Das Lehenswesen im Mittelalter
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Das Lehenswesen im Mittelalter
Das Lehenswesen im Mittelalter (öffentlicher Vortrag im Fridtjof- Nansen- Haus Ingelheim vom 29,Okt.1987; 2012 mit einem kleinen Anmerkungsapparat versehen) „Wo sind sie, die englischen Bogenschützen, wo? Zeige mir den Weg, Knappe, damit ich ihnen im ritterlichen Kampf zeigen kann, was mein Schwert vermag.“ Das oder Ähnliches wird der mit Frankreich gegen England verbündete böhmische König Johann der Blinde, der Vater Karls IV., in der Schlacht von Crecy 1346 gerufen haben, als er sich mit blank gezogenem Schwert gegen eine Batterie englischer Langbogenschützen und Kanonen hatte führen lassen. Doch die Zeit des ritterlichen Kampfes mit Schwert und Stoßlanze, die Zeit der Panzerreiter, war schon längst über den militärtaktischen und waffentechnischen Neuerungen des 14. Jahrhunderts nach 600jähriger Bewährung überholt. Was seit den Tagen der Karolingerkönige bei der Kriegsführung selbstverständlich war, das alles war in jener ersten großen Landschlacht des 100jährigen Krieges zwischen Frankreich und England am Vorabend der Pest überholt. Die Pfeile der zwei Meter langen englischen Bogen durchschlugen die Ritterrüstungen noch auf 200 Meter Entfernung. Was hier an einem waffentechnischen Beispiel gezeigt werden soll, das spiegelt sich in fast allen Bereichen der Kriegsführung. An die Stelle des feudalen Heerbanns sind längst Söldnerheere getreten. Eidgenössische Kriegshaufen, keine Ritter, sondern Schweizer Bauern, holen bei Morgarten und Sempach 1315 und 1386 reihenweise die habsburgischen Ritter von ihren Pferden, um die Fremdherrschaft abzuschütteln und um sich als Eidgenossenschaft zu emanzipieren. Städte blühen auf und mit ihnen der Handel und die ihn tragende Kaufmannschaft, die sich in Gilden organisiert, und machtvolle Zünfte entstehen; und unter dem Einfluss von Gilden und Zünften nehmen Ansehen und Einfluss der Städte ständig zu. Daneben werden die Landesherren immer mächtiger; sie formen Ritter, Bauern und Bürger ihres Machtbereiches –trotz aller bestehender sozialer ständischen Abstufungenzu Untertanen, sie mediatisieren diejenigen, die in ihrem Machtbereich einst sich des Status der Reichsunmittelbarkeit erfreuten. Und wer kennt nicht als Paradebeispiel dieser im 14.Jahrhundert schon in Blüte stehenden Entwicklung den knorrigen Götz von Berlichingen und seinen höfisch mediatisierten Gegenspieler Weislingen? Auch hier in Ingelheim spüren die Ritter, dass ihre Reichsunmittelbarkeit vom neuen kurpfälzischen Landesherren seit 1375 bedroht ist. Vergeblich betonen sie ihre Privilegien gegen die Anschläge des Landesherren. Sie schließen sich ständisch gegen die politischen und ökonomischen Ansprüche der Ingelheimer Bürgerschaft zunehmend ab und verdrängen nach und nach die nichtritterlichen Schöffen aus dem Oberhof. Vergeblich verstärken sie gegen die Kanonen, Büchsen, Armbrüste und Langbogen ihre ritterlichen Rüstungen. Zusammenfassend heißt das: An der Wende von Hoch- und Spätmittelalter, also spätestens um 1350, sieht sich der Feudaladel in einer misslichen Situation und versucht gegen die allseits spürbaren Entwicklungen Abwehrmaßnahmen zu ergreifen. 1 Und was für den Feudaladel gilt, spiegelt sich auch am Bedeutungswandel der altehrwürdigen Institution des Lehenswesens an sich, das sich in seiner bisher rund 600jährigen Geschichte auf sich immer komplizierendere Weise dynamisch entfaltet hat und das die ökonomische, soziale, rechtliche und kulturelle Grundlage ritterlichen Lebens bildete. Am Ende seiner alles überragenden Bedeutung für die Beziehungen zwischen adeligen Menschen beginnt man dann, das Lehensrecht aufzuzeichnen so in der Zeit des Stauferkaisers Friedrich II. im 13.Jahrhundert, ab jetzt wird das Lehensrecht systematisch erfasst. Eike von Repkow veröffentlicht den Sachsenspiegel; andere Feudisten –wie man die Lehensrechtssystematiker nennt- wie Bracton in England und Beamanoir in Kronfrankreich verfassen Lehenshandbücher. Und bis dahin hat das Lehenswesen, das wir hier vom Ende her aufzäumen, mit seinem gesamten begrifflichen Repertoire die Facetten ritterlich- höfischen Lebens geprägt, insbesondere das wirtschaftlich- soziale Umfeld des Ritters, seinen zwischenmenschlichen Bereich zwischen Liebe und Dienst, seine religiöse Welt und die Welt des Rechts sowie seine kulturellen Lebensgebärden. Zûht, hoher mûot, triewe, êre, dienst: wir kennen diese unentbehrlichen Bestandteile der ritterlich- kriegerischen Lebensordnung aus dem KönigArtus- Kreis, den Geschichten seiner Ritter von der Tafelrunde, vom Nibelungenlied und von den weiteren großen Epen jener Zeit, von Helden wie Erec, Parzival und Tristan, aus den Werken Hartmanns von Aue, Wolframs von Eschenbach und Gottfrieds von Straßburg und anderen Zeitgenossen des 13.Jahrhunderts. Wir kennen sie vom Minnesang, der mittelalterlich- höfischen Liebeslyrik. Ein Kreuzritter eroberte nach seinem Selbstverständnis mit Jerusalem nicht nur den Ort österlich- christlichen Heilsgeschehens zurück, sondern auch die Burg seines obersten Lehensherrn, also: die Burg Christi, als dessen Lehensmannen sich die miles Christi verstanden. Aus den Reihen der miles Christi entstehen einflussreiche Ritterorden. Sie haben ihr ritterliches Kriegshandwerk in den Dienst einer ethisch- religiösen Zielsetzung gestellt. Auch der rechtliche und wirtschaftlich- soziale Raum wird bis an die Tore des 19. Jahrhunderts maßgeblich vom agrarischen Feudaladel bestimmt, insbesondere die Grundherrschaft, das rechtlich- wirtschaftlich- soziale System, in dem die Bauern personenrechtlich unfrei, schollenpflichtig und zahlreichen weiteren Beschränkungen unterworfen waren, wo sie den Boden bearbeiteten, Frondienste leisteten und mit ihren Abgaben dem adeligen Grundherren ein ritterliches, später ein höfisches oder wenigstens ein gutsherrliches Leben zu ermöglichen. Denken wir, um ein letztes Beispiel zu nennen, an die partikularistische Tendenz im Lehenswesen, die Zerstückelung des Landes, die vielen hundert Herrschaften, die das alte Römische Reich bis 1806 hat dahinsiechen lassen. Denken wir an die Geschichte der gegenwärtigen Kunstländer Deutschlands, so etwa an RheinlandPfalz oder an die Bürger von Schaumburg-Lippe, die per Volksentscheid aus dem Bundesland Niedersachsen ausscheiden können. Wir sehen: unser föderalistischer Staat ist auch ein Resultat lehensrechtlicher Erbteilungen. 2 Jetzt haben wir einiges vom Einfluss des Lehenswesens auf die Menschen der höfischritterlichen Welt, und zwar auf alle ihre Lebensbereiche, gehört. Es wurde zu zeigen gesucht, dass die Dynamik dieser sich freilich beständig wandelnden Institution aus den Tagen der Karolinger sich im 13./14. Jahrhundert verbraucht hatte; sie wurde bedroht von den neuen Rechtsräumen der Zeit wie Landesherrschaft, Stadtwesen, von militärischen und taktischen Neuerungen, die die ritterlichen Träger des Lehenswesens zu Abwehrmaßnahmen bzw. zur Anpassung an die neuen Gegebenheiten nötigten. Im Folgenden wollen wir anhand einiger Grundfragen in das Phänomen dieser gesellschaftlich prägenden Institution des Lehenswesens eindringen. Im Einzelnen fragen wir uns ganz klassisch: Was ist das Lehenswesen? Wie entwickelt es sich? Wie kommt eine Lehensbeziehung zustande? Auf welcher ethischen Grundlage steht eine solche Lehensbeziehung? Warum und seit wann gibt es das Lehenswesen überhaupt? Schließlich: Wie hat das Lehenswesen den Staatsaufbau im Heiligen Römischen Reich und wie in Frankreich und in England beeinflusst? Was also ist das Lehenswesen?1 Das ist die Frage nach seiner Definition. Wie wir im vorwissenschaftlichen Raum beobachten können, wird der Begriff selten klar gefasst; häufig genug wird er mit dem eigentlich weiteren Begriff des Feudalismus synonym gebraucht. Das geschieht in den Schulbüchern, wenn da eine Pyramide abgebildet wird, mit dem König an der Spitze, darunter dem Adel und unten mit den Bauern als Bodensatz des Bildes. Das geschieht aus ideologischen Gründen, beispielsweise in der marxistischen Geschichtsschreibung. Das mag genügen. Der belgische Historiker F.L. Ganshof hat seinerzeit in seinem vielfach übersetzten und immer wieder neu aufgelegten Büchlein aus dem Jahre 1961: „Was ist das Lehenswesen?“ eine von der Forschung allgemein akzeptierte technisch- juristische Definition vorgeschlagen. Demnach ist das Lehenswesen eine Gesamtheit von Institutionen, die zwischen einem Freien, genannt Vasall, und einem anderen Freien, genannt Herr/Seigneur, Verbindlichkeiten zweifacher Art schafft und regelt, und zwar: - Gehorsam und Dienst, Rat und Hilfe, insbesondere Waffendienst, auf Seiten des Vasallen gegenüber dem Herren/dem Seigneur - Unterhalt und Schutz auf Seiten des Herrn/Seigneur gegenüber seinem Vasallen, wobei der Unterhalt zunehmend durch die Verleihung eines Gutes –Lehen genanntmit Herrschaftsrechten über Land und Leute geschieht. Das Lehensverhältnis zwischen zwei Freien ist ein grundsätzlich unkündbares wechselseitiges Vertragsverhältnis auf Lebenszeit. Es bedarf beim Tode von Herr oder Vasall der Erneuerung. Es gründet sich auf gegenseitige Treue und bezieht zunächst noch ungemessene Leistung und Gegenleistung aufeinander. Im 9. Jahrhundert also ist der Waffendienst oder der sonstige Dienst zeitlich noch nicht begrenzt und an keine anderen einschränkenden Bedingungen geknüpft. Den Dienst entlohnt der Herr mit einem beneficium/feudum 2. Er will 1 5 Vgl.: Francois Louis Ganshof: Was ist das Lehenswesen?“ 1944 Darmstadt (1977). Fränkisch: fehu-od bezeichnet zunächst Vieh oder Gut, dann: Fahrhabe von einigem Wert, dann: etwas, was zum Unterhalt des Vasallen dient; vgl.: Marc Bloch: „La société féodale; nach Gabshof Seite 116 kommt 2 3 damit seinen Vasallen in den Stand versetzen, seinen Lehenspflichten nachzukommen. Immerhin sind Pferd und Rüstung sowie deren Unterhalt teuer. Auch das Leben am Hof des Herrn bzw. die notwendigen Kriegsertüchtigungsübungen des Vasallen bedingen, dass der Vasall versorgt werden muss. Feudalismus dagegen bezeichnet viel allgemeiner als Lehenswesen die ganze Gesellschaftsform, die insbesondere mit ihren ausgeprägten Abhängigkeitsverhältnissen auch über den Bereich der ritterlich- höfischen Kriegerkaste hinaus in den Bereich der bäuerlichen Grundherrschaft ragt. Feudalismus bezeichnet also die eher allgemeinpolitischen und sozialen Verhältnisse und damit viele Elemente der mittelalterlichen Welt, die außerhalb des Lehenswesens existieren. Wie entwickelt sich das Lehenswesen über die Jahrhunderte? Zu Klärung dieser Frage mag man sich in die Psyche eines Vasallen versetzen. So wie jeder andere will ein Vasall, so gut es geht, leben. Er will seine Ehepartnerin und seine Kinder versorgt wissen, er will Sicherheit in der Lehensbeziehung mit seinem Seigneur, Begrenzung, Verdinglichung der eigenen Leistungen, Sicherheit über seinen Tod bzw. des Todes seines Herrn hinaus. Zunächst aber ist man verpflichtet, dem Aufgebot des Herren jederzeit und an jedem Ort solange zu folgen, bis der Herr die Leistung des Vasallendienstes nicht mehr in Anspruch nehmen will. Dafür wurde der Vasall zeit seines Lebens bzw. des Lebens des Herrn beispielsweise mit vier Hufen (das sind 4x40 Ar oder 4x 160 Morgen oder 4x 4000 m2) Land samt Leuten belehnt, das z.T. direkt durch Frondienste der Bauern und z.T. durch die Bauern gegen Abgaben bewirtschaftet wurde. Im Falle des Todes eines der zwei Vertragspartner freilich wird der Lehensherr bzw. sein Nachfolger das Lehen ggf. einem anderen Vasallen geben. Die rechtliche Unsicherheit des Vasallen drängt deshalb auf die Besserung der unbefriedigenden Bedingungen des Lehensverhältnisses, auf Verrechtlichung und auf Verdinglichung des Lehensdienstes bzw. auf die Erblichkeit des Lehensverhältnisses. Es geht also darum, die Verbindlichkeiten gegenüber dem Lehensherrn zu begrenzen, zu verrechtlichen und die Lehensbeziehung beider weniger auf das abstrakte personenrechtliche Vertragselement zu beziehen, sondern vielmehr auf das sichtbare sachenrechtliche Element, das Lehen. So wird im Hochmittelalter beispielsweise eine 40- Tages- Regel für die maximale Leistung des Lehensdienstes üblich, so etwa um 1050 in der Normandie und im 12.Jahrhundert auch in Deutschland. Auch feste Kontingente werden im 12. Jahrhundert üblich, man begrenzte also die kostspielige bisherige Praxis die Anzahl der Untervasallen, die man auf Verlangen des Herrn aufbieten musste, um seinen Lehenspflichten nachzukommen. Und war man einmal nicht in der Lage, einem Lehensaufgebot des Herren zu feudum, fevum in Quellen des späten 9.und 10.Jahrhunderts im Languedoc vor, es überschreitet die Loire um 1000, taucht gleichzeitig in Burgund auf und ist im frühen 11.Jahrhundert in Lothringen nachweisbar, 1087 ist im Hennegau von einem beneficium die Rede „quod vulgo feudum dicitur“; noch 1159 gibt es Schwierigkeiten, siehe den Aufsatz von Walter Heinemeyer: „Beneficium non feudum, sed bonum factum.“ In: Archiv für Diplomatik 15 (1969). 4 folgen, wurde man zu einer Geldentschädigung veranlagt (scutagium, Schildgeld). Zunehmend werden mit der Zeit somit alle Eventualitäten geregelt, für was und warum die Vasallen ihren Herren Geldleistungen zu erbringen haben, wann und warum sie ihre Burg öffnen müssen u.s.w., wann, wo und wie oft sie am Hof des Herrn erscheinen müssen, um beispielsweise im Lehensgericht des Herrn mit ihrem Rat zur Verfügung zu stehen. 3 In der Karolingerzeit durfte ein Vasall bestenfalls auf ein beneficium hoffen, er hatte also keinen Rechtsanspruch auf die Art des Unterhalts seiner Person und erhielt vielleicht ein Lehen, weil er sich als Vasall seines Herrn beim Waffendienst verdient gemacht hat; im 12.Jahrhundert dagegen wird man Vasall, wenn man ein Lehen bekommt. Man leistet dann auch Dienst nach Maßgabe, also nach Quantität und Qualität des Lehens. Man nimmt gar Lehen von verschiedenen Herren angesichts aller Verwicklungsmöglichkeiten, wenn z.B.: die beiden Herren selbst in Fehde liegen, was seinerzeit noch Karl der Große ausdrücklich verboten hatte. Auch wird die Lehensbeziehung zunehmend erblich; der ungeschmälerte Genuss der Nutzungsberechtigungen am Lehen durch die Hinterbliebenen wird im 12. Jahrhundert selbstverständlich. Die Erblichkeit eines Lehens kann zusätzlich Probleme bereiten, wenn keine lehensfähigen Erben vorhanden sind, so beispielsweise minderjährige Erben, Frauen und Erben zur gesamten Hand (Parage). Diesen ganzen Prozess nennt die historische Fachsprache: Verdinglichung der Lehensbeziehung. Das soll heißen: Der Rechtsgrund für eine Lehensbeziehung ist jetzt zunehmend weniger die Vasallität, sondern vielmehr das Lehen. Man sucht weniger Schutz und Unterhalt gegen eine Bedrohung von dritter Seite, vielmehr will man seinen Besitzstand mehren. Was zählt, ist, was sich materiell auszahlt. Wie gehen Herr und Vasall eine Lehensbeziehung ein? Wie man ein solches Rechtsverhältnis eingeht, zeigt ein Text Galberts von Brügge zu 1127 besonders anschaulich. Es geht da um den Eintritt der Vasallen des ermordeten Grafen Karls des Guten von Flandern in die Vasallenschaft Wilhelms von der Normandie, Karls Nachfolger in der Stellung eines Grafen von Flandern:4 - „Zuerst leisteten sie ihm auf die folgende Weise Mannschaft [das hominium}: o Der Graf fragte den künftigen Vasallen, ob er ohne Vorbehalt sein Mann werden wolle und dieser antwortete: „Volo“ o Alsdann umschloss der Graf die zusammengelegten Hände des anderen mit seinen Händen [immixtio manuum] o Und sie besiegelten den Bund durch einen Kuss [osculum]5 3 Zur vielfältigen Ausprägung lehensrechtlicher Beziehungen seit der Stauferzeit vgl. die kompakte Studie von Karl- Heinz Spieß: „Das Lehenswesen in Deutschland im hohen und späten Mittelalter.“ Idstein 2002; vgl. auch die Habil Schrift von Karl- Friedrich Krieger: „Die Lehenshoheit der deutschen Könige im Spätmittelalter (ca.1200 – 1437).“ Untersuchungen zur deutschen Staats- und Rechtsgeschichte NF 23. Aalen 1979. 4 Galbert von Brügge: Histoire du meutre de Charles le Bon, Compte de Flandre.“ (hrsg. von H. Pirenne) Paris 1891, Kap.56 Seite 89; dazu: Ganshof Seite 72. 5 vgl.: die Einsetzung des Abtes Notger von Sankt Gallen durch Kaiser Otto I. in: Ekkehard IV. von Sankt Gallen: „Casus Sancti Galli.“ zu 971 in: Fr.- v.- St.- Ged.- Ausgabe Band 19 Darmstadt 1980 S.248ff, bes. Seite 258. 5 - - Zweitens gab derjenige, der Mannschaft geleistet hatte, dem Vorsprecher des Grafen mit folgenden Worten sein Treueversprechen [Fidelitas]: o Ich verspreche bei meiner Treue, von nun an dem Grafen Wilhelm treu zu sein o Und ihm gegen alle anderen meine Mannschaft unwandelbar zu erhalten, aufrichtig und ohne Trug. Drittens bekräftigte er seinen Eid, den er auf die Reliquien der Heiligen leistete.6 Dann gab der Graf mit dem Stab, den er in der Hand hielt, allen denen, die durch diesen Vertrag Sicherheit versprochen ,Mannschaft geleistet und gleichzeitig den Eid beschworen hatten die Investitur.“ Es folgt hier also die eigentliche Belehnung des Vasallen mit ihren Lehen, die ihnen vermittels eines sinnbildlichen Symbols [hier durch Berührung eines Stabes] übergeben wird. Auch eine Scholle des Lehens oder ein Ring, eine Lanze, ein Messer oder ein Handschuh sind als Symbol der Übergabe denkbar. Damit erhält der Vasall sein Recht am Lehen, die tenura, saisina, Gewere. Die Gewere am Lehen ist ein vom Herrn abgeleitetes Recht an der fremden Sache, das bei Herren- oder Mannfall stets erneuerungsbedürftig ist und durch Mannschaftsleistung und Investitur zustande kommt. Das so erneuerte Recht am Lehen schützt gegen Ansprüche Dritter; römisch- rechtlich gefasst, hat er Belehnte gleichsam als possessor ein dominium utile, den Nießbrauch, an der fremden Sache inne. Rechtserheblich also sind: der sinnfällige und gebärdenreiche Akt der Mannschaft, das Treueversprechen samt Treueeid und die Investitur mit dem Lehen. Eine Urkunde etwa, die selten genug und in der Frühzeit kaum ausgestellt wurde, hat dagegen nur Nachweischarakter. Dass der oben beschriebene Ritus schon seit Jahrhunderten so gepflegt wurde, belegt eine Stelle aus der Ingelheimer Reichsgeschichte. Zu 826 beschreibt Ermoldus Nigellus7 in seinem Preisgedicht auf Kaiser Ludwig den Frommen eine derartige Szene in der Ingelheimer Aula Regia. Vor dem Kaiser kniet Harald, der seinerzeitige König von Dänemark. Im Text heißt es: ... „Kurz darauf übergibt er sich aus freien Stücken mit verschlungenen Händen dem König, und zwar sich zusammen mit seinem Königreich, das ihm von Rechts wegen gehört. ‚Nimm mich an, Kaiser‘, sagte er, ‚mich und nichtsdestoweniger die mir untertanen Reiche: Ich verspreche mich aus eigenem Entschluss, wie es sich geziemt, zu deinem Dienst!“ Und der Kaiser empfing dessen Hände in seinen huldvollen Händen, so wurden die dänischen mit den frommen fränkischen Reichen vermischt.“…. 6 Einen der frühesten fidelitas- Eide aus dem Jahr 802 Capitularia missorum specialia in: MGH- Cap. Nr.34 S.99102, wo es heißt: „Durch diesen Eid verspreche ich, meinem Herrn, dem sehr frommen Kaiser Karl, Sohn des Pippin und der Bertha, treu zu sein, wie von Rechts wegen ein Vasall seinem Herrn zur Erhaltung seines Reiches und zur Wahrung seiner Rechte sein soll. Und ich werde und will diesen von mit geschworenen Eid halten, so wie ich es weiß, und verstehe künftig von diesem Tage an, wenn nur Gott, der Schöpfer des Himmels und der Erde, und diese Reliquien helfen.“ 77 Ermoldus Nigellus. „In honorem Hludowici christianissimus Caesaris Augusti.“ In: MGH-Poetae Latini aevi Carolini II S.1-93, bes. Seite 75 Vers 601ff: Mox manibus iunctis regi se tradidit ultro et secum regnum, quod sibi iure fuit. „Suscipe, Caesar“, ait, „me nec regna subacta: Sponte tuis memet confero servitis!“Caesar at ipse manus manibus suscepit honestis; Iunguntur Francis Denica regna piis….. 6 Wir halten fest: ein Lehensverhältnis wird in einem vierteiligen symbolischen Rechtsakt begründet8, nämlich durch a) Dem Hominium oder Commendatio bzw. Mannschaft genannten Selbstverknechtungsritus der vermischten Hände [immixtio manuum] a. Wo ein in der Regel knieender Vasall seine gefalteten Hände in die des vor ihm sitzenden Herrn einlegt und dabei b. Eine Willenserklärung abgibt [Sire, devinio homo vester; Sire ,je devien vostre hom u.s.w.] Dieser Akt ist konstitutiv für eine Lehensbeziehung (Ausnahme in der Lombardei). Er betont insbesondere das personenrechtliche Vertragsverhältnis, das vasallitische Vertragselement, das Abhängigkeitsverhältnis des Vasallen von seinem Herren. b) Das Rechtsverhältnis wurde oftmals durch einen Kuss (osculum) bekräftigt, der die Erniedrigungsgebärde des Mannschaftleistenden zu mildern half. Auf den Kuss hin sagte der Herr zuweilen: „Je vos recoif et pran a homme et vos en bais.“ c) Der zweite konstitutive Akt heißt fidelitas und umfasst das Treueversprechen des Vasallen samt seiner Beschwörung auf eine res sacra, eine Bibel oder eine Reliquie. Das Bedeutet eine Bekräftigung des neu eingegangenen Rechtsverhältnisses vor Gott. Ein Bruch des Eides gilt als Selbstverfluchung, als Todsünde. d) Zuletzt erfolgt die Investitur, also: die Einweisung des Vasallen in die Gewere am Beneficium/feudum vermittels einer Fahne, einer Handvoll Erde, einem Zweig oder einem sonstigen Symbol für das Lehen/feudum. Das Lehen konnte aber auch eine Burg (casamentum) sein, ein Amt (honor) bis hin zu ganzen Herrschaftskomplexen, ein Nutzungsrecht, eine Geldrente (so kauft der englische König 1101 den Grafen von Flandern für 500 Pfund ein) oder eine Eigenkirche bzw. ein Kirchenzehnt. In der Regel aber besteht ein Lehen aus einem Stück Land, und zwar aus einer oder mehrerer Grundherrschaften samt Nutzungs- und Herrschaftsrechten über das Land und über die Leute, die zu diesem Land schollenpflichtig gehören und die dieses Land unter der Auflage von Abgaben und Frondiensten bewirtschafteten. Der Vasall hatte also nur ein Nutzungsrecht am Lehen inne (ein ius utendi et fruendi), ein dominium utile, das nicht mit dem römisch-rechtlichen ius iure aliena verwechselt werden darf. Es musste ja als vom Herrn abgeleitetes Recht immer wieder durch Mannschaft bei Herren- oder Mannfall erneuert werden. Denn ungeschmälert steht das Lehen im Eigentum (proprietas) des Herrn. Das heißt: Der belehnte Vasall durfte normalerweise sein Lehen weder verkaufen noch verschlechtern. Er hatte gegenüber seinem Herrn vielmehr die Wirtschaftskraft des Lehens ungeschmälert zu erhalten. Auch darf er es der Idee des vasallitischen Vertrages entsprechend nicht zu Zwecken verwenden, die seinem Herrn schaden, vielmehr hat er es so zu nutzen, dass es im Sinne der besonderen Treuebeziehung zum Herrn bzw. nach einer Denkschrift Fulberts von Chartres: „De forma fidelitate (dem Wesen der Treue gemäß)“ zum 8 Vgl.: Ganshof S.73-83. 7 Nutzen des Herrn verwendet. Dies führt zur Frage nach der zentralen Kategorie einer Lehensbeziehung: zum Wesen der Treue.9 Was meint grundsätzlich Treue und was bedeutet Treue für eine Lehensbeziehung? Auf die Frage Herzog Wilhelms V. von Aquitanien, der mit seinen Vasallen in Konflikt geraten war, nach einem Rechtsgutachten über die vasallitische Treue, gab Bischof Fulbert von Chartres 1020 als angesehene Autorität seiner Zeit und Förderer der Domschule und damit eines Zentrums der Hochscholastik dem Fragesteller brieflich Auskunft.10 Er formuliert da eine klassisch gewordene Definition dieser sich besonders auf Lehenstreue gründenden Beziehung zwischen Vasall und Seigneur. Er bediente sich dabei eines antiken Definitionsschemas, das Alfons Becker 1982 aufgedeckt hat.11 Schon der Titel des Gutachtens „De forma fidelitatis“ (Vom Wesen der Treue) zeigt, dass hier unverwechselbare besondere geformte menschliche Beziehungen und Bindungen gemeint sind, die so und nicht anders alle denkbaren Möglichkeiten umgreifende ungeformte materia menschlicher Beziehungen gestaltet hat. So nennt Fulbert zunächst den Begriff, das Ganze und seine Strukturmerkmale: „Wer seinem Herrn Treue schwört, der soll stets die sechs [Wesensbestandteile der Treue] im Gedächtnis haben: gesund und wohlbehalten, sicher, ehrbar, nützlich, leicht, möglich.“ Dann erläutert er die einzelnen sechs Wesensmerkmale der Treue stichwortartig, und zwar in ihrem negativen Wert: 1) „Gesund und wohlbehalten: damit der Herr durch ihn keinen Schaden an seinem Körper erleidet (non dezebre (decepiam) te te de tua vita neque de tuis membris que in corpore tuo se tenent) 2) Sicher, damit er seinem Herrn nicht durch Verrat deines Geheimnisses oder seiner Befestigungen, die seine Sicherheit garantieren (z.B.: in Burgeneiden, bei der Burghut, Öffnungsrecht) Schaden zufügt. 3) Ehrbar, damit er die Gerichtsbarkeit seines Herrn oder andere ihm zustehende und zur Ehre gereichenden Rechte nicht antastet (d.h.: das Lehensgericht des Herrn achten, dem Herrn Gerechtigkeit verschaffen, sich an den lehensrechtlichen Rechtsweg halten) 4) Nützlich, damit er den Besitz seines Herren nicht schädigt (Besitzstandsgarantie des Besitzes der Herrn) 5) Leicht, damit er seinem Herrn nicht erschwert, Gutes zu tun, wenn dieser es leicht tun könnte, und 6) Möglich, damit er nicht unmöglich macht, was seinem Herren möglich wäre.“ Zusammenfassend sagt Fulbert: „Es gehört sich von Rechts wegen, dass der Vasall auf diese Weise seinem Herrn nicht schadet.“ Fulbert kommt jetzt zum eigentlich Spezifischen der 9 Vgl.: Anm.3. Fulbert von Chartres: Brief von 1020 an Herzog Wilhelm V. von Aquitanien „De forma fidelitatis.“ in: Recueil des historiens des Gaules et de la France, Band X, Seite 463; dazu: Ganshof, Seite 86ff. 11 Alfons Becker: „Form und Materie. Bemerkungen zu Fulbert von Chartress De forma fidelitatis im Lehnrecht des Mittelalters und der frühen Neuzeit.“ In: HZ 102,2 (1982) S.325 ff, bes. S.333 Anm. 15 mit Bezug auf: Marius Victorinus: „Liber de definitione.“ in: PLG 4 S.891-910 10 8 Lehenstreue, zum charakteristischen Wesensmerkmal: zur kausalen Verknüpfung von Lehen und Treue, wenn er sagt: „Aber sein Lehen verdient er damit noch nicht, denn es genügt nicht (so Fulbert mit moraltheologischer Begründung aus 1.Petr.311), sich des Schlechten zu enthalten, sondern man muss auch Gutes tun, nämlich auxilium et consilium (Hilfe und Rat) seinem Herrn zukommen lassen. Also soll er (der Vasall) die sechs oben genannten Forderungen dahingehend erfüllen, dass er seinem Herrn Rat und Hilfe leiht, wenn er seines Lehens würdig erscheinen will.“ Damit gilt die Lehenstreue als Ganzes definiert. Sie ist der Wesensgrund der vasallitischen Personenbeziehung und ist juristisch der Rechtsgrund für das Lehen einerseits und für die Treuepflichten andererseits. Ganz zuletzt führt Fulbert ein zweites Strukturelement der fidelitas an: die Gegenseitigkeit der Lehenstreue. Er sagt: „Der Herr muss sich auf allen diesen Gebieten demjenigen gegenüber, der ihm Treue geschworen hat, ebenso verhalten.“ Eine definitio e contrario et negatione beschließt das Rechtsgutachten: Täte er (der Lehensherr) es nicht, so würde er mit gutem Recht für treulos erklärt; ebenso würde sich ein Vasall, den man dabei entdeckt, wie er durch Tat oder Billigung seine Pflichten verletzt, der Untreue und des Meineides schuldig machen.“ Das Wesen der Lehenstreue also ist: 1) Ein bestimmtes menschliches Verhalten, und zwar negativen Inhalts: nicht zum Schaden des Lehenspartners zu gereichen, und ins Positive gewendet: ihm vielmehr Rat und Hilfe angedeihen zu lassen 2) die Gegenseitigkeit dieser Beziehung 3) die wechselseitige Bezogenheit der so beschriebenen zwischenmenschlichen Beziehung und ihrem dinglichen Substrat: dem Lehen. Man hat es somit im Wesentlichen mit zwei Elementen im Lehenswesen zu tun: 1) einem personenrechtlichen Element, der vasallitischen Bindung 2) einem dinglichen Element: dem Lehen. Beides steht in einer spezifischen Wechselbeziehung, wie wir bei Fulbert von Chartres sehen. Dies führt von selbst zur Frage: Wann gehen beide Wurzeln des Lehenswesens ihre besondere unverwechselbare Beziehung ein und haben beide Wurzeln Vorläufer? Wir kommen damit zur Entwicklung der Lehensbeziehung in der Karolingerzeit und damit zur vorletzten Frage: Wann und seit wann gibt es das Lehenswesen überhaupt? In der frühen Karolingerzeit können wir sehr genau die Entstehung der für das Lehenswesen charakteristischen Wechselbeziehung zwischen vasallitischen und dinglichen Element orten, und zwar in der historischen Situation in der Karlmann und Pippin als Hausmeier des fränkischen Reiches nach dem Tode des übermächtigen Vaters, des Hausmeiers Karl Martell, bemüht sein mussten: - gegenüber den Großen des Reiches Profil zu gewinnen 9 - - und sich insbesondere gegenüber den zentrifugalen Kräften wie Herzog Odilo von Bayern, wie die Sachsen, die Alemannen, die Aquitanier und die Provencalen u.s.w. durchzusetzen und die Kirche, die durch Karl Martells Eingriffe in Unordnung geraten ist, vor ihrem gänzlichen Zerfall zu retten, d.h.: die Güter, die materielle Basis zum Überleben, die ihr Karl Martell genommen hatte, zurückzugeben. Dieser nämlich hatte, um seine Gefolgschaft zu mehren, immer häufiger den Großen Kirchenbesitz verschenkt, nachdem er angesichts der schwindenden Masse an Königsland immer weniger auf Schenkungen zurückgreifen konnte. Dies kann man einer Klage des maßgeblichen Kirchenrestaurators und Missionars Bonifatius entnehmen, der 742 in einem Brief12 an Papst Zacharias klagt, die Bischöfe und Äbte seien raufende und saufende und jagende und hurende Laien, seit über 80 Jahren habe es keine Synode mehr gegeben; er schreibt: Euch sei ebenso bekannt, dass Karlmann, der dux Francorum, mich herbeigeholt und zu sich gebeten hat im Teil des fränkischen Königreiches, der in seinem Machtbereich liegt, eine Synode zu versammeln. Er versprach, dass er in Sachen kirchlicher Religion, die in langer Zeit –dies ist nicht weniger als über 60 oder 70 Jahre- niedergetreten und zerstört wurde, manches richten und wiedergutmachen wollte.“ Lapidar heißt es auch in einem sogenannten Concilium Germanicum vom 21.April 743 auf einem unbekannten austrasischen Märzfeld, wo der letzte Merowingerkönig Childerich III. als Kriegsmarionette gegen Herzog Odilo von Bayern bestellt wurde, - es sei Aufgabe der Synode, das Gesetz Gottes und der kirchlichen Ordnung, die in Auflösung und Verfall geraten ist, wiederherzustellen. - Karlmann habe das organische Gefüge der Kirche erneuert, Bischöfe eingesetzt und diese im Metropolitanenverband organisiert und den Erzbischof und päpstlichen Legaten Bonifatius unterstellt. „Wir“, so der Hausmeier Karlmann wörtlich, „haben den Kirchen die Güter zurückerstattet, um die sie betrogen worden sind.“ Hinzu kommen viele weitere Bestimmungen zur Wiederaufrichtung der Kirche.13 Es ist klar, dass die Großen des fränkischen Reiches, die Karl Martell einst auf Kosten der Kirche begünstigt hatte, ihre Pfründe nicht ohne Weiteres haben wiederhergeben wollen. Ebenso klar ist, dass Karlmann und Pippin, die im Gegensatz zum Vater eine fromme Erziehung genossen haben, mit ihrer Anlehnung an das Kirchenprogramm des Bonifatius in der Kirche einen mächtigen Partner suchten. Außerdem waren Pippin und Karlmann auf die Militärkraft der Großen schlichtweg angewiesen, und eine Feindschaft der Großen ist der eigenen Herrschaft als Hausmeier wenig dienlich. Auf den Märzfeldern von Soisson und Les 12 Vgl.: Brief des Bonifatius an Papst Zacharias aus dem Jahre 742 in: MGH-Epp. sel. I Nr.50 S.80ff, wo es heißt: „Karlmann … promisit se de ecclesiastica religione, quae in longo tempore, id est non minus quam per LX vel LXX annos calcata et dissipata fuit, aliquid corrigere et emendare vellet“… 13 Concilium Germanicum vom 21.04.743 an einem unbekannten Ort in: MGH-Cap.II Nr.10 Seite 24f; dazu: Karl Ulrich Jäschke in: Festschrift für W. Schlesinger 2 (1977) Seite 71-136, bes. S.101ff; Theodor Schieder: „Winfried- Bonifatius und die christlichen Grundlagen Europas.“ Freiburg 1954 Neudruck 1972, Seite 203ff, bes. S.208ff. 10 Estinnes/Kl. Lobbes in Neustrien bzw. in Austrasien unmittelbar vor den Heerzügen gegen die Alemannen im Elsass und gegen die Aquitanier verstanden sich die Hausmeier Pippin und Karlmann 743 bzw. 744 zu einem epochalen Kompromiss zwischen den Ansprüchen der Großen und der Kirchen,14 nämlich zur: - Zurücknahme des maximalen Kirchenprogramms des Bonifatius auf das Machbare - Gleichzeitige Ausstattung der Großen mit Kirchengut unter Anerkennung seines Status als kirchliches Eigentum auf Befehl des Hausmeiers und damit - Waffendienst und Erhaltung der fränkischen Militärkraft im Dienste der Hausmeier. Mit diesen Regelungen erkennen wir den rechtlichen Rahmen der später, seit 779 auch im Kapitular von Herstal15, sogenannten praecaria verbo regis als der frühesten systematischen Ausprägung des Lehenswesens. Die feste Verbindung zwischen der Gefolgschaft der Großen und dem dinglichen Substrat als Landleihe auf Befehl des Königs ist die Geburtsstunde des Lehenswesens. So heißt es im Beschluss des Konzils von Soissons 743, in dessen Vorfeld die Großen bereit zu sein schienen, gegen die kirchenfreundliche Haltung der beiden jungen Hausmeier den merowingischen Schattenkönig zu aktivieren: „ Wir bestimmen wegen der drohenden Kriege und Verfolgungen anderer Völker, dass wir - Sub precario et censu - Einen Teil des kirchlichen Vermögens - Zur Unterstützung unseres Heeres - Mit Nachsicht Gottes - Eine ziemlich lange Zeit zurückbehalten wollen, - Dass während der einzelnen Jahre jede Hofstätte einen Solidus (=12 Denare) an die Kirche oder das Kloster geben soll - Ebenso, dass, wenn jener, dem das Gut gegeben ist, sterben sollte, die Kirche mit ihrem Eigengut revestiert werde. - Des Weiteren aber, wenn die Notwendigkeit es erzwingt, dass der Fürst solches befehlen muss, dann soll der Praecariebrief erneuert werden.“ 14 Karlmann für Austrasien im Konzil von LesEstinnes, MGH- Cap.II Nr.11 Seite 26-28 und Pippin für Neustrien auf dem Konzil von Soissons, MGH- Cap. II Nr.12 Seite 28-30; man modifiziert die radikaleLösung des Concilium Germanicum, lässt das ebenda festgestellte Eigentum der Kirche unangetastet, will es aber nur bei Bedürftigkeit zurückerstatten, weil der Gefolgschaftsadel der Hausmeier das Land braucht. Wegen der drohenden Kriegsnot und des Ansturms der umliegenden Völker werde ein Teil des Kirchenguts als zinspflichtige Landleihe (sub precario et censu) zurr Unterstützung des Heeres einige Zeit zurückbehalten. Vgl.: Schieffer, Winfried –Bonifatius S.217ff; Giles Constable: „Nona et Decima.“ In: Speculum 35 (1960) Seite 224250. 15 Kapitular von Herstal von 779 MGH- Cap.I Nr. 20 Seite 46-51, Art. 13, wo eine Art Doppelzehnt als Anerkennungszins statt als Leihezins für die „precaria verbo regis“ verfügt wird. Es heißt da: „De rebus vero ecclesiarum unde nunc census exeunt decima et nona cum ipso censu sit soluta et unde antea non exierunt, similiter nona et decima detur….. Et de precariis, ubi modo sunt, renoventur, et ubi non sunt, scribantur. Et sit discretio inter precarias de verbo nostro factas et inter eas, quae spontanea voluntate de ipsis rebus ecclesiarum faciunt.“ 11 Im Kapitular von Herstal Karls des Großen von 779 wird man diese Landleihe an die kriegerische Gefolgschaft des Königs aus Kirchenbesitz gegen Anerkennungszins praecaria verbo regis nennen. Sie wird ausdrücklich und systematisch verfügt, um den Gefolgsleuten die Erhaltung der Militärkraft zu ermöglichen. Diese Art der Landleihe auf Befehl des Herrn dient also zum Unterhalt desjenigen, der dem Herren als sein Vasall Dienste, insbesondere Waffendienst, leistet. Beim Tode des praecaristischen Besitzers fällt das Land wieder an die Kirche, den rechtmäßigen Eigentümer, zurück, es sei denn, dass der Fürst unter dem Druck welcher Not auch immer anordnen muss, die Leihe zu wiederholen und den Leihebrief erneut auszufertigen. In Übrigem seien die Mönche und Nonnen soweit wieder in den Besitz des entfremdeten Vermögens zu setzen, wie es ihre Bedürfnisse erfordert. Von dem Übrigen sei ein Zins zu erheben. Einen frühen Beleg für einen Vasallen -was eigentlich ursprünglich Sklave heißt- in bereits gehobener sozialer Stellung gleichsam im Range eines Gefolgsmanns haben wir zu 735/37 in einem Brief des Grafen Eberhard, Sohn des Herzogs Adalbert vom Elsass, an das Eigenkloster Marbach.16 Der blinde Eberhard schenkt alle seine elsässischen Besitzungen dem Kloster u.a. mit Ausnahme derer, die er, wie er wörtlich sagt: „ad vassos nostres beneficiatum habui.“ Wie hat das Lehenswesen den Staatsaufbau im Heiligen Römischen Reich und wie in Frankreich und in England beeinflusst? Die Karolinger hatten sich der Institution des Lehenswesens planmäßig bedient, um ihr Riesenreich durch treue Vasallen in den Griff zu bekommen. Sie siedeten überall ihre Vertrauensleute als Königsvasallen an. Sie banden sogar fremde Herrscher wie Herzog Tassilo von Bayern17 auf lehensrechtliche Weise an sich. Auch verpflichteten sie Grafen, Markgrafen und Herzöge zum Eintritt in die Vasallenschaft. Die Ämter wurden so zu Ämterlehen. Als die Normannen und Sarazenen die Ränder des Reiches unsicher machten und als die Zentralgewalten sich –wie am Ende der Karolingerzeit- in Bruderkämpfen zerfleischten, da gewannen die Großvasallen bedrohliche Macht und die Lehensbindungen lockerten sich zuweilen unerträglich. Erinnert sei in diesem Zusammenhang an die Ingelheimer Synode von 948 in der Remigiuskirche, als Otto I. den Streit zwischen dem karolingischen König von Frankreich Ludwig Outremer samt seinem Kandidaten für den Erzstuhl von Reims und dem mit Ludwig um die Königskrone rivalisierenden Großvasallen Graf Hugo von Franzien hatte schlichten wollen. In den Nachfolgereichen des Karolingerreiches musste man sich mit den im Lehenswesen angelegten Entwicklungstendenzen auseinandersetzen. Auf die Fragen der Erblichkeit und der Mehrfachvasallität sowie der unterschiedlichen Ausprägung der Verdinglichung, die schon in 16 Brief über eine Schenkung Eberhards, des Sohnes des Herzogs Adalbert, an das elsässische Kloster Murbach um 735 /737 in: Pardessus, Diplomata II Nr.544 Seite 355-357, wo es heißt: „… exepto quod ad alias casas Die …. deligavimus …in reliquo vero, quod superest ubicumque inta ipsos pagos nostra est possessio vel ad vassos nostros beneficiatum habui, sic illa loca superius nominata … in iure et dominatione iamdicti monasterii … totum et integrum trado“… 17 Zu Tassilo vgl. den einschlägigen Zeitungsartikel mit Nachweisen in diesem Buch. 12 karolingischer Zeit vereinzelt nachweisbar sind, kam es zu voneinander divergierenden Entwicklungen des Lehenswesens.18 Im Römischen Reich kann man eine horizontale Schichtung des klassischen Lehenswesens beobachten. Die Ausbildung eines gestuften Heerschildes, eines herausgehobenen selbstbewussten Reichsfürstenstandes, der neben den König tritt, der Leihezwang sowie der Aufstieg der Ministerialität zu einer Art spätmittelalterlicher Beamtenschaft weisen letztlich in die verfassungsmäßige Ausbildung der Landesherrschaft, was im föderalistischen Aufbau im Deutschland der Gegenwart sein spätes Echo findet. In Frankreich versuchen die kapetingischen Herrscher die durch die exzessive Verdinglichung der Lehensbeziehungen wirkenden divergierenden Kräfte ihres Landes gerade mit Mitteln des Lehensrechtes zu überwinden. 1127 z.B.: muss der König in einer Auseinandersetzung mit dem Herzog von Berry erkennen: „Homo hominis mei non est homo meus.“ Um den misslichen Zustand dauerhaft zu ändern, tritt der König beispielsweise in Konseigneurien ein, nutzt er die Möglichkeit der Parage und setzt mit zunehmenden Erfolg Salva- regis- Klauseln in Lehensverbindungen Dritter durch. So sammelt er Frankreichs Erde nach dem Prinzip der konzentrischen Konzentration, sodass sich das Land immer mehr zu einem Zentralstaat entwickelt. In England schließlich entwickelt sich seit 1066 auch seiner von Anfang an vertikalen Lehensstruktur wegen ein einheitlicher Königsstaat. Die starke Stellung der ersten Normannenkönige im eroberten Land spiegelt sich in den lehensrechtlichen besonderen Ausprägungen wie: der König ist dominus ligius ante omnes et contra omnes; nulle terre sans titre; in Lehensbeziehungen Dritter gilt prinzipiell die Salva- regis- Klausel; der König fordert von allen seinen Freien Englands Untertaneneide. Wir haben hier einen kleinen Überblick über die Entwicklung des Lehenswesens gegeben und versucht die oben gestellten Fragen ein wenig zu erhellen. Freilich haben wir am Ende die Entwicklungslinien des Lehenswesens in den drei wichtigsten mittelalterlichen Gesellschaften nur recht grob gezeichnet und freilich gibt es noch manche Detailfrage zu klären (so zum ligischen Lehenswesen). Hier verweisen wir auf die einschlägige Fachliteratur. Nach den sachenrechtlichen und nach den personenrechtlichen Wurzeln der praecaria verbo 18 Tendenzen des Wandels sind schon in der Karolingerzeit erkennbar: zur Erblichkeit siehe den Brief Hinkmars von Reims an Karl den Kahlen von 868 in: Migne PL 125 Spalte 1050, wo der Erzbischof ein Idoneitas- Prinzip für eine Quasierblichkeit von Lehen formuliert; dazu: Ganshof S.49f; vgl. auch das Kapitular von Quierzy von 877 in: MGH- Cap. II Nr.28 Kap.9 S.358, dazu: Ganshof S. 50; zur Mehrfachvasallität siehe die Klage des Propstes Ecfredus und des Vogtes Adalmarus von Saint Martin de Tours bei Graf Berengar von Le Mans über ihren Vasallen Patericus, der auch Vasall Roberts, des Bruders des Königs Odo sei, vom Jahr 895 in: Gallia Christiana 14 Instrumenta Nr. 37 Seite 53, dazu: Ganshof Seite 51f; zur Verdinglichung siehe: ein Kapitular Ludwigs des Frommen vom 1.Jan. 815, der Constitutio de Hispanis in Francorum regnum profugis prima in: MGH- Cap.I Seite 261-263 Kap.6, dazu: Ganshof Seite 42f; ebenso der oben genannte Hinkmarbrief von 868, wo Hinkmar ausführt, dass dem König Dienst zu leisten sei, secundum quantitatem et qualitatem beneficii; dazu: Ganshof Seite 52. 13 regis zu fragen, die allesamt sowohl im römisch-rechtlichen Raum19 wie im germanischen20 und im keltischen Recht21 zu suchen sind, sprengt sich den Rahmen dieser Einlassungen. Wir wollen uns dies für einen anderen Aufsatz aufsparen. 19 Römisch- personenrechtliche Wurzeln: glebae adscriptiones, colones, laetes, den ingenuus in obsequium; den cliens, comites acta fracturii, protectores, saellites, bucellarii; römisch- sachenrechtliche Wurzeln: die römische Praecaria 20 Germanisch- personenrechtliche Wurzeln: munt, homines qui se in alterius potestate commendant, truht (Gefolgschaft), leudes, Antrustionat der pueri regis (Königsgefolgschaft); germanisch- sachenrechtliche Wurzel: das beneficium 21 Keltisch- personenrechtliche Wurzeln: vassus/gasindus, gwas, gwassawel (servus); keltisch- sachenrechtliche Wurzel: gallo- römische Precrie 14