Fundamentaltheologie im Zeichen der Gegenwart

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Fundamentaltheologie im Zeichen der Gegenwart
Fundamentaltheologie im Zeichen der
Gegenwart: Geschlechterperspektiven
von Hildegund Keul
Geschlechterdifferenzen sind ein gravierender Faktor im Religionsdiskurs. Nicht nur die großen Weltreligionen, sondern auch
archaische Formen sowie zeitgenössische Patchworkpraktiken1 befassen sich mit ihnen. Religionen führen eine Auseinandersetzung
um Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Geschlechter, sie erteilen geschlechtsspezifische Gebote und Verbote und regeln den
Kontakt untereinander. Zudem schreibt sich ihr Geschlechterdiskurs bewusst oder unmerklich in ihre Rede von Gott, der Schöpfung und dem Heiligen ein. Geschlechterfragen stellen eine Macht
dar, die quer durch verschiedene Lebensbereiche wirksam ist, die
gesellschaftlich zugreift und politisch wie religiös ein brisantes
Thema ist – dies zeigen nicht zuletzt Auseinandersetzungen um
Kopftuch, „Ehren“-Mord und Youth Bulge. Geschlechterfragen
sind daher zu Recht ein klassisches Thema der Theologie.
Seit Papst Johannes XXIII. und dem 2. Vatikanischen Konzil
setzt sich die katholische Theologie auf neue Weise mit diesem
Thema auseinander. Denn die Pastoralkonstitution, die nach Elmar Klinger „der Schlüssel zum Konzil, sein dogmatisches Hauptereignis“2 ist, rückt den einzelnen Menschen, Mann wie Frau, ins
Zentrum. Das Konzil fragt nach ihrer konkreten humanen Situation, also danach, wie er oder sie leibt und lebt. In seinem zentralen
Glaubensbekenntnis stellt das Konzil fest: „Der Mensch also, der
1
So arbeitet die europaweit aktive Kosmetikfirma „Rituals“ gezielt und sehr erfolgreich mit spezifischen Geschlechterbildern wie dem der spirituellen Frau und Priesterin. Entsprechend verkauft die Firma Produkte mit religiösen Namen wie Eve’s kiss,
Infinity, Zensation, Yogi Flow oder Message from Heaven. Und selbstverständlich
gibt es eine eigene Rubrik „Kosmetik für den Mann“ (vgl. www.ritualsstore.com).
2
Klinger, Elmar, Armut – eine Herausforderung Gottes. Der Glaube des Konzils
und die Befreiung der Menschen, Zürich 1990, 97. – Hans-Joachim Sander weitet diese These aus: „Gaudium et spes ist folglich die Perspektive der Fundamentaltheologie
nach dem Konzil, und die „Zeichen der Zeit“ sind das Fundament einer neuen Apologetik in der Welt von heute.“ (Sander, Hans-Joachim, Die Zeichen der Zeit. Die
Entdeckung des Evangeliums in den Konflikten der Gegenwart, in: G. Fuchs – A.
Lienkamp [Hgg.], Visionen des Konzils. 30 Jahre Pastoralkonstitution ‚Die Kirche
in der Welt von heute‘. Münster 1997 [ICS Schriften 36], 85 –102, hier 102).
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eine und ganze Mensch, mit Leib und Seele, Herz und Gewissen,
Vernunft und Willen steht im Mittelpunkt unserer Ausführungen.
Die Heilige Synode bekennt darum die hohe Berufung des Menschen, sie erklärt, dass etwas wie ein göttlicher Same in ihn eingesenkt ist, und bietet der Menschheit die aufrichtige Mitarbeit der
Kirche an zur Errichtung jener brüderlichen Gemeinschaft [fraternitatem – Geschwisterlichkeit] aller, die dieser Berufung entspricht“ (GS 3). Wenn jeder Mensch eine göttliche Berufung hat
und durch die Inkarnation in Jesus Christus mit Gott verbunden
ist (vgl. GS 22), dann ist das, was in der Welt geschieht, von gravierender Bedeutung für die Theologie. In dieser Argumentationslinie erhalten Geschlechterfragen neues Gewicht. In den heutigen
Umbrüchen werden sie zu einem „Zeichen der Zeit“, das von der
Theologie gezielte Aufmerksamkeit verlangt.
I. Die Frauenbewegung als „Zeichen der Zeit“ –
Papst Johannes XXIII. als Diskursivitätsbegründer
Johannes XXIII. hat zunächst mit „Humanae Salutis“, dann mit
seiner Friedensenzyklika „Pacem in terris“ (1963) den Begriff der
„Zeichen der Zeit“ neu in die theologische Debatte eingeführt.
Dieser ursprünglich säkulare Begriff geht in seiner christologischen Bedeutung auf das Neue Testament zurück und wird für
das 2. Vatikanum richtungweisend. Es geht darum, nicht nur an
bestimmten Zeichen am Himmel das Wetter ablesen zu können
(vgl. Mt 16,2f.), sondern in signifikanten Ereignissen der Gegenwart jene Zeichen zu erkennen, die eine Weichenstellung markieren. „Zeichen der Zeit“ verweisen auf Veränderungen, die für die
Gegenwart insofern signifikant sind, als sie Entwicklungslinien in
die Zukunft hinein neu bestimmen. Daher lenken diese Zeichen
die Aufmerksamkeit auf die Gegenwart, auf das, was in der Welt
geschieht und wo sich grundlegende Veränderungen und Umbrüche abzeichnen. Mit seiner innovativen Verwendung des Begriffs
„Zeichen der Zeit“ wird der Papst zu dem, was Michel Foucault
einen „Diskursivitätsbegründer“ nennt3. Der Papst führt die „Zeichen der Zeit“ in die Debatte ein und verleiht ihnen so großes Gewicht, dass der Diskurs eine Wende erfährt. Es eröffnet sich ein
neuer theologischer Diskurs, an den andere, kontroverse Debatten
sich anschließen und wiederum Neues hervorbringen können.
3
Foucault, Michel, Was ist ein Autor? in: ders., Schriften, 1. Bd. Frankfurt a. M. 2001,
1003 –1041, hier 1022ff.
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Dass dieser Papst ein Diskursivitätsbegründer ist, gilt allgemein
für die „Zeichen der Zeit“, und es gilt im Besonderen für die Frauenbewegung als „Zeichen der Zeit“. Johannes XXIII. schreibt:
„Dann gibt es sicherlich niemanden, dem nicht offen vor Augen
läge, dass sich die Frauen am Gemeinwesen (in re publica) beteiligen […]. Da sich die Frauen nämlich täglich mehr ihrer menschlichen Würde bewusst werden, erdulden sie es so wenig, für eine
unbeseelte Sache oder für ein Werkzeug gehalten zu werden, dass
sie vielmehr sowohl innerhalb der häuslichen Wände als auch im
Staate Rechte und Pflichten einfordern, die der menschlichen Person würdig sind.“4
Dem Text ist anzumerken, dass er in den sechziger Jahren geschrieben wurde. Er spricht in die Situation hinein, als die zweite
Frauenbewegung virulent ist und zu kontroversen Debatten führt.
Auf den ersten Blick mag er heute vielleicht antiquiert klingen,
weil das Selbstbewusstsein von Frauen und ihre Mitwirkung am
öffentlichen Leben heute selbstverständlicher und daher nicht
mehr erwähnenswert scheinen. Dennoch hat diese Aussage hohe
Aktualität. Die weltweiten Gewinne, die die international organisierte Kriminalität mit Frauenhandel und Zwangsprostitution
macht, sind mittlerweile höher als die im Drogenhandel. Und hier
werden Frauen und Jugendliche gezielt als „seelenlose Sache oder
als bloßes Werkzeug“ behandelt. Es sind Menschen, die um die gesellschaftliche Anerkennung ihrer Würde ringen müssen und die
„Pacem in terris“ als „Zeichen der Zeit“ beschreibt.
Der Papst erkennt nicht nur die Würde der Frauen an – das ist
eine klassische christliche Tradition; sondern er zollt auch denjenigen Respekt, die dort Widerstand leisten, wo diese Würde angetastet wird. Er spricht hier nicht explizit von der Frauenbewegung,
nennt sie aber indirekt durch ihre Anliegen. Es ist die Frauenbewegung, die damals vehement einklagt, dass Frauen nicht auf den
Privatbereich eingeschränkt werden, sondern auch im öffentlichen
Bereich des Staates „Rechte und Pflichten“ haben. Dieser Respekt der Frauenbewegung gegenüber ist ein Novum, und er vollzieht einen Richtungswechsel. Der Papst bezieht sich positiv auf
die tiefgreifenden Veränderungen, die Frauen im öffentlichen Leben allmählich durchsetzen – auf dem Arbeitsmarkt, als Kulturschaffende und in der Politik.
Dass der Papst die Signifikanz der Frauenbewegung erkannt
hat, verdankt er Adelaide Coari (1881–1966), einer Frauenrechtlerin im Mailänder Christlich-demokratische Frauenbund, mit der
4
Johannes XXIII, Enzyklika „Pacem in terris“; DH 3975; PT 41.
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er seit 1911 befreundet ist5. In ihrem Briefwechsel gewinnt die
Frauenbewegung als „Zeichen der Zeit“ Kontur. Wie revolutionär
die inhaltliche Position des Papstes war, lässt sich an vielen Beispielen zeigen. Klein / Kaufmann nennen ein Zirkular, mit dem
Merry del Val – Kardinalstaatssekretär und damit ganz oben in
der Führungsriege der katholischen Weltkirche – 1904 verfügt,
dass in öffentlichen Debatten den Frauen, „auch solchen mit Ansehen und Frömmigkeit“, niemals das Wort zu erteilen sei. Heute
wirkt eine solche Position befremdlich. Aber hier geht es nicht darum, dass Merry del Val den Frauen Böses will. Vielmehr ist er im
Bann eines Diskurses, dessen Macht sich ihm entzieht. Die Positionen der Frauenbewegung waren für diesen theologischen Diskurs so undenkbar, dass sie gar nicht ernsthaft diskutiert werden
konnten. Sie lagen „im Außen des Diskurses“, wie Michel Foucault dies nennt6. Sie konstituierten einen neuen theoretischen Horizont in Geschlechterfragen.
Wenn man aber die Aufmerksamkeit auf die „Zeichen der
Zeit“ lenkt, dann wird man mit solchen neuen theoretischen Horizonten konfrontiert. Das Außen des Diskurses rückt in sein Zentrum. Damit wird das relativiert, was man selbst für vernünftig gehalten hat. Im 19. Jahrhundert galt es als vernünftig, Frauen aus
den Wissenschaften auszuschließen. Der Pastoraltheologe und
spätere Prorektor der Universität Freiburg, Alban Stolz, stellte
Mitte des 19. Jh.s ganz selbstverständlich fest: „Das weibliche Geschlecht ist nicht nur dem Körper nach, sondern auch geistig
schwächer als das männliche Geschlecht im allgemeinen; daher
ist es nicht nur eine seltene Ausnahme, sondern gewissermaßen
eine Unnatur, wenn ein Weib in Kunst oder Wissenschaft etwas
Bedeutendes leistet.“7 Dass Stolz dies ins Wort bringen muss, deutet den Umbruch bereits an, der sich in den folgenden Jahrzehnten
vollzieht, denn im Jahr 1900 werden Frauen an der Universität
5
Vgl. hierzu Kaufmann, Ludwig – Klein, Nikolaus, Johannes XXIII. Prophetie im
Vermächtnis, Fribourg – Brig 21990, 43 – 48.
6
Foucault nennt als Beispiel die Publikation der Mendeschen Gesetze, ein bahnbrechendes Ereignis, das aber mit beredtem Schweigen bedacht wurde. „Man hat sich oft
gefragt, wie die Botaniker oder die Biologen des 19. Jahrhunderts es fertiggebracht
haben, nicht zu sehen, daß das, was Mendel sagte, wahr ist. Das liegt daran, daß Mendel von Gegenständen sprach, daß er Methoden verwendete und sich in einen theoretischen Horizont stellte, welche der Biologie seiner Epoche fremd waren“ (Foucault, Michel, Die Ordnung des Diskurses, Frankfurt a. M. 1997, 25).
7
Zitiert nach Roos, Klaus, Alban Stolz. Einer der Großen des 19. Jahrhunderts, Freiburg i. Br. 1983, 158f. – Zu Frauen in der Theologie vgl. Jeggle-Merz, Birgit – Kaupp,
Angela – Nothelle-Wildfeuer, Ursula (Hgg.), Frauen bewegen Theologie. Die Präsenz
von Frauen in der theologischen Wissenschaft am Beispiel der Theologischen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburgh, Leipzig 2007.
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Freiburg zum Studium zugelassen. Das Beispiel zeigt, dass der
Blick auf die „Zeichen der Zeit“ das fundamentaltheologische
Thema „Dogma und Geschichte“ erweitert um die Frage nach
„Vernunft und Geschichte“.
Mit der Anerkennung der Frauenbewegung gelingt dem Papst
ein Durchbruch in den kirchlichen Geschlechterdebatten. Er holt
mit den „Zeichen der Zeit“ das, was außerhalb des Diskutierbaren
lag, was in wahrstem Sinn des Wortes „unsäglich“ war, in den Diskurs hinein. Hier zeigt sich: „Zeichen der Zeit“ verweisen auf etwas Unerhörtes, das erhört werden will. Johannes XXIII., jener
feinfühlige Meister der Zeit, ist demnach nicht nur inhaltlich, sondern auch formal ein Diskursivitätsbegründer. Die Begründungsfigur, die für die Fundamentaltheologie bekanntlich eine zentrale
Frage ist, verläuft hier ganz anders als bei Merry del Val, nämlich
von den Rissen und Brüchen, den Verwerfungen und Umbrüchen
der Gesellschaft ausgehend. Wo die „Zeichen der Zeit“ zum
Schlüsselbegriff werden, da rückt die Wahrnehmung sich wandelnder Realitäten in den Mittelpunkt und es wird nach der Präsenz
Gottes in diesen Wandlungen gefragt. Was in der Welt passiert,
wird zu einer gravierenden Größe der eigenen Theologie.
Johannes XIII. gibt dem, was damals noch „die Frauenfrage“
genannt wurde, Relevanz in den Fragen, die unweigerlich zur Debatte stehen. Er führt diesen Diskurs nicht weiter aus, aber er öffnet ihm die Tür. So kann dann das Konzil wenig später argumentieren: „Da heute die Frauen eine immer aktivere Funktion im
ganzen Leben der Gesellschaft ausüben, ist es von großer Wichtigkeit, dass sie auch an den verschiedenen Bereichen des Apostolates der Kirche wachsenden Anteil nehmen“ (AA 9).
II. Liminalität in den globalen Umbrüchen der Geschlechterverhältnisse – die Signifikanz und Handlungsrelevanz dieses
„Zeichens der Zeit“
Seit „Pacem in terris“ vor fünfzig Jahren geschrieben wurde, haben sich die Veränderungen im Verhältnis der Geschlechter global
beschleunigt und intensiviert. Auch die wissenschaftlichen Debatten haben sich verändert. So vollzogen die „gender studies“ eine
Verschiebung von „die Frauenfrage“ zu „Genderfragen“. Es geht
nicht mehr um eine Frage (die Gleichberechtigung von Frauen),
sondern um eine Pluralität von Fragen. Und nicht nur Perspektiven von Frauen, sondern auch die von Männern stehen zur Debatte. Dabei wird wissenschaftlich unter „gender“ die soziale Ge170
schlechtsidentität verstanden, die in gesellschaftlichen, kulturellen,
religiösen und politischen Diskursen konstituiert wird – unvermischt, aber auch ungetrennt von „sex“ als das biologische, anatomische Geschlecht, das sich im Körper manifestiert8.
1. Globale Umbrüche im Geschlechterverhältnis –
Liminalität als Merkmal der „Zeichen der Zeit“
Für die heutige Zeit ist die Tatsache signifikant, dass sich im Geschlechterverhältnis globale Umbrüche vollziehen. Dies hebt die
Frauenbewegung als „Zeichen der Zeit“ nicht auf, fasst es aber –
den Veränderungen der letzten Jahrzehnte entsprechend – weiter.
Die Philosophin und Kulturtheoretikerin Luce Irigaray meinte in
den achtziger Jahren: „Die sexuelle Differenz stellt eine der Fragen oder die Frage dar, die in unserer Epoche zu denken ist.“9 Ob
es um „die Frage“ geht, darüber lässt sich streiten, denn man kann
die „Zeichen der Zeit“ nicht gegeneinander ausspielen. Aber eine
entscheidende Frage ist sie zweifellos.
In der Geschichte der Menschheit hat es wahrscheinlich immer
schon Veränderungen in den Lebensmustern, Rollenzuweisungen
und Identitäten von und für Frauen und Männer gegeben. Aber
so massiv und so global, wie die Verwerfungen sich derzeit niederschlagen, geschieht dies erstmalig. Gesellschaftlich fest gefügte
Rollen sind ins Wanken geraten, Grenzen werden in alle Richtungen überschritten, unterlaufen und durchkreuzt: im privaten Lebensbereich von Liebes- und Familienbeziehungen, z. B. wo Paare
versuchen, Familie und Beruf, Kinder und Karriere in Einklang zu
bringen; in der Arbeitswelt, die in Europa völlig neu dasteht, seit
Frauen nicht nur der finanziell ärmeren Milieus mit größerer
Selbstverständlichkeit berufstätig sind; wie die Werbung zeigt,
sind sie ökonomisch schon längst ein Faktor; in der Politik sind
Geschlechterfragen permanent ein Thema überall dort, wo es
um die Verteilung öffentlicher Gelder und die Ausrichtung der
Kultur geht. Sogar die klassischen Institutionen, die über lange
Zeit rein männerbündisch organisiert waren wie z. B. die Mafia10,
8
Einen einführenden Überblick zur Debatte der Geschlechterdifferenz mit ausführlichen Textauszügen bieten Drygala, Anke – Günter, Andrea (Hgg.), Paradigma Geschlechterdifferenz. Ein philosophisches Lesebuch, Sulzbach 2010.
9
Irigaray, Luce, Ethik der sexuellen Differenz, Frankfurt a. M. 1991, 11 (Original:
dies., Éthique de la différence sexuelle, Paris 1984).
10
Vgl. hierzu den Bericht von Karl Hoffmann über Frauen in Führungspositionen
der Mafia, am 7.11.2008 in „Europa heute“, http://www.dradio.de/dlf/sendungen/europaheute/872483/ sowie das etwas reißerisch aufgemachte Buch einer Kronzeugin:
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erleben mittlerweile, dass Frauen in ihre Führungsriegen aufsteigen.
Diese Umbrüche bleiben nicht auf einen Sektor eingeschränkt,
sondern sie greifen global auf Kulturen zu und potenzieren sich rasant im Cyberspace. Internet und andere Medien zeigen auch denjenigen, die noch in strikt patriarchal organisierten Gesellschaften
leben, Möglichkeiten auf, darüber hinauszugehen. Die Umbrüche
in den Geschlechterrollen machen vor kaum einer Haustür Halt,
denn drinnen steht auch in entlegenen Gegenden häufig ein Fernseher, der alternative Handlungsmuster vor Augen führt. Eine
mögliche Realität kennenzulernen, ist der erste Schritt, um diese
in eine tatsächliche zu überführen.
Die Vernetzung der Informationsgesellschaft bietet dem Durchkreuzen sozialer Rollen eine Plattform, die vielfältig und effektiv
genutzt wird. Das Internet ist ein Zeichensystem. Hier sind Menschen nicht daran gebunden, sich mit ihrem biologischen Geschlecht zu präsentieren, sondern sie können mit einem anderen
Namen auf der Sprachebene die sozial gesetzten Grenzen spielerisch überschreiten. Die Frau, die im Alltag einen traditionellen,
schlecht bezahlten Frauenberuf ausübt, kann im Internet ganz andere berufliche Möglichkeiten ausprobieren. Für junge Frauen,
die sich weder von alten Rollen noch von feministischen Zuschreibungen festlegen lassen wollen, scheint dies besonders faszinierend zu sein. Der Soziologe Manuel Castells sagt daher in seiner
Trilogie zum Informationszeitalter, dass die Umbrüche in Geschlechterfragen „die wichtigste Revolution“ des neuen Jahrtausends sei, „weil sie an die Wurzeln der Gesellschaft geht und an
das Herz dessen was wir sind.“11
Rollen und Identitäten brechen auf, zerbrechen oder konstituieren sich neu. Diese tief greifenden Umbrüche gehen nicht ohne
Machtkonflikte vonstatten. Strukturen brechen zusammen, eine
neue Struktur ist noch nicht etabliert – es entsteht gesellschaftlich
und global ein Zustand, den Victor Turner „Liminalität“12 nennt.
Sie bezeichnet eine Schwellensituation, die entsteht, weil Welten
oder Strukturen überschritten werden, ob freiwillig oder erzwungen. Im persönlichen Leben können dies z. B. sein: ein Wechsel
im Beruf, Eheschließung, Emigration, die Geburt eines Kindes,
Vitale, Giuseppina – Costanza, Camilla, Ich war eine Mafia-Chefin. Mein Leben für
die Cosa Nostra, München 2010.
11
Castells, Manuel, Das Informationszeitalter. Band 2: Die Macht der Identität, Leverkusen 2002, 148.
12
Turner, Victor, Das Ritual. Struktur und Anti-Struktur, Frankfurt – New York 2000
(Original: The Ritual Process, Structure and Anti-Structure, 1969).
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der Tod eines geliebten Menschen; im gesellschaftlichen Leben:
Entstehung einer neuen Religion, Konstituierung einer neuen Regierung(sform), Amokläufe, Naturkatastrophen, die überraschende Entdeckung neuer Bodenschätze. Klassische Schwellenwesen
sind Jugendliche in der Pubertät, die nicht mehr zur Welt der Kinder, aber auch noch nicht zur Welt der Erwachsenen gehören. Sie
leben in einer Schwellenzeit, sind hoch emotional, in ihrem Verhalten tief verunsichert, häufig sprachlos und aufmerksam für alles, was ihnen bedrohlich erscheint oder was sie über die Krise hinaus handlungsfähig macht.
Ausgehend vom Geschlechterdiskurs liegt die These nahe, und
dies wäre übergreifend im vorliegenden Band zu diskutieren, dass
es zwischen Liminalität und den „Zeichen der Zeit“ einen inneren Zusammenhang gibt. Die drei „Zeichen der Zeit“, die Johannes XXIII. in „Pacem in terris“ benennt – Arbeiterbewegung,
Frauenbewegung und Völkerverständigung – zeigen sich in Ereignissen, die von Liminalität geprägt sind. Es geht um Umbrüche,
Aufbrüche, gesellschaftlich signifikante Veränderungen, die die
Weichen der Zukunft neu stellen. Auch heutige Amokläufe an
Schulen oder mimetische Gewaltausübung erzeugen Liminalität,
die gesellschaftlich durchschlagend wirksam ist. Auf der Suche
nach den „Zeichen der Zeit“ ist daher eine Aufmerksamkeit für
solche Ereignisse angebracht, die gesellschaftlich von Liminalität
geprägt sind.
Was es bedeutet, wenn ganze Gesellschaften in einen Zustand
der Liminalität geraten, war Anfang 2011 in Nordafrika und dem
Nahen Osten zu beobachten, als im sogenannten „Arabischen
Frühling“ die Welt gleich in mehreren Ländern in Umbruch geriet.
Täglich ereigneten sich Überraschungen von globaler Bedeutung.
Alles geriet in Fluss, wurde in Frage gestellt, befand sich im Aufbruch. Eine Schwellenzeit brach an: bisher fest gefügte, „bombensichere“ Grenzen wurden überschritten, ohne dass jemand sagen
konnte, wohin die Überschreitungen führen würden. Sie könnten
eine neue, demokratische Gesellschaft etablieren. Sie könnten
aber auch in einen Bürgerkrieg führen, der unzählig vielen Menschen Gesundheit, Freiheit oder gar das Leben kosten. Auch in
diesem Zustand der Liminalität waren Geschlechterfragen präsent
und wirksam. Bei den öffentlichen Demonstrationen waren arabische Frauen im deutschen Fernsehen zu sehen und in Interviews
zu hören. Ob sie es auch bis in die neuen Führungsriegen schaffen
werden, wird sich zeigen. Der Umbruch in den Geschlechterverhältnissen schlägt sich hier nieder, auch wenn nicht klar ist, wohin
dieser Umbruch führt.
173
Liminalität im persönlichen oder gesellschaftlichen Leben ist
durch zweierlei gekennzeichnet: sie eröffnet große Chancen, weil
eine alte, nicht mehr tragfähige Struktur aufbricht und Neues möglich wird. Zugleich aber birgt sie ein Gewaltpotential. Eine Struktur zerbricht, die gesellschaftlich von großer Relevanz ist. Rollen
sind nicht mehr klar, eingeübte Verhaltensmuster laufen ins Leere.
Wertvolles kann verloren gehen. Was dieses Phänomen in Bezug
auf die globalen Umbrüche im Geschlechterverhältnis bedeutet,
das hat Judith Butler mit dem Begriff „gender trouble“13 auf den
Punkt gebracht. Leider verharmlost die deutsche Übersetzung
mit „Das Unbehagen der Geschlechter“ die Turbulenzen, Machtfragen, Konflikte und Gewaltpotentiale, die hier ins Wort kommen. Man braucht Butlers theoretischem Gender-Konzept nicht
zu folgen, aber dass es hier nicht nur um ein harmloses Unbehagen
geht, das ist offensichtlich. Und erst, wenn man das Gewaltpotential in den Umbrüchen der Geschlechterverhältnisse nicht verschweigt, kann man es vielleicht begrenzen.
Liminalität in Geschlechterfragen setzen Hoffnungen frei, können aber auch in Verzweiflung enden. Sie lösen Freude aus, sind
aber zugleich oft schmerzlich. Sie lassen die Macht vagabundieren,
stoßen aber auch in Ohnmacht. In Deutschland ist in den letzten
Jahren beispielsweise bezüglich der Erziehungsberechtigung von
Kindern und der Unterhaltszahlung im Trennungsfall geradezu
ein Minenfeld entstanden. Dies kann den Alltag der Betroffenen
völlig ruinieren und geht oft mit tiefsten Verletzungen aller Beteiligten einher. Familiendramen mit tödlichem Ausgang sprechen
darüber hinaus eine eigene Sprache.
Nach den stürmischen Zeiten des Feminismus hat die Aggression in Geschlechterdebatten keineswegs nachgelassen. Ein Blick in
Genderblogs des Internet zeigt dies eindrücklich. Hier wird Gift
und Galle versprüht, wenn es um widersprechende Positionen des
anderen Geschlechts geht. Da wünscht man sich das überraschende Auftreten von Engeln, die in der Bibel mancherorts zwischen
Frauen und Männern vermitteln und so drohende Gewalt
eindämmen – bei Joseph, der Maria wegen einer Schwangerschaft
mit ungewisser Vaterschaft verlassen will (Mt 1,18 –25); bei Tobias,
der sich vor einer Hochzeitsnacht fürchtet, die ihn das Leben kosten könnte (Tob 6,14 –19); bei Hagar, die als Dienstmagd in einer
Dreiecksbeziehung den Kürzeren zieht, vor Gott aber Ansehen
gewinnt (Ri 3,3 –22).
13
Butler, Judith, Gender Trouble. Feminism and the Subversion of Identity, New
York 1990 (dt.: Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt a. M. 991).
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2. Ritualkompetenz als christliche Ressource mit
gesellschaftlicher Relevanz
Umbrüche im Geschlechterverhältnis gehören heute zu jenen säkularen Lebensbedingungen, die als „Zeichen der Zeit“ theologische Relevanz haben. Was zeigt sich, wenn sie im Licht des Evangeliums beleuchtet werden? „Pacem in terris“ gibt auch hier einen
Hinweis, wobei sich zeigt, wie prophetisch diese Enzyklika heute
noch ist. Johannes XXIII. nennt dort nämlich nicht einfach drei
„Zeichen der Zeit“, sondern jene, die für den Frieden in der Welt
relevant sind. In der Tat entscheiden sich in Geschlechterverhältnissen Friedensfragen: privat und öffentlich, sozial und politisch,
kulturell und religiös14.
Aufgabe der Kirche ist es, im Gewaltpotential gesellschaftlicher Umbrüche auf den Frieden hin zu wirken. Wer nach den
„Zeichen der Zeit“ fragt, rückt das in den Mittelpunkt, was in
diesem Sinn heute zu tun ist. Denn Zeichen sind nicht nur dazu
da, etwas zu repräsentieren, sondern um Handlungsmöglichkeiten
zu eröffnen. Für die „Zeichen der Zeit“ gilt dies in besonderer
Weise. Da sich in ihnen etwas Neues zeigt, eine tiefgreifende Veränderung sichtbar wird, haben sie innovatives Handlungspotential. Daher stellt sich die Frage, über welche Ressourcen die Kirche verfügt und was jene „Heilskräfte“ sind (vgl. GS 3), die sie
der Menschheit in den Umbrüchen der Geschlechterverhältnisse
anbieten kann.
Aus fundamentaltheologischer Sicht und im Blick auf die Liminalität zeigt sich die christliche Ritualkompetenz als entscheidender Faktor. Denn wo Liminalität im Spiel ist, da sind Rituale gefragt – diesen Zusammenhang hat Victor Turner überzeugend
herausgearbeitet. Allgemein sind Rituale Praktiken, die mit Hilfe
einer bestimmten Form, mit speziellen Worten und Gesten, in einer von Zerbrechlichkeit gezeichneten Situation die Intensität des
Lebens erschließen wollen. Dies ist auch im Alltag notwendig, der
vielen Zerstreuungen und mancher Gefährdung ausgesetzt ist. Rituale unterbrechen diesen Alltag und geben dem Leben Konzen14
Die Glaubenskongregation hat 2004 darauf hingewiesen, dass die Umbrüche im
Geschlechterverhältnis nicht dazu führen dürfen, dass eine „Rivalität der Geschlechter“ entsteht, „bei der die Identität und die Rolle des einen zum Nachteil des anderen
gereichen.“ (Kongregation für die Glaubenslehre, Schreiben an die Bischöfe der Katholischen Kirche über die Zusammenarbeit von Mann und Frau in der Kirche und in
der Welt. Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 166. Bonn 2004, 6) Dies ist eine
Herausforderung für beide Geschlechter, auch wenn das Schreiben zwei von vier Kapiteln den „fraulichen Werten“ widmet, aber keines den „männlichen Werten“.
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tration, Orientierung und neuen Schwung. Rituale sind praktizierte Lebenskunst.
Über den Alltag hinaus sind Rituale besonders dort vonnöten,
wo sich Liminalität einstellt und wo zerbrechende Strukturen in
neue Lebensräume zu überführen sind. In einer Situation von Liminalität können sie das Gewaltpotential entweder befeuern oder
eindämmen, die Gewalt potenzieren oder ihr den Wind aus den
Segeln nehmen. Rituale haben in bedrohlichen Schwellenerfahrungen ihren Ort. Ehemalige Liebespaare können nicht mehr miteinander reden. Kinder fühlen sich schuldig, wenn ihre Eltern sich
trennen. Auf dem Arbeitsmarkt und in der Politik wird auch zwischen den Geschlechtern mit harten Bandagen gekämpft. Der
Kopftuchstreit hinterlässt Narben in der Gesellschaft.
Die Umbrüche im Geschlechterverhältnis sind eine brisante
Angelegenheit, denn sie eröffnen neue Chancen, machen Menschen aber auch sprachlos und ohnmächtig. In heutigen Kulturen
werden daher die Perspektiven besonders wichtig, die das Christentum aus seiner Ritualtradition einzubringen vermag15. Die Kirche ist eine Gemeinschaft, die sich seit zweitausend Jahren durch
hohe Ritualkompetenz auszeichnet. Sie verfügt über Ressourcen,
die es im Zeichen der heutigen Zeit so zu bearbeiten gilt, dass sie
auf die Herausforderungen der Gegenwart antworten können. Dabei spielen für die Kirche nach innen die Sakramente eine zentrale
Rolle, die mehr sind als reine Rituale16. Sie leben aus der Kraft der
Auferstehung und machen den Osterglauben gegenwärtig: das Leben steht auf aus dem Tod.
Aber auch für die Menschen außerhalb der Kirche kann ihre Ritualkompetenz eine neue Bedeutung gewinnen. Rituale stellen im
Leben von Menschen eine Macht dar, selbst wenn sich diese Menschen als nicht-religiös verstehen17. In Erfahrungen von Liminalität
sind Menschen sensibel für ein Sprechen und Schweigen, das ihnen
in ihrer Sprachlosigkeit bestehen hilft und neue Handlungsfähigkeit
eröffnet – das zeigen die ökumenischen Gottesdienste nach dem
Amoklauf in Erfurt 2002 und in Winnenden 2009.
15
Vgl. Keul, Hildegund, Sprachlos das Wort ergreifen. Das Religionsproblem säkularer Kultur und die Lebensmacht christlicher Rituale, in: Orien. 67 (2003), 239 –244.
16
Vgl. Benzing, Tobias, Ritual und Sakrament. Liminalität bei Victor Turner, Frankfurt 2007.
17
In den Jahren nach der politischen Wende im Herbst 1989 florierte die Jugendweihe weiterhin und hat mittlerweile in den ostdeutschen Ländern zu einer gewissen
Normalität gefunden (Vgl. Gehring, Rolf, Jugendweihe – Streit um eine Erziehungseinrichtung, in: H. M. Griese (Hg.), Übergangsrituale im Jugendalter. Jugendweihe,
Konfirmation, Firmung und Alternativen. Positionen und Perspektiven am „runden
Tisch“, Münster 2000, 83 –104).
176
In dieser Linie einer missionarischen Pastoral, die die Ressourcen des Evangeliums allen Menschen anbieten möchte, hat das
Bistum Erfurt in Deutschland eine Vorreiterrolle. Hier zeigt sich,
wie es gehen kann, die eigene Ritualkompetenz an den Herausforderungen der Gegenwart neu zu justieren und dem Evangelium
damit gesellschaftlich Gewicht zu verleihen. Auf seiner Homepage
präsentiert das Bistum „Innovative Projekte“18. Eine „Feier der
Lebenswende. Für Jugendliche, die keiner Konfession angehören“
bietet eine Alternative zur Jugendfeier, um in der Liminalität der
Pubertät den Weg ins Erwachsensein zu finden. Ein monatliches
Totengedenken für Christen und Nichtchristen gibt der Trauer
um Menschen, die anonym, weit entfernt oder gar nicht bestattet
wurden, im Ritual einen Ort. In Bezug auf Geschlechterfragen ist
der Segnungsgottesdienst am Valentinstag besonders interessant,
zu dem alle Menschen eingeladen sind, „die partnerschaftlich unterwegs sind“. „Der Gottesdienst ist ein Angebot, sich der Freundschaft, der gemeinsamen Liebe und Partnerschaft von Mann und
Frau erneut bewusst zu werden und sie durch Gottes Segen zu
stärken“, besagt die Homepage. Der am 14.2.2000 erstmals ökumenisch gefeierte Gottesdienst hat sich erstaunlich schnell ausgebreitet, wird heute an vielen Orten Deutschlands gefeiert und
findet auch im europäischen Ausland Aufmerksamkeit19.
III. Fundamentaltheologie im Zeichen der Gegenwart –
neue Gravuren machen die Botschaft des Evangeliums lesbar
Zeichen der Zeit sind signifikant für die Gegenwart. Sie sind eine
sprachliche Herausforderung, denn es gilt zu benennen, was spezifisch für diese Gegenwart ist: was sie „auszeichnet“. Daher reicht
es nicht aus, bestimmte Ereignisse in den Blick zu rücken. Entscheidend ist vielmehr, die Signifikanz und Handlungsrelevanz
dieser Ereignisse zu benennen. „Zeichen der Zeit“ erfordern Aufmerksamkeit und Sprachfähigkeit. Dies zeigt der vorliegende
Band in besonderer Weise: Es wird sprachlich darum gerungen,
was genau die Zeichen der Gegenwart sind. Was bedeutet das,
was sich zeigt, und inwiefern ist es handlungsrelevant? Wo dies offen diskutiert wird, entwickelt die Theologie Sprachfähigkeit in
den Fragen der Gegenwart.
18
www.bistum-erfurt.de/front_content.php?idcat=1963.
Vgl. Arbeitsgemeinschaft katholischer Familienbildung (Hg.), Weil Liebe uns beflügelt. Segensgottesdienste am Valentinstag, Bonn 2007.
19
177
Indem die Fundamentaltheologie ihre Aufmerksamkeit auf die
Gegenwart lenkt, nach der Signifikanz von Schlüsselereignissen
fragt und in der konkreten Benennung der „Zeichen der Zeit“
Sprachfähigkeit entwickelt, erfährt sie ihr eigenes Aggiornamento.
Sie wird zu einer Fundamentaltheologie im Zeichen der Gegenwart. Dieser Prozess ist kein Selbstzweck. Er dient dem Evangelium, denn im Zeichen der Gegenwart gewinnt die Botschaft des
Evangeliums Lesbarkeit. Der biblische Auftrag lautet: „Bedenkt
die gegenwärtige Zeit: Die Stunde ist gekommen, aufzustehen
aus dem Schlaf.“ (Röm 13,11) Wenn die systematisch-theologischen Debatten sich von den „Zeichen der Zeit“ gravieren lassen,
können sie dem Evangelium gesellschaftlich Gewicht verleihen.
1. „Zeichen der Zeit“ tragen ihre Gravuren in theologische Diskurse
ein – das Aggiornamento der Fundamentaltheologie
Zeichen lassen sich benennen und tragen so ihre Gravuren in eine
Sprache ein. Sie gehen nicht spurlos an dem vorbei, was man zu
sagen hat, sondern sie schreiben sich dort ein. Aus diesem Grund
verwende ich das Wort „Gravuren“, um zu benennen, welche Bedeutung die „Zeichen der Zeit“ für die Fundamentaltheologie haben. Es sind diese Gravuren, die ihr Aggiornamento ausmachen.
Denn mit der Bibel, der Dogmen- und Theologiegeschichte sind
bereits reiche Ressourcen vorhanden. Wo nun die „Zeichen der
Zeit“ ihre Gravuren in diese Ressourcen eintragen, da wird die
Theologie gegenwärtig. Der Prozess des Aggiornamento, des Gegenwärtig-Werdens, läuft über die „Zeichen der Zeit“. Denn mit
den Gravuren werden die Fragen, Themen und Anliegen der Gegenwart in die vorhandenen Ressourcen eingetragen, so dass diese
auf Fragen der Gegenwart antworten können. Dass dies die Aufgabe der Fundamentaltheologie ist, zeigt ihr biblisches Leitwort
1 Petr 3,15: nicht auf Fragen zu antworten, die niemand gestellt
hat, sondern sich den vielleicht überraschenden, zweifelnden, angreifenden, neugierigen, abwehrenden, drängenden Fragen der
Gegenwart zu stellen. Wo sich die Fundamentaltheologie dieser
Gravur verweigert, wird sie sprachlos in Fragen der Gegenwart,
auch wenn sie viele Worte macht. Wo sie sich hingegen den „Zeichen der Zeit“ stellt, wird gewinnt sie Sprachfähigkeit.
Die Gravuren, die die „Zeichen der Zeit“ in die theologischen
Diskurse einschreiben, machen das Evangelium nicht nur für den
inneren Zirkel der Theologie, sondern auch gesellschaftlich überhaupt erst lesbar. Es kann in gesellschaftlichen Debatten zum Thema werden und zum Tragen kommen. „Zeichen der Zeit“ stellen
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damit vor die Gretchenfrage der Fundamentaltheologie: Was hat
man zu sagen, wofür sich fragende Menschen auch interessieren
und was ihnen dazu verhilft, eigene Antworten zu finden? Womit
kann man dem Evangelium in der heutigen Zeit Gewicht verleihen, so dass es den Menschen dieser Zeit auch dient?
Gegenwart aber konfrontiert mit Überraschungen. Was sich ereignet, ist noch nicht in Geschichtsbüchern verzeichnet. Es kann
alles ganz anders kommen, als es zu erwarten war – wie die Umbrüche im Herbst 1989 in Ostdeutschland und Anfang 2011 in
Nordafrika eindrücklich zeigen. Zudem geht es bei „Zeichen der
Zeit“ um etwas, das die Theologie nicht selbst in der Hand hat
und nicht selbst entscheiden kann. Es geschieht und ist signifikant. Dies zeigt sich an den Geschlechterumbrüchen als „Zeichen
der Zeit“. Auch hier kann die Theologie nicht einfach von sich
her die Themen bestimmen, die zur Debatte stehen, sondern
muss sich mit solchen Fragen auseinandersetzen, die den Menschen heute unter den Nägeln brennen. Das ist herausfordernd,
auch wenn sich zum Beispiel die neue Generation junger Frauen
nicht mehr für Positionen feministischer Theologie interessiert
und ihre eigenen Themen sucht. „Zeichen der Zeit“ fordern
neue Positionierungen und unter Umständen einen Wechsel in
den eigenen Standpunkten, wie Johannes XIII. dies getan hat. Es
führt in heikle Fragen hinein, die eigene Positionen auf den Prüfstein stellen, die aber auch ihre Stärken ganz neu zum Tragen
bringen können.
Ein zentrales Thema gegenwärtiger Geschlechterdebatten ist
Verwundung und Verletzlichkeit – was angesichts des Gewaltpotentials von Liminalitätserfahrungen nicht überrascht20. Zugleich ist Verwundbarkeit ein klassisches Thema der Theologie,
denn in ihrem Mittelpunkt steht Jesus Christus, der Mensch, in
dem Gott Fleisch und Blut angenommen hat. Dieser Jesus aber
ist verwundbar und er wird tatsächlich verwundet, wird gegeißelt,
gefoltert, ans Kreuz geschlagen. Gott schafft also nicht nur eine
verwundbare Welt, sondern in Jesus Christus macht sich Gott
selbst verwundbar. Sowohl in der Theologie als auch in säkularen
Geschlechterdebatten ist Verwundbarkeit demnach ein zentrales
Thema. Eine Theologie, die nach den „Zeichen der Zeit“ fragt,
20
„Verletzbarkeiten“ lautete das Thema der ersten Jahrestagung der Fachgesellschaft Gender Studies Association am 21.–22.1. 2011, LMU München (http://www.fggender.de/wordpress/wp-content/uploads/2010/11/Flyer_Jahrestagung_Verletzbarkeiten.pdf). Die 5. Fachtagung des „Netzwerks geschlechterbewusste Theologie“
diskutierte kurz darauf über „Sexualität Geschlechter Gerechtigkeit. Dialoge zur
Fleischwerdung der Theologie“, Frankfurt, Juni 2011 (www.netzwerk-ngt.org).
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kann solche Debatten, die einander eher fremd und befremdlich
gegenüber stehen, miteinander ins Gespräch bringen21.
2. Die innere Verbundenheit der „Zeichen der Zeit“ –
erst miteinander ergeben sie ein Bild der Gegenwart
Wenn man sich mit Geschlechterperspektiven befasst, so wird Eines besonders deutlich: Die „Zeichen der Zeit“ sind nicht voneinander isoliert, sondern miteinander verbunden. Sie verweisen
aufeinander, denn sie markieren signifikante Punkte, die zusammen das Profil einer geschichtlichen Situation zeichnen. Daher
gilt es, die „Zeichen der Zeit“ miteinander in Beziehung zu setzen,
damit sie sich gegenseitig beleuchten können. Da dies eine Aufgabe des vorliegenden Tagungsbandes ist, möchte ich abschließend auf solche Verbindungslinien hinweisen.
1. Die Amokläufe an Schulen22 sind von Geschlechterfragen
durchzogen. In Winnenden hat der Täter wahrscheinlich gezielt
auf weibliche Personen geschossen: in der Schule hat er acht Schülerinnen, einen Mitschüler und drei Lehrerinnen getötet23. Mädchen und Frauen sind nach wie vor Opfer von Gewalt, die Männer
ausüben. Zugleich birgt die Liminalität des Umbruchs ein Gewaltpotential, das beide Geschlechter betrifft und für beide eine
Herausforderung darstellt. Es ist zu befürchten, dass die Veränderungen im Geschlechterdiskurs die Ausübung von öffentlich
wahrnehmbarer Gewalt durch Frauen erleichtert. Auch die sogenannten „Schwarzen Witwen“ in Tschetschenien oder die Selbstmordattentäterinnen in Palästina sind Teil des Umbruchs, denn
traditionell waren diese Formen von Gewalt für Frauen undenkbar. Aber bereits das dritte Schulattentat in den USA, das weltweit Aufmerksamkeit erregte, wurde von einer jungen Frau, der
16-jährigen Brenda Ann Spenser, verübt, die 1979 an einem Montag in San Diego zwei Menschen tötete und neun Menschen verletzte. Als Grund nannte sie: „I don’t like Mondays. This livens
up the day.“ Dies erinnert an archaische Rituale: Aus einem Menschenopfer saugt die Opfernde eigene Lebensenergie. Das Sacrifice wird in der Hoffnung dargebracht, dass die Tötung anderer
die Intensität des eigenen Lebens steigert, ganz im Sinne dessen,
21
Ein Buch, dem dies hervorragend gelingt, ist: Frettlöh, Magdalene L., Gott Gewicht
geben. Bausteine einer geschlechtergerechten Gotteslehre, Neukirchen 2006.
22
Vgl. hierzu den Beitrag von Gregor Maria Hoff in diesem Band.
23
Vgl. den Bericht „Tim K. tötete vor allem Mädchen und Frauen“, www.n24.de/
news/newsitem_4896208.html. Wahllos hat der Attentäter erst außerhalb der Schule
geschossen.
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was George Bataille „efferversence de la vie“ nennt24. Die Alterität des Evangeliums Jesu, der beim Letzten Abendmahl nicht gewaltsame Rache einfordert, sondern zum Teilen von Brot und
Wein einlädt25, ist offensichtlich.
2. Die Umbrüche im Selbstverständnis von Frauen und Männern führen in Europa zu tektonischen Verschiebungen in der Arbeitswelt, und zwar auf allen Feldern der Erwerbs-, Familien- und
ehrenamtlichen Tätigkeit. Dieser Umbruch vollzieht sich langsam,
aber nachhaltig, und er betrifft Gesellschaft und Kirche, Wissenschaft und Kultur, Politik und soziales Leben. Nicht zuletzt das
„Europäische Jahr der Freiwilligentätigkeit 2011“, dessen Internetauftritt auf Geschlechtergerechtigkeit in der öffentlichen Sichtbarkeit von Freiwilligentätigkeit achtet26, legt Zeugnis hierfür ab.
3. Wer sich mit Frauenperspektiven befasst, kann Fragen nach
Armut und Reichtum in einer Gesellschaft nicht ausblenden.
Hier beziehe ich mich gern auf den Beitrag von Margit Eckholt.27
Armut ist vielerorts weiblich – dies gilt mitten in den globalen Abhängigkeiten der Weltwirtschaft nach wie vor, da mehr als siebzig
Prozent der Menschen, die weltweit in extremer materieller Armut leben, Frauen sind. Alleinerziehend zu sein, birgt heute in
Deutschland noch immer ein erhebliches Armutsrisiko. Zugleich
ist aus der Perspektive von Frauen zu erweitern, dass es Armut
nicht nur in finanzieller Hinsicht gibt. Vielmehr haben Armut
und Reichtum viele Gesichter. Sie betreffen soziale Beziehungen,
Bildungschancen, Teilhabe an Kultur und Wissenschaft, Gesundheitsversorgung, Erwerbs- und Ehrenamtsarbeit, und insbesondere Verletzungen der Menschenwürde. Das Bedrängende ist, dass
Armut leicht in einen Teufelskreis hineinführt, wo z. B. eine
schwere Krankheit weitere Formen der Armut nach sich zieht,
bis kaum noch Lebensressourcen vorhanden sind.
Fragen nach Armut und Reichtum stellen sich aus Geschlechterperspektive in ihrer tiefgreifenden Bedeutung. Wo machen
Menschen welche Erfahrungen mit Armut – und welche Reichtümer stehen ihnen zur Verfügung, die sie befähigen, in diesen
Armutserfahrungen zu bestehen? Welche Ressourcen – z. B. finanziell, materiell und kulturell – hat eine Gesellschaft zur Verfügung? Und was ist hier der spezifische Auftrag der Kirche? Wel24
Vgl. Bataille, Georges, Theorie der Religion, München 1997.
Vgl. hierzu Keul, Hildegund, Ritual und Sakrament. Die Eucharistie im Zeichen
missionarischer Pastoral, in: W. Haunerland (Hg.), Mehr als Brot und Wein. Theologische Kontexte der Eucharistie, Würzburg 2005, 263 –281.
26
Vgl. http://europa.eu/volunteering/de/home2.
27
Vgl. hierzu den Beitrag von Margit Eckholt in diesem Band.
25
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che theologischen und spirituellen Ressourcen kann sie den Menschen anbieten, damit sie in Erfahrungen von Armut nicht untergehen? Christliche Ressourcen sind reich vorhanden. Aber es gilt
sie gezielt zu bearbeiten, damit sie in den Fragen der heutigen Zeit
auch verwendbar sind.
Im Zeichen der Gegenwart rücken Frauen und Männer in den
Blick: Ihre Trauer um zerbrochenes Leben; ihre nur zu berechtigte
Angst vor Krieg oder alltäglichen Gewalterfahrungen; ihre Hoffnung auf wachsende Gerechtigkeit und ihre Freude an erfülltem
Leben. Was in der Gegenwart geschieht und für diese signifikant
ist, das ist eine herausfordernde Größe für die Theologie. Für Geschlechterfragen gilt dies in besonderer Weise, denn sie bewegen
sich vielerorts noch im Außen dessen, was in der Systematischen
Theologie als relevant diskutiert wird28. Aber die Theologie kann
ihnen nicht ausweichen, ohne einen Autoritätsverlust zu erleiden.
Wenn die Fundamentaltheologie den signifikanten und daher
handlungsrelevanten „Zeichen der Zeit“ folgt, wird sie zu einer
Fundamentaltheologie im Zeichen der Gegenwart. Sie nimmt die
Herausforderungen des Aggiornamento an und geht Geschlechterfragen in ihren Umbrüchen, in ihrer Komplexität und Verbundenheit mit anderen „Zeichen der Zeit“ nach. Auf diesem Weg hat
sie die Chance, in heutigen Fragen Sprachfähigkeit zu gewinnen
und Gravuren des Evangeliums in die Umbrüche der Gesellschaft
einzutragen.
28
Dies benennt Margit Eckholt sehr deutlich in: „Ohne die Frauen ist keine Kirche
zu machen!“ – Ein Zeichen der Zeit endlich wahrnehmen, in: P. Hünermann (Hg.),
Das Zweite Vatikanische Konzil und die Zeichen der Zeit heute, Freiburg i. Br. –
Basel – Wien 2006, 103 –115.
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