tier dazu reizen
konnte, unverhofft anzugreifen. Dennoch stieß sein Fuß jäh gegen ein Hindernis. Er verlor den Halt, ruderte mit
den Armen und kippte hinten über. Noch im Fallen sah er die böse glimmenden Augen auf sich zuschießen...
Jetzt wirst du zerrissen, fuhr es ihm durch den Kopf. Gleichzeitig teilten sich die glühenden Lichtpunkte
plötzlich auf und wirbelten, scheinbar jeder für sich, um ihn herum. Irgendetwas hielt ihn fest umklammert.
Sebastian konnte sich nicht mehr aufrichten, sich nicht drehen, oder mit den Füßen wegschieben. Mit Armen und
Beinen strampelnd, versuchte er sich aus dem festen Griff zu befreien und in panischer Angst erwartete er jeden
Augenblick den viehischen Schmerz, wenn der Bär die ersten Fleischstücke aus seinem Körper reißen würde.
Doch Sebastian spürte weder Schmerz, noch den Druck riesiger Tatzen, noch einen Atem, der nach seiner
Vorstellung faulig stinken musste. Statt dessen war er wie in einer unsichtbaren Klammer gefangen. Nur die
beiden glühenden Punkte schwirrten wie wild gewordene Wespen um ihn herum.
Nach einigen Sekunden der atemlosen Panik begann Sebastians Gehirn wieder rational zu arbeiten. War
tatsächlich ein Felsenbär über ihn hergefallen? Seine Gedanken begannen sich neu zu ordnen. Hätte ihn ein Bär
ernsthaft in die Mangel genommen, hätte er anschließend wohl kaum mehr die Gelegenheit gehabt, näher
darüber nachzudenken!
Die beiden leuchtenden Punkte tanzten noch immer vor seinen Augen herum und wenn es seinem Blick
für Bruchteile von Sekunden gelang, ihren schnellen, ruckartigen Bewegungen zu folgen, erkannte er kleine, von
innen heraus glühende, fast zierliche Körperchen mit Köpfchen und Gliedmaßen. Hauchzart schimmernde
Flügelchen hielten die kleinen Geschöpfe mit rasanten Bewegungen in der Luft, wie Kolibris oder Libellen.
Ohne sich zu bewegen starrte Sebastian fasziniert die kleinen Wesen an und sah ihren Kapriolen zu, die sie um
ihn herum vollführten. Einige Male gerieten sie so nahe an sein Gesicht, dass er dachte, sie würden ihn
verbrennen. Und in der Tat strahlten die kleinen Tierchen eine sengende Hitze von ihren Leibchen ab, dass er
ernsthaft glaubte, sich daran verbrennen zu können.
Der Kontrast, den diese übergroßen Glühwürmchen in der Dunkelheit des Waldes hervorriefen,
blendete Sebastian derart, dass er völlig blind da saß, als sich die beiden glühenden Punkte plötzlich von ihm
abwandten und wie winzige Kugelblitze in der Unendlichkeit der Nacht verschwanden.
Danach brauchte er eine Weile, um sich wieder zu beruhigen. Einige Minuten lang lauschte er in die
Dunkelheit hinein. Nur das Rauschen des Baches drang aus der Schlucht herauf. Ein Bär, oder irgendein anderes
wildes Tier schien nicht in der Nähe zu sein. Dennoch hielt ihn irgend etwas gefangen, denn er konnte sich
immer noch nicht erheben. Sebastian schnallte sich den Ruchsack vom Leib, streifte die Trageriemen ab und
siehe da, die unbekannten Hände ließen ihn los.
Sein Gepäck hatte sich einfach nur beim Sturz rücklings im Gebüsch verfangen. Ohne die Last seines
Körpers ließ sich der Rucksack einfach aus dem Gestrüpp befreien. Nachdem er wieder seinen Platz auf
Sebastians Schultern gefunden hatte, versuchte dieser sich neu zu orientieren. Das war gar nicht so einfach, denn
er hatte das Empfinden, als klänge das Rauschen von allen Seiten an sein Ohr. Die Bäume warfen den wilden
Lärm des Wassers vielfach zurück.
Umständlich kramte Sebastian nach seinem Kompass. Die Nadel zeigte ihm deutlich, wo Süden war.
Dorthin wollte er gehen, parallel zum Wildwasser, das in der Tiefe gurgelte. Vorsichtig setzte er sich wieder in
Bewegung und.., erstarrte. Augenblicklich verfolgte ihn erneut das schleichende Tier! Aber das konnte doch gar
nicht sein! Denn warum war es dann nicht über ihn hergefallen, als er vom Unterholz gefangen am Boden lag?
Diesmal drehte sich Sebastian um. Sein Blick erfasste nur schemenhafte Stämme, verschwommene
Sträucher und Dunkelheit. Da war es wieder, dieses Rascheln, genau, als er sich zurück drehte! Zum Test drehte
er sich einige Male um die eigene Achse. Das Geräusch begleitete ihn. Da, irgend etwas berührte seine Beine!
Instinktiv griff Sebastian danach...
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Seine Reepschnur war es, die er plötzlich in den Händen hielt und die ihm offensichtlich diesen Streich
gespielt hatte. Sie befand sich aufgewickelt auf seinen Rucksack geschnallt. Irgendwie hatte sich ein Ende gelöst
und allmählich zog Sebastian die halbe Schnur hinter sich her durch das Laub am Boden. Kein Wunder, dass ihn
dieses schleichende Geräusch verfolgte. Er war auf seine eigene Dusseligkeit hereingefallen. Also keine
Felsenbären und Gore!
Doch dass es zumindest einen Gor gab, das wusste er. Und was waren das vorhin für Dinger, die heiß
glühend um seinen Kopf schwirrten? Sicher keine Glühwürmchen, wie er sie kannte! Offenbar veränderte hier
jemand ganz gehörig die biologischen Gesetze dieses Planeten. Die Presse würde sich bei Sebastians Rückkehr
freuen, solch einen Skandal aufdecken zu können! Jedenfalls würde er diese Ungeheuerlichkeiten kaum auf sich
beruhen lassen!
Als er endlich seinen Weg fortsetzte, begann es bereits leicht zu dämmern. Ganz wenig glaubte
Sebastian den Himmel sich verfärben zu sehen. Auf dem Waldboden allerdings herrschte noch blinde
Dunkelheit. Erst im Reich der Riesenbäume fiel etwas Licht in die Finsternis. Unvermittelt befand sich Basti in
dem Wald, der ihn so faszinierte. Wie durch eine monumentale Halle, durch gigantische Säulen gestützt, schritt
er durch die ungewöhnliche Baumstadt. Ab und zu sah Sebastian jetzt die Sichel des Mondes durch die
himmelhohen Wipfel blitzen.
Das tosende Wasser hörte sich zwischen den Baumriesen noch verwirrender an. Bald klang es von hier,
bald von dort, gelegentlich hatte Basti den Eindruck, der Bach strömte über ihm herein. Dazwischen ließ ein
erstes Vögelchen seine zaghafte Stimme erklingen. Nach und nach stimmten andere Vögel mit ein, verhalten
noch, aber bereit, den neuen Tag zu begrüßen. Nebel stiegen auf, zogen still durch den Wald, teilten sich um die
dicken Stämme, benetzten sie, vereinten sich wieder und strebten bergwärts. Nasskalte Hände griffen nach ihm,
überholten ihn, nässten den Blätterteppich am Boden, so dass seine Schritte kaum mehr zu hören waren.
Dann trat er aus den Bäumen hervor auf die weite, karge Almlandschaft. Im Osten stand eine lang
gezogene, hohe Nebelbank und verdeckte noch die Sonne. Sie kroch unmerklich langsam nach Süden. Im
Westen und Südwesten jedoch, dort, wo Balmer den Sitz der Götter glaubte, trafen die ersten Sonnenstrahlen auf
die Gipfel der schneebedeckten Berge. Strahlend rot, wie die blutigen Zähne eines Hais reckten die unzähligen
Berge ihre Spitzen in den violetten Morgenhimmel. Einige Nebelfetzen schlichen wie fliehende Geister die
Almwiese hinauf, bis sie weiter oben von einem Windhauch erfasst, durcheinander gewirbelt und hinauf zu den
hohen Gletschern, Graten und Flanken getragen wurden.
Ein Felsen, direkt am Waldrand, lud zu einer ersten Rast ein. Doch an Essen oder Trinken dachte
Sebastian nicht. Viel zu sehr ließ er sich vom Sonnenaufgang verzaubern. Der vollzog sich so geheimnisvoll wie
dieses Land, in das er hier geraten war. Die ersten Strahlenlanzen durchbrachen die obere Schicht der
Wolkenbank, schossen wie das Feuerwerk aus einer Laserkanone an den himmelwärts ragenden Baumstämmen
entlang, tauchten sie zur Hälfte in purpurnes Licht und strahlten in die Tiefe des Waldes, als müssten sie jeden
Winkel absuchen. Wie im hohen Saal einer Kathedrale, in den das Licht durch hohe Fenster einfiel, brach sich
der Morgenschein seinen Weg durch die Dämmerung der säulenhaften Baumgiganten.
Drüben, aus der Nebelbank trat eine Gruppe von Tieren heraus. Bedächtig, jeden Tritt prüfend, schritten
sie eines nach dem anderen majestätisch auf die Wiese. Sie hatten die Gestalt mitteleuropäischer Rothirsche, nur
in der Schulterhöhe etwa einen halben Meter größer. Stolz trugen sie beeindruckende Geweihe auf ihren
Häuptern, die in der Morgensonne silbrig glänzten. Mit diesen Waffen waren sie sicher ernst zu nehmende
Gegner für jedes Raubzeug. Vom Hals an, über ihre Schultern, bis beinahe über den ganzen Rücken und ihren
Hinterläufen trugen sie ein zottiges, lodenartiges Fell, ähnlich dem eines Wisents. Sie witterten argwöhnisch
nach allen Seiten, bevor sie sich hingebungsvoll den saftigen, taubenetzten Kräutern widmeten. Still beobachtete
Sebastian, wie sie friedlich äsend am östlichen Waldrand entlang zogen.
Stück für Stück eroberte sich die Sonne den frühen Morgen. Überall erwachte das Leben. Große,
rebhuhnartige Vögel tanzten flügelschlagend im nassen Almgras umeinander. Entweder handelte es sich um
einen Balztanz, oder diese Tiere waren schlichtweg betrunken. Die Szene gestaltete sich so urkomisch, dass sich
Sebastian zusammenreißen musste, um nicht laut loszulachen.
Ein schneller Schatten wanderte entgegen der Windrichtung über die Alpweide. Erschrocken blickte
Sebastian auf, vermutete schon wieder einen Gor. In eleganten Schwüngen zog ein Greifvogel seine Bahn am
stahlblauen Himmel, verschwand über der monumentalen Mauer des Waldrands, um einen halben Kilometer
weiter westlich wieder aufzutauchen. Ein langgezogenes, heiseres Plüüüüf ließ der Vogel erklingen, dessen
Größe Basti kaum abschätzen konnte.
Im summenden und brummenden Klang tausender, erwachender Insekten spielte eine Gruppe von
jungen Murmeltieren, skeptisch bewacht von ihrer Mutter, die auf einem kleinen Erdhügel Wache hielt.
Zumindest diese Tiere schienen hier nicht mutiert zu sein. Ihr Aussehen und Verhalten glich dem, der ihm
bekannten Nager aus dem Wallis. Der Greifvogel am Zenit schien diese drolligen Erdbewohner indes nicht zu
beunruhigen. Anscheinend standen sie nicht auf seinem Speiseplan.
Dann brach die Sonne vollends hinter der Wolkenbank hervor. Augenblicklich überflutete warmes Licht
die ganze Landschaft. Über dampfendem Boden versuchten die letzten Nebel himmelwärts zu fliehen. Doch sie
kamen nicht weit. Die Sonne löste sie einfach auf, ließ die filigranen Gebilde gnadenlos sterben. Ein Tag war
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geboren. Die Dämmerung als Nachgeburt zog sich immer tiefer in den Wald hinein und in die Schlucht hinab,
bis auch sie unaufhaltsam verging.
So voll Frieden und Harmonie war dieses morgendliche Bild in seiner gesamten Anmut, dass Sebastian
kaum mehr in den Sinn kam, gar nicht freiwillig hier zu sein. Doch das sollte sich bereits in den nächsten
Stunden ändern...
Zunächst aber sah es so aus, als hätte er nichts weiter, als eine schöne Hochgebirgswanderung vor sich
und als hätte er diesen Tag genießen können. Dort, wo sich die Sonnenstrahlen das Terrain eroberten, stimmten
die Insekten ihr summendes Konzert an. Die Bergdohlen begannen mit ihrem typischen »Krooog, Kroooog« ihre
akrobatischen Segelflüge im Wind und unterbrachen ihre Manöver nur, wenn sie etwas Fressbares erspäht
hatten.
Nachdem Sebastian seine Bekleidung der aufsteigenden Wärme angepasst hatte, setzte er seinen Weg
fort. Wie an seinem Erkundungstag folgte er dem Lauf des Wildwassers. Hier und dort schwenkte er weiter in
die Alpweide hinein, um allzu steilem Gelände oder Felsen aus dem Weg zu gehen. Dabei entdeckte Sebastian
wiederum eine Vielzahl von Kräutern und Blumen, die ihm völlig unbekannt waren. Sie faszinierten ihn aber mit
ihrer einfachen Schönheit und Farbenpracht, dass er oft anhielt, um sich ihr Bild einzuprägen.
Am späten Morgen erreichte er dann die Stelle, an der er bereits einmal den Wildbach durchquert hatte
und wo ihm der geheimnisvolle Fußabdruck auffiel, der ihn an den Mythos des sagenumwobenen Yeti erinnerte.
Um keine nassen Füße zu bekommen, sprang er von Sandinsel zu Sandinsel, von Stein zu Stein, über die
verzweigten, sich ausbreitenden Arme und Rinnsale des Wildbachs. Eine neue Spur fand Sebastian indes nicht.
Das beruhigte ihn ein klein wenig, denn er konnte sich einreden, dass er im Augenblick wohl vor Angriffen
irgendwelcher unbekannter Spezies sicher war.
Kurz darauf erreichte Sebastian auf der anderen Bachseite den Weg, der sich über die Almlandschaft
dahin zog. Diesmal folgte er ihm bergab, im Gedächtnis noch immer die gruselige Erinnerung an seinen ersten
Ausflug auf diesem Pfad. Er spürte ein seltsames Gehempfinden, denn er war nicht mehr gewohnt, auf einem
geebneten Weg zu laufen, noch dazu auf einem mit Gefälle. In den letzten Wochen hatte er sich ja nur auf Waldund Wiesengelände bewegt. Väterchen Balmers Weg hinauf zu seinem Almsee und weiter zum Vorratshaus
zählten nicht. Sie glichen eher einem primitiven Trampelpfad.
Auf dem bequemen Weg, den auch ein Personenkraftwagen hätte gefahrlos benutzen können, kam er
gut voran. Starke Neigungen gab es nicht. Bei Gefälle oder Steigung wich die Wegführung einfach ins Gelände
aus. Unzählige Serpentinen beschrieben daher die Strecke. An zu weit ausholenden Wegschlaufen und
Biegungen kürzte Sebastian einfach durch das Gelände ab.
Rasch kam er auf den Gedanken, dass bisweilen schwere Transporte diesen Weg benutzen mussten,
denn wie sonst sollte sich eine so aufwendig ausgebaute Wegführung erklären. Menschen, die zu Fuß, mit
Lasttieren, oder mit landwirtschaftlichen Fahrzeugen unterwegs waren, bewältigten gewöhnlich auch mittlere
Steigungen.
Hinter einer weit in das Gelände ausholenden Wegbiegung, die durch einen von Felsen durchsetzten
Hügel verdeckt war, stieg Sebastian erneut das kalte Grausen ins Gemüt. Unbedacht war er um die Kehre
gelatscht, als ihn ein Gegenstand abrupt stoppen ließ. Wie bereits vor Tagen weiter oben auf diesem Weg stand
unverhofft eine der grausigen Vogelscheuchen vor ihm. Ein Skelett, an ein zweieinhalb Meter großes Kreuz
gebunden, blickte den Weg hinab.
An seinen Knochen hingen noch die Fetzen irgendwelcher Kleidungsreste und bewegten sich
gespenstisch im Wind. Lange Naturfasern, welche die Einzelteile des Knochenmannes in ihrer Position am
Kreuz hielten, baumelten von den Gebeinen herab. Auf dem Schädel saß ein alter, ausgeblichener und zerbeulter
Hut, der in seiner Glanzzeit wohl einmal als Zylinder das Haupt eines vornehmen Mannes zierte. Er war an der
Krempe schlicht mit einfachen Holznägeln an den Schädelknochen genagelt. Dass die Nägel dem Schädel Risse
zugefügt hatten, schien den Baumeister dieses Gebildes nicht weiter gestört zu haben. Brustkorb und Beine des
Skeletts waren mit Zweigen und Fasern geschient, damit sie nicht herab fielen.
Im Grunde war es eine ebenso abschreckende Geisterpuppe, wie Sebastian sie bereits weiter oben auf
diesem Weg entdeckt hatte. Offenbar war diese gesamte Feldstraße von solchen Grausigkeiten gesäumt. Eine
Kleinigkeit jedoch fiel ihm an diesem Gerippe auf: Es trug eine grobe Kette um seinen Hals, deren Anhänger in
leisem Takt gegen die Rippenknochen schlug. Die Kette war weniger spektakulär. Sie bestand aus ineinander
gefügten, nicht sehr fein geschmiedeten Ringen, je ein großer an einen kleinen.
Interessanter war der Anhänger, eine ungefähr sieben Zentimeter große, schwere Metallscheibe, die
offenbar gegossen worden war. Sie ähnelte dem Orden eines mittelalterlichen Würdenträgers. Auf der Rückseite
war sie grob geschliffen. Die Vorderseite aber zeigte ein Bild: Unten zwei gekreuzte Schwerter oder Lanzen,
darüber eindeutig erkennbar ein Drache mit ausgebreiteten Schwingen, auf dessen Schultern ein Mensch saß, als
würde er auf ihm reiten. Deutlich konnte Sebastian erkennen, dass diese Medaille nicht geprägt, sondern
gegossen worden war. Allein das Metall war ihm nicht bekannt. Seinen Eigenschaften nach musste es Silber
sein, doch es wies keinerlei Oxydationsspuren auf und besaß einen sehr matten Glanz, der eher schäbig wirkte.
Er überlegte, ob es eine Art Grabschändung wäre, wenn er die Medaille einfach mitnehmen würde.
Sobald er wieder zuhause war, musste er seine unglaublichen Erlebnisse vielleicht beweisen können. Ein solcher
Fund konnte seinen Bericht glaubhaft untermauern. Noch zögerte er, die schwere Kette an sich zu nehmen. War
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es der Respekt vor dem Toten? Möglicherweise wurden die Menschen hierzulande auf diese makabere Weise
bestattet? Hatte er das Recht, die Totenruhe zu stören, nur, um seinen Aufenthalt in dieser Gegend später
beweisen zu können? Andererseits... Wer sollte ihn schon anklagen? Unter Umständen war die Kette auch noch
wertvoll? Das wäre dann eine Entschädigung für seine unfreiwillige Verschleppung an diesen gottverlassenen,
weißen Fleck auf was weiß der Himmel für einer Landkarte!
Nicht ganz ohne Angst griff Sebastian zu und riss die Kette vom Hals seines bleichen Trägers. Dabei
brach er zwei Halswirbel aus der Skelettstruktur. Klackernd fielen sie zu Boden und er hielt den Atem an, weil er
befürchtete, das Geräusch wäre kilometerweit zu hören. Schnell, als fühlte er sich beobachtet, wickelte er die
Kette in sein Halstuch und steckte sie in die Seitentasche seines Rucksacks.
Die Sonne stand hoch am Himmel. Es wurde unerträglich heiß. Sebastian beschloss, hinter der Deckung
eines größeren Felsens kurz zu rasten und hielt nach einer geeigneten Stelle Ausschau. Dabei fiel ihm auf, dass
er sich bereits auf der Höhe des Riesenwaldes befand. Drüben, jenseits der Schlucht ragte die düstere Mauer der
riesigen Bäume in den flimmernden Himmel. Wie ein natürliches Bollwerk, das eine urzeitliche Armee aufhalten
sollte, stand der Wald mauergleich da.
Eine Weile beobachtete er seinen Rand. Huschte dort drüben nicht etwas aus dem Wald? Vermutete er
Verfolger, die plötzlich zwischen den mächtigen Stämmen hervorströmen und ihm nachhetzen könnten?
Einbildung, Angst! Denn er sah nur den unwirklich in gleißender Mittagshitze daliegenden Wald und die
Wiesenlandschaft. Leer und verlassen lag das Land, als hätte nie ein Wesen seinen Fuß darauf gesetzt.
Mittlerweile witterte Sebastian überall Gefahren. Die Erlebnisse der letzten Wochen hatten aus einem
unbekümmerten, selbstsicheren Sebastian Lauknitz einen ängstlichen, verunsicherten Menschen gemacht. Allein
die Einsamkeit der Stunde, die Wärme und die strahlende Helligkeit des Lichts, sowie die tausenden, friedlichen
Stimmen der Natur beruhigten ihn wieder.
An einer Felsgruppe, die aussah, als hätte Gott selbst sie auf dieses Land geworfen, lud er den schweren
Rucksack von seinen Schultern und setzte sich mit dem Rücken an den Felsen. Das ausgedörrte, fast gelbe Gras
protestierte leise knisternd, als Sebastian es sich bequem machte.
Er nahm einen Schluck aus der frisch gefüllten Feldflasche und zwinkerte geblendet in die Sonne.
Lauknitz mochte diese friedlichen Augenblicke in den Bergen. Oft gaben sie ihm die Ausgeglichenheit zurück,
die sich in seinem Alltag, bei seiner täglichen Arbeit auf dem Bau verrauchten. Auf den Hochgebirgsweiden,
weitab der Städte Lärm, in der Abgeschiedenheit, ließ es sich stets friedlich träumen und ungestört nachdenken.
Kein Motorenlärm störte die verträumten Stunden, die er oft an den sonnenbeschienenen Berghängen
im Wallis verbrachte. An solchen Plätzen tankte seine Seele regelmäßig auf, um die nächste Zeit des Alltags zu
überstehen. Der leise Gesang der Vögel, das monotone Summen der Insekten und das auf- und abschwellende
Rauschen des nahen Wildbachs machte seine Glieder schwer und seine Sinne müde. Schließlich war er bereits
seit letzter Nacht auf den Beinen!
Einen Moment gab er der Versuchung nach, schloss die Augen und versuchte sich vorzustellen, auf
Grächens Hannigalp zu sitzen und zu wissen, dass am Abend ein gutes Essen, eine kühle Dusche und ein
weiches Bett auf ihn warteten. Im Geiste verwandelte er die leisen Geräusche und leuchtenden Bilder der
Umgebung in Musik, in eine eigene, harmonische Komposition der Friedlichkeit und Ruhe. Einen Augenblick
nur träumen, um sich wieder zu sammeln... Einen kurzen Moment nur...
Plötzlich drang Hundegebell an Sebastians Ohr. Zuerst ganz leise, so dass er das Gefühl hatte, es
gehörte zur empfundenen Symphonie seiner Seele. Dann wurde es lauter und schließlich störte es den feierlichen
Klang seiner Phantasie. Hunde!
Mit einem Mal war er hellwach! War er eingeschlafen? Hatte er das nur geträumt? Angestrengt lauschte
Sebastian, versuchte die verschiedenen Klänge der Natur mit seinem Gehör zu durchbohren. Sicher hatte er sich
das wieder einmal nur eingebildet...
Nein, halt! Da! Ganz deutlich hörte er es wieder. Es war das Bellen eines Hundes! Rona und Reno?
Hatte der Alte sie auf seine Fährte angesetzt? Konnten die ihn in so kurzer Zeit gefunden haben? Nun ja,
Sebastian hatte einige Zeit im Wald vertrödelt, auf der Jagd nach einem vermeintlichen Verfolger, dann die Rast
beim Sonnenaufgang und wie lange hatte er schon am Fels in der Sonne gesessen? Trotzdem, selbst wenn Rona
und Reno mühelos seiner Spur folgen konnten, Balmer war auf gar keinen Fall so schnell zu Fuß!
Oder hatte er die beiden Hunde einfach hinter ihm her geschickt, damit sie ihn auf seinem
vermeintlichen Ausflug beschützten? Aber wenn er Bastis Goldmünze auf der Bank gefunden hatte, musste Högi
doch klar geworden sein, dass sich Sebastian von ihm verabschiedet hatte. Er war sich nicht sicher.
Statt dessen trat das Gebell deutlicher an sein Ohr. Und er vernahm nur einen Hund! Außerdem hallte
der Klang von unten, also aus dem Tal zu ihm herauf. Der Alte hingegen wäre mit seinen Hunden vom Berg her
gekommen, eben den Weg, den Sebastian selbst gegangen war!
Krampfhaft dachte er nach. Hatte er Freund oder Feind zu erwarten? Traf er so unverhofft auf Hilfe,
oder nahte dort jemand, der ihn abfangen und ihm den Weg ins Tal abschneiden sollte? Sebastian stellte sich auf
und kletterte ein paar Fuß hoch den Felsen hinauf, bis er seinen Kopf über die Felskante recken konnte. Zu sehen
war nichts, außer dem unübersichtlichen, kurzgrasigen Gelände und einem Stück des Weges. Doch der raue
Klang des Hundes kam näher!
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Fieberhaft überlegte Sebastian, was er tun konnte, um unentdeckt zu bleiben. Er befand sich etwa
dreißig bis vierzig Meter vom Weg entfernt, auf der dem Weg abgewandten Seite des Felsens. Sehen konnte man
ihn nicht, wenn man nicht gerade nach ihm suchte. Aber konnte ihn ein Hund wittern? Ängstlich prüfte er den
Wind. Er wehte von Nordnordwest, also stand er gegen den Wind. Doch wenn der Hund auf dem Weg blieb,
musste er hinter der großen Kehre unweigerlich seine Witterung haben.
Unaufhörlich kam das Gebell näher. Aber es war nicht mehr allein! Auch Stimmen trug der Wind zu
Sebastian herauf. Menschliche Stimmen! Es musste eine ganze Gruppe von Menschen sein, die da den Bergweg
heraufkam. Ein Suchtrupp? Aber würde der sich nicht mucksmäuschenstill verhalten? Oder gezielt nach
Personen rufen?
Statt dessen hörte er noch etwas anderes, das er erst gar nicht wahrgenommen hatte, das ihm auf einem
Mal um so intensiver in sein Gehör drang: »Wammm, wammm, wammm,..« Ein dumpfer Laut, wie wenn jemand
auf ein Autodach schlägt, im stoischen Takt. Seine Gedanken überschlugen sich. Er dachte an die übergroße
Fußspur am Bach. Wie groß musste ein Wesen sein, um beim Gehen solche Laute zu verursachen?
»Wammm, wammm, wammm...« Bei jedem Zyklus schien es lauter zu werden, bedrohlich näher zu
kommen. Jeden Moment musste das Unbekannte um die Wegbiegung kommen und hinter dem Almhügel
hervortreten. Das Bellen des Hundes indes schien bereits neben Sebastian zu sein. Erschrocken blickte er von
seinem Felsen herab. Nichts!
Vorsichtshalber zog er seinen geöffneten Rucksack zu sich herauf und machte ihn mit den Riemen an
einer Felskante fest. Sollte ihn aber der Riese überraschen, dessen Fußabdruck er gefunden hatte, würde ihm das
kaum etwas nützen. Aber wenigstens vor dem Hund war sein Hab und Gut einigermaßen geschützt. Als
Sebastian mit der Sicherung des Rucksacks fertig war, riskierte er einen weiteren Blick über die Felskante...
Was ich da sah, versetzte ihm einen solchen Schreck, dass er beinahe den Halt verlor und vom Felsen
fiel. Wie aus dem Nichts waren sie plötzlich vorn auf dem Weg aufgetaucht. Eine düstere Gruppe von
Menschen, die zu beschreiben jegliche Vorstellungskraft übersteigt. Beim Anblick des Anführers jedoch fiel es
Basti wie Schuppen von den Augen. In diesem Moment wurde ihm klar: Er hatte keine Halluzinationen, als er
beim Sturz am Zwischbergenpass einen gehörnten und mit Fellen bekleideten Mann gesehen hatte...
Dort vorn auf dem Weg schritt genau dieses Wesen dahin, fast feierlich und stolz erhobenen Hauptes,
eine Hand an seinem Schwert, mit der anderen stützte er sich auf eine Lanze mit beilartiger Klinge, so eine etwa,
wie sie Nachtwächter oder Büttel im Mittelalter bei sich trugen. Es war ein groß gewachsener, sehr muskulöser
Mann, auf dessen Kopf ein mit mächtigen Hörnern ausgestatteter Helm saß, der stark an die Wikinger erinnerte.
Das grobe, kantige Gesicht wirkte aus der Entfernung ausdruckslos.
Dem Hörnermann folgte ein narbengesichtiges, gebeugt und wankend gehendes Männlein, das Basti ein
wenig an Väterchen Balmer erinnerte. Dieses Männchen watschelte wie eine Riesenente hinter dem Hornmann
her und hatte offensichtlich große Mühe mit seiner Gehbehinderung. Bekleidet war der gedrungene Mann, der
alle äußerlichen Merkmale eines hässlichen Gnoms aufwies, mit einem Fellumhang, wie ihn auch Högi Balmer
trug. Dazu schlug er mit einer schmalen, mit Fell umwickelten Keule auf einer großen Trommel einen Takt, der
dem Schritt des Hornmanns angepasst war. »Wammm, wammm, wammm...« Der Gnom selbst trippelte in seinem
Watschelgang eher gehetzt hinterdrein, was ihn nur noch skurriler aussehen ließ.
Diesem ungleichen, gespenstischen Paar folgten etwa zehn bis zwölf Personen, mit düsteren Lumpen
und Fellen bekleidet, langsam, gebeugt dahin schreitend, wie Mönche. Einige trugen Holzkreuze aus groben
Stöcken, an denen festgebundene Skelette baumelten. Es waren dieselben gruseligen Standgebilde, die Lauknitz
überall am Rand dieses Weges gefunden hatte. In ihre Mitte genommen zogen sie einen klapprigen, hölzernen
Leiterwagen, dessen Ladung mit Fellen abgedeckt war. Es grenzte schon an ein Wunder, dass dieses Gefährt auf
dem holprigen Weg nicht auseinander brach. Indem Sebastian den Holzkarren aus der Entfernung länger
betrachtete, fiel etwas längliches unter den Fellen hervor zwischen die Gitterstäbe des Wagens und baumelte im
Takt des unebenen Weges auf und ab. Er fuhr zurück und bekam eine Gänsehaut! Dieser Gegenstand war ein
menschlicher Arm. Der Arm eines Toten! Es fiel nun nicht mehr schwer sich vorzustellen, dass der ganze Karren
mit Leichen beladen war. Sebastians Kopf schwirrte angesichts dieser Erkenntnis und ihm wurde im Wechsel
heiß und kalt.
Die ganze Gruppe sah aus, wie eine mittelalterliche Prozession, oder wie ein Pestumzug aus dem 13.
Jahrhundert. Dem unheimlichen Zug voran lief ein ungewöhnlich großer, weißer Hund. Seine Gestalt und seine
Bewegungen glichen der einer afrikanischen Hyäne. Doch anstelle der kleinen runden Ohren einer Hyäne, besaß
dieser Hund übergroße Ohren, die ohne weiteres einer riesigen Fledermaus hätten gehören können. Sein weißes
Fell wirkte nur am Kopf und auf dem schrägen Rücken sauber und gepflegt. An allen übrigen Körperteilen hing
es filzig, schmutzig und verwahrlost herab.
Sebastian verhielt sich still wie ein Grab, wagte nicht einmal zu atmen. Ein Hund mit solchen Ohren
musste einen Floh kilometerweit husten hören! Tiere mit großen Ohren konnten meist nicht gut riechen. Mit
dieser Annahme beruhigte er sich etwas.
Eine andere Überlegung jedoch durchschoss sein Gehirn. Den Hornmann hatte er zum ersten Mal im
Zwischbergental in der Schweiz gesehen, kurz bevor er stürzte. Nun begegnete er ihm in dieser Gegend, die
weiß Gott zu welchem Land, aber ganz sicher nicht zur Schweiz gehörte! Was ging hier vor?
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Dieser Hörnermensch war nicht unbedingt so gekleidet, dass er so ohne weiteres durch die
Personenschleuse auf einem Flughafen kommen würde. Wie also um alles in der Welt kam dieses Wesen auf
einem Mal in eine Landschaft, die nach Sebastians geografischen Wissen sehr weit vom europäischen Raum
entfernt liegen musste? Mit seinem feierlichen Gang konnte er das zu Fuß kaum geschafft haben. Er machte auch
nicht gerade den Eindruck, ein Auto steuern zu können. In welchem Alptraum war er nur gelandet? Und war es
wirklich ein Traum, in dem sich Lauknitz gefangen sah?
Wie real ein Traum sein konnte, wenn es denn ein Traum war, wurde ihm in den nächsten Minuten
bewusst. Die geisterhafte Toten- Prozession erreichte die Wegbiegung im Süden seines Felsenverstecks. Der
Geisterhund immer allen voran. Er lief mal kreuz, mal quer, mal ein Stück voraus und wieder zur Gruppe
zurück. Wenn er einen Vogel oder ein Murmeltier aufgestöbert hatte, hetzte er bellend hinterher, freilich ohne
dem überraschten Tier ernsthaften Schaden zuzufügen. Denn dazu war er eindeutig zu langsam.
Plötzlich musste dieses Vieh tatsächlich Sebastians Witterung aufgenommen haben. Es schnupperte in
die Luft, lauschte scheinbar ins Nichts und folgte dann bellend, seine Nase am Boden haltend, Bastis
unsichtbaren Spur. Den Hornmann und sein Gefolge beeindruckte das wenig. Wahrscheinlich waren sie es
inzwischen leid, ihrem kläffenden Begleiter Stunde um Stunde ungebrochene Aufmerksamkeit zu schenken.
Vermutlich glaubten sie, er sei wieder einmal hinter irgend welchem Kleinwild her.
Das Kleinwild war er, Sebastian! Und in Anbetracht dieses Monsterhundes kam er sich noch wesentlich
kleiner als Kleinwild vor. Aufgeregt bellend kam der weiße Hyänenhund über die Almwiese gelaufen und Basti
musste seine Einschätzung, was dessen Größe betraf, revidieren. Das Biest war, wie alles in dieser Gegend,
übergroß und reichte ihm sicherlich bis zur Brust. Sebastian dachte jedoch nicht im Traum daran, das genau
festzustellen. Statt dessen klammerte er sich an seinen Felsen und betete, dass der Monsterköter nicht klettern
konnte.
Der erreichte den Fuß seines Verstecks und sprang aufgeregt kläffend und knurrend auf der Stelle
herum. Sebastian malte sich aus, was geschehen würde, wenn er in dieser Situation den Halt verlieren und vom
Felsen rutschen würde. Hatte diese Kreatur nur annähernd etwas vom Charakter seiner afrikanischen
Verwandten, so würde er aus diesem Alptraum nie mehr aufwachen!
Aus Angst, das Gekläffe würde doch noch den Hörnermenschen und seine Gruppe auf den Plan rufen,
griff Sebastian in seinen Rucksack und holte den Beutel mit Balmers Proviant heraus. Mit einer Hand an den
Fels gekrallt, mit der anderen den Beutel ausschüttelnd, blickte er hinter seinem Essen her, das über die Felsen
hüpfte und vor den Pfoten des Hundes landete. Der ließ augenblicklich sein Gebell verstummen und verschlang
gierig knurrend und schmatzend Sebastians gesamten Proviant.
Während er darüber nachdachte, wie es mit ihm und diesem Biest weitergehen sollte, ertönte ein Ruf
und ein dröhnender Klang, wie von einem Alphorn. Der Hyänenhund schaute auf, lief unentschlossen zwischen
der Felskante und einem restlichen Stück von Vater Balmers Schinken hin und her und entschied sich schließlich
dem Ruf zu folgen, natürlich nicht ohne vorher das letzte Stück Proviant zu schnappen und zu verschlingen.
Erleichtert atmete Basti aus. Er war froh, nicht in die Fänge dieser Kreatur geraten zu sein, aber auch
wütend über die Tatsache, dass diese Ausgeburt der Hölle sein Essen verschlungen hatte. Aber immerhin war ein
Sebastian Lauknitz noch am Leben! Die Pilgergruppe verschwand hinter dem nächsten Hügel, die
Paukenschläge und das Kläffen wurden dünner und allmählich kehrte wieder Ruhe ein. Die Insekten nahmen ihr
Konzert wieder auf, als wäre nichts geschehen. Und hätte nicht sein zerrissener Proviantbeutel am Fuße des
Felsens gelegen, so hätte Basti das Erlebte als Hirngespinst seines überforderten Geistes interpretieren können.
Ab diesem Moment wusste er, dass er auf seinem weiteren Weg gut beraten war, vorsichtig zu sein. Je
phantastischer, unwirklicher und skurriler ihm Vieles in diesem Land vorkam, desto achtsamer musste er sich
bewegen. Zwar wurde er von der unheimlichen Wandergruppe nicht angegriffen, doch sie sahen auch nicht
gerade so aus, als hätten sie ihn zum Mittagessen einladen wollen! Auf seinem weiteren Abstieg wollte Lauknitz
allen Bergwanderern zunächst mal aus dem Weg gehen, bis sich ihm ihre Vertrauenswürdigkeit bewies.
Dennoch gärte in ihm fortwährend die Ungewissheit darüber, wo er eigentlich hin geraten war und was
ihn noch alles erwarten würde. Zeitweise fragte er sich bereits, ob er nicht schon auf dem besten Wege war,
verrückt zu werden, denn alles, was er hier erlebte, konnte es nach vernünftiger Einschätzung gar nicht geben.
Scheinbar befand er sich wie Alice in einem Wunderland.
Gerade in dem Augenblick, wo Sebastian seinen Rucksack wieder aufsetzte, empfand er ein derart
befremdliches Gefühl, dass er sich selbst ermahnte, doch endlich wieder aus diesem Alptraum zu erwachen. Er
trat heftig mit dem Fuß auf den Boden, schlug sich selbst ins Gesicht und sprang in die Luft. Aber auch das
änderte nichts. Immer noch befand er sich in dieser unwirklichen Welt, die ihm zwar von der
Landschaftsstruktur her vertraut schien, ihm in ihren Einzelheiten jedoch gehörig Angst machte.
Drachen, Hyänenhunde, winzige, leuchtende, fliegende Menschen, menschliche Gebeine am
Wegesrand, Bäume, so hoch wie ein Fernsehturm und ein mittelalterlicher Totenumzug... Das waren weiß Gott
keine Alltäglichkeiten, geschweige denn rational erklärbare Phänomene. Und da Sebastian noch nie von einem
so großen Filmset gehört hatte und auch sonst kein normaler Mensch weit und breit zu finden war, gab es für
ihn, soweit er noch eine bewusste Wahrnehmung besaß, nur zwei Erklärungen:
Entweder es gab tatsächlich ein Leben nach dem Tod, in dem er sich seit seinem vermutlich tödlichen
Sturz befand und in dem nichts wirklich ist, oder er hatte sich bei seinem Unfall ein Hirntrauma zugezogen und
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war zu keiner realistischen Wahrnehmung mehr fähig. Doch wieso konnte er dann noch relativ rational darüber
nachdenken?
War er möglicherweise in einem unentdeckten Land auf unserem blauen Planeten gelandet? Im
Himalaya- Gebirge, sowie zwischen der Sowjetunion und China gab es noch zigtausende von
Quadratkilometern, die nie ein Mensch der westlichen Zivilisation betreten hat und die zumeist den
Landschaftscharakter des Hochgebirges aufwiesen. War er mitten in das letzte Geheimnis unseres Planeten
gestolpert, das nicht einmal ein Satellit aufdecken konnte? Eine kleine, verborgene Welt im ewigen Eis Asiens?
Doch wie war er aus dem Zwischbergental dorthin gelangt und wie konnte ein Mensch aus einem
unbekannten Naturvolk zwischen der Schweiz und Zentralasien hin und her reisen, ohne aufzufallen? Vor allem
aber, was war der Zweck seines Hierseins? War er dazu auserwählt worden, diesem Land die Kultur und den
Wissensstand des zwanzigsten Jahrhunderts zu bringen? Dann hätte man allerdings eine ziemlich klägliche
Auswahl getroffen! Oder war er aufgrund seiner bergsteigerischen Fähigkeiten an diesen Ort gebracht worden?
Auch das erschien ihm paradox, gab es doch ganze Armeen von besseren Alpinisten, als er einer war!
Je mehr Sebastian darüber nachdachte, desto weiter entfernten sich die wenigen halbwegs plausiblen
Erklärungen. Nichts, aber auch gar nichts passte irgendwie zusammen. Er saß vor einem Puzzle seines Lebens,
bei dem sich plötzlich nicht einmal mehr auch nur zwei Teile ineinander fügen ließen. Inzwischen kam er sich
vor, wie in einer bösen Geschichte eines Fantasieromans gefangen.
Müde, ängstlich und verzweifelt, andererseits aber auch aufgeregt und neugierig setzte er seinen Weg
fort. Bald ging es etwas steiler bergab, was den Weg sich eins ums andere Mal in abenteuerlichen Serpentinen
um seine eigenen Kehren winden ließ. Oft nahm Sebastian Abkürzungen zwischen den Wegbiegungen, um
schneller voran zu kommen. Bald gelangte er in einen typischen Bergwald. Windzerzauste Arven in den
phantasievollsten Formen säumten den Weg, der sich endlos hinzuziehen schien. Das Wildwasser hörte er nur
noch ab und zu in einer tiefen Schlucht rauschen. Der Geruch trockenen Holzes lag in der Luft.
Das einzige, was sich nicht änderte, waren die Totengebilde. In regelmäßigen Abständen traf Sebastian
auf die Standbilder, die jedes Mal anders gestaltet waren. Der Künstler bewies Phantasie! Mittlerweile gewöhnte
er sich an die Gesellschaft seiner stummen Weggefährten. Freilich sahen sie zwischen den Bäumen im Wald
noch schauerlicher aus, als oben auf den lichten Wiesen.
Irgendwann entließ ihn der Wald wieder auf eine Wiese, ähnlich einer Schneise. Groß und schmal
verlief sie quer zum Weg. Jenseits wurde diese grüne, felsdurchsetzte Fläche erneut vom Bergwald begrenzt.
Eine exponiert daliegende Felsgruppe inmitten der Weide, ein ganzes Stück abseits des Wegs, weckte sein
Interesse. Die Sonne stand schon lange nicht mehr am Zenit und er brauchte einen halbwegs sicheren Platz zum
Schlafen. In der Finsternis konnte er sich selbst auf diesem ausgebauten Weg noch leicht verirren.
Erwartungsvoll stapfte Sebastian durch das Gras, das an einigen Stellen pfadartig niedergetreten war.
Hatte die unheimliche Gruppe des Hornmannes ebenfalls diesen Ort aufgesucht? Minuten später fand er seine
Annahme bestätigt. Die Felsen bestanden aus einer ringförmig angeordneten Gruppe von riesigen Steinblöcken,
Felsnadeln und Trümmern, angeordnet wie ein römisches Kastell. Zwei enge Durchgänge führten in den Kern
dieser natürlichen Festung. Das Innere der Felsenburg mochte an die dreihundert Quadratmeter betragen.
Notfalls konnte eine kleine Armee im Schutz des Felswalls übernachten. Drei Wachtposten reichten sicherlich
aus, um das Objekt vor Feindannäherung zu sichern.
In der Mitte dominierte eine mit Steinen begrenzte, große Feuerstelle, in der sich noch Glut befand, gut
mit Erde bedeckt. An den Seiten waren kleine Unterstände aus Holz an die Felsen gebaut, die ebenfalls kleine
Feuerstellen besaßen. Schädelknochen von Rindern, Ziegen und Mufflons hingen bunt bemalt an Vorsprüngen
und Rissen am Fels. Eine leicht verborgene Nische zwischen mächtigen Felsblöcken beherbergte ein ganzes
Arsenal von langen Stangen, die wohl zur Herstellung von Speeren oder Lanzen gedacht waren.
Das Ganze machte den Eindruck eines oft benutzten Felsenforts. Sebastian gewann den Eindruck, dass
diese Einrichtung von größeren Wandergruppen benutzt wurde, die möglicherweise über einen hochgelegenen
Pass im Gebirge in ein anderes Tal wechselten. Was er nicht nachvollziehen konnte, war die Tatsache, dass die
Menschen dieser Gegend zwar imstande waren, einen gut ausgebauten Weg über viele Kilometer in eine
unwegsame Gebirgswelt zu bauen, sich jedoch offensichtlich nicht dazu befähigt sahen, ein schützendes
Weghaus zu errichten.
Ebenso rätselhaft war der Umstand, dass man diesen Weg offenbar unter anderem dazu benutzte,
Leichen zu transportieren. Weshalb aber gab es einen so gut ausgebauten Weg, wenn das Transportmittel
anstelle eines Autos aus einem alten klapprigen Eselkarren bestand? Und wozu verfrachtete jemand seine
Verstorbenen kilometerweit über weite Strecken, Serpentinen und Steigungen in eine einsame Bergwelt? Allein
der Aufwand diesen Weg instand zu halten musste enorm sein!
Fragen, auf die ihm einfach keine Antwort einfiel. Lebte in diesem Land ein primitives Naturvolk, so
stellte sich die berechtigte Frage, wer diesen Weg errichtet hatte und diesen wahrscheinlich immer noch
unterhielt. Wurde diese Gegend andererseits von einer leidlich normalen Zivilisation bewohnt, so war es doch
sehr verwunderlich, dass diese, mal abgesehen von ihren Talenten im Straßenbau, eher mittelalterlich lebten.
Eigentlich war Lauknitz schon lange der wilden Spekulationen müde geworden. Doch all diese
Ungereimtheiten ließen ihm einfach keine Ruhe. Er befand sich in einer Welt, die ihm derart befremdlich war,
dass sie ihm Angst machte. Vor allem wollte er heraus aus dieser Welt, wollte einfach nur nach Hause zu seiner
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kleinen, gemütlichen Zweizimmerwohnung, zu seinem Fernseher, zu seinen Büchern, zu seinem weichen,
warmen Bett, ja selbst zu seinen nasskalten Stuckfassaden. Selbst die empfand er in dieser Situation
angenehmer, als die Ungewissheit in einem fremden Land voller fremder Dinge und fremder Leute.
Zumindest für diesen Tag schien sein Zuhause aber in sehr weite Ferne gerückt. Anstelle seines
duftenden, weichen Bettes musste er sich eine Alternative suchen. Diese natürliche Felsenburg bot sich förmlich
an, in ihren Mauern Schutz zu suchen. Was jedoch, wenn die ständigen Nutzer dieser Einrichtung unverhofft
zurückkamen? Sebastians Eindruck von der Gruppe, die ihm am Mittag begegnete, war nicht unbedingt
beruhigend. Dabei dachte er noch nicht einmal an den Hyänenhund, den die Gruppe mitführte. Allein die
menschlichen Gestalten, insbesondere der Hörnermann waren mehr als genug furchteinflößend. Auf eine nähere
Bekanntschaft wollte Lauknitz eigentlich verzichten!
Hingegen hatte er oft Berichte vernommen, dass sich gerade Naturvölker als sehr gastfreundlich
erwiesen, sofern man ihre Gepflogenheiten und ihre Religion achtete und ihre Freundschaft nicht missbrauchte.
Nun, in seiner Lage war er weit davon entfernt, Freundlichkeiten mit Missachtung zu strafen. Doch wussten
diese Menschen das auch?
Sebastian war hin und her gerissen von der Möglichkeit, im Schutz dieser Felsenburg zu übernachten
und der Vorstellung, dass man ihn als Eindringling betrachten und ihn einfach erschlagen konnte. Andererseits
hatte er gar keine Alternative. Sollte er etwa auf der freien Wiese, oder im Wald sein Biwakzelt aufschlagen und
übernachten, schutzlos jeder Kreatur ausgeliefert, die danach trachtete, ihn zu verspeisen? Nein, diese Steinfeste
war das beste, was ihm passieren konnte!
So gut es ging, richtete er sich an einem der Unterstände für die einbrechende Nacht ein. Mit umher
liegendem Holz, dass er einsammelte, entfachte er ein kleines Feuer, das ihn wärmen sollte. Dabei stieg ihm der
Geruch des Rauchs in die Nase, erinnerte ihn an den leckeren Schinken aus Balmer Vorratshaus und er bekam
augenblicklich Hunger. Leider hatte ein missgestalteter Köter heute Vormittag all seine Vorräte verzehrt!
Wie ein Häuflein Elend saß er an den Fels gekauert und schob Kohldampf. Der eine Apfel, der verwaist
in einer Tüte seines Rucksacks lag, verstärkte noch den Appetit, anstatt ihn zu bändigen. Mit knurrendem Magen
dachte er daran, welch gute Dinge er sich antun würde, sobald ihn die Zivilisation wieder hatte. An erster Stelle
rangierten Currywurst, Grillhähnchen, Pizza und ein ausgedehntes Racletteessen. Oh wie köstlich kam ihm
plötzlich Högi Balmers einfache Küche vor. In diesem Moment beschlich ihn der ketzerische Gedanke,
aufzugeben und zu Väterchen Balmer zurückzukehren. Allein der Wunsch, wieder in sein gewohntes Leben, in
die bequeme Sicherheit seiner Welt zu flüchten, hielt Sebastian davon ab.
Trotz des Feuers wurde es allmählich erbärmlich kalt. Wie oft ließ sich Lauknitz durch Medien, wie
Bücher und Fernsehen dazu verleiten, an gemütliche, romantische Lagerfeuer zu glauben. Als Bergsteiger hätte
er es eigentlich besser wissen sollen! An einem einsamen Biwak in kalter Hochgebirgswelt ist rein gar nichts
romantisch! Und warm ist es auch nicht. Entweder, man verbrennt sich die Füße und friert am Rücken, oder man
sengt sich den Hintern an und kann seine Zehen vor Kälte nicht mehr spüren. Mit Romantik oder Gemütlichkeit
hatte das alles nicht viel zu tun. Sebastian wagte auch nicht, sein Biwakzelt aufzubauen. Hinter schützender
Zeltleinwand war auch ein sich nähernder Feind nicht mehr rechtzeitig wahr zu nehmen.
Irgendwann, Sebastian war wohl beim Hineinstarren in die Flammen eingeschlafen, weckte ihn die
Kälte. Er verkroch sich noch tiefer in seinen Biwaksack und versuchte sein Kälteempfinden zu ignorieren. Doch
das funktionierte nicht so richtig. Dazu kam, dass ihm Rücken und Hinterteil schmerzten. Egal, wie er sich
drehte und wendete, der harte, kalte Boden und der unnachgiebige Fels in seinem Rücken ließen kein bequemes
Sitzen mehr zu.
Steif wie ein Brett erhob er sich, torkelte fröstelnd umher, suchte nach Resten von Brennholz und warf
sie in die verbliebene Glut seines Lagerfeuers. Es qualmte mächtig, bis sich das Feuer dazu entschloss, das
dargebotene Futter anzunehmen. Kurz darauf flackerten wieder lustige Flammen auf, erleuchteten die
umliegenden Felsen und ließen die ausgeblichenen Tierschädel an den Kanten und Vorsprüngen im flackernden
Schein gespenstisch tanzen. Das ganze Bild hatte etwas teuflisches.
Um sich die Beine zu vertreten und wieder von Innen heraus warm zu werden, ging er im Kreis um die
große Feuerstelle herum, die Hände tief in den Hosentaschen vergraben. Dabei kam ihm in den Sinn, einen
kurzen Blick nach draußen, jenseits der Steinfestung zu werfen. Zunächst musste er jedoch den Eingang suchen.
Im flackernden, diffusen Schein des Feuers sah alles noch unwirklicher aus, als es ohnehin bereits war.
Draußen empfing ihn eine kalte, abweisende Landschaft. Die weite Fläche der Wiese beherbergte
schemenhafte Gestalten. Es waren die Felsen, die vereinzelt umher lagen. Doch wer garantierte ihm eigentlich,
dass diese schattenartigen Gebilde dort draußen alles bloß Felsen waren? Glotzte ihn dort hinten nicht ein Paar
Augen an.., oder dort vorne.., oder das große Dunkle dort, bewegte sich das nicht gerade?
Fluchtartig zog sich Sebastian in das Innere der Felsenburg zurück. Von panischer Angst ergriffen holte
er die Stangen und Speere, die er in der Nische entdeckt hatte und verbaute damit beide Eingänge. Nicht, dass
diese Aktion etwa ein wildes Tier davon abgehalten hätte, einzudringen, aber es suggerierte ihm doch ein
beruhigendes Gefühl der Sicherheit.
Dann schürte er das Feuer noch einmal kräftig an und rollte sich am Felsen in seinen Schlafsack ein.
Den Rucksack schob er sich in den Rücken, um am Morgen nicht mit Lähmungserscheinungen aufzuwachen. Es
dauerte eine Weile, bis er eine einigermaßen bequeme Stellung eingenommen hatte. Den Blick in die tanzenden
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Flammen gerichtet, das Gehör aber auf jedes Geräusch in der Umgebung fixiert, schlief Sebastian nach einer
Ewigkeit ein.
Ein polterndes Geräusch weckte ihn. Es klang, als wäre ein Stapel Konservendosen umgefallen.
Sebastian erstarrte und lauschte in die Nacht. Kein Laut... Oder doch? Ein leises, kaum wahrnehmbares Klopfen
und Scharren drang aus dem Fels über ihm an sein Ohr. Tock, tock, chrrr, tock… Unregelmäßig, aber deutlich
konnte er die Laute verstehen, die nur von einem Tier herrühren konnten.
Krampfhaft überlegte er, welches Tier, das ihm gefährlich werden konnte, solche Geräusche verursacht.
Es musste durch einen der verbauten Eingänge gekommen sein, hatte dabei wohl die Stangen umgestoßen und
lauerte nun im Fels über ihm. Trotz der Kälte begann Sebastian zu schwitzen. Was für ein Biest lauerte ihm nun
schon wieder auf? Nahm das hier nie ein Ende?
Ganz langsam tastete er mit einer Hand nach seinem Bowiemesser an seinem Gürtel. Dabei versuchte er
jedes Geräusch zu vermeiden und bemühte sich, auch den Schlafsack nicht zu bewegen. Er brauchte eine
Ewigkeit, um das Messer mit dem Griff voran aus dem Schlafsack zu ziehen und fragte sich, wie er sich im Falle
eines Angriffs schnellstmöglichst aus dem Schlafsack befreien konnte.
Seine einzige Waffe krampfhaft in der Hand, versuchte er den Schlafsack zu öffnen, ohne einen Laut
von sich zu geben. Millimeterweise zog er langsam den Reißverschluss auf, immer wieder anhaltend und
horchend. Tock, tock, chrrr, tock… Das Geräusch setzte sich mit stoischer Beharrlichkeit fort. Es hörte sich an,
als versuchte ein riesiger Vogel eine entdeckte Beute frei zu scharren. Und es bestand kein Zweifel daran, was
oder wer die Beute war: Er, Sebastian Lauknitz!
In einer Bewegung, als hätte jemand die Zeit angehalten, schälte er sich aus seinem Kokon und richtete
sich mit dem Rücken am Felsen auf, mit all seinen Sinnen auf den fremden Klang fixiert. Urplötzlich befand sich
das Klopfen und Rascheln genau über seinem rechten Ohr. Da warf er alle Vorsicht über den Haufen. Eine
unverhoffte Drehung nach rechts, ein Schritt zurück und das Messer zum Hieb erhoben, war ein einziger Reflex.
Mit dem Blick hinauf in den Fels erwartete er den Angriff...
Tock, tock, chrrr, tock... Der Schädelknochen eines Rindes hing über ihm an einem kleinen
Felsvorsprung. Knochen und Federbüschel, mit Naturfasern an seinen Hörnern befestigt, hingen daran herab und
bewegten sich leicht im frühmorgendlichen Wind und schlugen unregelmäßig an den Fels: Tock, tock, chrrr,
tock!
Mit einer Mischung aus Wut und Erleichterung starrte er das Gebilde an. So allmählich drehte er wohl
durch! Verfolgungswahn, schoss es ihm durch den Kopf. Langsam war es soweit; Basti erschrak vor seinem
eigenen Schatten zu Tode. Es wurde höchste Zeit, dass er wieder unter zivilisierte Menschen kam!
Stockfinster war es in der Felsenburg. Rot schimmernde Glutreste erinnerten an sein Lagerfeuer, das ihn
anfangs gewärmt hatte. Die Einsamkeit griff mit schleichender Stille und Leere nach ihm. Doch der Morgen
kündigte sich bereits an. Kaum heller als die Aura eines entfernten Sterns hob sich ein zaghafter Schein über der
dunklen Mauer des Waldes ab. Noch lag die Wiesenlandschaft fahl und abweisend in der grimmigen
Umklammerung der kalten Nacht. Keine Regung, kein Laut, als hätte die Welt den Atem angehalten und
erwartete gespannt den Auftritt der Sonne.
Müde und durchgefroren beschloss Sebastian aufzubrechen. Das Feuer war erloschen und hätte ihn
nicht mehr wärmen können, also musste er sich durch Bewegung warm halten. Und je eher er eine Stadt, ein
Hotel oder ein Gasthaus erreichte, desto besser! Aus den Stangen, mit denen er die Eingänge verbarrikadiert
hatte, suchte er sich eine aus, die er notfalls als Waffe und grundsätzlich als Wanderstab benutzen konnte. Mit
einem Schwung schulterte er den Rucksack und trat aus dem Felsenfort auf die Wiese. Das leise Knistern seiner
Schritte verriet ihm, dass es in der Nacht leicht gefroren hatte. Feiner Raureif lag auf dem Gras, auf den Steinen
und umgestürzten Bäumen. Alles schien wie von einer hauchdünnen Mehlschicht überzogen.
Vorsichtig, als könnte er die Bäume aufwecken, schritt er durch eine silbrig daliegende, geheimnisvolle
Welt aus leerer Kälte und stummer Farblosigkeit. Doch nach und nach begannen Farben zu flüstern. Erst leicht
gelblich im Himmel über den schwarzen Tannenwipfeln und bläulich weiß als flache Nebelschleier über dem
angefrorenen Gras. Ein verhaltenes rötliches Braun und gelbliches Grün raunte aus den Flechten, die einige
umher liegende Felsbrocken bevölkerten.
Erwachend, aber noch verträumt sprach das Firmament in orangeroten Tönen sein Morgengebet.
Violette und purpurne Wolkenfetzen sangen dazu einen leisen Choral. Leicht auffrischender Wind trug ihm das
tannengrüne Wispern zu, als sich die Bäume zu einem neuen Morgen begrüßten. Alle Farbenklänge schwollen
mehr und mehr an, bis auf einem Mal unaufhaltsam die Ouvertüre des Lichts die ganze Welt mit blendender
Farbenpracht übergoss. Augenblicklich tanzten auf den Grashalmen Millionen bunt funkelnder Diamanten,
Nebel zogen in einer Symphonie aus Leichtigkeit über den Wald empor und der hinter Schleiern heraufziehende
Feuerball flimmerte in einem nicht enden wollenden gelbroten Crescendo.
Die Welt besaß wieder Farbe und machte Sebastian neuen Mut. Mit der Farbe kam auch die Wärme, die
seine steif gefrorenen Glieder langsam wieder gelenkig machte. Dummerweise stellte sich fast gleichzeitig der
Hunger ein und wütete noch aggressiver, je mehr er darüber nachdachte, dass sich sein Proviant im Bauch eines
Monsterhundes befand, der in dieser Nacht gewiss besser geschlafen hatte, als er. Die Erinnerung an Väterchen
Balmers leckeren Schinken und würzigen Käse ließ seinen Magen noch um einiges furchteinflößender knurren,
als den Hyänenhund.
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Entschlossen legte Sebastian etwas an Tempo zu. In seiner Vorstellung sah er im Tal ein Touristendorf,
eine Stadt, oder zumindest eine Siedlung mit einem Gasthaus, in dem man ihm für seine gute Deutsche Mark die
besten kulinarischen Leckerbissen auftischen würde. Nachdem, was er hinter sich hatte, würde er nicht mehr
bescheiden sein. Im Gegenteil. Er wollte sich als Entschädigung etwas gönnen und nach Herzenslust schlemmen
und anschließend mindestens drei Tage lang ausschlafen! Sebastian ahnte ja nicht, dass sich die Zivilisation
weiter von ihm entfernt hatte, als er es sich in seinen kühnsten Träumen hätte vorstellen können...
Die Wiese mit der Felsenburg lag hinter ihm. Tiefer, urwüchsiger Wald umgab ihn, kaum, dass ein
Sonnenstrahl das Dach aus Ästen, Zweigen, Nadeln und Blättern durchdringen konnte. Überall zwischen Arven
und Birken lugten versteckte Felsformationen hervor, abgeschirmt vom dichten Unterholz und umgestürzten,
bemoosten Bäumen. Solchen Urwald hatte Lauknitz selbst im Wallis selten zu Gesicht bekommen.
Dennoch zog sich der Weg fein und sauber, fast gleichmäßig durch den ansonsten undurchdringlichen
Wald. Beinahe hatte der Weg schon den Charakter einer modernen Straße, wie in einem Tunnel durch die
Bäume geschlagen. Zu beiden Seiten des Wegs glotzten Sebastian immer noch in regelmäßigen Abständen
Totenschädel und Gerippe an, mal an einem Baum befestigt, ein anderes Mal an einer Stange in den Waldboden
gerammt.
Intuitiv tastete er nach dem Medaillon in seiner Rucksacktasche, das er einer dieser Vogelscheuchen
abgenommen hatte. Deutlich fühlte Sebastian das Metall und erst jetzt wurde ihm bewusst, wie groß, gemessen
an einem normalen Schmuckstück, diese Kette doch war. Vielleicht war es gar kein Schmuck, sondern das
Zugehörigkeitszeichen irgendeiner Gemeinschaft, eines Ordens vielleicht, oder eines Stammes, oder einer
Armee...
Der Baumbestand des Waldes lichtete sich, je tiefer er gelangte. Laubbäume wechselten mehr und mehr
die Nadelbäume ab. Immer häufiger traf er auf Schneisen, saftgrüne Wiesen und Feuerstellen am Wegesrand. In
dieser Gegend schien es üblich zu sein, einfach am Wegrand zu biwakieren und ein Lagerfeuer zu entfachen,
wenn einem danach war. Das passte jedoch ganz und gar nicht zu diesem gepflegten Wanderweg. Aber was
passte in diesem Land schon zusammen? Die abschreckenden Standbilder am Wegesrand harmonierten auch
nicht gerade mit der Landschaft und dem Weg!
Hinter einer Wegbiegung baute sich unvermittelt eine Felsformation vor mir ihm auf. Sie erstreckte sich
rechts und links in den Wald hinein und machte den Eindruck, nicht gerade sehr hoch, aber doch unüberwindlich
zu sein. Der Weg jedoch setzte sich ungehindert durch eine Lücke im Fels fort. Wie durch ein hinein gesprengtes
Tor in eine Mauer, wanderte Sebastian zwischen den Felswänden hindurch.
Hinter diesem Felsentor bog der Weg scharf nach links ab und verlief parallel zur Felswand. Auf der
rechten Seite jedoch tat sich ein Abgrund auf, dessen Tiefe nur zu erahnen war. Wilde Felstrümmer, hier und
dort mit Bäumen und Gestrüpp bewachsen, leiteten seinen Blick in gähnende Tiefe. Weit unten, in einem Gewirr
aus Felsen, Wald und Geröll sah er den hellen Kies des Weges heraufleuchten. Also führte die sandige Straße in
weiten Kehren und Serpentinen weiter talwärts.
Sein Auge wanderte weiter. Tief unten breitete sich erneut der dichte grüne Teppich des Waldes aus.
Erst weit dahinter erkannte Sebastian ausgedehnte Wiesen, ein weites Tal, sowie weitläufige Hänge, die sich
erneut aufwarfen zu hohen Felsen, Bergwäldern und Alpweiden, um schließlich am gegenüberliegenden
Horizont in himmelhohen Gletschern und schneebedeckten Zinnen zu gipfeln.
Mit einer solchen Weite des Landes hatte er nicht gerechnet! Wenn er dem Weg folgen würde, brauchte
er noch zwei Tage bis ins Tal. ...und bis zur nächsten Ortschaft..? Enttäuscht und entmutigt setzte sich Lauknitz
auf einen großen Stein. Bis er dort unten irgendwann auf vertrauenswürdige Menschen treffen würde, musste er
längst verhungert sein! Wie lange konnte er diesen Marsch ohne Nahrung noch durchhalten? Zwei Tage? Nach
drei Tagen wäre sein Körper so geschwächt, dass er den Rucksack würde zurücklassen müssen.
Frisches Wasser stellte indes kein Problem dar. Überall sprudelten kleine, klare Bäche zu Tal; Leben
spendendes Nass im Überfluss! Doch jagdbares Wild war offenbar selten, oder zumindest so scheu, dass er es
nicht zu Gesicht bekam. Doch selbst wenn... Wann hatte er das letzte Mal einen Hirsch ausgeweidet? So eine
Tätigkeit gehörte nun mal nicht zu den alltäglichen Verrichtungen, mit denen ein Stuckateur in einer Großstadt
konfrontiert wurde. Wenn er essen wollte, ging er in den Supermarkt, oder in das nächste Restaurant!
Immer mehr zweifelte Sebastian an seinem Vorhaben, aus eigener Kraft zu Tal steigen zu wollen und
wünschte sich statt dessen wieder zurück in die Geborgenheit von Högi Balmers Hütte. Zwar saß er dort an
einem unbekannten Ort fest, doch verhungern musste er bei dem Alten nicht!
Während er über sein Dilemma nachdachte, entwickelte sich der Morgen zu einem sonnenreichen Tag.
Die Vögel stimmten ein nicht enden wollendes übermütiges Konzert an, Insekten schwärmten summend umher
und die alten Bäume wiegten sich friedlich knarrend im leichten Wind. Alles erinnerte ihn an einen ruhigen
Wandertag im Harz, seinem heimatlichen Mittelgebirge in Norddeutschland. Und nur allzu gern wollte er sich in
diesem Augenblick in seine Gedanken flüchten. Doch die Weite des vor ihm liegenden Landes und die mächtige,
eisbedeckte Gebirgskette, die seinen Blick begrenzte, ließ keine Flucht zu.
Unschlüssig betrachtete er die fremde Welt zu seinen Füßen. Sie beherbergte eine üppige Vegetation.
Es gab keine ausgedehnten Karstgürtel zwischen dem ewigen Eis der Berge und dem Grün der Täler. Eis ging in
Fels über, Fels in dichten Bergwald und das Grün des Waldes grenzte beinahe wie abgeschnitten an das hellere
gelbgrün der Alpweiden und Wiesen, die in ihrer Farbe satter wurden, je näher sie in der Talmitte lagen. Tiefer
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blauer Himmel überspannte das Land, das in der flimmernden Sonne lag. Lediglich an zwei kleinen Stellen lag
noch grauer Dunst über den Hängen. Nachdenklich beobachtete Sebastian, wie die Dunstglocke über einem
geschützten Winkel des Tals aufstieg, in oberen Luftschichten vom Wind erfasst und fort getragen wurde.
Weshalb war nur an diesen beiden Stellen eine permanent aufsteigender Dunst zu sehen? Als ihm diese Frage
bewusst wurde, war er plötzlich hellwach. Feuer! Der Dunst war Rauch! Also gab es dort unten ein Feuer. Und
ein Feuer bedeutete beinahe zwangsläufig Menschen!
Sebastian rieb seine Augen und starrte auf diese beiden Stellen im Tal. Ein Ort, wo der Rauch auftrat,
war eine Senke, wo Wald und Wiesen dicht beieinander lagen. Die zweite Dunsthaube breitete sich über reinem
Wiesengelände aus. Nur ein paar kleine Wäldchen grenzten an das Gebiet, das von einem breiteren Bach
durchzogen wurde. Deutlich konnte Sebastian die Schlangenlinie des Bachlaufs erkennen. Mehrere riesige
Felsen lagen dort unten dicht beieinander, fast systematisch angeordnet...
Dann fiel es ihm wie Schuppen von den Augen: Die dunklen Punkte und Flecken, die er für Felsen
gehalten hatte, waren gar keine! Je länger er hinab spähte, desto sicherer wurde er sich. Was er dort unten sah,
waren Häuser! Hütten, Ställe, Wohnhäuser, eine Siedlung, oder ein Dorf, das friedlich in der Sonne lag. Abrupt
stand er von seinem Sitz auf und verlor beinahe das Gleichgewicht. Dort unten lebten Menschen! Das war seine
Rettung! Er musste nur da hinunter, dann würde man ihm schon weiterhelfen!
Neuer Mut beflügelte ihn und er setzte seinen Weg fort. Minute für Minute, Stunde um Stunde latschte
Sebastian stoisch auf dem staubigen Weg dahin, der sich in unzähligen Kehren und Biegungen verlor.
Zwischendurch hegte er die Hoffnung, dass ihm auf diesem ausgebauten Weg vielleicht ein Waldarbeiter oder
Forstaufseher mit einem Traktor oder Geländewagen begegnen und ihn zu einer Talfahrt einladen würde. Diese
Hoffnung blieb Wunschdenken.
Die Sonne warf bereits wieder lange Schatten und bestrich mit ihrem goldenen Licht die Gebirgsflanke
an der er stetig tiefer stieg. Ab und zu eröffnete das Gelände an einem ausgesetzten Punkt den Blick ins Tal.
Immer deutlicher zeichnete sich dort unten eine Ortschaft ab. Mittlerweile konnte Sebastian einen Weg
erkennen, der durch das Dorf führte. Ebenso konnte er mehrere kleine Seen ausmachen, sowie offenbar von
Menschen angelegte Felder.
Sein Weg führte weiter an der ausgedehnten Gebirgskante entlang; Kilometer um Kilometer. Das Dorf
dort in der Tiefe blieb rechts liegen und verschwand irgendwann gänzlich aus seinem Blickfeld. Den Weg zu
verlassen, wagte er jedoch nicht. So nahe vor dem Ziel wollte er sich nicht noch hoffnungslos in irgendeiner
Schlucht oder in einem unübersichtlichen Wald verirren.
Sebastian marschierte, bis sich die Sonne zu den Gipfeln der gegenüberliegenden Berge herab senkte.
Als die Dämmerung hereinbrach, suchte er nach einer geeigneten Stelle, um eine weitere Nacht im Freien zu
verbringen. Doch er musste sich noch zwei Stunden weiter schleppen, bis sich die Dunkelheit über das Land zu
legen begann. Da erst neigte sich die Bergflanke und das Gelände ging in bewaldete Hügel über, zwischen denen
sich immer öfter eingelagerte Wiesenlandschaften öffneten.
Fest entschlossen, an einer der nächsten Felsgruppen im Schutze eines Waldrands sein Nachtlager
aufzuschlagen, erblickte er plötzlich auf einer Hangwiese eine kleine Hütte. Sofort blieb er stehen und sah den
Hang hinauf. Viel konnte er in dem Dämmerlicht nicht erkennen. Vorsichtig stieg er über die geneigte Wiese auf
und näherte sich dem Berghäuschen, das eine verblüffende Ähnlichkeit mit Högi Balmers Hütte besaß.
Als er nur noch einen Steinwurf entfernt war, blieb er stehen und rief: »Hallooho, ist jemand da..?«
Kein Laut weit und breit. Zweimal noch rief Sebastian hinauf. Niemand antwortete. Der Klang seiner Stimme
verebbte ungehört in der weiten, einsamen Berglandschaft. Abweisend und stumm wirkten die geschlossenen
Fensterläden des verlassen dastehenden Hauses. Eine Gruppe hoher, düsterer Tannen ragte dahinter auf. Wie
riesige, schattenhafte Wächter wankten sie leicht im Abendwind.
Nachdem er noch eine Weile gewartet hatte, stieg Sebastian die letzten paar Meter zur Hütte auf und
trat auf die kleine, hölzerne Veranda, die eher einem Abtritt glich. Immerhin war sie so groß, dass eine einfache
Holzbank, neben der Eingangstür an die Wand genagelt, darauf Platz hatte. Er setzte seinen Rucksack auf die
Bank und untersuchte die Tür. Sie war nicht abgesperrt. Ein grober, simpler Riegel, ähnlich dem von Väterchen
Balmers Hütte, hielt die roh gezimmerte Tür geschlossen.
Entschlossen zog er die Tür auf und spähte in das Dunkel. Sofort schlug ihm ein muffiger Geruch
entgegen. Die Duftkomposition reichte von Schimmelpilz bis hin zu verbranntem Holz. Vorsichtig tastete er sich
in den nachtschwarzen Raum hinein und stieß sofort etwas um, das polternd und klappernd in sich
zusammenfiel. Ärgerlich holte Sebastian sein Feuerzeug aus der Tasche und erweckte die Finsternis zu einem
diffusen, zuckenden Bild. Auf den ersten Blick schien diese Behausung relativ aufgeräumt. Ein Haufen Stangen
und Felle lagen an der Stelle, wo er sie umgestoßen hatte. In ihrer Einrichtung glich die Hütte der von Högi
Balmer.
Die Flamme des Feuerzeugs erhitzte seinen Daumen. Fluchend ließ er das Flämmchen erlöschen, ging
zurück auf die winzige Terrasse und suchte verzweifelt nach etwas Brennbarem. Hier scheiterten bereits seine
Fähigkeiten. Zuhause war er es gewohnt, nur einen Schalter zu betätigen, wenn es dämmerig wurde.
Augenblicklich stand er dann im hellen Licht. In dieser Umgebung hatte er Mühe einen Holzspan mit dem
Feuerzeug zu entzünden, weil das meiste Holz entweder frisch, oder vom letzten Regen nass war. Suchend
umrundete er das Holzhaus.
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Am rückwärtigen Giebel war ein massiver Kaminschlot an die Hütte gebaut. Eigentlich sah er so aus,
als hätte ihn jemand an die Holzwand geklebt, denn er passte so gar nicht zum Baustil. Er war wohl eher
praktischer Natur. Genauso praktisch war das rechts und links davon gestapelte Feuerholz. Es war trocken!
Schräg darauf gelegte, grobe Holzbohlen verhinderten, dass der Regen das Holz durchnässte.
Sebastian zog ein paar Späne und zwei größere Holzklötze aus dem Stapel und ging zum Eingang
zurück. Da er von außen erkannt hatte, wo sich die Feuerstelle befand, konnte er sie sogar im Dunkel finden.
Siegessicher entzündete er einen Span, daran wiederum den nächsten und so weiter. Sobald sie lustig flackerten
stellte er sie gegeneinander in den gemauerten Kamin. Auf dieses kleine, prasselnde Feuer setzte er einen der
Holzklötze, der zögerlich zu brennen begann.
Doch anstatt der Rauch im Schlot verschwand, quoll er plötzlich aus dem offenen Kamin hervor, biss
Sebastian in Nase und Augen und raubte ihm augenblicklich den Atem. Das Heizkörperventil zu Hause war doch
einfacher zu bedienen, stellte er wütend fest. Gezwungenermaßen trat Lauknitz erst einmal den Rückzug zur Tür
an, um wieder Luft zu bekommen. Nachdem er sich die Tränen aus den Augen gerieben hatte, versuchte er den
im Feuerschein wabernden Rauch mit seinem Blick zu durchdringen. Dort links, über dem Kamin ragte ein
Haken aus dem gemauerten Schlot. Vielleicht.., wenn er daran zog, oder drehte...
Mutig hielt er den Atem an, kämpfte sich durch den Rauch zurück zum Ofen, ergriff den geschmiedeten
Haken und bewegte ihn. Ruckartig ließ er sich in eine Richtung drehen. Augenblicklich zog der Qualm nach
oben ab und das Feuer flammte hell auf, als wollte es ihm Beifall zu seiner Tat bekunden. So ging das also!
Kleinlaut musste er sich eingestehen, dass seine gewohnte Selbstsicherheit an diesen unheimlichen
Orten gar nicht mehr so sicher war. Unzählige Male hatte er die einfachen Öfen in Bauwagen und
Alpenvereinshütten angeheizt und geglaubt, mit jedem primitiven Kamin fertig zu werden. Er irrt viel, so ein
zivilisierter Mensch; das stellte Sebastian so nach und nach fest.
Je länger er in diesem Land unterwegs war, desto mehr wurde ihm bewusst, dass die Einfachheit des
Lebens in dieser Gegend durchaus ihre Komplexität besaß. Das hochtrabende Wissen aus seinem technisierten
Leben nützte ihm hier zuweilen gar nichts! Ihm wurde klar, wie verwöhnt er eigentlich war. Ohne die
Errungenschaften der zivilisierten Gesellschaft, in der er lebte, war Sebastian so ziemlich hilflos! Wenn er
gezwungen war, noch eine Weile in diesem fremden Land herumzulaufen, dann konnte das ja noch lustig
werden, dachte er ironisch. Ob er sich selbst dieser Ironie ausgesetzt hätte, wenn er geahnt hätte, was da noch
alles auf ihn zukommen würde..?
Nachdem Basti die Fensterläden aufgerissen und gründlich gelüftet hatte, sah er sich in der Hütte
genauer um. Wie bei Väterchen Balmer stellte er fest, dass die Fenster keine Scheiben besaßen. Lediglich
Fensterläden nach innen und außen hielten die Wärme im Raum. Im Winter war das wohl eher wenig
komfortabel. Entweder hatte man Licht und Kälte, oder Wärme und Dunkelheit. Kopfschüttelnd fragte er sich,
was um alles in der Welt die Menschen in dieser Gegend gegen Glasscheiben hatten. Entweder war Glas
hierzulande unerschwinglich teuer, oder man hatte aus Transportgründen darauf verzichtet.
Der Ständer mit Fellen, den er umgeworfen hatte, ließ sich nicht wieder aufstellen. Verschieden lange
Stangen lagen unter den Häuten kreuz und quer begraben. Es war Sebastian unmöglich festzustellen, in welcher
Konstruktion sie zusammengehörten. Also stellte er die Stangen in eine Ecke und stapelte die muffig riechenden
Felle auf drei aneinander gelegte Holzscheite.
Viel gab es in der Hütte nicht zu entdecken. Ein paar hölzerne Gefäße und Geräte hingen an den
Wänden. In einer Nische fand er ein ganzes Sortiment Äxte und Beile, die vermutlich von Hand geschmiedet
wurden. Eine größere Anzahl verschiedener großer Messer, ähnlich wie Macheten, nur kräftiger, lagen in einem
grob gezimmerten Regal. Eine, die ihm als Waffe am ehesten geeignet erschien, nahm Sebastian gleich erst
einmal in Besitz. Vorsicht war besser als Nachsicht und er konnte nicht wissen, was oder wem er in diesem Land
noch begegnen würde.
Über der Eingangstür entdeckte er eine Anzahl Speere, oder Lanzen, die jenen Harpunen ähnelten, die
man in frühen Jahren zum Walfang benutzte. Metallene, sechs Zentimeter breite Spitzen steckten auf langen,
glatten und abgegriffenen Holzschäften, gut zwei Meter lang. Ein kräftiges, drei Meter langes Seil, am Ende der
Spitze und in der Mitte des Holzschaftes befestigt, sorgte offenbar dafür, dass Spitze und Schaft zwar
voneinander gelöst, jedoch nicht getrennt werden konnten. Da Sebastian draußen weit und breit kein größeres
Gewässer erblicken konnte, fragte er sich, welches Tier mit solch monströsen Harpunen gejagt wurde. Gore
vielleicht..?
Zu seiner Freude fand er in der Hütte noch einen aus grobem Holz zusammengenagelten Tisch und drei
wackelige Stühle, bei denen sofort klar wurde, dass der Tischler so gar kein Verständnis für Ästhetik und Design
besaß. Dem Stil dieser Einrichtung angepasst fand er noch zwei Schlafstätten. Achtlos hingeworfene Felle
bedeckten die Liegefläche, die aus unbearbeiteten, zusammengefügten Ästen bestand. Ein paar vertrocknete
Tannenzweige erzählten ihm, was der letzte Bewohner als Matratze benutzt hatte. Wollte Sebastian also
einigermaßen bequem schlafen, musste er sich ebenfalls frisches Tannengrün von draußen holen.
Mit der gefundenen Machete bewaffnet, marschierte er zum Waldrand. In der eintretenden Dämmerung
begann er damit, die unteren Zweige einer Tanne abzuschlagen. Seine neue Verteidigungswaffe leistete ihm
dabei erstaunlich gute Dienste und er entdeckte, wozu die Hüttenbewohner ihre Macheten benutzten. Dieses
riesige Messer erwies sich als sehr brauchbares Instrument und er war davon überzeugt, dass er einen Angreifer
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damit durchaus in die Flucht schlagen, oder sehr schwer verletzen konnte. Nach all dem Erlebten eine solche
Waffe in den Händen zu halten, beruhigte Sebastian. Er bekam ein klein wenig von seinem Überlegenheitsgefühl
zurück, von dem er in der letzten Zeit so viel eingebüßt hatte.
Die Arme voll von erbeuteten Tannenzweigen, kehrte er zur Hütte zurück. Ohne große Umstände
richtete er sich auf einer Schlafstelle sein Nachtlager ein. Unter den Schlafsack legte sich Sebastian noch vier
Felle, damit ihn in der Nacht keine Tannennadeln piesacken konnten.
Alles schien perfekt! Er hatte ein Dach über dem Kopf, hatte ein relativ bequemes Bett und hatte es
leidlich warm. Sogar eine reine Bienenwachskerze hatte Sebastian gefunden, die einen spärlichen Lichtschein
durch den Raum warf und ihm eine gewisse Heimeligkeit suggerierte. Doch etwas Entscheidendes fehlte zu
seinem Glück. Sebastian Lauknitz hatte Hunger!
Sein Proviantbeutel war einem gierigen Höllenhund zum Opfer gefallen und in seinem Rucksack fanden
sich nur noch ein paar Päckchen Kaugummi. Missmutig schob er sich zwei Streifen davon in den Mund und
kaute angewidert darauf herum. Sein Magen verlangte nach etwas Anderem, als Pfefferminz animiertem
Speichel! Zudem besaß das Kaugummikauen den zweifelhaften Effekt der Appetitsteigerung. Bei jedem
Schlucken machte Sebastians Magen Geräusche, die ihn doch sehr an das Knurren des Hyänenhundes vom
Vortag erinnerte.
Verzweifelt suchte er jeden Winkel der Hütte nach etwas Essbarem ab.., vergeblich. Wohl oder Übel
musste er sich mit einem großen Loch im Bauch zur Ruhe begeben. Noch während er aus dem wachen Zustand
in den Schlaf hinüber glitt, dachte er darüber nach, woher er nun Nahrung bekommen sollte. Jeden Tag weite
Strecken marschieren, ohne etwas zu essen... Wie lange würde er das durchhalten?
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Wie lange er geschlafen hatte, wusste Sebastian nicht. Doch in Anbetracht der Kilometer, die er über
Stock und Stein zurückgelegt hatte, musste er wohl geschlafen haben, wie ein Toter: Lange, tief und fest.
Stimmen waren es, die ihn aus seinen wilden Träumen rissen. Sebastian lag da und lauschte angestrengt. Nichts.
Was er gehört hatte, war wohl seinem Traum entsprungen. Er hatte geträumt, er wäre von einem Drachen
angefallen worden, von einem Monsterhund verfolgt und von Skeletten bedroht worden...
Allmählich kamen seine Erinnerungen zurück. Wie schön war das jedes Mal gewesen, wenn Sebastian
in seiner kleinen Wohnung aus einem bösen Traum erwachte und sich herausstellte, dass Sonntag war, und er
nur geträumt hatte und sich in seinen eigenen schützenden vier Wänden befand...
Aber diesmal war alles anders. Sebastian erwachte aus einem bösen Traum, der gar keiner war! Denn er
war seit Wochen in diesem Traum gefangen. Und augenblicklich wurde ihm klar: Die Stimmen hatte er
womöglich gar nicht geträumt! Sie hatten so echt geklungen und passten gar nicht zu seinem Traum. Wer
garantierte ihm denn, dass sie seiner Phantasie entsprungen waren?
Mit einem Satz war er aus seinem Schlafsack heraus, griff nach der Machete und spähte und lauschte
durch die Ritzen im Fensterladen. Draußen war es hell, aber still. Zu still! Es musste bereits Tag sein, doch
Sebastian konnte keinen Vogel singen hören und keine Grille zirpen. Etwas war da draußen, da war er ganz
sicher! Aber was? Waren es die Leute der Prozession, die er vorgestern beobachtet hatte?
Nicht ein Geräusch drang an sein Ohr... Oder doch..? Kollerte da nicht irgendwo ein Stein, ganz in der
Nähe? Lauknitz horchte so angestrengt, dass er das Blut in seinen Ohren pulsieren hörte. Schweiß bildete sich
auf seiner Stirn und rann ihm beißend in die Augen. Blinzelnd lugte er durch den Ritz, konnte aber nichts
erkennen.
Da! War da nicht ein Kratzen zu hören, wie wenn ein wildes Tier an Holz scharrt? Vielleicht einer
dieser Felsenbären, von denen Högi Balmer und der Doktor erzählt hatten? Sein Herzschlag donnerte so laut,
dass Sebastian wünschte, er würde aufhören, um ihn nicht zu verraten.
Die Anspannung war so groß, dass er sie nicht länger ertragen konnte. Er musste das Vieh erschrecken,
dann würde es womöglich Reißaus nehmen. Auf Zehenspitzen schlich Sebastian zur Tür, bemüht, mehr zu
schweben, als zu gehen. Krampfhaft umfasste er den Riegel, jederzeit bereit, ihn mit einem Ruck empor zu
reißen und die Tür aufzustoßen. Einen Augenblick wollte er noch warten, um ganz sicher zu gehen. Aber beim
nächsten Geräusch..!
Draußen blieb es still. Als hätte die Welt den Atem angehalten. Ja, sie hörte regelrecht auf zu atmen!
Schweißgebadet stand er in Lauerstellung, das Herz pochte ihm bis zum Hals. Was war besser, die Tür langsam
öffnen, oder mit einem Schlag aufstoßen? Wenn er es langsam tat, konnte sie knarren und ihn ohnehin verraten.
Also schnell und unverhofft! In Gedanken bis drei zählen! Eins... Zwei... Drei...
Die Machete in der rechten Hand, riss Sebastian den Riegel knallend mit der linken hoch und drückte
mit aller Kraft gegen die Tür. Sie klemmte! Er hatte den Riegel zu hoch gezogen, er blockierte. Aufgeregt
drückte und zog er abwechselnd daran und trat gegen das Türblatt, bis es plötzlich aufflog. Die Tür schwang
herum und schlug krachend gegen die Wand, so dass die ganze Hütte in all ihren Fugen erzitterte. Mit
angehobener Waffe trat Sebastian heraus und erstarrte gleichzeitig in der Bewegung...
Gerade in diesem Moment kam ein Mann von kräftiger Statur die Verandatreppe herauf, gefolgt von
einer Frau und zwei Kindern. Er blieb abrupt stehen, als wäre er gegen einen Brückenpfeiler gelaufen. Wer von
ihnen beiden nun erschrockener und ratloser dreinblickte, konnte Basti nicht sagen. Der Mann war mittleren
Alters, hoch gewachsen und kräftig. Ein kantiges und derbes Gesicht, in dem ehrliche, große Augen ruhten,
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verrieten einen nicht sonderlich intelligenten, aber gutmütigen Menschen. Seine Kleidung bestand aus grobem
Baumwollzeug. Darüber trug er eine schwere, befleckte Lederschürze. Seine Füße steckten in Stiefeln, die ihm
zwei Nummern zu groß erschienen. Vermutlich gehörte diese Hütte ihm, oder er benutzte sie zumindest.
Wahrscheinlich war er ein Holzfäller, oder Waldarbeiter.
Die Frau war von eher kleiner und zierlicher Statur und trug ein einfaches, hellblaues Baumwollkleid
mit weißer Schürze, so wie Sebastian es einmal im Fernsehen bei den Amish gesehen hatte. Ihr Schuhwerk war
keineswegs so grob, wie das ihres Mannes. Feine, weiche Lederschuhe mit hohem Schaft schützten ihre kleinen
Füße. Dieses Schuhwerk erinnerte Lauknitz stark an indianische Ledermokassin. Diese jedoch waren nicht mit
Perlen verziert, sondern trugen bunte Blumenstickereien.
Der etwa sechsjährige, dunkelhaarige Junge und das etwas jüngere blonde Mädchen erhielten ihre selbst
genähten Kleider offenbar aus den Stoffen der nicht mehr zu tragenden Kleidung der Eltern. Das Mädchen
steckte in einem viel zu großen Kleidchen, das bis zur Hüfte aus hellblauem Stoff und im Unterteil aus braunem,
kräftigerem Leinen bestand. Ein rotes Halstuch war das einzige, was die strenge Kleidung des Mädchens
unterbrach.
An dem Jungen hing wie an einem Gerippe eine im Bund viel zu breite, steife Hose, die ihm
andererseits derart zu kurz war, dass sie seine Waden nur halb bedeckte. Dieser Anblick machte Glauben, dass er
die Sachen eines dicken Gartenzwerges auftragen musste. Ein ebenfalls viel zu großes Baumwollhemd steckte
unordentlich in seinem Hosenbund, der von einem Kälberstrick zusammen gehalten wurde. Dieser war rings um
seine Hüfte mit allerlei Klimbim behängt, eben mit allem, was Jungen so mit sich herumschleppen.
Der Vater hatte sich endlich von seinem Schreck erholt und wollte etwas zu Basti sagen, als er die
Machete in seiner Hand erblickte. Er stockte, sah ihm in die Augen und plötzlich schien ihm das nackte
Entsetzen ins Gesicht geschrieben. Er breitete schützend seine Arme vor seiner Familie aus und wich langsam
rückwärts zurück, die Treppe hinab. In seinem Blick las Basti Verständnislosigkeit, Angst und Erstaunen.
Ihm wurde klar, dass die Waffe in seiner Hand an dieser Stelle nicht dazu beitragen konnte, neue
Freundschaften zu knüpfen. In einer offenen Geste warf Sebastian das Riesenmesser hinter sich auf die Veranda.
Polternd blieb sie unter der Sitzbank liegen. Weit genug, um seine friedliche Absicht zu bekunden, aber nur so
weit, dass er sie im Notfall noch erreichen konnte. Dann ging er mit offenen Armen und Händen langsam auf
den Mann zu.
»Guten Tag, sie brauchen sich nicht vor mir zu fürchten...«, sprach Sebastian in ruhigem, freundlichen
Ton, »ich hatte nur einen Schutz für die Nacht gesucht... Können sie mir helfen, in die nächste Stadt zu kommen,
ich wäre ihnen sehr dankbar dafür...«
Der Mann streckte ihm abwehrend beide Hände entgegen und sagte etwas zu ihm, dass Sebastian nicht
verstand. Er redete in einer Sprache, die ihm völlig unbekannt war. Jedenfalls war es keine der allgemein
gebräuchlichen Weltsprachen. Beinahe klang es wie eine Mischung aus gutturalen, indianischen Lauten und
Russisch. Doch seine Bildsprache war um so verständlicher. Die Geste bedeutete Sebastian: »Bleib mir vom
Leib, komm ja nicht näher, verschwinde aus unseren Augen...«
Das war sehr deutlich! Jedoch konnte er absolut nicht verstehen, was diesen Mann, der ihm körperlich
weit überlegen war, so an seiner Gestalt erschreckte. Mit panischen Bewegungen scheuchte er seine Familie die
Verandatreppe hinunter und trieb sie aufgeregt redend und gestikulierend auf den Weg zurück. Er gebärdete sich,
als sei Sebastian ein Monster, dass seine Familie mit einem Happs verschlingen wollte, oder gar der Teufel
persönlich.
Aber sie waren die einzigen Menschen weit und breit und Sebastian brauchte dringend Hilfe! Also ging
er hinter ihnen her und rief: »Ich brauche Hilfe, können sie mir helfen?«
Doch je beharrlicher er ihnen folgte, desto schneller traten sie den Rückzug an, bis der Mann mit seiner
Frau in panischer Flucht auf dem Weg talwärts rannte, die Kinder an den Händen hinter sich her ziehend. Es
dauerte keine zwei Minuten, da waren sie Sebastians Blick entschwunden. Friedliche Ruhe legte sich wieder
über das Land. Lauknitz stand da, fassungslos, irritiert und mit fragendem Blick.
Was an ihm hatte diesen Menschen so in panischen Schrecken versetzt? Seine Kleidung? Die Waffe in
seiner Hand? Wohl kaum. So, wie der Mann gebaut war, hätte er ihn leicht mit einer Hand an die Hütte nageln
können. Wieso hatte dieser Mensch eine solche Angst vor ihm gehabt? Sebastian blieb nur die eine Erklärung,
dass er wegen der Waffe in seiner Hand Angst um seine Familie hatte. Vielleicht verbot ihm sein Glaube,
Gewalt in jedweder Form abzulehnen. Da er aber um seine Familie fürchtete, zog er sich vor dem
Machetenmann mit der fremden Sprache zurück.
Das war ein weiterer Punkt, den Sebastian nicht verstand. Die Sprache! Högi Balmer und Falméras
Medicus redeten in seiner Sprache, wenn auch von einem fürchterlich schrägen Dialekt durchsetzt. Doch dieser
Mann bediente sich einer Sprache, die Lauknitz nie zuvor im Leben gehört hatte. Freilich war er als
Baustuckateur nicht gerade in der Welt herumgekommen, doch wenigstens in den Medien hätte er ähnliche
Laute sicherlich einmal vernommen.
All das neue Unbekannte, das in diesen Bergen täglich auf ihn einströmte, machte wiederum ihm Angst!
Sebastian spürte, dass er sich in einer Welt bewegte, in die er nicht hineingehörte. Darum wollte er dieser
Umgebung auch so rasch wie möglich entfliehen. Doch das gestaltete sich schwierig, angesichts der Größe und
Weite des Landes, seiner Feindseligkeit und Sebastians leeren Proviantbeutels.
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Der Hunger wurde allmählich zu seinem allergrößten Feind. Wasser gab es allenthalben genug und in
bester Gebirgsquellen- Qualität. Das Auffinden von Nahrung jedoch wurde zu einem ernst zu nehmenden
Problem für ihn. Wild hatte Sebastian wohl reichlich gesichtet, großes, wie kleines. Sollte er also stundenlang,
mit einer rostigen Machete hinter einem Hirsch oder Mufflon her sprinten, um dann festzustellen, dass ihn diese
Tiere in diesem Gelände lässig abhängen konnten? Damit würde er seine letzten Kraftreserven verbrauchen, nur
um ein Beispiel dafür zu erhalten, dass diese Spezies hierzulande ebenso flink war, wie in seinen heimatlichen
Mittelgebirgen. Außerdem hatte er noch niemals selbst ein Tier ausgeweidet!
Als Kind hatte Sebastian seinem Großvater bei der Hausschlachtung zugesehen. Hühner, Kaninchen,
Enten und Gänse, manchmal sogar ein Schwein, verendeten unter dessen scharfem Messer und fanden sich in
Form eines leckeren Bratens auf ihrem Tisch wieder. Theoretisch wusste Basti, worauf es ankam, doch praktisch
hatte er nicht die geringste Ahnung. Er hatte gelernt, dass man niemals die Galle ankratzen darf. Doch wer würde
ihm in dieser Einsamkeit erklären, welches Teil in dem blutigen Gematsche eines aufgebrochenen Hirsches die
Galle war und welches die Leber?
Resigniert stellte er fest, dass er, der große Bergführer und Naturliebhaber Sebastian Lauknitz, nur ein
sehr begrenztes Verhältnis zum Überleben in der Wildnis besaß. Stets hatte er sich eingebildet, aufgrund seiner
alpinen Kenntnisse und seines Orientierungssinns überall auf der Welt ohne große Hilfsmittel überleben zu
können. Welch eine Fehleinschätzung! Basti fluchte über seine eigene Dummheit und musste sich eingestehen,
dass, wenn er nicht bald die Zivilisation erreichen konnte, er elendig verhungern würde.
Marschieren musste er, marschieren, egal, wie weit es war! Je eher er sich wieder auf den Weg machte
und die nächste Ortschaft erreichte, desto besser. Dass die Menschen dort unten im Tal bei seinem Anblick
möglicherweise mit dem gleichen Verhalten reagieren könnten, wie dieser Holzfäller mit seiner Familie, auf
diesen Gedanken kam er erst gar nicht...
In kurzer Zeit hatte er seinen Schlafsack auf den Rucksack geschnallt und war bereit zum Aufbruch.
Gewissenhaft überprüfte Sebastian noch einmal, ob das Feuer erloschen war, denn er wollte ja nicht so unhöflich
sein und die Hütte aus Unachtsamkeit abfackeln. Mit gemischten Gefühlen schloss er die Tür. Ob er am Ende
dieses Tages wieder ein Dach über dem Kopf haben würde, war äußerst zweifelhaft.
Anschließend angelte er das Machetenmesser unter der Bank hervor, wo er es hingeworfen hatte und
steckte es in seinen Gürtel. Angesichts der reichhaltigen und vielfältig entarteten Fauna dieses Landes wollte
Sebastian auf diese Waffe nicht mehr verzichten.
Dann stapfte er über die taufrische Wiese zum Weg, der ihn ins Tal führen sollte. Plötzlich schimmerte
etwas leuchtend Rotes vor ihm im Gras. Vorsichtig näherte er sich dem ungewohnten Farbtupfer. Er entpuppte
sich als das Halstuch, des kleinen Mädchens. Bei der Flucht vor dem bösen Eindringling Sebastian Lauknitz
musste sie es wohl verloren haben. Basti hob es auf und steckte es ein. Wenn ihm diese Familie noch einmal
über den Weg laufen sollte, wollte er es dem Mädchen zurück geben. Er hoffte, sie würden dann nicht mehr vor
ihm davonlaufen und erkennen, dass er ein friedliches Menschenwesen war.
Stunde um Stunde folgte er weiter dem Weg, auf dem er sich nun schon solange bewegte und der kein
Ende zu nehmen schien. Er führte durch ausgedehnte Wälder, die oft links und rechts als undurchdringliche,
dunkelgrüne Wand seinen Blick begrenzten. Ab und zu tat sich eine Lichtung auf, die zu einer sonnigen Rast
einlud. Immer wieder rundete der Weg Felserhebungen, oder führte durch kleinere Schluchten. An vielen Stellen
gurgelten klare Bäche oder frische Quellen, die jederzeit Sebastians Durst stillten.
Doch bei jedem Schluck Wasser wurde ihm bewusst, dass er einen leeren Magen hatte. Zeitweise
empfand er eine Leere in seinem Bauch, die all seine Eingeweide zusammenzog. Sebastians Gedanken kreisten
immer öfter um Högi Balmers leckeren, goldbraun gebratenen, duftenden Wafan. Einige Male stolperte
Lauknitz, weil ihm diese Vorstellung schlicht die Konzentration auf den Weg nahm.
Um die Mittagszeit gelangte er an eine große Wegkehre, die sich offenbar auf einem vorgeschobenen,
mit Gras bewachsenen Bergrücken vollzog. Jedenfalls war die Stelle so ausgesetzt, dass er weit in das fremde
Land hineinsehen konnte. Links, also im Norden und Nordwesten erstreckten sich unzählige Almhänge, die in
gelblichem Grün schimmerten. Darüber warfen sich gewaltige Bergriesen auf, die mehr an Alaska, als an die
Alpen erinnerten. Riesige Eisfelder glänzten zwischen den Gipfeln, als wären sie aus reinstem Silber.
Weiter rechts, wo sich Hänge und Schluchten immer tiefer ins Tal hinab zogen, bekam der Wald eine
andere Färbung. Das Grün wechselte seinen Charakter immer mehr vom Nadelbaum zum Laubbaum. Sattgrüne
Weiden leuchteten im Talgrund, umschlossen kleine türkis bis himmelblau schimmernde Seen, die wie
leuchtende Opale auf einem Teppich lagen.
Dort, wo Sebastians Weg vermutlich nach endlos langen Strecken und Windungen aus den Wäldern
trat, lag eine große, flache Senke grünen Weidelandes in der flimmernden Hitze des Tages. Soweit er dies
erkennen konnte, durchfloss ein Bach das ausgedehnte Tal. Der Weg, auf dem er unterwegs war, schien sich
parallel zu ihm fortzusetzen. Zwischen den weitläufigen Wiesen jedoch erstreckte sich eine große Ansammlung
von Häusern oder Hütten, das konnte Basti deutlich erkennen. Jedoch mochte es gut und gerne Abend werden,
bevor er die Ortschaft erreichen würde.
Der Anblick der entfernten Siedlung gab ihm Mut. Der innere Auftrieb überdeckte das Gefühl des
Hungers und ließ ihn kraftvoller ausschreiten. Bald würde diese Odyssee ein Ende haben! Er würde wieder etwas
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in seinen Bauch bekommen, in einem warmen, weichen Bett schlafen und seine strapazierten Füße pflegen...
Dachte er zumindest!
Immer häufiger passierte er jetzt Schneisen, oder in den Wald eingelagerte Wiesen, auf denen eine
einsame Hütte stand. Alle diese Behausungen wurden offensichtlich regelmäßig benutzt, waren aber verlassen.
Sorgsam verschlossene Fenster und Türen blickten Basti entgegen, wenn er sich ihnen näherte.
Inzwischen war das Dorf seinem Blick entschwunden. Es verbarg sich hinter den hohen, uralten
Bäumen des Waldes, der Hügel und Kämme bedeckte. Plötzlich, mit einem sanften Windhauch, drang ein
Geräusch an Sebastians Ohr, das nicht in einen Wald gehörte. Es klang wie das hauchzarte, helle Läuten einer
himmlischen Glocke, weit, weit entfernt. Neugierig geworden beschleunigte er seinen Schritt. Das Klingeln
hörte auf...
Der Hunger wurde größer, der Weg länger und klotzhart. So latschte Sebastian dahin, selbstvergessen in
müder Monotonie. Da..! Auf einem Mal war das leise Leuten wieder da, deutlich näher! Er blieb stehen und
lauschte. Ganz deutlich konnte er es hören, konnte sogar verschiedene Töne unterscheiden, als wenn jemand eine
unbekannte Melodie in unregelmäßigem Takt spielte. Der Klang kam aus der Richtung in die der Weg führte.
Vorsichtig schlich er weiter, bereit, jederzeit zwischen die Bäume zu springen, um nicht entdeckt zu
werden. Insgeheim dachte Sebastian mit Unmut an die Prozession von Vorgestern und an den Hyänenhund.
Intuitiv blickte er sich nach einem hohen Baum um, auf den er sich hätte flüchten können.
Minuten später gelangte er an eine riesige Lichtung, die wievielte an diesem Tag? Sofort sprang
Sebastian zurück in die Deckung der Bäume. Unbedacht war er aus dem Wald getreten und sah sich einer Herde
großer Tiere gegenüber. Etwas abseits des Weges hockte er sich am Waldrand nieder und beobachtete. Diese
Huftiere, die man hier anscheinend als Haustiere hielt, waren kleiner als Kühe, jedoch größer als Ziegen. Ihre
Hörner ähnelten denen des alpinen Steinbocks. Vermutlich hatte man auch hier der Natur ins Handwerk
gepfuscht und versucht, eine eigene, effizientere Kreuzung zu züchten.
Weiter hinten auf dem großen Wiesengelände stand eine Hütte, etwas größer und komfortabler, als die
von heute Morgen. Zwei Ställe, oder kleine Scheunen lagen rechts davon und bildeten einen kleinen Hof. Auf
der Wiese links neben dem Almhaus waren ein Mann und eine Frau dabei, Heu zu wenden. Eine Weile sah er
ihnen zu, dann entschloss er sich, die beiden nach dem weiteren Wegverlauf zu befragen. Sie machten einen
friedlichen, normalen Eindruck und vielleicht konnte Basti ihnen sogar etwas zu Essen abkaufen.
Ohne weitere Scheu trat er aus den Bäumen hervor und ging langsam auf die Arbeitenden zu. Etwas
unwohl war ihm, weil er mitten durch die friedlich grasende Herde spazieren musste. Die Tiere standen jedoch
so weit verstreut, dass Sebastian keinem zu nahe auf das Fell rücken würde. Einige der Kuh- Ziegen hörten auf
zu fressen, hoben ihr Haupt und glotzten ihn nur uninteressiert an. Diese Zucht schien noch phlegmatischer zu
sein, als Kühe.
Die halbe Weide von ungefähr hundertfünfzig Metern hatte Sebastian bereits durchquert, als das
Bauernpaar seine Anwesenheit bemerkte. Sie hielten in ihrer Arbeit inne, gingen aufeinander zu und berieten
sich. Wahrscheinlich fragten sie sich, welcher Fremde da wohl ihren Frieden störte. Ohne anzuhalten ging
Lauknitz weiter offen auf die beiden zu und freute sich bereits, endlich Menschen gefunden zu haben, die ihm
vielleicht helfen konnten.
Als er gerade noch einen Steinwurf von den beiden entfernt war, verriet ihr Gesicht plötzlich das blanke
Grauen. Als hätten sie einen bösen Geist gesehen, blickten sie ihn erschrocken und wie gelähmt an. Dann sprach
der Mann leise und ruhig etwas zu seiner Frau und wieder hörte Sebastian diese unbekannte Sprache, die er
keiner Nation der Erde zuordnen konnte.
Sogleich ließ die Frau, die mit einem einfachen, braunen Kleid bekleidet war, ihren Rechen fallen und
lief auf die Hütte zu. Der Mann, in ebenso einfacher Kleidung, stellte sich Sebastian wie einem Feind entgegen.
Seinen Rechen hielt er dabei wie eine Waffe quer vor seine Brust. Barsch stellte er Sebastian eine Frage, die er
natürlich nicht verstehen konnte.
»Ich brauche Hilfe..«, antwortete Lauknitz in seiner Sprache, »kann ich bei ihnen telefonieren.., oder
können sie mir sagen, wo ich die nächste Ortschaft, oder ein Telefon finde?«
Der Mann sah ihn verständnislos an und blickte sich gehetzt zu seiner Frau um, die soeben die Hütte
erreichte und ihm von dort etwas zurief. Unvermittelt stieß er seinen Rechen mit dem Stil vor Sebastian in den
weichen Almboden, wies mit dem Finger hinter ihn und schrie ihn aufgeregt an. Sicherlich bedeutete er ihm auf
diese Weise, dass sich Sebastian schleunigst aus dem Staub machen sollte. Dann machte er auf dem Absatz kehrt
und stampfte zur Hütte, wo er von seiner Frau in der offenen Tür erwartet wurde. Beide gingen hinein und
schlugen die Tür zu, so dass es Sebastian bis zu sich herüber knallen hörte.
Einsam und verlassen stand Basti auf der Wiese, vor ihm der in den Boden gerammte Heurechen, wie
das Hoheitszeichen an der Grenze zu einem verbotenen Land. Was zum Teufel war nur in diese Menschen
gefahren? Was hatten die alle gegen ihn? Was an ihm war so dermaßen erschreckend? Sebastian stand wie
versteinert da und überlegte...
Plötzlich flog drüben an der Hütte krachend ein Fensterladen auf. Völlig überrascht wich Lauknitz vor
Schreck einen Schritt zurück. Jetzt schießen die auch noch auf mich, überlegte er im Bruchteil einer Sekunde.
Doch kein Schuss ließ die Luft erzittern, sondern ein Schwall lauter Worte. Der Bauer stand im Fensterrahmen,
drohte Basti mit der Faust und rief etwas Unfreundliches in seine Richtung.
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Dieser Ausbruch war unmissverständlich. Er sollte verschwinden! Das hatte Sebastian auch ohne
Sprachkenntnisse verstanden. Nun, es war tatsächlich Zeit, das Feld zu räumen. Hier hatte er weder
Freundlichkeit noch Hilfe zu erwarten.
Enttäuscht und weiterer Hoffnung beraubt, ging er zum Weg zurück und setzte seine Suche nach der
verlorenen Zivilisation fort. Was, wenn alle Menschen dieses Landes so reagierten, wie die, denen er bisher auf
seinem Abstieg begegnet war? Diese Möglichkeit machte ihm Angst und er wollte sie sich lieber nicht ausmalen.
Sicher gab es auch hier, wie in jedem Land, freundliche, unhöfliche, herzliche und verstockte Bewohner.
Sebastian musste nur die richtigen Leute finden...
Je weiter er talwärts gelangte, desto häufiger traf er auf kleine Alpwirtschaften und Hütten, während der
Wald immer lichter wurde und allmählich dem Grasland der Weiden wich. Die wenigsten der Behausungen
waren bewohnt oder bewirtschaftet. Meist stand er vor verschlossenen Fensterläden und verriegelten Türen.
Doch dort, wo Basti auf Menschen stieß, erwartete ihn ein feindseliges, ablehnendes Verhalten. In der
Regel flüchteten die Menschen vor ihm in panischer Angst, als wäre er eine Ausgeburt der Hölle. Das war
insofern paradox, da sich ausgerechnet diese Menschen offenbar Monster als Hunde hielten.
Einmal, es war am Nachmittag, ging sogar ein Mann mit einer Sense auf ihn los. Er hatte ihn nicht
gesehen und überraschte ihn völlig unbeabsichtigt hinter seiner Hütte. Der Mann fühlte sich wohl beim Anblick
Sebastians Machete angegriffen und scheute sich anscheinend nicht davor, ihm den Garaus zu machen. Nur mit
einem beherzten Sprung über einen groben Holzzaun und einen breiten Bach entging Lauknitz dessen scharfem
Werkzeug.
Zudem war er erschüttert über die offensichtliche Selbstverständlichkeit, mit welcher ihm der Mann
eine Sense in den Leib rammen wollte. Es schien ihm, als hätte es dieser billigend in Kauf genommen, ihn mit
diesem Mordinstrument schwer zu verletzen. Bei dem Gedanken, dass er immer mehr Menschen begegnen
würde, je tiefer er in den Talgrund gelangte, gab ihm unter diesen Umständen Anlass zu großer Besorgnis.
Wie würde man ihn erst unten im Dorf empfangen? Er wollte sich das gar nicht so genau vorstellen und
verdrängte diese Angst zunächst. Auf seinem weiteren Weg musste er jedoch auf der Hut sein. Vorsichtig
lauschte und spähte er bei jeder Wegbiegung voraus, um nicht unbedacht einen Angriff zu provozieren.
Am späten Nachmittag verließ Sebastian den dichten, grünen Gürtel des Waldes. Es war, als spuckte
ihn eine schützende Macht aus, die ihn bis dahin vor allen Blicken verborgen hatte, und warf ihn direkt vor die
Füße feindlicher Wesen. Genau so fühlte sich Basti auch. Er wanderte nun auf dem Präsentierteller der
ausgedehnten Wiesen und Weiden. Weithin konnte ihn jeder beobachten. Er hatte das Empfinden, noch nie
zuvor so angreifbar und verletzlich gewesen zu sein. So hilflos, allem ausgeliefert und allein.
Rinder grasten auf einigen Weiden, an denen er vorüber kam. Keinesfalls aber waren es Kühe, wie
Sebastian sie kannte. Sie sahen eher aus, wie Yaks, mit zotteligem Fell und mächtigen Hörnern. Zwischen den
Viehweiden standen immer wieder einzelne Baumgruppen, kleine Wäldchen, oder Strauchwerk. Viele Wiesen
waren abgemäht. Das Gras hatte man entweder zum Trocknen auseinandergebreitet, oder in mannshohe Garben
zusammengestellt. Überall duftete es nach Heu und frischen Kräutern. Bunte Blumenpunkte zierten die grünen
Teppiche der nicht gemähten Wiesenflächen.
Insekten zirpten, summten und brummten in einem vielstimmigen Konzert um die Wette und
versuchten den friedlichen Gesang der Vögel zu überstimmen. Wieder und wieder sah er Schmetterlinge in den
verschiedensten Färbungen vorüberflattern. Abgesehen von dem versteckten Hochtal nahe Högi Balmers Hütte,
hatte Sebastian selten eine so üppige Natur gesehen.
Bald lag der Geruch von verbranntem Holz und gegartem Essen in der Luft. Der Duft stieg Sebastian so
stark in die Nase, dass sich sein Magen in sich zusammenzog. Der Hunger trat wieder deutlicher in sein
Bewusstsein. Wie lange hatte er jetzt schon nichts mehr gegessen? Zwei Tage.., drei Tage..?
Mittlerweile taten ihm auch die Füße weh und seine alte Verletzung vom Sturz auf dem
Zwischbergenpass rief sich wieder mit heftigen Schmerzattacken in Erinnerung. Basti betete darum, bis zum
Abend noch eine Gastwirtschaft zu erreichen, um duschen, essen und schlafen zu können.
Ganz sicher befand er sich inzwischen nahe bei einer Ortschaft, denn immer wieder erblickte er Leute.
Sie arbeiteten auf den Wiesen, oder kamen ihm auf dem Weg entgegen. Seltsamerweise mied jeder den Kontakt
zu ihm. Entweder liefen sie vor ihm davon, wenn er ihnen zu nahe kam, oder sie änderten bewusst ihre Richtung,
wenn sie ihn schon aus der Ferne gewahrten. Wie ein Aussätziger zu Zeiten der Lepra kam er sich vor. Sebastian
war klar, dass es sich bereits herumgesprochen haben musste, dass er auf dem Weg ins Tal war.
Weshalb aber wurde er gemieden, als hätte er die Pest am Hals? Sorgten seine heimlichen Wärter
inzwischen auf diese Weise dafür, dass er nicht weit kam? Wollte man mit dieser Passivität gewaltfrei seine
Flucht verhindern?
Hier waren Menschen! Junge, alte, großwüchsige und kleine. Doch sie ignorierten ihn, straften ihn mit
Isolation. Je mehr diese Leute krampfhaft versuchten, teilweise fluchtartig aus seinem Blickfeld zu gelangen,
desto seltsamer, mysteriöser und unheimlicher kam ihm das vor. Was würde ihn erwarten, wenn er endlich das
Dorf erreichte? Würde man ihn mit Steinwürfen aus dem Ort jagen? Oder lief Sebastian Gefahr, dass man ihn
einfach gefangen nahm, um ihn wieder an seine unsichtbaren Bewacher auszuliefern?
Noch indem er darüber nachdachte, folgte er dem Weg um eine Biegung auf einer Anhöhe. Die Sicht
war durch eine kleine Baumgruppe und Holunderbüsche verdeckt. Die Beeren, die schwer an den Zweigen
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hingen, waren doppelt so groß, als er sie von Zuhause her kannte. Wie seltsam, dachte Basti, dass hierzulande
alles größer, üppiger und schöner war, als in seiner Welt. Hatte man hier in allen nur denkbaren Bereichen
Genmanipulation betrieben? Kein Wunder, dass man ihn hier nicht mehr weg lassen wollte, denn sollte dieses
Geheimnis öffentlich bekannt werden, würde das der Welt größte Proteste seit dem Vietnam- Krieg auslösen.
Doch weshalb hatte man ihn dann erst hier her gebracht...?
Gedankenvoll schritt er um die Biegung und blieb überrascht stehen. Nur ein paar Steinwürfe entfernt
lag das Dorf, das Sebastian bereits von den Bergen oben erspäht hatte und das er so sehnsüchtig versucht hatte
zu erreichen. Es lag in einer Senke hinter dem Hügel, den er gerade umrundet hatte und bestand aus etwa
zwanzig bis dreißig Hütten in beinahe gleicher Bauweise, wie sie ihm aus dem Wallis bekannt war. Auch die
markanten Holzstadel, die auf Holzstümpfen und Steinplatten ruhten, um Ungeziefer den Zutritt zu verwehren,
reihten sich an die Wohnhäuser. Sebastian machte einen Schritt zurück in die Deckung der Sträucher und
beobachtete das Treiben der Menschen dort unten.
Auf der staubigen, naturbelassenen Straße und an den Häusern standen Menschen. Sie unterhielten sich
oder gingen einer Beschäftigung nach. Ein paar Leute entluden das Pferdegespann eines Leiterwagens und
trugen irgendetwas in eine kleine Scheune. Dazwischen spielten Kinder. Übermütig schreiend tobten sie den
arbeitenden Erwachsenen zwischen den Beinen herum, dass diese Mühe hatten, ihre Arbeit zu verrichten.
Sebastian musste grinsen. Wenigstens das schien in dieser Welt normal zu sein! Und entgegen all der
Einsamkeit und des Schweigens, das er in den letzten Tagen ertragen musste, jagten zwei ausgelassene,
kleinwüchsige Hunde kläffend hinter dem Pulk Kinder her, schnappten nach ihren Füßen und übertrafen den
Dorfnachwuchs beinahe noch in ihrer Tollerei.
Überall stieg Rauch aus den Schornsteinen der ausladenden Hüttendächer und verbreitete den würzigen
Geruch von verbranntem Tannenholz, der ein Gefühl der Wärme und Geborgenheit in Sebastian auslöste. Es war
die gleiche Empfindung, die er spürte, wenn er von einer großen Bergtour oberhalb Grächen oder Saas Fee ins
Tal zurückkehrte, wohl wissentlich, in ein paar Minuten gut und reichlich zu essen und anschließend ausgiebig
zu duschen.
Es waren die im Leben immer wiederkehrenden Wahrnehmungen gleichen Charakters, die, wenn sie
denn angenehmer Natur sind, ein Wohlbehagen der Vorfreude, sowie angenehme Erinnerungen und Sehnsüchte
in der Seele des Menschen auslösen. Zurückliegende Strapazen und Entbehrungen geraten dann meist in die
Zweitrangigkeit.
In dieser Vorfreude, es geschafft zu haben, trat er aus der Deckung der Holunderbüsche hervor und
wanderte ruhig und gelassen den Weg in das Dorf hinab. Ein Mann, der am Pferdefuhrwerk stand und eine
Garbe Stroh herunterheben wollte, erblickte ihn zuerst. Augenblicklich erstarrte er in seiner Bewegung und sah
Basti stumm entgegen. Ein anderer Mann, ein wahrer Hühne, der zu ihm trat, bemerkte die Starre seines
Nachbarn und folgte seinem Blick. Auch er hielt nun in seiner Tätigkeit inne und glotzte Lauknitz
unentschlossen entgegen.
Nach und nach bemerkten alle Menschen auf der Straße seine nahende Gestalt. Gespräche wurden
plötzlich unterbrochen, Lasten abgestellt und Arbeiten eingestellt. Die Menschen liefen zusammen, als galt es,
einem gemeinsamen Feind zu begegnen. Zuletzt erkannten die Kinder, dass sich ihre Umgebung verändert hatte.
Allmählich verebbte auch ihr ausgelassenes Geschrei. Nun begriffen auch die zwei Hunde, dass sich ein Fremder
näherte. Eben noch nach einem Kind schnappend, änderten sie aus der fließenden Bewegung heraus ihren Kurs
und jagten auf Sebastian zu.
Ein schriller Pfiff und eine strenge, scharfe Stimme ließ sie im vollen Lauf stoppen. Unschlüssig
blickten sie abwechselnd zu ihrem Herrchen und zu Sebastian. Mittlerweile hatte Lauknitz angehalten und war
sich gar nicht mehr sicher, wie er sich verhalten sollte. Die energische Stimme rief die Hunde zurück.
Widerstrebend gehorchten diese und trabten zurück. Das nahm auch die Anspannung von den Leuten auf der
Dorfstraße.
Wie auf Kommando begannen sie aufgeregt miteinander zu reden und zu gestikulieren.
Verschiedentlich wies jemand in Sebastians Richtung und ganz allgemein war eine ziemliche Ratlosigkeit unter
den Menschen des Dorfes zu erkennen. Lauknitz selbst fühlte sich inzwischen wie eine Bedrohung dieser
friedlichen Dorfbewohner, obwohl er beim besten Willen nicht sagen konnte, auf welchen Umstand sich eine
solche Bedrohung hätte stützen sollen.
Die bedrückende Stimmung, die dadurch entstand, entbehrte nicht einer gewissen Spannung. Denn
Sebastian wusste nicht, wie die Menschen ihm gegenüber im nächsten Moment reagieren würden, so, wie er
ebenso wenig wissen konnte, wie er sich am klügsten verhalten sollte.
In der nächsten Sekunde jedoch nahm alles einen unverhofften Verlauf. Als würden alle Dörfler dort
unten von einer Einheit gesteuert, löste sich ihre Gemeinschaft rasch auf. Sie zerstreuten sich in verschiedene
Richtungen, jeder suchte offensichtlich so rasch wie möglich die Dorfstraße zu verlassen. Ängstlich griffen sich
die Menschen ihre Kinder und verschwanden mit ihnen in ihren Häusern. Fenster und Türen wurden verriegelt,
Scheunentore geschlossen und von einem Moment zum anderen war der Weg durch das Dorf menschenleer, wie
ausgefegt.
Ruhe legte sich auf die Szenerie, selbst die Insekten unterbrachen ihr beruhigendes Konzert. Eine
angespannte Stille legte sich auf das Land und das Dorf, von der tief stehenden Sonne skurril und unheimlich
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beleuchtet. Schatten wurden länger, griffen über den staubigen Weg, vereinigten sich, wuchsen, vermehrten sich
und verdrängten allmählich jeden Lichtschein. Als griff eine beklemmende Furcht um sich, kam ein leiser Wind
auf und fuhr Sebastian kalt und abweisend durch die Kleider. Der Luftzug griff nach der Puppe eines Kindes, die
neben dem Pferdefuhrwerk liegen geblieben war und rollte sie tonlos hin und her.
Fassungslos stand Sebastian noch immer am Dorfeingang und wagte nicht, sich zu rühren. Die Häuser
wirkten auf ihn wie stumme Gesichter mit geschlossenen, versteinerten Augen. Leben war freilich überall hinter
den abweisend verriegelten Türen und geschlossenen Fensterläden, doch Basti erreichte es nicht. Das Leben floh
vor ihm, vor Sebastian Lauknitz, der niemals einem Menschen etwas zu Leide getan hatte. Das Leben schloss
ihn aus, ließ ihn in der Kälte, in der Dunkelheit und der Leere des wie ausgestorben daliegenden Dorfes allein
zurück.
Nach seinen bisherigen Erfahrungen mit den Leuten dieser Gegend hatte Sebastian kaum damit
gerechnet, dass man ihn wie einen Fürsten feierlich willkommen hieß. Doch eine kollektive, stumme
Feindseligkeit hatte er ebenso wenig erwartet. Zunächst einmal tröstete er sich damit, dass sich Menschen
vielerorts auf der Welt Fremden gegenüber skeptisch, oder gar anfeindend verhielten. Selbst in seinem
Heimatland wurde mit Fremden oft nicht sehr respektvoll und schon gar nicht gastfreundlich umgegangen.
Sein größeres Problem war allerdings der Hunger. Er trat inzwischen deutlich in den Vordergrund.
Wenn sich das ganze Dorf ihm gegenüber so abweisend verhielt, würde er hier nicht einen einzigen Bissen
bekommen. ihm blieb jedoch ohnehin nichts anderes übrig, als dem Weg zu folgen. Und der führte nun einmal
mitten durch diese Ortschaft hindurch.
Lauknitz erreichte die ersten Häuser, die nicht mehr und nicht weniger als den Charakter von fein
säuberlich gezimmerten Hütten besaßen und ging vorbei an dem Pferdegespann mit dem Leiterwagen. Der Wind
wehte Halm für Halm der Ernte von der Ladefläche in den Straßenstaub. Doch niemand kümmerte sich darum.
Der ganze Ort machte den Eindruck, als wären plötzlich alle seine Bewohner tot umgefallen. Die Puppe,
ebenfalls ein Spielball des Windes geworden, rollte wie von Geisterhand bewegt, hin und her, als wäre sie das
einzige, starrgesichtige Lebende auf diesem Schauplatz.
Zwischen stummen Häusern hindurch und an schweigenden Fenstern und Türen vorbei setzte Sebastian
vorsichtig Schritt vor Schritt, bereit, zu reagieren, falls jemand auf die Idee kam, den Fremden nicht unverletzt
ziehen zu lassen.
Hinter ihm knarrte und klapperte eine Tür. Geistesgegenwärtig riss Sebastian die Machete aus dem
Gürtel und sprang herum... Ein kleines, blondes Mädchen kam den Weg durch den Vorgarten der zweiten Hütte
auf die Straße gelaufen. Sie sah sich suchend um und entdeckte dann ihre Puppe, die der Wind beinahe vor
Sebastians Füße geweht hatte. Zögernd sah sie abwechselnd auf ihr Spielzeug und auf den Fremden.
Basti lächelte sie offen an. Es war das kleine Mädchen, dass bereits am Morgen oben auf der Alphütte
mit seiner Familie vor ihm Reißaus genommen hatte. Augenblicklich erschien auch ihr Vater auf der Bildfläche
und war gerade im Begriff, auf ihn loszustürmen. In seiner Verzweifelung reagierte Sebastian beinahe
automatisch. Rasch bückte er sich, hob die Puppe auf, trat zwei Schritte auf das Mädchen zu und hielt sie ihr hin.
Dann griff er in seine Hosentasche, holte ihr rotes Halstuch hervor, das sie bei ihrer Flucht am Morgen verloren
hatte und legte es ebenfalls in seine Hand mit der Puppe.
Der Mann hatte bereits die halbe Strecke zwischen der Hütte und Lauknitz zurückgelegt, um sein
Töchterchen zu beschützen, hielt jedoch angesichts Bastis Geste inne. In den Augen des Mädchens leuchtete es
kurz auf, sie machte einen Schritt auf ihn zu, gerade mal so weit, dass sie beherzt zugreifen konnte. Schnell
machte sie auf dem Absatz kehrt und lief mit ihren wieder gewonnenen Schätzen zu ihrem Vater, der sie weiter
zur offenen Hüttentür schubste.
Freundlich nickte Sebastian dem Vater zu und hob zum Gruß die Hand. Der Mann entrang sich ein
flüchtiges, aber dankbares Lächeln, nickte unmerklich mit dem Kopf, ging ins Haus und schloss die Tür. Da
stand Basti nun. Unter der letzten Hoffnung auf Hilfe begraben...
Resigniert ging er weiter, durch einen Ort, dessen Häuser ihm förmlich ins Gesicht schrien: Gehe fort!
Verschwinde! Lass dich hier ja nie wieder blicken! Gut, was hatte er erwartet? Dass ihn dieser Mann zum Essen
einlud, nur weil er seinem Töchterchen das Halstuch zurück brachte? Dass er ihm einen Schlafplatz am Ofen
anbot? Nach der anfänglichen Reaktion der Dorfgemeinschaft konnte Sebastian auf ein solch verändertes
Verhalten von einem Einzelnen nun wirklich nicht hoffen.
Die Sonne verschwand hinter den hohen Bergen im Westen. Es wurde kühl. Schemenhafte Hütten und
Ställe wanderten bei seinem Gang durch das Dorf an seinem Auge vorüber. Es war ein armseliges Dörflein. Es
gab kein Ladengeschäft, keine Elektrizität, ja nicht einmal eine Kirche.
Lediglich eine Art Dorfplatz verriet die ungefähre Mitte der Ansiedlung. In seinem Zentrum befand sich
ein großer, mit Sorgfalt gemauerter Brunnen. Große, zwischen vierzig und fünfzig Zentimeter hohe und
eineinhalb Meter lange, behauene Steinquader reihten sich im Kreis um den Brunnen. Ein wenig erinnerte die
Anordnung an ein Aphitheater, dessen Bühne der Platz war, wo jeder Wasser schöpfte.
Beeindruckt war Basti von den liebevoll gepflegten Vorgärten der Hütten. Waren die Behausungen
auch von noch so einfacher Konstruktion, so ließen sie doch eine hingebungsvolle und leidenschaftliche Arbeit
erkennen. Kleine, phantasievolle Zäune begrenzten die Beete, in denen die schönsten und buntesten Blumen
blühten und duftende Kräuter, sowie verschiedene Gemüse wuchsen. Kaum, dass ein solcher Zaun ungebetene
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Tiere davon hätte abhalten können, sich Zutritt zu den Leckereien zu verschaffen. Dennoch schien man auf die
Zäune besonderen Wert zu legen. Es waren kleine Kunstwerke. Einige waren aus zusammengefügten
Rippenknochen gefertigt, andere begeisterten als die feinsten Holzschnitzereien, die Sebastian je unter die Augen
gekommen waren. Ein besonders hübscher Zaun war aus kleinsten, verschiedenfarbigen Steinen mosaikartig
gemauert, so dass ein langes, wunderschönes Bild entstanden war.
Die Hütten selbst indes waren einfach gehalten. Hier und dort zierte wohl ein Geweih die Eingangstür,
oder es hingen bunte, getrocknete Blumenkränze an den Wänden, doch sonst sah er nur aneinander gefügte,
ebenmäßig gehobelte Baumstämme.
All diese Eindrücke konnten jedoch sein vordringlichstes Problem nicht lösen. Nach wie vor hatte er
nichts zu essen. Dieses Dorf war seine letzte Hoffnung gewesen, etwas Nahrung zu bekommen. Nach seiner
Erfahrung mit den Bewohnern wagte Sebastian nicht, einfach in einen Vorratsschuppen einzudringen und sich
selbst zu bedienen. Wenn jemand schon wegen seiner bloßen Anwesenheit mit einer Sense auf ihn los ging...
Wozu waren die Leute hier noch fähig?
Mittlerweile kam Sebastian zu dem Schluss, dass es am klügsten war, wenn er das Dorf verließ und
weiter talwärts wanderte, in der Hoffnung, irgendwo doch noch etwas Essbares aufzutreiben. Einmal musste er
ja zwangsläufig in einen größeren Ort, oder eine Stadt gelangen. Die Menschen in den abgelegenen Regionen
wie hier oben, lebten offenbar unter dem Verzicht sämtlicher Annehmlichkeiten der Zivilisation, wie Telefon,
Kraftfahrzeuge, Landmaschinen, oder Elektrizität.
Als erstes musste Sebastian freilich einen Platz für die Nacht finden. Vielleicht eine einsam gelegene
Vorratshütte, oder einen Unterstand, der ihm wenigstens den allernötigsten Schutz bot. Es wurde dunkel, als er
die letzten Häuser des Dorfes aus den Augen verlor und es war stockfinstere Nacht, als Basti endlich die
schemenhafte Silhouette einer Hütte auf einer frisch gemähten Wiese erspähte.
Es war eine dieser kleinen, fensterlosen, auf Steinen aufgebockten Holzstadel, in denen die Bauern ihr
Heu für den Winter aufbewahrten. Er war zu müde, und weiß Gott nicht in der Situation, große Ansprüche zu
stellen. Schwerfällig stieg er die schmale, offene Treppe zur Tür hinauf. Kein Riegel oder Schloss versperrte ihm
den Weg. Ein Strick, am Türblatt befestigt und um einen Holzstempel gewunden, hielt die wackelige Tür zu.
Vorsichtig trat Sebastian in den niedrigen, dunklen Raum. Der Duft nach getrocknetem Gras schlug ihm
entgegen. In jedem Fall war dieser Geruch noch angenehmer, als der, welcher ihm zeitweise aus Högi Balmers
Hütte entgegen drang. Die bescheidene Flamme seines Feuerzeugs zeigte Basti einen zur Hälfte mit Heu
angefüllten Verschlag. Eine kleine Leiter führte durch eine Luke auf den Dachboden. Dieser schien geradezu
vollgestopft mit Winterfutter.
Nun, er hätte es wesentlich schlechter treffen können. Wie bescheiden er geworden war! Eine handvoll
Stroh genügte Sebastian im Augenblick schon zum Glücklichsein. Die Tür zog er mit dem Strick zu und band sie
an einen vorstehenden Holznagel. Dann rollte er seinen Schlafsack auf dem Heu auseinander und schlüpfte
zufrieden hinein. Zufrieden..? Nein, wohl doch nicht so ganz!
Denn ein mächtiger Troll namens Hunger wollte keinen Frieden geben. Er trampelte in seinem Bauch
herum, rumorte in allen Ecken seines Magens und hüpfte und trat und boxte so heftig, dass Sebastian trotz müder
Knochen nicht recht einschlafen konnte. Unruhig drehte er sich in seinem Schlafsack hin und her, hoffte eine
Stellung zu finden, in welcher der Quälgeist in seinem Bauch endlich Ruhe geben würde.
Bald fand Lauknitz mit Hilfe der Embryo- Stellung dann doch noch den friedlichen Pfad in die Welt der
Träume...
Irgendwann in der Nacht, Sebastian mochte wohl drei oder vier Stunden geschlafen haben, riss ihn ein
Krachen und Donnern aus dem Schlaf, als würde jemand eine Haubitze neben dem Stadel abfeuern. Er lag
hellwach und lauschte. Ein greller Blitz trat durch alle Ritzen in seinen Unterschlupf und erleuchtete für
Sekunden seine Umgebung. Dann folgte ein Donnerschlag, der die Welt erzittern ließ.
Fast gleichzeitig setzte ein Rauschen ein, das ein Gebirgsbach kaum noch übertönen konnte.
Umständlich schälte sich Basti aus dem warmen Schlafsack und kroch zur Tür. Im Licht der nächsten
Blitzkaskade löste er den Strick und blickte durch den Spalt nach draußen. Dort ging ein wahrer Prasselregen
nieder, der ihn lebhaft an das Unwetter bei der Hütte des alten Balmer erinnerte. Im hellblauen Schein der Blitze
konnte er erkennen, dass der Regen wie ausgeschüttet fiel. Sebastian sah den Weg, die Baumgruppen und
aufgestellte Heugarben hinter einem Vorhang aus Wasserfäden.
Besorgt blickte er sich um. Bei diesem Platzregen war es nur natürlich, dass irgendwo Wasser
durchtropfte und seine Schlafstelle durchnässte. Ein Hoch auf die einfachen Bauern dieses Landes! Nicht ein
Tropfen des ungemütlichen Nass fand den Weg durch das Dach.
Zufrieden, einen trockenen Platz zu haben, blickte er durch den Türspalt nach draußen und sah dem
Unwetter zu. Blitze erhellten für Sekundenbruchteile die Landschaft, die sein Auge ebenso rasch zu erkunden
versuchte. Naturgemäß blickte er kaum über die ausgedehnte Wiese vor dem Heustadel hinaus. Also beschloss
Basti, das Gewitter sich selbst zu überlassen und noch etwas zu schlafen. Gerade, als er die Tür zuziehen und
den Strick am Holznagel fixieren wollte, gewahrte er einen Schatten, der langsam über die Wiese zog...
Angestrengt spähte er hinaus und wartete. Der nächste Blitz würde Klarheit schaffen. Die Sekunden
zogen sich hin, wie Stunden. Er versuchte etwas außergewöhnliches zu hören, doch das Rauschen des Regens
verschluckte jedes andere Geräusch. Da..! Drei Blitze machten die Nacht zum Tag. Mit Schrecken im Gesicht
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starrte er auf den dunklen Fleck, der sich gemächlich quer über die Wiese schob. Sebastian wollte seinen Augen
nicht trauen, doch eine weitere Blitzserie bestätigte ihm, was er sah. Ungeachtet des Gewitters trottete ein Bär
durch das Unwetter. Ein richtiger Brocken von einem Bär war das! Bislang kannte Sebastian Bären nur aus dem
Zoo oder vom Berner Bärengraben. Die hielt er schon für groß. Doch das Exemplar dort unten musste ein wahrer
Riese seiner Art sein!
Schnaufend stapfte er durch das Gras, seinen mächtigen Kopf witternd hin und her werfend. Sein Fell
dampfte im kalten Regen und sein Atem blies weiße Kondenswolken in die schaurige Gewitternacht. Direkt vor
dem Stadel, Bastis Unterschlupf für die Nacht, blieb er plötzlich stehen, witterte nach allen Seiten und tanzte
unruhig auf den Vorderpfoten hin und her. Sebastian rutschte beinahe das Herz in die Hose! Rasch zog er die
Tür zu.
Bang! Das hätte er lieber lassen sollen! Selbst bei diesem Regen konnte dem Bären der Schlag der Tür
nicht entgangen sein. Ganz vorsichtig öffnete Basti sie erneut einen Spalt breit und lugte hinab. Der Bär
schüttelte sein Haupt, dass das Wasser aus seinem Pelz spritzte. Er war augenscheinlich gereizt, aber
unentschlossen. Doch er hatte bemerkt, dass sich Sebastian hier oben befand. Plötzlich richtete er sich auf und
Basti erschrak, denn er hatte seine Größe wohl deutlich unterschätzt. Der Bär machte den Eindruck, dass er
aufgerichtet locker seine Tatzen zu Sebastian durch die Tür stecken konnte.
Trotz des abkühlenden Regens bekam er Schweißausbrüche. Seine Gedanken überschlugen sich.
Fieberhaft überlegte er, ob dieses Biest ihm hier oben gefährlich werden konnte. Den Stadel einreißen, dazu hätte
selbst dieser Riese eher nicht die Kraft gehabt. Die Bauern hatten solide und fest gebaut. Schon beschäftigte ihn
die nächste bange Frage: Würde der Bär die Treppe heraufkommen, um an sein Nachtmahl zu gelangen?
Sebastian versuchte sich damit zu beruhigen, dass die Stiege bereits unter seinem eigenen Gewicht bedenklich
geächzt hatte. Unter der Masse des Bären musste sie unweigerlich zusammenbrechen.
Tatsächlich erkannte das auch der Bär. Er stellte seine wagenradgroßen Tatzen auf die untere
Treppenstufe und wippte prüfend hin und her. Mit einem kaum wahrnehmbaren Knacken zerbrach diese unter
seinem Gewicht, wie ein mürber Keks. Und als ob er wusste, dass sich jemand hier oben verbarg und ihm
entwischt war, richtete er sich noch einmal zu voller Größe auf und brüllte drohend zu Sebastian herauf. Die
Dampfwolken aus seinem Maul glichen einem Vulkanausbruch. Anschließend umrundete er den Stadel noch
zwei oder drei Mal und trottete dann in seiner ursprünglichen Richtung davon.
Das musste er sein, der Felsenbär, von dem Sebastian den Doktor und Väterchen Balmer hatte erzählen
hören. Im Hinblick auf seine Größe hatten die beiden aber weit untertrieben. Dieser Bursche dort wog gut und
gerne seine eineinhalb bis zwei Tonnen! Er lief selbst den gefürchteten Kodiak- Bären noch den Rang ab. Dieser
König der Wälder hatte hier wahrscheinlich keine ernstzunehmenden Feinde.
Im Geiste stellte sich Sebastian vor, wie die Begegnung ausgehen würde, wenn dieser Riese es wagte,
des Nachts an die Tür einer der ebenerdig gebauten Dorfhütten zu klopfen. So massiv die Türen auch aussahen,
ein wirkliches Problem konnte er damit nicht haben.
Der Bär war Sebastians Blick entschwunden, das Gewitter verlor an Heftigkeit und der Regen rieselte
gemächlich vor sich hin, die Luft deutlich abkühlend. Seine Beine und Füße schmerzten und müde, wie er war,
beschloss er, noch ein paar Stunden in den Schlafsack zu kriechen.
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»Chrack..! Chrack, Chrack... Chrackchrackchrack..!« Permanent drang dieser Laut an sein Ohr.
Anfangs hielt Sebastian ihn für eine Wahrnehmung aus seinem Traum, der ihn den Rest der Nacht fesselte. Nach
und nach begann das Räderwerk seines Gehirns zu arbeiten. Es fiel ihm schwer, Traum und Realität voneinander
zu trennen, doch als es ihm halbwegs gelang, stellte ich verblüfft fest: Das Geräusch blieb! »Chrack, Chrack...
Chrackchrackchrack..!«
Als erstes dachte Lauknitz an den Bären. Hatte der etwa doch noch nicht aufgegeben? Fraß er jetzt die
Stützpfeiler des Stadel an? Aufgeschreckt entwand sich Sebastian seinem Schlafsack und öffnete die Tür ein
Stück weit, gerade genug, um hinaussehen zu können.
»Chrack, Chrack... Chrackchrackchrack..!« Das Geräusch kam von oben! Über ihm, auf der Firstspitze
saß ein rabengroßer Vogel, der jedoch mehr Ähnlichkeit mit einer Möwe, als mit einem Raben hatte. Er besaß
einen großen, gelben, vorn in einer Spitze nach unten gekrümmten Schnabel, sowie ein braunes Federkleid.
Seine Füße, die mehr an Schwimmhäute erinnerten, trugen einen großen Körper, der ähnlich einer Ente geformt
war.
An dem Vogel ist etwas dran, war Bastis erster Gedanke! Was bohrender Hunger bei einem Menschen
auslösen kann... Wie man eine Ente rupft und ausnimmt, hatte er bei seinen Großeltern gelernt, für die das
Schlachten im landwirtschaftlichen Siedlungsbau nach dem Krieg zur Überlebensstrategie gehörte. Allerdings
blieb die Frage, wie Sebastian das Tier erwischen sollte, ohne dass es ihm entwischte!
Vorsichtig zog er die Tür wieder zu, um den Vogel nicht zu verschrecken. Gehetzt überlegte er, wie er
das Federvieh vom Dach holen konnte. Die Machete kam nicht in Frage. Sebastian wollte das Tier zwar töten,
jedoch nicht zermanschen! Aber wenn er den Vogel mit einer Schlinge überraschen könnte... Ihm seinen Gürtel
überwerfen und sofort herunterziehen!
Zwei Minuten später stand er ausgestreckt an die Wand des Stadels gepresst, die Gürtelschlaufe in der
Hand und wagte kaum zu atmen. Es musste schnell und präzise gehen, dann hatte die braune Möwe keine
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Chance! Bei drei! Eins.., zwei.., drei... Sein Arm flog hoch, die Gürtelschlinge zischte hinterher..., und knallte
geräuschvoll an die Firstspitze.
»Chrack, Chrack... Chrackchrackchrack..!« Ein Schatten flog elegant vom Dach und landete
butterweich auf der Wiese vor dem Stadel. »Chrackchrackchrack..!« Das Vieh lachte ihn auch noch aus!
Wütend schleuderte Sebastian seinen Gürtel nach dem Vogel, der aber geschickt hüpfend auswich. Seine
Machete flog mit einem solch energischen Jähzorn hinterher, dass sie einen halben Meter neben dem
erschreckten Tier im regennassen Boden stecken blieb.
Langsam verlor der Vogel den Spaß an diesem Spiel. Er hüpfte dreimal, schwang seine Flügel
auseinander und flog ohne Hast davon. »Super, Sebastian Lauknitz…«, dachte er, »das war dein Frühstück!«
Doch trotz des rumorenden Hungers musste er lächeln. Ob sich der Bär heute Nacht wohl ebenso geärgert hatte?
Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass der Regen aufgehört hatte. Statt dessen stand er in einem strahlenden
Morgen, der einen warmen Tag versprach. Der feuchte, trübe Dunst von gestern war aus der Luft gewaschen und
alles leuchtete in frischen Farben. Die hohen Berge standen scharf geschnitten vor einem blauen Himmel.
Jungfräuliches Weiß bedeckte ihre Kronen, ließ sie greifbarer und erhabener aussehen. Die Vögel zwitscherten
ausgelassen und erfreuten sich an vielerlei Nahrung, die der Regen aus dem Boden gewaschen oder getrieben
hatte. Freundlicher konnte man von einem Tag nicht begrüßt werden.
Nachdem er den Schlafsack wieder auf den Rucksack geschnallt hatte, verschloss er die Tür des Stadels
und machte sich wieder auf den Weg. Weiter talwärts, dem kleinen Fluss entlang, so weit, bis er einen Ort
erreichte, in dem man ihm nicht jede Tür und jedes Fenster vor der Nase zuschlug. Das war Bastis Ziel.
Die Machete behielt er in der rechten Hand. Er konnte nicht wissen, ob der Bär inzwischen in den
Bergen verschwunden war. Sollte er jedoch noch in der Gegend herumschleichen, würde ihm das Gerät kaum
etwas nützen. Den Gedanken, zum Dorf zurück zu gehen, um die Bewohner vor diesem Biest zu warnen,
verwarf Sebastian gleich wieder. Sie hatten ihn mit so viel Feindseligkeit behandelt, sollten sie gefälligst
zusehen, wie sie mit dem Vieh allein fertig wurden!
Beinahe vier Tage ohne Essen zeigte Wirkung. Lauknitz ging nicht mehr so konzentriert und seine
Trittsicherheit ließ ebenfalls nach. Dazu gesellte sich noch ein Gefühl der Schwäche, die sich darin ausdrückte,
dass ihm von Zeit zu Zeit schwindelig wurde. Eine gewisse Flauheit in seinem Magen und eine Apathie, die er
von sich nicht gewohnt war, stellte sich ein. In diesem Zustand latschte er dahin, immer der Nase nach, Stunde
um Stunde, in nur dem einen Gedanken: Hoffentlich hatte das bald ein Ende!
Seine Wanderung führte Sebastian über sanfte, grüne Hügel, vorbei an einzelnen Hütten, durch kleine
Wälder und stets entlang des kleinen Flusses, der von unzähligen Bächen gespeist wurde, die als Wildwasser von
den hohen Bergen sprangen. Über allem thronte die stets gegenwärtige, grandiose Kulisse der befirnten
Bergriesen, die im klaren Licht der Sonne mit ihren hohen Eisfeldern grüßten.
Der Morgen war noch nicht vergangen und die Sonne hatte erst begonnen, die nassen Wiesen und
Bäume zu trocknen, als Sebastian über eine Anhöhe schritt und ein weiteres Dorf im Tal liegen sah. Überrascht
blieb er stehen und wusste nicht recht, wie er sich verhalten sollte. Das Dorf glich so sehr dem von gestern
Abend, dass es ihm schwer viel, unbedarft mitten durch die Häuser zu wandern. Das gestrige Erlebnis wollte er
auf gar keinen Fall noch einmal erfahren!
Trotz des Hungers, der mittlerweile an seine Substanz ging, entschied sich Sebastian dafür, das Dorf zu
umgehen. Auch auf die Gefahr hin, an diesem Tag keine weitere Ortschaft zu erreichen, wollte er einen
möglichen Konflikt mit den Dörflern vermeiden.
Mühsam stieg er über die höher gelegenen Weiden und folgte dem Verlauf des Tales, bis das Dorf weit
hinter ihm lag. Von erhöhter Warte aus konnte Sebastian weit in das Tal hinab sehen. Irgendwo, in einigen
Kilometern Entfernung sah es so aus, als würde eine riesige Felsbarriere den Talschluss versperren. Links und
rechts stiegen steile Felswände zu den gigantischen Gipfeln auf, nur durch einige kleine Sonnenterrassen
unterbrochen. Silberne Fäden durchzogen den grauen Stein. In ihnen vermutete Sebastian Wasserfälle, die er seit
dem letzten Dorf an vielen Stellen in die Tiefe stürzen sah.
Sein Verstand sagte ihm, dass sich das Tal weiter hinab zog, auch wenn er es von hier aus nicht weiter
einsehen konnte. Denn wo blieb sonst das Wasser des Flusses und der zuströmenden Bäche? Dennoch war
Sebastian ziemlich skeptisch, stieg aber wieder hinab, um dem Weg zu folgen.
Auf halber Strecke zur vermeintlichen Felsbarriere gelangte er an eine imposante Ruine. Sie lag gerade
mal hundert Meter vom Weg entfernt und musste einmal eine beeindruckende Festung gewesen sein. Alles, bis
auf die beiden unteren Stockwerke und einem massiven Turmbau, den man mit soliden Felssteinen gemauert
hatte, war verschwunden. Nur wenige Steinbrocken lagen noch herum, die wohl erst in jüngster Zeit vom
Gemäuer der Schwerkraft überlassen wurden.
Die Ausdehnung der noch erhaltenen Mauerreste deutete darauf hin, dass hier einmal eine mächtige
Burg den Weg und den Zugang zum Tal bewacht hatte. Vor langer Zeit lebten hier Menschen in Gängen,
Räumen, Sälen, und Türmen. Sogar ein großer Innenhof auf zwei Ebenen war noch zu erkennen. Die
Außenmauern waren von einer Stärke, wie sie Sebastian noch nie bei einer Ruine gesehen hatte. Ein
fürchterlicher Feind musste das gewesen sein, der diese Festung in die Knie zwang.
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Überall in der Ruine fand Sebastian alte Feuerstellen. Ein wahres Heerlager von Pilgern musste hier
regelmäßig übernachten. Und so abwegig war das auch gar nicht. Wenn dies der einzige Weg war, um in das Tal
zu gelangen, so bot sich kein besserer Rastplatz an, als eine alte Ruine.
Hinter der einstigen Burg beschrieb der Weg einen Bogen, führte in einen dunklen Wald und stieg stetig
an. Links und rechts, aus den hohen Felsen über ihm, donnerten mächtige Wasserfälle zu Tal und versprühten
zuweilen einen Nebel, der den erhitzten Wanderer reichlich erfrischte. Kurz darauf wurde das Gelände felsiger
und rauher. Der Weg, der sich in seiner Form über all die vielen Kilometer von den hohen Alpwiesen herab,
durch die Dörfer und bis zur Ruine nicht verändert hatte, wurde plötzlich schmaler, steiniger und unebener. Bald
hatte er nur noch den Charakter eines schmalen Gebirgspfades, der sich immer steiler und in vielen Kehren
hinauf wand.
Plötzlich endete der Wald und gab einen ungefähr fünfzig Meter breiten Streifen Alpweide frei. Aus
diesem Grasstreifen erhob sich eine schier senkrecht aufstrebende Mauer aus Felsgestein, so hoch, dass
Sebastian die obere Kante nicht mehr sehen konnte. Grasabsätze, die zum Teil mit kleinen Tannen bewachsen
waren, unterbrachen die glatte Felswand, die sich zu beiden Seiten in einem Gewirr von Stufen, Graten und
Bergflanken verlor.
Vor ihm tat sich ein mächtiger Riss von mehreren Metern Breite im Fels auf. Dieser zerklüftete, bizarre
Einschnitt setzte sich unendlich nach oben hin fort, wo er an Weite zunahm. Der Weg, dem Sebastian nun schon
vier Tage folgte, verschwand im Halbdunkel dieser engen Schlucht, die den Eindruck erweckte, wie von einer
Riesenfaust in den Berg geschlagen worden zu sein.
Der kleine Fluss verschwand sicherlich bereits weiter unten in den geheimen Schlünden des Berges.
Wahrscheinlich trat er auf der anderen Seite als Quelle aus irgendeiner Grotte wieder aus.
Nun glaubte Sebastian zu verstehen, warum die Menschen in diesem Tal ein so seltsames Verhalten an
den Tag legten. Durch diesen Gebirgseinschnitt gelangte allenfalls eine Maultierkolonne hindurch. Das Tal lag
abgeschnitten vom Rest der Zivilisation hinter einem Wall aus unüberwindlichem Fels, Eis und Schnee.
Wahrscheinlich kam nur selten ein Gast in diese abgelegene Welt.
Ein idealer Ort für Menschen, wie beispielsweise die Amish, in Ruhe gelassen und friedlich zu leben. In
so einem abgeschiedenen Tal konnte man auch einen Basti Lauknitz gut verschwinden lassen, ohne ihn zu töten.
Freilich konnte man in einem so unzugänglichen Teil der Erde auch ungestört mit der Natur
herumexperimentieren und neue, oder entartete Kreaturen schaffen. Niemand würde davon erfahren, keine
Menschenseele würde es in die Welt hinausposaunen.
Sebastian war davon überzeugt, ja geradezu besessen von dem Gedanken, dass auf der anderen Seite der
Schlucht der Touristenzirkus irgendeines Skigebiets auf ihn wartete. Innerlich war er darauf vorbereitet, drüben
aus der Schlucht zu treten, und auf einen Riesenrummel zu blicken, mit Parkplätzen, Hotels, Sportanlagen und
Restaurants und Skiliften.
Von Grund auf neu motiviert trat er in den Felseinschnitt. Seine Schritte bekamen vielfältigen Nachhall,
sobald er den nackten Felsboden betrat und klangen hohl und dumpf, wenn er auf eingebaute Stege aus Holz
ging. Es war dunkel, jedoch nicht stockfinster. Von oben drang ein Rest Licht zum Grund der Schlucht herab,
gerade so viel, dass man sich nicht die Knochen brach.
Die meiste Zeit bewegte sich Sebastian auf gut behauenem Weg. Stellenweise war die Klamm grundlos.
An diesen Passagen hatte man sichere, breite Holzstege mit Geländer an die Wand gebaut. Sie waren mit
mächtigen Stämmen schräg nach unten in kleine Nischen der Felswand eingelassen und stützten so das
bewundernswerte Bauwerk.
Tief unten, wo das Auge nur noch Schwarz erkennen konnte, gurgelte und rauschte Wasser. Einen
Steinwurf weiter war es wieder unnatürlich still, so dass man die einzelnen Tropfen mit mehrfachem Echo von
den Felswänden auf den Boden klatschen hörte. Bis plötzlich wieder das Rauschen zunahm und der Fluss
irgendwo in grundloser Tiefe erneut aus dem Felsen schoss, um sich seinen Weg aus dem Tal zu suchen.
Nackte, schwarze Felsen glänzten feucht im spärlichen Licht und oft verschloss sich das Dach der
Klamm und ließ so gut wie keinen Schimmer mehr nach unten durchdringen. Der Weg aber war so trittsicher,
dass Sebastian ihm auch im Dunkel folgen konnte.
Einmal kamen ihm drei Männer mit zwei Pferden entgegen. Schon von weitem hörte er ihre verzerrten
Stimmen und das laute Klappern der Hufe. Tausendfach warfen die Felswände die Geräusche hin und her, so
dass ein Lärm entstand, als durchquere eine ganze Armee die Schlucht. Sebastian drückte sich an einer dunklen
Stelle in eine Felsnische und ließ die drei vorüberziehen. Sie unterhielten sich angeregt und waren so sehr mit
sich selbst und den Pferden beschäftigt, dass sie ihn gar nicht wahrnahmen. Wieder hörte Lauknitz diese
Sprache, von der er nicht eine einzige Silbe verstand.
Im Dunkeln verliert ein Mensch leicht das Zeitgefühl. Dennoch glaubte Basti, eine gute Stunde durch
die Schlucht marschiert zu sein. Er schätzte sie auf eineinhalb bis zwei Kilometern Läge. Welche Urgewalten
mochten diesen Bergrücken einst so auseinander gerissen haben?
Als endlich das Licht zunahm und sich ein Ende des düsteren Weges abzeichnete, beschleunigte
Sebastian seinen Schritt. Neugier trieb ihn jetzt an. Zum zerreißen gespannt war er auf die Welt, die hinter
diesem großen Wall lag. Die Schlucht wurde breiter und Sonnenlicht floss mehr und mehr die Felsen herab, als
übergoss sie jemand mit flüssigem Gold.
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Irgendwo tief unten strömte auch der Fluss wieder zu Tage. Sein mächtiges, allübertönendes Rauschen
sagte ihm, dass er in einem Wasserfall in die Tiefe fiel. Der Weg wurde breiter, trat aus der Felsenklamm und
wies bald wieder den Komfort einer Sandstraße auf. Doch der Blick in das neue Tal blieb Sebastian zunächst
verwehrt. Dichter Wald hüllte den Ausgang der Schlucht, sowie den Weg in schweigendes Grün. Lediglich die
Vögel sangen in den Baumwipfeln und man konnte meinen, dass sie sich dort tummelten, um der Sonne näher zu
sein.
In Kehren führte der Weg abwärts, stets im dichten Tann. Keine zwanzig Minuten später jedoch lichtete
sich der Wald und gab den Blick frei.
Die Enttäuschung, die Sebastian sogleich ergriff, ließ seine Knie kraftlos einknicken. Seinen Rucksack
ließ er auf der Stelle ins Gras fallen und schob sich, all seiner Kräfte beraubt, auf einen alten Baumstamm. Dort
saß er, hoffnungslos, verzweifelt, völlig demoralisiert und enttäuscht in das Tal vor sich hinabblickend...
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Krähenmädchen
Vor Sebastian Lauknitz öffnete sich ein weiter Talkessel nach Süden, der sich im Osten etwas verengte
und das Tal in diese Richtung fortsetzte. Weite, ausgedehnte Wiesen grenzten an kleine Nadelwaldgürtel, hinter
denen neue, himmelhohe und schneebedeckte Berge direkt aus dem Talboden aufwuchteten. Gipfel an Gipfel
reihten sich dahinter, die nur noch vom intensiven Blau des Himmels abgelöst wurden. Ferne, hohe Eisfelder
und Firne glänzten in der Sonne und blendeten seine Augen.
Wie eine gigantische Mauer aus Fels und Eis rahmten die Berge das beinahe verspielt aussehende Tal
ein, das viel ausgedehnter war, als das hinter ihm liegende. Die gigantischen Berge, die den Talschluss
begrenzten, täuschten jedoch den Blick. Alles in ihrem Schoß ließen sie winzig und unbedeutend erscheinen,
selbst das Dorf, das im Zentrum der Senke lag und wesentlich größer war, als jene, die er bereits passiert hatte.
Ringsum entsprangen Bäche den steilen Felsen und stürzten zum Teil in weit auseinanderfächernden
Wasserfällen in den Talgrund, wo sie sich nahe dem Dorf mit dem kleinen Fluss vereinten, der aus der Schlucht
austrat, die Sebastian soeben verlassen hatte.
Kein Touristenort lag zu seinen Füßen, keine Lärmkulisse von unzähligen, Parkplatz suchenden Autos
erfüllte den Talboden. Keine Hotels, keine Restaurants, Seilbahnen, oder Skilifte! Nichts! Nur wieder ein Dorf,
Wiesen, Wälder und Berge, wohin das Auge reichte. Berge und nichts als Berge! Ein gigantisches Meer von
weißen Zinnen ohne Namen. Gipfel, von denen Sebastian nie einen Menschen hatte erzählen hören.
Noch vor einem halben Jahr hätte er sich nichts sehnlicher gewünscht, als an einem Ort wie diesem
Urlaub machen zu können, in einer abgeschiedenen Bergwelt, die nie ein Mensch zuvor betreten hatte... Nun,
zum Teil hatte sich sein Wunsch erfüllt und er musste nicht einmal ein teures Hotel bezahlen!
Ganz plötzlich wurde ihm klar, dass er sich solcherlei Abenteuer stets nur auf Zeit herbei gesehnt hatte.
Die Extreme, die reine, nackte Natur, die er so liebte und so oft herbeisehnte, sollte ihn nur so lange bezaubern,
bis sie begann unbequem zu werden. Dann wollte er sich wieder in die vielen Vorzüge seiner technisierten,
heilen Welt der Zivilisation zurückziehen. Welch eine Selbstlüge!
Doch diesmal war sie nicht so einfach, die Flucht in seine verwöhnte, sichere Welt, in der ihn höchstens
mal ein Stromausfall bedrohte. Irgendwie fand Sebastian nicht mehr zurück aus seinem Abenteuer, dass ihm
längst viel zu abenteuerlich, gefährlich und unbequem geworden war. Mit dieser grauenvollen Erkenntnis rief
sich auch der Hunger wieder unmissverständlich in Erinnerung.
Dadurch trat der Gedanke, wie er überhaupt in diese Gegend geraten war, immer mehr in den
Hintergrund und machte der Frage Platz, wie Sebastian diese einsamen Täler schleunigst wieder verlassen
konnte und woher er etwas zu Essen bekommen würde.
Verzweifelt saß er auf seinem Baumstamm in der Sonne und verfolgte mit seinem Blick den Weg, der
talwärts bis in das Dorf führte. Ein Zwei- Stunden- Marsch mochte es bis in die Ansiedlung sein. Doch was
würde ihn dort erwarten? Wieder nur Ablehnung und Feindseligkeit?
Was aber, wenn er auch diesen Ort oberhalb der Wiesen umging? Wohin kam er dann, wieder in ein
Dorf und in noch eines und so weiter? Ohne Essen kam er nicht einmal mehr über den nächsten größeren Hügel.
Sebastians Körper war jetzt schon so geschwächt, dass er regelmäßig gegen aufkommenden Schwindel
ankämpfen musste. Aber einen anderen Weg, als hinunter, gab es nicht!
Wie er das Land zu seinen Füßen so betrachtete, kam ihm noch ein letzter rettender Einfall, wenngleich
er auch sehr zweifelhafter Natur war. In dem relativ breiten Fluss des Talgrunds musste es doch Fische geben!
Für gewöhnlich lebten in solchen Gewässern Forellen, Barsche und Zander, in manchen Gegenden dieses
Planeten auch Lachse.
Bei der Vorstellung von gebratenem Fisch krampfte sich sein Magen schmerzhaft zusammen und der
letzte Speichel in ihm versammelte sich in seinem Mund zu einer Anti- Hunger- Kundgebung. Aber um Fische
zu fangen, brauchte er einen Speer! Das hatte Sebastian im Fernsehen gesehen und auch selbst schon
ausprobiert... Speerfischen funktionierte tatsächlich, wenn man viel Geduld und eine ruhige Hand mitbrachte.
Zwischen Aufgeben und neuer Hoffnung suchte er nach einem Haselnussstrauch. Die langen, kurz über
dem Boden, steil nach oben wachsenden Zweige eigneten sich am ehesten als Speer. Ebenso geeignet waren die
Spitzen von Arven, die vom Sturm geknickt wurden. Diese Erfahrung hatte Sebastian als Alpinist selbst
gemacht. Das Holz sollte nicht zu trocken, aber auch nicht zu feucht sein, eben nach dem Fall des Baumes nicht
zu jung oder zu alt.
Haselnuss fand er nicht. Dafür aber jede Menge umgeworfener Arven und Tannen. Das Gewitter der
letzten Nacht hatte ganz schön gewütet! Doch auch gefällte Bäume früherer Unwetter lagen auf dem Waldboden.
Ich diesem Moment dachte er kurz an Väterchen Balmer. Hoffentlich hatten er und sein Vieh das Unwetter
gesund überstanden. Plötzlich regten sich in ihm neben dem Hunger auch noch Schuldgefühle, weil er den Alten
einfach in einer Nacht- und Nebelaktion verlassen hatte. Ärgerlich wischte Sebastian diese Gedanken fort. Högi
Balmer war auf seiner Alm sicher versorgt, redete er sich ein.
Sebastian suchte eine gerade gewachsene Baumspitze aus und schnitt sie so tief ab, dass ihm nach
Ausschneiden der weichen Spitze gut zwei Meter Speer blieben. Dann nahm er aus dem Rucksack ein altes TShirt und wickelte es sich um die linke Hand. Diese Bäume setzten großzügige Mengen klebrigen Harzes frei
und er wollte ja nicht mit schwarzen, verklebten Händen einen Fisch genießen.
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Den künftigen Speer in der linken umwickelten Hand, sein Bowiemesser in der rechten, so marschierte
Sebastian los. Den Speer konnte er auch im Gehen bearbeiten. So sparte er einerseits Zeit, andererseits war er
von seiner derzeit größten Geißel abgelenkt: Dem Hunger!
Beinahe im Takt seines Schrittes schlug Sebastian zunächst die kleinen Zweige von der erbeuteten
Spitze. Anschließend ritzte er die Rinde des Speers der Länge nach mit der Messerspitze ein und begann an
einem Ende damit, die Borke abzuschälen. Ein gutes Stück Weg hatte er bereits hinter sich gebracht, als er den
nackten Wurfspieß in fast weißem Holz in den Händen hielt. Sebastian wohnte der Geburt eines Speeres bei und
er war die Hebamme.
Ebenso, wie ein Neugeborenes war der Stab mit einem glitschigen Film überzogen, der in der Sonne
jedoch schnell antrocknete. Dort, wo die Schmiere getrocknet war, bekam Bastis neue Waffe eine gelbliche
Färbung. Der Speer durfte allerdings auch nicht zu schnell austrocknen, sonst verlor er seine Elastizität und
brach bei der ersten Belastung entzwei. Kurzentschlossen rieb er ihn mit Sonnenöl aus seinem Rucksack ein.
Bei der Gelegenheit wurde ihm bewusst, wie gut es die Sonne an diesem Tage meinte. Sengend heiß
brannte sie vom tiefblauen, wolkenlosen Himmel, dass man meinen konnte, sie wollte wegen des Unwetters
etwas wiedergutmachen. Eine kleine Rast konnte nicht schaden. Also setzte sich Sebastian etwas abseits des
Weges in das hohe Gras der Wiese.
Der warme Wind fächelte ihm das entfernte Rauschen eines Wasserfalls als Hintergrundklang zu und
die Insekten und Vögel verwöhnten sein Ohr mit ihrer Ouvertüre aus tausenden, harmonisch abgerundeten
Solostimmen. Sebastian entkleidete sich bis auf seine lederne Jeanshose und rieb abwechselnd sich und den
Speer mit Sonnenöl ein. Wäre da nicht die Revolution in seinem Magen gewesen, er hätte den Tag durchaus
genießen können.
Hunger und eine innere Unruhe trieben ihn bald weiter. Seine Oberbekleidung verschwand angesichts
des heißen Tages im Rucksack. Lediglich ein T- Shirt legte er sich über den Nacken, damit ihm der glühende
Himmelsball nicht noch einen schmerzhaften Sonnenbrand bescherte.
Neben dem unentwegten Marschieren bearbeitete er seinen Speer. Sebastian wog ihn in der Hand,
drehte ihn, ließ ihn durch die Finger gleiten, bis er wusste, was noch daran zu tun war. Die kleinen Knubbel aus
härterem Holz, an denen sich die Zweige befunden hatten, galt es nun zu glätten. Zwischendurch bekam sein
Fischfanggerät immer wieder eine Ölung mit Sonnenschutzmittel.
Ein paar Mal kamen Sebastian Leute entgegen, meist Bauern, die mit Heurechen und Sense bewaffnet
auf die höheren Weisen zogen. Er ging ihnen aus dem Weg. Rechtzeitig legte er sich in einer kleinen Senke oder
hinter einem Felsen in das hohe Gras und ließ die Menschen ihres Weges ziehen.
Bald verließ Sebastian den Weg und wanderte über die Wiesen oberhalb des Dorfes weiter. Unter einer
Baumgruppe setzte er sich in den kühlenden Schatten und beobachtete den Ort, der beinahe zu seinen Füßen lag.
Geschäftiges Treiben beherrschte die sandigen Straßen und Gassen. Von seiner erhöhten Warte aus konnte er
sich den Vergleich mit einem Ameisenhaufen nicht ganz verkneifen. Dieses Dorf besaß ebenso wie die anderen
keine Kirche, was insofern sofort auffiel, da es dort auch keine höheren Häuser gab. Die Hütten waren bis auf
wenige Ausnahmen durchweg aus Holz gebaut und bestenfalls zweistöckig.
Doch diese Ansiedlung war wesentlich größer, als jene, die Sebastian auf der anderen Seite der Schlucht
kennen gelernt hatte. Im Zentrum dominierte wiederum eine Art Marktplatz mit einem Brunnen. Um diesen
zentralen Punkt herum entdeckte er auch hier diese seltsamen Steinquader, rings um den Brunnen herum
angeordnet, deren Bedeutung ihm nicht in den Sinn kommen wollte.
Große Teile des Dorfrandes waren von einem hohen, stabilen Zaun eingefasst, der so massiv aussah,
dass er wohl bei entsprechender Verteidigung einem Angreifer sein Vorhaben verleiden konnte. Um das Dorf
herum verteilt lagen einige blaue Seen, teils von kleineren Baumgruppen bewacht. Soweit Sebastian das
erkennen konnte, hatten diese Gewässer einen oder mehrere Bäche als Zu- und Ablauf.
In der näheren und weiteren Umgebung der Siedlung befanden sich unzählige einzeln stehende Hütten,
die anscheinend als Erntespeicher dienten.
Zwischen ihm und dem Ort zog der kleine Fluss sein blausilbernes Band durch die Wiesen. Einige
Stellen an seinem Ufer wurden offensichtlich als Waschplatz benutzt, denn eine Schar von Frauen ging dort mit
vielerlei Stoffzeug baden.
Sie standen mit nackten Beinen auf einer Kiesbank, ihre groben Röcke hoch gerefft, oder um die Hüften
gebunden. Einige, wohl die jüngeren, unverheirateten Frauen und Mädchen, waren nur mit dem knappen Nichts
eines Stückes braunem Stoff, oder Leder bekleidet, und hielten es auch nicht für nötig, ihre teils üppigen Brüste
zu bedecken. Diese, für einen männlichen Betrachter augenscheinlich schöne Tatsache verriet ihm, dass es sich
bei diesem Völkchen kaum um Amishleute handeln konnte, wie er anfangs vermutet hatte.
Als galt es einen Wettbewerb zu gewinnen, wuschen und spülten die laut plappernden und lachenden
Frauen ihre Röcke, Hemden, Hosen und Tücher, die sie zwischen ihren Beinen eingeklemmt hielten, um sie
nicht der Strömung zu überlassen. Fertig gewaschene Stücke warfen sie mit viel Geschick und unter lautem
Beifall ihrer Freundinnen zielsicher in einen Holztrog am Ufer. Die Arbeit bereitete ihnen offensichtlich großen
Spaß. Basti wurde schon übel bei dem Gedanken, in seiner Stadtwohnung die Waschmaschine zu befüllen.
Weiter rechts, im Osten des Tales, begrenzte dichter Wald die Wiesenlandschaft. Der Fluss verschwand
dort unter dem dichten Blätterdach der Bäume. Was hinter dem Wald lag, entzog sich seinen Blicken.
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Zunächst dachte Sebastian daran, in diesem Wald auf einer Lichtung zu biwakieren. Doch in
Erinnerung an die letzte Nacht und den unheimlichen Besucher verwarf er diese Idee sofort wieder. Wohingegen
ihm die Aussicht, wiederum in einem Heustadel zu nächtigen, sehr gefiel. Doch erst einmal galt es, den Fischen
im Fluss nachzustellen.
Kurz vor dem Wald erreichte er wieder den Weg, der allerdings durch den Fluss von ihm getrennt war.
Um sich nicht hoffnungslos im Dickicht zu verfransen, musste Sebastian den Fluss durchwaten, um auf die feste
Sandstraße zu gelangen. In Anbetracht der flirrenden Hitze ein angenehmer Gedanke!
Umständlich zog er seine Stiefel aus, band sie an den Schnürsenkeln aneinander und hängte sie sich um
den Hals. Vorsichtig fühlte er mit einem Fuß vor. Sofort holte Sebastian tief Luft und hielt den Atem an. Das
Wasser war eisig kalt! Seine gequälten, überhitzten Füße wurden augenblicklich gefühllos, als sie bis zu den
Knien in die Strömung tauchten. Sebastian biss die Zähne zusammen, ballte seine Hände zu Fäusten, bis die
Knöchel weiß hervortraten und watete wie ein ungelenker Storch an das andere Ufer.
Dankbar, dort ohne Ausrutscher angekommen zu sein, fragte er sich, wie die Wäsche waschenden
Frauen das eiskalte Wasser aushielten. Vermutlich waren sie durch das entbehrungsreiche Leben hier so
abgehärtet, dass sie die Kälte kaum mehr spürten.
Um seine Füße zu trocknen, folgte er dem Weg ein paar Meter weit ohne Socken und Schuhe. Doch
schon nach kurzer Zeit rieb der grobe Sand zwischen seinen Zehen und kleine Steine machten pieksend und
stechend auf sich aufmerksam. Seine Füße wanderten wieder in die Stiefel und diese marschierten geradewegs in
den Wald hinein.
Der Schatten der Bäume war in der Mittagshitze angenehm. Ein dichtes Firmament aus leise
raschelnden Blättern ließ nur wenige Sonnenstrahlen zum Boden durchdringen und hüllte die Welt in ein
gelbgrünes Licht. Zu seiner Linken, irgendwo hinter dem undurchdringbaren Dickicht aus Gräsern, Sträuchern
und umgestürzten Bäumen rauschte das Wasser des Flusses.
Der Drang, einen Fisch zu fangen und zu grillen, weil er sonst verhungern musste, wurde zu einer
Phobie. Das Hungergefühl löste in Sebastian bisweilen schon Übelkeit aus. Ständig stolperte er auf dem ebenen
Weg, denn allmählich versagten ihm die Beine den zuverlässigen Dienst.
Verzweifelt suchte Basti die nördliche Waldseite nach einem Durchgang zum Fluss ab. Hier im dichten
Grün konnte er in Ruhe eine Mahlzeit zubereiten, ohne ständig vor irgendwelchen Dorfbewohnern auf der Flucht
zu sein. Doch die grüne Mauer des Urwalds gewährte ihm keinen Zugang zu den vermeintlichen Fischgründen.
Eineinhalb Stunden marschierte Sebastian in stoischer Apathie versunken vor sich hin. Einen Fuß vor
den anderen setzend, nicht mehr darüber nachdenkend, wie es weitergehen sollte. Mittlerweile akzeptierte er es,
immer weiter zu gehen, Schritt für Schritt, Kilometer um Kilometer, bis er vor Entkräftung einfach irgendwo
umfallen würde. Das war es dann, der große Bergführer Sebastian Lauknitz, gescheitert an seinen eigenen
heimlichen Wünschen und Träumen, die wahr wurden, als er nicht darauf vorbereitet war!
So latschte sein übermüdeter Körper dahin. Sein Geist hatte bereits abgeschaltet, beschränkte sich nur
noch auf die Aufgabe, zu kontrollieren, dass Sebastian auf dem Weg blieb, ansonsten zogen sich seine Sinne in
einen inneren Frieden zurück.
Plötzlich wurde dieser Frieden gestört. Ein gewaltiges Tosen drang an sein Gehör, und verschaffte sich
Zugang zu seinem müden Geist. Der Wald lichtete sich, überließ erst einer Felskante, dann einem schmalen
Wiesengürtel den Raum.
Der Weg führte in vielen Wegkehren über die Felskante nach unten. Links, wo ein Chaos aus Felsen
und Bäumen die Sicht versperrte, zogen gewaltige Nebelwolken aus der Tiefe herauf, warfen einen ständigen
Regenbogen und lösten sich auf. Je nach Windrichtung und -stärke trieben die Nebel zu Sebastian herüber und
hüllten ihn ein, um ihn Augenblicke später wieder der sommerlichen Hitze zu überlassen.
Die Neugier weckte seinen Geist aufs Neue. Erwartungsvoll trat er an die Felskante, die wie ein
langgezogenes Podest aus dem Wald ragte. Der Anblick, der sich ihm bot, raubte ihm den Atem! Vor ihm
breitete sich ein weites Tal aus, das nur noch wenig Weideflächen aufwies, dafür aber fast völlig mit Wald
bewachsen war. Eingebettet in den dunkelgrünen Waldteppich lag ein großer See. Bastis Schätzung nach musste
die Ausdehnung des Gewässers vier bis fünf Kilometer in der Länge, sowie ein bis eineinhalb Kilometer in
seiner weitesten Breite betragen. Wie ein Türkis schimmerte seine Wasseroberfläche in der Mittagssonne.
Sebastian stieg über die Felskante ab, vielleicht hundert Meter in der Höhe und fand sich auf dem engen
Wiesengürtel wieder, der den See an der schmaleren, nach Westen zugewandten Seiten umrahmte. Der Fluss, der
oberhalb der Kante friedlich durch den Wald rauschte, stürzte sich donnernd im freien Fall in den See hinab, wo
die Sprühwassernebel stetig aufstiegen, als wollten sie nachschauen, ob auch wirklich alles Wasser in die Tiefe
fiel.
Die Felsen hinter und seitlich des Wasserfalls glitzerten nass und sahen aus, als wären sie von Adern
reinen Goldes durchzogen. Sie fußten in dem Wiesengürtel, der sich stellenweise mit einem regelrechten
Sandstrand abwechselte. Dieser Sandstrand, mal schmaler, mal breiter, hier und dort mit spärlichem Gras
bewachsen, zog sich, soweit Sebastian das erkennen konnte, um den ganzen See herum.
Das Naturschauspiel, das sich ihm hier bot, ließ Sebastian beinahe alle ertragenen Strapazen vergessen.
Aber eben nur beinahe! Gevatter Kohldampf rief sich in Erinnerung, sobald sich Bastis erste Euphorie des
Erstaunens gelegt hatte.
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Den aufmerksamen Blick auf die Wasserfläche geheftet, wanderte Sebastian am Ufer des Sees entlang.
Überall sah er in dem kristallklaren Wasser Fische hin und her flitzen. Es waren Forellen! Seine Freude war so
groß, dass er in Gedanken Purzelbäume schlug. Nun musste er nur noch eine Stelle finden, an der sich diese
Fische im seichten, von der Sonne gewärmten Wasser tummelten...
Bald fand er einen Platz, der ihm geeignet schien. Wie eine kleine Bucht mit feinem Sand lag der flache
Strand eingefasst vom Wald in der Sonne. Kleine bis mannshohe Felsen verhinderten das Vordringen des
Waldes bis zum Seeufer. Das Wasser war noch in drei Metern Entfernung vom Ufer gerade mal hüfttief. Zu
Bastis Freude schwammen unzählige Forellen in einem Schwarm in Ufernähe herum und warteten nur darauf,
von ihm gefangen zu werden.
Er setzte seinen Rucksack ab und zog sich bis auf die Unterhose aus. Dann spitzte er rasch das dickere
Ende seines Speers an. Damit bewaffnet watete er ungefähr zwei Meter weit in den leidlich kalten See. Zuerst
schnappte Sebastian nach Luft, als ihn das kühle Nass umflutete, doch nach kurzer Zeit hatte er sich an die
Erfrischung gewöhnt
Vorsichtig senkte Basti den Speer in das klare Wasser und rührte sich nicht mehr. Bewegungslos
wartete er auf den ersten Fisch, der dumm genug war, vor seinen Speer zu schwimmen. Da! Ein ganz fetter
Brocken schwebte dicht an Bastis Speerspitze vorbei. Blitzschnell stieß er zu! Doch als er seine Fangwaffe aus
den Fluten zog, war die Spitze leer. Ungläubig starrte er ins Wasser. Den konnte er doch gar nicht verfehlt
haben! Waren diese Biester so flink?
Erneut tauchte er den Spieß in das flimmernde Nass. Diesmal hielt Sebastian die Waffe etwas flacher,
um seine Beute mehr in der Flanke zu erwischen. Wieder wartete er geduldig, indem seine Beine immer mehr
auskühlten. Was er bisher im Fernsehen, zumeist in Spielfilmen über Speerfischen gesehen hatte, ließ sich leider
nicht mit dem vergleichen, was er hier tat. Dort war alles viel einfacher:
Ein vor Kraft strotzender Naturbursche mit Dreitagebart und gestyltem Haar stieß eine selbst
geschnitzte Harpune in das Wasser und zog prompt einen Barsch von beträchtlicher Größe aus der Tiefe. Diesen
beförderte er dann in einem eleganten Bogen auf den Strand, um den nächsten zu erlegen.
Auf den Einfall, dass sich ein Mann müde, ausgehungert und mit völlig verfilzten Haaren von
unzähligen Übernachtungen im Freien aus der Not heraus einen Fisch angeln musste und dass er dabei bis zum
Gesäß in eiskaltem Wasser ausharren und auf dem Rücken einen mörderischen Sonnenbrand hinnehmen musste,
kamen die intelligenten Filmemacher anscheinend nicht.
Nun lernte Sebastian Lauknitz die Realität kennen und ihm kamen ganz ketzerische Gedanken in Bezug
auf die Abenteuerfilme, die er so liebte. Vielleicht sollte er künftig nicht mehr alles so ernst nehmen, wie es ihm
vorgegaukelt wurde!
Gerade nahm er die nächste Forelle ins Visier, da gewahrte er hinter sich eine Bewegung. Erschrocken
blickte er sich um, sah zum Strand und war einigermaßen überrascht. Auf dem Felsen, an den er seinen
Rucksack gelehnt hatte, saß ein pechschwarzer Vogel. Er saß einfach nur da, sah ihn an und wartete. Kleiner als
ein Kolkrabe, wohl aber etwas größer, als eine Saatkrähe, glänzte sein schwarzes Gefieder bläulich in der Sonne.
Interessiert schaute ihm der Vogel zu. Na wenigstens hatte der Vertrauen in seine Fähigkeiten!
Noch einmal versuchte sich Sebastian auf die Fische vor seiner Speerspitze zu konzentrieren. Aber
diese Krähe lenkte ihn ab. Was geschah, wenn er einen Fisch, mühsam harpuniert, ans Ufer warf? Würde sich
der Vogel auf sein Essen stürzen und in aller Seelenruhe damit fortfliegen? Wartete der auf genau diese Chance?
Sein Blick durchbohrte wieder die Wasseroberfläche und taxierte die Fische. Der Vogel in seinem
Rücken ließ ihm aber keine Ruhe mehr. Mit dem Federvieh im Nacken fiel es Sebastian schwer, sich auf seine
verschwommene Beute zu konzentrieren. Ein weiteres Mal stieß er zu, als sich eine Gelegenheit bot... Wieder
daneben! Wütend auf die blöde Krähe, der Basti nun die Schuld an seinem Versagen gab, drehte er sich zum
Ufer und wollte aus dem Wasser stürmen, um den lästigen Vogel zu verjagen. Doch mitten in der Bewegung
hielt Sebastian inne...
Was sein Auge dort am Strand erblickte, versetzte ihm einen Schlag. Zu keiner Bewegung mehr fähig
und völlig ungläubig starrte er zum Ufer hinüber. Ein eiskalter Schauer lief ihm über den Rücken und er wusste
nicht, ob er um Luft ringen, oder den Atem anhalten sollte. Von allen Unbegreiflichkeiten, die er seit seinem
Aufbruch ins Zwischbergental erlebt hatte, war dies die Unglaublichste! Hatte er bereits Halluzinationen, als
Folge tagelanger Entbehrungen und Entkräftung? Konnte das, was Sebastian dort sah, überhaupt sein?
Auf dem Sandstrand, neben dem Felsen, auf dem immer noch die Krähe saß und sich ihr Gefieder
putzte, stand, wie plötzlich aus dem Boden gewachsen, Janine. Verwirrt kniff Sebastian die Augen zusammen
und sah noch einmal hin. Es war und blieb Janine, die Frau, die er mehr geliebt hatte, als sein eigenes Leben und
an deren Sterbebett er vor dreizehn Jahren gesessen und deren Hand er gehalten hatte, als sie, von ihrer
Krankheit besiegt, ihren letzten Atemzug tat, um diese Welt für immer zu verlassen...
Jetzt stand sie leibhaftig vor ihm, in ihrer ganzen Schönheit, am Ufer dieses Sees, so, wie an dem Tag
vor fünfzehn Jahren, als sie sich kennen lernten. Janine hatte nichts von ihrer Jugend eingebüßt, sie sah noch
genau so aus, wie Sebastian ihr Antlitz in Erinnerung behalten hatte. Aber das war nicht möglich!
Völlig verunsichert ließ er den Speer ins Wasser fallen, sank auf die Knie und tauchte seinen
Oberkörper und Kopf in die kalte Flut. Dann wischte er sich die Tropfen aus dem Gesicht und sah noch einmal
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zum Ufer, in der Hoffnung, wieder klar zu sehen. Sebastian sah völlig klar! Janine stand noch immer neben dem
Felsen und sah genau so ratlos und verunsichert aus, wie er sich fühlte.
Sie war, wie die jungen Frauen, die Basti am Waschplatz oben im Tal beobachtet hatte, mit dem
winzigen Nichts eines sandfarbenen, dünnen Lederschurzes bekleidet, der von einem schnurartigen,
ausgefransten Lederband gehalten wurde, das sie sich um die schlanke Taille gewunden und mit einer Schleife
zugeknotet hatte. Darüber trug sie einen breiten Gürtel aus Fellresten, der locker auf ihrer schmalen Hüfte saß
und wohl kaum einem anderen Zweck diente, als dem Betrachter ihrer Gestalt zu suggerieren, sie sei bekleidet.
Ihr Oberteil bestand aus einem ebenso schmalen, wie dünnen Lederstreifen, der über Kreuz gelegt,
gerade eben ihre Brüste bedeckte und seitlich verknotet war. Das Ganze besaß den Charakter eines ausgefallenen
Bikini- Designs, wofür jedoch das Leder nicht ganz gereicht hatte. Dort, wo die Lederschnur ihres Schurzes
seitlich an ihrer Hüfte verknotet war, baumelten kleine Lederbeutelchen auf ihrer nackten Haut.
An den Füßen trug sie eine Art weiche Beinlinge, ähnlich hochschäftigen Mokkasinstiefel, die mit Fell
und wunderschönen, bunten Stickereien besetzt, sowie mit Bussardfedern behangen waren. Ihr rechter
Oberschenkel war mit einem Jagdmesser verziert, das sie sich mit einer langen Lederschnur in vielen
Windungen auf die nackte Haut gebunden hatte.
Eine kräftige Lederkordel hielt eine Waffe auf ihrem Rücken, etwas, das wie ein Schwert aus einem
Fantasy- Film aussah. Sie hatte sich die blitzende, bläulich schimmernde Metallklinge einfach offen über den
Rücken gehängt, wobei die Klinge im unteren Fünftel ein breites Loch in der Schneide aufwies, wo die Kordel
befestigt war. Daneben hing an der gleichen Kordel ein lederner Köcher mit Jagdpfeilen.
Den Bogen in ihrer Hand nahm Sebastian nur noch am Rande wahr, denn er sah ihr erstaunt in die
Augen, die als große, tiefe, dunkle Seen in ihrem feinen Gesicht als etwas Geheimnisvolles und Mystisches
ruhten. Diese Augen, die Basti schon damals so fasziniert hatten, rundeten das Bild ihrer harmonischen, ja fast
kindlichen Gesichtszüge ab.
Das lange, schwarze Haar fiel ihr unbändig lose und leicht verfilzt über die Schultern und verlieh ihr im
Einklang mit ihrer leicht gebräunten Haut ein wildes und ungezähmtes Aussehen. Mehrere Adler- und
Krähenfedern hatte sie sich mit perlenbesetzten Lederschnüren ins Haar gebunden. Dazu saß eine große Krähe
auf ihrer Schulter und wer nicht genau hinsah, konnte den Vogel selbst für ihre Haare halten.
Der Wind strich ihr durch Haare und Federn, so dass man annehmen konnte, als seien diese das einzige
an ihr, das Leben besaß, denn sie stand da, wie eine Götterstatue, bewegungslos, den Blick auf ihn gerichtet.
Hätte er Janine nicht sofort wieder erkannt, so hätte Sebastian annehmen müssen, eine wilde, aber ungewöhnlich
gut aussehende Indianerin vor sich zu haben.
Schweigend standen sie sich gegenüber. Sebastian im hüfthohen Wasser, vor Nässe triefend, sie am
Strand, wie eine urzeitliche Kriegerin auf einem Schlachtfeld. Überrascht und überwältigt von der plötzlichen
Situation, seiner vor Jahren verstorbenen großen Liebe zu begegnen, war Sebastian zu keiner Regung fähig. Er
stand nur da, sah sie an, wie eine Göttin, die gerade vom Himmel herabgestiegen war.
Janine beobachtete ihn mit ähnlichem Erstaunen, das er für die gleiche Überraschtheit hielt, wie bei ihm
selbst. Doch in den nächsten Minuten sollte er eines Besseren belehrt werden...
Als Janine nur dastand und ihn mit dem Interesse eines neugierigen Kindes beobachtete, wollte er die
Initiative ergreifen und ihr entgegen gehen. Sebastian kam genau drei unbeholfene Schritte weit... Janine wich
einen Schritt zurück, ihr Arm schoss nach hinten, und wie von Zauberhand gelenkt, lag ein Pfeil an der
gespannten Sehne ihres Bogens und zielte genau auf seine Brust. Vor Schreck ruderte er mit den Armen und
hatte Mühe, sich auf dem sandigen Grund des Sees zu halten.
Die Krähe, die auf ihrer Schulter gesessen hatte, war mit einem ärgerlichen Krächzen zu ihrer
Artgenossin auf dem Felsen hinüber geflattert und trat von einem Bein auf das andere, bis sie eine bequeme
Position eingenommen hatte.
Basti sah Janine ungläubig an und streckte seine Handflächen vor, um ihr zu zeigen, dass er keine böse
Einbildung war, sondern der friedliche Basti Lauknitz, den sie einmal sehr geliebt hatte. Sofort setzte sie eine
energische Mine auf, hob den Bogen demonstrativ etwas an und sprach zu ihm in dieser Sprache, die er nicht
verstehen konnte, die hier offenbar die Landessprache war.
Diese Geste aber verstand Sebastian schon. Er sollte ihr nicht zu nahe kommen! Doch als er ihre
Stimme vernahm, die seit dreizehn Jahren in seiner Erinnerung weiter geklungen hatte und die er nie vergessen
konnte, diese sanfte, hohe Stimme, die für ihn immer wie das Flüstern eines Engels geklungen hatte, da traf es
ihn wie eine Keule in den Bauch. Ja, dort stand keine Posse seines übernächtigten Geistes und entkräfteten
Körpers, sondern wahrhaftig seine Janine!
»Hey, Janine, ich verstehe dich nicht«, sprach Sebastian sie ganz offen an, »erkennst du mich nicht? Ich
bin es, Sebastian Lauknitz.., dein Basti! Ich habe dich nicht vergessen und jeden Tag, den ich ohne dich leben
musste, war ich in Gedanken bei dir. Und jetzt bin ich überglücklich und fassungslos, dich hier zu sehen, dich
wieder zu haben, hier, direkt vor mir.., wo kommst du denn her..?«
Ein ungläubiges Staunen legte sich auf Janines Antlitz. Langsam, wie in Zeitlupe, ließ sie den Bogen
sinken und entspannte die Sehne. Dann warf sie Bogen und Pfeil in den Ufersand und zog in einer einzigen
blitzartigen Bewegung das Schwert über ihren Kopf. Sie zupfte kurz an der Lederkordel und wie von
Geisterhand lösten sich die Knoten. Das Band fiel zu Boden. Mit der Geschicklichkeit einer
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Entfesselungskünstlerin streifte sie sich die Beinlinge ab, die ihre schlanken Beine der Sonne preisgaben. An
beiden Beinen trug sie zwischen Knien und Waden eine perlenbesetzte Lederschnur, an der kleine, bunte Federn
baumelten.
Janine streckte ihren Arm aus und sagte ein Wort, das etwa so klang, wie Aha - ja - tee. Augenblicklich
hoben die beiden Krähen vom Felsen ab, flogen auf Sebastian zu, umrundeten ihn, so dass er seinen Kopf
einziehen musste und landeten anschließen sanft auf ihren Schultern.
Einen Flügelschlag danach hob Janine das Schwert, das einiges wiegen musste, wenn es denn aus
Metall war, mühelos an. Die Spitze zeigte auf seine Brust und sie hielt dieses Mordsinstrument permanent auf
ihn gerichtet, während sie langsam auf ihn zu ging. Es kostete sie nicht einmal ein Augenzwinkern, in das kalte
Wasser zu steigen und bis zu den Hüften nass zu werden.
Unsicher machte Sebastian auf dem unbefestigten Grund einen Schritt rückwärts und verlor prompt den
Halt. Prustend und nach Luft schnappend tauchte er aus dem kalten Nass auf und ehe er sich versah, schwebte
die Spitze von Janines Schwert direkt vor seiner Nase. Wie ein festgenagelter, nasser Pudel stand er vor ihr,
glotzte sie ungläubig an und wartete.
Janine drehte die blank polierte Klinge etwas hin und her, so dass ihm die Reflektionen der Sonne vom
glatten Stahl in die Augen sprangen. Nun war Sebastian nicht nur triefnass, sondern auch noch Blind! Janine
stand immer noch stumm vor ihm und musterte jeden Zentimeter an ihm, als wollte sie ihn auf einem
Sklavenmarkt käuflich erwerben.
Ungefähr fünf Minuten lang hielt sie Sebastian mit ihrer Waffe in Schach und betrachtete ihn. Es mögen
auch nur zwei Minuten gewesen sein, denn in solchen Situationen vergehen Minuten gewöhnlich wie Stunden.
In dieser Zeit überschlugen sich seine Gedanken.
Wie kam die Frau, die er geliebt hatte, die er zu Grabe getragen und um die er beinahe zehn Jahre
getrauert hatte, hier her, in diese Welt, von der er nicht einmal wusste, wo sie geografisch lag? Wieso trug sie
Fetzen von Kleidern, die eher in die Kreidezeit passten? Weshalb führte sie ein Waffenarsenal wie für einen
mittelalterlichen Krieg mit sich und erkannte ihren Sebastian nicht mehr? Warum...
Plötzlich berührte Janines Schwertspitze seine Brust und hob die Kette mit der Anstecknadel des
Schweizer Alpen Club, die Sebastian um den Hals trug, mit der scharfen Klinge an. Sie nahm die in der Sonne
glitzernde Kette und das rotweiße Wappen genau in Augenschein.
Dann senkte sie das Schwert in ihrer Hand, trat einen Schritt auf Sebastian zu, lächelte schüchtern und
berührte mit einer vorsichtigen, ja fast ehrfürchtigen Bewegung seinen Arm. Behutsam und warm strich ihre
feingliedrige Hand die Wassertropfen von seiner Tätowierung und befühlte seinen Oberarm an der Stelle, wo die
Nadel vor langer Zeit die Farben unter Sebastians Haut getrieben hatte. Das gleiche Ritual vollzog Janine mit
seinem anderen Arm.
Ihre Berührung, die er noch genau so in Erinnerung hatte, elektrisierte ihn auf eine sonderbare Weise
und in seinem Bauch entstand plötzlich ein Durcheinander, als wühlte jemand mit den Händen darin herum. Er
kannte dieses Gefühl und wusste sogleich, dass seine Liebe für Janine selbst nach ihrem Tod nie erloschen war.
Fasziniert aber gleichzeitig Respektvoll bestaunte dieses Krähenmädchen, das von seinem Gefühl
offenbar nichts ahnte, die Sonnenkachina und den roten Bären, die sich Sebastian einst auf die Oberarme
tätowieren ließ. Sie betrachtete die Bilder mit dem gleichen Interesse, wie es Högi Balmer tat, als er die Tattoos
zum ersten Mal erblickte. Die beiden Krähen auf ihren Schultern hüpften nervös hin und her, unschlüssig
darüber, sitzen zu bleiben, oder auf den Felsen zurück zu fliegen.
»Mann im Wasser.., ihr sprecht die Zunge aus dem Reich der Toten und tragt die Zeichen der Götter...
Euer Auge ist glänzend und ehrlich... Sag mir, ob ihr der seid, auf den alle rechtschaffenden Menschen warten...
Seid ihr der, welcher kommen soll, das Volk zu befreien? Sagt mir die Wahrheit.., oder ich muss euch töten...«
Einen Moment lang stand Sebastian verwirrt da. Janine hatte zu ihm gesprochen... In seiner Sprache! Ihr
Akzent klang ein wenig mit Einschlag ins französische, wie bei Falméras Medicus, doch er konnte sie
ausgezeichnet verstehen. Selbstsicher lächelte er sie jetzt an, so wie früher, wenn er einen seiner ironischen
Scherze mit ihr gemacht hatte. Gleichzeitig wollte Sebastian ihre Hand nehmen. Seine Geste blieb jedoch mitten
in der Bewegung stecken...
Abrupt trat Janine einen Schritt zurück, so heftig, dass ihr das Wasser um Hüfte und Bauch spritzte.
Fast gleichzeitig flog ihr Schwert wieder mit einer erstaunlichen Leichtigkeit hoch und berührte mit seiner Spitze
erneut Sebastians Brustbein. Ihr Ton wurde energischer und verunsicherte ihn von neuem, obwohl er sie früher
liebte, wenn sie ärgerlich wurde, weil sie bei allem zur Schau getragenen Zorn dennoch nicht böse genug
aussehen konnte, um einem wirklich ernsthaft Angst zu machen. Auch dieser Wesenszug hatte sich an ihr nicht
verändert.
Der drohende Unterton in ihrer Stimme jedoch mahnte Sebastian zur Vorsicht:
»Wagt es nicht, über Sonnenherz zu lachen, oder ihr bekommt mein Schwert zu spüren! Sagt mir, ob ihr der seid,
den uns die Prophezeihung angekündigt hat. Antwortet ehrlich und ihr dürft am Leben bleiben. Wenn ihr
Sonnenherz belügt, werdet ihr unter den Augen des Volkes sterben!«
Sie sagte das mit einer so überzeugenden Inbrünstigkeit, die keinen Zweifel daran ließ, dass sie ihre
Drohung wahr machen würde. Erkannte sie ihn nicht mehr, ihn, ihren Basti Lauknitz, der am Tag ihres Todes
sein Leben für sie gegeben hätte, um sie zu retten? Sebastian verstand die Welt nicht mehr! Diese Frau war
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eindeutig seine Janine! Zwar fehlte diesem Krähenmädchen das kleine Seepferdchen, das Janine als Tätowierung
an ihrem Bein getragen hatte und die kleine Narbe schräg unter ihrem Bauchnabel war auch nicht vorhanden.
Außerdem nannte sie sich jetzt Sonnenherz...
Plötzlich fiel Sebastian wieder die Geschichte ein, die Väterchen Balmer und der Doktor erzählten, als
sie am Abend vor seiner Begegnung mit dem Gor mehr Mestas tranken, als sie vertragen konnten. Von einem
Krähenmädchen namens Sonnenherz war die Rede gewesen, von einer jungen, faszinierend schönen Frau, die
mit den Tieren sprechen konnte und auf Meeresungeheuern ritt...
Dennoch erkannte er in dieser Krähenfrau seine Janine! Das Wesen, ihre grazile, schlanke Figur, ihr
Gesicht, ihre feinfühligen Hände... Alles passte. Selbst ihre Stimme erkannte Sebastian wieder! Vor allem gab es
so kräftiges, tiefschwarzes, langes Haar nur einmal auf der Welt. Mochte sie sich inzwischen nennen, wie sie
wollte und konnte sie sich auch nicht an ihn erinnern, so war sie dennoch die Frau, die eineinhalb Jahre lang
seine große, unvergessene Liebe gewesen war und die er noch immer liebte!
In der Überzeugung, dass sie sich früher oder später an ihn erinnern würde, antwortete Sebastian
zunächst etwas zurückhaltender. Dabei sah er ihr fest in die Augen.
»Nein, ich denke nicht, dass ich der bin, auf den ihr hofft. Ich glaube nicht, dass ihr auf einen Mann
wartet, der sich in Unterhosen von einer Frau mit einem Schwert in Schach halten lässt. Und wie könnte ich euch
wohl mit meinen bescheidenen Fähigkeiten helfen?«
Sebastian ließ seine Worte eine Weile wirken und wollte gerade fortfahren, als Janine nun endgültig ihr
Schwert senkte und wieder zwei Schritte auf ihn zu durch das Wasser watete. Fast berührten sich ihre nassen
Körper, so dicht trat sie an ihn heran und ihm schwirrte der Kopf. Nicht etwa, weil Sebastian nach wie vor
ausgehungert war und weil ihr Körper nach einer Mischung aus Anis und Weihrauch duftete, sondern weil ihre
plötzliche Nähe seine alte Sehnsucht nach ihr weckte, die er bis zu diesem Tag in einer Kammer des schlafenden
Verlangens tief in seinem Herzen verborgen, ständig mit sich getragen hatte. Dieses Verlangen erwachte nun zu
neuem Leben und Sebastian wünschte sich nichts sehnlicher, als sie zu umarmen, sie an sich zu ziehen und sie
ganz fest halten. Doch solange Janine, oder Sonnenherz, ihn nicht erkannte und seine Gefühle erwiderte, musste
er damit rechnen, mit ihrem Schwert Bekanntschaft zu machen. Und das Ding sah echt gefährlich aus!
»Mann, mit den Zeichen der Götter..«, begann das Mädchen mit den flatternden Krähen zu sprechen
und ihre Stimme klang sanft und beruhigend, wie der Wind einer warmen Sommernacht. »Die Bescheidenheit
eurer Zunge macht euch zu dem, den wir erwarten. Ihr tragt die Zeichen, die uns prophezeit sind... Die Zeichen,
die das Wasser nicht löschen kann...«
Ihre Hände glitten erneut und wie beschützend über Sebastians Tätowierungen und ihm schwanden fast
die Sinne vor neu entbrannter Verliebtheit. Er musste sich derart zusammenreißen, dass er nur eine stammelnde
Antwort hervor brachte:
»Sebastian..., so heiße ich... Erkennt ihr mich nicht mehr? Ich bin es, dein Basti Lauknitz! Und diese
Zeichen der Götter, wie ihr.., wie du sie nennst, sind ganz normale Tätowierungen, die ich mir aus Kummer um
dich, um euch, habe machen lassen, um mit dem Schmerz an den Armen den Schmerz des Herzens zu
besiegen..!«
Janine sah ihm tief in die Augen und ihre Hand legte sich behütend auf die Zeichen seines Armes. Für
ein paar Sekunden glaubte Sebastian zu spüren, dass sie eine unbekannte, unsichtbare Macht verband und ihre
beider Sinne wie einer werden ließ. Sein Herz raste, als wollte es seine eigene Taktfrequenz überholen.
Vorsichtig legte er seine Hand an Janines unbekleidete Taille, um ihr seine neu erwachte Zuneigung zu zeigen.
Sie erschrak so sehr, dass sie einen Satz nach hinten machte und den Halt im See verlor. Die beiden
Krähen, die bislang geduldig auf ihren Schultern ausgeharrt hatten, flogen ängstlich auf und flatterten
schimpfend zu den Felsen am Ufer zurück. Janine riss ihre Hand hoch und indem sie rücklings ins Wasser sank,
schlug sie Sebastian mit ihrem Schwert beinahe ungewollt die Hand ab. Neben seinem eigenen Schreck schoss
ihm die kurze Frage durch den Kopf, welcher Narr dieser Frau eigentlich eine solch gefährliche Waffe in die
Hand gedrückt hatte.
Wie ein Delfin, so elegant schoss sie wieder aus den Fluten und sah Sebastian mit weiten Augen an.
Aber sie erhob nicht mehr ihr Schwert gegen ihn. Sie stand nur da und sah ihn an, überrascht und vor Nässe
triefend. Ihre spärliche Lederbekleidung klebte wie eine zweite Haut an ihrem Körper und setzte ihre weiblichen
Formen mehr als deutlich in Szene, was wiederum Sebastian außer Gefecht setzte.
Er sah Sonnenherz an, wie sie so dastand und indem ihr kleine Wasserbäche aus den Haaren rannen und
in glitzernden Bahnen über ihre Brüste und den flachen Bauch zogen, wirkte sie plötzlich so verletzlich, dass es
ihm leid tat, sie so erschreckt zu haben.
»Es tut mir leid«, versicherte ihr Sebastian mit ruhiger Stimme, »...ich wollte dich, ...äh, euch, nicht
erschrecken. Erinnerst du dich nicht an mich, an Basti Lauknitz? Wir zwei waren einmal wie zwei Herzen
vereint in einem...« Verzweifelt versuchte er ihr ihre gemeinsame Vergangenheit in ihrem Sprachgebrauch in
Erinnerung zu rufen. Anscheinend hatte sie alles völlig vergessen, was sie beide so innig verbunden hatte.
»Ba - shtie - laug - nids...«, begann sie, »...Mann mit den Zeichen der Götter.., wenn nicht der Glanz der
Wahrheit in euren Augen strahlte, so würdet ihr jetzt nicht mehr leben!« Ganz ohne Zweifel hatte sie ihre
Sicherheit zurückgewonnen und Sebastian spürte, dass sie genau das sagte, was sie meinte.
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Ihr Blick hatte sich verdüstert. Wahrscheinlich hatte sie in den letzten dreizehn Jahren nicht die besten
Erfahrungen mit Männern gemacht. ...Das war völliger Blödsinn. Janine dürfte gar nicht leben! Sebastian hielt
ihre Hand, als sie starb... Wie konnte so etwas möglich sein? War Sonnenherz eben doch nicht Janine? Gab es
nur diese verblüffende, ja geradezu perfekte Ähnlichkeit?
»Janine, kannst du mir verzeihen, ich wollte dir nichts tun, glaub’ mir! Es ist einfach nur so, dass ich
immer noch in dich verliebt bin, auch, wenn so viel Zeit vergangen ist...« Hilflos stammelte Sebastian eine
Erklärung und Entschuldigung in einem zusammen.
»Weißt du...«, fuhr er fort, »...wenn ich geahnt hätte, dass du noch lebst, dann hätte ich jede Stunde
nach dir gesucht und...«
Sie unterbrach ihn, indem sich ihre Mine wieder ein wenig aufhellte:
»Ba - shtie - laug - nids mit den Zeichen der Götter, ihr seid dumm! Mein Name ist nicht Jan - in. Mein Vater
gab mir den Namen Antarona. Das Volk nennt mich Sonnenherz. Euer Name ist Ba - shtie.., ich werde euch
Glanzauge nennen. So wird man auch in der Nacht am Feuer wissen, euer Herz ist rein.« Sonnenherz beschrieb
mit ihrem Schwert eine abschließende Geste und sagte dann:
»Ba - shtie.., ihr habt mich nicht gesucht..! Ich habe euch gesucht.., ich habe euch gefunden!« Antarona
wandte sich dem Ufer zu, drehte sich aber noch einmal kurz um: »Kommt aus dem Wasser, Ba - shtie von den
Göttern, wir müssen gehen!«
Allmählich verlor sich Sebastians Unsicherheit, seine Verwirrtheit und er war wieder in der Lage,
halbwegs rational zu denken. Und diese kommandierende, arrogante Art von einer Frau, der er einmal sein Herz
zu Füßen gelegt hatte, ging ihm auf die Nerven. Entsprechend barsch klang auch seine Stimme, als er
umständlich aus dem kalten See watete:
»Moment mal, Antarona.., ich möchte dir noch etwas sagen! Ich weiß, dass wir einmal im Herzen
verbunden waren.., ich weiß es und ich fühle es. Wenn du das vergessen hast... Ist okay.., aber spürst du das
nicht auch.., das zwischen uns, oder was zwischen uns gewesen war? Und was soll das überhaupt heißen, du hast
mich gefunden? Im übrigen bin ich nicht euer Götterbote...!« Sebastian kam ganz außer Atem und erreichte nach
Luft ringend das Ufer.
Antarona lachte ihn auf einem Mal an... Nein! Sie lachte ihn aus! Und wie zur Bestätigung sagte sie
altklug und überlegen:
»Ihr.., du, Ba - shtie, ihr bewegt euch wie von den Bergen rutschender Schnee im Winter. Es war leicht, eurer
Fährte zu folgen. Sonnenherz folgte der Spur des Bären. Dann sah sie die Fährte von Ba - shtie. Der Felsenbär
macht eine kleinere Spur, als ihr, Ba - shtie Glanzauge! Er zieht keine Fährte, die jeder Krieger erkennen kann.
Sogar die schwarzen Reiter, die mit Blindheit geschlagenen Krieger Torbuks und Kareks können eurer Spur
ohne Mühe folgen!«
Sie hielt inne und ihre großen Augen blitzten Sebastian herausfordernd an. Dann wollte sie sich dem
Waldrand zuwenden. Es war kaum miss zu verstehen, dass sie sich über seinen Marsch durch die Täler lustig
machte, doch was sollte das mit den schwarzen Reitern..?
»...Aber von den Phantasiegestalten Torbuk und Karek hat ja schon Vater Balmer gequasselt.« Diese Worte
sprach er mehr für sich selbst, allerdings noch so laut, um Antarona damit einen kleinen Stich zu versetzen.
Janine, die jetzt Antarona Sonnenherz sein wollte, drehte sich bei dem Wort Balmer plötzlich um und
sah Sebastian überrascht ins Gesicht:
»Ihr, Ba - shtie, wisst von Vater Balmer..?« Sie starrte ihn so erstaunt an, wie ein Kind, das zum ersten
Mal einen Weihnachtsbaum oder einen Elefanten erblickte. In ihrem hübschen Kopf arbeitete es fieberhaft. Er
konnte in ihren Augen erkennen, wie sich das komplizierte Räderwerk eines gedanklichen Mechanismus
umständlich in Gang setzte. Antarona brauchte scheinbar eine Weile, um sich selbst Klarheit zu verschaffen.
»Ihr seid der Mann, der aus dem Reich der Toten zurückgekehrt ist.«, sickerte die Erkenntnis nach und
nach aus ihr hervor. Dann zitierte sie gedankenverloren irgendwelche Verse: »...der aus dem Reich der Toten
kommt und die Zeichen der Götter trägt.., die Prophezeihung.., der Befreier.., er steht vor den Toren der Städte
Falméra, Quaronas und Zarollon und ergreift das Schwert Tálinos...«
Das Krähenmädchen schien wie in Trance, als hätte sie eine Botschaft des Himmels selbst empfangen.
Sebastian für seinen Teil verstand gar nichts mehr. Nur, dass Högi Balmer ein ähnliches Zeug geredet hatte. Das
alles überforderte ihn und hin und her gerissen zwischen seinen Gefühlen zu Antarona, oder Janine, oder wer sie
auch immer sein mochte und der Ungewissheit, was hier eigentlich geschah, war sein Geist kurz davor, zu
resignieren.
»Ihr seid es, Ba - shtie..«, hörte er plötzlich Antaronas ehrfürchtige Stimme. Sie kam auf Sebastian zu,
geradezu unterwürfig, fiel vor ihm auf die Knie und legte ihm ihr Schwert vor die Füße. Dann sagte sie feierlich,
als wollte sie ein Gelübde ablegen:
»Glanzauge.., Ba - shtie, die Hand, welche mein Schwert führt, die Augen, die mich sehen lassen und
mein Herz, das zum Kampf bereit ist, sie werden euch dienen, so lange, bis der letzte Wind aus meiner Brust
verweht ist...«
Selten war Lauknitz so perplex. Aber selten befand er sich auch in einer Situation, in der ihm die Frau,
die er über alles liebte gerade eben erst ein rasierklingenscharfes Schwert durch die Brust rammen wollte, um
ihm im nächsten Moment ihre Untertänigkeit zu bezeugen. Für den einfach gestrickten Bauarbeiter Sebastian
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Lauknitz war das alles ein wenig zu viel Wechselbad der Gefühle. Kopfschüttelnd zog er Antarona an den
Armen zu sich hoch und sah ihr tief in die Augen, die seinen Blick wie grundlose tiefe Seen aufsogen.
Plötzlich spürte Sebastian trotz all der Skepsis, die sie sich noch entgegen brachten, ein tiefes Vertrauen
zwischen ihnen, wie ein unsichtbares Band, das seit uralter Zeit ihrer beider Seelen vereinte, unerklärlich und
mysteriös, wie ihre ganze Begegnung an diesem See.
Wie von selbst glitten Sebastians Hände über Antaronas glatte Haut zu ihren Hüften hinab und zogen
sie an ihn heran. Er spürte ihre Wärme, atmete ihren Duft und musste sich energisch zwingen, ihren Reizen nicht
vollständig zu verfallen und sie fest an sich zu reißen. Auf gar keinen Fall wollte Sebastian diese Frau jemals
wieder verlieren und erst recht nicht, indem er sie verschreckte, oder ihr gerade erst entstehendes Vertrauen zu
ihm missbrauchte. Behutsam küsste er sie auf die Stirn, während seine Hände noch immer auf ihrer schmalen
Hüfte ruhten. Sie ließ es geschehen. Jedoch nur für diesen einen wundervollen Augenblick...
Als wurde ihr plötzlich bewusst, worauf sie sich möglicherweise eingelassen hatte, schob sie sich mit
energischen Händen von ihm fort, hob ihr Schwert und die Lederkordel auf und knüpfte beides wieder
zusammen. Während Basti noch benommen und berauscht von ihr dastand, zog sie sich ihre Beinlinge an, hängte
sie sich ihre Waffe um und verschwand mit den geschmeidigen Bewegungen einer Raubkatze im Wald.
Laut klatschend schlug sich Sebastian mit der flachen Hand auf den Oberschenkel, um wieder klar
denken zu können. Hatte er das alles geträumt? Nein, denn auf dem Felsen saßen noch immer die beiden Krähen
und im Sand lagen Antaronas Pfeil und Bogen. Träume hinterließen für gewöhnlich keine greifbaren Dinge, wie
schwarze Vögel und Waffen!
Noch bevor Sebastian den Gedanken zuende führen konnte, schälte sich Antarona wieder aus dem
Blätterdickicht des Waldes heraus, ein großes Fellbündel unter dem Arm und einen mit bunten Stickereien reich
verzierten Lederbeutel in der Hand. An dem Beutel, der eher einer Tasche glich, baumelte eine Lederkordel,
ähnlich jener, welche Antaronas Schwert auf ihrem Rücken festhielt.
Wieder vernahm er das schon bekannte Aha - ja - tee aus ihrem Mund und auf Kommando flatterten die
beiden Krähen auf und ließen sich erneut auf ihren Schultern nieder. Zu Sebastian gewandt sagte sie bestimmt:
»Kommt, Ba - shtie.., wir gehen.., es ist Zeit!«
Na die Frau hatte vielleicht Nerven! Tauchte hier plötzlich nach dreizehn Jahren als verwildertes,
halbnacktes und bis an die Zähne bewaffnetes Krähenmädchen auf, brachte seine gesamte Gefühlswelt komplett
durcheinander, stellte mit ihrem Erscheinen all sein Glauben und Wissen über die Naturgesetze in Frage, um
dann wie beiläufig nüchtern zu sagen: Komm, wir gehen! Das schlug nun allem den Boden aus!
Diese Spontanität an ihr kannte Sebastian ja bereits von früher und heimlich bewunderte er sie dafür,
doch im Augenblick hielt er das für reichlich unangebracht, zumal er noch immer nichts gegessen hatte. Diesmal
wollte er sich weigern:
»Nein Antarona! Es ist nicht so, dass ich nicht mit dir kommen will.., das will ich ganz gewiss und ich
möchte dich auch nicht wieder verlieren, nachdem ich dich endlich wieder gefunden habe, aber..« Sebastian
unterbrach seine Rede kurz, um seine Gedanken zu sammeln und erklärte dann weiter:
»Sieh mal, ich war vier Tage lang von Högi Balmers Berg bis hierher unterwegs, ohne etwas zu Essen.
Wenn ich jetzt nichts zu Essen bekomme, dann kannst du euren Götterboten gleich hier neben dem Felsen in der
Erde verscharren.., dann bin ich schlicht - weg ver - hun - gert! Verstehst du das?« Den letzten Satz sprach er
langsam, laut und deutlich, um ihr seine Ernsthaftigkeit bewusst zu machen.
Antarona sah ihn fragend an, überlegte kurz und griff dann zielstrebig in ihren Lederbeutel. Sie zog ein
handgroßes Blätterkneuel und ein Viertel eines großen, grauen Fladenbrotes hervor und hielt es Sebastian
lächelnd entgegen.
»Esst, Ba - shtie, dann kommt mit Sonnenherz. Die Sonne wandert und wird Sonnenherz nicht mehr
sehen lassen, was sie sehen will, wenn sie zögert.«
Sebastian verstand von ihrem Gerede rein gar nichts, aber es war ihr wohl wichtig, zu einem
bestimmten Ort zu gelangen. Heißhungrig biss er in das Brot und er konnte schwören, dass ihm niemals zuvor
ein Brot so gut geschmeckt hatte. Nachdem er noch seine Hose anzog, nach seinem Rucksack und seinem nass
gewordenen T- Shirt griff, setzten sie sich in Bewegung. Nebenbei wickelte Sebastian das Blätterkneuel aus und
fand darin eine gegarte, kalte Geflügelkeule. Wenn er von dem Brot schon begeistert war, so war er geradezu
verzückt von diesem Leckerbissen.
Sie folgten dem Ufer des Sees in die Richtung, aus der Sebastian zuvor gekommen war. Antarona ging
voran und sein Blick heftete sich mehr an ihre kaum von dem knappen Lederschurz bedeckten Rundungen, als
auf den Boden, auf dem sie gingen. Das ging so weit gut, bis ihm eine hinterlistige Baumwurzel ein Bein stellte
und er in hohem Bogen auf dem Bauch landete.
Antarona drehte sich verwundert nach ihm um, und setzte eine erstaunte Mine auf. Doch Sebastian
glaubte, dass ihre Verwunderung gespielt war und ahnte, dass sie sehr genau wusste, weshalb er an der aus dem
Boden ragenden Wurzel hängen blieb. Ihr Blick verriet ihm, dass sie sich sehr wohl ihrer anziehenden Wirkung
auf ihn bewusst war.
Bei jeder anderen Frau hätte er seine Empfindungen einfach abschalten können, wäre sie auch noch so
aufreizend vor ihm herumstolziert, denn mehr als einmal im Leben wurde Sebastian gezwungen zu lernen, wie
man Gefühle rationell kontrolliert und steuert.
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Diesem Krähenmädchen jedoch gehörte seit langer Zeit sein Herz und er musste sie für Jahre entbehren
und seine Sehnsucht nach ihr unter meterdicker Selbstbeherrschung begraben. Ihr war Sebastian hoffnungslos
verfallen. Das schien sie freilich nicht zu vermuten und ebenso wenig konnte sie wissen, dass er sie aus einer
tiefen, vertrauten Liebe heraus begehrte, die so stark war, dass sie mit ihrem bohrenden Schmerz sein
Hungergefühl ablöste.
Wie ein treuer Hund lief er hinter Antarona her, die wie eine Elfe über das unebene Gelände sprang.
Irgendwie gelang es Sebastian, stur dorthin zu sehen, wohin er trat. Schlagartig wurde ihm klar, dass er sich an
einem Wendepunkt seines Weges befand.
Eigentlich wollte Basti dem Weg talwärts folgen, bis er nach Hause finden würde. Doch nun folgte er
Antarona, die wie eine Reinkarnation Janines wieder in sein Leben getreten war. Und er wollte diese Frau, ob
Antarona, Sonnenherz, oder Janine kein zweites Mal verlieren, egal auf welche Weise! Dabei konnte sich Basti
nicht einmal erklären, auf welche Weise ihm das Schicksal seine große Liebe wiedergegeben hatte...
Plötzlich kam er auf einen Gedanken, der ihm so absurd und phantastisch zugleich vorkam, dass er ihn
sofort wieder verwerfen wollte. Es war allerdings die einzige irrationale Erklärung, die ihm einfiel. Eine
rationale Erkenntnis für das, was er in den letzten Wochen erlebt hatte, gab es ohnehin nicht.
Sebastian fragte sich insgeheim, ob es ein Leben nach dem Tod gibt. Gab es so etwas wie das Paradies,
einen Himmel, ein Nirvana, Shakareh, oder so etwas wie die ewigen Jagdgründe, wohin man nach dem irdischen
Tod ging? Wenn Janine nach ihrem Tod vor dreizehn Jahren an einen solchen Ort gelangt war, wo waren sie
dann bitteschön jetzt und hier? War Sebastian ihr in das Leben nach dem Tod gefolgt, nachdem er an den Folgen
seines Sturzes am Zwischbergenpass gestorben war? War nach dreizehn Jahren sein Wunsch in Erfüllung
gegangen, ihr in die Welt zu folgen, in die sie hinübergewechselt war, als sie ihn verließ? Bei solchen
Überlegungen bekam Sebastian eine Gänsehaut! Das überstieg bei weitem seinen kleinen Geist!
Doch je mehr sich seine Vernunft gegen diese Möglichkeit sträubte, desto deutlicher trat sie in sein
Bewusstsein als etwas Reales und Greifbares. Als wäre es gerade eben gewesen, konnte er sich noch genau an
Janines letzte Worte erinnern:
»Glaube daran.., wir sehen uns wieder.., drüben.., irgendwann. Ich liebe dich!« Dann war sie still von
ihm gegangen. Diese Worte sprach sie damals, und das fiel Sebastian erst in diesem Augenblick auf, als wäre sie
fest davon überzeugt gewesen, dass sie sich an einem anderen Ort, in einer anderen Welt wiedersehen würden.
Wie, wenn sie an der Schwelle zu dieser Welt, in die sie aufgebrochen war, gespürt hatte, dass es einen solchen
Ort tatsächlich gibt.
Aber alle Menschen, die glaubten, schon einmal auf dem Weg ins Jenseits gewesen zu sein und die
Sebastian davon hatte berichten hören, sprachen von hellen Lichttunneln und körperloser Existenz. Und
körperlos war an diesem Ort ganz sicher nichts! Er spürte Schmerzen, Hunger, eiskaltes Wasser und nicht zuletzt
das sehnsüchtige, heimliche Verlangen nach Antaronas samtwarm duftender Haut. Wenn das körperlos war,
dann wollte er nicht mehr Basti Lauknitz heißen!
Trotzdem! Konnte es nicht sein, dass all diese Personen, die von Nahtod- Erlebnissen berichtet hatten,
in Wahrheit gar nichts darüber wussten, weil sie ja das Leben nach dem Tod gar nicht vollständig erreicht
hatten? Möglicherweise war alles ganz anders, als es sich die Menschen im irdischen Leben vorstellten. Wer
konnte das schon sagen, denn nie war jemand von dort drüben zurückgekehrt!
Dennoch war Janine gegenwärtig, als Antarona zwar, aber real existent. Und da seines Wissens nach nie
jemand aus einem Leben nach dem Tod in die irdische Welt zurückgekehrt war, gab es nur die eine, zugegeben
sehr phantastische Möglichkeit: Er, Sebastian, war in ihre Welt gelangt, an den Ort, an dem sich angeblich die
menschlichen Seelen nach dem irdischen Tod versammelten und wieder fanden.
Nur war diese Welt entgegen anderer Behauptungen nicht körperlos und auf einer übergeordneten
Ebene des Geistes angesiedelt, sondern so real, wie die Welt, aus der sie kamen, mit den gleichen Stärken und
Schwächen der Menschen und mit den gleichen Entbehrungen und dem selben Empfinden von Liebe, Glück und
Schmerz, mit dem Gefühl von Freude, Ärger, Wut und Zufriedenheit. Diese Welt war ebenso eine
Herausforderung an den menschlichen Körper und Geist, wie die vorige, eben nur mit einer neuen Chance, sich
in ihr zu beweisen und zu bewähren!
War das die Antwort auf alle seine Fragen der letzten Wochen? War er im Hinblick auf sein Leben in
Norddeutschland tot? Befand er sich tatsächlich in einem Leben nach dem irdischen Dasein? Sebastian
zermarterte sein Gehirn, musste aber zugeben, keine wirkliche Antwort sich auch nur annähernd vorstellen zu
können...
Ein donnerndes Rauschen riss ihn aus seiner Philosophie einer ganz neuen Weltanschauung. Sie standen
vor dem grandiosen Wasserfall, den er bereits vor zwei Stunden bewundert hatte.
Antarona hielt vor den zerklüfteten, aufgeworfenen Felsen, die wie eine Barriere der Felswand
vorgelagert waren, über die das tosende Wasser in den See donnerte. Bis auf das Messer an ihrem Oberschenkel
legte sie alle Waffen ab und streckte Sebastian ihr Schwert entgegen:
»Ba - shtie, wartet hier, bis ich gesehen habe, was geschieht. Kommen Reiter, dann verbergt euch in den
Felsen...« Dabei wies sie auf die von einer Laune der Natur übereinander geworfenen, von der Erosion rund
geschliffenen Granitblöcke. Sebastian nahm ihr das Schwert aus der Hand...
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Und ließ es vor Schreck beinahe in den Sand fallen. Ganz naturgemäß war er darauf vorbereitet, eine
Klinge von mindestens vier Kilogramm Gewicht in die Hände zu bekommen. Diese Waffe jedoch wog weit
weniger. Selbst für ein Material wie Aluminium war sie noch zu leicht. Am reich verzierten Griff gefasst, wog
Sebastian die Waffe in seiner Hand und es kam ihm vor, ein Kinderspielzeug aus Plastik, anstelle einer
Stahlklinge in den Händen zu halten.
Antarona sah, wie erstaunt er war und wie er mit dem Schwert ein paar Probehiebe durch die Luft
versuchte. Ermahnend sprach sie:
»Seid achtsam, Ba - shtie - laug - nids, die Klinge ist scharf und vermag selbst Stein zu schneiden!« Mit
diesem Hinweis zog sie sich ihre Beinlinge und das gewickelte Oberteil aus und gab ihre festen Brüste ungeniert
seinem Blick preis, als wäre es das Normalste der Welt. Die beiden schwarzen Vögel schwangen sich von ihrer
Schulter, breiteten ihre Schwingen aus und segelten gemächlich davon. Ihre Kleidungsstücke ließ Antarona
liegen, wo sie hinfielen und sprang unvermittelt mit einem Satz kopfüber in das kalte Wasser des Sees.
Sebastian stand verdutzt da und beobachtete sie, wie sie mit einer ihm unbekannten Schwimmtechnik
schnell, wie eine Wettkampfschwimmerin durch das Wasser glitt, geradewegs auf den Wasserfall zu. Kurz vor
der Stelle, an der das Wasser des Flusses in den See stürzte und ein weißes, glitzerndes Chaos aus Wirbeln,
Strudeln und Spritzern inszenierte, tauchte sie weg.
Als Antarona nach knapp zwei Minuten nicht wieder auftauchte, wurde Sebastian nervös und war nach
fünf Minuten völlig verrückt vor Angst. So etwas Durchgeknalltes, dachte er und machte sich klar, dass er selbst
gerade mal so gut schwimmen konnte, wie eine bleierne Ente. Es war ganz ausgeschlossen, dass er ihr helfen
konnte, wenn sie unter Wasser in Not geriet.
»Aber wer hat eigentlich behauptet, dass Frauen logisch und vernünftig sind«, schimpfte er leise vor
sich hin, indem er aufgebracht und halb tot vor Angst am Ufer hin und her lief. Aber das war original Janine, so
wie sie schon damals gewesen war. Bereits zu dieser Zeit war Sebastian oft verzweifelt gewesen, weil sie immer
wieder etwas völlig Verrücktes tat und sich köstlich amüsierte, wenn er sich darüber aufregte. Das war ihr
Wesen, ihr Lebensstil, den sie offensichtlich noch immer in vollen Zügen genoss.
Solange er Antarona, oder Janine kannte, lebte eine ausgeprägte Kindlichkeit in ihrem Charakter, die sie
oft zu spontanen Einfällen anregten, die außerhalb jeglichen, vernünftigen Verstandes lagen. Selbst, als sie
bereits todkrank war, brachten ihn manche ihrer fixen Ideen, die sie eben mal aus einer Laune heraus in die Tat
umsetzte, zum Verzweifeln und Lachen gleichermaßen.
Annähernd eine viertel Stunde lang starrte Sebastian auf die bewegte Wasseroberfläche und büßte vor
Angst zehn Jahre seines Lebens ein! Dann.., plötzlich.., tauchte sie ein paar Meter vor dem Ufer wieder auf. Sie
schoss förmlich aus dem Wasser und blieb im hüfthohen Nass stehen. Gerade, als ihr Basti seine Empörung über
dieses leichtsinnige Verhalten hinüber rufen wollte, gewahrte er etwas seltsames in ihren Händen...
Ihre langen, schwarzen Haare klebten nass auf ihren Schultern und Brüsten und ihr Leib glänzte wie mit
Klarlack überzogen, als sie sich dem Zenit zuwandte und der Sonne etwas entgegen hielt, als wollte sie dem
himmlischen Feuerball ein Opfer bringen. Der Gegenstand war etwa fußballgroß und sah aus, wie eine
transparente, bläulich- türkis schimmernde Kugel. Irgend eine weiße, milchige, aber sehr intensive Strahlung
schien von dieser kristallenen, oder gläsernen Kugel auszugehen und schien Antaronas Hände zu durchdringen,
wie Röntgenstrahlen.
Wie bei einem Ritual hob sie die Kugel mit ausgestreckten Armen zur Sonne hoch und begann mit ihrer
hellen Stimme eine Art Gesang, der so lieblich und verträumt klang, als würde er aus dem Munde eines
flüchtigen, filigranen Fabelwesens in den Wind gehaucht und von diesem vielstimmig fort getragen.
Die Kugel in Antaronas Händen schien sich, abrupt dem Sonnenlicht ausgesetzt, zunächst zu
verfinstern, ohne jedoch ihre Strahlung einzubüßen, die sie umgab. Dann, allmählich kehrte die hellblaue
Transparenz zurück und die Kugel begann zu strahlen und zu flimmern, als sei sie einem intensiven Sankt
Elmsfeuer ausgesetzt. Sebastian gewann den Eindruck, die Kugel sog reine Sonnenenergie in ihr Inneres hinein.
Plötzlich trübte sich ihr Kern wieder etwas ein und schattenhafte Gebilde bewegten sich in ihr, wie von einer
unbekannten Magie gesteuert.
Das alles sah so phantastisch und faszinierend aus, dass er wie angewurzelt dastand, Antaronas Schwert
noch in der Hand und mit offenem Mund staunte. An Zauberei glaubte Sebastian freilich nicht, doch wie auch
immer dieser Trick funktionierte, er war so sehr beeindruckt, dass es ihm schlichtweg die Sprache verschlug!
Dann senkte Antarona ihre Arme wieder, drückte die Kugel an ihre Brüste und tauchte wieder unter.
Wasserringe breiteten sich an der Stelle aus, wo sie verschwand. Sebastian blieb nichts anderes übrig, als erneut
zu warten. Diesmal jedoch verging er nicht mehr vor Angst. Antarona schwamm augenscheinlich mit der
geübten Sicherheit einer professionellen Perlentaucherin. An diese Begabung konnte er sich bei ihr nicht mehr
erinnern.
Während er auf Antaronas Auftauchen wartete, trat ihr Schwert wieder in sein Bewusstsein. Eine solche
Waffe hatte er noch nie in den Händen gehalten. Der Griff wog schwer wie Edelstahl. Die Klinge aber, und das
war das Faszinierende daran, erinnerte vom Gewicht her an einen Plastik- Hohlkörper. Doch wie er das Schwert
auch drehte und wendete, es war definitiv aus einem hellen, bläulich glänzenden Metall. Wenn er die Waffe hob,
oder senkte, oder seitlich einen Hieb simulierte, so schien eine unsichtbare Kraft die Führung des Schwertes zu
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unterstützen. Es fühlte sich an, als ob die Waffe seine Bewegungen vorausahnen und aus eigener Kraft
begünstigen konnte.
Nun erklärte sich Sebastian auch, wie Antarona mit ihrer grazilen Gestalt ein solches Schwert führen
konnte, als sei es aus Styropor. Er befühlte die Schneide der Klinge und musste wiederum staunen, wie scharf
diese geschliffen war. Seine beiden Bowiemesser, beide aus bestem Solingen- Stahl, erreichten selbst bei
tagelangem, umsichtigen Schleifen nicht annähernd eine solche Schärfe.
Er erinnerte sich, was Antarona ihm sagte, als sie ihm das Schwert in die Hand gab. Die Klinge vermag
selbst Stein zu schneiden! Ungläubig, aber neugierig geworden, legte Basti die Schneide bedächtig an einen
Granitfelsen und zog sie mit beträchtlichem Druck nach unten. Der Stein war zwar nicht tief zerschnitten, was
ihn auch sehr gewundert hätte, doch war auf der rauhen Oberfläche ein leicht unterbrochener, feiner Schnitt zu
erkennen, wie mit einem sehr dünnen Eisensägeblatt beigebracht. Behutsam prüfte er mit dem Daumen die breite
Klinge und musste feststellen, dass diese nicht die geringste Spur eines Schadens genommen hatte.
Von einem solchen Material hatte Sebastian nie zuvor gehört. Wenn die Industrie dieses Metall in die
Finger bekäme, würde sich die Waffentechnologie der ganzen Welt wohl binnen kürzester Zeit revolutioniert
haben. Kampfflugzeuge, Panzer, Gewehre, alles würde mit diesem Stoff effizienter werden und... Mit diesem
Metall in den falschen Händen, wieder neue, grausame Kriege entfesseln!
Bei dieser Vorstellung hoffte Sebastian, dass dieses Metall ein unentdecktes Geheimnis dieser
verborgen liegenden Täler bleiben würde. Vielleicht war es doch keine so gute Idee, mit seinen Kenntnissen über
diese geheime Welt nach seiner Heimkehr schnurstracks zur Presse zu laufen. Man würde ihm auch kaum
Glauben schenken. Eine Kugel, die nur mit Sonnenenergie wie ein Fernseher funktionierte...
Völlig überraschend spritzte plötzlich das Wasser im See auf und Antarona erhob sich aus den Fluten
und stieg ans Ufer, ganz offensichtlich ziemlich durchgefroren. Ihr nasser Körper zitterte vor Kälte und ihre
sinnlichen Lippen waren lila angelaufen.
Wie ganz selbstverständlich ging Sebastian auf sie zu, nahm sie in seine Arme und drückte ihren
nassen, kalten Leib fest an sich. Er spürte das Zittern, das durch ihren Körper lief und wünschte sich ein weiches
Frottierhandtuch her, um sie besser wärmen zu können. Zärtlich versuchte er ihr die nassen Haare aus dem
Gesicht zu streichen. Ihre großen Augen funkelten ihn unter den nassen Strähnen hervor an, dunkel und doch
leuchtend, unergründlich und geheimnisvoll.
Dann löste sie sich plötzlich mit der Gewandtheit einer Schlange aus seinen Armen, hob ihr Oberteil
vom Boden auf und band es sich wieder vor ihre nassen Brüste. Sie nahm ihm das Schwert ab und hängte es sich
mit den anderen Waffen auf den Rücken, über den noch Bäche von Wasser aus ihren Haaren rannen.
Antarona dachte gar nicht daran, sich abzutrocknen und die dünne Tierhaut ihres Hüftschurzes klebte
ihr nass und durchscheinend auf der Haut, so dass Sebastian peinlich berührt wegsah, obwohl er eigentlich
geneigt war, ihre Formen in diesem Zustand genauer zu betrachten. Sie schien seine sehnsüchtigen Blicke gar
nicht wahr zu nehmen, sondern hob ihre Mokkasinstiefel, ihr Fellbündel und den Lederbeutel vom Boden auf
und sagte hastig:
»Kommt, Ba - shtie - laug - nids, nehmt euer Bündel und folgt mir. Ihr werdet jetzt schnell sein..,
Glanzauge.., sehr schnell...« Damit kletterte sie vor ihm her in die Felsen und nahe an die Felswand heran, über
die der Wasserfall hinweg sprühte. Sebastian kam erst gar nicht dazu, sie zu fragen, welche ihrer spleenigen
Ideen so plötzlich zur Eile mahnte, sondern schnappte nur seinen Rucksack und sein T- Shirt und folgte ihr
blind. Nein, er vertraute ihr blind!
Er, Sebastian Lauknitz, geübter Alpinist mit über fünfzehn Jahren Westalpenerfahrung, hatte Mühe,
dieser halbnackten, pitschnassen Krähenfrau im Fels zu folgen! Antarona stieg mit bloßen Füßen und mit der
Schnelligkeit und Sicherheit einer Bergziege über die Steinflächen, der Sebastian nicht umhin kam,
Bewunderung zu zollen.
Sie zwängten sich zwischen nassen, glitschigen Felsen hindurch, an die hohe Bergwand, die im
aufgewühlten Wasser des Sees fußte. Offenbar lag unter der Wasseroberfläche verborgen eine Art von
Felspodest, oder Sims, auf dem sie knietief hinter den dichten Vorhang des rauschenden und fallenden Wassers
wateten. Von einer Sekunde zur anderen waren sie beide vom Sprühnebel des fallenden Wassers bis auf die
Knochen durchnässt, was Antarona freilich nichts mehr ausmachte.
Etwa in der Mitte des breiten Wassersturzes, tat sich überraschend eine drei Meter hohe und ungefähr
zwei Meter breite Grotte in der rauhen Felswand auf. Sie lag ungefähr zwei Meter über dem Wasserspiegel. Wie
ein Aal glitt Antarona durch die Felsen zur Höhle hinauf und blickte sich, oben angekommen, wartend zu
Sebastian um. Völlig aus der Puste stand er kurz darauf neben ihr und blickte ehrfürchtig in eine andere,
unterirdische Welt hinein.
Ein großer, fast zehn Meter hoher Raum, von mächtigen Säulen aus weißen und gelben Stalagmiten und
Stalaktiten gestützt, breitete sich vor seinen staunenden Augen aus. Das sich im Wasserfall brechende
Sonnenlicht flutete schräg herein und erhellte den halben Raum, wie einen Saal. An dessen Rückwand lagerten
auf trockenen Felspodesten und in Felsnischen verschiedene, kleine Habseligkeiten, die wohl Antarona gehören
mussten. Weiter hinten im Höhlenraum zweigten noch weitere, kleine und dunkle Gänge ab und verschwanden
im Nirgendwo.
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Noch bevor er Zeit fand, Antarona etwas zu fragen, warf sie ihr Fellbündel zwischen ein paar große,
trockene Felsen und gebot ihm das gleiche mit seinem Rucksack zu tun:
»Lasst euer Bündel hier, Ba - shtie«, sagte sie und ihre Stimme klang gehetzt. »Ihr müsst jetzt schnell
sein.., kommt mit mir.., Ba - shtie, im Weiler geschieht etwas sehr böses...« Was auch immer sie damit sagen
wollte, sie wandte sich sogleich wieder dem Eingang der Grotte zu.
Sebastian zögerte noch, denn er wollte seinen Rucksack mit den Goldmünzen nicht einfach seinem
Schicksal und schon gar nicht einem glücklichen, fremden Finder überlassen.
Antarona blickte vorwurfsvoll zurück, als er ihr nicht gleich folgte: »Was ist.., Ba - shtie - laug - nids,
ihr müsst euch eilen, mein Volk braucht uns!«
»Aber mein Rucksack...« Er kam nicht dazu, den Satz zu beenden. Antarona kam ungestüm zu ihm
zurück, stellte sich auf die Zehenspitzen, schlang ihre nassen Arme um seinen Hals und drückte ihm einen
flüchtigen, aber festen Kuss auf den Mund. Das ging so rasch, dass er gar nicht begriff, wie ihm geschah. Ebenso
schnell löste sie sich wieder von ihm, sah ihm tief in die Augen und sagte beschwörend, fast flüsternd:
»Seid still! Eurem Rucksack wird nichts geschehen, dieser Ort ist nur Sonnenherz bekannt... Kommt
endlich!« Fasziniert spürte Sebastian noch ihren Kuss und eine geheimnisvolle, magische Kraft mit fünf
Buchstaben, zog ihn unweigerlich automatisch hinter Antarona her.
Sie kletterten über die nassen Felsen zum Seeufer zurück. Sofort, ohne sich noch einmal umzublicken,
begann Antarona ihren leichtfüßigen Aufstieg über die Serpentinen hinauf zum Felsriegel, von wo aus er vor ein
paar Stunden erstaunt über das ganze Tal geschaut hatte. Mühsam hetzte Basti hinter ihr her und fragte sich, ob
sie schon zu ihrer gemeinsamen Zeit so sportlich gewesen war. Wenn, dann hatte sie es ihm nie gezeigt!
Seine Lungen drohten zu platzen, als Sebastian oben bei ihr ankam. Er musste kurz seine Hände auf die
Knie stützen, um wieder zu Atem zu kommen. Und den brauchte er, denn er hatte einige Fragen an seine
wunderschöne Begleiterin! Doch ihr schien dieser Gewaltaufstieg nicht im mindesten etwas ausgemacht zu
haben.
Noch bevor er den Mund aufmachen und ihr Fragen stellen konnte, ging Antarona los, dem Waldweg
folgend, den Sebastian an diesem Tag schon einmal missmutig entlang gelatscht war. Zu seiner vollständigen
Verzweiflung fiel Antarona in einen trottartigen Lauf, den sie offenbar beizubehalten gedachte. Basti ging an die
äußerste Grenze seiner Belastbarkeit und spie sich fast die Lungenflügel aus dem Hals, als er versuchte, mit ihr
Schritt zu halten...
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Schwarze Reiter
Etwa zwanzig Minuten waren sie in diesem Tempo gelaufen, als Antarona unerwartet anhielt, sich zu
Boden hockte und für Sebastian als Signal ihre Hand hob. Beinahe hätte er sie über den Haufen gerannt, denn er
war ihr nur noch im stoischen Takt seiner Beine gefolgt, ohne nachzudenken, ohne an ein Ende dieses
Marterlaufs zu glauben.
Vollkommen ausgelaugt fiel Sebastian hustend neben ihr in den schmutzigen Staub des Weges, dankbar
für die kleine Pause und unfähig, auch nur noch einen Finger zu krümmen. Antarona hockte still lauschend mit
dem Po auf den Fersen ihrer Füße, die mit den Fußballen in den Sand gekrallt, ihren ganzen Körper leicht hin
und her wiegten. Sie blickte konzentriert in das Blätterdach der Bäume und schien angestrengt jedes Geräusch in
sich aufzunehmen.
Sobald er wieder einigermaßen ruhig atmen konnte, setzte sich Sebastian neben sie und sah sie fragend
an. Sie regte sich nicht, saß nur da, wie in einer Art Meditation. Tief sog er ihren sinnlichen Duft ein. Ihre nackte
Haut verströmte einen anziehenden Geruch von Leder und einer mystischen, orientalischen Note, wie von einem
im Wind verstreuten Gewürz...
Auf einem Mal huschten zwei pfeilschnelle Schatten durch die Bäume und Sekunden später schwebten
Antaronas Krähen heran, die Sebastian fast schon vergessen hatte und ließen sich auf ihrem gewohnten Platz,
den Schultern ihrer Herrin nieder. Sie gaben ein langgezogenes, tiefes Kroooh, krooh von sich, als wollten sie
ihrem Krähenmädchen etwas mitteilen.
Und als ob diese die geheimnisvolle Nachricht verstanden hätte, stand Antarona auf und wies mit ihrem
Bogen in das dichte Gestrüpp links des Weges: »Viele Männer auf Pferden.., sie kommen schnell... Ba - shtie..,
kommt, wir verstecken uns dort!«
Sie griff nach Sebastians Handgelenk und zog ihn hinter sich her, in das Dickicht des Urwaldes.
Zwischen bemoosten Baumstämmen, Sträuchern und niederem Blätterwerk begann sie mit den bloßen Händen
in der Erde herum zu graben. In aller Seelenruhe verrieb sie feuchten Humus zwischen ihren Händen und
beschmierte sich mit diesem Dreck das Gesicht und die Schultern.
Auffordernd stieß sie Sebastian mit dem Ellenbogen an, er sollte es ihr nachmachen. Basti setzte eine
Mine der Empörung auf, denn er sah nicht ein, sich auch noch mit Schmutz zu beschmieren, da es in dieser
Gegend ohnehin schon an Gelegenheiten zum Duschen mangelte. Wieder spürte er ihre Elle in seinen Rippen,
diesmal energischer. Letztlich war es sein blindes Vertrauen zu ihr, das ihn dazu brachte, sein Gesicht im Moder
zu waschen. Stolz präsentierte Sebastian ihr seine heroische Tat, erntete jedoch nur ein flüchtiges Lächeln.
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Nach diesem Tarn- Make Up drückten sie sich in den Waldboden, warteten und lauschten. Antarona
hatte ihre Augen geschlossen, als würde sie schlafen. Still beobachtete Sebastian sie, eine halbwilde Frau, die
auch völlig verdreckt noch mit ihrer Schönheit die Sterne herausfordern konnte.
Sie lagen eine halbe Ewigkeit im Dreck und Sebastian fragte sich bereits, von welchem verrückten
Einfall sie nun wieder geritten wurde, als sie plötzlich die Augen aufschlug. In ihrem Blick war keinerlei
Müdigkeit, sondern eine angespannte Aufmerksamkeit, die sich auch ohne Worte auf ihn übertrug. Dann ging
alles so schnell, dass Sebastian kaum in der Lage war, die Geschehnisse zu begreifen, geschweige denn, ihnen
im Ablauf zu folgen...
Antarona zischte ihren beiden Krähen unverhofft einen Befehl zu. Die Vögel machten einen Satz,
erhoben sich in die Luft und flatterten durch die Bäume davon. Dann richtete sie sich halb auf und in einer kaum
wahrnehmbaren Geste spannte sie ihren Bogen und legte einen Pfeil an die Sehne.
Fast gleichzeitig vernahm er ein Geräusch, das immer lauter wurde, wie wenn irgendwo Felsen von
einem Berg kollerten. Es war das Donnern von unzähligen Hufen! Und wie zur Bestätigung Antaronas
Ankündigung, trabte ein großer Pulk von Reitern den Weg herauf. Indem Sebastian den Trupp erblickte, wie er
unweigerlich auf ihr Versteck zuhielt, packte ihn die nackte Angst!
Ungefähr zwölf bis vierzehn Reiter preschten da in einem Galopp heran. Jeder dieser Männer trug eine
pechschwarze, matt glänzende Rüstung, wie Sebastian sie aus Mittelalter- oder Ritterfilmen her kannte. Nur,
diese hier waren echt! Darüber hatten sie sich schwarze, ärmellose und teilweise ausgefranste Hemden gezogen,
die viel zu weit waren und im Reitwind flatterten. Auf der Brustseite dieser Hemden, die den Reiterpulk noch
gespenstischer aussehen ließ, leuchtete weithin sichtbar ein weißes Symbol, das er irgendwo schon einmal
gesehen hatte. Die Reiter saßen ausnahmslos auf schwarzen Pferden und hielten Schwerter, Äxte, oder seltsam
gezackte Kettenkugeln in der einen und die Zügel ihrer Pferde in der anderen Hand.
Schweigend galoppierten sie heran, niemand sprach ein Wort. Nur das Donnern der Hufe, das
Schnauben der Pferde und ein Scheppern, als würden viele Blechdosen aneinander schlagen, erfüllte nun den
Wald. Diese schwarzen Reiter sahen so Angst einflößend und bedrohlich aus, dass Sebastian den Atem anhielt.
Antarona legte ihm ihre Hand auf den Arm, was er in der Weise deutete, still, aber bereit zu sein. Doch bereit für
was? Schneller, als ihm lieb war, bekam er die Antwort:
Die mittelalterlichen Soldaten stoben an ihnen vorbei und hüllten sie augenblicklich in eine Staubwolke,
die Sebastian völlig die Sicht nahm. Der Staub reizte seine Lungen und er kämpfte gegen einen Hustenanfall an.
Antarona bemerkte es und gab ihm ein unmissverständliches Zeichen, still zu sein. Sebastian lernte, dass Angst
sogar Husten besiegen kann!
Als der letzte Reiter, der seinen Kumpanen mit etwas Abstand folgte, heran war, schossen plötzlich
Antaronas Krähen an seinem Visier vorbei in den Wald. Durch den Staub konnte Sebastian alles nur noch
schemenhaft sehen, doch so viel war er doch in der Lage zu erkennen!
Verwundert blickte der Ritter hinter den beiden Vögeln her, die er zweifelsohne nur als Schatten
wahrnehmen konnte. In diesem Augenblick sprang Antarona wie eine Antilope aus dem Unterholz, spannte den
Bogen und ließ ihren Pfeil von der Sehne schnellen. Ein kaum zu hörendes, sirrendes Geräusch, schon ließ der
Reiter seine Streitaxt in den Staub fallen, riss sein Pferd herum und fasste sich gleichzeitig an den Hals.
Inzwischen stand Antarona wie ein aus der Erde gezaubertes Märchenwesen auf dem Weg und wie von
selbst lag bereits ein zweiter Pfeil an der Sehne ihres Bogens. Donnernd verschwand der Rest der Reiterschar in
der sich entfernenden Staubwolke und die Sicht wurde allmählich besser.
Der attackierte Reiter, ein schwarzbärtiger Riese von einem Kerl, schwenkte sein Pferd herum und ritt
langsam auf Antarona zu, die starr, wie ein Holzpfahl in der Mitte des Weges wartete. Ein Pfeil hatte den Hals
des schwarzen Reiters direkt unterhalb seines Helms bis über die Hälfte des Schaftes durchbohrt. Blut rann aus
den Wunden zu beiden Seiten seines Halses. Er riss sich in einer einzigen heftigen Bewegung den Helm vom
Kopf und ließ ihn scheppernd zu Boden fallen.
Mit einer Hand hielt er sich noch immer den Hals, mit der anderen lenkte er sein Pferd im Schritt auf
Antarona zu. Die stand nach wie vor mitten auf dem Weg und rührte sich nicht. Ungläubig und mit offenem
Mund staunend glotzte sie der Mann an. Er schien etwas sagen zu wollen, doch statt eines Wortes trat ihm ein
Schwall Blutfäden aus Mund und Nase.
Mit vor Schreck geweiteten Augen begann der Reiter zu wanken und stürzte urplötzlich seitlich vom
Pferd. Wie ein nasser Sack schlug er dumpf und scheppernd auf dem Boden auf. Ein Fuß stak noch im
Steigbügel seines Pferdes, das einen gewaltigen Satz machte und seinen Herrn ruckartig drei Meter weit durch
den Sand schleuderte. Der Steigbügel gab den Fuß frei und der Reiter blieb reglos liegen.
Schnell, wie ein Panther schoss Antarona aus dem Stand vor und griff dem Pferd, das gar nicht so
schnell reagieren konnte, in die Zügel. Sogleich redete sie in einem ruhigen Singsang auf das Reittier ein, bis es
sich völlig beruhigte.
Das alles vollzog sich in der Sekunde eines Augenschlags und ehe Sebastian recht begriff, was
eigentlich geschehen war, band Antarona bereits das Pferd an den Zweig eines Baumes. Immer noch benommen
stolperte Sebastian aus seinem Versteck heraus und ging zu dem Reiter hinüber.
Der lag auf dem Boden, sein ganzer Körper zitterte wie ein Zweitaktmotor und er stierte ihn mit
blutunterlaufenen und mit wie vom Irrsinn gezeichneten Augen hilflos an. Die eine Hälfte des Pfeils in seinem
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Hals war abgebrochen und das Blut schoss wie von einer Pumpe getrieben aus der Wunde und bespritzte den
Sand des Weges. Einen kurzen Moment danach versiegte der hellrote Strom, seine Augen flatterten kurz, dann
blieben sie leer und starr.
Wie angewurzelt stand Basti neben dem Reiter, schockiert! Der Mann war tot! Noch bevor er sich von
dem Schreck erholt hatte, war Antarona heran:
»Steht nicht wie ein Fels, Ba - shtie, helft mir...«, sprach sie, etwas außer Atem und begann den
schweren Leichnam vom Weg zu zerren. Wäre die Situation nicht so ernst gewesen, Sebastian hätte darüber
lachen können, denn diese zierliche Frau, wie sie so in ihrer Nacktheit und mit Dreck beschmiert versuchte, an
dem Reiter herum zu zerren, erinnerte ihn an eine gierige Hyäne, die sich mit ihrer Beute deutlich übernommen
hatte.
Langsam gewann er seine Fassung zurück: »Verflucht noch mal, Antarona.., was tust du da
eigentlich?«, schrie er sie entsetzt an. »Der Mann ist tot..! Der ist richtig tot.., du hast ihn umgebracht..!« Fast
überschlug sich Sebastians Stimme vor Aufregung.
Antarona sprang auf, stand mit zwei Schritten vor ihm, fasste mit beiden Händen seinen Kopf und
schüttelte ihn heftig: »Na, was denn sonst...!«, fauchte sie ihn an. Sebastian erschrak! War das noch die
begehrenswerte Antarona, die einmal seine kleine, geliebte und warmherzige Janine gewesen war? Nie hatte er
sie so wütend und so voll abgundtiefem Hass erlebt!
Ehe Sebastian noch weiter darüber nachdenken konnte, fuhr sie ihn scharf, aber mit unschuldigen
großen Augen, an:
»Ihr werdet mir jetzt helfen, Ba - shtie - laug - nids.., wir müssen schnell weiter.., los, fasst dort an...«
Mit dem Kopf nickte sie zu den Füßen des Toten hinüber. Etwas unbeholfen griff Basti unter die derben Stiefel
und hob den Leichnam an. Oder zumindest versuchte er es, denn an diesem Toten konnte man sich schlichtweg
einen Bruch heben!
Gemeinsam und unter größter Anstrengung schleiften sie den Toten quer über den Weg in das Gebüsch.
Dort bedeckte ihn Antarona oberflächlich mit Erde und Laub. Ohne sich noch einmal umzublicken, hetzte sie auf
den Weg zurück, hob die Streitaxt des toten Reiters auf und schippte damit das Blut vom Weg in das Unterholz.
Anschließend warf sie die Axt wie in einem Anfall von Ekel hinterher.
Verwundert sah ihr Sebastian zu, wie sie nun ihren ganzen Körper und ihr Gesicht mit dem Sand des
Weges abrieb. Freilich hatte er bereits davon gehört, dass Frauen Peeling mit Hingabe betrieben, doch was
Antarona dort tat, fand er in Anbetracht der Lage doch etwas übertrieben!
Erstaunlicherweise aber war der Dreck, den sie sich zur Tarnung auf ihren Körper geschmiert hatte,
einem feinen mehligen Staub gewichen, den sie sich jetzt mit den Händen von ihrer Haut klopfte. Zum Schluss
nahm sie den vertrockneten Zweig eines Strauches und verwischte die eindeutigen Spuren ihres Kampfes.
Keine Viertelstunde war seit dem Durchreiten der schwarzen Reiterkolonne vergangen. In dieser kurzen
Zeit hatten sie vorsätzlich einen Menschen ermordet, ihn beiseite geschafft und auch noch fast perfekt alle
Spuren beseitigt. Sie legten eindeutig ein flottes Tempo vor! Nur konnte Sebastian nicht unbedingt behaupten,
dass er sich noch wohl in seiner Haut fühlte, noch wusste er, was das alles zu bedeuten hatte.
Für Antarona schien dieses Verhalten ja durchaus alltäglich zu sein... Sie band das Pferd los, als wäre
sie mal eben einkaufen gegangen, flüsterte dem Tier etwas in die großen Ohren und schwang sich plötzlich mit
einem akrobatischen Satz hinter den klobigen Sattel auf seinen breiten Rücken, so dass ihre Waffen gegen den
Leib des Pferdes schlugen. Das hielt jedoch bemerkenswerter Weise still und Sebastian wunderte sich, dass ihm
die blanke Klinge ihres Schwertes keine Wunde zugefügt hatte.
Auffordernd hielt ihm Antarona den ausgestreckten Arm von dem schwarzen Gaul herab, auf dem sie
sich mit einer unglaublichen Sicherheit zu halten wusste: »Kommt, Ba - shtie Glanzauge.., Sonnenherz wartet
auf euch!«
Unschlüssig stand Sebastian vor dem mit kurzem, schwarzen Fell bespannten, riesigen Tier. Er mochte
schon keine Hunde.., aber nun noch ein Pferd?
»Ich geh’ da nicht rauf«, stellte er entschlossen fest, »eher renne ich im Dauerlauf hinterher!« Unter gar
keinen Umständen wollte Sebastian einsehen, sich noch auf ein weiteres, unsicheres Unternehmen aus Antaronas
Trickkiste einzulassen. Doch was macht Mann, wenn sich die Frau, die er liebt, etwas in den Kopf gesetzt hat...
»Ba - shtie.., macht schon«, zischte ihn Antarona eindringlich an und ihr Gesicht drückte eine
Verzweiflung aus, die ihm Angst machte. »Wir müssen fort von hier.., zum Weiler.., wir müssen reiten, wie der
Wind..!«
Unsicher griff Sebastian nach dem Bügel, aus Holz, oder Horn, der vorn am Sattel angebracht war und
zog sich ungelenk auf das Pferd hinauf. Antarona redete in einer fremden Sprache beschwörend auf das Pferd ein
und es hielt still, obwohl Sebastian seine Flanke mit seinem zappelnden Beinen traktierte.
Wer noch nie mit Pferden zu tun gehabt hat, kann kaum nachvollziehen, mit welcher Akrobatik er sich
zum ersten Mal in seinem Leben auf ein in jeder seiner Faser sich bewegendes großes Tier hinaufquälen musste.
Irgendwie zog und stemmte Sebastian sich hoch, hatte Mühe, sein Bein über das Sattelhorn zu bugsieren, ohne
dabei Antarona mit einem Fußtritt vom hinteren Rücken des Tieres zu fegen und ebenso viel Anstrengung
kostete es, sich trotz der Bewegungen des Tieres in diesem Sitz zu halten.
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Sobald er festgestellt hatte, wie breit so ein Pferderücken eigentlich war, hieb Antarona dem Pferd ihre
Füße in die Seite und rief einen kurzen Befehl. Das Tier schnaubte, machte einen Satz, bei dem sich Sebastian
schon wieder aus dem Sattel fliegen sah und trabte los. Während der ersten hundert Meter hing er auf dem Sattel
wie eine Wäscheklammer auf einem Besenstiel. Nach weiteren hundert Metern schrieb er in Gedanken seine
Männlichkeit ab und als sie aus dem Wald heraus ritten, glaubte Sebastian zu wissen, wie man auf einem solchen
Tier sitzen sollte.
Antarona indes klammerte ihre nackten Schenkel auf das Fell des Tieres hinter dem Sattel und umfasste
mit einem Arm Sebastians Körper, während ihre andere Hand, an ihm vorbei, das Pferd mit den Lederriemen
lenkte, die in komplizierter Weise um den Kopf des lebendigen Taxis geknüpft waren.
Das Angenehmste an diesem ersten Ritt in seinem Leben war noch die schöne Tatsache, dass Antaronas
warme Brüste auf Sebastians Rücken ruhten und er insgeheim etwas Gefallen an der Situation fand. So flogen
sie auf dem Rappen dahin und ehe sie sich recht besinnen konnten, erreichten sie das Dorf, das Sebastian noch
am Vormittag gemieden hatte.
Schon von Weitem vernahmen sie Lärm. Oder anders: Sie hörten Schreie, noch bevor sie den Dorfrand
erreichten. Nie zuvor in seinem dreißigjährigen Dasein hatte Sebastian jemals Menschen so schreien hören! Es
war kein gewöhnliches Schreien, mehr der Ausdruck von panischer Angst, von nacktem Entsetzen und tiefster
Verzweiflung, der vielstimmig den Kehlen von Männern, Frauen und Kindern entfuhr.
Als sie die ersten Hütten erreichten, rutschte Antarona mitten im Galopp rücklings vom Pferd und rief
Sebastian zu: »Springt ab, Ba - shtie, abspringen!«
Er sprang nicht ab. Sebastian flog herunter, sobald er sein Bein über den Sattel schwang. Abspringen
war etwas anderes! Unsanft landete er im Staub der Dorfstraße und sah dem Pferd nach, das einfach weiter
trabte. Mühsam rappelte er sich hoch und folgte Antarona, die im Laufen ihren Bogen spannte und einen Pfeil
aus ihrem Köcher fingerte.
Stets Deckung an einem Zaun, oder einer Hüttenwand suchend, huschte Antarona an den Behausungen
vorbei, dem Lärm entgegen. Menschen kamen ihnen weinend und schreiend entgegen. Ein alter, grauhaariger
Mann stand wie in Trance auf der Dorfstraße, blutüberströmt, und rief irgendeinen Namen. Ein Stück weiter
rannte eine Frau auf sie zu, ihr einfaches Kleid in Fetzen gerissen, blutig, mit einem kleinen Kind auf dem Arm,
ihre Augen vor Entsetzen geweitet.
Je näher sie dem Dorfplatz kamen, desto schrecklicher wurden die Szenen. An einer Straßenecke stand
ein einfaches Heustadel, typisch auf Holzstümpfen aufgebockt. Davor saß eine junge Frau, die mit ähnlichen,
spärlichen Leder- und Fellresten bekleidet war, wie Antarona. Das Mädchen war kaum älter, als achtzehn, oder
zwanzig Jahre. Blut tropfte aus ihrem Gesicht und von ihren Beinen, sie sah Sebastian apathisch und mit einem
irren, ängstlichen Blick an.
Er wollte zu ihr gehen und ihr irgendwie helfen, doch schon war Antarona da, zog ihn am Arm fort und
zischte ihm zu: »Weiter.., Ba - shtie, weiter.., nicht stehen bleiben.., weiter.., und vorsichtig!«
Unverhofft bogen sie um eine Hütte herum und... Sahen sich einem der schwarzen Reiter gegenüber. Er
saß vor der Eingangstür der Hütte auf seinem Pferd und ließ das Tier den reich verzierten Zaun und das dahinter
liegende Gemüsebeet zertrampeln. In der einen Hand hielt er ein riesiges beflecktes Schwert und in der anderen
etwas, das Sebastian wegen des Rappen nicht gleich erkennen konnte.
Als er Antarona bemerkte, wendete er sein Pferd in ihre Richtung und Sebastian sah, was er mit seiner
anderen Hand umklammert hielt und er war völlig fassungslos, ob der Brutalität, die dieser Mann an den Tag
legte. Eine junge Frau in ungefähr Antaronas Alter, die ebenfalls einen Zweiteiler aus Fell und Leder trug, hatte
Mühe, den wilden Hufen des Pferdes auszuweichen, wenn ihre Füße einmal den Boden berührten. Denn der
Reiter hielt ihr Oberteil am Knoten in seiner Faust, so dass sie ständig gegen die Flanke des Pferdes stieß, das
sich dabei immer wilder gebärdete.
Doch schon in dem Moment, da sich der Schwarze Antarona und Sebastian zuwandte und das Mädchen
achtlos in das zerwühlte Beet fallen ließ, war er bereits tot. Der Pfeil, der im Bruchteil einer Sekunde von
Antaronas Sehne schnellte, zertrümmerte ihm mit einem Schlag den Adamsapfel. Eine Weile saß er noch auf
seinem Gaul. Dann verlor er die Kontrolle über das Pferd und stürzte mit einem splitternden Krachen auf den
kunstvollen Zaun.
Antarona kümmerte nicht weiter um ihn, sondern lief zu dem Mädchen und sagte ihr etwas in ihrer
fremden Sprache, die Sebastian nicht kannte. Die junge Frau rappelte sich auf und ging schwankend in die
Richtung, aus der sie gekommen waren.
Schon hetzte Antarona weiter, ihren Bogen bereits erneut in Schussposition. Das Ganze erinnerte
Sebastian an den Häuserkampf um Berlin, gegen Ende des Zweiten Weltkriegs. Nur, dass hier nicht mit
Maschinengewehren um Häuser, sondern mit Pfeilen, Äxten und Schwertern um Hütten gefochten wurde.
Als sie den Dorfplatz erreichten, bot sich Sebastian ein Bild des Grauens. Ungefähr acht der schwarzen
Reitersoldaten hatten die Menschen des Ortes zusammen getrieben und hielten diese in Schach. Mindestens zwei
weitere Reiter waren von ihren Pferden abgestiegen und gingen von Hütte zu Hütte. Irgendwo in den ärmlichen
Behausungen hörte Basti Frauen schreien und Männerstimmen wütend brüllen.
Schon sauste ein weiterer Pfeil von Antaronas Bogensehne und traf einen Reiter in die Schulter, der
gerade dabei war, mit einer Kettenkugel einen Mann nach dem anderen niederzustrecken. Wahllos ließ dieser
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seine schwere Kugel in die Menge der aufgestellten Männer und Jungen fahren und wie ein Sturm die Bäume, so
fällte die Eisenkugel gleich mehrere Opfer. Antaronas Pfeil beendete den Sturm.
Der nächste Reiter, den sie anvisierte, war gerade dabei, vier bis fünf fliehende junge Frauen mit seinem
Pferd nieder zu reiten. Wohin sich die Frauen auf dem offenen Platz auch wendeten, er folgte ihnen und sein
Pferd schien sie blind zu überrennen. Gerade hetzte er ein größeres Mädchen, das schreiend versuchte, davon zu
laufen. Der schwarze Soldat ritt heran und versetzte dem Mädchen mit seinem groben Stiefel im vollen Lauf
einen Tritt in den Rücken. Die Frau stürzte, rollte durch den Staub und blieb liegen.
Bevor der Mann auf die nächste Frau losgehen konnte, traf ihn Antaronas Pfeil im Rücken. Er stürzte
vom Pferd und kroch ein paar Meter auf allen Vieren, bevor er sich mühsam aufrichtete und seine Verletzung
einem Kameraden zeigte.
Gleich nach dieser Attacke zog sich Antarona hinter die Hütte zurück und zog Sebastian hinter sich her.
Wenngleich er auch vom Geschehen völlig überrascht war, begriff er doch sofort ihre Taktik. Angreifen,
zurückziehen, wieder angreifen und wieder zurückziehen, jedes Mal aus einer anderen Ecke. Die schwarzen
Reiter konnten mit ihren heruntergeklappten Visieren gar nicht so schnell erfassen, aus welcher Richtung die
Gefahr kam.
Vorsichtig huschten sie von Stadel zu Hütte, durch kleine Gassen, teilweise durch Ställe, bis sie die
gegenüberliegende Seite des Dorfplatzes erreichten. Antarona spannte erneut den Bogen und ihr Pfeil sirrte
durch die Luft. Er schlug einem Reiter so heftig in den Oberschenkel, dass er diesen glatt durchbohrte und in den
Körper des Pferdes drang. Vor Schreck ging das Tier mitsamt seinem Reiter durch, galoppierte eine Gasse
hinauf und ward nicht mehr gesehen.
Noch immer standen die Dorfbewohner zusammen getrieben im Kessel aus schwarzen Reitern,
ängstlich und eingeschüchtert. Die Soldaten, die sie bewachten, ließen ihre Pferde hin und her tänzeln und sahen
sich nervös um. Inzwischen hatten sie bemerkt, dass Pfeile aus dem Nichts ihre Reihen lichteten. Einige klappten
ihre Visiere hoch, um besser sehen zu können. Doch es half ihnen nichts...
Wieder schwirrte ein Pfeil heran, durchschlug die eiserne Rüstung und blieb einem Häscher in der
Nierengegend stecken. Er brüllte vor Schmerz, riss wütend sein Pferd herum und ritt im Kreis, weil er wohl
glaubte, so den verborgenen Schützen entdecken zu können.
Doch Antarona zog sich sofort nach dem Schuss wieder in ihre Deckung zurück. Sebastian fragte sich,
wie weit dieses Spiel gut gehen konnte, bis man sie entdeckte. Aber immer mehr packte ihn das Jagdfieber und
er empfand ein wenig Gefallen an dieser Möglichkeit, dieser brutalen Horde den Garaus zu machen. Einzig und
allein hatte er ein Problem damit, dass bereits ein Mann getötet und mindestens einer schwer verletzt wurde. Er
betete, dass die Gerichtsbarkeit hierzulande ein offenes Ohr für Selbstverteidigung hatte.
Plötzlich brüllte einer der Schwarzen ein paar kurze Befehle. Daraufhin trieben die Reiter ihre Pferde in
die Gruppe Mädchen und junger Frauen, die hysterisch schreiend auseinander rannten. Aber es nützte ihnen
nichts. Die Reiter folgten ihnen, trieben sie über den Platz und jeder Soldat griff sich eine junge Frau, zog sie zu
sich herauf und warf sie sich brutal über den Sattel. Die Mädchen schrien und zappelten mit den Beinen..,
erfolglos! Die Reiter behielten sie fest in ihren Klauen und dachten gar nicht daran, sie wieder frei zu lassen.
Dann setzte sich der Reiterpulk in Bewegung. Aus einer Hütte kam noch ein schwarzer Mann gehetzt,
ein strampelndes älteres Mädchen unter dem Arm, gefolgt vom Schreien und Flehen seiner Eltern.
Unbeeindruckt schwang sich der Schwarze auf sein Pferd, zog die Frau zu sich hinauf und schloss sich dem
Trupp an.
Mit einem fragenden Blick auf ihren Bogen sah Basti Antarona an. Sie schüttelte den Kopf und legte
ihm ihre Hand auf den Arm. Anscheinend wollte sie nicht riskieren, eine der jungen Frauen zu treffen. Sie
blieben in Deckung und sahen zu, wie sich der Reitertrupp in einer lang gezogenen Staubwolke entfernte.
Als sich der Straßenstaub verzogen hatte, bemerkten sie, dass vor einer Hütte immer noch ein Pferd
stand. Aus dem Innern drangen die fürchterlichen, verzweifelten Schreie einer Frau. Antarona gab ihrem neuen
Gefährten ein Zeichen und sie pirschten sich vorsichtig an die Hütte heran.
Kurz bevor sie diese erreichten, kam ein schwarzer Reiter mit heruntergeklapptem Visier laut polternd
aus dem Holzhaus. Unbarmherzig schleifte er eine junge Frau mit langen dunklen Haaren am Handgelenk heraus
und warf sie achtlos zu Boden. Dann schwang er sich auf sein Pferd und wollte die Frau zu sich in den Sattel
ziehen. In diesem Augenblick traf ihn Antaronas Pfeil in das Wadenbein. Sebastians Krähenmädchen hatte wohl
nicht damit gerechnet, dass sich der Reiter zu der Frau herunterbeugen würde.
Der Pferdesoldat brüllte auf, fluchte auf lästerlichste Weise, zog das Pferd herum und trabte auf
Antarona los. Dabei schwang er eine gezackte Kettenkugel. Sebastian erkannte sofort, dass er sie niederreiten
würde, denn Antaronas Köcher war leer. Sie hatte bereits alle Pfeile verschossen. Geistesgegenwärtig nahm er
einen faustgroßen Stein aus dem Blumengarten der Hütte auf und warf ihn dem Reiter an den Kopf. Mit einem
dumpfen Klong flog das Geschoss gegen seinen Helm.
Gleichzeitig kamen vom anderen Dorfende her ein paar jüngere Männer gelaufen, mit Heurechen,
Äxten und Knüppeln bewaffnet. Beim Anblick des Reiters stockten sie jedoch. Der ließ plötzlich seine
Kettenkugel fallen, trabte dicht an Antarona heran, beugte sich etwas herab und ergriff sie an ihrem
Lederoberteil, bevor sie noch ihr Schwert ziehen konnte! Er ließ sein Pferd sich auf den Hinterhufen drehen und
schleuderte Antarona wie ein welkes Blatt herum.
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Aus Angst und Verzweiflung bückte sich Sebastian, hob den nächsten Stein auf und warf das Geschoss
gegen den Ritter, das jedoch wirkungslos den Brustpanzer seiner Rüstung traf. Sebastian wunderte sich, dass
sonst niemand von den Bewohnern auf die Idee kam, Wurfgeschosse zu verwenden. Die Verteidigung mit
Knüppeln, Äxten und Rechen war gegen Schwerter und Lanzen nicht sonderlich effektiv.
Der Reiter bemühte sich, Antarona auf sein Pferd zu ziehen, doch sie wehrte sich laut kreischend mit
dem verbissenem Mut einer Wölfin. Sebastian war klar, dass eine zierliche, halbnackte Frau gegen einen
gepanzerten, ausgewachsenen Krieger keine Chance hatte, wenn er sie erst einmal in seinen Fängen fest hielt.
Mit einer Mischung aus Wut, Angst und Verzweiflung hob er gleich mehrere Steine auf und sein Arm
wurde zur Steinschleuder. Klong, Klack, Klung, nacheinander schlugen seine Geschosse auf der Oberfläche des
feindlichen Helms ein. Der letzte Stein, etwas schwerer, als die anderen, traf voll das Visier, riss es aus der
Verankerung des Helms und drückte es dem düsteren Soldaten nach innen in das Gesicht.
Augenblicklich ließ der von Antarona ab, zog ein Kurzschwert aus einer mit Metallnoppen verzierten
Scheide, wandte sich im Sattel um und suchte laut brüllend nach der Ursache der harten Attacke. Dabei bäumte
sich unverhofft sein Pferd auf, er ruderte mit den Armen, ließ das Schwert fallen, verlor den Halt und stürzte wie
ein gefällter Baum aus dem Sattel.
Was Sebastian dann erlebte, war so unverständlich, so roh und brutal, dass es ihm schlicht die Sprache
versagte. Der Krieger war noch nicht ganz auf dem Boden aufgeschlagen, da stürzten sich bereits die
Dorfbewohner, die bisher nur wie gelähmt dagestanden hatten, auf ihn. Ohne zu zögern, ohne auch nur darüber
nachzudenken, droschen sie mit allem, was sie greifen konnten auf ihn ein. Sie zeigten keinerlei Hemmungen
oder Gnade in ihrem Handeln.
Selbst als bereits Blut aus den Fugen der schwarzen Rüstung quoll, schlugen und stachen sie
erbarmungslos auf den wimmernden Leib ein, bombardierten ihn mit Steinen, traten ihn wahllos in den Körper.
Wie in einem ekstasischen Rausch prügelten Männer und Frauen, alte und junge auf dem Körper herum, der bald
nur noch eine regungslose, blutige und breiige Masse aus Fleisch, Knochen und Metall war. Jeder Stein, der
noch den leblosen Haufen traf, verspritzte das Blut meterweit in die Runde.
Antarona war inzwischen wie eine Katze auf die Beine gesprungen, stellte sich neben Sebastian und
beobachtete stumm das schockierende Geschehen.
Erst, als ein älterer, weißhaariger Mann wie aus dem Nichts hinzutrat und einen kurzen energischen
Befehl sprach, ließ der Mob von dem Klumpen ab, der einmal ein Mensch gewesen war. Eine unnatürliche Stille
breitete sich über dem Dorfplatz aus. Das graue Entsetzen packte Sebastian und er stand bis in die letzte Faser
seines Körpers und Geistes erschüttert auf dem Dorfplatz, zu keiner Reaktion mehr fähig.
Was war das da gerade eben? Hatte er hier an dieser Stelle, vor nicht ganz einer Minute mit angesehen,
wie ein Mann in einem Blutrausch zerstückelt, ja geradezu zerhackt wurde? Schweigen. Nur hier und dort hörte
Sebastian eine menschliche Stimme schluchzen oder bitterlich weinen.
Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, löste sich der Pulk der Dorfbewohner allmählich auf. Einige
schienen wieder ihrer Beschäftigung nachzugehen, als wenn nichts geschehen wäre. Andere irrten noch ziellos
umher und riefen die Namen von Angehörigen, die sie offenbar vermissten und wieder andere saßen nur stumm
im Sand des Platzes, die Hände vor das Gesicht geschlagen.
Antarona stand lässig da, als hätte sie einem Murmelspiel beigewohnt. Ihr Gesicht strahlte eine
Gleichgültigkeit und Gnadenlosigkeit aus, beinahe wie eine Genugtuung, die Sebastian erschreckte. Dann griff
ihre Hand seinen Arm:
»Kommt, Ba - shtie, Mann mit den Zeichen der Götter!« Sie zog ihn vom Dorfplatz fort, durch mehrere
kleine Gassen, durch den hohen Zaun, der an einigen Stellen das Dorf umgab auf eine Wiese und zu einem
kleinen See, der von einem Bach gespeist wurde und halb von Bäumen und Sträuchern, sowie von einem
Schilfgürtel eingefasst war.
Ruhig und selbstsicher stieg sie die Uferböschung hinab, legte ihre Waffen ab und zog ihre
Fellmokassin und ihr Oberteil aus. Dann drehte sie sich bestimmt zu Sebastian um und wies auf die blanke
Wasserfläche: »Waschen!«
Er sah sie entgeistert an und wollte nicht so recht begreifen. »Waschen«, wiederholte sie und wies auf
Sebastians Hose, die übersät war mit großen und kleinen Blutspritzern. Die hatte er gar nicht bemerkt. Erst jetzt
gewahrte er, dass auch Antaronas nackte Beine, sowie ihr Bauch mit dem Blut des bösen Kriegers bespritzt war.
Verständnislos schüttelte Sebastian den Kopf. Hier wurde wie ganz selbstverständlich ein Mensch
getötet, ja sogar mit glühendem Hass regelrecht dahingeschlachtet und anschließend ging man zur Tagesordnung
über. Man ging einfach Waschen! Und dann widmete man sich wieder seiner alltäglichen Tätigkeit.
Antarona begann sich von Kopf bis Fuß gründlich abzuschrubben und zu einer anderen Zeit hätte
Sebastians Phantasie bei ihrem Anblick Purzelbäume geschlagen. Doch nach dem gerade Erlebten war er nicht
mehr in der Stimmung, ihr sehnsuchtsvolle Gefühle entgegen zu bringen. Im Gegenteil! Vor ein paar Stunden
erst war Antarona nach langer Zeit wieder in sein Leben getreten... Und schon gab es Tote! Was für ein
Alptraum war das hier?
Auf einem Mal brach die ganze, tagelang angestaute Anspannung aus Sebastian heraus und er musste
sich einfach Luft machen:
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»Sag mal, was soll denn das überhaupt heißen...«, rief er Antarona entrüstet hinterher, »...erst hältst du
mir deine Mordwaffe unter die Nase, dann hetzt du mich den ganzen Weg durch den Wald zurück, um einen
Menschen ins Jenseits zu befördern, dann stehlen wir sein Pferd und ziehen in einen Krieg, der mich überhaupt
nichts angeht und bringen einfach mal eben so drei Männer um, wahrscheinlich sogar vier...«
Antarona strich sich ihre nassen Haare hinter ihre Ohren, drehte sich zu ihm um und wollte etwas
erwidern. Doch Sebastian ließ sie erst gar nicht zu Wort kommen:
»...Nein halt, warte.., ich habe mich geirrt! Den dritten Mann haben wir ja gar nicht umgebracht, wir
haben ja nur zugesehen, wie er regelrecht zu Fischfutter verarbeitet wurde... Und jetzt gehen wir erst mal
gemütlich baden, was?!«
Antarona hielt nach seiner sarkastischen Anklage mit dem Waschen inne, legte die Hände auf ihre
blanken Brüste und stand reglos tropfend im Wasser. Ihr Mund stand halb offen und ihre Augen blitzten und
funkelten gefährlich.
Wie von einem Katapult geschossen watete sie aus dem See heraus, eine spritzende Bugwelle vor sich
her schiebend. Ohne sich Zeit zu nehmen ihre Brüste zu bedecken, raste sie wie eine wilde Furie auf Sebastian
los und stemmte ihre kleinen Fäuste in die Hüfte. Mit einem wilden, ungezügelten Blick, den ihr Basti gar nicht
zugetraut hatte, sah sie ihn herausfordernd und tief in die Augen:
»So.., Ba - shtie..! Das ist also nicht euer Krieg, ja?« Antarona fauchte ihn scharf an, als wollte sie ihn
im nächsten Augenblick in Stücke reißen. Ihre Augen sprühten vor zorniger Entschlossenheit und ihr
verachtender Blick durchdrang jede Faser seines Körpers. Wütend zischte sie ihm ins Ohr:
»Gut.., Ba - shtie - laug - nids.., dann will ich euch etwas zeigen...« Mit diesen Worten wandte sie sich
abrupt von ihm ab, zog sich in Windeseile wieder an, hängte sich ihre Waffen um und umfasste sein
Handgelenk. Sie war so aufgebracht, dass sie ihm beinahe die Hand abriss, als sie Sebastian energisch hinter sich
her zog. Zielstrebig führte sie ihn zurück in das Dorf, durch zwei oder drei Gassen, einen schmalen Weg
zwischen Hütten entlang, bis sie unvermittelt vor einer ärmlich aussehenden Hütte anhielt.
Leichfüßig sprang sie über den kleinen Zaun, den das Grundstück umgab und rief ihm gleichzeitig zu:
»Gebt genau acht, Mann mit den Zeichen der Götter!«
Dann stieß sie mit einem kräftigen Schlag die Tür auf und zog Sebastian in das Innere der Hütte. In dem
einfach eingerichteten Raum saß eine Familie am Tisch und aß trockenes Brot. Vater, Mutter und drei Kinder
starrten sie überrascht an, völlig überrumpelt von Antaronas unerschrockenem Auftreten. Bastis Krähenmädchen
sagte etwas in der fremden Sprache zu ihnen und begab sich in den hinteren Bereich des Raumes.
Erst jetzt nahm er eine weitere Gestalt wahr, die neben einem Kamin in Decken und Felle eingehüllt
dasaß. Er trat näher heran und erkannte eine dürr wirkende, junge Frau, von etwa siebzehn bis zwanzig Jahren,
die stumm auf der Bank hockte und ihr sehr feines, hübsches Gesicht hinter schwarzen Haarsträhnen zu
verbergen suchte. Graugrüne, teilnahmslos zu Boden starrende Augen blickten darunter hervor. Diese Augen
hatten jeglichen Glanz und jede Lebensfreude verloren. Es waren tote Augen.
Antarona redete beruhigend auf das Mädchen ein. Sie streichelte ihm zärtlich die Wangen und den
Kopf. Dann küsste sie das Mädchen behutsam auf die Stirn und Sebastian fragte sich, welche Wandlungen
Antarona ganz spontan noch vollziehen konnte. Eben noch hätte sie ihm vor Zorn beinahe die Augen
ausgekratzt, im nächsten Moment legte sie eine Sanftmütigkeit an den Tag, die der eines Engels glich.
Vorsichtig, mit dem Hauch einer Bewegung nahm sie dem Mädchen die Decke von den Schultern.
Dann drehte sie sich zu Sebastian um:
»Ihr glaubt, unser Krieg geht euch nichts an, Ba - shtie - laug - nids.., Mann mit den Zeichen der
Götter.., dann seht genau her... Unsereins kann das Leid dieses Landes nicht laut genug hinaufschreien, damit es
die Götter auch ja hören!« Antarona schrie es ihm mit bebender, zitternder Stimme ins Gesicht und drehte den
nackten Oberkörper des Mädchens in den Schein des brennenden Kamins.
Bei dem Anblick, der sich im zuckenden Schein des Feuers bot, drehte sich Sebastian der Magen um.
Plötzlich hatte er einen dicken Kloß im Hals, sein Mund wurde staubtrocken, seine Hände begannen zu
schwitzen und das Blut sackte ihm vor Schreck aus dem Gesicht. Eine Eiseskälte des Entsetzens ließ ihn am
ganzen Körper zittern.
Dieses Mädchen mit dem hübschen, zarten Gesicht, war kein Mädchen mehr! Ihre Schultern und ihr
Rücken waren dicht übersät von schwarzen, verschorften Striemen, die von unzähligen, heftigen Peitschenhieben
oder Stockschlägen stammen mussten. Aber das war noch harmlos. Basti würgte und musste dagegen
ankämpfen, sich nicht zu übergeben, als er das Mädchen von vorn betrachtete...
Kreuz und quer, mit wahllosen Schnitten und Stichen hatte man ihr die Brüste zerschnitten, ja bis zur
Unkenntlichkeit verstümmelt! Die vielen, schwarz, lila und gelblich gefärbten Wunden wollten offensichtlich
nicht mehr heilen. Eiterige Flüssigkeit und Wundwasser verkrusteten die Wundränder, oder liefen in kleinen
Rinnsalen über ihren jungen Körper.
In ihren Bauch hatte man mit tiefen, präzisen Schnitten ein Muster geritzt, das dem Symbol ähnelte,
welches die schwarzen Reiter auf ihren Hemden trugen. Die Schnitte hatten sich hoffnungslos entzündet und
waren rotgerändert und aufgequollen.
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Die Innenseiten ihrer Schenkel hatte jemand barmherzig mit leichten, feinen Tüchern bedeckt, durch
deren dünnen Stoff ebenfalls Wundflüssigkeit trat. Nur die grausamste aller Vorstellungen konnte Basti erzählen,
welche Marter dieses arme Geschöpf überlebt haben musste. Betreten und tief berührt blickte er zu Boden.
Antarona hielt das Mädchen an den Oberarmen umfasst, damit es nicht in sich zusammensank. Dann
sagte sie mit Tränen gefüllten Augen und kraftlos leise:
»Schaut nur genau hin, Ba - shtie - laug - nids.., seht es euch ganz genau an...« Fast versagte ihr die
Stimme und in einem plötzlich aufwallenden Weinkrampf schluchzte sie anklagend:
»Seht es euch ruhig ganz genau an, Mann von den Göttern, damit ihr es ja nie wieder vergesst... Das tun - sie - mit - uns!« Die letzten fünf Worte stieß sie mühsam, schluchzend hervor, wobei sich ihre Stimme
endgültig überschlug. Sie setzte das Mädchen wieder sanft zurück auf die Kaminbank. Gleich darauf hielt sie
sich die Hände vor das Gesicht und taumelte zur Eingangstür zurück. Die ganze Energie, die sie bis dahin
unerschöpflich in sich getragen hatte, schien aus ihrem Körper gewichen zu sein. Schwach, wie eine leere, nasse
Papierhülle stützte sie sich gegen den Türrahmen und begann hemmungslos und laut zu weinen.
In diesem Moment standen auch Sebastian die Tränen in den Augen. Vorsichtig nahm er die Decke vom
Boden auf und hängte sie dem apathisch dreinblickenden Mädchen wieder um.
Unsicher ging er zu Antarona hinüber, drehte sie an den Schultern herum und zog sie zu sich heran. Sie
klammerte sich an ihn, verbarg ihr Gesicht an seiner Brust und er spürte, wie ihre heißen Tränen an ihm herunter
liefen. Ein Beben und Zittern schüttelte ihren Leib und sie weinte sich all das von der Seele, was offenbar seit
langem in ihrem Herzen gefangen war.
Sebastian nahm seinem Krähenmädchen die Waffen ab, hob sie hoch und war erstaunt, wie leicht sie
war. Ohne zu fragen trug er sie in die Hütte zurück und setzte sie zu dem misshandelten Mädchen auf die
Ofenbank. Anschließend kniete er sich neben sie und legte seine Arme beschützend um ihren zitternden Körper.
Die Familie des Mädchens hatte bis dahin still und stumm am Tisch gesessen und sich nicht gerührt.
Nun aber sagte die Mutter etwas in der fremden Sprache und erhob sich von der Tafel. Gleichzeitig rutschten die
Kinder von ihren Stühlen und gingen diszipliniert und ohne zu Murren in einen angrenzenden Raum.
Als letzter erhob sich der Vater von seinem Stuhl und kam zu Sebastian herüber. Mit bittender Mine
sprach Basti ihn an, erwartete jedoch nicht, dass er ihn verstehen würde: »Verzeiht bitte unser Eindringen, wir
wollten euch nicht belästigen...«
»Belästigen..?«, fragte ihn der Mann erstaunt und Sebastian wunderte sich seinerseits, dass dieser seine
Sprache beherrschte. Er sprach mit einem derart holzigen Akzent, dass Lauknitz ihn kaum verstand, doch er
benutzte seine Sprache!
»Sonnenherz belästigt uns nicht«, stellte er bestimmt fest und fuhr fort: »Sonnenherz und alle ihre
Freunde sind in meinem Haus zu jeder Zeit willkommene Gäste! So viele Opfer hat Sonnenherz schon für uns
gebracht, wir sind stolz darauf, wenn sie sich an unserem Feuer wärmt.«
Neugierig sah Sebastian den Mann an. Er sah aus wie Ende vierzig, trug einen kurzen, aber vollen Bart
und besaß ein gutmütiges, freundliches Gesicht. Seine Augen und seine faltigen Züge erzählten von einem
harten, entbehrungsreichen Leben. Dennoch strahlte eine unvergängliche, entwaffnende Hoffnung aus seinem
Lächeln. Ohne, dass Basti ihn dazu aufforderte, sprach er weiter:
»Ohne den Mut von Sonnenherz hätten wir unsere Tochter nie wieder gesehen. Torbuks Männer hatten
sie und viele andere junge Frauen verschleppt. Alle hatten Angst und waren froh, dass die Horden wieder
abzogen und nicht alles verbrannten. Keiner unserer Männer wagte es, sich ihnen in den Weg zu stellen. Doch
Antarona nahm sich einfach das Pferd eines gefangenen Kriegers und jagte der Armee Torbuks tagelang nach,
bis es ihr, mögen die Götter wissen wie, gelungen war, unser Kind aus den Klauen der wilden Horden zu
befreien. Ohne auf sich selbst zu achten, beschützte und pflegte sie unser Kind und brachte es zu uns nach Hause
zurück.«
Er machte eine kurze Pause und fügte dann hinzu: »Ja.., so ist das gewesen.., drei Monde ist das jetzt
her... Oh ja, Herr, das könnt ihr einem Vater glauben, Sonnenherz und ihre Begleiter, wer immer sie auch sein
mögen, werden stets einen Platz an unserem Ofen finden, solange ich atme!«
Mittlerweile hatte sich Antarona wieder so weit gefangen, dass sie sich aus Sebastians Armen löste und
aufstand. Sie legte ihre Hände auf des Mannes Arm und sagte leise:
»Lasst’s gut sein, Wasserbauer, ihr habt ebenso viel für das Volk getan.., habt immer geholfen, wo Hilfe
gebraucht wurde!«
Antarona legte noch einmal liebevoll beschützend ihre Hand auf den Kopf des Mädchens und wandte
sich dann der Tür zu, um sich wieder ihre Waffen umzuhängen.
»Bleibt in dieser Nacht unter unserem Dach. Mein Weib richtet euch ein weiches, warmes Lager und
wir brechen gern unser Brot mit euch!«, bot der Mann ihnen an und wartete mit fragendem Blick.
Dankbar sah Antarona ihn an: »Wir ehren euer Angebot, doch wir müssen das Tal hinab, Sonnenherz
und Glanzauge..«, dabei zeigte sie auf Sebastian, »...müssen herausfinden, wohin die wilden Horden ziehen.
Dann werden wir dem Achterrat berichten, was wir erfahren haben!« Sie machte eine kurze Pause und wandte
sich schon zum Gehen, drehte sich aber noch einmal um und sagte:
»Es ist nicht gut, wenn ihr Sonnenherz unter euer Dach lasst. Das Dorf hat unsichtbare Ohren.., wenn
Torbuk oder Karek erfahren, dass ihr uns Schutz und Speise gewährt...« Sie ließ den Satz offen im Raum stehen.
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Doch der Mann und Sebastian verstanden auch so, was sie damit sagen wollte. Zu welch grausamen
Vergeltungsschlägen die schwarzen Reiter fähig waren, hatten sie an diesem Nachmittag zur Genüge bewiesen!
Schon war Antarona wieder über den Zaun gehüpft. Sebastian drehte sich noch einmal zu dem Mann
um und drückte ihm zum Abschied die Hand. Er tat erstaunt, anscheinend war eine solche Geste hierzulande
nicht üblich. Doch er verstand sie. Mehr noch, er ließ Sebastians Hand nicht mehr los. Freundlich, ja fast
väterlich sah er ihn eindringlich an:
»Ihr seid der erste Mann, den unsere Schwester Sonnenherz an ihrer Seite duldet.., seid ihr mit ihr
verbunden..?« Diesen Satz ließ er wie eine Frage klingen. Ohne eine Antwort abzuwarten, sprach er weiter:
» Ihr habt eine gute Wahl getroffen, Herr! Doch seid ihr euch sicher, dass ihr diese Frau zum Weibe
wollt? Mit Sonnenherz ladet ihr euch das Gewicht der ganzen Welt auf die Schultern und wisst doch nie, ob es
das Richtige ist. Sonnenherz ist wie die Mutter der Seelen und wie eine Felsenbärin gleichermaßen. Sie ist die
Hoffnung aller Menschen hier im Tal. Und sie ist des Holzers liebstes Kind, sein ganzer Stolz...« Seine Augen
schienen Sebastian zu durchbohren.
»Der Holzer ist ein guter Mann.., aber verstockt und eigensinnig. Eine raue, harte Schale umgibt sein
Herz, das vor Kummer krank ist! Seid ihr so stark, Herr, dass ihr ihm die einzige Rosenknospe in seinem Garten
nehmen könnt, ohne, dass er euch den Schädel einschlägt?« Er ließ seine Worte auf Sebastian wirken, als suchte
er nach Zweifel oder Unsicherheit in seinem Blick.
Abschließend drückte er ihm ein schweres Stoffbündel in die Hand, dessen vier Ecken mit einem
Knoten zu einer Trageschlaufe zusammen gebunden waren. Zuletzt sah er ihm noch einmal tief in die Augen:
»Gebt gut auf sie acht, auf die Rosenknospe, ja? Lasst sie zu einer Blüte sich entfalten, die unser Tal mit
neuem Licht beglückt, mit neuem, reinen Licht, das klar ist und nicht getrübt mit den Wurzeln der Schatten...
Gebt gut auf sie acht..!« Damit schloss er die Tür.
Nachdenklich stand Sebastian vor der Hütte, beeindruckt von dieser Ansprache, die er jedoch zu diesem
Zeitpunkt nicht begriff. Aber er war auch tief berührt von diesem Mann, einem Vater, der sein Kind wertschätzte
und liebte, auch wenn es ihm nie eine Hochzeit bescheren würde, nie wieder lachen würde und für immer seiner
hilfreichen Hand bedurfte. Ein Satz aber brannte sich in Sebastians Kopf ein und ließ sein Herz hüpfen: Ihr seid
der erste Mann, den unsere Schwester Sonnenherz an ihrer Seite duldet...
»Du.., Ba - shtie - laug - nids.., die Sonne geht alsbald zur Ruhe.., kommt, wir wollen auch unser
Ruhelager nicht kalt lassen!« Damit unterbrach Antarona seine Gedanken und schritt ihm voran, den Weg aus
dem Dorf hinaus, in Richtung des Waldes, wo der verscharrte Reiter lag.
»Wohin gehen wir...«, fragte Sebastian sie, denn er befürchtete noch einen längeren Fußmarsch. In
dieser Hinsicht hatte er an diesem Tag schon zu viel geleistet. Am Morgen das ganze Tal hinab bis zur
Felsbarriere, dann durch die Schlucht, auf dieser Seite wieder zu Tal, durch den Wald zum See, wieder zurück
auf einem durchgedrehten Pferd, dann dieses Gemetzel... Sein Bedarf für diesen Tag war über die Maßen
gedeckt!
»Unser Weg führt zu unseren Bündeln...«, antwortete Antarona knapp, »...Der Wind vom Eis der Berge
greift nach uns, wenn sich der Gott des ewigen Lichts zur Ruhe begibt.«, erklärte sie umständlich. Sebastian
verstand natürlich genau, was sie ihm mitteilen wollte. Mit ihren Worten vermittelte sie ihm, dass es erbärmlich
kalt werden würde, wenn die Sonne hinter den Bergen verschwand und diesen ereignisreichen Tag der stillen,
trauernden Nacht überließ.
Den ganzen Weg zum Wasserfall wieder zurück! Das hatte ihm noch gefehlt. Wenn sie dort
angekommen waren, würden seine Füße wohl nur noch aus einem Stück rohen Fleisches bestehen...
Schweigend gingen sie nebeneinander her, die sich bereits verabschiedende Sonne wärmend im
Rücken. Mit einem seitlichen Blick beobachtete er Antarona verstohlen. Erst jetzt kam er dazu, sich über das
Krähenmädchen Gedanken zu machen, das einmal seine Janine gewesen und plötzlich wie ein Wirbelwind nach
einer ewig währenden Zeit der Sehnsucht wieder in sein Leben getreten war.
Als Janine ihn verließ, waren sie beide gerade mal neunzehn Jahre jung. Inzwischen war Sebastian
dreizehn Jahre älter geworden, gelangte in den Bergen des Wallis und Berner Oberland zu einer inneren Einkehr,
zu einer Reife, die ihn auch im Herzen ruhiger werden ließ. Schneestürme, Lawinen, Eis- und Steinschlag,
soundso viele Nächte in eiskalten Biwaks und auf harten Böden, sowie schreiende Einsamkeiten hatten ihn auch
äußerlich geprägt.
Wenngleich ihm fast täglich Kunden, Freunde und Bekannte sagten, er hätte sich gut gehalten für sein
Alter, so wusste er doch um die kleinen Fältchen in seinem Gesicht, die ab und zu Besuch bekamen, von anderen
Fältchen, denen es auf seinem Antlitz so sehr gefiel, dass sie einfach blieben. Er lernte mit den Schmerzen in
seinem Tennisarm zu leben, akzeptierte seine regelmäßig wiederkehrende Migräne und macht sich nicht mehr
allzu viele Hoffnungen, jemals seine Rückenschmerzen los zu werden.
An Janine aber war die Zeit spurlos vorüber gegangen.., mehr noch, Antarona wirkte jünger und agiler,
als er Janine in Erinnerung hatte, zu der Zeit, als er sie damals kennen lernte. Antarona war gelenkiger und
schneller, sah beinahe jugendlich aus, selbst ihre Charaktereigenschaften schienen als Antarona ausgeprägter zu
sein. Alles in allem blieb nur die Erklärung, dass sie in einen Jungbrunnen gefallen war.
Freilich schloss Sebastian die Möglichkeit nicht aus, dass er sie blind vor neugeborener Verliebtheit,
durch eine rosarote Brille betrachtete. Doch in Berücksichtigung der Tatsache, dass ihr unverkennbare
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Merkmale, wie ihr Seepferdchen- Tattoo und ihre kleine Narbe unter ihrem Bauchnabel schlicht fehlten, zwang
sich ihm eine andere Erklärung auf, die freilich nicht sein konnte: Sebastian hatte Janine an diesem Tag wieder
gesehen, doch bereits zwei Jahre vor der Zeit, als er sie das erste Mal kennen gelernt hatte.
Folglich war sie in dieser langen Zeit augenscheinlich zwei Jahre jünger geworden, wo sie doch nach
den Gesetzen der Natur hätte um dreizehn Jahre altern müssen. Eine dritte Möglichkeit, die Sebastian durch den
Kopf schoss, wäre unter normalen Umständen noch unglaublicher gewesen. Doch in einer Welt, die Gore,
Felsenbären, Hyänenhunde, brennende Libellen und andere unerklärliche Geschöpfe beherbergte, erschien sie
ihm doch als die plausibelste Erklärung von allen:
Antarona war ein Klon! Ein perfekt ausgeführter, genetischer Nachbau von Janine! Irgend jemand
bastelte und frickelte sich in diesen abgeschiedenen Tälern eine ganz eigene Welt, mit eigenen Naturlaunen,
Gesetzen und Geschöpfen zurecht, wie wenn einer sich eine Eisenbahnanlage zusammen baute! Doch wem und
wie war es möglich, von Janine, die Sebastian selbst an die Schwelle des Todes begleitet hatte, ein genetisch
identisches Duplikat herzustellen und dann auch noch entwicklungsbedingte Fehler, wie ein Tattoo, oder eine
Narbe zu korrigieren?
Und selbst wenn das möglich geworden wäre.., welche Rolle spielte er, Sebastian Lauknitz, dann in
diesem Theater? War er ein bloßes Testobjekt? Wollte irgend eine behördliche Forschungsinstanz herausfinden,
wie ein Mensch reagieren würde, der seine Familie, seine Freunde und Bekannten nach vielen Jahren der
Trennung unverändert wieder sah, während er selbst um Jahre gealtert war? Doch wozu?
War Sebastian unfreiwilliges Opfer eines seit langem geplanten Versuchs, der herausfinden sollte, wie
vertraute Menschen, auch in Stresssituationen miteinander umgingen, wenn sie beispielsweise durch
mehrjährigen Raumflug unterschiedlich lange Zeit voneinander getrennt waren und sich in dieser Zeit von den
anderen isoliert weiter entwickelt hatten?
In diesem Augenblick kam ihm ein weiterer, ungeheuerlicher Einfall! War Janine damals etwa gar nicht
an Leukämie erkrankt? War sie gar nicht wirklich gestorben? Wie ein bald fertig gestelltes Puzzle fügte sich in
Sebastians Kopf ein Teilchen dieser unglaublichen Geschichte an das andere und drohte zu einer neuen Wahrheit
für ihn zu werden...
Irgendwer hatte alles so inszeniert, dass Sebastian annehmen musste, Janine sei an den Folgen ihrer
unheilbaren Krankheit gestorben. Sie besaß damals weder Freunde, noch Geschwister, oder irgend welche
anderen Verwandte. Sie war alleinstehend. Niemand, außer ihm, der ja Testobjekt war, hätte sie vermisst! Man
hatte somit zumindest erreicht, dass er ihren Tot akzeptierte und keine Fragen stellte. Dann hatte man sie geklont
und in eine selbst erdachte, künstlich erschaffene Phantasiewelt entlassen, so, wie man einen Goldhamster in
einen neuen Käfig setzte! Zuletzt musste man nur noch ihn in einen abgeschiedenen Winkel seiner vertrauten
Umgebung locken, um ihn einzufangen und ebenfalls in diesen neuen Käfig zu setzen...
Aber was war dann aus seiner echten Janine geworden? Musste sie für diesen Versuch ihr Leben
lassen? Die Möglichkeit bestand, denn die mächtigen Macher dieser fremden Welt nahmen es ja auch billigend
in Kauf, dass an diesem Tag vier Menschen ihr Leben aushauchten... Für einen unmenschlichen, schnöden Test!
Oder war das alles, was Sebastian an diesem Tag erlebt hatte, auch nur inszeniert? Er wurde immer
unsicherer. Die beiden toten Reiter, die vor seinen Augen starben, nachdem Antaronas Pfeile sie getroffen
hatten.., waren sie nur gute Schauspieler? Das vergewaltigte und gequälte Mädchen in der Hütte.., eine
Schauspielerin, der eine talentierte Maskenbildnerin zur Seite stand? Der alte Högi Balmer, Falméras Medicus,
alles nur Statisten, um ihn, Sebastian, auf die neue Versuchswelt vorzubereiten? War Antarona, das Klon von
Janine, etwa selbst eine ausgebildete Darstellerin, mit der man ihn ominösen Tests unterzog?
Sebastian viel es wie Schuppen von den Augen, dass einzig und allein Janine den Kampf mit den
schwarzen Reitern bestritten hatte. Sie hatte auch verhindert, dass Sebastian dem verletzten Mädchen auf der
Straße geholfen hatte. Etwa deshalb, weil sie vermeiden wollte, dass er erkannte, gar kein wirklich verletztes
Mädchen vor sich zu haben? Als er dann in den Kampf eingriff, womit der unbekannte Testregisseur vermutlich
nicht gerechnet hatte, brachen die Reiter die Vorstellung einfach ab... Fast perfekt!
Aber eben nur fast. Die hatten nicht mit Sebastian Lauknitz Scharfsinn gerechnet. Denen wollte er es
zeigen! Die würden sich noch wundern, wie rasch er ihnen die Masken vom Gesicht reißen konnte. Mit Antarona
selbst wollte Sebastian anfangen!
Wenn sie ein Klon Janines war, musste sie von den Intendanten dieser geschaffenen Welt auch die
Gefühle und Empfindungen von Janine mitbekommen haben, sonst wäre das ganze Unternehmen ja bereits im
Vorfeld zum Scheitern verurteilt gewesen. Janine hatte ihn geliebt. Folglich musste ihn auch Antarona lieben,
oder sie musste es ihm zumindest schauspielerisch suggerieren, auch wenn sie im Moment keine Zuneigung zu
ihm empfand!
Sebastian stellte sich das so einfach vor: War Antarona ein Klon von Janine, oder eine veränderte Janine
selbst, so musste sie ihre Gefühle zu ihm in sich tragen, würde sie sich auf ihn einlassen. War sie jedoch eine
völlig andere Person, eine Doppelgängerin, eine ausgesuchte Statistin etwa, dann musste sie Janines
Empfindungen schauspielerisch darstellen. So oder so, da war sich Sebastian sicher, würde er es spüren!
Kaum war der Plan in seinem Kopf gereift, setzte er ihn in die Tat um und..., erlebte eine unerwartete
Überraschung! So plötzlich, dass Antarona gar keine Chance besaß zu reagieren, umfasste Sebastian ihre Hüfte,
zog sie zu sich heran, presste ihren Körper an seinen und küsste sie so leidenschaftlich, wie er es unter diesen
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Umständen fertig brachte, auf den Mund. Aus den Augenwinkeln sah er noch ihren irritierten, verwunderten
Blick, der sich von einer Sekunde zur anderen verfinsterte.
Antarona erwiderte seine Zuneigung nicht. Statt dessen stemmte sie ihre kleinen Fäuste gegen ihn,
drückte sich von Sebastian weg und kratzte ihm mit ihren Fingernägeln quer über die Brust, dass er annahm, ein
glühendes Eisen würde darüber hinweg fegen. Sie stieß sich so heftig von ihm ab, dass sie einige Schritte nach
hinten stolperte. Augenblicklich hielt sie ihr Schwert in der Hand, dessen Spitze wieder einmal auf Basti zeigte.
Einen Lidschlag darauf sprang sie wie eine Pantherin vor und drückte ihm mit wutverzerrtem Gesicht
ihre Schwertspitze unter die Kehle:
»Was fällt euch ein...«, giftete sie ihn an, »...Sonnenherz zu nehmen, als sei sie euer Eigentum!« Ihre
Augen blitzten ihn hasserfüllt und angriffslustig an. In diesem Augenblick wusste Sebastian, dass sie auch ihn
ohne Skrupel töten würde, wenn ihm nicht sofort eine plausible Erklärung einfiel, um sie wieder zu besänftigen.
»Antarona, es tut mir leid, aber ich musste das tun, denn ich liebe dich über alles und ich wollte nur...«
Zu mehr kam er nicht. Sie drückte ihre Waffe noch energischer an seinen Hals und fauchte gefährlich:
»Was redet ihr da von Liebe..? Wisst ihr denn wahr, was Liebe ist? Werdet ihr je wissen, wie einer vom
Volk liebt? Sie machte eine kurze Pause aber noch bevor er einen neuen Versuch starten konnte, sich zu
verteidigen, legte sie wieder los und ihr Blick schien Funken zu sprühen:
»Wagt es ja nicht noch einmal, mich so anzufassen, Ba - shtie - laug - nids, dann werdet ihr etwas
erleben! Ihr werdet euch wünschen, nie geatmet zu haben, wenn ihr Sonnenherz zu nahe kommt..!«
Verzweifelt versuchte Sebastian ihr den Grund zu erklären, weshalb er sie küssen wollte, doch sie hörte
gar nicht zu, sondern zischte in gefährlichem Ton:
»Ihr seid nicht besser als die ehrlosen, schwarzen Horden Torbuks und Kareks, die uns ihre stinkenden
Kadaver zwischen unsere Beine schieben wollen, damit unsere Frucht ihren verfaulten Schatten trägt! Tut das
noch einmal, Ba - shtie, dann werde ich euch vierteilen und die Stücke den Eishunden zum Fraß vorwerfen!
Ich.., Sonnenherz hatte euch vertraut! Ich hatte so sehr an euch geglaubt, da ihr die Zeichen der Götter für alle
Zeiten an eurem Leibe tragt!«
Antarona kam völlig aus dem Atem und wandte sich plötzlich verachtend von Sebastian ab. Er staunte,
zu welchen verbalen Erniedrigungen sie fähig war. Dennoch liebte er sie. Trotz der Gefahr, dass sie ihn einfach
massakrieren konnte, versuchte er zu lächeln. Das innere Feuer, das ihren Zorn bis zum Überkochen bringen
konnte, faszinierte ihn. Sebastian vertraute einfach darauf, und möglicherweise war es nur Wunschdenken, dass
Antarona etwas von Janines Charakter besaß, und sich rasch wieder abkühlen würde.
Statt dessen drehte sie sich noch einmal zu ihm um und schleuderte ihm ein »Ich hasse euch, Ba - shtie laug - nids...« ins Gesicht. Dann marschierte sie stumm vor ihm her. Alle weiteren Versuche der Erklärung
blieben hoffnungslos. Antarona ignorierte ihn. Aber sie jagte ihn auch nicht mit ihrem Schwert davon! Sie
schwieg einfach nur und tat so, als sei er gar nicht da.
Was hatte er da bloß angerichtet? Nur weil er in seinem Brausekopf eine verrückte Geschichte ahnte,
für die es nicht einen einzigen hieb- und stichfesten Beweis gab, hatte er alles aufs Spiel gesetzt! Das einzige,
das Sebastian wirklich herausgefunden hatte, war die Tatsache, dass Antarona bewusst kaum mehr, als
Freundschaft für mich empfand.
Mit dieser Möglichkeit hätte er rechnen müssen. Doch nun, in dieser Erkenntnis, fühlte er sich noch
schlechter und verlorener, als zuvor. Was konnte schlimmer sein, als in Einsamkeit durch ein fremdes Land zu
wandern und die Zuneigung der einzigen Frau zu verlieren, die man liebt, der man vertraut, für die man trotz
aller Widrigkeiten bereit wäre, sein Leben zu geben?
Schweigend gingen sie nebeneinander her, der einbrechenden Nacht entgegen. Was Sebastian noch
mehr belastete, als Antaronas Ausbruch glühenden Zorns gegen ihn, war das Schweigen, mit dem sie ihm nun
ihre Verachtung entgegen brachte. Seine eigene Verzweiflung, in der er sich als kleines Häuflein Elend wieder
fand, entstand jedoch nicht aus dem Umstand, dass er sich allein und ausgesetzt in einer ihm völlig fremden Welt
fühlte. Viel mehr betrübte Sebastian die Vorstellung, er könnte diese Frau noch einmal verlieren.., diese Frau,
die er trotz ihrer Veränderungen immer noch mehr liebte, als sein eigenes Leben.
Wie unkontrolliert und überraschend einem das Schicksal doch seine Launen präsentierte und wie
kompliziert die Menschen auf sie reagierten... Ein Wunsch, ein Traum wurde wahr, den man nur als Wunder
bezeichnen konnte, das sich ihm wie eine zweite Chance des Himmels dar bot. Und anstatt es fraglos
anzunehmen, fiel ihm nichts besseres ein, als es mit seinem Misstrauen schon im Keim zu ersticken.
Wahrscheinlich hätte er Antarona nur einen echten Beweis seiner Liebe zu geben brauchen, und sie
hätte ihrerseits ihre Liebe für ihn entdeckt... Er hatte nicht genug Vertrauen und Geduld.., nein er, Sebastian
Lauknitz, musste dem Schicksal mal wieder tüchtig auf die Sprünge helfen und hatte es verdorben...
»Was für ein Idiot.., was bin ich doch für ein Blödmann..!« Ein Schreck durchfuhr ihn, denn er hatte
diesen Satz laut hinausgebrüllt. Antarona verlangsamte ihren Schritt und sah Sebastian zweifelnd an. Das hielt er
für seine Chance!
Müde und verzweifelt setzte er auf diesen einen letzten Trumpf. Er wollte Antarona einfach seine
Geschichte erzählen, schonungslos offen und ehrlich, auch, wenn es für sie wie ein Märchen klingen musste und
sie ihn anschließend für verrückt hielt. Wenn sie so sensibel war, wie er sie einschätzte, konnte er vielleicht ein
kleines Stück ihres Herzens zurückgewinnen. Sebastian redete einfach darauf los, als würde er aus einem Buch
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07.04.2011
Das Geheimnis von Val Mentiér, Roman • © 2008 - 2010 by Frank Adlung, Braunschweig • http://www.sternenlade.de
Erstelldatum 06.04.2011 23:43
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vorlesen und es war ihm plötzlich nicht mehr peinlich, dass seine Geschichte, die er ihr erzählte, für sie wie eine
irre Phantasie klingen musste:
»Du kannst mir zuhören, oder auch nicht, Antarona, aber ich erzähle dir jetzt, warum ich so dumm war,
mich so zu verhalten. Es ist fünfzehn Winter her, da begegneten wir uns in einer anderen Welt, als dieser hier. Es
war eine sehr laute und schmutzige Welt, die ebenso ungerecht war, wie diese hier. Du warst für mich schon zu
dieser Zeit die Schönste unter den Frauen und mein Herz begehrte dich und wollte in jedem Augenblick bei dir
sein. Dein Herz empfand ebenso und fortan gingen wir gemeinsam durch das Leben...«
Antarona ging schweigend neben ihm her und ihr Blick war permanent auf den Boden geheftet. Ob sie
Sebastian zuhörte, oder das, was er ihr sagte einfach aus ihren Sinnen ausklammerte, wusste er nicht. Sie zeigte
keinerlei Reaktion, sondern ließ ihn schweigend spüren, dass er ihr gleichgültig war. Dieses Schweigen und die
vollständige Ignoranz machten ihn wütend. Allein seine Angst, er könnte dieses an sich liebenswerte
Krähenmädchen auch in dieser Welt wieder verlieren, ließ ihn seinen Zorn hinunterwürgen.
Den ganzen Weg über, bis in den Wald hinein, erzählte er seine Geschichte, von dem Tag an, an dem
sie sich in der anderen Welt kennen gelernt hatten, bis zu dem Augenblick, wo er versuchte, sie zu küssen...
»...und weil ich herausfinden wollte, ob du diese wunderschöne Frau aus der anderen Welt bist und ob
dein Herz sich auch für das meine erwärmen kann, war ich so mutig und dumm zugleich, dir einen Kuss zu
geben, denn...«, und in diesen letzten Satz versuchte Sebastian all sein Gefühl zu legen, »...ja, ich weiß, wie einer
aus dem Volk liebt.., und.., ich liebe dich so sehr, dass ich dich niemals mehr wieder verlieren will, egal, in
welcher Welt!«
Nachdem er geendet hatte, gingen sie noch eine Weile schweigend nebeneinander her durch den Wald,
der sie mit dunklen, leise wispernden und raunenden Schattengestalten umschloss. Mittlerweise war die Sonne
hinter den hohen Gipfeln im Westen versunken. Dunkelheit und Kälte krochen langsam und still in den Wald
hinein und sie hörten nur noch ihre eigenen Schritte im Sand und das geheimnisvolle Rascheln der Blätter.
Inzwischen war Sebastian dermaßen müde, dass es ihm schwer fiel die Augen offen zu halten. Mitunter
ertappte er sich dabei, wie er beim monotonen Gehen nach dem Land der Träume griff.
Auf einem Mal hielt Antarona an und kniete sich auf dem Weg nieder. Sofort war er hellwach, denn er
vermutete, sie hörte wieder einmal schwarze Reiter nahen. Sie befühlte den Boden, stand dann wieder auf und
wandte sich stumm dem Dickicht am Wegrand zu. Plötzlich war sie verschwunden. Mit weit geöffneten Augen
versuchte Sebastian die Dunkelheit zu durchdringen, aber es war hoffnungslos. Das einzige, das er noch
erkennen konnte, war der hellere Streifen des Weges, sowie hier und dort einen Stern, dem es gelang, durch das
dichte Blätterwerk der Bäume zu scheinen.
Dann vernahm er ein Geräusch, als würde jemand ganz leise mehrere Kochtöpfe aneinander reiben.
Was Antarona dort im Dickicht tat, wusste er nicht, doch er folgte ihr ins Unterholz. Beinahe wäre er über sie
gestolpert und im gleichen Augenblick begriff er: Sie zog dem gefallenen schwarzen Reiter von heute Mittag die
Rüstung aus! Sebastian war wieder einmal aufs neue entsetzt. Seine sensible Janine war auch noch eine
gottverdammte Leichenfledderin! Auf keinen Fall jedoch wollte er es sich mit ihr noch einmal verscherzen...
Ganz vorsichtig und behutsam berührte er ihren Arm und flüsterte: »Lass mich dir helfen...« Antarona
machte ihm schweigend Platz, während er sein Feuerzeug aus der Hosentasche fischte. Als die kleine Flamme
zuckend den Boden und die näheren Büsche erhellte, schrak Antarona zusammen:
»Seid ihr von Sinnen..? Macht sofort das Feuer aus..!«, herrschte sie Sebastian zischend an. »Ihr wollt
wohl, dass uns die Pferdesoldaten finden und uns die Haut abziehen, was..?«
Er war überrascht. Nicht nur, weil Antarona endlich ihr Schweigen gebrochen hatte, sondern auch, weil
sie glaubte, dass die schwarzen Reiter noch immer in der Nähe waren.
»Sind die denn etwa noch hier?«, fragte Sebastian erstaunt. Antarona krallte ihre feingliedrige Hand in
seinen Arm und raunte ihm ins Ohr:
»Das weiß man nie so genau... Manchmal lagern sie noch eine Nacht im Wald und tun den Frauen und
Mädchen viel Böses an...« Ein paar Nuancen schärfer fügte sie hinzu:
»Und nun macht endlich das verfluchte Feuer aus! So, wie ihr euch tut, könnte ich wohl glauben, dass
ihr aus einer anderen Welt kommt...« Die letzten Worte klangen wie eine Beleidigung, aber das war Sebastian
egal, weil er in diesem Moment wusste, dass sie ihm tatsächlich zugehört hatte.
Antarona hantierte im Dunkeln mit den Riemen und Schnallen herum, die dem Toten die Rüstung auf
den Leib banden. Sebastian fand diese Aktion äußerst fragwürdig und ermahnte sie:
»Sei bitte vorsichtig, mit dem, was du da tust. Sollten wir damit nicht bis morgen warten, wenn es
wieder hell ist?«
»Seid nicht töricht, Ba - shtie, fürchtet ihr euch vor einem Toten..? Seid versichert, dieser hier schadet
euch nicht mehr. Dieser schadet niemandem mehr!«, flüsterte sie ihm beruhigend und gleichzeitig belustigt zu.
Ein wenig war Sebastian verärgert. Denn er liebte diese kleine, eigensinnige Frau über alles. Aber er
konnte es auf den Tod nicht ausstehen, wenn sich eine Frau ihm gegenüber so permanent altklug gab.
Männliches Ego.., vielleicht.., zugegeben. Aber so war das nun einmal mit ihm und dazu stand er auch! Nun
wollte er mal klug sein:
»So meinte ich das auch gar nicht...«, gab er zurück, »...noch nie etwas von Leichenvergiftung gehört,
was?«, setzte er noch patzig nach. Doch Antarona ging nicht weiter darauf ein. Gemeinsam lösten sie die
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einzelnen Teile der Rüstung von dem brettsteifen Körper. Das Hemd mit dem markanten Symbol mussten sie
aufschneiden, denn es wollte sich auf biegen und brechen nicht über die starre, kalte Leiche ziehen lassen.
Nachdem sie ihre grausige Arbeit beendet hatten, banden sie die Rüstungsteile mit Lederschnüren zu je
zwei Bündeln zusammen und setzten ihren Weg fort. Antarona schwieg wieder und Sebastian fühlte sich ratlos,
verzweifelt und der Situation ausgeliefert. Wie konnte er nun wissen, wie sie zu ihm stand? Hatte sie ihm sein
Fehlverhalten verziehen? Vertraute sie ihm wieder? Empfand sie vielleicht auch etwas Liebe für ihn, oder war
ihre Bindung zu ihm eher freundschaftlicher Natur, wie etwa zwischen vertrauten Kampfgefährten?
Letzteres würde er nicht ertragen können, denn er hatte Sehnsucht nach ihrer Wärme und sein Gefühl
für sie war eine so stark empfundene Liebe, die ihm das Herz aus der Brust reißen konnte, wenn er nur darüber
nachdachte, sie vielleicht nie für sich zu gewinnen, oder unversehens wieder verlieren zu können.
Wie aber konnte Sebastian herausfinden, welche Gefühle diese Frau wirklich für ihn empfand? So, wie
vor gut einer Stunde ganz sicher nicht! Er war nicht so verrückt, noch einmal ihren blanken Zorn herauf zu
beschwören. Sie konnte wie eine missgelaunte Tigerin reagieren... Aber genau das war es ja, was ihn unter
anderem so an diesem Mädchen faszinierte, nämlich diese beiden extrem gegensätzlichen Wesenszüge, die sie
wie ein mysteriöses, nie zu ergründendes Geheimnis in sich trug: Diese Sanftheit und Verletzlichkeit, die in den
tiefen Seen ihrer unschuldigen Augen ruhte zum einen und zum anderen ihre ungezügelte Wildheit, dieses
unbezähmbare Feuer in ihrem Herzen, das ihre Augen urplötzlich zu gefährlichen Waffen werden ließ, die
vernichtende Blicke verschießen konnten.
Es war schon eine verrückte Sache. Sebastian war krank vor Liebe zu einer Frau, die gerade mal vor ein
paar Stunden in sein Leben zurück getreten war, aus dem sie vor langer Zeit unfreiwillig fort ging. Dabei befand
er sich in der selbst verzehrenden Unklarheit darüber, ob ihm diese Frau immer noch ihre Liebe schenken würde.
Diese Ungewissheit fraß ein schmerzendes Loch in seinen Bauch, das sich in alle Richtungen seines Körpers
auszubreiten drohte. Eine zum Bersten angespannte Hülle umgab noch sein aufgewühltes gärendes Innenleben
und hielt es gefangen.
Um sich von seinen durcheinander geratenen Gefühlen abzulenken, versuchte Sebastian das Schweigen
zwischen ihm und dem Krähenmädchen zu brechen:
»Antarona, was wirst du mit dem Metallpanzer des Reiters tun? Was waren das überhaupt für Typen,
die das Dorf überfallen haben?« Dann wurde er mutiger:
»Und was ist eigentlich mit uns beiden.., ich meine.., ich möchte gerne mit dir durch’s Leben gehen, so,
wie einst in der anderen Welt, doch ich weiß nicht, ob das auch dein Wunsch ist...« Weiter ließ sie ihn nicht
kommen.
»Lügen.., Ba - shtie - laug - nids.., aus eurem Munde sprechen Lügen!«, fuhr sie ihn an und es klang
eine tiefe Enttäuschung in ihrer Stimme mit. »Mann von den Göttern, ihr erzählt mir eine Geschichte, die nicht
wahr sein kann und sprecht von Liebe? Ihr glaubt, ich gebe euch die Wärme meines Herzens und das Feuer
meines Leibes, nur weil ihr mir euren Traum von einer fremden Welt in meine Ohren tragt?«
»Aber das sind keine Lügen und es ist auch kein Traum!«, entgegnete Sebastian verzweifelt, »ich selbst
habe das alles hier zunächst für einen Traum gehalten. Ich war in der Schweiz unterwegs und hatte einen
Unfall.., als ich wieder zu mir kam, befand ich mich bei Högi Balmer in dessen Hütte. Väterchen Balmer hatte
mir geholfen, wieder gesund zu werden. Dann wollte ich wieder nach Hause, dorthin, woher ich gekommen war,
eben in diese andere Welt... Auf dem Weg dorthin, Antarona, begegnete ich dir.., das ist alles!«
Sebastian hoffte nicht darauf, dass Antarona ihm glauben würde. Sie war zweifelsohne über die Maßen
intelligent. Doch gerade deshalb hatte er seine Zweifel. Zu phantastisch klang seine Geschichte, als dass sie für
einen rational denkenden Menschen etwas anderes gewesen wäre, als ein Märchen, oder ein Traum. Antarona
ging eine Minute schweigend neben ihm her. Unvermittelt blieb sie stehen. Dann sprach sie mit leicht zitternder
Stimme:
»Die Sonnenherz von euch reden hörte, sagten, ihr kommt aus dem Reich der Toten, weil ihr die
Stimme aus dem Totenreich sprecht. Sonnenherz glaubt, dass ihr aus dem ewigen Eis kommt, vom Sitz der
Götter, denn ihr tragt ihre Zeichen. Sonnenherz weiß, dass man euch am Tor zum Reich der Toten gefunden hat.
Alle sagten, die Zeichen in eurem Leib habt ihr euch selbst gemacht, um das Volk zu täuschen. Sonneherz hat
gesehen, wie das Wasser die Zeichen nicht abwaschen konnte. Die Götter haben euch ihre Zeichen für immer
eingebrannt, damit das Volk erkennt, dass ihr der seid, den sie geschickt haben, dem Volk zu helfen.«
»Nun hör mir mal zu, Antarona...«, wollte Sebastian von neuem beginnen, ihr seine Situation zu
erklären. Er legte seine Hand auf ihren Arm und spürte, wie sie zitterte. Ihm war gar nicht klar geworden, dass
die Sonne bereits seit geraumer Zeit untergegangen war und sich die Luft im Wald merklich abgekühlt hatte.
Antarona musste erbärmlich frieren, denn sie trug nach wie vor nur die spärliche Bekleidung ihres Schurzes und
ihres Oberteils, die aussahen, als wären sie irgendwann ziemlich eingelaufen.
Sofort zog Sebastian sein T- Shirt aus und gab es ihr: »Zieh das an, denn ich fühle, dass du frierst!«
Umständlich nahm sie den Stoff und wusste nicht recht damit umzugehen. Er bedeutete ihr, ihre Waffen
abzulegen und sich den Stoff über den Kopf zu ziehen. Doch davon wollte sie nichts wissen. Kommentarlos gab
sie ihm das Hemd zurück. Sie hegte also immer noch ein großes Misstrauen gegen ihn.
Während sie weitergingen, dachte Sebastian darüber nach, ob es überhaupt Sinn machte, sie mit
weiteren Erklärungen zu überfordern. Dieser Tag war bereits bewegt genug gewesen, als dass sie noch in der
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Lage waren, stundenlange Diskussionen zu führen. Augenblicklich hatte er nur zwei Wünsche. Zum einen sehnte
er sich nach einem trockenen, halbwegs warmen Platz, um schlafen zu können.
Zum anderen wünschte er sich, am nächsten Morgen aufzuwachen und zu erkennen, dass es kein Traum
war, der ihm die Frau seiner Liebe wieder finden ließ. Ja, Sebastian akzeptierte sogar die schrecklichen
Erlebnisse der vergangenen Tage, wenn er nur Antarona nie wieder verlieren musste! Mit müder Stimme machte
er ihr den Vorschlag:
»Antarona, wollen wir morgen, wenn es wieder Tag ist, darüber reden..? Ich möchte dir gern beweisen,
dass ich die Wahrheit spreche, ich möchte, dass du mir vertraust und ich wünsche mir nichts auf der Welt mehr,
als deine Liebe!«
Als sie nicht gleich antwortete, fragte er weiter: »Weißt du einen Ort, wo man in Frieden schlafen kann,
ohne befürchten zu müssen, dass einem die schwarzen Reitern den Schädel einschlagen?«
»Ihr habt eine seltsame Weise, viele Dinge zu fragen, Ba - shtie.., ihr sprecht von Wahrheit und Liebe,
und gleich darauf von einem Ort zum Schlafen.«, stellte sie beinahe vorwurfsvoll fest. Einen Moment später fuhr
sie fort:
»Wir schlafen dort, wo unsere Bündel sind, Ba - shtie - laug - nids.., und über Wahrheit und Liebe
sprechen wir, wenn die Sonne wieder das Land erwärmt und das Tal mit ihrem Licht erfüllt. Dann werde ich
wissen, ob die Wahrheit, oder die Lüge aus eurem Munde klingt, Mann von den Göttern!«
Das war deutlich! Anscheinend blieb ihm nichts anderes übrig, als den nächsten Tag abzuwarten.
Trotzdem geisterten noch so viele Fragen durch seinen Kopf, dass er das Gefühl hatte, er müsste jeden
Augenblick platzen. Vor allem machte er sich Gedanken darüber, wie er ihr seine Wahrheit, seine ehrliche
Absicht und seine Liebe jemals würde beweisen können...
Ihre müden Beine gingen nicht mehr lange. Bald erreichten sie die Felskante und den kurvenreichen
Weg hinunter zum See und an den Wasserfall. Antarona zog wieder ihre Beinlinge aus und Sebastian war
diesmal auch nicht mehr so dumm, seine Kleidung durchnässen zu lassen. Hose, T- Shirt und Stiefel band er zu
einem Bündel und folgte seinem Krähenmädchen über die nassen, glatten Felsen.
Einige Male glitt er aus und schlug sich heftig das Knie an. Verwundert fragte er sich, wie Antarona es
fertig brachte, barfüßig und elegant wie eine Katze über den glitschigen Stein zu gelangen. Irgendwie schaffte
Sebastian es, seine Sachen trocken hinter dem fallenden Wasser entlang zur Grotte zu tragen. Düster, wie ein
gähnendes Loch in eine Unendlichkeit, tat sich die Höhle vor ihnen auf.
Mochte es Einbildung gewesen sein, oder seine Müdigkeit, jedenfalls hatte Sebastian den Eindruck, das
Wasser wäre um ein vieles lauter, als am Tag, als sie diesen Ort verlassen hatten. Im großen Raum der Grotte
war es stockfinster. Völlig blind stolperte er hinter Antarona her, die barfuß voran ging.
»Soll ich eine Flamme Feuer entzünden, damit wir besser sehen können...«, fragte er Antarona. Sofort
bekam er ihre zischende Antwort und erschrak, denn er erkannte im Dunkeln nicht, dass sie direkt vor ihm stand:
»Untersteht euch, Ba - shtie - laug - nids, wagt es ja nicht, ein Feuer zu entzünden!« Mit etwas
sanfterem Ton fügte sie hinzu:
»Wenn ihr ein Feuer entfacht, lässt der Schein das fallende Wasser aussehen, wie einen glühenden
Kristall. Weithin wird das Wasser durch das Tal zu sehen sein. Wenn Torbuks Männer noch in der Nähe sind,
werden sie es sehen und es ihm berichten. Torbuk und Karek werden wissen wollen, welches Geheimnis sich
hinter dem brennendem Wasser verbirgt. Torbuk darf niemals von diesem Versteck erfahren, Ba - shtie! Ihr seid
der einzige Mensch, der das Geheimnis mit Sonnenherz teilt. Nicht einmal einer aus dem Volk weiß von dieser
Höhle!«
Über diese Aussage machte er sich so seine Gedanken... Sollte Antarona seine Ehrlichkeit erkennen, so
würde sie ihm vertrauen und ihr großes Geheimnis mit ihm teilen. Doch sollte sie zu der Meinung gelangen, dass
Sebastian die Unwahrheit sagte... Er wagte nicht, diesen Gedanken zu Ende zu bringen. Wenn ihr dieses
Geheimversteck so lebenswichtig erschien und sie es mit allen Mitteln zu verteidigen versuchte, war sie
gezwungen, jede Person zu töten, die davon Kenntnis erlangte, ohne ihr Vertrauen zu besitzen.
»Wartet hier, Ba - shtie, ihr könnt Sonnenherz folgen, wenn ihr ein Licht seht...« Damit hörte er ihre
Schritte sich entfernen. Geduldig wartete er und rührte sich nicht von der Stelle, denn er wollte ja nicht auch
noch so dumm sein, sich in dieser Finsternis die Knochen zu brechen.
Eine Minute später flammte im hinteren Teil der Grotte ein Lichtschimmer auf. Der Feuerschein kam
aus einem der Nebengänge und beleuchtete kaum den großen Saal. Vorsichtig ging Sebastian auf das Licht zu
und stolperte dennoch einige Male über Unebenheiten des Höhlenbodens.
Staunend betrat er den Nebengang, der nur kurz war und in einen weiteren Raum führte. Dieser war
kleiner, als der Eingangsraum. Er war wie eine kleine Wohnung eingerichtet, einfach zwar, doch nicht minder
gemütlich. An den Wänden, in Vorsprüngen, Spalten und Rissen waren Fackeln befestigt, die den Raum
erträglich erhellten.
Auf einigen breiten Felsvorsprüngen lagen Felle, die offenbar als Schlafstatt dienten. In der Mitte des
Raumes gab es eine kleine Feuerstelle und alle Nischen und Winkel schienen irgendein Gerät aufzunehmen. In
einer Ecke fanden sich mehrere Schwerter, Lanzen, Speere und andere Waffen. Auf einem Felsabsatz, der wie
eine Galerie aus der Wand hervorsprang, lagen unzählige Taschen und Beutel aus Leder und Stoff und darüber
hingen an einem Seil aufgeknüpft, verschiedene getrocknete Pflanzen.
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In einer Nische, die von einem mächtigen Stalagmiten verdeckt war, sah Sebastian unzählige Rüstungen
der schwarzen Reiter auf einem Haufen liegen. Antarona warf die Rüstungsteile des Reiters aus dem Wald mit
verächtlicher Geste dazu. Die Teile, die Sebastian getragen hatte, legte er dort ebenfalls ab. Den Stoffbeutel,
welchen ihm der Vater des geschundenen Mädchens gegeben hatte, hielt er Antarona hin. Sie nahm das Paket
und legte es an die Feuerstelle, mit den Worten:
»Da könnt ihr nun genug essen, Ba - shtie, der Wasserbauer gibt Sonnenherz immer etwas mit, wenn sie
seine Tochter besucht. Die Familie hat kaum zu beißen, doch sie geben stets von dem Wenigen ab, das sie
besitzen. Es sind gute Leute, Ba - shtie, merkt euch das!« Mit diesen Worten ging sie, eine der Fackeln in der
Hand, in einen weiteren, schmalen Gang und kam mit einem großen Bündel Feuerholz zurück, das sie ebenfalls
neben der Feuerstelle ablegte.
»Ihr könnt euer Bündel hereinholen und euch eine Schlafstatt aussuchen, Ba - shtie.« Antarona selbst
ging ebenfalls zurück in den Eingangssaal, um ihre Felle in den Raum zu tragen. Sebastian folgte ihr und holte
seinen Rucksack.
Anschließend schnallte er seinen Schafsack ab und breitete ihn auf einem mit Fellen belegten Podest
aus. Antarona, die mit dem Lagerfeuer beschäftigt war, kam staunend zu ihm herüber und befühlte das
synthetische Goretex- Material. Neugierig und fragend sah sie Sebastian an. Vermutlich war es auch die Farbe,
von der sie sich derart faszinieren ließ. Der Schlafsack war in leuchtendem Rot und Blau gehalten, während das
Innenfutter grell Gelb ausgelegt war.
»So etwas, Antarona, gibt es in meiner anderen Welt!«, erklärte ihr Sebastian. Und um ihr noch mehr
Beweise für die Existenz seiner Welt zu präsentieren, räumte ich den halben Rucksack leer. Am meisten
Interesse zeigte sie an Dingen, wie der tanzenden Nadel von Bastis Kompass, seine Gasfeuerzeuge, von denen er
stets einige mitführte und vor allem am Rucksack selbst.
Geduldig erklärte ihr Sebastian die Funktionen der verschiedenen Riemen und Schlaufen, sowie die
seines Eispickels, den sie zunächst für eine zum töten völlig ungeeignete Waffe hielt. Das eine Steigeisen, das
ihm nach dem Sturz geblieben war, erregte dann wieder mehr ihre Neugier. Umständlich erläuterte er ihr, dass
man damit auf Eis gehen kann, wenn man dazu ein zweites Stück besitzt. Sie quittierte seine Ausführungen erst
mit ungläubigem Blick. Doch dann erhellte sich ihre Mine:
»Ba - shtie - laug - nids, ihr kommt mit den Dornenschuhen aus dem Eis?« Ihre Frage klang eher, wie
eine Feststellung. »So seid ihr also vom Sitz der Götter herabgestiegen!« Ihre Theorie vom Abgesandten der
Götter schien sich damit für sie manifestiert zu haben.
»Wenn du glaubst, dass ich aus der Welt der Götter komme...«, entgegnete er, »...dann kannst du dir
auch vorstellen, dass wir zwei in meiner Welt einmal ein Herz waren und du mich so geliebt hast, wie ich dich
liebte?«
Antarona sah Sebastian zweifelnd an, als hätte er den Verstand verloren. Abrupt und kommentarlos
wandte sie sich ab und begann, ein kleines Lagerfeuer zu entzünden. Dabei wollte er es für diesen Tag belassen.
Wahrscheinlich brauchten sie beide eine geraume Zeit, um im Vertrauen zueinander zu finden.
Mit dieser Überlegung begann er seinen Rucksack wieder einzuräumen. Dabei fiel ihm ein kleines, in
eine Plastiktüte eingewickeltes Päckchen in die Hände... Sein Tagebuch und seine Papiere!
Sofort fiel ihm das Portrait ein, dass er einmal von Janine in sein Tagebuch zeichnete. Vor allem
erinnerte er sich an die fünf oder sechs, teilweise schon etwas verblassten Fotos von Janine und ihm, die er als
Erinnerung stets in seiner Brieftasche hatte. Sebastian wusste nun, wie er Antarona davon überzeugen konnte,
dass sie einmal zusammen waren...
Nichts ahnend saß Antarona in der Mitte des Raumes, schürte das Lagerfeuer und öffnete gleichzeitig
den Proviantbeutel des Wasserbauern. Getrocknetes Fleisch, etwas Käse, ein paar Äpfel und einen Laib Brot
förderte sie daraus zu Tage. Undeutlich glaubte sich Sebastian daran zu erinnern, dass die Familie des
Wasserbauern bei einer kargen Brotmahlzeit saß, als sie in ihre Hütte stürmten. Das machte ihn nachdenklich:
»Ein paar feine Dinge hat uns der Mann da eingepackt... Sag mal, Antarona, ist dir eigentlich
aufgefallen, dass sie selbst nur ein Stück trockenen Brotes auf ihrem Tisch hatten...?« Ohne sich umzuwenden,
oder ihre Tätigkeit zu unterbrechen, antwortete sie spontan:
»Die Menschen des Volkes sind gutherzig.., sie geben und helfen einander, ohne zu fordern, ohne zu
fragen, ohne etwas dafür zu verlangen... So ist das, Ba - shtie.., das Volk war immer so.., es gab und vertraute
auf das Gute im Herzen eines Jeden...« Antarona machte eine Pause, drehte sich in der Hocke zu ihm herum und
stieß einen tiefen Seufzer aus, den Sebastian in ihrer sprühenden Energie nicht vermutet hätte. Gleichzeitig ließ
sie sich vornüber auf die Knie fallen, schöpfte mit beiden Händen Sand und Steine vom Höhlenboden und ließ
sie demonstrativ durch ihre feingliedrigen Finger rieseln:
»Dann kam das Böse in das Land und in unsere Täler und tränkte die Erde mit dem Blut des Volkes. Sie
kamen und nahmen ohne zu fragen und sie nahmen immer mehr und immer mehr... Dann kam Torbuk...«
Antarona stützte die Hände auf ihre Oberschenkel, ohne zu bemerken, dass sie den Staub der Grotte darauf
verteilte. Plötzlich fielen Tropfen darauf. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Leise in sich hinein schluchzend
fuhr sie fort:
»Als die Menschen in den Tälern nichts mehr besaßen, das sie ihnen nehmen konnten, standen einige
aus dem Volk auf und wehrten sich. Es waren nur wenige, die mutig genug waren, gegen Torbuks schwarze
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Pferdesoldaten zu ziehen. Sie wurden in einer drei Monde dauernden Schlacht vernichtet. Das Volk hatte keinen
seiner Söhne jemals wieder gesehen und die Dörfer waren fortan ohne den Schutz der jungen Männer...«
Sie schwieg eine Weile und wischte sich mit ihren zarten Händen die Tränen aus den Augen. Danach
schob sie ihren Lederschurz etwas nach unten und legte ihre Hände übereinander auf ihren Unterleib, als wollte
sie ihren Schoß vor etwas Schrecklichem beschützen. Ihre mit Tränen gefüllten Augen wurden starr und
unbarmherzig. Blanker Hass stand plötzlich in ihrem Blick, während sie weiter erzählte:
»Von diesem Tag an kamen die schwarzen Reiter in unsere Täler.., wieder.., und immer wieder. Sie
nahmen sich die Frauen und Mädchen... Die wilden Horden, Torbuks und Kareks Männer, trieben sie wie Vieh
vor sich her, das ganze Tal hinab, bis zur Festung von Quaronas. Frauen, die nicht mehr laufen konnten, wurden
erschlagen, oder am Weg liegen gelassen, mit der schwarzen, verfaulten Saat der Reiter in ihrem Schoß. Viele
Mädchen und Frauen kehrten später in ihre Dörfer zurück.., mit der Frucht des Bösen in ihrem Bauch. Einige
von ihnen gingen mit traurigem Geist in das Reich der Toten, damit ihre Männer nicht die Väter von Torbuks
Kindern sein mussten.«
Antaronas Blick wurde verbitterter und ihre Stimme klang rauher und müder: »Torbuk will mit seiner
Saat, mit seinem Blut die Frucht aller Frauen des Volkes vergiften, damit sie seine Söhne und Töchter in die
Täler gebären, bis Habgier, Lüge und Hass das ganze Land beherrschen...«
Sebastian hockte sich vor Antarona auf den Boden und nahm ihre Hände in die seinen, um ihr zu
zeigen, wie sehr er mit ihr fühlte. Dann nahm er sein T- Shirt und tupfte ihr die Tränen aus dem Gesicht. Sie ließ
es einfach geschehen, als hätte sie jeden Widerstand aufgegeben. Verständnisvoll sah er ihr in die Augen:
»Antarona.., haben Torbuks Reiter auch dich...« Bevor Sebastian den Satz zu Ende bringen konnte,
richtete sie sich auf den Knien auf und strich mit der flachen Hand über ihren nackten Bauch. Mit Empörung in
der Stimme sagte sie:
»Ba - shtie - laug - nids.., seht ihr Antaronas Bauch geschwollen? Nein, ihr seht ihn flach, wie das
Wasser.., und das wird er auch bleiben!«, stellte sie bestimmt fest. Fast kämpferisch prophezeite sie weiter:
»Die Saat, die einmal in Antaronas Schoß reift, wird die Saat der Liebe sein..! Die Frucht, welche
Antaronas Herz erfreut, wird die Frucht der Hoffnung sein, des Lichts und der Güte! Das Herz, das in froher Zeit
unter dem meinen schlägt, wird einen Vater haben, der guten und reinen Herzens ist und den das Volk achtet und
liebt, so, wie er selbst es schätzt!«
Noch immer hielt Sebastian ihre Hand und blickte in ihre großen, entwaffnenden Augen. Ihre Offenheit
ließ ihn den Mut aufbringen, ihr seine Angst um sie zu gestehen:
»Antarona...«, begann er umständlich, »...du bist schnell, wie ein Pfeil und schlau, wie ein Felsenbär...
Aber bei dem, was du tust und so, wie du es tust, habe ich Angst um dich.., Angst, dich zu verlieren... Nicht
immer wird dein Schwert dich schützen können... Einmal gerätst du vielleicht in die Fänge der wilden Horden.
Ich habe Angst, sie könnten dich...« Sebastian wagte nicht, den Gedanken ganz auszusprechen. Unsicher begann
er von neuem: »Verstehst du mich, Antarona.., ich ängstige mich davor, dass dich die schwarzen Reiter eines
Tages...«
Sie unterbrach ihn und legte ihm beruhigend ihre andere Hand auf die Brust: »Ihr müsst nicht in Sorge
um Antarona sein, Ba - shtie! Antarona kennt jene unter den Kräutern des Waldes, die jede böse Frucht aus dem
Schoß einer Frau vertreibt. Die Pferdesoldaten erzählen sich eine Geschichte... So sagen sie, Sonnenherz ist
krank in ihrem Leib und keine Saat geht in ihrem Schoß auf. Sie fürchten sich, Sonnenherz zu berühren...«
»Aber sie würden sich auch nicht davor fürchten, dich zu töten, oder..?«, gab Sebastian zu bedenken.
Unvermittelt entstand ein flüchtiges Lächeln auf ihrem Gesicht:
»Nein, Ba - shtie, sie werden Antarona nicht töten!« Er war verblüfft, mit welcher Sicherheit, sie dies
feststellte und wie zur Erklärung fügte sie an:
»Karek will Sonnenherz für sich haben... Torbuks Männer müssten den Zorn Kareks und Torbuks
fürchten, würden sie Sonnenherz das Leben nehmen!« Damit stand für sie offenbar fest, eine Art unsichtbares
Schutzschild zu besitzen. Sebastian hingegen beruhigte dieser Gedanke gar nicht. Ganz im Gegenteil! Denn er
vermutete, dass auf ihre Gefangennahme bereits ein Kopfgeld ausgesetzt war. Immerhin hatte sie an diesem Tag
mindestens drei von Torbuks Soldaten getötet. Und wie viele ihrem Bogen bereits zuvor zum Opfer gefallen
waren, konnte er nur vermuten. Diese Überlegung behielt er aber für sich. Trotz aller Naivität, die Antarona in
Vielem an den Tag legte, bewunderte er sie.
Nie zuvor war Sebastian so peinlich berührt von der schonungslosen Offenbarung einer Frau. Und es
beschämte ihn plötzlich, dass er sich eingebildet hatte, er könnte den Stolz dieses Krähenmädchens einfach
beiseite schieben und ihr Herz im Sturm erobern. Er wusste nun: Sie war etwas Besseres wert!
Natürlich liebte Sebastian sie nach wie vor mehr, als sein eigenes Leben und wünschte sich nichts
sehnlicher, als die Wärme ihrer nackten Haut an seinem Körper zu spüren. Doch ihm wurde augenfällig klar,
dass er die Tür zu ihrem Herzen und ihrem Vertrauen nur mit der Zeit und mit viel Geduld öffnen konnte.
Sebastian wusste aber auch, dass seine Liebe stark genug war, zu warten, bis ihr Herz dazu bereit war...
Sie aßen noch einen Bissen und wärmten sich etwas am Feuer auf. Antarona schwieg und schien mit
ihren eigenen Gedanken beschäftigt. Nach einer Weile erhob sie sich, löschte alle, bis auf eine Fackel, ging zu
ihrem Lager hinüber und rollte sich wie ein kleines Hündchen in das Gewühl ihrer weichen Felle ein. Als er
Kopf an Kopf zu ihr in sein Lager kroch, hatte sie die Augen bereits friedlich geschlossen.
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Doch sie konnte Sebastian nicht mehr täuschen. Er vermutete, dass ihre Sinne hellwach waren. Ihre
Waffen lagen griffbereit neben ihr und wäre er ihr zu nahe gekommen, so hätte sie ihn sicher deutlich spüren
lassen, dass ihr das missfiel!
Bevor er die letzte Fackel gelöscht, und im Schein des ausbrennenden Lagerfeuers den Reißverschluss
seines Schlafsacks zugezogen hatte, legte er noch das Päckchen mit seinem Tagebuch und seinen Dokumenten
auf die Felle, neben Antaronas Kopf...
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Mutige Freunde
Als Sebastian wieder aufwachte, erfüllte ein diffuses, bläuliches Licht den Raum. Antaronas
Schlafstelle war leer. Ihre Felle lagen in einem chaotischen Durcheinander verwaist da. Sofort fiel ihm auf, dass
sein Päckchen mit dem Tagebuch ebenfalls fehlte. Somit wusste sie nun, dass sie zwei schon einmal zusammen
waren und er war gespannt auf ihre Reaktion.
Umständlich schälte er sich aus seinem Seidenkokon und spürte plötzlich alle Glieder, selbst jene, von
denen er gar nicht wusste, dass er sie besaß. Der gestrige Tag hatte nicht nur in seinem Kopf Spuren
hinterlassen! Leise rief er Antaronas Namen. Stille, nur ein Echo, dass sich vielfach an den Höhlenwänden
brach, kehrte zu ihm zurück.
Schwankend und noch verschlafen ging Sebastian durch den kleinen Gang in den Eingangssaal der
Grotte. Ein heller Schein flutete ihm entgegen. Die Sonnenstrahlen, die sich im Vorhang des Wasserfalls
brachen, streuten das Licht in die Dunkelheit der Höhle. Von Antarona jedoch war nicht die Spur eines Haares
zu sehen.
Noch einmal ging Sebastian in den Wohnraum zurück und holte aus seinem Rucksack eine Plastiktüte.
Anschließend zog er sich bis auf die Unterhose aus und verstaute seine Kleider in dem bunten Beutel eines
bekannten Marken- Discounters. Diesmal würden seine Sachen trocken bleiben!
Die Kälte ließ ihn frösteln und zitternd schlich er sich hinter den Wasserfall und bewegte sich langsam
an der nassen Felswand entlang. Kurz darauf erreichte er die Randfelsen und kletterte etwas hinauf, um sich
einen besseren Überblick zu verschaffen. Doch von Antarona fehlte weiterhin jede Spur.
Der Stand der Sonne ließ vermuten, dass es etwa zehn Uhr morgens war. Rasch kam Sebastian zu dem
Schluss, dass Antarona sich wahrscheinlich nicht sehr weit von der Grotte entfernt haben konnte. Sie würde es
kaum riskieren, jemanden, den sie erst einen Tag lang kannte, mit ihrem bedeutungsvollen Geheimnis allein zu
lassen.
In Anbetracht der morgendlichen Frische, die ihm in die Glieder kroch, zog er es vor, in der Höhle auf
sie zu warten. Noch dazu wollte Basti vermeiden, von irgend jemandem in der Nähe des Wasserfalls entdeckt zu
werden. Er musste zugeben, dieser Ort war ein so perfektes Versteck, dass man darin eine ganze Armee
unsichtbar vorhalten konnte. Nachdem, was er bis dahin von diesen Tälern wusste, vermutete er, dass die
Menschen dieser Gegend so ein Versteck als letzten Zufluchtsort vielleicht einmal bitter nötig haben könnten.
Sobald er in die Höhle zurückgekehrt war, bemerkte er, um wie vieles wärmer die Luft in ihr war, im
Gegensatz zur Temperatur draußen. Vermutlich konnte man in diesen Räumen auch im Winter verweilen, ohne
erfrieren zu müssen. Das einzige Problem war sicherlich, am Eis des gefrorenen Wasserfalls vorbei zu kommen.
Im Wohnraum der Höhle allein und unbeobachtet, meldete sich der Entdeckerdrang in ihm. Solange
Antarona fort war, wollte Sebastian ihre riesige Eigentumswohnung genau in Augenschein nehmen. Ohne noch
lange zu überlegen, nahm er zwei Fackeln von der Wand, die extrem nach Tran stanken und entzündete eine
davon. Die andere klemmte er sich als Reserve unter den Arm.
Erstaunt stellte er fest, dass der Rauch der brennenden Fackel nach oben hin abzog und genau hoch
oben über der Feuerstelle in einem breiten Riss verschwand. Allmählich begriff Sebastian die Bedeutung dieses
verborgenen Domizils. Selbst bei klirrendem Frost, wenn man den Zugang zur Eingangshalle mit Fellen, oder
mit einer Plane verhängte, konnte man es ziemlich lange in diesem Berg aushalten.
Zunächst erkundete Sebastian den Gang, in dem Antarona am Vorabend verschwunden war und aus
dem sie mit einem Holzbündel zurückkehrte. Der Gang verengte sich so weit, dass er sich regelrecht hindurch
zwängen musste. Unerwartet mündete er in einen Raum, in dem so viel Feuerholz gesammelt und ordentlich
sortiert lag, dass es wohl gut und gerne drei Monate ausreichen mochte.
In einem grob geflochtenen Korb an der Wand lagen Steine. Sie waren von verschiedener Farbe, jedoch
von gleicher, splittriger Struktur. Erst nach und nach dämmerte es ihm, dass es sich dabei nur um so genannte
Flintsteine, oder Feuersteine handeln konnte.
Zur Probe nahm er zwei handliche Steine und schlug sie aneinander. Doch außer dem Effekt, dass sie
splitterten, zeigte sich kein zufrieden stellendes Ergebnis. Erst, als Sebastian sein Bowiemesser zog und es am
kantigen Einschnitt des Messerrückens versuchte, erhielt er ein paar müde Funken. Er bezweifelte, dass man im
Ernstfall in der Lage war, damit wirklich Feuer zu machen.
Einen weiteren Gang schien dieser Raum nicht zu besitzen und so kehrte er in den Wohnraum zurück,
um sich den Nächsten anzusehen. Der war schon interessanter. Etwas aufsteigend gelangte er in einen etwa
zweieinhalb Meter hohen, sehr langen und verwinkelten Höhlenraum, dessen Boden und Decke durch so
zahlreichen Stalagmiten und Stalaktiten verbunden war, dass man annehmen konnte, in einem dichten,
steinernen Wald zu stehen. Der zuckende Schein der Fackel erschwerte noch die Orientierung in diesem
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Labyrinth. Je mehr Sebastian die Fackel bewegte und je weiter er ging, desto konfuser wurde das Zurechtfinden
in diesem Chaos. Bereits nach den ersten Metern musste er stehen bleiben, weil er Angst hatte, den Rückweg
nicht mehr zu finden.
Sogleich machte sich Sebastian seine Gedanken über dieses optische Verwirrspiel aus Steinkegeln,
Licht und Schatten. Wenn er es fertig brachte, eine Fackel an einer bestimmten, jederzeit wieder zu findenden
Position anzubringen, so dass bei jedem Mal stets die gleichen Licht- und Schattenverhältnisse herrschten...
Dann besaß er ein ziemlich sicheres Versteck für seine Goldkassette! Augenblicklich begutachtete er den
Höhlenboden. Er war felsig und mit reichlich Staub und kleinen Steinen bedeckt. Spuren fand er keine, so dass
er davon ausgehen konnte, dass weder Antarona, noch sonst irgendwer diesen Gang benutzte.
Schon gestern war es ihm äußerst unangenehm, die Kassette in seinem Rucksack ungeschützt in der
Höhle zurücklassen zu müssen. Ein gutes Versteck war sinnvoll! Nun musste Sebastian über sich selbst
schmunzeln: Schon wieder war er dabei, seine dreißigtausend Franken in Gold zu verstecken. Mal sehen, wann
wieder irgendwelche Geologen sein Vermächtnis bedrohten... Aber die Idee für einen sicheren Platz reifte in
seinem Kopf von Sekunde zu Sekunde.
Dazu war lediglich nötig, einen geeigneten Platz für die Fackel zu finden, der nur ihm bekannt war,
sowie einen unter diesen so entstandenen Lichtbedingungen, markanten Ort für die Kassette. Von diesem Einfall
war er selbst derart begeistert, dass er ihn sofort in die Tat umsetzen wollte. Dazu benötigte er einen Platz mit
Widererkennungswert, an dem die Fackel sicher befestigt werden konnte. Diesen Ort fand er sogleich gegenüber
einem auffällig weißen Stalaktiten, der wie ein breiter, von Hand gegossener Zuckerhut aussah:
Ein Riss im Fels, oberhalb eines kurzen Simses schien wie geschaffen, um einen Fackelstiel hinein zu
stecken. Sebastian versuchte es sogleich und musste sich recht lang machen, um an die Stelle zu gelangen.
Erstaunlicherweise funktionierte sein Einfall hervorragend. Sofort beschloss er, sein Kästchen mit den Münzen
zu holen, bevor Antarona zurückkam.
Der Wohnraum lag noch so verlassen da wie vorher. Hastig holte Sebastian die in Plastiktüten
eingewickelte Kassette aus seinem Rucksack und ging zurück in das Labyrinth. Ohne Schwierigkeiten fand er
die Stelle wieder, an welcher die Fackel Platz fand. Als das Licht sich beruhigte und die Schatten nicht mehr
tanzend hin und her sprangen, wagte er sich tiefer in den Raum hinein.
Doch schon nach einigen Metern war Schluss! Die steinernen Säulen standen so dicht, dass bereits nach
einigen Schritten die Schatten zunahmen und nach und nach die schlanken Lichtstreifen verdrängten. Zwischen
zwei Schatten wagte sich endlich nur noch ein einziger Lichtschein hindurch, der einen ockerfarbenen
Stalaktiten anstrahlte.
Dieser erinnerte Sebastian spontan an einen aus dem Meer springenden Delfin. In der Tat war dieser
Stein so gewachsen, dass er an einer Seite sich besonders verjüngte, wie der Schnabel eines Delfins. Die von
oben herab gefallenen Tropfen hatten an der Flanke dieser Säule zwei weitere Stalaktiten begonnen, die man
leicht als zwei Bauchflossen interpretieren konnte. Das Auge des steinernen Meeressäugers bildete eine
Vertiefung in der Säule, die wohl durch veränderte Tropfpositionen entstanden war.
Hinter dieser markanten Steinsäule, die er jederzeit gut wieder finden konnte, lag ein mittelgroßer,
flacher Felsen, vom Schatten des Delfins verdeckt. Auf diese Steinplatte setzte Sebastian seine Kassette und
baute noch einige Felsstückchen um sie herum, bis sie vollständig mit Steinen bedeckt war.
Nachdem das getan war, zog er sich zum Eingang zurück, nahm die Fackel aus der natürlichen
Halterung und benutzte sein ausgezogenes T- Shirt dazu, um verräterische Spuren auf dem Höhlenboden zu
verwischen.
Genau in dem Moment, da er wieder in die Wohnhöhle trat, kam Antarona durch den Gang von der
Eingangshalle her. Trotz der Kälte trug sie wieder nur ihre spärliche Kleidung. Sogar auf ihre Beinlinge hatte sie
verzichtet. Ihr war sofort klar, woher Sebastian kam und bemerkte warnend:
»Geht dort nicht hinein, Ba - shtie, das ist der Gang der tanzenden Schatten!« Fragend sah er sie an. Erst
jetzt bemerkte er, dass sie völlig nass war. In einer Hand trug sie ihren Bogen, in der anderen sein Päckchen mit
dem Tagebuch. Letzteres legte sie respektvoll auf sein Schlaflager, bevor sie sich zu ihm umdrehte. Ihr nasser
Körper glänzte im einfallenden Lichtkegel des Eingangs, sowie vom warmen Schein seiner Fackel. Ihre knappe
Wildlederbekleidung haftete ihr wieder auf der Haut, wie ein aufgeklebtes, durchscheinendes Fließ.
Zielstrebig ging Sebastian zu seinem Rucksack, holte ein großes Frottierhandtuch heraus und hängte es
ihr über die Schultern:
»Du erfrierst mir sonst noch..!«, sagte er und versuchte seine Stimme fürsorglich und warm klingen zu
lassen. Entschuldigend fragte er:
»Ich wollte mich nur mal ein wenig umsehen... Aber sag, Antarona, wieso nennst du diesen Raum den
Gang der tanzenden Schatten? Ist etwas Gefährliches darin?« Sehr wohl wusste er, weshalb sie diesen Stollen so
nannte, hatte er doch die Wirkung des Lichts auf die Steinsäulen bereits kennen gelernt.
Antarona trat nahe an ihn heran, so dass Sebastian wieder ihren betörenden Duft wahr nahm und sah ihn
mit dankbaren Augen an. Und in ihrem Blick gewahrte er eine herzliche Wärme, die ihm Tags zuvor nicht
aufgefallen war. Ihr Leib zitterte etwas vor Kälte, als sie ihm ihre Hände auf den Arm legte und ihm mit warmer
und eindringlicher Stimme erklärte:
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»Es ist der Gang der tanzenden Schatten, weil kein Mensch, der ihn jemals bis weit hinein betreten
hatte, wieder zurückgekehrt ist. Böse Schatten tanzen auf dem Weg und an den Wänden und führen jeden in die
Irre, der es wagt ihn zu betreten. Geht nicht hinein, Ba - shtie, ihr findet dort nur den Weg in das Totenreich!«
Im wesentlichen bestätigte ihre Aussage seine eigene Ansicht über dieses Labyrinth. Doch fragte sich
Sebastian, wie sie wissen konnte, dass niemand aus diesem Gang zurückgekehrt war, wenn sie die einzige sein
wollte, die überhaupt von dieser Grotte wusste. Dass er nun ein geheimes Versteck in ihrem geheimen Versteck
besaß, erzählte er ihr tunlichst nicht... Noch nicht!
Was Sebastian im Moment intensiver beschäftigte, war ihr Wesen, das sich über Nacht geändert zu
haben schien. Nichts war mehr vorhanden, von ihrer Schnippigkeit, mit der sie ihn am Tag zuvor fast in den
Zorn getrieben hatte. Statt dessen war sie wie verwandelt, warmherzig und vertrauensvoll. Schon wähnte er sich
in der Gewissheit, ihr Herz erobert zu haben...
Als nächstes stellt Antarona ihm eine Frage, die wohl eher nebensächlich klingen sollte. Doch das
gelang ihr nicht, denn deutlich hörte Sebastian ihre angespannte Neugier heraus. Gleichzeitig erkannte er, dass
sich ihrer beider Zuneigung füreinander, sowie ihr gegenseitiges Vertrauen noch in einem ungewissen
Reifeprozess befand.
»Was ist das für ein Zauber...«, fragte sie Sebastian, indem sie auf das Päckchen mit seinen
Dokumenten zeigte. »Wie habt ihr das gemacht, Ba - shtie - laug - nids.., ist das ein Zauber von den Göttern?«
Deutlich bemerkte er ihre Unsicherheit. Sie hatte die Bilder von sich gesehen, in dem Wissen, dass sie
keinen der darauf abgebildeten Orte kannte und dass sie ihm vor dem vergangenen Tag nie begegnet war. Da sie
Sebastian nie ein Bild hatte anfertigen sehen, mussten ihr die Fotos wie ein Wunder erscheinen.
Er ging zu seinem Lager hinüber, öffnete die Tüte und nahm die Bilder aus seiner Brieftasche. Antarona
berührte die Oberfläche der glänzenden Fotos und sagte ehrfürchtig:
»Es ist wie das Auge der Götter, welches Antarona oft befragt.., aber es lebt nicht...« Sebastian verstand
nicht sofort, was sie damit meinte. Indem sie mit ihrer Hand vorsichtig das Bild berührte, auf dem sie beide auf
der Straße vor ihrer damaligen Wohnung abgebildet waren, fragte sie: »Berge mit Fenstern.., Hütten mit
Rädern.., werde ich diese Dinge einmal sehen, Ba - shtie - laug - nids?«
Allmählich dämmerte ihm, was sie in den Fotos erkannte. Berge mit Fenstern waren die Hausfronten
auf dem Bild, sowie Hütten mit Rädern die Autos, die davor standen. Sie sah sich selbst in seinem Bild vor
Objekten stehen, die sie nie zuvor in ihrem Leben gesehen hatte.
Langsam begriff Sebastian auch, was sie mit dem Auge der Götter meinte. In der Glaskugel, die sie am
Vortag aus dem See geholt hatte, konnte sie bewegte Bilder erkennen, was wiederum er für ein biologisches und
physikalisches Wunder hielt. Seine Fotos mussten für sie eine ähnliche Bedeutung haben, nämlich den Blick in
die Zukunft, oder in die Gegenwart eines anderen Ortes, oder was auch immer...
Für Antarona konnten seine Fotos nur eines bedeuten: Dass es die Götter bestimmt haben, dass sie eines
Tages zusammen sein würden und die Welt der Götter besuchen würden. Sie glaubte an Bilder aus der Zukunft
und sie schien sie zu akzeptieren. Sebastian ließ sie bewusst in diesem Glauben. Doch er kam sich ziemlich
schmutzig und gemein vor, weil er ihre Unwissenheit für sich ausnutzte, um sich ihre Liebe zu erschleichen.
Andererseits liebte Sebastian sie so sehr, dass er es nicht ertragen hätte, eine Chance vorüber ziehen zu
lassen, die ihm ihre Zuneigung einbrachte. Also konnte er gut damit leben, dass die Götter ihre Liebe scheinbar
vorbestimmt hatten!
»Vielleicht wirst du eines Tages diese Dinge sehen, wenn wir dorthin gehen«, beantwortete Sebastian
ihre Frage. Beschwichtigend, um sie nicht zu erschrecken, fuhr er fort:
»Aber wenn dein Herz an diesen Tälern hängt, werde ich auch ebenso gut in dieser Welt mit dir bleiben,
wenn du dir das wünscht. Ich verspreche dir, Antarona, ganz gleich was auch geschehen mag... Ich will deinen
Weg mit dir zusammen gehen, wohin auch immer er dich führen mag.., denn ich will dich nie wieder verlieren
müssen...« Sebastian fügte eine kurze Pause ein, bevor er weiter sprach. »Du weißt es nicht mehr, Antarona,
doch ich hatte dich bereits einmal verloren und der Schmerz meines Herzens hatte mich fast umgebracht. Dieses
Mal wird dein Weg auch der meine sein, wenn es ebenso dein Wunsch ist, wie ich es mir wünsche!«
Im Grunde bezweifelte er, dass Antarona genau verstand, was er ihr damit sagen wollte und Sebastian
hatte gehofft, sie hätte ihn darüber aufgeklärt, ob sie etwas für ihn empfand. Statt dessen ließ sie eine mögliche
Verbundenheit zwischen ihnen völlig offen.
Unvermittelt gab sie ihm noch einen flüchtigen Kuss, der ihm jedoch eher freundschaftlichen
Charakters erschien. Gleich darauf wandte sie sich den Fellen auf ihrem Lager zu und begann sie in ein Bündel
zu schnüren. Sebastians Enttäuschung stand ihm offen im Gesicht geschrieben, denn er hatte sich bereits
vorgestellt, durch eine Tür zu ihrem Herzen gefunden zu haben.
Etwas niedergeschlagen nahm er sein Waschzeug aus dem Rucksack und wollte zum See hinunter
gehen, um seine Morgentoilette zu verrichten.
»Wohin geht ihr, Ba - shtie?«, fragte ihn Antarona. Freundschaftlich, aber etwas distanzierter machte er
ihr klar, dass er ebenfalls etwas Wasser benötige, um sich zu reinigen. Sie wies mit dem Kopf zum Eingangssaal:
»Geht nicht dort hinunter, die Sonne steht hoch und manchmal sind Torbuks Späher früh unterwegs...
Kommt hier entlang, Ba - shtie.., folgt mir!« Damit nahm sie eine Fackel von der Wand und ging voran, in den
äußerst rechten Stollen, den Sebastian nicht mehr untersucht hatte. Neugierig folgte er ihr.
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Zunächst gingen sie gebückt durch einen natürlichen Stollen, der leicht anstieg. Nach etwa zehn Metern
erreichten sie einen großen Höhlenraum, der zwei bis drei Meter tiefer gelegen war und an seiner höchsten Stelle
etwa vier bis fünf Meter betrug. In der Mitte gab es ein natürliches steinernes Becken von etwa sechs Metern
Durchmesser, das bis zum Rand mit kristallklarem Wasser gefüllt war.
Schon wollte Sebastian sein Waschzeug dort abstellen, da bedeutete ihm Antarona, dass dieses
Wasserreservoir ausschließlich für Trinkwasser vorbehalten war. Sofort leuchtete Sebastian ein, dass dies einen
besonderen Sinn machte. In dieser Höhle konnte man sogar dann noch eine Weile ausharren, wenn sie belagert
wurde. Niemand würde verdursten!
Sie gingen am Wasserbecken vorbei, kletterten seitlich zwischen zwei Stalaktiten etwa drei Meter
hinauf und zwängten sich durch eine Öffnung, die knapp einen Meter breit war. Dieser Durchgang entließ sie in
einen sehr niedrigen Raum, in dem man sich allenfalls gebückt bewegen konnte. Ehe Sebastian sich versah,
krachte er mit dem Kopf gegen einen kleinen, von der Decke gewachsenen Stalagmiten. Die Spitze des
wunderschönen Gebildes brach ab und landete laut scheppernd auf dem Höhlenboden.
»Seid achtsam, Ba - shtie«, raunte ihm Antarona zu. »Es ist der Gang der steinernen Finger.., ihr müsst
nach oben und nach unten sehen«, ermahnte sie ihn.
»Ja.., super.., vielen Dank...«, gab Sebastian zurück, indem er vorsichtig die Beule an seinem Kopf
betastete. »Nett, dass du mich vorgewarnt hast«, fügte er noch ironisch hinzu.
Das weitere Hindurchzwängen durch kleine Felsnadeln, die sowohl von der Decke hingen, als auch auf
dem Boden standen, wurde kurz darauf abgelöst von einem ziemlich unebenem Felsband, etwa gut einen Meter
breit. Von Minute zu Minute nahm nun ein wildes Rauschen zu, dass sich binnen Sekunden zum
ohrenbetäubenden Tosen entwickelte. Antarona führte ihn und warnte ihn rechtzeitig, denn plötzlich tat sich
rechts unter ihnen ein tiefer Abgrund auf, in dem ein mächtiger Fluss im Nichts verschwand. Das war dann wohl
der Gang des schlecht gelaunten Wassers!
Stellenweise bedurfte es schon einiger Akrobatik, um auf dem Felssims zu bleiben und nicht in die
Tiefe zu stürzen. Und noch während Sebastian sich fragte, wie weit dieser Felsirrgarten noch gehen würde und er
sich ausmalte, wie wunderbar er sich in diesem Berg verlaufen konnte, entließ sie das Felsenband in einen
größeren Spalt, aus dem Tageslicht schimmerte.
Antarona löschte die Fackel und er tat es ihr nach. Dann traten sie durch den Spalt und Sebastian sperrte
vor Staunen die Augen auf. Unter ihnen breitete sich ein riesiger Höhlenraum aus, der mit ein paar Steinsäulen
geschmückt war. Der Boden jedoch war wie ein Schwemmboden mit feinstem Sand bedeckt, wie ihn schöner
kein Strand der Welt besaß. Vermutlich wurde dieser Teil der Grotte regelmäßig vom Wasser des Sees überspült.
Sie mussten etwas klettern, um den Schwemmboden zu erreichen und Antarona ermahnte ihn, sich den
Durchgangsspalt gut einzuprägen, damit er ihn für den Rückweg wieder fand. Der Sandboden zog sich durch den
gesamten Höhlenraum und endete an einer glatt geschliffenen, offenen Felskante. Dahinter lag der See! Eine fast
zehn Meter breite, niedrige Öffnung ließ den Betrachter von der Felskante aus einen großen Teil des Sees
überblicken, als wenn man aus einer riesigen Muschel herausschaute, die sich einen Spalt geöffnet hatte.
Seine grazile Begleiterin zeigte Sebastian, wie er aus der Öffnung, durch das flache Wasser und an das
Ufer des Sees gelangen konnte. Über ihnen brauste der Wasserfall herab und sie waren im Nu durchnässt. Eine
prima Dusche, wenn man nichts gegen kaltes Wasser einzuwenden hatte!
Schnell wurde Sebastian klar, dass sie sich am dem Weg gegenüber liegenden Ufer des Sees befanden.
Auch hier gab es einen angenehmen Sandstrand. Dahinter begann undurchdringlicher Bergwald, der sich
ausgesetzt und steil bis in höhere und felsige Regionen hinauf zog.
Sogleich erkannte Sebastian den Nutzen dieser Stelle. Badete man hier und wurde vom Weg aus
entdeckt, so hatte man reichlich Zeit, im Labyrinth der Höhle zu verschwinden, bevor man von möglichen
Feinden erreicht werden konnte. Denn die mussten entweder die volle Breite des Sees durchschwimmen, den
gesamten See umrunden, oder sich halsbrecherisch weiter oben einen Weg über den Fluss suchen, wo er über die
Felskante in den See stürzte.
Im Grunde war Antaronas Höhle wie eine natürliche Festung ausgebildet, die mit wenigen Personen
und mit noch weniger Aufwand verteidigt werden konnte. Immer deutlicher wurde Sebastian, weshalb sie dieses
Versteck so sorgsam hütete.
Während Sebastian ausgiebig im See badete, aalte sich Antarona am Strand in der jungen Sonne. Sehr
lange hielt er es allerdings nicht im Wasser aus, denn es war eisig kalt und er fror erbärmlich, als er kurz darauf
wieder auf dem trockenen Schwemmboden stand.
Der Weg zurück zur Wohnhöhle kam ihm länger vor, als der Hinweg, was daran liegen mochte, dass
sein Entdeckerdurst jetzt wieder ein Stück gestillt war. Dort angekommen, warf sich Antarona ihre Waffen und
ihr Fellbündel über den Rücken und wies in eine dunkle Ecke:
»Wählt euch ein Schwert aus, Ba - shtie.., ihr werdet es brauchen, wenn wir Torbuks Reiter verfolgen!«
Wie vom Donner gerührt stand Sebastian da. Er glaubte nicht recht gehört zu haben. War diese Frau noch ganz
bei Trost?
»Ich soll was wählen..?«, fragte er entgeistert, »...wenn wir Torbuks Männern folgen... Antarona, das ist
ja jetzt wohl nicht dein Ernst, oder?«
Doch! Es war ihr vollkommen Ernst damit! Zur Bestätigung erklärte sie ihm nüchtern:
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»Sonnenherz wird versuchen, die Schwestern des Volkes zu befreien. Glanzauge kann mit ihr gehen, oder hier in
Sicherheit bleiben. Antarona wird euch nicht böse sein, wenn ihr in der Höhle bleibt...«
Nein, natürlich nicht! Böse würde sie ihm nicht sein. Aber sie würde ihn für den Rest ihres Lebens
verachten! Krampfhaft überlegte Sebastian, ob es keine andere Lösung für diese Situation gab. Er und das
Krähenmädchen, zwei Figuren, ein Dorfpüppchen und ein unerfahrener Baustuckateur aus der Großstadt,
konnten es doch nicht mit einer ganzen Horde brutaler, mittelalterlicher Raubritter aufnehmen! Das war paradox!
Das musste sie doch einsehen! Beschwörend versuchte er Antarona von ihrer fixen Idee abzubringen:
»Also, jetzt sei doch mal vernünftig...«, begann Sebastian, »...das da draußen sind mindestens noch
zwölf Mann..! Diese Typen sind echt gefährlich.., die spaßen nicht.., die können uns einfach, ohne mit der
Wimper zu zucken umbringen, ist dir das eigentlich klar?« Er wartete erst gar keine Antwort von ihr ab, sondern
bedrängte sie weiter:
»Hör mal, Antarona, ehrlich gesagt, ich verstehe das hier alles gar nicht.., für so etwas ist die Polizei,
oder die Regierung, also der Herrscher eines Volkes zuständig! Warum musst du dich da einmischen und eine
gottverdammte Heldin spielen?« Allmählich wurde Sebastian etwas sauer, denn er konnte überhaupt nicht
nachvollziehen, warum sich jemand auf Biegen und Brechen auf so ein gefährliches Unternehmen einlassen
wollte. Er wollte Antarona unbedingt von ihrem Vorhaben abbringen:
»Also, Antarona, nun pass mal auf, ich erzähle dir jetzt mal...« Das war alles, was Sebastian noch
hervorbrachte. Sie drehte sich zu ihm um, kam langsam und bedächtig auf ihn zu und stellte sich drohend vor
ihm auf:
»Ba - shtie - laug - nids.., nun hört ihr einmal zu!«, sagte sie bestimmt und in gefährlich leisem Ton.
»Was redet ihr da von Regierung und von umbringen..? Was sollen die Töchter des Volkes sagen, die in Torbuks
Lagern gefangen sind und nur noch den Tod als Erlösung herbeisehnen? Habt ihr des Wasserbauern Tochter
schon vergessen, Ba - shtie, ja..? Habt ihr ihre Augen und ihren tränenden Leib so schnell vergessen?« Antarona
ließ ihre Worte eine Weile wirken und sah ihm nur starr in die Augen.
Als Sebastian peinlich ihrem Blick ausweichen wollte, sprang sie auf einem Mal vor und krallte ihre
Hände in seinem Nacken fest. Dann zog sie sich selbst aufreizend langsam zu ihm heran, schlang ihre Arme um
seinen Hals und fing an, ihn leidenschaftlich zu küssen...
Von einer Sekunde zur anderen wusste Sebastian nicht mehr, wie ihm geschah. Sie hatte ihn völlig
überrumpelt. Wie eine Klette hing ihr warmer Körper an ihm und in ihrem plötzlichen Gefühlsausbruch drohten
ihm augenblicklich die Sinne zu versagen. Gerade wollte Sebastian seinerseits seine Arme um sie legen, da
schnellte sie wieder wie von einer Feder getrieben zurück. Nach Atem ringend stand sie vor ihm und ihre Augen
sprühten unsichtbare Funken. Demonstrativ fuhr sie sich mit der Hand über ihren Mund und wischte die
Handfläche anschließend an ihrem Bauch ab:
»Das wolltet ihr doch.., Ba - shtie - laug - nids.., nicht wahr..?«, fauchte sie, »...genau das war euer
Wunsch, von da an, wo ich euch am See fand.., habe ich recht?« Etwas beruhigter setzte sie ihre Standpauke
fort:
»Ja, Ba - shtie.., das wollen alle Männer in unseren Tälern! Sie lieben die lachenden Augen, die
duftende, mit Mondkraut eingeriebene, feuchte, glatte Haut und den warmen, weichen Schoß der Töchter
unseres Volkes.., sie begehren sie, wollen ihren Rausch fühlen, in den kalten und einsamen Nächten.., genau so
wie ihr Antarona begehrt!« Betreten und ertappt hörte Sebastian ihr zu, während sie jede Möglichkeit
ausschöpfte, ihm ins Gewissen zu reden:
»Aber die Lager der Männer bleiben kalt und leer in den langen Nächten! Viele Töchter des Volkes
haben Augen ohne Leben, Augen, die nie mehr lachen.., sie schämen sich für die Narben ihrer Haut, welche wie
die Rinde der großen Bäume sind. Sie sind tot in ihrem Herzen und in ihrem Schoß, oder sie tragen die böse
Frucht Quaronas in ihrem Leib, was schlimmer ist, als der Tod!« Antaronas Stimme begann zu beben, sie sprach
weiter und es klang, als steigere sie sich in eine Hysterie hinein, als schrie ihr Herz selbst ihm die Worte ins
Gesicht:
»Glaubt mir, Ba - shtie, wir fühlen und wünschen ebenso, wir Töchter und Schwestern vom Volk
Volossodas und der Götter der Sonne, des Wassers, der Erde und des Windes... Oh ja, Ba - shtie - laug - nids..,
das könnt ihr mir glauben... Wir sehnen uns ebenso nach Liebe, nach der starken Hand eines Mannes, nach den
schützenden Armen, die uns umfangen, in die wir uns voller Vertrauen fallen lassen, um sanfte Zärtlichkeit zu
empfangen, mit einem neuen Leben der Liebe in unserem Leib... Unser Herz sucht verzweifelt nach Liebe, nach
Trost und nach einem starken Körper, an dem wir uns wärmen und anlehnen können...« Sie machte eine kurze
Pause und beobachtete, wie ihre Worte auf Sebastian wirkten, bevor sie mit krampfhaft unterdrückten Tränen
fort fuhr:
»Denkt ihr, die Männer des Volkes wollen ihr Lager mit Frauen teilen, die in ihrem Geist tot sind und
niemals mehr lachen können, die faulende, speiende Wundmale am Körper tragen, die bereits ein böses Herz
unter ihrem Herzen schlagen hören? Glaubt ihr die Töchter und Schwestern des Volkes können jemals wieder
die Hand eines Mannes auf ihrer Haut ertragen, wenn Torbuk und Kareks Reiter sie so zugerichtet haben, wie
des Wasserbauern Erstgeborene? Denkt ihr das.., Ba - shtie.., ja, denkt ihr das wirklich?« Zitternd griff Antarona
nach Sebastians Arm und schüttelte ihn:
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Seht mich an, Ba - shtie - laug - nids.., schaut mich ganz genau an...«, in einer einzigen Bewegung riss
sie sich das bisschen Leder ihrer Kleidung vom Leib, bis sie völlig nackt vor ihm stand und sagte: »Seht in
meine Augen, seht auf meine Brüste, seht meinen Bauch, saugt den Duft meiner Haut in euch auf, und erblickt
meinen Schoß... Liebt ihr das, Mann von den Göttern.., ja, habt ihr Sehnsucht danach, begehrt ihr das so sehr..?
Dann denkt an das Mädchen in der Hütte des Wasserbauern, denkt ganz fest an sie, bis ihr sie vor euren Augen
seht! Erinnert euch an die Zeichen der Grausamkeiten auf ihrem Leib, erinnert euch an ihren Blick, an ihre
Augen, aus denen alles Leben fort gegangen ist...« Kraftlos ließ Antarona ihre Arme fallen und sah Sebastian
beinahe hilflos an:
»Darum, Glanzauge..! Weil das so ist und weil unser Herrscher, König Bental, selbst ein Gefangener in
Falméra ist und machtlos ist.., darum wird Sonnenherz den Reitern folgen und die Schwestern befreien, wenn sie
noch des Lebens sind. Ihr könnt mit mir gehen, Ba - shtie, oder ihr könnt euren eigenen Weg gehen, ihr müsst
tun, was euer Herz euch sagt... Aber geht ihr mit Antarona, so seid bereit, denen ohne Gnade das Leben zu
nehmen, die es selbst mit ihren schwarzen Stiefeln treten!«
Sebastian musste ein paar mal schlucken und tief durchatmen. Während Antarona wieder ihre Kleidung
anlegte, stand er verschämt da, wie ein kleiner Schuljunge, der seiner Lehrerin einen Streich gespielt hatte und
dabei ertappt wurde. Doch lange überlegen brauchte er nicht!
Antarona würde sich auf gar keinen Fall von ihrem Vorhaben abhalten lassen, das wusste er nun. Die
einzige Möglichkeit, bei ihr zu bleiben, bestand offenbar darin, sie gewähren zu lassen, ihr den Rücken zu
decken und sie zu beschützen. Sebastian würde Menschen töten müssen, um das gewährleisten zu können! So
richtig war ihm das noch nicht klar geworden und er hoffte nach wie vor, dass sich noch ein anderer Ausweg
finden ließ.
Andererseits war seine Liebe zu diesem Krähenmädchen so groß, dass er auch das Schlimmste in Kauf
nehmen wollte, um bei ihr sein zu dürfen. Entschlossen ging er auf sie zu, nahm ihre Hände in die seinen und
hörte sich sagen:
»Antarona, was immer auch geschieht.., meine Füße werden an deiner Seite gehen und dein Weg wird
auch meiner sein!«
Um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, ging er in die Ecke, wo die Waffen lagen und sah sich kurz
um. Die halbverrosteten Schwerter waren sämtlich zu schwer für seinen Arm. Er konnte sie nicht einmal
anheben, geschweige denn, einem Gegner damit auf den Kopf schlagen. Bei dieser Gelegenheit lernte Sebastian,
inwieweit Ritterfilme im Fernsehen realistisch waren...
Letztlich entschied er sich für eine Art Kurzschwert. Das Ding war noch nicht allzu stark oxydiert, Griff
und Klinge waren aus einem Stück geschmiedet und das Griffstück war mit festem Leder und einem
Metallgeflecht umwickelt. Dazu fand Sebastian eine schäbige, lederne Scheide, die er sich, ähnlich wie
Antarona, über den Rücken hängen konnte.
Weiter nahm Sebastian seine beiden Bowiemesser mit, die er sich am Gürtel befestigte, sowie eine
bunte Reepschnur, die Antarona sofort aus den Augenwinkeln heraus bestaunte. Einen weichen Pullover band er
sich noch an den Schlafsack, den er sich ebenfalls um die Schulter hängte.
Sehnsüchtig warf Sebastian einen heimlichen Blick zurück auf ihr Lager. Wo sie in der kommenden
Nacht sein würden, war ungewiss...
Zunächst folgten sie dem Ufer des Sees. Sie hatten ungefähr die Stelle erreicht, an welcher Antarona
Sebastian gestern beim Speerfischen überrascht hatte, als unverhofft ihre beiden Krähen auf der Bildfläche
erschienen. Aus dem Nichts kamen sie plötzlich daher geflogen und ließen sich auf ihren Schultern nieder. Sie
ließen wieder ihr Kroooh, krooh erklingen und Antarona schien ihnen zuzuhören.
Das Ende des Sees gelangte bereits in Sichtweite, da lichtete sich der Wald und übergab sumpfigen
Weiden das Gelände. Der gut ausgebaute Weg indes schien gut einen Kilometer weiter, am Fuße der südlichen,
hohen Gebirgskette zu verlaufen. Wahrscheinlich wurden die Feuchtwiesen bei Hochwasser vom See überflutet,
so dass man den Weg weit genug davon entfernt angelegt hatte.
Antarona zog ihre Beinlinge aus und Sebastian hängte sich seine Stiefel an den Schnürbändern um den
Hals. Stellenweise wateten sie knietief durch den Schlamm. Ständig musste Basti seine Hose hochziehen, weil
sie nach drei Schritten wieder nach unten rutschte. Irgendwann waren die Hosenbeine durchnässt und er gab sein
Vorhaben auf, sie aus dem Morast heraushalten zu wollen.
»Antarona, warum haben wir nicht den Weg am anderen Seeufer gewählt, wo kein Sumpf das Gehen
behindert?«, wollte Sebastian wissen. Seine Gefährtin wies auf die gegenüberliegende Seite des Sees und auf
einen monumentalen Felsriegel, über den ein weiterer Bach über dreißig bis vierzig Meter in den See stürzte.
»Seht ihr den Wasserfall und die Felsen, Ba - shtie..? Wir wären noch nicht darüber hinweg, bevor die
Sonne am höchsten steht«, erklärte sie ihm. »Wir müssen schnell sein, denn Torbuks Reiter sind bereits
aufgebrochen...«
Erstaunt fragte er sie: »Woher willst du wissen, dass die nicht längst über alle Berge sind? Die haben
immerhin Pferde, während wir zu Fuß gehen... Wer sagt dir eigentlich, dass wir sie noch einholen können?«
»Antarona weiß es«, antwortete sie ohne zu überlegen. Als Sebastian ungläubig den Kopf schüttelte,
fügte sie erklärend hinzu:
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»Torbuks Pferdesoldaten haben in den Wäldern von Mittelau gelagert. Sie haben immer viel Mestas und
Mestastan dabei. Sie trinken die ganze Nacht, bis sie nicht mehr wissen, was sie tun. Oft tun sie dann den
Töchtern des Volkes schreckliche Dinge an, bevor sie so tief schlafen, dass selbst der Schrei eines Gors sie nicht
aufwecken kann. Sie wachen erst auf, wenn die Sonne lange ihren Lauf begonnen hat. Ihre Köpfe sind dann so
schwer, dass sie mit den Gefangenen nur langsam voran kommen.«
Die Wirkung von Mestas hatte Sebastian bereits zu spüren bekommen. Balmer und der Doktor hatten
zudem ein Paradebeispiel dafür abgegeben, wie lange dieses Zeug Wirkung zeigte. Doch er machte sich da
nichts vor... Wenn diese raubeinigen Reiter einen ähnlichen Rauschzustand erreichten, wie das bei Sebastian
schon nach einem Becher der Fall gewesen war, dann mussten die gefangenen Frauen und Mädchen in der
letzten Nacht die Hölle auf Erden erlebt haben!
»Ist Mittelau ein Dorf... Und sag mal, Antarona, woher willst du wissen, wo sich die wilden Reiter
Torbuks jetzt befinden...«, wollte Basti von ihr wissen. Er hatte noch viel mehr Fragen. So unendlich viele
Fragen brannten ihm auf der Seele, dass es wohl Tage dauern mochte, wenn sie ihm alle beantworten wollte.
Antarona blieb kurz stehen und wies in die Richtung, aus der sie gekommen waren: »Es gibt so viel
Dörfer in unseren Tälern, wie Finger an einer Hand«, klärte sie ihn umständlich auf. »Das erste Dorf, das ihr
gesehen habt, wenn ihr von Väterchen Balmer gekommen seid, ist Imflüh. Dort und im nächsten Dorf
Fallwasser lebt das Volk vom Vieh, von der Jagd und vom Holz, das sie von den Bergen holen, so wie mein
Vater. Das Dorf Zumweyer habt ihr gestern kennen gelernt, Ba - shtie. Die Menschen dort züchten Vieh auf den
Weiden und Fische in den Teichen. Die Dörfer Mittelau und Breitenthal liefern den Tälern Holz, Lehm, und die
glänzenden Steine, die sie aus den Gängen der Berge holen, um aus ihnen Waffen zu schmieden.«
»Und was ist mit den wilden Horden Torbuks...«, bohrte Sebastian noch mal nach, »...wie willst du die
finden?«
Antarona setzte eine traurige, fast verzweifelte Mine auf und sprach: »Wir werden ihrer Fährte folgen,
Ba - shtie.« Mit kraftloser Stimme erklärte sie in Rätseln: »Sie werden ihre Spuren hinterlassen, denen nicht
schwer zu folgen ist. Ba - shtie, ihr werdet euch wünschen, die Spuren der Reiter nie gesehen zu haben.., ihr
werdet sie nie wieder vergessen!«
Diese Prophezeihung verstand er noch nicht, aber es sollte nicht lange dauern, da sollte sie sich
Sebastian in all ihrer schrecklichen, schonungslosen Grausamkeit einprägen...
Seit ihrem Aufbruch bei der Höhle war etwa eine Stunde vergangen, als sie wieder in dichteren Wald
eintraten. Der See verbreiterte sich auf der anderen Seite noch einmal und griff mit einem ausgedehnten, runden
Seitenarm weit in die Wälder und Berge hinein. Gleichzeitig aber war sein Ende bereits auszumachen.
Mit zerklüfteten Felsstufen fiel das Tal etwas steiler ab. In tosenden, brausenden Stromschnellen und
kleinen Wasserfällen bahnte sich der Fluss seinen Weg durch den gebrochenen Felsriegel. Das Gelände in der
Nähe des Flusses wurde unwegsam.
Sie gingen auf dem ausgebauten Weg weiter, der die Wildwasser in einer weiten Kehre umrundete.
Nach Süden hin taten sich Wiesen auf, die wie Schneisen weit in die dichten Wälder hineinreichten und sich
bisweilen auf die höher gelegenen Hänge der Berge hinaufzogen. An einer dieser Schneisen stießen sie auf eine
erste deutliche Fährte der schwarzen Reiter und plötzlich verstand Sebastian, was Antarona damit gemeint hatte,
zu wünschen, solche Spuren nie sehen zu müssen...
Auf dem trockenen Gras der Weide, nicht weit vom Weg entfernt, hatte die wilde Horde ihr Nachtlager
aufgeschlagen. Der Boden war von unzähligen Hufen zertrampelt. Mindestens sechs Feuerstellen hatten die
Reiter unterhalten und aus einigen kräuselten sich noch kleine Rauchsäulen in den Himmel.
Antarona und Sebastian suchten das verlassene Lager nach Spuren ab und was sie fanden, war an
Grausigkeit kaum mehr zu überbieten. An einer Feuerstelle fanden sie die Leiche einer Frau, deren Oberkörper
in der noch glimmenden Glut lag und bis zur Unkenntlichkeit verkohlt war. An ihrem Unterleib und den Beinen
konnte man erkennen, dass sie noch ziemlich jung gewesen sein musste. Sie war unbekleidet und trug an beiden
Füßen einen zierlichen Schmuck aus rosa und weißen Muscheln.
Die Innenseiten ihrer Beine waren aufgescheuert und es stand außer Frage, was ihr in der Nacht
widerfahren war. Ein so abstoßender Geruch nach verbrannter Haut und versengtem Haar lag über dem Lager,
dass Sebastians Magen rebellierte und er sich rasch abwenden musste.
Stumm ließ sich Antarona vor dem Mädchen auf die Knie sinken und scheuchte einen Pulk Fliegen fort,
der bereits über die Tote hergefallen war. Dann versuchte sie die Fußgelenke der Frau zu fassen, um sie aus der
Glut zu ziehen. Doch ihre Hände fuhren nur hilflos und fahrig durch die Luft, denn sie wusste nicht, wo sie
anfassen sollte und fürchtete zudem den Anblick, den die Glut preisgeben würde.
Antarona nahm dem Mädchen den Fußschmuck von den zierlichen Füßen, verbarg ihn in ihren kleinen
Fäusten und schlug sie sich vor das Gesicht. Dann begann sie hemmungslos zu weinen und schluchzend wiegte
sie ihren Oberkörper von innerem Schmerz getrieben, auf und ab. Ein Zittern und Beben durchfuhr ihren
schlanken Leib, als würde sie sogleich auseinander brechen. Sebastian fasste sie an den Schultern und wollte sie
von dem toten Mädchen fortziehen, doch sie reagierte nicht. Erst mit Gewalt ließ sie sich hochziehen und von
ihm zu einem kleinen Felsen führen, wo er sie hinsetzte.
Unter Tränen öffnete Antarona die Hände. Ihre Handflächen bluteten, denn sie hatte den Schmuck so
fest umklammert, dass ihr die kleinen Muscheln in die Haut schnitten.
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»Antarona kannte dieses Mädchen...«, begann sie stockend, »...sie ist eine Tochter aus Zumweyer.., wir
waren einmal zusammen am Meer und haben die Elsiren besucht...« Wie zum Beweis hielt sie Sebastian mit
blutigen Händen den zarten Muschelschmuck entgegen. Ihre Hände schlossen sich wieder zu Fäusten und sie
schlug sich damit immer wieder, wie von Sinnen vor die Brust, bis Basti ihre Arme fest hielt.
Er kannte dieses Mädchen nicht, doch er spürte Antaronas Schmerz. So genau konnte Sebastian
nachempfinden, was seine Gefährtin fühlte, dass es ihm vorkam, als schlug ihr Herz in seiner Brust. Er versuchte
sein Krähenmädchen zu trösten, doch in seiner Unsicherheit und der eigenen Schockiertheit stellte sich Sebastian
dabei ziemlich unbeholfen an.
Nach einer Weile saß Antarona nur noch da, stumm und reglos, ihr leerer Blick schien sich wie in einer
weiten Ferne zu verlieren. Tränen rollten aus ihren leblos wirkenden Augen, wie, wenn Seen bis auf den letzten
Tropfen Wasser leer liefen.
»Kann ich dich einen Moment allein lassen...«, fragte Sebastian sie behutsam, »...ich will mal
nachsehen, ob ich noch etwas finde...«
Mit Tränen unterlaufenem, trauerndem Blick sah sie ihn an. Sie nickte nur stumm und fiel wieder in die
weite Leere, in die sie sich für den Moment flüchtete.
Aufmerksam suchte Sebastian das Lager ab und fand einen Becher, der nach Alkohol roch, mehrere
winzige Bekleidungsstücke aus Leder, wie sie auch Antarona trug, sowie einen groben Rock, den er bei älteren
Frauen gesehen hatte. In einer kleinen Grassenke zwischen den Feuerstellen fand er Blut. Es klebte am Gras und
an einem kleinen Stein. Eine feine Blut- und Schleifspur zog sich durch das Gras in Richtung Wald.
Auf alles gefasst zog Sebastian sein neues Schwert und folgte vorsichtig der Fährte. Er tippte auf ein
wildes Tier, einen Fuchs vielleicht, der ein im Dorf von den Reitern erbeutetes Huhn aus dem Lager
fortgeschleppt hatte. Doch wirklich überzeugt war er davon nicht und eigentlich wollte er sich mit dieser
Erklärung nur beruhigen!
Sebastian gelangte an den Waldrand und zu einem großen Felsen, der ähnlich einem Grenzstein
zwischen Wald und Wiese lag und wie absichtlich dort hin gesetzt aussah. Blut fand sich auch an der Felskante,
während die Spur um den Stein herum in den Wald führte. Ein Stück weiter stak eine ausgebrannte Fackel im
Waldboden. Sie war bereits kalt. Sebastian vergaß das wilde Tier und vermutete das Schlimmste. Dann blickte er
zur Seite und erstarrte...
Dort stand ein einzelner Baum, dessen Stamm sich schon kurz über dem Boden verzweigte und in zwei
dünneren Stämmen in den Himmel wuchs. An diesem verzweigten Baum hing, an den Hand- und Fußgelenken
mit Lederschnüren angebunden, eine jüngere schlanke Frau.
Ihr Alter schätzte Sebastian auf etwa zwanzig bis dreißig Jahre. Ihre schwarzen Haare hingen ihr wirr in
das Gesicht, das blutig daraus hervorlugte. Die Reste einer weißen Bluse aus grobem Stoff hingen ihr in Fetzen
von den Schultern und ihr entblößter Unterleib, sowie ihre Beine waren ebenfalls mit verkrustetem Blut
verschmiert und von dunklen Flecken übersät, die nur von festen Schlägen, oder starkem Druck herrühren
konnten.
Um den Hals trug die Frau eine kräftige Lederschnur, an der neben verschiedenfarbigen, durchlöcherten
Steinchen die schwarze Kralle eines offenbar sehr großen Tieres baumelte. Ein passendes Band mit kleinen
Steinen trug sie auch um ein Handgelenk. Es war blutig, denn die Fesseln hatten sich tief in die Haut geschnitten.
Wie vom Donner gerührt stand Sebastian da, erst einmal zu keiner Regung fähig. Wie verroht musste
ein Mann sein, einer Frau so etwas Schlimmes anzutun? Heftig schüttelte Basti seinen Kopf, in der Hoffnung,
aus einem bösen Alptraum zu erwachen, der mit jeder Stunde grausamer zu werden schien. Doch es gab kein
Entrinnen und er musste unwillkürlich daran denken, wie Antarona sich in der Höhle vor ihm entblößte, um ihm
deutlich zu machen, was Frauen und Mädchen hierzulande jederzeit durch Torbuk und seine Schergen einbüßen
konnten. Allein die Vorstellung, sein geliebtes Krähenmädchen konnte eines Tages so an einen Baum gebunden
sterben, brachte Sebastian schlicht um den Verstand.
Er zwang sich selbst aus seinen Gedanken und zog sein Bowiemesser aus dem Gürtel, um die Frau vom
Baum los zu schneiden. Als Sebastian die Fesseln mit der Klinge berührte, riss sie plötzlich die Augen auf und
sah ihn mit weit aufgerissenem, entsetztem Blick an. Wie zu einem Schrei öffnete sie weit ihren Mund, brachte
jedoch keinen Ton hervor.
Da Sebastian nicht damit gerechnet hatte, dass sie noch am Leben war, fuhr ihm ein solcher Schreck
durch die Glieder, dass er nach hinten stolperte und der Länge nach rückwärts auf den Waldboden schlug.
Nachdem er seine Angst überwunden hatte, trat er zu der Frau an den Baum und versuchte sie zu beruhigen,
während er ihre Fesseln durchschnitt. Sebastian redete sie in ruhigem Ton an, doch sie reagierte gar nicht. Statt
dessen murmelte sie etwas in dieser Sprache, deren Laute immer noch fremd in seinen Ohren klangen.
Indem er ihre letzte Fessel löste, wollte er sie auffangen, damit sie nicht einfach umfiel. Obwohl sie
ziemlich schlank war und nicht allzu viel wiegen konnte, glitt sie Sebastian einfach aus den Händen und sank zu
Boden, ohne dass er es verhindern konnte. Er war überrascht, wie schwer und unhandlich ein kraftloser Mensch
selbst dann noch war, wenn er eine eher kleine Statur besaß.
Vorsichtig bettete er die Frau auf den Waldboden, zog sein T- Shirt aus und bedeckte damit behutsam
ihre Blöße. Rasch scharrte Sebastian etwas Laub zusammen und schob es ihr unter den Kopf. Als er ihre offene
Bluse zusammenziehen und schließen wollte, hob sie in panischer Angst und mit gehetztem Blick ihre blutigen
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Hände, als wollte sie ein böses Monster abwehren. Sie warf wie im Wahn wild ihren Kopf hin und her und
stammelte irgendwelche Worte in ihrer Sprache. Sanft strich ihr Sebastian die verklebten Haare aus dem Gesicht
und versuchte sie zu trösten.
Hilflos blickte er umher, suchte nach etwas, womit er ihr ihre Lage etwas hätte erleichtern können. Auf
einem Mal war sie still. Sofort wandte er sich zu ihr um... Und blickte in starre Augen. Ihr Mund war noch halb
geöffnet. Sie bewegte sich nicht mehr. Mit zitternder Hand hielt ihr Sebastian die Klinge seines Bowiemessers
vor den Mund. Kein Hauch mehr ließ die kalte Klinge beschlagen. Die Frau war von ihrem Martyrium erlöst.
Betroffen hockte Basti vor ihrem geschundenen Körper. Vermutlich erlitt sie einen Herzstillstand, weil
sie in Panik geriet. Möglicherweise glaubte sie, wieder vergewaltigt zu werden. Was diese Frau erlebt hatte,
konnte sich Sebastian in seiner schlimmsten Phantasie nicht vorstellen. Jedenfalls musste es so schrecklich
gewesen sein, dass sie sich lieber in den Tod flüchtete, als es noch einmal erleben zu müssen. Die Hoffnung,
dass jemand kam und ihr helfen würde, besaß sie nicht mehr.
Zitternd und frierend schnitt er ihr die Halskette und das Armband ab, das einzige, womit man sie später
hätte identifizieren können. Wie benommen suchte Sebastian den Waldboden nach Steinen ab und schichtete sie
über ihrem Leichnam auf. Wenn sie schon niemand vor der Grausamkeit der Menschen beschützen konnte, so
sollte sie wenigstens vor den Tieren des Waldes sicher sein. Ein Stück neben dem Baum, an den die Frau
gefesselt war, fand Sebastian etwas Metallisches. Es war eine kleine, gewölbte Metallscheibe, auf die das
Symbol geprägt war, das er bereits als Medaillon dem Skelett oben in den Bergen abgenommen hatte und das die
schwarzen Reiter auf ihren Hemden trugen.
Völlig traumatisiert verließ er den Ort des Grauens. Seine größte Sorge galt nun Antarona. Überall sah
Sebastian jetzt eine Gefahr für sie. Und immer wieder klangen ihre Worte durch seinen Kopf, die sie sprach, als
sie in der Hütte des Wasserbauern standen... Das - tun - sie - mit - uns!
Noch nicht ganz klar im Kopf ging er um den großen Felsen herum und schrak erneut zusammen. Doch
er beruhigte sich gleich wieder. Antarona stand vor ihm, einen fragenden Blick in den Augen. Sebastian brachte
keinen Ton heraus, zeigte ihr nur stumm den Schmuck der jungen Frau und die Metallscheibe. Antarona
verstand sofort und wollte an ihm vorbei in den Wald gehen. Doch Sebastian hielt sie sanft zurück:
»Bleib hier, da gibt es nichts mehr zu tun.« Sie sah ihn fragend an und er erklärte ihr: »Die Tiere
werden nicht an sie heran kommen.., komm.., gehen wir!« Damit nahm er sie in den Arm und führte sie zurück
auf die Wiese. Antarona hatte bereits den leblosen Körper ihrer Freundin mit Steinen bedeckt. Zwischen zwei
Steinen am Ende des Grabhügels steckte eine Bussardfeder. Es war eine der Federn, die Antarona in ihren langen
schwarzen Haaren getragen hatte.
Leise und verhalten, wie ein Gebet, klangen die Stimmen der Vögel, als spürten auch sie, welch
trauriges und erschütterndes Ereignis diese friedliche Wiese in ein stilles Grab verwandelt hatte. Der Wind
bewegte sanft die Gräser und strich über die Trostlosigkeit, die sich über dem verlassenen Lager ausbreitete, als
wollte er die beiden Töchter des Volkes mit sich nehmen, in ein wärmeres, friedlicheres, glücklicheres Reich, in
dem ihre Seelen Ruhe finden konnten.
Schweigend nahmen Sebastian und Antarona ihre Bündel auf und verließen den bedrückenden Platz. Es
gab an diesem Ort nichts mehr zu tun. Was es zu tun gab, würde an einer anderen Stelle ausgetragen werden!
Das wussten sie beide, ohne auch nur ein einziges Wort darüber zu verlieren. Zwei Herzen dachten und fühlten
plötzlich wie eines!
Nach diesem ernüchternden Beispiel dessen, was dieser Torbuk und sein Sohn Karek diesem Land
aufbürdeten, folgten sie weiter dem Weg. Ab und zu kamen Antaronas Krähen herangeflattert, krächzten ihrer
menschlichen Freundin etwas ins Ohr und schwebten dann wieder elegant davon.
Ein wenig wunderte sich Sebastian, dass so wenige Menschen auf einem so gut ausgebauten Weg
unterwegs waren. Anscheinend lag das daran, dass momentan das blanke Grauen ungehemmt durch diese Täler
zog.
»Gibt es eigentlich noch andere Täler, in denen die wilden Horden Frauen gefangen nehmen?«, fragte
Sebastian Antarona nach einer Weile. Ihre Antwort klang wenig hoffnungsvoll, was eine zukünftig mögliche
Abwehr gegen solche Raubzüge betraf:
»In den Tälern der hoch stehenden Sonne jenseits der Sümpfe, wo das Meer ist...« Antarona überlegte
kurz, bevor sie weiter sprach:
»Dorthin ziehen die Reiter oft viele Tage lang und bringen Frauen und Männer. Manchmal nehmen sie
auch Elsiren gefangen, an denen sich die Reitersoldaten berauschen. Was sie mit den Töchtern der Täler tun,
habt ihr gesehen, Ba - shtie! Manchmal kommen viele Reiter, mehr als zwei Hände voll... Die holen die Männer.
Die sie nicht auf dem Weg töten, werden in die Täler der schlafenden Sonne gebracht, wo es kalt ist. Dort
müssen sie für Torbuk die glänzenden Steine und die Tränen der Götter aus den Bergen holen. Manchmal
kommt ein Sohn zurück.., über die Berge.., wenn er fliehen konnte.., Doch die zurückkehren, sind krank und alt
und können nicht mehr arbeiten...«
Was Antarona berichtete, war wenig ermutigend. Offenbar praktizierte man in diesen Tälern ganz offen
und ungehindert eine Art von mittelalterlicher Sklaverei. Das Volk indes war so sehr geschwächt, dass es sich
kaum mehr dagegen auflehnte... Bis auf einige wenige, wie Antarona! Sie schien augenblicklich die einzige zu
sein, die sich berufen fühlte, effektiv etwas an der Situation zu ändern. Dabei hatte Sebastian wieder das Bild
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vom Vortag vor Augen, als die Männer des Dorfes tatenlos zusahen, wie ihre Frauen und Töchter verschleppt
wurden. Und ähnliches hatte ihm schon Högi Balmer berichtet...
Antarona unterbrach seine Gedanken. Sie fasste sein Handgelenk und zog ihn in das Unterholz links des
Weges. Sie verbargen ihre Körper im gefallenen Laub und Antarona bedeutete ihm, mucksmäuschenstill zu sein.
Für jemanden, der den Weg herauf kam, waren sie beide nahezu unsichtbar. Dennoch umfasste Sebastians Hand
krampfhaft den Griff seiner neuen Waffe.
»Wieder ein schwarzer Reiter?«, fragte Sebastian flüsternd. Antarona zeigte ihm mit einer stillen Geste,
zwei sich hin und her bewegenden Fingern auf einer Handfläche, dass sie eher mit Fußgängern zu rechnen
hatten. Erwartungsgemäß hörten sie bald Stimmen, die sich nur langsam näherten.
In sorgloser Selbstsicherheit kamen zwei junge Männer den Weg herauf. Sie unterhielten sich laut
plappernd und lachend, als könnte kein Wölkchen die friedliche Stille der Wälder trüben. Ihre offensichtliche
Leichtsinnigkeit rang Sebastians Gesicht ein respektvolles Staunen ab.
Die beiden unbedarften Weggefährten konnten unterschiedlicher nicht sein. Sie machten einen
unerfahrenen, jungenhaften Eindruck und konnten in der Tat nicht mehr als siebzehn oder achtzehn Jahre zählen.
Beide waren ungefähr gleich groß und doch schien einer, der den anderen mit wilden Gesten und lautem Reden
zu beeindrucken suchte, unwesentlich kleiner zu sein. Sein etwas wippender, gebeugter Gang täuschte jedoch
möglicherweise darüber hinweg, dass er mit aufrechtem Rückgrat tatsächlich größer war.
Seine schlacksige, lässige Gangart, sich mit baumelnden Armen fort zu bewegen, die Sebastian ein
wenig an einen Orang Utan, oder einen Bergtroll erinnerte, ließ auf ein lockeres, unbekümmertes, ja schon
übermütiges Wesen schließen. Lustige, graublau leuchtende Augen und ein breiter, etwas feminin
geschwungener Mund, der ständig aus einem offenen Gesicht lachte, unterstrichen noch den augenscheinlich
lebensfrohen Charakter, der nichts wirklich ernst zu nehmen schien.
Das kurz geschnittene, aschblonde Haar auf seinem Haupt ließ seinen Kopf etwas kantig wirken, was
aber wegen seiner großen, schlanken Statur mit den breiten Schultern nicht weiter auffiel. Sein ganzes Wesen
lebte von einer ausschweifenden, lebendigen Körpersprache, ebenso seine Art sich verbal auszudrücken, indem
er seine Worte mit allerlei imitierten Geräuschen zu würzen wusste.
Sein Begleiter, der wohl eher Ruhigere, mehr in sich Gekehrte von beiden, erweckte um so mehr den
Eindruck von Stolz und Würde, aber auch von einer inneren Rastlosigkeit. Sein dunkles, fast schwarzes, leicht
gewelltes Haar gab seinem schmalen, und überlegen wirkenden Antlitz ein unergründliches, dennoch reifes und
selbstkritisches Wesen. Sein zurückhaltendes, aber entwaffnendes Lächeln bescherte ihm einen geheimnisvollen
Charme, der sicher viele Frauenherzen im Sturm erobern konnte. Mit einem athletisch schlanken, hoch
gewachsenen Körper wirkte er wesentlich hagerer und jünger, als sein Gefährte, strahlte aber dennoch eine
größere Integrität und Zuverlässigkeit aus.
Intelligente, dunkle Augen ließen Scharfsinn und Sensibilität zugleich erkennen. Sein Gang war
erhoben und aufrecht. Er wirkte auf den ersten Blick etwas steif, wie der eines Mannes, der sich von seiner
inneren Überzeugung selten abbringen ließ. Doch sein ausgeglichener, fließender Gang zeugte von einer
unglaublichen Elastizität seines Körpers.
Der trolligere der beiden Gefährten, trug eine Armbrust, die er sich achtlos über den breiten Rücken
gehängt hatte. Sein Freund war offenbar ohne jede Waffe unterwegs. Er hatte sich lediglich einen dunkel
gefärbten Lederbeutel über die schmale Schulter gehängt, aus der die Enden mehrerer vier bis fünf Zentimeter
starker, gerader Knüppel ragten.
»Antarona kennt diese beiden, sie sind zwei Brüder aus dem Dorf Mittelau«, raunte ihm seine Gefährtin
in sein Ohr. Als er schon aus ihrem Versteck kriechen wollte, hielt sie ihn zurück:
»Wartet, Ba - shtie, wir wollen sehen, ob ihnen jemand folgt..!« Sie blieben unsichtbar, warteten und
beobachteten. Die Zwei trotteten vorüber und waren guter Dinge. Sie redeten in der Sprache des Volkes und
Sebastian konnte nur vermuten, worum es ging. Der redseligere von beiden versuchte dem anderen offenbar
etwas zu erklären. Er unterstrich seine Ausführungen mit euphorischen Gebärden. Der Dunklere quittierte die
sehr anschauliche Rede seines Bruders mit einem skeptischen Lächeln. Von den Gräueltaten der schwarzen
Reiter hatten sie anscheinend keine Ahnung. Vermutlich wussten sie nicht einmal, dass der Trupp von Torbuks
Männern durch das Tal geritten war.
Die Brüder waren bereits einige Meter an Sebastian und Antarona vorbei gegangen, da gab Antarona
das Zeichen, indem sie Basti mit dem Ellenbogen anstieß. Sofort trat Sebastian hinter den beiden aus dem
Unterholz und rief sie an:
»Hallo, ihr da.., wartet mal..!« Die beiden erschraken dermaßen, dass sie einen Riesensatz vorwärts
machten und sich augenblicklich dort, wo sie gerade standen, in den Straßenstaub fallen ließen. Den Bruchteil
einer Sekunde später lagen sie nebeneinander auf dem Bauch, das Gesicht im Sand und streckten ihre Arme und
Beine weit von sich.
Von Weitem erkannte man nur zwei große Kreuze, die jemand auf den Weg geworfen hatte. Wie sie so
da lagen, ähnelten sie sehr zwei von einem Auto platt gefahrenen Fröschen während der Krötenwanderung.
Sebastian rief sie noch einmal an, doch sie blieben liegen, wo sie sich hatten fallen lassen. Inzwischen war auch
Antarona aus dem Dickicht hervorgetreten.
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»Was für zwei komische Vögel sind das denn..?«, fragte Sebastian sie belustigt. »Also, so welche, wie
die beiden gibt es doch gar nicht!«, fuhr er fassungslos fort, nachdem sich die Brüder noch immer nicht rührten.
Fast konnte man meinen, sie wären gleichzeitig vom Blitz erschlagen worden.
Schließlich sagte Antarona etwas in ihrer Sprache und sie lösten sich allmählich aus ihrer Starrheit.
Umständlich erhoben sie sich und klopften sich den Straßenstaub aus den Kleidern. Dann erst schienen sie das
Krähenmädchen zu erkennen und ihre Minen hellten sich deutlich auf. Antarona sprach zu ihnen und wies
gleichzeitig auf Basti. Was hätte er darum gegeben, in diesem Moment die Sprache des Volkes zu verstehen!
Nachdem seine Gefährtin ihre Erklärung beendet hatte, kamen die Brüder langsam und immer noch
voller Misstrauen auf Sebastian zu. Dann berührten sie staunend seine Tätowierungen. Der ältere der beiden
Gesellen rieb an Bastis Arm, als wollte er prüfen, dass sich die Zeichen der Götter definitiv nicht entfernen
ließen und somit echt waren.
Der jüngere Dunkelhaarige hatte allerdings nur Augen für Antarona. Ihre knappe Bekleidung regte
offenbar seine Phantasie an und als er sich dessen bewusst wurde, nahm sein Gesicht eine rote Färbung an, die
einer reifen Tomate zur Ehre gereicht hätte. Verschämt blickte er zu Boden.
Sebastian jedoch wurde auf der Stelle eifersüchtig, sah er doch aus den Augenwinkeln Antaronas
offenes Lächeln, das sie den beiden Jünglingen entgegen warf. Verkniffen bemühte er sich, seine Gefühle nicht
zu zeigen, denn der Zeitpunkt war denkbar unpassend. Immer noch waren sie den Reitern Torbuks auf den
Fersen und je schneller sie voran kamen, das war auch Sebastian inzwischen klar geworden, desto größer war die
Chance, die gefangenen Frauen noch lebend zu befreien.
»Das sind Ravid und Daffel«, stellte ihm Antarona die beiden vor. Was sie den Brüdern über ihn erzählt
hatte, konnte er nur vermuten, nachdem einer so sorgsam Sebastians Tätowierungen geprüft hatte, die man
hierzulande wohl für die Zeichen der Götter hielt.
»Die Brüder von Mittelau gehen mit uns...«, fügte Antarona noch hinzu, indem sie ihm die beiden mit
offener Handfläche präsentierte, »...sie werden Sonnenherz und Glanzauge helfen, die Töchter des Volkes zu
befreien!«
Es ärgerte Sebastian, dass Antarona diese Schreckhasen bereits im Voraus so behandelte, als hätten sie
gerade allein das ganze Land von Torbuks Männern befreit.
»Na, da wollen wir mal hoffen, dass die schwarzen Reiter nicht auch hinter Bäumen sitzen und arme,
unwissende Wanderer erschrecken, was?« gab Sebastian ironisch zu bedenken. Mehr zu Antarona gewandt
überlegte er:
»Sag mal.., die beiden kommen doch aus der Richtung, in welcher die wilden Horden gezogen sind...
Haben sie denn gar nichts gesehen, oder gehört?«
»Sie kamen nicht aus Mittelau, Ba - shtie.., sie waren ein paar Tage auf einer Weide in den Bergen, wo
ihre Mutter durch Raubzeug manches Vieh verloren hat.« Antarona hatte die beiden Gesellen also bereits
ausgehorcht. Sebastian wollte allerdings nicht so recht begreiflich werden, wie die beiden denn mit einem
Felsenbären fertig geworden wären...
»Antarona, wer sagt eigentlich, dass diese miesen Typen nicht auch noch in das Dorf Mittelau einfallen
und sich dort genau so gebärden, wie in Zumweyer...«, wollte Sebastian von seiner Gefährtin wissen. Sie dachte
kurz über seinen Einwand nach, schüttelte dann aber den Kopf:
»Es waren nicht mehr Pferdesoldaten, wie drei Hände voll...«, überlegte sie, »...nicht ganz eine Hand
voll Männer haben sie verloren... Nein, Ba - shtie, sie werden nicht nach Mittelau gehen! Sie waren nur die
Augen Torbuks.., sie reiten zu ihrer Armee, die in den Wäldern lagert, oder sie kehren auf die Festung Quaronas
zurück. Wir müssen sie einholen, bevor sie auf andere Pferdesoldaten treffen!«
Damit setzte sich ihr kleiner Trupp in Bewegung. Nach einer Weile trat der Weg aus dem Wald und
führte auf einen breiten Wiesenstreifen, der links und rechts den Fluss säumte. Auf der rechten, ihnen
zugewandten Seite, lag Mittelau. Ein Ort, der den Dörfern, die Sebastian bereits kennen gelernt hatte, wie ein Ei
dem anderen glich. Nur, dass Mittelau von bewaldeten Hügeln regelrecht eingepfercht da lag. Die hohen,
schneebedeckten Berge ragten weit dahinter auf.
Blickte Sebastian talwärts, so konnte er jedoch vermuten, der Fluss würde sich seinen Weg unter einer
Bergkette hindurch suchen. Die eisbedeckten Gipfel schoben sich dort im Talgrund zusammen, dass er annahm,
nur eine tiefe Felsschlucht, oder ein natürlicher Tunnel konnte aus diesem Tal heraus führen.
Vor dem Hintergrund solcher Aussichten fragte er sich, wie dieses Volk es zulassen konnte, von
marodierenden Truppen tyrannisiert zu werden. Ausgedehnte Wälder und unzählige Seitentäler boten eigentlich
genug Möglichkeiten, eine kleine Guerillaarmee ebenso zu verstecken, wie ein evakuiertes Dorf. Vermutlich
fehlte es den Bewohnern an der Fähigkeit, sich zu organisieren.
Je näher Sebastian über die Lage in diesen Tälern nachdachte, desto augenfälliger wurde ihm, weshalb
sich Högi Balmer in die Einsamkeit der Berge zurückgezogen hatte. Dort oben war er vor den schwarzen Reitern
sicher. Einen so beschwerlichen Weg bis zu ihm hinauf, taten diese sich ganz gewiss nicht an.
Die Hufspuren der Soldaten, die stellenweise gut zu sehen waren, folgten verborgenen Pfaden durch
den Wald, außer Sichtweite des Dorfes. Antarona untersuchte die Fährte regelmäßig und stellte zufrieden fest,
dass sich der Abstand zwischen ihnen und Torbuks Raubrittern stetig verringerte. Mit den gefangenen Frauen
kamen sie nur langsam voran.
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Doch je mehr sich der Abstand zu der verfolgten Mordbande verkürzte, desto aufmerksamer mussten
sie sein. Es war möglich, dass sie eine Nachhut abgestellt hatten, die möglichen Verfolgern eine Falle stellen
konnte. Vielleicht fühlten sie sich aber auch so sicher, das sie auf jegliche Vorsicht verzichteten... Wer wusste
das schon so genau?
Der Waldpfad, dem sie folgten, führte sie durch dichtes Unterholz, dann wieder durch Hochwald, wo
hinter jedem dicken Baumstamm ein Feind lauern konnte. Oft wand sich der unscheinbare Weg um Felsen
herum, oder durch Bachläufe, was Sebastian zu der Überlegung brachte, wie um alles in der Welt die gefangenen
Frauen diesen Marsch aushalten konnten.
An einer unübersichtlichen Stelle, wo Unterholz und Bäume beinahe über dem Pfad zusammen
wuchsen, lag plötzlich etwas auf dem Weg, das sich beim Näherkommen als eine Frauengestalt entpuppte. Noch
bevor Sebastian oder Antarona reagieren konnten, sprinteten Daffel und Ravid los, um der Frau zu helfen. Sie
kamen nur ein paar Schritte weit...
Plötzlich erfüllte ein Rauschen und Knarren die Luft. Wie von einer Riesenfaust gelenkt, schwang aus
dem Blätterdach der dicht stehenden Bäume ein großer hölzerner Rahmen hervor, der mit unzähligen
Holznägeln, wie die Bank eines Fakirs, gespickt war. Er zischte an Ravid vorbei, erwischte noch den
Umhängeriemen seiner Armbrust und hob den vorwitzigen Helden hoch in die Luft. Krachend schlug das
gezackte Holt in einen gegenüberliegenden Baumstamm, nagelte die Armbrust förmlich daran fest und blieb
zitternd im Holz stecken. Ravid schlug hart gegen den Stamm und hing anschließend wie eine reife Birne am
Baum.
Nachdem sich der erste Schreck gelegt hatte, mussten sie versuchen, Ravid aus seiner Zwangslage zu
befreien. Das war nicht so einfach, wie es zunächst schien, denn die Falle hatte seinen Armbrustriemen in einer
kaum zu erreichenden Höhe an den Baum geheftet. Er hing wie ein nasser Sack in seinem Gurt und strampelte
und fluchte, dass es schon beinahe komisch wirkte. Hätte sie seine stattliche Gestalt nicht eines Besseren belehrt,
so hätten ihn seine Gefährten leicht für einen tobsüchtigen Waldgnom halten können.
»Sag ihm, er soll das auffangen und sich damit los schneiden...!«, bat Sebastian Antarona, während er
sein Bowiemesser in der Hand wog. Mit der flachen Hand warf er es waagerecht zu Ravid hoch, direkt vor seine
Nase. Doch anstelle das Messer ruhig zu greifen, grabschte und fuchtelte Ravid mit seinen Armen in der Luft
herum, dass er es nur heftig anstieß und bis weit in das Dickicht hinein beförderte.
»Das glaubt man doch nicht!«, schimpfte Sebastian fassungslos und an sein Krähenmädchen gewandt:
»...sag diesem Clown da oben, er soll nicht so herumzappeln, sonst schneidet er sich mit meinem Messer noch
die Ohren ab!«
Daffel hatte das Messer aus dem Gebüsch gezogen und gab es ihm zurück. Zweiter Versuch. Ravid
schnappte danach, als es wieder vor seinem Gesicht schwebte und... Es steckte plötzlich neben Antarona im
Waldboden. Allmählich wurde Sebastian ungeduldig:
»Sag mal, ist der blind?«, fragte er dessen Bruder, der ihn nur stumm ansah, weil er seine Sprache aus
dem Reich der Toten nicht verstand. Mehr zu sich selbst sprach Sebastian: »Der massakriert uns noch alle, bevor
wir Torbuks Reiter überhaupt zu Gesicht bekommen! Eine feine Bananentruppe haben wir da.« Ravid erkannte
wohl an seinem Tonfall, dass er ihn lächerlich machte und empörte sich in seiner Sprache bei Antarona. Die
schien über allem erhaben zu sein und lächelte nur belustigt in sich hinein.
Der dritte Rettungsversuch gelang. Ravid erwischte das Messer an der Klinge und schnitt sich erst
einmal die Hand auf. Dann sägte er am Gurt seiner Armbrust herum, bis dieser plötzlich nachgab und sein
Gewicht einfach der Schwerkraft überließ. Wie ein Hafersack plumpste der junge Mann auf den Waldboden.
Seine Armbrust, wegen des durchtrennten Gurtes ebenfalls ein Opfer der Gravitation, folgte ihm und sauste mit
einiger Geschwindigkeit auf seinen Kopf nieder.
Als er aus seiner Benommenheit erwachte, hatten sie zunächst seine Hand, dann noch eine Platzwunde
am Kopf zu behandeln. Das Ganze schien ihm nicht die Bohne auszumachen. Er war dennoch guter Dinge und
Sebastian wunderte sich über dessen Frohnatur, der offenbar nichts etwas anhaben konnte. Andererseits hätte die
Sache auch anders ausgehen können.
»Also Leute, für die Zukunft...», begann Sebastian und richtete seinen Vortrag zunächst an Antarona, in
der Hoffnung, sie würde den Brüdern seine Worte übersetzen, denn für die waren sie eigentlich gedacht:
»Wenn irgendetwas unten liegt.., nach oben sehen... Und wenn etwas oben hängt, guckt nach unten auf
den Weg.., klar?« Ravid und Daffel nickten nur, nachdem ihnen Antarona seine Worte erklärt hatte.
Wahrscheinlich hätten sie aber sowieso genickt, ob nun verstanden, oder nicht.
Vorsichtig gingen sie nun zur Ursache von Ravids Höhenflug hinüber. Dieses Etwas, das auf dem Weg
lag, war eine junge Frau mit rotblondem Haar. Sie trug ein längeres Kleid aus hellblauem, feinen Stoff, der ganz
und gar nicht zu dem passte, was Sebastian bisher in diesen Tälern als Kleidung zu Gesicht bekam. Die Frau
hatte jedoch nichts mehr von ihrem schönen Kleid... Sie war tot.
Gerade wollte sich Sebastian niederknien und sie untersuchen, da hielt Antarona ihn zurück: »Gebt
acht, Ba - shtie.., Sonnenherz sieht keine Wunden.., sie kann am Fleckentot gestorben sein!«
»Ja, was zum Himmel ist denn nun wieder der Fleckentot?«, wollte er wissen. Antarona nahm einen
Zweig vom Waldboden hoch und schob der Toten das Kleid hoch. Es gab nichts Auffälliges, oder
Ungewöhnliches zu entdecken. Antarona klärte ihn auf:
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»Der Fleckentod kommt aus den Tälern der wachenden Sonne. Einige von Torbuks Männern sind krank
daran. Die Haut bekommt dunkle Flecken.., dann ist der Tod nicht mehr fern!«
Diese Erklärung genügt Sebastian! Beim Fleckentod musste es sich um eine Krankheit, wie Lepra,
Cholera, oder Pest handeln... Pest..! Plötzlich fiel ihm etwas ein... Hatte nicht Bruno Ambühel davon
gesprochen, dass einige der Knochen und Skelette am Zwischbergenpass von Pesttoten stammten? Gab es da in
irgend einer Form einen Zusammenhang? Doch was hatte der Schweizer Zwischbergenpass mit dieser Welt zu
tun, die Sebastian geografisch nicht einmal zuordnen konnte? Antarona störte seine Überlegungen:
»Sie war eine Tochter Torbuks...«, stellte sie nüchtern fest und sah dabei ausschließlich ihn an. Für die
beiden Brüder schien diese Feststellung ohnehin klar gewesen zu sein, denn sie waren in keiner Weise
verwundert.
»Sie hat nicht die Haarfarbe der Krähen, wie die Frauen aus dem Volk. Ihre Haare sind die Haare aus
den Tälern Zarollons.., sie ist eine von Torbuks Töchtern! Ihre Mutter war eine Tochter des Volkes. Sie wurde
von Torbuks Reitern verschleppt und kam mit der bösen Frucht Quaronas in ihrem Leib zurück ins Tal.«
Trotz dieser Erklärung Antaronas war sich Sebastian immer noch nicht über die Todesursache dieser
Frau im Klaren. Aber eine andere Frage beschäftigte ihn:
»Sag mal, Antarona, wie lange geht das hier eigentlich schon so, dass diese Reiter Torbuks eure Frauen
und manchmal auch eure jungen Männer verschleppen?«
»Der Vater meines Vaters kämpfte schon gegen Torbuk und seine wilden Horden.., seine Mutter ist nie
aus Quaronas, Torbuks Festung zurückgekehrt.«, antwortete sie.
»Ja, aber dann muss dieser Torbuk doch bereits steinalt sein..!«, warf Sebastian ein. Antarona überlegte
kurz und bestätigte dann:
»Torbuk ist so viele Winter alt, wie zwölf mal zwei Hände voll...« Um sicher zu gehen, dass sie keinen
Irrtum beging, zählte sie noch eine Weile an ihren Fingern herum.
»Aber dann wäre der Typ ja hundertzwanzig Jahre alt!«, gab Sebastian zu bedenken. »So alt wird kein
Mensch auf dieser Welt.«, stellte er richtig. Doch sicher war er sich ganz und gar nicht. Die Zeit schien in diesen
Tälern ganz anderen Gesetzen unterworfen zu sein, als sie ihm bekannt waren. Das beste Beispiel war Antarona
selbst, die als Janine zu diesem Zeitpunkt wesentlich älter sein musste!
Sie ließen die Frau dort liegen, wo sie lag und in Sebastians Welt wäre das sicher nicht möglich
gewesen. Doch in diesen Tälern war eben alles anders! Keiner von ihnen wollte Gefahr laufen, sich mit einer
unbekannten Krankheit anzustecken. Also überließen sie die Leiche den wilden Tieren des Waldes und setzten
ihren Weg fort. Ravid hielt sich ab und zu seine Armbrust zur Kühlung an seine Wunde, die hässlicher aussah,
als sie gefährlich war.
Um die Mittagsstunde erreichten sie erneut ein Dorf. Breitenthal lag auf der gegenüberliegenden
Talseite, im Winkeleck eines in den Fluss mündenden, kleineren Flusses, der aus einem der Seitentäler genährt
wurde. Einige Wassermühlen und Schmiedestätten lagen an seinem Lauf, die sich seine Kraft zunutze machten.
Im übrigen war auch dieses Dorf von den bisherigen kaum zu unterscheiden.
Mühsam mussten sie eine reißende Furt jenseits der Einmündung durchqueren. Die Hufabdrücke der
Pferdesoldaten zeigten deutlich, dass die Reiter irgendwo in den ausgedehnten Wäldern der Seitentäler
verschwunden waren. Immer schwerer war die Fährte auf den zum Teil felsigen Waldböden zu erkennen und die
ständige Spurensuche hielt sie auf. Sie kamen kaum noch voran.
Zwischendurch mussten sie Ravid immer wieder daran erinnern, dass sie eine Horde nicht gerade
freundlicher Reiter verfolgten. Er schien das zeitweise zu vergessen und erzählte munter und lautstark von
irgendwelchen Erlebnissen, die er offensichtlich überlebt hatte. Stets mussten Antarona oder Sebastian ihn mit
einem energischen Handzeichen und einem ebenso deutlichen Zischen darauf hinweisen, dass hinter jedem
Baum ein gespannter Bogen, oder ein scharfes Schwert warten konnte.
Bis in den Nachmittag hinein, stiegen sie ein ausgedehntes, dicht bewaldetes Seitental hinauf, stets die
Spuren von Torbuks Männern vor Augen. Von den Reitern selbst bekamen sie jedoch nicht einen Hemdzipfel zu
sehen. Sie waren ihnen ständig ein bis zwei Stunden voraus. In regelmäßigen Abständen erschienen Antaronas
Krähen aus heiterem Himmel, ließen sich für ein paar Minuten auf den Schultern ihrer menschlichen Freundin
nieder, um dann wieder für eine geraume Zeit davon zu segeln.
Es war bereits Abend und die Sonne senkte sich deutlich auf die westlichen Berge nieder, da gewahrten
sie im undurchdringlichen Bergwald eine Bewegung. Das flüchtige Huschen eines Schattens nur, aber auffällig
genug, dass er sofort Antaronas Aufmerksamkeit erregte. Sie duckte sich augenblicklich in die Deckung des
Unterholzes und gebot den anderen mit einem Handzeichen, ihrem Beispiel zu folgen.
Da! Im niederen Buschwerk ein Rascheln und eine Gestalt, die sich ebenfalls in der Vegetation zu
verbergen suchte. Im nächsten Moment lag ein Pfeil an der gespannten Sehne Antaronas Bogens. Doch sie
konnte kein eindeutiges Ziel ausmachen. Sie warteten geduldig ein paar Minuten, aber drüben im Strauchwerk
rührte sich nichts mehr. Doch was immer es auch für ein Wesen war, das sich dort verkroch, es musste noch da
sein!
»Halte du das da drüben mit deinem Bogen weiter in Schach, ich versuche rückwärts durch den Wald
heranzukommen.«, flüsterte Sebastian Antarona zu. Sie setzte eine sorgenvolle Mine auf, doch er beruhigte sie,
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indem er sein Bowiemesser zog und es ihr zeigte. Sie wusste nun, Sebastian würde nicht unbewaffnet im
Dickicht herumschleichen.
Auf leisen Sohlen zog sich Sebastian einige Meter auf ihrem Weg zurück. Dabei gab er den Brüdern ein
unmissverständliches Zeichen, sich ja mucksmäuschenstill zu verhalten. Mit der Motorik einer Schwerelosigkeit
umging er ein paar Sträucher und gelangte in eine flache Rinne, die bei Regen wahrscheinlich zu einem kleinen
Bach anwuchs. Bei jedem Zweig, den seine Bergschuhe leise knacken ließen, gefror seine Bewegung für ein
paar Sekunden, bevor er weiter schlich. Langsam arbeitete sich Sebastian an die Stelle heran, die er sich vom
Weg aus eingeprägt hatte. Im Buschwerk zwischen zwei aufeinander zugeneigten Bäumen musste sein
lebendiges Ziel sitzen.
Zwei Möglichkeiten zog er in Betracht. Entweder wollte er das Wesen aufschrecken, so dass Antarona
einen sauberen Schuss anbringen konnte, oder er konnte das Unbekannte selbst überwältigen oder töten, wenn er
sich dahingehend eine Chance ausrechnen durfte.
Leise verließ Sebastian den ausgetrockneten, mit Laub gefüllten Bachlauf und tastete sich in der
Gangart eines gebückten Storches weiter. Da sah er auf einem Mal eine kleine, reglose Gestalt hinter einem
Gebüsch kauern. Undeutlich nur erkannte er ein Mädchen mit langen zerzausten Haaren. Ermüdend langsam
bewegte sich Sebastian weiter auf die Stelle zu, bis er sich nicht mehr sicher war, ob er sich weiter geräuschlos
anpirschen konnte.
Still beobachtete er weiter dieses langhaarige Wesen, das einen Fellumhang trug und somit für das
Auge fast perfekt mit der Umgebung verschmolz. Der Größe und den Proportionen nach war es eine sehr junge
Frau. Das ermutigte ihn zu dem Versuch, sie zu überwältigen.
Geräuschlos grub er mit der Hand im Waldboden und förderte einen kleinen Stein zu Tage. Unmerklich
hob er den Arm und ließ den Stein aus dem Handgelenk in hohem Bogen davonfliegen. Mit einem lauten Klack
schlug er jenseits des Mädchens gegen einen Baum.
Sogleich wirbelte die junge Frau zum vermeintlichen Angreifer herum und Sebastian erkannte seine
Chance, sich auf sie zu werfen. Er war davon überzeugt schnell zu sein. Doch das verschreckte Mädchen war
noch um einiges flinker. Es wand sich unter seinen Armen hervor, ließ ihn ins Leere fallen und brach panikartig
durch das Dickicht, direkt auf Antarona zu.
»Nicht schießen, Antarona.., nicht schießen!«, konnte Sebastian gerade noch schreien, dann landete er
mit dem Gesicht im Dreck. Erde und faulende Blätter ausspuckend rappelte er sich wieder hoch und wand sich
durch das Unterholz zu Antarona und den Brüdern zurück.
Die hatten inzwischen das aufgescheuchte Mädchen niedergerungen und hielten es fest. Es strampelte
mit Armen und Beinen, es biss und kratzte, wie ein gefangenes Wildtier. Antarona redete mit sanfter Stimme auf
sie ein und bald beruhigte sie sich. Sebastians Gefährtin fand in ihrer Sprache heraus, das dieses arme Geschöpf
aus dem Dorf Zumweyer stammte und zu den von den schwarzen Reitern entführten Frauen gehörte.
Ihre fraulichen Rundungen waren noch nicht sehr ausgeprägt. Dieser Tatsache hatte sie es wohl zu
verdanken, dass die Reiter sie bislang in Ruhe ließen. Als sich die Gelegenheit bot, hatte sie sich rasch in die
Büsche geschlagen, sich unter das Laub gegraben und versteckt. Die Pferdesoldaten wollte ihre Tiere nicht in
das tückische Dickicht lenken und verzichteten auf eine Verfolgung. So konnte sie mit viel Glück einem
schlimmeren Schicksal entkommen. Als sich Sebastian schließlich auf sie werfen wollte, musste sie annehmen,
einer von Torbuks Männern hätte sie doch noch aufgespürt.
Die sichtliche Erleichterung, dass sie Freunden in die Arme gelaufen war, stand ihr deutlich ins Gesicht
geschrieben. Daffel und Ravid kümmerten sich rührend um sie, als hätten sie ihre eigene Schwester aus den
Fängen der brutalen Reiter befreit. Sie beruhigte sich zusehends und begann es zu genießen, von den Brüdern
umschwärmt zu werden.
Antarona horchte das Mädchen aus und erfuhr von ihr so ziemlich alles, was sie über Torbuks
Reitertrupp wissen mussten, um die Frauen aus ihren Klauen zu befreien. Es waren zwölf Reiter, die ungefähr
noch dreizehn Frauen und Mädchen gefangen hielten.
Das Mädchen berichtete weiter, dass der Tross zu einem Bergwerk hinter einem Pass unterwegs war.
Dort sollten die jungen Frauen als Zeitvertreib für die versklavten Arbeiter dienen und offenbar auch zum
Beischlaf mit diesen Männern gezwungen werden, die teilweise ebenfalls aus dem Volk verschleppt worden
waren.
»Was ist denn das für ein Pass und wohin führt der?«, wollte Sebastian von Antarona wissen. Sie wies
weiter das Tal hinauf und erklärte:
»Eine enge Schlucht oben in den Bergen. Dahinter sind die Täler Zarollons, die Täler der schlafenden
Sonne. Torbuk hat dort die Macht über das Volk. Er lässt dort das harte Metall und die Tränen der Götter aus den
Schlünden der Berge holen. Viele Männer und Frauen aus dem Volk arbeiten in den Bergen, von Torbuks
Soldaten bewacht!«
»Ist es noch weit, bis zum Pass hinauf?«, fragte er weiter. Antarona tauschte sich kurz mit dem
Mädchen aus und sagte dann:
»Die Pferdesoldaten werden auf dieser Seite der Berge ihr Lager aufschlagen. Diese Nacht ist die beste
Zeit, die Töchter des Volkes zu befreien... Annuk aus Zumweyer wird uns führen, bis wir die Reiter gefunden
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Das Geheimnis von Val Mentiér, Roman • © 2008 - 2010 by Frank Adlung, Braunschweig • http://www.sternenlade.de
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haben. Wir werden die Zeit der Nacht erwarten, wenn die Soldaten genug Mestas getrunken haben. Dann können
wir in das Lager schleichen und unsere Schwestern befreien.«
Für Antarona stand der Plan bereits fest. Annuk, das geflohene Mädchen sollte sie begleiten und helfen,
die Reitersoldaten zu lokalisieren. Mit zunehmender Dämmerung wurde das allerdings immer schwieriger,
dachte Sebastian. Sein Krähenmädchen und Annuk waren da zuversichtlicher. Ravid und Daffel hielten sich
zurück und behielten ihre Ansicht für sich.
Mit einem kleinen Haufen mutiger Laien zogen sie weiter und Sebastian sah ihre einzige Hoffnung auf
Erfolg in der Möglichkeit, dass sie das Überraschungsmoment auf ihrer Seite haben würden. Das hing freilich
davon ab, dass sie die Horde unbemerkt aufspüren konnten.
Aufmerksam folgten sie einem gewundenen, steinigen Pfad, der nicht auf Anhieb als solcher zu
erkennen war. Vermutlich benutzen gewöhnlich nur Jäger diese Route über den Pass. Möglicherweise folgten sie
auch einem Wildwechsel. Annuk führte sie mit der Sicherheit und Gewandtheit einer Wildkatze. Offenbar waren
alle jungen Frauen des Volkes mit dem Talent eines Fährtensuchers gesegnet.
Das Gelände änderte bald seinen Charakter. Laubbäume und Strauchwerk wechselten mit hoch
gewachsenen Tannen und Lärchen, lange Sumpfgräser überließen ihren trockeneren, kürzeren und farbloseren
Verwandten den Boden. Das Vorankommen der mutigen, kleinen Gruppe verbesserte sich mit dem Wechsel der
Vegetation ebenfalls. Dort, wo kaum mehr Unterholz die Sicht einschränkte, konnten sie viel Zeit aufholen.
Dennoch blieben sie vorsichtig und überlegten jeden weiteren Schritt.
Immer häufiger wurde ihr Weg durch die Urwildnis von einzeln dastehenden Felsen gesäumt. Auf
einem dieser Steinformationen saßen plötzlich Antaronas Krähen, als warteten sie schon einer geraume Weile
auf sie. Das Krähenmädchen ging zu seinen Geschöpfen und schien sich mit ihnen auszutauschen.
Faszinierend beobachtete Sebastian diese beinahe stumme Kommunikation. Annuk und die Brüder
fanden das jedoch ganz normal. Anscheinend kannten sie die Legenden, die man sich über Antarona erzählten.
Högi Balmer und selbst der Doktor hatten fest und steif behauptet, des Holzers Tochter konnte mit den Tieren
sprechen. Zumindest in diesem Moment sah es so aus, als besaß sie tatsächlich diese Gabe.
»Die Reiter lagern im Hexenkessel.«, stellte Antarona fest, nachdem sich ihre schwarz gefiederten
Freundinnen wieder durch die Lüfte davon gemacht hatten.
»Was ist nun schon wieder der Hexenkessel?«, wollte Sebastian neugierig wissen. Antarona wies auf
den Stein, auf dem soeben noch ihre beiden Vögel gesessen hatten:
»Viele große Felsen, in einem Kreis und ein großer Platz in der Mitte... An der Seite des Berges ist ein
Gang.., ein Tor in den Berg... Vor vielen Sommern ließ Torbuk dort die Tränen der Götter aus dem Berg holen.
Das Volk nennt diesen Ort den Hexenkessel, weil dort viele Sklavenarbeiter aus dem Volk wirr im Kopf
geworden waren!«
»Also der Hexenkessel ist fast so etwas, wie eine befestigte Anlage, ja?«, bohrte Sebastian weiter. Und
mehr zu sich selbst fügte er hinzu:
»Na, das kann ja lustig werden! Wir fünf Figuren greifen ein Felsenfort an in dem ein Dutzend schwer
bewaffneter Pferdesoldaten sitzt. Welcher Teufel hat mich eigentlich geritten...« Zu seinen vier Gefährten sagte
er beschwörend:
»Aber wir sehen uns die Sache erst einmal an und unternehmen noch nichts, ja? Erst mal angucken und
dann sehen wir weiter.., ist das OK für alle?«
Antarona übersetzte und sein Vorschlag wurde akzeptiert. Sogar von Ravid und Daffel, denen die
Aktion gar nicht schnell genug voran gehen konnte. Annuk bewunderte den Elan der beiden. Sebastian hingegen
hielt sie nicht für mutig, sondern für unvorsichtig und blauäugig!
Da er offenbar der einzige war, der den Ort Hexenkessel nicht kannte, ließ er alle anderen voran gehen
und bildete freiwillig die Nachhut. Dabei waren es Annuk und Antarona, denen Sebastian voll vertraute. Daffel
und Ravid bildeten die Mitte und er war froh, die beiden im Auge behalten zu können.
Die erste halbe Stunde folgten sie noch blind den Hufspuren der Pferde. Die zweiten dreißig Minuten
krochen sie durch unwegsamen Urwald und in der dritten Halbstunde nahmen sie plötzlich Brandgeruch wahr.
Ganz behutsam schlichen sie weiter. Zweige, die im Weg hingen wurden sanft beiseite geschoben und
festgehalten, bis auch der Letzte die Stelle passiert hatte. Altes Holz, das im Weg lag, wurde aufgenommen und
zur Seite gelegt, damit nicht noch einer von ihnen darauf trat und die Männer Torbuks unfreiwillig warnte.
Unübersichtliche Sträucher und Büsche, sowie Felsen umgingen sie von zwei Seiten, um nicht eine
böse Überraschung zu erleben. Dann gab der Wald eine kleine, trostlose Lichtung frei, die auf der anderen Seite
von einer hohen Felswand begrenzt wurde. Davor lagen in einem unordentlichen Kreis, weit verstreut, die Felsen
des Hexenkessels. Ganze Steinformationen wechselten mit großen einzeln dastehenden Felsen.
Dazwischen fanden sich Lücken, die wie die Tore zu einer gut angelegten Befestigung leicht zu
bewachen waren. Niemand konnte da hindurchschlüpfen, ohne dass die Reiter dies bemerken würden. Sie hatten
innerhalb des Felsenforts mehrere Lagerfeuer entfacht, die den ganzen Felsenring von innen mit einem
zuckenden Schein beleuchteten. Man konnte beinahe annehmen, ein groß angelegtes Hexenritual zu beobachten.
Wie trefflich der Name diesen Ort doch beschrieb!
Sie zogen sich hinter eine dicht bewaldete Felsgruppe zurück und hielten Kriegsrat. Während Ravid und
Daffel vorschlugen, durch alle Felslücken gleichzeitig in das Lager zu stürmen, war Antarona dafür, die Felsen
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zu erklimmen und sich von dort aus nach innen auf die Soldaten zu stürzen. Annuk machte noch den besten
Vorschlag:
Sie wollte sich als eine Gefangene getarnt, in das Lager begeben und Verwirrung stiften, woraufhin die
übrigen das Felsenfort stürmen sollten. All diese Taktiken erschienen Basti jedoch zu waghalsig und unsicher.
Mit einer unüberlegten Aktion, die möglicherweise scheitern würde, war den gepeinigten Frauen kaum geholfen!
»Was schlagt ihr vor, Glanzauge, Mann von den Göttern, wie wollt ihr dort hinein gelangen..?«, fragte
ihn Antarona herausfordernd.
»Wer sagt denn eigentlich, dass ich dort hinein will...«, gab Sebastian zu bedenken und löste ratlose
Gesichter bei seinen Gefährten aus.
»Vielmehr stellt sich doch hier die Frage...«, überlegte er weiter, »...wie wir es schaffen können, dass
die heraus kommen!« Diesen Vorschlag, der für die anderen ziemlich überraschend kam, ließ er erst einmal
wirken. An ihren erstaunten Gesichtern erkannte Sebastian, dass keiner von ihnen auch nur einen Gedanken an
eine solche Möglichkeit verschwendet hatte.
»Wenn wir es erreichen können, dass ein Teil der Soldaten einzeln heraus kommt, ohne den Argwohn
der anderen zu wecken, dann hätten wir den Verein dort drüben schon mal um die Hälfte dezimiert.., also ihre
Anzahl verkleinert«, fuhr Sebastian erläuternd fort. »Ist nur die Frage, wie wir sie dazu bringen, selbst, aus freien
Stücken, einzeln, das schützende Steinfort zu verlassen...« Eine Frage und ratlose Gesichter.
Annuk war es wieder, die praktisch dachte: »Wir warten, bis die räudigen Hunde den Bauch voll Mestas
haben... Dann müssen sie sich erleichtern.., das tun sie nicht dort, wo sie schlafen! Wir können sie einzeln bei
ihrer Verrichtung erwischen!«
»Das mag sein...«, warf Antarona ein, »...doch wie lange braucht ein Mann für seine Verrichtung..?«
Dabei sah sie Sebastian fragend an. Ihm war klar, woran sie dachte. Noch bevor der dritte Soldat sich erleichtern
musste, würde auffallen, dass die anderen nicht zurückgekehrt waren. So ging das nicht! Für die Reiter musste
ohne Zweifel feststehen, dass ihr Kamerad länger brauchen würde...
»Vielleicht ein Abführmittel?« Diese Frage war an Antarona gerichtet, denn ihm war aufgefallen, dass
sie allerlei Kräuter in ihrer Höhle gesammelt hatte.
»Und wie wollt ihr denen das in den Mestas tun, Glanzauge, wenn sich Annuk nicht freiwillig in die
Fänge der feigen Hunde gibt?«, gab Antarona zu überlegen.
»Na ja.., man müsste...«, dachte Sebastian scharf nach und dann fiel es ihm wie Schuppen von den
Augen! »Ich hab die Lösung!«, verkündete er stolz. »Also hört zu! Annuk, du gehst, vorausgesetzt du bist
einverstanden.., du gehst als Gefangene zurück zu den anderen Frauen. In der Dunkelheit, wird keinem der
besoffenen Soldaten auffallen, dass du wieder da bist. Die sehen nur eine beliebige Frau. Bist du erst einmal im
Lager, sprich mit den anderen Frauen! Ihr müsst tun, als würdet ihr euch den Kerlen anbieten, jeden einzeln für
sich... Dann schlagt ihnen vor, dass sie euch draußen nehmen, wo die anderen es nicht mitbekommen. Für die
geilen Hunde ist es dann klar, dass ihre Kameraden nicht so rasch zurück kommen. Und bevor euch noch ein
Soldat anrührt, schnappt unsere Falle zu! Das machen wir so lange, bis die den Braten riechen, dann können wir
immer noch frontal angreifen..!« Während alle angestrengt über Sebastians Vorschlag nachdachten, setzte er
noch einen drauf:
»Außerdem schlagen wir dabei zwei Fliegen mit einer Klappe! Wir haben jedes Mal einen Reiter
ausgeschaltet und gleichzeitig eine Frau befreit!«
Das Argument zog! Alle nickten zustimmend und Sebastian barst vor innerlichem Stolz, es geschafft zu
haben, Antarona mächtig zu beeindrucken. Als hätte sie seine Gedanken lesen können, sagte sie nachdenklich:
»Euer Plan, Glanzauge, ist gut! Aber er gelingt oder scheitert mit Annuk...« Dann sah sie plötzlich mit
festem Blick auf und verkündete:
»Sonnenherz wird selbst gehen, Annuk hat schon zu sehr gelitten!« Wie erstarrt stand Sebastian da. Das
konnte sie nicht im Ernst meinen.., oder doch?
»Nein!«, entgegnete er entschieden. »Du wirst nicht gehen, Antarona, du...« Er suchte nach einem
plausiblen Argument, die Frau, die er liebte, nicht in Gefahr bringen zu müssen:
»Du warst nicht ihre Gefangene.., was, wenn sie den Schwindel bemerken.., dann gefährdest du das
ganze Unternehmen und... Dich selbst!«
»Seid nicht albern, Glanzauge«, erwiderte sie, »...ihr habt selbst gesagt, die mit Mestas voll gesoffenen
Hunde sehen nur irgendeine Frau! Sonnenherz wird sich Annuks Fell umhängen, so werden die Pferdesoldaten
keinen Verdacht schöpfen!«
Gerade wollte er massiv dagegen protestieren, da meldete sich Annuk mit fester, bestimmter Stimme,
die keinen Widerspruch zu dulden schien:
»Ich werde selbst gehen!« Alle sahen sie erstaunt an. Ihre Exklusivität sichtlich genießend, fuhr sie fort:
»Annuk war bereits gefangen. Es war der Wille der Götter, dass sie Sonnenherz und Glanzauge traf! Nun wird
Annuk mit eurer Hilfe ihre Freundinnen befreien... Ich gehe!«, stellte sie entschieden fest.
Mutige, kleine Annuk! Und Sebastian fiel ein riesiger Felsbrocken vom Herzen! Mit Sicherheit wäre er
vor Angst gestorben, wenn er Antarona inmitten dieser miesen Gewalttäter gewusst hätte. Um sicher zu gehen,
dass sich Antarona nicht doch noch einmal in die Bresche werfen konnte, machte er die Sache fest, indem er
Antarona bat, für ihn zu übersetzen:
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»Annuk, wenn du das tust«, begann er, »...dann musst du an ein paar wichtige Dinge denken: Sprich mit
den Frauen nicht zu auffällig, sonst durchschauen dich Torbuks Männer. Vor allem... Egal, wie ihr das macht,
aber geht einzeln in Abständen, denn wir müssen ja genug Zeit haben, die Bestien zu erledigen und uns wieder in
Position zu bringen! Versucht außerdem zu erreichen, dass die Soldaten eine Fackel mitnehmen.., das erleichtert
es Antarona, einen sicheren Pfeil zu schießen. Und - es - muss - leise - gehen!«
Mit dieser Mahnung gab er Annuk das kleinere von seinen beiden Bowiemessern. »Für alle Fälle...«,
sagte Sebastian aufmunternd...
Dann warteten sie! Unendlich langsam krochen die Minuten dahin, bis sich der glühende Feuerball für
diesen Tag verabschiedete. Antarona und Sebastian nutzen die Zeit, den Lagerplatz der Pferdesoldaten weit zu
umgehen und in die Felsen über dem Bergwerksstollen zu klettern. Stets in der Deckung kleiner Tannen, oder
Felsen arbeiteten sie sich höher, bis sie einen gemütlichen Platz erreichten, von dem aus sie das ganze Lager
einsehen konnten.
Torbuks Reiter hatten es sich bereits an den Feuern gemütlich gemacht. Sie brieten sich verschiedene
Wildstücke, die sie wohl im Dorf geraubt, oder auf dem Weg erlegt hatten. Sie fraßen wie Schweine und
bewarfen sich gegenseitig und laut lachend mit den abgenagten Knochen.
Die gefangenen Frauen saßen etwas abseits an zwei getrennten Feuern. Sie hatten sich in grobe Decken
und Felle gehüllt und hungerten. Keinem der brutalen Reiter fiel ein, seinen Gefangenen etwas von ihrem Mahl
abzugeben.
Ab und zu stand einer der schwarzen Krieger auf und verschwand kurz im Bergstollen. Nach kurzer
Zeit kam er mit einer Kürbisflasche zurück und wurde jubelnd von seinen Kumpanen begrüßt. Sebastian musste
nicht erst darüber nachdenken, was sich in den Flaschen befand! Wahrscheinlich hatten Torbuks Männer einen
geheimen Vorrat Mestas in dem verlassenen Bergwerk eingelagert, von dem sie sich bei Bedarf bedienten, wenn
sie in der Nähe waren.
Das Besäufnis hatte also schon begonnen! Das betrachtete Basti mit einiger Sorge. Waren die Soldaten
zu früh betrunken, dann fielen sie über ihre Gefangenen her, noch bevor Annuk sie instruiert hatte. Ließen sie
sich aber mit dem Trinken zu viel Zeit, dann wurde es schon wieder hell, bevor sie dem letzten von ihnen den
Garaus machen konnten. Also vertraute er einfach mal auf die Trinkfestigkeit primitiver Männer im
Herdenzwang!
Glutrot tauchte die Sonne hinter den hohen Bergen weg, die sich sogleich als düstere Silhouetten in die
Schattenwelt zurückzogen und als schwarze Wächter über den Tälern standen. Trotzdem es windstill war, wurde
es sofort ein wenig kühl.
Sie hatten sich die Aufteilung des Lagers genau eingeprägt und stiegen aus den Felsen hinab zu ihren
mutigen Freunden zurück. Antarona übersetzte Sebastians letzte Ratschläge für Annuk:
»Annuk, seht zu, dass ihr die Soldaten nahezu immer durch die gleiche Felsenlücke in den Wald lockt...
Das ist wichtig, weil wir euch sonst in der Dunkelheit zu spät finden, weil wir nicht wissen, wann und wo
jemand den Felsenkreis verlässt! Und geht ruhig an den anderen Soldaten vorbei, damit sie auch ja begreifen,
dass ihre Kameraden eine Weile beschäftigt sind und keinen Verdacht schöpfen, wenn einer nicht gleich wieder
kommt!«
Annuk nickte verstehend und machte sich bereit. Sie begleiteten das mutige Mädchen bis zum
Waldrand, der gerade mal zwanzig bis dreißig Meter vom Felsfort entfernt lag. Leichtfüßig huschte sie in den
Schatten eines großen Felsens, dessen Flanke vom Feuer der Barbaren gelbrot beleuchtet war.
Annuk befand sich nun an der rechten Seite der Felsenburg, wo die Feuer der Frauen flackerten. Sie
wartete, bis das ausgelassene Grölen der schwarzen Männer die Ankunft einer weiteren Flasche Mestas
ankündigte. Wie ein Blatt im Wind flog Annuk in den Kreis der Felsen und hockte sich sofort am Feuer der
Frauen nieder.
Sebastian, Antarona und die Brüder hielten den Atem an, denn augenblicklich erwarteten sie ihre
Entdeckung. Doch ihr Plan ging auf. Keiner der Pferdesoldaten interessierte sich für das unscheinbare Mädchen
mit dem Fellumhang. Als die gefangenen Frauen Annuk erkannten, wollten sie schon aufspringen und ihre
Leidensgefährtin freudig begrüßen. Sebastian blieb fast das Herz stehen...
Doch Annuk hatte die Situation sicher im Griff. Ein Wort von ihr und die unfreiwillig Festgehaltenen
blieben stumm auf ihren Plätzen sitzen. Die mutige Spionin ging von einer Gefangenen zur anderen, unauffällig,
als würde sie vergebens um etwas bitten, und unterrichtete sie von ihrem Plan. Ab und zu sah Sebastian eine
Frau verständig nicken. Ihre List schien zu funktionieren...
Plötzlich torkelte einer der Reiter aus dem Felsenfort heraus und blieb unschlüssig auf dem schmalen
Grasstreifen zwischen Waldrand und Felsen stehen. Er hatte bereits reichlich getankt. Vermutlich musste er sich
erleichtern und war sich nicht ganz im klaren darüber, ob er in den Wald gehen, oder sein Geschäft gleich auf
der schmalen Wiese verrichten sollte.
Bevor sie reagieren konnten, sprang Ravid lautlos auf und wollte dem Soldaten in den Rücken fallen.
Geistesgegenwärtig schlug ihm Antarona mit ihrer Fell umwickelten Bogentasche die Beine unter dem Leib
weg. Wie ein gefällter Baum schlug Ravid hin. Sofort stürzte sich das Krähenmädchen auf ihn und hielt ihn tief
in das Gras gedrückt. Wütend zischte sie ihm etwas zu und er hielt still.
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Zumindest das Geräusch war dem schwarzen Reiter nicht entgangen. Er wankte einen Schritt vor und
einen zurück und starrte in ihre Richtung. Doch seine Augen vermochten die Dunkelheit des Waldrands nicht zu
durchdringen. Es grenzte an ein Wunder, dass er die beiden aufeinander liegenden Körper von Antarona und
Ravid nicht erkannte. Vermutlich konzentrierte sich sein Blick ausschließlich auf den finsteren Schatten der
Bäume. Das machte ihn stockblind!
Doch Ravids Plumps hatte er gehört! Zögernd zog er sein Schwert und ging schwankend auf sie zu,
seinen Blick starr in die Dunkelheit gerichtet. Sie lagen zwar fast unsichtbar im Schatten des Waldes, doch war
es nur eine Frage der Zeit, bevor er die verborgenen Gefährten entdeckte, oder über Antarona und Ravid
stolperte.
Sebastian fluchte stumm in sich hinein. Dieser Typ musste sie früher oder später sehen! Und die
einzigen die ihn mit ihren Distanzwaffen hätten geräuschlos aufhalten können, lagen praktisch vor ihm auf dem
Präsentierteller, zusammengebackt wie ein belegtes Brötchen! Es war wohl nur dem Mestas zu verdanken, dass
er die beiden noch nicht aufgespürt hatte.
Als er nur noch drei Meter von Antarona entfernt war, wollte Sebastian seinerseits aufspringen, sein
Kurzschwert ziehen und es ihm in den Bauch rammen. Doch dazu kam er nicht mehr...
Wie vom Schicksal bestellt, erschien in diesem Augenblick ein anderer Soldat zwischen den Felsen. Er
hielt eine Kürbisflasche Mestas hoch und brüllte seinem Kumpanen etwas zu. Der hielt inne, torkelte einen
Schritt zurück, brach zur Seite aus und schlug der Länge nach hin. Unter dem donnernden Gelächter seines
Kameraden rappelte er sich wieder hoch, indem er sich schwerfällig auf sein Schwert stützte. Vom Mestas seines
Kameraden magisch angezogen, torkelte er zurück und verschwand mit seinem Kumpanen wieder im Innern der
Felsenburg.
Erleichtert atmeten sie auf. Das war knapp! Antarona sprang auf die Füße und zog Ravid energisch
hinter sich her in den Schutz des dunklen Waldes.
»Antarona.., um Himmels willen.., sag diesem Suppenkasper, wenn er so eine Aktion noch mal
versucht, dann braucht er keine schwarzen Reiter mehr, dann werde ich ihm höchstpersönlich sein Fell über die
Ohren ziehen!« Wütend brach es aus Sebastian heraus und er musste sich sehr zusammenreißen, sonst hätte er es
lauthals hinaus geschrien.
Wieder etwas beruhigt saßen sie am Waldrand in der Finsternis und spähten zwischen zwei Felsen
hindurch zum Feuer der Frauen hinüber. Nach einer Weile erhob sich eine der Gefangenen, öffnete ihre grobe
Leinenbluse etwas weiter, so dass man einen tieferen Einblick in ihr Dekolletee erhielt und schlenderte
aufreizend zum Feuer der schon ziemlich angetrunkenen Reiter hinüber.
Rasch musste Sebastian seinen Standort wechseln, um weiter zu beobachten. Zwischen zwei anderen
Felsen hindurch sah er, wie sie mit einem der Soldaten sprach, der zunächst antwortete und sich dann unter
anfeuernden Zurufen seiner Gefährten erhob. Er begann am Rock der Frau herumzufingern, die sich aber seinem
Griff entzog und langsam auf den Felswall zuging. Dabei wackelte sie so auffällig mit ihren Rundungen, dass ihr
der Mann wie in Hypnose folgte. Johlende, begeisterte Zurufe der anderen Männer folgten ihnen.
Ohne zu Zögern huschte Sebastian zu Antarona und den Brüdern hinüber: »Also.., es geht jetzt los...«,
informierte er sie, »...und sag deinem Helden hier«, dabei zeigte Basti auf Ravid, »...wenn dein Pfeil den Kerl
verfehlt, liegt es an ihm und seiner Armbrust, ob wir leben, oder sterben! Mach dem das bloß deutlich klar!«
Daraufhin verschwand Sebastian mit Daffel und seinem gezogenen Schwert im Wald. Sollten Antarona und
Ravid es nicht schaffen, das Leben des Reiters lautlos und schnell zu beenden, dann lag es bei ihnen, die
Situation zu retten.
Wie erwartet, lockte die Gefangene den vor sich hin grunzenden, angetrunkenen Mann zum Waldrand.
Er folgte ihr und versuchte ständig erfolglos, ihren Rock zu greifen. Die Frau drehte sich um, warf ihm einen
Handkuss zu und ging dann zwischen der ersten Bäumen hindurch. In einer Hand die Flasche Mestas, in der
anderen eine Fackel, streckte er seine Arme vor und tastete sich seinem vermeintlichen Opfer hinterher in den
Schatten der Bäume...
Plötzlich durchbrach ein leises Zischen die Stille. Der Mann packte sich an seinen Hals und bevor er
noch begriff, was mit ihm geschehen war, sackte er tot zu Boden. Sofort sprangen Daffel und Sebastian aus dem
Unterholz. Daffel nahm die Frau bei den Schultern und führte sie zu ihrem Platz hinter dem Felsen im Wald.
Mühsam schleifte Sebastian den schweren Brocken eines Mannes in das Dickicht. Kurz darauf fasste Ravid mit
an und sie ließen den nach Mestas und Schweiß stinkenden Leichnam unter einem Haufen Blätter verschwinden.
Inzwischen hatte Antarona das Lager beobachtet. Erwartungsvoll sah sie Sebastian an und er machte
nur ein stummes Zeichen, indem er seine Handkante am Hals vorbeiführte. Antarona nickte zufrieden. Sie wies
auf das Lagerfeuer der Frauen. Sofort erkannte Sebastian, dass sie bereits einen nächsten Kunden hatten.
Ein kleiner, untersetzter Kerl mit Halbglatze griff eine der jungen Frauen am Handgelenk und zerrte sie
grob in die Höhe. Er war wohl am Beispiel seines Kameraden auf den Geschmack gekommen und suchte sich
nun seinerseits eine Gefangene aus, die ihm seine Begierden erfüllen sollte. Das Mädchen war ziemlich
raffiniert: Sie küsste den Mann flüchtig auf die Stirn und tänzelte gleich gezielt in Richtung Felswall, wobei sie
auffordernd mit ihren Reizen spielte. Dem Reiter traten fast seine glotzenden Augen aus den Höhlen und sein
Speichel begann ihm, wie bei einem Irren, aus dem Mund zu tropfen.
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Das Mädchen lief vor ihm her dem Wald zu, entfernte sich aber nur so weit von ihrem Peiniger, dass
dieser glaubte, sie im nächsten Augenblick greifen zu können. Sie hatten die schützende Dunkelheit der Bäume
noch nicht erreicht, da strauchelte das Mädchen und fiel hin. Vor Schreck hörte Sebastian auf zu atmen...
Sofort ließ der schwere Klops seine Fackel achtlos in das Gras fallen und warf sich mit seinem ganzen
Gewicht brutal auf sein zartes Opfer. Das Mädchen schrie vor Angst auf. Augenblicklich brandeten grölendes
Gelächter und anfeuernde Rufe hinter den Felsen auf. Anscheinend malten sich die Soldaten bildlich aus, wie
sich ihr Kamerad an dem Mädchen verging.
In dem Augenblick, wo sich der massige Körper des Reiters auf das hilflose Mädchen drückte, wusste
Sebastian, dass Antarona nicht schießen würde. Wie leicht konnte sie das Mädchen treffen! Deutlich erkannte er
im Schein der Fackel, wie der dicke Soldat dem Mädchen das Oberteil vom Leib riss und sich mit einem
tierischen Laut über sie beugte. Das war zuviel!
»Du bleibst hier und rührst dich nicht!«, zischte er Daffel zu, der plötzlich wieder neben ihm auftauchte.
Da fiel Sebastian ein, dass der ihn doch gar nicht verstehen konnte. Er machte eine Handbewegung zum Boden
und bedeutete ihm, sich nicht von der Stelle zu bewegen. Dann zog Sebastian sein Bowiemesser aus dem Gürtel
und flitzte los...
Wie ein fliegender Schatten kam er rutschend neben dem Kerl an, der gerade den kurzen Lederschurz
des Mädchens über ihren Bauch nach oben schieben wollte. Mit beiden Händen umklammerte Sebastian den
Griff des großen Messers, stemmte sich mit den Knien in den Boden, holte aus und rammte dem fiesen Soldaten
die stählerne Klinge mit voller Wucht tief in den Rücken.
Der Mann bäumte sich auf, doch Sebastian drückte ihn mit dem Messergriff sofort wieder nach unten.
Er wollte um Hilfe schreien, brachte aber nur noch ein blubberndes Röcheln hervor. Dann erschlaffte sein
dickleibiger Körper über dem Mädchen. Mit entsetzten Augen sah sie Sebastian an und er gebot ihr mit seinem
Zeigefinger über dem Mund zu schweigen.
In tiefer Abscheu riss er dem Soldaten das Messer aus dem Rücken. Blut tropfte ihm aus dem Mund und
lief dem Mädchen über die nackte Haut. Mit aller Kraft griff Sebastian dem Sterbenden an die Schulter und rollte
ihn vom Körper des Mädchens herunter. Gleichzeitig gab er Antarona ein Zeichen, dass er die Lage unter
Kontrolle hatte.
Anschließend riss er das entblößte Mädchen vom Boden hoch, nahm die Fackel und zog das arme
Geschöpf rücksichtslos zum Waldrand. Sie tat Sebastian unendlich leid und viel lieber hätte er sie schützend in
die Arme genommen, doch für die Soldaten im Felsenfort, die möglicherweise herüber sahen, musste es so
aussehen, als schleppte ihr Kamerad das Mädchen gegen ihren Willen in den Wald.
Sebastian packte sie so fest am Arm, dass sie noch einmal aufschrie. Sofort folgte ein schadenfrohes
Lachen und Rufen aus dem Innern der Felsenburg. Wenn die gewusst hätten, was tatsächlich geschehen war,
wäre ihnen der Spaß ganz sicher im Halse stecken geblieben!
Sekunden später erreichte Sebastian mit dem Mädchen den Waldrand, wo Antarona bereits auf sie
wartete: »Es kommen noch zwei von denen...«, raunte sie ihm zu. Und zu Daffel gewandt sagte sie: »Kümmere
dich um sie, ja?«
Daffel nahm das zitternde Wesen in seine Arme und hob es mit einem Schwung hoch, um es in
Sicherheit zu tragen.
»Sachte, Daffelchen, sachte...«, rief ihm Sebastian leise hinterher, »...geh behutsam mit ihr um, Junge!«
Und an seine Gefährtin gerichtet, fragte er:
»Was wollen wir jetzt machen, da draußen liegt noch der dicke Scheißkerl in seinem Blut. Wenn die
den finden, ist hier die Hölle los!«
Die Warnung hatte er noch nicht ganz ausgesprochen, da torkelten zwei weitere Pferdesoldaten aus dem
natürlichen Fort, zwei junge Frauen hinter sich her ziehend. Sie prosteten sich gegenseitig zu, stießen die
Mädchen voran und wollten sich köstlich darüber amüsieren, als die beiden stolperten und schreiend
übereinander fielen.
In der gleichen Sekunde zischte Antarona Ravid zu: »Spannt euren Bogen.., wir müssen jetzt sehr gut
sein, Sohn von Mittelau.., ihr den Großen, Sonnenherz übernimmt den Kleinen..!« Sie hatte das gerade
ausgesprochen, da entdeckte der kleinere der beiden Soldaten die regungslose Gestalt seines Mitstreiters im
Gras. Zunächst schaute er entgeistert, zögerte und wusste wohl nicht recht, was er davon halten sollte. Dann sah
er das Blut und konnte sich eins und eins zusammenreimen...
Ein Sirren und ein Surren, beinahe gleichzeitig! Plötzlich sanken die beiden Soldaten stumm in sich
zusammen und blieben liegen, wo sie eben noch standen. Nun hatten sie drei Leichen im Feuerschein auf der
Wiese liegen! Die beiden Mädchen standen staunend und wie angewurzelt da. Schon huschte Daffel heran und
griff sich die beiden verstörten Frauen. Er beruhigte sie und zog sie aus dem Schein des Feuers unter den
Deckmantel des Waldes.
Sebastian war beeindruckt. Mochte sich Ravid auch etwas trottelig bewegen... Schießen und treffen
konnte er wenigstens, das musste man ihm lassen! Seine Sorge galt nun den drei Leichen. Die Toten mussten
von der Felsfestung her aussehen, wie drei gestrandete Wale. Sebastian zweifelte keine Sekunde lang daran, dass
sie von den Lagerfeuern aus gut zu sehen waren. Doch sie konnten sie auch nicht wegschleppen. Diese Aktion
hätte die restlichen Männer Torbuks sofort auf den Plan gerufen.
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»Los.., in die Deckung der Felsen.., rasch.., und leise!«, flüsterte er Antarona zu, die es an Ravid weiter
gab. Lautlos huschten sie durch das Gras und jeder von ihnen drückte sich an einen Felsen. In diesem Moment
schrie eine Frau im Innern der Felsenburg auf und plötzlich wurde es laut an den Lagerfeuern. Die Männer
johlten und brüllten anfeuernde Rufe. Wieder schrie die junge Frau, diesmal so entsetzlich, dass Sebastian das
Blut in den Adern stockte.
Lautes Lachen und Brüllen folgte, das sich aber vom Klang her plötzlich veränderte. Auch die Schreie
der Frau hörten sich auf einem Mal so an, als hätte man sie in ein großes Weinfass gesperrt. Antarona kam durch
den Feuerschein zu Sebastian herüber gesprungen:
»Das war Annuk, Ba - shtie.., Annuk, versteht ihr?« Sie sah ihn mit durchdringendem Blick an, als
erwartete sie eine Entscheidung von ihm.
»Ja, ist möglich...«, gab Sebastian gehetzt zurück, »...aber was sollen wir jetzt machen..? Reingehen..?«
Aber die Entscheidung wurde ihnen bereits abgenommen...
Ein riesiger Schatten verdunkelte den Feuerschein auf dem Grasstreifen und eine tiefe Stimme brüllte
einen Befehl. Keine Sekunde später torkelte ein großer Mann in voller Rüstung und mit gezogenem Schwert auf
die Toten zu. Er bemerkte die wartenden Gefährten nicht, denn der Schatten verschluckte sie noch.
Antarona war fürchterlich schnell. Bogen spannen und Schießen war eine einzige fließende Bewegung.
Der Mann krächzte noch etwas, dann schlug er neben seinen toten Kameraden hin. Er griff sich mit beiden
Händen an den Hals, strampelte mit den Beinen und sein Körper zuckte wie in einem epileptischen Anfall.
Das warnte nun auch den Rest der Horde. Einer nach dem anderen kamen sie aus der Felsenlücke
gestürmt und waren nach dem großzügig genossenen Mestas noch erstaunlich flink. Vorgewarnt, wie sie waren,
sahen sie sich augenblicklich um. Der erste ging mit einem mächtigen Schwert auf Sebastian los, schwang das
Ding über seinem Kopf und ließ es auf ihn niedersausen. Es traf die Klinge von Sebastians Kurzschwert
dermaßen hart, dass er glaubte, sein Arm müsste zerspringen. Sein Handgelenk fühlte sich an, als hätte er mit
einem feuchten Lappen in eine Steckdose gefasst.
Taumelnd fuhr Sebastian zurück und rempelte Antarona an, die gerade einen Pfeil von ihrer Sehne
schnellen ließ. Der verfehlte natürlich weit sein Ziel. Ein zweiter Soldat kam heran und schwang eine gezackte
Kettenkugel, die genau auf Antaronas Kopf zuraste. Sie wich dem todbringenden Eisen aus und fiel hart gegen
den Felsen. Im gleichen Augenblick durchschlug ein kurzer, kräftiger Pfeil den Kopf des Kugelschwingers, der
explosionsartig zerplatzte, wie eine Wassermelone.
Der Krieger mit dem Schwert holte ein zweites Mal aus. Da steckte, wie von Zauberei geführt
Antaronas Schwert in seiner Brust. Er torkelte rückwärts und riss einen anderen Pferdesoldaten um, der in
diesem Augenblick durch die Felsenlücke gerannt kam. Nun war Sebastian wieder mit dem Schwert bei der
Hand. Stinkwütend stieß er ihm das Ding so weit in den Leib, dass er ihn damit regelrecht an die Erde spießte.
Mit großer Anstrengung riss Sebastian die Waffe wieder aus ihm heraus und gewahrte gerade noch aus
den Augenwinkeln, dass zwei weitere Kerle Ravid bedrängten, der ihnen als Schutzschild seine ungeladene
Armbrust entgegen hielt. Ohne nachzudenken griff Sebastian nach Antaronas Schwert, zog es aus der Brust des
anderen Soldaten und warf es ihr mit dem Griff voran in der gleichen Bewegung zu:
»Hier.., fang.., hinter dir.., Ravid!«, schrie er sie an. Antarona schnappte sich die leichte Waffe mit einer
erstaunlichen Griffsicherheit, wirbelte herum und stürmte auf die beiden Reiter los, die Ravid schon fast zu
Boden geschlagen hatten. Sie hieb dem ersten das Schwert so heftig in die Schulter, dass sie ihm beinahe den
Arm vom Körper trennte. Das Blut spritzte in einem unnatürlichen Strahl aus seiner Wunde. Unterdessen holte
der zweite Reiter mit seinem Schwert aus. Antarona hatte keine Chance...
Doch urplötzlich riss der Soldat seinen Mund auf... Sein Schwert verfehlte Antarona nur um
haaresbreite und schlug in den Boden. Der Mann stützte sich darauf und fiel mitsamt seinem Schwert auf die
Seite. Eine noch wackelnde Lanze steckte in seinem Rücken! Aus dem Schatten des Felsens trat eine junge Frau
hervor, ebenso dürftig in Leder und Fell gekleidet, wie Antarona.
Als Sebastian angesichts der Rettung Antaronas in letzter Sekunde aufatmen wollte, spürte er einen
lähmenden Schmerz in seinen Rücken. Seine Knie versagten ihren Dienst und er fiel... Eine Weile bekam er
keine Luft mehr, dann setzte schmerzhaft seine Atmung wieder ein. Umständlich und in Panik drehte er sich auf
dem Boden herum und sah in das hassverzerrte, bärtige Gesicht eines hellhaarigen Riesen. Der holte gerade zum
zweiten Schlag aus...
Doch unvermittelt sprang ihn ein Schatten an. Wie aus dem Nichts schoss er an dem hühnenhaften
Soldaten vorbei und verpasste ihm dabei offenbar einen gezielten Schlag auf den Kopf. Der blonde Riese brüllte
vor Wut auf und drehte sich um. Das hätte er lieber lassen sollen! Das Donnerwetter, das nun über ihn
hereinbrach, ließ ihn sein Schwert aus den Händen gleiten und ihn seine dicken Arme schützend über seinen
Kopf halten. Doch es nützte ihm nichts!
Wie ein Wirbelwind war Daffel plötzlich vor ihm aufgetaucht. In jeder Hand hielt er einen seiner
seltsamen, kräftigen Stöcke. Wie in einer akrobatischen Darbietung ließ er die Knüppel mit einer Schnelligkeit in
seinen Händen tanzen, dass es mit bloßem Auge nicht mehr zu verfolgen war. Ein wahres Trommelfeuer ging
auf dem Haupt des Soldaten nieder! Dieser versuchte vergeblich die heftigen, kurzen Schläge abzuwehren. Aber
er war einfach viel zu langsam für Ravids sehnigen Bruder.
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Es war eine Sache von Sekunden, da lag der mächtige Körper des Reiters blutüberströmt, zitternd und
zusammengedroschen im rot gefärbten Gras. Dann wurde es still. Kein Soldat kam aus der Felsenburg gestürzt,
kein Kampflärm erfüllte mehr die Nacht. Aber noch wussten sie nicht, was sie in der Felsenfestung erwartete.
Stumm gab Sebastian Antarona ein Zeichen, dass er mit ihr gleichzeitig durch die Felslücke stürmen
wollte. Daffel und Ravid sollten ihnen Rückendeckung geben. Das Mädchen, das die Lanze geworfen und
Antaronas Leben gerettet hatte, schloss sich ihnen ebenfalls an.
Langsam pirschten sie sich vor. Antarona mit gespanntem Bogen auf der einen Seite des Durchgangs,
Sebastian mit blankem Schwert auf der anderen. Sie stürmten vorwärts, als sie die Lücke zur Hälfte hinter sich
hatten. Auf dem Platz vor dem Bergwerksstollen brannten die Lagerfeuer. Eine Hand voll Frauen und Mädchen
standen erwartungsvoll inmitten der zuckenden Feuer. Es war kein Pferdesoldat mehr da.
»Wo ist Annuk.., das Mädchen, das geflohen war und zu euch zurück gekommen ist.., Annuk, wo ist
sie?«, fragte Antarona die Frauen ungeduldig in ihrer Sprache. Zwei junge Frauen zeigten stumm auf den
höhlenartigen Eingang zum Bergstollen.
»Daffel, du bleibst bei den Ladys!«, ordnete Sebastian an und machte ein deutliches Zeichen mit der
Hand, weil er wusste, dass Daffel mit seinen Worten nicht viel anfangen konnte. Dann schlichen Antarona,
Ravid und Basti zum Eingang des Stollens. Dunkelheit empfing sie. Das Mädchen, das die Lanze geworfen
hatte, reichte ihnen noch zwei brennende Fackeln. Aus den Augenwinkeln gewahrte Sebastian, dass Daffel
keineswegs draußen wartete, sondern ihnen wie ganz selbstverständlich nachging.
Im zuckenden Licht arbeiteten sie sich vorwärts, die Waffen bereit zum Kampf. Sie folgten einem mit
Holzstempeln gesicherten Gang. Er führte in einen breiteren Raum, in dem sich Holzkisten, Werkzeuge, ein paar
verrostete Waffen, sowie ein alter Leiterwagen befanden. Zwei Gänge an der Rückwand des Raumes führten
weiter in den Berg hinein.
Antarona untersuchte die Spuren auf dem Höhlenboden, um festzustellen, welchen Gang sie nehmen
mussten. Sie fand jedoch keine brauchbaren Anhaltspunkte. Sie mussten sich also aufteilen, oder die Gänge
nacheinander untersuchen. Indem sie darüber nachdachten, ließ ein Schrei jeglichen Gedanken gegenstandslos
werden. Dieser Schrei hatte etwas so verzweifeltes, endgültiges, in seinem Klang, dass es ihnen heiß und kalt
über den Rücken lief.
»Annuk..!«, flüsterte Antarona besorgt. Sebastian nickte stumm und wies mit dem Kopf auf den Gang,
aus dem der Laut gedrungen war. Auf alles gefasst, huschten sie durch den Gang, der erstaunlich präzise in den
Berg gehauen war. Er mündete in eine Art große Halle, die von mehreren Fackeln ausgeleuchtet wurde. Auf
einer Seite waren Boxen für Pferde errichtet, auf der anderen standen Werkzeuge und allerlei anderes Gerät
herum.
Die Decke der Halle wurde von drei mächtigen Stützen aus Holz getragen, die untereinander mit ebenso
kräftigen Querstreben versehen waren. An einer der groben Streben hing, an den Handgelenken rücksichtslos mit
derben Stricken angebunden, Annuk. Jedenfalls das, was von dem hübschen, kleinen Mädchen übrig war...
Das Bild, das ihnen das flackernde Licht der Fackeln bot, war so entsetzlich, dass ihnen die Tränen in
die Augen traten. Bis auf einen schmutzigen Lappen, den ihr jemand auf den gesenkten Kopf geworfen hatte,
war Annuk unbekleidet. Ihre langen schwarzen Haare hingen ihr in wilden, nassen Strähnen vor dem Gesicht.
Ihr ganzer Körper war mit Wunden übersät, die zum Teil noch bluteten. Ihre kleinen Brüste wurden
offensichtlich einer Fackel, oder einem brennenden Stück Holz ausgesetzt. Sie waren nur noch tiefe, offene
Brandwunden, aus denen das rohe Fleisch hervortrat. Tiefe Schnittwunden bedeckten ihren Bauch, sowie ihre
Beine und Füße. Dunkle Blutergüsse an ihren Oberschenkeln erzählten ihnen, auf welche Weise sich ihr Peiniger
mit ihr vergnügt hatte...
»Annuk.., meine arme, kleine Annuk...«, flüsterte Antarona und strich dem Mädchen behutsam die
Haare aus dem Gesicht. Sofort fuhr sie erschrocken zurück! Der liebliche Anblick, den sie von Annuks Gesicht
in Erinnerung hatten, war einer entstellten, aufgequollenen Fratze gewichen. Die Nasenflügel wurden ihr
aufgerissen, ebenso ihre Wangen. Stirn, Mund und Kinn hatte man mit einem Muster aus blutigen Schnitten
versehen. Mit leblosem, verschleiertem Blick starrte sie in eine ferne Leere. Jegliches Gefühl, jede Regung war
aus ihren Augen gewichen.
»Los.., fasst mal mit an..!«, forderte Sebastian seine Freunde auf. Sie mussten das arme Geschöpf von
dem Querbalken herunter holen. Doch keiner von ihnen wusste, wie sie das machen sollten, ohne dem
geschundenen Mädchen noch mehr Schmerzen zuzufügen. Sie mussten sie hoch heben, um die Stricke zu
durchschneiden, doch sie fanden keine Stelle an ihrem Körper, der nicht verletzt war und wo sie Annuk hätten
anfassen können.
Daffel ergriff die Initiative und Sebastian bemerkte allmählich, dass er einen sehr ausgeprägten Sinn für
Feinfühligkeit besaß. Er umfasst ihre Oberschenkel und hob sie sanft an. Mit zwei Schnitten durchtrennte
Sebastian die Stricke. Sofort kippte ihr Oberkörper nach vorn, über Daffels Kopf. Rasch sprang Antarona hinzu
und fing sie an den Schultern auf. Ravid hatte inzwischen ein paar Felle gebracht und auf dem Boden
ausgebreitet.
Sachte legte Daffel das Mädchen darauf und hielt beschützend ihren Kopf. Das Mädchen mit der Lanze
brachte ein paar grobe Tücher, mit denen Antarona Annuks Körper abdeckte.
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»Sie braucht jetzt Wärme.., viel Wärme, unsere Annuk«, sagte Sie verzweifelt. Hilflos blickte Antarona
zu Sebastian auf. Sie wusste, dass kaum jemand etwas für ihre neue, kleine Freundin tun konnte.
Sie mit Fellen zudecken war nicht möglich, ohne ihre fürchterlichen Wunden zu belasten. Sie
hinaustragen ging ebenfalls nicht, da sie nicht ohne spezielles Gerät transportfähig war. Sie wussten ja nicht
einmal, ob sie innere Verletzungen davon getragen hatte. Das Feuer zu ihr bringen war auch unmöglich, da der
Rauch in diesem Stollen nicht abziehen konnte. Annuk würde einfach ersticken!
»Also.., hier lassen werden wir sie auch nicht!«, entschied Sebastian. Dabei sah er sich um und
entdeckte einen großen Stapel Bauholz an der Wand. Grobe, ungehobelte Latten, Kanthölzer, Streben und
Stangen waren in einem chaotischen Haufen zusammengeworfen worden.
»Wir bauen eine Trage, los.., Daffel und Ravid sollen mal mit anfassen...«, hoffte er auf Antaronas
Übersetzung und ging mit einer Fackel zu dem Holzstapel hinüber. Auf einem Mal geriet der ganze Holzstoß in
Bewegung! Latten und Querhölzer polterten vor Sebastians Füße, Stangen sprangen ihm ins Gesicht und wie aus
einer Trickkiste sprang ein Pferdesoldat aus dem Holzhaufen an ihm vorbei, dem Ausgang des Stollens zu.
In einer reflexartigen Bewegung sprang Ravid hinzu und schlug dem flüchtenden seine Armbrust über
den Kopf. Der Mann strauchelte, schlug gegen die Stollenwand und fiel hin. Bevor er sich wieder hochrappeln
konnte, waren Ravid und Daffel über ihm. Mit einer nicht zu bremsenden Wut schlugen sie auf ihn ein und
hörten nicht mehr auf. Sie vermuteten in diesem Mann den Schänder Annuks und ließen ihren Rachegefühlen
freien Lauf. Laut schimpfend und fluchend traktierten sie den inzwischen zusammengekauert daliegenden
Körper mit Daffels Knüppeln. All ihr angestauter Hass wurde frei und sie steigerten sich immer mehr in eine
zerstörerische Raserei.
Mit vier Schritten war Sebastian bei ihnen und riss sie von dem wimmernden, feigen Banditen weg:
»Genug..! Hört auf, das reicht jetzt..!« Die Brüder rissen sich los und fielen erneut über den Reiter her.
»Schluss jetzt..! Das reicht.., das merkt der doch sowieso nicht mehr!« Mit diesen Worten schob
Sebastian die beiden endgültig von ihrem Opfer fort.
»Helft mir lieber mit dem Holz da drüben...«, ermahnte er die beiden, »... damit wir Annuk endlich aus
diesem Verlies herausbringen können!«
Ein paar Lederschnüre und die zerschnittenen Stricke genügten, um eine provisorische Trage zusammen
zu bauen. Vorsichtig legten sie Annuk darauf und hoben sie hoch. Das laienhaft zusammen gezimmerte Gestell
ächzte bedenklich.., aber es hielt! Langsam und bedächtig trugen sie das mutige, kleine Mädchen nach draußen.
Den zusammengeschlagenen Soldaten ließen sie ohne weitere Aufmerksamkeit liegen. Der wurde ihnen nicht
mehr gefährlich!
Draußen standen die befreiten Frauen immer noch ratlos um die Lagerfeuer herum. Von Torbuks
Soldaten war keiner mehr zu sehen. In Gedanken zählte Sebastian nach und kam zu dem Schluss, dass auch
keiner mehr da sein konnte..! Anscheinend hatten sie alle erwischt. Fünf mutige Freunde hatten Torbuks Trupp
tatsächlich bis auf den letzten Mann vollständig aufgerieben!
Dabei war Annuk an diesem Tag ihre große Heldin! Ohne ihren Einsatz und ihren Mut hätten sie
wahrscheinlich keine der Frauen befreien können. Dafür hatte Annuk jedoch einen hohen Preis bezahlt! Und sie
alle, die befreiten Frauen und Mädchen und auch ihre Retter, schuldeten diesem Mädchen mit einem Herzen so
groß wie eine Lokomotive, die höchste Achtung, die einem Menschen überhaupt zu teil werden konnte!
»Antarona.., sag Ravid und Daffel, sie können jetzt die anderen Frauen aus dem Wald zurück holen!
Die haben wir ja fast vergessen!«, sagte Sebastian seiner Gefährtin, indem sie Annuks Trage am Feuer absetzten.
Antarona übersetzte seine Bitte und die Brüder trabten in der Dunkelheit davon.
Das Mädchen mit der Lanze scharte plötzlich die anwesenden Frauen um sich. Sie griffen sich irgend
eine Waffe, einen Knüppel, oder auch nur einen Stein und gingen zielstrebig in den Bergstollen hinein. Ihre
versteinerten Minen zeigten eine kalte Entschlossenheit. Antarona wollte sich ihnen in den Weg stellen und sie
aufhalten, doch Sebastian hielt sie zurück:
»Lass sie gehen, Antarona, du kannst sie nicht aufhalten..! Wenn sie es jetzt nicht tun, dann tun sie es
später... Du kannst das nicht verhindern!« Der intensive Blick ihrer tiefen, leuchtenden Augen sprach Bände. Sie
nickte nur leicht und hockte sich wieder neben Annuk. Ihr Zustand war hoffnungslos. Trotzdem, oder gerade
deshalb bemühten sie sich, Annuk so gut zu versorgen, wie es unter diesen Umständen möglich war.
Dieses Mädchen, das mehr Mut besessen hatte, als alle anderen zusammen, ja sogar mehr als alle
Männer in ihrem Dorf, wollten sie unter keinen Umständen dem Reich der Toten preisgeben! Doch in dieser
Nacht lernte Sebastian einmal mehr, dass es den Menschen trotz allem Mut, trotz aller guten Gedanken und aller
Anstrengungen nicht beschieden ist, sich ihrem Schicksal zu entziehen...
Daffel und Ravid kamen mit den Frauen zurück, die sie hinter dem Felsen im Wald in Sicherheit
gebracht hatten. Ihre entsetzten Blicke irrten suchend auf dem Platz umher. Antarona beruhigte sie und wies auf
den Bergwerksstollen. Die Gesichter der Befreiten hellten sich auf.
Kurz darauf kehrten die Frauen aus dem Berg zurück. Sie trugen keine Waffen mehr. Ihre Hände waren
blutverschmiert und ihre Beine trugen ebenfalls rote Spritzer. Sie sagten kein Wort, schlossen nur stumm ihre
gerade angekommenen Gefährtinnen in die Arme und setzten sich schweigend an die Lagerfeuer.
Antarona blieb bei Annuk, während Sebastian mit den beiden Brüdern die Soldaten untersuchte. Bis auf
einen waren alle Männer Torbuks ihren Verletzungen erlegen. Der blonde Riese, den Daffel mit seinen dicken
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Stöcken bearbeitet hatte, lebte noch. Er blutete aus vielen Platzwunden, die eigentlich genäht werden mussten.
Außerdem musste er sich wohl mit einigen Frakturen herumquälen. Jede seiner Bewegungen, als sie ihn in den
Kreis der Lagerfeuer brachten, schien ihm unsäglichen Schmerz zu bereiten.
Niemand war auch nur im Mindesten bereit, sich seiner Verletzungen anzunehmen und bei dem Blick,
den ihm die Frauen zuwarfen, konnte er froh sein, dass sie ihn nicht auf der Stelle massakrierten. Hätten sie es
versucht, so wären wohl weder Sebastian noch Antarona in der Lage gewesen, sie davon abzuhalten.
Die toten Reiter schleiften Daffel, Ravid und Sebastian in den Eingang des Bergwerks, damit zumindest
in dieser Nacht nicht noch die Tiere daran herum fraßen. Die Pferde der schwarzen Soldaten leisteten ihnen
dabei gute Dienste.
Genau dreizehn Pferde hatte ihnen Torbuks Truppe hinterlassen. Dazu einige Waffen, für die sie aber
keine Verwendung hatten, da sie ihnen zu schwer erschienen. Die Schwerter waren von solcher Größe, dass
Sebastian keines davon, selbst mit beiden Händen, zu führen vermochte. Und mit Mordinstrumenten, wie
Kettenkugeln, oder Äxten wusste er nicht viel anzufangen. Sie trugen das ganze Zeug in den Bergstollen.
Dann ließen sie die Feuer niederbrennen und legten sich zur Ruhe. Die Frauen wickelten sich in die
Felle, die ihnen ihre Peiniger hinterlassen hatten und schliefen erschöpft ein. Antarona, Sebastian und die
Brüder, sowie das Lanzenmädchen hielten abwechselnd immer zu zweit Wache. Einer postierte sich auf dem
höchsten Felsen, um Ausschau nach Feinden zu halten, während der andere bei Annuk blieb, ihr die Wunden
abtupfte, ihr Hoffnung und Mut machte und ihr das Gefühl gab, nicht allein zu sein.
Vieles hatte Sebastian erlebt, seit er von Högi Balmers Hütte aufgebrochen war. Weder sein Geist, noch
sein Körper waren in dieser Zeit einmal wirklich zur Ruhe gekommen. Im Grunde war er so etwas von todmüde,
dass er sich wunderte, noch nicht einfach umgefallen zu sein. Dennoch konnte Sebastian keinen Schlaf finden.
Unruhig wälzte er sich hin und her, bis er es nicht mehr aushielt und seinen Schlafsack verließ.
Ziellos wanderte er durch den Steinwall auf den Wiesenstreifen und weiter zur Felswand hinüber, von
der aus er mit Antarona am Abend das Lager der Soldaten beobachtet hatte. Ein Stück weit stieg er hinauf,
gerade so viel, dass er das bewaldete Tal einsehen konnte. Müde ließ er sich auf einem Grasflecken nieder und
sah hinab.
Die Lagerfeuer glommen nur noch, feine Rauchsäulen stiegen in den nächtlichen Himmel, wurden vom
fahlen Licht des Mondes angestrahlt. So friedlich ruhte das Lager unter ihm, dass es ihm schwer fiel, sich zu
erinnern, welche Grausamkeiten sich noch vor ein paar Stunden dort unten abgespielt hatten. Alles Erlebte
schien nur ein böser Alptraum gewesen zu sein, aus dem Sebastian vorzeitig erwacht war.
Aber er selbst war an den Grausigkeiten beteiligt! Er hatte Menschen umgebracht! Wie viele eigentlich?
Nachdenklich blickte Sebastian auf seine Handflächen und schüttelte langsam den Kopf. Wie rasch hatte er doch
das angenehme Fell der Zivilisation abgestreift! Er hatte in einem Kampf Männer getötet, erinnerte sich aber
schon nicht einmal mehr daran, wie viele!
Mit leeren Augen sah er in die Ferne, sah den dunklen Teppich des Waldes unter sich, und die
schwarzen Silhouetten der Berge vor ihm. Darüber nur noch der Himmel, von funkelnden Lichtern übersät...
War es überall so, wie hier? Gab es andere Welten dort oben, die noch grauenvoller sein konnten, als diese hier?
Konnte er das, was er heute getan hatte, mit ruhigem Gewissen vor sich selbst verantworten, konnte er damit
leben? Die Antwort stand nicht in den Sternen!
Seht es euch ruhig ganz genau an, Mann von den Göttern, damit ihr es ja nie wieder vergesst... Das tun - sie - mit - uns! Wieder klangen Antaronas Worte in seinem Kopf. Dazu sah Sebastian im Geiste das Bild,
wie Annuk an dem Holzpfeiler hing und er sah wieder das Bild von dem Mädchen in der Hütte des
Wasserbauern... Und dann sah er Antarona, er sah Janine... Sie lag hilflos auf ein Wagenrad gebunden.., nackt..,
schwarze Soldaten nahmen sie..., grölend.., lachend... Sie schrie Sebastians Namen, flehte um Hilfe.., er sah es..,
er konnte ihr nicht helfen, er war machtlos und musste zusehen, wie ihr ein Mann das Messer in die Haut drückte
und die Klinge über ihren Bauch zog.., über ihr Gesicht.., über die glatte Haut ihrer Beine... Daneben stand Högi
Balmer. Er lachte. Er stand da, sah alles mit an und lachte. Aber er sah nicht auf Antarona, er sah zu Sebastian!
Er sah ihm in die Augen und lachte, während Antarona Höllenqualen litt... »Väterchen Balmer hat es euch doch
gesagt, habt ihr das schon vergessen.., Habt nicht hören wollen, auf das Väterchen, nicht.., hi, hi, hi...«
Dann verblasste das Bild wieder. Verzweifelt wischte sich Sebastian die Tränen aus den Augen. Er
wollte nicht töten müssen, in welchem Land auch immer, wollte aber gleichzeitig auch niemals Antarona einer
Gefahr ausgesetzt sehen. Sein Verstand sagte ihm, dass es nie ganz auszuschließen ist, dass einem geliebten
Menschen etwas Böses widerfährt. Er erzählte ihm jedoch auch, dass man solche Möglichkeiten im Voraus
einschränken konnte!
Ja! Was er heute für diese Menschen und für sich getan hatte, konnte er vor seiner Seele verantworten!
Und Sebastian konnte damit leben! Solange er sich solches Leid ansehen musste, wie Annuk, oder das Mädchen
in Zumweyer, konnte er damit leben, etwas dagegen getan zu haben! Mehr noch: Er musste dafür leben, etwas
dagegen zu tun!
Dennoch suchte Sebastian nach einer Bestätigung für seine Entscheidung vor einer höheren Moral. Die
Antwort, die er sich selbst gab, genügte ihm nur dann, wenn er an die Gräueltaten der schwarzen Soldaten
Torbuks dachte. Um seinen inneren Frieden mit seiner Entscheidung von heute zu machen, als er bewusst Leben
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zerstörte, um anderes Leben zu schützen, stellte sich Sebastian vor, wenn Antarona an Annuks Stelle in das
Felsenfort gegangen wäre...
Das Kollern von Steinen weckte seine Aufmerksamkeit. Das Geräusch wurde von der Felswand
vielfach zurückgeworfen. Müdigkeit kämpfte mit Scharfsinn. Es dauerte eine Weile, bis Sebastian begriff, dass
in Bewegung geratene Steine auch Gefahr bedeuten konnten! Bevor er noch zu reagieren wusste, stand jemand
im Dunkeln neben ihm:
»Findet ihr keinen Frieden, Ba - shtie..?« Antarona setzte sich neben ihn und seufzte tief. Dann sagte sie
leise:
»Ihr müsst nicht die Tränen der Trauer vergießen, ihr habt das getan, was richtig und gut war, Mann von
den Göttern.., ihr habt gekämpft, wie ein großer Krieger, dem gegeben ist, andere Krieger zu führen. Antarona
weiß nun, dass ihr der seid, auf den das Volk seit vielen Sommern wartet!«
»Es sind keine Tränen der Trauer, Antarona, es sind die Tränen der Angst!«, berichtigte Sebastian sie.
Das Krähenmädchen sah ihn verwundert an:
»Wir haben Torbuks Pferdesoldaten besiegt, Ba - shtie, wir haben die Töchter des Volkes befreit und
Rache genommen für das, was uns angetan wurde...«
»Aber das ist es ja gerade...«, gab er zu bedenken und fügte niedergeschlagen hinzu: »Ich denke an
Annuk.., ich denke an des Wasserbauern Tochter.., ich denke an das Mädchen, dessen Muschelschmuck du jetzt
bei dir trägst... Und ich denke an dich, Antarona.., ich muss immer wieder an dich denken!«
»Ihr denkt an mich, Ba - shtie - laug - nids.., wie meint ihr denn das..?«, wollte sie wissen. Er wusste
nicht recht, wie er es ihr erklären sollte. Dieses Krähenmädchen war eine ausgezeichnete Kämpferin, sie war
eine gute Fährtenleserin und hatte auch sonst unzählige, brauchbare Fähigkeiten, für die man sie in seiner Welt
heilig gesprochen hätte. Dennoch wusste Sebastian nicht, wie er ihr plausibel machen konnte, dass er während
des Kampfes Angst um sie hatte, weil sie das einzige war, das ihm wirklich von Herzen etwas bedeutete. Sie
schien es als selbstverständlich hinzunehmen, jederzeit selbst verletzt, getötet, oder als Opfer missbraucht zu
werden. Wie sollte er ihr da seine Angst erklären?
Andererseits.., was hatte er schon zu verlieren? Im ungünstigsten Fall konnte sie sich über seine
Ängstlichkeit belustigen. Verzweifelt nach einer Antwort suchend, blickte er in den sternenübersäten Himmel.
»Sieh mal dort oben, Antarona.., siehst du das da, die vielen Sterne, die kein Mensch jemals wird zählen
können..?«
»Ja, Ba - shtie«, flüsterte sie, »...das sind die Tränen der Götter! Sie vergießen sie für alle guten
Menschen, die von uns gegangen sind, in das Reich der Toten... Vier neue Sterne seht ihr heute Nacht dort oben
leuchten...«
»Vier neue Sterne..?«, fragte Sebastian erstaunt und sah Antarona fragend an. »Die Frau und das
Mädchen im verlassenen Lager heute morgen.., das Mädchen im feinen Gewand auf dem Weg... Das sind nach
meiner Rechnung drei..!«
»Annuk...«, sagte Antarona mit leiser, zitternder Stimme, »Annuk ist jetzt ebenfalls dort oben und
leuchtet uns mit Mut und Herzensgüte von dort herab, damit wir niemals vergessen, wofür wir kämpfen und
wofür wir sterben.., für die Freiheit, die zu lieben, die unser Herz glücklich machen...«
»Annuk..?«, fragte Sebastian traurig, »...arme, kleine Annuk.., das wusste ich nicht...« Antarona zitterte,
als ein kühler Wind am Felsen entlang strich. Er nahm sie in den Arm und zog sie dicht an sich heran, um sie zu
wärmen. Sie umklammerte ihn plötzlich mit ihren Armen und lehnte sich an ihn. Sebastian spürte, dass sie alles,
was sie belastete und was sie allein in ihrem Herzen mit sich herumtrug, abladen wollte. Ihre warmen Tränen
rannen stumm an seiner Schulter herab.
»Das, Antarona.., das meinte ich damit...«, erklärte er ihr leise, »...sieh dort hinauf, zu den Tränen der
Götter... Eine funkelt nun dort oben für Annuk. Aber sieh genau hin.., dort hinten, dieser große, leuchtende
Stern.., der größte von allen... Ich war traurig, weil ich mir vorgestellt hatte, du wärst dieser helle Stern,
Antarona! Wenn du anstelle Annuks gegangen wärst, würde jetzt dieser hellste Stern für dich leuchten, weil
meine Trauer um dich die größte sein würde, die ein Herz jemals zu fühlen vermag!«
Antarona hob den Kopf und sah ihn sanft an, während er weiter sprach: »Siehst du den kleineren Stern
gleich neben dem großen, hellen? Das wäre die Träne, die für mich dort oben leuchten würde, Antarona.., wenn
du heute dieser Stern geworden wärst, so wäre ich der kleinere neben dir und würde bis in alle Ewigkeit an
deiner Seite strahlen...«
Mit feuchten Augen und einer Wärme tief aus ihrem Herzen sah sie ihn an: »So sehr mögt ihr mich, Ba
- shtie - laug - nids.., so sehr, dass ihr Tränen für Antarona vergießt, bevor sie noch in das Reich der Toten
eintritt?«
»Ja.., so sehr liebe ich dich, mein Sternchen.., so sehr und noch viel mehr...«, versicherte er ihr leise. Sie
rollte sich wie ein kleines Schutz suchendes Kätzchen in Sebastians Armen zusammen und er spürte, dass er ihr
Eis allmählich zum schmelzen brachte.
Den Rest der Nacht verbrachten sie eng aneinander gekuschelt in der Felswand hoch über dem Lager.
Sie wärmten sich gegenseitig. Um den Wachwechsel kümmerten sie sich nicht mehr, denn von dort oben
konnten sie das halbe Tal überblicken. Wäre eine Reiterhorde angerückt gekommen, sie hätten es rechtzeitig
bemerkt, um das Lager warnen zu können.
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Frank Adlung • Storchenweg 6 • 38112 Braunschweig • Tel.: (05 31) 2 45 73 73 • Mobil: (01 60) 5 20 21 12
07.04.2011
Das Geheimnis von Val Mentiér, Roman • © 2008 - 2010 by Frank Adlung, Braunschweig • http://www.sternenlade.de
Erstelldatum 06.04.2011 23:43
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Der Morgen war kalt. Ein weißer Nebelteppich stieg aus dem Tal auf, wie eine Herde von wattigen
Schafen, die dicht gedrängt bergwärts zogen. Kleine Lämmchen trennten sich von der Masse und schlichen sich
durch die Stämme der hohen Bäume in das Seitental hinauf. Sie schwebten langsam über das Lager bis zu ihrer
Felswand, wurden dann vom leisen Wind erfasst, der sie hoch hob, bis zu ihrem Platz, wo sie eine nasse Kälte
verbreiteten.
Immer mehr dieser kleinen Nebel lösten sich aus dem Talgrund und flogen über ihnen hinweg den
hohen, vergletscherten Gipfeln zu. Dann entzündete sich an den vereisten Flanken der Berge ein Feuer. Zaghaft
erst, dann wie die Flamme eines Schneidbrenners, schließlich explodierten hunderte von gleißenden Strahlen an
den Bergkanten und schossen in alle Richtungen herab.
Sofort erleuchteten Teile des Waldes, der Wiesen und die Felsenburg, die das Lager schützte, warf
lange Schatten. Helles Sonnenlicht lag plötzlich auch auf ihren Körpern und hauchten ihnen neues Leben ein.
Antarona schmiegte ihren Leib noch enger an Sebastian und drehte sich in ihrer gegenseitigen Umklammerung,
um jeden wärmenden Strahl der aufgehenden Sonne mit ihrer Haut einzufangen.
Die Stimmen des Tages erwachten, verhalten erst. Doch dann entbrannte eine Flut von Lauten und
Gerüchen, die in ihrer Komposition reine Zufriedenheit vermittelte. Antaronas Krähen segelten aus dem Nichts
heran, ließen sich auf einer vertrockneten Wurzel nieder und begannen mit Hingabe, in der jungen Sonne ihr
schwarzes Gefieder zu putzen. Die Vögel des Waldes begrüßten sich mit einer Morgenmelodie, wie sie lieblicher
nicht klingen konnte.
Irgendwo begann ein Specht seinen trommelnden Hammerschlag und dort, wo die Sonne großzügig ihr
Licht ausbreitete, summten hunderte von Insekten heran und begannen ein Konzert, das den ganzen Tag lang
weiter klingen würde. Dieser Moment, der einen neuen Tag werden ließ und die Schatten des vergangenen Tages
zu begraben versuchte, besaß etwas so beruhigendes, dass Sebastian sich wünschte, er würde niemals enden. Er
lud zum Träumen ein. Wie schön hätte diese Welt sein können...
Er sah Antarona aus einem kleinen Holzhaus treten, sich über ein Beet bunter Blumen beugen und sah
ihr Lachen, dass selbst die Sonne in den Schatten stellte. Sebastian trat zu ihr, steckte ihr eine gelbe Blüte in ihre
pechschwarzen Haare und streichelte sanft ihre von der Sonne gewärmte Haut.
Antarona rührte sich in seinen Armen und ihm wurde bewusst, dass er tatsächlich ihre Schultern
gestreichelt hatte. Sie schlug ihre großen Augen auf und Sebastian war fasziniert von den tiefen und zugleich
leuchtenden Sternen, die ihn ansahen.
Lange saßen sie schweigend aneinander gelehnt da und sahen auf das Land unter sich, das aus einem
tiefen Leid erwachte und ihnen in diesem Moment bewusst werden ließ, wie schön es sein konnte, wenn sie das
Böse einmal besiegt hatten.
Nachdenklich blickte Sebastian auf das Lager hinunter. Der friedliche Morgen täuschte darüber hinweg,
welches Grauen in der Nacht diesen Ort fest in seinem Griff hatte. Jetzt war scheinbar alles friedlich. Aber er
wusste, dass es nicht so bleiben würde... Er dachte an Annuk.., an das Mädchen in Zumweyer.., an das Mädchen
mit dem Muschelschmuck.., an sein Krähenmädchen...
Letztere sah ihn strahlend, aber auch fragend an: »Wovon träumt ihr, Ba - shtie, welche Gedanken
fliegen euch in euren Kopf..?«
Sebastian drückte sie fest an sich und sagte: »Von dir, mein Sternchen.., von dir träume ich! Von dir..,
von Frieden.., von Glück.., von einem ruhigen, wunderbaren Leben...«
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Missverständnisse
Kaum, dass sie Gelegenheit hatten, Gefühle füreinander zu entwickeln, mussten sie ihr Krähennest in
der Felswand schon wieder verlassen. Die Kälte der Nacht, von der neuen Sonne auf das Land gedrückt, weckte
auch die Frauen im Lager unter ihnen. Einige der ehemaligen Gefangenen sahen sie schon alsbald geschäftig hin
und her laufen. Sie holten Wasser, setzten die Feuer wieder in Gang und kümmerten sich liebevoll um ihre
Leidensgenossinnen, die der Willkür der Soldaten ausgeliefert waren.
»Wir sollten sie so bald als möglich von hier fort bringen.., bevor irgend ein Hitzkopf von Torbuks
Leuten hier aufkreuzt, um nach dem Verbleib des Trupps zu sehen.« Mit dem Daumen deutete Sebastian zum
Lager hinunter.
»Ja, Ba - shtie.., wir bringen sie zu ihren Familien zurück...« Antarona stand auf dem Felsabsatz und
beschrieb mit ihrem Arm einen weiten Bogen über die Täler, Wälder und Berge:
»Das Volossoda ist ein weites, raues und hohes Land.., oft verlieren sich Menschen viele Sonnen und
Monde lang in den Wäldern und Schluchten... Torbuk wird seine Soldaten sobald nicht vermissen! Wir haben
Zeit, dem Volk seine Töchter wiederzugeben.«
Antarona machte eine kurze Pause, sah verträumt über das enge Tal hinaus und weiter hinab in das
Haupttal. Sie legte ihre feingliedrige Hand auf Sebastians Arm und fuhr fort:
»Bald, Ba - shtie - laug - nids, sehr bald kommt die kalte Zeit der langen Nächte... Die Frauen und
Mädchen werden in den warmen Hütten sein und sich auf neues Leben vorbereiten. Das Land hält in der weißen
Stille den Atem an und bereitet sich ebenfalls auf das neue Leben vor. Auch Torbuks Soldaten bleiben in dieser
Zeit in den Städten, wo es warm ist... So war es immer... Jedes Wesen sucht einen Platz an einem brennenden
Ofen, niemand sollte in dieser Zeit allein und ohne die Wärme eines anderen Herzens sein...«
Was Antarona so umständlich zum Ausdruck brachte, war die Vermutung, dass Torbuks Schergen
vielleicht bis zum Frühjahr Ruhe geben würden. Eine vage, doch wünschenswerte Hoffnung! Aber eben nur
wünschenswert! Eher wahrscheinlich war, dass Torbuk einen Vergeltungsfeldzug durch die Täler starten würde.
Er konnte es kaum hinnehmen, dass ein Fremder, ein halbnacktes Krähenmädchen und ein paar grüne Jungen
einen ganzen Trupp seiner Soldaten völlig aufgerieben hatte. Wenn das Schule machte...
Etwas mehr beschäftigte ihn Antaronas Ausführung über warme Öfen und warme Herzen in der Zeit da
Eis und Schnee das Land fest in seinem Griff haben würde. Wo würde er dann sein? Weiter zu Tal wandern, um
noch vor dem Winter zu Hause zu sein, hieße Antarona, die wieder gefundene Janine, zurücklassen. Ob
Sebastian dann jemals wieder die Gelegenheit hatte, bei ihr zu sein?
Würde er andererseits bei ihr bleiben, musste er das gesicherte Leben in der norddeutschen Großstadt
und alle dazu gehörigen Annehmlichkeiten aufgeben! Ebenso wenig konnte er Antarona mitnehmen in seine
Welt der Zivilisation. Zum einen wusste Sebastian gar nicht, in was für einer Welt er sich hier befand und ob
man ihn so einfach wieder hätte gehen lassen, zum anderen war ungewiss, ob Antarona seinetwegen ihre
einfache, zwanglose Welt der weiten Täler freiwillig verlassen wollte.
Wie sollte das auch gehen? Sebastian stellte sich vor, wie es wäre, wenn er mit Antarona auf
irgendeinem Flughafen versuchen würde einzuchecken. Ohne ihr Schwert ging Antarona nirgendwo hin. Mal
abgesehen davon, dass so eine Waffe sicher nicht den Weg in ein Flugzeug finden würde, hätten sie wegen des
leichten Materials ihres Schwertes bald die Geheimdienste und Mafiaorganisationen der ganzen Welt auf dem
Hals.
Schwierigen Entscheidungen war Sebastian stets geflissentlich aus dem Weg gegangen, hatte sie so
lange wie möglich vor sich her geschoben. Nun befand er sich in der Zwangslage, sehr bald eine Entscheidung
treffen zu müssen, die sein Leben komplett verändern konnte! Er schüttelte den Kopf, wie um die komplizierten
Gedanken von sich abzuschütteln.
Nein.., im Moment jedenfalls stand für ihn fest, dass er an Antaronas Seite bleiben wollte, solange die
Hoffnung bestand, dass sie wie einst vor dreizehn Jahren, wieder das tiefe Gefühl der Liebe verband. Damals, in
seiner Trauer, hatte er sich gewünscht, ihr in die Welt, in die sie aufbrach, folgen zu können. Nun hatte sich ihm
dieser Weg aufgetan und obwohl Sebastian nicht ergründen konnte, wie seine Erlebnisse der letzten Wochen
möglich sein konnten, war er bereit, diese Chance für sich und Antarona wahrzunehmen. Mochten die Götter
ihm dabei helfen!
Später konnte er immer noch irgendwie nach Hause reisen und seine Angelegenheiten regeln, oder mit
Antarona dorthin gehen, um dort in Frieden mit ihr zu leben. Wenn er es erst einmal geschafft hatte, den Kontakt
zur normalen Welt außerhalb dieser Täler unbehelligt herzustellen..!
Als sie das Lager erreichten, hatten die Frauen bereits eine Mahlzeit zubereitet. Die Lebensmittel dafür
stammten anscheinend aus den Beständen der getöteten Pferdesoldaten. Vermutlich war dieser Proviant ohnehin
Raubgut, das die Reiter in den Dörfern hatten mitgehen lassen. Ravid und Daffel hatten es sich an einem Feuer
gemütlich gemacht und wurden von mehreren Mädchen dankbar umsorgt. Die Frauen umschwärmten regelrecht
ihre Helden der Befreiung und die beiden Brüder schienen diese Annehmlichkeit sichtlich zu genießen.
Das Mädchen, das Antarona mit seiner Lanze den Rücken gedeckt hatte, führte sie an ein Feuer und
servierte ihnen gegartes Huhn und eine Art gekochter Hirse auf einem grünen Blatt. Sie lächelte Sebastian offen
an und er spürte die Dankbarkeit und Sympathie, die sie denen entgegen brachte, die sie vor einem grauenvollen,
hoffnungslosen Schicksal bewahrt hatten.
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Das Essen war sehr einfach, schmeckte aber vorzüglich. Eine andere Frau brachte ihnen bereitwillig
Wasser. Sebastian kam nicht umhin festzustellen, dass sie von den Geretteten als eine Art Nationalhelden
angesehen wurden. Und so dankbar er auch für diese sichtlichen Bekundungen war, so vergaß er doch nicht das
Verhalten der Frauen im ersten Dorf des Tales, das er nach tagelanger Entbehrung und in letzter Hoffnung
erreicht hatte. Die offene Feindseligkeit, die ihm dort entgegen schlug, hatte sich in respektvolle Freundlichkeit
verwandelt. Hoffentlich übertrug sich das auch auf die restliche Bevölkerung des Tals!
Während des Essens fiel ihm der gefangene, große blonde Pferdesoldat ein, den sie in der Nacht
gefesselt neben den Eingang des Bergstollens gesetzt hatten. Er war von Daffels Knüppeln ziemlich übel
zugerichtet worden. Um zu zeigen, dass sie etwas menschlicher mit Gefangenen verfuhren, als seinesgleichen,
wollte Sebastian ihm etwas zu Essen bringen.
Der Krieger saß noch am selben Platz vor dem Stollen. Doch seine Augen starrten leblos in die Luft.
Ein schmales, langes Messer steckte ihm bis zum Heft in der Brust. Es gab keine Spur eines Kampfes, noch
konnte Sebastian eine Wunde entdecken, aus der Blut getreten war. Irgend jemand musste an ihm vorüber
gegangen sein, als er vor Erschöpfung eingeschlafen war. Selbst eine schwache Frau konnte ihm dann gezielt
und gefahrlos das Messer in das Herz stoßen. Er hatte offensichtlich nicht die Spur einer Chance.
Ratlos sah sich Sebastian um. Die Frauen ignorierten den Ermordeten, als ob er gar nicht existierte. Sie
gingen an ihm vorüber, um Holz für das Feuer aus dem Stollen zu holen und nahmen ihn gar nicht wahr. Gute
Messer und andere wertvolle Gebrauchsgegenstände waren in diesem Land sicher sehr rar. Dennoch stak dieses
Messer noch immer demonstrativ im Körper des Toten.
Das war eine eindeutige Geste! Die Frauen hatten ihrerseits Rache genommen. So abgrundtief war ihr
Hass gegen die Soldaten Torbuks, dass sie sich weigerten, die Waffe wieder an sich zu nehmen, die den Feind
berührt hatte.
Unvermittelt stand Antarona neben ihm. Sie blickte gleichgültig auf den Toten herab, als betrachtete sie
ein paar Ameisen. Dabei biss sie ungeniert in ein Hühnerbein und dachte gar nicht daran, sich den Appetit
verderben zu lassen. In ihrer Welt war die Konfrontation mit dem Tod offenbar so selbstverständlich und
alltäglich, wie in Sebastians Zivilisation der tägliche Zeitungskauf am Kiosk.
»Sie hatten das Recht, so zu handeln, Ba - shtie.., die Frauen unseres Volkes ertragen viel Böses, so viel
Grauenvolles und Verachtenswürdiges durch Männer wie diesen da. Manche von ihnen wünschen sich sein
schnelles Schicksal, damit sie nicht mit seiner Brut im Leib weiterleben müssen. Es ist nur gerecht..!«
Mit diesen Worten drehte sie sich um und ging zurück zum Feuer, wo die anderen Frauen saßen und
ihre Mahlzeit verzehrten. Daffel und Ravid hatten inzwischen die Pferde auf das Wiesenstück vor der Felsenburg
geführt und sie dort mit schmalen Hölzern und Stricken angepflockt. So konnten sie noch etwas weiden, bevor
sie diesen Ort verlassen würden.
Einige Zeit später, die Sonne wärmte bereits so stark, dass Sebastian ohne Anstrengung in Schwitzen
geriet, machte sich eine allgemeine Aufbruchsstimmung breit, die auch ihn ergriff. Ebenso, wie Antarona ihre
Felle, so schnürte er seinen Schlafsack zusammen und hängte ihn sich über die Schulter. Kurz bevor sie die
Felsfestung verließen, stellten sich Antaronas Krähen ein, als hätten sie einen vorgegebenen Fahrplan im Sinn.
Die Frauen beluden die Pferde der Soldaten mit deren Waffen und anderen brauchbaren Gegenständen
aus dem Bergwerksstollen und zurrten die Lasten auf den Rücken der Tiere fest. Ein paar Pferde bockten, weil
sie nur an Reiter, nicht aber an Lasten gewöhnt waren. Antarona brachte jedoch jedes Tier wieder zur Ruhe und
Sebastian mutmaßte, dass in den Legenden vom Krähenmädchen, welches mit den Tieren spricht, mehr
Wahrheit lag, als er nach seinem logischen Verständnis zu glauben bereit war.
Es wurde bereits Mittag an diesem drückend heißen Spätsommertag, als sich ihre Karawane in
Bewegung setzte. Antarona übernahm mit Sebastian die Führung. Die Frauen folgten ihnen, indem jede von
ihnen ein schwarzes Pferd am kurzen Zügel führte. Die beiden Brüder und das Mädchen, das so vortrefflich mit
einer Lanze umzugehen wusste, bildeten die Nachhut.
Sie folgten dem Bachlauf das Tal hinab und erreichten unbehelligt den Dorfrand von Breitenthal. Wie
ein Lauffeuer sprach es sich herum, dass Sonnenherz und ihre Freunde einen ganzen Trupp von Torbuks
Soldaten besiegt hatte.
Sofort liefen die Bewohner zusammen und eskortierten ihren Zug mit Lobeshymnen und lauten,
aufmunternden Zurufen durch den Ort. Überall standen die einfachen Leute vor ihren Hütten, klopften ihnen
anerkennend auf die Schultern, schüttelten dankbar ihre Hände und viele drückten ihnen ganz spontan kleine und
große Proviantpäckchen in die Hände.
Trotzdem alles noch so fremd auf Sebastian wirkte und er sich noch nicht damit abfinden konnte, in
dieser Nacht Menschen getötet zu haben, erlebte er ein nie da gewesenes Gefühl. Es war, als hätte er dazu
beigetragen, eine neue Ära der Geschichte einzuläuten. Eine Mischung aus Stolz, innerer Bestätigung und
Siegestrunkenheit erfasste ihn. Die Annerkennung dieser Menschen, die ihm plötzlich Freundlichkeit und
Sympathie entgegenbrachten, sowie die Erregung, bei etwas sehr Bedeutendem dabei gewesen zu sein,
verdrängten alle Zweifel.
Auch Ravid und Daffel erlagen dem angenehmen Gefühl, als Helden gefeiert zu werden. Über Nacht
waren sie plötzlich zu angesehenen Männern geworden, die nun als Beispiel für alle galten. Die Frauen und
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Mädchen des Dorfes küssten ihnen angesichts der befreiten Gefangenen die Stirn und Wangen, sie steckten
ihnen sogar Blumenkränze auf ihre Waffen und die Brüder sonnten sich in der spontanen Verehrung.
Sebastian warf Antarona einen etwas säuerlichen Blick zu, doch sie zuckte nur mit den Schultern. Sie
fand es offenbar normal, diese Freude anlässlich der Befreiung der Töchter des Volkes genüsslich auszuleben.
Sebastian dachte da schon weiter... Wenn erst Torbuk davon erfuhr, dass die Vernichtung seines Kriegstrupps in
den Dörfern so gefeiert wurde, dann musste ihn das erst recht auf die Palme bringen. Deutlich hatte Sebastian
kennen gelernt, wozu seine Schergen fähig waren.
Sollten die sich tatsächlich dazu hinreißen lassen, einen Vergeltungsschlag zu üben, so würden sie sich
wohl kaum mehr damit begnügen, ein paar Frauen gefangen zu nehmen. Das nächste Mal, da war sich Sebastian
sicher, brannten ganze Dörfer! Högi Balmer hatte ihm anschaulich berichtet, wie es war, als die wilden Horden
seine Marienka raubten. So, wie es aussah, taten die Dorfbewohner gut daran, sich auf den nächsten Angriff
Torbuks rechtzeitig vorzubereiten.
Noch etwas wurde ihm klar: Sie alle, Antarona, Sebastian Lauknitz, die Brüder aus Mittelau und auch
das Mädchen mit der Lanze, standen ab sofort auf Torbuks Abschussliste! Wohin sie sich in diesen Tälern auch
wenden würden, liefen sie künftig Gefahr, verraten zu werden und den schwarzen Reitern ins Netz zu gehen.
Andererseits stand für Sebastian aber auch fest, jeder böswilligen Bedrohung Antaronas und ihres Volkes
notfalls mit Waffengewalt zu begegnen!
Das Dorf lag bald hinter ihnen. Dennoch folgten ihnen einige Leute, meist jüngere, um ihnen ihre
Achtung entgegen zu bringen. Allen Ernstes fragte sich Sebastian, ob sie noch zu ihnen stehen würden, wenn
plötzlich schwarze Reiter aus dem Wald gestürmt kamen. Angesichts drohender Gefahr würden sie ihre Befreier
wohl allesamt verleugnen.
Sie passierten die Waldschneise, wo sie am Vortag die grauenhaft zugerichteten Leichen der
Gefangenen gefunden hatten. Einige der Frauen erkannten den Ort wieder und wollten nach ihren Freundinnen
suchen. Antarona hielt sie davon ab und zeigte ihnen statt dessen den Schmuck und den Knopf des Reiters, die
sie aufgehoben hatte. Die Befreiten wussten, was es zu bedeuten hatte und stellten keine Fragen mehr.
Am Nachmittag erreichten sie Mittelau. Ähnlich wie in Breitenthal wurde ihre Karawane auch in
diesem Dorf freudig begrüßt. Die Huldigungen nahmen kein Ende, bis sie das Dorf auf der anderen Seite wieder
verließen. Mittlerweile wurde diese überschwängliche Art der Respektzollung lästig und Sebastian wünschte
sich nichts mehr, als ihr Ziel zu erreichen und wieder mit Antarona allein zu sein.
Lediglich Daffel und Ravid konnten sich immer wieder aufs neue mit dieser Situation arrangieren. Sie
lebten die Augenblicke, in denen man ihnen offen zeigte, dass man sie für glorreiche Krieger hielt. Sie waren
sich kaum der wirklichen Lage bewusst, in der sie sich befanden und noch weiniger der Gefahr, die ab jetzt auf
sie lauerte..
Der Weg führte vorbei an sumpfigem Wiesengelände und der weichende Wald gab den Blick auf den
See frei. Sie blieben auf der befestigten Sandstraße und Antarona würdigte das Binnengewässer selbst dann nicht
eines Blickes, als sie nahe dem Wasserfall mühsam die Kehren des Felsriegels zum Wald hinauf schlichen. Sie
bewahrte ihr Geheimnis mit allen Mitteln. Wahrscheinlich war sie sich der Bedeutung bewusst, welche ihre
Höhle noch einmal haben konnte!
Als ihr Befreiungszug durch den Wald marschierte, liefen einige der Menschen, die sich ihnen
angeschlossen hatten, voraus. Sie konnten es nicht erwarten, die frohe Botschaft von der Rückkehr der Frauen in
ihr Dorf zu tragen. Entsprechend gestaltete sich ihr Empfang.
Noch weit vor dem Dorf, ihre Karawane zog gerade durch die Wiesen, liefen ihnen die Bewohner
schreiend und weinend vor Freude entgegen. Die Frauen ließen die Zügel der Pferde los und warfen sich
weinend in die Arme ihrer Angehörigen. Die hatten bereits nicht mehr daran geglaubt, ihre Töchter und Mütter
jemals wieder in die Arme schließen zu können. Um so emotionaler war nun das Wiedersehen.
Viele Hände und Gesichter begrüßten sie und ließen sie hoch leben, ob der Heldentat, die sie
anscheinend vollbracht hatten. Antarona und Sebastian konnten sich kaum auf diesen Freudentaumel einlassen.
Sie hatten alle Hände voll zu tun, um die Pferde im Zaum zu halten, welche die Frauen in der
Wiedersehensfreude einfach losgelassen hatten. Die Aufregung und das Durcheinander machten die Tiere derart
nervös, dass sie mit eisernem Griff gehalten werden mussten, damit sie nicht durchgingen.
Die restlichen eineinhalb Kilometer bis zum Dorf mussten die Helden des Tages wohlgemeinte
Schulterschläge und Lobeshymnen über sich ergehen lassen. Sie konnten sich nicht retten vor Einladungen, zu
Übernachtungen an warmen Öfen und zu großen Mahlen, die man ihnen zum Anlass der Befreiung der
gefangenen Frauen auszurichten versprach.
Wie das Heer eines römischen Tribuns hielten sie im Dorf Einzug. Selten hatte Sebastian Menschen
ihre Begeisterung so voll überschwänglicher Freude ausleben sehen. Mädchen kamen mit Blütenkränzen, Frauen
und Männer mit Speisen und Getränken und kleine aufdringliche Jungen ließen sich nicht abweisen, ihnen die
Waffen abzunehmen, um diese für sie zum Dorfplatz zu tragen.
Stolz marschierte der männliche Dorfnachwuchs mit Schwertern, Lanzen und Kettenkugeln dem Zug
voran. Einige der Jungen konnten das ihnen anvertraute Schwert nicht heben und zogen es einfach, jedoch nicht
minder stolz, durch den Dreck der Straße. Die Frauen wurden sofort in die Hütten ihrer Familien geführt und
liebevoll umsorgt.
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Auf dem Dorfplatz, wo noch nicht vor ganz drei Tagen die schwarzen Soldaten das Volk zusammen
getrieben hatten, wurden nun grobe Tische aufgebaut und mit Speisen und Getränken voll gestellt. Das ganze
Dorf lief zusammen und feierte ausgelassen die Rückkehr der Frauen und den Sieg über Torbuks
Entführungstrupp.
Antarona übersetzte Sebastian so manche Dankeshymne, die man unablässig an ihn heran trug. Oft war
davon die Rede, wie heldenhaft und mutig die vier Freunde Torbuks ganze Armee vernichtet hatten. Ein Mann
begann sogar schon ein gerade eben auf sie komponiertes Lied anzustimmen. Ihre Tat wurde schon Legende!
Dass sie lediglich zwölf Reiter gegen sich hatten, die ihnen noch dazu ganz gehörig eingeheizt hatten,
davon sprach niemand. Für die Menschen hier hatten sie Torbuks ganze Armee besiegt!
»Hört ihr das, Ba - shtie - laug - nids.., sie singen bereits ein Lied über euch...«, sagte Antarona, die ihn
von Tisch zu Tisch begleitete und mal hier, mal dort von den verschiedenen Speisen probierte.
»So sind sie, die Menschenkinder des Volkes, auf jedes Ereignis, auf jeden ihrer Helden, ja sogar auf
ungewöhnliche Ernten, dichten sie ein Lied, damit auch ja niemand jemals wieder dieses Ereignis vergisst. Wenn
die Nächte kalt und lang werden, wird man an jedem Feuer im Tal eure Geschichte hören, Ba - shtie!«
»Meine Geschichte..? Wie meinst du denn das..?«, wollte Sebastian wissen. Antarona wies mit dem
Kopf zum Dorfbrunnen, wo sich ein junger Mann mit einem seltsamen Musikgerät postiert hatte und aus lauthals
inbrünstiger Kehle einen Gesang zu seinem jammernd klingenden Instrument anstimmte.
»Hört genau hin, Ba - shtie... Das Lied wird morgen in aller Munde und in allen Herzen sein, das Tal
hinauf und hinab!«, prophezeite Antarona.
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Die Götter sahen ein ewig Leid,
des Volkes Seele zu erdulden hat,
durch des finstren Fürsten Neid,
seines Sohnes Gier und Macht.
Sohn der Götter, kommt und freiet
Tochter des Volkes dir gegeben
mit hehrer Saat, Herr, befreiet
in ihrer Frucht Erde und Leben.
Ein Krieger ward licht erkoren,
der Götter Zeichen und Gewand,
ziehet auf an Torbuks Toren,
führt das Volk mit starker Hand!
Sohn der Götter kommt, richtet,
böse Brut aus den Tälern zieht,
dunkles Leid sich vernichtet,
aus Weilern und Wäldern flieht.
Mit Antaronas Übersetzung des Liedes konnte Sebastian allerdings nicht viel anfangen. Er verstand es
nicht einmal! Die Worte klangen wirr und fremd in seinen Ohren. Etwas ähnliches hatte er einmal in einem
uralten Buch gelesen. Es war eben eine andere Welt!
»Antarona, was bedeuten diese Verse? Es tut mir leid.., ich will hier niemanden beleidigen, aber ich
verstehe diese Worte nicht!«, gab er offen zu.
»Der Sohn der Götter.., Ba - shtie, das seid ihr!«, klärte Antarona ihn auf. »Ihr seid von den Göttern
gesandt und vernichtet Torbuks Armee.., ihr nehmt euch eine Tochter des Volkes und befreit...«
»Augenblick mal, Antarona.., glaubst du wirklich diesen Quatsch?«, unterbrach er sie. »Wer von uns
beiden hat denn die meisten Soldaten auf dem Gewissen... Ich doch nicht, oder? Ich kann kaum dieses
bescheuerte Schwert halten, geschweige denn eine ganze Armee vernichten! Ich und eine ganze Armee fertig
machen, dass ich nicht lache! Sag mal, du warst doch dabei, du glaubst diesen ganzen Mist doch nicht etwa?«
Antarona sah Sebastian an, als hätte er einem Gor in das Maul gefasst. Nein! Natürlich glaubte sie das
nicht! Doch sie gehörte einer Gesellschaft an, einem Volk, dass offensichtlich seine Helden brauchte, wie das
tägliche Brot.
»Was Antarona glaubt, ist nicht wichtig, Ba - shtie.., das Volk aber glaubt daran..! Ihr seid der Krieger
der Götter, gesandt, um Torbuk zu vernichten und um das Volk zu befreien! Und für den Anfang habt ihr euch
nicht mal schlecht geschlagen, Ba - shtie.., die Frauen haben es berichtet.., ihr seid jetzt ein Held, ob es euch nun
gefällt, oder nicht!« Als Sebastian sie kopfschüttelnd ansah, setzte sie ihr Epos mit Pauken und Trompeten fort:
»Ihr dürft das Volk jetzt nicht enttäuschen, Ba - shtie... Ihr habt den Menschen Mut gemacht, habt ihnen
bewiesen, dass es aufzubegehren gilt und sie glauben an euch! Ihr Glaube an euch, den Mann von den Göttern..,
dieser Glaube gibt ihnen Hoffnung in der dunkelsten aller Zeiten. Wollt ihr diesen letzten Funken Hoffnung in
den Herzen der Menschen auslöschen, Ba - shtie.., ja, wollt ihr das wirklich?«
Antarona fasste Sebastian am Arm und schob ihn in die Mitte des Dorfplatzes und holte dann mit dem
anderen Arm weit aus:
»Diese Menschen hier.., das Volk, hat lange Zeit keine Hoffnung mehr gehabt.., sie wehrten sich nicht
mehr gegen die böse Macht Torbuks.., bis ihr kamt, Ba - shtie! Es ist wahr.., wir hatten Glück mit eurer List
gegen die schwarzen Reiter.., aber das wissen die Brüder und Schwestern des Volkes nicht! Sie glauben an euch
und in ihren Herzen ist eine neue Hoffnung geboren... Wollt ihr ihnen diese Hoffnung wieder nehmen, ja? Dann
sagt es ihnen! Seht ihnen in die Augen, Ba - shtie - laug - nids, seht jedem von ihnen in das Gesicht und sagt
ihm, dass wir nur Glück hatten.., sagt ihnen, dass Torbuk nicht zu besiegen ist, dass es keine Hoffnung gibt..,
dass ihr nicht der seid, für den euch alle halten.., sagt ihnen, dass ihr sie mit ihrem Leid allein lassen wollt.., los,
Ba - shtie.., sagt es ihnen!«
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Betreten sah Sebastian zu Boden. Natürlich konnte er diese Menschen nicht ihrer Hoffnung berauben.
Ihre Hoffnung war ihr Leben! Plötzlich traten die Dorfbewohner von allen Seiten erwartungsvoll an sie heran.
Sie hatten bemerkt, wie Antarona ihn in die Mitte des Platzes schob und vermuteten nun, dass Sebastian zu ihnen
sprechen wollte. Dicht gedrängt umstanden sie die Menschen, deren Hoffnung er unfreiwillig verkörperte.
Gespannte Augen waren ausschließlich auf Sebastian Lauknitz gerichtet.
»Los, Ba - shtie, sagt irgend etwas, egal was, aber bei den Göttern.., sagt etwas zu ihnen!«, zischte
Antarona ihm zu. Hilflos stand Sebastian inmitten der Menschenmenge, die voller Erwartung auf eine
sensationelle Ankündigung lauerte. Fast knickten ihm die Beine weg, so schwach und allein gelassen fühlte er
sich plötzlich.
»Also Leute, also.., ich möchte euch etwas sagen...« Er wartete, bis Antarona übersetzt hatte und hoffte,
sie würde sich reichlich Zeit damit lassen, um ihm Gelegenheit zu geben, die passenden Worte zu wählen. Er
fand keine passenden Worte! Er war kein Politiker und kein Mensch, der anderen Menschen, die ihm vertrauten,
falsche Versprechungen machte. In was hatte ihn dieses Krähenmädchen nun schon wieder hinein geritten?
»Also, mein Name ist Sebastian Lauknitz...«, begann er unsicher, »...und ich bin noch nicht lange hier
in diesem Tal...« Mit wenig Überzeugung sprach Sebastian davon, dass es in der Welt, aus der er gekommen
war, Übergriffe, wie die Torbuks nicht gab und dass man sich darauf vorbeireiten muss, sich gegen solche
Überfälle zu schützen. Irgendwann endete Sebastian mit dem Rat an die Bewohner der Täler, sich zu
organisieren und selbst eine mobile, schlagkräftige Truppe aufzustellen.
Antarona übersetzte alles und immer wieder brandeten ihm Begeisterung und Beifall entgegen.
Nachdem Sebastian zum Schluss gekommen war, jubelte ihm eine zu allem bereite Menge zu. Seine Worte hatte
er jedoch gar nicht so heroisch gewählt, und er vermutete, Antarona hatte etwas völlig anderes übersetzt, als das,
was er gesagt hatte.
»Hast du denen das genauso übersetzt, wie ich es gesagt habe?«, fragte er Antarona. Sie versicherte ihm
mit bierernster Mine, dass sie nichts ausgelassen und nichts beschönigt hatte und Sebastian sollte sich keine
Sorgen machen.
»Es sind einfache Menschen, Ba - shtie, sie verehren euch, weil ihr ihnen so fremd seid und dabei
gewesen seid, als ihre Töchter und Schwestern zurück gebracht wurden. So ein Handstreich gegen Torbuk ist
uns lange nicht gelungen, darum denken sie, ihr habt den Sieg bewirkt. Nun verehren sie euch, den Mann von
den Göttern.., sie würden euch ebenso zujubeln, wenn ihr ihnen sagtet, morgen beginnt die Sonne ihren neuen
Lauf, was sie ohnehin tun wird.«
Damit gab sich Sebastian zufrieden und lächelte den versammelten Dörflern wohlwollend zu. Die Leute
zerstreuten sich allmählich und ihm fiel ein Stein vom Herzen, dass er nicht mehr im Mittelpunkt stehen musste.
Dafür erwartete sie nun eine andere, wesentlich traurigere Aufgabe...
Antarona führte Sebastian durch das Dorf, einen Weg zwischen Wohnhütten hindurch und von einer
stillen Gasse in einen Winkel aus fünf zusammengebauten Hütten, deren wunderschön blühende Vorgärten nicht
vermuten ließen, dass er sich in einem fast mittelalterlich anmutenden Dorf befand.
Blumen- und Gemüsebeete waren von einem niedrigen Zaun eingefasst, der alles an Kunstfertigkeit
übertraf, was Sebastian bis dahin gesehen hatte. Seine Latten waren geschnitzte Figuren. Jede einzelne ein
Unikat. So reihten sich Ritter, Könige, Feen, Bauern, Mägde und Hexen oder Soldaten aneinander. Jede Figur
war liebevoll bemalt und Basti hatte Hemmungen, das Eingangstürchen zu berühren.
Bevor sie noch den Zaun berührten, öffnete sich die Tür und ein Mann mittleren Alters trat heraus. Er
ging etwas kraftlos gebeugt und seine Augen waren von Tränen rot gerändert. Antarona wollte ihm erklären,
warum seine Tochter nicht unter den heimgebrachten Frauen war, doch er wusste es bereits. Die Kunde, welche
Frauen befreit worden waren, hatte sich inzwischen wie ein Lauffeuer verbreitet.
Mit trauriger Mine hielt Antarona ihm den Muschelschmuck hin. Der Mann nahm die zierlichen
Gebilde vorsichtig in Empfang. Wie verloren lagen die kleinen, weißen Muscheln in seinen groben Händen. Er
hielt sie in die Sonne und sank zitternd auf die Knie. Trotzdem er schon erfahren hatte, dass seine Tochter nie
wieder mit ihrem Lachen Haus und Garten erfüllen würde, begann dieser kräftige Mann zu weinen.
Stumme Tränen rannen ihm über das faltige Gesicht und fielen auf seine vorgestreckten Handflächen
mit dem Schmuck seines einzigen Kindes. Sein Mund war zu einem Schrei der Schmerzen geöffnet, doch kein
Laut fuhr über seine zitternden Lippen. So tief war seine Trauer, dass ihm seine Stimme den Dienst versagte.
Sebastian konnte diesem Mann nicht sagen, wie sehr er seinen Schmerz mit ihm teilte. So hatte er sich
gefühlt, als Antarona, damals Janine, von ihm gegangen war. Nun war sie wieder bei ihm. Wie sehr wünschte er
sich, diesem Mann seine eigene Geschichte erzählen zu können, um ihm an seinem eigenen Beispiel zu zeigen,
dass ihm das Schicksal seine Tochter durchaus wiedergeben konnte, denn Sebastian hatte es ja selbst gerade
erlebt.
Statt dessen mussten sie diesen Vater mit seinem Trauerschmerz allein lassen. Und es stand ihnen noch
so ein trauriger Besuch bevor. Die Frau, welche Sebastian vom Baum geschnitten hatte, hinterließ einen Mann
und einen kleinen Sohn. Nur widerwillig folgte er Antarona zur nächsten Hütte, auch wenn sie davon ausgehen
konnten, dass auch dieser Mann inzwischen das Schicksal seiner jungen Frau kannte.
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Er saß auf der Schwelle seiner Tür, als sie ihn erreichten und sah mit stummen, leeren Blicken
geradeaus. Nicht einmal seinen Kopf hob er an, als Sebastian ihm die Lederbänder seiner Frau in die Hände gab.
Apathisch saß er da, als nahm er gar keine Notiz von ihnen.
»Sie ist nun bei den Göttern und wacht von dort über euch und euren Jungen...«, ließ Sebastian von
Antarona übersetzen. Doch er wusste, dass ihm das kein Trost sein würde. Basti legte ihm freundschaftlich seine
Hand auf die Schultern. Dann wandten sie sich zum Gehen um.
Plötzlich hörte Sebastian seine leise, tonlose Stimme etwas sagen. Antarona antwortete ihm und er
verfiel erneut in seine Teilnahmslosigkeit.
»Was hat er gesagt?«, wollte Basti wissen. Antarona sah ihn mit festem Blick an und übersetzte: »Er
fragte, ob der Mann der Götter noch Krieger braucht, für seinen Kampf gegen Torbuks Heerscharen. Er sagte, er
sei nun frei für den Kampf und will sich euch anschließen, wenn ihr eure Armee aufstellt.«
Ungläubig sah Sebastian sein Krähenmädchen an: »Der hat was gesagt?«, wunderte er sich. »Was denn
für eine Armee..? Wer hat denn behauptet, dass ich eine Armee gegen Torbuk aufstellen will, wer hat denn
überhaupt gesagt, dass ich gegen ihn kämpfen will? Sag mal, Antarona, wer hat denn solche Gerüchte in die
Welt gesetzt? Das gibt es doch gar nicht..!«
Herausfordernd und mit einem überlegenen Blick von der Seite sah ihn seine Gefährtin an und sagte
trocken:
»Ihr selbst, Ba - shtie.., ihr selbst habt auf dem Dorfplatz laut verkündet, ihr werdet Torbuk mit einer
Streitmacht von mutigen Freiwilligen aus dem Land jagen, wo immer er auch das Volk bedroht!«
So langsam wurde Sebastian alles klar... Antarona hatte seine Ansprache an die Dorfbewohner
keineswegs so übersetzt, wie er sie von sich gegeben hatte. Sie hatte in seinem Namen tatsächlich eine völlig
hirnrissige Kriegserklärung gegen die schwarzen Reiter ausgerufen!
»Sag mal, spinnst du..?«, fuhr Sebastian sie an, »...wie kommst du dazu, den Leuten zu sagen, ich wollte
mit ihnen gegen Torbuk ziehen? Ist dir eigentlich klar, was das bedeutet? Die erwarten jetzt von mir, dass ich
Leute zusammentrommle, um mit einem Haufen unerfahrener Bauern eine kampferprobte, gut ausgerüstete
Truppe anzugreifen..! Wie soll denn das gehen..?«
»Ihr, Ba - shtie - laug - nids, habt gezeigt, dass es geht! Haben wir nicht den Reitertrupp mit eurer List
bezwungen? Keiner von Torbuks Schergen ist mit dem Leben davon gekommen und die Frauen sind wieder bei
ihren Familien..!« Antarona machte eine Pause, ließ ihn aber nicht zu Wort kommen:
»Ihr habt selbst gesagt, Ba - shtie.., eure Füße werden neben den meinen gehen und mein Weg wird
auch der eure sein! Dieser Weg wird so lange der Kampf gegen Torbuk und Karek sein, bis das Land seinen
Frieden findet, bis eine Mutter ohne Trauer und Angst auf ihre Kinder blicken kann!«
»Ja, ich werde deinen Weg mit dir teilen, Antarona.., egal wie steinig oder dornig er auch sein wird...«,
versicherte ihr Sebastian, »...aber das heißt doch noch lange nicht, dass ich, ausgerechnet Basti Lauknitz, hier
den Anführer einer Streitmacht spiele, die es noch gar nicht gibt!« Sebastian schüttelte unfassbar den Kopf.
»Und was soll das überhaupt.., ich habe gezeigt, dass es geht? Ist dir eigentlich klar, mein Sonnenherz, dass wir
unverschämtes Glück hatten und dass wir nur mit Mühe gerade mal zwölf Reiter niederkämpfen konnten? Das
nächste Mal ist dieser Typ.., dieser Torbuk vorbereitet und schickt vielleicht fünfzig Reiter, oder hundert.., oder
tausend.., soviel, wie runde Steine im Bach sind! Was machen wir dann?«
Vorwurfsvoll streckte Sebastian seine Arme dem Tal entgegen und prophezeite weiter: »Was, wenn
dieser Verrückte eine ganze Armee mit Schwertern, Lanzen, Speeren und was weiß ich, was noch alles, das Tal
heraufschickt.., na.., was dann? Haben wir dann eine Armee mit Heurechen, Sensen, Messern und Knüppeln, die
wir ihm in die Arme treiben und hoffnungslos verheizen? Nein, mein Sternchen, so wie du dir das vorstellst.., so
wird das nichts.., ganz sicher nicht!«
»Aber sie folgen euch, Ba - shtie.., euch werden mehr Männer vom Volk vertrauen, wie jedem anderen
zuvor, der das versucht hat!« Antarona ließ nicht locker und die Begeisterung und Hoffnung, die sie an den Tag
legte, hatte in Anbetracht der Lage etwas Naives, Kindliches:
»Nach der Nacht der Befreiung aller Frauen, wird jeder Mann dem Einen folgen, den die Götter gesandt
haben.., jeder in diesen Tälern wird euch blind folgen und sein Leben einsetzen für die Freiheit, die das Volk so
lange entbehren musste!«
»Na, das ist ja wunderbar!« Sebastian konnte den Sarkasmus in seiner Stimme nicht mehr verbergen.
»Und wo sollen all die Freiwilligen sich treffen, wo sollen sie sich vorbereiten? Alle, die sich melden, müssen
erst einmal in der Kampfkunst geschult werden, sie brauchen Pferde.., und Waffen! Wo um alles in der Welt
wollen wir so viele Waffen hernehmen?« Zwischendurch musste er erst einmal Luft holen. Dann spann er die
Möglichkeit weiter:
»Nun gut, gesetzt den Fall, wir kriegen das alles hin.., wie soll es dann weitergehen? Marschieren wir
einfach vor Torbuks Machtzentrum auf und rufen komm raus, du miese Ratte? Denkst du wirklich, so geht das?«
Antarona holte tief Luft und Sebastian wunderte sich, woher sie immer wieder ihre Gegenargumente
nahm, auch wenn diese manchmal unrealistisch waren:
»Waffen haben wir auch, Ba - shtie.., und Waffen bringen uns die Pferdesoldaten mit, soviel wir
wollen. Wir müssen sie nur aufheben! Ebenso die Pferde! Kampfübungen brauchen die Männer des Volkes
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nicht. Ihr, Ba - shtie.., ihr könnt sie dazu bringen, dass sie stark sind!« Sie glaubte tatsächlich an ihre Ideen und
hatte für alles eine Lösung:
»Wir brauchen auch gar nicht gegen Quaronas marschieren.., Torbuk wird selbst kommen, wenn seine
Trupps immer wieder ausbleiben. Wir müssen nur hier sitzen und warten und ihm einen Empfang bereiten, den
er nicht so schnell wieder vergisst!« Für Antarona war alles so einfach und sonnenklar. Aber kannte Sebastian
das nicht schon von Janine? Es war dieselbe Frau, mit den gleichen spontanen Einfällen und dem gleichen
kleinen, unrealistischen Dickkopf!
»So..«, fing Sebastian noch mal an, »...wir lassen diese Banditen also bis weit in das Tal herein... Und
wo.., an welcher Stelle willst du ihn aufhalten.., na? In Breitenthal, in Mittelau, am See, hier, in Zumweyer? Was
glaubst du was dann passieren wird?« Eindringlich sah er Antaronas Engelsgesicht an. »Ich werde dir sagen, was
geschieht! Er wird bis zum See kommen, wo wir ihn vielleicht, mit viel Glück am Felsriegel stoppen können.
Bis dahin hat er dann zwei Dörfer dem Erdboden gleich gemacht, die Ernten verbrannt und die Frauen und
Mädchen geschändet und umgebracht. Haben die freiwilligen Männer angesichts solcher Tragödie dann noch
den Mut, weiter zu kämpfen? Ja.., sind die so mutig, wie du?« Bewusst brachte Sebastian an dieser Stelle ihren
Mut ins Spiel, damit er es sich mit dieser energischen Frau nicht noch gänzlich verdarb. Antarona ließ sich kaum
davon beeindrucken:
»Die Männer unseres Volkes, Ba - shtie - laug - nids.., sind mutige Männer und sie werden Opfer
bringen, und... Ja.., sie werden euch auch dann noch folgen, wenn sie fast geschlagen sind... Ihr habt es in der
Hand, Mann von den Göttern.., ihr allein! Denn sie werden nur euch folgen, weil ihr die Zeichen der Götter tragt
und ihr könnt sie dazu bewegen, dass sie euch folgen.., denkt an Annuk.., Ba - shtie, denkt an des Wasserbauern
Tochter.., denkt an Trinia, deren Vater ihr gerade eben unter Tränen saht...«
»Gut.., angenommen ich helfe euch... Was wird in der Zwischenzeit mit der Ernte? Woher bekommen
wir Nahrung und Material für Waffen? Antarona«, gab Sebastian nachdrücklich zu bedenken, »wenn wir uns auf
so eine Sache einlassen, kann es sein, dass wir viele Sommer lang kämpfen müssen und viele Winter lang die
Toten beklagen werden. Habt ihr so etwas erst einmal angefangen, hört es erst wieder auf, wenn Torbuk und
Karek tot sind!« Sebastian dachte kurz nach, wobei ihm etwas einfiel, dass ihm mehr am Herzen lag, als alles
andere:
»Außerdem wäre da noch eines... Wenn ich das tue und euch helfe.., wärst du ebenso, wie alle anderen
bereit, ein Opfer zu bringen, wärst du einverstanden, das zu tun, was ich dir sage?« Diese Frage ließ Sebastian
erst einmal wirken. Die Antwort kannte er jedoch schon, bevor Antarona antwortete, denn er hatte fest damit
gerechnet:
»Wenn ein Mann der Götter das Volk führt, wird Sonnenherz ihm folgen«, versprach sie, »...wenn ihr
dieser Mann seid, Ba - shtie.., so wird auch Antarona tun was ihr sagt!«
»Schön.., dann wirst du mir bei allem, was dir heilig ist versprechen, dass du dich aus allen
Kampfhandlungen heraus hältst! Ich möchte, dass du, wenn ich es dir sage, zu Högi Balmer auf die Alp gehst
und dort bleibst, bis ich selbst dich wieder von dort herunter hole...« Noch bevor Sebastian ausgesprochen hatte,
fiel ihm Antarona aufgebracht ins Wort:
»Nein..! Nein, nein, nein.., ihr könnt mich nicht einfach abschieben, Ba - shtie! Sonnenherz hat den
Kampf begonnen, als kein Mann des Volkes dazu bereit war! Ich habe viele von Torbuks Soldaten in das Reich
der Toten geschickt. Sonnenherz wird dabei sein, wenn Torbuk und Karek durch die Speere des Volkes ihren
Atem verlieren...!«
»Nein, wird sie nicht!«, bestimmte Sebastian mit fester Stimme. Als sie schon wieder aufbegehren
wollte, fuhr er fort:
»Herrgott noch mal, Antarona.., ist das so schwer zu begreifen..? Allmählich wurde er wütend und
entsprechend laut. »Ich liebe dich nun mal über alles... Und ich kann nicht kämpfen und klar denken, wenn ich in
ständiger Sorge um dich bin! Ich weiß, dass du viele von Torbuks Reitern in das Reich der Toten geschickt
hast.., aber das ist es ja gerade..! Der will dich als aller Erste in die Finger bekommen. Und er wird inzwischen
wissen, dass der Mann von den Göttern für deine Rettung alles tun würde, sogar selbst in den Tod gehen...! Was
glaubst du eigentlich, bin ich als Anführer noch wert, wenn er dich in seiner Gewalt hat?«
Antarona wollte gleich etwas erwidern, hielt aber noch inne. Irgend etwas hinderte sie daran, sofort mit
einem Argument zu kontern. Hatte Sebastian ihr mit seinem Liebesgeständnis den Wind aus den Segeln
genommen? Bedeutete er ihr vielleicht doch mehr, als nur der Mann von den Göttern, dem sie zu folgen bereit
war?
»Ba - shtie.., ihr redet schon wieder von Liebe... Und ihr sprecht bereits mit der Stimme meines
Vaters... Ich mag euch auch sehr, beinahe mehr, als meinen Vater, aber ich weiß noch nicht, ob es die Liebe ist,
die ein Leben lang unsere Herzen zu einem verbinden kann. Es ist jetzt nicht die Zeit von dieser Liebe zu
sprechen, Ba - shtie, weil mein Herz noch nicht zu mir gesprochen hat. Versteht ihr das?« Bevor Sebastian ihr
antworten konnte, sagte sie:
»Aber da ist noch eine andere Liebe, Ba - shtie - laug - nids... Antarona liebt das Volk und das Land, in
dem sie schon Kind war. Es ist eine andere Liebe, ein anderes Gefühl, dem ich folgen muss. Ba - shtie.., ich mag
euch sehr und ich gebe euch eine Hälfte meines Herzens... Der andere Teil aber gehört den Tälern Volossodas,
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gehört dem Volk. Verlangt heute und auch morgen nicht, dass ich euch sage, welche Liebe schwerer wiegt...
Antarona weiß es nicht!«
»Antarona.., ich weiß, so eine Entscheidung ist sehr schwer und du sollst die Liebe an deinem Volk und
deinem Land nicht verraten. Ich will dir nur sagen, dass mein Herz nicht geteilt ist. Es gehört ganz dir und das
war auch schon in der Zeit so, woher die Bilder kommen, die du von uns beiden gesehen hast. Und weil mein
Herz auch dein Herz ist, darf dein Herz nicht aufhören zu schlagen, weil das meine dann dasselbe tut!«
Antaronas Blick zweifelte und Sebastian setzte nach: »Wenn Torbuk dich bekommt, so hat er auch
mich, wenngleich ich mich woanders befinde. Wenn die schwarzen Soldaten dir ein Leid zufügen, so spüre auch
ich diesen Schmerz und wenn sie dich töten, so werde auch ich in das Reich der Toten eintreten... Hast du das
verstanden, mein Sonnenherz, ja? In meiner Seele hat sich mein Herz mit deinem bereits verbunden und ich
fühle auch mit deinem Herzen...« Allmählich wurde er unsicher in seiner Argumentation. Und wie zur
Bestätigung sagte Antarona mit tief dringendem Blick:
»Ba - shtie, wenn euer Herz fühlt wie meines, wenn unsere Herzen euch wie Eines sind, warum versteht
ihr dann nicht, dass ich auch im Kampf mit euch sein will.., an eurer Seite und an der Seite meines Volkes?«
Verzweifelt startete Sebastian einen letzten Versuch: »Antarona, kannst du dir vorstellen, dass ich dich
so sehr mag, dass mein Herz vor Kummer sterben würde, wenn dir etwas zustößt? Du bist bereit, dein Leben für
dein Volk und für dein Land zu geben.., doch ich bin bereit, mein Leben nur für dich allein zu geben.., so ist
das!«, gestand er ihr. Mehr zu sich selbst sprach er müde:
»Vielleicht verstehst du es nicht, möglicherweise brauchst du tatsächlich mehr Zeit... Ich bete darum,
dass wir diese Zeit haben und inzwischen nichts geschieht, das dich mir wieder fort nimmt... Noch einmal könnte
ich das nicht ertragen...«
Plötzlich spürte er Antaronas Hand auf seinem Arm. Sie sah ihm so tief in die Augen, dass Sebastian
das Gefühl hatte, sie blickte in seine Seele selbst:
»Seid ohne Sorge, Ba - shtie, ich will mit euch viele schöne Sommer und Winter zusammen sein. Mein
Herz wird auch in Trauer im Reich der Toten sein, wenn euch Böses widerfährt. Antarona wartet auf den Tag, da
Frieden und Sorglosigkeit in unseren Tälern einziehen... Dann ist es Zeit über Liebe zu sprechen, dann wird
Antarona euch zeigen, dass ihr Leib in Liebe brennen kann, wie das Feuer im trockenen Wald!«
Im Grunde hätte Sebastian diese Aussage eine riesige Last vom Herzen nehmen müssen. Tat sie aber
nicht. Denn was machte es für einen Sinn, Empfindungen in einen Käfig zu sperren, der vielleicht irgend wann
einmal, oder niemals geöffnet werden würde? Seine Interpretation ging eindeutig dahin, dass Antarona seine
Gefühle nicht in dem Maße erwiderte, wie er sie gab. Möglicherweise gab es einen anderen, den sie liebte und
sie scheute sich davor, es ihm zu sagen. Schließlich vergrämt man nicht einen Mann von den Göttern, den man
dringend für einen ansonsten aussichtslosen Kampf braucht... Sebastian Lauknitz war enttäuscht!
Noch nie hatte er seine Gefühle in so überschwänglicher Weise preisgegeben. Doch wenn er es tat,
wollte er stets wissen, woran er war. Bei Janine wusste er es, bei Antarona jedoch war er im Zweifel. Und ob
Sebastian das Sonnenherz jemals erobern konnte...
Sie gingen der nächsten schweren Aufgabe entgegen. Annuks Eltern hatten ihre Hütte am Dorfrand. Sie
rangen ihren Lebensunterhalt den kleinen Teichen ab, die eingebettet in den saftigen Wiesen lagen. Als Antarona
und Sebastian die Wohnstatt von Annuks Eltern erreichten, erwartete sie dort eine größere Menschenmenge.
Zunächst dachte Sebastian, dass es Annuks heldenhafter und mutiger Einsatz bei der Befreiung der Frauen war,
der nun die Dorfbewohner veranlasste, ihren Eltern die Aufwartung zu machen, um in der Trauer um ihr Kind zu
ihnen zu stehen. Doch eine Tragödie zog manchmal weitere Kreise...
Vor der Hütte, die anscheinend Annuks Eltern gehörte, stand ein kleiner Leiterwagen, der von den
Anwesenden umringt wurde. Ein junger Mann, beinahe noch ein Jugendlicher, lag auf das Stroh des hölzernen
Gefährts gebettet. Friedlich, als würde er schlafen, mit gefalteten Händen auf dem Bauch, so lag er da. Antarona
und Sebastian brauchten nicht erst zu fragen, was mit diesem Jüngling war. Er war in das Reich der Toten
hinüber gewechselt. Sebastian sah Antarona fragend an, die ebenso ahnungslos zurück blickte.
Sie ging auf die aufgeregten Leute zu und fragte diese in der Sprache des Volkes. Danach wandte sie
sich Sebastian zu und ihre traurigen Augen waren mit Tränen gefüllt. Bevor Sebastian noch reagieren konnte,
legte sie unverhofft ihre Arme um seinen Hals, zog sich an ihn heran und küsste ihn weinend. Warm benetzten
ihre Tränen sein überraschtes Gesicht. Ihr Körper zitterte leicht und fühlte sich sehr verletzlich an. Sebastian
legte seinen kräftigen Arm um ihre Hüfte und hielt mit der anderen beschützend ihren Kopf, als er ihren Kuss
erwiderte, erstaunt über die rasche Sinneswandlung seiner Gefährtin.
Dann löste sich Antarona von ihm, ihre Hände suchten Halt an seinen Armen und sie lehnte ihren Kopf
an Sebastians Schulter. Weinend berichtete sie ihm, was geschehen war:
»Dieser Junge.., sein Herz war mit dem von Annuk verbunden.., sie waren wie ein Herz... Die Trauer
war zu schwer für ihn.., er hatte nicht die Kraft, Annuk in das Reich der Toten gehen zu lassen.., und ohne sie
zurück zu bleiben...« Eine Welle innerer Erschütterung durchfuhr Antaronas Körper und Sebastian drückte ihren
bebenden Leib ganz fest an sich. Schluchzend fuhr sie fort:
»Er hat sich selbst sein Messer in die Brust gestoßen.., so sehr schmerzte es ihn, Ba - shtie.., er wollte
Annuk folgen.., er wollte für immer bei ihr sein... Verzeiht mir.., Ba - shtie, ich habe euch nicht geglaubt.., Ba shtie.., ich...«
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Antarona weinte und brachte kein Wort mehr heraus. Diese kleine, filigrane Frau, die in der Nacht mit dem Mut
einer Bärin kämpfte und eben noch mit Sebastian Lauknitz die ganze Armee Torbuks vernichten wollte, weinte
sich an seiner Schulter die Seele aus dem Leib! Er legte seine Arme um sie, hielt sie fest und strich ihr zärtlich
die Haare aus dem Gesicht. Sebastian ließ sie ihren Kummer aus ihrem Herzen ausgießen und fühlte mit jeder
Träne, die sie auf seiner Brust vergoss, ihren Schmerz mit ihr.
Später, als Antarona sich etwas beruhigt und ihre gewohnte Sicherheit zurückgewonnen hatte, schien sie
hin und her gerissen von ihren eigenen Gefühlen. Einerseits liebte sie Sebastian genau so wie er sie und scheute
sich plötzlich davor, ihm Kummer zu bereiten. Andererseits war ihre Verpflichtung und Bindung ihrem Volk
und dem Tal gegenüber so stark, dass sie an der Seite der Menschen, die sie liebte, bis zum bitteren Ende
kämpfen wollte. Eines stand für sie nun felsenfest: Wenn Sebastian nach den kalten Monden des Schnees gegen
Torbuk zog, dann wollte sie bei ihm sein und nicht mit einem Kind von ihm auf Högi Balmers Alm vor Angst
zitternd auf eine Nachricht warten!
Wie schon einmal gingen sie schweigend nebeneinander her, die untergehende Sonne im Rücken.
Wieder führte sie der Weg aus dem Dorf, durch den Wald, an den See und zu Antaronas geheimer Höhle. Viele
Dorfbewohner boten ihnen an, unter dem Schutz ihres Daches die Nacht zu verbringen. Doch wie beim letzten
Mal lehnte Antarona freundlich ab.
Das erste Mal hatte Sebastian das nicht verstanden. Diesmal jedoch, hätte er selbst das Angebot
abgelehnt. Ihm wurde inzwischen die Tragweite von Antaronas rebellischem Verhalten bewusst. Sie war eine
Aufrührerin, eine ernst zu nehmende, radikale Revolutionärin, die mittlerweile ein ziemlich lästiger Dorn in
Torbuks Auge sein musste.
Es stand außer Frage, dass der alle Diejenigen bestrafen würde, die Antarona oder ihm Unterschlupf
gewährten. Sie mussten ebenfalls annehmen, dass dieser Torbuk überall seine Spione sitzen haben konnte. Wem
konnte man trauen und wem nicht? Sebastian wunderte sich, dass Antarona, die in den Stuben der Dörfer bereits
den Status einer Heiligen besaß, so lange Zeit unbehelligt gegen Torbuks Soldaten vorgehen konnte, ohne dass
sie verraten oder gefangen genommen wurde.
Freilich wusste er noch nicht viel über dieses Land, doch gab es Dinge, die änderten sich niemals, egal
in welcher Welt. Revolutionäre und Regimegegner wurden verraten und öffentlich hingerichtet.., das war schon
immer so. Für ihn war es nur eine Frage der Zeit, bis Antarona in eine Falle lief. Sollte er sich darauf einlassen,
dieses Volk taktisch zu beraten, das stand für Sebastian fest, dann tat er das ausschließlich, um Antarona zu
schützen, die Frau, die sein Herz mit beiden Händen eingefangen hatte und es nicht mehr los ließ!
Natürlich wusste Sebastian noch nicht, worauf er sich einlassen würde. Kriegsführung, ob nun modern,
oder mittelalterlich, kannte er lediglich aus Geschichtsbüchern, also in der Theorie! Praktisch hatte er keine
Ahnung von dem, was ihn erwarten sollte. Seine Ausbildung beim Militär seines Heimatlandes kam ihm
sicherlich zugute, doch hier kämpfte niemand mit Fernlenkraketen, Wärmeortungsempfängern und
weitreichenden Geschützen. In dieser Auseinandersetzung würde Mann gegen Mann mit einfachsten Waffen
gegeneinander antreten. In diesem Krieg, wenn er denn erst einmal entfacht war, würde jeder seinem Gegner,
den er zu töten beabsichtigte, in die Augen sehen müssen! In diesen Tälern würde gnadenlos und ohne
Kompromisse zur Menschlichkeit gefochten werden!
Sein Wissen eines modernen Zeitalters sagte Sebastian unmissverständlich, dass sie nur eine Chance auf
Erfolg hatten, wenn sie Torbuks Soldaten mit Distanzwaffen aus dem Hiterhalt zusetzen konnten und sich sofort
wieder unsichtbar machten. Guerillakrieg war die Lösung! Vietnam und Afghanistan hatten das mit Erfolg
praktiziert und einen übermächtigen Gegner letztlich zur Aufgabe gezwungen. Doch wie sollte man so etwas in
diesen Tälern mit seinen unorganisierten, ängstlichen Bewohnern realisieren?
»Antarona, sag mal.., wie könnte man alle diese Menschen hier, die bereit wären, sich gegen Torbuk
und Karek zur Wehr zu setzen, an einen Tisch bekommen...«, brach Sebastian ihr Schweigen. »Ich meine, wo
könnte man alle interessierten Männer versammeln, um mit ihnen ein mögliches Vorgehen zu beraten...
Verstehst du, man müsste erst einmal einen Widerstand organisieren und den Schutz der Frauen und Kinder,
bevor man darüber nachdenkt, wie man Torbuks Reiter bekämpfen kann. Wir brauchen einen Ort, der...« Weiter
kam er gar nicht. Antarona fiel ihm erneut um den Hals, wie ein kleines Mädchen, dem man eine neue Puppe
geschenkt hatte. Sie schlang ihre Arme um seinen Hals, hängte sich an ihn und ruderte ausgelassen mit ihren
Beinen:
»Ich wusste es, Ba - shtie von den Göttern.., ihr lasst das Volk nicht untergehen! Antarona wusste, dass
in euch das Herz eines großen Kriegers schlägt, der das Volk führen wird, alle wussten wir das, alle hatten wir
darauf gewartet und gehofft. Antarona hat euch gefunden und wird euch zu denen bringen, die euch bereits
erwarten, die mit euch kämpfen werden..!« Völlig perplex fasste Sebastian sie an der Hüfte und hob sie wieder
auf die Füße. Ihre Augen strahlten vor Freude und versprühten ein Feuer, das ihn einfach faszinierte.
Doch er war vorsichtig geworden. Ihre Stimmung konnte ziemlich rasch von einem Extrem ins andere
fallen. Er hatte es bereits erlebt! Trotzdem sie ihn mit ihrer Begeisterung mitriss, blieb ein Rest Skepsis:
»Moment mal«, bremste Basti ihren Enthusiasmus, »...versprochen habe ich noch gar nichts.., das dies
schon mal klar ist! Ich habe lediglich darüber nachgedacht, was man tun könnte.., mehr nicht!« Doch Antarona
hörte gar nicht mehr zu. Für sie stand bereits fest, einen Revolutionsführer für ihr Volk gefunden zu haben.
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»Wenn die Sonne noch jung ist, gehen wir den Weg nach Fallwasser, Ba - shtie.., dann werdet ihr
meinen Vater sehen... Er wird den Achterrat zusammenrufen und sie werden euch zuhören.., ja sie müssen euch
anhören, denn ihr tragt die Zeichen der Prophezeihung, von den Göttern für alle Ewigkeit in eure Haut gebrannt!
Ba - shtie - laug - nids.., ihr sagt uns, wie wir kämpfen sollen. Der Achterrat wird seine Augen nicht
verschließen, vor dem, den die Götter gesandt haben, uns zu führen... Und Antarona wird an eurer Seite sein,
unsere Herzen werden lieben und kämpfen, wie ein Herz.., unsere Waffen...«
»Haaalt.., Augenblick mal...« Mit einer energischen Handbewegung musste Sebastian das aufgedrehte
Krähenmädchen zum Schweigen bringen, so sehr hatte sie sich ereifert. Er fand es schade, ihrer
bewundernswerten Leidenschaft Einhalt bieten zu müssen, doch er kam gedanklich nicht mehr ganz mit:
»Wer zum Donnerwetter ist denn der Achterrat und wieso warten die auf mich..? Die kennen mich doch
gar nicht! Und was deinen Vater betrifft... Weiß der eigentlich, dass du mich mitbringst? Ich meine, ich liebe
dich nun mal und ich werde ihm das natürlich sagen müssen.., ich meine, ich sollte mich darauf vorbereiten,
oder?«
»Was müsst ihr da vorbereiten, Ba - shtie, mein Vater ist ein guter Mann, er wird euch mögen.., ihr
werdet sehen... Der Achterrat wird euch willkommen heißen.., es sind die acht weisesten Männer im Tal, sie
beraten stets, was das beste für das Volk ist.., ihr werdet sehen, Ba - shtie, sie werden euch folgen!«
Sebastian zweifelte nicht daran, dass man seinem Rat folgen würde, doch was Antaronas Vater anging...
Noch hörte er die Worte, die der Wasserbauer sprach:
Sonnenherz ist wie die Mutter der Seelen und wie eine Felsenbärin gleichermaßen. Sie ist die Hoffnung
aller Menschen hier im Tal. Und sie ist des Holzers liebstes Kind, sein ganzer Stolz... Der Holzer ist ein guter
Mann.., aber verstockt und eigensinnig. Eine raue, harte Schale umgibt sein Herz, das vor Kummer krank ist!
Seid ihr so stark, Herr, dass ihr ihm die einzige Rosenknospe in seinem Garten nehmen könnt, ohne, dass er
euch den Schädel einschlägt?
Töchter verehrten ihre Väter mit rosigem Blick, das wusste Sebastian... Aber wie würde dieser Mann
wirklich reagieren, wenn er ihm bei ihrem ersten Zusammentreffen gestand, dass er seine einzige Tochter mehr
als sein eigenes Leben liebte und dass er für immer mit ihr zusammen sein wollte? Das Gefühl, dass sich bei
diesem Gedanken in seinem Bauch ausbreitete, konnte man mit dem Frontalzusammenstoß zweier Lokomotiven
vergleichen!
Sebastian brauchte einige Zeit, über all das nachzudenken, mit dem Antarona ihn bedrängte. Er sollte
mit ihr in einen Krieg ziehen, dessen Ausmaß er nicht einmal im Traum erahnen konnte. Er wusste, er würde das
nur für sie tun, in der Hoffnung, dass sie seine Liebe zu ihr erwiderte. Aber gerade diesen Wunsch versagte sie
ihm.
Natürlich war Basti bewusst, dass sie sich aus Antaronas Sicht erst sehr kurze Zeit kannten. Eine
wirkliche Gelegenheit, sich in ihren Gefühlen füreinander näher zu kommen, gab es bislang nicht. Und
Sebastians Zuneigung zu diesem Krähenmädchen erwuchs sich zu Beginn ihrer Begegnung allein aus der
Erinnerung seiner scheinbar anderen Welt. Antarona hingegen lernte ihn erst kennen. Was konnte er zu diesem
Zeitpunkt schon erwarten? Plötzlich wurde ihm klar, dass er von seiner neuen Gefährtin bereits mehr bekommen
hatte, als er sich zu diesem Zeitpunkt hätte erhoffen dürfen.
Schweigend gingen sie eine Weile nebeneinander her und traten in den Wald ein, der an der
Abbruchkante über dem Wasserfall endete und wo Sebastian den ersten Mann in seinem ungewollten Abenteuer
sterben sah. Augenblicklich war das restliche Licht des Tages verschwunden. Eine kriechende Kälte
umklammerte sie und Sebastian hatte das Gefühl, von den nasskalten Ästen der Bäume umfasst zu werden. Nur
noch schemenhaft erkannte er Antarona neben sich. Der Wald sog alles auf; Wärme, Licht, Klang.
Während sie im Dunkeln dahin gingen, ergriff Sebastian Antaronas Hand und bremste ihren Schritt.
Ihm fiel ein, dass sie nach wie vor nur ihren knappen Lendenschurz und das spärliche Oberteil trug. Umständlich
band er im Dunkeln den Pullover von seinem Bündel und gab ihn Antarona. Als er ihren Arm berührte, spürte er,
dass sie zitterte, wie die Birkenblätter im Wind.
Sie nahm das warme Kleidungsstück und drehte es unschlüssig hin und her. Offensichtlich konnte sie
mit dem eng gestrickten Pullover nicht mehr anfangen, als ein Frosch mit einem Sextanten.
»Du musst ihn über den Kopf ziehen und mit den Armen dort hinein«, half ihr Basti und krempelte den
dicken, weichen Stoff auf. Antarona nahm ihr Schwert und das Fellbündel ab und ließ sich bereitwillig helfen.
Behutsam zog Sebastian ihr den Pullover über den Kopf, bemüht, nicht an ihren verfilzten Haaren oder ihrem
Federschmuck hängen zu bleiben.
Er spürte, wie anziehend ihr Körper auf ihn wirkte, als er die Wolle an ihr herunterzog und wie zufällig
ließ er seine Hände auf ihren Hüften ruhen. Sie regte sich nicht und ließ es einfach geschehen. Ein leichtes
Beben durchfuhr ihren angespannten Leib. Sebastian glaubte zu hören, wie ihr Atem schneller ging und meinte
ihren Herzschlag zu hören. Der Wald indes schien tatsächlich seinen Atem anzuhalten. Kein Luftzug regte sich
und jedes Lebewesen im Reich der dichten Blätter spürte offenbar die Spannung, die plötzlich zwischen ihnen
lag, denn jeder Laut ringsum verstummte.
Bastis Hände glitten tiefer und er fühlte das dünne, weiche Leder, das ihm die Berührung Antaronas
Haut verwehrte. Dennoch spürte er sie so intensiv, dass er sich beinahe von seiner Phantasie forttragen ließ. Er
zog sie sanft fordernd zu sich heran, sog ihren betörenden Duft tief ein und war erstaunt, dass Antarona ihre
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Arme um seinen Hals schlang, als wäre es ganz selbstverständlich. Eine gewaltige, heiße Welle der Erregung
durchzog Bastis Körper und er gab sich mit einer tiefen, lang zurückgehaltenen Sehnsucht dem Verlangen hin,
Antarona jetzt und an dieser Stelle leidenschaftlich und heiß zu küssen und sie nicht wieder los zu lassen.
Doch in dem Augenblick, da er sich, von ihrer anziehenden Nähe berauscht, fallen lassen wollte und
ihre Lippen suchte, spürte er einen flüchtigen Kuss auf seinem Mund, der nicht mehr als eine kurze, schnelle
Berührung war. Sofort löste sich Antarona aus seiner Umarmung und hob ihre Waffe und das Fellbündel auf.
»Danke, Ba - shtie«, sprach sie leise, »...lasst uns jetzt gehen...«
Sebastian war überrascht, verärgert und enttäuscht zugleich. Er war fest davon überzeugt, die Barriere zwischen
ihnen durchbrochen zu haben und dass Antarona seinen Kuss zulassen und erwidern würde. Statt dessen kam sie
ihm zuvor und entschied die Situation, die er so sehr herbeigesehnt hatte, mit einer eher freundschaftlichen
Geste. Das war nicht die erwartete, tiefe Liebe, die er in Antarona suchte. Basti gestand sich ein, vielleicht zu
ungeduldig zu sein. Doch was sollte er tun?
Seine Gefühle für Antarona waren so tief, so verlangend, dass er nicht gegen sie ankämpfen konnte.
Ohne die Liebe dieses Krähenmädchens fühlte er sich wie eine leere, schmerzende Körperhülle, aus der alle
Eingeweide herausgerissen wurden. Er fragte sich, wie lange er diesen Zustand noch aushalten konnte, während
ihn seine Sehnsucht langsam auffraß und sich der Grund dafür ständig aufreizend leicht bekleidet vor seinen
Augen präsentierte.
Während der letzten Meter steilen Weges hinunter zum Fuß des Wasserfalls spürte Sebastian die
Anstrengungen der letzten Tage. Ruhig lag der See im schimmernden Mondlicht vor ihnen. Die Luft war dort im
Talgrund trotz der Nebelschwaden des fallenden Wassers erstaunlich warm und mild. Das warme Licht des
Erdtrabanten spiegelte sich in den kleinen Wellen. Wie ein sich bewegendes Feld aneinander gereihter
Goldschuppen suggerierte die Stimmung einen tiefen, beruhigenden Frieden. Basti ahnte jedoch, dass dies nur
eine trügerische Ruhe war.
Antarona zog ihre Beinlinge aus und begann die silbern glänzenden, rutschigen Felsen empor zu
klettern. Wieder hatte Sebastian Mühe, ihr zu folgen. Er fragte sich, wie seine Gefährtin es fertig brachte, mit
ihren nackten Füßen auf dem glitschigen Stein Halt zu finden.
Er hatte sich ebenfalls seiner Stiefel und Kleider entledigt und versuchte ihr zu folgen. Bei diesem
Unternehmen wurde ihm klar, weshalb bislang niemand Antaronas Schlupfwinkel entdeckt hatte. Jeder, der es
versuchte, musste sich unweigerlich den Hals brechen.
Wo sich Antarona leichtfüßig über den glatten Untergrund bewegte, musste er Nischen, Ritzen und
Zwischenräume nutzen, um nicht rücklings abzustürzen. Diese Art der Fortbewegung besaß den zweifelhaften
Charakter, dass sich mal der eine, mal der andere Fuß in den Felsspalten verkeilte und er festsaß, wie eine Ratte
in der Falle.
Irgendwie erreichte er dennoch mehr von seinem Schweiß, als vom Sprühwasser durchnässt, den
Zugang zu Antaronas Grotte. Das Krähenmädchen hatte bereits die Fackeln im hinteren Höhlenraum entzündet
und Sebastian stolperte auf den spärlich erleuchteten Eingang zu, das Donnern und Rauschen des Wasserfalls im
Rücken.
Antarona hatte ein kleines, fast rauchloses Feuer in der Feuerstelle entfacht. Dann verschwand sie mit
einer Fackel in dem Höhlengang, in dem Basti den Felsenbrunnen wusste. Mit einem kleinen Kessel frischen
Wassers kehrte sie kurz darauf zurück.
»Helft mir mal, Ba - shtie«, sagte sie über ihre Schulter hinweg und holte drei große Holzstangen aus
einer Ecke, die an ihren Spitzen eigenartig verdreht waren. Zwei hatten eine gleiche Länge, während die dritte
um einiges länger war. Antarona zeigte Sebastian, wie man die Hölzer mit ihren seltsamen Enden so ineinander
verkeilte, dass sie sich gegenseitig stützten und ein recht stabiles, dreibeiniges Gestell ergaben. Dabei ragte die
längere Stange weit über die Kreuzungspunkte dieser Konstruktion hinaus. Über deren Ende, das mit einem
Haken versehen war, warf sie eine lange Lederschnur, an die sie den Kessel mit einem weiteren Haken
einhängte.
Anschließend zupfte sie von ihren aufgehängten, getrockneten Pflanzen ein paar Büschel ab und warf
sie in den Kessel. Basti sah ihr fragen zu.
»Der Sud vom Brennkraut wird uns stärken, Ba - shtie, wir werden tief und fest schlafen und wenn die
Sonne über dem Fallwasser steht, werdet ihr wieder eure ganze Kraft besitzen!« Sie sagte das mit einer
Sicherheit, die Sebastian vermuten ließ, dass sie genau wusste, wovon sie sprach.
Na das war ja großartig, stellte Bastis Sarkasmus in Gedanken fest. Seine große Liebe war nicht nur
eine Kämpferin, die es offenbar ohne große Probleme fertig brachte, einem Menschen das Leben auszulöschen.
Nein! Sie war auch noch eine Kräuterhexe! Eine wunderschöne und attraktive, zugegeben, aber eben doch eine
Kräutertante. Trotzdem wollte er ihr seine Aufmerksamkeit und Anerkennung zeigen. Mehr mit dem Ziel, ihre
Zuneigung zu gewinnen, als aus wirklichem Interesse heraus fragte er mit dem Kopf auf ihre Kräuter deutend:
»Was ist das Antarona, Brennkraut, woher hast du das? Wächst das hier in den Tälern?«
Sie sah ihn fürsorglich an und erklärte: »Ihr habt es gewiss bei Vater Balmer gesehen, Ba - shtie, es wächst in
den Wäldern auf feuchtem Boden, dort, wo der Regen eine Weile in der Erde bleibt. Ich werde es euch morgen
zeigen. Es brennt auf der Haut, wenn man seine Blätter berührt. Der Sud davon gibt Kraft und heilt manches
Leid, ihr werdet es bald spüren, Mann von den Göttern!«
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»Woher weißt du das alles«, wollte Sebastian wissen, »wer hat dir so etwas beigebracht und gezeigt?«
Fragend sah er Antarona an. Sie rührte mit einer hölzernen Kelle in dem Sud herum und erklärte ohne
aufzusehen:
»Das, Ba - shtie - laug - nids, das wissen alle Töchter des Volkes. Das und noch Vieles mehr. Ein Mann,
der sich mit einer Tochter des Volkes verbindet, wird die heilende Kraft ihrer Hände und vieler Pflanzen
besitzen. Einige Heilfrauen leben tief in den Wäldern. Sie lehren ihre Geheimnisse der Wälder, Weiden und
Sümpfe einigen Frauen des Volkes. Diese wiederum schenken das Wissen dem Volk und geben es an ihre
Töchter weiter.«
In Sebastian regte sich inzwischen echtes Interesse. Was Antarona ihm erzählte klang wie ein streng
gehütetes Geheimnis, von dem er mehr wissen wollte.
»Antarona, kennst du auch Kräuter, die Wunden und Krankheiten heilen?« Er sah sie forschend an und
musste sich eingestehen, dass er sein Krähenmädchen für ihre Fähigkeiten bewunderte. Sicherlich bestärkten ihn
dabei die Herzensgefühle, die er für sie empfand.
Ein wenig genervt sah sie Sebastian an. Dann ließ sie ihren Holzlöffel in den Kessel gleiten, hockte sich
vor Basti auf den Höhlenboden und sah ihn eine Weile schweigend und neugierig an. Dann nahm sie sein
Gesicht in ihre feingliedrigen Hände, küsste flüchtig seine Lippen und ihre großen Augen schienen sein
erstauntes Gesicht zu durchdringen und in seine Seele zu blicken:
»Ba - shtie - laug - nids, was ihr alles wissen wollt...«, raunte sie kopfschüttelnd und etwas lauter fügte
sie hinzu: »Diese Dinge sollen die Töchter des Volkes wissen. Es ist nicht Aufgabe der Männer diese
Geheimnisse der Götter zu kennen. Dafür habt ihr die Mütter und Frauen, Ba - shtie, ihr müsst nicht alles wissen,
was uns die Heilerinnen verraten... Vertraut einfach den Töchtern des Volkes, vertraut ihrem Wissen, lasst euch
umsorgen an den Feuern, mit den Geheimnissen, die den Frauen gegeben sind. Schützt die Töchter dieses
Landes und ihr werdet immer zärtliche, heilende Hände an euren Feuern wissen.«
»Aber Högi Balmer hat doch auch seine ganze Hütte voll von Kräutern.., ist der in eure Geheimnisse
eingeweiht?«, hakte Sebastian nach. »Oder war seine Marienka eine von diesen Heilerinnen..?«
»Ba - shtie von den Göttern.., ihr fragt zu viel«, warf ihm Antarona mit einem süßen Lächeln vor, »der
Mond ist schon weit gewandert, wir sollten den stärkenden Trank zu uns nehmen und Ruhe suchen... Wenn die
Sonne die Nebel besiegt, ist noch genug Zeit für Fragen...«
Damit stand sie auf, schöpfte die grünbraune, transparente Brühe in tiefe Holzschalen und gab Sebastian
eine davon. Vorsichtig roch Basti an dem dampfenden Getränk. Die Flüssigkeit roch nach getrocknetem Gras.
Und sie schmeckte auch nach Heu, stellte er fest und verbrühte sich augenblicklich die Lippen. Sebastian setzte
eine schmerzverzerrte Grimasse auf.
»Ihr mögt den Trank nicht, Ba - shtie«, stellte Antarona enttäuscht fest. Sebastian beschwichtigte sie
sofort, indem er ihr mit einer fächelnden Hand signalisierte, dass ihr Sud eine sehr hohe Temperatur besaß.
»Trinkt es in kurzen, kleinen Schlucken, Ba - shtie, und es wird euch sehr gut tun!«, belehrte sie ihn.
Sebastian zog dankbar seine Augenbrauen hoch und schlürfte bedächtig anerkennend den wundersamen Trank,
der seinen Muskelkater, seine Müdigkeit, und seine Zweifel ebenso bekämpfen sollte, wie seine brennenden
Füße.
Nachdem sie noch ein Stück Brot und etwas getrocknetes Fleisch gegessen hatten, das Sebastians
Hunger kaum zu stillen vermochte, bereitete Antarona die Schlafstätten. Dabei drapierte sie ihre Schwerter und
Messer, sowie ihren Bogen griffbereit an den Kopfenden. Basti sah sie fragend an.
»Niemand außer euch und mir kennt diese Höhlen, Ba - shtie, doch das Leben in diesen Tälern fordert
das Gebot der immer währenden Vorsicht«, erklärte ihm Antarona leise, als befürchtete sie bereits unliebsame
Zuhörer.
»Was ist mit deinem Vater, Antarona, kennt der dieses Versteck im Berg?« Sebastian versuchte diese
Frage nicht allzu neugierig klingen zu lassen, doch es gelang ihm nicht besonders gut. Rasch fügte er noch
hinzu:
»Macht der sich denn keine Sorgen um dich? Fragt sich nicht zumindest deine Mutter, wo du bleibst,
wenn du so lange von zu Hause fort bist?«
Antarona sah ihm wieder in die Augen, als wollte sie seine tiefsten Gedanken und Empfindungen
ergründen.
»Dieses Geheimnis, Ba - shtie - laug - nids, kennt nur Sonnenherz allein«, stellte sie bestimmt fest.
»Nicht einmal der Vater von Sonnenherz kennt diesen Ort!« Antarona kam auf Basti zu, legte ihre Hände
gewichtig auf seinen Arm und flüsterte:
»Nur ihr, Mann von den Göttern, teilt jetzt mit Sonnenherz das Geheimnis. Die Mutter von Sonnenherz
kannte ebenfalls dieses Versteck.«
Mit einem drohenden Unterton fuhr sie fort: »Wenn ihr das Wissen um diesen Ort jemals preis gebt, Ba
- shtie, dann wird Sonnenherz euren Leichnam zu den Göttern zurückschicken, damit sie das nächste Mal einen
ehrenvolleren Krieger zum Volk senden...« Nun, das war mehr als deutlich!
»Antarona, ich liebe dich und würde alles für dich tun, warum sollte ich dich verraten? Ich würde mich
selbst verraten, wenn ich das täte, du kannst mir vertrauen..!«, versuchte Basti sie zu beschwichtigen.
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»Ba - shtie - laug - nids, manche, denen Sonnenherz vertraute...«, antwortete sie gefährlich leise und
ihre Augen verengte sich zum Blick einer angriffslustigen Raubkatze, »...und die das Volk verraten wollten, sind
jetzt im Reich der Toten, doch für sie leuchtet kein Stern am Himmel der schlafenden Sonne!«
»Dein Vater, Sonnenherz.., macht der sich keine Gedanken, wo du bist und ob es dir gut geht?«,
versuchte Sebastian das Thema in eine andere Richtung zu lenken.
In Antaronas Augen zog wieder Wärme und Güte ein. »Mein Vater weiß, ob ich glücklich bin, oder
Schmerz leide, Laug - nids. Tekla und Tonka sagen ihm jeden Tag, wie es mir geht. Sie sind Teil meines
Geistes...«
»Tekla und Tonka.., sind das deine beiden gefiederten Freunde, die ab und zu bei dir auftauchen?«,
wollte Basti wissen.
»Sie sind Töchter des Krähenvolkes, Ba - shtie. Sie sind meine Freunde, seit ihr Volk mich einmal vor
dem Bösen bewahrt haben. Sie sind an der Seite von Sonnenherz, sobald ich es ihnen mit meinen Gedanken
zurufe.« Antarona machte eine kurze Pause und Sebastian erinnerte sich an die Geschichte des Krähenmädchens,
das von einer Schar Krähen vor Raubzeug beschützt wurde. Doktor Falméra und Högi Balmer hatten davon
berichtet. Allerdings hatte Basti diese Erzählung als eine der vielen Sagen abgetan, die in Gebirgsregionen wie
Psalmen in einer Kirche kursierten.
»Du verstehst ihre Sprache..?« Sebastians Frage klang eher wie eine Feststellung. Ohne Pause, als
wollte er Antaronas Antwort zuvor kommen, um noch mehr zu erfahren, sprach er weiter:
»Högi Balmer und Falméras Medicus erzählten mir, dass du mit allen Tieren sprechen kannst...« Basti
wartete einen Moment und sah Sonnenherz fragend an. Da sie nicht gleich antwortete, hakte er nach:
»Sie erzählten, du hast einmal einem Bären gesagt, er solle aus dem Tal fortgehen und in den Bergen
bleiben. Warum hat der Bär auf dich gehört«, bohrte Sebastian weiter, »...hätte ich das versucht, so wäre ich von
ihm gewiss zum Abendessen eingeladen worden.., als Hauptgang...«
Das flüchtige Lächeln, das auf Antaronas Antlitz aufzog, sprach Bände. Anscheinend nahm sie die
Legenden, die sich um ihre Person rankten, nicht so wichtig. Ein wenig belustigt klärte sie Sebastian auf:
»Sonnenherz vermag nicht mit den Tieren zu sprechen, so, wie sie mit euch spricht, Laug - nids! Es ist
anders...«, sie suchte verzweifelt nach den treffenden Worten, »...es ist.., meine Gedanken und was ich fühle, Ba
- shtie.., die meisten Tiere und Wesen in unseren Tälern und im großen Wasser.., sie verstehen, was ich
empfinde!«
Basti sah das Krähenmädchen zweifelnd an. An Telepathie oder Telekinese hatte er nie geglaubt und an
solche Fähigkeiten zwischen Mensch und Tier schon gar nicht. Andererseits hatte er auch nie an Drachen
geglaubt und an kleine flammende, fliegende Wesen und Riesenbären ebenso wenig, wie an Bäume, so hoch wie
das Empire State Building.
Er wollte gerade seine Zweifel zum Ausdruck bringen, als Antarona nach einem Augenblick wie in
Gedanken versunken, weiter sprach:
»...Alle Wesen fühlen, was ich empfinde und ich weiß, was die Tiere fühlen... Der Felsenbär, Ba shtie.., ich spürte, dass er nur in Frieden jagen wollte... Ich fühlte, dass er in unserem Tal in Gefahr war und sagte
es ihm. Er verstand meine Worte nicht, aber er empfing meine Warnung. Ich spürte seine Dankbarkeit, als er in
den Wald zog und weiter hinauf in die Berge. Ich fühlte so etwas wie Abschied und wusste, er kommt nicht
wieder...« Sonnenherz schwieg einen Moment und Sebastian ahnte, dass sie noch mehr sagen würde. Er wartete
geduldig. Ein paar Atemzüge später schien Antarona aus ihren Gedanken zu erwachen:
»Laug - nids.., ich spreche nicht mit den Tieren und ich befehle ihnen nichts... Mein Herz fühlt mit dem
ihren und sagt ihnen, was ich wünsche, so, wie ich spüre, was die Tiere fühlen... Unsere Herzen und unsere
Seelen sprechen miteinander, nicht unsere Stimme und unser Verstand...«
Sie sah Lauknitz lange eindringlich an, wohl um festzustellen, ob er ihr gedanklich folgen konnte. In
dieser Geste empfand Sebastian sein Krähenmädchen so naiv und hilflos, so schutzbedürftig und verletzlich. Er
wusste, dass sie es nicht war, dass sie von einer Sekunde zur anderen zur wilden, überlegenen Kämpferin werden
konnte. In diesem Augenblick jedoch, da sie ihm ihr intimstes Geheimnis offenbarte, sah er sie als etwas, dass er
schützend in seine Arme nehmen musste.
Er tat es und sie ließ ihren Körper in seine Umarmung sinken. Das Krähenmädchen gab sich
vertrauensvoll in seine Obhut. Sebastian unterdrückte das Verlangen nach ihrem verführerischen Körper und
hielt sie nur fest. Seine Finger versuchten einer natürlichen Eingebung nach ihr verfilztes Haar zu glätten,
während er sich bemühte, seine Stimme so einfühlsam wie möglich klingen zu lassen:
»Ich glaube, ich verstehe, was du meinst... Du und alle Tiere und alle Wesen, ihr tragt ein gegenseitiges,
tiefes Vertrauen zueinander in euch, das aus reinem, ehrlichem Empfinden, ohne Arglist und Misstrauen besteht.
Ich wollte, ich könnte das auch...«
»Versucht es, Ba - shtie.., ihr müsst nur fest daran glauben, dann könnt ihr es auch...!« Antarona meinte
es ehrlich und vielleicht glaubte sie tatsächlich daran, dass der Mann von den Göttern ebenfalls ihre Fähigkeiten
besaß.
Basti zog sie dichter an sich heran, umfasste ihren schlanken Körper, als wäre er ein Teil von ihm selbst
und sagte leise: »Nein, mein sonniges Herz, dieses Vermächtnis hat die Natur nur dir gegeben! Du bist reinen
Herzens, gütig und ehrlich.., und so lange du dir selbst treu bleibst, wirst du diese Fähigkeit behalten...«
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