William Blake, der Visionär Das Universum im Sandkorn sehen und
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William Blake, der Visionär Das Universum im Sandkorn sehen und
Paulo Coelho Globo 710 Seite 1 William Blake, der Visionär Das Universum im Sandkorn sehen und das Paradies in einer Blume das Unendliche in deiner Handfläche halten und in einer Stunde die Ewigkeit erkennen. Diese vier Zeilen könnten eine Zusammenfassung dessen sein, was heute das »neue Bewußtsein« genannt wird – die Fähigkeit zu begreifen, dass alles miteinander verbunden ist. Dass wir nur innerlich ein wenig offen zu sein brauchen, um die magischen Augenblicke im Alltag zu erkennen. Dass wir nur innerlich ein wenig offen zu sein brauchen, um die Fähigkeit zu erkennen, unsere Realität grundlegend zu verändern und die meisten der Dinge zu eliminieren, die uns unzufrieden machen. Als jene vier Zeilen geschrieben wurden, nahm sie allerdings kaum jemand wahr. Ihr Autor, der Engländer William Blake (1757-1827), entstammte einer armen Familie und starb von den intellektuellen Zirkeln seiner Zeit mißachtet. Seine Kritiker führten ins Feld, seine Arbeit sei zu stark von Mystizismus durchsetzt, er lege merkwürdige Verhaltensweisen an den Tag (wie beispielsweise die, sich nackt mit seiner Frau im Garten eines Landhauses aufzuhalten, das man ihm unentgeltlich überlassen hatte), und seine Texte seien zu naiv. Die Kritiker sind gestorben, und Blake wird heute nicht nur wegen seiner Schriften, sondern auch wegen seiner Bilder, die ich in der Tate Gallery in London betrachten durfte, als einer der komplexesten Künstler des vergangenen Jahrtausends angesehen. Paulo Coelho Globo 710 Seite 2 Blake hat erzählt, er habe noch als Kind in einem Park in der Nähe von London Engel in den Bäumen gesehen, und der Prophet Hesekiel sei zwischen den geflügelten Wesen aufgetaucht. Später, als er bereits dreißig Jahre alt war, starb sein jüngerer Bruder – und Blake versichert, sein Geist sei ihm wenige Tage später, von Licht umstrahlt, erschienen, um ihm beizubringen, wie man »nicht gedruckte« Bücher macht, oder anders gesagt, Texte und Illustrationen auf kunsthandwerkliche Art in sehr kleinen Auflagen herstellt. Seinem Rat folgend entwickelte Blake damals die These der, wie er sie nannte, »gegensätzlichen Zustände der Seele«. Einer dieser Zustände ist die Unschuld: wenn uns die Imagination wachsen läßt. Der andere Zustand ist die Erfahrung: wenn unsere Imagination von Regeln, Moral und Unterdrückung beschnitten wird. Blake hat sein Leben intensiv gelebt, starb arm, versicherte aber, er habe alles getan, was er sich vorgenommen hatte. In einer seiner umstrittensten Arbeiten, ›Die Vermählung von Himmel und Hölle‹, schreibt er, er habe das Reich der Finsternis besucht und die Aphorismen der Dämonen aufgezeichnet. Beispielsweise: »In der Zeit des Säens, lerne. In der Zeit der Ernte, lehre. Im Winter ziehe Nutzen daraus.« »Der Weg des Übermaßes führt zum Palast der Weisheit.« »Die Zisterne birgt etwas; die Quelle aber fließt über.« »Die Vernunft ist eine alte reiche Jungfer, der von der Unfähigkeit der Hof gemacht wird.« »Ein Tor sieht nicht denselben Baum wie der Weise.« Paulo Coelho Globo 710 Seite 3 »Wer begehrt und nicht handelt, brütet Pest aus.« »Kein Vogel fliegt nur mit Hilfe der eigenen Flügel zu hoch.« »Die Gefängnisse wurden mit den Steinen des Gesetzes gebaut und die Bordelle mit den Steinen der Religion.« »Was heute als bewiesen gilt, war gestern nur ein Traum.« »Alles, was man sich vorstellen kann, ist ein Widerschein der Wahrheit.« »Die Tiger des Zorns sind weiser als die Pferde des Wissens.« »Von stehenden Gewässern erwarte nur Gift.« »Der Fuchs sorgt für sich selber; aber Gott sorgt für den Löwen.« »Der Mann kennt dich am besten, der dir erlaubt hat, ihn auzunutzen.« Gebete pflügen nicht; Lob reift nicht.« »Ihr wisst niemals, was genug ist, wenn ihr nicht wißt, was mehr als genug ist.« Übersetzung: Maralde Meyer-Minnemann