Universität Augsburg

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2.1 GOTTSCHEDS REGELPOETIK ALS GRUNDLAGE DES BÜRGERLICHEN TRAUERSPIELS ......................... 3
2.2 DIE IDENTIFIKATIONSGRUPPE ....................................................................................................................... 4
2.3 ETABLIERUNG EINES NEUEN MENSCHEN- UND GESELLSCHAFTSBILDES.............................................. 5
3.1 DER GEMISCHTE CHARAKTER......................................................................................................................... 7
3.2 BÜRGERLICHE MORALETHIK UND ABGRENZUNG ZUM POLITISCH TÄTIGEN ADEL.......................... 10
3.3 DAS VATER-TOCHTER-VERHÄLTNIS ........................................................................................................... 12
3.4 DER INTRIGANTE ADELIGE........................................................................................................................... 13
PRIMÄRLITERATUR ................................................................................................................................................. 17
SEKUNDÄRLITERATUR .......................................................................................................................................... 17
2
Die Forschungsliteratur rezipiert Lessing als einen großen Verfasser bürgerlicher
Trauerspiele1, vielfach jedoch ohne dem Wegbereiter dieser Dramengattung, Johann
Christof Gottscheds Werk der Critischen Dichtkunst, entsprechenden Respekt zu zollen.
Basierend auf dem Regelwerk seiner Tragödientheorie verfasste Gottsched das Drama
Sterbender Cato mit der Intention, es als „Exempel“2 für seine Lehre zu präsentieren.
Gottsched wusste wohl Bescheid über seine geringe dichterische Begabung3, doch die
daraus resultierenden Ungereimtheiten und Brüche seiner eigenen Regeln 4 könnten sich
als Grundlage für die Entwicklung des bürgerlichen Trauerspiels entpuppen, da hier
bereits Elemente eines Ethos etabliert werden, welches später für die Definition des
Bürgerlichen relevant wird, wozu die Bedeutung der Sittlichkeit und der persönlichen,
individuellen Belange eines Individuums zählen. 5
Eine Analyse von Gottscheds Sterbender Cato vor dem Hintergrund von Lessings
Drama Emilia Galotti soll schließlich die Bedeutung erhellen, welche Gottscheds Drama
für die Entstehung des bürgerlichen Trauerspiels innehat und darlegen, dass der
Sterbende Cato nicht zuletzt aufgrund der dichterischen Brüche und Ungereimtheiten
Reibungspunkte für die nachkommende Dichtergeneration, zu welcher auch Lessing
gehört, bot, welche diese Unzulänglichkeiten aufgreifen und in das neue Konzept des
bürgerlichen Trauerspiels transformieren konnten.
Ehe Gotthold Ephraim Lessing mit seinem Drama Emilia Galotti „am Vorabend der
Sturm und Drang-Periode […] [ein] mustergültiges Exempel der aufgeklärten
Tragödienpoetik“6 schaffen konnte, bereitete Johann Christof Gottsched den Weg,
indem er eine umfassende Reform der deutschen Schaubühne anstrengte, um sie von
„schwülstigen
und
mit
Harlekins-Lustbarkeiten
untermengten
Haupt-
und
Staatsactionen, […] Pöbelhaften Fratzen und Zoten“7 zu befreien. Gottsched begründet
seine Reform auf der aristotelischen Tragödienlehre, verknüpft sie jedoch mit der
Alt, Peter-André, S. 215
Gottsched, Sterbender Cato, S.5
3 Ebd. S.12
4 Alt, Peter-André, S. 198ff
5 Ebd. S. 198
6 Ebd., S. 222
7 Rieck, Werner S.131
1
2
3
klassizistischen Tragödientheorie Corneilles und mit Bestandteilen der barocken
Gattungsdoktrin:8
Ein Trauerspiel, meine Herren, ist ein lehrreiches moralisches Gedichte, darin eine wichtige
Handlung vornehmer Personen auf der Schaubühne nachgeahmet und vorgestellet wird.
Es ist eine allegorische Fabel, die eine Hauptlehre zur Absicht hat und die stärksten
Leidenschaften ihrer Zuhörer, als Verwunderung, Mitleiden und Schrecken, zu ihrem Ende
erreget, damit sie dieselben in ihre gehörige Schranken bringen möge. Die Tragödie ist also
ein Bild der Unglücksfälle, die den Großen dieser Welt begegnen und von ihnen entweder
heldenmütig und standhaft ertragen oder großmütig überwunden werden. Sie ist eine
Schule der Geduld und Weisheit, eine Vorbereitung zu Trübsalen, eine Aufmunterung zur
Tugend, eine Züchtigung der Laster.9
Diese Trauerspieltheorie ist jedoch in sich nicht konsistent, denn Gottsched äußert sich
Kommentar [RL1]: Originalstelle in der
kritischen Dichtkunst finden
nicht darüber, wie das Konzept der Bewunderung eines „standhaft ertragen[en] oder
großmütig überwunden[en]“10 Unglücks mit dem des Erregens von „Mitleid und
Schrecken“11
verbunden
werden
soll.
So
entwickeln
sich
schließlich
zwei
Tragödienarten, die sich jedoch beide auf Gottscheds Tragödientheorie, die Critische
Dichtkunst, stützen:
Das Trauerspiel mit Modellfunktion präsentiert bewundernswürdige Heldenfiguren als
säkularisierte Nachfolger der barocken Märtyrer, die Tragödie der moralischen Belehrung
führt mittlere Charaktere vor, deren Irrtümer nützliche Einsichten in die Notwendigkeit
vernunftmoralischer Verhaltensgebote freisetzen.12
Die Tragödie der moralischen Belehrung ist dabei wegweisend für das bürgerliche
Trauerspiel, denn hier sind bereits mittlere Charaktere angelegt, welche die
Notwendigkeit demonstrieren sollen, aufgeklärte Moralkodices zu befolgen, welche
schließlich beim bürgerlichen Trauerspiel gattungsdefinierend sind und schließlich gar
eine neue Gesellschaftsordnung begründen, welche auf einer gemeinsamen Moral- und
Sittenlehre aufbaut.
Die Gattungsbezeichung bürgerliches Trauerspiel ist in ihrem Ursprung durchaus als
soziologischen Terminus zu deuten. Für Pfeil, den Autor der Lucie Woodvil,13 ist die
Konzentration auf eine soziale Schicht gar das „vornehmste Unterscheidungszeichen“ 14,
doch schränkt er diese Schicht nicht auf den Stand des Bürgertums ein, sondern
definiert eine Mittelschicht, die über die „für die Tragödie erforderliche Würde und
Größe im Unglück“15 verfügt:
Vgl. Alt, Peter-André, S. 194
Gottsched IV SL, 5 zit. In Alt, Peter-André, S. 194
10 Ebd.
11 Ebd.
12 Alt, Peter-André, S. 196
13 Mönch, Cornelia, S. 13
14 Pfeil, zit. in Guthke: Das bürgerliche Trauerspiel, S. 10
15 Ebd.
8
9
4
Formatiert: Absatz-Standardschriftart,
Schriftart: Garamond
„Kein Schneider, kein Schuster ist einer tragischen Denkungsart fähig. Es giebt einen
gewissen Mittelstand zwischen dem Pöbel und den Großen. Der Kaufmann, der Gelehrte,
der Adel, kurz Jedweder, der Gelegenheit gehabt hat, sein Herz zu verbessern, oder seinen
Verstand aufzuklären, gehöret zu denselben“. 16
Da der Adel zwar in die Standesdefinition integriert wird, der hohe, politisch aktive Adel
jedoch ausgenommen wird, beschäftigt sich das bürgerliche Trauerspiel mit dem
„Privatmensch im Familienkreis, im Gegensatz nicht zum adeligen, sondern zum
öffentlichen, politischen Menschen, zum König oder Helden, der das heroische
Trauerspiel mit seinem ‚Staatsinteresse’ beherrscht.“17 Das Attribut des bürgerlichen rührt
also nicht von der soziologisch eingrenzbaren Schicht des Bürgertums, stattdessen wird
im bürgerlichen Trauerspiel eine Gesinnungsgemeinschaft portraitiert18 und „das
Gelöscht: s
Menschlich-Mitmenschliche, Moralische, Private, der Mensch in seiner Bindung an die
Gelöscht: schicht
Gemeinschaft rückt ins Zentrum des Interesses.“19
Die Etablierung des bürgerlichen Trauerspiels als neue Gattung war
unausweichlich, da erst diese der im Entstehen begriffenen Mittelschicht eine
Gelöscht: sie
Identifikationsplattform bieten konnte, während sich das klassische Trauerspiel, bedingt
durch das in ihm handelnde Personal von hohem Stand, nur der politisch aktiven
Oberschicht als Reflexionsmedium anbietet.20 Dies erkannte auch Gottlob Benjamin
Pfeil: „Wir bedauren in den unglücklichen Personen oft uns selbst. Wir sind desto
verschwenderischer mit unserem Mitleiden gegen sie, weil wir es für billig halten, daß
Formatiert: Absatz-Standardschriftart,
Schriftart: Garamond
man es auch gegen uns nicht spare, wenn wir wirklich dergleichen Unglücksfälle
erfahren sollten.“21 So tritt schließlich die Wirkung „emotionaler Anteilnahme aufgrund
subjektiver Identifikation“22 an die Stelle der „distanzierten Bewunderung, die seit
Corneille zum Primäreffekt der klassizistischen Trauerspieltheorie avanciert.“23
Formatiert: Absatz-Standardschriftart,
Schriftart: Garamond
Da das bürgerliche Trauerspiel keinen soziologisch eingrenzbaren Stand repräsentiert,
muss es eine neue Dimension der Gesellschaftsordnung etablieren, in welcher
Angehörige mehrerer Stände zu einer Mittelschicht gruppiert werden und sich auch mit
dieser neuen Schicht identifizieren können. Das „soziale Ethos des bürgerlichen
Pfeil, zit. in Guthke: Das bürgerliche Trauerspiel, S. 10.
Guthke, S. 11
18 Vgl. Ebd.
19 Ebd. S. 14
20 Vgl. Alt, Peter-André, S. 211
21 Pfeil, zit. in Ebd. S. 211
22 Ebd.
23 Ebd.
16
17
5
Gelöscht: können
Trauerspiels“24 stellt sich schließlich im „ständeübergreifenden allgemeinmenschlichen
Gehalt“25 dar und nicht
„Amt, Rolle und Status […] [sind] entscheidend für die tragische Wirkung, vielmehr
sittliche Würde und innere Größe; die dramatische Fallhöhe wird damit, abweichend von
den Bestimmungen der Regelpoetik, zum Reflex einer moralischen Disposition jenseits
ständischer Zuordnung.“26
Während George Lillo in seinem Drama The London Merchant, welches von der
Forschung als wichtigster Prototyp des bürgerlichen Trauerspiels bezeichnet wird, die
Handlung im bürgerlichen Milieu eines Kaufmanns ansiedelt27, rückt zunehmend
Menschlich-Mitmenschliches ins Zentrum des Interesses, das Moralische, Private, der
Mensch in seiner Bindung an die Gemeinschaft wird dargestellt.28 Der Held im
bürgerlichen Trauerspiel handelt weniger als Bürger denn als Individuum und
repräsentiert in seinen Charaktereigenschaften die für jeden Menschen typischen
Neigungen zu Irrtum und Fehlbarkeit, die ihn in ein Geflecht tragischer Schuld 29
Gelöscht: ins
verstricken. Die Repräsentation des Menschen an sich durch die bürgerliche
Mittelschicht ist dabei durchaus bewusst gewählt, denn
„es gehört gerade zu den besonderen Merkmalen des aufgeklärten Bewusstseins der Zeit,
daß es in den Ostentationen allgemeinmenschlichen Interesses die Wertvorstellungen des
Bürgertums zur Geltung bringt. Der Prozeß der literarischen Aufwertung spezifisch
bürgerlicher Themen setzt in der Mitte des 18. Jahrhunderts daher zunächst im Namen
einer schichtenübergreifenden Humanität ein und artikuliert sich in einem sozialen Ethos,
das seine ständische Fixierung vorerst zu leugnen trachtet.“30
Obwohl das Drama Sterbender Cato von Gottsched als Beispiel einer praktischen
Umsetzung der in der Critischen Dichtkunst dargelegten Tragödientheorie konzipiert
wurde31, ist das Stück weit mehr als das. Nicht zuletzt aufgrund Gottscheds mangelnder
poetischer Begabung32 als auch aufgrund der gescheiterten Verbindung zweier
Tragödientypen – „der aristotelischen Dramaturgie der hamartia und des klassischen
Modells der Bewunderung“
33
– präsentiert Gottsched Konzepte, die erst bei den
bürgerlichen Trauerspielen Lessings bewusst eingesetzt werden.
Ebd.
Ebd.
26 Alt, Peter-André, S. 211
27 Ebd. S. 208
28 Vgl. Guthke, S. 14
29 Vgl. Alt, Peter-André, S. 212
30 Ebd.
31 Gottsched, Sterbender Cato, S. 5
32 Ebd. S. 12
33 Alt, Peter-André, S. 199
24
25
6
Gelöscht: ä
Das Konzept des gemischten Charakters ist eines der von Lessing vorzüglich
ausgearbeiteten Dramenprinzipien, doch ist dieses Prinzip im Sterbenden Cato bereits
durch die Person Cäsars realisiert. In Bezug auf seine Liebe zu Arsene, die sich im
Drama als Catos Tochter Portia herausstellt, stellt sich Cäsar selbst als starker Charakter
dar, der bedingungslos lieben kann, doch auch im Falle unerwiderter Liebe nicht vor
Verzweiflung vergeht:
Mein Herz ist ohne Falsch und von Verstellung frei. / Die Ehre flieht nicht stets vor
Amors Sklaverei, / Drum kann zuweilen auch ein Heldengeist ihm dienen. / Doch, haßt
Arsene mich, wie es bisher geschienen: / So siegt die Ehre doch! Denn Cäsar ist ein Mann,
/ Der auch sein eigen Herz zur Not bezwingen kann. 34
Die Person des Cäsars präsentiert sich somit im privaten Kontext einer Liebschaft
ebenso tugendhaft wie im Bezug auf sein politisches Handeln, welchem er ebenfalls
strenge Moralvorstellungen zugrunde legt. Dies zeigt sich an den Worten, mit welchen
er Pharnaces’ Angebot, Cato zu ermorden, zurückweist:
Wie frech erkünst du dich, durch solche Freveltaten / die Bosheit deiner Brust vor Cäsarn
zu verraten? / Pharnaz, du denkst wohl nicht, daß ich ein Römer bin / Ich hasse den
Betrug! Kein schändlicher Gewinn / Kann mein gesetztes Herz zur Hinterlist bewegen, /
Und sollt ich heute noch den Zepter niederlegen. / Geh, schäme dich ins Herz, daß du ein
König bist / Und zum Verräter wirst. Mein Schwert braucht keine List! / Die Götter
haben mir bisher den Sieg verliehen: / Soll ich vor Utica den kürzern ziehen, / Wohlan, ich
bin bereit und weiche dem Geschick / Und geb dem Cato selbst die Freiheit Roms zurück!
/ Du aber sieh dich für, daß die Verräterreien, / Womit du schwanger gehst, dir selber
wohl gedeihen.35
Auch zeigt Cäsar persönliche Größe, während er den Cato lobt:
Gelöscht: d
O welch ein edles Herz! Wär ich nicht, was ich bin, / Ich wünschte mir nichts mehr, als
Catons freien Sinn, / Der keinen König will.36
In seiner politischen Funktion als Feldherr und Herrscher von Rom zeigt Cäsar in der
Konfrontation mit Cato die selbe Willensstärke wie in seiner privaten Funktion als
Liebender, oder in seiner Funktion als List und Tücke verabscheuender Römer:
Meint ihr, daß Cäsars Macht / Euch nicht bestürmen kann, eh Ihr vom Schlaf erwacht? /
Mein Vorsatz war bisher, der Römer Rest zu schonen; / Allein, da Stolz und Grimm so
reichlich bei Euch wohnen, / Als schwach die Kräfte sind: So seid Ihr schuld daran, /
Wenn ich die Blitze nicht zurückehalten kann. / Ihr zwingt mich, Utica und alles zu
zerstören!37
Die Kriegserklärung Cäsars an Cato und Utica ist eindeutig, wenngleich Cäsar bemüht
ist, seinen moralischen Standpunkt bezüglich seiner politischen Vorgehensweise sowie
deren Ursachen zu rechtfertigen:
Pharnaces hat sich selbst durch Trug und List geschlagen: / Denn die Verräterei bestraft
sich allezeit. / So macht es Cäsar nicht. Nein, Treu und Redlichkeit / Soll in dem Treffen
Gottsched, Sterbender Cato, S. 47
Ebd. S. 59
36 Ebd. S. 58
37 Ebd. S. 66
34
35
7
Gelöscht: jedoch
selbst den Überwinder schmücken. / Nun, Cato, es ist Zeit, vor Utica zu rücken. / Ihr
schlagt den Frieden aus, drum rüstet Euch zur Schlacht: / Die Götter haben mir die
Lorbeeren zugedacht! / Ihr, Portia, lebt wohl! Doch werd ich heute siegen, / So soll mein
Degen gleich zu Euren Füßen liegen.38
Gelöscht: ’
Cäsars Charakter ist schwer einzuordnen, denn obwohl er als Privatmann Verständnis
und Sympathie für Cato und seine Situation empfindet 39, zieht er als Politiker eine
andere Konsequenz und führt Krieg gegen ihn, da er ihm durch den Verweigerung der
Unterstützung zum politischen Widersacher wird 40, sowie er ihm durch die
Verweigerung der Hand seiner Tochter zum privaten Widersacher wird. 41 Gottsched
portraitiert Cäsar somit in den Rollen als Liebender, Mensch und Staatsmann, in
welchen dieser nach vergleichbaren moralischen Grundsätzen handelt, diese jedoch je
nach Situation zu anderen Ergebnissen führen. Er taugt damit nach Gottscheds
Tragödienlehre nicht zum tragischen Helden, denn ein mehrdimensionaler Charakter
wie Cäsar ist demnach ein
Ungeheuer, das in der Natur nicht vorkömmt: daher muss ein Geiziger geizig, ein Stolzer
stolz, ein Hitziger hitzig, ein Verzagter verzagt seyn und bleiben; es würde denn in der
Fabel durch besondere Umstände wahrscheinlich gemacht, daß er sich ein wenig geändert
hätte. Denn eine gänzliche Aenderung des Naturells oder Charakters ist ohnedieß in so
kurzer Zeit unmöglich.42
Aufgrund dieser Feststellung Gottscheds ist anzunehmen, dass Cäsar nicht bewusst als
mehrdimensionaler Charakter angelegt ist, doch stellt diese Figur eine wichtige
Grundlage für die Konzeption des gemischten Charakters dar, die mit den Stücken
Lessings Einzug auf der Bühnen Deutschlands hält und Peter-André Alt erkennt in
Cäsar bereits die
Merkmale eines bürgerlich denkenden Charakters, […], der dem Ethos der individuellen
Leistung ebenso folgt wie der Sprache seiner Gefühle. Dass er in beiden Bereichen – als
Handelnder und Liebender – auch tyrannische Züge an den Tag legt, kennzeichnet die
Ambivalenz der hier eher skizzierten als detailliert entfalteten Wertwelt. Erst bei Lessing
und dem jungen Schiller kommt die Dialektik von privatem Selbstbestimmungsanspruch
und familiärer Despotie, von moralischem Rigorismus und Repression in ganzer Prägnanz
zu Gesicht.43
In seinem Drama Emilia Galotti gelingt es Lessing, Charaktere darzustellen, die
psychologischen Tiefgang aufweisen und sich durch Mehrdimensionalität auszeichnen.
Da Lessings Charaktere nahezu durchgehend gemischt sind, fällt es nicht leicht, einen
Vergleichscharakter herauszugreifen, um die Verwandtschaft mit Gottscheds CäsarEbd. S. 71
Gottsched, Sterbender Cato, S. 58
40 In Gottsched, Sterbender Cato, S. 56 spricht Cato: „Es ist ein großer Schimpf, wenn man Tyrannen
glaubt / Und gar von ihrer Hand sein Leben will erhalten. / Der größte Ruhm ist der, sich rächen und
erkalten.“
41 In Gottsched, Sterbender Cato, S. 65 verbietet Cato Arsene, die bereits weiß, dass sie Catos verloren
geglaubte Tochter Portia ist, Cäsar zu lieben: „Allein, ein Königsthron ist viel zu schlecht vor dich; / Auf!
edle Römerin, besiege Lieb und Ehre / Und zeige, daß dein Herz dem Cato angehöre!“
42 Gottsched, Versuch einer Critischen Dichtkunst, S. 168
43 Alt, Peter-André, S. 200
38
39
8
Gelöscht: den
Darstellung aufzuzeigen, doch entspricht die Figur des Prinzen in Bezug auf ihre
gesellschaftliche und moralische Position in vielen Punkten der des Cäsaren bei
Gottsched. Als individuelle Persönlichkeit baut er eine private Beziehung zu Marinelli,
seinem
Kammerherrn
auf
und
lehnt
das
Sozialwesen
der
höheren
Gesellschaftsschichten ab:
Mit euren ersten Häusern! – in welchen das Zeremoniell, der Zwang, die Langeweile und
nicht selten die Dürftigkeit herrschet.44
Diese bürgerlichen Ideale von Freundschaft und Verachtung für die „ersten Häuser“
jedoch sind keineswegs die einzigen konstituierenden Merkmale für den Charakter des
Prinzen. Er ist, wie Cäsar, Staatsmann und zeigt tyrannische Züge, die sich auch in
Bezug auf Emilia Galotti, die er begehrt, äußern:
Dich hab ich für jeden Preis noch zu wohlfeil. – Ah! schönes Werk der Kunst, ist es wahr,
daß ich dich besitze? – Wer dich auch besäße, schönres Meisterstück der Natur! – Was Sie
dafür wollen, ehrliche Mutter! Was du willst, alter Murrkopf! Fordre nur! Fordert nur! –
Am liebsten kauft’ ich dich, Zauberin, von dir selbst!45
Der Prinz ist es gewohnt, zu besitzen, zu bekommen, wonach ihm verlangt. Durch die
Verwendung von merkantilen Metaphern wird deutlich, dass der Prinz eher Besitzrechte
an dem Objekt Emilia Galotti zu erwerben strebt, als sich der Person Emilias in Liebe zu
unterwerfen, wie Cäsar es gegenüber Arsene vermag.46 Die beiden Charaktere sind somit
durch ihre staatstragende Macht, ihre Willensstärke bezüglich ihrer Ziele und ihre
angedeuteten privaten Aspekte miteinander verbunden, wobei Cäsar jedoch als
charakterfeste Persönlichkeit gezeichnet ist und der Prinz als ein junger Mann erscheint,
der nicht die nötige Lebenserfahrung hat, um Freunde von Schmeichlern zu
unterscheiden47 oder Entscheidungen mit Bedacht zu treffen:
Camillo Rota.
Der Prinz.
Camillo Rota.
Der Prinz.
Ein Todesurteil wäre zu unterschreiben.
Recht gern. – Nur her! geschwind.
(stutzig und den Prinzen starr ansehend) Ein Todesurteil – sagt’ ich.
Ich höre es ja wohl. – Es könnte schon geschehen sein. Ich bin
eilig.48
Bei Lessing wird somit deutliche Kritik an der Unfähigkeit der Herrschenden laut, die
ihr Privatleben mit ihrer öffentlichen Aufgabe vermischen und ihrem Amt zudem nicht
gewachsen sind.
Lessing, Emilia Galotti, S. 14
Ebd. S. 11
46 Gottsched, Sterbender Cato, S. 47
47 Ohne den von Marinelli in Auftrag gegebenen Mord an dem Grafen Appiani, von dem der Prinz nichts
wusste, wäre durchaus ein anderer Handlungsverlauf anzunehmen gewesen.
48 Lessing, Emilia Galotti, S. 18
44
45
9
Gottscheds Drama lässt jedoch nicht nur die feinschattierten Charaktere Lessings und
Schillers erahnen, es findet sich hier bereits die Skizzierung einer neuen
Gesellschaftsschicht und deren Selbstverständnis, welches sich durch eine starke
Abgrenzung zum höchsten Adel auszeichnet und darin durchaus vergleichbar mit dem
Selbstverständnis des Bürgertums im bürgerlichen Trauerspiel ist. Im Sterbenden Cato
wird diese Schicht jedoch nicht als Mittelschicht oder Bürgertum bezeichnet, sondern
die Zugehörigkeit zum römischen Volke ist der determinierende Faktor bezüglich der
Klassenzugehörigkeit. So spricht Portius, der Sohn des Cato, mit Pharnaz:
Pharnaz, ein Römer tauscht nicht mit den größten Fürsten! / Arsene zwar ist schön und
aller Liebe wert, / Ich hätt ihr, glaub es nur, mein Herze schon erklärt, / Entsprösse sie nur
nicht aus königlichem Samen. / Allein itzt schreckt mich auch der bloße Königsnamen. /
Ja, ja, Pharnaz, Ihr irrt. Ich suche keinen Thron, / Ihr wisst ja, wer ich bin. Erkennt hier
Catons Sohn, / Der mit der Muttermilch den Königshaß gesogen. / Ach, wär Arsene nur
auch römisch auferzogen!49
Aus diesem Grund ist Cato entsetzt, als ihm eröffnet wird, dass Arsene, die Prinzessin
der Parther, in Wahrheit seine verloren geglaubte Tochter Portia ist:
Wie? Soll mein eigen Blut mir Brust und Herz zerreißen? / Was? Eine Königin soll Catons
Tochter heißen? / Ihr Götter! Schützt ihr so des Cäsars Tyrannei / Und stürzt das arme
Rom in seine Sklaverei? / Ihr gebt mir zwar mein Kind durch eure Gunst zurücke, /
Allein, es ist dabei ein Scheusal meiner Blicke. / […] Wie kann mir Portia in
Kronenschmuck gefallen? / Mein Blut erlaubt es zwar, doch Rom verbeut es allen! / Ach!
Cato, diesmal kann, zu deiner größten Pein, / Ein zärtlich Vaterherz kein römisch Herze
sein. / Nein, nein, sie soll und muß des Thrones sich entschlagen! 50
Die neue Mittelschicht, welche sich bei Lessing und Schiller im bürgerlichen Trauerspiel
repräsentiert sieht, zeichnet sich besonders „durch die Einhaltung von sittlichmoralischen Wertvorstellungen aus“51 und die Bedeutung der Familie sowie die private
Zurückgezogenheit sind bezeichnend.52 In Gottscheds Drama Sterbender Cato wird die
Gruppe der Römer als solch eine Wertegemeinschaft präsentiert, deren Wertvorgaben
und Tugenden im Wesentlichen denjenigen des Bürgertums entsprechen. Es gilt, die
Tugend zu achten53, die Freiheit hochzuschätzen54, sich in Besonnenheit zu üben55 und
nicht zuletzt sucht auch der Römer die Freiheit im Rückzug ins Private: „Prinzessin,
diese Stadt kann Eure Zuflucht sein, / Selbst Cato schließet sich in ihre Mauern ein. […]
Gottsched, Sterbender Cato, S. 43
Ebd. S. 28
51 Park, Kwang Woo, S. 10
52 Vgl. Ebd.
53 Gottsched, Sterbender Cato, S. 29f
54 Ebd. S. 10, S. 25
55 Cäsar spricht in Gottsched, Sterbender Cato, S. 48: „Der Römer Ehre muss im Wüten nicht beruhn: /
Nein! Rom beherrscht vielmehr der Überwundnen Herzen / Und lässt sich selber wohl die fremden
Wunden schmerzen. / Auch Cäsar hatte nie am Blutvergießen Lust: / Es klopft ein zartes Herz in seiner
Vaterbrust.“
49
50
10
Gelöscht: ist es ist
Hier zieht die Freiheit noch die letzte Kraft zusammen“56. Cato schließlich handelt nicht
als ehrgeiziger Homo politicus, um die Republik und seine Freiheit zu verteidigen, sondern
verhält sich in der Zurückgezogenheit weitgehend passiv.57 Als Cato seinen Selbstmord
bereits beschlossen hat, rät er seinem Sohn Portius eindringlich den Rückzug ins
Gelöscht: R
Private:
Gelöscht: Cato
Itzt siehst auch du mich weichen, / Da keine Hoffnung ist, den Endzweck zu erreichen. /
Geh hin, verbirg dich nur auf das Sabiner Feld, / In deinen Vatersitz, wo mancher Held, /
Wo unser Ahnherr selbst, nachdem er oft gesieget, / Nach alter Römer Art sein eigen Land
gepflüget. / Da lebe tugendhaft, verborgen, schlecht und recht; / Sei fromm, den Göttern
treu, doch keines Menschen Knecht: / Denn wo das Laster herrscht, da sind die höchsten
Würden, / Die man bei ihnen trägt, die ärgsten Sklavenbürden. 58
In Lessings Emilia Galotti ist die Mittelschicht bereits etabliert. In ihr findet sich das
„Mädchen ohne Vermögen und ohne Rang“ 59, wie Emilia Galotti von Marinelli, dem
Kammerherrn des Prinzen, charakterisiert wird, als auch der Adel, dem der Graf
Gelöscht: Dieners
Appiani angehört, repräsentiert. Beide Charaktere entsprechen dem Tugendideal der
Gelöscht: verfügen
60
bürgerlichen Wertvorstellungen , welches dem intriganten Vorgehen des Hofes
gegenübersteht. Anders als Catos Tochter Portia, welche das römisch-bürgerlichen
Tugendideal dadurch aufrecht erhalten kann, dass sie Cäsar nicht zum Mann nimmt, ist
Emilia Galotti dies nicht möglich:
Verführung ist die wahre Gewalt. – Ich habe Blut, mein Vater, so jugendliches, so warmes
Blut als eine. Auch meine Sinne sind Sinne. Ich stehe für nichts. Ich bin für nichts gut. Ich
kenne das Haus der Grimaldi. Es ist das Haus der Freude. Eine Stunde da, unter den
Augen meiner Mutter – und es erhob sich so mancher Tumult in meiner Seele, den die
strengsten Übungen der Religion kaum in Wochen besänftigen konnten! – Der Religion!
Und welcher Religion? – Nichts Schlimmeres zu vermeiden, sprangen Tausende in die
Fluten und sind Heilige! – Geben Sie mir, mein Vater, geben Sie mir diesen Dolch.61
Obwohl Emilias Tugend nicht unmittelbar in Gefahr ist, da Sie die Liebesbeteuerungen
des Prinzen stets zurückweist, erkennt sie, dass die Versuchungen, die ihr begegnen
können, zu stark sein könnten und sie somit dem Tugendideal nicht mehr entsprechen
würde. Die einzige Chance, für immer tugendhaft zu sein, besteht darin tugendhaft zu
sterben und so in Erinnerung zu bleiben. Die Tötung Emilias durch ihren Vater ist
somit aus der Sicht Odoardos ein Präventivschlag gegen eine mögliche Ehrverletzung
seiner Tochter: „Eine Rose gebrochen, ehe der Sturm sie entblättert.“ 62
Hierbei wird Lessings Kritik an der rigiden Bürgerethik deutlich und er zeigt auf, dass
sich dieses Wertesystem nur im Tode erfüllen lässt und somit für den lebenden Bürger
Gottsched, Sterbender Cato, S. 25
Vgl. Alt, Peter-André: S. 198
58 Gottsched, Sterbender Cato, S. 73
59 Lessing, Emilia Galotti, S. 13
60 Marinelli charakterisiert Emilia auf als Mädchen „mit vielem Prunke von Tugend und Gefühl und
Witz“ (S. 13) und der Prinz schätzt den Grafen Appiani als „Mann voller Ehre“ (S. 13)
61 Lessing, Emilia Galotti, S. 77
62 Ebd. S. 78
56
57
11
wertlos ist. Hier zeigt sich auch das zwiegespaltene Wesen dieses Wertesystems, da die
Gelöscht: ,
Unversehrtheit der Familie sowie privater Erfolg hohe Wertschätzung erfahren, durch
Gelöscht: den anderen bürgerlichen
einen Todesfall jedoch nicht mehr gewährleistet sind. Lessing kritisiert auch ein
Gelöscht: Tugenden wie
Gelöscht: und
problematisches Religionsverständnis auf, welches den Märtyrergedanken, den Emilia
Gelöscht: entgegengesetzt
zitiert, begünstigt. Bereits der Wohnsitz der Familie Galotti „unfern der Kirche
Gelöscht: zeigt aber
Allerheiligen“63 zeigt die Enge Bindung Emilias zur Religion auf, doch ist die Kirche
nicht nur Ort der Sammlung und der Versenkung im Gebet, sie ist auch der Ort der
Gelöscht: welchen
Gelöscht: es
Versuchung, der Gefährdung bürgerlicher Tugenden:
Eben fing ich an, mein Herz zu erheben: als dicht hinter mir etwas seinen Platz nahm. So
dicht hinter mir! […] Aber es währte nicht lange, so hört’ ich, ganz nah an meinem Ohre –
nach einem tiefen Seufzer – nicht den Namen einer Heiligen – den Namen – zürnen Sie
nicht, meine Mutter – den Namen Ihrer Tochter! – Meinen Namen! – O daß laute Donner
mich verhindert hätten, mehr zu hören! – Es sprach von Schönheit, von Liebe – Es klagte,
daß dieser Tag, welcher mein Glück mache – wenn er es anders mache – sein Unglück auf
immer entscheide. – Es beschwor mich – hören mußt’ ich dies alles. Aber ich blickte nicht
um; ich wollte tun, als ob ich es nicht hörte. – Was konnt’ ich sonst?64
Die erotische Komponente dieses Passus wird deutlich durch die darin ausgedrückte
Nähe, doch Emilia fehlt die Kompetenz mir einer derartigen Versuchung umzugehen.
Sie ist lediglich in der Lage, die Liebesbeteuerungen des Prinzen zu ertragen, sie vermag
jedoch nicht darauf zu reagieren. Dies lässt sich als Lessings Kritik an der bürgerlichen
Erziehung deuten, welche die Kinder in Tugend zu erziehen gedenkt und die Religion
als
moralischen
Schutzraum
etabliert,
die
Zöglinge
jedoch
mit
keiner
Verhaltenskompetenz für den Fall ausstattet, dass dieser Schutzraum kompromittiert
und Untugend an sie herangetragen wird.
Die Vaterfigur des Cato entspricht in Gottscheds Sterbender Cato den sich etablierenden
Vorstellungen der Zeit, wonach es die Aufgabe des Vaters ist, für die Unversehrtheit der
Familie und die Tugendhaftigkeit der Tochter insbesondere zu sorgen. Dramen wie Die
Pietisterey im Fischbein-Rocke zeigen auf, welche verheerenden Konsequenzen die
Abwesenheit eines solchen Vaters für das Glück einer Tochter haben kann. Dass die
Vaterfigur nicht unbedingt durch den leiblichen Vater repräsentiert sein muss, zeigt den
Weg zum Ideal der Menschheitsfamilie, die sich bei Lessing findet, auf. So gewährt Cato
Arsene, der Prinzessin der Parther, in seiner Stadt Zuflucht, obwohl sie dem Hochadel
angehört:
Prinzessin, diese Stadt kann Eure Zuflucht sein, / selbst Cato schließet sich in ihre Mauern
ein. / Rom seufzet, und es steht das Capitol in Flammen! / Hier zieht die Freiheit noch die
63
64
Lessing, Emilia Galotti, S. 14
Ebd. S. 26
12
Gelöscht: Schutzräume wie die Religion
schafft
Gelöscht: wird, ausstattet
letzte Kraft zusammen, / Mit der die Republik gewiß zugrunde geht, / Und wenn Sie
einmal fällt, wohl niemals aufersteht.65
In einem Selbstgespräch äußert Cato seine Beweggründe für die Aufnahme Arsenes:
Ich spüre neuen Trieb, Arsenen zu beschützen. / Allein, was seh ich doch aus ihren Augen
blitzen? / Sie gleicht der Portia! Mein Kind lebt fast in ihr!66
Sobald Cato jedoch erfährt, dass es sich bei Arsene tatsächlich um seine verloren
geglaubte Tochter Portia handelt, ist er nicht mehr nur von freundlicher Anteilnahme
beseelt, sondern beginnt sich vehement in ihre Lebensgestaltung einzumischen, als er
erfährt, dass Cäsar um ihre Hand anhält:
Was bist du so bestürzet? Wohlan, entschlüße dich! / Du seufzest? Schäme dich! / Willst
du dein Blut beflecken? / Und deines Vaters Haus in Schimpf und Schande stecken? / Ihr
Götter! Welch ein Schmerz! /[…] Ich bin dein Vater nicht, wo Cäsars Liebe noch / in
deiner Seelen brennt. Ersticke solche Flammen! 67
Dieser väterlich-tyrannische Zug findet sich in Lessings Emilia Galotti schließlich auch
bei Emilias Vater Odoardo, welcher seine Tochter schließlich sogar umbringt, um ihre
Tugendhaftigkeit zu gewährleisten. Lessing portraitiert eindrucksvoll die zunehmende
Perversion des Tugendbegriffes, denn während es dem Cato untugendhaft ist, dass seine
Tochter den Verführungen eines Cäsaren erliegen könnte, ist für Odoardo bereits eine
hypothetische Verführung durch einen höheren Adeligen untugendhaft und um diese zu
verhindern, muss er Emilia in letzter Konsequenz töten, da sie gemäß der überspitzten
bürgerlichen Moralvorstellungen nur so von allen möglichen Untugenden gefeit ist.
Der Vergleich zwischen Cato und Odoardo spannt also einen Bogen von einem
Vater, der sich einem gesellschaftlichen Ideal verpflichtet fühlt und seine Tochter gemäß
diesem zu lenken sucht, zu einer Familienkonstellation, in welcher sowohl Vater und
Tochter bereits zu den Opfern des sich mittlerweile verselbstständigten bürgerlichen
Tugendideals geworden sind.
In der Figurenkonstellation des bürgerlichen Trauerspiels fungiert die Person des
intriganten Adeligen stets als Negativprojektion der bürgerlichen Tugenden. Er
verquickt Staatsinteresse mit eigenen Interessen, manipuliert hinter den Kulissen und
scheut die offene Konfrontation. Diese Figur ist im Sterbenden Cato durch Pharnaces, den
König aus Pontus, repräsentiert. Dieser hat nicht nur den rechtmäßigen Erben des
Königsthrons „nach Meuchelmörder Art“ ermorden lassen 68, sondern versucht stets
denjenigen Menschen nach dem Mund zu reden, von welchen er sich Hilfe bei der
Gottsched, Sterbender Cato, S. 25
Ebd. S. 26
67 Gottsched, Sterbender Cato, S. 65
68 Ebd. S. 24
65
66
13
Gelöscht: O
Durchsetzung seiner Ziele erhofft. So präsentiert er sich Cato gegenüber als ein
Verbündeter:
Ich war von Jugend auf den Römern zugetan / Und nahm von ihnen, Herr, ein standhaft
Wesen an. / Ihr wißt es, Cäsars Macht besiegte meine Staaten; / Doch blieb mir noch ein
Rest von Freunden und Soldaten. / Die Flotte, so sie führt, liegt schon vor Utica / Und ist,
dafern Ihr wollt, zu Eurer Rettung da.69
Als Cato Pharnaces jedoch die Heirat mit Arsene, von welcher er mittlerweile weiß, dass
sie seine Tochter Portia ist, verbietet, ändert Pharnaces seine Strategie und gesteht in
einem Selbstgespräch:
[…] Meine Rachgier Lauf soll nichts zurückehalten, / Die Glut, so mich entbrannt, soll
nicht so leicht erkalten! / Was mach ich länger hier? Es kostet einen Streich, / So hab ich
mit Gewalt Arsenens Herz und Reich. / Er soll das Opfer sein!70
Gelöscht: t
Pharnaces versucht schließlich, sich bei Cäsar einzuschmeicheln und bietet seine Künste
als listenreicher Intrigant an:
Das Glücke wechselt stets! Wie leicht kann es geschehen, / Wenn Eure Römer erst den
harten Cato sehen, / Der vor die Freiheit kämpft, daß ihr so tapfrer Mut / Auf seine Seite
tritt? Bedenket was Ihr tut! / Die List ist sicherer als offenbare Waffen. / Ich will Euch
Catons Kopf ohn alle Mühe schaffen; / Dann hegt der Erdenkreis nichts, was Euch die
Waage hält, / Dann seid Ihr Herr von Rom und Haupt der ganzen Welt.71
Cäsar empfindet diesen Vorschlag als Beleidigung für sein Ehrgefühl und schlägt das
Angebot aus, doch zeigen die Textstellen die skizzenhafte Darstellung eines feigen und
opportunistischen Adeligen, der als Negativprojektion der von Cato vertretenen
Tugenden zu verstehen ist, aber auch der Konzeption Cäsars gegenübersteht, der
ebenfalls römisch-bürgerliche Tugenden vertritt.
In Lessings Emilia Galotti ist die Figur des intriganten Adeligen durch den
Kammerherrn des Prinzen, Marinelli, repräsentiert. Er zeichnet sich durch ein
schmeichlerisches Wesen aus, spricht gegenüber dem Grafen Appiani von
Freundschaft72, und bereitet doch schon einen Überfall auf ihn vor.73 Anders als
Gottscheds Cäsar verfügt Lessings Prinz von Guastalla nicht über die Kraft, den
Hofintriganten zu durchschauen und ihn in seine Schranken zu weisen, stattdessen lässt
er ihm freie Hand, um die Hochzeit zwischen Emilia und dem Grafen Appiani zu
verhindern:
Marinelli:
Erst heute – soll es geschehen. Und nur geschehenen Dingen ist nicht zu
raten. (Nach eine kurzen Überlegung.) Wollen Sie mir freie Hand lassen, Prinz?
Wollen Sie alles genehmigen, was ich tue?
Der Prinz: Alles, Marinelli, alles, was diesen Streich abwenden kann. 74
Ebd. S. 31
Gottsched, Sterbender Cato, S. 33
71 Ebd. S. 58
72 Lessing, Emilia Galotti, S. 32
73 Ebd. S. 37
74 Ebd. S. 16
69
70
14
Formatiert: Einzug: Links: 2 cm,
Hängend: 1,75 cm, Abstand Nach: 0
pt
Der Prinz soll schließlich mit seinem Ausruf „O ein Fürst hat keinen Freund!“ 75 Recht
behalten, denn Marinelli nutzt den schwachen Charakter des Prinzen und dessen
Verliebtheit in Emilia Galotti aus, um den Grafen Appiani, den er „nicht leiden“76 kann,
umzubringen. Es gelingt Lessing, die Selbstsucht dieses Charakters viel feiner zu
schattieren, als es Gottsched mit dem Pharnaces gelingt. So lässt Marinelli seine
Gemütslage deutlich verlautbaren: „Wozu dieser traurige Seitenblick? Vorwärts! denkt
der Sieger, es falle neben ihm Feind oder Freund.“77 Als Odoardo im letzten Akt des
Dramas seine Tochter schließlich tötet, ist der Prinz zu echtem Entsetzen fähig 78 und
erkennt das wahre Wesen Marinellis:
Gott! Gott! – Ist es, zum Unglücke so mancher, nicht genug, daß Fürsten Menschen sind:
müssen sich auch noch Teufel in ihren Freund verstellen? 79
Der intrigante Marinelli jedoch zeigt kein Gefühl der Reue, er ist einzig auf sich selbst
konzentriert: „Weh mir!“80 Während Pharnaces seine Intrige jedoch mit dem Leben
bezahlen muss81 und Gottsched somit eine Gerechtigkeitssituation herstellt, die
bezüglich des Intriganten in einer Homöostase des Publikums endet, das seine
Emotionen am Ende wieder dem sterbenden Cato zuwenden kann, etabliert Lessing
keine Gerechtigkeitsinstanz mehr, die Marinelli zu Rechenschaft zieht und dem
Zuschauer bei der emotionalen Fokussierung auf einen einzigen Charakter hilft. Er
entlässt das Publikum nicht in die Homöostase, sondern in den Konflikt, er provoziert
geradezu eine Diskussion über Gerechtigkeit und bürgerliches Tugendideal.
Ebd. S. 15
Ebd. S. 13
77 Lessing, Emilia Galotti, S. 67
78 Ebd. S. 78
79 Ebd. S. 79
80 Ebd., S. 78
81 Gottsched, Sterbender Cato, S. 70
75
76
15
Gelöscht:
Wenngleich Gottsched bei der Realisierung seines Sterbenden Cato nicht über die
poetische Begabung Lessings verfügte und seine Charaktere eher skizzenhaft
beschrieben sind82, so finden sich dennoch für das bürgerliche Trauerspiel bedeutsame
Gelöscht: bereits
Charaktere in diesem Werk, wie etwa die Figur des intriganten Adeligen. Auch lässt sich
Gelöscht: charakteristische
bereits die Anlage eines mittleren oder gemischten Charakters erkennen, wenngleich es
sich um eine „höchst unvollkommen umgesetzte Konzeption“ 83 handelt. Gerade diese
Unvollkommenheit jedoch ist meiner Ansicht nach die Ursache, weshalb der mittlere
oder gemischt Charakter bei Lessing weiterentwickelt werden musste, denn das
klassizistische Modell der Bewunderung84 lässt sich mit der Konzeption von „Schrecken
und Mitleiden“85 nicht vereinbaren. Es ist für den Zuschauer, wenn überhaupt, nur
schwer nachvollziehbar, wenn die als absolut tugendhaft gezeichnete Person nun ob
ihrer Tugendhaftigkeit Mitleid erzeugen soll. Besteht eine Figur aber, wie bei Lessing,
aus positiven und negativen Charaktereigenschaften, die in der Psyche begründet sind
und die das Handeln der Figur bestimmen, so entstehen lebensnahe Protagonisten, die
man für ihre Stärken bewundern, für ihre Schwächen aber bemitleiden kann.
Weiterhin ist im Sterbenden Cato bereits die scharfe Abgrenzung einer
Bevölkerungsschicht von einer anderen über einen Katalog von spezifischen
Wertvorstellungen gewährleistet, der in Lessings Emilia Galotti schließlich in Verbindung
mit der bei Gottsched angedeuteten starken Vaterrolle zur Katastrophe führt.
Gottscheds Sterbender Cato ist somit ein wichtiger Impulsgeber für das deutsche
Drama der Aufklärungszeit und hat Poeten wie Lessing oder Schiller mit beeinflusst.
Lessings Emilia Galotti stellt gar den glanzvollen Höhepunkt der Regelpoetik dar und
zeigt zugleich auf, wohin sich die sich bei Gottsched angedeutete Gesinnungsschicht der
freien Bürger entwickelt hat und welche Problemstellungen daraus erwuchsen.
Vgl. Alt, Peter André, S. 200
Ebd. S. 199
84 Ebd.
85 Gottsched, Schriften zu Literatur, S. 162
82
83
16
Gelöscht: , da Odoardo die Abgrenzung
des Bürgertums zum Adel und die moralische
Integrität seiner Tochter nur dadurch
aufrecht erhalten kann, indem er Emilia tötet
und sie somit der Möglichkeit enthebt, ihre
Tugendhaftigkeit und ihren Ruf, aber auch
den der bürgerlichen Familie, aufs Spiel zu
setzen.
Gottsched, Johann Christoph, Sterbender Cato, Stuttgart: Reclam (2002)
Gottsched, Johann Christoph, Schriften zur Literatur, Stuttgart: Reclam (1998)
Gottsched, Luise Adelgunde Victorie, Die Pietisterey im Fischbein-Rocke, Stuttgart: Reclam
(1996)
Lessing, Gotthold Ephraim, Emilia Galotti, Stuttgart: Reclam (1994)
Alt, Peter-André, Aufklärung, Stuttgart; Weimar: Metzler (1996)
Guthke, Karl s., Das bürgerliche Trauerspiel, Stuttgart; Weimar: Metzler (1972)
Mönch, Cornelia, Abschrecken oder Mitleiden, Tübingen: Max Niemeyer (1993)
Park, Kwang Woo, Die Entstehung und die Stufen des Wandels des bürgerlichen Trauerspiels in
Deutschland, Aachen: Mainz (1998)
Rieck, Werner, Johann Christoph Gottsched, Berlin: Akademie-Verlag (1972)
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