Interpretation zu „Gibs auf“ (1922) von Franz Kafka

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Interpretation zu „Gibs auf“ (1922) von Franz Kafka
Interpretation zu „Gibs auf“ (1922) von Franz Kafka
Franz Kafka (1833 - 1924) ist der einzige deutschen Schriftsteller, für den die deutsche
Sprache aufgrund der nachhaltigen Wirkung seiner Werke um ein eigens für die Beschreibung seiner Texte kreiertes Adjektiv erweitert wurde: kafkaesk. Es beschreibt ein
unheimliches Gefühl dunkler Ungewissheit, einer rätselhaften unkonkreten Bedrohung,
eines Ausgeliefertseins gegenüber schemenhaften dumpfen Mächten.
In dem vorliegenden Prosatext Kafkas aus dem Jahr 1922, der den Titel „Gibs auf“ trägt,
sieht sich ein Mann mit einer aussichtslosen Situation konfrontiert, in der er eben von
diesem kafkaesken Gefühl vereinnahmt wird.
Dieser Ich-Erzähler befindet sich „sehr früh am Morgen“ auf dem Weg zum Bahnhof. Die
Straßen sind menschenleer und der Reisende scheint die morgendliche Ruhe und Unberührtheit zu genießen. Doch dann vergleicht er seine Uhr mit einer Turmuhr und stellt
erschrocken fest, „dass es schon viel später [ist], als [er] geglaubt hatte“, woraufhin er in
Panik verfällt und sich im Weg unsicher wird. Deshalb fragt er einen Schutzmann, den er
in der Nähe entdeckt, nach dem Weg. Dieser lächelt und antwortet: „ ' Von mir willst du
den Weg erfahren? ' [...] ' Gibs auf, gibs auf ' “.
Diese offene und sehr diffuse Stil ist typisch für Kafka. Doch außer seiner unverwechselbaren Art der Textgestaltung fließen auch deutlich persönliche Erfahrungen und Eigenarten Kafkas in seine Werke ein, was bereits im Einleitungssatz von „Gibs auf“ offensichtlich wird: „Es war sehr früh am Morgen, die Straßen rein und leer, ich ging zum Bahnhof.“ Noch bevor der Ich-Erzähler auch nur ein einziges Wort über sich selbst verliert,
wird dem Rezipienten Auskunft über Zeit und Ort der Erzählung gegeben. Somit handelt
es sich bei dem Mann in der Parabel um eine zurückhaltende Person, die keineswegs ein
einnehmendes Wesen hat. Ebenso verhält es sich auch mit den Charakterzügen des Prager
Literaten Franz Kafka.
Während der Erzähler nun in Richtung Bahnhof läuft, vergleicht er „eine Turmuhr mit
[s]einer Uhr [und sieht], dass es schon viel später [ist], als [er] geglaubt hatte“. Er sieht
nicht einfach auf die Uhr und bemerkt, dass es später ist als erwartet - Nein - Er vergleicht
die beiden Uhren, als wenn er bereits ahnen würde, dass etwas nicht stimmt. Eine solche
Vorahnung lässt er allerdings nicht anklingen. Warum also führt er diesen Uhrenvergleich durch? Fehlt ihm vielleicht das Vertrauen in seine Uhr und auch in sich selbst, sodass er den inneren Zwang verspürt, die Richtigkeit seiner Uhr zu überprüfen? Außerdem
verschwendet er keinen Gedanken daran, dass auch die Turmuhr die falsche Zeit anzeigen
könnte. Sofort akzeptiert er die fremde Angabe als die Richtige und seine als die Falsche.
Möglicherweise ist es die Höhe des Turmes, die ihn so Ehrfurcht gebietend erscheinen
lässt, dass jeglicher Zweifel am Wahrheitsgehalt der angezeigten Uhrzeit unmöglich wird.
Wegen der verloren Zeit muss sich der Mann nun „sehr beeilen, der Schrecken über diese
Entdeckung [lässt ihn] im Weg unsicher werden“. Als Entschuldigung für seine rasch aufkommende Unsicherheit führt er an, dass er sich „in dieser Stadt noch nicht sehr gut
aus[kennt]“. Doch die vermeindliche Rechtfertigung klingt eher wie eine Selbstanklage.
Aus der Formulierung „noch nicht“ lässt sich schließen, dass er eigentlich vor hatte länger
in der Stadt zu verweilen und sie besser kennen zu lernen. Wäre er geblieben, wüsste er
den Weg zum Bahnhof, doch aus ungeklärten Gründen sah er sich zum Aufbruch gezwungen. Scheinbar hat der Erzähler aufgrund seines recht kurzen Aufenthalts auch keine Vertrauten oder Bekannten in der Stadt, die ihn zum Bahnhof hätten begleiten können
oder ihm wenigstens den korrekten Weg hätten bestätigen können. Möglicherweise spie-
gelt sich in dieser Situation des Protagonisten Kafkas Rolle als Außenseiter wider. Egal
von welcher Seite man Kafkas Leben beleuchtet, er gehörte nie wirklich in eine der dominierenden Gruppen seiner Zeit: Er war Deutscher unter Tschechen, Jude unter Christen, Künstler unter Kaufmännern. Besonders durch die Isolation der deutschen Sprache in
Prag, macht er in seinen Werken Gebrauch von einer zurückhaltenden, eher puristischen
Sprache. Die Verwendung von sprachlichen Extravaganzen und gefühlhaft-pathetischer
Rhetorik widerstrebte ihm. In Stil und Form gleichen seine Texte daher eher denen des
19. Jahrhunderts. Seine Themenwahl jedoch weist eine deutliche Parallelität zum Expressionismus auf, was auf die Tatsache zurückzuführen ist, dass er wie seine jungen Dichterkollegen an der Zerstörung menschlicher Beziehungen, dem Scheitern der Kommunikation, Gefühlen der Schwäche und Minderwertigkeit, sowie an den autoritären Strukturen
litt.
Im weiteren Verlauf des Textes entdeckt der Erzähler einen „Schutzmann [der glücklicherweise] in der Nähe [war]“. Da es laut seiner eigenen Aussage „sehr früh am Morgen“
ist und man weit und breit keine Menschenseele sehen kann, scheint es abwegig, dass der
Schutzmann zufällig dort ist. Tauchte er etwa nur aus dem Grund auf, den Wegsuchenden
aus seiner Misere zu befreien? Auf die Frage nach dem Weg reagiert der Beamte mit einem Lächeln, einer Geste, die dem Hilfesuchenden Grund zur Hoffnung gibt. Doch verbunden mit der Antwort, die der Befragte gibt, schlägt die Bedeutung des Lächelns ins
Gegenteil um. Es wird zum Ausdruck tiefster Verachtung und höhnischem Spott. „Von
mir willst du den Weg erfahren?“, ist seine Antwort. Mit der persönlichen Anrede „du“
spricht man keinen Fremden an, dem man mit Respekt begegnet. Des Weiteren stellt er
sich selbst an erste Stelle seines Antwortsatzes, wodurch dieser einen vorwurfsvollen Charakter annimmt: Wie kann der Mann es nur wagen, ihn, den Schutzmann, um Hilfe zu
bitten?
Trotz dieser Unheil verheißenden Antwort will sich der Erzähler dem Urteil dieser Autoritätsperson unterwerfen, wie er auch widerstandslos die Uhrzeit der Turmuhr anerkannte. Besonders in dieser Situation kommen Kafkas eigene Erinnerungen zum Tragen.
Bereits in seiner Kindheit wurde ihm beigebracht, ohne Widerworte Befehle auszuführen.
Sein Vater war ein sehr dominanter und brutaler Mensch und unterdrückte so die aufkeimende Identität seines heranwachsenden Sohnes. Als Oberhaupt der Familie stellte er
Regeln auf, an die sich alle halten mussten. Nur er stand über seinen Gesetzen. Dadurch
fühlte sich Kafka als Sklave in einer Welt, in der er Gesetze befolgen musste, die nur für
ihn allein aufgestellt wurden. Diesen konnte er allerdings niemals völlig entsprechen, wodurch er in ständiger Schande lebte, während alle anderen Menschen glücklich und frei
von jeglichen Befehlen schienen. Ein Leben lang war er verzweifelt und fühlte sich als
Versager.
Als Versager scheint auch der Schutzmann den Wegsuchenden anzusehen, denn sein letzter Befehl lautet: „Gibs auf, gibs auf“ Die Endgültigkeit dieser Empfehlung wird durch
eine Wiederholung unterstrichen. Daraufhin dreht er sich lachend um und überlässt den
Ich-Erzähler sich selbst. Doch was genau soll der Mann aufgeben?
Betrachtet man das Jahr 1922, in dem „Gibs auf“ entstanden ist, einmal genauer, fällt auf,
dass es das Jahr ist, in welchem Franz Kafka wegen einer Erkrankung an Tuberkulose
frühpensioniert wurde. 14 Jahre lang arbeitete er bei der Arbeiter-Unfall-VersicherungsAnstalt. Er liebte seine Arbeit nie, doch wusste er zu schätzen, welch große Inspiration sie
für ihn darstellte. Tagtäglich wurde er mit den negativen Auswirkungen der Industrialisierung konfrontiert. Er sah verletzte, verstümmelte Arbeiter und lernte die menschen-
verachtende Grundeinstellung vieler Fabrikbesitzer kennen, die nur auf Profit und nicht
auf die Sicherheit und Gesundheit ihrer Angestellten bedacht waren. So bedeutete das
Ende seiner Beamtenlaufbahn eine Einschränkung seiner künstlerischen Tätigkeit. Das
Schreiben war für ihn allerdings eine Art der Therapie.
In direktem Bezug auf Kafka bedeutet die Aufforderung „Gibs auf“ wohl, seine Kunst, sich
selbst, sein Leben aufzugeben.
Verleiht man der Frage „Was soll ich aufgeben?“ Allgemeingültigkeit, wird die parabolische Tendenz der Erzählung deutlich. Als analoge Darstellung zeigt sie, dass man es aufgeben soll, in einer Welt Hilfe zu erbitten, in der zwischenmenschliche Beziehungen
nicht von Bedeutung sind, Anonymität herrscht und Vertrauen nur ein Zeichen von
Schwäche ist.
Wie auch der Schutzmann den Ich-Erzähler am Ende des Textes sich selbst überlässt, lässt
uns Kafka mit seinem Werk mit einer Vielzahl von Deutungsvarianten zurück.