53 Es stellt sich somit die Frage, ob und wenn ja, wie

Transcription

53 Es stellt sich somit die Frage, ob und wenn ja, wie
1.4 Zusammenfassung der Leitfragen
und Handlungsprogramme, schließlich ihrer konkreten Geschichten, Themen-,
Situations- und Figurenkonstellationen, ihrer spezifischen Motive sein. Quer
zu dieser Zuordnung zum Reservoir einer schon definierten Gattung kann aber
auch nach den eingespielten Sinnsystemen oder Wirklichkeitsmodellen gefragt werden, die etwa den weiteren Rahmen der ›höfischen Literatur‹
bestimmen; schließlich ist als weitester Horizont jener der fiktionale und
nicht-fiktionale Texte durchkreuzenden Diskurse zu nennen. Wie sinnvoll und
produktiv diese Möglichkeiten im einzelnen sind, kann nur von einem textimmanenten Standpunkt aus entschieden werden.185
Es stellt sich somit die Frage, ob und wenn ja, wie Gattungsbezüge und die
Darstellung von ›Effemination‹ miteinander verschränkt sind und welche Funktionen Gattungsbezüge als Deutungsmuster von Sinn bzw. Sinnkonstitution in den
einzelnen Texten und für das Geschlechterverhältnis haben. Zu differenzieren ist
dabei zwischen der Form einer jeweiligen Effeminationsdarstellung einerseits und
ihren jeweiligen gattungs- und geschlechtsspezifischen Funktionen andererseits,
denn ein und dieselbe Darstellung kann durchaus unterschiedliche und sich überlagernde Funktionen haben, aber anders herum kann auch eine bestimmte Funktion in einer Vielfältigkeit von Formen ihren Ausdruck finden.186
1.4 Zusammenfassung der Leitfragen
Die Fragekomplexe, die die folgenden Lektüren der Figuren des als Frau verkleideten und des schwangeren Mannes leiten werden, sollen hier abschließend noch
einmal zusammengefasst werden, wobei zugleich deutlich wird, dass die Fragebereiche ineinander verwoben sind und sich z. T. überschneiden:
1. Inwieweit ist mit der Verkleidung als Frau oder der Schwangerschaft ein Statusverlust des Mannes verbunden: Werden in den Texten Statuskonzepte oder misogyne
Auffassungen transportiert, die der Geschlechterkonstruktion im theologischen Geschlechterdiskurs anhaften? Gibt es in der Körperdarstellung der Helden Hinweise
auf das Ein-Geschlecht-Modell? Kommen in den Texten Sorgen um die Geschlechtergrenzen respektive Ängste vor Auflösung und Verwischung derselben
zum Ausdruck, die auf eine Instabilität der geschlechtlichen Körper zurückgeführt
werden könnten? Wie gestaltet sich das Verhältnis von sex, gender und Begehren
185 KLINGER, Der mißratene Ritter, S. 42; die hier vertretene Intertextualitätsauffassung
geht auf den weiten Intertextualitätsbegriff zurück, den Julia KRISTEVA Ende der sechziger Jahre in Auseinandersetzung mit Bachtins Konzept der ›Dialogizität‹ entwickelt
hat; vgl. KRISTEVA, Bachtin, S. 348: »[J]eder Text baut sich als Mosaik von Zitaten
auf, jeder Text ist Absorption und Transformation eines anderen Textes. An die Stelle
des Begriffs der Intersubjektivität tritt der Begriff der Intertextualität, und die poetische Sprache läßt sich zumindest als doppelte lesen« (Hervorhebungen im Original).
Vgl. auch SUERBAUM, Text, Gattung, Intertextualität, S. 113.
186 Dass bei der Analyse von Gattungen grundsätzlich zwischen Struktur und Funktion zu
unterscheiden ist, hat HEMPFER, Gattungstheorie, S. 113, S. 189, wiederholt hervorgehoben.
53
1. Einleitung
in den einzelnen Texten? Gibt es einen Zwang zur Vereinheitlichung der drei Komponenten in der Figur des Helden als Bedeutungsträger geschlechtlicher Merkmale
und seiner Identität? Wie wirken sex, gender und Begehren ineinander? Inwieweit
wird in den Texten dem geschlechtlichen Körper und dem (hetero-)sexuellen Begehren Geltung verliehen? Welche Normen, Normierungen und Verwerflichmachungen werden im Zusammenhang von sex, gender und Begehren konstituiert?
2. Welche Vorstellungen von ›Männlichkeit‹ und ›Weiblichkeit‹ kommen in den
Texten zum Ausdruck? Wo gibt es Widersprüche, die auf die Differenziertheit des
literarischen Geschlechterdiskurses verweisen könnten? Welche moralischen, ethischen und poetischen Konzepte werden über ›Effemination‹ verhandelt, bzw. welche anderen Diskurse werden mit dem Geschlechterdiskurs verschränkt? Inwieweit
stehen gender als Zusammenhang von sex, gender und Begehren und Gattung in
einer Wechselbeziehung? Welche Funktionen haben Gattungsmuster als Deutungsmuster von Körper, Identität und Begehren?
3. Welche Rolle spielen Sprache und Körper in den einzelnen Texten? Inwieweit sind
Geschlecht, Sprache und Körper realitätsstrukturierende Elemente der textinternen
Welt? Gibt es einen Zusammenhang von Sprache, Körper, Geschlecht und Gattungsmustern als Deutungsmustern von ›Sinn‹? Wie wirken Sprache, Körper und
Geschlecht ineinander?
Die Arbeit ist, wie die theoretische Grundlegung offensichtlich gemacht haben
dürfte, zwar einem umfassenden gender-Begriff verpflichtet, doch werde ich – dies
spiegelt sich in den Fragestellungen wider – für die Lektüren die sex/gender-Trennung
im Sinne von Körper und Identität beibehalten, um das wechselseitige Zusammenspiel
von sex, gender und Begehren unter dem Vorzeichen des heterosexuellen Begehrens
besser in den Blick nehmen zu können.187 Dass letztlich ein Beharren auf der
sex/gender-Trennung nicht möglich ist, sondern sex und gender in den Texten miteinander und ineinander verschränkt erscheinen, wird im Rahmen der Lektüren immer
wieder offengelegt werden.
Bevor ich jedoch im Folgenden dem Phänomen ›Effemination‹ und seinen poetologischen Implikationen anhand von Figurendarstellungen des als Frau verkleideten
und des schwangeren Mannes in mittelhochdeutschen Erzähltexten nachgehen werde,
möchte ich zunächst versuchen, einen Einblick in definierende Aussagen und Kriterien
von ›Effemination‹ im 13. Jahrhundert zu erhalten. Hierzu bietet sich eine Untersuchung ausgewählter Strophen aus dem Sangspruch an, der, von Berufsdichtern getragen und an die großen und kleinen Höfe gebunden, als eine der zentralen didaktischen
Instanzen für Tugend- und Sittenlehre gelten kann.
187 Das Verhältnis von sex und gender lässt sich hierbei vielleicht am ehesten mit
BENEDEK/BINDER, Von tanzenden Kleidern, S. 16, die sich (wie Butler) auf FOUCAULT
beziehen, beschreiben: »Das biologische Geschlecht (sex) ist Effekt der soziokulturellen Konstruktion des gesellschaftlichen Geschlechts (gender). Durch diese Teilung
wird die Grundannahme der Identität von ›sex‹ und ›gender‹ gestört. Denn exakt diese
beiden Kategorien kollidieren beim Crossdressing.«
54
2. Effemination als Thema im Sangspruch
Ein man sol ein man sîn, ein
frouwe sol ein frouwe sîn. 1
Die Anweisung, eine gegebene Geschlechtsidentität zu sein, produziert zwangsläufig
Verfehlungen, eine Vielzahl inkohärenter
Konfigurationen, die in ihrer Mannigfaltigkeit die Anweisung, die sie erzeugt hat,
überschreiten und anfechten.2
Bereits das Althochdeutsche kennt die Personenbezeichnungen wibillo, widillo,
widil und widilla für ›effeminierte Männer‹, die – allerdings nicht in einem 1:1Verhältnis – mit den lateinischen Ausdrücken effeminatus, mollis, androgynus und
hibrida korrespondieren.3 Bis auf einen höchst bemerkenswerten literarischen
Textbeleg für widillo/wibillo als Bezeichnung für einen Hermaphroditen in der
Martianus Capella-Bearbeitung Notkers von St. Gallen sind die genannten Wörter
ausschließlich in ahd. Glossierungen lateinischer Texte überliefert. Auf dem Weg
zum Mhd. scheinen allerdings die ahd. Ausdrücke wibillo und widillo als Personenbezeichnungen für effeminatus im weitesten Sinne verloren gegangen zu sein,
wenn sie nicht sogar von vornherein nur spontan erfundene »Glossenwörter« waren, die in dieser Form in der gesprochenen Sprache nie vorkamen.4 Eine vergleichbare von wîp abgeleitete Form wîbeler im Mhd. ist erst wieder ab dem Beginn des 15. Jahrhunderts überliefert, und zwar laut Matthias LEXERs »Handwörterbuch« als Hapax Legomenon in einer deutschsprachigen Übersetzung des
zwischen 1277 und 1279 von dem Thomas-Schüler Aegidius Romanus verfassten
lateinischen Fürstenspiegels »De Regimine Principum«.5 Der Ausdruck wîbeler
1 Berthold von Regensburg, Predigten [= BertvR], I, 325,34f.
2 BUTLER, Das Unbehagen der Geschlechter, S. 213.
3 SCHÜTZEICHEL, Althochdeutsches Wörterbuch, S. 321, 322; KÖBLER, Taschenwörterbuch, S. 369, 373. – Zum Verhältnis von ahd. Personenbezeichnungen und ihren lateinischen Bezugswörtern vgl. allgemein KOCHSKÄMPER, ›Frau‹ und ›Mann‹ im Althochdeutschen, S. xxxvii.
4 Vgl. dazu GLAUCH, Die Martianus-Capella-Bearbeitung Notkers des Deutschen II,
S. 444; zur Problematik von Glossenwörtern, die es möglicherweise »in der gesprochenen Sprache nie gegeben hat«, vgl. auch allgemein WEISWEILER/BETZ, Deutsche Frühzeit, S. 122.
5 LEXER, Handwörterbuch III, Sp. 814. Ediert und kommentiert ist diese Übersetzung, von
der vier Handschriften aus dem 15. Jahrhundert bekannt sind, bei MCMAHON, Das
55