Vice - RWTH Aachen University

Transcription

Vice - RWTH Aachen University
Der Jugendmedienschutz bei Gewalt darstellenden Computerspielen
Mediengewaltwirkungsforschung, Jugendschutzgesetz, Gewaltdarstellungsverbot & Moralpanik
Von der Philosophischen Fakultät der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen
zur Erlangung des akademischen Grades eines Doktors der Philosophie genehmigte Dissertation
vorgelegt von
Patrick Portz
Berichter:
Universitätsprofessor Dr. rer. pol. Ralph Rotte
Universitätsprofessor Dr. phil. Emanuel Richter
Tag der mündlichen Prüfung:
22.10.2013
Diese Dissertation ist auf den Internetseiten der Hochschulbibliothek online verfügbar.
"The whole principle is wrong;
it’s like demanding that grown men live on skim milk because the baby can’t eat steak." 1
1
HEINLEIN 1950, S.188.
Danksagung
Nach Jahren intensiver Arbeit möchte ich mich an dieser Stelle endlich bei all den Menschen in
meinem Leben bedanken, die mir in dieser entbehrungsreichen Zeit bewusst oder unbewusst, durch Rat und Tat oder sei es auch nur von Zeit zu Zeit durch ein offenes Ohr für
meine Ideen, Probleme und sonstigen Eigenheiten bei der Anfertigung meiner Doktorarbeit
geholfen haben, die ich hier aber leider nicht alle einzeln anführen kann. Mein besonderer
Dank gilt dabei meiner Partnerin Birte Jansen, die ich unzählige Male mit ausschweifenden
Monologen zu meiner Arbeit traktierte und die doch fast nie müde wurde, mir zuzuhören.
Auch danke ich meinen Eltern, ohne die mir meine Promotion schlichtweg nicht möglich
gewesen wäre. Nicht zuletzt möchte ich auf besonderen Wunsch auch Mephisto danken,
dessen aufmunterndes Wesen mir auch an dunkleren Tagen immer ein aufhellender Lichtblick war.
*
Gewidmet meinen Großeltern Maria und Walter J. Pfennig.
Inhaltsverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
9
Tabellenverzeichnis
11
1.
Einleitung
13
1. Teil: Der aktuelle Stand der Computerspielgewaltwirkungsforschung
17
2.
Die Computerspielgewaltwirkungsforschung
19
3.
Die Mediengewaltwirkungstheorien
20
3.1 Die Katharsishypothese
21
3.2 Die Stimulationshypothese
22
3.3 Die Desensibilisierungshypothese
23
3.4 Die Lerntheorie
25
3.5 Das General Aggression Model (GAM)
29
4.
Die Mediengewaltwirkungsfrage
31
5.
Die Operationalisierung von Computerspielgewaltexposition und -stimulus
36
5.1
Korrelationsstudien
36
5.2
Experimentalstudien
39
6.
Die Mediengewaltwirkungen
46
6.1
Aggressives Verhalten
46
6.2
Errregungen, aggressive Kognitionen, Emotionen & Desensibilisierungen
57
6.2.1
Erregung
57
6.2.2
Aggressive Kognition
59
6.2.3
Aggressive Emotionen und Desensibilisierung ggü. Gewalt
63
7.
Die Befunde von Metaanalysen
73
8.
Die Frage der praktischen Relevanz der Mediengewaltwirkungen
78
9.
Zusammenfassung: Aggressiv durch Mediengewalt?
83
2. Teil: Indizierungen, Alterskennzeichnungen und das Gewaltdarstellungsverbot
89
Der staatliche Jugendmedienschutzauftrag und seine Grenzen
91
10.1
Das Zensurverbot
93
10.2
Die Kunstfreiheit
97
10.
11.
Die Indizierung Gewalt darstellender Computerspiele durch die Bundesprüfstelle 99
11.1
Die Rechtsfolgen einer Indizierung
101
11.2
Das Indizierungsverfahren
104
5
11.3
11.4
11.2.1
Einleitung des Indizierungsverfahrens
104
11.2.2
Personelle Besetzung der BPjM (12er-Gremium)
105
Jugendgefährdende Gewaltdarstellungen
108
11.3.1
Sebstzweckhafte und detaillierte Mord- und Metzelszenen
116
11.3.2
Selbstjustiz
120
Schwer jugendgefährdende Medien
121
11.4.1
Kriegsverherrlichende Medien
122
11.4.2
Gewaltbeherrschte Medien
126
11.4.2.1 Besonders realistische Gewaltdarstellungen
127
11.4.2.2 Besonders grausame Gewaltdarstellungen
128
11.4.2.3 Besonders reißerische Gewaltdarstellungen
129
11.4.2.4 Darstellungen selbstzweckhafter Gewalt
130
11.4.2.5 Beherrschtheit des Geschehens
131
11.4.2.6 Schlussbemerkungen zu gewaltbeherrschten Medien
132
Offensichtlich schwer jugendgefährdende Medien
132
11.4.3
12.
11.5
Inhaltsgleiche Medien
133
11.6
Das vereinfachte Verfahren (3er-Gremium)
135
11.7
Nichtindizierungen
137
11.7.1
Gründe einer Nichtindizierung
137
11.7.2
Fälle geringer Bedeutung
140
11.7.3
Indizierungsverbote
142
11.8
Die Verjährung von Indizierungen
145
11.9
Der Rechtsweg gegen Indizierungsentscheidungen
147
11.10
Die Frage der Verhältnismäßigkeit der Indizierungsmaßnahme
148
11.10.1 Eignung der Maßnahme
148
11.10.2 Erforderlichkeit der Maßnahme
152
11.10.3 Angemessenheit der Maßnahme
153
Die Alterskennzeichnung von Computerspielen
157
12.1
Das Jugendverbot mit Erlaubnisvorbehalt
159
12.2
Die Besetzung der Prüfausschüsse und das Prüfverfahren der USK
160
12.3
Die Alterkennzeichnungen
161
12.4
Die Verweigerung der Alterskennzeichnung
162
12.5
Zweifelsfälle nach § 14 Abs. 4 Satz 3 JuSchG
163
12.6
Zusammenfassung: Das Altersfreigabeverfahren als Zensursystem
164
13.
Exkurs I: Das PEGI-System
166
14.
Das strafrechtliche Gewaltdarstellungsverbot (§ 131 StGB)
170
14.1
Der Schutzzweck der Norm
173
14.1.1
Schutz der Jugend
174
14.1.2
Schutz des Einzelnen
174
14.1.3
Schutz der Menschenwürde
175
6
14.1.4
14.2
Schutz des öffentlichen Friedens
176
Die Tatbestandsmerkmale der Norm
177
14.2.1
Schriften & Gewalttätigkeiten
178
14.2.2
Schilderung von Gewalttätigkeiten
180
14.2.3
Grausame Gewalttätigkeiten
181
14.2.4
Unmenschliche Gewalttätigkeiten
182
14.2.5
Verherrlichung u./o. Verharmlosung von Gewalttätigkeiten
184
14.2.5.1 Verherrlichung von Gewalttätigkeiten
184
14.2.5.2 Verharmlosung von Gewalttätigkeiten
187
14.2.6
Die Menschenwürde verletzende Gewaltdarstellungen
189
14.2.7
Menschenähnliche Wesen
192
14.2.8
Die Rechtspraxis deutscher Gerichte
194
14.3
Schutz der Kunst und der Vorgänge des Zeitgeschehens oder der Geschichte
197
14.4
Schlussbemerkungen zum Gewaltdarstellungsverbot
199
3. Teil: Die moralpanische "Killerspiel"-Debatte
205
15.
Ein aktuelles Modell der Moralpanik
207
16.
Die "Lex Steinhäuser"
209
17.
Medienhysterie: FRONTAL21 als Ausgangspunkt der Debatte
213
18.
Der Koalitionsvertrag vom 11.11.2005: "Verbot von 'Killerspielen'"?
215
19.
Das "Forschungsprojekt zu gewaltverherrlichenden Computerspielen"
219
20.
Der sog. Amoklauf von Emsdetten vom 20. November 2006
221
21.
Der Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung des Jugendschutzes (JuSchVerbG) 224
21.1
22.
Änderungen des JuSchG
225
21.1.1
Akkreditierung der Organisationen der freiwilligen Selbstkontrolle
225
21.1.2
Absolutes Vermietverbot jugendgefährdender Medien
227
21.1.3
Unzulässigkeit schwer jugendgefährdender Medien
228
21.1.4
Verbrechen ohne nachteilige Wirkungen
230
21.1.5
Abschaffung des Indizierungsschutzes
231
21.1.6
Einfache Mehrheiten beim Indizierungsverfahren
232
21.1.7
Höhere Bußgelder
233
21.2
Das Verbot virtueller "Killerspiele"
234
21.3
Schlussbemerkungen zum JuSchVerbG
238
Der KFN-Forschungsbericht Nr. 101
239
22.1
Die Kritik an der USK
243
22.1.1
Vorwürfe ggü. dem Testbereich
247
22.1.2
Der Vorwurf der Industrienähe
251
7
22.2
Die Reformvorschläge des KFN
251
22.3
Schlussbemerkungen zum Forschungsbericht
255
23.
Das 1. Gesetz zur Änderung des Jugendschutzgesetzes (1. JuSchGÄndG)
257
24.
Das Ende der "Killerspiel"-Debatte?
260
25.
Exkurs II: Der Fall DEAD SPACE 2
265
Zusammenfassung und Ausblick
269
Literaturverzeichnis
277
8
Abkürzungsverzeichnis
1. JuSchGÄndG:
1. StrRG:
3. FFGÄndG:
4. StrRG:
AAP:
ABl.:
BAJ:
BAnz.:
BayOblG:
BBFC:
BDKJ:
BGB:
BGH:
BGHSt:
BGHZ:
BITKOM:
BIU:
BMFSFJ:
BPAQ:
BPjM:
BPjS:
BR-Drs.:
BStMAS:
BStMI:
BT-Drs.:
BT-PlPr:
BVerfGE:
BVerwGE:
CRTT:
DSB:
DVO-JuSchG:
EEG:
ELSPA:
ERP :
F.A.S.:
fjs:
fMRt:
FSK:
FSK-Grs:
FSM:
GAM:
GCS:
GjS:
GSR:
HBI:
HR:
HSP:
IFG NRW:
K-JSG:
KFN:
KrWaffKontrG:
LIM:
NICAM:
IAPS:
IE:
IMK:
INI:
ISFE:
JMStV:
JÖSchG:
JÖSchNG:
JuSchG:
JuSchGÄndG:
JuSchVerbG:
KFN:
KJM:
KOM:
Ofcom:
OLJB:
OWiG:
PEGI:
PISA:
q.e.d.:
Erstes Gesetz zur Änderung des Jugendschutzgesetzes
1. Strafrechtsreformgesetz
Drittes Gesetz zur Änderung des Filmförderungsgesetzes
4. Strafrechtsreformgesetz
American Academy of Pediatrics
Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften
Bundesarbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz
Bundesanzeiger
Bayerisches Oberstes Landesgericht
British Board of Film Classification
Bund und der katholischen Jugend
Bürgerliches Gesetzbuch
Bundesgerichtshof
Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Strafsachen
Entscheidungssammlung des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen
Bundesverband Informationswirtschaft, Telekommunikation und neue Medien e.V.
Bundesverband Interaktive Unterhaltungssoftware e.V.
Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Buss-Perry Aggression Questionary
Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien
Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften (und Medien)
Drucksachen des Deutschen Bundesrates
Bayerisches Staatsministerium für Arbeit und Sozialordnung, Familie und Frauen
Bayerisches Staatsministerium des Innern
Drucksachen des Deutschen Bundestages
Plenarprotokoll des Deutschen Bundestages
Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts
Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts
Competitive Reaction Time Test
Deutscher Schützenbund e.V.
Verordnung zur Durchführung des Jugendschutzgesetzes
Elektroenzephalographie
Entertainment and Leisure Software Publishers Association
event-related potential
Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung
Förderverein für Jugend und Sozialarbeit e.V.
funktionelle Magnetresonanztomographie
Freiwillige Selbstkontrolle der Filmwirtschaft
Grundsätze der Freiwilligen Selbstkontrolle der Filmwirtschaft
Freiwillige Selbstkontrolle Multimedia-Dienstanbieter e.V.
General Aggression Model
Gewaltcomputerspiele
Gesetz über die Verbreitung jugendgefährdender Schriften (und Medien)
galvanic skin response
Hans-Bredow-Institut
heart rate
Hot-Sauce Paradigma
Informationsfreiheitsgesetz Nordrhein-Westfalen
Kärntner Gesetz vom 6. November 1997 über den Schutz der Jugend
Kriminologisches Forschungsinstitut Niedersachsen
Kriegswaffenkontrollgesetz
Landesinnenminister
Nederlands Instituut voor de Classificatie van Audiovisuele Media
International Affective Picture System
Indizierungsentscheidung
Innenministerkonferenz
Entschließung des Europäischen Parlaments
Interactive Software Federation of Europe
Staatsvertrag über den Schutz der Menschenwürde und den Jugendschutz in Rundfunk und Telemedien
Gesetz zum Schutze der Jugend in der Öffentlichkeit
Gesetz zur Neuregelung des Jugendschutzes in der Öffentlichkeit
Jugendschutzgesetz
Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Jugendschutzgesetzes
Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung des Jugendschutzes
Kriminologisches Forschungsinstitut Niedersachsen e.V.
Kommission für Jugendmedienschutz
Dokumente der Europäischen Union
Office of Communications
Oberste Landesjugendbehörde
Gesetz über Ordnungswidrigkeiten
Pan European Game Information
Programme for International Student Assessment
quod esset demonstrandum
9
RKG:
RKK:
RLG:
RStV:
SchSchmG:
SCR:
SexÄndG:
SGB VIII:
SHS:
SPIO/JK:
USK:
USK-Grs:
USK-PrO:
UT3:
VRA:
VSC:
VWB:
VwVfG:
WrJSchG:
WRV:
ZDF-StV:
Reichskulturkammergesetz
Reichskulturkammer
Reichslichtspielgesetz des Deutschen Reiches
Staatsvertrag für Rundfunk und Telemedien
Gesetz zur Bewahrung der Jugend vor Schund- und Schmutzschriften vom 18.12.1926
skin conductance response
Gesetz zur Änderung der Vorschriften über die sexuelle Selbstbestimmung und zur Änderung anderer Vorschriften vom 27.12.2003
Achtes Buch Sozialgesetzbuch
State Hostility Scale
Juristenkommission der Spitzenorganisation der Filmwirtschaft e.V.
Unterhaltungssoftware Selbstkontrolle
Grundsätze der Unterhaltungssoftware Selbstkontrolle
Prüfordnung der Unterhaltungssoftware Selbstkontrolle
Unreal Tournament 3
Video Recordings Act 1984
Video Standards Council
Volkswartbund
Verwaltungsverfahrensgesetz
Wiener Gesetz zum Schutz der Jugend
Weimarer Reichsverfassung
ZDF-Staatsvertrag
10
Tabellenverzeichnis
Tabelle 1:
Indizierungsanträge/-anregungen bei Computerspielen (2004-2012)
105
Tabelle 2:
Nach § 131 StGB bis Oktober 2013 beschlagnahmte Computerspiele
201
11
12
1.
Einleitung
COMPUTER SPACE war 1971 das erste je veröffentlichte kommerzielle Computerspiel2 überhaupt; seitdem avancierten Computerspiele innerhalb der nächsten 42 Jahre zu einem Massenphänomen.3 Die Branche erzielte 2012 nach Angaben des Bundesverbands Interaktive Unterhaltungssoftware e.V. (BIU) durch den Verkauf von ca. 73,7 Mio. träger-, wie auch telemedialen Computerspielen alleine in Deutschland einen Umsatz von 1.501 Mio. Euro, zzgl. 226
Mio. Euro für virtuelle Zusatzinhalte und 124 Mio. Euro an Gebühren für Online- (z.B. WORLD
OF WARCRAFT) und Browserpiele. Deutschland ist somit nach Großbritannien der zweitgrößte
europäische und global insg. der fünft- bis sechstgrößte Markt für Computerspiele;4 2011
spielten ungeachtet der Einkommensklasse ca. 23 Mio. Bundesbürger über zehn Jahren (d.h.
fast ein Drittel aller Deutschen) Computerspiele und lag der Altersdurchschnitt der Spieler bei
ungefähr 31 Jahren.5
Durch die enorme Verbreitung der Spiele interessieren sich aber auch zunehmend Medienkritiker für dieselben; Computerspiele wurden bereits in den 1980ern nicht nur als aggressionsfördernd, sondern z.T. auch ungeachtet konkreter Inhalte bspw. als stupidisierend, gesundheitsschädlich und suchtgefährlich, allg. motorische Unruhe, physiologische Übererregung, Stress,
Realitätsverlust6 und Phantasielosigkeit generierend, wie auch das sozialkompatible Kommunikationsverhalten und die Emotionen degenerierend kritisiert.7 Seit den 1990ern wurde zunehmend speziell ggü. Gewalt darstellenden Spielen der Vorwurf artikuliert, sie evozierten
deviantes, wie gewaltdelinquentes Verhalten (und gar Automatenaufbrüche)8 oder würden
gewaltbereite Rechtsradikale und ggf. radikale Autonome generieren.9 Aktueller machen u.a.
nach Christian PFEIFFER, dem Direktor des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen (KFN), Bildschirmmedien per se und insb. Gewalt darstellende Spiele "dick, krank,
2
3
4
5
6
7
8
9
Für eine Typologisierung von Computerspielen s. LADAS 2002, S.33-40 und KUNCZIK/ZIPFEL 2004, S.184. Im Folgenden
soll terminologisch nicht zwischen Computer- und Videospielen differenziert werden, insofern Videospielkonsolen immer
auch (spezialisierte) Computer sind (vgl. MERTENS/MEIßNER 2006, S.8).
Für eine Entwicklungsgeschichte der Computerspiele s. FROMME/VOLLMER 2000, S.5-9; DECKER 2005, S.52 und
SCHUMACHER 2010, S.24-41.
Vgl. MÜLLER-LIETZKOW 2007a und MÜLLER-LIETZKOW 2007b.
Vgl. BIU 2011a; BIU 2011b und QUANDT/FESTL/SCHARKOW 2011.
Dgl. ist zwar ein seit PLATON besonders populärer Vorwurf an die Medien, tatsächlich können aber selbst 3-jährige Kinder
bereits zwischen Realität und Fiktion differenzieren und erst recht Kinder ab ca. fünf Jahren, die Computerspiele als Spiele mit
eigenen Regeln realisieren, die nicht für die Realität gelten (vgl. HEIDTMANN 1992, S.91; KUNCZIK 1998, S.15;
SØRENSEN/JESSEN 2000; WOOLLEY/REET 2006 und FERGUSON/DYCK 2012).
Vgl. SACHER 2000, S.175f. und DECKER 2005, S.21ff..
Vgl. GLOGAUER 1993; HOPF 2004 und HOPF/HUBER/WEIß 2008.
WEIß 1997 kolportierte bspw. im Rahmen einer für solche Aussagen ungeeigneten Korrelationsstudie, dass (habituale)
Mediengewaltexpositionen per se Sympathien (männlicher) jugendlicher Rezipienten mit Gruppierungen evozierten, "bei
denen zur Durchsetzung eigener Interessen auch Gewalt eingesetzt wird (Skinheads, Hooligans, Rechtsradikale). […]
Indirekte Wirkungen der Horror-Gewaltfilme bereiten den Boden für Gewalt, die direkten Wirkungen anderer Gewaltmedien
konkretisieren das Ziel und die Objekte für Gewalt. Herauskommen kann ein brauner Macho oder bei türkischen Jugendlichen
ein radikaler Autonomer." (S.101-111) Die Jugendlichen würden nicht nur sehr stark mit gewaltbereiten radikalen oder gar
extremistischen Gruppierungen sympathisieren, sondern infolge dessen wahrscheinlich auch selbst gewaltbereit (S.98);
indiziell war dem Autor diesbzgl. aber nur ein (vermeintlich) immer gewaltaffineres Vokabular der Jugendlichen (S.102.),
ohne dass er dasselbe auch detaillierter analysieren würde. Ungeachtet dessen, dass bspw. die Fragebögen der Studie noch
zwischen Skinheads, Hooligans und Rechtsradikalen differenzierten, die Gruppierungen aber infolge fälschlich nur als Rechtsradikale subsumiert wurden (S.97), wie auch, dass Begriffe wie z.B. der der "Horror-Gewalt-Videos" (S.101) kein einziges
Mal definiert wurden und unzähliger (gravierendster) methodischer Defizite der Studie ignorierte der Autor insb. das klassische Henne-Ei-Problem: Dass bereits rechtsradikale oder radikal-autonome Rezipienten u.U. auch nur mehr gewaltdarstellende Medien rezipieren ist ein deutlich plausiblerer Rückschluss, den der Autor aber erst gar nicht erwägte. Im Gegenteil
behauptete auch noch WEIß 2002 diesbzgl.: "Eine direkte Schiene der Vermarktung geht dabei von Bravo, Bild über TVSchmuddeltalk und RTL-News bis hin zu Natural Born Killers, Freitag der 13. oder Carmageddon und Anti-Türken-Test im
PC oder Internet oder den aufpeitschenden Neonazisongs von 'Noie Werte' oder den 'Bösen Onkels'." (S.2) Am 18.06.2005
konstruierte WEIß 2005 auf dem Landespsychologentag in Freiburg aber eine noch abstrusere Mediengewaltwirkungshypothese: "[...] Traumatisierende Bilder können auch durch Medien autonom vermittelt und dann verinnerlicht werden. Dies kann
ich nicht alleine mit mir herumtragen. Ich suche mir – wie ein Alkoholiker – immer wieder die gleich belasteten und 'gleichgesinnten', besser gleichgestimmten, Kumpels aus denen sich dann relativ lang dauernde Gruppenbeziehungen, die Kameradschaften, entwickeln können. So ähnlich könnte man sich auch das Geschehen in den 20er Jahren bei der Entstehung des
Nationalsozialismus vorstellen als sich um Hitler die Gesinnungsgenossen scharten." (S.3) Mediengewaltdarstellungen als
Ausgangspunkt des 3. Reichs?! Wirkungsfantasien wie die skizzierten sind keine einmaligen Ausnahmen; auch Christian
PFEIFFER, Direktor des KFN, behauptete bspw., dass (gewaltdarstellende) Computerspiele zum Einstieg bei (gewaltbereiten)
"Rocker-Gruppen" (zitiert in: WILLE 2010) führen könnten und demonstrierte i.d.S. prägnant seine fehlende Expertise ggü.
der Rockerszene.
13
dumm und traurig"10 und gewaltbereit,11 so dass sie auch eine Ursache für die 2006 im Rahmen
der PISA-Studie demonstrierten Leistungsdefizite deutscher Schüler und speziell eines
steigenden schulischen Leistungsabstands zwischen Mädchen und Jungen zuungunsten letzterer
seit Anfang der 1990er,12 (infolge) gar für eine (vermeintlich) zunehmend abnehmende
Wirtschaftskraft der BRD seien.13 Computerspiele sollen nach HÄNSEL/HÄNSEL 2006 gar für
den sog. Abu-Ghuraib-Folterskandal u.ä. Skandale im Gefangenenlager der Guantanamo Bay
Naval Base und anderen Gefängnissen des US-amerikanischen Militärs verantwortlich sein.14
Gewalt darstellende (violente) Computerspiele werden sowohl für allg. gesellschaftliche
Gewaltentwicklungen (wie die vermeintliche Zunahme von Gewalt in der Gesellschaft), wie
auch spektakuläre Einzeltaten verantwortlich gemacht. Vor allem nach Gewalttaten wie z.B.
dem Amoklauf von Emsdetten vom 20.11.2006 werden inzwischen Gewalt darstellende
Computerspiele oftmals bereits unmittelbar nach der Tat als vermeintliche Auslöser derselben
präsentiert und Verbote solcher Spiele gefordert, ohne dass der tatsächliche Stand der
Forschung zur Wirkung solcher Spiele oder auch nur die geltende Rechtslage im Rahmen
solcher Debatten zur diskutiert würde. Wie selbstverständlich solche Aversionen gegen Gewalt
darstellende Computerspiele geworden sind, demonstrierte bspw. auch die letzte Repräsentativumfrage zur Verankerung des Wertes der Freiheit in der deutschen Bevölkerung des John Stuart
Mill Instituts; auf die Frage "Unabhängig davon, ob das tatsächlich verboten ist oder nicht: Was
meinen Sie, was sollte der Staat in jedem Fall verbieten, wo muss der Staat die Menschen vor
sich selber schützen?" antworteten 65 % der Bevölkerung ab sechzehn Jahren selbst noch im
August 2011, dass "Computerspiele mit vielen Gewaltdarstellungen" verboten werden sollten.15
Tatsächlich hat Deutschland aber wohl bereits das strengste Jugendmedienschutzregime aller
demokratischen Staaten der Welt und ein strafrechtliches Verbot bestimmter Gewaltdarstellungen, deren Verfassungskonformität die Betroffenen selbst aber oftmals in Frage stellen und
als Zensur empfinden.
Die vorliegende Dissertation soll nun einen Beitrag zu der vordringlichen Frage der evtl.
Probleme und Defizite des Jugendmedienschutzes, wie auch des strafrechtlichen Gewaltdarstellungsverbotes nach § 131 StGB bei Gewalt darstellenden Computerspielen, wie auch zur evtl.
Notwendigkeit entsprechender Verbesserungen leisten. Die rechtswissenschaftliche Literatur hat
das Thema zwar bereits ausführlich diskutiert und nicht nur detailliertere Darstellungen,16
sondern auch kritische(re) Analysen des Jugendmedienschutzsystems, wie auch des strafrechtlichen Gewaltdarstellungsverbots bei solchen Computerspielen u.a. Medien hervorgebracht,17
aber ungeachtet dessen, dass im Rahmen dieser Arbeiten im Folgenden noch als relevant
erachtete Probleme nicht oder nicht hinreichend diskutiert oder auch nur einfach anders
bewertet werden, wird der aktuelle Forschungsstand zu den Wirkungen von Gewalt darstellenden Computerspielen im Rahmen solcher Analysen insg. nicht oder nicht hinreichend
thematisiert, allenfalls werden bspw. einzelne Wirkungsstudien kursorisch referiert oder wird
insg. argumentiert, dass negative Wirkungspotenziale medialer Gewaltdarstellungen zwar nach
wie vor nicht sicher seien, dass solche aber vernünftigerweise auch nicht bestritten werden
könnten.18 Das eigentliche wirkungstheoretische Fundament der Rechtslage wird also nicht angemessen thematisiert. Die zwei zentralen Fragen der Arbeit sind demnach die nach den tatsächlichen Wirkungen von Gewalt darstellenden Computerspielen und im Lichte dessen die
nach der materiellen Verfassungsmässigkeit des Jugendmedienschutzsystems, wie auch des
strafrechtlichen Gewaltdarstellungsverbotes nach § 131 StGB bei solchen Spielen.
10
11
12
13
14
15
16
17
18
Zitiert in: Krell 2005.
Vgl. SCHMALER/WIEDERSHEIM 2006. Dgl. auch bereits SPITZER 2005b, S.245.
Vgl. HÖYNCK/MÖßLE/KLEIMANN et al. 2007b, S.17. Bzgl. einer Kritik s. BERTHOLD/HOLLING 2007b.
Vgl. Christian PFEIFFER, zitiert in: SCHMALER/WIEDERSHEIM 2006.
Vgl. HÄNSEL/HÄNSEL 2006, S.9.
Vgl. PETERSEN 2012, S.45.
Vgl. NIKLES/ROLL/SPÜRCK et al. 2005.
Vgl. STATH 2006; SCHULZ/BRUNN/DREYER et al. 2007; STUMPF 2009 und EIFLER 2011.
Vgl. STATH 2006, S.261f..
14
Insofern soll im ersten Teil der Dissertation nach der Prämisse, dass Gefährdungen von Kindern
und Jugendlichen, wie auch von Erwachsenen durch mediale Gewaltdarstellungen die essentiell
notwendigen Bedingungen für einen staatlichen Schutz vor solchen Darstellungen sind, der
aktuelle Forschungsstand zu den Wirkungen von Gewaltdarstellungen in Computerspielen, d.h.
die gängigen Mediengewaltwirkungstheorien und -modelle, wie auch die tatsächlichen Inhalte
der quantitativen Computerspielgewaltwirkungsforschung dargestellt und analysiert werden.
Um eine eigene kritische Literaturübersicht anfertigen zu können, wurden einerseits die Inhalte
bereits veröffentlichter Literaturübersichten und Metaanalysen, wie auch die ensprechenden
Literaturverzeichnisse derselben auf der Suche nach einschlägiger Literatur und entsprechender
Wirkungsstudien selbst recherchiert und ausgewertet. Andererseits wurden auch der Methode
von ANDERSON/SHIBUYA/IHORI et al. 2010 folgend die zwischen 1984 (dem Beginn der
Computerspielgewaltwirkungsforschung)19 und 2012 angefertigen Studien über die Datenbanken PsycINFO und PubMed mittels der Suchbegriffe "(video* or computer or arcade) and
(game*) and (attack* or fight* or aggress* or violen* or hostil* or ang* or arous* or prosocial
or help* or desens* or empathy)"20 ermittelt, die wiederum einen Ausganspunkt für weitere
Literaturrecherchen darstellten. Von besonderer Bedeutung ist dabei die Frage, ob Gewalt darstellende Computerspiele aggressionsfördernd wirken und ggf. ob solche Wirkungen auch
substanziell relevant sind.
Im zweiten Teil der Dissertation sollen basierend auf den Ergebnissen des ersten Teils nicht nur
die gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend, d.h. die Problematik des Verfahrens
der Indizierung bestimmter Gewalt darstellender Computerspiele vor der Bundesprüfstelle für
jugendgefährdende Medien (BPjM) und das System der Altersfreigabe für Computerspiele
durch die Obersten Landesjugendenbehörden (OLJB), sondern auch das erwähnte strafrechtliche Verbot durch deutsche Gerichte diskutiert werden. Die Diskussion beschränkt sich dabei
aber aus Gründen der Übersichtlichkeit, wie auch des Umstands, dass ein Altersfreigabeverfahren nur für solche Spiele existiert und dieselben markttechnisch nach wie vor am
bedeutsamsten sind, auf die entsprechende Problematik für trägermediale Computerspiele nach
§ 1 Abs. 2 des Jugendschutzgesetzes (JuSchG): "Trägermedien […] sind Medien mit Texten,
Bildern oder Tönen auf gegenständlichen Trägern, die zur Weitergabe geeignet, zur unmittelbaren Wahrnehmung bestimmt oder in einem Vorführ- oder Spielgerät eingebaut sind."21 D.h.,
dass der Themenbereich telemedialer Computerspiele (wie z.B. Browserspiele) aus Gründen
analytischer Klarheit ausgespart wird.
Im dritten Teil der Dissertation sollen letztlich die politischen Debatten über Gewalt darstellende Computerspiele zwischen 1999 und 2012 beschrieben und analysiert werden, vor allem
die Entwicklung und die Inhalte der Kritik an den mit dem neuen JuSchG am 01.04.2004 auch
für solche Spiele in Kraft getretenen Altersfreigabeverfahren und der damit einhergehenden
Forderungen nach weiteren Verschärfungen des Jugendmedienschutzes, wie auch die
Forderungen nach einem absoluten Herstellungs- und Verbreitungsverbot von als "Killerspielen" diabolisierten Spielen. Insofern sollen insb. der bayerische Entwurf eines Gesetzes zur
Verbesserung des Jugendschutzes (JuSchVerbG), der massive Änderungen des JuSchG und als
einziger konkreter Gesetzesentwurf auch ein Verbot von "Killerspielen" formulierte, wie auch
der KFN-Forschungsbericht Nr. 101 ("Jugendmedienschutz bei gewalthaltigen Computerspielen: Eine Analyse der USK-Alterseinstufungen"), der das Altersfreigabeverfahren bei der im
Laufe der Debatte diskreditierten Unterhaltungssoftware Selbstkontrolle (USK) kritisierte,
diskutiert werden.
19
20
21
Vgl. KIRSH 2010, S.204-208.
Vgl. ANDERSON/SHIBUYA/IHORI et al. 2010, S.157.
Bzgl. einer detaillierteren Definition von Trägermedien s. STATH 2006, S.50-54.
15
16
1. Teil:
Der aktuelle Stand der Computerspielgewaltwirkungsforschung
17
18
2.
Die Computerspielgewaltwirkungsforschung
Die Geschichte der Mediengewaltwirkungsforschung ist bereits seit den zwischen 1929 und
1932 veröffentlichten (sog.) Payne Fund Studies22 eine Geschichte voller Missverständnisse:
Frappant ist insb. das Ausmaß der Prämisse, dass die Forschung seit Jahrzehnten – spätestens
seit dem internationalen "Boom der Fernsehwirkungsforschung im Bereich der Wirkungen von
Gewaltdarstellungen"23 infolge der Paradigmatisierung der sozial-kognitiven Lerntheorie24 (s.u.)
in den 1960ern – konstant demonstriere, dass Mediengewaltdarstellungen u.a. direkt u./o. indirekt die Wahrscheinlichkeit kurz- und langfristig aggressiven oder gar gewalttätigen
Verhaltens erhöhten.25
Bekannt ist i.d.S. das "Joint Statement on the Impact of Entertainment Violence on Children"
der American Academy of Pediatrics (AAP), der American Academy of Child & Adolescent
Psychiatry, der American Psychological Association, der American Medical Association, der
American Academy of Family Physicians und der American Psychiatric Association vom
26.07.2000, die behaupteten, dass "well over 1000 studies […] point overwhelmingly to a
causal connection between media violence and aggressive behavior in some children. […] Its
effects are measurable and long-lasting. Moreover, prolonged viewing of media violence can
lead to emotional desensitization toward violence in real life."26 Der Präsident der AAP
proklamierte gar drei Monate später ggü. dem U.S. Senate Committee on Commerce, Science,
and Transportation, dass "more than 3,500 research studies in the United States and around the
world […] have examined whether there is an association between exposure to media violence
and subsequent violent behavior. All but 18 have shown a positive correlation […]."27 Auch das
Committee on Public Education der AAP behauptete dgl.,28 referierte aber tatsächlich nicht etwa
diesbzgl. aussagekräftige Metaanalysen, Literaturübersichten o.ä., die aktuell nur zwischen ca.
200 und 300 diesbzgl. so inkonistenter Studien finden können, dass oftmals (die tatsächliche
Aussagekraft der Studien aber ignorierend) argumentiert wird, dass sich anhand der Literatur
prinzipiell jede denkbare Position bzgl. der Wirkung von Mediengewaltdarstellungen einnehmen lassen könne,29 sondern nur ein populärwissenschaftliches Pamphlet von GROSSMAN/
DEGAETANO 1999.30
Das Argument ad numerum ist seitdem zwar virulent,31 aber insg. substanziell falsch: Bereits
FREEDMAN 2002 argumentierte, dass zwar innerhalb der letzten Jahrzehnte tatächlich insg.
tausende Medienwirkungsstudien veröffentlicht worden sein könnten, nicht aber etwa
empirische Mediengewaltwirkungsstudien, die die Wirkungen von Gewaltdarstellungen auf das
aggressive oder gar gewalttätige Verhalten der Probanden analysieren.32 Gleichzeitig
demonstrierte der Autor, dass nur 37 % der 87 im Rahmen der Literaturübersicht analysierten
(experimentellen) Studien statistisch signifikante Zusammenhänge zwischen der Rezeption
medialer Gewaltdarstellungen und dem aggressiven Verhalten der Probanden konstatierten, 41
% dies aber nicht konnten (22 % der Resultate waren mehr oder weniger ambivalent). Ignorierte
der Autor die fragwürdigeren der Studien, die aggressives Verhalten z.B. über das Zerplatzenlassen von Luftballons u.ä. operationalisierten (s.u.), demonstrierten gar 55 % der Studien keine
und nur noch 28 % statistisch signifikante Zusammenhänge solcher Art.
22
23
24
25
26
27
28
29
30
31
32
Vgl. CHARTERS 1935; FORMAN 1935 und LOWERY/DEFLEUR 1995, S.382.
KREBS 1994, S.354.
Vgl. BANDURA/ROSS/ROSS 1961; BANDURA/ROSS/ROSS 1963 und BANDURA/WALTERS 1963.
Vgl. BOYLE/HIBBERD 2005, S.22f./30f.; FERGUSON 2010, S.69f. und FERGUSON/DYCK 2012, S.226.
COOK/KESTENBAUM/HONAKER et al. 2000.
COOK 2000, S.2.
Vgl. BARON/BROUGHTON/BUTTROSS et al. 2001, S.1223.
Vgl. THEUNERT 1987, S.10; KUNCZIK 1988, S.73; STOLTE 1988, S.12; MEIROWITZ 1993, S.78-81; SWOBODA 1994,
S.419; FRITZ/HÖNEMANN/MISEK-SCHNEIDER et al 1997, S.197; FOWLES 1999, S.49; MERTEN 1999, S.9ff.; FRITZ/
FEHR 2003, S.50; KUNCZIK/ZIPFEL 2004, S.238; GOLDSTEIN 2005, S.350 und BUTTS 2006, S.21.
Vgl. FERGUSON 2010, S.72.
Vgl. STRASBURGER 2007, S.1398. In der deutschsprachigen Literatur kursiert gar der Mythos von mehr als 5.000(!) internationalen Mediengewaltwirkungsstudien (vgl. GROEBEL/GLEICH 1993, S.15, KÜBLER 1998, S.471, KUNCZIK 1998,
S.IX, LUDWIG/PRUYS 1998, S.597; GRIMM 1999, S.57 und RÖSER 2003, S.216).
Vgl. FREEDMAN 2002, S.24.
19
Ungeachtet dessen behaupteten bspw. auch noch ANDERSON/BERKOWITZ/DONNERSTEIN
et al. 2003, wie auch ANDERSON/HUESMAN 2005, dass zweifelsfrei sei, dass Mediengewaltdarstellungen die Wahrscheinlichkeit kurz- und langfristig aggressiven oder gar gewalttätigen
Verhaltens erhöhe. Speziell für den Bereich der Wirkungen Gewalt darstellender Computerspiele behaupteten ENGELSTÄTTER/CUNNINGHAM/WARD 2011: "Psychological studies
invariably find a positive relationship between violent video game play and aggression."33
Bestätigungsfehler, die das Resultat eines noch zu diskutierenden Publikationsbias (positive
Wirkungszusammenhänge demonstrierende werden wahrscheinlicher als keine Zusammenhänge
demonstrierende Studien publiziert) und eines Zitierbias (Forscher ignorieren Studien – z.T. die
eigenen –, insofern sie den selbst konjizierten, aggressionssteigernden Medienwirkungshypothesen widersprechen), wie einer unkritisch-affirmativen Studienauswahl seitens der Forscher
sind, die die (im Folgenden skizzierten) endemischen, so evidenten, wie gravierenden Defizite
der referierten Studien gar nicht erst realisieren u./o. gar ignorieren (als orientierten sich die
Autoren nur an den Abstracts der Studien) und infolge dessen selbst solche Studien als Belege
aggressionssteigernder u.ä. Medienwirkungen referieren, die vielmehr diesbzgl. Negativbefunde
darstellen (wie das z.B. bei ANDERSON/DILL 2000 als einer der seit über einem Jahrzehnt am
häufigsten zitierten Studien der Fall ist).34 Fehler, die auch symptomatisch für eine Forschungsdisziplin sind, die von z.T. seit Jahrzehnten gemeinsam agierenden, ein Gros der fraglichen
Studien anfertigenden und mehr oder weniger selbstreferentiellen Zitierkartellen (wie aktuell
z.B. dem von Craig A. ANDERSON, Brad J. BUSHMAN, Douglas A. GENTILE, L. Rowell
HUESMANN et al.) geprägt ist.35
Tatsächlich sind die theoretischen, wie methodischen Probleme der Mediengewaltwirkungsforschung insg. immer noch dieselben, die bereits seit ca. sechs Jahrzehnten ggü. der Forschung
im Bereich der Wirkungen von Fernsehgewaltdarstellungen moniert werden,36 insofern ist eine
Darstellung des Forschungsstandes der Mediengewaltwirkungsforschung zwangsläufig auch
immer eine Darstellung der endemischen Probleme derselben.
3.
Die Mediengewaltwirkungstheorien
Eine gewisse Obsoleszenz der empirischen Mediengewaltwirkungsforschung demonstriert u.a.
der Umstand, dass sich das Gros derselben auch noch immer essentiell an den Axiomen des
ausschl. medienzentrierten, behavioristischen Stimulus-Reaktion-37 oder vielmehr des neobehavioristischen Stimulus-Organismus-Reaktion-Modells38 der Medienwirkung orientiert;39 die
dominierende Frage der Forschung ist nach wie vor die nach den genuinen, linearen Kausalwirkungen dargestellter Gewalt geblieben.40 Formale und andere (z.B. kontextuelle) Medienin33
34
35
36
37
38
39
40
ENGELSTÄTTER/CUNNINGHAM/WARD 2011, S.6.
Vgl. GRIFFITHS 1999; FREEDMAN 2002; GAUNTLETT 1995; SAVAGE 2004; FERGUSON 2007b, S.310; FERGUSON
2009, S.108ff. und FERGUSON 2010, S.73.
Vgl. VOGELSANG 1991, S.111f. und KUNCZIK 1998, S.274.
Vgl. DURKIN 1995; GAUNTLETT 1995; FREEDMAN 1996; KUNCZIK/ZIPFEL 1998, S.564; MERTEN 1999, S.10f.;
GAUNTLETT 2001, S.56f.; FREEDMAN 2002; RÖSER 2003, S.216; SHERRY 2007; TREND 2007; GRIMES/
ANDERSON/BERGEN 2008; FERGUSON 2009; FERGUSON 2010 und FERGUSON/SAVAGE 2012. Bzgl. der
endemischen, im Folgenden skizzierten Defizite der Mediengewaltwirkungsforschung speziell am Bsp. des Bereichs der
Wirkungen gewaltdarstellender Computerspiele s. auch die diesbzgl. kritische(re)n Kommentare und Literraturübersichten,
wie bspw. von EMES 1997; GUNTER 1998; GRIFFITHS 1999; DURKIN/AISBETT 1999; GRIFFITHS 1999; WARTELLA/
O’KEEFE/SCANTLIN 2000; BENSLEY/EENWYK 2001; UNSWORTH/WARD 2001; FERGUSON 2002; FRINDTE/
OBWEXER 2003; CUMBERBATCH 2004; KUNCZIK/ZIPFEL 2004, S.236ff.; OLSON 2004; SAVAGE 2004;
SOUTHWELL/DOYLE 2004; GOLDSTEIN 2005; BRYCE/RUTTER 2006; BUTTS 2006; SCHULZ/BRUNN/DREYER et
al. 2007, S.66; SHERRY 2007; FERGUSON/RUEDA/CRUZ et al. 2008; FERGUSON 2009; MITROFAN/PAUL/SPENCER
2009 und dem AUSTRALIAN ATTORNEY-GENERAL’S DEPARTMENT 2010.
Vgl. LASWELL 1927, S.630.
Vgl. WOODWORTH 1929.
Vgl. SCHULZ 1982, S.50; BOSSELMANN 1987, S.118; MERTEN 1994, S.296; SANDER/VOLLBRECHT 1994, S.362;
SCHENK 1998, S.527; MAST 1999, S.57; HICKETHIER 2001, S.10; VOLLBRECHT 2001, S.168; HAUSMANNINGER
2002a, S.42 und RÖSER 2003, S.216.
Vgl. THEUNERT 1987, S.25; DRINCK/EHRENSPECK/HACKENBERG et al. 2001, S.5; EISERMANN 2001, S.43;
WEBER 2003, S.39f. und SCHULZ/ BRUNN/DREYER et al. 2007, S.45. Bzl. einer detaillierten Dekonstruktion der zentralen
Axiome der beiden Modelle, d.h. der Annahme der Transitivität, Proportionalität und Kausalität des Rezeptionsprozesses, s.
insb. MERTEN 1994, S.295ff..
20
halts-, personale Rezipienten- und situationale Rezeptionsvariablen werden nicht oder ggf.
bestenfalls nur als mediatisierende Störfaktoren der für alle Rezipienten prinzipiell als mehr
oder weniger identisch konjizierten, ausschließl. am Stimulus festgemachten Wirkungen, nicht
aber (wie es realistischererweise z.B. im Rahmen der rezipientenorientierteren Medien- und
Kommunikationswissenschaft und der allg. Medienpsychologie spätestens seit den 1970ern der
Fall ist)41 als für evtl. Wirkungspotenziale selbst erst gleichermaßen konstitutiv realisiert.42
Infolge dessen ist den Mediengewaltwirkungstheorien und -studien auch die gem. MERTEN
1994 wesentliche Annahme der beiden atavistischen Modelle nach wie vor inhärent: "Gleicher
Stimulus erzeugt gleiche Wirkung […] und […] je intensiver/anhaltender/direkter der Stimulus,
desto größer die Wirkung […]."43 Die Selektivität, Reflexivität und Konstruktivität des
Rezeptionsprozesses werden ignoriert, so dass die Forschung die Rezipienten letztlich auch immer noch als vermeintlich objektive Medienstimuli unkritisch-affirmativ adaptierende, passive
tabulae rasa konzipiert und i.d.S. eine pro forma konjizierte Uniformität zwischen Stimulus und
Reaktion impliziert, die bereits BARKER 2001 monierte: "So horrible things will make us
horrible, not horrified. Terrifying things will make us terrifying, not terrified. To see something
aggressive makes us feel aggressive, not aggressed against. And the nastier it is, the nastier it is
likely to make us. This idea is so odd, it is hard to know where to begin challenging it […]."44
I.d.S. resümierte auch bereits CUMBERBATCH 2004 den Forschungsstand: "[…] perhaps the
most obvious deficiency lies in the grossly oversimplified approach taken to both media content
and media experiences."45
Das prägnanteste Beispiel für die skizzierte Problematik ist die für die Mediengewaltwirkungsforschung insg. prototypische, aber natürlich nicht strapazierbare Suggestionshypothese, nach
der die Rezipienten dargestellte Mediengewalt mehr oder weniger identisch, wie auch unmittelbar imitieren.46 Nicht überraschend sind aber auch die im folgenden skizzierten Wirkungstheorien der Computerspielgewaltwirkungsforschung, die größtenteils auf dieselben Wirkungstheorien, wie auch bereits die Film- und Fernsehgewaltwirkungsforschung zurückgreift,47 kaum
plausibler oder auch nur wesentlich elaborierter.48
3.1
Die Katharsishypothese
Nach der von FESHBACH 1961 formulierten und von LORENZ 1963 popularisierten
aristotelischen Katharsishypothese fungiert u.a. Phantasieaggression, wie z.B. dargestellte
Gewalt als funktionales Äquivalent, resp. Ventil real aggressiven Verhaltens und reduziert infolge die Aggressivität und konsequenterweise auch das aggressive Verhalten der Rezipienten.49
Die Hypothese gilt im Rahmen der Film- und Fernsehforschung seit den 1980ern zwar als
falsifiziert,50 die Versuchsanordnungen orientierten sich aber bis heute (ungeachtet z.T. im
41
42
43
44
45
46
47
48
49
50
Vgl. BOSSELMANN 1987, S.119; DOELKER 1989, S. 201; WINTER 1992, S.75; MERTEN 1994, S.297; AUFENANGER
1995, S.229; FRIEDRICHSEN 1995, S.400; SCHABEDOTH 1995, S.395; MOSER 1995, S.144; WINTER 1995, S.1626/115; HUNZIKER 1998, S.25; MERTEN 1999, S.357; FROMME/VOLLMER 2000, S.12 und FRITZ/FEHR 2003, S.51.
Vgl. VOGELSANG 1991, S.75f.; BOMMERT/WEICH/DIRKSMEIER 1995, S.15f./21; KÜBLER 1998, S.477f.; RÖSER
2003, S.216; CUMBERBATCH 2004, S.32 und STRÜBER 2006, S.44.
MERTEN 1994, S.294ff..
BARKER 2001, S.38.
CUMBERBATCH 2004, S.33.
Vgl. KUNCZIK 1978, S.99; KUNCZIK 1998, S.99-104; VOLLBRECHT 2001, S.169 und BUCHLOH 2002, S.44f..
Vgl. CUMBERBATCH 2004, S.11; KUNCZIK/ZIPFEL 2006, S.303 und KUNCZIK 2007, S.1.
Vgl. FRINDTE/OBWEXER 2003, S.9f..
Vgl. KUNCZIK 1975, S.135-293; KUNCZIK 1978, S.35; GUGEL 1983, S.75; LUKESCH 1990, S.139; VOGELSANG 1991,
S.101; KUNCZIK/ZIPFEL 1998, S.564f.; MERTEN 1999, S.131; DRINCK/EHRENSPECK/HACKENBERG et al. 2001,
S.4; EISERMANN 2001, S.46; WIEMKEN 2001b, S.60; BUCHLOH 2002, S.43 und TEDESCHI 2002, S.575f..
Vgl. KUNCZIK 1988, S.73; VOGELSANG 1991, S.101; LADAS 2002, S.62ff. und KUNCZIK/ZIPFEL 2004, S.72. Autoren
wie KUNCZIK/ZIPFEL 2010 argumentieren regelmäßig, dass vereinzelt festgestellte Aggressionsreduktionen infolge der
Mediengewaltexposition besser mit der sog. Inhibitionhypothese (s. KUNCZIK 1978, S.35; GUGEL 1983, S.75f.; SCHIRP
1996; MERTEN 1999, S.131; VOLLBRECHT 2001, S.169; BODMER 2002, S.34; BUCHLOH 2002, S.43 und FEIBEL
2004, S.146) erklärbar seien: "Diesem Ansatz zufolge löst die Beobachtung medialer Gewalt – v.a. bei Darstellung der
negativen Konsequenzen violenter Akte – Aggressionsangst aus, wirkt damit abschreckend auf den Rezipienten und hemmt
auf diese Weise die Neigung zu eigener Gewaltausübung." (S.142) Bzgl. evtl. Medienbedingungen einer Inhibitionswirkung s.
GRIMM 2000, S.50. Die Inhibitionshypothese wurde aber kaum empirisch untersucht (vgl. BUCHLOH 2002, S.43-44), insb.
21
Folgenden skizzierter, endemischer Defizite der Mediengewaltwirkungsforschung) größtenteils
nur an der unrealistischen Prämisse, dass Gewaltdarstellungen per se (ungeachtet des Kontextes
derselben etc.) immer und ggü. allen Rezipienten, ungeachtet der Stimmung und der Nutzungsmotivation derselben, wie auch der Rezeptionssituation generell karthatische Wirkungen
zeitigen können sollen.51 Insofern wurde auch bereits in Frage gestellt, dass evtl. Katharsispotenziale dargestellter Gewalt bis heute überhaupt jemals probat analysiert worden sind.52
Dgl. gilt auch für die diesbzgl. Computerspielgewaltwirkungsforschung,53 ungeachtet dessen,
dass ein paar aktuellere Studien eine Aggressionsreduktion infolge des Spielens Gewalt darstellender Computerspiele indizieren, der Forschungsstand aber auch in dem Fall sehr heterogen
ist.54 Nicht ignoriert werden darf aber, dass die Spieler selbst (nicht nur Gewalt darstellende)
Computerspiele oftmals zur Stimmungsregulation, wie bspw. zum Abreagieren negativer
Emotionen und Aggressionen, wie auch zur Stressbewältigung, resp. Kompetenzhygiene
nutzen.55 Dass dgl. auch tatsächlich funktionieren kann, ist prinzipiell plausibel, wurde aber bis
heute kaum analysiert; ggf. kanalisieren spannende Spiele, resp. die durch dieselben
verursachten flow-Erlebnisse die Aufmerksamkeit der Spieler56 oder ermüdet langfristigeres
Spielen dieselben.57 Solche Wirkungen wären dann aber keine spezifischen Gewaltdarstellungswirkungen mehr, ungeachtet dessen, dass die spannenderen oftmals auch die Gewalt
darstellenden Spiele sind und die besondere Effektanz von virtuellem Gewaltverhalten (z.B. die
spielerinduzierte Hervorrufung von Blut- und Goreeffekten auf Knopfdruck) u.U. für die
(unroutinierteren) Spieler aufmerksamkeitsfördernd sein könnten. Die klassischen Katharsisannahmen sind aber insg. kaum oder gar nicht plausibel.
3.2
Die Stimulationshypothese
Die Stimulationshypothese nach JO/BERKOWITZ 1994 ist ein kognitives Modell neoassoziativer Netzwerke,58 gem. dem Gewaltdarstellungen kurzfristige kognitive Wirkungen ggü.
den Rezipienten zeitigen können, so dass, "for a short time afterwards, their thoughts and
actions are colored by what they have just seen, heard, and/or read […]. […] Under certain
circumstances and for a short period of time, there is an increased chance that the viewers will
(a) have hostile thoughts that can color their interpretation of other people, (b) believe other
forms of aggressive conduct are justified and/or will bring them benefits, and (c) be aggressively inclined."59 Infolge dieser Prägung würden nach der Mediengewaltrezeption in ambigen,
potenziellen Konfliktsituationen (z.B. Unfällen, Rempeleien) ggf. aggressive Verhaltensskripte
zugänglicher, so dass letztlich auch aggressives Verhalten wahrscheinlicher sei; habituelle
Mediengewaltexpositionen könnten solchermaßen aggressive Verhaltensskripte u.U. gar langfristig aktivieren.60 SALISCH/OPPL/KRISTEN 2007 argumentieren aber, dass eine das sog.
51
52
53
54
55
56
57
58
59
60
noch nicht im Rahmen der Computerspielgewaltwirkungsforschung.
Vgl. FREITAG/ZEITTER 1999 und BODMER 2002, S.34. Bzgl. diverser Bsp. für fragwürdige Versuchsanordnungen zur
Analyse evtl. Katharsiswirkungen s. WEGGE/KLEINBECK 1997.
Vgl. SCHINDLER 2001, S.34f.. Frappant ist das Ausmaß der kategorischen Negierung evtl. karthatischer Gewaltdarstellungswirkungen (auch bereits ggü. Computerspielen, als dgl. noch gar nicht analysiert worden war) und der diesbzgl. Polemik;
bspw. bezeichnete SELG 1997 die Hypothese mokant als "Stein der Weisen" und argumentierte, man müsse, "der Hypothese
konsequent folgend, 1.) generell möglichst viel Gewalt zeigen. 2.) speziell auch möglichst viel sexuelle Gewalt verherrlichen
und 3.) noch spezieller vor allem auch möglichst viel härteste Kinderpornographie ausstrahlen. Seltsam, daß kein Medienmacher, kein Katharsistheoretiker diese naheliegenden Vorschläge je gemacht hat. Warum wohl nicht? Weil jeder spürt, daß es
eine solche Katharsis nicht gibt." Gem. OTTO 2008 wird die Hypothese gar systematisch unterdrückt (S.159-188).
Vgl. SHERRY 2007; FERGUSON/RUEDA 2010, S.100 und KUNCZIK/ZIPFEL 2010, S.41-49.
Vgl. COLWELL/KATO 2003; UNSWORTH/DEVILLY/WARD 2007; SHIBUYA/SAKAMOTO/IHORI et al. 2008 und
DENZLER/HÄFNER/FÖRSTER 2012.
Vgl. KESTENBAUM/WEINSTEIN 1985; FRITZ/MISEK-SCHNEIDER 1995, S.90; WEGGE/KLEINBECK/QUÄCK 1995,
S.214; LADAS 2002; FEIBEL 2004, S.145; KUTNER/OLSON 2008, S.113/136/153; OLSON/KUTNER/WARNER 2008
und FERGUSON/OLSON 2012.
Vgl. LADAS 2002, S.138 und BUTTS 2006, S.23.
Vgl. SHERRY 2001 und FRITZ/FEHR 2003, S.53f..
Vgl. SALISCH/OPPL/KRISTEN 2007, S.85.
JO/BERKOWITZ 1994, S.45f.; vgl. KUNCZIK 1978, S.34f.; BERKOWITZ 1990; LUKESCH 1990, S.304; GRIMM 1999,
S.73; MERTEN 1999, S.132; EISERMANN 2001, S.47; BUCHLOH 2002, S.43; KUNCZIK/ZIPFEL 2004, S.15; KUNCZIK/
ZIPFEL 2005, S.103ff.; FRINDTE/GEYER 2007, S.177 und SALISCH/OPPL/KRISTEN 2007, S.85f..
Vgl. KUNCZIK/ZIPFEL 2004, S.124. Bzgl. der Skripttheorie s. KUNCZIK/ZIPFEL 2010, S.227ff..
22
Priming begünstigende (resp. für dgl. gar notwendige) Bedingung sei, "dass die Gewaltdarstellungen auch tatsächlich als Aggression wahrgenommen werden (und nicht zum Beispiel als
sportlicher Wettkampf) und gerechtfertigt erscheinen, sowie eine Identifikation durch die
Rezipienten mit den Mediencharakteren und eine möglichst realistische Präsentation."61 Aber
die Spieler selbst konstatieren regelmäßig, dass virtuelle Gewalt ihrerseits anders als reale
Gewalt gerahmt und tatsächlich nicht als Aggression, sondern u.a. nur ästhetisiert, empathiefrei
und funktionalistisch wahrgenommen wird.62
Insofern konstatiert auch HARTMANN 2006, "dass Handlungen innerhalb eines Spiels eine
andere Bedeutung besitzen als […] in der Alltagswirklichkeit […], weswegen auch scheinbar
gewalttätige Computerspielhandlungen nicht ohne weiteres als tatsächliche Aggression, mit der
einem Lebewesen geschadet werden soll, definiert werden können […]. In 'gewalthaltigen
Computerspielen' kommt es […] zur Ausführung 'virtueller Gewalt', mit der nur scheinbar […]
Computerspielfiguren […] Schaden (innerhalb der Spielrealität) zugefügt wird. Konservativ
formuliert, lässt sich jene 'virtuelle Gewalt' mit dem Schlagen einer Spielfigur im Schach
vergleichen, was ebenfalls in einem symbolischen Kontext (Türme, Könige, Bauern),
insbesondere aber in einem durch die Spiellogik ('den Gegner schachmatt setzen') strukturierten
Realitätsrahmen vollzogen wird."63 HARTMANN/VORDERER 2009 komplementieren die
Definition und argumentieren i.d.S., dass "[…] virtual violence can be defined as any user
behavior that follows the intention to do harm to other social characters in a video game, while
the game characters are motivated to avoid the harm-doing. One could argue that the concept of
doing harm does not apply to video games at all, because game characters are not living beings
and thus do not fall into the 'scope of justice' […]. In fact, users of violent games argue that
shooting opponents in a video game does not constitute the elimination of social entities but
rather the removal of objects or obstacles […]. If so, the term 'virtual violence' would be
inappropriate […]."64 Auch ist die Präsentation der Gewaltdarstellungen regelmäßig nicht
besonders realistisch (s.u.). Insofern dürfte ein Priming aggressiver Kognition durch violente
Computerspiele i.d.R. bereits theoretisch kaum oder gar nicht plausibel sein.
3.3
Die Desensibilisierungshypothese
Nach der Desensibilisierungshypothese desensibilisiert Mediengewalt die Rezipienten namensgemäß nicht nur affektiv, sondern auch kognitiv ggü. realer Gewalt, so dass infolge einer
reduzierten Empathie als Inhibitor aggessiven Verhaltens (affektive Desensibilisierung),65 wie
auch einer normativen Akzeptanz von Gewalt als legitimen Konfliktlösungsmittel (kognitive
Desensibilisierung) eine Förderung aggressiven Verhaltens wahrscheinlich sei.66 Bereits im
Lichte einer "Lesekompetenz […] für Gewaltdarstellungen" ist aber gem. WILLMANN 2003b
nicht plausibel, dass Mediengewaltdarstellungen die Rezipienten nicht einzig ggü. anderen
Mediengewaltdarstellungen habitualisieren,67 sondern auch ggü. unmittelbarer, realer Gewalt
desensibilisieren können sollen:
Diejenigen, die mit den ästhetischen Konventionen einer bestimmten Schule von Gewalt-Ikonographie
nicht vertraut sind,68 betrachten entsprechende Werke mit quasi "pornographischem" Blick – und unterstellen diesen auch dem Stammpublikum: Der dargestellte Gewaltakt wirkt als starkes Stimulanz wahrgenommen, das die Barriere zwischen Fiktion und Realität zu transzendieren scheint; das unmittelbare,
körperliche Erregung hervorruft; das sämtliche Schutzwälle der distanzierten Betrachtung durchbricht.
Diese Wirkung schwächt sich mit wiederholtem Ansehen einer speziellen Art von Gewalt-Ästhetik ab:
Man lernt, mit der entsprechenden Darstellungsform umzugehen, ihren Inhalt nicht mehr als einzigen und
unkalkulierbar starken Reiz zu empfinden. Es ergibt sich eine Normalisierung des Blicks, der gezeigte
61
62
63
64
65
66
67
68
SALISCH/OPPL/KRISTEN 2007, S.85f..
Vgl. FRITZ/FEHR 1997, S.284ff.; LADAS 2002, S.165 und LADAS 2003, S.31.
HARTMANN 2006, S.83f. und vgl. WEGENER-SPÖHRING 1997, S.263.
HARTMANN/VORDERER 2009, S.865f.; vgl. HARTMANN 2011.
Vgl. SONG 2002.
Vgl. KUNCZIK 1978, S.37; VOGELSANG 1991, S.103; BOHRMANN 1997, S.180; KUNCZIK 1998, S.109-113;
VOLLBRECHT 2001, S.169f.; BUCHLOH 2002, S.43f.; SPARKS/SPARKS 2002, S.279; FEIBEL 2004, S.146 und
KUNCZIK 2007, S.1.
Vgl. KUNCZIK 1975, S.132f. und KÜBLER 1998, S.480f..
Vgl. WULFF 1985.
23
Gewaltakt wird zum Element in einem größeren, komplexeren Kontext. Das ist jedoch etwas anderes als
ein 'Gewöhnungseffekt' im Sinne einer Desensibilisierung – es betrifft nicht automatisch die Wahrnehmung von Gewalt an sich (und erst recht nicht realer Gewalt [...]). Es ist gerade umgekehrt eine
Sensibilisierung für die Regeln, Codes und Konventionen einer Darstellungsweise. Und vor allem ist es
eine Sensibilisierung für die Fiktionalität der Darstellung.69 Oder zumindest ihre Medialität: Wir alle
haben uns an den Anblick sterbender Menschen oder verhungernder Kinder in den Abendnachrichten
zumindest soweit gewöhnt, dass wir diese Bilder – und auch sie gehorchen unausgesprochen genauen Abbildungsregeln – mit der überlebensnotwendigen Distanz sehen können. Das heißt nicht, dass irgendjemanden von uns der reale Anblick eines sterbenden Menschen, eines verhungernden Kindes auch nur
annähernd kalt lassen würde.70
Ungeachtet dessen, dass der skizzierte pornographische Blick der "Analphabeten des BilderBlutes"71 ein Ausgangspunkt der Mediengewaltwirkungsforschung, wie auch des deutschen
Jugendmedienschutzes und der moralpanischen Diabolisierungen der Mediengewalt ist,
orientiert sich die Argumentation des Autors essentiell an einer insb. ggü. Gewalt darstellenden
Computerspielen nicht besonders plausiblen, aber zentralen Prämisse der Hypothese, wie sie
auch Proponenten derselben formulieren; CARNAGEY/ANDERSON/BUSHMAN 2007
behaupten bspw., dass Darstellungen fiktionaler, wie auch virtueller Gewalt per se aversive
Stimuli seien und infolge dessen "normal negative reactions to violence"72 evozierten: "The
initial response […] to violent media is fear and anxiety […]. When violent stimuli are
repeatedly presented in a positive emotional context (e.g., exciting background music, sound
effects, visual effects, rewards for violent actions in the game), these initial distressing reactions
are reduced."73 BÖSCHE 2010 argumentierte diesbzgl., dass "[…] one might disagree with the
assumption that seeing and enacting of virtual violence will (unless desensitized) result in a
negative aversive emotional state per se. […] it […] remains rather doubtful that playing violent
video games raises exclusively negative emotions. […] It is conceivable that a player
understands aggressive stimuli as being 'not for real' or not really hazardous, but rather virtual,
and habitual violent video game players often emphasize the idea of a game-reality distinction
[…]. The conscious marking of stimuli as being virtual can indeed allow for different emotional
and behavioral responses than those elicited by real stimuli […]."74 Auch FRITZ/FEHR 2003
argumentieren mehr oder weniger i.d.S., dass Empathie im Rahmen der virtuellen Welt des
Computerspiels regelmäßig unangemessen sei:
Das vom Computer generierte 'Gegenüber' lässt sich nicht empathisch erschließen, sondern nur einschätzen hinsichtlich seiner programmierten Reaktionsmuster. Nicht Empathie wird verlangt, sondern
strategisch-taktisches Verhalten im Rahmen eines festgelegten Regelsystems, das für die jeweilige
virtuelle Welt Gültigkeit hat. Die Figuren im Computerspiel sind nur Handlungsträger in funktional
bestimmten Abläufen und keinesfalls Objekte, denen man emotional getönte Empathie entgegenbringen
müsste [...]. Ein virtuelles Gegenüber kann nur Objekt im Rahmen funktionaler Denk- und Handlungsprozesse sein, nie Subjekt. Deshalb haben moralische Erwägungen im Handlungsvollzug des Computerspiels keinen Ort. Für die Entfaltung von Macht, Herrschaft und Kontrolle ist die Handlungsebene
69
70
71
72
73
74
Vgl. WINTER 1995, S.127-213.
WILLMANN 2003b, S.137f.; vgl. KUNCZIK 1975, S.132f. und KÜBLER 1998, S.18.
GRAFF 2005b.
CARNAGEY/ANDERSON/BUSHMAN 2007, S.495
CARNAGEY/ANDERSON/BUSHMAN 2007, S.491 und vgl. BARTHOLOW/BUSHMAN/SESTIR 2006, S.532.
BÖSCHE 2010, S.140; vgl. BOYLE/HIBBERD 2005, S.22 und RIEPE 2003, S.9. Bereits BÖSCHE 2009 argumentierte, dass
insofern Mediengewaltdarstellungen per se vermeintlich normale, negative Affeke der Probanden evozieren können sollen,
dieselben Affekte auch Spielleistungen inhibieren müssten: "If an aversive stimulus is expected as a consequence of a certain
action, or if there is an inhibition of that action, it will be initiated and executed more slowly, or not at all. [...] poor
performance within a VVG can be considered a simple and straightforward indicator of inhibition of aggression. […] if there
are negative emotional responses to virtual violence in VVGs initially, then playing a video game that contains violence would
be expected to result in inferior game performance compared to a game without violence. […] if novice players perceive
VVGs as a digitized version of intrinsically harmless and essentially positively evaluated rough-and-tumble play, the result
might be an enhanced level of performance. The experiment described here tested these competing hypotheses by randomly
assigning naive participants to one of three versions of a custom-made video game in which the presence of violent content
was manipulated by exchanging critical graphics, sounds and instructions. Game performance and its development over time
were recorded while the participants played essentially the same game, which differed only in the level of violence depicted. A
non-violent game version, a moderately violent one, and […] a third, extremely violent version were developed. […] The
participants show superior performance in the violent game versions compared to the non-violent one from beginning to end of
the game. In other words, the virtual violence or the potentially fearful and disgusting stimuli associated with the game did not
harm performance. Rather than a hesitation or inhibition effect, the results show a facilitation of performance by violent acts,
lending support to the idea that such violent acts are not perceived as repulsive or disgusting, but rather as exciting and as
enhancing the enjoyment of the game." (S.5-13) Für eine detailliertere Darstellung (der drei Versionen) des eigens programmierten Spiels s. Kapitel 5.2.
24
entscheidend. Die Inhaltsebene des Computerspiels dient nur zur anfänglichen Motivation und als
Orientierungshilfe für die Entwicklung angemessener Handlungsmuster. Dies gilt prinzipiell auch für
gewaltorientierte Spielhandlungen. Unter permanentem Handlungsdruck bleibt ohnehin nicht die Zeit, das
Gegenüber empathisch zu erschließen, ihm Achtung zu erweisen oder moralische Erwägungen anzustellen: Erst kommt das "Überleben" und dann die "Moral".75
Insofern aber die im Rahmen von Computerspielen dargestellten Gewaltakte (z.B. auch dank
Rationalisierungsprozessen der Spieler selbst oder des sog. Uncanney Valley) regelmäßig ein
"Dispens von Empathie"76 charakterisiert, sie gar kein starkes, initiale Empathiereaktionen
evozierendes Stimulanz für die Spieler sind, ist noch nicht einmal eine Habitualisierung ggü.
Gewaltdarstellungen in anderen Computerspielen, insb. aber keine Desensibilisierung ggü.
realer Gewalt anzunehmen.77 Auch insofern Computerspielfiguren z.B. gem. LADAS 2003 im
Rahmen einer "ausgeprägten, psychologisch tiefen Spielgeschichte"78 doch ein empathisches
Empfinden der Spieler (wie z.B. Mitleid) evozieren können, muss konstatiert werden, dass die
Überwindung der Hemmschwelle zur virtuellen Gewaltanwendung und dgl. zur realen Gewaltanwendung prinzipiell wohl kaum vergleichbar sind; einerseits ist die virtuelle Gewalt für die
Realität nämlich prinzipiell folgenlos, andererseits wird dieselbe seitens der Spieler i.d.R. ja
auch gar nicht als Gewalt i.e.S. wahrgenommen (s.o.). Nichtsdestotrotz ist die Hypothese nicht
nur in der Mediengewaltwirkungsforschung, sondern auch in der Öffentlichkeit nach wie vor
extrem populär,79 bspw. wird argumentiert, dass eine vermeintliche Brutalisierung der Medien
i.S.e. Reizspirale (desensibilisierte Rezipienten benötigten immer extremere Gewaltstimuli) ein
indirektes Indiz für die Desensibilisierung (und nicht nur die Habitualisierung) der Rezipienten
sei.80 Letztlich basiert auch das im Folgenden noch diskutierte Indizierungskriterium der Verrohung des § 18 Abs. 1 JuSchG (s. Kapitel 11.3) essentiell auf der Desensibilisierungshypothese.
3.4
Die Lerntheorie
Nach der sozial-kognitiven Lerntheorie81 ist aggressives Verhalten (wie soziales Verhalten per
se) primär, resp. mehr oder weniger gar ausschließ. erlerntes Verhalten; gem. KUNCZIK/
ZIPFEL 2004 geht die Lerntheorie davon aus, "daß sich Menschen Handlungsmuster aneignen,
indem sie das Verhalten anderer Personen verfolgen (sei es in der Realität oder in den Medien)
und daraus Regeln abstrahieren ('Lernen am Modell'). […] Ob aus den latenten Handlungsmodellen manifestes Verhalten resultiert, hängt von verschiedenen Faktoren ab, die während
des Lernprozesses wirksam werden. Hierzu gehören neben der Ähnlichkeit der Situation und
dem Vorhandenein der entsprechenden Mittel für eine Imitation (z.B. Besitz von Waffen) in
erster Linie die Konsequenzen eines solchen Verhaltens (Erfolg bzw. Mißerfolg, Belohnung
bzw. Bestrafung) sowohl für das Modell als auch für den Beobachter. […] Gewalttätiges
Verhalten unterliegt normalerweise Hemmungen, d.h. regulativen Mechanismen wie sozialen
Normen, Furcht vor Bestrafung und Vergeltung, Schuldgefühlen und Angst, die verhindern, daß
Gewalt tatsächlich ausgeübt wird.82 Insgesamt werden im Rahmen der Lerntheorie neben den
Merkmalen von Medieninhalten (z.B. Stellenwert, Deutlichkeit, Nachvollziehbarkeit von
Gewalt; Effizienz, Rechtfertigung, Belohung von Gewalt) die Eigenschaften des Beobachters
(z.B. Wahrnehmungsfähigkeit, Erregungsniveau, Charaktereigenschaften, frühere Erfahrungen,
wie z.B. Bekräftigung erworbener Verhaltensmuster) sowie situative Bedingungen (z.B.
Sozialisation, Normen und Verhaltensweisen in der familiären Umwelt und in den Bezugsgruppen, d.h. Peer-Groups) als Einflußfaktoren bei der Wirkung von Mediengewalt einbezogen
[…]. Die Lerntheorie berücksichtigt, daß Handeln durch Denken kontrolliert wird und
75
76
77
78
79
80
81
82
FRITZ/FEHR 2003, S.55ff.; vgl. GIESELMANN 2000; LADAS 2002, S.21; STRÜBER 2006, S.54 und WEBER/
RITTERFELD/MATHIAK 2006.
FRITZ/FEHR 1997, S.284.
Vgl. LADAS 2002, S.192f..
LADAS 2003, S.33.
Vgl. BODMER 2002, S.34.
Für eine diesbzgl. Kritik s. KUNCZICK 1994a.
Vgl. BANDURA/ROSS/ROSS 1961; BANDURA/ROSS/ROSS 1963; BANDURA/WALTERS 1963; BANDURA 1979a;
BANDURA 1979b und BANDURA 1979c.
Vgl. BANDURA 1979a, S.97 und KUNCZIK 1995, S.137.
25
verschiedene Beobachter identische Inhalte unterschiedlich wahrnehmen und daraus auch unterschiedliche Verhaltenskonsequenzen ableiten können."83 Infolge dessen können im Rahmen der
Lerntheorie prinzipiell keine Aussagen zur generellen Wirkung medialer Gewaltdarstellungen
o.ä. gemacht werden, da diese bspw. auch i.S.v. negativem Lernen gem. VOLLBRECHT 2001
vermitteln können, "dass Gewalt sich nicht lohnt und schwerwiegende Folgen für die Opfer
hat."84 Das Erlernen von aggressiven Verhaltensweisen selbst medialer Modelle ist insg. zwar
auch plausibel (und gleichermaßen trivial), ungeachtet dessen, dass die Lerntheorie u.a. gem.
THEUNERT 1987 oftmals insb. "wegen der impliziten statischen und mechanistischen Auffassung menschlicher Lernprozesse und der relativ monokausalen Vorstellung von Zustandekommen und Ausformung menschlichen Verhaltens und Handelns"85 kritisiert wird (als müssten
Menschen mehr oder weniger zwingend alle möglichen Verhaltensweisen anderer Personen
erlernen und sich bei passender Gelegenheit auch noch danach richten),86 argumentieren aber
z.B. FERGUSON/DYCK 2012 im Lichte aktuellerer, biologischer Aggressionsbefunde, dass
Lerntheorien insg. wohl auch kaum die passabelsten Theorien zur Erklärung aggressiven
Verhaltens sind:
The social cognitive paradigm argues that aggression is largely a process of cognition, in which cognitive
schemas and scripts are learned through observation and applied with automaticity to new environmental
antecedents. […] Social cognitive models of aggression portray the cognitive and affective processes of
aggression as largely automatic, mechanistic and unconscious. […] Although social cognitive models of
aggression may [...] allow for some biological or personological influences, they are seldom detailed at
length, and the social cognitive view remains largely a "learning only" view, at least in its elaboration
[…].87 […] The view that aggressive behavior is primarily a learned behavior [...] ignores considerable
evidence regarding the genetic […], neurobiological […], neuroendocrine […] and other biological
elements that contribute to aggression […]. […] although it is clear that environment and environmental
strain can increase aggressiveness […] it is less clear if learning is the primary mechanism through which
the environment influences aggression. For instance, there is considerable evidence that stress from the
environment rather than learning, is a key variable […]. This is not to say that learning of aggression does
not happen; only that it appears to be a relatively weak variable compared to other inputs.88
Ungeachtet dessen dürften mediale Modelle für das Erlernen und auch die Ausführung aggressiver Verhaltensweisen aber auch insg. nicht besonders prägend sein; Menschen lernen nämlich
unmittelbar (und infolge dessen wesentlich intensiver) und auch noch vor den ersten Kontakten
mit Mediengewaltdarstellungen durch reale, primäre (Eltern; familiäre Umwelt), wie auch
sekundäre Sozialisationsinstanzen und -agenten (z.B. Peer-Groups; Schule) aggressives
Verhalten.89 Dass aber die Medien insg. und selbst auch nur fiktionale Inhalte den beiden
Sozialisatoren gleichrangig sein und die Erziehung, wie auch die primäre und sekundäre
Sozialisation und die skizzierte antizipatorischen Kontrolle menschlichen Verhaltens konterkarieren können sollen, ist nicht besonders plausibel.90 Infolge dessen ist die Lerntheorie auch
kein "Allmachtsmodell der Massenkommunikation"91 o.ä., wird aber als dgl. oftmals vor allem
im Rahmen der Mediengewaltwirkungsforschung missbraucht.92
Insb. Computerspiele dürften i.d.R. auch keine besonders passablen Lernmodelle sein; einerseits
argumentieren Autoren wie bspw. SHERRY/LUCAS/GREENBERG et al. 2006, dass bereits
die aktive Wahl der Rollenmodelle seitens der Spieler evtl. Lerneffekte unterminieren müsste:
"If video game players were acquiring behavior via a social learning mechanism, they would be
aware of and self-reflective upon their choices. However, video game users do not report using
games to learn how to behave in the same manner as television and film viewers do. While there
may be incidental social learning of behavior, it is more likely that video game effects will
83
84
85
86
87
88
89
90
91
92
KUNCZIK/ZIPFEL 2004, S.13; vgl. KUNCZIK 1975, S.398-529; MOSER 1995, S.166; KÜBLER 1998, S.16; KUNCZIK/
ZIPFEL 1998, S.567ff.; VOLLBRECHT 2001, S.168; BUCHLOH 2002, S.44 und TEDESCHI 2002, S.577ff..
VOLLBRECHT 2001, S.172 und vgl. GRIMM 1999, S.706ff.
THEUNERT 1987, S.17.
Vgl. TEDESCHI 2002, S.578 und FERGUSON 2010, S.68.
En détail bzgl. der Dogmatisierung der Lerntheorie im Rahmen der Sozialwissenschaften s. FERGUSON 2010, S.68.
FERGUSON/DYCK 2012, S.221-224.
Vgl. KUNCZIK 1994b, S.221 und STRÜBER 2006, S.78.
Vgl. BOSSELMANN 1987, S.107; KÜBLER 1998, S.4; und KUNCZIK 1998, S.1.
KUNCZIK 1988, S.87.
Vgl. KUNCZIK 1988, S.75 und FERGUSON 2010, S.71f..
26
result from another mechanism […]."93 Andererseits sind für das Erlernen aggressiven
Verhaltens der Realismus der Gewaltdarstellungen, wie auch für die Ausführung der erlernten
Verhaltensweisen gewisse Ähnlichkeiten der realen mit den modellierenden, medialen
Situationen mehr oder weniger notwendige Bedingungen: Ungeachtet dessen, dass die Spieler
selbst Computerspiele insg. i.d.R. als nicht besonders realistisch wahrnehmen,94 können
Gewaltdarstellungen in Computerspielen infolge einer gewissen technischen Progression zwar
visuell immer realistischer werden und wird Gewalt z.T. auch bereits so explizit, wie detailliert
dargestellt (ohne diesbzgl. quantitative Entwicklungstendenzen des Angebots, bspw. eine
Brutalisierung der Computerspiele kolportieren zu wollen; s.u.), aber auch ungeachtet bereits
infolge fehlender fotorealistischer Graphik u./o. zugunsten bspw. ästhetischer Gründe verfremdeter Gewaltdarstellungen sind entweder ein mangelnder Detailgrad (z.B. fehlende Details,
Blut- oder Physikeffekte) u./o. (cineastischerweise) spektakuläre, hyperviolente Splatter- und
Goreeffekte (Blutfontänen; explodierende Körper etc.) die Regel (s. GEARS OF WAR 3; DEAD
RISING 2; DEAD SPACE 2; MORTAL KOMBAT).
Aber selbst gem. dem Fall, dass Gewalteinwirkungen visuell realistisch dargestellt würden,
wäre das natürlich noch keine hinreichende Bedingung für die Bezeichnung einer Gewaltdarstellung als realistisch, diesbzgl. werden nämlich bspw. im Lichte der sechs Dimensionen
perzipierten Realismus nach HALL 2003 – "plausibility, typicality, factuality, emotional
involvement, narrative consistency, and perceptual persuasiveness" – auch die Kontexte der
Darstellung relevant. Nicht nur phantastische Szenarien relativieren aber offensichtlicherweise
den Realismus einer Gewaltdarstellung, auch an der realen Welt orientiertere Szenarien sind
i.d.R. nicht die realistischsten und thematisieren regelmäßig unwahrscheinlich(st)e Extremsituationen, in die kein Normalsterblicher je manövriert würde. Insofern ist auch eine (hinreichende) Ähnlichkeit der realen mit den evtl. modellierenden Spielsituationen quasi nie der
Fall, weder insofern die Spielszenarien phantastisch sind, noch gem. dem Fall einer
hypothetisch wahren Existenz des Szenariums: Auch die mehr oder weniger realistischeren, an
der realen Welt orientierten Spielewelten (z.B. in Kriegsspielen) haben mit den Lebenswelten
der Spieler kaum oder gar keine Überschneidungen (das dürfte ja auch einer der Gründe für die
Attraktivität der Spiele sein), so dass die ohnehin unwahrscheinliche Ausführung der u.U.
erlernten Verhaltensweisen noch unwahrscheinlicher wird.
Lerntheoretisch orientierte Computerspielgewaltwirkungsforscher wie bspw. CARNAGEY/
ANDERSON 2004 argumentieren aber ungeachtet dessen nicht nur, dass gewaltdarstellende
Computerspiele ein formidables Lernumfeld für den Erwerb aggressiver Konfliktlösestrategien
böten, sondern auch höchstwahrscheinlich stärkere Lerneffekte, resp. ein stärkeres diesbzgl.
Gefährdungspotenzial als bspw. Film und Fernsehen zeitigen würden:
[…] playing violent video games involve almost complete attention and involvement, more identification
with violent characters, more reinforcement of violent acts, and higher frequency of violent scenes. […]
A player must typically focus his [...] attention towards the video game or a failure of goals will occur.
This means that the player is constantly watching the screen and is focused on any potential violence that
will be shown. […] Viewing television or movies can be a relatively passive process. Violence will occur
during the television program regardless of what the viewer does. In video games, this is not the case.
[…] Video game players are responsible for the violence they see on the screen. […] learning is enhanced
when people are actively rather than passively involved. […] Violent video game players are essentially
forced to identify with the character they are controlling. Players are required to take on the identity of a
video game persona and "become" the violent character. In first person video games, the player sees the
virtual world through the eyes of the main character. The perspective on the screen is everything that the
main character would see. In some third person games, players are allowed to alter the appearance,
gender, and name of the character they are controlling. This can allow the player to create a visual replica
of oneself in the video game. In some […] games, the player can import scanned images of faces directly
onto characters in the game […]. […] identifying with a violent character increases the media violence
effect. […] When viewing television or movies, a viewer may only receive indirect rewards for violent
actions of the characters (e.g., witnessing when a violent character is rewarded for his or her actions).
When individuals play violent video games, there is direct (and typically instant) reinforcement for their
choice of action. This reinforcement can come in numerous forms: visual effects, sound effects (e.g.,
93
94
SHERRY/LUCAS/GREENBERG et al. 2006, S.26. Kritisch auch DECKER 2005, S.14; WILLIAMS/SKORIC 2005 und
SHERRY 2007, S.251ff..
Vgl. BUTTS 2006, S.22; MALLIET 2006, S.383 und DAWSON/CRAGG/TAYLOR et al. 2007, S.11.
27
groans of pain from an injured target), verbal praise (e.g., when a target is hit the computer says "well
done" or "impressive"), points for various violent actions, and advancing to the next game level after
obtaining certain goals. […] aggression is likely to increase when it is rewarded. […] Even in the most
violent movies, the violence is not completely constant. […] This is not necessarily the case for video
games. Despite the more recent addition of "cut scenes" [...], the violence in video games is almost
continuous. […] Players are almost continuously exposed to scenes of gore, blood, and screams of pain.95
Ungeachtet dessen, dass auch aktuell nur ein paar Studien die diesbzgl. Medienwirkungspotenziale von Film und Fernsehen einerseits und Computerspielen andererseits miteinander
verglichen haben und nicht überraschend auch nicht durch eine Konsistenz der Resultate (aber
mit den im folgenden noch diskutierten endemischen Problemen der Mediengewaltwirkungsforschung) brillieren,96 konzipieren die zitierten Argumente für ein stärkeres diesbzgl.
Gefährdungspotenzial von Computerspielen dieselben Spiele, wie auch das Spielen derselben
insg. zu simpel: Anders als Nichtspieler regelmäßig glauben, sind auch für Computerspiele
bspw. je nach Spielgenre, -komplexität, -dynamik und -schwierigkeitsgrad i.V.m. der Spielekompetenz der Spieler selbst insb. für routiniertere Spieler dekonzentriertere Spielweisen – ähnlich den "dekonzentrierten Sehweisen"97 für z.B. das Fernsehen – denkbar, so dass Computerspiele wie Film und Fernsehen auch nur ein Nebenbeimedium sein können (bzgl. diverser Echtzeitstrategiespiele u.ä. dürfte das bspw. auch offensichtlich sein).
Aber auch insg. darf die Interaktivität der Spieler nicht überbewertet werden; die Spieler sind
zwar regelmäßig für die konkreten Gewalthandlungen ihrer Spielersubstitute selbst verantwortlich, im Rahmen von Computerspielen wird virtuelle Gewalt aber nur dargestellt; d.h.: Die
Spieler selbst, die virtuelle und reale Gewalt unterschiedlich rahmen (s.o.), verhalten sich nicht
aggressiv oder gar gewalttätig und trainieren i.d.S. auch keine Gewalthandlungen, sondern
erlernen Spielmechaniken und -reglements, trainieren die für die Spielkontrolle notwendige
sensumotorische Synchronisation u.ä..
Auch das die Spieler sich zwingend mit den (auch noch so unsympathischen, unrealistischen
etc.) Spielersubstituten identifizieren müssten – auch ungeachtet fehlender Immersion u.ä. – und
diesbzgl. technische Aspekte, die Egoperspektive oder der Umstand, dass die Spieler die
Substitute kontrollieren, hinreichend sein könnten, ist nicht besonders plausibel. Relevanter für
eine Identifizierung mit dem Spielersubstitut dürften Sympathien für das Substitut, Ähnlichkeiten der Lebenssituation desselben und der des Spielers und eine immersive, wie auch
emotionale Involvierung des Spielers (die sich nicht alleine technisch begründen lässt) sein (s.
auch die Kommentierung zur Katharsishypothese). Oftmals bieten die Substitute dem Spieler
aber nur so viel Identifikationspotenzial, wie eine Schachfigur.
Ein tendenziell simpleres Verständnis von Computerspielen demonstriert auch der Kommentar,
dass gewaltdarstellende Computerspiele die virtuellen Gewaltausübungen der Spieler i.d.R.
belohnten. Belohnungen sollen aber inflationärerweise bspw. nicht nur Punkte, sondern bereits
Treffervisualisierung und der generelle Spielfortschritt infolge der Gewaltausübungen sein, so
dass insofern bereits quasi jede nicht erfolgte ausdrückliche (spielmechanische) Sanktionierung
von virtueller Gewalt als Belohnung derselben kritisiert werden könnte; eine atavistische
Wahrnehmung von Computerspielen, die auch bereits FERGUSON 2009 kritisierte:
[…] many commentators (including psychologists), particularly society’s "elders," are giving testimony
on content that they have not personally viewed or have become familiar with. For instance many social
scientists and other speakers still comment about games such as Grand Theft Auto as "awarding points"
for shooting police officers and other antisocial acts. However, almost no modern video game "awards
points" for anything anymore but rather seek to tell complex stories. In fact, games such as Grand Theft
Auto and Bully include severe ramifications for antisocial acts (such as more police officers coming in
greater amounts, ultimately to shoot the player’s character), although antisocial acts are not specifically
prohibited. Comments such as these are immediately viewed as uneducated, moralistic and non-credible
by individuals actually familiar with modern media content, and owing to such irresponsible comments,
95
96
97
CARNAGEY/ANDERSON 2004, S.5f.; dgl. auch DILL/DILL 1998, S.411-414; ANDERSON/DILL 2000, S.788;
ANDERSON/BUSHMAN 2001; WARTELLA/O’KEEFE/ SCANTLIN 2000, S.72f.; KLIMMT/TREPTE 2003; ANDERSON
2004; FUNK/BALDACCI/PASOLD et al. 2004, S.24; KRAHÈ/MÖLLER 2004, S.54; KUNCZIK 2007; MÖLLER 2007;
HÖYNCK/MÖßLE/KLEIMANN et al. 2007b, S.14; SCHULZ/BRUNN/DREYER et al. 2007, S.54-58 und KRCMAR/
FARRAR 2009.
Vgl. COOPER/MACKIE 1986; SILVERN/WILLIAMSON 1987; HOPF 2004; TAMBORINI/EASTIN/SKALSKI et al. 2004;
HOPF/HUBER/WEIß 2008; POLMAN/CASTRO/AKEN 2008 und FERGUSON/KILBURN 2010.
KÜBLER 1998, S.9.
28
the psychological profession loses credibility with wide swaths of the general population.98
Letztlich ist auch der Vorwurf einer quasi endlosen Aneinanderreihung von Gewaltdarstellungen im Rahmen violenter Computerspiele regelmäßig kaum strapazierbar und – abgesehen
bspw. vom Genre der Kampfsportspiele (MORTAL KOMBAT etc.) – für aktuellere Spiele
tendenziell die Ausnahme; insg. gilt, dass die Quantität der Gewaltausübungen i.d.R. bereits
eine Frage des idiosynkratischen Spielstils der Spieler selbst ist (s.u.).99
3.5
Das General Aggression Model (GAM)
Das aktuell populärste Aggressions-, wie auch Mediengewaltwirkungsmodell ist das sog.
General Aggression Model (GAM) nach ANDERSON/BUSHMAN 2002,100 dass u.a. die
Skript- und die sozial-kognitive Lerntheorie, wie auch die Stimulations-, die
Desensibilisierungs-, die Kultivierungs- und die Erregungstransferhypothese in einem einzigen
Modell miteinander kombinieren will. Eine aktuellere Inkarnation des Modells präsentieren u.a.
CARNAGEY/ANDERSON 2004, die auch die im Rahmen des Modells kolportierte besondere
Gefährlichkeit von medialen Gewaltdarstellungen für aggressives Verhaltens exponieren:
GAM describes a cyclical pattern of interaction between the person and the environment. Three main
points compose the cycle: input variables of person and situation, present internal state of the individual,
and outcomes resulting from various appraisal and decision processes. […] a person’s behavior is based
on 2 main kinds of input variables: the person and the situation […]. The person variables are [...] factors
a person brings into the current situation, including traits, current states, beliefs, attitudes, values, sex,
scripts, and aggressive personality. Situation variables are [...] environmental factors surrounding the
individual, including factors in the environment that could affect the person’s actions, like aggressive
cues, provocation, pain, rewards, and frustration. […] Input variables [...] affect an individual’s appraisal
of a situation and ultimately affect the behavior performed in response to that appraisal, primarily by
influencing the present internal state of the individual. [...] these influences can occur through 3 main
aspects of the present internal state: cognition, affect and arousal. […] Input variables can influence
internal states by making aggressive constructs more readily accessible in memory. [...] As a construct is
repeatedly accessed, its activation threshold decreases. This means that the construct requires less energy
necessary for activation, making it chronically accessible. A situational input (e.g., a violent film) results
in a temporary lowered threshold of activation, making the construct accessible for a short time. [...]
Situational variables may also activate aggressive scripts. Aggressive scripts can bias the interpretation of
a situation and the possible responses to that situation. Repeated access of aggressive scripts can also
make them more readily accessible and more likely to be activated in future situations, guiding future
behavior. […] Input variables can also influence the present internal state through affect, which in turn
can impact later behavior. […] Exposure to violent [...] video games also increases state hostility. [...]
personality variables are also related to hostility-related affect. […] The final aspect of the present
internal state that can be influenced is arousal. [...] An increase in arousal can strengthen an already
present action tendency, which could be an aggressive tendency. For example, if the person has been
provoked at the time of increased arousal, aggression is more likely to be an outcome than if the arousal
increase didn’t occur. […] Arousal elicited by other sources (e.g., exercise) may be misattributed as anger
in situations involving provocation, thus more likely producing anger-motivated aggressive behavior. A
third […] way is that unusually high and low levels of arousal may be aversive and may stimulate
aggression in a similar manner as other aversive stimuli. […] Not only input variables can influence
cognition, affect, and arousal, but these 3 routes may also influence one another. […] Typically, the
individual will appraise the current situation and then select a behavior appropriate for the situation
before that behavior is emitted. Depending on the situational variables and resources present, appraisals
may be made hastily and automatically, without much (or any) thought or awareness, resulting in an
impulsive behavior. […] frequently the individual will have the time and resources to reappraise the
situation and perform a more thoughtful action. […] This action will then be followed by a reaction from
the environment, which is typically other people’s response to the action. This social encounter can alter
the input variables, depending on the environmental response. This encounter could then modify situation
variables, person variables, or both, resulting in a reinforcement or inhibition of similar behavior in the
future. […] GAM can be used to interpret the effects of exposure to violent media. Theoretically, violent
media can affect all 3 components of internal state. […] the literature on violent video games has shown
that playing them can temporarily increase aggressive thoughts, affect and arousal. […] exposure to
violent media can reduce arousal to subsequent depictions of violence. Playing a violent video game can
also influence the person’s internal state through the affective route by increasing feelings of anger, and
98
99
100
FERGUSON 2009, S.121.
Vgl. LACHLAN/MALONEY 2008.
Vgl. HARTMANN 2007b, S.2 und GOODSON/PEARSON/GAVON 2010, S.4. Studien, die das GAM in ihren theoretischen
Rahmen integrieren, sind z.B. KIRSH 2003; UHLMANN/SWANSON 2004; ANDERSON 2004; ANDERSON/CARNAGEY/
FLANAGAN et al. 2004; ARRIAGA/ESTEVES/CARNEIRO et al. 2006; BARTHOLOW/BUSHMAN/SESTIR 2006;
BARLETT/HARRIS/BALDASSARO 2007; GIUMETTI/MARKEY 2007; ANDERSON/GENTILE/BUCKLEY 2007;
ANDERSON/CARNAGEY/ BUSHMAN 2007 und ANDERSON/BUSHMAN 2009, wie auch das Gros der anderen, noch im
Folgenden thematisierten Computerspielgewaltwirkungsstudien.
29
through the arousal route by increasing heart rate. [...] The cyclical process of GAM lends itself to
addressing long-term effects of exposure to media violence. With repeated exposure to certain stimuli
(e.g., media violence), particular knowledge structures (e.g., aggressive scripts) become more readily
accessible. […] Over time, the individual will employ these knowledge structures and possibly receive
environmental reinforcement for their usage. Over time, these knowledge structures become strengthened
and more likely to be used in later situations. […] Such long-term effects result from the development,
automatization, and reinforcement of aggression-related knowledge structures. In essence, the creation
and automatization of these aggression-related knowledge structures and the desensitization effects
change the individual’s personality. Long-term consumers of violent media [...] can become more
aggressive in outlook, perceptual biases, attitudes, beliefs, and behavior than they were before the
repeated exposure, or would have become without such exposure.101
Das GAM präsentiert aber prinzipiell keinen wesentlichen Erkenntnisfortschritt z.B. ggü. der
sozial-kognitiven Lerntheorie und auch bzgl. der Interaktion von Kognition, Emotion und
Erregung besteht noch Konkretisierungsbedarf,102 ungeachtet dessen, dass bspw. Stimulationsund Desensibilisierungseffekte durch Gewaltdarstellungen in Computerspielen nach wie vor
weder besonders plausibel, noch (ungeachtet der konträren Postulate der Proponenten des
Modells) empirisch verifiziert, resp. im Lichte der (endemischen) forschungspraktischen
Defizite der Mediengewaltwirkungsforschung strapazierbar sind (wie im Folgenden auch noch
diskutiert wird). Ein massives Defizit ist auch der Umstand, dass Persönlichkeit i.S.d. Modells
nicht viel mehr als nur ein Konstrukt aus Verhaltensskripten und -schemata als Resultat eines
sozial-kognitiven Lernprozesses sein soll,103 wie bereits FERGUSON 2009 monierte: "This
theory implies 'passive modeling' in which individuals exposed to violent media will more often
engage in violent behavior, regardless of personality, family environment, genetics, or other
biological contributions. Although researchers [...] acknowledge that some populations may be
more susceptible than others, at the same time they argue that anyone exposed to such media
will become more aggressive […]. Thus, this passive-modeling theory implies that individuals
can begin with no preexisting motivation to aggression or violence but acquire it through
repeated exposure to media violence, and it is, as such, a 'tabula rasa' approach […]."104
Teilweise degeneriert das Modell ggü. Computerspielen in der Argumentation seiner
Proponenten wie WHITAKER/BUSHMAN 2009 gar zu einem gleichermaßen unplausiblen,
wie simplen Konditionierungsmodell, nach dem die Spieler in der Realität gewalttätig(!) sind,
weil sie auf dieselben(!) Gratifikationen gewalttätigen Verhaltens spekulieren, wie sie sie in der
virtuellen Welt erhalten!105
Nicht besonders überraschend plädieren aktuell FERGUSON/DYCK 2012 überzeugend für eine
Abschaffung des Modells; die beiden Autoren kritisieren die (auch nicht besonders plausiblen)
fünf fundamentalen (impliziten) Prämissen des Modells – "Aggression is always bad", "The
human brain does not distinguish reality from fiction",106 "Aggression is mainly learned",
"Aggression is mainly cognitive" und "Aggression is mainly automatic" – als entweder nicht
falsifizierbar oder gar als bereits (mehr oder weniger) falsifiziert.107 Bzgl. letzterem, der Auffassung von menschlicher Aggression als primär einem Resultat automatischer, mechanistischer
Lernprozesse, monieren sie bspw.: "[…] modeling of behavior is passive, something that
individuals must do rather than something they can choose to do. […] the alternative reasoning
that watching Brokeback Mountain (or playing violent videogames) may simply create more
knowledge on a topic which can in fact be assessed and put to use by the viewer in the way he
[...] wants instead of blindly following the script to become homosexual doesn't appear to have
been considered in depth."108 Insg. ist das Modell ohne die Gültigkeit des naiven Medien101
102
103
104
105
106
107
108
CARNAGEY/ANDERSON 2004, S.11ff.; vgl. BUSHMAN/ANDERSON 2002, S.1680f.; ANDERSON/CARNAGEY/
EUBANKS 2003; KLIMMT/TREPTE 2003, S.115f.; KUNCZIK/ZIPFEL 2004, S.111-114; KRISTEN 2006, S.46-50;
MATHIAK/WEBER 2006a, S.102f. und FERGUSON 2009, S.105. Für eine frühere Inkarnation des Modells, das General
Affective Aggression Modell s. auch ANDERSON/DILL 2000.
Vgl. KUNCZIK/ZIPFEL 2007, S.224f..
Vgl. FERGUSON/DYCK 2012, S.222..
FERGUSON 2009, S.105; vgl. FERGUSON/RUEDA/CRUZ et al. 2008, S.314 und FERGUSON/DYCK 2012.
Vgl. WHITAKER/BUSHMAN 2009, S.1046f..
Dass das menschliche Gehirn nicht zwischen realer und virtueller Gewaltdarstellung differenzieren könne ist eine Prämisse,
die aktueller bspw. REGENBOGEN/HERRMANN/FEHR 2010 experimentell in Frage stellen.
Vgl. FERGUSON/DYCK 2012, S.222-225.
FERGUSON/DYCK 2012, S.225.
30
informationskonzepts i.V.m. der negativen Anthropologie des Stimulus-Objekt-ReaktionModells nicht strapazierbar, resp. nicht plausibel.
4.
Die Mediengewaltwirkungsfrage
Ungeachtet dessen, dass bereits die Axiome der skizzierten Wirkungstheorien, resp. dieselben
nicht besonders plausibel sind, ist auch die so zentrale, wie indifferente Frage der Mediengewaltwirkungsforscher nach den genuinen Wirkungen von Mediengewaltdarstellungen per se
unangemessen, wie auch bereits BARKER/PETLEY 2001 kritisierten: "Their question has the
same status as those who […] insistently asked if human illnesses, the death of pigs, thunderstorms, and crop failures were the result of witchcraft. The fallacy is that you have a 'thing'
called 'witchcraft' for the question to make sense in the first place. […] The central reason, then,
why the insistent question is so wrong is because there is no such thing as 'violence' in the
media which can have harmful – or beneficial – effects. Of course, different kinds of media use
different kinds of 'violence' for different purposes – just as they use music, colour, stock
characters, deep-focus photography, rhythmic editing and scenes from the countryside, among
many other. But in exactly the same way as it is daft to ask 'what are the effects of rhythmic
editing or the use of countryside scenes?' without asking where, when and in what context are
they used, so, we insist, it is stupid simply to ask 'what are the effects of violence?"'109 Infolge
der indifferenten Ausgangsfrage interessiert die Medien- und insb. die Computerspielgewaltwirkungsforschung ggf. – insofern die Gewalt überhaupt differenziert wurde – quasi ausschl.,
inwiefern ein (vermeintlich) höheres Gewaltdarstellungsniveau (s.u. die Kommentierung zu
BARLETT/HARRIS/BRUEY 2008) oder ausnahmsweise realistische(re) Gewaltdarstellungen
ggü. unrealistische(re)n Gewaltdarstellungen stärkere Wirkungseffekte zeitigen.110
Bestenfalls implizieren i.d.S. (lerntheoretisch orientierte) Forscher, die die Mediengewalt nicht
(oder nicht hinreichend) differenzieren, dass Gewalt im Rahmen violenter Medieninhalte ein
mehr oder weniger homogenes, nur qualitativ (i.S.v. Explizität, Detailgrad, Verletzungsarten
etc.) u./o. quantitativ, u.U. vielleicht auch bzgl. des Realismus der Darstellung differenzierbares
Phänomen sei – Gewalt insg. (und insb. Mediengewalt) ist aber gem. BONACKER/IMBUSCH
2010 ein Phänomen diverser "Typen und Formen, Dimensionen und Sinnstrukturen, Dynamiken
und Kontexte"111 – und dass Gewalt ausnahmslos als nachvollziehbare, effiziente (und ggf.
mehr oder weniger belohnte) Verhaltensweise legitimiert wird, wie auch dass die Rezipienten
die Gewaltdarstellungen i.d.S. wahrnehmen (und z.B. auch unkritisch-affirmativ die textuelle
Tätersperspektive adaptieren, egal wie unangemessen oder gar absurd das Rollenmodell ist),
auch ungeachtet dessen, dass bzgl. Computerspielen ein mangelnder Spielerfolg des Spielers
dgl. (im Sinne negativen Lernens) u.U. konterkarieren könnte (den diesbzgl. Erfolg aber noch
109
110
111
BARKER/PETLEY 2001, S.1f..
Kurioserweise hat erst eine Studie einen inhaltlichen und gleichzeitig auch graphischen Realismus als notwendige Bedingung
für eine Attribuierung einer Darstellung als realistisch formuliert, nämlich ANDERSON/CARNAGEY/FLANAGAN et al.
2004: "We […] provided a first attempt to examine the effects of varying the realism or the 'humanness' of the targets of aggression within a game. […] Half of the violent game participants played the original version of Marathon 2, in which the
targets are humanoid aliens with green blood. The other half played the same game except that the targets were given a human
appearance and spouted red blood when shot." (225) Nach dem Spielen wurde die Zugänglichkeit aggressiver Gedanken der
Experimental- und der Kontrollgruppe (per Wortergänzungstest; s.u.) kontrolliert, ohne dass die Unterschiede statistisch
signifikant waren. Die Autoren spekulierten, dass die Operationalisierung des Realismus (der Menschlichkeit) u.U. ungeeignet
war. Tatsächlich ist das Spiel in beiden Versionen kein besonders realistisches (und als 1995 erstmalig veröffentlichtes auch
ein bereits damals nicht mehr repräsentatives) Spiel. Entsprechend kritisch kommentierte KUNCZIK 2002, dass die Frage
offen bliebe, "weshalb die Autoren nicht getestet haben, wie die Wirkung blauen Blutes sein könnte?" (S.2) BARLETT/
RODEHEFFER 2009 war bereits das Kriterium der "probability of seeing an object in real life" (S.216) ein hinreichendes
Realismuskriterium. Erst der aktuellste Realismusfragebogen von MCGLOIN/FARRAR/KRCMAR 2013 ist plausibler:
"Perceived video game realism was broken down into three main types: graphical realism, sound realism, and game play
realism. All three of these subscales were measured on a 7-point scale (1 = strongly disagree, 7 = strongly agree). Graphical
realism was measured using 10 items […]. Sound realism was measured with 10 items […] and game play realism was
measured with six items […]. The scaled included items such as 'The graphics looked like something I would see in real life,'
'The sound effects (throwing of punches, punches landing, foot movement, grunts and groans of characters being hit, etc.) were
realistic,' and 'The boxers in the game moved in a natural, human-like fashion.'" (S.75) Aber auch dieser Fragebogen erfasst
offensichtlich nicht alle Dimensionen perzipierten Realismus nach bspw. HALL 2003.
BONACKER/IMBUSCH 2010, S.83; vgl. GLEICH 1995, S.8f.; HUGGER/STADLER 1995; KUNCZIK 1998, S.13f.;
MERTEN 1999, S.21f.; IMBUSCH 2002, S.38-42 und KUNCZIK/ZIPFEL 2004, S.11.
31
keine einzige Wirkungsstudie kontrolliert hat; s.u.). Schlechtestenfalls sollen mediale Gewaltdarstellungen diverser Coleur in Spielen wie SUPER MARIO BROS. bis hin zu Spielen wie
MANHUNT 2 mehr oder weniger identisch wirken.112 Beides ist aber nicht besonders plausibel.
Plausibler (aber auch weder hinreichend, noch personale Rezipienten- und situationale
Rezeptionsvariablen nicht nur als mehr oder weniger mediatisierende Störfaktoren realisierend)
wäre bspw. eine bereits von OLSON 2004 propagierte, aber in der Forschungspraxis größtenteils ignorierte Ausdifferenzierung der Mediengewalt, "going beyond the gore level. Does
violence that serves a worthy end (e.g., a SWAT team rescuing hostages) or violence that is
ultimately punished (e.g., a criminal protagonist ends up dead or in jail) have different effects
than violence that is rewarded [...]? Do children who enjoy violent games with story lines differ
from those who prefer bouts of fighting? Do violent games that make use of irony and sarcasm
[…] have differential effects on children who are not cognitively able to detect that irony and
sarcasm?"113 Stattdessen fragt die Mediengewaltwirkungsforschung aber nach wie vor nur nach
der Wirkung von Gewaltdarstellungen per se.
Ein gleichermaßen gravierendes Problem ist im Lichte der Heterogenität der Gewalt, dass das
Gros der Mediengewaltwirkungsstudien die den Wirkungsanalysen zugrunde liegenden Gewaltbegriffe erst gar nicht definiert,114 der Gewaltbegriff für sich genommen aber auch im Rahmen
der diesbzgl. Forschung nicht eineindeutig ist.115 Irrig ist nach IMBUSCH 2002 gar (oder
vielmehr insb.) die Hoffnung, "dass Gewalt wenigstens alltagssprachlich ein einigermaßen
präziser Begriff sei, weil doch eigentlich jeder wisse, was damit gemeint sei, und erst durch die
sozialwissenschaftliche Ausweitung auf eine breite Palette von Phänomenen seine Konturen
und wissenschaftliche Brauchbarkeit eingebüßt hätte, [...] offenbaren doch […] Bevölkerungsumfragen eine hochgradige kognitive Diffusität des Gewaltbegriffs […], die von körperlichen
und seelischen Verletzungen über bestimmte Formen von Kriminalität und rüdem Verhalten im
Straßenverkehr und Sport bis hin zu soziopolitischer Benachteiligung reicht […]."116 Auch insofern zwar im Rahmen der Mediengewaltwirkungsforschung noch mehr oder weniger (implizit)
zwischen personeller und struktureller Gewalt117 differenziert wird und bis dato prinzipiell nur
die Wirkungen der Darstellungen ersterer Gewaltart von Interesse sind, ist ohne eine
transparente, intersubjektivierbare Gewaltdefinition (auch ungeachtet der dank dessen
reduzierten oder gar fehlenden Vergleichbarkeit der einzelnen Studien miteinander) aber
schlechtestenfalls überhaupt nicht mehr nachvollziehbar, inwiefern die Mediengewaltexposition
der Probanden probat operationalisiert wurde (s.u.) und ob die Interpretationen der Studienergebnisse durch die Forscher selbst noch plausibel sind;118 ggf. sind die Studien gar mehr oder
weniger gegenstandslos: Die Forscher analysieren u.U. die Wirkungseffekte Gewalt darstellender Medien, die andere erst gar nicht als (besonders) gewaltdarstellend einstufen würden.119
Ein notwendiger Ausgangspunkt der diesbzgl. Wirkungsstudien, wie auch Inhaltsanalysen,
muss i.d.S. eine konkrete Definition des analysierten Phänomens sein, ohne aber natürlich dass
eine solche Definition inflationär und praktisch grenzenlos sein darf.120 In Orientierung an
aktuelleren Definitionen aggressiven Verhaltens (s.u.) ist z.B. eine Mindestvoraussetzung inter112
113
114
115
116
117
118
119
120
Vgl. CUMBERBATCH 2004, S.33f..
Vgl. OLSON 2004, S.149.
Vgl. THEUNERT 1987, S.22; STECKEL 1998, S.13; MAST 1999, S.15; KUNCZIK/ZIPFEL 2004, S.10; MÖLLER 2006,
S.62 und SCHULZ/BRUNN/DREYER et al. 2007, S.47/66. Bspw. konstatierte MERTEN 1999 bereits für des Korpus der
empirischen Fernsehgewaltwirkungsstudien, dass ca. die Hälfte der Studien den zugrunde liegenden Gewaltbegriff erst gar
nicht definierte, ca. ein Viertel der Studien den Begriff inflationär und nur das letzte Viertel das Phänomen mehr oder weniger
probat definierte (S.9).
Vgl. KUNCZIK 1994a; GLEICH 1995, S.7f.; KLEBER 2000, S.2 und HEITMEYER/HAGAN 2002, S.16. Bzgl. der Etymologie und historischen Genese des Gewalttbegriffs (inkl. diverser Begriffsdefinitionen) s. KUNCZICK 1975, S.33-70;
MERTEN 1999, S.13-63 und IMBUSCH 2002, S.28-37.
IMBUSCH 2002, S.26; vgl. ZEITTER/JAISER/KAPP et al. 1996 und KEPPLINGER 2002, S.1424f..
Vgl. GALTUNG 1971, S.57; GALTUNG 1975; KUNCZICK 1975, S.37-42; KREBS 1994, S.358; SEIM 1997, S.37;
KÜBLER 1998; S.469; MERTEN 1999, S.23; VOLLBRECHT 2001, S.166; IMBUSCH 2002, S.39f.; SCHMIDT 2008,
S.11f..
Vgl. KORNADT 1982, S.64f.; GLEICH 1995, S.3 und WOLOCK 2002, S.24.
Vgl. SACHER 1993, S.322.
Vgl. MAST 1999, S.22.
32
personalen, gewalttätigen Verhaltens (als Form extremer Aggression) die nicht konsensuale
Absicht zur Schädigung eines dieselbe Schädigung vermeiden wollenden Interaktionspartners,121 so dass im Rahmen der Mediengewaltwirkungsforschung bereits als Gewalt kommunizierte Phänomene wie Unfälle oder Naturkatastrophen,122 wie auch bspw., dass sich eine
Suchtkranke selbst Heroin injiziert,123 eindrucksvolle Beispiele inflationärer Gewaltdefinitionen
sind.
Insofern die Forschung auch das quantitative, wie ggf. qualitative Gewaltdarstellungsniveau
interessiert, muss der Vollständigkeit halber einerseits auch konstatiert werden, dass selbst eine
hohe Intercoderreliabilität z.B. der Probanden selbst, wie auch anderer Probanden (bspw. im
Rahmen einer Pilotstudie) oder speziell rekrutierter (vermeintlicher) Experten, die die Gewalthaltigkeit der Medieninhalte einschätzen sollen (s.u.), keine hinreichende Intersubjektivierbarkeit der Gewalthalthaltigkeit demonstrieren und eine differenzierte Gewaltdefinition nicht
ersetzen kann, ungeachtet dessen, dass solche Einschätzungen auch nicht objektiv sind.124 Ohne
eine gemeinsame, verbindliche Gewaltdefinition werden sich die Kodierer tendenziell nur an
subjektiven, alltagssprachlichen, resp. an den ggü. den Versuchsleitern antizipierten Gewaltbegriffen orientieren (können), so dass die Versuchsleiter i.V.m. dem Umstand, dass die
Kodierer i.d.R. nur mittels eines einzigen Fragebogenitems die Gewalthaltigkeit eines Medieninhaltes kodieren sollen (s.u.), riskieren, dass selbst identische Skalenwerte unterschiedlicher
Kodierer keine tatsächlich mehr oder weniger identische Einschätzung der Gewalthaltigkeit derselben Medieninhalte indizieren. Mithin kann u.U. auch bereits die indifferente Frage nach der
Gewalthaltigkeit einer Darstellung eine Antworttendenz zur Mitte oder i.S.e. Versuchsleitereffekts evozieren, so dass sich die Kodierer nur an der antizipierten Einschätzung der Versuchsleiter orientieren und ggf. gar Darstellungen als gewalthaltig(er) klassifizieren, die sie selbst
aber gar nicht als (dermaßen) gewalthaltig einschätzen.
Andererseits wurden mögliche Gewaltdarstellungs- und -wahrnehmungspotenziale violenter
Computerspiele tatsächlich auch noch kaum bspw. mittels Inhaltsanalysen, die ggf. einen Eindruck von der Quantität und u.U. auch den Typen und Formen, Dimensionen und Sinnstrukturen, Dynamiken und Kontexten der in den Spielen enthaltenen Gewaltdarstellungen vermitteln
könnten, adäquat erfasst. Dennoch ist ein mehr oder weniger zentrales Axiom der Mediengewaltwirkungsforschung insg., wie auch des deutschen Jugendmedienschutzes und der moralpanischen Diabolisierungen der Mediengewalt, eine vermeintliche Brutalisierung der Medien
selbst; KÜBLER 2003 monierte i.d.S., dass bereits seit Jahrzehnten geargwöhnt werde, "dass
Medien immer mehr Gewalt präsentieren und verbreiten. Pauschal werden dabei alle Medien
genannt, mindestens vom Fernsehen bis zu Computerspielen, on- oder offline, ohne die vielfältigen und deutlichen Unterschiede in deren Strukturen, deren Aufgaben, deren Programmen,
deren Inhalte und deren Nutzung auch nur annähernd einzubeziehen."125 Einerseits orientieren
sich die diesbzgl. Inhaltsanalysen von Computerspielen methodisch offensichtlich an
lineare(re)n Medien (insb. Filmen) und ignorieren insg. die Interaktivität der Computerspiele.126
I.d.S. monieren bspw. auch KUNCZIK/ZIPFEL 2010, dass im Lichte dessen, dass die Spielinhalte i.d.R. in Abhängigkeit von idiosynkratischen Spielstilen unterschiedlich ausfallen können (s.u.), den Umstand, "dass das Spiel zur 'Erzeugung' der zu analysierenden Inhalte meistens
nur von einem einzigen Spieler gespielt wird."127 Infolge dessen kann eine evtl. Gewalthaltigkeit
der analysierten Spiele (insb. auch i.V.m. mit der Subjektivität der Gewaltwahrnehmung; s.o.)
kaum oder gar nicht objektiviert werden. Andererseits wurden tatsächlich noch gar keine
vergleichbaren Stichproben in Orientierung am selben (weder inflationär, noch nicht hinreichend definierten) Gewaltbegriff mittels derselben Methodik über einen längeren Zeitraum
kontinuierlich analysiert, so dass bzgl. vermeintlicher Entwicklungstendenzen von Computer121
122
123
124
125
126
127
Vgl. THEUNERT 1987, S.58.
Vgl. RÖSER 2003, S.215.
Vgl. LUDWIG/PRUYS 1998, S.581.
Vgl. FERGUSON/RUEDA/CRUZ et al. 2008, S.317f. und FERGUSON/RUEDA 2010, S.102.
KÜBLER 2003, S.12.
Vgl. LACHLAN/MALONEY 2008, S.285.
KUNCZIK/ZIPFEL 2010, S.87f..
33
spielen noch gar keine Aussagen getroffen werden können. I.d.R. werden auch nur die Inhalte
der bspw. innerhalb relativ kleiner Märkte (z.B. einer Stadt) u./o. der für diverse Plattformen
populärsten Spiele analysiert, wird dabei aber die Popularität nicht nur unterschiedlich definiert
(z.B. über Charts, Vermiet- und Verkaufszahlen, Spielernominierungen), sondern sind die
Stichproben selbst regelmäßig bereits zum Zeitpunkt der Veröffentlichung der Analysen
mehrere Jahre alt und infolge dessen nicht mehr für einen Markt mehrerer zigtausend Spiele
(der jährlich auch noch einige tausend neue Spiele veröffentlicht) oder auch nur konkrete(re)
Segmente desselben repräsentativ.128
Letztlich wird regelmäßig argumentiert, dass für eine evtl. Mediengewaltwirkung tendenziell
notwendig sei, dass die Rezipienten dargestellte Mediengewalt auch selbst als Gewalt (i.e.S.)
wahrnehmen.129 Insofern muss im Rahmen der empirischen Mediengewaltwirkungsforschung
natürlich z.B. auch kontrolliert werden, inwiefern die Probanden selbst die von den Forschern
(im Lichte fehlender oder mangelnder Gewaltdefinitionen mehr oder weniger willkürlich) präselektierten (vermeintlich) violenten Medienhalte selbst als violent definieren.130 I.d.S. kommentierte auch VENUS 2007, dass um die Reliabilität der Messergebnisse garantieren zu können die unabhängige Variable wie ein physikalisches Objekt aufgefasst werden müsse, "das
über eindeutige Merkmale verfügt, die der abhängigen Variable, dem Verhalten der Spielenden,
systematisch voraus liegen. Genau dies ist ganz offensichtlich nicht der Fall. Medienangebote,
Bilder, Klänge, Texte und ihre Kombinationsformen, stoßen dem Einzelnen nicht zu wie ein
physikalischer Körper oder eine chemische Substanz. Es handelt sich bei ihnen um Zeichenkomplexe, die nach Maßgabe individueller Wissensbestände und Interessen, die sich in der
Sozialisation vermitteln, wahrgenommen, affektiv besetzt, verstanden und beurteilt werden.
D.h. die Merkmale des Medienangebots werden im Rezeptionsprozess konstituiert.131 Das
physikalische Substrat eines Medienangebots ist nur dessen notwendige, nicht aber dessen
hinreichende Bedingung. Medienangebote verwirklichen ihre Merkmale erst im Rahmen
spezifischer, sozial vermittelter, und vor allem: milieuspezifisch differenter und historisch
veränderlicher Praktiken."132 Bereits MERTEN 1999 konstatierte nämlich, dass Gewalt insg.
kein "Beobachtungsterminus" ist, "sondern ein soziales Unwerturteil, welches durch Zuschreibung [...] entsteht und von bestimmten soziostrukturellen Faktoren beeinflusst wird
[...]."133
Im Rahmen funktioneller Fernsehinhaltsanalysen, die nicht nur z.B. die präsentierten
Gewaltakte zählten, sondern auch das wahrgenommene Gewaltpotenzial des Programms durch
verschiedene Zielgruppen analysierten, konnte für die Wahrnehmung von Mediengewalt per se
gültig demonstriert werden, dass die Gewalt im Medienangebot erst durch die Interpretation der
Rezipienten entsteht;134 i.d.S. resümierte auch VOLLBRECHT 2001: "Ob eine Handlung als
Gewalthandlung (soziale Abweichung) oder als normal angesehen wird, unterliegt der Deutung.
Es gibt keine Gewalt an sich – weder in den Medien noch in der Realität."135 Insofern ist auch
nicht überraschend, dass weder zwischen der objektiven, bspw. inhaltsanalytisch (s.u.)
128
129
130
131
132
133
134
135
Vgl. BRAUN/GIROUX 1989; DIETZ 1998; SCHIERBECK/CARSTENS 2000; GLAUBKE/MILLER/PARKER et al. 2001;
HEINTZ-KNOWLES/HENDERSON/GLAUBKE et al. 2001; THOMPSON/HANINGER 2001; LACHLAN/SMITH/
TAMBORINI 2003; HANINGER/THOMPSON 2004; SHIBUYA/SAKAMOTO 2005; DILL/GENTILE/RICHTER et al.
2005; KLEIN 2005; LACHLAN/SMITH/TAMBORINI 2005; HANINGER/THOMPSON/TEPICHIN 2006 und KUNCZIK/
ZIPFEL 2010, S.90f..
Vgl. MAST 1999, S.23; FRÜH 2001, S.16/215; LADAS 2003, S.34 und SCHULZ/BRUNN/DREYER et al. 2007, S.67.
Trivial ist im Lichte der bereits artikulierten Kritik an der Lerntheorie der Kommentar von LUKESCH 2002a, dass das
Argument der Notwendigkeit der Wahrnehmung von Mediengewaltdarstellungen als Gewaltdarstellungen i.e.S. die Möglichkeit latenten Lernens, resp. das Lernen einer Handlungsweise, ohne dass dieselbe auch subjektiv als Gewaltverhalten kodiert
sein muss, ignoriere (S.643); dgl. bereits KUNCZIK 1998, S.55.
Vgl. KUNCZIK 1988, S.78f.; MEIROWITZ 1993, S.81; FRÜH 1995; KUNCZIK 1998, S.43; MAST 1999, S.176f.; FRÜH
2001; POTTER/TOMASELLO 2003 und KUNCZIK/ZIPFEL 2004, S.18.
Vgl. HALL 1980, S.136ff.; FAULSTICH 1988, S.9; DOELKER 1989, S.24; WINTER 1992; WINTER 1995; KROTZ 1999,
S.123; HICKETHIER 2001, S.6/23ff.; MIKOS 2001b, S.173-208; GEHLEN 2002, S.12; WILLMANN 2003b, S.137 und
MIKOS 2007.
VENUS 2007, S.75.
MERTEN 1999, S.17; vgl. BÜTTNER 1988, S.106; RATHMAYR 1996; SCHMIDT 1997; MIKOS 2000, S.60;
VOLLBRECHT 2001, S.163 und FRÜH 2001, S.213.
Vgl. FRÜH 1995 und FRÜH 2001, S.213.
VOLLBRECHT 2001, S.163; vgl. FELTEN 2000; WOLOCK 2002, S.24 und TAMBORINI/WEBER/BOWMAN et al. 2013.
34
erhobenen (und insb. nicht der z.B. nur mehr oder weniger subjektiv seitens der Forscher
postulierten) Quantität der Gewaltdarstellungen, noch der Qualität derselben (i.S.v. Explizität,
Detailgrad, Verletzungsarten etc.) einerseits und einem von den Rezipienten wahrgenommenen
Gewaltdarstellungsniveau, wie auch insb. der moralischen Bewertung der Gewaltdarstellungen
andererseits ein konsistenter Zusammenhang besteht.136 Dgl. sind aber ohnehin nicht nur Fragen
formaler137 und kontextueller Medien-,138 sondern bspw. auch personaler Rezipienten- und
situationaler Rezeptionsvariablen.139
Nur ein paar relativ konsistente Wahrnehmungstendenzen konnten bis dato identifiziert werden:
Die Rezipienten nehmen bspw. im Rahmen der Film- und Fernsehgewaltwirkungsstudien i.d.R.
(auch bereits perzeptiv) weniger als die quantitiv tatsächlich präsentierten Gewaltakte wahr.140
Auch konnte bspw. FRÜH 2001 demonstrieren, dass Frauen mehr Darstellungen als Männer
und ältere Rezipienten (> 35 Jahre) mehr Darstellungen als jüngere Rezipienten (wie auch
tendenziell – aber nicht besonders signifikant – Rezipienten mit höherer Bildung als mit
niedrigerer Bildung) als gewalthaltig interpretieren. Nicht überraschend wurden mithin auch
Darstellungen realer Gewalt als gewalthaltiger als fiktionale Gewaltdarstellungen und Darstellungen von als legitim interpretierter Gewalt (z.B. staatliche Gewalt, Notwehr) als weniger
gewalthaltig als Darstellungen von als illegitim interpretierter Gewalt wahrgenommen.141 Auch
eine Erwartbarkeit von Gewalt bedingt u.a. gem. KUNCZIK 1988 die Wahrnehmung des
Gewaltdarstellungsniveaus: Gewalt in Zusammenhängen, in denen man sie erwartet, "wird als
ritualisierte bzw. stereotypisierte Handlungssequenz wahrgenommen, die für die Zuschauer mit
der 'Realität' und mit 'Echter Gewalt' nichts zu tun hat."142 Letztlich sind für die Attribuierung
einer Darstellung als gewalthaltig, wie auch die Einschätzung des Gewaltniveaus und der
moralischen Bewertung der Darstellung seitens der Medienvariablen die Kontexte der Gewalt
und nicht so sehr die Quantität u./o. Qualität derselben am relevantesten.143
I.d.S. konnten bspw. POTTER/TOMASELLO 2003, die die Anzahl der Gewaltdarstellungen
ein und derselben Folge der Fernsehserie WALKER, TEXAS RANGER variierten, experimentell
demonstrieren, dass die objektive Anzahl der dargestellten Gewaltakte für die Wahrnehmung
der Gewalthaltigkeit seitens der Rezipienten nicht besonders relevant ist, denn "treatment differences accounted for only about 7% of the variance in judgments of the degree of violence,
whereas a set of interpretive variables accounted for more than 48%."144 Auch insofern ist die
bereits monierte Nichtdifferenzierung der Mediengewalt problematisch. Für Computerspiele
wurde mithin auch bereits festgestellt, dass die Spieler selbst die dargestellte Gewalt nicht als
Gewalt i.e.S. (und tendenziell auch weniger Gewalt als z.B. in vergleichbaren filmischen Darstellungen) wahrnehmen (s.o.). Ungeachtet dessen kontrolliert das Gros der Computergewaltwirkungsstudien das von den Probanden wahrgenommene Gewaltdarstellungsniveau aber nicht
oder nicht hinreichend.145 Das Problem relativiert aus offensichtlichen Gründen (s.o.) auch nicht
das bereits kritisierte Prozedere, dass die Probanden teilweise selbst die Gewalthaltigkeit der
Spiele, die sie im Rahmen der Experimente oder privat spielten, einschätzen sollen.
136
137
138
139
140
141
142
143
144
145
KUNCZIK 1998, S.43.
TAFALLA 2007 konnte bspw. demonstrieren, dass u.U. bereits die Musik eines Spiels die Wahrnehmung der Gewalthaltigkeit
desselben bedingen kann: Spieler beider Geschlechter, die das Spiel DOOM mit aktivierter Spielmusik spielten, bewerteten das
Spiel (ungeachtet der thematisierten Kodierungsprobleme) als gewalthaltiger als Spieler, die das Spiel ohne Musik spielten.
Bzgl. diverser, die Gewaltwahrnehmung und moralischen Bewertung der dargestellten Film- und Fernsehgewalt evtl.
bedingenden (und u.U. auch auf Computerspiele extrapolierbarer) Inhaltsvariablen s. bspw. HOWITT/CUMBERBATCH
1974; GUNTER 1985; THEUNERT 1987, S.106; LUDWIG/PRUYS 1998, S.590; MERTEN 1999, S.63; VOLLBRECHT
2001, S.164f. und KUNCZIK/ ZIPFEL 2004, S.130-146.
Vgl. KUNCZIK 1978, S.22; THEUNERT 1987, S.179f.; WINTER 1992; MEIROWITZ 1993, S.81; KUNCZIK 1994a;;
RÖSER/KROLL 1995; WINTER 1995; FRITZ/FEHR 1997, S.279; BERGMANN 2000, S.192; MIKOS 2003, S.16;
UHLENBROCK 2006, S.56 und VENUS 2007, S.75.
Vgl. KUNCZIK 1988, S.78f..
Vgl. FRÜH 2001; MAST 1999, S.179; KEPPLINGER 2002, S.1425 und KUNCZIK/ZIPFEL 2004, S.38.
KUNCZIK 1988, S.79; Vgl. KUNCZIK 1994a und SCHULZ/BRUNN/DREYER et al. 2007, S.67.
Vgl. FRÜH 2001, S.213 und MORAN 2007.
POTTER/TOMASELLO 2003, S.315 und vgl. FUNK/FLORES/BUCHMAN et al. 1999.
Vgl. FRÜH 1995, S.172; GAUNTLETT 2001 und GOLDSTEIN 2005, S.341.
35
5.
5.1
Die Operationalisierung von Computerspielgewaltexposition und -stimulus
Korrelationsstudien
Ungeachtet dessen operationalisierte noch keine Wirkungsstudie die antezedierende oder gar
habituelle quantitative, wie auch qualitative Mediengewaltexposition der Probanden im Rahmen
des Computerspielens probat, selbst gem. dem Fall, dass der Mediengewaltbegriff hinreichend
definiert und ausdifferenziert, wie auch garantiert worden wäre, dass die Probanden selbst die
Spiele, die sie spielten, als hinreichend gewalthaltig interpretieren. Offensichtlich ist das bspw.
für Studien, die nicht zwischen einem generellen (u.U. mediengattungsspezifischen) Medienkonsum und einer speziellen Mediengewaltexposition der Probanden differenzieren,146 wie auch
für Studien, die ungeachtet der Diversität der Medieninhalte auch innerhalb einzelner (vermeintlich per se Gewalt darstellender) Genres nur die Nutzungshäufigkeit derselben kontrollierten.147
Nicht unproblematischer ist aber auch das Prozedere, den Probanden nur eine mehr oder
weniger willkürliche Liste konkreter Medientitel zu präsentierten und sie zu instruieren, ihre
Nutzungshäufigkeiten für jeden der Titel zu dokumentieren.148 Bspw. präsentierten HOPF/
HUBER/WEIß 2008 den Probanden i.d.S. eine Liste mit 19 Filmtiteln (z.B. SCREAM, FREITAG
DER 13.) und 16 Computerspieltiteln (z.B. HALF-LIFE, DOOM, RESIDENT EVIL) für die sie auf
einer 5-stufigen Skala pro Titel dokumentieren sollten, wie oft sie denselben jemals genutzt
hatten (0-, 1- bis 2-, 3- bis 10-, 11- bis 30- oder mehr als 30-mal). Die Skalenwerte wurden für
jedes Medium einzeln addiert und durch die Anzahl der jeweiligen Titel dividiert, so dass die
Autoren mediengattungsspezifische Expositionsmaße für Film- und Computerspielgewalt
generieren konnten. Die Studie kopierte damit exakt das Prozedere der Querschnittstudie HOPF
2004, den Probanden wurden gar exakt dieselben Medientitel präsentiert (einzig die Anzahl der
Spieletitel wurde verdoppelt). Ungeachtet dessen, dass die Listen z.T. bereits zum Erhebungszeitpunkt (den Jahren 1999 und 2000), aber insb. zum Veröffentlichungszeitpunkt der älteren
der beiden Studien veraltet waren (bzgl. der Problematik s.u.), führt bereits der Umstand das
Expositionsmaß ad absurdum, dass die Probanden privat aus unzähligen anderen Gewalt
darstellenden Titeln wählen und sie mehr oder weniger häufig nutzen können, die aber einfach
nur nicht Teil der Listen sind, so dass hohe Expositionsmaße der Probanden u.U. (zzgl. der noch
zu thematisierenden Probleme) nicht tatsächlich auch eine höhere Mediengewaltexposition derselben indizieren (dafür müssten die Autoren u.a. erst garantieren können, dass die Probanden
auch keine anderen als die präsentierten Titel nutzten).
Das aktuell populärste der Mediengewaltexpositionsmaße erfanden ANDERSON/DILL 2000:
"Participants were asked to name their five favorite video games. After naming each game,
participants responded on scales anchored at 1 and 7, rating how often they played the game and
how violent the content and graphics of the game were. Responses of 1 were labeled rarely,
little or no violent content, and little or no violent graphics, respectively. Responses of 7 were
146
147
148
Vgl. COLWELL/PAYNE 2000 und ANDERSON/SAKAMOTO/GENTILE et al. 2008.
Vgl. KRAHÈ/MÖLLER 2004; KRAHÈ/MÖLLER 2010, S.403f.; KRAHÈ/MÖLLER 2011; KRAHÈ/MÖLLER/
HUESMANN et al. 2011 und ANDERSON/SAKAMOTO/GENTILE et al. 2008. Ein diesbzgl. besonders fragwürdiges Bsp.
stellt die Studie WILLOUGHBY/ADACHI/GOOD 2010 dar: "Participants were asked to indicate yes or no to whether they
played action (e.g., God of War) or fighting (e.g., Mortal Kombat) video games. After consulting with professionals in the
industry, these video game categories were chosen because all games in these categories contain violence. Other categories
such as strategy games were not included, as some strategy games involve violence (e.g., RainbowSix), while others do not
(e.g., Civilization). An index of sustained violent video game play was created by calculating the ratio of number of waves in
which the participant reported playing either action or fighting video games to the total number of waves that the participant
completed. This index ranged from 0 (never played violent video games during any of the high school grades) to 1 (played
violent video games during all of the high school grades). When participants were in Grades 11 and 12 only, frequency of
violent video game play also was assessed, and computed as an average of two items: 'On an average day, how often do you
play action games?' and 'On an average day, how often do you play fighting games?' (based on a 5-point scale: 1 = not at all to
5 = 5 or more hr). Higher composite scores indicated a higher frequency of violent video game play." (S.105) Ungeachtet
dessen, dass im konkreten Fall sog. Kampfsportspiele ("fighting games") auch nur ein Subgenre der Actionsspiele sind und de
facto auch nicht alle Spiele des Metagenres der Actionsspiele Gewalt darstellen, ist das generelle Problem aller diesbzgl.
Studien, dass die Gewaltdarstellungsniveaus und die diesbzgl. Abstraktionsgrade (wie die Typen, Formen, Dimensionen,
Dynamiken, Sinnstrukturen und Kontexte) der dargestellten Gewalt sich bereits innerhalb der Genres gravierend unterscheiden
können, insofern Gewalt überhaupt konkret dargestellt wird.
Vgl. FERREIRA/RIBEIRO 2001; KRAHÈ/MÖLLER 2004 und MÖLLER 2006.
36
labeled often, extremely violent content, and extremely violent graphics, respectively. […] For
each participant, we computed a violence exposure score for each of their five favorite games by
summing the violent content and violent graphics ratings and multiplying this by the how-often
rating. These five video game violence exposure scores were averaged to provide an overall
index of exposure to video game violence."149 Die das Maß seitdem adaptierenden Computerspielgewaltwirkungsstudien variieren bspw. die Anzahl der favorisierten Spiele u./o. den
analysierten Nutzungszeitraum, regelmäßig schätzen auch nicht die Probanden selbst das
Gewaltniveau der Spiele ein, sondern vermeintliche Experten (s.o.) oder man extrapoliert die
Gewalthaltigkeit ggf. aus einer Alterskennzeichnung für das entsprechende Spiel. Das Gros der
Studien ignoriert aber die originär empfohlene, aber selbst bereits im Lichte der Diversität der
Gewaltdarstellungen unterkomplexe, mittels nur je einem einzigen Fragebogenitem erhobene
inhaltliche und graphische Niveaudifferenzierung derselben und fragt stattdessen nur über ein
einziges Item (und natürlich i.d.R. auch ohne Definition des Gewaltbegriffs) nach dem
generellen Gewaltdarstellungsniveau der Spiele.150 Die Reduzierung der Spiele auf die Gewaltdarstellungsniveaus ignoriert letztlich auch unzählige konfundierende Merkmale derselben
(s.u.). Ungeachtet dessen kann das skizzierte Maß aber auch insg. nicht garantieren, dass dieselben Indexwerte auch faktisch dieselbe quantitative, wie qualitative Mediengewaltexposition der
Probanden indizieren: Eine Spielefavorisierung indiziert nämlich nicht auch zwangsläufig eine
entsprechende Nutzungshäufigkeit der favorisierten Spiele und insb. keine häufigere Nutzung
derselben ggü. anderen, u.U. gar violenteren (aber eben nicht favorisierten) Spielen, die die
Probanden gleich häufig oder gar häufiger spielen.151
Diese Problematik wird von der Forschung insg. und selbst noch in der aktuellsten Studie zur
Validität der gängigen Expositionsmaße konsequent übersehen.152 Auch differenziertere Fragebögen, die die Nutzungshäufigkeit aller Spiele kontrollieren, die die Probanden im Analysezeitraum insg. spielten, können das Problem gem. FERGUSON 2009 kaum oder gar nicht korrigieren: "Whether self-report (or parent report) measures truly measure exposure or only the
degree to which certain kinds of exposure are more memorable to certain individuals is a
question of concern."153 Selbst gem. dem Fall, dass garantiert werden könnte, dass die
Probanden dasselbe Zeitpensum in objektiv gleichermaßen violente, resp. identische Spiele
investieren (bspw. im Rahmen einer Langzeitstudie instruiert werden, dass sie ausschl. dieselben, konkreten Spiele für den Analysezeitraum spielen sollen), könnte bereits im Lichte der
Interaktivität der Spiele nicht garantiert werden, dass sie qualitativ u./o. quantitativ denselben
Mediengewaltniveaus ausgesetzt wären (s.u.).154
Auch selbst gem. dem Fall, dass die antezedierende, ggf. habituelle Mediengewaltexposition
probat operationalisiert werden würde, prägt ein weiteres Problem die Mediengewaltwirkungsforschung insg.: Die einschlägigen Korrelationsstudien kontrollieren oftmals nur die bivariaten
Korrelationen zwischen der Mediengewaltexposition und bspw. dem aggressiven Verhalten der
Probanden, aber nicht (hinreichend) evtl. konfundierende Drittvariablen, die für sich genommen
ggf. bereits einen relevanten, eigenständigen Einfluss auf bspw. das aggressive Verhalten haben
können, wie bspw. die Persönlichkeit (z.B. die Aggressivität), soziodemographische Faktoren
(z.B. Alter, Geschlecht), häusliche Gewalt oder gar die genetischen Dispositionen der
Probanden, so dass evtl. Zusammenhänge natürlich u.U. überinterpretiert werden,155 wie aber149
150
151
152
153
154
155
ANDERSON/DILL 2000.
Vgl. BUCHANAN/GENTILE/NELSON et al. 2002; FUNK/BUCHMAN/JENKS et al. 2003; ANDERSON/CARNAGEY/
FLANAGAN et al. 2004; FUNK/BALDACCI/PASOLD et al. 2004; GENTILE/LYNCH/LINDER et al. 2004; TAMBORINI/
EASTIN/SKALSKI et al. 2004; BARTHOLOMEW/SESTIR/DAVIS 2005; ANDERSON/SAKAMOTO/GENTILE et al.
2008; FERGUSON/RUEDA/CRUZ et al. 2008; KOGLIN/WITTHÖFT/PETERMANN 2009; BUSHMAN/GIBSON 2010;
FERGUSON/RUEDA 2010; FERGUSON/MIGUEL/GARZA 2012; FERGUSON/GARZA/RAMOS et al. 2013; HASAN/
BÈGUE/SCHARKOW 2013 und IVORY/ KAESTLE 2013.
Vgl. SALISCH/OPPL/KRISTEN 2007, S.76.
Vgl. BUSCHING/GENTILE/KRAHÈ et al. 2013.
FERGUSON 2009, S.105.
Vgl. SCHULZ/BRUNN/DREYER et al. 2007, S.66 und PENG/LIU/MOU 2008.
Vgl. KOLFHAUS 1988a, S.197; KÜBLER 1998, S.471; VOLLBRECHT 2001, S.165; FREEDMAN 2002; WOLOCK 2002,
S.25; FRINDTE/OBWEXER 2003; SLATER/HENRY/SWAIM 2003, S.715; WEBER 2003, S.40; CUMBERBATCH 2004,
S.19ff./33; KUNCZIK/ZIPFEL 2004, S.235; OLSON 2004, S.147f.; SAVAGE 2004; FERGUSON 2007a; SCHULZ/
37
mals bereits FERGUSON 2009 monierte:
One of the key problems with the extant literature is the failure [...] to take account of key variables that
may explain both why individuals are attracted to violent media and why they behave violently. Although
researchers sometimes claim to have controlled for "personality" or "family history," this is simply not the
case. […] many of the measures used lack reliability and validity. Even if that were not an issue, the
measures used are generally substandard for the task at hand. [...] most studies in media violence make no
effort to control for personality at all. Those studies that do most often use a single "face-valid" measure
of "trait aggression" […] such as the Buss Aggression Questionnaire […]. The problem with such
measures is that [...] their purpose is easy to figure out and thus lie upon. [...] Probably the personality
characteristic that has been best associated with violent criminal activity is psychopathy […]. The best
available measure for this personality trait is the Psychopathy Checklist (PCL […]). Few, if any, studies
to date have controlled for this personality characteristic in the examination of media violence effects
using the PCL or any other valid measure that has been associated with actual violent behavior. [...]
media violence studies rarely make a serious attempt to control for exposure to violence within the
family. To the extent that environmental exposure can predict future behavior (that is to say, independent
of biology), family violence is arguably a better fit for social modeling theories than is media violence
effects, owing to the proximity and emotional closeness to the modeling source. Yet this factor is almost
never considered in media violence literature. To the extent that authors claim that it is considered, a close
inspection of the data reveals that this is not the case. […] Problems with […] self-report behavior by
parents on their own negative behavior should be evident. […] The majority of studies […] simply make
no effort to include this important variable. It is difficult to understand the unique contribution of media
violence to violent behavior while studies leave family violence variables uncontrolled. Biology
represents a third variable that has remained uncontrolled in the current body of media violence literature.
Several recent analyses have indicated that genetics plays an important role in the development of antisocial personalities […], with shared environmental influences playing comparatively little role in the
development of these traits. To date, no studies have considered genetic heritability in the context of
media violence effects. This powerful influence on antisocial behavior has not been included in
theoretical models of media violence effects […], and genetic effects have never been controlled for in
any study of media violence effects. Given studies indicating a dominant role for genetics over
environment in regards to personality development […], this is a major oversight.156
Tatsächlich demonstriert der Forschungsstand, dass je mehr der (und je probater die) relevanten
Drittvariablen kontrolliert werden, desto mehr erodieren bspw. die Zusammenhänge zwischen
der Mediengewaltexposition und dem aggressiven Verhalten der Probanden.157 Die Problematik
fehlender oder nicht hinreichender Drittvariablenkontrollen legt insg. nahe, dass das Gros der
korrelativen Mediengewaltwirkungsstudien noch gar nicht den eigenständigen Einfluss der
Mediengewaltexposition auf bspw. die Aggressionen der Probanden untersucht hat. Letztlich ist
im Rahmen querschnittlicher Studien auch die Frage nach der Wirkungsrichtung der Zusammenhänge i.d.R. offen, d.h. ob Gewalt darstellende Medieninhalte aggressives Verhalten fördern
(Wirkungshypothese) oder ob bereits aggressive(re) Menschen lediglich vermehrt (u./o.
explizitere) Gewalt darstellende Medieninhalte rezipieren (Selektionshypothese). Dies ist ein
Problem, dass dank der ungenügenden Drittvariablenkontrolle, wie auch nicht immer plausibler
Pfadanalysen u.ä. auch Längsschnittstudien betrifft.158 Aber ungeachtet dessen werden oftmals
rein korrelative Zusammenhänge nach wie vor salopp als Belege für die Wirkungshypothese
interpretiert, obwohl auch das Zutreffen der Selektionshypothese wahrscheinlich (und auch
theoretisch plausibler) wäre.159
156
157
158
159
BRUNN/DREYER et al. 2007, S.50; STRENG 2007, S.200; FERGUSON 2008b, S.27; FERGUSON/RUEDA/CRUZ et al.
2008; FERGUSON/KILBURN 2009, S.759; FERGUSON/MIGUEL/HARTLEY 2009; FERGUSON 2010, S.74;
FERGUSON/OLSON/KUTNER et al 2010 und FERGUSON/DYCK 2012, S.177. Tatsächlich konnte bspw. FERGUSON
2010 demonstrieren, dass die im Rahmen der Korrelationsstudie GENTILE/LYNCH/LINDER et al. 2004 nur bivariat kontrollierten Zusammenhänge zwischen der Mediengewaltexposition und der Aggression offensichtlich einen Geschlechtereffekt
kuvrierten; so dass "[…] controlling for gender alone removes most of the overlapping variance. As boys are both more aggressive and play more violent video games than do girls, any bivariate correlation may simply be masking an underlying
gender effect." (S.74) Bzgl. einer Kritik der insg. auch nur (realtivierbar) kleine Wirkungszusammenhänge postulierenden
Korrelationsstudie s. auch CUMBERBATCH 2004, S.21.
FERGUSON 2009, S.110ff..
Vgl. FERGUSON/RUEDA/CRUZ et al. 2008.
Dgl. demonstriert bspw. ELBERS 2009 u.a. am Bsp. von HOPF 2004 und HOPF/HUBER/WEIß 2008.
Vgl. KUNCZIK/ZIPFEL 2006, S.324f.. Bzgl. einer älteren Kritik der querschnittlichen Mediengewaltwirkungsstudien s. auch
CUMBERBATCH 2004, S.17-21.
38
5.2
Experimentalstudien
Auch im Rahmen von Experimentalstudien sind die Operationalisierungen der unabhängigen
Variablen und insb. die Differenzierungen der Stimuli in violente Computerspiele für die
Experimental- und nicht violente Spiele für die Kontrollgruppen insg. besonders problematisch;
z.T. dokumentieren (oder spezifizieren) die Versuchsleiter auch erst gar nicht, welche (Teile
der) Spiele sie überhaupt als Stimuli nutzen160 u./o. kategorisieren wie bspw. KONIJN/
BIJVANK/BUSHMAN 2007 Spiele der Kontrollgruppe (THE SIMS 2; TONY HAWK’S
UNDERGROUND 2; FINAL FANTASY) so salopp wie falsch als nicht violent, die de facto auch
i.S.v. engeren Auslegungen Gewalt darstellend sind.161 Das zentrale Problem ist aber, dass die
Versuchsleiter die violenten und die nicht violenten Spiele z.T. gar nicht(!) und ggf. nicht
hinreichend bzgl. (aller relevanten) evtl. konfundierenden Spielevariablen äquivalieren.162
Die bis heute populärste Methode der Kontrolle von Störvariablen erfanden (in Orientierung an
ANDERSON/FORD 1986) abermals ANDERSON/DILL 2000: Die Probanden sollen nach dem
Spielen i.d.R. sieben 7-stufige (unipolare) Items eines Fragebogens beantworten, der eruiert,
"how difficult, enjoyable, frustrating, and exciting the games were as well as how fast the action
was and how violent the content and graphics of the game were."163 Ungeachtet dessen, dass das
Gros der das Maß adaptierenden Experimente erst gar nicht zwischen dem inhaltlichen und dem
graphischen Gewaltdarstellungsniveau differenziert, wie auch, dass die Störvariablen i.d.R. nur
mittels eines einzigen Fragebogenitems pro Variable kontrolliert werden (so dass bereits dgl. die
skizzierten Antwortverzerrungen evozieren kann; s.o.)164 und dass z.T. nicht die Probanden
selbst, sondern nur Dritte die Fragen beantworten, divergieren die letztendlich genutzten Gewalt
darstellenden und keine Gewalt darstellenden Computerspiele gem. ELSON 2011 insg. in mehr
als nur den kontrollierten Variablen, "e.g. the perspective, required spatial attention, required
hand-eye coordination, etc. Even though some researchers try to control for that by using games
that score similarly on a few variables like difficulty, enjoyment, action, frustration, and differ
on violent graphics and content […], the vast differences between the […] games used in those
studies become apparent once one takes a look (or plays) them. Although there is a lot of proof
for a difference in the short-term effects of those games on physiological arousal and aggressive
behavior, the question whether this can be traced back to the displays of violence remains unanswered because there are plenty of other possible causes that were not eliminated or controlled in these studies."165 Nicht überraschend vergleichen Experimentatoren, die sich auf die skizzierte o.ä. rein statistische Methoden verlassen, vorzugsweise Äpfel mit Birnen;166 tatsächlich
konnte bis heute noch kaum eine (und insb. keine an der kritisierten Methode orientierte) Studie
eine (oder mehrere) mehr oder weniger plausible Spielepaarung(en) präsentieren, die eine vorbehaltlose Zuschreibung evtl. Wirkungseffekte auf die Gewaltdarstellungen erlauben könnte(n).
160
161
162
163
164
165
166
Vgl. WOLOCK 2002, S.25; RÖSER 2003, S.216 und KUNCZIK/ZIPFEL 2004, S.213.
Vgl. FERGUSON 2010, S.74ff..
Vgl. FREEDMAN 2002; KUNCZIK/ZIPFEL 2004, S.234; PRZYBYLSKI/RIGBY/RYAN 2010 und ADACHI/
WILLOUGHBY 2011b.
ANDERSON/DILL 2000.
Erst CARNAGEY 2006 kontrollierte bspw. (wie dgl. auch erst wieder ANDERSON/CARNAGEY 2009) die Variable der
Kompetitivität (anders als die anderen Störvariablen) mittels vier und nicht nur eines Items: "'to what extent did you feel like
you were competing with the other team,' 'how hard were you trying to win the game,' 'how competitive was this video game,'
[…] 'to what extent did this video game involve competition'" (S.26). Aber erst VALADEZ/FERGUSON 2012 konstruierten
einen auch für (nur) zwei weitere Störvariablen elaborierteren Fragebogen: "The difficulty scale was composed of four items:
'how difficult was the game', 'to what extent did you feel like you could win this game', 'how difficult was it to understand the
rules and purpose of this game', and 'how hard was it to learn the game controls'. The pace of action scale was created from
five items: 'how exciting was this video game', 'how fast was the pace of action for this video game', 'how boring was this
video game', 'how often did you feel like you were doing the same, repetitive actions', and 'to what extent did this video game
have exciting, 'action-packed' moments'. The competitiveness scale was composed of five items: 'how challenging did you feel
the game was', 'how important did you feel it was to succeed at the game', 'how tough was this video game', 'to what extent did
you feel like you accomplished something during the game', and 'how much did you feel like you were competing against the
video game'." (S.261) Ob die Fragen die Variablen auch hinreichend erfassen, ist aber nach wie vor die Frage.
ELSON 2011, S.2 und vgl. VALADEZ/FERGUSON 2012, S.609.
Vgl. LADAS 2002, S.119ff..
39
Im Lichte der Komplexität, wie auch der Multidimensionalität der Computerspiele werden aber
einerseits selbst (elaboriertere) Kontrollen additionaler Störvariablen nicht garantieren können,
dass auch tatsächlich alle evtl. wirkungsrelevanten Variablen (hinreichend) erfasst werden.167
Andererseits werden die Forscher auf dem Markt auch kaum violente und nicht violente Spiele
finden können, die außer in der Frage der Gewaltdarstellung im Wesentlichen identisch sind,168
so dass sie nur die Möglichkeit haben, dass sie entweder selbst violente und nicht violente
Versionen entsprechender Spiele progammieren oder bereits veröffentlichte Spiele i.d.S.
modifizieren (lassen). Erst zwei aktuellere Experimente sind aber in dieser Hinsicht akzeptabler
und bis dato auch die einzigen, die die violenten und die nicht violenten Spiele bzgl. aller evtl.
konfundierenden Spielevariablen äquivalieren; BÖSCHE 2009 programmierte bspw. selbst ein
simpleres Reaktionsspielchen in zwei unterschiedlich violenten und einer nicht violenten
Version:
The objective of all game versions was to click on targets (rabbits) that emerged from burrows and withdrew again after 1.3 seconds. The targets popped up at five different screen locations with equal
probability at an average of about 1 target per second, multiple targets being possible. If the participant
clicked on a visible target, 1 point was added to his score, and a gadget was applied to the target,
changing the target’s appearance, while an appropriate sound was played […]. When the participant did
not click on the target within 1.3 seconds of its appearance, 1 point was subtracted. If the participant
clicked on an empty location, 1 point was subtracted as well, such that the gadget moved with its
characteristic sound, but did not change anything. The game automatically logged the number of targets
which appeared, targets clicked on and missed, empty locations clicked, and the total score. All game
versions used exactly the same program core; only graphics and sounds were exchanged to produce the
three different versions […]. In the non-violent version, targets were cartoonish rabbits with their ears
hanging down, making "heeho" noises when popping up. The gadget used in this version was a big carrot.
If a target was clicked, the carrot was moved to the rabbit’s mouth, a chewing sound followed by a
satisfied "heehee" sound was played, and the rabbit’s ears went up […]. For the moderately violent
version, identical target graphics were used, but in reverse order. The rabbits appeared with their ears up,
making 'heeho' noises. The gadget, however, was a big hammer. If a target was clicked, the hammer
slammed down on the rabbit’s head, a clapping sound following cartoonish screaming was played, and
the rabbit’s ears went down […]. The extremely violent version used different graphics: A rabbit with
somewhat cuddlier features and a hammer with metal-reinforced hitting edges. If a target was clicked, the
hammer slammed down on the rabbit’s head with a splash, less cartoonish pain noises followed, and the
rabbit’s head was dismembered: One ear was bloodily ripped off, the eye protruded, and the skull broke,
showing a part of the brain […].169
167
168
169
Die probateste Störvariablenkontrolle demonstrieren aber auch nicht VALADEZ/FERGUSON 2012, die als erste und einzige
dasselbe unmodifizierte(!) Spiel als violenten Stimulus für die Experimental- und als nicht violenten Stimulus für die Kontrollgruppe nutzten: "Participants randomly assigned into the violent game-play condition played Red Dead Redemption from a
predetermined save point with approximately 30% of the game already completed. […] Participants randomly assigned to the
non-violent game-play within a violent game condition played Red Dead Redemption from the beginning of the game, when
human vs. human violence has not yet entered the storyline. [...] during this last condition, participants played a relatively nonviolent game before the actual violence ensues." (S.611) Einerseits dürften beide Stimuli zwar tatsächlich weitgehend
identisch sein, je nach Spielmission können sich aber bspw. die Anforderungen an den Spieler u.U. erheblich unterscheiden
und andererseits haben die Autoren das Spielverhalten der Probanden nicht kontrolliert, so dass u.U. die Spieler der
Experimentalgruppe nicht u./o. die der Kontrollgruppe doch virtuelle Gewalt ausübten und infolge dessen das Experiment
gegenstandslos wäre (bzgl. der Problematik s.u). Ein paar Versuchsleiter haben nicht nur die Experimentalgruppen Gewalt
darstellende und die Kontrollgruppen (nicht hinreichend äquivalierte) keine Gewalt darstellende Spiele spielen lassen, sondern
ließen erstere auch bereits unterschiedlich blutige Versionen ein und derselben violenten Spiele spielen, so dass sich evtl. voneinander unterscheidende Medienwirkungen innerhalb der Gruppe auf den ersten Blick theoretisch (auch ohne statistische
Störvariablenkontrolle) ausschl. auf die Variationen der Bluteffekte als einem Surrogat der generellen Gewalthaltigkeit der
Spiele reduzieren lassen können sollten: BALLARD/WIEST 1996 nutzten z.B. je eine Version des Kampfsportspiels MORTAL
KOMBAT mit deaktivierten und aktivierten Bluteffekten (pro Treffer spritzen z.T. mehrere Liter an Blut) als Gewaltstimuli für
die Experimentalgruppen, wie auch ein nicht violentes Spiel für die Kontrollgruppe; dgl. auch BALLARD/LINEBERGER
1999, die kurioserweise auch das Nachfolgespiel MORTAL KOMBAT II salopp als "more violent version" (S.546) der blutigen
Version des ersten Teils nutzten (die ersten beiden Teile der Spieleserie sind aber insg. nicht identisch), wie z.B. auch
BARLETT/HARRIS/BRUEY 2008, die aber noch im Folgenden thematisiert werden sollen. Auch FARRAR/KRCMAR/
NOWAK 2006 und KRCMAR/FARRAR 2009 wollten analysieren, inwiefern ein Spiel wie HITMAN 2: SILENT ASSASSIN mit
deaktivierten und aktivierten Bluteffekten evtl. divergierende Wirkungen zeitigt. Insofern die blutigeren Versionen in allen
Fällen auch tatsächlich stärkere Wirkungen zeitigten, ist aber (ungeachtet der im Folgenden noch diskutierten Probleme der
Mediengewaltwirkungsforschung) der fundamentale Fehler aller fünf Studien die Prämisse, dass je blutiger eine Darstellung
(auch bspw. ungeachtet der Kontexte derselben) ist, desto sei violenter das Spiel: Inwiefern die Probanden selbst die blutigeren
Spielevarianten aber auch als violenter erlebten, interessierte keine der Studien. Bizarre Übersteigerungen der Gewaltdarstellungen (wie sie insb. für MORTAL KOMBAT, MORTAL KOMBAT II, MORTAL KOMBAT: DEADLY ALLIANCE und die anderen
Teile der Spieleserie typisch sind) können die Rezipienten aber bspw. auch als lächerlich und grotesk (und u.U. die sauberere
Gewalt darstellenden Variationen der Spiele im Umkehrschluss gar als violenter) erleben.
Vgl. FREEDMAN 2001; FRINDTE/OBWEXER 2003 und KUNCZIK/ZIPFEL 2004, S.213.
BÖSCHE 2009, S.9ff..
40
Das zentrale Problem des technisch, wie spielerisch mehr oder weniger atavistischen Stimulusmaterials ist aber die insg. offensichtlich mangelnde Repräsentativität desselben für aktuellere
Computerspiele (ungeachtet bspw. simplerer Browserspiele u.ä.).170 Zwar nicht für violente
Computerspiele per se, aber für ein (relativ überschaubares) Subgenre violenter Egoshooter
nach wie vor repräsentativ ist aber z.B. UNREAL TOURNAMENT 3 (UT3), das ELSON 2011
selbst so modifizierte, dass eine mit der violenten Version des Spiels für die Experimental- eine
im Wesentlichen identische, nicht violente Version für die Kontrollgruppe entstand,171 quasi ein
virtuelles Äquivalent eines Kampf- und Tobespiels (schlechtestenfalls könnte aber argumentiert
werden, dass das Kontrollspiel nach wie vor violent ist und Gewalt nur abstrakter darstellt). Die
im Folgenden skizzierten Modifikationen demonstrieren den notwendigen Aufwand für die
Bereitstellung zweier prinzipiell identischer Spiele, die sich nur bei den Gewaltdarstellungen
voneinander unterscheiden; eine ersatzlose Streichung aller (für das Spiel integraler) Gewalteffekte (oder auch nur -spitzen) und insb. auch -handlungen wäre keine hinreichende Alternative
gewesen (solche Maßnahmen würden im Rahmen narrativerer Spieleinhalte i.d.R. gar direkt die
komplette Sinnstruktur maßgeblich verändern, so dass man letztlich wieder nur Äpfel mit
Birnen vergleichen könnte):
The biggest part of the displayed violence in UT3 is the visual gore. [...] weapons usually cause massive
blood loss and/or spectacular body explosions ("gib" […]). These very explicit displays of violence can
be disabled in the settings of UT3 […]. [...] characters (hereafter "pawns") in the game would still literally
drop dead when their health was reduced to zero, so there was still a clear display of violence that had to
be removed. [...] players needed some kind of visual feedback when they hit or killed another pawn, even
in the non-violent condition. […] Instead of dropping to the ground [...], pawns would now freeze if they
were killed. [...] to avoid confusion between dead pawns and pawns just standing still, they would also
drop their weapon and become spectrally transparent. Once the player would look in another direction,
the ghost-like pawn completely disappeared [...]. […] Other [...] indicators of violence in UT3 are the
weapons. […] The tendency of weapons to increase the likelihood of aggression by their simple presence
in a real situation has been investigated in several studies [...]. [...] Since a weapon is required to play a
170
171
Dgl. gilt für BLUEMKE/FRIEDRICH/ZUMBACH 2010, die auch ein Reaktionsspielchen in einer violenten, einer nicht
violenten und einer abstrakten Version programmierten: "Irrespective of the specific treatment condition, the virtual environment (a forest scene) and the actions (a left-side mouse click of the right hand) were identical […]. In the violent game,
participants were exposed to a war scenario that required shooting enemy soldiers from a firstperson perspective in order to
score high. Soldiers returned fire if they were not eliminated immediately. The goal was to shoot as many enemies as quickly
as possible by firing at them with mouse clicks (hits), before they fired back and disappeared, resulting in score losses (misses). The mean rate of soldiers per minute could be determined by the programmer and was kept constant across participants
(and conditions), but the program implemented a random component with regard to timing and location of the targets so that
players could not routinely counter the attacks. Misses after the fraction of a second resulted in being injured and decreased the
score, signaled by a different sound than for hits, which were visually emphasized by blood spills. [...] in the peaceful game
sunflowers popped up in the same wood in the same speed like the soldiers in the violent game, yet the players’ task was to
water the flowers with their watering can, else they 'died' visually due to water shortage. Whenever this happened, a 'sad'
sound occurred and reminded a participant to water the sunflowers continuously and fast. On success, a player’s score increased, as indicated by a sound of accomplishment. Misses resulted in the same loss of points as in the violent game. [...] in
the abstract game participants removed the colored triangles that popped up in the woods by pinpointing them with a small
cursor triangle before clicking the mouse button. Acoustic and visual signals added relevance to hits and misses. […]
Computer games were carefully matched in terms of target location, how quickly the targets appeared, and the physical mouse
actions taken toward these targets." (S.5-10) Die drei Spielversionen unterscheiden sich aber offensichtlich nicht ausschließl.
in der Frage der Gewaltdarstellungen, bspw. fehlt der abstrakten Version das Punktesystem der beiden anderen Versionen.
Bereits STAUDE-MÜLLER/BLIESENER/LUTHMAN 2008 konfrontierten ihre Probanden mit der originären Version des
Spiels UNREAL TOURNAMENT 2003, dem Vorvorgänger(!) des Spiels UNREAL TOURNAMENT 3, wie mit einer mittels der
populären Modifikation "Team Freeze 2003" modifizierten Variante: "The […] study manipulated the level of violence in a
single video game (high vs. low level of violence) as the independent variable. […] In the game, two teams of figures fight
against each other in an arena with different weapons. The player belongs to a team with three virtual teammates fighting
against four virtual enemies." (S.5) Die Autoren selbst realisieren aber, dass die Modifikation nicht nur das Violenzniveau,
sondern auch die Spielmechanik veränderte: "Because 'frozen' teammates can be 'defrosted' and thereby brought back into play
by standing next to them, the 'gameplay' differs considerably in the two conditions." (S.5) I.d.S. können evtl. Differenzen
zwischen den abhängigen Variablen der Kontroll- und der Experimentalgruppe nicht einfach der Manipulation der Gewaltdarstellungen attribuiert werden. Neu ist die Idee der Modifikation existenter Spiele aber insg. nicht, denn bereits SHEESE/
GRAZIANO 2005 konfrontierten ihre Probanden mit einer violenten und einer modifizierten, nicht violenten Version des
1993(!) publizierten Egoshooters DOOM, "in which they would complete a series of three-dimensional mazes. They were told
that they would earn points for every maze they completed within 25 min. Both players had to reach the end of a given maze
before the pair could advance to the next maze. […] In the two conditions, the mazes and the goal of the game were identical.
[...] in the violent condition, both players were provided with weapons, and the mazes included opponents that would attack
the two players. In the nonviolent condition, players had no weapons, and there were no opponents within the mazes. In the
two conditions, the mazes and the goal of the game were identical. [...] in the violent condition, both players were provided
with weapons, and the mazes included opponents that would attack the two players. In the nonviolent condition, players had
no weapons, and there were no opponents within the mazes." (S.355) Die Gewalt darstellende und die keine Gewalt darstellende Version unterscheiden sich aber offensichtlich nicht nur in der Frage der Gewaltdarstellung, sondern auch spielmechanisch voneinander.
41
first-person shooter (hence "shooter"), the only way to minimize such an effect is to make the weapon
look unlike a real weapon. […] only one weapon was modded, while the other weapons in the game were
replaced by instances of the one chosen weapon […]. The Flak Cannon was an ideal choice [...] because
its secondary firing mode is a ballistic grenade that could easily be transformed into a tennis ball. […] I
designed a new texture for the Flak Cannon […]. This texture should resemble a toy nerf gun, so bright
colors like pink, yellow, turquoise and red were used extensively. […] I placed a Fisher Price label on the
weapon’s stock to make it look more like a real toy. [...] Because the firing and detonation of the
projectile still sounded too much like a grenade, the sound files were replaced as well. The files […]
resembled the sound of a tennis ball machine […]. […] At this point, the weapon looked and sounded like
a toy gun, but still physically behaved like the original weapon. […] the weapon’s primary firing mode
(ripping metal shards) was disabled. [...] tennis ball [sic] do not have a damage radius like a grenade, and
would only inflict damage upon pawns in case of a direct hit. Hence, the explosion radius was set to 0.
[…] Because of the ToyGun’s reduced firing modes and damage radius, the Flak Cannon had to be
altered accordingly in order to avoid gameplay advantages for the players in the violent conditions.
Therefore, another duplication of the Flak Cannon was created […]. Models, Textures, and other objects
stayed the same, only the damage radius and impact explosion effect were disabled exactly like in the
ToyGun’s scripts, as well as the primary firing mode. […] After that, there were two weapons, the
ToyGun and the FlakGun [...]. […] In UT3 there are more cues for violence than the gib and the weapons.
Mainly two things had to be altered for the non-violent conditions. One was the flashing red screen that
alerts the player if the own pawn is hit by a projectile and gives a general direction of the damage source.
The other element that had to be modified was the voices of all pawns that could be heard by the player
when the pawn was nearby (because they automatically insult other pawns), or, of course, if the player’s
pawn itself was talking […]. The voice volume of pawns can be reduced to zero in UT3’s settings menu.
[...] this does not turn off the pain screams of pawns that take damage or die. Both the pain screams and
the red flashing could be disabled […]. To still alert the player when the pawn was hit, arrows around the
weapon’s crosshairs indicated from where projectiles that hit the player’s pawn were fired. The Language
UT3 is full of violence or aggression related words that appear both in UT3’s menu and during the game
after certain events. […] Also, in the standard settings of UT3, players constantly get information about
the deaths and achievements of all other pawns […]. This […] could be turned off […].172
Die beiden Experimentalsstudien sind in über zweieinhalb Jahrzehnten de facto die einzigen
beiden Computerspielgewaltwirkungsstudien, die plausible und äquivalente Spielepaarungen
präsentieren konnten. Aber selbst gem. dem Fall, dass die im Rahmen der Studien genutzten
violenten und nicht violenten Computerspiele regelmäßig im Wesentlichen identisch wären,
würden auch noch weitere (gleichermaßen gravierende) Probleme den Aussagegehalt der
Studien relativieren. Bereits OLSON 2004 monierte bspw., dass das Gros aller Experimente nur
das Spielen eines einzigen (violenten) Spiels beinhalte, "which cannot reasonably represent the
effects of playing an array of games in real life. Additionally, […] people commonly play
games with others. […] Effects of the social context of games, be they positive or negative,
have received little attention to date."173
Aber auch ungeachtet dessen und dass noch keine Studie die seitens der Probanden der
Experimentalgruppen selbst subjektiv wahrgenommene Gewalthaltigkeit der Spiele adäquat
kontrolliert hat, ist insb. die den Experimenten insg. inhärente Prämisse, dass die Probanden alle
das objektiv gleiche oder ein vergleichbares Maß an Mediengewalt erfahren würden, bereits für
die lineare(re)n Medieninhalte, d.h. für Film und Fernsehen im Lichte dekonzentrierter Sehweisen und auch rein perzeptiv nicht plausibel, für Computerspiele aber schlichtweg falsch.
Gewalthandlungen im Rahmen von Spielen sind oftmals nur optional, so dass dank der Interaktivität der Spiele der von den Spielern tatsächlich selbst generierte Gewaltgehalt (außerhalb
von bspw. stärker geskripteten Sequenzen, wie auch Zwischensequenzen) quantitativ, wie auch
qualitativ extrem variieren kann und eine Frage des idiosynkratischen Spielstils (und der Spielkompetenzen) der Spieler ist.174 Das konnten auch LACHLAN/MALONEY 2008 experimentell
demonstrieren, die die Probanden für 20 Minuten u.a. GRAND THEFT AUTO III spielen ließen
und die seitens derselben generierten Gewaltakte kontrollierten: "[...] the content characteristics
of a single game may be substantially different in terms of both the total number of violent acts
depicted and the contexts in which these acts take place. [...] For example, the range of scores
for total number of violent acts depicted in Grand Theft Auto 3 ran from 0.00 to 108.00, with a
mean score of 27.00 and a standard deviation of 24.87. […] it verifies [...] that game content
may be highly variable."175
172
173
174
175
Vgl. ELSON 2011, S.41-44.
OLSON 2004, S.147.
Vgl. KUNCZIK/ZIPFEL 2007, S.238f..
LACHLAN/MALONEY 2008, S.296 und vgl. LACHLAN/SMITH/TAMBORINI 2003.
42
Auch WEBER/BEHR/TAMBORINI et al. 2009, die den prozentualen Anteil violenter Inhalte
kontrollierten, die 13 männliche, versierte deutsche Computerspieler zwischen 18 und 26 Jahren
durchschnittlich in ca. 50 Minuten Spielzeit des Egoshooters TACTICAL OPS: ASSAULT ON
TERROR generierten, konnten dgl. demonstrieren: "Violent player actions were defined as those
periods of playing time when a player fires his weapon (combat-phase). The analysis revealed
that these violent player actions occurred in 15% of all events and accounted for 7% of the total
time played. In addition, experience as the target of video game violence (when players were
attacked by opponents without engaging in violent behavior themselves) was also analyzed.
This was covered by the under-attack phase of our content analysis, occurring in 7% of all
events and corresponding to 1% of the time played."176 Insofern müssten die von den einzelnen
Probanden generierten Gewalthandlungen im Rahmen der Wirkungsstudien prinzipiell auch
immer kontrolliert werden,177 aber bis dato hat noch keine einzige Studie dgl. kontrolliert, so
dass erhebliche Verzerrungen der Forschungsresultate riskiert werden und evtl. gemessene
Medienwirkungen auch nicht ohne weiteres den Gewaltdarstellungen attribuiert werden können.
Auch ignoriert das Gros der Wirkungsstudien, dass Computerspiele insg. technisch, wie auch
inhaltlich progressive Medien sind und ältere Spiele für neuere Spiele oftmals rapide nicht mehr
repräsentativ sind. Offensichtlich nicht mehr für aktuellere violente Spiele repräsentativ sind
bspw. Spiele wie MISSILE COMMAND, SUPER MARIO BROS. oder ZAXXON, die im Rahmen der
Gewaltwirkungsstudien der 1980er und ’90er bereits als Gewalt darstellende Spiele für die
Experimentalgruppen genutzt wurden.178 Aber auch im Rahmen der Wirkungsstudien seit der
Jahrtausendwende lassen die Versuchsleiter die Probanden regelmäßig nur mehr oder weniger
antiquierte Spiele spielen. Die aktuellen Rekordhalter dürften GREITMEYER/MCLATCHIE
2011 sein, die die Probanden der Experimentalgruppe das zum Zeitpunkt der Publikation der
Studie bereits 19 Jahre alte Spiel LAMERS spielen ließen.
Die offensichtliche Problematik monierte bereits ELSON 2011: "[…] a lot of researchers use
games that are heavily outdated, even considering the time it takes to administer an experiment,
write a paper, have it reviewed and published. […] we have to ask ourselves […]: Can we learn
anything about the effects of today’s games from studies on games that are 5, 8, 12 or even 18
years old? Are those games really the same in principal as new games? Or have games changed
in graphics […], sound, gameplay, and many other ways so drastically that they cannot be taken
as one homogeneous group with the games that were created more than a decade ago? There has
been little research on the psychological effects of technological advancements in digital games,
but results indicate e.g. that higher image quality leads to a significantly higher immersion […],
presence, involvement and even physiological arousal […]. Even if it was true that the games
commonly used in research cause increases in aggression, this would not be a big problem since
those games have scarcely been played for many years anyway."179 Teilweise sind aber auch
innerhalb der einzelnen Studien die Gewalt darstellenden und die keine Gewalt darstellenden
Spiele keine Spiele derselben Generationen.
Regelmäßig wird ggü. experimentellen Mediengewaltwirkungsstudien auch generell kritisiert,
dass Laborsituationen selbst Stressoren für die Probanden sind, die die ökologische Validität der
Resultate unterminieren könnten:180 Bereits im Rahmen der Film- und Fernsehgewaltwirkungsstudien analysieren die Versuchsleiter seit Jahrzehnten nicht die Wirkung kompletter gewaltdarstellender Filme o.ä. auf die Probanden, sondern konfrontieren letztere irritierenderweise in
einer ungewohnten Situation mit nur mit paar Sekunden(!) oder Minuten dekontextualierten,
176
177
178
179
180
WEBER/BEHR/TAMBORINI et al. 2009, S.1024. Die Resultate demonstrieren auch, dass Gewaltkompilationen, ob als
Stimulusmaterial der Mediengewaltwirkungsforschung oder als skandalisierende Inhaltsdarstellungen violenter Computerspiele im Rahmen diesbzgl. Berichterstattungen in den Massenmedien (s. Kapitel 17.), die Wirklichkeit der Spiele kaum oder
besser gar nicht korrekt darstellen.
Vgl. KUNCZIK/ZIPFEL 2004, S.234; SCHULZ/BRUNN/DREYER et al. 2007, S.66 und PENG/LIU/MOU 2008.
Vgl. PORTER/STARCEVIC 2007, S.424.
ELSON 2011, S.30f.; vgl. WOLOCK 2002, S.25; KUNCZIK/ZIPFEL 2004, S.238; OLSON 2004, S.149; SCHULZ/BRUNN/
DREYER et al. 2007, S.67f. und GOODSON/PEARSON/GAVON 2010, S.5.
Vgl. THEUNERT 1987, S.30; MEIROWITZ 1993, S.77f./88; THEUNERT 1994, S.395; GANGLOFF 2001, S.34;
BUCHLOH 2002, S.39f.; KUNCZIK/ZIPFEL 2004, S.235 und SCHULZ/BRUNN/DREYER et al. 2007, S.47f.
43
Gewalt darstellenden Filmmaterials (bspw. Aneinanderreihungen von Gewaltakten),181 die aber
keinem natürlichen Medienangebot mehr entsprechen, so dass die Studien prinzipiell auch gar
keine Aussagen mehr über die Wirkungen Gewalt darstellender Filme treffen können.
Der Problematik entspricht im Rahmen der Computerspielgewaltwirkungsforschung, dass die
Versuchsleiter die Probanden die Spiele i.d.R. nur zwischen fünf und 20 Minuten spielen lassen.182 Kürzere Spielzeiten sind aber einerseits bereits ökologisch nichts besonders valide und
SHERRY 2001 konnte im Rahmen seiner Metaanalyse am Beispiel von BALLARD/WIEST
1995 und HOFFMAN 1994 gar (ungeachtet der methodischen Defizite beider Studien) einen
negativen Zusammenhang zwischen der Spielzeit und der Aggressivität der Probanden
demonstrieren.183 Beide Studien waren methodologisch mehr oder weniger im Wesentlichen
identisch, nutzten u.a. denselben Aggressivitätsfragebogen, wie auch das Kampfsportspiel
MORTAL KOMBAT als den Gewalt darstellenden Stimulus für die Experimentalgruppe,
divergierten aber erheblich bei der Frage nach den Spielzeiten für die Probanden: Erstere ließen
die Probanden das Spiel nur zehn Minuten spielen und fanden einen (nach COHEN 1988)
starken Korrelationskoeffizienten von r = .90, letzterer ließ die Probanden 75 Minuten spielen
und konnte nur noch einen kleinen Korrelationskoeffizienten von r = .05 finden. Ausgehend von
diesen beiden Studien argumentierte der Autor, dass ein initialer, die Aggressivität der
Probanden stimulierender Erregungseffekt nach längerer Spielzeit durch Langeweile oder
Ermüdung stark absinke: "The results suggest that playing even the most violent of games for
181
182
183
Vgl. THEUNERT 1994, S.395.
Vgl. VALADEZ/FERGUSON 2012, S.610.
Dgl. DEVILLY/CALLAHAN/ARMITAGE 2012. Konträre Resultate demonstrierten aber BARLETT/RODEHEFFER 2009,
die evtl. divergierende Wirkungen realistischer und unrealistischer Gewaltdarstellungen im Rahmen des Computerspielens u.a.
auf die aggressiven Gedanken und die Feindseligkeit der Spieler interessierten: "[…] the video games selected were Conflict
Desert Storm (violent realistic), Star Wars Battlefront 2 (violent unrealistic), and Hard Hitter Tennis (nonviolent control). […]
All participants were randomly assigned to one of the three conditions. […] Participants were asked to complete the first set of
questionnaires, which consisted of the State Hostility Scale, 24 items on the Word Completion Task, and the Aggression
Questionnaire. After the participants completed the aforementioned baseline measures, all participants received a brief tutorial
on how to play the video game. […] After demonstrating compliance with the video game, the participants played their video
game for 15 min. Then the participants completed the next set of questionnaires, which consisted of the State Hostility Scale
and the next 24 word fragments of the Word Completion Task (which took approximately 3 min to complete both measures).
As soon as the participants had completed the next set of questionnaires, the video game was played for another 15 min. This
same procedure was repeated until the questionnaires had been completed four times and the video game was played for 45
min. […] we utilized a repeated measures design, such that all participants completed the State Hostility Scale and Word
Completion Task four times." (S.218f.) Ungeachtet dessen, dass das hinreichende Kriterium des Realismus der beiden
violenten Spiele nur die "probability of seeing an object in real life" (S.216) sein sollte, dies aber nur ein notwendiges, nicht
aber bereits hinreichendes Kriterium für dgl. sein kann (vgl. HALL 2003), konnten die Autoren folgendes konstatieren: "The
results […] suggest that those who played a violent video game had an increase in aggressive thoughts, aggressive feelings,
and heart rate from baseline. Despite the increases in aggression from baseline for the two violent video games, those in the
violent realistic condition had […] higher aggressive feelings after the initial 15 min compared with the unrealistic violent
condition. Aggressive thoughts did not differ between the two violent conditions. Those in the nonviolent control condition did
not have such a dramatic change in the dependent variables over time. Overall, the trend in the means for all conditions
suggests a stabilization effect such that there is an initial increase in aggression and arousal, which does not change after that
initial increase. […] For aggressive feelings, results showed no difference between the violent realistic and unrealistic video
games at baseline or 15 min after game play. However, after the initial increase in hostility, results show that the violent
realistic video game was related to significantly higher aggressive feelings than the violent unrealistic video game. This suggests that video game realism does make a difference in state hostility, but only after the initial 15 min of game play." (S.222)
Im Lichte dessen, dass die Autoren aber Äpfel mit Birnen verglichen – die drei Spiele divergieren nicht nur bei den
Gewaltdarstellungen und dem Realismus derselben –, können aber natürlich weder die graduellen Unterschiede in den
Kurvenverläufen zwischen den beiden violenten Spielen einerseits und dem nicht violenten Spiel andererseits auf den
Umstand der Gewaltdarstellung, noch die diesbzgl. Unterschiede zwischen den beiden violenten Spielen selbst auf den
Umstand unterschiedlichen Realismus reduziert werden. Im Gegenteil könnten die ungeachtet der divergierenden
(konfundierenden) Spielevariablen und bspw. Spannungskurven aller drei Spiele insg. ähnlichen Kurvenverläufe für beide
Messwerte auch ein Indiz für den Umstand sein, dass die Probanden u.U. gar nur auf die Versuchsanordnung selbst (das
wiederholte Absolvieren der immer gleichen Messverfahren) reagierten. Der Vollständigkeit halber müssen auch VALADEZ/
FERGUSON 2012 erwähnt werden, die keine statistischen Differenzen zwischen der Feindseligkeit der Probanden nach einer
15-minütigen und einer 45-minütigen Spielphase des (aber nur je nach Spielstil des Spielers) violenten Spiels RED DEAD
REDEMPTION demonstrieren konnten: "Two possibilities for this are that no real-life differences between playing a video game
for either of these two time frames exist or the time span between the two experimental groups was not large enough or
representative of average game play. While the girst option is possible, it seems more likely that the secound option is at play
for this lack of group contrast. If violent video games decrease hostility and depression […], it is most likely that this occurs
after longer, rather than short, game play periods. [...] if participants with little gaming experience are given more time to
master novel controls, it may allow for a more pleasurable experience and lower frustration levels […]. Future research
looking at potential differences with time spent playing should vary game play periods and make sessions longer than the 45
min used in the present study. [...] we caution researchers from overgneralizing the results of short experimental sessions to
real life game play." (S.615)
44
extended times may not increase aggression."184 Insofern ist der bereits die Aussagekraft des
Gros der Wirkungsstudien drastisch reduziert und u.U. gar eine systematische Verzerrung der
Computerspielgewaltwirkungsforschung indiziert.
Andererseits kann die Laborsituation die Probanden u.U. auch insg. frustrieren: Im Lichte der
Prämisse, dass die Beherrschung und Kontrolle des Spiels regelmäßig zentrale Motive des
Spielens sind,185 wird z.T. argumentiert, dass die (insb. unerfahreneren) Probanden die ggf.
mehr oder weniger komplexen Kontrollen, wie auch das Reglement der Spiele in der kurzen
Spielzeit gar nicht meistern können und das Spiel sie frustriert (insofern wären also nicht die
Gewaltinhalte für den skizzierten Erregungseffekt verantwortlich).186 Ungeachtet dessen, dass
der (ggf. auch nur subjektive) Spielerfolg der Probanden i.d.R. nicht kontrolliert wird (und die
Kontrollen des Frustpotenzials der Spiele nicht hinreichend sind; s.o.), konstatierte bereits
FRITZ 1997a im Rahmen einer qualitativen Befragungen von jugendlichen Spielern, dass
Äußerungen derselben oftmals "Unlusterfahrungen" beinhalten, "die mit Verlusten der Kontrolle des Spiels verbunden sind. […] Es beginnt mit Gefühlen der Aufregungen und Unruhe, wenn
man es nicht geschafft hat, wenn man einfach nicht weiterkommt, wenn es nicht gelingt, die
Spielfigur angemessen zu führen […]. Die frustrierende Situation führt häufig dazu, das Spiel
nach einiger Zeit zu beenden […]. [...] Heftige Wutreaktionen auf Kontrollverluste im Spiel
sind kein Ausnahmefall [...]. [...] Jungen geraten nicht selten bei Misserfolgen im Spiel in eine
Frustrations-Aggressions-Spirale. Trotz andauernder Bemühungen will es ihnen einfach nicht
gelingen, Kontrolle über das Spiel auszuüben. Dies führt zu immer heftiger werdenden
aggressiven Gefühlen […].187 […] Spieler mit größeren Spielerfahrungen […] können
verschiedene Techniken entwickeln, um ein Anschwellen der Ärgerreaktionen zu vermeiden
[…]."188 Der skizzierte "'Mensch ärgere dich nicht'-Effekt"189 ist von einer evtl. Gewalthaltigkeit
der Spiele aber insg. unabhängig.
Auch GOODSON/PEARSON/GAVON 2010 bemängeln i.d.S., dass die Forschung bis dato
i.d.R. nicht realisiert, dass auch die allg. Spielerfahrung und -kompetenz der Probanden einen
Einfluss auf die Fähigkeiten derselben haben kann, die Spiele zu spielen, "either by keyboard
control or joy pad/stick. Non-gamers have no experience of playing video games, […] games
[…] have become very complex and require a degree dexterity to play. If this variable is not
taken into account when designing research […] it is more than likely that any measures taken
will relate to the frustration of playing the game rather than the participants interaction with the
violent content […]."190 Ärgerreaktionen können aber ggf. nicht nur mangelnde Spielerfolge,
sondern u.U. auch der abrupte (ggf. unangekündigte) Spielabbruch durch den Versuchsleiter
oder das mehr oder weniger aufgezwungene Spielen eines Spiels evozieren, das der Proband
nicht besonders mag und selbst (außerhalb des Experiments) bereits längst beendet hätte.191
184
185
186
187
188
189
190
191
Vgl. SHERRY 2001, S.424f. und SHERRY 2007.
Vgl. FRITZ 1995, S.38 und ADACHI/WILLOUGHBY 2011b.
Vgl. PRZYBYLSKI/RIGBY/RYAN 2010 und VALADEZ/FERGUSON 2012, S.610.
Im Rahmen der sog. "Misserfolgsspirale" gelinge es Spielern nach MISEK-SCHNEIDER/FRITZ 1995 nicht, "sich angemessen zum Spiel in Beziehung zu setzen. Sie können das Spiel nicht kontrollieren und erfahren deutliche Misserfolgserlebnisse
und Frustrationen, die als Distress erlebt werden. In dem Maße, wie die Fähigkeit zur Kontrolle des Spiels schwindet, desto
stärker werden die Misserfolge und die damit verbundenen Unlust- und Anspannungsgefühle – bis das Spiel vom Spieler
beendet wird, er sich einem anderen Spiel zuwendet oder ganz mit dem Computerspiel aufhört. Ganz anders verhält es sich dagegen bei der sog. Erfolgsspirale. Hier gelingt es dem Spieler zunehmend, das Spiel zu beherrschen und seine Fähigkeiten zur
Kontrolle des Spiels zu entwickeln. Mit der Zunahme der Kontrollfähigkeit wächst der Spielerfolg und damit auch die Erfolgszuversicht. Diese gibt den Motivationsschub, immer mehr Leistung zu verlangen (und von sich zu erwarten), um auch
schwierigere Levels des Spiels zu bewältigen. So wachsen kontinuierlich Fähigkeiten und Erfolgserwartungen. Die Wechselwirkungsprozesse zwischen Konzentration, Leistung und Anspannung einerseits und Erfolgserlebnisse sowie Gefühlen der
Kontrolle andererseits können zu einer Sogwirkung des Computerspiels führen. Gespeist wird dieser Sog von den affektiven
Begleitreaktionen der Spieler: Gefühlen der Kompetenz, der unmittelbaren Gegenwärtigkeit und der Kontrolle über sich und
das Geschehen. Dieses Gefühl kann bei bestimmten Spielern und Spielsituationen so stark werden, daß sie nach eigenen
Aussagen mit dem Spiel 'verschmelzen' und etwas erfahren, was man als 'flow'-Erlebnisse beschreiben könnte." (S.65) Bzgl.
des Konzepts sog. flow-Erlebnisse s. CSIKSZENTMIHÁLY 1975.
FRITZ 1997a, S.188; vgl. DURKIN/AISBETT 1999; FRITZ/MISEK-SCHNEIDER 1995, S.100; MISEK-SCHNEIDER 1995;
FRITZ 2003, S.15f.; FEIBEL 2004, S.143 und KUNCZIK/ZIPFEL 2004, S.206f..
BRAUNBART 2001a, S.244.
GOODSON/PEARSON/GAVON 2010, S.5f. und vgl. CUMBERBATCH 2004, S.29.
Vgl. JONES 2002, S.35; CUMBERBATCH 2004, S.32f. und VALADEZ/FERGUSON 2012, S.610.
45
Letztlich kann u.U. auch die im Rahmen der Experimente genutzte, ggf. antiquierte, dem Spielhabitus der Probanden nicht entsprechende oder gar mit der Spielkontrolle u.ä. interferierende
Peripherie (Kontrollperipherie, Bildschirme etc.) die Probanden frustrieren.192 Die konkrete
Spielsituation der Probanden dokumentieren die Studien aber nur ausnahmsweise, wie z.B.
WEBER/RITTERFELD/MATHIAK 2006, die ein besonders prägnantes Beispiel einer ökologisch invaliden Laborsituation konstruierten: Die Probanden sollten innerhalb eines Kernspintomographen für ca. eine Stunde den Egoshooter TACTICAL OPS: ASSAULT ON TERROR spielen,
wobei ihre Köpfe fixiert und ihnen nur ein Ausschnitt des Spielbilds per Videobrille projiziert
wurde und sie das Spiel (das i.d.R. per Maus- und Tastatur oder ggf. per Gamepad kontrolliert
wird) nur per dreitastigem(!) Trackball spielen sollten! Das diesbzgl. Frustrationserleben der
Probanden wurde aber natürlich nicht kontrolliert. Die Autoren realisierten den Mangel ökologischer Validität, argumentierten aber so salopp wie kurios, dass die Immersion des Spiels das
Problem neutralisieren würde.193 Das Argument verfängt aber nicht. Insofern hat quasi noch
keine Studie die unabhängige Variable probat operationalisiert und evtl. Störvariablen hinreichend kontrolliert, resp. neutralisiert.
6.
6.1
Die Mediengewaltwirkungen
Aggressives Verhalten
Das Hauptinteresse der Computerspielgewaltwirkungsforschung gilt der Problematik aggressiven Verhaltens als Folge des Spielens violenter Computerspiele. Prinzipiell ist Aggression ein
komplexes Phänomen diverser Typen und Formen, Dimensionen und Sinnstrukturen, wie auch
Dynamiken und Kontexte.194 Der Aggressionsbegriff ist für sich genommen selbst im Rahmen
der diesbzgl. Forschung und auch alltagssprachlich nicht eineindeutig definiert,195 so dass ohne
eine konkrete Aggressionsdefinition die diesbzgl. Studien schlechtestenfalls gegenstandslos sein
können. Tatsächlich definiert ein Gros der Wirkungsstudien aggressives Verhalten nicht oder
nicht hinreichend. Die notwendige Mindestdefinition aggressiven Verhaltens formulierte dabei
aber bereits BARON 1997: "Aggression is any form of behaviour directed toward the goal of
harming or injuring another living being who is motivated to avoid such treatment."196 Aggressionsdefinitionen, die nicht auf eine Absicht zur Schädigung eines Interaktionspartners und
nicht auch gleichzeitig auf eine die Schädigung vermeidende Motivation desselben abstellen,197
können nicht zwischen einerseits aggressivem Verhalten und andererseits bspw. destruktivem
Gehorsam,198 Unfällen, Kampfsport, sog. Kampf- und Tobespielen199 oder auch konsensualem
BDSM differenzieren. Insofern müssen die im Folgenden diskutierten Operationalisierungen
aggressiven Verhaltens letztlich garantieren können, dass die Probanden eine nicht konsensuale
Schädigung eines Interaktionspartners intendieren.
Korrelationsstudien operationalisieren das aggressive Verhalten der Probanden i.d.R. mittels
Selbst-, aber bei Kindern und Jugendlichen insb. auch mittels Peer-, Eltern- u./o. Lehrerreport.200 Problematischerweise sind die Aggressionsfragebögen aber oftmals nicht (klinisch)
validiert und messen ggf. nicht die tatsächliche Aggression der Probanden, bspw. ignorieren die
Fragebogenitems z.T. die intentionale Bedingung aggressiven Verhaltens (erfragen z.B. nur, ob
die Probanden in physische Konfliktsituationen involviert waren, ohne gleichzeitig auch zu
192
193
194
195
196
197
198
199
200
Vgl. GOODSON/PEARSON/GAVON 2010, S.5.
Vgl. MATHIAK/WEBER 2006b, S.948.
Vgl. KUNCZICK 1988, S.75; GROEBEL/GLEICH 1993, S.48; SCHNEIDER/SCHMALT 1994, S.190; CORNELL/
WARREN/HAWK et al. 1996; SELG/MEES/BERG 1997; BARRATT/SLAUGHTER 1998; ANDERSON/BUSHMAN 2002;
BIERHOFF 2006, S.169 und PARROT/GIANCOLA 2007.
Vgl. GROEBEL/GLEICH 1993, S.41 und KUNCZIK 1994a.
BARON 1977, S.7; vgl. BARON/RICHARDSON 1994, S.7; MUMMENDEY/OTTEN 2001, S.317; STRÜBER 2006, S.57f.
und FERGUSON/BEAVER 2009, S.286f..
Vgl. BUSS 1961, S.1 und ARONSON/WILSON/AKERT 1997, S.324.
Vgl. BIERHOFF 2006, S.169.
Vgl. PELLEGRINI/SMITH 1998; SMITH/SMEES/PELLEGRINI 2004 und FERGUSON 2010, S.68.
Vgl. SCHIE/WIEGMAN 1997; BUCHANAN/GENTILE/NELSON et al. 2002; SALISCH/OPPL/KRISTEN 2007;
WALLENIUS/PUNAMÄKI/RIMPELÄ 2007; ANDERSON/SAKAMOTO/GENTILE et al. 2008; KRAHÈ/MÖLLER 2011
und GENTILE/COYNE/ WALSH 2011.
46
kontrollieren, ob sie selbst die Aggressoren oder nur die Opfer derselben waren) oder kontrollieren tendenziell vielmehr soziale Kompetenzdefizite (z.B. Ungehorsam, Unhöflichkeit).201 Im
Rahmen der Selbstreporte wird Aggression oftmals auch nur mittels (der Subskalen) des sog.
Buss-Perry Aggression Questionary (BPAQ) operationalisiert,202 einem Aggressivitäts-, aber
keinem Aggressionsmaß.203 Ungeachtet dessen können klassischere Antwortverzerrungen (z.B.
soziale Erwünschtheit) natürlich ein Problem insb. der Selbstreporte sein.204
Peer-, Eltern- u. Lehrerreporte können die Problematik zwar relativieren, die Bewertungsgrundlage aggressiven Verhaltens kann dann aber i.d.R nicht mehr die subjektive Absicht des
vermeintlichen Aggressors zur Schädigung, sondern wird insb. nur noch die Beobachtung des
Verhaltens desselben sein: Die Frage ist aber, inwiefern die Reporter aggressives Verhalten
einerseits und z.B. soziale Kompetenzdefizite oder Kampf- und Tobespiele andererseits hinreichend differenzieren (können), denn die Attribuierung eines Verhaltens als aggressiv ist ohne
die Kontrolle der Intention des evtl. Aggressors ggf. nur ein soziales Unwerturteil, kann u.a.
eine Frage bspw. des Geschlechts, des Alters, der sozialen Herkunft und des sozioökonomischen Status des Reporters, wie auch dgl. des evtl. Aggressors, des situativen
Kontextes und gar der Intensität des Verhaltens sein.205 Dgl. ist auch ein Problem der
Experimentalstudien, die Aggression bspw. nur über die Beobachtung, resp. Analyse des
Verhaltens der Probanden im Rahmen einer Freispielsituation messen wollen (s.u.). Infolge dessen sind die im Rahmen der Mediengewaltwirkungsforschung genutzten Aggressionsfragebögen als Aggressionsmaße oft nicht besonders angemessen.
Aber auch im Rahmen von Experimentalstudien werden z.T. nicht tatsächliche Aggressionen
der Probanden, sondern nur die aggressiven Verhaltenstendenzen derselben im Rahmen hypothetischer Szenarien kontrolliert.206 I.d.S. ließen GIUMETTI/MARKEY 2007 ihre Probanden
bspw. drei ambige Geschichten vervollständigen: "Each of these story stems presented a brief
scenario that involved a negative outcome for the main character (e.g., getting into a car accident). After reading a story stem participants were asked to write down 20 unique things they
thought the main character might do, think, or feel. Therefore, each of the three story stems
produced […] responses that could be examined for aggressiveness."207 Im Methodenteil der
Studie noch als Aggressivitätsmaß dargestellt, behaupteten die Autoren aber im Rest der Studie,
das aggressive Verhalten der Probanden kontrolliert zu haben (ein Umstand, der u.U. eine
Irritation der Autoren ggü. den beiden Phänomenen demonstriert), ungeachtet dessen, dass mittels ähnlicher Methoden normalerweise nicht das aggressive Verhalten, sondern nur die aggressiven Kognitionen der Probanden kontrolliert werden sollen (s.u).
Die meisten Studien kontrollieren das aggressive Verhalten der Probanden aber über das
tatsächliche Verhalten derselben. Da aber eine Provokation von ernsthafteren, interpersonalen
Aggressionen (Schläge, Tritte etc.) aus ethischen Gründen ausscheidet, können die Forscher das
Aggressionsverhalten nur indirekt über die Kontrolle diverser (vermeintlicher) Surrogate
aggressiven Verhaltens messen.208 Das Gros dieser Verhaltenssurrogate ist aber bestenfalls
kurios, wie bereits KUNCZIK 1998 resümierte:
Rotter-Willermann-Satzergänzungstest, bei dem kurze Satzanfänge zu ergänzen sind; Fragebogen zur
Messung der Einstellung gegenüber dem Versuchsleiter, dem Experiment sowie der psychologischen
Forschung im allgemeinen; Analyse von TAT-Geschichten; Analyse von Träumen; Beobachtung von
Verhalten in Spielsituationen; Wort-Assoziationstests; Analyse der Gespräche zwischen Versuchspersonen; Austeilen harmloser Elektroschocks; Angriffe auf eine Bobo-Doll (eine aufblasbare Puppe, die
sich immer wieder aufrichtet); Zerstörung von Sammelbüchsen einer Wohltätigkeitsorganisation; […]
201
202
203
204
205
206
207
208
Vgl. FERGUSON 2009, S.109f..
Vgl. ANDERSON/SAKAMOTO/GENTILE et al. 2008; KOGLIN/WITTHÖFT/PETERMANN 2009 und MÖLLER/KRAHÈ
2009.
Vgl. SCHMID 2005, S.523 und LIN 2011, S.12f..
Vgl. SCHMID 2005, S.523.
Vgl. KUNCZICK 1975, S.22f./61; BANDURA 1979a, S.19-25; BACH/GOLDBERG 1981, S.15ff.; VOLLBRECHT 2001,
S.163; HENRY 2006; HARTMANN 2007a, S.235 und FERGUSON/ KILBURN 2009, S.761.
Vgl. MAHOOD 2007.
GIUMETTI/MARKEY 2007, S.1239.
Vgl. FREEDMAN 2001 und SAVAGE/YANCEY 2008.
47
Zerplatzenlassen von Luftballons; Einsatz von Spielzeugpistolen; Drücken eines Knopfes, der bewirkt,
daß eine Puppe einer anderen Puppe auf den Kopf schlägt usw. […] Diese ohne Anspruch auf Vollständigkeit zusammengestellte Liste verdeutlicht, daß dimensionale Identität zwischen den verschiedenen
Operationalisierungen nur in den seltensten Fällen vorliegt. Dimensionale Identität aber ist Voraussetzung
für Vergleichbarkeit.209 So ist es nicht überraschend, daß selbst innerhalb einzelner Studien je nach
verwandtem Aggressionsmaß unterschiedliche und z.T. entgegengesetzte Resultate erhalten worden sind
[…]. Aggression ist ganz offensichtlich kein eindimensionales Phänomen, sondern muß weiter ausdifferenziert werden [...].210
Gem. MEIROWITZ 1993 kann die Spannweite der Operationalisierungen des aggressiven
Verhaltens im "Extremfall" dazu führen, "daß der Leser einer Studie, die Aggressionssteigerungen feststellt, von seiner eigenen Vorstellung über aggressives Verhalten ausgeht,
während das Experiment in Wirklichkeit nur 'das Umstürzen von Bauklötzen' betraf."211 Eines
der aktuell fragwürdigeren Aggressionsmaße der letzten Jahre ist z.B. das von CICCHIRILLO/
CHORY-ASSAD 2005: Die Probanden der Experimentalgruppe spielten die ersten 10 Minuten
des je nach individuellem Spielstil entweder Gewalt oder keine Gewalt darstellenden Spiels
GRAND THEFT AUTO: VICE CITY, die Kontrollgruppe spielte das keine Gewalt darstellende
Spiel TETRIS WORLDS. Ohne dass den Probanden eine Coverstory präsentiert worden wäre,
sollten sie nach dem Spielen u.a. den Versuchsleiter mittels eines Fragebogens evaluieren:
"Participants' responses to the items [...] are said to be used in deciding whether the researcher
should be granted a work-study position and its accompanying financial support. The evaluation
form asks participants to rate the researcher's courtesy, competence, and deservedness of
financial support on 11-point semantic differential scales, with anchors ranging from 1 (not at
all […]) to 11 (extremely [...]).212 […] participants in the violent video game condition rated the
researcher as less courteous (M = 9.81, SD = 1.30) and less deserving of financial support (M =
9.88, SD = 1.43) than did participants in the nonviolent video game condition (M = 10.31, SD =
0.97; M = 10.50, SD = 0.92, respectively)."213 Eine negative(re) Evaluation war den
Experimentatoren ein Indikator aggressive(re)n Verhaltens. Ungeachtet der substanziell
irrelevanten Unterschiede zwischen beiden Gruppen (die den Versuchsleiter beide insg. positiv
bewerteten) war die negativere Evaluation durch die Experimentalgruppe aber u.U. nur die
Konsequenz einer irritierenderen u./o. frustriererenden Spielsituation: Die Probanden sollten die
erste Mission des Spiels ("The Party") spielen. Insg. reduzieren aber die ca. 4 ½ Minuten
Zwischensequenzen dieser Mission die Nettospielzeit der Spieler erheblich, so dass das
Experiment u.U. bereits beendet wurde, ohne dass die Probanden (auch im Lichte einer ggf.
mehrminütigen Lernphase) die Mission beendet hatten. Das stellt einen potenziellen Frustrator
speziell für die Experimentalgruppe dar (ungeachtet dessen, dass versierte Spieler die Mission
theoretisch binnen ca. zwei Minuten Nettospielzeit absolvieren können). Auch spekulieren die
Autoren selbst, dass das Resultat auch die Konsequenz einer im Lichte einer komplexeren
Spielmechanik u.U. detaillierteren Instruktion der Experimentalgruppe durch den Versuchsleiter
sein könnte, "which may have given participants who played the violent game more information
on which to evaluate the researcher."214 Letztlich ist die erste Mission des Spiels prinzipiell auch
ohne virtuell gewalttätiges Verhalten absolvierbar (und auch in der 2. Mission wird erst nach
mindestens drei Minuten Bruttospielzeit eine Gewalttätigkeit notwendig), so dass i.V.m. der
Problematik, dass das Spielverhalten der Probanden nicht kontrolliert wurde, die Differenzen
zwischen den beiden Gruppen nicht ohne weiteres auf die Gewaltdarstellungen zurückgeführt
werden können.
Ein zweites Beispiel fragwürdiger Operationalisierung aggressiven Verhaltens präsentieren auch
BARLETT/HARRIS/BRUEY 2008; die Autoren hypothetisieren, dass die Probanden sich um
so aggressiver verhalten würden, je blutiger ein Computerspiel ist, weshalb sie zur Kontrolle der
Hypothese das Kampfsportspiel MORTAL KOMBAT: DEADLY ALLIANCE spielen sollten:
209
210
211
212
213
214
Vgl. SCHULZ/BRUNN/DREYER et al. 2007, S.47.
KUNCZIK 1998, S.13f.. Vgl. KUNCZIK 1975, S.509f.; MEIROWITZ 1993, S.89; WOLOCK 2002, S.24f.; GOLDSTEIN
2005, S.347f. und FERGUSON 2009, S.107.
MEIROWITZ 1993, S.89.
Vgl. CHORY/GOODBOY/HIXSON 2007.
CICCHIRILLO/CHORY-ASSAD 2005, S.442f.. Dgl. auch KRCMAR/FARRAR 2009.
CICCHIRILLO/CHORY-ASSAD 2005, S.446.
48
This game was selected because the researcher could manipulate four levels of blood (maximum,
medium, low, and absent). In the maximum blood level, when any character is hit, a number of units of
blood would be expelled and fall onto the ground. The more severe the hit, the more blood would be expelled. [...] blood would be dripping from the character’s body after certain hits were landed. [...] the
blood on the ground would stay there and accumulate, and when a character stepped on the blood, they
would track the blood onto other locations. In the medium blood level, it was more difficult for the blood
to be expelled. It took a harder hit to equal the same amount of blood expelled in the maximum blood
condition. The low condition did not have any blood drip from the body or land on the ground. Blood
would only be expelled in low amounts after an extremely hard hit. [...] the low condition was identical to
the blood absent condition with the exception of the small amounts of blood that would be expelled. [...]
the player was able to choose when the character’s weapon was used. All fighters had three different
fighting styles. The first two were martial arts-based […] and the third was a weapon-based fighting style,
and the players could wield the weapon that every character had […]. The player could choose to use
whichever fighting style for as long as they wanted. […] Aggressive behaviors were measured by using
the ratio of total weapon time to total game playing time in the game. We justified this measure as a
gauge of aggressive behavior two ways. The first is that the participants got to choose how long they
wanted to use the character’s weapon. All participants were told that the use of the weapon causes more
damage. If they decided to use the weapon more, that suggests that they want to cause more damage to
their opponent, which fits with the operational definition of aggression. [...] the number of seconds spent
with their weapon and the time each round was played was recorded, with a higher ratio of time with a
weapon being indicative of aggressive behavior. Second, past research has used other such measures to
assess aggressive behavior […].215
Die Waffenzeit ist aber insg. kein plausibles Aggressionsmaß: Einerseits ist virtuell gewalttätiges Verhalten insg. kein funktionales Äquivalent realer Aggression (s.o.). Andererseits ist
das konsensuale (und auch i.d.S. nicht aggressive), wie auch reziproke, virtuell gewalttätige
Verhalten der Charaktere ein fundamentales Prinzip und der Triumph über die jeweiligen
Antagonisten das Ziel des Spiels, so dass die Waffenzeit i.d.S. auch nur ein Indikator der
Kompetitivität der Probanden sein könnte, die das Spiel höchstwahrscheinlich gewinnen wollen
und ja auch informiert wurden, dass die bewaffneten Kampfstile (auch im Lichte des Zeitlimits
der Kampfrunden) die effizientesten sind. Ungeachtet dessen war die Waffenzeit der Probanden
der blutigen Spielkonditionen statistisch signifikant höher, als die der unblutigen Kondition.
Aber auch das könnte evtl. nur ein Effektanzphänomen infolge der effektvolleren Treffervisualisierung sein (die Spieler drücken einen Knopf und evozieren damit Blut- und Goreeffekte), das u.U. auch andere (gleichermaßen eindrucksvolle) Treffereffekte (z.B. Schweiß,
Funken oder Zahlenkolonnen, die den Schaden indizieren) zeitigen könnten.
Ungeachtet solcher Ausnahmen der Operationalisierung aggressiven Verhaltens dominieren vier
Paradigmen der allg. Aggressionsforschung die entsprechenden Mediengewaltwirkungsstudien.
Eines der prominentesten Aggressionparadigmen ist das von BANDURA/ROSS/ROSS 1961
konzipierte "Bobo doll"-Paradigma: Im Rahmen einer Freispielsituation werden Quantität und
ggf. auch Qualität des vermeintlich aggressiven Verhaltens von (i.d.R.) Kindern ggü. dem
eponymen Stehaufmännchen "Bobo" registriert, die gleichzeitig auch das generelle Aggressionsniveau der Probanden indizieren sollen. Bereits FREEDMAN 2001 kommentierte aber
215
BARLETT/HARRIS/BRUEY 2008, S.541. Bereits ANDERSON/MORROW 1995, die u.a. aggressives Verhalten im Rahmen
einer kompetitiven und einer kooperativen Spielsituation analysierten, operationalisierten reale Aggression per virtuell gewalttätigem Verhalten der Probanden, die das Plattformspiel SUPER MARIO BROS. spielten: "The aggression measures were […]
derived from how the subject had the main character deal with the deadly creatures. […] the main character can kill the
creatures by jumping directly on top of them. [...] under some circumstances the main character can obtain the ability […] to
throw fireballs. Hitting a creature with a fireball kills it. Two additional ways of dealing with the creatures involve avoiding
them. […] A coder […] simply counted the creatures (a) jumped on, (b) fireballed, (c) jumped over, and (d) avoided in other
ways. […] The main dependent measure […] was the proportion of creatures encountered during the scenario that were killed
[…]." (S.1025f.) Auch ASK/AUGOUSTINOS/WINEFIELD 2000 interessierte aggressives Verhalten im Rahmen einer
kompetitiven Spielsituation: I.d.S. spielten u.a. 16 versierte Spieler ein Qualifikationsspiel und infolge ein Turnier (inkl. Preisgeld und Publikum) des Kampfsportspiels MORTAL KOMBAT 3. Die Spielersubstitute der Gewinner eines Duells konnten per
Tastenkombination die der Kontrahenten exekutieren: Die sog. "Fatalities" waren der Indikator des aggressiven Verhaltens.
Die Gewinner exekutierten die Substitute der Kontrahenten im Rahmen der Qualifikation in 67 % und im Rahmen des
Turniers in 84 % der Duelle. Einerseits gilt bzgl. der Studie aber prinzipiell dieselbe Kritik, wie bzgl. BARLETT/HARRIS/
BRUEY 2008. Andererseits sind die "Fatalities" gem. GOLDSTEIN 2005 ein Paradebeispiel sog. "mock violence" (S.345)
und könnten nur eine Spielstrategie sein, die z.B. die Kontrahenten demoralisieren und eine besondere Spielkompetenz
demonstrieren sollten (S.348). Auch waren die ephemeren Tastenkombinationen mehr oder weniger kompliziert, so dass die
Gewinner die Substitute der Kontrahenten u.U. öfter exekutieren wollten, als sie konnten; sechs Probanden, die nie
exekutierten, wurden de facto gar aus der Analyse exkludiert. Letztlich konnte BÖSCHE 2008 demonstrieren, dass das
Verhalten der Versuchsleitung virtuell gewalttätige Spielleistungen der Probanden generell inhibieren kann, so dass u.U. insb.
die Resultate des Qualifikationsspiels nicht akurat sind.
49
diesbzgl., dass "[…] Bobo dolls are designed to be hit. When you hit a Bobo doll, it falls down
and then bounces back up. You are supposed to hit it and it is supposed to fall down and then
bounce back up. There is little reason to have a Bobo doll if you do not hit it. Calling punching
a Bobo doll aggressive is like calling kicking a football aggressive. [...] No harm is intended and
none is done. [...] it is difficult to understand why anyone would think this is a measure of aggression."216 I.d.S. wird regelmäßig kritisiert, dass das Paradigma nicht aggressives Verhalten,
sondern vielmehr Kampf- und Tobespielverhalten misst.217 Die Computerspielgewaltwirkungsforschung nutzte das Paradigma aber insg. kaum.218
Der Vollständigkeit halber stellen aber auch die Studien keine Verbesserung der skizzierten
Problematik dar, die die Quantität u./o. die Intervalle und ggf. auch Qualität vermeintlich aggressiven Verhaltens von Kindern ggü. anderen Kindern (und nicht nur einem Stehaufmännchen) im Rahmen einer Freispielsituation als Indikator des Aggressionsniveaus kontrollierten,219 aber gleichermaßen nicht (hinreichend) zwischen aggressivem Verhalten und Kampfund Tobespielverhalten differenzierten,220 wie z.B. bereits DURKIN 1995 am Beispiel von
SCHUTTE/MALOUFF/POST-GORDEN et al. 1988 verdeutlichten:
It is not clear […] how the researchers distinguished between "pretend to push, hit, kick" and actual
examples of these behaviours. What constituted an actual push, hit or kick? [...] the authors provide no
details of these key measurement issues. It is possible that the researchers’ boundaries between pretend
and real were arbitrary. A child might "pretend" to hit a peer by striking him or her lightly on the
shoulder; in some contexts this could be playful. The study fails to provide information to address this
point. [...] it is reasonable to assume that the incidence of authentic, painful attacks would be very low.
We can assume that responsible scientific investigators did not flout the ethical considerations of allowing
kindergarten children to continue serious assaults on one another. If for some reason they did, then it is
obvious that any effective attacks would result in the victim suffering pain, most likely crying or
attempting to flee, and the experiment itself would be disrupted. Recall that during the whole procedure,
two strange adults were sitting at a table in the room observing the children. One might suspect that only
youngsters of an already pathological disposition would engage in real violence under these conditions.
Even if we put these arguments aside and assume that the experimenters really did observe authentic
violent aggression among the children, the mean number of time intervals was 1.08 but the standard
deviation […] was quite high (2.68). This suggests that some children have contributed rather a lot of the
instances, and others none. Since there were 15 subjects in the group, it is possible that a small number of
already aggressive children may have contributed most of the actions. A more plausible inference is that
the children were only playing; their peers knew they were playing, and the experimenters knew they
were playing, or they would have had to intervene.221
Insofern kann per Verhaltensbeobachtung im Rahmen einer Freispielsituation ohne die Garantie
einer elaborierten, objektivierbaren Differenzierung zwischen aggressivem Verhalten und
Kampf- und Tobespielverhalten das Aggressionsniveau natürlich insg. nicht probat gemessen
werden.222
216
217
218
219
220
221
222
FREEDMAN 2002, S.61.
Vgl. KLAPPER 1968; TEDESCHI/SMITH/BROWN 1974; TEDESCHI/QUIGLEY 1996; CUMBERBATCH 2004, S.27;
SMITH/SMEES/PELLEGRINI 2004 und KIRSH 2010, S.205. Bzgl. detaillierterer, genereller Kritik an den originären
Experimenten von Albert BANDURA et al. s. auch bereits KELMER/STEIN 1975, S.32-38.; KUNCZIK 1975, S.495-529;
NOBLE 1975, S.133f.; KUNCZIK 1978, S.67ff.; GUGEL 1983, S.33f.; THEUNERT 1987, S.17-20; THEUNERT 1994,
S.395; GAUNTLETT 1995; THEUNERT 1996, S.40; CUMBERBATCH 2004, S.27; KIMM 2005, S.113-116 und
FERGUSON 2010, S.71f..
Vgl. SILVERN 1986; SILVERN/WILLIAMSON 1987 und SCHUTTE/MALOUFF/POST-GORDEN et al. 1988.
Vgl. COOPER/MACKIE 1986; und IRWIN/GROSS 1995.
Vgl. GRIFFITHS 1999, S.209f. und BENSLEY/EENWYK 2001.
DURKIN 1995, S.32f..
Dgl. ist auch eines der fundamentalen Probleme der Interventionsstudie ROBINSON/WILDE/NAVRACRUZ et al. 2001, bei
der die Experimentalgruppe, Schüler dritter und vierter Klassen (M = 8,9 Jahre), im Rahmen eines sechsmonatigen Interventionsprogramms ihren generellen Konsum audiovisueller Medien (TV, Filme und Computerspiele) reduzieren sollte: "It
consisted of eighteen 30- to 50-minute classroom lessons taught by the regular […] classroom teachers […] as part of the
standard curriculum in the intervention school. […] Early lessons included self-monitoring and reporting of television, videotape, and video game use to motivate children to want to reduce the time they spent in these activities. These lessons were followed by a TV Turnoff during which children were challenged to watch no television or videotapes and play no video games
for 10 days. After the turnoff, children were encouraged to follow a 7 hour per week television, videotape, and video game
budget. To help with budgeting, each household also received an electronic television time manager […]. […] Several final
lessons enlisted children as advocates for reducing media use. Parent newsletters were designed to motivate parents to help
their children stay within their budgets, and suggested strategies for limiting television, videotape, and video game use for the
entire family. We allowed parents to decide whether to include computer use in their child’s budget. The intervention targeted
media use alone and did not address aggressive behavior." (S.18) In Relation zur Kontrollgruppe waren aber nur die
Reduzierung zweier der vier Messwerte aggressiven Verhaltens statistisch signifikant: Peer- nicht aber Elternreporte aggres-
50
BUSS 1961 konzipierte eines der ersten und insb. im Rahmen der Film- und Fernsehgewaltwirkungsforschung populärsten Aggressionsparadigmen, das sog. Lehrer-Schüler-Paradigma:
Die Probanden werden informiert, der Versuchsleiter wolle den postiven Einfluss von
Bestrafungen auf das Lernen analysieren und instruiert, dass sie als "Lehrer" Fehler eines
anderen (räumlich nicht anwesenden) Probanden (der de facto nur ein Computer oder ein
Verbündeter des Versuchsleiters ist, der nicht wirklich bestraft wird), der als "Schüler" eine
Lernaufgabe absolvieren soll, per sog. Aggressionsmaschine bestrafen sollen, die originär
unangenehme Elektroschocks und aktueller mehr oder weniger gleichermaßen unangenehmes
weißes Rauschen appliziert. Die "Lehrer" können die Stimulusintensität u./o. -dauer justieren,
beides soll aggressives Verhalten indizieren, d.h. je intensiver u./o. länger der applizierte
aversive Stimulus ist, desto aggressiver verhielten sich die Probanden.
Die Computerspielgewaltwirkungsforschung nutzt das Paradigma insg. kaum: WINKEL/
OVAK/ HOPSON 1987 ließen den "Lehrer" z.B. für jeden Fehler des "Schülers" den Betrag
einer monetären Vergütung für denselben für die Teilnahme an dem Experiment reduzieren und
BALLARD/LINEBERGER 1999 ließen die "Lehrer" ggf. eine Hand des "Schülers" in Eiswasser eintauchen. Ungeachtet dessen, dass die Schocks zwar aversiv, aber natürlich nicht gesundheitsschädlich o.ä. sind und bereits i.d.S. kaum oder gar keine Surrogate ernsthafter Aggressionen sein können, ist insb. die Coverstory ein fundamentales Problem für die Konstruktvalidität des Aggressionsmaßes: Der "Lehrer" muss im Lichte der Coverstory glauben, dass die
Elektroschocks dem "Schüler" helfen sollen, effizienter zu lernen. I.d.S. spekulierte bereits
KUNCZIK 1975, dass ein intensiverer Schock ggf. auch weniger oder gar nicht aggressiv,
sondern tendenziell gar prosozial motiviert sein könnte und seitens der Probanden möglicherweise geglaubt werde, "durch zunächst starke Schocks die Lernleistung des Schockempfängers
derart verbessern zu können, daß späterhin keine bzw. nur ganz schwache Schocks ausgeteilt
werden müßten."223 In Frage stellte die Validität des Paradigmas aber auch bereits MILGRAM
1963, der mittels einer ähnlichen Versuchsanordnung nicht das aggressive Verhalten, sondern
den destruktiven Gehorsam der Probanden messen wollte.
Eine Variation des letzten Paradigmas konzipierte bereits TAYLOR 1967, den sog. Competitive
Reaction Time Test (CRTT): Im Rahmen der Mediengewaltwirkungsforschung nutzte erstmals
BUSHMAN 1995 einen bereits durch BOND/LADER 1986 aktualisierten CRTT, die u.a. den
aversiven Stimulus im Rahmen des Tests (originär abermals ein Elektroschock) durch weißes
Rauschen ersetzt hatten. Seit ANDERSON/DILL 2000 dominiert der CRTT letztlich auch die
Computerspielgewaltwirkungsforschung:224 "[…] the participant's goal is to push a button faster
than his […] opponent. If participants lose this race, they receive a noise blast at a level supposedly set by the opponent (actually set by the computer). Aggressive behavior is operationally
defined as the intensity and duration of noise blasts the participant chooses to deliver to the op-
223
224
siven Verhaltens und die Beobachtung verbaler, nicht aber physischer Aggression im Rahmen einer Freispielsituation. Ungeachtet dessen konstruierten die Autoren aus dem Resultat einen Beleg mediengewaltinduzierter Aggression! Einerseits ist das
klassisches capitalizing on chance, andererseits eine Demonstration des bereits diskutierten Problems, dass ein genereller
Medien- mit einem speziellen und Mediengewaltkonsum synonymisiert wird. I.d.S. moniert bspw. KIMM 2005, dass es auch
fragwürdig erscheint, "die positiven Effekte einer grundsätzlichen Reduktion des medialen Konsums in Form eines Umkehrschlusses als monokausalen Beweis für die Wirksamkeit medialer Gewaltdarstellungen zu verwenden. Aspekte wie z.B. die
Verbesserung der Sozialkompetenz durch häufigere und intensivere Sozialkontakte, in Anbetracht des Wegfalls des 'sozialen
Ersatzraums' Fernsehen (oder Computer), wurden erst gar nicht in die Überlegungen mit einbezogen." (S.117) Bzgl. einer
Kritik der Studie s. auch GOLDSTEIN 2005, S.348f. und SCHULZ/ BRUNN/DREYER et al. 2007, S.50f.. Ungeachtet dessen
argumentieren bspw. auch BARLETT/ANDERSON 2009, träte in der BRD ein (noch) restriktiver Jugendmedienschutz bspw.
i.S.d. JuSchVerbG (s. Kapitel 21.) in Kraft, "so wäre es aus wissenschaftlicher Sicht möglich, Aggressionsniveaus zu eichen
[…], um festzustellen, ob das Aggressionsniveau (teilweise entstanden durch den Konsum gewalthaltiger Computerspiele) abnimmt. Gewiss gibt es neben gewalthaltigen Medien viele andere Risikofaktoren für aggressives Verhalten, so dass gesamtgesellschaftlich große Veränderungen unwahrscheinlich sind. Dennoch sollte die dramatische Verringerung der Intensität, mit
der Kinder medialer Gewalt ausgesetzt sind, in einem Zeitraum von mehreren Jahren zu einer messbaren Abnahme der tatsächlichen Aggressionsneigung dieser Kinder führen. Damit könnte ein überdeutlicher Zusammenhang zwischen medialer
Gewalt und aggressivem Verhalten nachgewiesen werden." (S.237) Ein überaus kritikwürdiger Vorschlag.
KUNCZIK 1975, S.373f. und vgl. BARON/RICHARDSON 1994.
Vgl. ANDERSON/MURPHY 2003; ANDERSON/CARNAGEY/FLANAGAN et al. 2004; CARNAGEY/ANDERSON 2005;
BARTHOLOW/BUSHMAN/SESTIR 2006; KONIJN/BIJVANK/BUSHMAN 2007; KRAHÈ/MÖLLER/HUESMANN et al.
2011; HASAN/BÈGUE/BUSHMAN 2012; CHARLES/BAKER/HARTMAN et al. 2013 und HASAN/BÈGUE/
SCHARKOW 2013
51
ponent. We used 25 competitive reaction time trials; the participant won 13 and lost 12. The
pattern of wins and losses was the same for each participant. Prior to each trial the participant
set noise intensity and duration levels. Intensity was set by clicking on a scale that ranged from
0 to 10. Duration was set by holding down a 'Ready' button and was measured in milliseconds.
After each trial the participants were shown on their computer screen the noise levels supposedly set by their opponent. For this experiment, the noise blast intensities supposedly set by
the opponent were designed to appear in a random pattern. [...] three noise blasts of intensity
Levels 2, 3, 4, 6, 7, 8, and 9, and four noise blasts of Level 5 were randomly assigned to the 25
trials. A noise blast at Level 1 corresponded to 55 decibels, a noise blast at Level 2 corresponded to 60 decibels, and the decibels increased by five for each subsequent noise blast
level to a maximum of 100 decibels for a noise blast at Level 10. Similarly, the duration of
noise blasts the participant received were determined by the computer, were in a random pattern, and were the same for each participant. The durations varied from 0.5 seconds to 1.75
seconds."225 Aber das Paradigma prägen u.a. massive Validitätsdefizite (s.u.). Regelmäßig wird
bspw. argumentiert, dass der CRTT vielmehr ein Kompetitivitäts- und kein Aggressionsmaß ist,
wie bereits der Name suggeriert.226
LIEBERMAN/SOLOMON/GREENBERG et al. 1999 konzipierten eines der neueren Aggressionsparadigmen, das sog. Hot-Sauce Paradigma (HSP). Aktuell haben aber erst ein paar der
Computerspielgewaltwirkungsstudien aggressives Verhalten per HSP operationalisiert,227 wie
z.B. ADACHI/WILLOUGHBY 2011a: "[…] the participant is given an […] food preference
questionnaire and told that another participant […] has completed this questionnaire and, as
indicated by the questionnaire, does not like hot or spicy food. The participant is then given four
bottles of hot sauce ranked in terms of hotness and is informed that his […] job is to choose one
of the four bottles and mix up some hot sauce for the other participant to drink. The amount of
hot sauce given and the degree of hotness is indicative of overt aggressive behavior […]."228 Die
Intention der Applikation der i.d.R. capsaicinhaltigen Sauce muss aber abermals keine aggressive sein. Insb. wird ignoriert, dass bspw. die Capsaicinrezeptoren der Probanden unterschiedlich (de)sensibilisiert sein können. Probanden, die bspw. regelmäßig capsaicinhaltige Nahrung
konsumieren, werden dagegen resistenter, so dass sie die Saucen u.U. gar nicht mehr als scharf
wahrnehmen. De facto hat auch noch keine der Studien den Schärfegrad der Saucen objektiviert
(z.B. per Hochleistungsflüssigchromatographie).
Zusammengefasst ist keines der skizzierten Paradigmen als Aggressionsmaß valide, wie auch
die diesbzgl. Literatur bereits hinreichend demonstrierte.229 Ungeachtet einzelner paradigmaspezifischer Probleme generieren insg. alle der Laborstudien eine permissive Gesamtsituation,
so dass generell keine illegitime Aggression der Probanden messbar werden kann.230 Vielmehr
müssen die Probanden gar glauben, dass die Applizierung der aversiven Stimuli im Rahmen
rechtmäßiger Experimente mehr oder weniger auf prinzipiellem Konsens aller freiwillig an den
Experimenten partizipierenden Probanden basiert.
Insb. werden im Rahmen der letzten vier Paradigmen auch keine ernsthafteren Aggressionen
messbar, denn die zu applizierenden Stimuli sind zwar mehr oder weniger aversiv, aber nicht
gesundheitsschädlich. Auch ignoriert das Gros der Studien die subjektive Intentionalität des
Verhaltens der Probanden. Im Lichte der bereits vorgestellten Prämisse, dass eine entsprechende
Intention eines Akteurs (dem Gegenüber zu schaden zu wollen) eine notwendige Bedingung für
die Attribuierung eines Verhaltens als aggressiv darstellt, argumentiert schon CAPSELLO 2008
folgendermaßen:
225
226
227
228
229
230
ANDERSON/DILL 2000.
Vgl. ADACHI/WILLOUGHBY 2011b, S.259.
Vgl. BARLETT/BRANCH/RODEHEFFER et al. 2009, FISCHER/KASTENMÜLLER/GREITMEYER 2010.
ADACHI/WILLOUGHBY 2011a, S.261.
Vgl. FREEDMAN 1992; TEDESCHI/QUIGLEY 1996; EMES 1997; TEDESCHI/QUIGLEY 2000; FREEDMAN 2001;
SAVAGE 2004; RITTER/ESLEA 2005; FERGUSON 2009, S.107f. und FERGUSON 2010, S.74ff..
Vgl. THEUNERT 1987, S.24 und KIRSH 2010, S.204.
52
[…] measures of this intention need to be incorporated in laboratory experiments.231 [...] if subjects are
told they are engaging in a competitive game, how can we be sure […] the intent of their responses is to
do harm and not merely to compete? […] It is possible that the ultimate goal is reciprocity, and that
subjects retaliate at a level consistent with how they have been treated by the confederate. [...] this is even
what is expected in paradigms using provocation. Then, individual variations in responses reflect
variations in feelings of injustice, instead of variations in aggression. Alternatively, the ultimate goal may
be conformity to the strategy adopted by the opponent. Conversaly, the primary goal may be one of social
control. Either aiming to persuade the opponent to refrain from using high intensities or subjects might set
low intensities for the opponent, to persuade them to conform to their strategy. And finally, the behaviour
might be aimed at self-preservation. The goal might be to do well, hoping for a positive opinion from the
experimenter with respect to one’s adequacy compared to the other participant. […] Intent to contribute to
the aims of the experimenter may influence how subjects respond, i.e. how much sauce they chose
allocate to their opponent. […]. If participants wish to behave non-aggressively it is very likely they will
do so by choosing the weakest response. [...] this does not mean that when participants choose this
response, their motive is a non-aggressive one. […] Moreover, when response options are limited, and
administration of shocks is required, behaviour might become influenced by (unintentional) cues from the
experimenter suggesting what is expected from the participant. If there is only one way to respond,
subjects easily grasp what is expected from them, regardless of whether they have the same interpretation
of the situation.232 […] Alternatively, if aggressive responses can be initiated at any time and at any
frequency […], the situation becomes too complex for subjects to figure out/assess what behavioural
pattern is expected.233
Ungeachtet dessen ist die Diskussion über die Validität der Paradigmen im Lichte fehlender
Standardisierung der Aggressionsmaße aber gem. FERGUSON 2009 noch gar nicht angemessen: "Discussion of the validity of a measure of any construct can occur only once its reliability
has been established, and the reliability of a measure can be established only if the measure is
standardized. None of the common laboratory measures […] are used in a standardized way in
the literature, nor are reliability data commonly provided for these instruments. These measures
of aggression are often varied both in administration […] and in 'scoring' the measure. […]
Seldom is any form of reliability reported for these measures […] in the studies that utilize
them. It is impossible to address what a particular instrument is measuring if it is not used in a
standardized way and if data on its reliability are not made available."234 Eine fehlende
Standardisierung ermöglicht (und provoziert) aber insb. im Lichte u.U. mehrerer abhängiger
Variablen, die alle dasselbe Konstrukt messen sollen, ein sog. capitalization on chance.
Auch ELSON 2011 konnte die Problematik der Verwendung eines unstandardisierten CRTT
eindrucksvoll demonstrieren und resümiert für seine eigenen Studienergebnisse, dass "[…] it
would have been possible to find results with large effects for any desired outcome: Violent
games increase aggression, violent games have no effect, even that violent games actually
reduce aggressive behavior. [...] This finding [...] should be a good advice for other researchers
to use any test in a theoretically sound and ideally standardized way to avoid making results not
only incomparable, but altogether meaningless and random. Due to the dissimilarity in aggression scores derived from the same raw data, it is clear that not all scores calculated with the
CRTT actually are measures for aggression. Regardless of what they actually show, publishing
results gained with different test versions under the same 'umbrella' is very problematic and
might lead to a false estimation of effects. […] Obtaining results indicating that the different
231
232
233
234
Vgl. RITTER/ESLEA 2005, S.413. Kaum eine Computergewaltwirkungsstudie kontrollierte aktuell die diesbzgl. Probandenmotivation; eine Ausnahme sind ANDERSON/MURPHY 2003, die (in Orientierung an ANDERSON/BARTHOLOW 2002)
einen Fragebogen konstruierten, der primär die Motivation der Probanden für die Applizierung des aversiven Stimulus im
Rahmen eines CRTT kontrollieren sollte: "Six items asked participants to 'indicate the extent to which this motive describes
your motive when deciding on where to set the noise levels.' Responses were on a 5-point unipolar scale anchored at 1 (not at
all), 2 (a little bit), 3 (somewhat), 4 (quite a lot) and 5 (a lot). The 6 items were: (a) I wanted to impair my opponent’s
performance in order to win more; (b) I wanted to control my opponent’s level of responses; (c) I wanted to make my
opponent mad; (d) I wanted to hurt my opponent; (e) I wanted to pay back my opponent for the noise levels he/she set; (f) I
wanted to blast him/her harder than he/she blasted me. The first two items represent instrumental reasons for aggressing. […]
The latter four items represent a revengeful type of aggressive motive […]." (S.425f.) Der Fragebogen war aber insg. kaum
elaboriert, die Motive (c) und (d) indizieren bspw. nicht eineindeutig Vergeltungsmotive, sondern können vielmehr auch zwei
mehr oder weniger unterschiedliche Strategien i.S.v. Motiv (a) sein. Der Vollständigkeit halber sei auch erwähnt, dass die
Autoren auch nur den Durchschnittswert der addierten Werte beider Aggressionsmotive dokumentieren: Probanden der
Experimentalgruppe waren aggressiver motiviert (M = 1.98), als die der Kontrollgruppe (M = 1.59). Der Unterschied ist
statistisch signifikant, aber nicht besonders prägnant und indiziert bereits, dass die Applizierung des aversiven Stimulus im
Rahmen eines CRTT kein probater Indikator aggressiven Verhaltens ist.
Vgl. KELMER/STEIN 1975, S.23; FREEDMAN 2001 und SAVAGE 2001, S.28.
CAPSELLO 2008, S.15-25.
FERGUSON 2009, S.106; vgl. FERGUSON 2007a, S.471f. und FERGUSON 2007b.
53
versions of the CRTT might hardly be comparable raises some questions about the actual state
of research on violent game effects, since many studies employed diverse versions of this test
and analyzed it differently."235 Auch insofern erodiert das Gros der mehr als eineinhalb Jahrzehnte der diesbzgl. Forschung. Aktuell haben erst ein paar Autoren vermeintlich aggressives
Verhalten mittels eines standardisierten (und natürlich auch reliablen) CRTT operationalisiert,
konnten aber bezeichnenderweise insg. keine Zusammenhänge zwischen dem Spielen von
Gewalt darstellenden Computerspielen und dem gemessenen Verhalten demonstrieren.236
Zusammengefasst konnte bislang die Computerspiel-, resp. die Mediengewaltwirkungsforschung insg. nicht demonstrieren, dass Mediengewaltdarstellungen aggressives Verhalten
hervorrufen.237
Insofern demonstriert wurde, dass Mediengewaltdarstellungen offenbar kein physisch aggressives Verhalten evozieren, gewalttätiges Verhalten selbst aber nur eine extreme Form aggressiven Verhaltens darstellt, wird die Frage nach den gewalttätiges Verhalten evozierenden
Wirkungen medialer Gewaltdarstellungen prinzipiell mehr oder weniger hinfällig. Tatsächlich
wurde die Wirkung von Gewalt darstellenden Computerspielen auf das gewalttätige (und nicht
nur aggressive) Verhalten auch noch kaum oder besser noch gar nicht (angemessen) untersucht,238 wie auch bereits FERGUSON 2009 konstatierte:
There are [...] some excellent, structured, clinical measures of violence prediction available (e.g., HCR-20
[…]). These are measures that are standardized and reliable and have promising validity data. These are
never used in media violence literature, nor do any of these measures include exposure to media violence
among their actuarial indices. Given that some controversy continues over the degree to which these
welldesigned and reliable measures can accurately predict violence risk […], it is unlikely that
unstandardized tools can accomplish what these clinical tools continue to struggle for. The methods
employed in media violence validation are very indirect, often comparing the results of experimental and
non-experimental studies to suggest that external validity is implied by "general agreement" between the
two […]. [...] no studies exist to suggest that the various measures of "aggression" employed in
experimental media violence studies are predictive of violent criminal behavior or any other external
criterion. Despite protestations to the contrary […], there is simply no evidence to support the external
validity of these measures.239
Tatsächlich wird oftmals einerseits nicht oder nicht hinreichend zwischen aggressivem und
gewalttätigem Verhalten differenziert,240 wie u.a. bereits OLSON 2004 monierte: "Some
researchers use aggression and violence almost interchangeably, implying that one inevetiably
leads to the other. […] Aggressive thoughts, feelings, and behavior may be presented as
equivalent in importance and treated as valid surrogates for real-life violence [...]. The muddled
terminology and unspoken assumptions can undermine the credibility of studies."241 Andererseits werden für die vermeintliche Gefährlichkeit von Gewaltdarstellungen regelmäßig auch nur
anekdotische Evidenzen präsentiert. Wie einleitend erwähnt wurde, werden Gewalt darstellende
Computerspiele sowohl für eine vermeintliche Zunahme von Gewalt in der Gesellschaft (insb.
unter Jugendlichen), wie auch spektakuläre Einzeltaten verantwortlich gemacht. Die notwendige
(aber natürlich nicht hinreichende) Bedingung für die erste Behauptung ist aber eine tatsächliche
Zunahme solcher Gewalttaten.242 BENSLEY/EENWYK 2001 bspw. konnten aber bereits am
Beispiel US-amerikanischer Kriminalitätsstatistiken demonstrieren, dass solche Gewalttaten
trotz einer zunehmenden Verbreitung auch Gewalt darstellender Computerspiele rückläufig
sind, so dass "[…] population-level evidence suggests that between 1991 and 1997, there was a
linear decrease in adolescent weapon-carrying and physical fighting, and this downward trend
continued in 1999. [...] between 1993 and 1998 […] national homicide rates dropped from 2.5
to 1.5 per 100,000 for 10- to 14-year-olds and from 20.5 to 11.7 per 100,000 for 15- to 19-year235
236
237
238
239
240
241
242
ELSON 2011, S.75. Bzgl. einer detaillierten Kritik. insb. des CRTT s. FERGUSON/SMITH/MILLER-STRATTON et al.
2008 und FERGUSON/RUEDA 2009.
Vgl. FERGUSON/RUEDA/CRUZ et al. 2008, FERGUSON/RUEDA 2010 oder ELSON 2011,.
Vgl. DURKIN/AISBETT 1999; SAVAGE/YANCEY 2008 und FERGUSON/KILBURN 2009, S.762.
Vgl. OLSON 2004; FERGUSON 2007a und ANDERSON/COLVIN 2008, S.133.
FERGUSON 2009, S.107f.; vgl. OLSON 2004; FERGUSON 2007a und ANDERSON/COLVIN 2008, S.133.
Vgl. KUNCZICK 1975, S.16f./42-62; STOLTE 1988, S.12; KREBS 1994, S.356; MERTEN 1999, S.20f.; KLEBER 2000,
S.2; IMBUSCH 2002, S.27; RÖSER 2003, S.215 und OLSON 2004, S.146f..
OLSON 2004, S.146f..
Vgl. EISERMANN 2001, S.124.
54
olds. During this period, video games were ubiquitous, and most games contained violence,
calling into question the notion that video games have a largescale harmful effect on youth
violence."243 Einerseits lassen sich ähnliche Entwicklungen der entsprechenden Kriminalitätsraten z.B. auch für Kanada, Australien und diverse Mitgliedstaaten der EU konstatieren.244
Andererseits divergieren die entsprechenden Raten zwischen Ländern wie Kanada, Japan, England, Finnland und Australien z.T. erheblich, trotz ähnlicher Nutzungszahlen auch für Gewalt
darstellende Computerspiele.245 I.d.S. resümierte bereits GOTTBERG 1997 bzgl. derselben
Vorwürfe ggü. Gewaltdarstellungen in Film und Fernsehen: "Es gibt keine erkennbare Korrelation zwischen der Gewaltbereitschaft einer Jugendgeneration innerhalb einer Gesellschaft
und der […] Gewaltdarstellung in den jeweiligen Medien."246
Ungeachtet dessen konnte FERGUSON 2010 zwischen 1996 und 2007 einen starken negativen
Zusammenhang zwischen der Anzahl verkaufter Computerspiele und der Gewaltdelinquenz von
Kindern und Jugendlichen feststellen (r = -.95): "It should be […] noted that video game
consumption is unlikely to be responsible for this decline […], even in part. […] However, we
can be sure that violent video games have not sparked a violent crime epidemic because there is
no violent crime epidemic. The violent video game issue is a crusade in search of a crisis. Some
causal hypothesis scholars may claim that this realworld data does not matter, but the same
scholars often pointed to violent crime trends when they appeared to work in the favor of their
hypotheses […] or raise the issue of youth violence while ignoring youth violence data […].
Claiming that video game effects theories need never relate to actual world phenomenon is a
pseudoscientific claim, one that is more akin to a moral panic than objective science."247 Das
ignorieren Medienkritiker aber regelmäßig. STRASBURGER 2007 behauptet bspw. nach wie
vor, dass "[…] an estimated 10% to 30% of violence in society can be attributed to the impact of
media violence."248
Die zweite Behauptung, dass Gewalt darstellende Computerspiele oder auch andere Gewalt darstellende Medien für spektakuläre Einzeltaten verantwortlich seien, basiert gleichermaßen auf
anekdotischer Evidenz und i.d.R. auch nur auf Zeitungsberichten, die salopp Zusammenhänge
zwischen mehr oder weniger bestimmten Mediengewaltdarstellungen und solchen Taten (z.T.
243
244
245
246
247
248
BENSLEY/EENWYK 2001, S.244; vgl. HOWE/STRAUSS 2000, S.207; BODMER 2002, S.34; STERNHEIMER 2007,
S.13; KIERKEGAARD 2008 und FERGUSON/KILBURN 2010.
FERGUSON 2008b, S.33f..
Vgl. OLSON 2004; FERGUSON 2008b; KIERKEGAARD 2008 und FERGUSON 2009.
GOTTBERG 1997, S.1.
FERGUSON 2010, S.75. Die Entwicklungen der Kriminalitätsraten sind zwar kein strapazierbares Indiz oder gar ein Beleg für
den Umkehrschluss, dass die Nutzung gewaltdarstellender Spiele gewaltkriminelles Verhalten reduziere, dgl. will aber WARD
2007 demonstriert haben, der die Kriminalitätsraten mit den Nutzungsraten von Computerspielen zwischen 1994 und 2004 in
ca. 854 US-amerikanischen Landkreisen (die ca. 80% der US-amerikanischen Population beherbergen) kontrastierte. Indiz der
Computerspielnutzung war ihm kurioserweise die Anzahl der Computerspielgeschäfte (per capita) pro Landkreis: "For six of
eight categories of crime, more game stores are associated with significant declines in crime rates. Proxies for other leisure
activities, sports and movie viewing, do not have a similar effect. […] mortality rates, especially mortality rates stemming
from injuries, also […] negatively related to the number of game stores." (S.2) Die Studie prägen aber bereits massive
theoretische Probleme (die der Autor z.T. auch selbst realisiert). Dgl. auch ENGELSTÄTTER/CUNNINGHAM/WARD 2011,
die auf Basis des GAM zwar prinzipiell an gewaltkriminelles Verhalten induzierende Wirkung gewaltdarstellender Spiele
glauben(!), aber gleichzeitig einen gewaltkriminelles Verhalten inhibierenden Zeiteffekt der Nutzung von (gewaltdarstellenden) Computerspielen demonstriert haben wollen: "[…] psychological laboratory experiments cannot address the time use
effects of video games which tend to incapacitate gamers from violent activity […] by drawing them into extended gameplay.
[…] We empirically investigate how video games could affect crime using four years of weekly data from the US by matching
four different data sources. The number of violent and nonviolent crime incidents each week we obtain from the National
Incident Based Reporting System [...]. Our measure for video game play is derived from VGChartz which report the unit sales
of the top 50 video games across the US each week. To determine the violent content of each game, we collect information
from the Entertainment Software Rating Board [...]. […] To control for unobserved factors that might influence both crime
rates and video game play like […] we focus only on changes in game sales associated with differences in game quality as
measured by Gamespot, a […] video game rating board […]. Our results indicate two opposing effects. […] If not for the
incapacitation effect, violent video games would be associated with more violent crimes. […] the results also support a
voluntary incapacitation effect in which playing either violent or non-violent games decrease crimes. Sales of either violent or
non-violent games are associated with decreased violent and non-violent crime. The incapacitation effect dominates the
behavioral effect such that, overall, violent video games lead to decreases in violent crime." (S.3) Ungeachtet des fragwürdigen
Maßes für die Nutzung der Spiele kann die simple Korrelationsstudie aber bereits naturgemäß gar keine Verhaltenseffekte des
Spielens (bspw. eine Aggressionssteigerung) demonstrieren.
STRASBURGER 2007, S.1398.
55
nicht einmal auf Basis augenscheinlichster Analogien zwischen bestimmten Darstellungen und
den Taten) kolportieren. Zusammenhänge, die z.T. selbst Akademiker249 ungeprüft rezitieren,250
so dass bereits CUMBERBATCH 2004 monierte, dass "as social scientists, they should be
ashamed [...] in offering only second hand undocumented hearsay support for a link."251 Seit
dem Columbine High School massacre vom 20.04.1999 wird oftmals behauptet, dass Gewalt
darstellende Computerspiele eine wesentliche Ursache für sog. Schulamokläufe (engl.: school
shootings) seien. Nicht nur, aber besonders auch innerhalb der deutschen Debatten kursiert insb.
der moderne Mythos, dass das Gros oder gar alle Schulamokläufer exzessive Spieler Gewalt
darstellender Computerspiele gewesen seien,252 so als wäre das Spielen solcher Spiele ein
besonderes Alleinstellungsmerkmal solcher Täter. Nach Christian PFEIFFER sind (Gewalt
darstellende) Computerspiele im Lichte diverser Gefährdungsfaktoren gar ein generell "notwendiger Faktor für den Amoklauf"253 und für Bastian BOSSE, Täter des sog. Amoklaufs von
Emsdetten vom 20.11.2006, kolportierte der Direktor des KFN, hätte er nicht nur keine
violenten, sondern insg. gar keine Computerspiele gespielt, "wäre er mit Sicherheit kein Amokläufer geworden. […] Man muss sich vor Augen halten: Sämtliche Amokläufer unter 20 Jahre,
die wir in der letzten Zeit sehen mussten, sind massiv durch Computerspiele beeinflusst
gewesen. Sie haben Handlungsmuster nachempfunden, die sie als attraktiv erlebt haben, sind
also quasi auf den Spuren ihrer Computerspiele unterwegs gewesen."254 Politiker rezitierten
solche Phantastereien oftmals. Günther BECKSTEIN (CSU) behauptete bspw., "dass nicht jeder
Nutzer gewaltverherrlichender Computerspiele ein potentieller Amoktäter wird. Dennoch haben
gerade einige schreckliche Vorkommnisse an Schulen in den letzten Jahren gezeigt, dass sich
gewisse Personenkreise durch die sogenannten 'Killerspiele' inspirieren lassen. So etwas dürfen
wir sehenden Auges nicht zulassen!"255 Ähnlich auch sein Amtskollege Uwe SCHÜNEMANN
(CDU): "Nicht jeder, der Killerspiele auf dem Computer hat, wird zum Amokläufer. Aber die
überwiegende Zahl der Amokläufer, die wir in den letzten Jahren hatten, hat solche Spiele
betrieben. Es gibt also Zusammenhänge."256
Tatsächlich konnten aber VOSSEKUIL/FEIN/ REDDY et al. 2002 demonstrieren, dass von den
41 US-amerikanischen, elf bis 21 Jahre alten Schulamokläufern seit 1974 nur 12 %, d.h. fünf
Täter überhaupt ein Interesse an violenten Computerspielen hatten;257 ähnliches ist auch für die
Fälle nach 2000,258 wie auch für die deutschen Pendants konstatierbar. I.d.S. konnten
HOFFMANN/ROSHDI/ROBERTZ 2009 demonstrieren, dass sich nur vier von sieben der
jugendlichen Täter sog. Amokläufe zwischen 1999 und 2006 mehr oder weniger intensiv für
Gewalt darstellende Computerspiele interessierten (das war z.B. nicht der Fall beim Täter des
sog. Amoklaufs von Winnenden am 11.03.2009), ohne dass aber (dank fehlender Referenzwerte) ggf. ein für Jugendliche insg. überdurchschnittliches oder gar ein pathologisches Interesse o.ä. hätte konstatiert werden können. Das Interesse an Gewalt darstellenden Computerspielen
könnte für solche Täter also u.U. gar unterdurchschnittlich sein.
Ungeachtet dessen verfängt auch die Argumentation nicht, dass u.U. das Spielen gewaltdarstellender Spiele singuläre Phänome wie Schulamokläufe u.ä. evozieren könnte, insofern nämlich
das Spielen solcher Spiele ein mehr oder weniger universelles Phänomen unter Jugendlichen
darstellt. Gem. BÖSCHE/GESERICH 2007 kommen "Gewaltcomputerspiele" (GCS) als solche
Taten evozierender Faktor überhaupt nur dann in Frage, "wenn bei Konsumenten die Amoklaufrate größer ist als bei vergleichbaren Nichtkonsumenten. Für die Vergleichbarkeit müssen
Faktoren wie Geschlecht, sozioönomischer Status und Alter kontrolliert werden. Je mehr GCS
249
250
251
252
253
254
255
256
257
258
Bspw. ANDERSON/DILL 2000; WEIß 2000, S. S.88-93; WEIß 2002; ANDERSON 2004; SPITZER 2005b, S.156 und WEIß
2009, S.2.
Vgl. RIEPE 2003, S.1f./5/13.
CUMBERBATCH 2004, S.34.
Vgl. SPITZER 2005b, S.211ff..
Zitiert in: Peschke 2006a, S.2.
Zitiert in: Peschke 2006a, S.2.
BECKSTEIN 2007.
Zitiert in: LISCHKA 2007.
Vgl. VOSSEKUIL/FEIN/REDDY et al. 2002, S.22.
Vgl. LANGMAN 2006 und FERGUSON/COULSON/BARNETT 2011.
56
zur Verursachung von extremen Gewalttaten beitragen, desto größer sollte bei GCSKonsumenten die Amoklaufrate im Vergleich zu Nichtkonsumenten sein, und je mehr
Konsumenten es gibt, desto mehr Amokläufe sollten stattfinden. Wenn man zunächst die
Grundraten betrachtet, so fällt auf, dass die Zahl von Konsumenten und Extremkonsumenten
erheblich ist, und im Vergleich dazu die Anzahl von Amokläufen verschwindend gering ausfällt. Wenn das Konsumieren von GCS stark zu Amokläufen und Massakern anregen würde, so
müßten erheblich mehr extreme Gewalttaten stattfinden, da täglich etliche Millionen Spielstunden in GCS weltweit anfallen."259 I.d.S. identifiziert auch FERGUSON 2008b den
thematisierten Kausalnexus als Moralpanik, so dass "'linking' an individual crime to violent
games easily risks the investigative equivalent of a type I error. Such errors may mislead the
public, contribute to unnecessary panic, and focus attention away from real social issues that
contribute to youth crime. This is true also in cases in which perpetrators themselves claim to
have been influenced by games."260
6.2
6.2.1
Errregungen, aggressive Kognitionen, Emotionen & Desensibilisierungen
Erregung
Die Computerspiel-, resp. Mediengewaltwirkungsforschung insg. interessieren aber nicht nur
mehr oder weniger direkte Verhaltenseffekte der Mediengewaltexposition, sondern auch
Wirkungen und Prozesse, die – bspw. i.S.d. GAM – aggressives Verhalten bereits auch nur
begünstigen könnten, wie z.B. mediengewaltinduzierte Erregungen, aggressive Kognitionen
u./o. Affekte oder eine Desensibilisierung ggü. Gewalt, die aber weder eigenständig, noch
miteinander kombiniert verhaltensrelevant werden müssen,261 ungeachtet dessen, dass dgl.
oftmals kolportiert wird. Bspw. gehen Proponenten der auch in das GAM integrierten Erregungstransferthese262 gem. KUNCZIK/ZIPFEL 2004 davon aus, "dass verschiedene Medieninhalte (Gewalt, […] Erotik, Humor, Sport usw.) unspezifische emotionale Erregungszustände
beim Rezipienten auslösen können. Diese bilden ein 'Triebpotenzial', das die Intensität nachfolgenden Verhaltens erhöht. Um welches Verhalten es sich handelt, hängt von Situationsfaktoren ab und steht mit der Qualität der gesehenen Inhalte in keinerlei Zusammenhang. Die
These besagt lediglich, dass residuale […] Erregung in Situationen, die zu der die Erregung
bewirkenden Situation keinerlei Beziehung aufweisen müssen, zu intensiverem Verhalten führt.
Bei einer entsprechenden situationsbedingten Motivation können erotische Medieninhalte ebenso gewalttätiges Verhalten fördern, wie violente Inhalte in der Lage wären, prosoziale
Handlungen zu unterstützen. Aggressionen können dabei auf zwei verschiedene Arten gesteigert
werden. Einerseits begünstige eine höhere physiologische Aktivierung generell aktuelle
dominante Verhaltenstendenzen. Andererseits bestehe die Möglichkeit, dass ein gesteigertes
Arousal nicht auf einen internen Zustand attribuiert werde, sondern auf einen externen Reiz,
etwa auf die wahrgenommene Provokation durch eine andere Person."263 Diverse Studien haben
bereits analysiert, inwiefern Gewaltdarstellungen in Computerspielen die Spieler (intensiver als
nicht violente Spiele) erregen, die Resultate sind aber insg. extrem heterogen. Forschungspraktisch wird die Erregung i.d.R. über die physiologisch-sensuellen Indikatoren (Blutdruck,
259
260
261
262
263
BÖSCHE/GESERICH 2007, S.58 und vgl. FAUST 2003.
FERGUSON 2008b, S.34. Dass sich u.a. (jugendliche) Gewalttäter selbst oder ihre Verteidiger dieselben vor Gericht als Opfer
der Medien inszenieren, so dass nicht sie, sondern Gewaltdarstellungen in den Medien für ihre Taten maßgeblich verantwortlich seien, ist zwar nicht die Regel, aber auch keine Ausnahme. Bereits LUKESCH 1990 schätzte, dass ca. 10 % der männlichen und ca. 25 % der weiblichen Delinquenten, resp. ihre Verteidiger derart argumentieren (S.285). Letztlich sind solche
Tricks seit über einem Jahrhundert dokumentiert (vgl. FRIEDLÄNDER 1920, S.6-17; KUNCZIK 1975, S.658-663; SIEGERT
1995, S.149 und VOLLBRECHT 2001, S.27f.). Offenbar sind solche Wirkungsannahmen fast schon eine kulturelle Selbstverständlichkeit, so dass Staatsanwälte und Richter dgl. oftmals selbst suggerieren; i.d.S. konnten KUNCZIK/ZIPFEL 1998
relativ häufige Ressentiments von (nordrhein-westfälischen) Richtern und Staatsanwälten ggü. fiktionale Gewalt darstellenden
Medien, wie auch den Rezipienten selbst demonstrieren; über 90 % der Befragten glaubten z.B. an Desensibilisierungs- und
ca. 2/3 gar an direkte Imitationswirkungen: "Insbesondere bei schweren, mit Personenschäden verbundenen Delikten (95
Prozent) und Sexualdelikten (63 Prozent) wurde dem Konsum von Mediengewalt eine wichtige Rolle zugemessen, während
nur relativ wenige Befragte einen Einfluß der Massenmedien auf politisch motivierte Gewalt (41 Prozent) und Eigentumsdelikte (25 Prozent) annahmen." (S.572)
Vgl. KUCNZIK/ZIPFEL 2010, S.34.
Vgl. ZILLMAN 1971 und ANDERSON/BUSHMAN 2002.
KUNCZIK/ZIPFEL 2004, S.15; vgl. KÜBLER 1995, S.98; ANDERSON/BUSHMAN 2001; BUCHLOH 2002, S.43f.;
KLIMMT/TREPTE 2003 und DECKER 2005, S.17f..
57
Herzfrequenz, Hautwiderstand etc.) derselben operationalisiert.264 Prinzipiell problematisch ist
aber auch im Lichte der nachfolgenden Probleme, dass nur ausnahmsweise auch (gleichzeitig)
das subjektive Erregungsempfinden der Probanden über Selbstangaben erhoben wird.265
Auch werden regelmäßig nur einzelne oder nur ein paar der möglichen Indikatoren einer allg.
Erregung kontrolliert, eine multivariate Messung wäre aber notwendig. Eine Steigerung der
Herzfrequenz indiziert nämlich bspw. nicht auch automatisch eine gleichzeitige Steigerung
anderer Erregungsindikatoren, wie z.B. des Hautwiderstands, ja das Gegenteil kann der Fall
sein.266 Im Lichte dessen, dass bislang auch noch kaum eine Studie die Gewalt darstellenden
und die keine Gewalt darstellenden Spiele probat äquivaliert hat, können evtl. Erregungssteigerungen auch noch gar nicht den Gewaltdarstellungen selbst attribuiert werden. Die
violenten Spiele könnten z.B. auch nur komplizierter zu kontrollieren oder spannender sein, so
dass zum Spielen eine höhere Aktivation der Spieler notwendig ist.267 Auch konnte bspw.
TAFALLA 2007 demonstrieren, dass bereits der Soundtrack eines Spiels geschlechterspezifische Wirkungen auf das physiologisch-sensuelle Erregungsniveau der Spieler zeitigen
kann. Der Autor ließ die Experimentalgruppe das Spiel DOOM mit und die Kontrollgruppe
dasselbe Spiel ohne den Soundtrack spielen: "Only men's heart rates were significantly greater
with the soundtrack, indicative of arousal. Only women's systolic and diastolic blood pressures
were significantly greater with the soundtrack, indicative of stress."268 Aufschlussreich sind
insb. auch die Resultate von ELSON 2011, der nicht nur den Hautwiderstand (GSR) und die
Herzfrequenz (HR), sondern u.a. auch die Körperbewegungen als Erregungsindikatoren der
Probanden kontrollierte und dank einer probaten Äquivalierung des Stimulusmaterials nicht nur
evtl. Wirkungen der Gewaltdarstellungen, sondern bspw. auch der Spielgeschwindigkeit auf die
Erregung analysieren konnte:
While there was an increase in GSR in all experimental conditions, the results yielded no significant
effect of displayed violence or game speed. The interaction was significant, but contrary to what was
predicted, this revealed that participants in the normal-speed non-violent game condition had the highest
average GSR, significantly different from the normal-speed violent condition (which had the lowest
average GSR). The analysis of average HR was unremarkable: Neither did it change very much over the
course of the experiment, nor were there any differences between experimental conditions. [...] the
commonly found effects of displayed violence on these more underlying biological measures of physiological arousal could not be replicated, and no systematic effect of game speed was found either. […]
Game speed was suspected to be the one of the actual causes for increases in arousal found in other
studies. Since this was investigated in this study, but did not prove true, another possibility is that all
conditions shared a constant game characteristic that was not manipulated, but had a strong effect on the
measures, e.g. the first-person perspective. […] There were [...] some very interesting results with regard
to the more behavioral measures of physiological arousal. A fast-paced game like a first-person shooter is
very demanding of the players in terms of concentration, reaction capacity, hand-eye coordination and
motor skills. "Unnecessary" motion can put their in-game performance at risk, even more so with the
additional obstacle of increased speed. [...] it was predicted that with an increase in game speed the
participants would show less body movement […]. […] game speed had a large effect on body movement
in the hypothesized direction. However, there was an interaction with the effects of displayed violence:
Participants showed more body movement when they were playing a normal-speed digital game, but only
when that game was non-violent. [...] participants in the normal-speed non-violent condition had the
highest body movement (significantly higher than in any other condition), while those in the high-speed
non-violent condition had the lowest. However, this condition was not significantly different from the two
violent conditions. […] it was shown that at least two typical characteristics of first-person shooters (or
digital games in general) have an effect on body movement. Since body movement (e.g., exercise) itself is
most certainly correlated with other biological responses, it becomes more and more clear that carefulness
when interpreting psychophysiological data, especially such abstract indicators like e.g. galvanic skin
response, is paramount. The relations between stimuli, perception, and biological responses are so
complex that a monocausal and direct link between violent games and higher-order arousal (as modeled
by GAM, e.g.) seems more and more unlikely. Until now, there has been no systematic research on how
(consciously or unconsciously) suppressing body movement during game playing or any other activity
might influence psychophysiological arousal measures like GSR and HR. It is possible that consciously
264
265
266
267
268
Vgl. WINKEL/NOVAK/HOPSON 1987; CALVERT/TAN 1994; GRIFFITH/DANCASTER 1995; BALLARD/WIEST 1996;
FLEMING/RICKWOOD 2001; PANEE/BALLARD 2002; FRINDTE/OXWEBER 2003; ANDERSON/CARNAGEY/
FLANAGAN et al. 2004; BALDARO/TUOZZI/CODISPOTI et al. 2004; BRADY/MATTHEWS 2006; ARRIAGA/STEVES/
CARNEIRO et al. 2006; BARLETT/HARRIS/BALDASSARO 2007; HAMBY/BALLARD 2007 und MAHOOD 2007. Bzgl.
einer Zusammenfassung der diesbzgl. Forschung s. ELSON 2001, S.24.
Vgl. MÖLLER 2006, S.88.
Vgl. MANGOLD 1998, S.643f..
Vgl. FREEDMAN 2001 und VORDERER 2006.
TAFALLA 2007, S.2008.
58
restraining intentional actions, or even unintentional ones like a wiggle of the foot or a postural shift, to
maximize performance during a certain task (in this case, winning at a digital game) could cause a higher
muscular tension and activate body systems that regulate the skin conductance level or heart rate.269
Ein Problem der diesbzgl. Forschung ist auch, dass die Erregung z.T. gar nur einmalig nach der
Mediengewaltexposition (teilweise gar ohne vorherige Kontrolle der Baseline) erhoben wird, so
dass auch i.V.m. den regelmäßig zu kurzen Spielzeiten evtl. Entwicklungen der Erregungsverläufe ignoriert werden, wie bspw. ein höhere Aktivation zu Beginn der Spielphase, die aber
u.U. nach ein paar Minuten während der Spielphase allmählich wieder absinken könnte.270
Selbst mehrmalige Messungen der Erregung innerhalb der Spielphase sind i.d.R. nur tonisch,
kontrollieren also nur die durchschnittliche Erregung innerhalb des Erhebungszeitraums (evtl.
abzgl. der Baseline).
Interessant wären für die Analyse einer mediengewaltspezifischen Erregung aber insb.
phasische Erhebungen;271 WEBER/BEHR/TAMBORINI et al. 2009, dokumentierten bspw. pro
Proband je 50 Minuten individuellen Spielverlaufs des Egoshooters TACTICAL OPS: ASSAULT
ON TERROR per Videoaufnahme und kontrollierten gleichzeitig konstant die Hautwiderstände
und Herzfrequenzen der Testsubjekte. Das Videomaterial wurde dann in unterschiedliche Spielphasen segmentiert, die mit den Erregungsverläufen kontrastiert wurden, so dass die Autoren
demonstrieren konnten, dass nicht die virtuellen Gewaltphasen für sich genommen, sondern das
(Entladen und) Laden einer Schusswaffe in einer Kampfsituation die größten herzfrequenziellen, nicht aber hautwiderstandlichen Erregungssteigerungen hervorriefen. Eine besondere
Problematik einer evtl. Erregungssteigerungen konnte die einschlägige Forschung ungeachtet
dessen letztlich auch aus zwei weiteren Gründen noch gar nicht demonstrieren: Einerseits
konnte noch keine Studie eine Steigerung bspw. der Herzfrequenz oder des Blutdrucks über das
Niveau hinaus demonstrieren, dass für erwachsene Menschen im Ruhezustand als normal gilt.
Andererseits sind die Unterschiede zwischen den Messwerten der Baseline und denen nach (ggf.
auch während) der Medienexposition, wie auch zwischen denen der Experimental- und der
Kontrollgruppen u.U. zwar statistisch signifikant, insg. aber praktisch relativierbar (s.u. auch die
Kommentierung zu ANDERSON/BUSHMAN/CARNAGEY 2007).
6.2.2
Aggressive Kognition
Ein weiteres Forschungsinteresse der Computerspielgewaltwirkungsforschung ist die Frage,
inwiefern Gewalt darstellende Computerspiele die aggressiven Kognitionen der Probanden
stimulieren können. ANDERSON/SHIBUYA/IHORI et al. 2010 resümieren die diesbzgl.
üblichen Operationalisierungen der abhängigen Variable: "Short-term experimental studies have
used reading reaction time, story completion, word fragment completion, Stroop interference,272
speed to recognize facial emotions, and hostile attribution bias measures. Occasionally, more
traitlike measures of aggressive cognition (such as attitudes toward violence) have been used in
short-term experimental studies;273 these are inappropriate because they measure stable thoughts
and beliefs that develop over a lifetime and should not be influenced by playing a video game
for a few minutes. Nonexperimental studies have used measures of trait hostility, hostile
attribution bias, attitudes toward violence, hypothetical aggression statements, aggression
vignettes, implicit association tests, and normative beliefs about aggression."274 Ein paar der
prägnantesten Beispiele werden im Folgenden präsentiert.
Ein Gros der Studien interessiert eine evtl. Bahnung (Priming) aggressiver Gedanken infolge
der Mediengewaltexposition. ANDERSON/DILL 2000 operationalisierten die Zugänglichkeit
der aggressiven Gedanken der Probanden bspw. per Lesegeschwindigkeitstest: "This task
presents aggressive words (e.g., murder) and three types of control words individually on a
269
270
271
272
273
274
Vgl. ELSON 2011, S.76f..
Vgl. MÖLLER 2006, S.88.
Vgl. RAVAJA/SAARI/LAARNI et al. 2005, S.3 und SAARI/TURPEINEN/KUIKKANIEMI et al. 2009, S.408.
Vgl. KIRSH/OLCZAK/MOUNTS 2005 und PEARSON/GOODSON 2010.
Vgl. KUNCZIK/ZIPFEL 2010, S.34-38.
ANDERSON/SHIBUYA/IHORI et al. 2010, S.157.
59
computer screen. The participant's task is to read each word aloud as quickly as possible. The
three types of control words are anxiety words (e.g., humiliated), escape words (e.g., leave), and
control words (e.g., consider). There are 24 words in each category. Each word is presented
twice, for a total of 192 trials, with 48 trials for each word type. The four word lists have been
equated for word length. […] The computer records the reaction time to each word. Words were
presented in the same random order for each participant. […] reaction times to the three types of
control words (control, anxiety, and escape) were combined into a composite. A new variable
was then formed in which the average reaction time to aggressive words was subtracted from
the average reaction time to control words. This new variable is the Aggression Accessibility
Index. People with relatively high scores have relatively greater access to aggressive
thoughts."275 Die Autoren konnten zwar demonstrieren, dass die Indizes der Experimentalgruppe höher waren als die der Kontrollgruppe, aber der Umstand, dass sie Reaktionszeiten unter
275 und über 875 ms als statistische Außreiser ignorierten (die Autoren selbst dokumentieren
die absoluten Reaktionszeitdurchschnitte beider Gruppen inkl. der entsprechenden Standardabweichungen weder für die vier einzelnen Wortgruppen, noch für beide Wortkategorien),
indiziert abermals nur extrem kurze Tastendruckzeiten und keinen substanziell relevanten
Unterschied zwischen den Gruppen, ungeachtet dessen, dass die statistische Signifikanz des
ermittelten Unterschieds evtl. auch nur ein Resultat der Stichprobengröße (n = 210) war.
Dgl. gilt auch für ein paar aktuellere Studien, die die Zugänglichkeit aggressiver Gedanken per
lexikalischem Entscheidungstest operationalisierten,276 im Rahmen dessen den Probanden
vermeintlich aggressive, neutrale und Pseudowörter präsentiert werden und sie schnellstmöglich
(per Tastendruck) entscheiden müssen, ob das präsentierte Wort ein realexistentes Wort oder
doch nur ein Pseudowort ist. Je schneller die Probanden die vermeintlich aggressiven Wörter als
realexistente Wörter identifizieren, desto zugänglicher sollen ihnen aggressive Gedanken sein
(die Fehlerrate kann u.U. auch relevant sein).
Im Rahmen eines solchen Tests wollen GLOCK/ KNEER 2009 aber demonstriert haben, dass
nicht die violenten Inhalte der Computerspiele die Zugänglichkeit aggressiver Gedanken
bahnen, sondern dass Nichtspieler, nicht aber habituelle Spieler dank einer tendenziell vermeintlich aggressionsinduzierende Wirkungen gewaltdarstellender Spiele exponierenden Berichterstattung über violente Spiele (s. Kapitel 17.) dieselben mit Aggressionen assoziieren. Eine
Hälfte der Nichtspieler und die Spieler wurden bereits vor dem ersten Entscheidungstest
informiert, dass die Studie einen Zusammenhang zwischen dem Spielen Gewalt darstellender
Computerspiele und der Reaktionszeit auf Wörter analysieren will und dass das Spielen eines
violenten Computerspiels (UNREAL TOURNAMENT) Bestandteil des Experiments sein wird.
Solchermaßen geprägte Nichtspieler reagierten ein paar Millisekunden schneller auf aggressive
Wörter (M = 498.68 / SD = 63.41), als ungeprägte Nichtspieler (M = 655.31 / SD = 137.82) und
Spieler (M = 750.60 / SD = 164.10); d.h. en détail: Die geprägten Nichtspieler reagierten auf die
aggressiven Wörter durchschnittlich vor dem Spiel in 527.5 (SD = 84.36) und nach dem Spiel in
469.86 (SD = 61.56), die ungeprägten Nichtspieler vor dem Spiel in 685.33 (SD = 147.41) und
nach Spiel in 625.29 (SD = 144.42) und die Spieler vor dem Spiel in 791.17 (SD = 178.54) und
nach dem Spiel in 710.03 ms (SD = 171.94). Ungeachtet dessen, dass die Spieler u.U. auch nur
i.S.e. sozialen Erwünschtheit reagierten, wie die Autorinnen auch selbst thematisierten,
resümierten sie: "While priming 'violent digital game' activated the concept 'aggression' for nonplayers, active playing had no impact at all. The individual knowledge about these games had
stronger impact on psychological responses than playing a violent digital game."277 Nicht nur im
Lichte einer ubiquitären Problematisierung, ja einer Diabolisierung Gewalt darstellender
Computerspiele in der Öffentlichkeit indiziert das Resultat u.U. eine systematische Verzerrung
der Mediengewaltwirkungsforschung. Bereits ELSON 2011 mahnte bzgl. des Primings: "Maybe
not the actual game content, but the sheer typical look of a first-person shooter or even the
knowledge that this study would be about digital games was enough to prime aggression-related
275
276
277
ANDERSON/DILL 2000.
Vgl. BÖSCHE 2010; DENZLER/HÄFNER/FÖRSTER 2011 und KRAHÈ/MÖLLER/HUESMANN et al. 2011.
GLOCK/KNEER 2009, S.151.
60
concepts […] that lead to equally aggressive behavior in all conditions."278
ANDERSON/CARNAGEY/FLANAGAN et al. 2004 etablierten im Rahmen der Computerspielgewaltwirkungsforschung einen Wortergänzungstest, der seitdem die wohl populärste der
Operationalisierung der Zugänglichkeit aggressiver Gedanken wurde:279 "The word completion
task […] involves examining a list of 98 words with one or more letters missing, and filling in
the missing letters. The missing letters are strategic, such that each item can make more than
one word. For instance, one item is 'explo_e,' which may be completed as 'explore' or 'explode.'
Participants were told that their task was to fill in the blanks to make complete words.
Participants were given 3 minutes to complete as much of the task as they could. An accessibility of aggressive thoughts score was calculated for each participant by dividing the number
of aggressive word completions by the total number of completions. Fortynine of the items can
yield an aggressive word when completed."280 Die Experimentalgruppe komplementierte
statistisch signifikant mehr der Lückenwörter als vermeintlich aggressive Worte (14,7 %) als die
Kontrollgruppe (12,5 %). Das ist ein substanziell irrelevanter Unterschied von nur 2,2 %,
ungeachtet dessen, dass die Probanden theoretisch 50 % der Worte (vermeintlich) aggressiv
hätten vervollständigen können und insofern offensichtlich keinen der beiden Gruppen aggressive Gedanken besonders zugänglich waren. Der Vollständigkeit halber seien auch FRINDTE/
GEYER 2007 erwähnt, die für dgl. interessanterweise denselben Wortergänzungstest nutzten,
mittels dem bereits GEYER 2006 nicht die Zugänglichkeit aggressiver Gedanken, sondern die
Mortalitätssalienz der Probanden i.S.d. sog. Terror-Management-Theorie281 operationalisierte.
Der Wortergänzungstest, der Worte wie "Sarg", "Messer", "Wut", "Wunde", "fassen" etc. als
"gewaltvoll"282 kategorisierte(!), kann aber nicht gleichermaßen Maß der Zugänglichkeit aggressiver Gedanken283 und der Mortalitätssalienz der Probanden sein.
Eine noch kuriosere Operationalisierung der Zugänglichkeit aggressiver Gedanken präsentierten
aber IVORY/KALYANARAMAN 2007, nämlich einen Wortassoziationstest, "in which
participants rate the similarity of aggressive and ambiguous word pairs. [...] if a violent stimulus
increases participants’ accessibility of aggressive thoughts, 'then ambiguous words will tend to
be interpreted in a relatively more aggressive way, leading to relatively higher similarity ratings
of aggressive-ambiguous pairs'284 […]. […] The aggressive words used here were 'choke,' 'fight,'
'hurt,' 'kill,' and 'wound,' and the ambiguous words used were 'alley,' 'animal,' 'drugs,' 'night,' and
'rock.' Using a 9-point scale (1 = 'not at all similar, associated, or related,' 9 = 'extremely
similar, associated, or related'), participants rated each of the 45 possible word pairs (20
similar, 25 dissimilar). Scores for the pairs were placed into two groups: similar word pairs (aggressive-aggressive and ambiguous-ambiguous) and dissimilar word pairs (aggressiveambiguous). […] Each participant’s mean rating for dissimilar word pairs was subtracted from
the participant’s mean rating for similar word pairs to produce a measure of aggressive
thoughts, with smaller scores indicating greater accessibility thereof."285 Aggressive Gedanken
waren der Experimentalgruppe aber nicht zugänglicher als der Kontrollgruppe, sondern das
Gegenteil war der (statistisch nicht signifikante) Fall.
Ungeachtet der inkohärenten Resultate der einzelnen Studien (insb. auch solcher, welche die
Zugänglichkeit aggressiver Gedanken per lexikalischem Entscheidungs- oder Wortergänzungstest operationalisierten), ist ein fundamentales Problem aller skizzierten Operationalisierungen,
dass den Probanden nur dekontextualisierte Worte, resp. Lückenworte präsentiert werden, die
nicht per se in neutrale und (auch nur tendenziell) aggressive Worte unterteilt werden können:
278
279
280
281
282
283
284
285
ELSON 2011, S.74.
Vgl. CARNAGEY/ANDERSON 2005; CICCHIRILLO/CHORY-ASSAD 2005; FRINDTE/GEYER 2007; MAHOOD 2007;
MCGLOIN/FARRAR/KRCMAR 2010 und CHARLES/BAKER/HARTMAN et al. 2013 und IVORY/KAESTLE 2013.
ANDERSON/CARNAGEY/FLANAGAN et al. 2004, S.208f..
Vgl. LIEBERMANN/SOLOMON/GREENBERG et al. 1998.
FRINDTE/GEYER 2007, S.186.
Bzgl. einer Diskussion der diesbzgl. Validität des Wortergänzungstests s. CRAIGHEAD/HARGIS/KIM et al. 2011.
ANDERSON/CARNAGEY/EUBANKS 2003, S.963.
IVORY/KALYANARAMAN 2007, S.540f..
61
Worte zeitigen nämlich erst im Lichte kontextueller, syntaktischer, para- und körpersprachlicher
Momente evtl. einen aggressiven Bedeutungsgehalt; Worte wie z.B. "murder", "explode",
"Sarg", "Messer", "Wut", "Wunde" und "fassen" sind ohne die skizzierten Momente nicht
automatisch aggressiv (konnotiert) und können infolge dessen für sich genommen auch kaum
ein oder vielmehr gar kein Indiz aggressiver Gedanken sein. Dgl. gilt auch für TAMBORINI/
EASTIN/SKALSKI et al. 2004, die eine evtl. Evozierung aggressiver Gedanken mittels eines
Gedankenauflistungstests operationalisierten: "Participants were told 'to record only those ideas
that you were thinking during exposure to the video-game,' to 'state your thoughts and ideas as
briefly as possible,' and to 'ignore spelling grammar, and punctuation.' Participants were given
exactly 4 minutes to write their thoughts. Coders blind to both the experimental conditions
counted the number of hostile thoughts. A hostile thought was defined operationally as any
word having a hostile connotation. Hostile thoughts included those sub-categorized as
references to weapons, references to the use of weapons, references to destruction of property or
physical harm, expressions of negative affect, verbally abusive terms, and profanity."286 Die
Methode ist aber bis heute eine Ausnahme geblieben.287
Das andere Gros der Studien interessiert, inwiefern violente Computerspiele evtl. feindselige
Wahrnehmungsverzerrungen hervorrufen können, d.h. inwiefern die Probanden sich selbst mit
aggressiven Merkmalen und Verhaltensweisen assoziieren (die sog. automatische Selbstwahrnehmung)288 oder vielmehr ambiges Verhalten ggü. ihnen selbst oder dgl. zwischen Dritten als
aggressiv interpretieren oder prognostizieren, dass andere in prinzipiell ambigen Konfliktsituationen aggressiv reagieren würden. Die populärste Messmethode für dgl. sind Geschichtenergänzungstests: Die Probanden sollen Geschichten offenen Endes (Vignetten) komplettieren,
die die Protagonisten (die ggf. Substitute der Probanden selbst sein sollen) in ambige Konfliktsituationen (z.B. Unfälle, Rempeleien etc.) manövrieren, die keinen direkten Rückschluss auf
die Intentionen der die Protagonisten provozierenden Antagonisten zulassen. Je mehr aggressive
Intentionen, resp. Gedanken und Gefühle sie den Antagonisten attestierten u./o. je mehr
feindselige Geschichtenergänzungen (z.B. aggressives Verhalten der Antagonisten u./o. der
Protagonisten) die Probanden wählen, desto verzerrter solle die Wahrnehmung derselben sein.
Ungeachtet dessen, dass in der Realität auch unzählige situationale Merkmale, wie auch solche
des vermeintlichen Provokateurs für die Attribuierung eines Verhaltens und insb. auch für evtl.
nachfolgendes Verhalten relevant sind, die Tests dgl. aber natürlich kaum oder gar nicht
abbilden können, sind die Resultate der diesbzgl. Studien auch abermals extrem heterogen.289
Der Vollständigkeit halber seien auch KIRSH/MOUNTS 2007 erwähnt, die einen negativen
Verarbeitungsbias bei der Wahrnehmung von emotionalen Gesichtsausdrücken infolge einer
Mediengewaltexposition analysierten: "[…] participants played either a violent or nonviolent
video game and then watched a series of calm facial expressions morph (i.e, change) to either an
expression of happiness or anger, Participants were asked to make a speeded identification of
the emotion (happiness or anger) as soon as possible during the morph sequenze."290 Den
Probanden wurden in randomisierter Reihenfolge insg. 30 neutrale Gesichter präsentiert, die je
286
287
288
289
290
TAMBORINI/EASTIN/SKALSKI et al. 2004, S.14.
Vgl. CHORY/GOODBOY/HIXSON 2007. Der Vollständigkeit halber seien auch KRCMAR/FARRAR 2009 erwähnt, die
einen vergleichbaren Assoziationsgeschwindigkeitstest konstruierten: "Participants are told they are completing a test to see
how quickly they can think. The sheet of paper has 50 words, each with a blank space next to it. In the space after each word,
participants are told to write – as quickly as they can – the first word or phrase that comes to mind. In total, 25 of the words
were homonyms with a potentially aggressive interpretation (such as boot). These could elicit either neutral words (i.e., shoe)
or aggressive terms (i.e., kick). The remaining 25 were neutral words with no aggressive meaning (e.g., note). Upon
completion, each participant had generated 50 words. Responses were then coded as an aggressive word (e.g., hit) or a nonaggressive one. Participants with more readily accessible aggressive thoughts are expected to list more aggressive terms." (S.126)
Die Autoren interessierte aber die evtl. unterschiedliche Zugänglichkeit aggressiver Gedanken infolge des Spielens violenter
und nicht violenter Computerspiele nicht und bis heute hat keine anderen Studie dgl. i.d.S. operationalisiert.
Vgl. UHLMANN/SWANSON 2004 und BLUEMKE/FRIEDRICH/ZUMBACH 2010.
Vgl. KIRSH 1998; LYNCH/GENTILE/OLSON et al. 2001; BUCHANAN/GENTILE/NELSON et al. 2002; BUSHMAN/
ANDERSON 2002; ANDERSON/CARNAGEY/FLANAGAN et al. 2004; KRAHÈ/MÖLLER 2004; BRADY/MATTHEWS
2006; BARLETT/HARRIS/BALDASSARO 2007; GIUMETTI/MARKEY 2007; HASAN/BÈGUE/BUSHMAN 2012;
IVORY/KAESTLE 2013 und HASAN/BÈGUE/SCHARKOW 2013.
KIRSH/MOUNTS 2007, S.354.
62
zur Hälfte innerhalb von 2,4 Sekunden in einen der beiden Gesichtsausdrücke morphten.
Normalerweise werden fröhliche Gesichtsausdrücke gem. dem sog. "happy-face advantage"Phänomen schneller erkannt als ärgerliche. Die Experimental- und die Kontrollgruppe konnten
auch beide die fröhlichen Gesichtsausdrücke schneller erkennen, erstere hatte aber einen Wahrnehmungsvorteil von nur 2.5 ms (SE = 23), letztere aber einen von 95 ms (SE = 24). Die
Autoren resümieren i.d.S.: "Violent video game play may predispose an individual to percieve
anger more rapidly, when anger is present, indicating an atentional bias toward threatening affect. This attentional bias may then increase the likelihood of acting aggressively by priming aggressive scripts or by limiting the processing of information which could reduce likelihood of
aggression."291 Die Praxisrelevanz der Resultate (z.B. inwiefern eine Reduzierung des
Phänomens aggressives Verhalten fördert) ist aber nicht nur im Lichte der relativierbaren
absoluten Unterschiede zwischen beiden Gruppen fragwürdig, sondern auch im Lichte dessen,
dass die Fehlerrate beider Gruppen nur ca. zwei Pozent betrug.
Ungeachtet der insg. heterogenen Resultate, wie auch der methodischen Defizite der skizzierten
Studien, ist ein anderes fundamentales Problem derselben, dass ihre Autoren regelmäßig
vermeintliche Steigerungen der Zugänglichkeit aggressiver Gedanken oder der Tendenzen zu
einer feindseligen Wahrnehmungsverzerrungen (insb. im Rahmen des GAM) als Belege der
Entwicklung aggressiver Skripts interpretieren, wie auch bereits FERGUSON/DYCK 2012
kritisierten: "One could expose participants to almost any theme or topic stimulus and naturally
they will be thinking of that thing immediately afterward, much more so than other individuals
not so exposed. This is not evidence that long-term cognitive scripts have been formed that will
later be used to direct behavior. [...] were experimenters to have some participants watch a
movie with homosexuality themes such as Brokeback Mountain and another group of
participants watch a heterosexually themed film, undoubtedly we would find that those who
watched Brokeback Mountain had greater accessibility to homosexuality related cognitions
immediately afterward. However the notion that this would be evidence for the creation of longterm cognitive scripts that would actually increase the likelihood of those participants adopting
a homosexual lifestyle later on quite clearly has no merit. […] There is no evidence that these
measures are able to demonstrate that these cognitive processes predict aggression in the real
world […]. We suspect that demonstrating the existence or non-existence of cognitive 'scripts'
for aggression is not possible with these types of measures and may [...] not be possible at
all."292 Insofern ist die Praxisrelevanz der entsprechenden Studien natürlich generell fragwürdig.
6.2.3
Aggressive Emotionen und Desensibilisierungen ggü. Gewalt
Ein weiteres Forschungsinteresse der Computerspielgewaltwirkungsforschung ist die Frage, inwiefern violente Computerspiele i.w.S. aggressive Emotionen der Probanden evozieren können,
wie Ärger, Wut, Feindseligkeit, Frustration und Angst. Das Gros der Studien operationalisiert
aggressive Emotionen über Vignetten (s.o.) und insb. über Selbstreportfragebögen, wie z.B. die
Ärger- und Feindseligkeitssubskalen des BPAQ oder die entsprechenden Skalen des BussDurkee Aggressionsfragebogens, die State Hostility Scale (SHS)293 oder Adjektivchecklisten.
Ungeachtet der Gefahr sozialer Erwünschtheit setzen die Fragebögen aber gem. KUNCZIK/
ZIPFEL 2010 auch voraus, "dass sich die Probanden ihrer Gefühle bewusst sind und diese
benennen bzw. einschätzen können und wollen."294 Nicht überraschend sind die Resultate der
entsprechenden Studien abermals extrem heterogen.295 Im Lichte dessen, dass kaum eine Studie
291
292
293
294
295
KIRSH/MOUNTS 2007, S.358.
FERGUSON/DYCK 2012, S.224 und vgl. FERGUSON 2007a, S.480.
Vgl. ANDERSON/DEUSER/DENEVE 1995.
KUNCZIK/ZIPFEL 2010, S.39; vgl. MANGOLD 1998, S.643f. und REEKUM/JOHNSTONE/BANSE et al. 2004.
Vgl. NELSON/CARLSON 1985; ANDERSON/FORD 1986; SCOTT 1994; BALLARD/WIEST 1996; WEGGE/LEINBECK
1997; FUNK/HAGAN/SCHIMMING 1999; ANDERSON/DILL 2000; FLEMING/RICKWOOD 2001; PANEE/BALLARD
2002; FRINDTE/OXWEBER 2003; BALDARO/TUOZZI/CODISPOTI et al. 2004; BARTHOLOMEW/SESTIR/DAVIS
2005; CARNAGEY/ANDERSON 2005; BRADY/MATTHEWS 2006; MÖLLER 2006, 87f.; BARLETT/HARRIS/
BALDASSARO 2007; MAHOOD 2007; UNSWORTH/DEVILLY/WARD 2007; BARLETT/HARRIS/BRUEY 2008;
KRCMAR/FARRAR 2009; ANDERSON/SHIBUYA/IHORI et al. 2010; BLUEMKE/FRIEDRICH/UMBACH 2010;
FERGUSON/RUEDA 2010; DEMIROK/OZDAMLI/HURSEN et al. 2012; VALADEZ/FERGUSON 2012 und IVORY/
63
das Stimulusmaterial probat äquivalierte und z.B. auch noch keine Studie das generelle
Spielverhalten und speziell den (subjektiven) Spielerfolg der Probanden kontrolliert hat, ist
gem. SCHULZ/BRUNN/DREYER et al. 2007 nach wie vor die Frage ungeklärt, "inwieweit die
evozierten Emotionen tatsächlich auf die (violenten) Inhalte oder vielmehr auf den
(mangelnden) Spielerfolg zurückzuführen sind."296
Für die Mediengewaltwirkungsforschung interessanter ist aber eine evtl. affektive (reduzierte
Empathie) u./o. kognitive Desensibilisierung (normative Gewaltakzeptanz) der Rezipienten
infolge der Mediengewaltexposition, ohne dass bis dato solche Wirkungen uniform definiert
oder gar operationalisiert worden wären. Wie auch ANDERSON/BUSHMAN/CARNAGEY
2007 demonstrieren, wurden bereits diverseste Phänomene als Desensibilisierung bezeichnet:
"(a) an increase in aggressive behavior; (b) a reduction in physiological arousal to reallife
violence; (c) a flattening of affective reactions to violence; (d) a reduction in likelihood of
helping a violence victim; (e) a reduction in sympathy for a violence victim; (f) a reduction in
the sentence for a convicted violent offender,297 (g) a reduction in the perceived guilt of a
violence perpetrator; and (h) a reduction in judged severity of a violence victim’s injuries. This
hodge-podge of definitions […] results from a failure to distinguish underlying psychological
desensitization processes from potential desensitization effects on other responses. Too much is
included in this broad definition."298
Relativ uninteressant sind aus offensichtlichen Gründen, wie z.B. der Henne-Ei-Problematik
(cum hoc ergo propter hoc), Korrelationsstudien wie bspw. SAKAMOTO 1994, der einen
positiven Zusammenhang zwischen der Quantität des generellen Computerspielkonsums (und
nicht der speziellen Computerspielgewaltnutzung) einerseits und einer reduzierten Empathie
von Viert- bis Sechstklässlern andererseits demonstrieren konnte oder aber auch BARNETT/
VITAGLIONE/HARPER et al. 1997, die einen positiven Zusammenhang zwischen der
Präferenz für violente Spiele und einer reduzierten sog. Fantasieempathie (der Fähigkeit sich in
die Gefühlswelt von bspw. Film- oder Spielfiguren zu versetzen) demonstrieren konnten.
Aktuell haben nur ein paar Studien, insb. Korrelationsstudien, eine normative Gewaltakzeptanz
infolge des Spielens gewaltdarstellender Computerspiele analysiert (bspw. über Vignetten; s.o.),
aber ohne konsistente Resultate demonstrieren zu können.299 Experimentalstudien interessieren
regelmäßig nur affektive Desensibilisierungswirkungen, die sie insb. per physiologisch-sensueller Indikatoren emotionaler Reaktionen (Herzfrequenz, Hautwiderstand, Blutdruck etc.) auf
aversive u./o violente Darstellungen infolge der Mediengewaltexposition, d.h. als z.B. ggü. der
Baseline u./o. der Kontrollgruppe reduzierte physiologische Erregung operationalisieren (inkl.
derselben Defizite, wie sie auch für die Kontrolle evtl. Erregungswirkungen endemisch sind;
s.o.). Ungeachtet der insg. nicht probaten Operationalisierungen der Mediengewaltexposition
konnte aber noch keine einzige Studie eine strapazierbare (und insb. keine praktisch relevante)
Desensibilisierungswirkung ggü. realer (oder gar unmittelbarer) Gewalt und nicht nur eine
Habitualisierung ggü. medialen Gewaltdarstellungen demonstrieren. Einerseits werden entweder
nur die Erregungsverläufe ggü. anderen Mediengewaltdarstellungen oder ggü. Bildersätzen des
International Affective Picture System (IAPS)300 kontrolliert, einer Sammlung von
standardisierten, affektinduzierenden Bildmotiven. Andererseits monierte bereits KÜBLER
1998 die fehlende Eineindeutigkeit der (physiologischen) Erregung als hinreichenden Indikator
einer Desensibilisierung: "Das autonome, denkende und fühlende Individuum mit Verstand und
Bewußtsein wird gewissermaßen um- oder übergangen. Die Interpretation der Befunde obliegt
allein dem Versuchsleiter und Forscher, dessen Autorität und Deutungsmacht unangefochten
296
297
298
299
300
KAESTLE 2013.
SCHULZ/BRUNN/DREYER et al. 2007, S.52; vgl. FRITZ 1997a, S.188; DURKIN/AISBETT 1999; FRITZ/MISEKSCHNEIDER 1995, S.100; MISEK-SCHNEIDER 1995; DURKIN/AISBETT 1999, S.98; LADAS 2002, S. 243; FRITZ 2003,
S.15f.; FEIBEL 2004, S.143; KUNCZIK/ZIPFEL 2004, S.206f. und RAVAJA/SAARI/LAARNI et al. 2005.
Vgl. DESELMS/ALTMAN 2003.
ANDERSON/BUSHMAN/CARNAGEY 2007, S.490 und vgl. KUNCZIK 2007, S.1.
Vgl. DESELMS/ALTMAN 2003; KRAHÈ/MÖLLER 2004; FUNK/BALDACCI/PASOLD et al. 2004; BRADY/
MATTHEWS 2006; KJOS 2008; MÖLLER/KRAHÈ 2009 und KRAHÈ/MÖLLER 2011.
Vgl. LANG/BRADLEY/CUTHBERT 1999.
64
sind: […] Wer beispielsweise keine Schweißausbrüche zeigt, gilt als abgebrüht, wessen Puls
ansteigt, wird als sensibel und beeinflußbar diagnostiziert. Subsumiert werden unter diese Erregungssymptome außerdem sämtliche emotionalen Befindlichkeiten, auch Wut, Empörung,
Scham, Kummer, Abscheu, sie alle gelten in ihrer physiologischen Symptomatik als identisch.
Ebensowenig ist ergründet, ob sich im Laufe der Entwicklungen Emotionen wie Symptome
verändern. Bekannt ist nur, daß Kinder auf andere mediale Szenen und Figuren physiologisch
anders reagieren als Erwachsene."301 Oder in der Kurzfassung nach KUNCZIK 2007: "Ist eine
geringere Herzfrequenz beim Betrachten realer Gewaltszenen nach dem Spielen eines
Computerspiels ein Hinweis auf Abstumpfung oder auf emotionale Betroffenheit?"302 Das
kognitive, wie auch das Affekterleben der Probanden wird aber i.d.R. erst gar nicht kontrolliert,
ggf. konnten aber auch keine konsistenten Resultate demonstriert werden.303 Insofern ist der
Aussagegehalt der entsprechenden Studien bereits a priori fragwürdig.
Eine für die skizzierten Defizite typische, aber methodisch relativ unkonventionelle (und innerhalb des deutschen Sprachraums prominentere) experimentelle Desensibilisierungsstudie, an der
280 Kinder teilnahmen und die sich in zwei Abschnitte gliederte, konstruierten TRUDEWIND/
STECKEL 2003:
[…] Kinder im Alter von 8 bis 14 Jahren […] wurden […] zufällig einem von drei Computerspielen
zugeteilt und spielten für ca. 20 Minuten entweder a) mit dem aggressionshaltigen Kampfspiel "Virtua
Fighter", b) mit dem eher die Empathie und das Leistungsmotiv anregenden Problemlösespiel "Die
Abenteuer der Zobinis", c) mit einer interaktiven Spielgeschichte "Der kleine Prinz". […] Zur Erfassung
der emotionalen Reaktionen unmittelbar nach Beendigung des Spielens wurde den Kindern auf dem
Computerbildschirm ein Bildersatz von 3x32 Bildern zur Betrachtung vorgegeben. Der einzelne Satz
enthält 16 emotionsanregende Fotos von Menschen und Tieren in bedrückenden Situationen, sowie 16
eher neutrale oder positiv getönte Bilder mit Landschaftsaufnahmen oder Aufnahmen von Pflanzen und
Blumen, die alternierend dargeboten wurden. Während des Anschauens sollten kardiovaskuläre
Reaktionen erfasst werden. Dazu wurde den Kindern eine Elektrode am Zeigefinger der linken Hand
appliziert. Den Kindern wurde gesagt, dass wir ihre physiologischen Reaktionen auf das Spielen
registrieren wollten und sie sich während dieser Zeit noch ein paar Bilder ansehen könnten. Sie erhielten
die Instruktion, sich die Bilder per Tastendruck zu präsentieren und wurden explizit darauf verwiesen,
dass sie sich so viele Bilder ansehen könnten, wie sie wollten, das Gerät aber jederzeit auch ausschalten
könnten. Wir versuchten die emotionalen Reaktionen auf die belastenden Bilder auf verschiedenen
Ebenen zu erfassen. Neben den physiologischen Reaktionen wurde die Anzahl der angeschauten Bilder
und die Betrachtungsdauer für jedes einzelne Bild automatisch registriert. Während die Kinder die Bilder
betrachteten wurden sie videographiert, um Mimik und Gestik festzuhalten.304
Ungeachtet dessen, dass die Autorinnen mit den gewählten Spielen nur Äpfel mit Birnen
verglichen und infolge der Aufnahme des Spiels DIE ABENTEUER DER ZOBINIS anders als sie
glaubten bspw. nicht ggü. dem vermeintlich "aggressionshaltigen" Spiel VIRTUA FIGHTER
kontrollieren konnten, "ob […] die gewalthaltigen Inhalte oder eher eine allgemeine Erregung
zu einer unmittelbaren emotionalen Desensibilisierung führen […],"305 konnten sie
demonstrieren, dass bei der Anzahl der betrachteten Bilder zwischen den Spielern des Spiels
DER KLEINE PRINZ (ca. 48 Bilder) und denen des Spiel DIE ABENTEUER DER ZOBINIS (ca. 43
Bilder) kein bedeutsamer Unterschied auftrat, der Unterschied der Anzahl der betrachteten
Bilder zwischen den Spielern des Spiels VIRTUA FIGHTER (ca. 57 Bilder) und denen des Spiels
DER KLEINE PRINZ aber marginal (p = .085), der zwischen ersteren und den Spielern des Spiel
DIE ABENTEUER DER ZOBINIS (ca. 43 Bilder) gar hoch signifikant (p = .000) war. In absoluten
Zahlen bleiben die Unterschiede aber marginal. Für den zweiten Kennwert allerdings, der
Betrachtungsdauer für die Bilder, "mit dem die relative Präferenz für belastende Bilder bei der
Bildbetrachtung gemessen wurde, zeigte sich diese Differenzierung allerdings nur für die
Teilstichprobe (n = 122), die sich auch noch bei der Wiederholung des Bildersatzes im 2.
Durchgang mindestens vier Bilder angeschaut hatten. Den Erwartungen entsprechend zeigten
als Folge ihrer geringeren Empathiefähigkeit die unsicher gebundenen Kinder einen signifikant
301
302
303
304
305
KÜBLER 1998, S.18 und vgl. FERGUSON/DYCK 2012.
KUNCZIK 2007, S.1 und vgl. KUNCZIK/ZIPFEL 2010, S.39-44.
Vgl. STAUDE-MÜLLER/BLIESENER/LUTHMAN 2008; ARRIAGA/MONTEIRO/ESTEVES 2011 und KRAHÈ/
MÖLLER/HUESMANN et al. 2011.
TRUDEWIND/STECKEL 2003, S.247ff..
TRUDEWIND/STECKEL 2003, S.248.
65
höheren Präferenzwert für die belastenden Bilder (gemittelt über alle drei Spielgruppen) als die
sicher gebundenen Kinder. […] Nach dem Spielen des gewalthaltigen Computerspiels zeigen
die sicher gebundenen Kinder einen höheren Präferenzkennwert für belastende Bilder als die
sicher gebundenen Kinder nach den gewaltfreien Spielen. […] Jedoch muss dabei bedacht
werden, dass gerade die unsicher gebundenen Kinder nach dem gewalthaltigen Computerspiel
keine Präferenz für belastende Bilder mehr zeigten."306 De facto zeigten die sicher gebundenen
Kinder der Experimentalgruppe einen noch niedrigeren Präferenzwert als die unsicher
gebundenen Kinder der Kontrollgruppen (der Kennwert der Gruppe mit dem Problemlösespiel
war gar ca. doppelt so hoch) und die unsicher gebundenen Kinder der ersten Gruppe zeigten als
einzige unsicher gebundene Kinder gar keine diesbzgl. Präferenz, ungeachtet dessen, dass die
Moderatorvariable der Eltern-Kind-Bindungssicherheit durch einseitiges Befragen der Kinder
wohl kaum oder gar nicht zu ermitteln ist.307
Die Autorinnen dokumentieren aber nur den relativen Präferenzwert, keine konkreten
(durchschnittlichen) Betrachtungsdauern, die für einzelne Bilder oft so kurz waren (und u.U. nur
Sekundenbruchteile währten), dass die kardio-vaskulären Reaktionen auf die belastenden und
die nicht belastenden Bilder (auch dank vieler Bewegungsartefakte) nicht getrennt erfasst
werden konnten, so dass die praktische Relevanz der Resultate noch fragwürdiger wird. Insb. ist
eine höhere Präferenz insg. kein eineindeutiges Indiz einer emotionalen Desensibilisierung,
sondern könnte z.B. gem. GEHLEN 2006 auch darauf zurückzuführen sein, "dass das Kind mit
Hilfe eben dieser Bilder versucht, das im Spiel Erlebte zu verarbeiten."308 Letztlich unterschieden sich die Experimentalgruppe und die Kontrollgruppen weder mimisch (anders z.B.
noch bei STECKEL 1998, ungeachtet dessen, dass Mimik einerseits auch nicht eineindeutig und
andererseits auch noch ohne besondere Mühe bewusst kontrollierbar ist), noch gestisch voneinander. Ungeachtet der skizzierten Defizite resümieren die Autorinnen aber kurioserweise,
"dass der Umgang mit gewalthaltigen Computerspielen nachweisbare unmittelbare Effekte
erzeugt, die sich als Ergebnis einer emotionalen Desensibilisierung und Beeinträchtigung des
empathischen Reaktionssystems deuten lassen. Damit ist experimentell ein Wirkmechanismus
aufgedeckt, der bei intensivem und langdauerndem Umgang mit Gewaltspielen die Entwicklung
der dispositionellen Empathie beeinträchtigen und damit die Hemmungskomponente des
Aggressionsmotivs schwächen kann."309 Ungeachtet dessen, dass die Autorinnen salopp vor
Langzweitwirkungen warnen, ohne dass sie dgl. analysiert hätten (ein weiteres endemisches
Problem der Mediengewaltwirkungsforschung), indiziert der Umstand, dass nur zwei von vier
Maßen statistisch signifikante, aber substanziell irrelevante Resultate erzeugten, vielmehr keine
Desensibilisierung der Probanden.310
ANDERSON/BUSHMAN/CARNAGEY 2007 wollten eine evtl. Desensibilisierung der
Probanden über die Kontrolle der Herzfrequenz und des galvanischen Hautwiderstands derselben nach dem Spielen violenter Computerspiele demonstrieren:
[…] Participants were tested individually. […] 5 min baseline HR and GSR measurements were taken
[…]. […] Participants played a randomly assigned violent or nonviolent video game for 20 min. […] we
used four violent games (Carmageddon, Duke Nukem, Mortal Kombat, Future Cop) and four nonviolent
games (Glider Pro, 3D Pinball, 3D Munch Man, Tetra Madness). After game play, a second set of 5-min
HR and GSR measurements were taken. Next, participants watched a 10-min videotape of real violence
in four contexts: courtroom outbursts, police confrontations, shootings, and prison fights. These were
actual violent episodes (not Hollywood reproductions) selected from TV programs and commercially
released films. […] HR and GSR were monitored continuously while they watched the real-life
violence.311
Im Lichte dessen, dass die durchschnittlichen Herzfrequenzen und Hautwiderstände der
Experimentalgruppe zum dritten Messzeitpunkt statistisch signifikant niedriger waren, als die
der Kontrollgruppe, glaubten die Autoren, dass sie als erste eine Desensibilisierung der Spieler
306
307
308
309
310
311
TRUDEWIND/STECKEL 2003, S.265.
Vgl. GEHLEN 2002, S.46.
GEHLEN 2002, S.46.
TRUDEWIND/STECKEL 2003, S.267.
Bzgl. einer kritischen Analyse der Studie s. auch GEHLEN 2002, S.46 und KÜBLER 2003, S.14f..
ANDERSON/CARNAGEY/BUSHMAN 2007, S.492.
66
ggü. realweltlicher Gewalt infolge des Spielens violenter Computerspiele demonstriert hätten.
Ungeachtet klassischer Probleme, wie z.B. dass die Autoren abermals nur Äpfel mit Birnen
verglichen, der unnatürlich kurzen Spielzeiten, wie auch, dass die Studie (anders als die Autoren
behaupten) keine Desensibilisierung ggü. realweltlicher (insb. nicht unmittelbarer), sondern
prinzipiell nur ggü. spezifisch medial bearbeiteten Gewaltdarstellungen312 hätte demonstrieren
können, indizieren die Messwerte kaum oder gar keine Desensibilisierungen: Die durchschnittliche Herzfrequenz der Experimentalgruppe betrug zum ersten Messzeitpunkt 66,4 bpm, zum
zweiten Zeitpunkt 69,3 bpm und zum dritten Zeitpunkt 68,5 bpm. Die durchschnittliche
Herzfrequenz der Kontrollgruppe betrug zum ersten Messzeitpunkt 65,5 bpm, zum zweiten
Zeitpunkt 68,4 bpm und zum dritten Zeitpunkt 70,7 bpm. Die Autoren selbst präsentierten aber
nur ein Diagramm, das weder die exakten Messwerte, noch die Standardabweichungen derselben dokumentierte und das u.a. bereits CASTRANOVA 2006 als statistische Scharlatanerie
kritisierte: Die vertikale Achse präsentierte nur den Abschnitt zwischen 60 und 75 bpm, aber die
Herzfrequenz gesunder Erwachsener im Ruhezustand rangiert tatsächlich bereits durchschnittlich zwischen 50 und 100 bpm, so dass das komplette Diagramm innerhalb der Parameter
normaler menschlicher Herzfrequenzen rangiert, aber gleichzeitig auch substanziell signifikante
Unterschiede zwischen den Messwerten der Baseline und denselben nach dem Spielen der
violenten Spiele suggeriert.
Letztlich sind nicht nur die absoluten Unterschiede zwischen den Höchstwerten der unterschiedlichen Messzeitpunkte innerhalb der Experimental- (2,9 bpm) und der Kontrollgruppe (5,2
bpm), sondern ist auch der Unterschied der finalen Messwerte zwischen den beiden Gruppen
(2,2 bpm) marginal; dgl. gilt für den Hautwiderstand. Ungeachtet der praktischen Irrelevanz der
Forschungsresultate fantasieren die Autoren aber so alarmistisch wie überinterpretierend von
"frightening […] implications" derselben: "The existing rating systems […], the content of
much entertainment media, and the marketing of those media combine to yield a powerful
desensitization intervention on a global level. […] the modern entertainment media landscape
could accurately be described as an effective systematic violence desensitization tool. Whether
modern societies want this to continue is largely a public policy question, not an exclusively
scientific one […]."313 Das kuvriert aber kaum oder gar nicht die medienpolitische Agenda der
Autoren, die ein ähnliches endemisches Problem der Mediengewaltwirkungsforschung darstellt,
wie die Überinterpretation von Forschungsergebnissen.
ARRIAGA/MONTEIRO/ESTEVES 2011 präsentierten den Probanden zur Erfassung der
emotionalen Reaktionen derselben unmittelbar nach Beendigung des Spielens einen Bildersatz
von 32 Bildern des IAPS – "10 unpleasant–violent pictures (e.g., scenes of mutilated and
disfigured bodies, attacking humans, pointed guns […]); 12 neutral pictures (e.g., scenes of
household objects, people, places […]); and 10 pleasant pictures (e.g., scenes of babies,
families, fun […])"314 –, kontrollierten während des Anschauens aber nicht nur die phasische
Komponente des Hautwiderstand (SCR) als vermeintlich objektiven Indikator der Erregung
(resp. der emotionalen Reagibilität), sondern auch die affektive Valenz und Erregung der
Probanden über Selbstangaben derselben: "These subjective ratings were distributed over a 9point pictorial scale. For valence, the ratings ranged from 1 (very sad/unpleasant) to 5 (neutral)
to 9 (very happy/pleasant) affective states. For arousal, the ratings ranged from 1 (very calm/low
arousal) to 9 (very excited/high arousal) affective states."315 Die Autoren interessierte aber nicht
nur eine evtl. Desensibilisierung ggü. Gewaltdarstellungen infolge des Spielens gewaltdarstellender Spiele: "[…] we […] analyze whether the changes in emotional reactions are specifically
triggered by violent stimuli […], or whether they might also occur with stimuli that are usually
perceived as pleasant. [...] Such analyses [...] may fail to provide unequivocal information
regarding emotional desensitization effects [...]. [...] to guarantee that desensitization effects
have occurred, we predict a higher attenuation on emotional responses to violent and pleasant
pictures, relative to neutral ones, for participants who played the VG, as compared to the NVG
312
313
314
315
Vgl. MIKOS 2001a, S.20.
ANDERSON/CARNAGEY/BUSHMAN 2007, S.495.
ARRIAGA/MONTEIRO/ESTEVES 2011, S.1906.
ARRIAGA/MONTEIRO/ESTEVES 2011, S.1907.
67
group. […] We […] computed two indexes to test for attenuation between responses to affective
pictures in relation to responses to neutral pictures. A lower difference between these categories
(violent minus neutral; and pleasant minus neutral) reflects a higher emotional
desensitization."316 Die Unterscheide zwischen der ein violentes Spiel (VG) spielenden
Experimental- und der ein nicht violentes Spiel (NVG) spielenden Kontrollgruppe nach nur 7minütigem(!) Spielen waren aber insg. marginal:
[…] following exposure to the violent pictures, participants felt displeasure (M = 2.44); after exposure to
the neutral pictures, they expressed neutral feelings of valence (M = 5.23); and following exposure to the
pleasant pictures, they felt pleasure (M = 7.36), with statistically significant differences among the three
picture types […]. As predicted, we found a significant interaction between picture type and game
condition […]. We further analyzed the simple main effects within each of the three categories of
pictures, using the confidence intervals adjusted by the Bonferroni procedure. As expected, this analysis
shows no difference between game conditions in the valence ratings for neutral pictures […]. In line with
our predictions, participants in the VG condition also reported less displeasure (or less discomfort) toward
violent pictures (M = 2.91) than did those who played the NVG (M = 1.97) […]. There were also
differences between the games in valence ratings toward pleasant pictures […], indicating that these
pictures elicited less pleasure (M = 7.01) among participants in the VG condition than among participants
in the NVG condition (M = 7.71). […] The difference in valence ratings for violent and neutral pictures
was lower in the VG condition […] than in the NVG condition […]. In a similar direction, the divergence
between pleasant and neutral pictures was lower in the VG condition […] than in the NVG condition
[…]. […] The SCRs were higher when participants viewed violent pictures (M = 0.35), as compared to
neutral pictures (M = 0.24) and pleasant pictures (M = 0.29). [...] the differences in SCRs while
participants viewed neutral and pleasant pictures did not approach significance […]. We further analyzed
the results for the two attenuation indexes (SCRs for violent or pleasant minus SCRs for neutral pictures),
which contributed to clarifying these interactions. […] The mean difference in SCRs toward violent
pictures and neutral pictures […] was smaller for participants who played the VG than for those in the
NVG condition […]. However, the simple main effects for game conditions […], within each of the three
categories of pictures, were not statistically significant […]. We further analyzed the results for the two
attenuation indexes (SCRs for violent or pleasant minus SCRs for neutral pictures), which contributed to
clarifying these interactions. […] The mean difference in SCRs toward violent pictures and neutral
pictures […] was smaller for participants who played the VG than for those in the NVG condition […].
[…] Participants who played the VG reported an overall lower affective arousal (M = 3.84) than did
participants in the NVG condition (M = 4.51), regardless of picture type. The expected interaction
between picture type and game did not approach significance […]. […] the prediction of a higher
attenuation on arousal ratings between violent and neutral pictures for participants in the VG condition
when compared to the NVG condition was not supported. […] participants who played the VG expressed
less arousal to all types of portrayed stimuli, compared to participants in the NVG condition. [...]
perceived arousal was not specific to violent material. […] There was a higher attenuation in physiological arousal between violent and neutral pictures among participants who played the VG, as compared
to those in the control condition. This latter result is in line with the emotional desensitization hypothesis
and may be taken as evidence of less emotional reactivity to violent stimuli caused by previous exposure
to the VG.317
Prinzipiell indizieren die Resultate keine Desensibilisierung speziell ggü. Gewaltdarstellungen.
Aber auch das Indiz für eine generelle Desensibilisierung ist nicht nur im Lichte der marginalen
Differenzen zwischen den hautwiderstandlichen Attenuationsindexwerten für die Experimentalund denen für die Kontrollgruppe substanziell kaum strapazierbar: Die beiden Indexwerte der
Experimentalgruppe waren nur 0,12 ("violent minus neutral") und 0,07 ("pleasant minus
neutral"), resp. insg. 0,19 Hz niedriger als die der Kontrollgruppe (das Messspektrum für die
phasische Komponente des Hautwiderstandes rangiert zwischen 0,05 und 1,5 Hz), ungeachtet
dessen, dass ohne Referenzwerte, wie z.B. des normalen Frequenzspektrums des Hautwiderstandes im Ruhezustand oder der diesbzgl. Werte pathologischer Stichproben die praktische
Relevanz der Resultate nicht diskutierbar ist und sich die Indexwerte zwischen beiden Gruppen
für die affektive Valenz und die Erregung der Probanden nicht statistisch signifikant
voneinander unterschieden.
Das Problem fehlender Eineindeutigkeit psychophysiologischer Desensibilisierungsmaße prägt
auch aktuellere Studien, die eine Desensibilisierung neurobiologisch operationalisieren wollen:
Bspw. hypothetisieren die Autoren der Studie BARTHOLOW/BUSHMAN/SESTIR 2006 u.a.,
dass "desensitization should be reflected in the amplitude of the P300 component of the eventrelated brain potential (ERP). […] The amplitude of the P300 component of the ERP, often
316
317
ARRIAGA/MONTEIRO/ESTEVES 2011, S.1904-1912.
ARRIAGA/MONTEIRO/ESTEVES 2011, S. S.1912-1918.
68
associated with working memory updating […], also has been shown to reflect the extent of
evaluative categorization during processing of affective or emotionally relevant stimuli […].
[…] For example, infrequent negative target images presented in a context of frequently
presented neutral images elicit large P300s […]. It follows, […] that violent images presented in
a context of neutral images should also elicit large P300s. To the extent that an individual is
desensitized to violence […] the P300 elicited by violent images should be reduced. […] to the
extent that a P300 reduction reflects motivational processes associated with desensitization to
violence, the P300 reduction should be restricted to evaluative categorization of violent images
and not to negative images more generally. […] A number of studies have shown that the P300
elicited by negative information reflects activation of the aversive/withdrawal motivational
system […]. Given that aggression is incompatible with withdrawal motivation […], and that
desensitization theoretically weakens the aversive motivation system pertaining to violence
[…], there should be an inverse relationship between P300 amplitudes elicited by violent stimuli
and indices of aggressive behavior."318 I.d.S. erhoben sie den habituellen Konsum ihrer
Probanden von gewaltdarstellenden Computerspielen (à la ANDERSON/DILL 2000; s.o.) und
konfrontierten sie mit Bildersätzen des IAPS. Gleichzeitig wurde per EEG die Komponente
P300 der ereigniskorrelierten Potentiale kontrolliert und infolge ein CRTT praktiziert. De facto
war die Komponente P300 der Experimentalgruppe reduzierter als die der Kontrollgruppe, so
dass die Autoren resümierten, dass eine chronische Mediengewaltexposition "lasting deleterious
effects on brain function and behavior"319 hätte.
Dgl. war auch ein Ergebnis einer ähnlichen Studie von ENGELHARDT/BARTHOLOW/
KERR et al. 2011: "[…] at least for individuals whose prior exposure to video game violence
was low, playing a violent video game caused a reduction in the brain’s response to depictions
of real-life violence, and this reduction […] predicted an increase in aggression. […] the fact
that playing a violent video game increased aggression for both low- and high-exposure
participants, but the P3 response to violence was reduced for high-exposure participants
regardless of the game they played, suggests that additional mechanisms not measured here are
important to consider."320 Tatsächlich ist aber bei beiden Studien weder die Operationalisierung
der unabhängigen Variablen, noch die des aggressiven Verhaltens probat. Insb. ist auch die
Reduzierung der Komponente P300 nicht eineindeutig interpretierbar, muss letztlich keine
Desensibilisierung (im negativen, moralistischen Sinne o.ä.) demonstrieren, sondern kann gem.
BÖSCHE/GESERICH 2007 z.B. auch nur die "Folge einer geringeren Überraschung oder
geringerem benötigtem kognitiven Aufwand zur Verarbeitung des Reizes"321 sein.
Keine Verbesserung stellt auch die Studie von MONTAG/WEBER/TRAUTNER et al. 2012
dar, die habituellen Spielern von Egoshootern und einer Kontrollgruppe von Nichtspielern (des
Genres) Bildersätze des IAPS präsentierten und gleichzeitig ihre Hinraktivität per funktioneller
Magnetresonanztomographie (fMRt) kontrollierten: "[…] gamers showed a significantly lower
activation of the left lateral medial frontal lobe while processing negative emotions. […] Due to
a frequent confrontation with violent scenes, the first-person-shooter-video-gamers might have
habituated to the effects of unpleasant stimuli resulting in lower brain activation. […] the lower
activity of the lateral prefrontal cortex in gamers can be interpreted as a dampening of
experienced empathy elicited by the harm of a third person. […] the lateral prefrontal cortex is
also involved in the evaluation and labeling of emotions […], and therefore serves psychological functions of high importance in social interactions."322 Gem. FERGUSON/ DYCK 2012
sind andere Interpretationen als eine evtl. Desensibilisierung aber plausibler: "[…] decreased
activation of the frontal lobes may simply indicate boredom, whereas some scholars may prematurely conclude such effects represent disinhibition of aggression or desensitization. The
results of brain imaging studies […] may be akin somewhat to Rorschach cards with scholars
318
319
320
321
322
BARTHOLOW/BUSHMAN/SESTIR 2006, S.533.
BARTHOLOW/BUSHMAN/SESTIR 2006, S.538.
ENGELHARDT/BARTHOLOW/KERR et al. 2011, S.1086.
BÖSCHE/GESERICH 2007, S.56 und vgl. HRUBY/MARSALEK 2003.
MONTAG/WEBER/TRAUTNER et al. 2012, S.107-110.
69
seeing in them what they wish to see."323
Kaum plausibler sind auch die Resultate von ANDERSON/BUSHMAN 2009, die eine
Desensibilisierungen der Probanden infolge der Mediengewaltexposition in zwei Experimenten
als nachlassendes Hilfeverhalten derselben operationalisierten und die selbst in der nichtwissenschaftlichen Öffentlichkeit prominent diskutiert wurden. Das erste der beiden Experimente
orientierte sich an klassischeren Experimenten, wie bspw. denen von DRABMAN/THOMAS
1974 oder MOLITOR/HIRSCH 1994:
Participants were 320 college students […]. […] participants played a randomly assigned violent
(Carmageddon, Duke Nukem, Mortal Kombat, Future Cop) or nonviolent (Glider Pro, 3D Pinball, Austin
Powers, Tetra Madness) video game […]. […] After playing the video game for 20 min, participants […]
completed a lengthy bogus questionnaire […]. The […] purpose of the questionnaire was to keep
participants busy while a recording of a staged fight was played outside the lab. Three minutes after the
participant finished playing the video game, the experimenter, who was outside of the lab, played an
audio recording of a staged fight between two actors. The 6-min fight was professionally recorded using
experienced actors. Two parallel versions of the fight involved male actors (used for male participants) or
female actors (used for female participants). […] the […] actors were presumably waiting to do an
experiment. They began by talking about how one stole the other’s girlfriend (male version) or boyfriend
(female version). The discussion quickly deteriorated into a shouting match (as indicated in the following
script from the male version): First actor: ["]You stole her from me. I’m right, and you know it, you
loser.["] Second actor: ["]Loser? If I’m a loser, why am I dating your ex-girlfriend?["] First actor:
["]Okay, that’s it, I don’t have to put up with this shit any longer.["] When the recording reached this
point, the experimenter threw a chair onto the floor, making a loud crash, and kicked the door to the
participant’s room twice. Second actor: [groans in pain] First actor: ["]Ohhhh, did I hurt you?["] Second
actor: ["]It’s my ankle, you bastard. It’s twisted or something.["] First actor: ["]Isn’t that just too bad?["]
Second actor: ["]I can’t even stand up!["] First actor: ["]Don’t look to me for pity.["] Second actor:
["]You could at least help me get off the floor.["] First actor: ["]You’ve gotta be kidding me. Help you?
I’m outta here.["] [slams the door and leaves] At this point, the experimenter pressed the start button on
the stopwatch to time how long it would take for participants to help the […] violence victim. On the
recording, the victim groaned in pain for about 1.5 min. […] The experimenter waited 3 min after the
groans of pain stopped to give participants ample time to help. If the participant left the room to help the
victim, the experimenter pressed the stop button on the stopwatch and then debriefed the participant. If
the participant did not help after 3 min, the experimenter entered the room and said, "Hi, I’m back. Is
everything going all right in here? I just saw someone limping down the hallway. Did something happen
here?" The experimenter recorded whether the participant mentioned hearing the fight outside the room.
Those who reported hearing the fight rated how serious it was on a 10-point scale (1 = not at all serious,
10 = extremely serious). As justification for rating the severity of the fight, the experimenter explained the
rating was required for a formal report that needed to be filed with the campus police. Finally, the
participant was fully debriefed.324
Die Probanden konstatierten ohne relevanten Unterschied (94 % der Experimental- und 99 %
der Kontrollgruppe), dass sie den inszenierten Streit gehört hatten, insg. halfen aber nur 21 %
der Experimental- und 25 % der Kontrollgruppe. Weder die erste (M = 5.91), noch die zweite
Gruppe (M = 6.44) attestierte dem Streit, resp. der Situation des Opfers, besondere Ernsthaftigkeit. Auch der Unterschied von nur 0.51 Skalenpunkten ist nicht nur marginal, sondern entspricht quasi dem Unterschied zwischen Männern (M = 5,92) und Frauen (M = 6,49). Ungeachtet dessen (und fehlender Dokumentationen der Standardabweichungen, wie auch der Effektstärken) alarmierten die Autoren: "Participants who played a violent game took significantly
longer to help, over 450% longer, than participants who played a nonviolent game."325 De facto
benötigte die Experimentalgruppe aber durchschnittlich nur 73,3 Sekunden und die Kontrollgruppe 16,2 Sekunden. Insofern wären bspw. auch immer noch die Fragen der Effektdauer oder
der praktischen Relevanz der Effekte offen, wäre nicht abermals bereits die Operationalisierung
der Mediengewaltexposition nicht probat gewesen. Dgl. gilt auch für das Feldexperiment der
beiden Autoren:
Participants were 162 adult moviegoers. […] A minor emergency was staged just outside theaters that
were showing either a violent movie (e.g. The Ruins, 2008) or a nonviolent movie (e.g. Nim’s Island,
2008). […] Participants had the opportunity to help a young woman with a wrapped ankle who dropped
her crutches just outside the theater and was struggling to retrieve them. […] A researcher hidden from
view timed with a stopwatch how long it took participants to help the confederate. […] The researcher
flipped a coin in advance to determine whether the emergency was staged before or after the showing of a
323
324
325
FERGUSON/DYCK 2012, S.224.
ANDERSON/BUSHMAN 2009, S.275.
ANDERSON/BUSHMAN 2009, S.276.
70
violent or nonviolent movie. Staging the emergency before the movie allowed us to test (and control) the
helpfulness of people attending violent versus nonviolent movies. Staging the emergency after the movie
allowed us to test the hypothesis that viewing violence inhibits helping. The confederate dropped her
crutch […] 9 times in each of the four experimental conditions.326
Die Autoren konstatierten: "[…] participants who had just viewed a violent movie took over 26
% longer to help (M = 6,89 s) than participants in the other three conditions (M = 5,46 s)."327
Ungeachtet dessen, dass die Autoren abermals Äpfel mit Birnen vergleichen, ist der Unterschied
von durchschnittlich nur 1,43 Sekunden(!) zwar de facto statistisch signifikant, aber offensichtlich nicht besonders praktisch relevant; insb. wurde der Verbündeten der Experimentatoren auch
in jedem Fall binnen 11 Sekunden geholfen. Aber die Autoren resümieren dennoch: "In sum,
the present studies clearly demonstrate that violent media exposure can reduce helping behavior
[…]. People exposed to media violence become 'comfortably numb' to the pain and suffering of
others and are consequently less helpful."328 Im Lichte der offensichtlichen Defizite der
Experimente, der marginalen, praktisch irrelevanten Unterschiede zwischen den jeweiligen
Experimental- und den Kontrollgruppen, wie auch der (obligatorischen) Übertreibungen der
Autoren, dürfte "comfortably numb" letztlich vielmehr ein Attribut sein, dass das Resümee der
Autoren selbst oder gar den Stand der Mediengewaltwirkungsforschung insg. charakterisiert.
Nicht überraschend konnten der Vollständigkeit halber letztlich auch qualitative Studien keine
Indizien einer Desensibilisierung der Spieler durch Gewalt darstellende Spiele präsentieren.329
Ungeachtet dessen kursiert seit einigen Jahren der Mythos, dass das Militär seine Soldaten auch
mittels Gewalt darstellender Computerspiele systematisch desensibilisiere und ihnen eine (vermeintlich) natürliche Tötungshemmung abtrainiere; so fragt z.B. Manfred SPITZER: "Und
warum gewöhnt die US-Armee Soldaten mit Hilfe von Computerspielen die Tötungshemmung
ab, wenn das nicht funktionieren würde? Dann würde die Army das nicht machen."330 Und auch
Christian PFEIFFER glaubte: "Wenn die Kinder täglich solche Spiele spielen, reduzieren sie
ihre Empathie nachhaltig. Das macht sich die amerikanische Armee zunutze: In großen,
computerspielähnlichen Kinos probt man den Ernstfall. Mit dem Ergebnis, dass die Soldaten
viel stärker befähigt sind, ohne Hemmungen den Gegner zu töten. Wenn die amerikanische
Armee das gezielt einsetzt, ist es ja wohl absurd zu behaupten, dass das keine Folgen hat!"331
Und in der Sendung HART ABER FAIR vom 11.03.2009 zum Thema "Schule der Angst – was
macht Kinder zu Amokläufern?" behauptete er, dass US-amerikanische Soldaten mit Gewalt
darstellenden Spielen ihre Tötungshemmung von 75 % auf 35 % reduzierten. Dgl. kolportierte
bspw. der Journalist Dagobert LINDLAU am 26.03.2009 in der ZDF-Sendung MAYBRIT
ILLNER, nämlich dass erwiesen sei, "dass ihre Soldaten in bewaffneten Nahkampfsituationen zu
80 % eine Hemmung haben, den anderen niederzuschießen. Nach der Schulung mit solchen
Dingen, die wir unseren Kindern zumuten, sinkt das auf 20 %. Das sind Zahlen, die nicht zu
wiederlegen sind."
Ausgangspunkte solcher Aussagen sind sicherlich die Falschinterpretationen der bestenfalls
populärwissenschaftlichen Publikationen eines ehem. US-amerikanischen Militärpsychologen.
GROSSMAN 1995 argumentierte, dass das US-amerikanische Militär seine Soldaten im
Rahmen des Schießtrainings mittels operanter Konditionierungsmaßnahmen systematisch
desensibilisiere und konstruierte auch direkte Parallelen zwischen solchen militärischen Ausbildungsmethoden und dem Spielen sog. Lightgun-Shooter (quasi den digitalen Pendants von
Schießbuden), kolportierte aber noch nicht, dass das Militär die Soldaten mittels Computerspielen desensibilisiere:
Instead of firing at a bull’s-eye target, the modern soldier fires at man-shaped silhouettes that pop up for
brief periods of time inside a designated firing lane. The soldiers learn that they have only a brief second
326
327
328
329
330
331
ANDERSON/BUSHMAN 2009, S.276.
ANDERSON/BUSHMAN 2009, S.276.
ANDERSON/BUSHMAN 2009, S.277.
Vgl. FRITZ 1997b, S.237f.; LADAS 2002, S.132 und WITTING/ESSER 2003.
Zitiert in: GÜNZEL 2006.
Zitiert in: STEINLECHNER 2009a, S.2.
71
to engage the target, and if they do it properly their behavior is immediately reinforced when the target
falls down. If he knocks down enough targets, the soldier gets a marksmanship badge and usually a threeday pass. After training on rifle ranges in this manner, an automatic, conditioned response called
automaticity sets in, and the soldier then becomes conditioned to respond to the appropriate stimulus in
the desired manner. This process […] is one of the key ingredients in a methodology that has raised the
firing rate from 15 to 20 percent in World War II to 90 to 95 percent in Vietnam.332 […] In video arcades
children stand slack jawed but intent behind machine guns and shoot electronic targets that pop up on the
video screen. When they pull the trigger the weapon rattles in their hand, shots ring out, and if thex hit the
"enemy" they are firing at, it drops to the ground […]. […] video games can […] be superb at teaching
violence – violence packaged in the same format that has more than quadrupled the firing rat of modern
soldiers. […] The kind of games that are very definitely enabling violence are the ones in which you
actually hold a weapon in your hand and fire it at human-shaped targets on the screen.333
Einerseits monierte aber bereits FERGUSON 2010 den Unterschied zwischen wehrpflichtigen,
"poorly trained, nonprofessional WWII soldiers firing primarily the semiautomatic M1 with
limited ammunition, to the modern volunteer, professional, highly trained soldier firing
primarily the fully automatic M16 or M4 […]. Changes in training regarding selecting specific
targets (in WWII) versus using 'blind' suppressing fire (in the modern army) better explain differences in firing rates […]."334 Andererseits orientierte sich der Autor für die Aussagen zu den
Feuerraten der Soldaten im 2. Weltkrieg an den bereits von SPILLER 1988 dekonstruierten
Daten von MARSHALL 1947,335 d.h. nur an einem Mythos damals größerer Tötungshemmung
der Soldaten, so dass die Argumentation insg. nicht verfängt. Letztlich dient das Schießtraining
auch nicht der Desensibilisierung der Soldaten, sondern nur dem korrekten Schusswaffengebrauch. Ungeachtet dessen kolportierten aber auch GROSSMAN/DEGAETANO 2002,336
dass das U.S. Marine Corps das Spiel MARINE DOOM – eine Modifikation des kommerziellen
Spiels DOOM – einsetze, "um Rekruten das Töten beizubringen. […] Die wichtigste Funktion
[…] besteht darin, den Willen zu töten auszubilden, indem der Tötungsakt so oft wiederholt
wird, bis er ganz natürlich wirkt."337 Die Gefahr sei für kommerzielle Computerspiele (insb.
Egoshooter) dieselbe. Die Autoren warnen, "daß […] Kinder durch übermäßigen Konsum von
sinnlosen Gewaltdarstellungen einem systematischen Konditionierungsprozeß unterworfen sind,
der ihre kognitive, emotionale und soziale Entwicklung derart beeinflußt, daß sie das Verlangen
und/oder den konditionierten Reflex entwickeln, sich ohne Reue gewalttätig zu verhalten. […]
Während unsere Kinder immer härtere Gewaltformen verlangen und immer weiter desensibiliert
werden, lernen sie, daß Verletzen Spaß macht, 'natürlich' und richtig ist."338 Tatsächlich
verfangen solche Wirkungspostulate nicht nur im Lichte des Forschungsstandes nicht, sondern
nutzt das US-amerikanische Militär solche Spiele wie MARINE DOOM bspw. (soweit bekannt)
nur für das Erlernen der taktischen Vorgehensweise einer Gruppe in Gefechtsbedingungen.339
Trotzdem bleibt der Mythos virulent und ist gar Ausgangspunkt für noch abenteuerlichere
Mythen, bspw. dass das US-amerikanische Militär die Computerspiele per se (zur
Desensibilisierung) erfunden habe und die heutigen Spiele insg. nur Derivate solcher ursprünglich militärischen Spiele seien;340 der emeritierte bayerische Ministerpräsident Günther
BECKSTEIN (CSU) behauptete bspw. im September 2009 gänzlich falsch: "Das Spiel CounterStrike wurde von der US-Army entwickelt, um die Gewaltschwelle bei den Soldaten herabzusetzen. Derartige Spiele gehören nicht nur zensiert, sondern verboten."341 Letztlich ist
WAGNER 2009 zuzustimmen, der resümierte, "dass die derzeit im Umlauf befindlichen Aussagen zur Reduktion der Tötungshemmung auf Arbeiten basieren, die einer […] wissenschaftlichen Kritik in keiner Weise standhalten können […], die teilweise an den Haaren herbei332
333
334
335
336
337
338
339
340
341
Vgl. GROSSMAN/DEGAETANO 2002, S.87.
GROSSMAN 1995, S.313ff.
Vgl. FERGUSON 2010, S.70.
Für eine Dekonstruktion des auf MARSHALL 1947 basierenden Datenmaterials von Dave GROSSMANN (et al.) s. auch
ENGEN 2008.
Bzgl. der Kritik des Pamphletes s. RHODES 2000, S.1; GEHLEN 2002, S.47; FEIBEL 2004, S.153; HAUSMANNINGER
2005 und FERGUSON 2010, S.70.
GROSSMAN/DEGAETANO 1999, S.91.
GROSSMAN/DEGAETANO 2002, S.61.
Vgl. STAHL 2006, S.117.
Vgl. DITTMAYER 2011.
Zitiert in: BECK 2009.
72
gezogen sind. Es handelt es sich hierbei ganz klar um einen Mythos auf Basis der Medieninkompetenz seiner Verbreiter."342
7.
Die Befunde von Metaanalysen
Ungeachtet der fragwürdigen Operationalisierungen der Mediengewaltexposition und bspw. des
aggressiven Verhaltens, wie auch der ggf. nur substanziell marginalen Differenzen zwischen
Experimental- und Kontrollgruppen und des insg. heterogenen Forschungsstandes, ist ein
weiteres fundamentales Problem speziell der Mediengewaltwirkungsforschung (wie auch z.B.
psychologischer Studien insg.) der geringe Standard vermeintlicher empirischer Belege von
Wirkungszusammenhängen, wie u.a. auch bereits FERGUSON 2010 monierte: "Studies with
statistically significant effects, no matter how small in practical effect, are more likely to be
published than those with null results. Although a problem throughout published research, in an
atmosphere of moral panic, publication bias effects are likely to become greater in magnitude.
This has been demonstrated both through statistical publication bias analyses […] as well as
through examining differences between published and unpublished studies […].343 […]
publication bias and bias more generally are highly likely for research fields with small effect
sizes, small studies, great flexibility in designs, measurement and analysis, and 'hotter' and more
political issues raised, all clear issues for the violent video game field. […] demonstrating
'statistical significance' is not an adequate method for determining the utility of theories in
explaining events […] particularly when increasing sample sizes can make almost any effect
statistically significant. Some researchers […] have cynically encouraged researchers to chase
statistical significance by increasing sample sizes, in tacit acknowledgment that effects are
small. Given that null results are easily dismissed as type-II errors, it is not practically feasible
to falsify psychological theories. Thus a weak theory, such as the causal hypothesis may remain
influential despite frail evidence […]."344 SIMMONS/NELSON/SIMONSOHN 2011 konnten
demonstrieren, dass dank diverser Freiheiten der Forscher – "flexibility in (a) choosing among
dependent variables, (b) choosing sample size, (c) using covariates, and (d) reporting subsets of
experimental conditions"345 – problemlos statistische Signifikanzen für alle möglichen Zusammenhänge generiert werden können, resp. sich die Wahrscheinlichkeit von falsch-positiven
Ergebnissen (Fehler 1. Art) erhöhen kann.
Insofern dürften im Lichte der skizzierten Publikationspraxis der Fachzeitschriften (u.a. auch
i.V.m. dem Problem eines ubiquitären Publikationsdrucks; publish or perish)346 selbst mehr
oder weniger bewusst fahrlässige Forschungsmethoden und gar Manipulationen im Rahmen der
Mediengewaltwirkungsforschung nicht besonders überraschend sein. I.d.S. monierte bereits
FERGUSON 2009: "[…] many of the studies that examine media violence effects employ
multiple dependent variables […] of the same 'aggression' construct. Thus, a number of separate
analyses are conducted, some of which are significant, some of which are not. Seldom are
Bonferoni corrections for multiple analyses applied to the results. To a large degree, these
studies are capitalizing on chance. In the discussion of these studies, the disconfirming results
are seldom mentioned, and focus is placed upon the results that are significant.347 A study can
be reported as 'positive' when in fact the majority of its findings do not support the hypothesis.
[...] researchers beginning with an a-priori hypothesis seem to be 'cherry-picking' results that
support that hypothesis. […] the majority of scientists and laypersons alike do not read these
studies carefully, this point goes largely unnoticed. […] this problem appears to be endemic to
much of the literature and is not limited to a few studies."348 Ungeachtet dessen indiziert die
statistische Signifikanz eines Zusammenhangs aber auch generell keine praktische Relevanz
desselben. Indizieller wären diesbzgl. relative (stichprobenunabhängige) Effekstärkemaße wie
342
343
344
345
346
347
348
WAGNER 2009.
Vgl. FERGUSON 2007a; FERGSUON 2007b und FERGUSON/KILBURN 2009.
FERGUSON 2010, S.74ff..
SIMMONS/ NELSON/SIMONSOHN 2011, S.1360.
Vgl. MICHAELIS 2004, S.18.
Vgl. FERGUSON 2007a, S.472.
FERGUSON 2009, S.108f. und vgl. FERGUSON 2007a, S.472.
73
der Pearsonsche Korrelationskoeffizient r,349 die aber gem. LIND 2010 auch nur statistische
Verfahren sind, "die eine theoretische und praktische Bewertung eines Befunds nicht ersetzen
können."350
Ungeachtet dessen sprechen die in den einzelnen Computerspielgewaltwirkungsstudien ermittelbaren (innerhalb derselben oftmals aber erst gar nicht kalkulierten) Korrelationskoeffizienten
insg. nur für (relativierbar) kleine bis max. mittlere Effekte nach COHEN 1988,351 gem. dem r =
.1 einen kleinen, r = .3 einen mittleren und r = .5 einen starken Effekt indiziert. Dgl. können
auch die entsprechenden Metaanalysen am Beispiel des Zusammenhangs zwischen der Mediengewaltexposition und dem aggressivem Verhalten der Probanden demonstrieren, ungeachtet der
infolge deutlich divergierenden Stimulusmaterials, methodischer Defizite und Unterschiede, wie
auch der Anlage, Zielrichtung und Qualität der Einzelstudien reduzierten Vergleichbarkeit
derselben.352 SHERRY 2001 analysierte 25 zwischen 1975 und 2000 publizierte Studien und
konstatierte insg. nur kleine Effekte (.15): Studien, die aggressives Verhalten per Selbstreport
u./o. (hypothetischer) Verhaltenstendenzen analysierten, konstatieren größere Effekte (.19) als
Studien, die konkretes Verhalten analysierten (.09). Gleichermaßen waren die Effekte für
Korrelationsstudien größer (.16), als für Experimentalstudien (.11). Ähnlich auch ANDERSON/
BUSHMAN 2001, die 33 Studien analysierten und gleichermaßen kleine Effekte (.19) feststellen konnten, aber ungeachtet dessen proklamierten: "[…] these results support the hypothesis
that exposure to violent video games poses a public health threat to children and youths,
including college-age individuals."353
Die Analyse wurde aufgrund des Kardinalfehlers der indifferenten (und unkritisch-affirmativen)
Miteinbeziehung auch methodisch fragwürdig(st)er Studien in die generelle Kalkulation des
arithmetischen Mittelwerts der Effekstärke (ungeachtet der diversen, qualitativ divergierenden
Methoden der Einzelstudien)354 massiv kritisiert.355 Denn bereits KUNCZIK/ZIPFEL 2004
resümierten zeitlos für die Metaanalysen (zur Film- und Fernsehgewaltwirkungsforschung),
"dass schlechte und methodisch problematische Studien in ihrer Aussagekraft nicht dadurch
besser werden, dass man sie in eine Meta-Analyse einbezieht. [...] Das Gesamtergebnis mag
bestimmte Schlussfolgerungen über den Forschungsstand zum untersuchten Thema suggerieren,
viele Artefakte bzw. unzutreffende Befunde addieren sich deshalb aber noch lange nicht zu
einem zutreffenden Ergebnis."356
ANDERSON 2004 reanalysierte i.d.S. 32 Einzelstudien, bzgl. der er z.T. diverse methodische
Defizite identifizierte: "1. Non-violent video game condition contained violence, and there was
no suitable non-violent control condition. 2. Violent video game condition contained little or no
violence. 3. Evidence that the violent and non-violent conditions differed significantly in ways
that could contaminate the conditions, such as the non-violent condition being more (or less)
difficult, boring, or frustrating than the violent condition. 4. A pre-post design was used, but
only the average of the pre- and post-manipulation measures was reported. 5. Each research session involved both a video game player and an observer, but only the average of the player349
350
351
352
353
354
355
356
Vgl. CUMBERBATCH 2004, S.32ff. und FERGUSON 2007a, S.471
LIND 2010, S.3.
Vgl. FERGUSON 2002; OLSON 2004; SAVAGE 2004; FERGUSON 2007a; SCHULZ/BRUNN/DREYER et al. 2007, S.65f.
und FERGUSON 2010. Ein Trend der Mediengewaltwirkungsforschung, der auch bereits die Film- und Fernsehgewaltwirkungsforschung insg. prägt (vgl. ANDISON 1976; WOOD/WANG/CHACHERE 1991; BUSHMAN/ANDERSON 2001;
PAIK/COMSTOCK 1994; SAVAGE/YANCEY 2008 und FERGUSON/KILBURN 2009). Eine prägnante Ausnahme ist die
Querschnittstudie HOPF 2004, die insb. bei der Problemgruppe der Hauptschüler einen Kausalnexus mittlerer Effekte
zwischen einer Mediengewaltexposition und aggressivem Verhalten (.48), resp. großer Effekte zwischen dgl. und dem gewalttätigem Verhalten (.61) derselben konstatiert, "die andere Befunde aus den Sozialwissenschaften weit übertreffen [...]." (S.111)
Dgl. sind auch die Resultate der analogen Längsschnittstudie HOPF/HUBER/WEIß 2008, die mittlere Effekte zwischen einer
Mediengewaltexposition und dem gewalttätigem (.47) und auch dem delinquentem Verhalten (.48) – wie z.B. Automatenaufbrüchen – der Probanden konstatiert,. Beide Studien prägen aber gravierendste methodische Defizite und eine mangelnde
Plausibilität ihrer Resultate, die doppelt bis dreimal so große Effekte konstatieren, wie andere entsprechende Studien. Bzgl.
einer detaillierteren Kritik beider Studien s. EBERS 2009.
Vgl. WOLOCK 2002, S.25; FERGUSON 2007b und SCHULZ/BRUNN/DREYER et al. 2007, S.46.
ANDERSON/BUSHMAN 2001, S.358.
Vgl. KUNCZIK/ZIPFEL 2004, S.288.
Vgl. BLOOM 2002; FERGUSON 2002 und FERGUSON 2007a, S.475.
KUNCZIK/ZIPFEL 2004, S.169f..
74
observer measures was reported. 6. The aggressive behaviour measure was not aggression
against another person […]. […] 9. In a correlational study, the measure of video game
exposure was not specifically tied to violent video games […]. Samples that had none of these
weaknesses were classified as 'best practices' samples, whereas those with at least one weakness
were classified as 'not best practices' samples."357 Der Autor demonstrierte insg. kleine Effekte
(.20). Die dedizierte Analyse beider Kategorien demonstrierte aber größere Effekte der ersteren
(.26) als der letzteren Studienkategorie (.14). Die Metanalyse prägen jedoch nicht nur diverse
methodische Mängel,358 problematisch ist nach KUNCZIK/ZIPFEL 2004 einerseits auch ihre
Intransparenz, da sie nicht dokumentiert, "welche Studien in welche Kategorie fallen. Dies wäre
allerdings nicht zuletzt insofern aufschlussreich, als diverse der einbezogenen Untersuchungen
von Anderson bzw. seinen Koautoren selbst stammen. Diese Untersuchungen werden vermutlich nicht zu den methodisch kritikwürdigen gerechnet worden sein, obwohl sie [...] ebenfalls
als problematisch betrachtet werden müssen."359 Andererseits dürften die ersten drei durch den
Autor der Analyse selbst identifizierten Defizite solche sein, die tatsächlich für das Gros der
analysierten Einzelstudien gelten (insb. hatte zu dem Zeitpunkt noch keine einzige Studie das
violente und das nicht violente Stimulusmaterial probat äquivaliert). Auch hat noch (nach wie
vor) keine Studie i.S.d. sechsten Defizits das aggressive Verhalten der Probanden angemessen
operationalisiert. Letztlich wurde durch den Autor weder eine fehlende Standardisierung der
Operationalisierungen aggressiven Verhaltens als methodisches Defizit aufgeführt, noch ein
evtl. Publikationsbias realisiert, so dass plausibel ist, dass die ermittelten Effekte tendenziell
kleiner sind, als sie die Studie darstellt.
FERGUSON 2007a konstatierte i.d.S. für fünf Experimentalstudien kleine Effekte (.29). Eine
Korrektur des skizzierten Publikationsbias demonstrierte aber wesentlich kleinere Effekte (.15).
Gleichermaßen demonstrierte die Analyse der neun Korrelationsstudien insg. kleine (.15) und
nach einer Korrektur wesentlich kleinere Effekte (.06). FERGUSON 2007b analysierte 17
zwischen 1995 und 2007 publizierte Studien und konstatierte insg. gleichermaßen kleine (.14)
und nach einer Korrektur wesentlich kleinere Effekte (.04). Diesbzgl. konsistente Ergebnisse
präsentierten auch FERGUSON/KILBURN 2009, die insg. 22 zwischen 1998 und 2008
publizierte Mediengewaltwirkungstudien analysierten und die für die 15 Studien, die eine evtl.
Wirkung violenter Computerspiele untersucht hatten, insg. kleine (.15) und nach einer Korrektur wesentlich kleinere Effekte (.05) konstatieren konnten. Die Resultate der Analyse sind
aber auch insg. interessant:
Only experimental studies with "proxy" measures of aggression did not experience any publication bias.
[…] Results suggested that the [...] effect for exposure to media violence on subsequent aggression was r+
= .08. […] Uncorrected results are also [...] weak (ru = .14), yet these results appear to have been inflated
by publication bias, thus giving us confidence that the r+ = .08 figure is more accurate. Results also
support that outcome varies widely in the methodology used. […] 1) Aggression measures that were
unstandardized/unreliable produced the highest effects (r+ = .24); effect sizes for measures that were
reliable were much lower r+ = .08; 2) [...] aggression measures with poor validity data produced higher
effect sizes (r+ =.09) than did those with good validity data (r+ = .05); 3) "Proxy" measures of aggression,
that did not make use of directly aggressive or violent behaviors, produced the highest effect sizes (r+ =
.25), with effect sizes for aggressive behavior toward another person (r+ = .08) and violent behavior (r+ =
.02), considerably lower; and 4) Research designs that controlled for "third" variables tended to produce
lower effect sizes (r+ = .08) than did those that failed to control adequately for "third" variables (r+ = .09).
[...] Much higher effect sizes were found for experimental designs than for either correlational or
longitudinal designs. Unfortunately, experimental designs are greatly impaired by their consistent use of
poor aggression measures. Slightly larger effects were seen for children than for adults. Studies of
"mixed" media produced slightly larger effects than did those for video games or television.360
Die aktuellste Analyse, ANDERSON/SHIBUYA/IHORI et al. 2010, die insg. 140 Korrelationskoeffizienten analysierte, konstatierte insg. auch kleine Effekte (.18). Nach einer detaillierteren
Analyse demonstrierten die Autoren gleichermaßen kleine Effekte für die 45 experimentellen
(.18), die 81 querschnittlichen (.18) und die 14 längsschnittlichen Koeffizienten (.19). Die
357
358
359
360
ANDERSON 2004, S.116.
Bzgl. einer detaillierten Kritik s. auch CUMBERBATCH 2004, S.33; OLSON 2004, S.147f. und FERGUSON 2010, S.73.
KUNCZIK/ZIPFEL 2004, S.237.
FERGUSON/KILBURN 2009, S.760ff..
75
Effektstärken wurden in zwei weitere Subkategorien differenziert: Eine, "labeled the 'best raw'
data set, consisted of all best practices studies with effects in their rawest form. The other,
labeled the 'best partials' data set, contained only effects that had been corrected for sex, either
by separate estimates for males and females or by use of partial correlations. For longitudinal
studies, the best raw data set contained the correlations between Time 1 VGV exposure and
Time 2 outcomes. For the best partials data set, the effect sizes were partial correlations with
both sex and Time 1 outcomes partialed out. The main analyses and all of the moderator
analyses were carried out on the best partials data set. [...] results from the best partials data set
are very conservative estimates and may well underestimate the true video game effects.
However, comparing these effects to the corresponding best raw effects gives another indication
of the strength (or weakness) of the overall effects of violent video games."361 Für die 79 Koeffizienten des "'best raw' data set" konstatierten sie i.d.S. aber auch insg. nur kleine Effekte (.24).
Eine detailliertere Analyse demonstrierte gleichermaßen kleine Effekte der 27 experimentellen
(.21), der 40 querschnittlichen (.26) und der 12 längsschnittlichen Koeffizienten (.20). Für die
75 Koeffizienten des "'best partial' data set" konstatierten die Autoren wesentlich kleinere
Effekte (.15). Die detailliertere Analyse demonstrierte gleichermaßen kleine Effekte der 27
experimentellen (.21), der 36 querschnittlichen (.17) und der 12 längsschnittlichen Koeffizienten (.07).
Die Analyse repliziert aber u.a. ein Gros der bereits ggü. ANDERSON 2004 kritisierten
Defizite. Massive Kritik formulierten i.d.S. FERGUSON/KILBURN 2010,362 bspw. dass eine
fehlende Standardisierung der Operationalisierung aggressiven Verhaltens abermals nicht als
methodisches Defizit realisiert wurde, dass eine Kategorisierung der Studien als "best practices
studies" hätte negieren müssen; "the best practices-nominated studies are populated with
manuscripts in which unstandardized assessments were used. This fact, rather than the quality of
those reports, probably explains why the effect sizes seen for this group or paper were higher
than those for other papers."363 Gleichermaßen klassifizierte die Metaanalyse diverse Studien
auch entg. der eigenen Kriterien als "best practices studies". Ungeachtet dessen moniert das
Autorenduo, dass die Autoren der Analyse das nur bivariate "'best raw' data set" präferierten
und dass selbst das adäquatere "'best partial' data set" relevante Drittvariablen ignoriert:
"The r = .15 estimate includes only basic controls […]. Our own research suggests that when other risk
factors (e.g., depression, peers, family) are controlled, video game effects drop to near zero […]. […]
focusing on bivariate correlations is problematic, as they overestimate relationships due to third variables.
Males both play more VVGs and are more aggressive than females. [...] aggression will tend to correlate
with VVGs and with any other male-dominated activity, such as growing beards, dating women, and
wearing pants rather than dresses. […] It is obvious that controlling other important risk factors related to
personality, family, and even genes (if one could) would further reduce the unique predictive value of
VVGs. Anderson et al. ignored this third variable effect, although it has been well known for some
time."364
Letztlich identifizieren sie auch einen Publikationsbias und kritisieren ebenfalls die
Selbstreferenzialität der Datenerhebung: "[…] from only a small group of researchers, albeit
those who differ from Anderson et al. in perspective, a considerable number of published, inpress, and unpublished studies were missed. One can only speculate at the number of other
missed studies from unknown authors. […] when examining the appendix of included studies,
one finds that unpublished studies from Anderson et al.’s research group and colleagues are well
represented. For example, of two unpublished studies, both are from Anderson et al.’s broader
research group. Of three in-press manuscripts included, two (67 %) are from the Anderson et al.
group. Of conference presentations included, 9 of 12 (75 %) are from the Anderson et al. group
and colleagues. Whatever techniques used by Anderson et al. to garner unpublished studies,
361
362
363
364
ANDERSON/SHIBUYA/IHORI et al. 2010, S.10.
Bzgl. einer Kritik s. auch auch FERGUSON 2010, S.73f.. FERGUSON et al. kritisieren und dekonstruieren seit Jahren insb.
auch die Studien des Zitationszirkels von ANDERSON et al.; nicht überraschend ist i.d.S., dass die Analyse ANDERSON/
SHIBUYA/IHORI et al. 2010 eine relativ unstrapazierbare Generalkritik der konkurrierenden Metaanalysen einleitet und die
Analyse von FERGUSON/KILBURN 2010 eine direkte Apologie (insb. auch ad hominem) des Zitationszirkels provozierte,
wie z.B. ANDERSON/BUSHMAN/ROTHSTEIN 2010 und HUESMAN 2010, die aber die Kritik des Autorenduos nicht
relativieren konnte.
FERGUSON/KILBURN 2010, S.183f..; vgl. FERGUSON 2007a; FERGUSON 2007b und FERGUSON/KILBURN 2009.
FERGUSON/KILBURN 2010, S.177.
76
these techniques worked very well for their own unpublished studies but poorly for those from
other groups."365 Insg. konnte i.d.S. auch die aktuellste Metaanalyse keine (praktisch relevanten)
Belege eines mediengewaltinduzierten aggressiven Verhaltens präsentieren, ungeachtet der
divergierenden Postulate ihrer Autoren.
BUSHMAN/ANDERSON 2001 analysierten die entsprechenden, seit 1975 im Rahmen der
Mediengewaltwirkungsstudien insg. dokumentierten Korrelationskoeffizienten in vierjährigen
Intervallen und konstatierten für die Studien der Periode von 1975 bis 1990 durchschnittlich
kleine (.13), bzgl. der Periode von 1990 bis 1995 marginal größere (.14) und seit 1995 –
ungeachtet einer in Relation signifikanten Vergrößerung derselben – gleichermaßen kleine
Effekte (.20): Experimentelle Studien demonstrierten seit 1975 relativ konstant durchschnittlich
kleine Effekte (.24). Nicht experimentelle Studien demonstrierten auch bis 1995 relativ konstant
kleine(re) Effekte (.10) und seit 1995, ungeachtet einer abermals signifikanten Vergrößerung,
gleichermaßen kleine Effekte (.18).366 Dgl. waren auch die Ergebnisse von SHERRY 2001, der
zwischen den Publikationsjahren und den demonstrierten Effektstärken mittlere Effekte (.39) in
Richtung einer Vergrößerung der Effektstärken seit 1995 demonstrierte. Er argumentierte, dass
das evtl. das Resultat einer vermeintlich (kontinuierend) realistischeren, auch (insb. im Lichte
genereller technischer Progression) detaillierteren und ggf. expliziteren graphischen Gewaltdarstellung, d.h. eines Brutalisierungsprozesses für die Computerspiele sein könnte. Konträre
Resultate präsentiert aber FERGUSON 2007a: "[…] there was no evidence that year the study
was published (r = -.14) was a moderator variable in this analysis. Although video games are
getting more graphically violent […] this development in the gaming industry does not seem to
be producing greater effects in regards to aggressive behavior. Interestingly [...] year of the
study and the use of 'best practices'367 were negatively related (r = -.32), with more recent
studies tending to use measures with decreasing standardization. This is an unfortunate trend in
the literature."368 Prägnant ist aber auch ein bereits im Rahmen der Film- und Fernsehgewaltwirkungsforschung identifizierbarer Trend,369 dass die ermittelbaren Zusammenhänge zwischen
der Mediengewaltexposition der Probanden einerseits und z.B. ihrem aggressivem Verhalten
andererseits umso kleiner sind, je geringer die methodischen Defizite der Studien sind.
Zusammengefasst sprechen sich die Autoren von vier der sieben Metaanalysen explizit gegen
eine praktische Relevanz der Effekte aus, aber auch die drei anderen Analysen des Autorenkollektivs von ANDERSON et al. haben ungeachtet der Postulate der Autoren nur das Potenzial
(dem generellen Trend der Einzelstudien folgend) höchstens kleine oder gar keine Effekte
demonstrieren zu können. Insg. sind die Effekte auch zu klein, um praktisch relevant zu sein,
selbst wenn sie das Resultat methodologisch perfekter Studien und valider Aggressionsmaße
wären.370 Gem. KUNCZIK 2000 ist es letztlich auch eine Konvention, Effekte, "deren Stärke
geringer als 0,2 ist, als unbedeutend und uninterpretierbar nicht weiter zu beachten."371 Insofern
resümierte auch FERGUSON 2010 diplomatisch: "Thus the debate on video game violence has
been reduced to whether video game violence produces no effects… or almost no effects."372
365
366
367
368
369
370
371
372
FERGUSON/KILBURN 2010, S.175.
Vgl. GENTILE/ANDERSON 2003.
Die einzige notwendige Bedingung für die Kategorisierung einer Studie als "best practices"-Studie war im Lichte der
evidenten Defizite unstandardisierter Operationalisierungen aggressiven Verhaltens die folgende: "A measure of aggression
was considered to be consistent with 'best practices' if it reported an adequate […] level of reliability and was used in a
standardized way consistent with the literature on the development of the instrument. Instruments for which reliability was not
reported for the observed sample, or which were used in an unstandardized way across studies (as in the case of the TCRTT)
were considered inconsistent with 'best practices.' Of the 40 individual measurements examined (across studies) only 15 (38%)
provided evidence for the reliability of their measures in their study." (S.478f.)
FERGUSON 2007a, S.479f..
Vgl. KUNCZIK 1988, S.85; SACHER 1993, S.322; SACHER 1994, S.7; MERTEN 1999, S.11/159; DRINCK/
EHRENSPECK/HACKENBERG et al. 2001, S.6; CUMBERBATCH 2004, S.31 und MICHAELIS 2004, S.3-9.
Vgl. GAUNTLETT 1995; FERGUSON 2002; FREEDMAN 2002; FRITZ/FEHR 2003, S.50; CUMBERBATCH 2004, S.31f.;
OLSON 2004; SAVAGE 2004; GOLDSTEIN 2005, S.350; SHERRY 2007; FERGUSON 2010.
KUNCZIK 2000, S.30.
FERGUSON 2010, S.74 und vgl. FREEDMAN 2002.
77
8.
Die Frage der praktischen Relevanz der Mediengewaltwirkungen
Besonders proaktive Forscher realisieren zwar die Problematik, dass die Korrelationskoeffizienten nach gängiger Praxis tendenziell nur als klein und unbedeutend interpretiert werden
können, BUSHMAN/ROTHSTEIN/ANDERSON 2010 plädieren im Lichte dessen aber für eine
Rekonzeptualisierung der Effekstärkenkonvention, "in which r = .1 is small, r = .2 is medium,
and r = .3 is large." Resp. "[…] a reconceptualization […] in which r = .07 is small, r = .22 is
medium, and r = .41 is large."373 Ungachtet der Problematik, dass der prozentuale Anteil aufgeklärter Varianz so oder so mehr oder weniger irrelevant ist und selbst mittlere u./o. hohe Korrelationskoeffizienten nicht auch eine (besondere) theoretische und praktische Relevanz der
Befunde indizieren, würde dass der Forschung der Autoren (insb. in einem bspw. pauschal an
der Demonstration von – u.U. mittleren u./o. großen – Effekstärken orentiertem Metier) natürlich eine Bedeutung verschaffen, die sie im Lichte konventioneller Interpretationen derselben
nicht hat.
ANDERSON/SHIBUYA/IHORI et al. 2010 argumentieren aber korrekt, dass selbstverständlich auch kleine Effektstärken u.U. praktisch relevant sein können: "When effects
accumulate across time, or when large portions of the population are exposed to the risk factor,
or when consequences are severe, statistically small effects become much more important […].
All three of these conditions apply to violent video game effects."374 Ungeachtet dessen, dass
ohne eine zeitliche Akkumulation von Wirkungseffekten u./o. eine hinreichende Ernsthaftigkeit
derselben die Frage nach dem Risikoexpositionsgrad der Bevölkerung prinzipiell unerheblich
ist, konnte einerseits noch gar keine (strapazierbare) zeitliche Akkumulation von Wirkungseffekten demonstriert werden: Tatsächlich konstatiert nicht nur die Metaanalyse der Autoren
selbst für Längsschnittstudien (die bereits ohne mehr oder weniger robuste Belege kurzfristiger
Wirkungseffekte von Mediengewaltdarstellungen noch gar nicht angemessen sein dürften)375 die
kleinsten (resp. gar keine) Effekte,376 sondern sind auch die Resultate der entsprechenden
Studien insg. sehr heterogen.377 Auch erodieren i.S.d. bereits thematisierten und für Längsschnittstudien besonders problematischen Drittvariablenproblematik (je länger der Analysezeitraum ist, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass gar nicht oder nicht hinreichend kontrollierte, intervenierende Störfaktoren die Analyse verzerren)378 letztlich die Zusammenhänge
zwischen den Mediengewaltexpositionen und den (vermeintlichen) Wirkungen derselben auf
die Probanden, je mehr der und insb. je probater die relevanten Drittvariablen durch die
Forscher kontrolliert wurden.379 Andererseits konnte die Forschung selbst ungeachtet aller ihrer
theoretischen, wie auch methodischen Probleme noch gar keine besonders problematische
Wirkung violenter Computerspiele demonstrieren (s.u.).
Eine praktische Relevanz auch kleiner Korrelationskoeffizienten soll letztlich über Analogien
demonstriert werden. Bspw. behaupteten BUSHMAN/ANDERSON 2001 u.a., dass der im
373
374
375
376
377
378
379
BUSHMAN/ROTHSTEIN/ANDERSON 2010, S.185.
Vgl. ANDERSON/SHIBUYA/IHORI et al. 2010, S.170. Auch im Rahmen sog. Risikogruppenansätze wird argumentiert, dass
das Risiko mediengewaltinduzierter Aggressionen für das Gros der Rezipienten irrelevant ist, aber für bereits ggü. aggressivem Verhalten dispositionierte Rezipienten (insb. im Lichte der Lerntheorie) i.S.e. Aggressionssteigerung relevant sein
könnte (vgl. BOHRMANN 1997, S.185; KUNCZIK 1998, S.172/273ff.; FUNK/HAGAN/SCHIMMING et al. 2002, S.142;
GENTILE/ANDERSON 2003, S.145; KUNCZIK/ZIPFEL 2006, S.320ff. und FERGUSON 2007b, S.314f.); z.B. argumentiert
KUNCZIK 2000, "dass eine im Schnitt recht schwache Beziehung für alle Probanden eines Samples für einige Probanden
bzw. Subpopulationen eine durchaus starke Beziehung bedeuten kann." (S.30) Bis dato sind das aber nur Spekulationen:
Ungeachtet der generellen Defizite der Mediengewaltwirkungsforschung wurde weder die Mediengewaltwirkung auf evtl.
Risikogruppen systematisch analysiert, noch sind die diesbzgl. Resultate kohärent (vgl. FERGUSON/OLSON 2013). Auch ist
insg. kaum oder gar nicht wahrscheinlich, dass die insg. (relativierbar) kleinen Effekte für einige (nicht pathologische)
Probanden bzw. Subpopulationen essentiell größere, resp. gar große Effekte sein könnten.
Vgl. FRINDTE/OBWEXER 2003.
Vgl. FERGUSON/KILBURN 2010, S.177.
Vgl. SLATER/HENRY/SWAIM/ANDERSON 2003; GENTILE/WALSH/ELLISON/FOX/CAMERON 2004; KRAHÈ/
MÖLLER 2004; WILLIAMS/SKORIC 2005; MÖLLER 2006; SALISCH/OPPL/KRISTEN 2007; ANDERSON/
SAKAMOTO/GENTILE et al. 2008; MÖLLER/KRAHÈ 2009; HOPF/HUBER/WEIß 2008; KRAHÈ/MÖLLER 2010;
STAUDE-MÜLLER 2010; SALISCH/ VOGELSANG/KRISTEN et al. 2011 und WILLOUGHBY/ADACHI/GOOD 2011.
Vgl. KUNCZIK/ZIPFEL 2004, S.179.
Vgl. FERGUSON 2011 und FERGUSON/MIGUEL/GARZA et al. 2011.
78
Rahmen der Mediengewaltwirkungsforschung demonstrierte Zusammenhang zwischen der
Mediengewaltexposition der Probanden und ihrem aggressivem Verhalten so groß wie oder gar
noch größer als der zwischen (aktivem) Rauchen und Lungenkrebs seien. Eine besonders
virulente Analogie,380 die aber bereits FERGUSON/KILBURN 2009 dekonstruieren konnten:
By the most liberal estimates available (r2 = .02 compared with r2 = .16 for smoking/lung cancer), the effects seen for smoking and lung cancer at are least [sic] 8-times stronger than for media violence
exposure. By using the more conservative figures of r = .9 for smoking and lung cancer and r = .08 for
media violence exposure, that number is closer to 135-times stronger. To put this in context for violent
behavior, the effect size for other variables related to violence include genetics (r = .75), personal selfcontrol and criminal opportunity (r = .58), poverty, (r = .25), and exposure to childhood physical abuse (r
= .25). […] Bushman and Anderson calculate the effect size for smoking and lung cancer as
approximately r = .4 on the basis of binomial effect size display-related effect size calculations. These
types of calculation are controversial, because some authors argue that they grossly underestimate effect
sizes. [...] Bushman and Anderson also calculate effect sizes r for other medical effects such as passive
smoking and lung cancer, condom use and HIV infections, asbestos exposure and laryngeal cancer, [...]
all of which they calculate as less than the effects [...] for media violence. Unfortunately they fail to make
clear that they are attempting to convert odds ratios and relative risks into Pearson r effect sizes, which is
considered invalid.381 A related issue is that comparing psychological research to clinical research may be
problematic because of concerns about the validity of outcome data. To the extent that clinical research
uses mortality or morbidity as outcome (eg, smoking research), few problems with the validity of the
outcome are apparent. [...] aggression measures used in media violence research have historically been
criticized for validity problems associated with generalizing effects to real-world violence.382 Bushman
and Anderson’s figure of r = .4 would suggest that 16% of the variance in lung cancer can be attributed to
smoking; however, the American Cancer Society places this figure at 87%, closer to the calculations of
Block and Crain of an effect size of approximately r = .9. In comparing media violence effects with those
of smoking and lung cancer, Bushman and Anderson […] use an effect size for media violence research
calculated by Paik and Comstock of r = .31 for media violence and aggression. [...] there are several
apparent problems with the use of this statistic. [...] no other metaanalysis of media violence effects finds
effects this large. It is unknown why Bushman and Anderson ignore their own lower effect size results in
favor of that of Paik and Comstock. Because Paik and Comstock appear not to have weighted the effect
sizes in their analysis according to sample size, it is likely that their result is inflated; they also noted that
the effect size results were highly dependent on the type of measure used. Higher effects were found for
"proxy" measures of aggression and much smaller results for actual physical aggression and violent
crime. The effect size for media violence on violent crime was a much lower r = .1. This observation
relates back to the observation that the validity of aggression measures is important to consider when
measuring the effect size of media violence research. Thus the comparison between media effects and
smoking research appears to have been grossly over inflated, possibly because of ideological factors.383
Dennoch ist die Analogie ein populärer moderner Mythos diverser Medienkritiker,384 der nicht
nur eine akute Gefahrensituation suggeriert, die prinzipiell eine legislatorische Intervention
verlangt, sondern u.U, auch gleichermaßen alarmierende, wie konspirative Konnotationen hervorrufen soll. Bspw. behaupteten u.a. GROSSMAN/DEGAETANO 2002: "Wie bei Tabak und
industrieller Umweltverschmutzung befasst sich die Gewaltindustrie systematisch mit einer
verfälschten Darstellung der Auswirkungen ihrer Erzeugnisse."385 I.d.S. wird auch oftmals
behauptet, dass (alle) Studien, die konträre oder gar keine negativen Effekte finden können, wie
auch bspw. Studien, die die evidenten (endemischen) Defizite der Mediengewaltwirkungsforschung kritisieren, von einer "Gewaltindustrie" gekauft seien,386 wie das ähnlich z.B. auch im
Rahmen der "Abwehrschlachten"387 der Zigarettenindustrie in den 1960er und ’70ern z.T. der
380
381
382
383
384
385
386
387
Bzgl. ähnlicher Analogien s. auch ANDERSON/BERKOWITZ/DONNERSTEIN et al. 2003; SPITZER 2005b, S.271f.;
SPITZER 2006b und FULD/MULLIGAN/ALTMANN et al. 2009, S.1497.
Vgl. BLOCK/CRAIN 2007 und FERGUSON 2009, S.113. Diesbzgl. a.A. sind aber bspw. (nicht überraschend) BUSHMAN/
ANDERSON 2007, wie auch BONETT 2007.
Vgl. KUNCZIK 2005, S.41 und FERGUSON 2009, S.113/117f..
FERGUSON/KILBURN 2009, S.762; vgl. FERGUSON 2002, S.446; BLOCK/CRAIN 2007; FERGUSON 2009, S.112 und
FERGUSON 2010, S.74.
Vgl. BUSHMAN/HUESMANN 2001; LUKESCH/BAUER/EISENHAUER et al. 2004; SPITZER 2005a, S.35 und SPITZER
2006b.
GROSSMAN/DEGAETANO 2002, S.14.
Vgl. WEIß 1997, S.96; GROSSMAN/DEGAETANO 2002, S.14/36; LUKESCH 2002b; LUKESCH 2005, S.76; ANDERSON
2004, S.115; SPITZER 2005, S.256 und SCHIFFER 2008. Natürlich dient das auch einer Selbstinszenierung; ungewollt
humoresk ist bspw., dass sich Christian PFEIFFER, Direktor des KFN und einer der berüchtigsten deutschen Mediengewaltkritiker der letzten Jahre – der natürlich auch an den skizzierten Mythos glaubt (vgl. BT-Wortprotokoll Nr. 16/10 d. UA Neue
Medien, S.8) – selbst in einer ähnlichen Rolle wie die ersten Wissenschaftler sieht, "die behauptet haben, dass Rauchen
gefährlich sei. Die mussten anfangs auch Spießruten laufen, wurden von Kollegen und Medien angegriffen und setzten sich
letztlich durch. Das wird hier ganz ähnlich laufen. Und ich bin mir da so sicher, weil wir nicht Meinungen, sondern
Erkenntnisse produzieren – gut gemachte Wissenschaft setzt sich durch." (zitiert in: HERDE/SCHULTES 2008)
IMBUSCH 2007.
79
Fall war. Letztlich dürften kleine Korrelationskoeffizienten im Rahmen der Mediengewaltwirkungsforschung aber tatsächlich auch nur eine kleine, ggf. relativierbare praktische Relevanz
indizieren.388
Ungeachtet dessen indizieren selbst mittlere oder gar starke Korrelationskoeffizienten noch
nicht automatisch auch die substanzielle Relevanz eines Zusammenhangs zwischen Mediengewaltexpositionen einerseits und z.B. einer Erregung, aggressivem Verhalten, aggressiven
Gedanken und Emotionen, wie auch einer Desensibilisierung andererseits. Für Korrelationsstudien wurde bereits die Drittvariablenproblematik thematisiert, wie auch die der offenen Frage
der Wirkrichtung. Aber auch im Rahmen von Experimentalstudien sind die Resultate nicht
immer eindeutig interpretierbar, regelmäßig fehlen nämlich selbst Baselinemessungen der abhängigen Variablen (i.d.R. unbegründet, z.T. werden aber – außer ggü. Erregungseffekten – die
reaktiven Effekte moniert, die die Messungen u.U. provozieren),389 so dass evtl. Unterschiede
zwischen der Experimental- und der Kontrollgruppe am Ende eines Experiments bspw. auch nur
das Resultat der bereits a priori signifikanten Unterschiede zwischen den beiden Gruppen u./o.
auch ggf. des Umstands sein könnten, dass die nicht violenten Computerspiele Aggressionen,
aggressive Kognitionen und Emotionen, wie auch die allg. Erregungen der Probanden
(intensiver) inhibieren und ggü. Gewaltdarstellungen (intensiver) sensibilisieren als violente
Computerspiele.390
I.d.S. konnten bspw. VALADEZ/FERGUSON 2012 demonstrieren, dass die (mittels der SHS)
kontrolliere Feindseligkeit der Probanden der Experimentalgruppe nach dem 45-minütigen
Spielen größer (M = 74.3, SD = 23.0) als die der Kontrollgruppe (M = 66.4, SD = 7.81) war,
aber auch, dass die Feindseligkeit ersterer vor dem Spielen geringer (M = 80.0, SD = 23.1) als
die letzterer (M = 91.6, SD = 20.4) war und sich insg. infolge des Spielens ungeachtet der
Spielkonditionen reduzierte (ungeachtet dessen, dass die SHS nur einen Wert zwischen 35 und
175 annehmen kann und die Unterschiede zwischen den Gruppen zwar statistisch signifikant
sind, aber insg. keiner der ermittelten Werte eine problematische Feindseligkeit indiziert): "It
may be that previous experimental results, failing to include pre-post designs, mistakenly
ascribed differentials in a reduction in hostility to a hostility increase."391 Aber selbst insofern
demonstriert werden würde, dass Gewaltdarstellungen ggü. der Baseline u./o. der Kontrollgruppe tatsächlich das aggressive Verhalten, die aggressiven Gedanken und Emotionen, wie auch die
Erregung der Probanden erhöhen und sie affektiv, wie kognitiv desensibilisieren, fehlten einerseits größtenteils nach wie vor (klinische) Schwellenwerte, die für die theoretischen und
praktischen Bewertungen der Befunde notwendig wären, so dass pathologische Wirkungen auch
erst gar nicht identifiziert werden könnten.392 Andererseits fehlten natürlich auch generell solche
Relationswerte, die eine besonders problematische Wirkung violenter Computerspiele ggü.
anderen Aktivitäten wie Kampf- und Mannschaftssportarten oder dem Spielen von Brettspielen, wie auch ggü. Gewaltdarstellungen im Rahmen anderer Mediengattungen (bspw. Printmedien) demonstrieren könnten.393
388
389
390
391
392
393
Vgl. FERGUSON/DYCK 2012.
Vgl. SESTIR/BARTHOLOW 2010, S.936f..
Vgl. BARLETT/BRANCH/RODEHEFFER et al. 2009, S.225.
VALADEZ/FERGUSON 2012, S.615.
Vgl. FERGUSON 2010, S.74f. und FERGUSON/DYCK 2012, S.322f.. Insofern dgl. überhaupt diesbzgl. relevant sein kann,
indizieren aber bspw. auch die Unterschiede zwischen den absoluten Messwerten der Experimental- und Kontrollgruppen,
resp. zwischen den Experimentalgruppen insg. keine besondere praktische Relevanz evtl. Mediengewaltwirkungen. Bspw.
unterscheiden sich die Reaktionszeiten der Gruppen im Rahmen von lexikalischen Entscheidungstests, Lesegeschwindigkeitstests oder dem CRTT i.d.R. nur in ein paar bis ein paar hundert Millisekunden: ANDERSON/DILL 2000 konnten z.B. auch
nur demonstrieren, dass die Probanden der Experimentalgruppe das weiße Rauschen im Rahmen eines CRTT ca. 2 % länger
(M = 681 ms) als die der Kontrollgruppe (M = 665 ms) applizierten. Dieser absolute Unterschied von 16 ms – die Lidschlagdauer des menschlichen Auges dauert vergleichsweise durchschnittlich ca. 150 bis 250 ms (vgl. STERN/WALRATH/
GOLDSTEIN 1984) – indiziert vielmehr, dass die Probanden die Applikationstaste insg. nur schnellstmöglich drückten und
die statistische Signifikanz des Unterschieds u.U. nur ein Resultat der Stichprobengröße (N = 210) war, ungeachtet des
capitalizing on chance im Rahmen der Studie und des Umstandes, dass keiner der Probanden das Basisniveau des weißen
Rauschens von 55 dB variierte und eine solche Lautstärke (im Lichte des Fehlens einer nicht aggressiven Reaktionsalternative)
auch ungeachtet der fehlenden Validität des CRTT kaum eine oder besser gar keine aggressive Intention der Probanden
demonstriert. Bzgl. einer Kritik speziell dieser Studie s. auch CUMBERBATCH 2004, S.31f.; FERGUSON 2007b, S.310;
PORTER/STARCEVIC 2007, S.424 und FERGUSON 2010, S.73.
Vgl. CUMBERBATCH 2004, S.29 und VENUS 2007, S.75ff..
80
Im Lichte des ersten der letzten beiden Probleme ist aber die indifferente Problematisierung
(nicht pathologischen) aggressiven Verhaltens als insg. destruktives Verhalten unangemessen,
wie u.a. auch bereits FERGUSON 2010 (ggü. der diesbzgl. Prämisse des GAM) monierte: "[…]
it is assumed that aggression has no adaptive function and is always pathological and undesirable. This would appear to be naive, and at best is an assumption. In moderate doses,
aggression may very well be adaptive, guiding individuals toward many behaviors approved of
by society including standing up for one’s beliefs, assertiveness, defending others in need,
careers in law enforcement, the military, business, legal affairs, and so forth, sporting activities,
political involvement, debate and discourse indeed including scientific debate […]. Particularly
as most video game research uses individuals who may be expected to be below average in
aggression, such as college students394 or healthy children, we should be wary of regression to
the mean effects. In the absence of clinical cut-offs aggression scores remain difficult to
interpret."395 Dgl. gilt insb. auch für eine Problematisierung affektiver Desensibilisierung, denn
gem. BÖSCHE/GESERICH 2007 ist es zumindest für z.B. professionelle Helfer wie Polizisten
vorteilhaft, "wenn sie nicht panikartig auf die Begegnung mit Gewaltopfern reagieren und gelassen und mit 'ruhigem Kopf' in aggressiven Situationen agieren können."396
Für die theoretischen und praktischen Bewertungen der Befunde ist im Rahmen von
Experimentalstudien u.U. letztlich auch die Frage nach der zeitlichen Konsistenz der Mediengewaltwirkungen relevant. Ungeachtet dessen, dass Experimente naturgemäß nur kurzfristige
Wirkungen mehr oder weniger unmittelbar nach dem Spielen der violenten Spiele messen können, dieselben aber oftmals unzulässigerweise als Belege langfristiger Wirkungen interpretiert
werden, haben bis dato noch kaum Studien die Kurzfristigkeit der Wirkungen quantifiziert. Erst
BARLETT/BRANCH/RODEHEFFER et al. 2009 kontrollieren im Rahmen eines ersten
Experiments die aggressiven Gedanken der Probanden (per Wortergänzungstest), wie die aggressiven Emotionen (per SHS) und die Herzfrequenz derselben vor dem 15-minütigen Spielen
eines violenten (MORTAL KOMBAT: DEADLY ALLIANCE) oder nicht violenten Spiels (HARD
HITTER TENNIS), wie auch entweder unmittelbar nach dem Spielen, nach 4 oder nach 9
Minuten: "Results indicated that those who played a violent video game had a significant increase in aggressive feelings, aggressive thoughts, physiological arousal […] over baseline
compared with those who played a nonviolent game. Also, the time delay analyses revealed the
short-term increases in aggressive thoughts and aggressive feelings last less than 4 min, whereas
heart rate after violent video game play may last more than 4 but less than 9 min."397 Im
Rahmen eines zweiten Experiments sollten die Probanden entweder unmittelbar nach dem
Spielen des violenten Spiels, nach 5 oder nach 10 Minuten das HSP absolvieren: "Results
showed a significant main effect for delay condition […]. Bonferroni corrected pairwise
comparisons showed that those in the 0 min condition […] and the 5 min condition […] had
significantly […] higher scores than those in the 10 min condition […]."398
Auch SESTIR/ BARTHOLOW 2010 kontrollierten einerseits im Rahmen eines ersten
Experiments die aggressiven Gedanken der Probanden (per Wortergänzungstest), wie die aggressiven Emotionen (per SHS) derselben entweder unmittelbar oder 15 Minuten nach dem 30minütigen Spielen eines von zwei violenten (QUAKE III ARENA; UNREAL TOURNAMENT) oder
nicht violenten Spielen (ZUMA; THE NEXT TETRIS), wie auch andererseits in einem mehr oder
weniger identischen zweiten Experiment das aggressive Verhalten der Probanden (per CRTT):
394
395
396
397
398
Tatsächlich basieren die Befunde über die vermeintlich generellen Wirkungen von Mediengewaltdarstellungen größtenteils
nur auf Gelegenheitsstichproben von Studenten und spezieller von Psychologiestudenten (vgl. OLSON 2004, S.147), die aber
für solche Aussagen nicht repräsentativ sind (vgl. HENRICH/HEINE/NORENZAYAN 2010) und regelmäßiger auch einen
Verdacht oder gar ein konkretes Wissen über den Sinn und Zweck der Messungen, Befragungen u./o. Experimente im Rahmen
der Mediengewaltwirkungsforschung haben dürften, so dass sie sich als Probanden für die diesbzgl. Studien ggf. disqualifizieren (vgl. CUMBERBATCH 2004, S.31f.); die Kontrolle evtl. Verdachtsmomente studierter, wie auch nicht studierter
Probanden ist aber nach wie vor insg. eine Ausnahme, so dass ein Gros der Studien und infolge dessen der Forschungsstand
insg. auch i.d.S. systematisch verzerrt sein könnte.
FERGUSON 2010, S.74; vgl. GUGEL 1983, S.12; ROGGE 1999, S.142f.; FERGUSON 2008a, S.4; FERGUSON/BEAVER
2009, S.286f. und Vgl. FERGUSON/DYCK 2012, S.322f..
Vgl. BÖSCHE/GESERICH 2007, S.57.
BARLETT/BRANCH/RODEHEFFER et al. 2009, S.232.
BARLETT/BRANCH/RODEHEFFER et al. 2009, S.233.
81
When outcomes were assessed immediately following game play, participants who had played violent
games displayed increased accessibility of aggressive thoughts and increased hostile affect relative to
participants who had played a nonviolent game […]. [...] when assessment was delayed by 15 min, game
effects were nonexistent. […] delaying assessment led to significant decreases in aggressive outcomes in
the violent game condition and significant increases in the nonviolent game condition. […] As with
measures of aggressive cognition and hostile affect […], assessment of aggressive behavior immediately
following game play showed the typical violent video game effect, with significantly more aggression
displayed by those who played a violent compared to a nonviolent game […]. When assessment was
delayed 15 min […] this difference in aggression disappeared. Most importantly, whereas the delay
significantly changed aggression levels in the predicted directions for both game-play conditions, […]
aggression levels in the no-game control condition were not affected by the delay. […] The fact that
responses in the two gameplay conditions did not differ significantly from responses in the control
condition further suggests that interpretation of the violent game effect depends on the choice of a
comparison group.399
Insofern relativiert auch das die praktische Relevanz der Befunde der Computerspielgewaltwirkungsforschung, denn selbst gem. dem Fall, dass sich die Wahrscheinlichkeit aggressiven
Verhaltens der Spieler tatsächlich infolge des Spielens violenter Spiele erhöhte, wäre dgl. nur
sehr kurzfristig der Fall. Auch wurden bereits negative Zusammenhänge zwischen der Spielzeit
violenter Computerspiele und z.B. der Aggressivität und dem aggressiven Verhalten der
Probanden statistisch demonstriert.400
Ähnliches demonstrierten KRCMAR/LACHLAN 2009 aber auch experimentell, die u.a. die
physische Aggressivität (per BPAQ), die aggressiven Kognitionen (per Wortergänzungstest)
und Emotionen (per SHS), wie auch die Erregung (per Selbstreport) der Probanden einer gar
nicht erst spielenden Kontrollgruppe (als Baseline) und – nach dem Spielen – dgl. der
Probanden der vier Experimentalgruppen kontrollierten, die entweder für 10, 15, 20 oder 30
Minuten ein violentes Spiel (MAX PAYNE) spielen sollten: Die Autoren konnten einen
krummlinigen Zusammenhang zwischen der Spielzeit einerseits und der physischen Aggressivität, den aggressiven Kognitionen und auch der Erregung andererseits identifizieren; d.h. dass
die Experimentalgruppen im Vergleich zur Kontrollgruppe diesbzgl. zwar insg. signifikant
höhere Werte hatten, aber auch, dass die Werte der nur für 10 Minuten spielenden Gruppe insg.
am höchsten und auch noch signifikant höher als die der für 15, 20 und 30 Minuten spielenden
Gruppen waren (resp. dass je länger die Spielzeit war, desto niedriger die Werte wurden). Die
Autoren konnten aber weder zwischen der Kontroll- und den Experimentalgruppen, noch
innerhalb letzterer signifikante Unterschiede für die aggressiven Emotionen der Probanden
identifizieren. Im Lichte dessen, dass die Spieler selbst aber außerhalb des Labors violente
Computerspiele (im Rahmen einzelner Sitzungen) tendenziell länger spielen als nur 10 oder gar
399
400
Vgl. SESTIR/BARTHOLOW 2010, S.936ff.. Langfristigere Wirkungen wollen aber BUSHMAN/GIBSON 2010 demonstriert
haben, die eine Hälfte der eines von drei violenten Spielen (MORTAL KOMBAT VS. DC UNIVERSE; RESISTANCE: FALL OF MAN;
RESIDENT EVIL 5) für 20 Minuten spielenden Probanden der Experimentalgruppe und eine Hälfte der eines von dreien nicht
violenten Spielen (GUITAR HERO; GRAN TURISMO 5; SHAUN WHITE SNOWBOARDING) für dieselbe Zeit spielenden Probanden
der Kontrollgruppe instruierten, über das Spiel zu ruminieren: "'In the next 24 hours, think about your play of the game, and
try to identify ways your game play could improve when you play again.' On returning to the lab the following day,
participants were given 3 min to list what they thought about in the past 24 hr. […] To evaluate the rumination manipulation,
two independent coders computed the percentage of words participants listed about the video game they had played […]. As
expected […] participants in the rumination condition thought more about the video game than did those in the control
condition (M = 56%, SD = 42.7, and M = 37%, SD = 35.7, respectively) […]. Thus, the rumination manipulation was
effective." (S.30) Ungeachtet des tatsächlich aber fragwürdigen Erfolgs der Instruktion sollten die Probanden infolge auch
einen CRTT absolvieren: Die Probanden der Experimentalgruppen waren insg. zwar statistisch signifikant (vermeintlich) aggressiver als die der Kontrollgruppen, die Kontrolle des Probandengeschlechts demonstrierte aber bereits Geschlechtereffekte
zuungunsten der Männer; d.h. einerseits, dass die männlichen Probanden insg. aggressiver waren als die weiblichen Probanden
und andererseits, dass einzig die männlichen Probanden der Experimentalgruppen aggressiver waren als die männlichen
Probanden der Kontrollgruppen, dass aber die weiblichen Probanden der Experimentalgruppen nicht aggressiver waren als die
weiblichen Probanden der Kontrollgruppen. Kontrollierten die Autoren auch evtl. Ruminationseffekte, waren gar nur noch die
ruminierenden Männer der Experimentalgruppe aggressiver als die nicht ruminierenden Männer derselben Gruppe, wie auch
als die Männer der Kontrollgruppe insg.; tatsächlich hatten aber die nicht ruminierenden Männer der Experimentalgruppe die
kleinsten Aggressionswerte aller Männer (ein Befund, der die regulären Befunde von Brad J. BUSHMAN et al. im Rahmen
des CRTT zwar prinzipiell konterkariert, den die Autoren aber – nicht überraschend – ignorieren). Ungeachtet der nicht hinreichenden Operationalisierungen der unabhängigen und abhängigen Variablen, wie auch dessen, dass die Autoren die Korrelationskoeffizienten erst gar nicht kalkurierten, interpretierten sie die Befunde nicht nur als Beleg für eine auch längerfristig
aggressionsinduzierende Wirkung von violenten Computerspielen auf (über die Spiele ruminierende) Männer, sondern
resümieren gar (ohne dass dgl. auch analysiert worden wäre): "Rumination keeps aggressive thoughts, feelings, and behavioral
tendencies active in semantic memory, as predicted by cognitive neoassociation theory […]." (S.31) Ein Paradedebeispiel für
das im Rahmen der Mediengewaltwirkungsforschung ubiquitäre Problem der Überinterpretation.
Vgl. SHERRY 2001, S.424f. und SHERRY 2007.
82
30 Minuten, relativieren auch die skizzierten Befunde die praktische Relevanz evtl. Computerspielgewaltwirkungen.
9.
Zusammenfassung: Aggressiv durch Mediengewalt?
Summa summarum indiziert der Forschungsstand prinzipiell keine aggressionsfördernden
Wirkungen, kein besonderes Gefährdungsmoment von Gewaltdarstellungen in Computerspielen
ggü. Gewaltdarstellungen in anderen Medien, wie auch ggü. nicht violenten Medienhalten.
Selbst gem. dem Fall, dass man der Mediengewaltwirkungsforschung eine theoretisch, wie auch
methodisch bereits hinreichende Untersuchung bspw. der aggressionsfördernden Wirkungen
violenter Computerspiele konzedierte, könnte sie offensichtlich nur marginale und praktisch
insg. irrelevante Wirkungspotenziale derselben demonstrieren. Tatsächlich wurde die Frage
nach den evtl. schädlichen Wirkungen gewaltdarstellender Computerspiele im Lichte der skizzierten (endemischen) Forschungsprobleme der Mediengewaltwirkungsforschung aber auch –
diplomatisch formuliert – noch kaum oder besser gar nicht angemessen untersucht (oder auch
nur formuliert), ungeachtet eines "Forschungsaufwands von industriellem Außmaß"401 innerhalb
der letzten fünf Jahrzehnte und hunderten von Mediengewaltwirkungsstudien, wie auch bereits
CUMBERBATCH 2004 monierte:
Any cursory look at the research field will note that the same problems and the same reservations apply to
research today as thirty years ago. […] Although most studies would seem a quite pointless exercise, an
additional complaint must be that research is very expensive and wastes thousands of hours of
participants’ time. The opportunity cost alone for more interesting studies is considerable. It is far from
easy to detect any obvious improvement in research designs. Measures have changed but perhaps less
often to achieve validity and more to help ensure significant results. […] The real puzzle is that anyone
looking at the research evidence in this field could draw any conclusions about the pattern, let alone argue
with such confidence and even passion that it demonstrates the harm of violence on television, in film and
in video games. […] If one conclusion is possible, it is that the jury is not still out. It’s never been in.
Media violence has been subjected to lynch mob mentality with almost any evidence used to prove
guilt.402
Infolge dessen plädieren Autoren wie SHERRY 2007 bereits (mehr oder weniger) für die Abschaffung der Mediengewaltwirkungsforschung.403 Wie bereits diverse Kritiker der diesbzgl.
Forschung zu recht argumentieren, sind für die evtl. Wirkungen medialer Gewaltdarstellungen –
wie für Medienwirkungen insg. – tendenziell die individuellen Interpretationen und Nutzungsmotive der Rezipienten relevanter als objektive Charakteristika der Medieninhalte selbst.404
I.d.S. ignoriert bspw. GOLDSTEIN 2005 nicht, dass Medieninhalte insg. (also auch Gewaltdarstellungen) natürlich auch das Verhalten, die Kognitionen und Emotionen, wie auch das Erregungsniveau der Rezipienten beeinflussen können (und dgl. ja u.U. auch ein Nutzungsmotiv
derselben ist), präzisiert aber, "there is no evidence that media shape behaviour in ways that
override a person’s own desires and motivations. Can a violent video game make a person
violent? It can if he wants it to. […] people may […] have other goals in mind when they play
violent video games, including trying to improve their score, distraction, emotional and physiological self-regulation, and to have common experiences to share with friends. The media may
affect some people, but not necessarily in ways that media violence researchers typically fear.
[…] There is no evidence that media influence people in ways that go against their grain."405
Infolge dessen wäre zwar bspw. plausibel, dass Medien-, resp. Mediengewaltdarstellungen ggf.
den Modus Operandi des aggressiven Verhaltens der Rezipienten modellieren, nicht aber, dass
sie das aggressive Verhalten derselben auch tatsächlich evozieren.406 Insofern ist letztlich auch
401
402
403
404
405
406
EISERMAN 2001, S.234.
CUMBERBATCH 2004, S.32ff.; vgl. GAUNTLETT 1998, S.1 und GOODSON/PEARSON/GAVON 2010, S.9.
Vgl. SHERRY 2007, S.244.
Vgl. FRITZ 1995, S.16ff.; SCHABEDOTH 1995, S.395; KLEBER 2000, S.8; DRINCK/EHRENSPECK/HACKENBERG et
al. 2001, S.5; SHIBUYA/SAKAMOTO/IHORI et al. 2008 und MIKOS 2009, S.70.
GOLDSTEIN 2005, S.350.
Vgl. DOUGLAS/OLSHAKER 1999, S.82-87; FISCHOFF 1999 und POOLE 2007, S.359f.. Erst FERGUSON/RUEDA/CRUZ
et al. 2008 formulierten insb. in Orientierung an aktuelleren, biologischen Aggressionsbefunden ein diathetisches, selektionshypothetisches Katalysatormodell der Medien-, resp. Mediengewaltwirkungspotenziale in direkter Konkurrenz zum GAM:
"According to this model, the development of a violence-prone personality occurs through a largely biological pathway in
which genetic predisposition (particularly in males) leads directly to an aggressive child temperament and aggressive adult
83
die im Folgenden noch dargestellte Auffassung des deutschen Gesetzgebers, dass Gewaltdarstellungen u.a. aggressionsfördernd zu wirken vermögen, eine offensichtlich fehlsame, bereits
theoretisch (vernünftigerweise) auszuschließende Auffassung.
Wie bereits einleitend kritisiert wurde, wird ungeachtet des tatsächlichen Forschungsstandes
seitens eines Teils der Mediengewaltwirkungsforscher selbst kolportiert, dass die Forschung seit
Jahrzehnten demonstriere, dass Mediengewaltdarstellungen u.a. direkt u./o. indirekt die Wahrscheinlichkeit kurz- und langfristig aggressiven oder gar gewalttätigen Verhaltens erhöhe.
Bereits FERGUSON 2010 kritisierte, dass "[…] the causal hypothesis increasingly has been
presented not only as one side of a reasonable debate, or a theory with some support, but rather
as a fact […] and a public health crisis on par with smoking and lung cancer […], or even a
scientific law […]. Such rhetoric is [...] quite rare in the social sciences, due to the limitations of
social science research […], and even uncommon in the 'hard' sciences. This rhetoric appears to
have [...] increased in direct contrast to […] more frequent criticisms of media violent research
[…]. Given the rarity of such rhetoric in the social sciences, concerns have been raised that
psychology’s focus on media violence effects as 'truth' may have less in common with the
objective sciences of physics, chemistry, and biology, and more in common with moral
advocacy crusades such as temperance and antipornography crusades […]."407 Oftmals sind die
entsprechenden Forscher offenbar auch nicht an einem kritischen Wissenschaftsdiskurs, sondern
vielmehr an einem homogenen, ja hermetischen (und i.d.S. nicht mehr wissenschaftlichen)
Diskurs ohne die Beteiligung von Kritikern interessiert und dass umso mehr, je mehr die vermeintlichen Belege einer aggressionsfördernden Wirkung gewaltdarstellender Computerspiele
und die Forschung insg. in Frage gestellt werden. Immerhin geht es nicht nur um die
Preservierung einer wissenschaftlichen, ggf. auch moralischen408 Deutungshoheit innerhalb des
entsprechenden Wissenschaftsdiskurses, wie auch in der Öffentlichkeit,409 sondern z.T. um
nichts weniger als die eigene wissenschaftliche Karriere,410 die oftmals (insb.) auch auf Jahren
und Jahrzehnten entsprechender Wirkungsforschung basiert.
Im Rahmen dessen warnen bereits FERGUSON/DYCK 2012 vor einem Phänomen, das sie als
"Advocacy Effect" bezeichnen: "[...] once theories are proposed there is a risk that their
proponents become emotionally attached to them and unable to consider them objectively. This
is [...] the [...] paradigm change, in which proponents of a preexisting theoretical paradigm
defend the paradigm vigorously, even in the face of disconfirmatory data. [...] scholars begin to
invest their energy into proving true a particular theory rather than falsifying it, which would be
the proper conduct of science. Once scholars have become invested (whether emotionally,
407
408
409
410
personality through maturation. Environmental factors moderate the causal influence of biology in this model, particularly
through the influence of family violence. This model suggests that individuals who have an aggressive personality are more
likely to engage in violent behavior during times of environmental strain. [...] although the environment does not cause
violence propensity, times of stress may act as catalysts for violent acts for an individual already prone to them. Such environmental strains could include financial and social problems caused by divorce, legal troubles, and similar events. [...] although
the basic propensity to respond to events violently is brought about primarily through biological factors and family violence,
the environment can supply the immediate motive for violence. Violent behaviors would then be expected to occur more
frequently at times during which environmental motives are more plentiful. Individuals with higher violence proneness are
likely to require less environmental strain to engage in violent behavior, although the possibility exists that a considerable
proportion of individuals may engage in violent behavior under significant environmental strain (e.g., war-like conditions).
The role of media violence (including video games) in such a model is not causal. [...] violent video games may act as stylistic
catalysts. When an individual high in violence proneness decides to act violently, this person may then model violence that he
or she has seen in the media. [...] the style or form of violence may be socially modeled but not the desire to act violently itself.
Thus, an individual may model violent behaviors he or she has witnessed in a video game, but had that video game been
removed from that individual’s sphere of modeling opportunities, the violence would still occur in another form. [...] video
game violence does not cause violent behavior but may have an impact on its form. To the extent that violent behavior is
influenced by social learning in the catalyst model, the individual is an 'active' modeler. This means that the individual,
predisposed (or not) to violent behavior because of genetic factors, begins to actively seek out modeling opportunities that are
consistent with an innate motivational system. This model predicts that an individual predisposed to violence would be more
prone to model violence even when presented with contrasting (violent and nonviolent) modeling opportunities, whereas an
individual not so predisposed would be prone to actively seek out nonviolent models." (S.314f.) Erste Befunde von
Christopher J. FERGUSON et al. selbst (z.B. FERGUSON/IVORY/BEAVER 2013) oder bspw. SURETTE 2012 sprechen
bereits vielmehr für einen solchen Katalysatoreffekt anstatt für das Vorliegen der klassischeren Mediengewaltwirkungen.
FERGUSON 2010, S.70 und vgl. FERGUSON/KILBURN 2009.
Vgl. EISERMANN 2001.
Vgl. BROSIUS/SCHWER 2008.
Vgl. KUNCZIK 1994c, S.113 und ANDERSON/COLVIN 2008, S.135.
84
financially or through their reputations) in a particular theory, they risk slipping into functioning
as advocates for their position rather than as objective scientists. [...] we suggest that the degree
to which a theory in the social sciences is stated by its proponents with absolute conviction and
claims of near universal support is inversely related to the quality of data available to actually
support this theory. The more scholars make extreme claims in support of their theories, the
more difficult to maintain an objective view once disconfirmatory information comes to
light."411 Das kann natürlich die Kredibilität psychologischer Forschung per se gefährden.412
Ein paar medienkritischere Autoren suchen andere Wege als den der inhaltlichen Auseinandersetzung mit der Kritik an der Mediengewaltwirkungsforschung und führen regelrechte Abwehrschlachten (auch ad hominem), nicht ohne der Gegenseite selbst vorzuwerfen, dass sie einen
Wissenschaftsstreit inszeniere.413 Bereits KUNCZIK 1975 monierte, dass sich die "Intoleranz
der Argumentation" nicht nur in einer gewissen Apologetik zeige, "sondern zugleich Studien,
die keine negativen Effekte belegen, als mehr oder weniger unwissenschaftlich abgekanzelt
werden."414 Obligatorisch ist bspw. der Vorwurf, dass die Kritik an der Mediengewaltwirkungsforschung außerwissenschaftlich motiviert, ja korrumpiert sei.415 HUESMANN 2010 bspw.
argumentierte, dass die Kritiker der Computerspielgewaltwirkungsforschung nicht zu einer
solchen Kritik qualifiziert wären, "either because playing these games is an important part of
their identity (e.g., Ferguson; Jenkins) or because they have been funded by the media industry
(e.g., Freedman) […]."416 Bereits HUESMANN/TAYLOR 2003 stellten die Kompetenz von
Kritikern in Frage, insofern sie selbst noch keine Mediengewaltwirkungsstudien vorgestellt hatten. Nach einer solchen Logik wäre aber bspw. auch eine Kritik der parawissenschaftlichen
Ufologie nur seitens Ufologen selbst angemessen. I.d.S. auch ANDERSON/GENTILE 2008,
die von den Kritikern u.a. einen Doktorgrad in einer probaten (empirischen) Wissenschaft und
"multiple publications in top-ranked, peer-reviewed journals, based on original empirical data
gathered to examine media violence effect"417 forderten.
Solche Desiderate resultierten in einem der fragwürdigsten Autoritätsargumente der vergangenen Jahre, das im Folgenden dargestellt werden soll: Ausgangspunkt ist das kalifornische
Assembly Bill 1179 vom 07.10.2005, das der US-amerikanische Bundesstaat basierend auf der
Annahme verabschiedete, dass Gewalt darstellende Computerspiele u.a. aggressives oder gar
gewalttätiges Verhalten von Kindern und Jugendlichen förderten und das u.a. auch ein
strafbewehrtes Jugendverbot für solche Spiele formulierte.418 Infolge einer gemeinsamen Klage
der Entertainment Software Association und der Interactive Entertainment Merchants
Association vor dem Bundesbezirksgericht wurde das auf den 01.01.2006 terminierte
Inkrafttreten des Gesetzes aber am 21.12.2005 per einstweiliger Anordnung untersagt und das
Gesetz selbst im August 2007 endgültig zugunsten der Kläger derogiert, denn das Gesetz sei
nicht hinreichend bestimmt, verstoße gegen den 1. Zusatzartikel zur Verfassung der Vereinigten
Staaten und basiere auf unbelegten Wirkungsannahmen (dgl. war in der Vergangenheit bereits
das Schicksal ähnlicher Gesetzesvorhaben anderer Bundesstaaten). Einen Monat später ging der
republikanische Gouverneur Arnold SCHWARZENEGGER gegen die Entscheidung in
Berufung, das Bundesberufungsgericht bestätigte aber das Urteil des Bezirksgerichts im Februar
2008. Daraufhin petitionierte Kalifornien im Mai 2009 erfolgreich vor dem Obersten Gerichtshof für eine neuerliche Überprüfung der Entscheidung des Berufungsgerichts (ein sog.
Certiorari). Im Laufe des Verfahrens wurden dem Gericht zwei besondere Stellungnahmen (sog.
amici curiae briefs) sowohl für als auch gegen die Annahme des Bundesstaates präsentiert, dass
Gewalt darstellende Computerspiele u.a. aggressionsfördernd sein könnten: Die 128 Unterzeichner des sog. "Gruel Brief" vom 19.07.2010 (u.a. Craig A. ANDERSON; Douglas A.
411
412
413
414
415
416
417
418
FERGUSON/DYCK 2012, S.225f..
Vgl. HALL/DAY/HALL 2011 und FERGUSON/DYCK 2012, S.226.
Vgl. HÄNSEL 2002, S.3 und SPITZER 2005b, S.273.
KUNCZIK 1975, S.6 und vgl. KUNCZIK 1998, S.250. Bzgl. eines prägnanten Bsp. s. ANDERSON 2004, S.115.
Vgl. PETER 1994, S.346.
HUESMAN 2010, S.180.
Vgl. ANDERSON/GENTILE 2008, S.287.
Vgl. Cal. Civ. Code §§ 1746-1746.5.
85
GENTILE; Brad J. BUSHMAN; Akira SAKAMOTO; Ed DONNERSTEIN; L. Rowell
HUESMANN; Barbara KRAHÈ; Ingrid MÖLLER) postulierten einen solchen Kausalnexus,
den aber die 82 Unterzeichner des sog. "Millet Brief" vom 17.09.2010 (u.a. Martin BARKER;
Wolfgang BÖSCHE; Kevin DURKIN; Christopher J. FERGUSON; Simon GOODSON; Tom
GRIMES, John C. KILBURN; Cheryl K. OLSON; Sarah PEARSON; John L. SHERRY) – auch
mittels der Dekonstruktion der Studien der konkurrierenden Amici Curiae (insb. der Verfasser
der Stellungnahme) – negierten. Im Mai 2011 verfassten daraufhin mit SACKS/BUSHMAN/
ANDERSON 2011 zwei der 13 Autoren des "Gruel Brief" und ihre Koautorin ein Essay, in dem
sie die Unterzeichner des "Millet Brief" diskreditierten und infolge dessen an das Gericht appellierten, die oppositionelle Stellungnahme zu ignorieren und zugunsten des Gesetzes zu votieren:
The data for this Essay were obtained from PsycINFO database […]. We searched the literature to 2011.
For each expert author or signatory to the scientific briefs, we searched for general articles on violence or
aggression […]. The abstracts (and sometimes entire articles) were examined to verify relevance to
violence or aggression. Publications were divided into three categories: (1) peer-reviewed journal articles,
(2) book chapters or essays, and (3) books. We also searched for original empirical research on violence
or aggression […]. In addition to searching for general publications on violence or aggression, we also
searched for specific original empirical articles, rather than reviews of research conducted by others, on
media violence. […]. The abstracts (and sometimes entire articles) were examined to determine whether
research tested for a media violence effect […] on an outcome variable related to aggression or violence.
[…] Next, we determined whether the peer-reviewed journal was a top-tier journal. [...] Although there is
no universally agreed-upon criteria for what constitutes a "top-tier journal," we used five-year impact
factors from the ISI Web of Knowledge Journal Citation Report. Journals with a five-year impact factor
of 2.5 or higher were defined as top-tier journals. Almost all top-tier psychology journals have impact
factors of 2.5 or above. [...] on average, each article published in a top-tier journal was cited by 2-3 other
researchers. […] the authors and signatories of the Gruel Brief have significantly more expertise on
violence, aggression, and media effects than the signatories of the Millett [sic] Brief. The Gruel Brief
authors have authored eighteen times as many publications on violence or aggression as the Millett [sic]
Brief signatories, and the Gruel Brief‘s signatories have authored eight times as many publications. The
differences are even greater for peer-reviewed articles reporting the results of original empirical research
on violence or aggression. As compared to the Millet Brief signatories, the Gruel Brief authors have
published over twenty-eight times as many and the Gruel Brief signatories have published over fourteen
times as many articles. A comparison of violent media effects articles published in top-tier journals is
particularly striking: the Gruel Brief authors have published over 338 times more articles, and its
signatories have published over forty-eight times more articles than the Millett [sic] Brief signatories.
Although the Millett [sic] Brief states that its signatories have "extensive experience with the research
regarding the effects on individuals of media violence, including violence in video games," this assertion
is wholly unsupported by their scholarly publication records. Of the eighty-two "expert" signatories to the
Millett [sic] Brief, only 13% have published at least one article on media violence. At least two of these
"experts" own or work for video game companies, and none of these experts specialize in violent media
effects on children. [...] the Millet Brief signatories lack significant expertise on violence or aggression in
general – only 17% have published at least one article on violence or aggression. [...] 100 % of the Gruel
Brief authors and 60% of its signatories have published at least one article on violence or aggression, and
each of the Gruel Brief authors and 37% percent of its signatories have published at least one article on
media violence. Significant differences also exist for most non-peer-reviewed publications (e.g., book
chapters, essays, books). [...] the Statement contained in the Appendix of the Gruel Brief was written and
endorsed by the most recognized experts on violent media effects and violence generally. These experts
concluded that violent video games cause cognitive and other harm to children and adolescents. Over one
hundred additional researchers endorsed the Gruel Brief, many of whom specialize in violence, violent
media, and the effects of media on children. [...] the signatories to the Millett [sic] Brief opposing the
California law have minimal expertise conducting specific research on the effects of violent media or
even research on aggression or violence more generally. [...] the Millet Brief signatories are relatively
unqualified to offer "expert" opinions on the effects of violent video games on children.419
Ungeachtet der suboptimalen, d.h. nur einen Teil der tatsächlichen (im Fall von Constance
STEINKUEHLER bspw. nur 9 von 49 themenrelevanten, kreuzbegutachteten) Publikationen
der Unterzeichner des "Millett Brief" identifizierenden und insofern auch bereits die Befunde
der Studie verzerrenden Suchmethoden der Autoren,420 wie auch des Problems einer generell
niedrigeren Publikationmenge und -rate für qualitativ hochwertigere Studien infolge eines i.d.R.
höheren Zeitaufwands für dieselben (und auch des bereits thematisierten Problems eines
Publikationsbias), argumentieren die Autoren offensichtlich nicht mehr wissenschaftlich,
sondern ausschl. ad numerum und ad verecundiam. Die Probleme sind selbstevident: Schlechte
und methodisch problematische Studien, wie bspw. die der nicht überraschend als "top media-
419
420
SACKS/BUSHMAN/ANDERSON 2011.
Vgl. HALL/DAY/HALL 2011 und FERGUSON/DYCK 2012, S.227.
86
effects researchers"421 idealisierten Autoren des Gruel Briefs (Craig A. ANDERSON, Brad J.
BUSHMAN, Bruce D. BARTHOLOW. L. Rowell HUESMANN, Barbara KRAHÈ, Ingrid
MÖLLER et al.), die größtenteils auch noch exemplarisch sind für die Probleme der Mediengewaltwirkungsforschung, werden in ihrer Aussagekraft nicht dadurch besser, dass sie en masse
u./o. in "top-tier journals" publiziert werden (der Einflussfaktor der Fachzeitschriften indiziert
natürlich auch keine höhere, resp. hinreichende Qualität der in denselben publizierten Artikel,
wie die diesbzgl. Artikel der Autoren des Gruel Briefs selbst demonstrieren). Ohne dass die
Studie selbst die inhaltliche, ggü. der Mediengewaltwirkungsforschung (und insb. auch den
Studien der Autoren des Gruel Briefs) kritische Argumentation des Millet Briefs überhaupt
thematisierte, kommentierte sie Koautor Brad J. BUSHMAN folgendermaßen: "It provides
strong support for the argument that video game violence is indeed harmful."422 Ein kritikwürdiges Wissenschaftsverständnis, dass auch der Akzeptanz von Pseudowissenschaften u.ä.
Vorschub leisten könnte, insofern nur hinreichend viele Pseudowissenschaftler genügend
Artikel in vielzitierten Zeitschriften publizieren. Infolge dessen steht nicht die Kredibilität der
Unterzeichner des "Millet Brief" zur Disposition, sondern die der drei Autoren des Essays.
Letztlich verfingen aber weder die Argumente des "Gruel Brief", noch die des Essays und das
Gericht entschied am 27.06. 2011, dass das Gesetz verfassungswidrig ist, u.a. auch, weil der
Kläger keine empirischen Belege einer aggressionsfördernden Wirkung violenter Computerspiele präsentieren konnte; eine Grundsatzentscheidung, die deutsche Gerichte erst noch nachvollziehen müssen.
421
422
SACKS/BUSHMAN/ANDERSON 2011.
Zitiert in: GRABMEIER 2011 und vgl. SACKS/BUSHMAN/ANDERSON 2011.
87
88
2. Teil:
Indizierungen, Alterskennzeichnungen und das Gewaltdarstellungsverbot
89
90
10.
Der staatliche Jugendmedienschutzauftrag und seine Grenzen
Jugendschutz ist eine kulturelle Selbstverständlichkeit, aber kulturgeschichtlich ist die wohl auf
das sechzehnte Jahrhundert zu datierende "Entdeckung der Kindheit"423 relativ neu. Erst 1762
markierte Jean-Jacques ROUSSEAU mit dem gesellschaftskritischen Erziehungsroman ÉMILE
424
und eines JugendOU DE L’ÉDUCATION den "Beginn moderner Erziehungsreflexion"
425
schutzes, der im Deutschland des neunzehnten Jahrhundert in den ersten allg. Jugendschutzgesetzen und 1900 in der sog. Lex Heinze, dem ersten deutschen Jugendmedienschutzgesetz
kulminierte.426 Mit Inkrafttreten des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland wurde
der Jugendschutz gar erstmals ein Verfassungsgut. Nach der seitdem h.M. konstituieren das
elterliche Erziehungsrecht, resp. die -pflicht, das staatliche Wächteramt, das allg. Persönlichkeitsrecht und der Jugendschutz als Grundrechtschranke nach Art. 5 Abs. 2, Art. 11 Abs. 2 und
Art. 13 Abs. 7 GG einen staatlichen Jugendschutzauftrag:427 Insb. das "Recht auf Personwerden"428 nach Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 2 Abs. 1 GG begründet nach Auffassung des BVerfG
u.a. den staatlichen Auftrag, Kindern und Jugendlichen evtl. durch bestimmte Medieninhalte
drohende, sozial-ethisch desorientierende Gefahren abzuwehren, "die […] zu erheblichen,
schwer oder gar nicht korrigierbaren Fehlentwicklungen führen können."429 Kinder und
Jugendliche sollen sich zu eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeiten
entwickeln.430 Aber nach GOTTBERG 2002 ist es nicht die Aufgabe eines Jugendmedienschutzes, "für 'saubere' Medien im Sinne einer allgemeinen gesellschaftlichen Moral zu sorgen,
vielmehr ist die Wirkung von Medien auf Kinder und Jugendliche, die geeignet ist,
Einstellungen zu erzeugen, die verfassungsrechtlichen Grundwerten widersprechen, sein
zentrales Anliegen."431
Nach Auffassung des BVerfG darf der Gesetzgeber im Rahmen seiner Einschätzungsprärogative ohne Verfassungsverstoß davon ausgehen, dass bestimmte Medieninhalte solche
jugendgefährdende Wirkungen haben können und braucht seine legislatorischen Maßnahmen
nicht vom wissenschaftlich-empirischen Nachweis abhängig machen, daß Medien überhaupt
einen sozialethisch desorientierenden Einfluß auf Kinder und Jugendliche ausüben können. Das
Gericht argumentierte bspw. für pornographische Darstellungen, dass die zur Vorbereitung des
4. Strafrechtsreformgesetzes (4. StrRG) vom 23.11.1973 durchgeführte wissenschaftliche
Bestandsaufnahme gezeigt habe, "daß die Möglichkeit einer Jugendgefährdung durch Schriften
zwar nicht erhärtet, trotz überwiegend in die Gegenrichtung weisender Stellungnahmen aber
auch nicht ausgeschlossen werden kann. [...] In einer solchen wissenschaftlich ungeklärten
Situation ist der Gesetzgeber befugt, die Gefahrenlagen und Risiken abzuschätzen und zu
entscheiden, ob er Maßnahmen ergreifen will oder nicht [...]. [...] Den ihm zustehenden
Entscheidungsraum hätte der Gesetzgeber daher nur dann verlassen, wenn eine Gefährdung
Jugendlicher nach dem Stand der Wissenschaft vernünftigerweise auszuschließen wäre."432
Natürlich darf sich der Gesetzgeber aber nicht an offensichtlich fehlsamen Auffassungen u.ä.
orientieren und muss in einer solchen (vermeintlich) ungeklärten Situation auch die weiteren
Entwicklungen des Forschungsstandes beobachten und ggf. Nachbesserungen der getroffenen
423
424
425
426
427
428
429
430
431
432
Vgl. ARIÈS 2011, S.92-111.
TENORTH 2005.
Vgl. BOSSELMANN 1987, S.5f. und KOLFHAUS 1994, S.139.
Vgl. HEINRITZ 1985; BOSSELMANN 1987, S.6; SEIM 1998, S.17; LIESCHING 2002, S.62 und TAUBERT 2004, S.26.
Bzgl. der historischen Genese des dt. Jugendmedienschutzes seit Beginn des 20. Jahrhunderts s. LIESCHING 2002, S.4-63..
Vgl. BVerfGE 30, 336 (348); 77, 346 (356); 83, 130 (139f.); MEIROWITZ 1993, S.226f.; STEFEN 1998, S.236; MAST 1999,
S.131; MERTEN 1999, S.233; ERDEMIR 2000, S.17; NEVERMANN 2002, S.145; NIKLES/ROLL/SPÜRCK et al. 2005,
S.4/19/144; RETZKE 2006, S.42; STATH 2006, S.164; SCHULZ/DREYER 2007b, S.1 und SCHULZ/BRUNN/DREYER et
al. 2007, S.74.
SCHULZ/DREYER 2007b, S.2; vgl. BVerfGE 24, 119 (144); 57, 361 (383); 99, 145 (156ff.); MONSSEN-ENBERDING
1998, S.109; ERDEMIR 2004, S.V; RETZKE 2006, S.133f. und SCHULZ/BRUNN/DREYER et al. 2007, S.75.
Vgl. BVerfGE 30, 336 (347).
Vgl. BVerfGE 79, 51 (63); BVerwGE 77, 75 (82); PFEIFER 2003, S.68; RETZKE 2006, S.132-135; SCHULZ/BRUNN/
DREYER et al. 2007, S.74f. und KAPPENBERG 2008, S.50f..
GOTTBERG 2002, S.32 und vgl. SCHULZ/BRUNN/DREYER et al. 2007, S.84.
BVerfGE 83, 130 (140ff.); vgl. BVerwGE 39, 197 (200); BOSSELMANN 1987, S.145; MEIROWITZ 1993, S.226f.;
MERTEN 1999, S.234; ERDEMIR 2000, S.118; LIESCHING 2002, S.3; STATH 2006, S.37/182; SCHULZ/BRUNN/
DREYER et al. 2007, S.82/290; SCHULZ/DREYER 2007b, S.2 und DEGENHART 2008, S.54f..
91
Maßnahmen vornehmen.433 Das Gericht argumentierte bereits 1986, dass für Gewaltdarstellungen überwiegend anerkannt sei, "dass sie aggressionsstimulierend zu wirken und die Hemmschwelle für aggressive und kriminelle Verhaltensweisen herabzusetzen vermögen, zumal wenn
sie beim Betrachter auf bestimmte Prädispositionen treffen. Dargestellte Formen aggressiven
Verhaltens können […] von Kindern […] gelernt und über einen längeren Zeitraum im
Gedächtnis behalten werden. Darüber hinaus wird eine Abnahme der Sensibilität gegenüber
Gewalttätigkeiten in der Realität für möglich gehalten und angenommen, dass die gehäufte
Betrachtung von Gewaltszenen eine zunehmende Bereitschaft fördern kann, Gewalt als Mittel
der Lösung von Konflikten zu akzeptieren."434 Nach dem Stand der Wissenschaft war und ist
eine solche Wirkung medialer Gewaltdarstellungen aber vernünftigerweise auszuschließen. D.h.
dass z.B. gewaltdarstellende Computerspiele für sich genommen offenbar nicht die Entwicklung
von Kindern u./o. Jugendlichen oder ihre Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und
gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit gefährden können, indem sie z.B. direkt oder indirekt
(hinreichend) aggressives Verhalten hervorrufen, resp. dass die ggf. aggressionssteigernden
Wirkungen solcher Darstellungen relativierbar marginal und evtl. Aggressionssteigerungen (wie
auch Desensibilisierungen) nicht per se negativ sind (und infolge dessen auch nicht generell
inhibiert werden müssen). Insofern ist die skizzierte Mediengewaltwirkungshypothese des
Gesetzgebers eine offensichtlich fehlsame Auffassung, so dass prohibitive Maßnahmen ggü.
gewaltdarstellenden Medien nicht über die vermeintlich anomischen Wirkungen derselben o.ä.
legitimiert werden können.435 Ungeachtet dessen ist das am 01.04.2003 in Kraft getretene
Jugendschutzgesetz (JuSchG) – ein Konglomerat aus dem Gesetz über die Verbreitung jugendgefährdender Schriften und Medieninhalte (GjS) und dem Gesetz zum Schutze der Jugend in der
Öffentlichkeit (JÖSchG) – ggü. Computerspielen ein essentiell bewahrpädagogisches Gesetz,
das sich nach wie vor an solchen (kausalen) atavistischen Medienwirkungsmodellen orientiert.
Ähnliches gilt auch für das strafrechtliche Gewaltdarstellungsverbot nach § 131 StGB.
Im Folgenden soll das deutsche Jugendmedienschutzsystem ggü. gewaltdarstellenden (trägermedialen) Computerspielen analysiert werden, wie es das JuSchG auch i.V.m. dem strafrechtlichen Gewaltdarstellungsverbot konstituiert, d.h. die Maßnahme der Indizierung solcher Spiele
durch die BPjM und das System der Alterskennzeichnung derselben durch die OLJB, wie auch
das Gewaltdarstellungsverbot (das aber prinzipiell keine Jugendmedienschutznorm i.e.S. darstellt). Im Rahmen der Analyse interessieren primär Verfassungsfragen des Systems, wie evtl.
Konflikte mit den Schranken und Freiheiten des Art. 5 GG, insb. dem Zensurverbot (Abs. 1 Satz
3) und der Kunstfreiheit (Abs. 3 Satz 1), aber auch mit dem allg. Bestimmtheitsgebot (Art. 103
Abs. 2 GG)436 und dem Verhältnismäßigkeitsprinzip.437 Eine absolute Grenze für Konzepte des
ordnungsrechtlichen Jugendmedienschutzes erfolgt im Lichte der Wesensgehaltsgarantie (Art.
19 Abs. 2 GG) und der sog. Wechselwirkungslehre438 bspw. bereits aus den Kommunikationsgrundrechten (Art. 5 GG): Die gesetzlichen Jugendmedienschutzbestimungen dürfen nicht
bewirken, dass auch Erwachsene völlig vom Bezug bspw. (vermeintlich) jugendgefährdender
o.ä. Medien ausgeschlossen wären, der Gesetzgeber hätte andernfalls seine Regelungsbefugnis
überschritten.439 Insofern wäre bspw. ein absolutes Verbot nur jugendgefährdender Medien verfassungswidrig. Auch dürfen Maßnahmen des Jugendmedienschutzes im Lichte des elterlichen
Erziehungsrechtes nur subsidiär sein und nicht so weit gehen, dass der Staat die Eltern bei der
Wahl der Lektüre für die eigenen Kinder bevormundet.440
433
434
435
436
437
438
439
440
Vgl. BVerfGE 30, 292 (317); 37, 1 (20); 49, 89 (131f.); 83, 130 (141f.); 95, 267 (314f.) und SCHULZ/BRUNN/DREYER et
al. 2007, S.82.
BVerfG, Beschl. v. 22.03.1986, Az.: 2 BvR 1499/84.
Vgl. BUCHLOH 2002, S.46.
BVerfGE 93, 213 (238); vgl. 47, 109 (120); 71, 108 (114); 73, 206 (234); 75, 329 (340f.); 78, 374 (381f.); 85, 69 (73); 87, 209
(223f.); 87, 363 (391f.); 96, 68 (97f.); 105, 135 (153); ERDEMIR 2000, S.64; SCHULZ/BRUNN/DREYER et al. 2007, S.81
und SCHULZ/ DREYER 2007b, S.3.
Vgl. BVerfGE 11, 30 (45) und 50, 290 (332f.).
Vgl. BVerfGE 35, 202 (225); 90,1 (20f.); 12, 113 (124f.); ERDEMIR 2000, S.30; BUCHLOH 2002, S.30 und NESSEL 2004,
S.123.
Vgl. BVerfGE 30, 334 (336); 30, 336 (348-353); BVerwGE 85, 169; MERTEN 1999, S.232f.; ERDEMIR 2000, S.17;
GUCHT 2000, S.21; LIESCHING 2002, S.136f.; SCHULZ 2002, S.52; PFEIFER 2003, S.68 und SCHULZ/BRUNN/
DREYER et al. 2007, S.87.
Vgl. BVerfGE 4, 52 (57); 7, 320 (323f.); 24, 119 (143f.); 83, 130 (140); MERTEN 1999, S.234; STATH 2006, S.273 und
92
10.1
Das Zensurverbot
Der Jugendschutz ist (wie die Vorschriften der allgemeinen Gesetze und das Recht der
persönlichen Ehre) nach Art. 5 Abs. 2 GG eine der drei legitimen Schranken der Meinungs-,
Informations-, Presse-, Rundfunk- und Filmfreiheit. Die Schranke findet ihre eigenen Schranken
aber nicht nur in den generellen Schranken-Schranken des GG, sondern insb. auch in der
speziellen Schranken-Schranke des Art. 5 Abs. 1 Satz 3 GG: "Eine Zensur findet nicht statt."
Das Zensurverbot ist absolut, so dass Grundrechtsschranken (und -ausgestaltungen) in keinem
Fall wie Zensuren wirken dürfen.441 Das Verbot dient insg. dem Schutz vor einer sog. Lähmung
des Geisteslebens,442 Zensurmaßnahmen sollen nämlich nicht nur dazu führen, dass konkrete
Kommunikationsinhalte nicht oder nur noch verändert der Öffentlichkeit zugänglich gemacht
werden, sondern auch, dass die bereits (auch nur evtl.) zensurierten Kommunikatoren die
externen Zensurkriterien der intervenierenden Instanzen als interne Maxime internalisieren.443
KIENZLE 1980 konstatierte diesbzgl. bereits, dass auch die "Barbarei der Bücherverbrennung"
nur ein "wirkungsloses Spektakel" bleibe, "wenn sie nicht Angst und Internalisierung der
Zensur bewirkt, wenn sie nicht zur Selbstzensur wird." 444 Selbstzensur ist regelmäßig nicht nur
kaum oder gar nicht nachweisbar,445 auch wird eine "Schere im Kopf"446 natürlich umso weiter
auseinanderklaffen, je vager die Zensurkriterien sind, so dass sich die Betroffenen ggf. selbst
intensiver als notwendig (oder externen Zensoren möglich) zensurieren.447 Insofern tangieren
bereits Maßnahmen, die Selbstzensureffekte auch nur fördern können, das Zensurverbot.448
Im Lichte der Absolutheit des Zensurverbots wird seit Jahrzehnten kontrovers diskutiert,
welcher Zensurbegriff den angemessensten darstellt, je nach Zensurbegriff können nämlich den
Freiheiten des Art. 5 Abs. 1 GG nur unterschiedlich enge Schranken gezogen werden.449
Deshalb soll im Folgenden diskutiert werden, ob verfassungsrechtlich nur materielle oder
formelle, ob Vor- oder Vor- und Nachzensur verboten sind: Nach dem materiellem Zensurbegriff sind alle (auch anlassabhängige und punktuelle; s.u.) konformistischen, repressiven
Kontrollen des Geisteslebens infolge einer besonderen (z.B. ideologischen, politischen, sittlichen, religiösen, moralischen u./o. gustatorischen) Begründungs- und Motivlage Zensurmaßnahmen;450 gem. GUCHT 2000 sind das gar alle Maßnahmen einer intervenierenden Instanz,
"die auf irgendeine Weise dazu führen, daß ein Beitrag zur Meinungsbildung nicht oder nur
441
442
443
444
445
446
447
448
449
450
SCHULZ/BRUNN/DREYER et al. 2007, S.74f./87..
Vgl. BVerfGE 33, 52 (72); 73, 118 (166); ROHDE 1996, S.157; ERDEMIR 2000, S.57ff.; GUCHT 2000, S.38f.; HÜPER
2004, S.10 und KASPEREK 2007, S.72-76. Bereits gesetzessystematisch verfängt die Auslegung nicht, dass die Grundrechtsschranken des Art. 5 Abs. 2 GG auch eine Schranke des Zensurverbots seien, so dass bspw. eine Zensur infolge der
gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend legitim sei (vgl. NIKLES/ROLL/SPÜRCK et al. 2005, S.212), wie aber
z.B. bereits NOLTENIUS 1958 kolportierte (S.134f.); z.T. wird auch argumentiert, eine Zensur aus Gründen den Jugendschutzes sei im Lichte dessen legitim, dass die Zensur ja ggf. nur partiell sei und nur die Kommunikationsgrundrechte der
Kinder und Jugendlichen tangiere (vgl. PFEIFER 2003, S.273 und SCHULZ/BRUNN/DREYER et al. 2007, S.85). NESSEL
2004 argumentiert aber plausibel, dass weder eine grammatische, historisch-genetische, systematische, noch teleologische
Auslegung des Zensurverbots eine solche Differenzierung in eine verbotene generelle und eine erlaubte partielle Zensur
erlaubt, andernfalls könnte auch gruppenspezifische Zensur (z.B. von Journalisten, Frauen etc.) legitimiert werden (S.173176): "Das Grundgesetz läßt zensurverbotskonforme Zensurräume nicht zu." (S.142)
Vgl. BVerfGE 7, 198 (230); NOLTENIUS 1958, S.117; ROHDE 1996, S.162f.; SCHULZ/BRUNN/DREYER et al. 2007,
S.84 und SCHULZ/DREYER 2007b, S.3.
Vgl. KIENZLE/MENDE 1980, 231; SEIM 1997, S.35; SEIM 1998, S.69 und BUCHLOH 2002, S.16f./208.
KIENZLE 1980, S.16.
Vgl. KIENZLE 1980, S.40 und PLACHTA 2006, S.20. Die Zensurierten haben oftmals selbst ein Interesse an einer
Kuvrierung von Zensierungen der eigenen Kommunikationsinhalte, ungeachtet dessen, ob fremde Instanzen oder die
Zensurierten selbst die Inhalte zensiert haben, denn im Wissen um die Zensuren sind zensierte Inhalte regelmäßig für die
Rezipienten unattraktiv (vgl. BUCHLOH 2002, S.18); bspw. wurde gem. MÜLLER-LIETZKOW 2010 das Spiel QUAKE 4 in
Deutschland dank des im Folgenden noch dargestellten Jugendmedienschutzsystems nur in einer für den deutschen Markt
zensierten Version veröffentlicht, "so dass es eine USK-16-Freigabe erhalten hat. Die Kosten sind nicht genau bezifferbar,
aber es hat sich relativ schnell gezeigt, dass die Konsumenten eine geschnittene Version nicht gekauft haben. Das Spiel wurde
in der entsprechenden Version weit weniger als erwartet verkauft und letztlich als Low-Price-Produkt sehr schnell unter der
ursprünglichen, für die Refinanzierung notwendigen Kalkulation verkauft." (S.30) Dgl. MÜLLER-LIETZKOW 2007a, S.2.
Vgl. BRODER 1976.
Vgl. BUCHLOH 2002, S.208.
Vgl. BVerfGE 90, 60 (89) und SCHULZ 2002, S.53.
Vgl. SEIM 1997, S.21-25/27ff.; BUCHLOH 2002, S.29ff. und NESSEL 2004, S.14f..
Vgl. BVerwGE 23, 194 (199); NOLTENIUS 1958; ROHDE 1996, S.104; BUCHLOH 2002, S.32f.; SUFFERT 2002, S.106f.
und NESSEL 2004, S.64-69.
93
verändert der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird […]."451 Insofern für das Vorliegen einer
Zensur aber nur die konformistische "Zielsetzung intervenierender Tätigkeit"452 hinreichend
sein soll, wird der Nachweis einer diesbzgl. Ratio einer Maßnahme i.d.R. nur kaum oder gar
nicht demonstriert werden können, so dass der Begriff nicht hinreichend justiziabel wäre.453 Ein
materieller Zensurbegriff würde letztlich auch die Schrankentrias des Art. 5 Abs. 2 GG unterminieren. I.d.S. sind es rechtsstaatliche Gründe für die Notwendigkeit eines formellen Zensurbegriffs. Bereits ROHDE 1997 argumentierte, dass wenn das Zensurverbot eine SchrankenSchranke der Schranken des Art. 5 Abs. 2 GG ist, "so derogiert es die Schrankenbestimmungen
[…] in Bezug auf einen zensorischen Gehalt derart, daß hierauf beruhende Meinungsbeschränkungen nur dann verfassungskonform sind, wenn sie […] nicht zensorischen Charakter
haben. Damit wird von der Verfassung ein deutlicher, systematischer Unterschied vorgegeben,
der inhaltlich, […] durch eine formale Bestimmung der Zensur, nachzuzeichnen ist."454 Gem.
SUFFERT 2002 sind gewisse Grundvoraussetzungen formeller Zensur generell akzeptiert:
1.
2.
3.
4.
Das Geistesleben muss planmäßig überwacht und überprüft werden, wobei jegliche Beiträge zum
geistigen leben, egal ob in Filmen, Büchern, Vorträgen etc., davon betroffen sein können.
Die Überwachung muss durch eine – vom Standpunkt des Überwachten aus betrachtet – fremde
Instanz stattfinden. Kontrollen im internen Bereich (z.B. des Produktionsleiters beim Film oder des
Chefredakteurs gegenüber dem Verlagsvolontär) oder individuelle innere Anpassungsmechanismen
stellen keine Zensur dar.
Zensur muss eine inhaltliche Prüfung zum Gegenstand haben. Genehmigungsverfahren, Vorlageund Anzeigepflichten, die sich ausschließlich gegen Gefahren richten, die – unabhängig vom Inhalt
– durch eine bestimmte Form der Meinungsäußerung entstehen (z.B. das Verbot, aus sicherheitspolitischen Gründen Flugblätter aus Flugzeugen abzuwerfen), sind keine Zensur.455
Die Zensurinstanz muss es vom Ergebnis ihrer Überprüfung abhängig machen, ob der Überwachte
seine Rechte aus Art. 5 GG ungehindert ausüben darf. Dazu bedarf sie zumindest eines gewissen
Einflusses auf den Überwachten, die Meinungsbildung oder Meinungs- bzw. Informationsverbreitung. Wenn sie tatsächlich überhaupt keine Möglichkeit und Macht dazu hat, das Geistesleben zu beschränken, kann sie auch keine Zensur ausüben.456
Aus den Grundvoraussetzungen resultiert gem. Autorin ein allgemeiner Zensurbegriff, "wonach
Zensur die seitens einer für die Meinungsbildung bzw. Informationsverbreitung maßgeblichen
fremden Instanz vorgenommene planmäßige Überwachung und Überprüfung des Geisteslebens
ist, von deren Ergebnis die Behinderung bzw. Nichtbehinderung dieser Betätigung abhängig
gemacht wird."457 Nach der h.M. ist der Staat der ausschl. Adressat des speziellen Zensurverbotes des GG,458 aber zweifellos können nicht nur auch Maßnahmen privater Instanzen u.U.
das Geistesleben lähmen. Das Zensurverbot soll aber u.a. die öffentliche Meinungsbildung insg.
schützen, so dass z.B. gem. HÜPER 2004 die h.M. nicht gebilligt werden könne, "da sie
angesichts der Verlagerung von Staatsaufgaben auf staatsunabhängige Institutionen zu einer
Aushöhlung des Zensurverbots führen würde."459 Insofern sei festzuhalten, "dass das Zensurverbot jedenfalls dann eine 'mittelbare Drittwirkung' bzw. Schutzfunktion in Privatrechtsverhältnissen entfaltet, wenn der einzelne Kommunikator bzw. Rezipient sich anlassunabhängigen
planmäßigen und systematischen Kommunikationskontrollen und -unterdrückungen durch
private Betreiber von Kommunikationsmedien nicht aus eigener Kraft entziehen kann."460
451
452
453
454
455
456
457
458
459
460
GUCHT 2000, S.7. Bzgl. detaillierterer Kommentierungen des materiellen Zensurbegriffs s. ERDEMIR 2000, S.48f.;
SUFFERT 2002, S.105f. und KASPEREK 2007, S.155-163.
NESSEL 2004, S.64.
Vgl. GUCHT 2000, S.10; BUCHLOH 2002, S.33 und HÜPER 2004, S.8.
ROHDE 1997, S.112f.; vgl. BUCHLOH 2002, S.31; HÜPER 2004, S.5-10 und PLACHTA 2006, S.19ff..
Insofern Inhaltskontrollen notwendige Bedingungen für das Vorliegen von Zensur sind und infolge dessen ledigliche Verbote
gewisser Verbreitungsarten eines Mediums ungeachtet des Inhalts desselben prinzipiell keine Zensuren darstellen (vgl.
ZELGER 1999, S.10 und GUCHT 2000, S.5f./9), warnt z.B. HÜPER 2004, "dass es sich bei vordergründig inhaltsunabhängigen Maßnahmen um dissimulierte Inhaltskontrolle handeln kann, die gegebenenfalls als solche zu behandeln wäre. Denn
ungeachtet der Frage, ob nicht letztlich jedes Äußerungsmerkmal auch den Inhalt mitbestimmt, können jedenfalls typische
Formelemente wie Ort, Zeit oder Medium durchaus zentrale Äußerungsinhalte transportieren. Bei der Qualifizierung als
inhaltsneutrale Maßnahme ist daher Vorsicht geboten." (S.6)
Vgl. SUFFERT 2002, S.86f.. Bzgl. diverser Konkretisierungen des formellen Zensurbegriffs und Beispiele formeller Zensur s.
ROHDE 1996, S.112-118; GUCHT 2000, S.4ff.; SUFFERT 2002, S.88-95 und KASPEREK 2007, S.153ff..
Vgl. SUFFERT 2002, S.87.
Vgl. GUCHT 2000, S.31; HÜPER 2004, S.17f. und NESSEL 2004, S.50.
HÜPER 2004, S.19.
HÜPER 2004, S.86; vgl. ERDEMIR 2000, S.60ff.; BUCHLOH 2002, S.212/217; SUFFERT 2002, S.88-95 und SCHULZ/
BRUNN/ DREYER et al. 2007, S.85.
94
Die letzte offene Frage ist die, ob das GG ausschließl. die Vor- oder auch die Vor- und die
Nachzensur verbietet. Nach Auffassung der h.M., wie auch der des BVerfG, sind nämlich nur
einschränkende Maßnahmen vor der Herstellung oder Verbreitung eines Geisteswerkes Zensur
i.S.d. Zensurverbots, "insbesondere das Abhängigmachen von behördlicher Vorprüfung und
Genehmigung seines Inhalts (Verbot mit Erlaubnisvorbehalt) […]."461 Im Lichte der gem. SEIM
1997 "diffizilen sozialen Dimension zensorischer Eingriffe"462 ungeachtet des Zeitpunktes derselben (s.u.), des nicht auf ein Verbot nur der Vorzensur reduzierten Wortlauts des Art. 5 Abs. 1
Satz 3 GG, wie auch der im Folgenden diskutierten grammatischen, historisch-genetischen,
systematischen, wie auch teleologischen Auslegung des Verbots ist die Beschränkung desselben
auf nur ein Verbot der Vorzensur aber nicht strapazierbar: Ungeachtet dessen, dass dem Begriff
der Zensur insg. in der Literatur z.T. ambivalente, z.B. je nach Fachgebiet u.ä. divergierende
Deutungsmöglichkeiten konstatiert werden,463 ist die Sprache des GG keine besondere Rechtssprache, sondern prinzipiell eine nüchtern an Allgemeinverständlichkeit orientierte Sprache, so
dass i.V.m. dem Umstand, dass der Wortlaut des Verbots selbst nicht zwischen Vor- und Nachzensur differenziert, eine enge Auslegung des Zensurbegriffs als ausschl. Synonym der Vorzensur tendenziell bereits gem. der (diesbzgl. aber nur indiziellen)464 grammatischen Auslegung
nicht plausibel ist.465
Indiziell für den Bedeutungsgehalt des Zensurverbots ist auch die Entstehungsgeschichte desselben.466 Das BVerfG argumentierte einerseits i.S.e. Kontinuitätsthese, dass sich auch bereits das
analoge Verbot des Art. 118 Abs. 2 Satz 1 der Weimarer Reichsverfassung (WRV) gem. damals
h.M. nur auf ein Verbot der Vorzensur (und insb. ein Verbot des Verbots mit Erlaubnisvorbehalt) beschränkt habe.467 Andererseits habe der Abgeordnete Ludwig BERGSTRÄSSER
(SPD) im Rahmen der 25. Sitzung des Grundsatzausschusses des Parlamentarischen Rates am
24.11.1948 im Lichte des Entwurfes des Allgemeinen Redaktionsausschusses, dass nur eine
Vorzensur nicht stattfinden solle, zwar remonstriert, "so handelt es sich doch nur um einen
kleinen Teil der Zensur. Die Nachzensur wollen wir doch auch nicht."468 Die Äußerung sei aber
nicht weiter verfolgt worden. Der Ausschuß habe sich vielmehr auf eine Fassung im Anschluß
an die diesbzgl. Formulierung der WRV geeinigt.469 Einerseits ignoriert das Gericht aber nicht
nur den anhaltenden Auslegungsstreit über den Bedeutungsgehalt des Verbots bereits innerhalb
der Weimarer Republik selbst, den erst die nationalsozialistischen Zensurgesetze beendeten,470
sondern auch den Wandel des Staatsdenkens seitdem.471 NESSEL 2004 bspw. kritisierte diesbzgl.: "Mit solchen Begründungsversuchen wird die […] Worttreue des grundgesetzlichen
Verfassungsgebers mit einer Interpretationstreue gleichgesetzt, die unterschiedliche
Interpretationsergebnisse zum Weimarer Zensurverbot mit der Maxime eines allgemein
akzeptierten Entwicklungsstands zu nivellieren sucht, um diesen Rechtszustand dann doch nur
mit der herrschenden Verbotsvorstellung zu Art. 118 Abs. 2 S. 1 HS 1 WRV zu beschreiben. Es
ist jedoch unter keinem Aspekt nachvollziehbar, warum allein die Formulierungsgleichheit
einen Beleg zur Übernahme gerade der Weimarer Mehrheitsmeinung liefern könnte, wenn doch
der Weimarer Gegenansicht dieselbe Verbotsformulierung zugrunde lag."472 Andererseits
461
462
463
464
465
466
467
468
469
470
471
472
Vgl. BVerfGE 33, 52 (72); 47, 198 (236); 73, 118 (166); 83, 130 (155); 87, 209 (230); NOLTENIUS 1958, S. 106; GERNERT
1985, S.74f.; ROHDE 1996, S.1/102f./113f.; SEIM 1997, S.26; STEFEN 1998, S.238; ERDEMIR 2000, S.46ff.; GUCHT
2000, S.4f.; BUCHLOH 2002, S.29-32.; HÜPER 2004, S.1/9; NESSEL 2004, S.51/64; SCHULZ/BRUNN/DREYER et al.
2007, S.84f.; SCHULZ/ DREYER 2007b, S.3 und KASPEREK 2007, S.213f..
Vgl. SEIM 1997, S.26.
Vgl. HÜPER 2004, S.23f. unf PLACHTA 2006, S.13-19.
Vgl. BVerfGE 30, 1 (19)
Vgl. BUCHLOH 2002, S.33; PFEIFER 2003, S.135 und NESSEL 2004, S.32/49/142-159.
Vgl. BVerfGE 1, 299 (312); 8, 274 (307); 11, 126 (131) und HÜPER 2004, S.23.
Gem. HÜPER 2004 referieren Proponenten eines ausschließl. Verbotes der Vorzensur z.T. gar die Paulskirchenverfassung
vom 28.03.1849, die in Satz 2 des § 143 auch nur die Vorzensur verbot (S.13f.): "Die Preßfreiheit darf unter keinen
Umständen und in keiner Weise durch vorbeugende Maaßregeln, namentlich Censur [...] oder andere Hemmungen des freien
Verkehrs beschränkt, suspendirt [sic] oder aufgehoben werden."
Zitiert in: PIKART/WERNER 1993, S.654.
Vgl. BVerfGE 33, 52 (73); GUCHT 2000, S.13f./19; NESSEL 2004, S.14f./32; UHLENBROCK 2006, S.13 und KASPEREK
2007, S.146.
Vgl. GUCHT 2000, S.3; NESSEL 2004, S.23/106f. und KASPEREK 2007, S.144-147.
Vgl. HÜPER 2004, S.15.
NESSEL 2004, S.113f.; vgl. ROHDE 1996, S.2/92f. und HÜPER 2004, S.15.
95
formulierte auch bereits der Unterausschuss I für Grundsatzfragen des Verfassungskonvents auf
Antrag des hessischen Staatssekretärs Hermann L. BRILL (SPD) im Rahmen der fünften
Sitzung desselben am 19.08.1948 ein Verbot der Zensur als Verbot der Vor- und der
Nachzensur und nicht nur der Vorzensur. Der Rückschluss auf die Zulässigkeit einer
Nachzensur sollte ausdrücklich erst gar nicht hervorgerufen werden.473 Insofern verfolgte
nämlich auch der Grundsatzausschuss des Parlamentarischen Rates, der infolge der 25. Sitzung
nur noch ein Verbot der Zensur und nicht mehr nur der Vorzensur formulierte, tendenziell wahrscheinlicher die Äußerungen des Nichtwollens einer Nachzensur weiter und rezitierte vielmehr
den Verfassungskonvent und nicht die WRV.474 Hätte der Rat nur ein Verbot der Vorzensur
intendiert, wäre auch eine diesbzgl. präzise Formulierung (wie z.B.: "Eine Nachzensur findet
sich statt.") notwendig gewesen, der Begriff der Zensur selbst erfasste nämlich von Anfang an
im Rahmen der Diskussionen des Verfassungskonents, wie auch des Parlamentarischen Rates
immer sowohl die Vor-, wie auch die Nachzensur, so dass letztlich auch die Argumentation des
BVerfG nicht wirklich verfängt.475
Auch gem. der sog. "Gegenstandlosigkeitsthese"476 argumentierte das BVerfG, dass das Zensurverbot einzig die Vorzensur verbiete, denn im Fall eines Verbots auch der Nachzensur wären
die Schranken des Art. 5 Abs. 2 GG gegenstandslos.477 Die Argumentation verfängt aber nur
infolge einer Zensurdefinition, nach der Nachzensur eine jede Beschränkung der Kommunikationsgrundrechte nach der Publikation der Kommunikationsinhalte sein soll.478 Bereits
ROHDE 1996 argumentierte aber diesbzgl. plausibel, dass insofern Art. 5 Abs. 2 GG Schranke
der Meinungs-, Informations-, Presse-, Rundfunk- und Filmfreiheit und das Zensurverbot
diesbzgl. Schranken-Schranke ist, deutlich sei, "daß die zensorische Kontrolle inhaltlich eine
andere Qualität als die Beschränkung des Art. 5 Abs. 2 GG aufweisen muß. Da nun aber Art. 5
Abs. 2 GG eine Beschränkung der Rechte des Art. 5 Abs. 1 Satz 1 und 2 GG im Einzelfall,
aufgrund verfassungsrechtlich bestimmter und in ihrem jeweiligen Schutzgehalt definierter,
Einzelrechtsgüter gewährleistet, ist es evident, daß diese auf den Einzelfall abzielenden
Beschränkungsmöglichkeiten dort begrenzt werden müssen, wo sie in generalisierender und
planmäßiger Weise eine umfassende Meinungskontrolle oder -unterdrückung bewirken
könnten."479 I.d.S. sind nur anlassunabhängige und systematische Kontroll- und Repressivmaßnahmen (wie bspw. Verbote mit Erlaubnisvorbehalt und gleichermaßen systematische,
funktionelle Äquivalente) bereits formell zensurverbotswidrig, nicht aber anlassabhängige und
nur punktuelle Kontroll- oder(!) Repressivmaßnahmen.480 Letztlich argumentiert auch HÜPER
2004, dass insb. infolge systematischer Gründe auch die Nachzensur verboten sein muss:
"Würde [...] Art. 5 II GG gegenstandslos, wenn das Zensurverbot auch die Nachzensur erfasse,
so wäre Art. 5 II GG nur auf Maßnahmen der Nachzensur anwendbar, während Art. 5 I 3 GG
nur auf Maßnahmen der Vorzensur anwendbar wäre. Bei diesen verschiedenen zeitlichen
Anwendungsbereichen könnte Art. 5 I 3 GG nicht Schranken-Schranke des Art. 5 II GG
sein."481
Letztlich ist auch nach einer teleologischen Auslegung des Zensurverbotes ein Verbot der Vor-,
wie auch der Nachzensur notwendig: Einerseits können Zensurmaßnahmen zweifellos nicht nur
473
474
475
476
477
478
479
480
481
Vgl. ROHDE 1996, S.59 und NESSEL 2004, S.110. Bzgl. einer Darstellung der konzeptionellen Geschichte des Art. 5 Abs. 1
Satz 3 GG im Rahmen des Verfassungskonvents s. ROHDE 1996, S.54-62 und NESSEL 2004, S.109-115.
Vgl. ROHDE 1996, S.61/92f.; HÜPER 2004, S.16f. und NESSEL 2004, S.110-115. Diesbzgl. a.A. sind z.B. PFEIFER 2003,
S.272-275 und ERDEMIR 2000, S.43f.. Diesbzgl. diplomatischer ist HÜPER 2004, die argumentiert, dass die historischgenetische Auslegung weder nur ein Verbot der Vorzensur, noch ein Verbot der Vor- und der Nachzensur indizieren könne
(S.27-39).
Bzgl. diverser Darstellungen der Entstehungsgeschichte des Zensurverbots im Rahmen des Parlamentarischen Rates s.
ROHDE 1996, S.63-93; PFEIFER 2003, S.260-272 und NESSEL 2004, S.109-115.
NESSEL 2004, S. 137f..
Vgl. BVerfGE 33, 52 (72); ROHDE 1996, S.1.; ERDEMIR 2000, S.44; GUCHT 2000, S.12; SUFFERT 2002, S.95ff.;
HÜPER 2004, S.11ff. und NESSEL 2004, S. 137f..
Vgl. ROHDE 1996, S.121.
ROHDE 1996, S.170 und vgl. NESSEL 2004, S.142.
Vgl. ROHDE 1996, S.1117/75/187; GUCHT 2000, S.13; EISERMANN 2001, S.131; SUFFERT 2002, S.96f. und HÜPER
2004, S.14ff./39-50/64ff..
HÜPER 2004, S.16 und vgl. ROHDE 1996, S.142ff..
96
vor, sondern auch nach der Publikation von Kommunikationsinhalten zu anpasslerischer Vorsicht (Selbstzensuren) veranlassen, resp. das Geistesleben lähmen, dass das Zensurverbot ja
schützen soll.482 Andererseits soll der Art. 5 GG auch die Kommunikationsgrundrechte nicht nur
temporär gewährleisten. Dem BVerfG ist aber bereits hinreichend, dass ein Geisteswerk ein Mal
an die Öffentlichkeit gelangt und Wirkung auszuüben vermag, so dass Zensurmaßnahmen nach
der Publikation das Geistesleben prinzipiell nicht mehr lähmen könnten.483 Das ignoriert aber
nicht nur, dass ohne ein Verbot auch der Nachzensur Kommunikationsinhalte auch bereits in
einer logischen Sekunde nach der Publikation zensuriert werden könnten und der für eine
realistische Wirkungsentfaltung notwendige Zeitraum je nach Medium und Inhalt divergiert,
sondern auch, dass eine historische Retrospektive der Zensur nicht nur demonstriert, dass die
Nach- und nicht die Vorzensur die originäre Zensurmaßnahme war,484 sondern die Wirksamkeit
einer Zensurmaßnahme keine generelle Frage des Zeitpunkts der Maßnahme (vor oder nach der
Publikation), sondern der Art der Kommunikationsverbreitung ist. Die klassische Nachzensur
ist z.B. ggü. Tageszeitungen u.ä. Medien relativ unwirksam, nicht aber z.B. ggü. Medien mit
längerer Distributionsphase.485
Ungeachtet dessen argumentiert auch die h.M., dass einzig der Vorzensur auch eine "Gesamtverbreitungsbehinderungsoption"486 eigen sei, die eine Wirkungsentfaltung komplett inhibieren
kann.487 Das Argument verfängt aber insofern gem. HÜPER 2004 nicht, dass eine absolute
Inhibition von Kommunikationsinhalten gar keine notwendige Bedingung für das Vorliegen von
Zensur ist: "Die Tatsache, dass die Möglichkeit der Unterdrückung einer Meinung nicht
hundertprozentig sicher ist, wenn sie erst nach ihrer Verbreitung ansetzt, kann […] die Annahme einer größeren Gefährlichkeit der Vorzensur gegenüber der Nachzensur für die freie
individuelle und öffentliche Meinungsbildung nicht rechtfertigen, da auch Maßnahmen der
Vorzensur seit jeher Lücken aufweisen."488 Insofern muss davon ausgegangen werden, dass Art.
5 Abs. 1 Satz 3 GG letztlich formelle Vor-, wie auch Nachzensur verbietet.489 Ungeachtet dessen ist realtiv unstrittig, dass das Zensurverbot aber auch Maßnahmen erfasst, die bereits nur
faktisch wie Funktionsäquivalente einer formellen Zensur wirken können.490
10.2
Die Kunstfreiheit
Die zweite Schranke für Konzepte des Jugendmedienschutzes ist die nach Art. 5 Abs. 3 Satz 1
GG vorbehaltlos garantierte Freiheit der Kunst, die gleichermaßen Werk- und Wirkbereich
künstlerischen Schaffens schützt.491 Nur kollidierende Grundrechte Dritter, wie auch andere mit
Verfassungsrang ausgestattete Rechtsgüter können das prinzipiell uneinschränkbare Grundrecht
ausnahmsweise in einzelnen Beziehungen begrenzen (also die sog. verfassungsimmanenten
Schranken),492 so z.B. der Jugendschutz. MEIROWITZ 1993 argumentiert diesbzgl. im Lichte
der Wesensgehaltsgarantie, dass prinzipiell nur der Wirk-, nicht aber der Werkbereich der Kunst
begrenzt werden darf.493 Sinn und Aufgabe des Grundrechts ist nämlich gem. BVerfG, "die auf
482
483
484
485
486
487
488
489
490
491
492
493
Vgl. HOFFMANN-RIEM 1989, S.458; BUCHLOH 2002, S.30f.; SUFFERT 2002, S.98ff.; HÜPER 2004, S.50-86 und
NESSEL 2004, S.216.
Vgl. BVerfGE 33, 52 (72); HÜPER 2004, S.57 und KASPAREK 2007, S.147-151.
Vgl. SUFFERT 2002, S.100f. Bzgl. der Entwicklungsgeschichte der Zensur seit der Antike s. PFEIFER 2003, S.188-259 und
NESSEL 2004, S.74-108. Bzgl. der Entwicklungsgeschichte der neuzeitlichen Zensur in Deutschland seit Erfindung des Buchdrucks s. PLACHTA 2006. Bzgl. dgl. und einer detaillierten Darstellung der diesbzgl. Entwicklungen seit dem 19. Jahrhundert
und insb. der Entwicklung des Zensurverbotes s. ROHDE 1996, S.4-53.
Vgl. BUCHLOH 2002, S.30f.; SUFFERT 2002, S.98-101 und HÜPER 2004, S.15f..
HÜPER 2004, S.56.
Vgl. SUFFERT 2002, S.98 und HÜPER 2004, S.12f..
HÜPER 2004, S.56.
Vgl. ROHDE 1996, S.187 und HÜPER 2004, S.14-17.
Vgl. BVerfGE 87, 209 (232f.); BVerwGE 23, 194; GUCHT 2000, S.22-31; SUFFERT 2002, S.103-107; BÄR 2003, S.85f.;
NESSEL 2004, S.57; BRAUHARDT 2007, S.30; KASPEREK 2007, S.214 und SCHULZ/BRUNN/DREYER et al. 2007,
S.85. Bzgl. diverser a.A. s. GUCHT 2000, S.28ff.. Bzgl. diverser Bsp. faktischer Zensur s. BRAUHARDT 2007, S.30-38 und
KASPEREK 2007, S.170-177.
Vgl. BVerfGE 30, 173 (189-192).
Vgl. BVerfGE 28, 243 (261); 67, 213 (228); 69, 1 (54f.); 81, 278 (292f.); GOTTBERG 2002, S.32; PFEIFER 2003, S.79 und
ERDEMIR 2000, S.29f.. Bzgl. einer detaillierten Diskussion der grundrechtsimmanenten Schranken der Kunstfreiheit s.
MEIROWITZ 1993, S.182-187 und BEISEL 1997.
Vgl. MEIROWITZ 1993, S.186.
97
der Eigengesetzlichkeit der Kunst beruhenden, von ästhetischen Rücksichten bestimmten
Prozesse, Verhaltensweisen und Entscheidungen von jeglicher Ingerenz öffentlicher Gewalt
freizuhalten."494 Generell darf aber auch der Wirkbereich insg. nur so begrenzt werden, dass
Erwachsene die Kunstwerke noch rezipieren können.495 Ungeachtet dessen zieht natürlich auch
die Kunstfreiheit ihrerseits der Ausübung und dem Geltungsbereich des Jugendschutzes
Schranken.496 Weder die Kunstfreiheit, noch der konkurrierende Jugendschutz haben einen
generellen Vorrang voreinander, so dass im Rahmen einer notwendigen Güterabwägung im
Einzelfall praktische Konkordanz hergestellt werden muss.497 Gem. ERDEMIR 2000 wird aber
im Zweifelsfall ein nur vorbehaltlich gewährleistetes einem vorbehaltslosen Grundrecht
weichen müssen, "um nicht die unterschiedliche Gewährleistung zu unterlaufen."498 Die Kunstfreiheit ist ggü. den diskutierten Medieninhalten aber nur relevant, insofern sie überhaupt
Kunstcharakter haben; i.S.d. notwendigen, verfassungsrechtlichen Schutzbereichsbestimmung499
hat das BVerfG insg. drei weite Kunstbegriffe formuliert, gem. derer Kunst von "NichtKunst"500 abgegrenzt werden können soll.
Nach dem formalen, typologischen Kunstbegriff ist das Wesentliche eines Kunstwerkes, "daß
bei formaler, typologischer Betrachtung die Gattungsanforderungen eines bestimmten Werktyps
erfüllt sind […]."501 Das Gericht selbst exemplifizierte, dass "Tätigkeit und […] Ergebnisse
etwa des Malens, Bildhauens, Dichtens"502 per se Kunst seien. Die Werke der sog. schönen
Künste, d.h. Musik, Literatur, bildende (z.B. Malerei, Grafik, Bildhauerei, Architektur,
Fotographie) und darstellende Kunst (z.B. Theater, Tanz), sind infolge dessen zweifellos Kunst.
Ungeachtet dessen, dass die ausschl. Orientierung an Phänotypen etablierter Kunst die für die
Kunst so typische, wie essentielle Avantgarde ignorieren könnte,503 so dass der skizzierte Kunstbegriff auch nur eine hinreichende, nicht aber notwendige Bedingung des Kunstcharakters eines
Werkes sein kann, sind bspw. Spielfilme nicht nur genuine Werke bildender Kunst,504 sondern
(wie bspw. auch die Oper) regelmäßig auch ein Konglomerat der diversen etablierten Kunstgattungen. Dasselbe gilt natürlich auch für Computerspiele,505 die i.d.S. per se intrinsische Kunst
sind.
Nach dem sog. offenen (zeichentheoretischen) Kunstbegriff ist das Wesentliche eines Kunstwerks, "dass es wegen der Mannigfaltigkeit ihres Aussagegehaltes möglich ist, der Darstellung
im Wege der fortgesetzten Interpretation immer weiterreichende Bedeutungen zu entnehmen, so
dass sich eine praktisch unerschöpfliche, vielstufige Informationsvermittlung ergibt [...]."506 Im
Lichte der Polymorphie und -semie der Medieninhalte, resp. der generellen Multidechiffrierbarkeit derselben i.V.m. mit der Subjektivität, resp. der Produktivität des Rezipienten,507 ist das für
die diskutierten Spiele aber per se der Fall. Ungeachtet dessen warnt bspw. MEIROWITZ 1993,
dass dem Begriff eine "versteckte Qualitätsbeurteilung sowie der Ausschluß jeglichen fehlgeschlagenen künstlerischen Bemühens" inhärent sein könnte und zudem auch die Gefahr
bestehe, "daß derzeit noch unverständliche avangardistische Kunst ausgenommen bleibt, da sie
mangels Verständnisses keine vielstufige Informationsvermittlung entfalten könne."508
Letztlich sind die diskutierten Spiele auch i.S.d. ältesten der Kunstbegriffe, des materiellen
Kunstbegriffs, per se Kunst. Nach diesem Kunstbegriff soll das Wesentliche eines Kunstwerks
494
495
496
497
498
499
500
501
502
503
504
505
506
507
508
Vgl. BVerfGE 30, 173 (189f.).
Vgl. ERDEMIR 2000, S.123.
Vgl. BVerfGE 77, 240 (253).
Vgl. BVerfGE 83, 130 (143); MEIROWITZ 1993, S.185 und MONSSEN-ENGBERDING 1998, S.114f..
ERDEMIR 2000, S.30.
BVerfGE 67, 213 (225) und 75, 369 (377).
BGH, Urt. v. 03.06.1975, Az.: VI ZT 123/74.
BVerfGE 67, 213 (226f.).
BVerfGE 67, 213 (226f.).
Vgl. MEIROWITZ 1993, S.163.
Diesbzgl. a.A. ist bspw. SUFFERT 2002, S.109.
Vgl. STATH 2006, S.162.
BVerfGE 67, 213 (227).
Vgl. WINTER 1995.
Vgl. MEIROWITZ 1993, S.165.
98
die "freie schöpferische Gestaltung" desselben sein, "in der Eindrücke, Erfahrungen, Erlebnisse
des Künstlers durch das Medium einer bestimmten Formensprache zu unmittelbarer Anschauung gebracht werden. Alle künstlerische Tätigkeit ist ein Ineinander von bewussten und unbewussten Vorgängen, die rational nicht aufzulösen sind. Beim künstlerischen Schaffen wirken
Intuition, Phantasie und Kunstverstand zusammen; es ist primär nicht Mitteilung, sondern Ausdruck und zwar unmittelbarster Ausdruck der individuellen Persönlichkeit des Künstlers."509
In der Literatur werden zwei weitere Indizien für die Feststellung des Kunstcharakters eines
Werkes diskutiert: Erstens die subjektive Selbstdefinition des Grundrechtsträgers als Künstler,
resp. seines Werks als Kunst. Dass der Grundrechtsträger sich selbst nicht als Künstler, resp.
sein Werk nicht als Kunstwerk definiert ist aber im Umkehrschluss natürlich kein Indiz für den
fehlenden Kunstcharakter eines Werkes. Zweitens die Anerkennung durch kunstsachverständige
Dritte: MEIROWITZ 1993 warnt aber vor den diesbzgl. Problemen, wie z.B. der "Auslieferung
an Vorurteile Dritter, begrenzten Sachverstand, Irrtümer von Experten, Orientierungslosigkeit in
der Kunsttheorie"510 u.ä. und auch ERDEMIR 2000 argumentiert, dass beides nur von von
indizieller Bedeutung sein kann, "will man den Kunstbegriff nicht durch Schaffung eines
subjektiven Definitionsmonopols für juristisch unbrauchbar erklären." 511
Computerspiele sind damit letztendlich eine intrinsische Kunstgattung und infolge dessen auch
generell und nicht nur ausnahmsweise (wie in der Literatur regelmäßig und auch noch ohne
Beispiele berhauptet wird)512 von der Kunstfreiheit erfasst.513 Mithin sind auch kaum oder gar
keine Spiele denkbar, die nicht erfasst sein könnten. Nach RÖTZER 2003 stellen Computerspiele gar die "eigentliche Kunstform des digitalen Zeitalters"514 dar und auch nach Gerhard
FLORIN, dem ehem. Executive Vice President und General Manager International Publishing
der Electronic Arts Inc., stellen sie das "wichtigste kulturelle Medium dieses Jahrhunderts" dar,
so dass er warnt: "Wenn wir uns weigern, Computerspiele als legitime Kunst anzuerkennen,
riskieren wir ein Jahrhundert der kulturellen Stille."515
Auch insofern die Medieninhalte gewaltdarstellend sind, negiert das grundsätzlich nicht ihren
Kunstcharakter,516 wie auch das BVerfG konstatierte: "Die Kunstfreiheit umfaßt auch die Wahl
eines jugendgefährdenden, insbesondere Gewalt [...] thematisierenden Sujets sowie dessen Beund Verarbeitung nach der vom Künstler selbst gewählten Darstellungsart."517 Tatsächlich ist
Gewalt ja auch bereits seit der Antike ein integrales, ja zentrales Sujet der Kunst.518 Die Anerkennung des Kunstcharakters darf auch nicht als bspw. nur (vermeintlich) trivialer Kommerz
o.ä. von verfassungsrechtlich unzulässigen (und insg. überlegenheitsdünkelnden) Stil-, Niveauu./o. Inhaltskontrollen u./o. gar nur der Beurteilung (vermeintlicher) bspw. jugendbeeinträchtigender, -gefährdender oder sozialschädlicher Wirkungspotenziale der Werke abhängig
gemacht werden.519 Insofern ist es auch irrelevant, dass Gewaltdarstellungen so regelmäßig wie
salopp als Ramsch oder "Schrott" diskreditiert werden.520
11.
Die Indizierung Gewalt darstellender Computerspiele durch die Bundesprüfstelle
Nach Inkrafttreten des Reichsstrafgesetzbuches am 15.05.1871 wurde gem. § 184 desselben
erstmalig pönalisiert, wer sog. unzüchtige Schriften, Abbildungen oder Darstellungen, d.h. insb.
509
510
511
512
513
514
515
516
517
518
519
520
BVerfGE 30, 173 (188f.).
MEIROWITZ 1993, S.167.
ERDEMIR 2000, S.24.
Vgl. SCHULZ/BRUNN/DREYER et al. 2007, S.78.
Vgl. STATH 2006, S.162/257 und SCHULZ 2007, S.10.
RÖTZER 2003, S.9.
Zitiert in: GRAFF 2005b, S.3.
Vgl. SCHULZ/BRUNN/DREYER et al. 2007, S.79 und SCHULZ/DREYER 2007b, S.2.
BVerfGE 83, 130 (147f.).
Vgl. ROSENTHAL 1989, S.142; KUNCZIK 1993; HEIDTMANN 2003, S.9; ZIMMERMANN/SCHULZ 2007, S.12 und
ZIMMERMANN 2009.
Vgl. BVerfGE 75, 369 (377); 81, 278 (291); 83, 130 (138/147ff.) und BVerfG, Urt. v. 03.11.2000, Az.: 1 BvR 581/00.
Vgl. EISENHAUER/HÜBNER 1988, S.217.
99
Erotika i.w.S., "verkauft, vertheilt [sic] oder sonst verbreitet, oder an Orten, welche dem
Publikum zugänglich sind, ausstellt oder anschlägt […]."521 Die Norm wurde im Rahmen der
sog. "Lex Heinze" vom 25.06.1900, bzgl. der sich das Regentenpaar (insb. Kaiserin Auguste
Viktoria) persönlich engagierte,522 novelliert, so daß seitdem nach Abs. 2 u.a. auch pönalisiert
wurde, "wer […] Unzüchtige Schriften, Abbildungen oder Darstellungen einer Person unter
sechzehn Jahren gegen Entgelt überläßt oder anbietet;" erstmalig legitimierte ein vermeintlicher
Jugendmedienschutz ein deutsches Zensurgesetz. Die Reichsregierung präsentierte 1914 einen
Entwurf eines Gesetzes gegen die Gefährdung der Jugend durch Zurschaustellung von
Schriften, Abbildungen und Darstellungen (sog. Schaufenstergesetz), der noch weitere
Einschränkungen der Medienfreiheit intendierte, aber dank des Votums der SPD-Fraktion im
Reichstag kein Gesetz wurde.523
Nach dem 1. Weltkrieg beschloss aber die Weimarer Nationalversammlung am 15.04.1920 auf
Druck der konservativen Parteien die Formulierung eines analogen Gesetzesentwurfs gegen sog.
Schund- und Schmutzliteratur und argumentierte u.a., dass die inkriminierte Literatur (und
Filme) die Nachkriegsjugend kriminalisier(t)e(n).524 Am 12.09.1923 vereinbarten in Genf zwar
bereits über 90 Staaten inkl. des Deutschen Reichs eine Restriktion der Verbreitung unzüchtiger
Schriften in ihren Hoheitsgebieten, aber erst am 18.12. 1926 trat letztlich das Gesetz zur
Bewahrung der Jugend vor Schund- und Schmutzschriften (SchSchmG) in Kraft, nach dem
solche Schriften in eine öffentlich Liste aufgenommen werden sollten; die Rechtsfolgen der sog.
Indizierung waren nach Abs. 1 des Gesetzes diverse Abgabe-, Präsentations-, Verbreitungs- und
Werbeverbote. Infolge dessen wurden gem. § 2 Abs. 1 SchSchmG zwei Prüfstellen in Berlin
und München und als Revisionsinstanz eine Oberprüfstelle in Leipzig installiert. Die Prüfstellen
wurden auf Antrag tätig, antragsberechtigt waren die Landeszentralbehörden und die
Landesjugendämter. Seit Inkrafttreten des nationalsozialistischen Reichskulturkammergesetzes
(RKG) vom 22.09.1933 war das Gesetz obsolet, so dass die Reichskulturkammer (RKK) es am
10.04.1935 aufhob.525 Stattdessen erließ Joseph GOEBBELS, Präsident der RKK, am 25.04.
1935 eine "Anordnung über schädliches und unerwünschtes Schrifttum", gem. deren § 1 die
RKK eine (nicht öffentliche) Liste solcher Bücher und Schriften führen sollte, "die das nationalsozialistische Kulturwollen gefährden. Die Verbreitung dieser Bücher und Schriften durch
öffentlich zugängliche Büchereien und durch den Buchhandel in jeder Form […] ist untersagt."
Seit das RKG im Rahmen der Besatzungszeit per alliierter Kontrollratsgesetze im Jahr 1945
aufgehoben und das GG am 23.05.1949 in Kraft getreten war, reorientierten sich bürgerliche
Jugendschützer an den kaiserlichen und vor allem den weimarer Jugendmedienschutzentwürfen;
Rheinland-Pfalz war das erste Bundesland, das ein Landesgesetz zum Schutze der Jugend vor
Schmutz und Schund vom 12. Okt. 1949 verabschiedete. Ganz i.S.d. Schaffung eines neuen
Bundesgesetzes engagierten sich aber insb. bereits CDU und CSU, wie auch die evangelische
Innere Mission und der katholische Volkswartbund (VWB).526
Am 14.10.1949, nicht einen Monat nach der Konstituierung der ersten Bundesregierung, hatten
Heinrich von BRENTANO (CDU) und 24 Parteikameraden einen Antrag für ein im Wesentlichen vom Generalsekretär des VWB, Michael CALMES, formuliertes Schmutz- und Schundgesetz im Deutschen Bundestag eingereicht.527 In der 24. Sitzung des Deutschen Bundestages
am 10.11.1949 ersuchten infolge dessen die CSU-Fraktion und Franz J. STRAUß’ (CSU)
Bundestagsausschuß für Fragen der Jugendfürsorge die Bundesregierung einstimmig,
"angesichts der die deutsche Jugend und die öffentliche Sittlichkeit bedrohenden Entwicklung
gewisser Auswüchse des Zeitschriftenwesens ein Bundesgesetz gegen Schmutz und Schund
521
522
523
524
525
526
527
Vgl. BOSSELMANN 1987, S.8.
Vgl. TAUBERT 2004, S.27.
Bzgl. der sozialen Bewegung gegen Schundliteratur im deutschen Kaiserreich s. MAASE 2002.
Vgl. DECKER 2005, S.12.
Vgl. DICKFELDT 1979, S.28ff.; BOSSELMANN 1987, S.9ff.; KOLFHAUS 1994, S.141ff.; SEIM 1998, S.15ff.;
LIESCHING 2002, S.18/62 und PLACHTA 2006, S.159-162. Bzgl. einer Skizzierung des diesbzgl. nationalsozialistischen
Zensurregimes des 3. Reichs s. BOSSELMANN 1987, S.11f.; SEIM 1997, S.119-122; SEIM 1998, S.21-26; LIESCHING
2002, S.34-41 und PLACHTA 2006, S.170-183.
Vgl. DICKFELDT 1979, S.144.
Vgl. BT-Drs. I/103 und DICKFELDT 1979, S.14/123/144ff..
100
vorzulegen." Der Bundestag akzeptierte die Ersuchung am 16.12.1949 gegen das Votum der
KPD. Bundeskanzler Konrad ADENAUER (CDU) übermittelte dem Bundestag infolge dessen
am 28.06.1950 einen Entwurf eines Gesetzes über den Vertrieb jugendgefährdender Schriften
inkl. Begründung.528 In letzterer argumentierte die Regierung, dass seit Jahren in einem
"besorgniserregendem Umfang" Schriften vertrieben worden seien, die eine "ernste Gefahr für
die heranwachsende Jugend" seien, weil sie die Jugend kriminalisierten.529 Dass die Gefahr
dringend geworden sei, "zeigt die sich ständig mehrende kriminelle Betätigung Jugendlicher,
Erfahrungsberichte von Jugendrichtern, aber auch von Ärzten beweisen, welche verheerende
moralische Wirkung viele heute frei käufliche, insbesondere auf sexuellen Anreiz gerichtete
Schriften für Jugendliche im Pubertätsalter haben können."530 Die Regierung rezitierte i.d.S.
alltagstheoretische Ressentiments, deren Folge bereits das originäre SchSchmG gewesen war,
ein Gesetzt, das sie als Paradebeispiel effektiven, die Medienfreiheit nicht negativ tangierenden
Jugendmedienschutzes rühmte!531 Das ignorierte aber den umfangreichen Korpus der Kritik
ggü. dem SchSchmG, bspw. seitens Intellektueller, des liberal-demokratischen Bürgertums und
diverser (linker) Parteien,532 wie auch seinen Missbrauch als politisches Zensurgesetz,533 so dass
eine dreijährige (zur weimarer Reichstagsdebatte prinzipiell analoge) parlamentarische Debatte
über das Gesetz ausgelöst wurde,534 bis das GjS letztlich am 14.07.1953 in Kraft trat und –
ungeachtet der Odyssee des Entwurfs –535 das bewahrpädagogische Indizierungskonzept des
SchSchmG perpetuierte, ja im Wesentlichen formulatorisch (identisch) kopierte.536
11.1
Die Rechtsfolgen einer Indizierung
Infolge dessen installierte der Bund am 14.07.1953 die sog. Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften (BPjS)537 – seit Inkrafttreten des JuSchG führt die Behörde gem. § 17
Abs. 1 den Namen Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien (BPjM) –, eine originär
dem Bundesministerium des Innern, seit ihrer ersten konstituierenden Sitzung vom 18.05.1954
aber dem Bundesministerium für Familienfragen, resp. ihren Nachfolgeministerien, d.h. seit
1994 dem Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ)
nachgeordnete, kollegiale und selbständige Bundesoberbehörde in Bonn. Der Bund hatte, resp.
hat i.d.S. abschließend von seinem Gesetzgebungsrecht Gebrauch gemacht.538 Die BPjM ist das
Fundament des ordnungsrechtlichen deutschen Jugendmedienschutzes, denn i.d.R. ist sie es, die
nach § 17 Abs. 2 JuSchG über die Aufnahme sog. jugendgefährdender Medien in und ggf. über
ihre Streichung aus dem sog. Index entscheidet.539 Die Rechtsfolgen der sog. Indizierung sind
528
529
530
531
532
533
534
535
536
537
538
539
Vgl. BT-Drs. I/1101.
Vgl. DICKFELDT 1979, S.159.
BT-Drs. I/1101, S.8.
Vgl. BOSSELMANN 1987, S.12f..
Vgl. DICKFELDT 1979, S.13 und LIESCHING 2002, S.16f..
Vgl. DICKFELDT 1979, S.157.
Vgl. DICKFELDT 1979, S.123 und PLACHTA 2006, S.203f.. Bzgl. zweier Zusammenfassungen der parlamentarischen
Diskussionsbeiträge s. DICKFELDT 1979, S.154-160 und BUCHLOH 2002, S.115-132. Der Entwurf (und letztlich das
realisierte Gesetz) war(en) im Lichte der frappierenden materiellen und sozialen Probleme der Nachkriegszeit, wie z.B. der
Wohnungsnot (ca. drei Millionen Obdachlosen), der Arbeitslosigkeit (ca. 1,5 Millionen Arbeitslosen), dem Schul- und Lehrstellenmangel, der Nahrungsmittel- und Brennmittelknappheit, wie der Kriegswaisen, d.h. der desolaten sozialen Situation
insg. absurd, auch nach der Auffassung parlamentarischer, wie außerplaramentarischer Zeitgenossen. Seitens der bzgl. des
Entwurfs konsultierten (vermeintlichen) Jugendschützer wurden die Probleme ignoriert, denn Schuld an der Misere sei ein
Mangel an Ethik, an christlicher Sittlichkeit (vgl. DICKFELDT 1979, S.118f./157; SEIM 1997, S.144; VOLLBRECHT 2001,
S.40 und BUCHLOH 2002, S.124). Kritiker wie Erich KÄSTNER, der 1950 als diesbzgl. Sachverständiger vor dem Bundestag auftrat, monierten die Symptombekämpfung: "Wenn's schon nicht gelingt, die tatsächlichen Probleme zu lösen, die
Arbeitslosigkeit, die Flüchtlingsfrage, die Steuerreform, dann löst man geschwind ein Scheinproblem. Hokuspokus – endlich
ein Gesetz! Endlich ist die Jugend gerettet! Endlich können sich die armen Kleinen am Kiosk keine Aktphotos mehr kaufen
und bringen das Geld zur Sparkasse." (zitiert in: SEIM 2004) Auch Irma KEILHACK (SPD) monierte bereits im Rahmen der
dritten Lesung des Gesetzesentwurfes in der 230. Sitzung des Deutschen Bundestages am 17.09.1952, dass der Enwurf der
Regierung unplausibel und der diesbzgl. Stand der Medienwirkungsforschung nicht hinreichend sei: Im Rahmen einer Anhörung des Bundestagsausschußes für Fragen der Jugendfürsorge habe bspw. keiner der konsultierten Psychologen, Richter,
Erzieher oder Schriftsteller konkret eine durch die inkriminierten Schriften induzierte Jugendgefährdung belegen können (vgl.
BUCHLOH 2002, S.115).
Vgl. BT-Drs. I/3666 und I/4158.
Vgl. SEIM 1997, S.143 und LIESCHING 2002, S.62. Bzgl. der Geschichte der Indizierung s. bspw. STUMPF 2009, S.32-42.
Vgl. BUCHLOH 2002, S.82 und PLACHTA 2006, S.203f..
Vgl. MEIROWITZ 1993, S.220ff. und STATH 2006, S.47.
Bzgl. der Listenführung s. § 18 Abs. 2 JuSchG i.V.m. § 13 Abs. 1 DVO-JuSchG. Gem. § 13 Abs. 2 DVO muss die BPjM die
101
nach § 15 Abs. 1 Nr. 1 bis 5 JuSchG ein generelles Jugendverbot und diverse relative, wie auch
absolute Präsentations-, Verbreitungs- und Werbeverbote für die betroffenen Medien.540
Indizierte Medien, deren Indizierung bekannt gemacht wurde, dürfen Kindern und Jugendlichen
generell insb. nicht zugänglich gemacht werden,541 d.h.:
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
einem Kind oder einer jugendlichen Person angeboten, überlassen oder sonst
zugänglich gemacht werden,
an einem Ort, der Kindern oder Jugendlichen zugänglich ist oder von ihnen
eingesehen werden kann, ausgestellt, angeschlagen, vorgeführt oder sonst
zugänglich gemacht werden,
im Einzelhandel außerhalb von Geschäftsräumen, in Kiosken oder anderen
Verkaufsstellen, die Kunden nicht zu betreten pflegen, im Versandhandel oder in
gewerblichen Leihbüchereien oder Lesezirkeln einer anderen Person angeboten
oder überlassen werden,
im Wege gewerblicher Vermietung oder vergleichbarer gewerblicher Gewährung
des Gebrauchs, ausgenommen in Ladengeschäften, die Kindern und Jugendlichen
nicht zugänglich sind und von ihnen nicht eingesehen werden können, einer
anderen Person angeboten oder überlassen werden,
im Wege des Versandhandels eingeführt werden,
öffentlich an einem Ort, der Kindern oder Jugendlichen zugänglich ist oder von
ihnen eingesehen werden kann, oder durch Verbreiten von Träger- oder
Telemedien außerhalb des Geschäftsverkehrs mit dem einschlägigen Handel
angeboten, angekündigt oder angepriesen werden,
hergestellt, bezogen, geliefert, vorrätig gehalten oder eingeführt werden, um sie
oder aus ihnen gewonnene Stücke im Sinne der Nummern 1 bis 6 zu verwenden
oder einer anderen Person eine solche Verwendung zu ermöglichen.
I.d.S. existieren für indizierte Trägermedien prinzipiell nur drei legale Vertriebswege: Erstens
dürfen Gewerbetreibende indizierte Medien u.a. im Einzelhandel innerhalb von Geschäftsräumen, die Kindern und Jugendlichen zugänglich sind u/o. von ihnen eingesehen werden
können, dank der Präsentationsverbote der Nr. 2 weder zugänglich machen, noch gem. der
Werbeverbote der Nr. 6 anbieten, ankündigen oder anpreisen542 und i.d.S. auch Erwachsenen
nur "unter dem Ladentisch" (auf dezidierte Nachfrage hin) verkaufen. Indizierte Medien dürfen
nämlich nur innerhalb von Ladengeschäften, die Kindern und Jugendlichen nicht zugänglich
sind und nicht von ihnen eingesehen werden können, wie auch innerhalb des Geschäftsverkehrs
mit dem einschlägigen Handel, nicht aber in der Öffentlichkeit beworben werden (bspw. per
Zeitungsannonce, Postwurfsendung, Plakat- oder Fernsehwerbung); auch die sog. Gegenstandsneutrale Werbung ist verboten,543 so dass z.T. gar argumentiert wird, dass selbst die Namensnennung verboten sei.544
Zweitens ist auch die gewerbliche Vermietung u.ä. nur innerhalb der skizzierten Ladengeschäfte
legal: Ladengeschäfte sind räumlich und organisatorisch eigenständig betriebene Einzelhandels-
540
541
542
543
544
öffentlichen Teile des Index in einer geeigneten Weise übersichtlich zusammenstellen und veröffentlichen; i.d.S. publiziert die
BPjM den Index nach § 23 Abs. 3 JuSchG monatlich im BAnz., wie auch im vierteljährlichen amtlichen Mitteilungsblatt
BPJM-AKTUELL und dem monatlichen JMS-REPORT (vgl. SEIM 1997, S.184).
Vgl. BUCHLOH 2002, S.83 und SEIM 2003, S.524.
Bzgl. einer Definition des Zugänglichmachens s. MONSSEN-ENGBERDING 1998, S.120, WENDLAND 2003, S.5 und
STATH 2006, S.114f.. Bzgl. einer detaillierteren Definition des gleichermaßen verbotenen Verbreitens s. BGHSt 36, 56 und
LIESCHING 2002, S.66f.. Bzgl. einer Definition der Tatbestände des Anbietens und des Überlassens, die Derivate des
Zugänglichmachens sind, s. BGHSt 34, 94 (98); SCHOLZ 1999, S.26 und STATH 2006, S.236-241. Nach § 1 Abs. 2 Satz 2
JuSchG stehen dem gegenständlichen Zugänglichmachen u./o. Verbreiten von Trägermedien ihre elektronischen Pendants
gleich, soweit es sich nicht um Rundfunk i.S.d. § 2 RStV handelt. Die Regelung hat prinzipiell kaum Praxisrelevanz, denn
Medieninhalte, die z.B. mittels elektronischer Datenübertragung transferiert werden, sind i.d.R. per definitionem Telemedieninhalte (vgl. STATH 2006, S.53f.). HEYL/LIESCHING 2008 argumentieren i.d.S., dass ein elektronischer Versand immer nur
dann anzunehmen sei, "wenn der Inhalt eines Trägermediums auf elektronischem Wege ohne Nutzung eines Telemediums
versandt wird. Erfasst wird daher z.B. die Übermittlung von Texten und Bildern per Telefax. Auch das Vorlesen eines
indizierten oder pornografischen Buches am Telefon stellt einen elektronischen Versand dar. Nach ganz herrschender Meinung
nicht erfasst ist aber die Verbreitung von Trägermedien Daten über das Internet oder als Anhang einer E-Mail. Denn insoweit
handelt es sich um ein Telemedium nach Abs. 3, auf das in erster Linie die Vorschriften des JMStV Anwendung finden."
(S.10)
OLG Hamburg, Beschl. v. 10.11.2006, Az.: III – 124/06 – 1 Ss 214/06 und vgl. LG Düsseldorf, Urt. v. 21.09.2004, Az.: 70 Js
6582/01.
Vgl. BVerfG, Beschl. V. 22.03.1986 (Az.: 2 BvR 1499/84, 99/85); BVerwG, Urt. v. 08.03.1977, Az.: I C 39.72; und SEIM
1997, S.149. Gegenstandsneutral ist i.d.S. Werbung, die selbst nicht jugendgefährdend ist und die jugendgefährdenden Inhalte
nicht anpreist. Das absolute Werbeverbot galt im Rahmen des GjS gem. BGHSt 15, 153 (154) und 26, 156 (158) nicht für öffentliche Filmveranstaltungen (vgl. DEGENHART 2008, S.10f.).
Vgl. MONSSEN-ENGBERDING 1998, S.124.
102
geschäfte, die ausschl. von öffentlichen Verkehrsflächen zu betreten sein dürfen und eigenes
Personal (oder bestimmte technische Sicherungen)545 haben müssen.546 Illegal sind i.d.S. gem.
Rechtsprechung z.B. sog. Wechselvideotheken,547 wie auch das sog. "Shop in the Shop"System.548 Die Verbote sollen insb. der öffentlichen Kontrolle der Gewerbetreibenden, aber
auch der Kinder und Jugendlichen selbst dienen.549
Der dritte legale Vertriebsweg ist der Versandhandel, denn verboten ist nicht der Versandhandel
per se, sondern gem. Legaldefinition des § 1 Abs. 4 JuSchG nur ein entgeltliches Geschäft, "das
im Wege der Bestellung und Übersendung einer Ware durch Postversand oder elektronischen
Versand ohne persönlichen Kontakt zwischen Lieferant und Besteller oder ohne dass durch
technische oder sonstige Vorkehrungen sichergestellt ist, dass kein Versand an Kinder und
Jugendliche erfolgt, vollzogen wird."550
Kurioserweise dürfen indizierte Medien nach Nr. 5 der Norm auch nicht ohne persönlichen
Kontakt zwischen Lieferant und Besteller zwecks Alterskontrolle oder ohne dass durch
technische oder sonstige Vorkehrungen sichergestellt ist, dass kein Versand an Kinder und
Jugendliche erfolgt, importiert werden: Eine relativ gegenstandslose Regelung, denn die (ohne
Weiterverbreitungsabsicht) bei einem ausländischen Versand bestellenden inländischen Endverbraucher machen sich nicht als Einführer strafbar, sind nur notwendige Teilnehmer der
dadurch verursachten strafbaren Einführung durch ausländische Vertreiber,551 die aber i.d.R.
gem. der Gesetze der Vertreiberländer legal handeln und nicht nach deutschem Recht belangt
werden können. Die Norm legitimiert aber bspw. eine Alterskontrolle des inländischen Endverbrauchers durch deutsche Zollbehörden, die Postsendungen indizierter Medien i.d.S. zurück545
546
547
548
549
550
551
Vgl. BGHSt 48, 278.
Vgl. BayOblG, Urt. v. 11.03.1986, Az.: RReg 4 St 226/85; LG Hamburg, Beschl. v. 02.12.1988, Az.: 1300 Js 155/88;
MONSSEN-ENGBERDING 1998, S.121f.; WENDLAND 2003, S.5 und BPjM 2008a.
Vgl. LG Hannover, Beschl. v. 17.04.1986, Az.: 32 Qs 104/85.
Vgl. BGH, Urt. v. 07.07.1987, Az.: 1 StR 247/87; BayOblG, Urt. v. 11.03.1986, Az.: RReg 4 St 226/85; BT-Drs. 10/2546,
S.17/24f. und SCHOLZ 1999, S.61f.. Eine originäre Intention des die Vermietverbote diktierenden JÖSchNG vom 25.02.1985,
wie der rigiden Definition eines Ladengeschäfts, war eine Unrentabilität, resp. die Reduzierung sog. Erwachsenenvideotheken
zugunsten sog. Familienvideotheken und i.d.S. gleichermaßen die Reduzierung jugendgefährdender Videofilme insg.;
GOTTBERG 1999 konstatierte aber, "dass dies nicht gelungen ist. Die Mehrheit der Videotheken wollte vor allem auf das
Geschäft mit Pornographie nicht verzichten und erklärte […] ihren Laden zur Videothek für Erwachsene […]. Da sich
Jugendliche ihre Videos nun durch Ältere besorgen lassen mussten […], spielten die Altersfreigaben und die Indizierungen für
den Konsum letztlich eine nur geringe Rolle." (S.43) Dgl. auch BT-Drs. 14/1105, S.3-9 und HEIDTMANN 1992, gem. dem
das Verbot gar u.U. dazu führen konnte, "daß Kinder auf die im Haushalt vorhandenen Erwachsenenprogramme ausweichen
(vielleicht sogar auf die, vor denen sie geschützt werden sollen)." (S.100) Im Lichte der unintendierten, "unverhältnismäßigen
Schwierigkeiten" des Vermietverbots und des Phänomens, dass ca. 80 % aller Videotheken Erwachsenenvideotheken waren,
plädierte das Bundesministerium für Wirtschaft bereits am 06.08.1997 im Rahmen des Referentenentwurfs des 3. FFGÄndG
für eine Änderung des § 3 Abs. 1 Nr. 3 GjS, wie des analogen § 184 Abs. 1 Nr. 3a StGB. Hinter dem Wort "Ladengeschäften"
sollten die Worte "oder in durch baulich-technische Maßnahmen sowie durch geeignete Zugangssicherungen abgetrennten
Geschäftsräumen" eingefügt werden: "Vor allem kleine Videotheken haben nicht die räumlichen Möglichkeiten, für das Vermietgeschäft mit Videos, die Kindern und Jugendlichen zugänglich gemacht werden dürfen, ein besonderes Geschäft mit
eigenem Eingang von außen anzugliedern und haben sich daher in vielen Fällen entschlossen, den Zugang zu ihrem Geschäft
Kindern und Jugendlichen gänzlich zu verbieten. Im Interesse des Jugendschutzes muß es aber liegen, daß Videotheken nach
Möglichkeit jugendoffen als sogenannte 'Familienvideotheken' geführt werden können. Die mangelnde Akzeptanz gerade
dieser Bestimmung hat auch zu Vollzugsdefiziten geführt. Es sollten daher 'abgetrennte Geschäftsräume, die durch baulichtechnische Maßnahmen sowie durch geeignete Zugangssicherungen' Gewähr dafür bieten, daß Kindern und Jugendlichen
weder Einsicht noch Zutritt möglich ist, 'Ladengeschäften' gleichgestellt werden. Der Aufbau von Familienvideotheken würde
insgesamt zu besseren Entfaltungs- und Refinanzierungsmöglichkeiten der Videowirtschaft gerade in bezug auf die Produktion
und den Vertrieb von Kinder- und Jugendfilmen führen, die im Vergleich zu anderen Ländern in Deutschland beeinträchtigt
sind." (BT-Drs. 14/1105, S.1f.) Gleichzeitig hatten die Bundesländer ihre Erfahrungen zu den Auswirkungen des § 3 Abs. 1
Nr. 3 GjS mitgeteilt: Neun Bundesländer plädierten für eine Gesetzesänderung (Baden-Württemberg, Bremen, Hamburg und
Rheinland Pfalz aber nur im Rahmen einer Reform der Jugendschutzgesetze insg.); Berlin und das Saarland kommentierten
eine evtl. Gesetzesänderung nicht und Bayern, Niedersachsen, Hessen und Nordrhein-Westfalen votierten gegen eine
Gesetzesänderung, insb. weil sich das geltende Recht bewährt(!) habe (vgl. BT-Drs. 14/1105, S.3-9). Ungeachtet dessen, dass
der Gesetzgeber das Plädoyer (auch im Rahmen der späteren Entwürfe des JuSchG) ignorierte, hatte sich die Situation der
Videotheken bis 2011 nach Angaben des Interessenverband des Video- und Medienfachhandels in Deutschland e.V.
fundamental geändert: "Die meisten der in Deutschland ansässigen […] Videotheken sind zu 71 Prozent Kombivideotheken
(Vorjahr 67 Prozent). Reine Erwachsenenvideotheken machen 23 Prozent (Vorjahr 29 Prozent) des Marktes aus und reine
Familienvideotheken etwa 6 Prozent." (IVD 2012, S.5) Aktuell demonstriert LIESCHING 2011a die prinzipielle Legalität des
"Shop in the Shop"-Systems: Waren Kombi- oder Familienvideotheken im Jahre 2006 für ca. 35 % der Videotheken
unrentabel, könnten Familienvideotheken inkl. "Shop in the Shop"-System i.d.S. das neue Primärmodell der dt. Videotheken
werden.
Vgl. STATH 2006, S.245.
Vgl. OLG München, Urt. v. 29.07.2004, Az.: 29 U 2745/04 und STATH 2006, S.117-122.
Vgl. LG Freiburg, Beschl. v. 26.08.1997, Az.: III QS 61/97 und OLG Hamm, Urt. v. 22.03.2000, Az.: 2 Ss 1291/99.
103
halten oder gar abweisen können. Die insb. innerhalb der EU offenen Grenzübergänge i.V.m.
den nur stichprobenartigen Kontrollen ausländischer Warensendungen sind aber insg. nicht geeignet, den nach dem JuSchG illegalen Versandhandel zu unterminieren, so dass indizierte
Medien ohne Probleme regelmäßig auch von Kindern und Jugendlichen im Ausland bestellt und
hierzulande in Empfang genommen werden können, letztlich das bewahrpädagogische Jugendmedienschutzkonzept bereits von Anfang an erodiert.
Wer gegen die skizzierten Verbote verstößt, wird nach den Strafvorschriften des § 27 JuSchG
mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe, bzw. im Falle von Fahrlässigkeit mit
Freiheitsstrafe bis zu sechs Monaten oder Geldstrafe bis zu hundertachtzig Tagessätzen bestraft.
Gewerbetreibenden drohen auch wettbewerbsrechtliche Konsequenzen gem. § 3 UWG.552 Nicht
bestraft werden aber dank des sog. Elternprivilegs des § 27 Abs. 4 JuSchG personensorgeberechtigte Personen, die indizierte Medien anvertrauten Kindern und Jugendlichen zugänglich
machen, außer sie verletzen durch das Zugänglichmachen ihre Erziehungspflicht gröblich.
11.2
11.2.1
Das Indizierungsverfahren
Einleitung des Indizierungsverfahrens
Die BPjM wird nach § 21 JuSchG i.d.R. auf Antrag tätig: Antragsberechtigt sind das BMFSFJ,
die OLJB und die Landes- und Jugendämter, d.h. bundesweit ca. 800 Institutionen.553 Kommt
infolge eines Antrags eine Indizierung oder Listenstreichung bspw. im Lichte einer bereits
erfolgten Indizierung, einer Nichtindizierung eines (im Wesentlichen) inhaltsgleichen Mediums
oder der Nichteinhaltung der Verjährungsfristen offensichtlich nicht in Betracht, kann die
Vorsitzende – seit 1991 ist das nach wie vor Elke MONSSEN-ENBERDING – das Verfahren
einstellen. Seit Inkrafttreten des JuSchG sind auch alle deutschen Behörden und die anerkannten
Träger der freien Jugendhilfe anregungsberechtigt (z.B. Polizeidienststellen, Schulen); bundesweit sind das ca. 800.000 Institutionen. Im Rahmen einer Anregung wird die BPjM aber nur
tätig, wenn die Vorsitzende die Durchführung eines Verfahrens im Interesse des Jugendschutzes
für geboten hält. Bis dato hielt die BPjM aber noch infolge jeder Anregung ein Verfahren für
geboten.554 Nicht nur hat die Alternative der Anregung die Indizierungsverfahren insg. zahlreicher gemacht, ungeachtet dessen, dass die Verfahren nach § 3 DVO-JuSchG einheitlich sind,
ist mittlerweile für Computerspiele auch feststellbar, dass die Indizierungsverfahren i.d.R. gar
die Folge von Anregungen und nicht etwa mehr von klassischen Anträgen geworden sind (s.
Tab. 1).555
552
553
554
555
Vgl. BGH, Urt. v. 12.07.2007, Az.: I ZR 18/04.
Vgl. MONSSEN-ENGBERDING 1998, S.115f.. Bereits nach § 2 Abs. 2 SchSchmG waren die Landeszentralbehörden und die
Landesjugendämter Indizierungsantragsberechtigt. Nach dem GjS waren originär aber nur die elf OLJB antragsberechtigt;
Heiner GEIßLER (CDU), Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit, verordnete angesichts eines im Lichte einer
vermeintlichen Inflation rechtsradikaler Schriften nicht genügenden Quantums der Indizierungsanträge erst am 12.05.1978,
dass mittels § 2 DVO-GjS auch die ca. 500 Landes- und Jugendämter Westdeutschlands antragsberechtigt waren (vgl.
BOSSELMANN 1987, S.14; EISENHAUER/HÜBNER 1988, S.222 und LIEVEN 1994, S.176). Auch sollte die Verordnung
eine fehlende Bürgernähe des Verfahrens kompensieren und ermöglichte letztlich einen Anstieg der Ende der 1970er (infolge
sittenrechtlicher Liberalisierungen seit 1968 und eines generellen Desinteresses an der Indizierungsmaßnahme) nur unter 100
jährlichen Indizierungsanträge auf die hunderten jährlichen Anträge seit den 1980ern (vgl. BARSCH 1988 S.17).
Vgl. MONSSEN-ENGBERDING/BOCHMANN 2005, S.18f. und CARUS/HANNAK-MAYER/KORTLÄNDER 2006, S.6.
Ursächlich dafür ist nicht nur die hohe Anzahl anregungsberechtigter Institutionen, sondern auch ein geringeres Begründungsniveau für eine Anregung: Nach § 2 DVO-JuSchG sind gleichermaßen Indizierungsanträge, wie auch -anregungen prinzipiell
begründungspflichtig, praktisch wird man aber geringere Anforderungen an eine Anregung stellen müssen, als an einen
ordnungsgemäßen Antrag; ungeachtet dessen, dass im Zweifelsfall einfach nur eine vermeintliche Offensichtlichkeit der
Jugendgefährdung i.S.d. § 15 Abs. 2 Nr. 5 JuSchG konstatiert werden muss (s.u.), ergibt sich ein vergleichsweise besonderes
Begründungsniveau eines Antrages bereits aus der Tatsache, dass gem. § 25 Abs. 2 JuSchG nur antragstellenden Behörden,
nicht aber anregenden Institutionen das Recht zusteht, gegen eine Entscheidung der BPjM ein Medium nicht in die Liste
jugendgefährdender Medien aufzunehmen, wie gegen eine Verfahrenseinstellung im Verwaltungsrechtsweg Klage zu erheben.
Der BPjM war im Fall von IE Nr. 8818 (V) v. 05.08.2009 z.B. bereits die Begründung des anregungsberechtigten bayerischen
Landeskriminalamts für die Indizierung des Spiels CALL OF DUTY 4: MODERN WARFARE hinreichend, das nur auf einen
Vermerk des Operativen Ergänzungsdienstes der Polizeiinspektion Traunstein verwies, "in dem ausgeführt wird, dass aufgrund der Bebilderung und Beschreibung des lediglich mit dem Hinweis 'PEGI 16+' versehenen Spiels von einem jugendgefährdenden Inhalt auszugehen ist." Eine Begründung, mittels der prinzipiell bzgl. quasi aller nicht nach § 14 JuSchG
gekennzeichneten Spiele bestimmer Segmente salopp eine Indizierung angeregt werden könnte.
104
Tab. 1: Indizierungsanträge/-anregungen bei Computerspielen (2004-2012)
Behörde/Bundesland
Indizierungsanträge Indizierungsanregungen
BAJ
2
BMFSFJ
161
Bundesamt für Verfassungsschutz
1
Baden-Württemberg
3
46
Bayern
4
221
Berlin
1
Brandenburg
1
Niedersachsen
1
9
Nordrhein-Westfalen
4
46
Sachsen
1
Schleswig-Holstein
2
174
329
Gesamt:
Quelle: <http://www.bundespruefstelle.de/bpjm/Jugendmedienschutz/statistik>, Stand: 08.04.2013.
Das Indizierungsverfahren basiert i.d.S. primär auf der Partizipation der Bürger: Die BPjM
kontrolliert den Markt nicht selbst von Amts wegen systematisch, kann aber prinzipiell bspw.
dank interessierter Kreise eine umfassende Kontrolle gewährleisten. Bereits 1951 formierten
sich z.B. die Bischöfliche Arbeitsstelle für Fragen der Volkssittlichkeit und die Bundesarbeitsgemeinschaft Aktion Jugendschutz – die heutige Bundesarbeitsgemeinschaft Kinder- und
Jugendschutz (BAJ) –, wie auch 1953 die Zentralstellen zur Bekämpfung unzüchtiger und
jugendgefährdender Schriften, Abbildungen und Darstellungen bei den Obersten Landesjustizbehörden, die u.a. evtl. indizierungswürdige Schriften systematisch kontrollierten und den
antragsberechtigten Institutionen z.T. die Anträge selbst vorformulierten.556 Indizierungsanträge
und -anregungen dienen auch der Beschleunigung des Verfahrens, wie der Entlastung der
BPjM, wie bspw. die Formulierungsidentitäten zwischen den Anträgen und Anregungen einerseits und den letztlichen Indizierungsentscheiden (IE) andererseits demonstrieren,557 die die
BPjM nur mit standardisierten Textbausteinen garniert (s.u.). Auch wird moniert, dass die BPjM
natürlich selbst über die antrags- bzw. anregungsberechtigten Institutionen Indizierungsverfahren einleiten könnte.558
Ungeachtet dessen wird die BPjM seit Inkrafttreten des JuSchG auch auf Veranlassung der
Vorsitzenden u.a. gem. § 21 Abs. 5 JuSchG von Amts wegen tätig, "1. wenn zweifelhaft ist, ob
ein Medium mit einem bereits indizierten Medium ganz oder im Wesentlichen inhaltsgleich ist,
2. wenn bekannt wird, dass die Voraussetzungen für die Indizierung nach nicht mehr vorliegen,
oder 3. wenn die Aufnahme in die Liste nach 25 Jahren wirkungslos wird und weiterhin die
Voraussetzungen für die Aufnahme in die Liste vorliegen." In ihren ersten fünf Jahrzehnten
indizierte die BPjS ca. 15.000 Medien;559 aktuell sind inkl. (im Wesentlichen) inhaltsgleicher
Spiele (s.u.) ca. 652 Computerspiele formell indiziert (Stand: 31. 08.2013).560
11.2.2
Personelle Besetzung der BPjM (12er-Gremium)
Die nach § 19 JuSchG je auf die Dauer von drei Jahren bestimmten (Abs. 3), weisungsfreien
(Abs. 4)561 Mitglieder der BPjM sind die (inkl. Stellvertreter) vom BMFSFJ ernannte Vorsitzende, je ein von jeder Landesregierung, resp. OLJB zu ernennender ehrenamtlicher Länderbeisitzer und weitere vom BMFSFJ zu ernennende, ehrenamtliche Gruppenbeisitzer (Abs. 1),
die den Kreisen der Kunst, der Literatur, des Buchhandels und der Verlegerschaft, der Anbieter
von Bildträgern und von Telemedien, der Träger der freien Jugendhilfe, der Träger der öffentlichen Jugendhilfe, der Lehrerschaft und der Kirchen, der jüdischen Kultusgemeinden und
anderer öffentlich-rechtlicher Religionsgemeinschaften562 auf Vorschlag der in § 20 JuSchG
556
557
558
559
560
561
562
Vgl. FERCHL 1980, S.214f. und BOSSELMANN 1987, S.13. Dgl. war bereits im Rahmen des SchSchmG möglich, s.
DECKER 2005, S.12.
Vgl. BOSSELMANN 1987, S.48ff..
Vgl. BUCHLOH 2002, S.85.
Vgl. SEIM 1997, S.150/182 und SEIM 2004.
Quelle: <http://www.bundespruefstelle.de/bpjm/Jugendmedienschutz/statistik>, Stand: 08.04.2013.
Vgl. BVerfGE 83, 130 (150).
Die Privilegierung der Religionsgemeinschaften verstößt nach STATH 2006 gegen den sog. Gleichheitssatz nach Art 3 Abs. 3
GG; die BPjM sei i.d.S. gem. Art. 4 Abs. 1 und 2 GG nicht neutral (S.275). Nach der Auffassung des BVerfG sei aber
diesbzgl. insb. nicht zu beanstanden, "daß im Gegensatz zu Religionsgemeinschaften [...] weltanschauliche Gruppen keine
105
genannten Gruppen zu entnehmen sind (Abs. 2). Das BMFSFJ darf gem. STATH 2006 einzelne
Vorschläge, nicht aber alle Vorschläge einer Gruppe ablehnen, "da ansonsten ein verfassungsrechtlich bedenklicher staatlicher Einfluss auf die Zusammensetzung der Bundesprüfstelle
ausgeübt werden könnte."563 Infolge der Aufnahme des Verfahrens entscheidet die BPjM i.S.d.
Gesetzes regulär in der Besetzung von zwölf Mitgliedern: Die Mitglieder des sog. 12erGremiums – gem. der Behörde selbst das "zentrale Entscheidungsorgan der BPjM"564 – sind
nach § 19 JuSchG die Vorsitzende, drei Beisitzer der Länder und je ein Beisitzer der genannten
Kreise. Das Gremium ist auch in einer Besetzung von mindestens neun Mitgliedern beschlussfähig, von denen mindestens zwei den Kreisen der Kunst, der Literatur, des Buchhandels und
der Verlegerschaft oder der Anbieter von Bildträgern und von Telemedien angehören müssen
(Abs. 5). Das 12er-Gremium entscheidet mit Zweidrittelmehrheit, bzw. in der Besetzung von
neun Mitgliedern mit sieben Stimmen (Abs. 6). Nach § 12 DVO-JuSchG wird die Reihenfolge
der Teilnahme der Gruppenbeisitzer an den einzelnen Verhandlungen von der Vorsitzenden für
ein Jahr im Voraus festgelegt (Abs. 2); bzgl. der Länderbeisitzer legt die Vorsitzende dgl. im
Einvernehmen mit den Länderbeisitzern selbst fest (Abs. 3). Nach § 7 bis 9 DVO-JuSchG sind
die mündlichen Verhandlungen, Beratungen und Abstimmungen der BPjM insg. nicht öffentlich. Im Rahmen der Beratungen und Abstimmungen dürfen nur die entscheidenden Gremienmitglieder anwesend sein, die verpflichtet sind, "über den Hergang bei der Beratung und Abstimmung Stillschweigen zu bewahren."
Das BVerwG attestierte den Gremien eine "vermutete Fachkenntnis und Elemente gesellschaftlicher Repräsentanz"565 und das BVerfG argumentierte, dass die Beteiligung von Vertretern
gesellschaftlicher Gruppen unter dem Gesichtspunkt gerechtfertigt sei, "daß Entscheidungen,
die die Presse- und Kunstfreiheit betreffen, möglichst in einer gewissen Staatsferne und aufgrund einer pluralistischen Meinungsbildung ergehen sollen. [...] Die staatliche Verwaltung
nimmt danach nicht in Anspruch, die Wertmaßstäbe für die Indizierungsentscheidung mit dem
eigenen, monokratisch strukturierten Beamtenapparat zu bestimmen. Sie stellt vielmehr ein
Forum zur Verfügung, auf dem die widerstreitenden Wertvorstellungen ermittelt und die
Entscheidung im Hinblick auf ein ganz bestimmtes Werk aufgrund einer Erörterung gefällt
wird. Die Beteiligung von Gruppenvertretern soll dabei gerade im Interesse der Kunstfreiheit
sicherstellen, daß alle für die Indizierungsentscheidung maßgeblichen Gesichtspunkte gesammelt, die hierbei tragenden Werte ermittelt und zu einem Ausgleich gebracht werden."566 Emil
KEMMER (CSU), Hauptredner der CDU/CSU-Fraktion, argumentierte im Rahmen der dritten
Bundestagslesung des GjS, die BPjS sei gar eine Selbstkontrollinstitution: Verleger, Autoren
und Buchhändler hätten es in der Hand, "durch Verbreitung guter Bücher, durch Zusammenarbeit mit den Behörden, mit den Jugendverbänden und ihren Buchvertrieben, vor allem aber
durch Ablehnung aller schlüpfrigen und zerstörenden Literatur dieses Gesetz bald überflüssig zu
machen."567
563
564
565
566
567
Berücksichtigung finden. Das verstößt nicht gegen den Gleichheitssatz. Richtig ist zwar, daß die Arbeit der Kirchen in der
Jugendpflege ihrem jeweiligen religiösen Hintergrund verpflichtet ist. Kirchen werden jedoch vor allem deshalb an der Tätigkeit der Bundesprüfstelle beteiligt, weil sie sich seit jeher in besonderem Maße mit der Kinder- und Jugendbetreuung befaßt
haben. Das gilt für weltanschauliche Gemeinschaften im Hinblick auf den Jugendschutz nicht in gleicher Weise." (E 83, 130)
Das sich die Weltanschauungsgemeinschaften nicht in gleicher Weise mit der Kinder- und Jugendbetreuung befasst hätten, ist
im Lichte der generellen Privilegierungen der Religionsgemeinschaften einerseits eine Farce. Andererseits ist die originäre
Privilegierung der Religionsgemeinschaften auch nicht das Resultat eines besonderen Engagements derselben, sondern des
katholischen Konservativismus der Ära Adenauer.
STATH 2006, S.172. Bzgl. des originären, bis zum Inkrafttreten des Gesetzes zur Änderung des GjS v. 29.10.1993 verfassungswidrigen § 9 Abs. 2 GjS, nach dem nicht reglementiert war, welche Gruppen vorschlagberechtigt waren und das Bundesministerium des Innern, resp. das Bundesministerium für Familienfragen und seine Nachfolgeministerien problemlos einen
bedenklichen Einfluss auf die Zusammensetzung der BPjS ausüben, z.B. insb. konservative Gruppenbeisitzer rekrutieren
konnten, s. BVerfGE 83, 130 und BUCHLOH 2002, S.89/98. Bereits im Rahmen des RLG v. 29.05.1920 wurden insb. auch
Kinoreformer, die u.a. eine miasmatische Wirkung des Kinos behaupteten und Pejorative wie "Schundfilm" u.ä. etablierten, in
die Gremien der Filmprüfstellen rekrutiert (vgl. HAUSMANNINGER 1992, S.80/196; DIEDRICHS 2004, S.505 und
LOIPERDINGER 2004, S.527f.).
BPjM 2008b.
BVerwGE 39, 197 (203f.); 77, 75 (78) und 91, 211 (216).
BVerfGE 83, 130 (150).
Zitiert in: BUCHLOH 2002, S.98.
106
Die Behauptungen sind insg. nicht plausibel, denn den Beisitzern wird bspw. keinerlei Art von
Qualifikationsprüfung abverlangt. Dies sei allerdings gem. BVerfG nicht zu beanstanden, denn
das Ziel ihres Mitwirkens sei es, "die Anschauungen der sachkundigen Kreise einzubringen. Es
fehlt damit jeder durchgreifende Grund, den einzelnen Gruppenbeisitzern einen über die
Verbandszugehörigkeit hinausgehenden Qualifikationsnachweis abzuverlangen."568 Fraglich ist
dann aber einerseits die pauschal attestierte Sachkunde der Kreise, andererseits die naive
Prämisse, die nicht an Weisungen gebunden Beisitzer brächten die Anschauungen ihrer Kreise
und nicht ihre subjektiven Auffassungen ein; so läßt sich z.B. gem. MÜHLBAUER 2007 nicht
feststellen, "ob sie, wie die Medienwirkungsforschung heute, mit 'vernetzten Verursachungsketten', 'komplexen Kausalanalysen', 'multiplen Wirkungspfaden' und 'rekursiven Beeinflussungsprozessen' arbeiten, oder als Laien intuitiv von einfachen Reiz-Reaktions-Schemata ausgehen."
Die Indizierungsentscheide implizieren regelmäßig insb. letzteres, wie auch eine mehr oder
weniger implizite Orientierungen an Medienressentiments und anachronistisch anmutenden
Moraltraditionen.569
Die Gremien der BPjM sind darüber hinaus nicht nur i.d.R. fachfremd besetzt,570 sondern sind
auch nicht besonders gesellschaftlich repräsentativ. SEIM 1997 kritisiert z.B., dass naturgemäß
i.d.R. bewahrpädagogisch orientierte Mitglieder ernannt werden, die bspw. primär im Interesse
des Jugendschutzes und nicht der Kunstfreiheit votieren,571 wie die Indizierungsentscheide auch
tatsächlich demonstrieren (s.u.). Letztlich kann der relativ homogene, reziprok-affirmative
Mikrokosmos einer solchen Behörde (auch dank ihrer arkanen Sitzungen) innerhalb der
Behörde einerseits abweichende Auffassungen auch relativ leicht unterbinden.572 Andererseits
ist die gesellschaftliche Repräsentativität solcher prinzipiell bewahrpädagogisch orientierter
Gremien generell unrealistisch: Robert SCHILLING, von 1954 bis 1966 der erste Vorsitzende
der BPjS, behauptete auch nur, dass die BPjS nicht die gesamte Gesellschaft, sondern nur einen
vermeintlich "moralisch intakten Teil der Bevölkerung"573 repräsentiere. Ein Überlegenheitsdenken, dass die spätere Argumentation des BVerfG bereits a priori desavouierte.
Auch i.d.S. ist insb. die Fiktion einer Selbstkontrolle nicht plausibel: Nach KIENZLE 1980
wolle die BPjM mittels der Beteiligung von Vertretern gesellschaftlicher Gruppen nur das
"Anrüchige einer repressiven Staatszensur"574 vermeiden und BUCHLOH 2002 konstatiert, dass
eine staatliche "Zensurinstanz" nur deshalb als Selbstkontrolleinrichtung bezeichnet wurde, "um
ihr eine größere Anerkennung bei denjenigen zu verschaffen, die von den Zensurmaßnahmen
möglicherweise betroffen sind. Von einer wirklichen Selbstkontrolle von Presse und Literatur
kann indes nicht gesprochen werden: Die 'Selbstkontrolle' wird vom Staat erzwungen; in den
Prüfgremien arbeiten neben Verlegern, Buchhändlern und Schriftstellern auch Staats- und
Kirchenvertreter sowie Repräsentanten anderer Gruppen mit, dabei ist die Literaturseite eindeutig in der Minderheit [...]."575 Das 12er-Gremium dominieren auch so ex officio indizierungssaffinere Personen jugendschützerischer Professionen: Die Vorsitzende, die drei Länder- und
die vier Gruppenbeisitzer der Träger der freien Jugendhilfe, der Träger der öffentlichen Jugendhilfe und der Lehrerschaft und der Kirchen.576 I.d.S. ignorieren die Proponenten der BPjM die
massive Kritik bspw. der Normunterworfenen selbst, die bereits das GjS als Zensurgesetz und
autopoietisches Instrument konservativer Autoritäten kritisierten.577 Letztlich zeige die Zusammensetzung der Gremien gem. SCHUMANN 2001, "dass Fragen des Jugendmedienschutzrechts, bei denen es immerhin um Eingriffe in die Kommunikationsfreiheiten des Art. 5 I GG,
568
569
570
571
572
573
574
575
576
577
BVerfGE 83, 130 (150).
Vgl. SEIM 1997, S.184 und GANGLOFF 2001, S.19.
Vgl. SCHUMANN 2001, S.90f. und SCHMID 2009a. Im Lichte der fachfremden Gremien protestierte bspw. der Börsenverein
des Deutschen Buchhandels e.V. gegen die BPjS und nahm bereits 1984 sein Recht des Vorschlags der zu ernennenden
Gruppenbeisitzer nicht mehr wahr (vgl. SEIM 1997, S.185 und SEIM 1998, S.46).
Vgl. SEIM 1997, S.185.
Vgl. BÜTTNER 2002a, S.209.
Zitiert in: KIENZLE 1980, S.24.
KIENZLE 1980, S.24.
BUCHLOH 2002, S.98.
Vgl. STATH 2006, S.183.
Vgl. DICKFELDT 1979, S.155-160.
107
aber auch die Kunstfreiheit des Art. 5 III GG geht, in Deutschland fälschlich nicht als Rechtsfragen, sondern als Fragen der gesellschaftlichen Akzeptanz oder der Akzeptanz durch interessierte Kreise angesehen werden."578
11.3
Jugendgefährdende Gewaltdarstellungen
Die BPjM indiziert namensgemäß sog. (vermeintlich) jugendgefährdende (resp. sozialethisch
desorientierende)579 Medien.580 Nach § 18 Abs. 1 JuSchG sind das Medien, die geeignet sind,
"die Entwicklung von Kindern oder Jugendlichen oder ihre Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit zu gefährden [...].581 [...] Dazu zählen vor allem
unsittliche, verrohend wirkende, zu Gewalttätigkeit, Verbrechen oder Rassenhass anreizende
Medien [...]." Ohne eine konkretere Definition jugendgefährdender Medien müssen solche die
Literatur, die Rechtsprechung und die Spruchpraxis der BPjM konkretisieren.582 Bereits in der
Entstehungszeit des GjS wurden aber Zweifel ggü. der Bestimmtheit der Norm artikuliert, denn
das Konstrukt der Jugendgefährdung ist subjektiv, z.B. je nach Zeitgeist, wie pädagogischer
Perspektive und Medienwirkungshypothese variabel interpretierbar.583
Ungeachtet dessen konstatiert das BVerfG, der Begriff jugendgefährdender Medien sei
prinzipiell gleichermaßen hinreichend bestimmt, wie auch eine "erhebliche Unschärfe"584 des
Indizierungstatbestands. Eine genauere begriffliche Umschreibung sei aber kaum möglich, weil
insb. kasuistische Reglementierungen und lediglich enumerative Kriterienkataloge im Lichte der
Komplexität der Medien und der Diversität ihrer Inhalte kontraproduktiv wären.585 Nach
Auffassung des BVerfG seien aber die (nicht finalen) Beispiele ein notwendiges Korrektiv, das
erkennen ließe, "daß eine Indizierung erst bei einem deutlichen Gefährdungsgrad und einer
erheblichen Intensität der Gefahr in Betracht kommen soll [...]."586 Bspw. indizierte die BPjM
seit Inkrafttreten des JuSchG u.a. Frauen, Homosexuelle, Adipöse oder auch Behinderte
diskriminierende, wie Drogen-, resp. Alkoholkonsum, Anorexie587 oder Suizid (vermeintlich)
propagierende Inhalte.
Kurioserweise verlange der Gefährdungsbegriff aber nach Auffassung der Rechtsprechung
keine konkrete oder gar nachweisbare Wirkung im Einzelfall. Eine Gefährdung sei bspw. gem.
OVG NRW vielmehr schon dann zu bejahen, "wenn eine nicht zu vernachlässigende Wahrscheinlichkeit angenommen werden darf, dass überhaupt Kinder und/oder Jugendliche durch die
dargestellten Inhalte beeinflusst werden können."588 Die BPjM ist infolge dessen nach Auffas578
579
580
581
582
583
584
585
586
587
588
Vgl. SCHUMANN 2001, S.90f..
Vgl. BVerwGE 23, 112 (114); 25, 318; 39, 197 (206) und RETZKE 2006, S.131f..
Vgl. NIKLES/ROLL/SPÜRCK et al. 2005, S.259.
Die Formulierung orientiert sich an § 1 Abs. 1 SGB VIII und ist präziser, als die Formulierung des § 1 Abs. 1 GjS, gem. der
eine Jugendgefährdung die Eignung war, "Kinder oder Jugendliche sittlich zu gefährden [...]." Die Neuformulierung ist aber
nur kosmetischer Art, soll also keine inhaltliche Änderung der Beurteilungskriterien ergeben (vgl. BT-Drs. 14/9013, S.58).
Mithin divergieren aber die aktuelle und die originäre Auslegung der Jugendgefährdung: Unsittliche Medien gefährdeten
Kinder und Jugendliche gem. BGHSt 8, 80 (83) noch, "wenn sie […] in jungen Menschen den Aufbau der […] christlichabendländischen Weltanschauung" erschwerten. Bzgl. einer Kritik an dieser Auslegung s. DICKFELDT 1979, S.149f..
Vgl. BUCHLOH 2002, S.83f.; LIESCHING 2002, S.129 und STATH 2006, S.230.
Vgl. SEIM 1997, S.151; EISERMANN 2001, S.13; BUCHLOH 2002, S.115 und MIKOS 2009, S.70. Auch das originäre
SchSchmG konnte bereits keine Legaldefinition der Schund- und Schmutzschriften präsentieren (vgl. SEIM 1998, S.20;
KOLFHAUS 1994, S.144; LIESCHING 2002, S.19 und PLACHTA 2006, S.160), so dass die beiden Prüfstellen, wie die
Oberprüfstelle selbst die normativen Rechtsbegriffe vollumfänglich auslegen konnten; s. LIESCHING 2002 für die damaligen
Definitionen der Schundschriften (S.19ff.), bzw. der Schmutzschriften (S.21f.) im Rahmen der Spruchpraxis der Oberprüfstelle.
BVerfGE 90, 1 (16). Bzgl. der Polymorphie und -semie des Begriffs der sozialethischen Desorientierung u.a. am Bsp. der
diversen, divergierenden Auslegungen der dt. Regulierungs- und Kontrolleinrichungen, wie auch der Organisationen der sog.
freiwilligen Selbstkontrolle, s. HAJOK/SELG/HACKENBERG 2010.
Vgl. BVerfGE 11, 234 (237f.); 30, 336, (346ff.); SCHOLZ 1999, S.48; GEHLEN 2002, S.31; LIESCHING 2002, S.110;
BROSIUS 2005, S.28 und NIKLES/ROLL/SPÜRCK et al. 2005, S.261.
BVerfGE 90, 1 (17); vgl. VG Köln, Beschl. v. 31.05.2010, Az.: 22 L 1899/09; NIKLES/ROLL/SPÜRCK et al. 2005, S.259
und STATH 2006, S.145f..
Vgl. BACHMANN/HAJOK 2012.
OVG NRW, Urt. v. 05.12.2003, Az.: 20 A 5599/98; vgl. BVerwGE 39, 197 (203ff.); 77, 75 (84f.); BGHSt 3, 256 (258);
BOSSELMANN 1987, S.53/132; MEIROWITZ 1993, S.226f.; SCHOLZ 1999, S.49 und KÜBLER 2002. Erst seit dem erstgenannten Urt. des BVerwG v. 16.12.1971 mußte eine Jugendgefährdung nicht mehr konkret nachgeweisen werden. Ungeachtet dessen (und des Standes der Medienwirkungsforschung) konstatierte die BPjS im Rahmen der Indizierungsentscheidungen bis dato natürlich die Faktizität der Jugendgefährdung, wie sie bis heute die entsprechend die Faktizität der ent-
108
sung des Hans-Bredow-Instituts (HBI) darauf verwiesen, "[...] auf den Erkenntnisstand über die
Wirkung von Mediendarstellungen auf Kinder und Jugendliche abzustellen. […] Dies bedeutet
[…], dass die BPjM sich kontinuierlich mit dem Erkenntnisstand über die Wirkung von
entsprechenden Darstellungen auf Kinder und Jugendliche vertraut machen […] und die
Anwendungskriterien entsprechend anpassen muss. Dabei kommt ihr […] ein Beurteilungsspielraum zu, so dass ist sie nicht etwa gehalten ist, sich an einer Mehrheitsmeinung in der Wissenschaft zu orientieren."589 I.d.S. kann (speziell im Rahmen einer unkritisch-affirmativen
Interpretation entsprechender Studien) die Indizierung per se legitimiert, resp. konserviert
werden, auch wenn der entsprechende Forschungskorpus die prämissive Wirkungshypothese
des JuSchG prinzipiell ad absurdum führt.590 Rechtsprechung und JuSchG protegieren damit
gleichermaßen (i.w.S.) arbiträren Indizierungsentscheidungen, denn die Wahrscheinlichkeit der
Eignung einer Jugendgefährdung ist einfacher konstatiert als (eine konkrete Gefährdung)
nachgewiesen: Jugendgefährdend sind im Lichte der Spruchpraxis der BPjM die Medien, die sie
(ad hoc) indiziert.
Kann die BPjM i.d.S. aber prinzipiell Allem und Nichts eine Gefährdungseignung attestieren,
sind ohne ein besonderes Begründungsniveau Willkür, verbotene Inhaltskritik u.ä. einerseits
und legitime Gefahrenprognosen andererseits im Zweifelsfall letztlich nicht mehr voneinander
differenzierbar, insb. im Lichte der fundamentalen Problematik, dass die evtl. Wirkungseignung
eines Mediums exkl. dem Medieninhalt zugeschrieben wird (ungeachtet dessen, dass ein
medienzentriertes Wirkungsmodell nie – auch nicht 1954 –591 plausibel war). Bereits BARSCH
1988 kritisierte, dass die Indizierungsentscheide gem. "älterer hermeneutischer Vorstellungen
von Verstehen" die "Botschaft" einer Schrift per Inhaltsanalyse konstatieren wollen: "Auf diese
Weise sollen […] wertende Texteigenschaften wie 'unsittlich' und 'kriegsverherrlichend'
problemlos und eindeutig ermittelbar sein, allein auf der Basis subjektiven Textverstehens und
ohne Bezug auf konkrete Leser. [...] Damit wird eine individuelle bzw. BPS-kollektive Leseart
zur Basis einer Verwaltungsentscheidung gemacht. In der Spruchpraxis der BPS sieht dann die
Inhaltsanalyse so aus, daß Texten eine bestimmte Botschaft unterstellt wird, die natürlich für
alle Leser gleich sein soll."592 Indem man die evtl. Medienwirkung aber auf den Faktor "Inhalt"
reduziert, wird nicht nur das prinzipiell naive Medieninformationskonzept, sondern auch die
589
590
591
592
sprechenden Gefährdungseignung konstatiert.
SCHULZ/BRUNN/DREYER et al. 2007, S.96; vgl. BVerwGE 39, 197 (203f.); 77, 75 (84f.); SCHOLZ 1999, S.49 und
NIKLES/ROLL/SPÜRCK et al. 2005, S.259. Bzgl. der obsoleten Negierung eines Beurteilungsspielraumes der BPjS s.
BVerwGE 23, 112 und 28, 223. Ggf. könnten die regelmäßigen, beim Autorenduo Michael KUNCZIK und Astrid ZIPFEL seit
2004 vom BMFSFJ in Auftrag gegebenen und seitens der BPjM referierten Literaturübersichten zur Wirkung von Mediengewaltdarstellungen eine hinreichende Informierung der Behörde indizieren, wären die Autoren insg. kritischer (z.B. insb. ggü.
der Lerntheorie). Erst seit 2005 existiert aber ein Medienkompetenzbereich der BPjM selbst, der u.a. aktuelle Forschungsresultate der Medienwirkungsforschung analysieren soll. Ungeachtet dessen demonstrieren die Indizierungsentscheidungen der
BPjM regelmäßig gleichermaßen eine unkritisch-affirmative Selektivität bei den Studien, die sie rezitieren und paraphrasieren,
wie auch eine Orientierung an Alltagstheorien (vgl. HILPERT 2008, S.8) und gar kuriosesten Einzelmeinungen kontroverser
Personen, wie z.B. Werner GLOGAUER (vgl. HAUSMANNINGER 1999 und HAUSMANNINGER 2002a, S.49), der
"Gallionsfigur der Hysteriker und Fatalisten" (GANGLOFF 1998, S.3). Aktuellere Indizierungsentscheidungen bei Computerspielen rezitieren als einzigen Beleg(!) einer Verrohung oftmals gar die Desensibiliserungspostulate der Studie STECKEL/
TRUDEWIND 1997; bzgl. einer Kritik dieser Studie s. die Kommentierung zur analogen Studie TRUDEWIND/STECKEL
2003 (s.o.). Problematisch ist auch die obligatorische Referierung eines Exzerpts aus FRITZ/FEHR 1997 – die selbst
konstatieren, dass die Wirkungsforschung die Indizierung nicht legitimieren kann –, in dem die Autoren ihre Privatmeinung
artikulieren, dass Inhalte "jugendgefährdend" i.S.v. unmoralisch, resp. -ethisch sein könnten, nicht direkt i.S.d. gesetzlichen
Indizierungstatbestands. Bzgl. der öffentlichen Kritik nicht hinreichender Wirkungsindizien und der Problematik, dass die
Mitglieder der BPjM die Behörde u.U. als Vehikel persönlicher Moralvorstellungen missbrauchen, indignierte aber Elke
MONSSEN-ENGBERDING: "Das stimmt überhaupt nicht. Die Entscheidungen der Gremien der Bundesprüfstelle basieren
vielfach auf den Erkenntnissen der Wirkungsforschung und natürlich auf dem gesellschaftlichen Wertekonsens." (zitiert in:
LANGE 2008b) Am 23.09.2010 sendete FRAUTV als frauenpolitisches Fernsehmagazin des WDR den Beitrag "Eine tote Frau
bringt 100 Punkte" des Autors Arno KLOTHEN; im Rahmen des Beitrags fantasierte die Vorsitzende der BPJM aber selbst:
"[…] auf jeden Fall kann die dauerhafte Berieselung mit Gewalt dazu führen, dass einmal die Mitleidsfähigkeit des Sehenden
herabgesetzt wird oder auch seine Hemmschwelle, selbst Gewalt anzuwenden, herabgesetzt wird." Diesbzgl. differenzierter
und auch. der Desensibilisierungshypothese insg. kritischer ggü. waren aber nicht erst KUNCZIK/ZIPFEL 2010: "[…] die […]
Befundlage ist […] zu dürftig, um derart weitreichende Schlussfolgerungen zu ziehen." (S.188) Diese Äußerung der Vorsitzenden ist aber exemplarisch für die Problematik, dass Alltagstheorien offenbar oftmals die essentiellen Entscheidungsgrundlagen der Behörde darstellen.
Vgl. BARSCH 1988, S.31.
Vgl. DICKFELDT 1979, S.159 und BUCHLOH 2002, S.190.
Vgl. BARSCH 1988, S.21f..
109
negative Anthropologie des Stimulus-(Objekt-)Reaktion-Modells normativ kodifiziert und auch
weiterhin perpetuiert.593
Eine "logische Wirkungsanalyse" kann aber gem. SEIM 1997 nicht vorgenommen werden,
"wenn sie auf den Faktor 'Inhalt' reduziert wird [...]."594 Medienrezeption ist ein konstruktiver
Prozess: Botschaft, wie auch Nutzung einer Schrift sind im Lichte der Polymorphie und -semie
der Medieninhalte eine Frage individueller Rezeption.595 Textinterpretationen demonstrieren
i.d.S. tendenziell auch vielmehr die Perspektive des Interpreten als objektive Botschaften der
Medien,596 wie bereits der Aquinate realisierte.597 Letztlich dürfe es gem. FAULSTICH 2004
generell nicht um Inhalte per se gehen, "sondern nur um wahrgenommene Inhalte […]."598 Die
Mitglieder der BPjM sind aber quasi von Amts wegen besonders sensibilisiert, exponieren und
problematisieren u.U. Details, die das Gros der Jugendlichen evtl. gar nicht realisieren, resp.
Nichtmitglieder problematisieren würden. Das Problem relativiert auch nicht die Orientierung
der BPjM an der Plattitüde gefährdungsgeeigneter Jugendlicher.599
593
594
595
596
597
598
599
Vgl. EISERMANN 2001, S.72.
SEIM 1997, S.184.
Vgl. HALL 1980, S.136ff.; FAULSTICH 1988, S.9; DOELKER 1989, S.24; WINTER 1992; WINTER 1995; KROTZ 1999,
S.123; HICKETHIER 2001, S.6/23ff.; MIKOS 2001b, S.173-208; GEHLEN 2002, S.12; WILLMANN 2003b, S.137 und
MIKOS 2007.
Vgl. BARSCH 1988, S.39 und BÜTTNER 2002b, S.8f..
Vgl. S. th. Ia q 75 art. 5.
Vgl. FAULSTICH 2004, S.74.
Im Rahmen des Bestimmtheitsgebots müssen nicht nur die Merkmale einer Jugendgefährdung definiert werden, sondern ggf.
auch der Typus Jugendlicher, der Schutzobjekt und i.d.S. Orientierungspunkt des Jugendmedienschutzes ist. Verfassungsrechtlich legitim wäre bspw. eine Orientierung am Durchschnittsjugendlichen (vgl. SCHULZ/BRUNN/DREYER et al. 2007, S.84):
Die Rechtsprechung hatte aber bereits 1955 gem. BGHSt 8, 80 (83) argumentiert, dass es dabei nicht nur auf den Durchschnittsjugendlichen ankomme, "sondern auch auf den infolge Anlage, mangelhafter Erziehung oder ungünstiger Wohnverhältnisse für schädliche Einflüsse besonders anfälligen Jugendlichen […]." Eine Dekade später argumentierte BVerwGE 25,
318 (321ff.), dass einzig der Durchschnittsjugendliche ein verfassungsrechtlich legitimer Orientierungspunkt sei. Durch
BVerwGE 39, 197ff. wurde die Entscheidung aber revidiert: Der Jugendmedienschutz diene auch gefährdungsgeeigneten
Jugendlichen; die Orientierung an "Extremfällen einer völligen Verwahrlosung oder krankhaften Anfälligkeit" sei aber illegitim. HACKENBERG/HAJOK/HUMBERG et al. 2010, eine Arbeitsgruppe aus Mitgliedern des Beschwerdeausschusses
des FSM, proponierten eine praxisbezogene Einzelfallanwendung und argumentieren, "dass bei der Bewertung von Inhalten
[...] grundsätzlich vom durchschnittlichen, nicht gefährdungsgeneigten Jugendlichen auszugehen ist. Wenn sich aber anhand
objektivierbarer Kriterien und Angebotseigenschaften (v.a. Inhalt, Darstellungsform, Ansprache, Zielgruppe und Nutzerschaft)
ableiten lässt, dass eine Risikogruppe gefährdungsgeneigter Jugendlicher das Angebot vermeintlich überdurchschnittlich nutzt,
ist der gefährdungsgeneigte Jugendliche als Referenztyp für die Bewertung heranzuziehen. Mit diesem Vorgehen wird nicht
pauschal auf den 'gefährdungsgeneigten' oder 'durchschnittlichen' Minderjährigen abgestellt, sondern das Kriterium
'Gefährdungsneigung' in Abhängigkeit von Angebot und Nutzerschaft einbezogen. [...] Einerseits wird nicht einseitig auf die
gefährdungsgeneigten Minderjährigen abgestellt, was zu einer sehr starken Beschränkung der Informationsfreiheit der nichtgefährdungsgeneigten Minderjährigen, die auch als Minderjährige ein Grundrecht auf Information haben, sowie der Meinungsfreiheit der Inhalte-Anbieter führen könnte. Andererseits wird nicht allein auf die durchschnittlichen Minderjährigen abgestellt,
was zu einer unzureichenden Berücksichtigung des durch die Verfassung zugesicherten Schutzes gefährdungsgeneigter
Minderjähriger bzw. ihrer Jugend in einer besonderen Lebenssituation führen könnte." (S.4f.) Der FSM hat die Einzelfallanwendung in seine aktuellen Prüfgrundsätze übernommen, aber weder die BPjM, noch die USK haben eine analoge Regelung,
sondern stellen pauschal auf gefährdungs-, resp. beeinträchtigungsgeeignete Jugendliche ab. Letztlich markierte das VG Köln
mit Beschl. v. 31.05.2010 (Az.: 22 L 1899/09) gar einen genreversierten, affinen Rezipientenkreis ("jugendliche Fans") als
Orientierungspunkt der BPjM, wenn die Behörde für eine wesentliche Verbreitung eines Mediums über diesen Kreis hinaus
keinerlei hinreichende Anhaltspunkte vorlegen kann. Dieser konkrete Fall impliziert auch, dass hohe Auflagen u./o. eine
intensive Werbekampagne nicht i.d.S. hinreichend sind; prinzipiell konterkariert der Beschluss die Spruchpraxis der BPjM.
Bzgl. der maßgeblich zu schützenden Kreise Jugendlicher bei Bewertungen des Jugendmedienschutzes s. auch LIESCHING
2011b. Tatsächlich argumentiert auch Thomas HAUSMANNINGER in Orientierung an der Filmrezipiententypologie von
WINTER 1995, "dass die häufigste Nutzung entsprechender Genres kaum bei den Fremden, auch nicht bei den Touristen,
sondern in erster Linie bei den Buffs und den Freaks stattfindet – und, dass die Fremden und Touristen sich normalerweise
weiterentwickeln, wenn sie weiter ihr Genre nutzen. Bei Buffs und Freaks aber muss mit einer anderen Ausstattung an
Rezeptionskompetenzen gerechnet werden – also ist die Prüfleistung entsprechend auszurichten. […] Das wirft natürlich eine
weitere Frage auf: Was ist mit den wenigen Fremden, die sich solche Filme auch anschauen? – Keine Sorge, sie kommen
damit schon zurecht." (zitiert in: GOTTBERG 2001a, S.48f.) Ungeachtet dessen, welcher generalisierte Typus Jugendlicher
den maßgeblichen Orientierungspunkt darstellt, sind nach BÜTTNER 2002a auch die "Bilder, Konzepte und Definitionen von
Kindheit und Jugend" (S.211) und i.d.S. die Frage, welche Inhalte welchen Typus Jugendlicher wie gefährden könnten, Fragen
der individuellen Entwicklungsgeschichte der Jugendschützer, so dass eine objektive Inhaltsprüfung prinzipiell nicht möglich
ist. Andererseits kann im Lichte der Diversität der Medienrezeption keiner der Orientierungspunkte konkretisieren, welche
Medieninhalte wie evtl. wirken sollen, resp. die Indizierungskriterien legitimieren; weder rezipieren gefährdungsgeeignete
Jugendliche heterogen, noch sind die Wirkungen heterogen. Letztlich dient die Orientierung an einem prädispositionierten,
gefährdungsgeeigneten Jugendlichen einzig einer so arbiträren, wie spekulativen Spruchpraxis, resp. der Skizzierung eines unkritisch-affirmativen Rezipienten, der auch die absurdesten Medieninhalte linear rezipiert; ein (u.U. gar pathologisches)
Synonym des Extremfalls (vgl. BARSCH 1988, S.31), der kein legitimer Orientierungspunkt ist. Bzgl. der Entstehungsgeschichte des Begriffs des gefährdungsgeeigneten Jugendlichen s. letztlich HAHN 2010.
110
Das Gros aller indizierten Filme, Film- und Spielprogramme wird seit den 1980ern qua ihrer
vermeintlich jugendgefährdenden Gewaltdarstellungen indiziert.600 Theoretisch sollen aber nicht
alle Gewaltdarstellung per se jugendgefährdend sein, es gäbe jedoch Gewaltdarstellungen, bzgl.
derer nach MONSSEN-ENGBERDING 1998 sowohl die pluralistische Gesellschaft als auch
die Wirkungsforschung davon ausgingen, "daß sie die Grenzen der Zumutbarkeit, der
moralischen Vertretbarkeit überschreiten."601 Im gesetzlichen Jargon sind das seit den 1970ern
sog. verrohend wirkende Gewaltdarstellungen. Verrohung ist ein Schlagwort der Kinoreformer:
Das württembergische Lichtspielgesetz vom 31.03.1914 pönalisierte erstmals Filme, die nach
Art. 2 des Gesetzes eine "verrohende [...] Einwirkung" zeitigen können sollten.602 Das Reichslichtspielgesetz (RLG) vom 29.05.1920 orientierte sich im Wesentlichen am württembergischen
Original, wie u.a. auch 33 Jahre später z.T. das GjS, resp. das aktuelle JuSchG. Das anachronistische Wirkungspostulat der Verrohung basiert aber auf der negativen Anthropologie
und dem naiven Medieninformationskonzept, wie dem antiquierten Sittlichkeitsbegriff der
Kinoreformer und kann nicht ohne dgl. funktionieren.603
Ungeachtet dessen konstatierte das VG Köln in Orientierung an insb. stimulations- und
desensibilisierungshypothetische Ressentiments, Medien wirkten verrohend, "wenn sie geeignet
sind, bei Kindern und Jugendlichen negative Charaktereigenschaften wie Sadismus und Gewalttätigkeit, Gefühllosigkeit gegenüber anderen, Hinterlist und gemeine Schadenfreude zu wecken
oder zu fördern. Dies wird etwa dann angenommen, wenn mediale Darstellungen Brutalität
fördern bzw. ihr entschuldigend das Wort reden, was vor allem dann gegeben ist, wenn Gewalt
ausführlich und detailliert gezeigt wird und die Leiden der Opfer ausgeblendet bzw. sie als
ausgestoßen, minderwertig oder Schuldige dargestellt werden. Als zu befürchtende und zu
vermeidende Folge solcher Darstellungen ist eine Desorientierung von Kindern und Jugendlichen im Hinblick auf die im Rahmen des gesellschaftlichen Zusammenlebens gezogenen
Grenzen der Rücksichtnahme und Achtung anderer Individuen anzusehen."604 Denn eine
sadistische, gewalttätige, gefühllose, hinterlistige und schadenfrohe Persönlichkeit konterkariert
600
601
602
603
604
Vgl. DECKER 2005, S.83. Originär indizierte die BPjM primär sog. unsittliche (bzw. sexualethisch desorientierende) Medien
als jugendgefährdend, z.B. Erotika i.w.S. (vgl. SCHOLZ 1999, S.50 und STATH 2006, S.147f.): In ihren ersten zwei Jahrzehnten diente die BPjS gem. DICKFELDT 1979 insb. der Revision des Säkularisierungsprozesses (S.118), resp. der
Perpetuierung und Prolongierung eines in der Restaurationsphase reanimierten, repressiven, katholisch-konservativen
Normen- und Wertesystems, speziell einer unreflektierten Sexualmoral (vgl. BOSSELMANN 1987, S.24/129 und BUCHLOH
2002, S.93/133f.). I.d.S. demonstrierten ihre insb. den Duktus der Leipziger Oberprüfstelle rezitierenden (vgl. LIESCHING
2002, S.62f.) Indizierungsentscheidungen eine aggressiv-aversive Praxis pädagogischer Sanktionierungen der Normunterworfenen und konstatierten eine (altersunabhängige) Gefährlichkeit entsprechender Medieninhalte (vgl. KIENZLE 1980, S.24;
SEIM 1997, S.182f.; BUCHLOH 2002, S.137/91-99/132-140 und SEIM 2003, S.525): In den 1960ern wurden insb. Schriften
der sog. Nacktkultur und selbst 1972 bspw. zwei Ausgaben der Jugendzeitschrift BRAVO wegen Verharmlosung der Onanie
indiziert, denn Onanie könne paranoide Reaktionen und Rückenmarkschwindsucht evozieren (vgl. MÜHLBAUER 2007,
GUNKEL 2009a, S.2 und GUNKEL 2009b). Die Geschichte der BPjM ist i.d.S. nicht überraschend seit ihrem Beginn eine
Geschichte des Missbrauchs des Jugendschutzes. Die sexuelle Revolution und ihre Konsequenzen, wie z.B. das 1. Strafrechtsreformgesetz (1. StrRG) v. 25.06.1969, das u.a. Ehebruch und einfache Homosexualität entkriminalisierte und einen Trend der
Liberalisierung der Sittlichkeitsdelikte markierte, initiierte aber die Erodierung des Fundaments der BPjS: Nach BVerfGE 30,
336 (336) v. 23.03.1971 waren Schriften der Nacktkultur nicht mehr (schwer) jugendgefährdend. Das am 25.01.1974 inkraftgetretene 4. StrRG degorierte i.d.S. § 6 Abs. 2 GjS und minimierte gleichermaßen die Sittlichkeitsdelikte im Wesentlichen auf
Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung, auch sog. einfache Pornographie wurde bspw. legalisiert. Infolge des 4.
StrRG kündigte die BRD drei Tage später auch das Genfer Übereinkommen zur Bekämpfung der Verbreitung und des
Vertriebes unzüchtiger Veröffentlichungen v. 12.09.1923, das bereits seit dem Austritt Dänemarks 1967 erodierte. Aber im
Lichte der vermeintlichen Problematik, dass die Filme der 1970er Körperbilder des 1968 veröffentlichten Films BLOOD
FEAST, der das Genre des Splatterfilms erfand, adaptierten und ein Ende "sauberer" Gewalt initiierten (vgl. STOLTE 1988,
S.9f. und PRUYS 1997, S.170), wurde der BPjS am 02.03.1974 ein neuer primärer Indizierungsgegenstand zugeordnet:
Gewalt in den Medien (vgl. DICKFELDT 1979, S.203). Seitdem waren u.a. auch "verrohend wirkende, zu Gewalttätigkeiten
[...] anreizende" Schriften gem. § 1 Abs. 1 GjS jugendgefährdend (vgl. NIKLES 2002, S.124); Ungeachtet dessen reduzierten
sich die Indizierungsanträge im Laufe der Zeit: Ordnungsämter, Jugendämter und kommunale Polizeidienststellen kontrollierten den Gesetzesvollzug nicht mehr und die sozial-liberale Regierungskoalition plädierte Ende der 1970er gar für die Auflösung der Behörde, die aber dank des marginalen öffentlichen Interesses, dem Ende der Koalition und der Auflösung des
Bundestages am 01.10.1982 nicht mehr realisiert wurde (vgl. GOTTBERG 1999, S.49 und RIEPE 2005). Im Lichte des sog.
"Video-Boom" der 1980er und einer generellen diesbzgl. Moralpanik revitalisierte die schwarz-gelbe Koalition die BPjS
wieder (vgl. LIEVEN 1994, S.175 und EISERMANN 2001, S.29).
MONSSEN-ENGBERDING 1998, S.130f..
Vgl. SIEGERT 1995, S.150 und VOLLBRECHT 2001, S.34.
Vgl. LUDWIG/PRUYS 1998, S.588; HAUSMANNINGER 2000 und HAUSMANNINGER 2002c, S.367.
VG Köln, Beschl. v. 31.05.2010, Az.: 22 L 1899/09; vgl. OVG NRW, Beschl. v. 02.03.2009, Az.: 20 A 97/08; BT-Drs. II/
3565, S.2ff.; BOSSELMANN 1987, S.73 und SCHOLZ 1999, S.51.
111
eklatant das Erziehungsziel der Gemeinschaftsfähigkeit.605
Gewaltdarstellungen wirken i.d.S. gem. FEIBEL 2004 nach der Spruchpraxis der BPjM u.a.
dann verrohend, "wenn Gewalt in großem Stil und in epischer Breite geschildert wird; wenn
Gewalt als vorrangiges Konfliktlösungsmittel propagiert wird, wobei in diesen Fällen überwiegend auch auf die Brutalität der Gewaltdarstellung abgestellt wird; wenn die Anwendung
von Gewalt im Namen des Gesetzes oder im Dienste einer angeblich guten Sache als völlig
selbstverständlich und üblich dargestellt wird, die Gewalt jedoch in Wahrheit Recht und
Ordnung negiert; wenn Selbstjustiz als einziges probates Mittel zur Durchsetzung der vermeintlichen Gerechtigkeit dargestellt wird; wenn Mord- und Metzelszenen selbstzweckhaft und
detailliert geschildert werden."606 Wesentlich ist insg. der Kontext der Gewaltdarstellungen, also
dass ein Medium einen bestimmten, bspw. gewaltaffirmativen u./o. -bagatellisierenden (und in
die Realität transferierbaren) Gedankenzusammenhang vermittelt.607 Notwendige Bedingung
einer rechtskonformen Indizierungsentscheidung sind infolge dessen nicht nur nachvollziehbare
Darstellung dessen, dass die verfahrensgegenständlichen Medien die formalen Indizierungskriterien erfüllen, sondern – auch im Lichte der (kontextorientierten) Gründe einer Nichtindizierung (s.u.) – eine die (vermeintlich) jugendgefährdenden Gewaltdarstellungen
kontextualisierende, ganzheitliche Betrachtung der gegenständlichen Medien. D.h. dass die
Entscheidungsgründe der BPjM i.d.S. gem. BVerwG erkennen lassen müssen, "dass sie sich mit
dem indizierten Medium vollständig und nicht nur exemplarisch bzw. lückenhaft auseinander
gesetzt hat [...]; allerdings ist nicht erforderlich, dass alle Mitglieder der Bundesprüfstelle das zu
indizierende Medium 'Wort für Wort' gelesen haben [...]."608
Diese nicht begründete Nichterforderlichkeit widerspricht aber nicht nur dem gleichzeitigen
Gebot einer vollständigen Auseinandersetzung, sondern ist insb. auch ggü. linearen Medien
(z.B. Filmen, Büchern) nicht plausibel: Sie provoziert die Gefahr (bereits formal) falscher u./o.
fehlerhafter Entscheidungsgründe, dass die BPjM bspw. einen Teil des Mediums übersieht oder
sonst den Inhalt des Mediums falsch wiedergibt. Sachverhaltsirrtümer nämlich, die die
Indizierungsentscheidungen tatsächlich auch regelmäßig prägen. Bei nicht linearen, interaktiven
Medien, wie z.B. Computerspielen, ist eine vollständige Auseinandersetzung mit denselben
schlechterdings regelmäßg kaum möglich. Aktuellere Indizierungsentscheidungen konstatieren
aber diesbzgl., die Spiele seien dem zuständigen Gremien in ihren "wesentlichen Teilen" vorgeführt und erläutert worden, definieren die wesentlichen Teile aber nicht: In Orientierung an
den Formulierungen der Indizierungsentscheidungen insg., wie auch der Spruchpraxis der
Behörde bei im Wesentlichen inhaltsgleichen Medien (s.u.), stellen wohl nach Auffassung der
BPjM bereits (dekontextualiserte) Gewaltdarstellungen das Wesentliche eines Spiels dar. Auch
dass das Indizierungsverfahren auf Beschleunigung ausgelegt ist,609 demonstriert i.V.m. dem
Phänomen, dass eine vollständige Auseinandersetzung mit einem Spiel ggf. mehrere Stunden
bis Tage Spielzeit beanspruchen kann, dass sich die BPjM auch im Lichte mangelnder Spielekompetenz, resp. der Fachfremde der Mitglieder, wie auch einer in der Natur ihrer Arbeit
liegenden Fokussierung primär (vermeintlich) indizierungsrelevanter Einzelelemente, nur
exemplarisch bzw. lückenhaft mit den Medien auseinandersetzt, so dass die Entscheidungen
605
606
607
608
609
Vgl. BÜTTNER/GOTTBERG 2002, S.7. BAUM 2007 argumentiert plausibel, dass die Eigenverantwortlichkeit als normatives
Schutzgut des JMStV und (mutatis mutandis) i.d.S. auch des JuSchG entbehrlich ist, selbst ausgehend von der Annahme, dass
Mediengewaltdarstellungen tatsächlich gravierendes Aggressionsverhalten oder selbst Schulamokläufe auslösten: "Tatsächlich
ist in diesen Fällen eine verhängnisvolle Vorbildwirkung gewalthaltiger Medienangebote mit Händen zu greifen, doch die
Annahme, es handele sich dabei um eine Art verantwortlichkeitsausschließender Verhaltenskonditionierung nach dem Muster
Pawlowscher Reflexe, hat die seriöse Medienwirkungsforschung bekanntlich seit Jahrzehnten überwunden. Pointiert
formuliert, besteht die eigentliche Problematik jeder missglückten Mediensozialisation darin, dass sie Persönlichkeiten zu
formen hilft, die ihr eigenverantwortliches Handeln mehr oder weniger umfassend nach sozial unverträglichen Maßstäben ausrichten. Eigentlich entscheidend ist demnach die Frage, was vor dem Hintergrund des Rechts auf Selbstbestimmung Minderjähriger als sozial unverträglich einzustufen ist. Da das Kriterium der Eigenverantwortlichkeit eine solche Richtungsangabe
nicht liefert, ist es als normatives Schutzgut […] entbehrlich." Ungeachtet dessen ist aber natürlich auch die Gemeinschaftsfähigkeit ein extrem ausfüllungsbedürftiger Begriff (S.274-277).
FEIBEL 2004, S.160; vgl. MONSSEN-ENGBERDING 1998, S.110f. und STATH 2006, S.148f..
Vgl. MONSSEN-ENGBERDING 1998, S.110 und ALTENHAIN/LIESCHING 2011.
BVerwG, Urt. v. 03.03.1987, Az.: 1 C 16.86; SCHOLZ 1999, S.50 und NIKLES/ROLL/SPÜRCK et al. 2005, S.259.
Vgl. STATH 2006, S.181.
112
i.d.R. weder Kontextualisierungen der inkriminierten Gewaltdarstellungen, noch eine Diskussion evtl. relativierender Inhalte und Kontexte beinhalten.
Tatsächlich ist eine typische Indizierungsentscheidung ungeachtet des konkreten, verfahrensgegenständlichen Medieninhalts ein Lückentext, ein Sammelsurium immer identischer Textbausteine,610 garniert mit z.T. nur einzelnen Sätzen über die verfahrensgegenständlichen
Medieninhalte, der nur den Antrag, resp. die Anregung rekapituliert, den Sachverhalt und die
Indizierungsgründe skizziert, wie die Spruchpraxis und Rechtsprechung referiert. Dies ist ein
Korsett, dass die ganzheitliche Betrachtung des Einzelfalls ad absurdum führt. Die Skizzierung
der Sachverhalte, d.h. für narrative Medien die Inhaltsangaben, demonstrieren i.d.R. ein nur so
kursorisches, wie rudimentäres Klappentextniveau, aber keine elaborierteren Inhaltsanalysen.
Sachverhalte und Indizierungsgründe sind z.T. gar so rudimentär (und pejorativ formuliert),
resp. opak, dass Zweifel entstehen können, ob die skizzierten und die gem. Indizierungsentscheidung indizierten Medien auch tatsächlich identisch sind. Bei Computerspielen ignoriert
die BPjM auch regelmäßig die Narration zugunsten der (fragmentarischen) Darstellung der
Spielmechanik. Die Inhaltsangaben u./o. ggf. die Darstellungen der Spielmechaniken sind
prinzipiell aber nur (formaljuristisch notwendige) Staffage, denn die faktischen Entscheidungsgründe sind i.d.R. simple Leichenzählerei, dekontextualisierte Addierung (resp. z.T. minutiöse
und oftmals auch sachlich falsche Darstellung) der Gewaltdarstellungen und -spitzen und exakt
das, was die BPjM den indizierten Medien attestiert: Simple Gewaltkompilationen.611 Bspw.
konstatierte sie bzgl. DEAD RISING 2, das Spiel erschöpfe sich in einer fließbandartigen, resp.
endlosen "Aneinanderreihung von Mord- und Metzelszenen"612 – auch dem Spiel DEAD ISLAND
wurde dgl. vorgeworfen.613 Die monierte Aneinanderreihung ist aber nur das Resultat eines die
Narration, wie auch alternative, gewaltfreie(re) Spielmechaniken ignorierenden, idiosynkratischen Spielstils, denn die Quantität und Qualität der Gewaltdarstellungen diktiert insb.
der Spieler (im Rahmen seiner Spielkompetenz) selbst. Letztlich dokumentieren die Praxis der
plakativen Addierung der Gewaltdarstellungen, wie die regelmäßig pejorativ-prosaisch und z.T.
moralinsauer formulierten Indizierungsgründe die pornographische Perspektive der Gremien,
also auch ihre idiosynkratischen Empörungen u./o. Animositäten, wie das u.a. auch die regelmäßigen (semantischen) Vermischungen von Realität und Fiktion innerhalb der Indizierungsentscheide demonstrieren.614
Insg. sind der BPjM also insb. explizite Gewaltdarstellungen und -spitzen, wie z.B. Splatteru./o. Goreeffekte, hinreichende Bedingung einer Jugendgefährdung. Nicht überraschend
präsentiert die BPjM i.d.S. u.a. für Computerspiele einen semi-enumerativen Katalog von
Gewaltdarstellungen, die generell indizierungswürdig seien; die BPjM indiziert gem.
MONSSEN-ENGBERDING 1998 Spiele u.a. dann, "wenn Gewaltanwendung gegen Menschen
als einzig mögliche Spielhandlung dargeboten wird; wenn Gewalttaten gegen Menschen
deutlich visualisiert bzw. akustisch untermalt werden (blutende Wunden, zerberstende Körper,
Todesschreie); wenn Gewaltanwendung (insbesondere Waffengebrauch) durch aufwändige
Inszenierung ästhetisiert wird; Verletzungs- und Tötungsvorgänge zusätzlich zynisch oder
vermeintlich komisch kommentiert werden; wenn Gewalttaten gegen Menschen dargeboten
werden, wobei die Gewaltanwendung 'belohnt' wird (z.B. Punktegewinn, erfolgreiches Durchspielen des Computerspiels nur bei Anwendung von Gewalt)."615 Bzw. sie indiziert Spiele gem.
610
611
612
613
614
615
Vgl. SCHMID 2009b und SCHMID 2011, S.4.
Vgl. SCHMID 2009a und SCHMID 2009b.
IE Nr. 9610 (V) v. 15.12.2010 (DEAD RISING 2).
Vgl. IE Nr. 10214/11 (V), 10215/11 (V) und 10216/11 (V) v. 17.11.2011 (DEAD ISLAND).
Vgl. BENZ 1997, S.51 und BENZ 1998, S.49f.. Ein prägnantes Bsp. stellt auch MONSSEN-ENGBERDING 1998, S.128 dar:
Die Vorsitzende formulierte bspw., Spiele seien indizierungsrelevant, wenn sie Spieler animierten, "einen Mitspieler möglichst brutal zu ermorden." (zitiert in: KREMPL/KURI 2007c) Im Rahmen des HEUTE JOURNAL-Beitrags "Brutale Computerspiele – Forscher warnen" des Autors Rainer FROMM v. 21.04.2009 resümierte sie letztlich: "Also man hat natürlich den
Eindruck, dass sie grausamer geworden sind, weil sie eben realistischer sind. Es ist [...] ein himmelweiter Unterschied, ob Sie
also eine ganz deutliche Spielfigur massakrieren oder ob Sie den Eindruck haben, Sie haben jetzt ein realistisches Geschehen
vor sich, ja. Sie haben wirklich den Eindruck, Sie schleichen sich an, schneiden jemandem die Kehle durch, der fällt zu Boden,
der schreit und Sie haben wirklich den Eindruck, Sie begehen einen realen Mord." Ein Paradebeispiel des pornographischen
Blicks i.S.v. WILLMANN 2003b.
MONSSEN-ENGBERDING 1998, S.131f..
113
der entsprechenden Formulierungen in den Indizierungsentscheiden dann, "wenn kaum oder
keine alternativen Handlungsoptionen/Konfliktlösungsmöglichkeiten vorhanden sind, [...] wenn
die Wahl alternativer Handlungsoptionen/Konfliktlösungsmöglichkeiten zwar möglich, aber für
die Erreichung des Spielzieles nachteilig oder irrelevant ist, [...] wenn das Ausüben von
entsprechender Gewalt als unproblematisch oder gesellschaftlich normal erscheint, nicht mit
negativen Folgen oder Sanktionen versehen ist oder im Rahmen des Spiels belohnt wird, [...]
wenn Gewalt gegen Unbeteiligte Bestandteil des Spiels ist und nicht oder nur eingeschränkt
sanktioniert wird."616
Letztlich ist das Kriterium der Verrohung insg. ein "Gummi-Maßstab"617 für den Vorwurf einer
Jugendgefährdung: Die BPjM dekontextualisiert explizite ("schmutzige") Gewaltdarstellungen
und synonymisiert ihre "Detailfreude"618 einerseits und eine Gewaltaffirmation u./o. -bagatellisierung andererseits, konstatiert z.B. für ihre ständige Spruchpraxis, "dass schon das
Demonstrieren kugelzerfetzter Körper, auseinandergeteilter Körper oder abgeschossener Köpfe
ein hinreichendes Indiz für eine verrohende Wirkung ist, die von diesen Spielen ausgeht."619
Bspw. problematisierte sie bereits 1994 das Spiel DOOM u.a. deswegen, weil Liquidationsakte
auf mannigfaltige Art und Weise positiv verstärkt würden, "[...] z.B. durch die aufwendige Darstellung blutig zerfetzter gegnerischer Körper."620 Generell sind ihre Vorwürfe eines medieninduzierten, gewaltaffirmativen u./o. -bagatellisierenden Gedankenzusammenhangs also so
inflationär, wie kurios,621 ganz nach dem Motto: Je expliziter die Gewaltdarstellung, desto
affirmativer, resp. bagetellisierender sei der (intendierte und) vermittelte Gedankenzusammenhang.622
Kritiker wie Roland SEIM monieren die regelmäßige Zeitgeist-, wie auch Ironie- und
Sarkasmusresistenz – humoreske Gewaltdarstellungen werden entweder nicht als humoresk
realisiert oder pauschal als (jugendgefährdender) Zynismus problematisiert – der Gremien, ihre
i.d.R. wörtlichen Textinterpretationen,623 wie z.B. die Synonymisierung amoralisch agierender
Akteure und einer amoralischen Intention, ja Wirkung des Inhalts. Im Rahmen der Prüfpraxis ist
616
617
618
619
620
621
622
623
IE Nr. 8818 (V) v. 05.08.2009 (CALL OF DUTY 4: MODERN WARFARE). Die BPjM konstatiert auch bzgl. aktueller Trends der
Bewegungssteuerung pauschal, dass die jugendgefährdende Wirkung der Gewaltdarstellungen per (i.w.S.) realitätsimitierender
Steuerungs- und Bedienungselemente verstärkt werde (vgl. BPjM 2009b). Tatsächlich sind die diesbzgl. Studien aber (ungeachtet der obligatorischen Studiendefizite) so rar, wie ambig, s. BARLETT/HARRIS/BALDASSARO 2007; MAHOOD/
CICCHIRILLO 2008; MARKEY/SCHERER 2009; MELZER/DERKS/HEYDEKORN et al. 2010; LIN 2011; CHARLES/
BAKER/HARTMAN et al. 2013; MCGLOIN/FARRAR/ KRCMAR 2013 und WILLIAMS 2013.
SEIM 1998, S.44.
IE Nr. VA 11/98 v. 09.12.1998 (HALF-LIFE); vgl. Nr. 4771 v. 07.05.1998 (RESIDENT EVIL 2); Nr. VA 1/2000 v. 07.01.2000
(QUAKE) und Nr. 4995f. v. 04.05.2000 (RESIDENT EVIL 3: NEMESIS).
IE Nr. 5169 v. 06.03.2003 (RESIDENT EVIL: CODE VERONICA X) und Nr. 6600 (V) v. 11.03.2004 (MANHUNT).
IE Nr. 4637 (V) v. 25.05.1994 (DOOM).
Bspw. formulierte die BPjM bzgl. des Spiels HALF-LIFE gem. IE Nr. VA 11/98 v. 09.12.1998: "Während es in den beiden
ersten Leveln dieses Spiels noch darum geht, Aliens zu vernichten, ändert sich die Spielhandlung in den folgenden Leveln
dahingehend, daß der Spieler im wesentlichen die nunmehr in Mengen auftauchenden Marines vernichten muß. Die Tötungshandlungen sind dabei sehr grausam in Szene gesetzt, die Marines können sowohl mit einem Schuß aber auch mit mehreren
gezielten Schüssen getötet werden und fallen dann sehr realitätsnah in Szene gesetzt langsam um und bleiben sodann in einer
Blutlache liegen. Befinden sich jene Marines vor Wänden, spritzt das Blut der getöteten Soldaten in hohem Bogen an die
Wand. Ein besonders verrohendes Moment tritt auch dadurch hinzu, daß die getöteten Soldaten während der gesamten Spielphase auf dem Boden liegen bleiben und der Spieler hinüber laufen kann. Das Spielersubstitut wird unterstützt durch Wachleute der Forschungsstation, die der Spieler alternativ aber auch töten kann. Sobald er über diese Wachleute läuft, erhält er zusätzliche Munition, die für den Spielverlauf eine bedeutende Rolle spielt, womit das Töten von Menschen qualifiziert positiv
bewertet wird. Andere verrohende Momente treten im Spielverlauf hinzu. So passiert es immer wieder, daß Wissenschaftler,
die der Spieler eigentlich retten soll, von Aliens angegriffen werden, die sich bevorzugt auf dem Kopf der Wissenschaftler
festsetzen. Um zu vermeiden, daß sich die Wissenschaftler dann in Aliens verwandeln, die den Spieler angreifen, muß er diese
mit gezielten Schüssen töten." Der Entscheid demonstriert die pornographische Perspektive der BPjM: Erstens synonymisiert
sie indifferent detaillierte (vermeintlich realitätsnahe) und strafrechtlich konnotierte grausame Gewaltdarstellungen, fantasiert
in einem pejorativ-pittoresken, haematophoben Kinoreformerduktus, Blut getöteter Soldaten spritze in hohen Bögen an
Wände; de facto materialisieren die Bluttexturen ggf. nur instantan an Wänden. Andererseits konstatiert sie, eine kuriose
Variante der Störung der Totenruhe sei ein "besonders verrohendes Moment"; die Möglichkeit des Hinüberlaufens über
getötete Figuren ist aber nur das Resultat einer konsequenten Immersion, die Usus unzähliger, nicht indizierter Spiele ist.
Ungeachtet dessen forcierte die exponierte Kritik Selbstzensureffekte, so dass liquidierte Antagonisten in den dt. Versionen
diverser Spiele bspw. dematerialisieren (s. bspw. SAINTS ROW 2; NO ONE LIVES FOREVER 2: AGENTIN IN GEHEIMER MISSION;
RESIDENT EVIL 3: NEMESIS). Letztlich ist die Munition im Spiel keine Rarität, so dass die Liquidation der Wachleute nicht
nötig ist; auch wäre die Liquidation der Aliens ("Headcrabs") und nicht die der Wissenschaftler eine (plausiblere) Alternative,
die die BPjM aber erst gar nicht realisiert hat.
Vgl. IE Nr. 6183 (V) v. 22.02.2002 (RETURN TO CASTLE WOLFENSTEIN) und Nr. 6359 (V) v. 15.10.2002 (GORE).
Vgl. SEIM 2004 und GUNKEL 2009b.
114
das Konstrukt der Jugendgefährdung i.d.S. ein Konglomerat aus Medienressentiments und einer
negativen Anthropologie.
Die Entscheidungen problematisieren selbst technische Limitationen, argumentieren z.B. ggü.
dem Echtzeitstragiespiel COMMAND & CONQUER: GENERALS, dass ein evtl. "empathischer
Mitvollzug der Leiden der Opfer" ausgeschlossen sei, "da das einzelne gesichts- und charakterlos verbleibende Tötungsobjekt in der Masse identischer Klone förmlich untergeht [...]."624
I.d.S. werden auch ggf. generische, gar genrekonstitutive Darstellungen inkriminiert, wie z.B.
im Fall des Egoshooters CALL OF DUTY 4: MODERN WARFARE die Statistenfunktion der
Antagonisten625 – ein Kriterium, das gerichtlich aber auch bereits als hinreichende Bedingung
einer Gewaltverherrlichung i.S.d. § 131 StGB inkriminiert wurde626 – oder ein Gros violenter
Computerspiele per se definierende Mechaniken,627 wie (i.w.S.) Belohnungen virtueller
Gewaltanwendungen (z.B. "Punktegewinn, erfolgreiches Durchspielen des Computerspiels nur
bei Anwendung von Gewalt"). Die Probleme der Spruchpraxis sind evident, denn erstens
können Gewaltdarstellung nicht per se, sondern nur ggf. im Lichte eines Kontextes eine
Gewaltaffirmation u./o. -bagatellisierung indizieren, zweitens konterkariert (und erodiert) die
kontextorientierte(re) Spruchpraxis der Organisationen der freiwilligen Selbstkontrolle, resp. der
OLJB, die der BPjM: Oftmals ist einerseits der einzige Unterschied zwischen indizierten
Medien und ihren nach § 14 JuSchG gekennzeichneten, nicht indizierten (d.h. zensierten)
deutschen Pendants die Explizität der Gewaltdarstellungen.628 Andererseits werden selbst
explizit(e) Gewalt darstellende Computerspiele otmals (i.S.d. §§ 12 und 14 JuSchG) als nicht
jugendgefährdend gekennzeichnet.
Die Indizierungsentscheide liefern i.d.S. einerseits insg. keine hinreichenden Belege für
hinreichend schwerwiegende Eignungen zur Jugendgefährdung durch die indizierten Medien,
resp. für die Vorwürfe, die indizierten Medien vermittelten bspw. einen gewaltaffirmativen u./o.
-bagatellisierenden Gedankenzusammenhang: Es wird nicht begründet, warum bereits bloße
Gewaltdarstellungen für sich genommen geeignet sein könnten, Kinder und Jugendliche zu
gefährden, denn die BPjM würdigt wesentliche Aspekte entweder nur unzureichend oder läßt
sie völlig unberücksichtigt. Insb. vermögen die Skizzierungen der Inhalte, resp. der Gewaltdarstellungen, für sich genommen die erhobenen Vorwürfe nicht zu stützen; insoweit sich die
BPjM bspw. auf vermeintlich gewaltaffirmative u./o. -bagatellisierende Gewaltdarstellungen
bezieht, unterlässt sie eine Rückbeziehung auf den narrativen Kontext, wie auf künstlerische
und ästhetische Konzepte, genretypische dramaturgische und visuelle Darstellungskonventionen u.ä. (resp. muss sie bereits im Lichte i.d.R. offensichtlich fehlender Sachkunde
der Gremien unterlassen). Letztlich muss die Rechtwidrigkeit einer solchen Spruchpraxis ausschl. Thematisierungen der Gewaltdarstellungen konstatiert werden, denn somit genügen die
Entscheidungen nicht den in sachlich-rechtlicher Hinsicht zu stellenden Anforderungen an eine
624
625
626
627
628
IE Nr. 1/03 v. 25.02.2003 (COMMAND & CONQUER: GENERALS).
Vgl. IE Nr. 8818 (V) v. 05.08.2009 (CALL OF DUTY 4: MODERN WARFARE).
Vgl. AG München, Beschl. v. 20.11.2007, Az.: 855 Gs 426/07 (SCARFACE – THE WORLD IS YOURS).
Vgl. FRITZ 2007, S.54.
Der Vollständigkeit halber soll erwähnt werden, dass auch insofern die seitens der BPjM salopp kolportierten, lerntheoretischen Vorbildwirkungen oder gar Imitationsgefahren medialer Gewaltdarstellungen plausibel wären, eine prinzipiell
z.B. nur an der Explizität der Gewaltdarstellungen orientierte Spruchpraxis das falsche Signal evoziert. Im Lichte der
Indizierung ist nämlich das häufigste (erfolgreiche) Mittel der Selbstzensur die Entfernung der monierten Darstellungen, wie
nur der Splatter- u./o. Goreeffekte, der Gewaltspitzen. Bereits im Rahmen der Kennzeichnungsverfahren nach § 14 JuSchG
machen solche Zenuren z.T. den Unterschied zwischen einer Kennzeichnung und einer Nichtkennzeichnung aus, die
"Erzählung der Gewalt" (WULFF 1985) ändern sie aber nicht (vgl. GANGLOFF 2001, S.28), wie auch DECKER 2005
konstatierte: "In der Tat tragen diese Entschärfungen ausschließlich der Gesetzeslage Rechnung. Unter medienpädagogischen
Gesichtspunkten ist eine Reduzierung des Gefährdungspotenzials durch die Änderung der Blutfarbe nur schwer nachvollziehbar. Gefährdungspotential steckt eher in der gesamten Ausrichtung der Spiele und ihrer Struktur, nicht unbedingt in einigen
vordergründigen Schockeffekten." (S.82) Auch GRIMM 2000 argumentiert i.S.d. der Lerntheorie, an der sich die BPjM ja
auch orientiert, gegen solche Zensuren: "Eine Vorbildfunktion erfüllten am wenigsten 'schmutzige' Blutszenen, sondern schon
eher eine geschönte, 'saubere' Gewaltästhetik, in der beunruhigende Aspekte wie Verletzungen ausgeblendet waren. Daher
wäre es unter dem Gesichtspunkt der Aggressionsvermeidung geradezu kontraproduktiv, aus einem Film alle Blutszenen zu
entfernen und somit gänzlich 'schmutzige' Gewalt in 'saubere' zu verwandeln. Eine 'saubere' Gewaltästhetik ist zwar weniger
angsteinflössend und leichter konsumierbar, erhöht aber die Akzeptanz des Gewaltmodells und die Übernahmebereitschaft der
Rezipienten." (S.50)
115
Indizierung, weil sie weder eine revisionsrechtliche Nachprüfung zulassen, noch die Normunterworfenen i.S.d. Bestimmtheitsgebots abschätzen können, welche Gewaltdarstellungen evtl.
indizierungswürdig sind und welche nicht.629 Auch die im Folgenden noch diskutierten
Konkretisierungen des Indizierungstatbestands durch § 18 Abs. 1 Satz 2 und § 15 Abs. 2
JuSchG relativieren die Problematik nicht, im Gegenteil sind nämlich auch diese nicht hinreichend bestimmt.
Seit das Erste Gesetz zur Änderung des Jugendschutzgesetzes (1. JuSchGÄndG) am 01.07.2008
in Kraft trat, exemplifizieren § 18 Abs. 1 Nr. 1 und 2 JuSchG zwei Beispiele jugendgefährdender, resp. verrohender Medien: Medien, "in denen 1. Gewalthandlungen wie Mordund Metzelszenen selbstzweckhaft und detailliert dargestellt werden oder 2. Selbstjustiz als
einzig bewährtes Mittel zur Durchsetzung der vermeintlichen Gerechtigkeit nahe gelegt wird."
Die Novelle sollte u.a. die Indizierungskriterien hinsichtlich medialer Gewaltdarstellungen
erweitern und präzisieren;630 faktisch kodifizierte sie aber nur eine Auslegung des Verrohungskriteriums, resp. eine Spruchpraxis der BPjM, die bereits seit mindestens(!) 10 Jahren Usus war.
Insofern sind die Exemplifizierungen weder Erweiterungen, noch (neue) Präzisierungen der
Kriterien, im Gegenteil demonstrieren sie ihre Nebulosität.
11.3.1
Sebstzweckhafte und detaillierte Mord- und Metzelszenen
Das erste Beispiel sind nach § 18 Abs. 1 Nr. 1 JuSchG Medien, "in denen […] Gewalthandlungen wie Mord- und Metzelszenen selbstzweckhaft und detailliert dargestellt werden
[…]." Ungeachtet des pejorativen Duktus ("Metzelszenen") akzentuiert der Tatbestand prinzipiell
die gebotene ganzheitliche Betrachtung der Medien.631 HILPERT 2008, Referent der BPjM,
skizziert aber die diesbzgl. konträren Prämissen der Behörde: Einerseits könne Gewalt in
Computerspielen als ein "Mittel zur Erreichung eines Zweckes" eingesetzt werden, aber
andererseits könne man auch Gewalt ausüben, "weil diese Tat selbst (oder aber ihre mediale
Wiedergabe) ein als angenehmes Gefühl, Lust, auslöst. Gewalt (oder ihre mediale Wiedergabe)
ist in diesem Fall selbst das Erstrebte. Wird Gewalt praktiziert oder auf Medien gebannt, um
Lust hervorzurufen, ist sie selbstzweckhaft. Es kann sein, dass eine Gewalttat in einem Spiel
zunächst mit einem bestimmten Zweck, wie z.B. die Bekämpfung eines Angreifers, begründet
wird. Wenn aber Gewalt in einer Weise praktiziert, ja inszeniert wird, die so auf keinen Fall zur
Erreichung des erstrebten Zweckes notwendig oder sinnvoll ist, dann wird die ursprünglich als
Mittel eingesetzte Gewalt zu einem Selbstzweck. Leider finden sich in Computerspielen immer
wieder virtuelle Gewaltakte, die als selbstzweckhaft bezeichnet werden müssen, da die Aufgaben, zu deren Erfüllung Gewalt eingesetzt werden soll, weder Ausmaß noch Detailreichtum
der Gewaltakte begründen. [...] Warum wird Gewalt in einigen Computerspielen besonders
detailliert und blutig dargestellt? Welche Antwort darauf auch immer gefunden wird: Sie kann
und wird nichts mit dem in der Aufgabenstellung definierten Spielzweck tun haben, egal ob
dieser Zweck die Ausschaltung bestimmter Gegner oder das 'Verteidigen' bzw. das 'Erobern'
einer bestimmten (virtuellen) Lokalität sein mag. Wird Gewalt in einem Computerspiel
detailliert dargestellt, so liegt deshalb der Verdacht nahe, Gewalt werde selbstzweckhaft, zur
Erzeugung von (im weiteren Sinne) lustvoller emotionaler Wirkung inszeniert."632
629
630
631
632
Vgl. BÜTTNER/GOTTBERG 1995, S.23 und FROMM 2002, S.90f.. Bzgl. a.A. s. z.B. SCHULZ/BRUNN/DREYER et al.
2007, S.102 und RETZKE 2006 S.133f..
Vgl. BR-Drs. 3/08.
Gem. der das 1. JuSchGÄndG initiierenden Pressemitteilung des BMFSFJ v. 13.02.2007, die ein "Sofortprogramm zum
wirksamen Schutz von Kindern und Jugendlichen vor extrem gewalthaltigen Computerspielen" proponierte, konstatierte
Gesetzesinitiatorin Ursula G. von der LEYEN plakativ: "Spiele, in denen deutlich visualisierte Gewaltanwendung mit 'Leben
sammeln' oder Erreichen eines weiteren Levels belohnt wird, oder in denen Mord- oder Metzelszenen detailliert dargestellt
werden, kommen auf den Index." Im Rahmen der Evaluation des dt. Jugendmedienschutzes konstatierte die Expertise FRITZ
2007 aber diesbzgl., dass "deutlich visualisierte Gewaltanwendung", wie auch "Leben sammeln" oder das "Erreichen eines
weiteren Levels" infolge der Gewaltanwendung Elemente sind, "die für viele (vermutlich für die meisten) Computer- und
Videospiele konstitutiv sind." (S.54)
HILPERT 2008, S.9-14.
116
Ungeachtet dessen, dass eine detaillierte und blutige Gewaltdarstellung natürlich auch
spielmechanisch relevant sein kann (s. DEAD SPACE 2; METAL GEAR RISING: REVENGEANCE;
SPLATTERHOUSE), demonstriert die Argumentation das perspektivische Problem, dass Nichtspieler regelmäßig Gewalt als Zweck eines Spiels problematisieren, die Spieler sie aber nur als
"Mittel zur Erreichung eines Zweckes" realisieren.633 Die Prämissen sind auch weder hinreichend, noch korrekt, denn die BPjM realisiert Spiele nicht als komplexe, integrale Werke,
sondern dichotomisiert Gewaltdarstellungen indifferent in Mittel zur Erreichung eines
dramaturgischen Zwecks und dekontextualisierte Gewaltdarstellungen als Lustmittel der
Rezipienten. I.d.S. kommentieren auch HEYL/LIESCHING 2008, das Attribut der Selbstzweckhaftigkeit brächte zum Ausdruck, "dass nur außerhalb jeder Dramaturgie stehende
Gewaltexzesse erfasst werden, die erkennbar allein zur Befriedigung entsprechender
voyeuristischer Zuschauer- und Nutzerinteressen in aller Breite dargestellt werden. Darstellung
von Gewalt zu Unterhaltungszwecken (z.B. in Kriminalfilmen, Western) begründen hingegen
noch keine Selbstzweckhaftigkeit."634 Die erkennbare Befriedigung ausschl.(!) voyeuristischer
(resp. sadistischer) Rezipienteninteressen sei gem. SPÜRCK 2011 bei Computerspielen etwa
dann der Fall, wenn Tötungshandlungen detailliert präsentiert werden, "die spieltechnisch
entbehrlich sind (also z.B. nicht für das Fortkommen im Spiel erforderlich sind)."635 Eine
extrem inflationäre Auslegung, dank der die Freiheiten des Computerspiels deutlich hinter
denen des Spielfims und anderer Medien zurückfallen würde.
Die Auslegungen sind auch nicht plausibel, denn erstens kann die "Geschmacksfrage"636 der
Notwendigkeit der (Intensität der) Gewaltdarstellung im Rahmen der Dramaturgie kein
praktikabler Orientierungspunkt sein; eine Behörde, die über die (dramaturgische) Notwendigund Zweckmäßigkeit einer Gewaltdarstellung entscheidet, geriert sich als Kunstrichterin.
Zweitens können (formale Aspekte der) Gewaltdarstellungen generell nicht objektiv die
Intention einer Voyeurismusbefriedigung indizieren: Die skizzierten Prämissen ignorieren insb.,
dass der Zweck einer (detaillierten) Gewaltdarstellung kein ausschl. dramaturgischer (oder
genrekonstituierender) sein muss, sondern dass Mediengewalt für sich genommen i.d.R. ein
komplexes Konglomerat z.B. narrativer (und die Narration akzentuierender immersiver,
atmosphärischer), stilistischer, ästhetischer, symbolischer und im Fall von Computerspielen ggf.
auch spielmechanischer Funktionen darstellt, dass Mediengewalt insg. auch immer im Rahmen
diverser Kontexte inszeniert wird.637 Die indifferente (und degoutante) Reduzierung der Gewaltdarstellungen auf die "Erzeugung von [...] lustvoller emotionaler Wirkung", resp. die
Befriedigung eines Gewaltvoyerismus, demonstriert primär Ressentiments und eine fehlende
Expertise der BPjM ggü. Genre-, resp Gewaltdarstellungskonventionen. Prinzipiell ist insb. die
Differenzierung in voyeuristische und in unterhaltungsorientierte Rezipienteninteressen fragwürdig und u.U. tendenziell die Demonstration eines unreflektierten Überlegenheitsdünkelns,
denn auch in z.B. Kriminalfilmen und Western ist ein Zweck der Gewaltdarstellung regelmäßig
auch(!) i.w.S. eine Lustgenerierung (z.B. Angstlust).
633
634
635
636
637
Vgl. FRITZ 2007, S.18-24.
HEYL/LIESCHING 2008, S.53.
SPÜRCK 2001, S.23f..
STIEFLER 2010, S.5 und vgl. SPÜRCK 2011, S.23f..
Vgl. BOHRMANN 1997, S.129/181 und WULFF 2004, S.1. Kurioserweise realisiert HILPERT 2008 selbst, dass Gewaltdarstellungen z.B. auch atmosphärische Funktionen haben können: "Einige Spieler von Ego-Shootern, vor allem von TaktikShootern, legen häufig keinen großen Wert auf detaillierte Gewaltdarstellungen. Andere Fans von Ego-Shootern halten solche
'realistischen' Darstellungen für unverzichtbar. Wenn man letztere fragt, warum sie denn diese Spiele bevorzugen und
Spielvarianten ablehnen, in denen Gewaltdarstellungen weniger brutal dargestellt werden, so wird in der Regel darauf verwiesen, dass erst die detaillierte Darstellung für die richtige Atmosphäre sorgt. Der Wunsch nach der 'richtigen' Atmosphäre
soll hier nicht kommentiert oder in einer bestimmten Weise bewertet werden, wenn er von erwachsenen Spielern kommt. Doch
bestätigt der Wunsch nach einer 'gruseligen' oder 'blutigen' Atmosphäre, dass die Absicht des Konsums von Gewaltdarstellungen eine emotionale Wirkung ist. Auch wenn der Wunsch nach einem solchen emotionalen Affekt für Erwachsene zu
akzeptieren ist: Kinder und Jugendliche sollten einer solchen 'Atmosphäre' nicht ausgesetzt werden." (S.14) Einerseits ist die
Problematisierung einer emotionalen Wirkung nicht überzeugend, denn prinzipiell könnte das als eine Metafunktion der Unterhaltung per se bezeichnet werden. Andererseits ist es nicht i.S.d. Jugendschutzauftrags der BPjM, Kinder und Jugendliche vor
einer "'gruseligen' oder 'blutigen' Atmosphäre", resp. vor potenziellen Angst- oder Schockwirkungen, bzw. Angstlust zu
bewahren.
117
Letztlich ist das Merkmal der selbstzweckhaften Gewaltdarstellung eine Plattitüde, wie auch die
Spruchpraxis demonstriert: Bspw. wurden u.a. bereits Spielmodi, die für viele nur jugendbeeinträchtigende Computerspiele konstitutiv sind, wie z.B. das sog. "Deathmatch" i.V.m. (genrekonventionellen) detaillierten Gewaltdarstellungen, als selbstzweckhaft kritisiert; es ginge um
nicht mehr, "als das möglichst effektive und lustvolle Abschlachten, Massakrieren menschlich
agierender Gegenspieler."638 Eine Überstrapazierung des Gewaltbegriffs markierte auch, dass
die Behörde z.B. im Fall von FALLOUT 3 gar "stationäre Gewalt" als tatbestandlich selbstzweckhaft deklarierte, "also Darstellungen, die vom Spieler nicht interaktiv hervorgerufen
wurden oder zu beeinflussen sind. Dazu zählen etwa Leichen, die, oftmals verstümmelt, an
verschiedenen Orten [...] auf Haken hängen oder herumliegen."639
Gewaltfolgen sind aber nach dem eindeutigen Wortlaut der Norm nicht von derselben erfasst.
I.d.S. kann auch eine nach Auffassung der BPjM selbstzweckhafte Darstellung der Gewaltfolgen, wie sie der Film INSIDE "sekundenlang genüsslich" präsentiere, nicht hinreichend tatbestandlich sein. Ungeachtet dessen argumentierte das 3er-Gremium gem. dem Motto je länger,
desto affirmativer,640 "dass ein lang anhaltendes, besonders drastisches und voyeuristischen
Bedürfnissen dienendes Abbilden der Gewaltfolgen [...] tatbestandsmäßig ist."641 Das ein
besonders drastisches Abbilden der Gewaltfolgen auch ein Stilmittel sein kann, das eine
Identifikation mit dem Opfer und empathische Reaktionen des Rezipienten evozieren soll,
realisiert die Behörde nicht.642
Besonders kritikwürdig war auch die Argumentation für eine Jugendgefährdung durch das
komplett englischsprachige Spiel MAX PAYNE; zweifelhaft sei, "ob Kinder und Jugendliche
unter 18 Jahren, denen im Regelfalle nur Schulenglisch zur Verfügung stehen dürfte, die in teils
sehr anspruchsvollem amerikanischen Slang verfassten Informationssequenzen und kleineren
Gespräche überhaupt verstehen. Wahrscheinlicher ist vielmehr, dass sie die Möglichkeit nutzen,
per Mausklick darüber hinwegzugehen. Dadurch wird das Töten sinn- und motivlos und dies
wiederum stellt eine selbstzweckhafte Schilderung von Gewalt im Sinne des Tatbestandes
dar."643 I.d.S. dienen selbst spekulative Spielstile der Negierung einer relativ komplexen, einen
Zweck generierenden, narrativen Komponente, so dass letztlich jede (detaillierte) Gewaltdarstellung im Rahmen eines fremdsprachigen Medieninhalts salopp als mehr oder weniger selbstzweckhaft diskreditiert werden könnte. Insg. kann die Selbstzweckhaftigkeit einer Gewaltdarstellung auch erst gar nicht objektiviert werden, das Tatbestandsmerkmal befriedigt also vornehmlich nur Ressentiments der (Proponenten der) BPjM ggü. den Medien, den Inhalteurhebern
und -inhabern, wie auch den Rezipienten.
Unter einer detaillierten Gewaltdarstellung versteht die BPjM insb. Darstellungen, "in denen
Gewalt gegen Menschen oder menschenähnliche Wesen deutlich visualisiert bzw. akustisch
untermalt wird (blutende Wunden, zerberstende Körper, Todesschreie, zynische Kommentare)."644 Das Merkmal erfasst "ungeachtet des Abstraktionsgrades der grafischen Darstellung"645 reale, realistische und unrealistische Darstellungen sog. "schmutziger" Gewalt gleichermaßen, bspw. generell und insb. (effektvolle) Splatter- u./o. Goreeffekte. Unplausibel ist aber
einerseits, dass eine auch nur (deutliche) akustische Untermalung, z.B. selbst zynische Kommentare (die der BPjM immer ein Indiz einer positiven Akzentuierung der Gewalt waren),
hinreichende Bedingung einer detaillierten Gewaltdarstellung sein soll. Andererseits
synonymisiert die BPjM regelmäßig die beiden separaten, additiven Merkmale der selbstzweckhaften und der detaillierten Gewaltdarstellung; z.B. waren ihr im Fall des Spiels WOLFENSTEIN
bereits nur die im Folgenden skizzierten (aber nicht kontextualisierten) Gewaltdarstellungen
eine hinreichende Bedingung einer gleichermaßen selbstzweckhaften, wie auch detaillierten
Darstellung von Mord- und Metzelszenen:
638
639
640
641
642
643
644
645
IE Nr. 6183 (V) v. 22.02.2002 (RETURN TO CASTLE WOLFENSTEIN) und Nr. 6359 (V) v. 15.10.2002 (GORE).
IE Nr. 5648f. v. 02.07.2009 (FALLOUT 3) und vgl. IE Nr. 8153 (V) v. 16.4.2008 (CONDEMNED 2).
Vgl. SCHMID 2009a, S.2.
Zitiert in: SCHMID 2009a, S.2.
Bzgl. einer detaillierteren Kritik s. SCHMID 2009a.
IE Nr. 6099 (V) v. 24.09.2001 (MAX PAYNE).
IE Nr. 8818 (V) v. 05.08.2009 (CALL OF DUTY 4: MODERN WARFARE).
IE Nr. 4995 v. 04.05.2000 (RESIDENT EVIL 3: NEMESIS).
118
Treffer rufen Blutwolken und -flecken auf Wänden und Boden hervor. Angriffe mit einem Bajonett auf
den Hals des Opfers können dessen Kehle zerfetzen; dem Opfer strömt Blut aus der Wunde und es stirbt
nach einigen Sekunden röchelnd. Angriffe mit anderen Nahkampfwaffen wie etwa einer Axt erlauben das
gezielte Köpfen des Opfers sowie das Abtrennen der übrigen Gliedmaßen. Das implementiere "rag-doll"System setzt äußere physikalische Einflüsse wie Einschläge von Kugeln oder Explosionen scheinbar
korrekt auf die Spielfiguren um. So zucken Gegner im Kugelhagel und werden – auch nach ihrem Tod –
durch Explosionen durch die Luft gewirbelt und zerfetzt. Granaten können Gegnern neben dem Kopf und
den Beinen auch beide Arme abreißen, so dass teilweise nur der Rumpf der Opfers liegen bleibt, während
die übrigen Körperteile in der Umgebung herumliegen. Schwere Treffer lassen den Kopf des Opponenten
in einer Blutwolke zerplatzen, zurück bleibt der blutige Hals, aus dem Teile der Wirbelsäule herausragen.
Schüsse ins Bein können selbiges abreißen, das Opfer hüpft dann auf einem Bein umher und bricht nach
wenigen Sekunden tot zusammen. Der Flammenwerfer setzt Gegner in Brand, die sodann schreiend
umherlaufen und nach einigen Sekunden tot und verkohlt zu Boden fallen. Andere Waffen lösen Gegner
komplett auf oder skelettieren sie, bevor die Knochen zu Staub zerfallen. Die Darstellungen werden
akustisch durch Schreie, Stöhnen und Röcheln der Opfer untermalt.646
Diese zusammenhanglose Skizzierung der Gewaltdarstellungen kann aber nicht plausibel eine
hinreichende Tatbestandserfüllung demonstrieren. Wie bereits erwähnt, konterkariert (und
erodiert) auch die kontextorientierte(re) Spruchpraxis der Organisationen der freiwilligen
Selbstkontrolle, resp. die der OLJB, die der BPjM, denn einerseits werden bspw. selbst Spiele
gem. § 14 JuSchG gekennzeichnet, die gleichermaßen (i.d.S.) detaillierte (oder gar detailliertere) Gewaltdarstellungen präsentieren (z.B. DEAD SPACE 2; GEARS OF WAR 3; GOD OF
WAR 3; SHADOW OF ROME). Andererseits sind diverse gekennzeichnete mit indizierten
Computerspielen hinsichtlich ihres Gewaltdarstellungsniveaus identisch: Das gekennzeichnete
DOOM 3 bspw. präsentiert insg. auch exakt dieselben Gewaltdarstellungen, die der BPjM bei
DOOM 3: RESURRECTION OF EVIL hinreichende Bedingung einer Jugendgefährdung waren.647
Eine hinreichende Begründung einer Jugendgefährdung kann also nicht die Skizzierung bloßer
Gewaltdarstellungen sein, sondern notwendig sind Kontextualisierungen der Darstellungen. Das
Beispiel demonstriert aber auch die Orientierungslosigkeit der BPjM, die i.d.R. einzig die
Medien wahrnimmt, die auch Gegenstand eines Indizierungsverfahrens werden. D.h. dass sie
das 2003 publizierte, gekennzeichnete Spiel wahrscheinlich gar nicht gekannt haben wird, so
dass sie gar nicht realisieren konnte, dass die Gewaltdarstellungen des zwei Jahre später
publizierten, indizierten Spiels prinzipiell identisch sind.
Letztlich skizziert die BPjM selbst bzgl. der Nichtindizierung des Spiels DARK MESSIAH OF
MIGHT & MAGIC diverse "brutale und gewalttätige [sic] Szenen", resp. detaillierte Gewaltdarstellungen, ohne dass sie diesen eine Selbstzweckhaftigkeit unterstellen würde:
Vorrangig sind hier die Tötungen von auf dem Boden liegenden, temporär außer Gefecht gesetzten
Gegnern sowie die durch die besonders starken 'power strikes' hervorgerufenen, in Zeitlupe gezeigten
Verstümmelungen wie das Abschlagen von Köpfen, Armen und Beinen zu nennen. Zudem können
gegnerische Spielfiguren in Brand gesetzt, aufgespießt, von Klippen gestoßen und unter Kisten
zerquetscht werden. [...] Nach Auffassung des Gremiums sind diese Darstellungen nicht als selbstzweckhaft einzustufen. Da der Spieler zunächst mehrere Gegner töten muss, um einen "power strike" ausführen
zu können, ist eine Ausführung von Verstümmelungen in dichter Folge nicht möglich. Lediglich die
Verwendung der Fähigkeit Adrenalin ermöglicht es, ausreichend Adrenalin vorausgesetzt, zwei anstatt
einem 'power strike' auszuführen. Zudem werden "power strikes" nicht automatisch ausgeführt, der
Spieler kann sie optional einsetzen und nach Meinung des Gremiums dienen sie keinem Selbstzweck,
sonder [sic] dazu, einen Gegner schneller zu besiegen. Ein Selbstzweck wurde bei den Visualisierungen
bei denen gegnerische Spielfiguren – etwa durch Zauber oder indem sie in Feuer gestoßen werden – in
Brand gesetzt, auf dem Boden liegend mit einem Schwert durchbohrt, aufgespießt, von Klippen gestoßen
und unter Kisten zerquetscht werden, ebenfalls nicht angenommen. Abschließend sind Zaubereffekte zu
nennen, bei denen Gegner durch Einfrieren in mehrere Stücke zerspringen oder durch Telekinese bewegt
oder geworfen werden können.648
Die Entscheidung markiert eine ausnahmsweise Realisierung diverser, die Gewaltdarstellungen
relativierender Kontexte seitens der BPjM, bspw. lasse auch der "fantastische Hintergrund
dieser Optionen" eine Verrohung nicht annehmen. Eine Argumentation, die prinzipiell auch für
ein Gros der ungeachtet dessen indizierten Spiele gilt, ohne dass die BPjM die Gewaltdarstellungen in diesen Fällen kontextualisiert hätte. Zusammengefasst demonstrieren die Beispiele
646
647
648
IE Nr. 8939 (V) v. 07.10.2009 (WOLFENSTEIN) und vgl. Nr. VA 3/09 v. 25.11.2009 (CALL OF DUTY: MODERN WARFARE 2).
Vgl. IE Nr. 6960 (V) v. 24.05.2005 (DOOM 3: RESURRECTION OF EVIL).
IE Nr. 5550 v. 07.02.2008 (DARK MESSIAH OF MIGHT & MAGIC).
119
aber eine wahrscheinliche Rechtswidrigkeit der Spruchpraxis der BPjM, wie insg. die Willkür
des deutschen Jugendmedienschutzes, u.a. auch, weil deutschen Gerichten z.T. gar (gleichermaßen rechtswidrig) bereits deutlich undetaillierte(re) Gewaltdarstellungen die einzigen,
hinreichenden Bedingungen einer Gewaltverherrlichung i.S.v. § 131 StGB waren (s. Kapitel
14.). Die Norm ist letztlich auch so unbestimmt, dass die Normunterworfenen insg. nicht mehr
differenzieren können, ob Gewaltdarstellungen evtl. indizierungswürdig sind oder nicht.
11.3.2
Selbstjustiz
Gleichermaßen neues Regelbeispiel einer Jugendgefährdung ist der Indizierungstatbestand des §
18 Abs. 1 Nr. 2 JuSchG, gem. dem Medien jugendgefährdend sind, "in denen […] Selbstjustiz
als einzig bewährtes Mittel zur Durchsetzung der vermeintlichen Gerechtigkeit nahe gelegt
wird." Die Gefahr sei eine evtl. Akzeptanz der Selbstjustiz und das für Kinder und Jugendliche
die Grenzen zwischen legitimierter und illegitimierbarer Gewalt erodierten.649 Der Entwurf des
1. JuSchGÄndG begründete die Erweiterung nicht,650 insb. war die skizzierte Propagierung der
Selbstjustiz bei den für den Entwurf ausschlaggebenden (gewaltdarstellenden) Computerspielen
nie ein besonders relevanter Indizierungsgrund: Selbst das letzte und prominenteste Beispiel,
MAX PAYNE, verjährte nach ca. 10 Jahren im Februar 2012.651 Wie arbiträr die Interpretation
des Tatbestands ist, demonstriert nicht nur die Begründung der Listenstreichung, sondern auch,
dass die USK das Spiel (in Orientierung an der Spruchpraxis der BPjM) bereits (als nicht
jugendgefährdend) gekennzeichnet hatte (ohne dass die Kennzeichnung damals bereits einen
rechtliche Indizierungsschutz generieren konnte; s.u.). Nach HEYL/LIESCHING 2008 ist der
Tatbestand auch eng auszulegen, "da die Propagierung von Selbstjustiz auch ein Bewertungskriterium bzw. ein Indiz einer (bloßen) Entwicklungsbeeinträchtigung [...] sein kann. Gemäß
dem Wortlaut werden daher nur solche Inhalte erfasst, die Selbstjustiz als 'einziges' probates
Mittel positiv darstellen. Werden nach dem Gesamteindruck des Medieninhaltes indes
besonders außergewöhnliche Umstände für die Anwendung von Selbstjustiz deutlich oder
erschließen sich dem neutralen Beobachter aufgrund der Art der Darstellung auch andere
Optionen zur Durchsetzung von Gerechtigkeit, so ist der Tatbestand in der Regel noch nicht
erfüllt."652 I.d.S. sind z.B. undistanzierte, resp. -reflektierte Thematisierungen, simple positive
Akzentuierungen und auch Glorifizierungen der Selbstjustiz (die Alternativen zur Durchsetzung
von Gerechtigkeit nicht negieren) nicht hinreichend tatbestandserfüllend und ist damit dieses
mehr oder weniger neue Indizierungskriterium gegenstandlos.
Denn die eine Selbstjustiz thematisierenden, fiktionalen Computerspiele propagieren im Grunde
einerseits nie eine (alternativlose) Selbstjustiz als i.S.d. Norm einzig bewährtes Mittel zur
Durchsetzung der vermeintlichen Gerechtigkeit; i.d.R. wählen die Protagonisten (bspw. i.S.e.
Rachemotivs) die Alternative(!) der Selbstjustiz. Andererseits legitimieren auch regelmäßig die
besonderen Umstände der Einzelfälle, gem. der sie z.T. de facto(!) das einzig bewährte Mittel
zur Durchsetzung der Gerechtigkeit ist, die Selbstjustiz: Ein (faktischer) Absenz der
Gerechtigkeit u./o. der Rechtstaatlichkeit ist bspw. ein klassisches Sujet des Selbstjustiztopos,
z.B. in phantastischen, historischen, dystopischen, konspirativen, korrupten u./o. anomischen
Szenarien.653 Eine Indizierungspraxis, die z.B. historisch und regional divergierende rechts- und
gesellschaftspolitische Idiosynkrasien ignorierte u./o. nicht zwischen realen und fiktionalen, ggf.
649
650
651
652
653
Vgl. HILPERT 2008, S.11.
Vgl. BT-Drs. 16/8546.
Vgl. IE Nr. 5887 v. 02.02.2012 (MAX PAYNE).
HEYL/LIESCHING 2008, S.58. Bzgl. einer detaillierten Analyse des Kriteriums (insb. im Filmbereich) s. LIESCHING 2009.
I.d.S. irritieren bspw. Indizierungen, wie die des Films MAD MAX, der eine endzeitliche Dystopie skizziert, in der die Rechtstaatlichkeit erodiert (ist); die BPjS argumentiert, dass die "positiv besetzte Figur" des eponymen Protagonisten alle Personen
tötet, "die zuvor seine Familie getötet haben, ohne auch nur den Versuch zu unternehmen, ihnen mit rechtsstaatlichen Mitteln
beizukommen. Der Film suggeriert, dass die Polizei keine Handhabe gegen die Verbrecher hat und dass Max nur noch mit
denselben Mitteln wie die Verbrecher Gerechtigkeit erlangen kann. Eingeleitet wird dies durch die Szene, in der einer der
Rocker auf Veranlassung seines Anwaltes als schuldunfähig freigelassen werden muss. Der Film spielt jedoch gerade nicht in
einer Zeit der Gesetzlosigkeit herrscht, sondern wie in der ersten Hälfte des Films ausführlich beschrieben, sind Max und seine
Kollegen als Polizisten ständig im Einsatz und es existiert noch immer ein Rechtssystem mit Anwälten und Gerichten." [IE Nr.
1761 (V) v. 02.12.1983; Nr. 7351 (V) v. 03.01.2007 und Nr. VE 1/08 v. 12.11.2008] Eine offensichtlich fehlsame Darstellung
des im Film selbst dargestellten Rechtssystems.
120
phantastischen Szenarien differenzierte, müßte konsequenterweise ggf. auch bspw. gleichermaßen tatbstandliche Thematisierungen der Sagengestalt Robin Hood, des Sklavenaufstands des
Spartacus (73-71 v. Chr.), wie auch des Attentats auf Adolf HITLER am 20.07.1944 indizieren.
Die BPjM indizierte bis dato aber nur vermeintlich die Selbstjustiz in zeitgenössisch mehr oder
weniger realistischen Szenarien propagierende Medien,654 so dass dgl. Bislang noch nicht zu
einem praktischen Problem geworden ist.
Die Implikationen (der Indifferenz) des Tatbestands sind aber auch ungeachtet dessen
problematisch, denn einerseits kann eine konsequente Indizierungspraxis, die ggf. die Notwendigkeit eines absoluten Gehorsams ggü. der formalen, u.U. Ungerechtigkeit selbst
generierenden oder nicht pönalisierenden Rechtsordnung suggeriert, selbst nicht rechtens sein;
bzgl. letzterem Beispiel – dem Attentat im Juli 1944 – ist der Tyrannenmord bspw. ein
grundrechtsgleiches Recht und im Lichte des Widerstandsrechts gem. Art. 20 Abs. 4 GG nicht
prinzipiell illegal. Andererseits demonstriert der Tatbestand ein Misstrauen einer Bundesbehörde, resp. des Gesetzgebers, in die Überzeugungskraft der deutschen Strafjustiz. Die aber
i.d.S. einzig hinreichende, d.h. die expl. Aufforderung zur alternativlosen Selbstjustiz, erfüllt
generell (mindestens) den Straftatbestand des § 111 StGB und gilt als sozialschädlich, kann also
nicht einfach jugendgefährdend sein. Letztlich interpretierte z.B. das AG München bereits eine
"Glorifizierung der Selbstjustiz"655 (rechtswidrigerweise; s.u.) als hinreichendes Kriterium einer
Gewaltverherrlichung, resp. -verharmlosung i.S.d. § 131 StGB, so dass die Strafbarkeit u.U. gar
unter der Schwelle einer Jugendgefährdung liegt und die Normunterworfenen sich nicht mehr
i.S.d. Bestimmtheitsgebots orientieren können.
11.4
Schwer jugendgefährdende Medien
Infolge des 4. StrRG gelten gem. § 15 Abs. 2 JuSchG auch ohne eine rechtswirksame
Indizierung und ihre (prinzipiell notwendige) Bekanntmachung im Bundesanzeiger (BAnz.) die
Rechtsfolgen des § 15 Abs. 1 JuSchG für sog. schwer jugendgefährdende Trägermedien, so dass
den Normunterworfenen eine eigene Prüfungspflicht subsidiär auferlegt wird, ob ein Medium
schwer jugendgefährdend ist oder nicht.656 Schwer jugendgefährdende Trägermedien sind u.a.
Medien, "die 1. einen der in […] § 131 […] des Strafgesetzbuches bezeichneten Inhalte haben,
2. den Krieg verherrlichen, […] 3a. besonders realistische, grausame und reißerische Darstellungen selbstzweckhafter Gewalt beinhalten, die das Geschehen beherrschen […] oder 5. offensichtlich geeignet sind, die Entwicklung von Kindern oder Jugendlichen oder ihre Erziehung zu
einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit schwer zu gefährden."
Die Norm ist gem. dem Willen des Gesetzgebers die "zentrale Grundlage"657 des Jugendmedienschutzes ggü. insb. gewaltverherrlichenden, rassenhetzerischen und pornographischen Medien.
Tatsächlich waren (und sind) Kinder und Jugendliche aber bereits im Lichte der §§ 131, 130
und 184 StGB diesbzgl. hinreichend geschützt.
Ungeachtet dessen ist nach Auffassung des BGH eine schwere Jugendgefährdung gegeben,
"wenn die Erziehung der jungen Menschen zu sittlich verantwortungsbewussten Persönlichkeiten unmittelbar in Frage gestellt wird, weil die Jugendlichen durch die Wahrnehmung oder
Nutzung von Trägermedien dieser Art der nahen Gefahr ausgesetzt werden, dass sie eine dem
Erziehungsziel entgegengesetzte Haltung einnehmen."658 Der materielle Unterschied zwischen
einer einfachen und einer schweren Jugendgefährdung ist i.d.S. nur ein gradueller.659 Auf dem
Feststellungsweg kann die Nähe der Gefahr der Einnahme einer dem Erziehungsziel entgegengesetzten Haltung, resp. können diesbzgl. unterschiedliche Eignungsgrade aber insg. nicht
logisch konstatiert werden. Auch eine graduelle Differenzierung ist unpraktikabel, weil bereits
654
655
656
657
658
659
Vgl. LIESCHING 2009, S.3.
AG München, Beschl. v. 15.01.2008, Az.: 855 Gs 10/08 (CONDEMNED) und v. 10.12.2008, Az.: 855 Gs 596/08 (STORM
WARNING).
Vgl. BVerfGE 77, 346 (357); SCHOLZ 1999, S.69; LIESCHING 2002, S.134 und STATH 2006, S.194.
BT-Drs. 7/514.
BGHSt 8, 80 (83); vgl. SCHOLZ 1999, S.70 und RETZKE 2006, S.139.
Vgl. STATH 2006, S.231-235.
121
ähnliche, kaum differenzierbare Tatbestände existieren, wie die sich prinzipiell auch nur
graduell von einer einfachen Jugendgefährdung unterscheidende Jugendbeeinträchtigung nach §
14 Abs. 1 JuSchG.660 Das HBI identifizierte auch das Problem, "dass eine Konkretisierung
durch die BPjM in Fällen des § 15 Abs. 2 grundsätzlich nicht erfolgt (die BPjM soll in diesem
Bereich in Zweifelsfällen lediglich klarstellend indizieren),661 so dass sie weitgehend aus sich
heraus verständlich sein müssen. Da die Vorschriften strafbewehrt sind (§ 27 Abs. 1 JuSchG)
sind die Anforderungen an die Bestimmtheit besonders hoch […]."662 Wie aber im Folgenden
am Beispiel der für gewaltdarstellende Computerspiele relevanten Exemplifizierungen des § 15
Abs. 2 Nrn. 1, 3a und 5 JuSchG demonstriert wird, ist auch eine schwere Jugendgefährdung
nicht hinreichend bestimmt.
11.4.1
Kriegsverherrlichende Medien
Auf Antrag des Bundestagsausschusses für Jugendfürsorge sind seit 1961 kriegsverherrlichende
Schriften kraft Gesetzes jugendgefährdend:663 War die Kriegsverherrlichung nach § 1 Abs. 1
Satz 2 GjS noch ein Regelbeispiel einer (einfachen) Jugendgefährdung, ist sie seit Inkrafttreten
des JuSchG dgl. für eine schwere Jugendgefährdung.664 Der Entwurf des JuSchG begründete die
Änderung nicht;665 insb. war aber eine Kriegsverherrlichung bei Computerspielen seit den
1990ern kein besonders relevanter Indizierungsgrund mehr. Die Rechtsprechung legte die
Kriegsverherrlichung bis dato im Rahmen des GjS aber sehr weit aus. Bspw. argumentierte das
OLG Köln, dass generelles Einvernehmen bestehe, "daß der Teilbegriff der Kriegsverherrlichung weit auszulegen ist. Dies ist geboten, da eine enge Auslegung nur uneingeschränkte
Lobpreisungen des Krieges treffen würde. Die vom Gesetz und auch von Art. 26 GG angestrebte Friedensgesinnung wird in der Vorstellung der Jugend aber nicht nur durch eine uneingeschränkte Lobpreisung des Krieges gefährdet. Die gewünschte sozialethische Einstellung
kann vielmehr schon durch solche Darstellungen gefährdet werden, durch die der Krieg irgendwie qualifiziert positiv bewertet wird, etwa dadurch, daß er als anziehend, reizvoll, wertvoll, als
romantisches Abenteuer oder in erster Linie als eine Bewährungsprobe für männliche Tugenden
und Möglichkeit dargestellt wird, Anerkennung, Ruhm oder Auszeichnung zu gewinnen."666
Die Rechtsprechung legt die Kriegsverherrlichung gar so weit aus, dass auch eine Kriegsverharmlosung eigenständig tatbestandlich sei;667 gem. BPjS steht eine Kriegsverharmlosung einer
-verherrlichung i.d.S. gleich, "wenn Tod, Zerstörung, Kriegsnot und Kriegselend bagatellisiert
werden."668 Tatsächlich indizierte die BPjS bereits Medien, weil sie Kriegsgräuel und -leiden
nicht (hinreichend) thematisierten.669 Kurioserweise interpretiert die BPjM aber selbst die ohne
weiteres als kriegskritisch interpretierbaren Darstellungen des Spiels CALL OF DUTY: WORLD
AT WAR, die Kriegsgräuel und -leiden, wie z.B. Kriegsverbrechen authentisch(er) darstellen,
nicht als Kriegsverherrlichung, resp. -verharmlosung, aber als affirmative, selbstzweckhafte
Mord- und Metzelszenen i.S.d. § 18 Abs. 1 Nr. 1 JuSchG, gar als Gewaltverherrlichung i.S.d. §
131 StGB.670 Gegen eine Synonymisierung der Kriegsverherrlichung mit der Kriegsverharmlosung argumentiert aber auch LIESCHING 2007 plausibel, dass eine Verharmlosung –
"z.B. durch bloßes Ausblenden der Kriegsfolgen und Verschweigen der Opfer und des Leids der
660
661
662
663
664
665
666
667
668
669
670
Vgl. MAST 1999, S.143 und BUCHLOH 2002, S.83f..
Vgl. BVerwG, Urt. v. 03.03.1987, Az.: l C 27/85; MONSSEN-ENGBERDING 1998, S.114; CARUS/HANNAK-MAYER/
KORTLÄNDER 2006, S.8 und STATH 2006, S.194.
SCHULZ/BRUNN/DREYER et al. 2007, S.103 und vgl. BITKOM 2007, S.2.
Vgl. BOSSELMANN 1987, S.13.
Vgl. STATH 2006, S.224.
Vgl. BT-Drs. 14/9013.
OLG Köln, Urt. v. 16.09.1993, Az.: 7 U 72/92; vgl. BVerwGE 23, 112 (115f.); 28, 61; BOSSELMANN 1987, S.58f.;
STEFEN/ADAMS 1988b, S.114; MONSSEN-ENGBERDING 1998, S.112; NIKLES/ROLL/SPÜRCK et al. 2005, S.245 und
STATH 2006, S.224f..
Vgl. BVerwGE 23, 112 (114f.); MONSSEN-ENGBERDING 1998, S.112 und MAST 1999, S.141f.. Dgl. war auch der Wille
des Gesetzgebers, s. BT-Drs. VI/3521, S.7 und STEFEN/ADAMS 1988b, S.115.
IE Nr. 1/03 v. 25.02.2003 (COMMAND & CONQUER: GENERALS).
Vgl. STEFEN/ADAMS 1988a, S.260.
Vgl. IE Nr. 8525 (V) v. 20.1.2009 (CALL OF DUTY: WORLD AT WAR).
122
Menschen"671 – nicht per se eigenständig tatbestandlich erfasst, sondern nur Indiz einer Kriegsverherrlichung sein kann. Insg. kann auch eine sachliche, unpathetisch-nüchterne Darstellung
des Krieges,672 wie auch eine simple Nichtthematisierung des Kriegsgräuels und -leidens, nicht
erfasst sein.673
Bei der Auslegung des Tatbestands ist im Rahmen des indifferenten Wortlauts der Norm auch
die Frage der Notwendigkeit eines Realitätsbezugs der Kriegsdarstellung relevant:674 Das OVG
Münster konstatierte z.B. die Rechtswidrigkeit der Indizierung des relativ abstrakten Brettspiels
RISIKO, dem ein hinreichender Realitätsbezug fehle.675 Wäre ein gewisser Realitätsbezug irrelevant, wäre letztlich auch eine Unzahl kriegsdarstellender Medien jugendgefährdend, die
gem. Auffassung der OLJB aktuell nur jugendbeeinträchtigend sind.676 Ungeachtet dessen
indizierte die BPjS aber auch bereits i.d.S. unrealistische Medien (s.u.). Insg. fördert eine
extrem weite Auslegung aber eine (im Lichte des Bestimmtheitsgebots verfassungswidrige)
uferlose Weite des Tatbestandes, wie im Folgenden am Beispiel der (für die Spruchpraxis der
BPjM auch historisch relevanten) Indizierungen dreier Computerspiele demonstriert wird.
Die BPjS indizierte mit Bekanntmachung im BAnz. Nr. 238 vom 19.12.1984 erstmals in ihrer
Geschichte drei Computerspiele; BATTLEZONE,677 RIVER RAID678 und SPEED RACER.679 Die
Behörde argumentierte, die beiden ersteren seien u.a. kriegsverherrlichend und präzisierte z.B.
für das zweite der Spiele:
Das Videospiel […] hat emotionssteuernde und aggressionssteigernde Eigenschaften. Bei älteren
Jugendlichen führt das Bespielen von […] zu physischer Verkrampfung, Ärger, Aggressivität, Fahrigkeit
im Denken, Konzentrationsschwierigkeiten. Kopfschmerzen u.a. [...]. Der Computer erzeugt durch das
Spielen Aggression im Zusammenhang kriegerischer Ereignisse; da außer dem Befehl-/GehorsamVerhältnis (es muß geschossen und der Feind vernichtet werden) keine differenzierten sozialen Regeln
angeboten werden für die Bewältigung von Wut und Zerstörungsgefühlen, kann davon ausgegangen
werden, daß etwa auftretende Aggressionsneigungen auch in außerspielerischen Situationen insbesondere
von gefährdungsgeneigten Kindern und Jugendlichen nicht adäquat beherrscht werden können. Aggressive Verhaltensmuster werden spielerisch eingeübt. [...] Das Videospiel […] ist kriegsverherrlichend und
-verharmlosend. Wie der Antragsteller zu Recht hervorhebt, soll sich der Spieler in die Rolle eines
kompromißlosen Kämpfers und Vernichters hineindenken. Dies geht klar aus der Spielanleitung hervor.
Scharfschützenqualitäten sind im Spiel gefordert. Der Abschuß feindlicher Ziele wird hoch belohnt. Die
Vernichtung eines gegnerischen Tankers, Hubschraubers, Treibstofflagers oder Jets bringt bis zu 100
Punkten, die Vernichtung einer gegnerischen Brücke 500. Die Anwendung kriegerischer Gewalt wird
belohnt; wer die meisten Ziele zerstört hat, bekommt die meisten Punkte. Er hat die Möglichkeit, die
Auszeichnung des "River Raider" zu erhalten. Das Spiel 'River Raid' ist auch kriegsverharmlosend, weil
der Krieg nicht sachlich nüchtern dargestellt wird; Kriegsereignisse werden als automatisierte, durch
technische Hilfsmittel herbeigeführte Geschehnisse vorgestellt und damit vordergründig einer
moralischen Wertung entzogen. Die Schrecken und Leiden des Angriffkrieges werden weder erwähnt,
noch in irgendeiner Weise angedeutet.680
Ungeachtet dessen, dass der BGH bereits 1955 klarstellte, dass körperliche oder geistige
Gefährdungen nicht vom Tatbestand der sittlichen Gefährdung erfasst sind,681 indizierte die
BPjS noch bis Anfang der 1990er i.d.S. per z.T. identischem Wortlaut ein Sammelsurium
diverser, mehr oder weniger (i.w.S.) martialischer Reaktions- u./o. Geschicklichkeits-, wie auch
Strategiespiele.682 Selbst noch Ende der 1990er konstatierte MONSSEN-ENGBERDING 1998
unreflektiert, das Schlagwort einer medieninduzierten(!) "paramilitärischen Ausbildung im
671
672
673
674
675
676
677
678
679
680
681
682
LIESCHING 2007, S.82.
Vgl. BVerwGE 28, 61; OVG Münster, Urt. v. 17.05.1972, Az.: XII A 554/70; VG Köln, Urt. v. 02.11.1982, Az.: 10 K
2758/81; STEFEN/ADAMS 1988b, S.119; MAST 1999, S.142 und LIESCHING 2007, S.78.
Vgl. BVerwGE 23, 112 (115); 28, 61 und STATH 2006, S.224.
Vgl. STATH 2006, S.224 und LIESCHING 2007, S.79f..
Vgl. VG Köln, Urt. v. 10.01.1984 (Az.: 10 K 6287/82); OVG Münster, Urt. v. 04.06.1987, Az.: 10 A 1148/84 und KAMPE
1988, S.140f..
Vgl. ERDEMIR 2005, Rn. 59.
Vgl. IE Nr. 3432 v. 13.12.1984 (BATTLEZONE).
Vgl. IE Nr. 3433 v. 13.12.1984 (RIVER RAID).
Vgl. IE Nr. 34324 v. 13.12.1984 (SPEED RACER).
IE Nr. 3433 v. 13.12.1984 (RIVER RAID).
Vgl. BGHSt 8, 80.
Vgl. IE Nr. 3497 v. 08.08.1985 (RAID OVER MOSCOW).
123
Kindes- bzw. Jugendalter" hätte bis dato seine Aktualität bewahrt.683 Auf Antrag des Rechteinhabers strich die BPjS das Spiel letztlich 19 Jahre später aus dem Index und führte ihre
originäre Entscheidung ad absurdum: "Das Computerspiel ist im Wesentlichen abstrakt
gehalten. Es gilt ausschließlich auf Gegenstände zu schießen. Das Schießen auf Gegenstände ist
aus Sicht der heutigen Spruchpraxis der Gremien der Bundesprüfstelle nicht ausreichend, um
ein Computerspiel als jugendgefährdend einzustufen. [...] Das das Schießen auf Gegenstände in
irgendeiner Form aggressionssteigende Wirkung vermuten läßt, ist auf Grund heutiger Sicht
nicht mehr anzunehmen. Ebenso hat das 12er-Gremium der Bundesprüfstelle das Spiel in der
seinerzeitigen Entscheidung als kriegsverharmlosend eingestuft. Dass es sich hier um Krieg
handeln kann, ist bestenfalls einer Spielbeschreibung zu entnehmen nicht jedoch dem Spiel
selbst. Die Aufgabe des Spielers besteht ausschließlich darin, wie bereits ausgeführt, auf
Gegenstände zu schießen, wobei es sich bei diesen Gegenständen um Hubschrauber und Boote
handelt. Irgendein Bezug zu einem konkreten Krieg kann dem Spiel selbst nicht entnommen
werden."684 Die USK kennzeichnete das Spiel am 05.02.2003 ohne Altersbeschränkung.
Seit den 1990ern wurde kaum mehr ein Spiel als kriegsverherrlichend indiziert. Ungeachtet dessen argumentierte aber die BPjS z.B. bzgl. der deutschen Erstauflage des Strategiespiels
PANZER GENERAL, "daß der Inhalt des Computerspiels […] kriegsverharmlosend und kriegsverherrlichend ist, […] im weitesten Sinne die Ideologie des Nationalsozialismus verharmlost wird
und […] gegen Art. 26 GG verstößt, da das Führen eines Angriffskrieges befürwortet wird."685
Das Strategiespiel sei bereits kriegsverharmlosend, "weil die Schrecken und Leiden des Krieges
[…] verschwiegen werden. […] Damit wird objektiv der Tatbestand der Kriegsverharmlosung
durch nahezu alle Kriegssimulationsspiele erfüllt."686 Dies stellt zweifellos eine definitive Überinterpretation des Indizierungskriteriums dar (s.o.). Ausschlaggebend für die anderen Vorwürfe,
dass das Spiel kriegsverherrlichend sei, die Ideologie des Nationalsozialismus verharmlose und
das Führen eines Angriffskrieges befürwortet werde, war nicht das Spiel selbst, sondern waren
diverse Passagen des Handbuches: Kriegsverherrlichend seien insb. prinzipiell zweckmäßige
Erläuterungen über den Kriegsverlauf des u.a. nachspielbaren Polenfeldzugs während des 2.
Weltkrieges, den die Behörde als Aufforderung interpretierte, "den Blitzkrieg gegen Polen
detailliert nachzuspielen, also einen Angriffskrieg zu führen […]."687 Das habe zugleich kriegsverherrlichende Tendenzen. Eine Befürwortung des Angriffskrieges indizieren solche sachlichnüchterne Darstellungen aber wohl kaum. Kurioser ist gar noch der Vorwurf, das Spiel verharmlose die Ideologie des Nationalsozialismus, denn "[…] durch die ohne jegliche historische
Erklärung sich wiederholende Verwendung des Wortes […] 'Blitzkrieg' sah das 12er-Gremium
eine Befürwortung der Ideologie des Nationalsozialismus und damit den Versuch gegeben,
diese Ideologie wieder gesellschaftsfähig zu machen bzw. beizutragen, sie in den Kinderzimmern zu platzieren."688 Eine Kriegsverherrlichung u./o. -verharmlosung, wie auch eine
Verharmlosung nationalsozialistischer Ideologie oder die Befürwortung eines Angriffskrieges
demonstriert das aber prinzipiell nicht.
Selbst im Lichte einer direkten Glorifizierung des Blitzkriegs wäre das Postulat der BPjS nicht
besonders überzeugend, dass das Spiel gegen Art. 26 GG verstoße: Verfassungswidrig sind nur
reale(!) Handlungen, die bspw. die Führung eines Angriffskrieges vorbereiten. Kurioserweise
habe das 12-Gremium der BPjS aber ungeachtet dessen nicht verkannt, "daß das Handbuch in
seinem Vorwort durchaus Passagen enthält, die das nationalsozialistische Terrorregime
eindeutig verurteilen und ebenso das Ergebnis der beiden Weltkriege als katastrophal einstuft.
[...] Das 12er-Gremium hat aber demgegenüber betont, daß der Hersteller, der Kinder und
Jugendliche auffordert, […] kriegerische Handlungen, Vernichtung, Bombardierung und
Zerstörung spielerisch einzuüben, zugleich Zweifel an der Ernsthaftigkeit derartiger vorgeblich
mahnender Worte aufkommen läßt. So könnte dieses Handbuch in Verbindung mit dem Spiel
683
684
685
686
687
688
Vgl. MONSSEN-ENGBERDING 1998, S.128.
IE Nr. A 1/03 v. 20.01.2003 (RIVER RAID).
IE Nr. 4600 v. 13.06.1996 (PANZER GENERAL).
IE Nr. 4600 v. 13.06.1996 (PANZER GENERAL).
IE Nr. 4600 v. 13.06.1996 (PANZER GENERAL).
IE Nr. 4600 v. 13.06.1996 (PANZER GENERAL).
124
als ein Lehrbuch zur Führung des Zweiten Weltkrieges angesehen werden."689 Die BPjS
artikulierte letztlich nur ein simples Ressentiment ggü. dem i.d.S. pauschal diskreditierten
Hersteller, das aber weder plausibel ist, noch eine Negierung selbst der mahnenden Worte des
Vorworts des Handbuchs legitimieren kann.
Der letzte (prominente) Fall war die Indizierung des Echtzeitstrategiespiels COMMAND &
CONQUER: GENERALS am 25.02.2003: Das Spiel hatte nach der Auffassung der BPjS u.a. ein
insg. "hohes Maß an allgemein kriegsverherlichenden Elementen", ästhetisierte bspw.
militärische Gewalt: "In den Zwischensequenzen werden Panzer präsentiert, die in geschlossenen Reihen durch die Wüste rollen oder Kampfbomber, die Formationen über feindlichem
Gebiet fliegen. Die Kampagnen von USA und China enden jeweils mit festlichen MilitärParaden. Die Amerikaner lassen ihre Luftwaffe über eine tosende Menge hinwegdonnern,
während China seine Panzer auffahren lässt. Dabei werden die Salutschüsse der NuklearArtillerie durch frenetischen Jubel kommentiert."690
Hinreichend ist aber gem. LIESCHING 2007 nicht, "dass lediglich bestimmte Teilnehmer an
Kriegshandlungen oder bestimme Armeeteile, Divisionen oder Korps z.B. als 'Helden' verherrlicht werden, oder auch nur Kriegsmaterial, Kriegswaffen, Waffengattungen oder -systeme
durch positive Aussagen propagandistisch überhöht werden. [...] Die bloße Glorifizierung von
Kriegsparteien, Kriegsführern oder Soldaten begründet alleine noch keine Verherrlichung des
Krieges. Gleiches gilt, wenn nur Kriegsmaterial, Kriegswaffen, Waffengattungen und -systeme
verherrlicht werden. Derartige Inhalte können aber ein Indiz im Rahmen der Gesamtbewertung
für die Bejahung einer Kriegsverherrlichung sein [...]."691 Insb. demonstrieren die Zwischensequenzen auch nur die (propagandistisch überhöhte) Perspektive der Kriegsparteien selbst; der
Bellizismus (der Kriegsparteien) ist aber nur ein Topos und nicht die objektive Botschaft des
Spiels. Die BPjS interpretierte abermals (vermeintlich) positive Darstellungen per se als affirmativ, so dass insg. eine Thematisierung des Krieges, die bspw. auch i.S.e. Authentiziät
Propaganda darstellt, problematisiert wird. Sollen aber z.B. nicht auch bereits Präsentationen
propagandistischen Materials im Rahmen neutraler Dokumentationen tatbestandserfüllend sein,
kann die BPjS eine Kriegsverherrlichung folglich nur im Rahmen einer Gesamtbewertung
bejahen,692 so dass die dekontextualisierende Beschreibung der Zwischensequenzen nicht ohne
Weiteres eine Tatbestandserfüllung demonstrieren kann. Die Behörde unterlässt die i.d.S.
notwendige Rückbeziehung auf den narrativen Kontext, künstlerische und ästhetische
Konzepte, wie (oftmals auch genretypische) dramaturgische und (visuelle) Darstellungskonventionen u.ä. Merkmale des Spiels. Die Indizierung desselben wurde aber (erst) im
September 2013 nach § 23 Abs. 4 JuSchG (s.u.) aufgehoben.693
Die drei Beispiele demonstrieren eine insb. arbiträre Spruchpraxis der BPjS und die Probleme
einer weiten Auslegung der Kriegsverherrlichung. Ist die Kriegsverherrlichung ein Regelbeispiel einer schweren Jugendgefährdung, ist aber letztlich auch ungeachtet dessen insg. eine
enge(re) Auslegung notwendig, denn eine Konkretisierung des Indizierungskriteriums durch die
BPjM erfolgt nicht mehr und die skizzierte weite Auslegung der Kriegsverherrlichung ist nicht
aus dem Tatbestand per se heraus verständlich.694 Auch ist bereits im Rahmen einer engen
Auslegung im Lichte der Diversität der (mehr oder weniger plausiblen) Interpretationen
derselben Medieninhalte eine eindeutige Differenzierbarkeit zwischen einer Verherrlichung,
simpler Deskription oder der Kritik des Krieges i.d.R. nicht möglich;695 eine vermeintliche
Glorifizierung könnte bspw. auch i.S.e. desavouierenden Ridikülisierung interpretiert werden.
Bereits der ehem. Leiter der Freiwilligen Selbstkontrolle der Filmwirtschaft (FSK), Ernst
KRÜGER, realisierte, dass man nicht verlangen kann, "Filme nur unter dem Gesichtspunkt
689
690
691
692
693
694
695
IE Nr. 4600 v. 13.06.1996 (PANZER GENERAL).
IE Nr. 1/03 v. 25.02.2003 (COMMAND & CONQUER: GENERALS).
LIESCHING 2007, S.79 und vgl. BVerwGE 23, 112 (116).
Vgl. VG Köln, Urt. v. 10.01.1984, Az.: 10 K 6287/82 und DECKER 2005, S.81.
Vgl. IE Nr. 5981 v. 05.09.2013 (COMMAND & CONQUER: GENERALS).
Vgl. ALTENHEIN 2006, Rn. 15.
Dgl. bereits MAST 1999 bzgl. der Gewaltverherrlichung i.S.d. § 131 StGB (S.140f.).
125
pazifistischer Tendenzen freizugeben. Eine reale Darstellung des Krieges, ferner die
Schilderung positiver männlicher und menschlicher Eigenschaften im Krieg wie Mut, Opfersinn, Entschlossenheit und Einstehen für seine Mitmenschen [...] können keinen Verbotsgrund
abgeben."696 Im Gegenteil könnte bspw. ein heldenhaftes Opfertum gar auch ein Kriegsleiden
ausdrücken.697 Kurios ist i.d.S. bspw. die Indizierung des Films STARSHIP TROOPERS: Die BPjS
konstatierte salopp, "dass der Propaganda für Nationalismus und soldatischer Hingabe für das
Vaterland […] nur wenig entgegen zu setzen ist […]."698 Die Behörde negierte eine Faschismusu./o. Militarismussatire, resp. argumentierte, dass die Gewaltdarstellungen die Satire (wie auch
den Kunstwert) des Films derogierten. Plausibler ist aber eine konträre Interpretation des Films,
so dass die Willkürlichkeit der nur medienorientierten Spruchpraxis abermals demonstriert wird.
Im Lichte des Bestimmtheitsgebots kann infolge dessen (d.h. im Sinne rechtlicher Klarheit)
prinzipiell nur eine direkte Verherrlichung des Krieges tatbestandlich und ggf. eine dezidierte
Negierung, resp. Relativierung der Kriegsgräuel und -leiden für dgl. indiziell sein, will man eine
uferlose Weite des Tatbestandes, wie auch eine oktroyierte Pädagogisierung des Kriegssujets
per se (z.B. i.S.v. Vorbehaltsfilmen) vermeiden. Letztlich ist die besondere Problematisierung
einer Kriegsverherrlichung als schwer jugendgefährdend auch insofern kritikwürdig, dass auch
der Hurrapatriotismus der beiden Weltkriege nicht (auf jeden Fall nicht nur) das Resultat
kriegsverherrlichender, resp. -verharmlosender Medien war, sondern insb. auch spezifischer
sozialer, kultureller und politischer Rahmenbedingungen und insg. einer militaristischen
Homogenisierung der Gesellschaft, dank der die Medien bereits existente Einstellungen u.U
stabilisieren konnten, ohne die eine entsprechende Medienwirkung aber noch unplausibler wird.
11.4.2
Gewaltbeherrschte Medien
Seit Inkrafttreten des 1. JuSchGÄndG sind gem. § 15 Abs. 2 Nr. 3a JuSchG auch Trägermedien
schwer jugendgefährdend, "die [...] besonders realistische, grausame und reißerische Darstellungen selbstzweckhafter Gewalt beinhalten, die das Geschehen beherrschen [...]." Tatsächlich
wirkten mediale Gewaltdarstellungen nach der Spruchpraxis der BPjM aber bereits seit Jahren
u.a. dann verrohend, "wenn Gewalt- und Tötungshandlungen das mediale Geschehen insgesamt
prägen. Das ist z.B. dann der Fall, wenn das Geschehen ausschließlich oder überwiegend auf
dem Einsatz brutaler Gewalt bzw. auf Tötungshandlungen basiert und/oder wenn das Medium
Gewalt in großem Stil und in epischer Breite schildert. Unter Umständen kann auch das
Herunterspielen von Gewaltfolgen eine Gewaltverharmlosung zum Ausdruck bringen und somit
in Zusammenhang mit anderen Aspekten (z.B. thematische Einbettung, Realitätsbezug) jugendgefährdend sein, soweit nicht bereits die Art der Visualisierung oder die ernsthafte inhaltliche
Auseinandersetzung mit Gewalt die notwendige Distanzierung erkennbar werden lässt."699
Initial der Norm war u.a. der saloppe (und forschungstechnisch nicht fundierte) Kommentar des
HBI, dass sozialwissenschaftliche Befunde darauf hindeuteten, "dass besonders selbstzweckhafte Gewalt ein Problem für die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen darstellen kann.
[…] Angesichts der für die Industrie gewichtigen Indizierungsfolgen und der verfassungsrechtlich notwendigen Bestimmtheit sollte klargestellt werden, dass einzelne Sequenzen
selbstzweckhafter Gewalt nicht ausreichen, sondern dass Spiel davon beherrscht sein muss."700
Eine diesbzgl. Klarstellung fehlt aber der Norm, so dass letztlich i.d.S. bereits vorab die
fundamentale Problematik der Norm, d.h. die nicht hinreichende Bestimmtheit derselben, hätte
evident sein müssen.
696
697
698
699
700
Zitiert in: HOCHHEIDEN 1980, S.157.
Vgl. STATH 2006, S.224f..
IE Nr. 4881 v. 10.03.1999 (STARSHIP TROOPERS).
IE Nr. 10214/11 (V), 10215/11 (V) und 10216/11 (V) v. 17.11.2011 (DEAD ISLAND).
SCHULZ/BRUNN/DREYER et al. 2007, S.160.
126
11.4.2.1
Besonders realistische Gewaltdarstellungen
Erstens ist einerseits bereits die der Norm inhärente Differenzierung in (einfach) realistische und
besonders realistische Darstellungen fragwürdig, insb. im Lichte der Subjektivität eines wahrgenommenen Realismus.701 Andererseits ist auch die maßgebliche Dimension des Realismus
fraglich: HEYL/LIESCHING 2008 argumentieren diesbzgl., dass bei Filmen mit menschlichen
Akteuren als Gewaltopfer i.d.R. von einer besonders realistischen Gewaltdarstellung ausgegangen werden könne, "bei Computerspielen hingegen nur, wenn aufgrund technischer
Gestaltung von Grafik, Bewegungsabläufen etc. die dargestellte Gewalt derart wirklichkeitsnah
anmutet, dass sie von einem wiedergegebenen realen Geschehen nicht offensichtlich unterschieden werden kann."702 Auch nach SPÜRCK 2011 soll nur der (besondere) audiovisuelle
Realismus der Gewaltdarstellung für die Erfüllung des Indizierungskriteriums notwendig sein,
"hingegen nicht die hypothetisch wahre Existenz des Täters oder des Tatortes."703 Auch der
BPjM war diesbzgl. ein (besonderer) audiovisueller Realismus der Darstellung i.d.R. hinreichend;704 bspw. behauptete sie bereits bei DOOM: "Die Tötungsakte und ihre Folgen werden
weitgehend realistisch in Szene gesetzt."705 Die Behörde konstatiert aber i.S.e. Temporarität des
Realismus bspw. im Rahmen aktuellerer Listenstreichungen diverser Egoshooter der 1990er,
"dass die [...] technische Entwicklung im Bereich der Computerspiele dazu geführt hat, dass
fotorealistische Darstellungen den zeitgemäßen Standard markieren und dementsprechend der
Maßstab, welche Abbildungen oder Schilderungen als realistisch/realitätsnah und detailliert
gelten können, einem starken Wandel unterzogen wurde. […] Jedoch sind die [...] präsentierten
Gewaltszenen nach heutigen Maßstäben weder als detailliert noch als realistisch/realitätsnah
einzustufen."706
Tatsächlich wird eine solche Temporarität insb. des Realismus der Spielgraphik regelmäßig
auch bspw. seitens der Spielemagazine, der (werbenden) Nutzungsrechteurheber und -inhaber,
wie auch der rechtswissenschaftlichen Literatur707 (indirekt) konstatiert und gelten Spiele, die in
der Vergangenheit als (besonders) realistisch präsentiert wurden, heute als (graphisch obsolet
und) unrealistisch. Regelmäßig wird ein graphischer Realismus praktisch aber nur in Relation
zu aktuellen und älteren Spielen konstatiert und ist i.d.S. Synonym technischen Fortschritts.
Graphischer Realismus ist aber nichts, das im Lichte technischen Fortschritts erodieren könnte;
entweder ist ein Darstellung graphisch realistisch oder nicht: Auch die "Tötungsakte" eines
DOOM waren bereits im Jahre 1994 nicht weitgehend realistisch in Szene gesetzt.
Stellt man auch letztlich nur auf die Suffizienz eines audiovisuellen Realismus und nicht gleichzeitig die Notwendigkeit eines hypothetisch realen Geschehens ab, sind realistische und i.S.d. §
18 Abs. 1 Nr. 1 JuSchG detaillierte Gewaltdarstellungen (s.o.) auch nicht mehr hinreichend
differenzierbar, wie auch die Spruchpraxis der BPjM demonstriert.708 Weder können i.d.S. im
701
702
703
704
705
706
707
708
Vgl. HALL 2003.
HEYL/LIESCHING 2008, S.53 und vgl. LIESCHING 2008.
SPÜRCK 2011, S.21.
Vgl. HILPERT 2008, S.16.
IE Nr. 4637 (V) v. 25.05.1994 (DOOM).
IE Nr. 5847 v. 04.08.2011 (DOOM); Nr. 10224 (V) v. 09.11.2011 (QUAKE) und vgl. LIESCHING 2008.
Vgl. LIESCHING 2008.
Ein "Beispiel für eine realistische Darstellung von Tötungsvorgängen in modernen Ego-Shootern" (BPjM 2010a) ist der
Bundesprüfstelle bspw. die per IE Nr. 6602 (V) v. 08.03.2004 indizierte Demo des Spiels FAR CRY: "Die menschlichen
Gegner werden […]sehr lebensnah dargestellt und animiert. Wird eine solche Gegnerfigur beschossen, berechnet das Spiel
scheinbar auf das Polygon genau, wo die Kugel einschlägt, und erstellt eine Schadenstextur an der exakten Trefferstelle. Es
entstehen neben den obligatorischen Blutspritzern blutrote Einschusslöcher, die je nach benutzter Waffe und Eintrittswinkel
unterschiedlich groß ausfallen können und unter Umständen gar freiliegendes Muskelgewebe zu zeigen scheinen. Getötete
Gegner bluten langsam aus und bilden dabei ausgedehnte Blutlachen oder, wenn das Opfer im Wasser treibt, regelrechte
'Wolken' blutroten Wassers. Zusätzlich verfügt 'Far Cry' über ein aussgeklügeltes 'Ragdoll'-System. Anhand dieses Programmbausteins errechnet das Spiel physikalisch korrekt, wie sich der Körper einer Spielfigur bei Einwirkungen von außen, so z.B.
bei Beschuss, verhält. Daher fallen die erschossenen Gegner im Spiel nicht einfach in einer vorberechneten Sterbeanimation
um. Vielmehr verhält sich die Leiche der getöteten Spielfigur so, wie es wohl von einem echten Körper in der gegebenen
Situation zu erwarten wäre. Wird ein Gegner etwa von vorne durch einen Kopfschuss getötet, reißt die Wucht der Kugel den
Kopf nach hinten, woraufhin der Rest des Körpers mitgerissen wird. Erfolgt der tödliche Treffer in den Bauch, sackt die
Spielfigur in sich zusammen, trifft man die Beine, kippt der Gegner vornüber [...]." Dasselbe Exzerpt hätte auch ein Bsp. einer
detaillierten Gewaltdarstellung sein können. Ungeachtet der (obligatorischen) Falschbeschreibungen ("freiliegendes Muskelgewebe") unterscheiden sich die indizierte Demo und die nicht indizierte, zensierte dt. Vollversion (ohne Jugendfreigabe) nur
127
Fall von Filmen fiktionale Gewaltdarstellungen ggü. realen Schauspielern tatbestandlich hinreichend sein, noch ist im Fall von Computerspielen die Reduzierung der Darstellung auf die
Graphik, resp. die Synonymisierung eines (besonderen) Realismus i.S.d. der Norm und eines
graphischen Realismus plausibel. Notwendig wäre nicht nur mindestens eine Fotorealistik und
Authentizität der Gewaltwirkung, sondern – insb. im Lichte der sechs Dimensionen des
perzipierten Realismus gem. HALL 2003 ("plausibility, typicality, factuality, emotional
involvement, narrative consistency, and perceptual persuasiveness") und im Rahmen einer
generell obligatorischen Gesamtbewertung – auch ein (besonders) realistisches Szenario, das
auch der heutigen Lebenswirklichkeit, insb. dem Lebensumfeld von Kindern und Jugendlichen,
entsprechen muss. Das Gros der Szenarien indizierter Spiele ist aber phantastisch.
Das ein unrealistisches Szenario in der Verneinung eines Realismus der Gewaltdarstellung
resultiert hätte, ist aber bis dato im Rahmen der Spruchpraxis der BPjM seit Inkrafttreten des
JuSchG eine nur zweimalige Ausnahme geblieben: Bzgl. des Spiels DARK MESSIAH OF MIGHT
& MAGIC argumentierte die BPjM, dass der "fantastische Hintergrund" der Gewaltdarstellungen
eine Verrohung nicht annehmen lasse und auch ggü. dem Spiel CLIVE BARKER’S JERICHO
realisierte die Behörde, dass die Gewalthandlungen "eindeutig [...] surrealistisch"709 sind (s.u.).
Kurioserweise argumentierte sie aber bspw. bei GORE, "dass die Rahmenhandlung und der
hierin vorhandene Ansatz, das Spielgeschehen in eine fiktive Zukunftsszenerie zu verlegen, in
der Wahrnehmung der Spieler eine untergeordnete Rolle spielen. Das Decodieren des Szenerie
als 'grellfarbig surrealistisch klobig', setzt eine Genre-Erfahrung voraus, die ältere Kinder und
jüngere Jugendliche, die durchaus zur Zielgruppe des Spieles gehören, nicht besitzen."710 Das
demonstriert abermals die Willkür der Spruchpraxis der BPjM.
Letztlich kann das Merkmal der (besonders) realistischen Darstellung der (selbstzweckhaften,
das Geschehen beherrschenden) Gewalt kein hinreichendes Indiz einer (schweren) Jugendgefährdung sein; i.d.S. argumentiert bspw. der Freiwillige Selbstkontrolle Multimedia-Diensteanbieter e.V. (FSM), daß z.B. gerade der aufklärerische Kontext einer besonders realistischen
Gewaltdarstellung dazu führen könne, "dass das entsprechende Trägermedium gerade nicht als
schwer jugendgefährdend einzustufen ist. Aus diesem Grund greift etwa § 131 StGB, der in §
15 Absatz 2 Ziffer 1 JuSchG genannt ist, gerade auch auf die 'Art der Darstellung' zurück, um
den Kontext mit einzubeziehen. Gleiches gilt für die Ziffern 2 und 3 des § 15 Absatz 2 JuSchG,
die wertende Aspekte des Kontextes (etwa 'verherrlichen' oder 'Menschenwürde verletzenden
Weise') mit einbeziehen. Dieser wichtige Aspekt des Kontextes findet bei der hier vorgeschlagenen Regelung in den Begriffen 'besonders realistisch' sowie die 'Beherrschung des
Geschehens' keine Berücksichtigung."711
11.4.2.2
Besonders grausame Gewaltdarstellungen
Zweitens ist das Merkmal der besonders grausamen Darstellung unpraktikabel, resp. ist das
Konstrukt einer besonders grausamen Darstellung insg. fragwürdig und reproduziert ein
formulatorisches Defizit, das bereits den § 131 StGB zwischen seinem Inkrafttreten am
02.03.1974 und dem Inkrafttreten des Gesetzes zur Neuregelung des Jugendschutzes in der
Öffentlichkeit (JÖSchNG) am 25.02.1985 prägte, nämlich die Pönalisierung einer grausamen
Darstellung und nicht der Darstellung grausamer Gewalt:712 Grausam ist eine Handlung nach
709
710
711
712
hinsichtlich eines reduzierten "Ragdoll"-Systems, einer reduzierten Blutmenge, resp. -densität oder -farbintensität und des
fehlenden Ausblutens, d.h. fehlender Blutlachen und -"wolken", nicht aber hinsichtlich der Blutspritzer und Einschusslöcher.
Die exponierte Kritik z.B. des "Ragdoll"-Systems forciert auch aktuell Selbstzensureffekte, so dass dt. Versionen evtl.
indizierungsgefährdeter Computerspiele u.a. das System regelmäßig nicht mehr implementieren (s. HAZE; KANE & LYNCH 2:
DOG DAYS; MERCENARIES 2: WORLD IN FLAMES; CONFLICT: DENIED OPS; BULLETTSTORM). Kurioserweise sind die im IE
monierten (immersiven) Gewalteffekte und -visualisierungen heute aber auch Usus unzähliger Spiele, die nach § 14 JuSchG
nur jugendbeeinträchtigend, aber nicht -gefährdend sind; prinzipiell demonstriert das die Fehlsamkeit der einzig an
dekontextualisierten Gewaltvisualisierungen orientierten Spruchpraxis der BPjM.
IE Nr. 5551 v. 07.02.2008 (CLIVE BARKER’S JERICHO).
IE Nr. 6359 (V) v. 15.10.2002 (GORE).
FSM 2007, S.3f. und vgl. BITKOM 2007, S.1f.
Vgl. BT-Drs. 10/2546, S.22; OEHLER 1988, S.185 HAUSMANNINGER 2002c, S.364; KRAUSE 2006, S.8f./12 und STATH
128
Auffassung des BVerfG i.S.d. Mordmerkmale des § 211 StGB, "wenn sie unter Zufügung
besonderer Schmerzen oder Qualen körperlicher oder seelischer Art ausgeführt wird und
außerdem eine brutale, unbarmherzige Haltung desjenigen erkennen läßt, der sie begeht [...]."713
Ergo wäre eine besonders grausame Darstellung eine Darstellung, die dem Rezipienten
besonders besondere Schmerzen oder Qualen körperlicher oder seelischer Art zufügt und außerdem eine brutale, unbarmherzige Haltung bspw. der Rechteurheber u./o. -inhaber erkennen liesse. Das ist natürlich eine nicht justiziable Auslegung. HEYL/LIESCHING 2008 argumentieren
i.d.S., dass entgegen dem Wortlaut der Norm nicht die Darstellung, sondern die dargestellte
Gewalt "grausam" sein müsse:714 Einerseits ist das aber eine gleichermaßen problematische
Auslegung, insb. bei menschenähnlichen Tätern u./o. Opfern, wie noch im Rahmen des § 131
StGB präzisiert wird. Problematisch ist dies nach SPÜRCK 2011 insb. auch bei Computerspielen, "soweit der Spieler hier selbst Gewalt ausübt: Gerade beim für violente Computerspiele
typischen Egoshooter ist die vom Spieler ausgeübte Gewalt selbst bei intensivstem 'Quälen' der
virtuellen Gegener (objektive Komponente) nicht ohne weiteres eine damit korrespondierende
subjektive Komponente verbunden."715 Andererseits ist im Lichte der gebotenen engen Auslegung der Norm ihr Wortlaut, der von einer besonders grausamen Darstellung und nicht von
der Darstellung besonders grausamer Gewalt spricht, eigentlich ihre Auslegungsgrenze. Bzgl.
beider Auslegungen wäre letztlich auch die Differenzierbarkeit (einfach) grausamer und
besonders grausamer Darstellungen i.S.e. graduellen Steigerung fraglich,716 denn notwendige
Bedingung einer Grausamkeit ist ja u.a. bereits die Zufügung besonderer(!) Schmerzen oder
Qualen.
11.4.2.3
Besonders reißerische Gewaltdarstellungen
Drittens ist auch das Merkmal einer (besonders) reißerischen Darstellung nicht hinreichend
bestimmt: Einerseits synonymisieren bspw. HEYL/LIESCHING 2008 reißerische und die Plattititüde selbstzweckhafter Gewaltdarstellungen i.S.d. § 18 Abs. 1 Nr. 1 JuSchG (s.o.) miteinander.717 Andererseits ist eine Gewaltdarstellung nach der Spruchpraxis der FSK gem.
BESTGEN 2008 bereits (einfach) reißerisch, "wenn sie besonders spannend und effektvoll
inszeniert ist."718 Bzgl. letzterem wird gem. SPÜRCK 2011 – in Orientierung an den
Beurteilungskriterien der Kommission für Jugendmedienschutz für eine mögliche anreißerische
Form der Darstellung (im Hinblick auf die filmtechnische Gestaltung), die das Kriterium des
berechtigten Interesses an der Form der Darstellung oder Berichterstattung i.S.d. § 5 Abs. 6 des
Staatsvertrag über den Schutz der Menschenwürde und den Jugendschutz in Rundfunk und
Telemedien (JMStV) präzisieren sollen – darauf abzustellen sein, "ob die Darstellung primär
den Voyerismus des Nutzers bediene; relevant ist hier namentlich eine subjektive Kameraperspektive (i.S. einer Frosch- bzw. Vogelperspektive); ferner etwa eine fokussierende Kameraführung durch Nah- und Großaufnahmen sowie Zooms und Schwenks auf beeinträchtigende
Inhalte; weiterhin optische Gestaltungsmittel wie Trickbilder, Zeitraffer, Zeitlupen, Einfärbungen etc. sowie akustische Hervorhebungen namentlich durch Geräusche und Musik. [...]
Erforderlich ist [...] die Feststellung, dass der Nutzer in einer gesteigerten Weise dahingehend
intinsiv [sic] emotional berührt wird, dass die Darstellung den Leser, Zuschauer oder Spieler
''mitreißen' und an das dargestellte Geschehen besonders fesseln' oder ihn 'in den Bann ziehen'
soll und kann – auch gegen den Willen des Nutzers."719 Die Präzisierung ist redundant, denn die
BPjM nimmt eine detaillierte Darstellung i.S.d. § 18 Abs. 1 Nr. 1 JuSchG gem. der Ergebnisse
ihrer Jahrestagung im Jahre 2009 bereits immer dann an, "wenn die Gewalthandlung durch
stilistische Mittel wie Nahaufnahme, Zeitlupe, Kamerafokussierung minutiös dargeboten
713
714
715
716
717
718
719
2006, S.211.
BVerfGE 87, 209 (226).
Vgl. HEYL/LIESCHING 2008, S.53.
SPÜRCK 2011, S.22.
Vgl. SPÜRCK 2001, S.23.
Vgl. HEYL/LIESCHING 2008, S.53.
BESTGEN 2008, S.81 und vgl. SEIFERT 2008, S.16.
SPÜRCK 2011, S.22.
129
werde."720 Der BPjM war auch bereits hinreichend, dass "Tötungshandlungen" audiovisuell
detailliert präsentiert werden.721 Eine reißerische Darstellung kann aber nicht auch noch
gleichzeitig Synonym einer selbstzweckhaften und einer detaillierten (effektvollen) Darstellung
sein.
Letztlich ist einerseits die Frage des Zwecks der Form der Darstellung eine Frage ihres
Kontextes: Eine isolierte Aufzählung der skizzierten film- bzw. spieltechnischen Mittel und ggf.
ihrer spezifischen Arrangements kann i.d.S. eine primär den Voyerismus des Nutzers
bedienende Darstellung für sich genommen nicht hinreichend indizieren. Andererseits ist
"Unterhaltungsgewalt"722 nicht generell illegitim und eine (besonders) spannende und effektvolle Inszenierung ein reguläres Mittel den Rezipienten intensiv emotional zu berühren, mitzureissen und an das dargestellte Geschehen besonders zu fesseln oder ihn in den Bann zu ziehen, das
u.a. vermeintlich voyeristischen, wie z.B. aufklärerischen Intentionen gleichermaßen dienen
kann und nicht per Formenanalyse objektivierbar ist.
11.4.2.4
Darstellungen selbstzweckhafter Gewalt
Viertens ist ein Teil der Literatur der Auffassung, das Merkmal der Darstellung selbstzweckhafter Gewalt sei dasselbe, wie das Merkmal der selbstzweckhaften Darstellung der Gewalt
i.S.d. § 18 Abs. 1 Nr. 1 JuSchG.723 Einerseits wäre die Auffassung i.V.m. der skizzierten
Synonymisierung (besonders) reißerischer und selbstzweckhafter Gewaltdarstellungen natürlich
redundant. Andererseits ist der Wortlaut der Norm abermals ihre Auslegungsgrenze; d.h., dass
die Akteure die dargestellte Gewalt selbstweckhaft (causa sui) praktizieren müssen.724 I.d.S.
kann bzgl. Computerspielen optionale Gewalt, die für ein Fortkommen im Spiel nicht erforderlich ist, eigentlich nicht ohne weiteres tatbestandlich erfasst sein. HILPERT 2008 realisiert, dass
in modernen Computerspielen der "Anteil optionaler Komponenten" steige und nicht mehr die
Notwenigkeit bestehe, "linear eine Aufgabe nach der anderen zu lösen. Der Spielende hat viele
Möglichkeiten des Agierens. Der Spieler kann sowohl mit einem Auto Radio hörend durch die
Stadt fahren, als auch harmlose Passanten ermorden. Das Verhalten des Spielers ist also immer
mehr bestimmend für den Ablauf des Spieles. Kann denn in diesem Fall die Möglichkeit
gewalttätiger oder anderer krimineller (virtueller) Handlungen unter Jugendschutzgesichtspunkten überhaupt als problematisch bewertet werden? Gibt ein solches Spiel denn nicht nur die
Realität wieder, in der ja auch die Möglichkeit gegeben ist, kriminell zu handeln? Tatsächlich
kann die Möglichkeit, eine kriminelle Handlung zu begehen, alleine nicht als jugendgefährdend
angesehen werden. Wenn allerdings in einer virtuellen Welt Rauben und Morden durch
fehlende Sanktionierung als vorteilhafte Verhaltensweisen bestärkt werden, dann ist dies im
Sinne des Jugendschutzes als sehr problematisch und jugendgefährdend einzuschätzen."725
Dessen ungeachtet ist die Spruchpraxis der BPjM, der bspw. bereits die optionale Liquidierung
(unbeteiligter) Zivilisten, ohne dass der Spieler einen Nachteil davonträgt, hinreichende
Bedingung einer Indizierung ist,726 nicht plausibel: Einerseits kann daraus, dass Gewalt spielintern, resp. -mechanisch nicht (hinreichend) sanktioniert wird, nicht ohne weiteres (und insb.
nicht ohne Rückbeziehung auf bspw. den Kontext) geschlossen werden, ein Spiel vermittle
einen (die Jugendgefährdung konstituierenden) gewaltaffirmativen (u./o. -bagatellisierenden)
Gedankenzusammenhang. Andererseits haben nicht erst seit Inkrafttreten des JuSchG auch
Spiele eine Alterskennzeichnung (und z.T. eine Jugendfreigabe) erhalten, die optionale Gewalt
gegen Zivilisten u.U. (i.w.S.) spielmechanisch gratifizieren; die BPjM selbst ignorierte ja im
Fall der Nichtindizierung des Spiels GOD OF WAR, dass das Spielersubstitut Zivilisten
liquidieren kann, um seine "Gesundheitsanzeige" zu füllen.727 Darüber hinaus ist die Modalität
720
721
722
723
724
725
726
727
BPjM 2009a.
Vgl. IE Nr. VA 3/09 v. 25.11.2009 (CALL OF DUTY: MODERN WARFARE 2).
HÄNSEL/HÄNSEL 2006.
Vgl. SPÜRCK 2011, S.22.
Vgl. STIEFLER 2010, S.5.
HILPERT 2008, S.9.
Vgl. IE Nr. 9521 (V) v. 20.10.2010 (KANE & LYNCH 2: DOG DAYS).
Vgl. IE Nr. 5367 v. 05.01.2006 (GOD OF WAR).
130
gem. FSM insg. nicht plausibel, "denn unabhängig von der Unbestimmtheit dieser Begrifflichkeit wird auch eine Gewaltdarstellung z.B. im aufklärerischen Kontext oft 'selbstzweckhafte'
Gewalt zum Inhalt haben, soweit man hierunter eine Gewaltausübung 'ohne weiteren Grund'
versteht. [...] Es sollte insoweit vielmehr auf die 'Selbstzweckhaftigkeit' der gesamten Darstellung und nicht der Gewalt selbst ankommen, wie gesagt sollte jedoch die Begrifflichkeit wegen
der Unbestimmtheit im Gesamten vermieden werden."728
11.4.2.5
Beherrschtheit des Geschehens
Fünftens ist die Beherrschtheit des Geschehens nicht hinreichend bestimmt. Zwei Fragen sind
diesbzgl. evident: 1.) Ist eine Gewaltbeherrschtheit des kompletten Medieninhaltes notwendig
oder ist auch hinreichend, dass tatbestandlich qualifizierte Darstellungen der Gewalt nur die
Gewaltdarstellungen selbst beherrschen? 2.) Ist eine quantitative oder qualitative Beherrschtheit
hinreichend oder ist beides notwendig? Bereits der initiale Kommentar des HBI präzisierte indirekt bzgl. der ersten Frage, dass im Lichte der Rechtsfolgen des § 15 Abs. 1 JuSchG und des
Bestimmtheitsgebots klargestellt werden sollte, "dass einzelne Sequenzen selbstzweckhafter
Gewalt nicht ausreichen, sondern dass Spiel davon beherrscht sein muss."729 I.d.S. und insb.
auch im Rahmen der generell notwendigen Gesamtbewertung ist eine Gewaltbeherrschtheit des
kompletten Medieninhalts notwendig (dgl. auch die h.M.). Als Antwort auf die zweite Frage ist
z.B. nach SPÜRCK 2011 bei Filmen eine quantitative Gewaltbeherrschtheit hinreichend, die
man immer dann annehmen müsse, "wenn die [...] Gewalt [...] zeitlich dominiert, also jedenfalls
mehr als 50 Prozent beträgt."730 BESTGEN 2008 argumentiert aber diesbzgl., hätte der
Gesetzgeber die Dauer der Gewaltdarstellungen in den Mittelpunkt rücken wollen, hätte er das
Geschehen bspw. adjektivisch bzgl. der Zeitkomponente präzisiert; auch spräche insg. mehr
dafür, "[…] auf die dramaturgische Einbettung der Gewalt in die […] Handlung abzustellen."731
Eine quantitative Beherrschtheit ist aber insg. auch nur ggü. linearen Medien konstatierbar, denn
die Interaktivität der Computerspiele, resp. die Variabilität der Spielzeiten und Gewaltdarstellungen relativieren i.d.R. diesbzgl. notwendige Orientierungspunkte. Dgl. abermals SPÜRCK
2011, gem. dem qualitativ entscheidend ist, "ob der Spieler an (im tatbestandlichen Sinne
qualifizierten) Gewaltdarstellungen im Spiel nicht vorbei kommt, weil etwa standardmäßig
derartige gewalthaltige Szenen in bestimmten Spielsituationen als Videosequenz abgespielt
werden bzw. weil (tatbestandlich qualifizierte) Gewalt erforderlich ist, um im Spiel weiterzukommen. Kann mit anderen Worten der Spieler etwa quasi nebenher auch unbeteiligte Dritte
durch (tatbestandlich qualifizierte) Gewalt verletzen, reicht dies für die Gewaltbeherrschtheit
ebenso wenig aus; das gilt erst recht, wenn derartiges Verhalten mit Punktabzug oder
erschwertem Fortkommen im Spiel sanktioniert wird. Die tatbestandliche Gewalt muss hier aber
für den Spieler einen besonderen Reiz ausüben, indem sie etwa zentral im Spielgeschehen
verankert ist und nicht nur Randbereiche betrifft."732 Die Bewertungsgrundlage einer
qualitativen Gewaltbeherrschtheit ist aber regelmäßig abermals nur eine Frage des Geschmacks.
Eine (tatbestandlich qualifizierte) Beherrschtheit des Geschehens ist als Kriterium einer
(schweren) Jugendgefährdung insofern letztlich nicht hinreichend bestimmt.
I.d.S. kommentierte FRITZ 2007 bereits die Pläne der sog. Leyen-Laschet-Initiative, die im 1.
JuSchGÄndG resultierten: Es sei problematisch, "Spiele mit einem Abgabeverbot zu belegen,
'wenn das ganze Spiel von Gewalt beherrscht wird'. Eine solche gesetzliche Bestimmung ginge
an der Realität virtueller Spielwelten vorbei. Wie ausführlich dargelegt wurde, gehört es zum
Wesen der Computer- und Videospiele gegen einen 'Widerstand' die Spielziele durchzusetzen.
Das Erreichen des Spielziels ist bei den allermeisten Spielen untrennbar mit den verschiedenen
Formen der Gewaltanwendung verbunden (Abschießen von Raumschiffen, Vernichten von
728
729
730
731
732
FSM 2007, S.4.
SCHULZ/BRUNN/DREYER et al. 2007, S.160.
Vgl. SPÜRCK 2011, S.25.
Vgl. BESTGEN 2008, S.81.
SPÜRCK 2011, S.25.
131
Armeeeinheiten, Abdrängen eines Autos, Erledigen von Monsterhorden, Zerstören von Gegenständen, bis hin zu sportlicher Gewalt). Die Gewaltanwendung kann in sehr unterschiedlicher
grafischer Form erfolgen: phantastisch bis realistisch, comicartig bis futuristisch, kleinteilig bis
großflächig. Ein Abgabeverbot würde die meisten Computer- und Videospiele betreffen, auch
diejenigen, die mit USK 12 gekennzeichnet sind."733 Die additiven Merkmale der besonders
realistischen, grausamen und reißerischen Gewaltdarstellungen und der Selbstzweckhaftigkeit
der dargestellten Gewalt können den Kommentar dank ihrer mangelnden Bestimmtheit nicht
relativieren. Gravierender ist gar abermals die Kritik des FSM: "Denn eben jener Punkt hat
genauso wenig wie die 'Selbstzweckhaftigkeit' der Gewalt [...] Aussagekraft über die Art und
Weise bzw. den Kontext der Darstellung im Gesamten. Demgegenüber mögen die Merkmale
'reißerisch' und 'grausam' zwar insoweit Elemente des Kontextes und der Art der Darstellung
enthalten, sie sind vor dem Hintergrund der bereits bestehenden, ausreichenden Bestimmungen
aber unnötig. Neben diesen inhaltlichen Kritikpunkten ist nämlich angesichts der übrigen
Regelungen des § 15 Absatz 2 JuSchG die zusätzliche Ziffer 3 a) überflüssig. Es sind keine
Darstellungen denkbar, die hierdurch auf sinnvolle Weise neben den etwa in Ziffer 1-3
genannten Darstellungen zusätzlich mit abgedeckt werden."734
11.4.2.6
Schlussbemerkungen zu gewaltbeherrschten Medien
Ungeachtet ihres evtl. Anwendungsbereichs entspricht die Norm insg. nicht dem rechtsstaatlichen Grundsatz der Normenklarheit;735 i.d.S. argumentierte bspw. auch Kai GEHRING
(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN), stellvertretendes Mitglied im Bundestagsausschuss für Familie,
Senioren, Frauen und Jugend, der bereits den Entwurf des 1. JuSchGÄndG als "Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für Juristen und Gerichte"736 dekuvrierte. Letztlich sind der BPjM bereits auch
(rechtswidrig) nur (vereinzelte) detaillierte Gewaltdarstellungen gleichermaßen hinreichende
Bedingungen (einfacher) Jugendgefährdungen nach § 18 Abs. 1 Nr. 1 JuSchG, wie auch
schweren Jugendgefährdung nach § 15 Abs. 2 Nr. 3a JuSchG, wie deutschen Gerichten dgl. gar
(ebenfalls rechtswidrig) hinreichende Bedingung einer Gewaltverherrlichung, resp. -verharmlosung i.S.d. § 131 StGB ist, aber nach der Spruchpraxis der der USK, resp. der OLJB, nur ein
Kriterium einer Jugendbeeinträchtigung markiert. Die Normunterworfenen können i.d.S. die
Rechtslage nicht erkennen und infolge dessen ihr Verhalten nicht danach ausrichten.
11.4.3
Offensichtlich schwer jugendgefährdende Medien
Der Beispielkatalog des § 15 Abs. 2 JuSchG ist nicht final: Nach Nr. 5 sind auch Medien
schwer jugendgefährdend, "die […] offensichtlich geeignet sind, die Entwicklung von Kindern
oder Jugendlichen oder ihre Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit schwer zu gefährden." Nach Auffassung des Gesetzgebers war originär
namentlich an Fälle gedacht, "in denen Zeitschriften oder Broschüren durch vermeintlich
anreißerische erotische Bilder auf der Außenseite die Kauflustigen zu animieren suchen."737 Das
BVerfG attestierte der Norm hinreichende Bestimmtheit, denn der Gesetzgeber habe klar
gemacht, "daß nicht Grenzfälle, sondern nur jedem unbefangenen Beobachter erkennbar
jugendgefährdende Schriften erfaßt werden sollen [...]. Gleichzeitig bringt das Merkmal der
Offensichtlichkeit zum Ausdruck, daß zur Feststellung der schweren Jugendgefährdung keine
detaillierte Kontrolle der Publikation verlangt werden darf; die Gefährdung muß sich vielmehr
aus dem Gesamteindruck [...] oder aus besonders ins Auge springenden Einzelheiten
ergeben."738
733
734
735
736
737
738
FRITZ 2007, S.55.
FSM 2007, S.4 und vgl. SPÜRCK 2001, S.25.
Vgl. BR-Drs. 3/1/08, S.3f.; BT-Drs. 16/9024; BITKOM 2007, BIU 2007a, FSK 2007; FSM 2007 und DEGENHART 2008,
S.74-79.
Zitiert in: BT-PlPr 16/151, S.16213.
BT-Drs. I/1101, S.12.
BVerfGE 77, 346 (357f.); vgl. 11, 234 (237f.); 83, 130 (145); BROCKHORST-REETZ 1989, S.1ff.; LIESCHING 2002,
S.129f.; SCHOLZ 1999, S.70; RETZKE 2006, S.139 und STATH 2006, S.231. Bzgl. diverser, vermeintlich prägnanter Bsp.
offensichtlich schwer jugendgefährdender Medien s. HEYL/LIESCHING 2008, S.54.
132
Aber bereits vor dem Inkrafttreten des GjS wurden massive Zweifel an der Bestimmtheit der
Norm artikuliert:739 Im Lichte der generell mangelnden Bestimmtheit des Konstrukts der
Jugendgefährdung, der Diversität der Medienrezeption, wie auch individueller "Bilder,
Konzepte und Definitionen von Kindheit und Jugend"740 und i.d.R. nur alltagstheoretischer
Medienwirkungshypothesen als Bewertungsgrundlage für solche Fragen, degeneriert die Offensichtlichkeit einer (schweren) Jugendgefährdung zu einer Plattitüde. Ein Medien inhalt, der
dem einen ohne detaillierte Kontrolle schwer jugendgefährdend ist, ist dem anderen nicht ohne
detaillierte Kontrolle, nicht schwer oder gar nicht jugendgefährdend.741 Die einzigen offensichtlich jugendgefährdenden Medien können i.d.S. denklogisch eigentlich nur solche Medien sein,
die mit einem Trägermedium, das bereits als schwer jugendgefährdend indiziert ist, ganz
inhaltsgleich sind.
11.5
Inhaltsgleiche Medien
Seit Inkrafttreten des Gesetzes zur Regelung der Rahmenbedingungen für Informations- und
Kommunikationsdienste am 01.08.1997 und infolge dessen aktuell gem. § 15 Abs. 3 JuSchG
unterliegen den Beschränkungen des § 15 Abs. 1 JuSchG auch ohne konkrete Indizierung
solche Trägermedien, "die mit einem Trägermedium, dessen Aufnahme in die Liste bekannt
gemacht ist, ganz oder im Wesentlichen inhaltsgleich sind."742 Die BPjM muß bspw. nicht mehr
alle inhaltlich mehr oder weniger identischen Plattformportierungen, wie auch Parallel- und
Wiederveröffentlichungen eines Medieninhalts nur dank evtl. Verlags-, Namens- oder Verpackungsänderungen u.ä. separat indizieren; die Norm schließt i.d.S. eine empfindliche Lücke
der Indizierungen und entlastet auch die BPjM.743
Ungeachtet dessen indiziert die BPjM aus deklaratorischen Gründen aber nach wie vor regelmäßig auch mit bereits indizierten Medien ganz oder im Wesentlichen inhaltsgleiche Medien.744
Über dgl. entscheidet alleine die Vorsitzende der BPjM. Ungeachtet des selbstevidenten
Bedeutungsgehalts einer gänzlichen Inhaltsgleichheit (das indizierte und das zur Listenaufnahme anstehende Medium müssen inhaltlich komplett identisch sein) ist für die Feststellung
einer nur wesentlichen Inhaltsgleichheit gem. VG Köln darauf abzustellen, "ob und inwieweit
die Passagen der Ursprungsfassung, die Anlass für deren Indizierung waren, in die zur Listen739
740
741
742
743
744
Vgl. MAST 1999, S.143; BUCHLOH 2002, S.83f.; LIESCHING 2002, S.129 und STATH 2006, S.230.
BÜTTNER 2002a, S.211.
Vgl. BARSCH 1988, S.31/36. Gem. BGHSt 8, 80 (87) war offensichtlich, "was klar zutage liegt und deshalb für jedermann
ohne besondere Mühe erkennbar ist […]." Das Gericht formulierte aber im überlegenheitsdünkelnden Duktus der Ära
Adenauer die Plattitüde, dass der Begriff "jedermann" der Einschränkung bedürfe, "als nicht [...] das Urteil des beliebigen
Durchschnittsbürgers maßgebend sein muß, sondern das Urteil des für Jugenderziehung und Jugendschutz aufgeschlossenen
Lesers, der die Wirkungen guten und schlechten Schrifttums auf Geist und Gemüt von Jugendlichen zu beurteilen vermag. Auf
die Meinung von Kreisen, die dem Gedanken des Jugendschutzes gleichgültig gegenüberstehen oder ihn aus geschäftlichen
oder sonstigen Gründen sogar ablehnen, kann es nicht ankommen. Einer besonderen Sachkunde oder Vorbildung in
erzieherischen oder seelenkundlichen Fragen bedarf es hierzu nicht; auch der einfache Mensch verfügt meist über ein sehr
gutes Urteilsvermögen darüber, ob ein Lesestoff Jugendliche sittlich gefährden kann. Bei den Bildstreifenheften, deren
ausschließlicher oder hauptsächlicher Inhalt in der Schilderung von Gewalttaten, hinterhältigen Überfällen, Schießereien und
Grausamkeiten besteht und die den Leser, sei es auch unter dem Deckmantel des angeblichen Kampfes für das Gute, in die
Welt des Faustrechts einführen und ihn mit den Einzelheiten gemeiner Verbrechen und den dabei angewendeten Mitteln
vertraut machen, wird eine schwere sittliche Gefährdung in der Regel für jeden einsichtigen und verständigen Menschen ohne
weiteres erkennbar sein." Eine selbst im Rahmen des relativen gesellschaftlichen Konformismus und der ubiquitären, verbindlichen Moraldoktrin der Ära Adenauer abstruse Argumentation. Ungeachtet dessen insistierte der BGH auch, dass eine
schwere Jugendgefährdung ohne besondere Mühe jedermann ggf. objektiv offensichtlich sein müsse, da die Norm ansonsten
nicht justiziabel ist (89); Realitätsverweigerung par excellence. Bzgl. der Problematik der Unbestimmtheit der "Offensichtlichkeit" s. auch den Prozess gegen den garmisch-patenkirchener Einzelhändler Lorenz MAIER, der der Ausgangspunkt für das
zitierte Urteil war (vgl. DER SPIEGEL 1957 und KIENZLE 1980, S.28).
Bereits § 1 Abs. 4 SchSchmG formulierte, dass eine Schrift automatisch indiziert sei, "die sich sachlich als eine bereits auf die
Liste gesetzte Schrift darstellt." HEYL/LIESCHING 2008 konstatieren, dass § 15 Abs. 3 JuSchG eine "unvollständige Norm"
sei, "deren Verletzung nicht geahndet wird. Denn in § 27 Abs. 1 Nr. 1 und 2 JuSchG sind nur die Absätze 1 und 2 des § 15
JuSchG in Bezug genommen, nicht Absatz 3 [...]." (S.65) Ungeachtet dessen, dass die Autoren selbst realisieren, dass aber
bspw. gewerberechtliche Ordnungsverfügungen gegen den Handel möglich sind (S.70), gelten auch ohne konkrete Indizierung
die eigenständig strafbewehrten Verbote des § 15 Abs. 1 JuSchG bzgl. Trägermedien, die mit einem indizierten Trägermedium, ganz oder im Wesentlichen inhaltsgleich sind; die Inbezugnahme des § 15 Abs. 3 JuSchG im Rahmen des § 27 Abs.
1 JuSchG ist i.d.S. nicht notwendig.
Vgl. SCHOLZ 1999, S.89f. und BRAUNBART 2001b, S.224.
Vgl. HEYL/LIESCHING 2008, S.65.
133
aufnahme [...] anstehende […] Ausgabe übernommen worden sind und sich damit der jugendgefährdende Charakter in der Neufassung fortsetzt."745 Die Vorsitzende ist dabei aber gem.
OLG Köln nicht befugt, "eine wertende Entscheidung darüber zu treffen, ob trotz vorgenommener Änderungen an den für die Indizierung maßgeblichen Stellen noch eine Eignung zur
Jugendgefährdung vorliegt [...]. Wenn in den für die frühere Indizierung maßgebenden Partien
des Werks nicht nur völlig belanglose Kürzungen vorgenommen worden sind, so ist es im
Regelfall zumindest zweifelhaft, ob noch von wesentlicher Inhaltsgleichheit ausgegangen
werden kann; es muß dann die Vorlage [...] an das ordentliche Prüfgremium erfolgen [...]."746
Die BPjM wird im Zweifelsfall auf Veranlassung der Vorsitzenden von Amts wegen tätig (§ 21
Abs. 5 Nr. 1 JuSchG).
Eine wesentliche Inhaltsgleichheit ist aber auch denklogisch kategorisch zweifelhaft, insofern
zwar die für die Indizierung maßgeblichen Passagen (wie z.B. Gewaltdarstellungen und spitzen) in das zur Listenaufnahme anstehende Medium mehr oder weniger im Wesentlichen
übernommen wurden, aber bzgl. der kontextuellen Einbindungen derselben Änderungen vorgenommen worden sind.747 Die BPjM könnte andernfalls bspw. die Demoversion eines noch
nicht publizierten Spiels indizieren, so dass die Vollversion, insofern die indizierungsrelevanten
Partien übernommen wurden, im Rahmen des Kennzeichnungsverfahrens nach § 14 Abs. 4
JuSchG nicht mehr kennzeichnungsfähig wäre (s. Kapitel 12.4) – dgl. war bspw. der Fall nach
den Indizierungen der Demos von FAR CRY748 und PAINKILLER749 – und bereits ab der ersten
logischen Sekunde nach der Veröffentlichung den Beschränkungen des § 15 Abs. 1 JuSchG
unterläge, ungeachtet dessen, dass solche Demos normalerweise nur einen dekontextualisierten
Bestandteil der Vollversionen beinhalten. D.h. dass die BPjM insb. das fundamentale Gebot der
ganzheitlichen Betrachtung der verfahrensgegenständlichen Medien unterminieren könnte.
Ob trotz Änderungen des Inhalts eines indizierten Mediums noch immer von einer wesentlichen
Inhaltsgleichheit desselben mit der Ursprungsfassung ausgegangen werden kann, ist für die
Normunterworfenen dank des erheblichen Einschlags wertender Elemente einer solchen
Entscheidung (resp. eines nur subjektiven Maßstabs der Wesentlichkeit) auch oftmals nicht
besonders transparent, so dass sie auch solche Medien prophylaktisch wie indizierte Medien
behandeln. Der Gesetzgeber hat aber (zumindest) den Nutzungsrechteurhebern und -inhabern
mit § 21 Abs. 2 JuSchG das Antragsrecht für die (ergebnisoffene) Feststellung der BPjM
eingeräumt, "dass ein Medium nicht mit einem bereits in die Liste aufgenommenen Medium
ganz oder im Wesentlichen inhaltsgleich ist […]." Die Berechtigung ist aber z.B. für die
Nutzungsrechteurheber und -inhaber von Computerspielen, die ja i.d.R. bereits vor einer
Markteinführung derselben am Kennzeichnungsverfahren der OLJB nach § 14 JuSchG (das ggf.
auch die Kontrolle einer evtl. Inhaltsgleichheit beinhaltet) teilnehmen (s.u.), praktisch irrelevant.
Der Vollständigkeit halber soll auch nicht unerwähnt bleiben, dass auf nicht nach § 14 JuSchG
gekennzeichnete Medien, die aber mit einem bereits gekennzeichneten Medium ganz oder im
Wesentlichen inhaltsgleich sind, das Indizierungsverbot nach § 18 Abs. 8 JuSchG (s.u.) keine
Anwendung findet: Die BPjM indizierte bspw. im Oktober 2011 eine europäische, nicht
gekennzeichnete Version des Spiels X-MEN ORIGINS: WOLVERINE für die PlayStation 2 auf
Liste B des Index,750 die aber tatsächlich mit der bereits am 30.04.2009 publizierten, gekennzeichneten deutschen Version inhaltsgleich war; die Listenstreichung erfolgte zwar bereits im
Folgemonat,751 der Fall demonstriert aber die generellen Probleme der Indizierungstatbestände,
745
746
747
748
749
750
751
VG Köln, Beschl. v. 26.11.1990, Az.: 17 L 1391/90.
OLG Köln, Urt. v. 06.05.1993, Az.: 7 U 115/92.
Dgl. hat auch die FSK im Fall des gem. § 14 Abs. 2 Nr. 5 JuSchG mit "Keine Jugendfreigabe" gekennzeichneten Films
GRINDHOUSE mehr oder weniger realisiert, einem Doppelprogramm aus dem Film DEATH PROOF und aus der um ca. 22
Minuten ggü. der indizierten Fassung gekürzten Schnittfassung des Films PLANET TERROR, die aber immer noch das Gros der
für die Indizierung maßgeblichen Gewaltdarstellungen ohne Änderungen übernommen hatte. Die Kennzeichnung des Films
konterkariert aber natürlich auch die Spruchpraxis der BPjM, die PLANET TERROR mittels IE Nr. 5589 v. 04.09.2008 nur dank
der Gewaltdarstellungen und ohne hinreichende Rückbeziehung auf den narrativen Kontext indiziert hatte.
Vgl. IE Nr. 6602 (V) v. 08.03.2004 (FAR CRY).
Vgl. IE Nr. 6622 v. 31.03.2004 (PAINKILLER).
Vgl. BAnz. Nr. 164 v. 28.10.2011.
Vgl. BAnz. Nr. 180 v. 30.11.2011.
134
immerhin hatten die OLJB und die BPjM denselben Inhalt mittels derselben Kriterien sehr
unterschiedlich bewertet.
11.6
Das vereinfachte Verfahren (3er-Gremium)
Als Konsequenz eines Initiativantrags der Unionsparteien wurde am 21.03.1961 das sog.
vereinfachte Verfahren eingeführt. Die BPjM kann seitdem (und aktuell gem. § 23 JuSchG) in
der Besetzung durch die Vorsitzende und zwei Beisitzende, von denen einer den Kreisen der
Kunst, der Literatur, des Buchhandels und der Verlegerschaft oder der Anbieter von Bildträgern
und von Telemedien angehören muss, ohne mündliche Verhandlung (§ 10 Abs. 2 DVOJuSchG) einstimmig eine Indizierung entscheiden, insofern das Medium offensichtlich jugendgefährdend ist (Abs. 1) oder nach zehn Jahren seit der Indizierung die Streichung aus der Liste
beschließen (Abs. 4). Weder ist eine Stimmenthaltung möglich – wie in allen Verfahren der
BPjM –, noch kann das 3er-Gremium einen Bagatellfall (s.u.) feststellen oder eine Nichtindizierung veranlassen;752 kommt eine einstimmige Entscheidung nicht zustande, entscheidet
das 12er-Gremium (Abs. 1). Die Nutzungsrecheurheber und -inhaber können gegen eine
Entscheidung des 3er-Gremiums innerhalb eines Monats nach Zustellung des Entscheids einen
Antrag auf eine Entscheidung durch das 12er-Gremium stellen (Abs. 3).
Das OVG Münster betont ggü. dem vereinfachten Verfahren, "dass der Zweck [...] die Vereinfachung und die Beschleunigung des Verfahrens sowie Entlastung des 12er-Gremiums ist [...].
Das 12er-Gremium soll von der routinehaften Anwendung seiner Bewertungsmaßstäbe sowie
von solchen Entscheidungen freigestellt werden, die auf der Grundlage seiner bisherigen Praxis
zweifelsfrei nicht anders als im Sinne des Indizierungsantrages ausfallen können. Danach
spricht alles dafür, eine Jugendgefährdung als 'offenbar gegeben' [...] anzusehen, wenn sie sich
aus denjenigen abstrakt-generellen Kriterien und Bewertungsgrundlagen ergibt, die im Plenum
der Bundesprüfstelle Anerkennung gefunden haben und als feststehend gehandhabt werden
[...]."753 Eine Jugendgefährdung soll nach h.M. und der Spruchpraxis der BPjM selbst auch
offensichtlich sein, insofern sie für einen durchschnittlichen, unvoreingenommenen Rezipienten
klar und zweifelsfrei zutage tritt,754 praktisch soll für die Verfahrenseröffnung aber bereits nur
die diesbzgl. Einschätzung der Vorsitzenden (als Person mit vermeintlich besonderer Fachkenntnis) hinreichend sein.755 Für das Tätigwerden des 3er-Gremiums ist i.d.S. notwendig, dass
die Vorsitzende dem verfahrensgegenständlichen Medium bereits ex ante, d.h. ohne detaillierte
Kontrolle des Inhalts eine Jugendgefährdung attestieren kann. Die Gefährdung muß sich ihr
unter Zugrundelegung der Wertungsmaßstäbe der BPjM (in Orientierung an der Rechtsprechung zu § 15 Abs. 2 JuSchG) aus dem Gesamteindruck oder aus besonders ins Auge
springenden Einzelheiten des Medieninhalts ergeben (die Indizierungsentscheidungen des 3erGremiums implizieren aber oftmals, dass die Verfahrenseröffnungen u.U. gar nicht erst auf eine
antezedierende Betrachtung der Inhalte durch die Vorsitzende selbst zurückzuführen sind,
sondern unzulässigerweise auch bereits die Ausführungen der Antrags- oder Anregungsberechtigten diesbzgl. hinreichreichend waren).
Das dürfte zwar ggü. Pornographika u.ä., i.d.R. aber nicht ggü. gewaltdarstellenden Computerspielen möglich sein, insofern für die Feststellung einer jugendgefährdenden Eignung derselben
(auch im Lichte der kontextorientierten Gründe der Nichtindizierung; s.u.) der Kontext der
Gewaltdarstellungen wesentlich ist und dass die Spiele insg. auch einen bestimmten, gewaltaffirmativen u./o. -bagatellisierenden (und auch in die Realität transferierbaren) Gedankenzusammenhang vermitteln müssen: Feststellungen solcher (vermeintlicher) Eignungen der
Spiele können nämlich (insofern überhaupt) denklogisch und auch von Rechts wegen nur im
Rahmen detaillierter, ganzheitlicher Betrachtungen und nicht bereits ex ante erfolgen. Eine ex
ante nur oberflächlich mögliche Betrachtung wird demggü. bestenfalls nur das Vorliegen mehr
752
753
754
755
Vgl. MONSSEN-ENGBERDING 1998, S.118.
OVG Münster, Urt. v. 24.10.1996, Az.: 20 A 3106/96 und vgl. BVerfGE 31, 113 (118).
Vgl. MONSSEN-ENGBERDING 1998, S.118 und SCHOLZ 1999, S.87.
Vgl. SCHOLZ 1999, S.87 und CARUS/HANNAK-MAYER/KORTLÄNDER 2006, S.7.
135
oder weniger expliziter (detaillierter, realistischer etc.) Gewaltdarstellungen festellen können.
Dgl. dürfte zwar nicht für eine Indizierung und infolge dessen prinzipiell auch nicht für die Eröffnung des vereinfachten Verfahrens hinreichend sein, die BPjM eröffnete aber ungeachtet dessen bereits nur aufgrund "detaillierter und drastischer"756 Gewaltdarstellungen in Computerspielen das vereinfachte Verfahren. Tatsächlich führen die aktuelleren Entscheidungen als
Grund für die Eröffnung des vereinfachten Verfahrens ggü. den verfahrensgegentändlichen
Computerspielen i.d.R. eine (mehr oder weniger immer identische) Feststellung aus, die erst der
Befund eines abgeschlossenen Prüfverfahrens sein kann, dass nämlich eine Jugendgefährdung
offenbar gegeben war, "da das Zwölfergremium der Bundesprüfstelle Spiele, deren Spielzweck
einzig oder zum ganz überwiegenden Teil in der Tötung von menschlichen oder menschenähnlichen Gegnern besteht und in denen diese Tötungshandlungen detailliert und in drastischer
Art und Weise dargestellt werden, stets als jugendgefährdend indiziert hat."757 Insofern dürften
die Eröffnungen des vereinfachten Verfahrens oftmals bereits nicht rechtmäßig gewesen sein.
Ungeachtet dessen wird aber bereits ein Gros der Indizierungen gewaltdarstellender Computerspiele im vereinfachten Verfahren entschieden. Das zentrale Entscheidungsorgan der BPjM soll
zwar prinzipiell das 12er-Gremium sein, tatsächlich werden aber dank organisatorisch bedingter
Arbeitsüberlastungen der Behörde im Rahmen des eigentlich nur für einzelne Ausnahmefälle
konzipierten vereinfachten Verfahrens aktuell auch bereits über 80 % aller Indizierungen insg.
entschieden!758 Das ist nicht nur im Lichte der verfahrensrechtlichen Nachteile für die
Betroffenen,759 sondern auch insofern problematisch, dass die Vorsitzende einen bedenklichen
Einfluss auf die Entscheidungen des Gremiums ausüben kann: Einerseits ist im Rahmen des
vereinfachten Verfahrens nicht nur die Stimme derselben immer bereits für eine Indizierung
voreingenommen (andernfalls hätte sie ja das reguläre Verfahren eröffnet), sondern kann u.U.
auch bereits die Verfahrenseröffnung selbst das Votum der beiden Beisitzenden mehr oder
weniger präjudizieren oder wie SCHMID 2008 bzgl. der Filmprüfungen des 3er-Gremiums
kommentierte: "Jemand in der Behörde stellt fest, dass ein Film 'offensichtlich' jugendgefährdend ist, und dann stellen drei Leute fest, dass der Film jugendgefährdend ist? Oder,
anders gesagt: Wenn sich drei Leute treffen, um unvoreingenommen [...] einen Film zu beurteilen, dann wissen sie schon, dass die Behörde den Film für 'offensichtlich jugendgefährdend' hält […]."760 Für die Bestätigung einer offensichtlichen Jugendgefährdung wäre
auch i.d.S. eine einstimmige Entscheidung des 12er-Gremiums u.U. überzeugender. Andererseits stellt die Vorsitzende auch die beiden Beisitzenden in der jeweiligen Verhandlungsbesetzung für ein Jahr selbst im Voraus fest (§ 12 Abs. 4 DVO-JuSchG): Ungeachtet einer
bereits ggü. dem 12er-Gremium fragwürdigen, aber insofern gar noch fragwürdigeren Fachkenntnis und gesellschaftlichen Repräsentanz des 3er-Gremiums, birgt das die Gefahr eines
noch eingeschworeneren, mehr oder weniger routinemäßig oder gar nur aus Prinzip unisono
entscheidenden Gremiums.
Ungeachtet dessen kann nach § 23 JuSchG eine Indizierung im Rahmen des vereinfachten
Verfahrens aber auch vorläufig angeordnet werden, insofern die Gefahr besteht, dass ein offensichtlich jugendgefährdendes Medium kurzfristig in großem Umfange vertrieben, verbreitet
oder zugänglich gemacht wird (Abs. 5). Die vorläufige Indizierung tritt nach Monatsfrist außer
Kraft, wenn die Frist nicht (einmalig und um höchstens einen Monat) verlängert wird oder eine
abschließende Entscheidung der BPjM ergeht (Abs. 6). Die Betroffenen haben kein Recht zur
Stellungnahme.761 Das reguläre Indizierungsverfahren dauert nach Eingang des Indizierungs756
757
758
759
760
761
Vgl. IE Nr. VA 1/11 und VA 2/11 v. 02.05.2011 (MORTAL KOMBAT).
IE Nr. 8525 (V) v. 20.01.2009 (CALL OF DUTY: WORLD AT WAR); Nr. 8818 (V) v. 05.08.2009 (CALL OF DUTY 4: MODERN
WARFARE); Nr. VA 3/09 v. 25.11.2009 (CALL OF DUTY: MODERN WARFARE 2); Nr. 9256 (V) v. 07.05.2010 (ALIENS VS.
PREDATOR); Nr. 9521 (V) v. 20.10.2010 (KANE & LYNCH 2: DOG DAYS); vgl. Nr. 8669 (V) v. 13.05.2009 (BROTHERS IN
ARMS: HELL’S HIGHWAY); Nr. 8939 (V) v. 07.10.2009 (WOLFENSTEIN); Nr. 9562 (V) v. 12.11.2010 (SINGULARITY); Nr. 9610
(V) v. 15.12.2010 (DEAD RISING 2); Nrn. 10214/11 (V), 10215/11 (V) und 10216/11 (V) v. 17.11.2011 (DEAD ISLAND).
Vgl. SCHULZ/BRUNN/DREYER et al. 2007, S.136f..
Vgl. STATH 2006, S.275.
SCHMID 2008, S.7.
Für eine diesbzgl. Kritik s. STATH 2006, S.188f..
136
antrags, resp. der -anregung bis zur Bekanntmachung der Indizierung im BAnz. durchschnittlich
10 bis 12 Wochen. Dgl. ist nach SCHULZ/BRUNN/DREYER et al. 2007 für die vorläufige
Anordnung so erheblich verkürzt, "[…] dass schon wenige Tage nach Eingang des Antrages
eine Bekanntmachung im Bundesanzeiger erfolgen kann. Nach Auskunft der BPjM kann nach
Eingang des Antrages sofort die Anbieterfirma benachrichtigt werden, die Entscheidung eines
Dreier-Gremiums erfolgt am gleichen oder nächstfolgenden Tag, das Bekanntgabeersuchen an
die Bundesanzeiger ebenfalls am gleichen oder nachfolgenden Tag und die Bekanntmachung
wiederum einen Tag später. Dieses Verfahren wurde bereits mehrfach für Spiele durchgeführt."762 Tatsächlich dürften solche kurzfristigen Indizierungen von (insb. umfangreicheren)
Computerspielen aber i.d.R. demonstrieren, dass sich das 3er-Gremium nur exemplarisch bzw.
lückenhaft mit den verfahrengegenständlichen Spielen auseinandergesetzt hat, bzw. nur haben
kann.
Letztlich liegen der BPjM i.d.R. keine verlässlichen (prinzipiell auch nur den gar nicht erst
angehörten Betroffenen bekannte) Daten und Fakten über die Vertriebslage der verfahrensgegenständlichen Medien vor, die die Annahme eines Vertriebs von Computerspielen in großem
Umfange begründen könnten; nach STATH 2006 soll aber z.B. bereits die "Platzierung in den
(Vor-)Verkaufscharts"763 diesbzgl. hinreichend indiziell sein, der BPjM selbst ist aber oftmals
bereits hinreichend, dass die Medien überhaupt in den einschlägigen Fachzeitschriften (mehr
oder weniger) beworben werden! Der Annahme dürfte aber u.U. widersprechen, dass
indizierungsfähige Computerspiele seit Inkrafttreten des JuSchG i.d.R. erst gar nicht mehr in
Deutschland publiziert (und infolge dessen auch nicht mehr beworben) werden (s.u.), eine ausländische Vertriebslage für die Annahme eines Vertriebs in großem Umfange aber kaum oder
gar nicht ausschlaggebend sein dürfte.
11.7
11.7.1
Nichtindizierungen
Gründe einer Nichtindizierung
Offensichtlich in Orientierung an der falschen Prämisse, dass bereits Gewaltdarstellungen für
sich genommen Kinder und Jugendliche u.U. gefährden könnten, skizziert MONSSENENGBERDING 1998 auch Gründe, die nach der Spruchpraxis der BPjM die vermeintlich
generell jugendgefährdenden Wirkungen solcher Darstellungen evtl. neutralisieren können sollen: Bspw. seien solche gewaltdarstellende Computerspiele (noch) nicht jugendgefährdend, "die
Körperverletzungshandlungen gegen Menschen darstellen, wobei der Tod des Gegners weder
vorsätzlich noch fahrlässig verursacht […] wird und das Ergebnis der Kampfhandlungen unblutig präsentiert wird […], in denen andere Elemente als Gewalt gegen Menschen eine wesentliche Rolle spielen […], in denen Tötungsvorgänge gegen Menschen verfremdet dargestellt
werden und zwar in einer Form, die Parallelen zur Realität nur mit Mühe herstellen lassen […],
in denen Tötungsvorgänge ausschließlich gegen 'Monster', Menschen weitgehend unähnlichen
Wesen, dargestellt werden […], in denen auch Horror- und Splatterelemente enthalten sind, in
denen jedoch andere nicht gewalthaltige Anteile spielbestimmend sind, wobei die Horrorelemente nicht so gestaltet sein dürfen, daß aufgrund der besonderen Brutalität die anderen
Spielelemente in den Hintergrund treten."764 Dass nach Auffassung der Behörde tatsächlich
Gewaltdarstellungen für sich genommen jugendgefährdend sein sollen, indiziert die Nichtindizierung des Spiels VIETCONG: PURPLE HAZE fünf(!) Jahre nach der Publikation desselben:
Die BPjM verneinte eine Jugendgefährdung nämlich "trotz der im Spiel enthaltenen Gewaltszenen" (ungeachtet des Kontext derselben) nur aufgrund dessen, "da die Darstellung der
Gewalttaten nicht als detailliert einzustufen ist, sondern im Vergleich zu anderen indizierten
Spielen eher zurückhaltend visualisiert wird."765 Seit Inkrafttreten des JuSchG wurde aber noch
kaum ein verfahrensgegenständliches Spiel nicht indiziert.
762
763
764
765
Vgl. SCHULZ/BRUNN/DREYER et al. 2007, S.136.
Vgl. STATH 2006, S.188.
MONSSEN-ENGBERDING 1998, S.131f. und vgl. BPjM 2009b.
IE Nr. 5627 v. 12.03.2009 (VIETCONG: PURPLE HAZE).
137
Eine Ausnahme ist das Spiel GOD OF WAR, bei dem die BPjM u.a. eine wesentliche Rolle
anderer Elemente als Gewalt gegen Menschen realisierte: Das Spiel verfüge neben "gewalthaltigen Kampfszenen und Filmsequenzen" auch über große Spielanteile, "die mehr als die zur
grundsätzlichen Bedienung eines Computer- oder Videospieles sicherlich notwendige Geschicklichkeit fordern. Die […] Kletter-, Balancier- und Sprungaufgaben sind teilweise sehr anspruchsvoll und zeitaufwändig. In einem Fall muss eine solche Aufgabe innerhalb eines knapp
bemessenen Zeitlimits gelöst werden. Viele enthaltene Rätsel zwingen den Spieler, will er im
Spielverlauf vorankommen, zum Überlegen und Nachdenken, sie sind also integraler Bestandteil der Spielhandlung. In einem Fall erinnert die gestellte Aufgabe – der Spieler muss ein dreidimensionales [...] Puzzle lösen – schon an eine Denksportaufgabe. Diese Rätselelemente haben
nach Auffassung der [...] Beisitzer einen eigenen Spielwert. Sie sind nicht nur vorgeschobene,
als Rätselaufgabe deklarierte, aber ohne jeglichen Zeit- oder gedanklichen Aufwand zu lösende
Spielsequenzen wie sie in manch anderem Spiel enthalten sind. Damit ist der alleinige Zweck
des Spiels nicht das Töten von Gegnern, sondern das Spiel weist ein weiteres wesentliches
Element auf."766 Das ist zwar insg. plausibel (ungeachtet dessen, dass auch ohne die skizzierten
Elemente das Töten von Gegnern nicht der alleinige Zweck des Spiels, sondern nur die evtl.
dominierende Mechanik desselben wäre), aber auch ein Gros der indizierten Spiele weist (noch)
anspruchsvolle(re) und zeitaufwändige(re) Rätselelemente als (noch) integrale(re) Bestandteile
der Spielhandlung,767 resp. generell auch andere wesentliche Elemente als nur Gewalt gegen
Menschen auf, die die BPjM aber im Rahmen der entsprechenden Indizierungsentscheidungen
erst gar nicht realisierte oder gar salopp als nur vorgeschobene Spielsequenzen diskreditierte.768
GOD OF WAR wurde auch im Lichte dessen nicht indiziert, dass sich die Gewaltanwendungen
"fast ausschließlich" gegen menschenunähnliche Wesen richteten, "die ihren Ursprung in der
griechischen Mythologie haben und eher an Drachen oder Schlangen erinnern sowie gegen
Untote."769 Gewaltanwendungen gegen menschliche oder menschenähnliche Gegner könnten
lediglich an drei verschiedenen Stellen im Spiel ausgeübt werden. Tatsächlich ist aber der
einzige drachenähnliche Opponent des Spiels die im ersten der 17 Spielabschnitte ("Das
Ägäische Meer") omnipräsente Hydra, die einzigen (i.w.S.) schlangenähnlichen Opponenten
sind die optisch offensichtlich Desmond DAVIS’ Film KAMPF DER TITANEN (1981) entlehnte
Medusa des zweiten Spielabschnitts ("Die Tore Athens") und die (nur farblich von derselben
divergierenden) – im Spielverlauf relativ raren – Gorgonen. Insg. richten sich die Gewaltanwendungen vielmehr gegen (mehr oder weniger) humanoide Fabelwesen (z.B. Minotauren,
Satyr, Zyklopen) und insb. sehr stark überwiegend gegen menschliche Untote. Die Falschdarstellungen sind aber insofern irrelevant, dass nach Auffassung der BPjM nicht bereits dem
Menschen nur nach Maßstäben der äußeren Gestalt ähnliche Wesen, sondern nur solche Wesen
menschenähnlich sind, die auch (z.B. im Verletzungs- oder Tötungsfalle) menschlich reagieren.
Gewalt ggü. Menschen, wie auch menschenähnlichen Wesen könne (anders als ggü. Phantasiefiguren) eine jugendgefährdende Wirkung entfalten.770 Das ist aber ungeachtet dessen, dass
menschenähnliche Wesen per se nur Phantasiefiguren sind, nicht besonders plausibel.771
766
767
768
769
770
771
IE Nr. 5367 v. 05.01.2006 (GOD OF WAR).
Vgl. IE Nr. VA 8/98 v. 24.04.1998 (RESIDENT EVIL 2); Nr. 4995f. v. 04.05.2000 (RESIDENT EVIL 3: NEMESIS); Nr. 5169 v.
06.03.2003 (RESIDENT EVIL: CODE VERONICA X); Nr. 5309 v. 31.08.2005 (COLD FEAR) und Nr. 7140 (V) v. 08.03.2006
(GUN).
Vgl. IE Nr. 5171 v. 06.03.2003 (GRAND THEFT AUTO: VICE CITY); Nr. 7844 (V) v. 08.11.2007 (GRAND THEFT AUTO: VICE
CITY STORIES); Nr. 7921 (V) v. 04.12.2007 (GRAND THEFT AUTO: LIBERTY CITY STORIES); Nr. 8519 (V) v. 07.01.2009
(GRAND THEFT AUTO: SAN ANDREAS).
IE Nr. 5367 v. 05.01.2006 (GOD OF WAR).
Vgl. BPjM 2009b.
HILPERT 2008 argumentiert bspw., dass oftmals "Klonkrieger, Replikanten, Zombies oder menschenähnliche Außerirdische"
die Opponenten sind und bereits insofern die Frage aufkomme, "ob von dem Spieler die fiktive, zum Teil nur in einer
Anfangssequenz vollzogene Definition des Gegners als ein 'irgendwie' nicht 'ganz' menschliches Wesen überhaupt in der
Wahrnehmung vollzogen wird. Es gibt aber noch einen anderen Grund, warum es ausgesprochen problematisch wäre, wenn
Jugendschützer oder Eltern das Töten von (virtuellen) Replikanten anders bewerten würden als das Töten von (virtuellen)
Menschen: Die Tatsache, dass die Gegner nicht in unserem Sinne Menschen sind, dient in aller Regel in dem Computerspiel
als Legitimation sowohl für den Konflikt (Bedrohung durch Replikanten, Zombies etc.) wie auch als Legitimation des
ungehemmten Tötens. Genau diese Mechanismen sind aber auch bei realen Kriegs- und Vernichtungsaktionen zu beobachten:
Bestimmte Menschen oder Personengruppen werden von ihren Feinden z.B. als Heiden, Ungläubige, Parasiten, Untermenschen bezeichnet, womit ihnen das vollwertige Menschsein abgesprochen und sowohl der Konflikt selber als auch ihre
138
Auch das Spiel DARK MESSIAH OF MIGHT AND MAGIC wurde aufgrund der Auffassung der
BPjM nicht indiziert, dass u.a. nur äußerst wenigen Opponenten eine menschliche oder
menschenähnliche Darstellung zugeschrieben werden könne, "nämlich den zombifizierten Dorfbewohnern im Kapitel vor dem Epilog, die dort in einer Anzahl von etwa einem halben Dutzend
auftreten. Der sehr stark überwiegende Anteil an gegnerischen Spielfiguren stellt sich als
Fantasiefiguren dar und ist in Form von Goblins, Orks, Zombies, Rittern ähnelnden Schwertkämpfern ('black guards', 'vampire knights') oder zaubernden Nekromanten visualisiert. Die
eindeutig als Menschen dargestellten Stadtwachen von Stonehelm stehen dem vom Spieler […]
nicht feindlich gegenüber, müssen nicht bekämpft werden und sind daher nicht als Opponenten
zu werten."772 Tatsächlich sind die gegnerischen Spielfiguren der sog. "Black Guard" und die
Nekromanten eindeutig Menschen. Die Falschdarstellung ist aber insofern irrelevant, dass das
phantastische Szenario des Spiels, die "realitätsferne Darstellung der mittelaterlichen [sic]
Fantasywelt […] mit […] Zauberern, Orks, Zyklopen und Drachen"773 bereits für sich genommen zu einer (hinreichenden) Distanzbildung zwischen Spielern und Spielgeschehen beitrage;
i.d.S. hätten sich die Gewaltanwendungen u.U. wohl auch (fast) ausschl. gegen Menschen
richten können, das Spiel wäre trotzdem nicht jugendgefährdend.
Dasselbe Gremium war auch ggü. dem Spiel CLIVE BARKER’S JERICHO der Auffassung, dass
einerseits den nach Maßstäben der äußeren Gestalt menschenähnlichen (dämonischen oder
untoten) Opponenten des Spiels keine menschliche oder menschenähnliche Darstellung zugeschrieben werden könne, insofern sie sich nur als "fiktive Monster" darstellen, "die teilweise
und dann nur entfernt an Menschen erinnern. Zudem verfügen einige Opponenten über
fantastische Fähigkeiten und können fliegen, schweben oder zaubern."774 Andererseits
vermochte die BPjM auch dank der großen Realitätsferne infolge der fiktiven Rahmenhandlung
(Handlungshintergrund des Spiels ist die Hölle) i.V.m. der phantastischen "Darstellung von
Spielabschnitten, Teammitgliedern und Opponenten" im Spielgeschehen insg. keine Jugendaffinität zu sehen; "ein Bezug zu Lebenswirklichkeit von Kindern und Jugendlichen ist in keinem
Fall gegeben."775 Eine fehlende Jugendaffinität ist aber nicht nur generell für phantastische
Szenarien, sondern auch für die mehr oder (vielmehr) weniger realistische(re)n, i.d.R. auch nur
unwahrscheinlich(st)e Extremsituationen (ohne konkreten, unmittelbaren Bezug zur Lebenswirklichkeit von Kindern und Jugendlichen, wie auch Erwachsenen) darstellenden Szenarien
indizierter Spiele, wie bspw. CALL OF DUTY: MODERN WARFARE,776 CALL OF DUTY: MODERN
WARFARE 2,777 KANE & LYNCH 2: DOG DAYS,778 MANHUNT779 u.a., der Fall.
Die drei Nichtindizierungsentscheidungen sind letztlich insofern interessant, dass die BPjM
quantitativ, wie auch qualitativ ähnliche Darstellungen von Gewalt gegen (fast) ausschl.
(vergleichbar) menschenähnliche Wesen normalerweise (und oftmals gar als nach § 131 StGB
strafrechtlich relevant) indiziert, dgl. gar (infolge) beschlagnahmt wird (die Spielfiguren werden
i.d.R. illegitimerweise nur aufgrund der äußeren Gestalt derselben als menschenähnlich klassifiziert), ohne dass der phantastische Hintergrund der Spielfiguren, resp. der der -szenarien
772
773
774
775
776
777
778
779
Vernichtung legitimiert werden. Diesen Rechtfertigungsmechanismus zuzulassen, verbietet sich für einen Jugendmedienschutz, der auf die werteorientierte Erziehung von Kindern und Jugendlichen ausgerichtet ist. Deshalb sind virtuelle
menschenähnliche Wesen in den gesetzlichen Regelungen virtuellen Menschen gleichgestellt." (S.7) Ungeachtet der Unbestimmtheit menschenähnlicher Wesen (s. Kapitel 14.2.7) verfängt die Argumentation insg. nicht, dass die Spieler insb. auch
ungeachtet der zwangsläufig phantastischen Szenarien der Spiele u.U. kognitiv nicht zwischen nur menschenähnlichen Wesen
einerseits und Menschen (und insb. auch zwischen virtuellen und realen Menschen) andererseits differenzieren (könnten).
Absurd ist aber offensichtlich auch der Vergleich mit der Dehumanisierung realer Menschen, der ignoriert, dass menschenähnliche Wesen per definitionem nicht menschlich sind (und infolge dessen nicht dehumanisiert werden können), wie auch, dass
i.d.R. in den Spielen nicht etwa der Umstand, dass die Gegner nicht Menschen sind, die Konflikte legitimiert, sondern dass die
menschenähnlichen Wesen tatsächlich eine reale, aggressive Existenzbedrohung für die Protagonisten darstellen; Tötungshemmungen ggü. einem Zombie wären nicht besonders empfehlenswert.
IE Nr. 5550 v. 07.02.2008 (DARK MESSIAH OF MIGHT & MAGIC).
IE Nr. 5550 v. 07.02.2008 (DARK MESSIAH OF MIGHT & MAGIC).
IE Nr. 5551 v. 07.02.2008 (CLIVE BARKER’S JERICHO).
IE Nr. 5551 v. 07.02.2008 (CLIVE BARKER’S JERICHO).
IE Nr. 8818 (V) v. 05.08.2009 (CALL OF DUTY 4: MODERN WARFARE).
IE Nr. VA 3/09 v. 25.11.2009 und Nr. 5698 vom 07.01.2010 (CALL OF DUTY: MODERN WARFARE 2).
IE Nr. 9521 (V) v. 20.10.2010 (KANE & LYNCH 2: DOG DAYS).
IE Nr. 6600 (V) v. 11.03.2004 (MANHUNT).
139
auch nur thematisiert würde.
Tatsächlich sind die Nichtindizierungsgründe der BPjM in der Praxis prinzipiell nur Makulatur;
seit Inkraftteten des JuSchG am 01.04.2003 bis einschl. 2012 entschied die Behörde bereits in
368 Verfahren (ohne dieselben des Jahres 2003) für die Indizierung, aber erst in neun Fällen für
die Nichtindizierung der verfahrensgegenständlichen Computerspiele – neben den vier bereits
genannten Spielen sind das nur FALLOUT: NEW VEGAS;780 HITMAN 2: SILENT ASSASSIN;781
MEDAL OF HONOR: FRONTLINE;782 ONECHANBARA: BIKINI ZOMBIE SLAYERS783 und PARIAH784
– obwohl die in den Entscheiden artikulierten Nichtindizierungsgründe auch für das Gros der
trotzdem indizierten Spiele zutreffend sind. Im Rahmen der Indizierungsverfahren werden also
die Gewaltdarstellungen i.d.R. mit quasi pornographischen Blick als starkes Stimulanz wahrgenommen, so dass die anderen Spielelemente in den Hintergrund treten, ignoriert oder gar
negiert werden; insg. sind die Indizierungsentscheidungen diesbzgl. sehr dekuvrierend.785
11.7.2
Fälle geringer Bedeutung
Das 12er-Gremium kann dank § 18 Abs. 4 JuSchG in Fällen von geringer Bedeutung auch von
der Indizierung eines (auch schwer u./o. mit einem bereits indizierten Medium ganz oder im
Wesentlichen inhaltsgleichen) jugendgefährdenden Trägermediums absehen: Nach der Rechtsprechung des BVerwG hat die BPjM für den Fall einer Indizierung den Grad der Jugendgefährdung durch den Medieninhalt,786 wie auch den Umfang der Verbreitung des Mediums zu
berücksichtigen und darf von der Prüfung, "ob ein Fall von geringer Bedeutung […] vorliegt,
und einer Darlegung der hierüber angestellten Erwägungen […] nur dann absehen, wenn eine
780
781
782
783
784
785
786
IE Nr. 5813 v. 05.05.2011 (FALLOUT: NEW VEGAS).
IE Nr. 5159 v. 09.01.2003 (HITMAN 2: SILENT ASSASSIN).
IE Nr. 5193 v. 07.08.2003 (MEDAL OF HONOR: FRONTLINE).
IE Nr. 5786 v. 03.02.2011 (ONECHANBARA: BIKINI ZOMBIE SLAYERS).
IE Nr. 5836 v. 07.07.2011 (PARIAH).
Ein aktuelles, besonders prägnantes Bsp. ist das der Indizierung des Rollenspiels FALLOUT 3 nach IE Nr. 5648 v. 02.07.2009;
zwar konstatierte die Behörde, dass das Spiel "verschiedene gewaltfreie Spielelemente wie die Rahmenhandlung mit zahlreichen, teilweise sehr umfangreichen und tief greifenden Dialogen, das Erkunden der sehr großen Spielwelt oder das in Form
von durchaus anspruchsvollen Minigames implementierte Hacken von Computern oder Öffnen von Schlössern" enthät: "Diese
Spielelemente können […] aber nicht losgelöst von den Gewaltdarstellungen betrachtet werden, da sie untrennbar miteinander
verknüpft sind. Der Spieler kann die Welt erkunden und Dialoge führen, wird aber dadurch nicht von der Ausübung der detailliert dargestellten Gewalt entbunden. Zudem stellen die vorgenannten Elemente keine zu den Gewalthandlungen alternativen
Vorgehensweisen dar, da der Spieler sie nicht zwingend bewältigen muss, um im Spielgeschehen voran zu kommen. Sicherlich kann der Spieler durch Nutzung der Fähigkeiten seiner Spielfigur, insbesondere wenn diese beispielsweise über hohe
Werte an Charisma und Sprache verfügt, beispielsweise in Gesprächen aus mehr Antwortoptionen auswählen als eine minder
charismatische Spielfigur und dadurch einigen Auseinandersetzungen aus dem Weg gehen. Allerdings lässt sich ein Großteil
der Kämpfe nicht umgehen, egal wie gut die Spielfigur verhandeln kann. Der Spieler kann mit seiner Spielfigur vor Kämpfen
fliehen, muss aber für den Verlauf der Rahmenhandlung zwingend zahlreiche Opponenten töten. […] Das Gremium hat
weitere zusätzliche gewaltfreie Elemente des Spiels zur Kenntnis genommen, wie z.B. das im Jahr 2277 angesiedelte postnukleare Setting des Spiels, in dem unter anderem Mutanten und Roboter im zerstörten Washington D.C. vorkommen. […]
Nach umfassender und sorgsamer Erörterung und Abwägung aller genannten Bestandteile des Spiels geht das Gremium jedoch
insgesamt davon aus, dass die gewaltfreien Spielelemente nicht in der Lage sind, die überaus drastischen, detaillierten und
selbstzweckhaften Gewaltdarstellungen in dem Maße zu relativieren, dass nicht mehr von einer daraus resultierenden Jugendgefährdung auszugehen wäre." Nicht nur ist das Gros der Opponenten (anders als die BPjM kolportiert) nicht menschlich oder
menschenähnlich, sondern stellt (mutierte) animalische Gegner, Roboter u.ä. dar, tatsächlich kann man das Spiel auch dank der
verschiedenen gewaltfreien Spielelemente fast ohne (eigene) Tötungen menschlicher oder menschenähnlicher Opponenten
absolvieren, einzig in einer Mission ("The Waters of Life") muss der Spieler kein Dutzend (nach Auffasung der BPjM
menschenähnlicher) Supermutanten unmittelbar oder mittelbar (mittels der Aktivierung von Selbstschussanlagen) eliminieren,
allen anderen Auseinandersetzungen kann man dank praktikabler, alternativer Vorgehensweisen ohne Gewaltanwendunge),
aus welchen dem Spieler kaum oder gar keine Nachteile erwachsen, aus dem Weg gehen. Schließlich sind die Geschehnisse
im Spiel in eine dichte, sehr umfangreiche (phantastische) Rahmenhandlung eingebettet. Dgl. waren aber auch die (hinreichenden) Gründe für eine Nichtindizierung des vergleichbar violenten Spiels DARK MESSIAH OF MIGHT AND MAGIC. Ungeachtet dessen wertete das Gremium auch diverse Spezialfähigkeiten des Spielersubstituts (perks) für sich genommen als
jugendgefährdend: Im Lichte dessen, dass die bereits vor dem Verfahren nach § 14 Abs. 2 Nr. 5 JuSchG gekennzeichnete und
die verfahrensgegenständliche Version des Spiels aber abgesehen von den in der ersteren fehlenden Blut- und Goreeffekten
identisch sind, können infolge dessen auch nur dieselben Effekte indizierungsrelevant sein: Nicht nur ist nicht besonders
plausibel, dass die Gewaltdarstellungen für sich genommen (d.h. auch ohne konkrete Rückbeziehungen auf die Kontexte derselben) jugendgefährdend sein sollen, kurioserweise kennzeichneten die OLJB im November 2011 auch eine Neuauflage des
Nachfolgespiels FALLOUT: NEW VEGAS ohne Jugendfreigabe, die identische Gewaltdarstellungen beinhaltete, aber nach IE Nr.
5813 v. 05.05.2011 von der BPjM expl. nicht indiziert worden war!
Vgl. BVerfGE 90, 1 (17); VG Köln, Beschl. v. 31.05.2010, Az.: 22 L 1899/09; NIKLES/ROLL/SPÜRCK et al. 2005, S.259
und STATH 2006, S.145f..
140
Anwendung dieser Vorschrift nach der besonderen Lage des Falles von vornherein überhaupt
nicht in Betracht kommt. Die geringe Bedeutung eines Falles kann sich nicht nur aus dem Inhalt
der Schrift, sondern auch aus den der Verbreitung unter der Jugend entgegenstehenden
Vertriebsbedingungen ergeben."787 Die BPjM kann i.d.S. einerseits für den Fall eines nur undeutlichen Gefährdungsgrads und einer unerheblichen Intensität desselben von der Indizierung
eines Mediums absehen, also insofern der Gefährdungsgrad des Medieninhalts graduell noch
unter dem einer einfachen Jugendgefährdung liegt.788 Im Lichte dessen, dass derselbe aber so
oder so gar nicht erst konkretisiert werden kann, wären auch solche Feststellungen arbiträr.
Andererseits kann die BPjM (in Orientierung an § 23 Abs. 5 JuSchG; s.o.) von einer Indizierung
absehen, insofern die verfahrensgegenständlichen Medien z.B. nicht (mehr) in großem Umfang
oder nur in Ladengeschäften, die Kindern und Jugendlichen nicht zugänglich sind und von
ihnen nicht eingesehen werden können vertrieben, verbreitet oder zugänglich gemacht werden,
wie u.U. auch nach STATH 2006, insofern die Medien eine Sprache verwenden, "die von
Kindern und Jugendlichen in der Regel nicht verstanden wird […]."789
Nicht hinreichend soll aber kurioserweise der Umstand sein, dass nicht gem. § 14 Abs. 2
JuSchG gekennzeichnete Computerpiele, die als einzige Spiele überhaupt noch indizierungsfähig sind (§ 18 Abs. 8 JuSchG), Kindern und Jugendlichen nach § 12 Abs. 3 JuSchG generell
nicht zugänglich gemacht werden dürfen: Nach der Rechtsprechung des OVG NRW weichen
nämlich die Beschränkungen, die u.a. mit einer fehlenden Kennzeichnung einhergehen, so
erheblich von den Rechtsfolgen einer Indizierung ab, dass ein Absehen von derselben nur
aufgrund des Jugendverbots regelmäßig nicht ermessensgerecht wäre.790
Das solche Bagatellfälle selbst nur von geringer Bedeutung für die Spruchpraxis der BPjM sind,
dürfte insb. auch die Folge des Umstandes sein, dass dasselbe Gerichtsurteil für die Ermessensermächtigung der Behörde im Rahmen der Norm konstatierte, "daß die Richtung der
Entscheidung [...] in der Weise vorgezeichnet ist, daß die Listenaufnahme einer jugendgefährdenden Schrift dem Gesetz näher steht als das Absehen von der Aufnahme. [...] Die
'Bedeutung' des Falles hat der Gesetzgeber nicht unter die Voraussetzungen der Indizierung
eingereiht, sondern deren Bejahung nachgestellt. Die Ermessensermächtigung [...] dient daher
nicht der Grundrechtsoptimierung [...]. Sie soll es der Bundesprüfstelle vielmehr lediglich
ermöglichen, von einer nach der grundsätzlichen Zielsetzung des Gesetzes an sich gebotenen
Listenaufnahme abzusehen, wenn ihr dies aufgrund besonderer Umstände im Einzelfall –
ausnahmsweise – angemessen erscheint. Die Bundesprüfstelle genügt demgemäß (bei nachteiligen Entscheidungen) den Anforderungen an die Willensbildung wie ihrer Begründungspflicht regelmäßig schon dann, wenn sie das Vorliegen eines geringfügigen Falles verneint und
dieses Ergebnis ihrer Prüfung zum Ausdruck bringt."791 Bereits vor dem Urteil dokumentierte
oftmals nur die simple, unkommentierte Negierung eines Falls geringer Bedeutung den
kompletten Ermessensprozeß der BPjM und nach wie vor ist die Frage aktuell, inwiefern die
Behörde überhaupt hinreichende Erwägungen über das evtl. Vorliegen eines Bagatellfalls
anstellt.
Die BPjM konstatiert ggü. den verfahrensgegenständlichen Computerspielen i.d.R. nämlich
ausschl., dass über dieselben in einschlägigen Medien vor, wie nach der Veröffentlichung
berichtet wurde und dgl. erfahrungsgemäß die Aufmerksamkeit insb. auch jugendlicher Spiele
auf die entsprechenden Spiele lenke.792 Der simple Umstand der Berichterstattung über ein
787
788
789
790
791
792
BVerwGE 23, 112, (122f.); 39, 197 (199) und SCHOLZ 1999, S.58.
Vgl. MONSSEN-ENGBERDING 1998, S.117f. und STATH 2006, S.166.
Vgl. STATH 2006, S.146.
Vgl. OVG NRW, Urt. v. 23.05.1996, Az.: 20 A 298/94.
OVG NRW, Urt. v. 23.05.1996, Az.: 20 A 298/94.
Vgl. IE Nr. VA 2/05 v. 02.11.2005 und Nr. 5354 v. 30.11.2005 (QUAKE 4); Nr. 7182 (V) v. 05.04.2006 (CONDEMNED); Nr.
7365 (V) v. 18.01.2007 (MORTAL KOMBAT: ARMAGEDDON); Nr. 8153 (V) v. 16.04.2008 (CONDEMNED 2); Nr. 8525 (V) v.
20.1.2009 (CALL OF DUTY: WORLD AT WAR); Nr. 8669 (V) v. 13.05.2009 (BROTHERS IN ARMS: HELL’S HIGHWAY); Nrn.
5648f. v. 02.07.2009; Nr. 8818 (V) v. 05.08.2009 (CALL OF DUTY 4: MODERN WARFARE); Nr. 8939 (V) v. 07.10.2009
(WOLFENSTEIN); Nr. 9256 (V) v. 7.5.2010 (ALIENS VS. PREDATOR); Nr. 9521 (V) v. 20.10.2010 (KANE & LYNCH 2: DOG
DAYS); Nr. 9562 (V) v. 12.11.2010 (SINGULARITY); Nr. 9610 (V) v. 15.12.2010 (DEAD RISING 2); Nrn. VA 1f./11 v.
02.05.2011; Nr. 5830f. v. 09.06.2011 (MORTAL KOMBAT); Nrn. 10214ff./11 (V) v. 17.11.2011 und Nr. 5879 v. 11.01.2012
(DEAD ISLAND). Bereits im Bereich der Filmindizierungen waren die konkreteren Erwägungen der BPjS gegen das Vorliegen
eines Falls von geringer Bedeutung oftmals besonders kurios: Bspw. argumentierte die Behörde selbst noch am 03.12.1998 im
141
Medium indiziert aber noch keinen großen, nicht nur geringen Umfang der Verbreitung desselben. Verlässliche Angaben über den Umfang des Vertriebs, die die Annahme eines Falls
nicht nur geringer Bedeutung begründen könnten, liegen der Behörde aber i.d.R. auch nicht vor;
dgl. sind Daten und Fakten, die normalerweise ausschl. den Betroffenen bekannt sind. Einerseits
werden dieselben aber bspw. im Rahmen der Verfahren des 3er-Gremiums erst gar nicht
konsultiert, andererseits sind die einzigen indizierungsfähigen Computerspiele seit Inkrafttreten
des JuSchG nicht gekennzeichnete Spiele, die i.d.R. erst gar nicht in Deutschland veröffentlicht
werden. Die Vertriebsbedingungen der Spiele außerhalb Deutschlands sind aber für die Frage
nach dem Umfang der Verbreitung derselben in der BRD selbst irrelevant.
Die BPjM negierte ungeachtet dessen einen Fall geringer Bedeutung z.B. im Rahmen der
Indizierung des Spiels CALL OF DUTY: MODERN WARFARE 2 bereits mit dem "hohen Bekanntheitsgrad" desselben: "Der indizierte indirekte Vorgänger 'Call of Duty – Modern Warfare'
gewann […] zahlreiche Auszeichnungen. Zudem hat so gut wie jedes Online- und PrintMagazin, das sich mit Computer- und Konsolenspielen befasst, Vor- und Testberichte, letztere
zumeist in Form einer Titelgeschichte, zu 'Call of Duty – Modern Warfare 2' veröffentlicht.
Darüber hinaus wurden zahlreiche Videos aus dem Spiel veröffentlicht. Folglich ist bei 'Call of
Duty – Modern Warfare 2' insgesamt von einem enorm hohen Bekanntheitsgrad auszugehen,
was sich u.a. in den sehr guten Platzierungen in den Verkaufscharts verschiedener Onlinehändler niederschlägt."793 Das ist prinzipiell nicht falsch, aber die Argumentation ignoriert nicht
nur die bereits skizzierte Problematik, sondern auch, dass die verfahrensgegenständliche USamerikanische Version des Spiels erst gar nicht in Deutschland veröffentlicht wurde und die
"sehr guten Platzierungen in den Verkaufscharts verschiedener Onlinehändler" wahrscheinlich
vielmehr Verkäufe der gem. § 14 Abs. 2 Nr. 5 JuSchG gekennzeichneten, nicht indizierungsfähigen Version des Spiels sein dürften (die Orientierung an ausländischen Verkaufscharts wäre
natürlich nicht ermessensgerecht). Insofern entscheidet die BPjM i.d.R. in dubio contra reo. Die
diskutierte Norm hat i.d.S. für Computerspiele keine praktische Bedeutung, denn seit 2003 war
der BPjM kein einziges Spiel je ein Fall geringer Bedeutung.
11.7.3
Indizierungsverbote
Letztlich formuliert das JuSchG auch konkrete Indizierungsverbote. Erstens dürfen nach § 18
Abs. 8 Satz 1 JuSchG u.a. Computerspiele, die nach § 14 Abs. 2 Nr. 1 bis 5 JuSchG gekennzeichnet sind, nicht indiziert werden. Zweitens formuliert auch § 18 Abs. 3 JuSchG drei
Tendenzschutzklauseln: "Ein Medium darf nicht in die Liste aufgenommen werden 1. allein
wegen seines politischen, sozialen, religiösen oder weltanschaulichen Inhalts, 2. wenn es der
Kunst oder der Wissenschaft, der Forschung oder der Lehre dient, 3. wenn es im öffentlichen
Interesse liegt, es sei denn, dass die Art der Darstellung zu beanstanden ist." Als einschlägig
erweist sich ggü. Computerspielen als intrinsischen Kunstwerken insb. die (im Lichte des Art. 5
Abs. 3 GG aber prinzipiell redundante)794 erste Alternative der Nr. 2. Das Merkmal "dient" ist
pragmatisch auszulegen: Ein Medium "dient" der Kunst, sollte das Resultat der i.S.d. Herstellung praktischer Konkordanz notwendigen Güterabwägung im Einzelfall eine Vorrangigkeit der
der Belange der Kunstfreiheit ggü. denen des Jugendschutzes sein.795 Bzgl. der Abwägung der
Gewichtung der konkurrierenden Belange der Kunstfreiheit einerseits und des Jugendschutzes
andererseits, wie auch der Frage des Kunstcharakters der Spiele,796 hat die BPjM einen Ermes-
793
794
795
796
Rahmen von IE Nr. 4850 bzgl. des mit "Nicht freigegeben unter 18 Jahren" gekennzeichneten Films SCREAM – SCHREI!, dass
ein Bagatellfall nicht angenommen werden könne, "[…] angesichts des niedrigen Mietpreises, der es auch Kindern und
Jugendlichen erlaubt, den Film zu entleihen […]." Ein Argument, dass aber bereits seit 1985 dank § 7 Abs. 3 JÖSchG (u.a.
dem Vermietverbot solcher Filme ggü. Kindern und Jugendlichen) obsolet war!
IE Nr. VA 3/09 v. 25.11.2009 (CALL OF DUTY: MODERN WARFARE 2).
Vgl. STATH 2006, S.164.
Vgl. BVerfGE 83, 130 (143); 77, 240 (253) und STATH 2006, S.161ff..
Vgl. BVerwG, Urt. v. 18.02.1998, Az.: 6 C 9.97; Urt. v. 28.08.1996, Az.: 6 C. 15.94 und LIESCHING 2002, S.124. Die BPjS
desavouierte sich gem. BUCHLOH 2002 in der Vergangenheit – insb. (aber nicht nur) im Lichte der Rechtsprechung des
BVerwG zwischen 1966 und 1971 (s.u.) – regelmäßig als "Kunstrichterin" (S.136), die den Kunstcharakter der verfahrensgegenständlichen Medien oftmals nur salopp-überlegenheitsdünkelnd bspw. i.S.e. Antonymisierung von Kunst einerseits und Unterhaltung u./o. Kommerz andererseits, wie auch künstlerischen Werken der vermeintlichen Hochkultur einerseits
und gleichermaßen nur vermeintlich trivialen, per se gem. Behörde nicht künstlerischen Werken der Populärkultur negierte.
Gem. der aktuellen Spruchpraxis der BPjM wird aber (auch infolge der Kunstbegriffe des BVerfG) der Begriff "Kunst" weit
142
sensspielraum.797 Für die Gewichtung der Kunstfreiheit kann nach Auffassung des BVerfG von
Bedeutung sein, "in welchem Maße gefährdende Schilderungen in ein künstlerisches Konzept
eingebunden sind. Die Kunstfreiheit umfaßt auch die Wahl eines jugendgefährdenden, insbesondere Gewalt […] thematisierenden Sujets sowie dessen Be- und Verarbeitung nach der
vom Künstler selbst gewählten Darstellungsart. Sie wird um so eher Vorrang beanspruchen
können, je mehr die den Jugendlichen gefährdenden Darstellungen künstlerisch gestaltet und in
die Gesamtkonzeption des Kunstwerkes eingebettet sind […]. Die Prüfung, ob jugendgefährdende Passagen eines Werkes nicht oder nur lose in ein künstlerisches Konzept eingebunden sind, erfordert eine werkgerechte Interpretation. Weiterhin kann für die Bestimmung
des Gewichtes, das der Kunstfreiheit bei der Abwägung mit den Belangen des Jugendschutzes
im Einzelfall beizumessen ist, auch dem Ansehen, das ein Werk beim Publikum genießt,
indizielle Bedeutung zukommen. Echo und Wertschätzung, die es in Kritik und Wissenschaft
gefunden hat, können Anhaltspunkte für die Beurteilung ergeben, ob der Kunstfreiheit Vorrang
einzuräumen ist."798
Ungeachtet dessen, dass der wahre Wert eines Kunstwerks oftmals erst nach Jahren offenbar
wird, so dass insb. kurzfristige Indizierungen (u.U. noch bevor das Werk wirklich wirken
konnte) problematisch sein können, sei es gem. BVerwG insg. hinreichend, "wenn im Rahmen
der Abwägung die Gewichtung der widerstreitenden Belange soweit eingegrenzt wird, dass [...]
das im Einzelfall gebotene Mindestmaß an Differenzierung erreicht wird, das erforderlich ist,
um eine dem Ergebnis angemessene Abwägung der beiderseits in die Waagschale zu legenden
Gesichtspunkte vorzunehmen. Daher hängt der Umfang der […] gebotenen Ermittlungen
wesentlich von den Umständen des Einzelfalles ab: Je mehr sich die Waagschalen dem Gleichgewicht nähern, desto intensiver muß versucht werden, die beiderseitigen Wertungen abzusichern und auch Einzelgesichtspunkte exakt zu wägen, die möglicherweise den Ausschlag
geben; ist dagegen ein Belang stark ausgeprägt und eine Diskrepanz zu den auf der anderen
Seite betroffenen Belangen von vornherein offenkundig, dann ist es nicht notwendig und wäre
somit unverhältnismäßig, die Gewichtung der beiderseitigen Belange weiter zu betreiben, als es
797
798
ausgelegt und (auch im Zweifelsfall) den verfahrensgegenständlichen Medien i.d.R. ein (regelmäßig aber nur marginaler; s.u.)
Kunstcharakter attestiert (vgl. STEFEN 1998, S.236f.).
Vgl. BVerfGE 83, 130 (143); BVerwG, Urt. v. 26.11.1992, Az.: 7 C 22/92; Urt. v. 18.02.1998, Az.: 6 C 9.97; BGH, Urt. v. 21.
06.1990, Az: 1 StR 477/89 und SCHULZ/BRUNN/DREYER et al. 2007, S.84. Die Rechtsprechung des BVerwG war
diesbzgl. extrem ambivalent (en détail s. STUMPF 2009, S.201-208): Zwischen dem 12.01.1966 und dem 16.12.1971 galt
gem. BVerwGE 23, 104, (109f.) eine kategorische Vorrangigkeit des Kunstschutzes ggü. dem Jugendschutz; gem. BVerwGE
39, 197 wurde aber konstatiert, dass sich aus dem Wort "dient" ergebe, "daß nicht jedes Ergebnis künstlerischen Bemühens
dem Jugendschutz schlechthin vorgeht, sondern nur ein solches, daß ein bestimmte Maß an künstlerischem Niveau besitzt.
Dies beurteilt sich nicht allein nach ästhetischen Kriterien, sondern auch nach dem Gewicht, das das Kunstwerk für die
pluralistische Gesellschaft nach den Vorstellungen über die Funktion der Kunst hat. Kunstwerke, die dem nicht genügen,
können gegenüber den Erfordernissen des Jugendschutzes keinen Vorrang beanspruchen. [...] Auch diese Entscheidung fällt in
den Beurteilungsspielraum der Bundesprüfstelle." Das Gericht argumentierte, dass ohne eine Einschränkung des Kunstvorbehaltes eine Indizierung regelmäßig nicht mehr praktikabel wäre, ungeachtet dessen, dass bis dato unzählige Kunstwerke
indiziert worden waren (vgl. DICKFELDT 1979, S.153). STOLLE 1986 kommentierte, dass für die BPjS mit diesem Urteil
"der Himmel voller Geigen" hing; "die BPS konnte nach eigenem Ermessen schalten und den Kunstvorbehalt lässig austricksen." (S.200) Der Kunstcharakter eines Werkes musste nicht mehr negiert, sondern nur noch der Kunstwert relativiert
werden. Nach BARSCH 1988 diente das Urteil insb. der Möglichkeit, "vor allem Texte der sogenannten Trivialliteratur
verfolgen und indizieren zu können. Wenn überhaupt Kunst eines Schutzes bedarf, dann ist es genau dieser Bereich. In einer
pluralistischen Gesellschaft mit einer demokratischen Grundordnung ist 'große' oder 'hohe' Kunst nie ernsthaft in Gefahr
gewesen. Gerade die sogenannten 'Niederungen' der Literatur, wozu in diesem Kontext auch Karikatur und Satire zu rechnen
sind, bedürfen des besonderen gesetzlichen Schutzes." (S.35) Letztlich sollte mit Urt. v. 03.03.1987 gem. BVerwGE 77, 75
(83) gar der Kunstvorbehalt für einfache und schwer jugendgefährdende Schriften divergieren: "Schwer jugendgefährdende
Schriften [...] können selbst dann in die Liste der jugendgefährdenden Schriften aufgenommen werden, wenn sie Kunstwerke
sind; der Kunstvorbehalt [...] gilt insoweit nicht. 'Schlicht' jugendgefährdende Schriften [...] unterliegen dagegen, wenn sie
Kunstwerke sind, nicht der Indizierung." Eine offensichtlich verfassungswidrige Auslegung, so dass mit Urt. v. 27.11.1990
durch BVerfGE 80, 130 (144ff.) entschieden wurde: "Die Indizierung einer als Kunstwerk anzusehenden Schrift, setzt auch
dann eine Abwägung mit der Kunstfreiheit voraus, wenn die Schrift offensichtlich geeignet ist, Kinder oder Jugendliche
sittlich schwer zu gefährden [...]." SCHULZ/BRUNN/DREYER et al. 2007 argumentieren aber, dass eine "besonders schwere
Beeinträchtigung des Jugendschutzes" evident sein müsse, "um Beschränkungen auch im Wirkbereich der Kunst zu rechtfertigen." (S.83) Eine nur einfache(re) Jugendgefährdung kann i.d.S. nicht hinreichend sein, gem. aktueller höchstrichterlicher
Rechtsprechung soll aber eine schwere Jugendgefährdung i.S.d. JuSchG auch nicht für eine Beschränkung der Kunstfreiheit
notwendig sein. Ungeachtet dessen soll der Vollständigkeit halber nicht unerwähnt bleiben, dass letztlich keine der
Änderungen in der höchstrichterlichen Rechtsprechung in einer Derogation der antezedierenden Indizierungsentscheide der
BPjS resultierte.
BVerfGE 83, 130 (147f.) und vgl. STEFEN 1998, S.242.
143
zur Feststellung eines eindeutigen Übergewichts einer Seite geboten ist."799 I.d.S. kann die
Behörde z.B. im Fall eines nur marginalen Kunstwertes und einer gleichzeitig hohen Grades der
Jugendgefährdung umso knapper ein Überwiegen der Belange des Jugendschutzes konstatieren,
je geringer der Kunstwert und je höher der Grad der Jugendgefährdung eines Mediums ist; dgl.
gilt prinzipiell auch umgekehrt.
Nicht überraschend sind Nichtindizierungen dank des Kunstvorbehalts aber nur spektakuläre
Einzelfälle, so dass bzgl. der BPjM auch der Eindruck entsteht, dass sie i.S.e. prinzipiellen
Jugendschutzprärogative (in dubio contra arte) entscheidet: I.d.S. monierte bspw. auch bereits
BARSCH 1988, "daß der Kunstvorbehalt in die Hände einer Institution gelegt wird, deren
Aufgaben per definitionem im Bereich des Jugendschutzes und nicht im Bereich der Literatur
liegen, die also Schriften nicht unter literarischen, sondern unter Aspekten einer potentiellen
Jugendgefährdung interpretiert."800 Die Behörde realisiert Computerspiele inzwischen i.d.R.
zwar als Kunstwerke, seit Inkrafttreten des JuSchG wurde aber noch kein einziges (vermeintlich) jugendgefährdendes Spiel (auch) aufgrund seines Kunstwerts nicht indiziert. Die
Entscheide genügen i.d.R. aber tatsächlich auch bereits in sachlich-rechtlicher Hinsicht nicht
den an die Güterabwägung zu stellenden Anforderungen: Weder hinsichtlich der auf der Seite
des Jugendschutzes noch der der Kunst einzustellenden Abwägungskriterien enthalten sie hinreichend ausdifferenzierte Bewertungen, sie gehen nicht wesentlich über die Feststellungen
hinaus, die indizierten Medien seien jugendgefährdend und hätten einen demggü. mehr oder
weniger relativierbaren Kunstwert, so dass z.B. bereits bzgl. der Belange des Jugendschutzes die
für die Jugendgefährdung verantwortlich gemachten Bestandteile keiner eigenständigen
Bewertung unterzogen werden. In welcher Weise solche Bestandteile in das künstlerische
Gesamtkonzept eingepasst sind und welche relativierende Wirkung auch dieser Umstand auf
eine von ihnen vermeintlich ausgehende jugendgefährdende Wirkung haben kann, wird von der
BPjM, die ja normalerweise nur dekontextualisierend die Gewaltdarstellungen u.ä. aufzählt und
ggf. auch die (vermeintlich) einschlägigen Paragraphen des JuSchG referiert, nicht thematisiert.
Gleichermaßen problematisch sind aber auch die Ermittlungen der Belange der Kunstfreiheit,
resp. ist die notwendige Bewertung des Kunstwerts eines verfahrensgegenständlichen Mediums:
Die Behörde muss zwar im Rahmen der notwendigen Abwägung der Gewichtung der Kunstwerke dieselben in jedem Fall werkgerecht, d.h. im Lichte des künstlerischen Willens des Urhebers, der Gesamtkonzeption der Werke und ihrer Gestaltung, wie auch anderer Kunstwerke
bewerten,801 die Entscheide thematisieren aber ggü. Computerspielen ausnahmslos nichts dgl.;
die Beisitzenden können solche Aspekte auch gar nicht adäquat bewerten: Einerseits moniert
bspw. STATH 2006 die untragbare Praxis, "den Kreis der Beteiligten möglichst eng zu fassen,
mit dem Ergebnis, dass maßgeblich beteiligte Personen wie beispielsweise der Drehbuchautor
oder der Komponist […] nicht gehört werden."802 Infolge dessen bleibt der künstlerische Wille
der Urheber i.d.R. opak. Andererseits ist aber auch generell, d.h. ohne die Notwendigkeit einer
diesbzgl. Qualifikationsprüfung, der (insb. auch mediengattungsspezifische) Sachverstand (wie
auch die ggü. Kunst prinzipiell notwendige Aufgeschlossenheit) der regelmäßig fachfremden
Beisitzenden fraglich.803
Ein typischer Indizierungsentscheid skizziert tatsächlich nur die behördliche Einschätzung des
Qualitätsniveaus der Spiele, basierend auf ausschl. technischen(!) Aspekten derselben, wie
bspw. der Graphik, der Tonkulisse, der Steuerung und der künstlichen Intelligenz der
(gegnerischen) Spielfiguren und referiert andererseits (in Orientierung an dem für den Kunstwert indiziellen Ansehen, das ein Werk beim Publikum genießt) nur die durchschnittliche
799
800
801
802
803
BVerwG, Urt. v. 18.02.1998, Az.: 6 C 9.97; vgl. Urt. v. 28.08.1996, Az.: 6 C 15.94; OVG NRW, Urt. v. 23.05.1996, Az.: 20 A
298/94 und VG Köln, Beschl. v. 31.05.2010, Az.: 22 L 1899/09.
BARSCH 1988, S.35.
Vgl. BVerfGE 83, 130 (147); BVerwGE 91, 211 (212f.); VG Köln, Beschl. v. 31.05.2010, Az.: 22 L 1899/09; MONSSENENGBERDING 1998, S.115 und BPjM 2012.
Vgl. STATH 2006, S.276. Derselbe kritisiert auch detailliert die diesbzgl. nur begrenzte Sachaufklärungspflicht der BPjM
(S.181f.).
Vgl. BUCHLOH 2002, S.136f. und SCHMID 2009a.
144
Bewertung der Spiele, wie sie Internetseiten wie gamerankings.com, metacritic.com u./o. (die
inzwischen deaktivierte Seite) critify.com, die die entsprechenden Bewertungen internationaler
(insb. englischsprachiger) Online- und Printmagazine sammeln und aus den einzelnen Testergebnissen einen prozentualen Durchschnittswert bilden, dokumentieren. Die BPjM referierte
zur Ermittlung der "Werkhöhe" im Rahmen älterer Entscheide noch mehr oder weniger willkürlich (und oftmals tendenziös) ausgewählte Besprechungen deutscher Printmagazine und (ca.
seit der Jahrtausendwende) deutschsprachiger Internetseiten, die sie über Eingabe des Spieltitels
in Suchmaschinen wie google.de und altavista.de ermittelte.804 Einerseits ist aber die ausschl.
Einschätzung (oftmals auch nur einzelner) technischer Aspekte der Spiele für den Kunstwert
derselben offensichtlich irrelevant und andererseits interessiert auch das Gros der Online- und
Printmagazine im Rahmen der Bewertung nicht der etwaige Kunst-, sondern der Unterhaltungswert der rezensierten Spiele. Insofern ist beides kein probater Orientierungspunkt für die
Ermittlung des Kunstwerts eines Spiels, resp. der Bestimmung des der Kunstfreiheit beizumessenden Gewichts.
Ungeachtet dessen konstatiert die Behörde i.d.R., insg. keine Aspekte zu erkennen, welche die
verfahrensgegenständlichen, z.T. aber gar international honorierten Spiele (bspw. CALL OF
DUTY 4: MODERN WARFARE oder FALLOUT 3) zu Kunstwerken von nennenswertem Rang
erheben könnten, so dass die (vermeintlich) jugendgefährdenden Gewaltdarstellungen
ausnahmslos die etwaigen künstlerischen Aspekte überwiegen würden;805 die BPjM stellt die
Entscheidungen zu Gunsten des Jugendschutzes z.T. gar als Sachzwänge dar! Im Lichte dessen
wird die (nach wie vor offene) Frage vordringlich, wie die Behörde ein Kunstwerk von
nennenswertem Rang überhaupt definiert und ob ein Computerspiel nach Auffassung der BPjM
überhaupt einen nennenswerten Kunstwert haben kann.
11.8
Die Verjährung von Indizierungen
Indizierungen sind i.d.R. keine Verwaltungsakte mit Dauerwirkung: Die BPjM kann gem. § 23
Abs. 4 JuSchG bereits nach Ablauf von zehn Jahren seit der Indizierung die Streichung aus der
Liste im vereinfachten Verfahren beschließen, wenn bekannt wird, dass die Voraussetzungen
für die Indizierung nicht mehr vorliegen; d.h. in der Praxis, dass die Nutzungsrechteurheber u/o.
-inhaber ggf. einen entspechenden (gebührenpflichtigen; s. § 21 Abs. 10 Nr. 2 JuSchG) Antrag
auf Listenstreichung stellen müssen (§ 21 Abs. 2 JuSchG). Medien sind aber auch ohne Antrag
nach § 18 Abs. 7 JuSchG aus der Liste zu streichen, "wenn die Voraussetzungen für eine Aufnahme nicht mehr vorliegen. Nach Ablauf von 25 Jahren verliert eine Aufnahme in die Liste
804
805
Vgl. IE Nr. 6183 (V) v. 22.2.2002 (RETURN TO CASTLE WOLFENSTEIN). I.d.S. ermittelte die BPjM in der Vergangenheit
primär Ansehen, Echo und Wertschätzung eines Werks in Deutschland und ignorierte das Renommee, das ein Werk in einem
internationalen, freien Diskursumfeld gefunden hatte. Eine ausschl. germanozentrische Perspektive ist insofern problematisch,
dass deutsche Medien bereits u.U. indizierungsrelevante Computerspiele im Lichte dessen erst gar nicht oder nur noch negativ
rezensieren, dass positive Besprechungen als verbotene Werbung interpretiert werden und infolge dessen selbst strafrechtlich-,
wie auch indizierungsrelevant sein können (vgl. SCHMID 2009a). Die Branche sensibilisieren diesbzgl. bereits Fälle wie der
der Indizierung des am 09.09.1994 publizierten Spiels MORTAL KOMBAT II: Infolge des Inkrafttretens der Indizierung mit
BAnz. Nr. 186 v. 30.09.1994 beschlagnahmten nach BRAUNBART 2001a ambitionierte Staatsanwälte rigoros die aktuellen
Ausgaben solcher einschlägigen Printmagazine, "die in gutem Glauben Tests oder Werbeanzeigen des Spiels enthielten […]."
(S.237)
Vgl. IE Nr. 9610 (V) v. 15.12.2010 (DEAD RISING 2). Den diesbzgl. pornographischen Blick der BPjM besonders
demonstrierend ist die Indizierungen des Films EDEN LAKE: Die Behörde argumentierte mit IE Nr. 8781 (V) v. 08.07.2009,
dass die FSK ggü. einer zensierten Fassung des Films zwar eine Selbstzweckhaftigkeit der Gewalt i.S.e. jugendgefährdenden
Wirkung noch verneinte, die erfahrensgegenständliche Fassung aber eine "detaillierte Ausweitung der Gewaltakte" enthalte,
"die die künstlerisch hochwertigen Aspekte der Geschichte nicht mehr tragen." SCHMID 2009a monierte diesbzgl., dass die
Behörde zwar Behauptungen über die Unterschiede zwischen beiden Filmfassungen aufstellt, das 3er-Gremium aber laut
Entscheid nur die verfahrensgegenständliche Version gesehen hatte: "Trotzdem kennt das Gremium die Unterschiede ganz
genau. Die längeren Fassungen enthalten mehr 'Gewaltspitzen', damit ist alles gesagt. Was man schon vorher weiß, muss man
nicht überprüfen. Wieder wird die Analyse durch Addieren bzw. Subtrahieren ersetzt. Die BPjM verwechselt Filmanalyse mit
Mathematik. Die Wirkung von Filmen und deren künstlerischer Wert lassen sich aber nicht mit Hilfe der Grundrechenarten
bestimmen. Eine Kulturnation, wie wir es sein wollen, sollte das doch wissen. Hier wird so getan, als wäre die zensierte
Fassung eines Films dasselbe wie die unzensierte, nur eben mit etwas weniger Gewalt. Das kann so sein, muss aber nicht. Je
besser ein Film, umso weniger stimmt es. Der BPjM, die so tapfer zwischen Jugendschutz und Kunstfreiheit 'abwägt', fehlt
dafür jegliches Verständnis. [...] Wenn das 3er-Gremium meint, man könne beliebig hinzufügen oder wegnehmen, weil es um
mehr oder weniger Gewalt geht und sonst gar nichts, ist das zunächst nur eines: ein Vorurteil."
145
ihre Wirkung."806 Die Behörde kann aber auch nach Ablauf von 25 Jahren auf Veranlassung der
Vorsitzenden dank § 21 Abs. 5 Nr. 3 JuSchG von Amts wegen tätig werden und entscheiden,
dass ein Medium für mind. 10 weitere Jahre in der Liste verbleibt, "wenn […] weiterhin die
Voraussetzungen für die Aufnahme in die Liste vorliegen." Die Voraussetzungen für eine
Indizierung liegen z.B. nicht mehr vor, wenn das Medium inzwischen nur noch ein Fall von
geringer Bedeutung ist (z.B. infolge der Einstellung von Produktion u./o. Vertrieb des Mediums
etc.) oder die originären Entscheidungsgründe den aktuellen Richtlinien, der Spruchpraxis der
BPjM u./o. den gesellschaftlichen Wert- und Moralvorstellungen nicht mehr entsprechen.807
KÖHLER/DISTLER 2004 attestieren der letzteren Regelung eine verfassungsrechtliche
Konsequenz, "da gerade mit Blick auf Meinungs-, Informations-, Glaubens- und Berufsfreiheit
die mit der Listenaufnahme verbundenen Beschränkungen [...] nur solange verhältnismäßig
sind, wie eine Jugendgefährdung tatsächlich vorliegt. Die Befristung der Indizierung auf 25
Jahre rechtfertigt sich vor dem Hintergrund, dass jede Generation die Frage der Jugendgefährdung jeweils selbst unter Berücksichtigung der aktuell maßgeblichen Wert- und
Moralvorstellungen der Gesellschaft bestimmt."808
Ungeachtet dessen, dass außer einem ethischen Minimalkonsens die "aktuell maßgeblichen
Wert- und Moralvorstellungen der Gesellschaft" insb. auch nur ggü. fiktionalen Darstellungen
im Lichte des ethischen Relativismus pluraler Gesellschaften kaum oder gar nicht konkretisier-,
resp. ermittelbar sind, demonstriert eine solche Argumentation einerseits, dass Fragen des
Jugendschutzes (auch de iure) offensichtlich immer noch nicht als Fragen der evtl. Jugendgefährdung durch Medieninhalte verstanden, sondern einer gesellschaftlichen Akzeptanz derselben missverstanden werden und der Begriff der Jugendgefährdung insg. nur einen Blankettbegriff darstellt, der dem Zeitgeist unterliegt: Entweder ist ein Spiel wie RIVER RAID, das
zwischen 1984 und 2002 als kriegsverherrlichend indiziert war, aber seitdem ohne Altersbeschränkung freigegeben wurde (s.o.), objektiv kriegsverherrlichend oder nicht, so dass ggf.
bereits die originäre Indizierung eine Falschentscheidung war (und ein solcher Fall auch vor
aktuellen Fehlentscheidungen warnen sollte). Andererseits ignoriert die Argumentation der
beiden Autoren, dass die BPjM ja selbst über die Verjährung entscheidet, so dass (auch im
Lichte der fehlenden gesellschaftlichen Repräsentativität der Gremien derselben) praktisch nur
die aktuellen Wert- und Moralvorstellungen der BPjM, resp. der im Einzelfall entscheidenden
Gremien für die Frage der Jugendgefährdung maßgeblich sind.
Der Vollständigkeit halber muss i.d.S. auch kritisiert werden, dass z.B. Elke MONSSENENGBERDING, die seit 1979 erst Referentin und bereits seit 1980 stellvertretende Vorsitzende
der Behörde war und seit 1991 die Vorsitzende derselben ist, nicht nur für das Gros der seit
2005 verjährenden Indizierungen maßgeblich mitverantwortlich war, sondern kurioserweise
auch selbst für die Verjährung derselben mitverantwortlich sein soll. Tatsächlich funktionieren
aber zumindest die Listenstreichungen der ersten indizierten Computerspiele seit 2009 relativ
806
807
808
Das GjS befristete Indizierungen noch nicht, so dass bspw. Elke MONSSEN-ENGBERDING konstatieren konnte, dass die
Indizierung ein "Verwaltungsakt mit Dauerwirkung" (zitiert in: BRAUNBART 2001a, S.233f.) sei. Nach 15 Jahren waren aber
in Orientierung an allg. Vorschriften des Verwaltungsverfahrenrechts auf Antrag der Verfahrensbeteiligten aber theoretisch
Listenstreichungen aufgrund veränderter Umstände zwar bereits möglich (vgl. SEIM 1997, S.184; BETHMANN 2002, S.67
und KÖHLER/DISTLER 2004, S.4), aber praktisch nur von geringer Bedeutung. Die Regelung orientierte sich auch an der
a.F. von § 20 FSK-Grs (dem aktuellen § 16 FKS-Grs), gem. dem die Rechteurheber und -inhaber eines Films aufgrund (nicht
konkretisierter) veränderter Umstände i.d.R. nach 15 Jahren eine neue Alterskennzeichnung beantragen konnten; ggf. hatte ein
3er-Gremium der FSK aus dem Ständigen Vertreter der OLJB und je einem Vertreter der öffentlichen Hand und der
Filmwirtschaft einstimmig über die Freigabe zu entscheiden, kam eine einstimmige Entscheidung nicht zustande, entschied der
Hauptausschuss der FSK in voller (7-köpfiger) Besetzung.
Vgl. BRAUNBART 2001a, S.234. Die Verjährungsregelungen betreffen aber prinzipiell nur Medien, die nicht nach § 18 Abs.
5 JuSchG infolge einer rechtskräftigen Gerichtsentscheidung (Beschlagnahme, Strafbefehl u. -urteil etc.) automatisch indiziert
wurden: Das JuSchG reglementiert die Verjährung solcher Indizierungen nicht und sowohl im Rahmen der Rechtsprechung,
wie auch dem der Literatur ist die Frage nach der Verjährung derselben noch offen (vgl. KÖHLER/DISTLER 2004, S.4f.). Im
Lichte dessen, dass die nach den §§ 86, 130, 130a, 131, 184, 184a, 184b und 184c StGB bezeichneten Inhalte aber auch noch
nach Jahren objektiv identisch und i.d.S. strafrechtlich relevant sind, streicht die BPjM solche Medien ggf. erst nach einer entsprechenden Änderung der Rechtslage, resp. infolge eines entsprechenden gerichtlichen Entscheids der fehlenden strafrechtlichen Relevanz des konkreten Medieninhalts aus der Liste B des Index jugendgefährdender Medien (vgl. MONSSENENGBERDING/LIESCHING 2008, S.7-10).
KÖHLER/DISTLER 2004, S.4.
146
problemlos (d.h. ohne Folgeindizierungen) und spektakulärerweise wurden ein paar Spiele –
DOOM;809 HITMAN: CODENAME 47;810 MAX PAYNE;811 QUAKE812 etc. – auf Antrag der Rechteurheber, resp. -inhaber auch bereits vor Ablauf von 25 Jahren von der Liste gestrichen. Die
Frage bleibt aber vordringlich, ob die Spiele überhaupt je jugendgefährdend waren.
11.9
Der Rechtsweg gegen Indizierungsentscheidungen
Im Lichte der demonstrierten Rechtswidrigkeiten und der unzähligen anderen Probleme eines
offensichtlichen Gros der Indizierungsentscheide wird die Frage nach den Klagemöglichkeiten
der Betroffenen vordringlich: Entscheidungen der BPjM sind Verwaltungsakte i.S.v. § 35
VwVfG, insofern ist nach § 25 JuSchG natürlich der Verwaltungsrechtsweg gegen dieselben
gegeben.813 Die Entscheide der BPjM unterliegen (erst seit 1990) der vollen gerichtlichen
Nachprüfbarkeit,814 den der Entscheidung zugrunde liegenden Erwägungen der BPjM soll aber
(aufgrund der den Gremien pauschal attestierten Fachkenntnis) als (vermeintlich) sachverständige Aussagen nach Auffassung des VG Köln kurioserweise ein Entscheidungsvorrang
einzuräumen sein, so dass die Erwägungen wirksam in Frage zu stellen nicht einfaches
Vorbringen, sondern denselben Aufwand erfordere, "der notwendig ist, um die Tragfähigkeit
fachgutachtlicher Stellungnahmen zu erschüttern."815 Die Entscheide der BPjM sind aber offensichtlich keine fachgutachterlichen Stellungnahmen, sondern (wie bereits demonstriert wurde)
letztlich nur mehr oder weniger willkürliche Konsensentscheidungen regelmäßig fachfremder
(und insg. auch nicht besonders qualifizierter) Gremien, basierend auf fehlsamen Medienwirkungshypothesen i.V.m. fehlendem Kunstsachverstand u.ä.; gem. BVerwG soll aber noch
nicht der bloße Umstand eine Entscheidung der BPjM rechtswidrig machen, "daß die
Bundesprüfstelle von einem Sachverhalt ausgegangen ist, zu deren Feststellung sie einen Sachverständigen hätte heranziehen müssen […]; die Aufhebung setzt voraus, daß ihre Unrichtigkeit
festgestellt wurde."816 Die Wahrscheinlichkeit der Eignung einer Jugendgefährdung kann aber
seitens der BPjM z.B. einfacher konstatiert als eine diesbzgl. Nichteignung seitens der Kläger
nachgewiesen werden. Insofern dürfte eine Klage aufgrund evtl. Verfahrensfehler u.ä. noch am
realistischen sein.
Ungeachtet dessen und dass bereits die initiale Indizierung selbst ein finanzielles Fiasko (und
u.U. eine Stigmatisierung) für die Betroffenen sein kann (s.u.), dauert der Rechtsweg gegen eine
Entscheidung der BPjM ein Medium in die Liste jugendgefährdender Medien aufzunehmen
(oder einen Antrag auf Streichung aus der Liste abzulehnen) oftmals mehrere Jahre und ist auch
entsprechend kostenintensiv, ohne eine aufschiebende Wirkung der Klage (§ 25 Abs. 4
JuSchG),817 wie auch Anspruch auf Schadensersatz im Falle einer erfolgreichen Klage oder
auch nur besonders hoher Chancen auf einen Erfolg derselben,818 so dass bspw. BRAUNBART
2001b den Rechtsweg als "Farce"819 und SCHMID 2009b denselben als eine "schöne Theorie"
kritisieren. Spektakuläre Fälle, wie der Rechtsstreit um das Buch JOSEFINE MUTZENBACHER,
809
810
811
812
813
814
815
816
817
818
819
Vgl. IE Nr. 5847 v. 04.08.2011 (DOOM).
Vgl. IE Nr. 5921 v. 06.09.2012 (HITMAN: CODENAME 47).
Vgl. IE Nr. 5887 v. 02.02.2012 (MAX PAYNE).
Vgl. IE Nr. 10224 (V) v. 09.11.2011 (QUAKE).
Vgl. MONSSEN-ENGBERDING 1998, S.12 und STATH 2006, S.171.
Vgl. BVerfGE 15, 275 (282); BVerfGE 18, 203 (212); 21, 191 (194f.); BVerwGE 91, 211 (215f.); VG Köln, Urt. v. 17.2.2006,
Az.: 27 K 6557/05; LIESCHING 2002, S.110; SUFFERT 2002, S.125f.; BRUNNER 2005 und STATH 2006, S.156. Diesbzgl.
aber a.A. sind z.B. SCHOLZ 1999, S.49; SEIM 1997, S.151/184 und NIKLES/ROLL/SPÜRCK et al. 2005, S.259, die den
Entscheiden der BPjM insb. in Orientierung am diesbzgl. obsoleten BVerwGE 39, 197 (203f.) nach wie vor eine nur
beschränkte gerichtliche Nachprüfbarkeit attestieren. Ungeachtet dessen argumentierte bereits JESTAEDT 2005, dass die
Weisungsfreistellung der Gremien der BPjM die Frage aufwerfe, "ob nicht die demokratisch-legitimatorischen Defizite, die
derartigen Gremien innewohnt, nur durch den Grundrechtsschutz verbürgende Vollkontrolle kompensiert werden können."
(S.318)
VG Köln, Urt. v. 17.2.2006, Az.: 27 K 6557/05; Urt. v. 16.11.2007, Az.: 27 K 3012/06; vgl. BVerwGE 91, 211 (215f.);
BVerwG, Urt. v. 28.08.1996, Az.: 6 C 15.94 und STATH 2006, S.156.
Vgl. BVerwG, Urt. v. 03.03.1987 (Az.: BVerwG 1 C 39.84); SCHOLZ 1999, S.50 und NIKLES/ROLL/SPÜRCK et al. 2005,
S.259.
Vgl. VG Köln, Beschl. v. 31.05.2010, Az.: 22 L 1899/09 und SCHOLZ 1999, S.71.
Vgl. SEIM 1998, S.45.
Vgl. BRAUNBART 2001b, S.225.
147
sensibilisieren die Betroffenen ggü. den Problemen des Rechtswegs und lassen sie u.U. bereits a
priori resignieren: Nachdem die BPjS das Buch im November 1982 indiziert hatte,820 aber erst
das BVerfG die Entscheidung nach achtjährigem(!) Rechtsstreit am 27.11.1990 u.a. aufgrund
dessen derogierte, dass die Behörde das Gebot der Abwägung zwischen Jugendschutz und
Kunstfreiheit ignoriert hatte,821 indizierte die BPjS dasselbe Buch im November 1992 abermals.822
Letztlich ist der Rechtsweg aber auch ungeachtet dessen im Bereich der Indizierungen von
Computerspielen von besonders geringer Bedeutung: Seit Inkrafttreten des JuSchG werden
indizierungsfähige Computerspiele i.d.R. erst gar nicht mehr in Deutschland veröffentlicht und
die ausländischen Rechteurheber und -inhaber der verfahrensgegenständlichen Spieleversionen
haben kaum oder gar kein Interesse an einem Rechtsstreit. Die einzigen noch indizierungsfähigen, offiziell auch in Deutschland publizierten Spiele wurden fast ausschl. vor dem 01.04.
2003 veröffentlicht und nicht oder mit "Nicht geeignet unter 18 Jahren" von der USK gekennzeichnet (s.u.), dürften letztlich für die Rechteurheber und -inhaber (insofern sie überhaupt noch
existieren) wirtschaftlich nicht mehr interessant sein.
11.10
Die Frage der Verhältnismäßigkeit der Indizierungsmaßnahme
Der legitime Zweck der Indizierung ist der Schutz der Entwicklung von Kindern und
Jugendlichen u./o. ihrer Erziehung zu eigenverantwortlichenen und gemeinschaftsfähigen
Persönlichkeiten, aber ungeachtet dessen, dass einerseits jugendgefährdende Medien insg. offensichtlich nicht hinreichend bestimmt und andererseits auch die Indizierungen selbst regelmäßig rechtswidrig sind, ist die Frage nach der Verhältnismäßigkeit der Indizierung von
Computerspielen, d.h. die nach der Geeignetheit, Erforderlichkeit und Angemessenheit der
Maßnahme für sich genommen, nach wie vor relativ offen und soll im Folgenden diskutiert
werden.
Nach ERDEMIR 2000 verlangt das Gebot der Geeignetheit den Einsatz solcher Maßnahmen,
"mit deren Hilfe der gewünschte Erfolg gefördert werden kann.823 Insoweit muß zwischen dem
durch den Eingriff geschaffenen Zustand und dem Zustand, in dem der verfolgte Zweck als
verwirklicht zu betrachten ist, ein durch bewährte Hypothesen über die Wirklichkeit vermittelter
Zusammenhang bestehen. Das Gebot der Erforderlichkeit verlangt, daß der gewünschte Erfolg
nicht auch durch ein anderes, ebenso geeignetes Mittel erreicht werden kann, welches das
betreffende [...] nicht oder jedenfalls weniger fühlbar einschränkt und damit auch für den Bürger
weniger belastend ist.824 Mit dem Gebot der Angemessenheit schließlich wird dem Grundsatz
der Verhälntnismäßigkeit noch ein letztes Kriterium abverlangt. Insoweit müssen die Schwere
des Eingriffs und er mit ihm verfolgte Zweck in recht gewichtetem und wohl abgewogenem
Verhältnis zueinander stehen. Hierbei sind das Gewicht und die Bedeutung des durch den
Eingriff rechtfertigenden Gründe dem Gewicht und der Bedeutung des durch den Eingriff
beeinträchtigten Grundrechts gegenüberzustellen.825 Im Ergebnis verlangt das Gebot der
Angemessenheit damit eine Güterabwägung."826
11.10.1
Eignung der Maßnahme
Insofern gewaltdarstellende Computerspiele offensichtlich nicht (hinreichend) die Entwicklung
von Kindern und Jugendlichen u./o. ihre Erziehung zu eigenverantwortlichenen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeiten gefährden, die Frage nach der Geeignetheit der Indizierung im
Lichte des legitimen Zwecks derselben aber primär die Frage nach einer solchen Wirkung dar820
821
822
823
824
825
826
Vgl. IE Nr. I 20/82 v. 04.11.1982 (JOSEFINE MUTZENBACHER).
Vgl. BVerfGE 83, 130.
Vgl. IE Nr. 4274 v. 05.11.1992 (JOSEFINE MUTZENBACHER).
Vgl. BVerfGE 30, 292 (316); 33, 171 (187) und 67, 157 (173).
Vgl. BVerfGE 53, 135 (145f.); 67, 157 (177); 68, 193 (219); 77, 84 (110f.) und 81, 70 (91f.).
Vgl. BVerfGE 67, 157 (173) und 83, 1 (9).
ERDEMIR 2000, S.115f..
148
stellt,827 kann die Maßnahme bereits nicht i.S.d. Verhältnismäßigkeitsprinzips geeignet sein und
ist infolge dessen verfassungswidrig: Ohne eine diesbzgl. Jugendgefährdung durch mediale
Gewaltdarstellungen kann eine Indizierung auch keinen solchen Jugendschutz kausal bewirken
oder zumindest fördern!
Aber auch gem. dem hypothetischen Fall einer (hinreichend) jugendgefährdenden Wirkungseignung medialer Gewaltdarstellungen, so dass die Frage nach der Geeignetheit der Indizierung
nur noch die nach der Wirksamkeit des absoluten Jugendverbots sein könnte, wäre dieselbe
fragwürdig: Die Beschränkungen des § 15 Abs. 1 JuSchG können (ungeachtet des Erziehungsprivilegs) sicherlich den legalen Zugang von Kindern und Jugendlichen zu jugendgefährdenden
Medien verhindern, dürften aber im Rahmen des privaten, wie auch semiprofessionellen
Handels oftmals ignoriert werden.828 Nach SCHULZ/BRUNN/DREYER et al. 2007 trifft auch
ein grundsätzliches Problem für den Jugendmedienschutz für indizierte Computerspiele zu,
"nämlich die Möglichkeit, unter Umgehung deutscher Vertriebs- und Zugangsbestimmungen
Medien aus dem Ausland zu beziehen. So kann es vorkommen, dass ein Spiel, wenn eine
Indizierung droht, gar nicht bei der USK vorgelegt wird und auch nicht offiziell in Deutschland
vertrieben wird, das Spiel aber dennoch durch Grauimporte von Einzel- und Zwischenhändlern
nach Deutschland gelangt. Auch durch den internationalen Versandhandel können nationale
Jugendschutzvorschriften konterkariert werden. So sind in Deutschland indizierte Spiele, die
nur nach entsprechendem Altersnachweis und einer persönlichen Übergabe an den volljährigen
Besteller versandt werden dürfen, etwa in Österreich, Großbritannien oder Holland ohne
jeglichen Altersnachweis zu bestellen und in Empfang zu nehmen. Eine derartige Einfuhr
indizierter Medien ist zwar gem. § 15 Abs. 1 Nr. 5 JuSchG prinzipiell verboten, der Zoll
kontrolliert Sendungen aus Staaten, die das Schengener Abkommen unterschrieben haben, aber
lediglich stichprobenartig; im Falle der Entdeckung von indizierten Medien wird die Sendung
einbehalten und [...] gegen entsprechenden Altersnachweis an den Empfänger ausgehändigt. Es
gibt Hinweise darauf, dass im Bereich Video- und Computerspiele eine nicht unerhebliche
Stückzahl indizierter Spielprogramme auf diesem Wege – meist unkontrolliert – nach Deutschland gelangt: So erwähnt der Jahresbericht 2006 des Ständigen Vertreters der OLJB bei der
USK, dass davon ausgegangen wird, dass mehr als 100.000 Stück der indizierten EU-Version
des Spiels 'Gears of War' für die Xbox 360 über ausländische Versender nach Deutschland
gedrungen sind. […] Ausländische Anbieter werben im Internet ausdrücklich damit, dass eine
Indizierung in Deutschland erfolgt ist. Da nicht auszuschließen ist, dass sich zumindest
bestimmte Gruppen von Jugendlichen dadurch eher zu dem entsprechenden Spiel hingezogen
fühlen […], ist dies für den Jugendschutz ein Problem […]."829
Wahlweise werden indizierte Spiele aber auch schwarz kopiert (der private Handel zwischen
Schülern florierte bereits in den 1980ern),830 resp. (illegal) aus dem Internet heruntergeladen
oder die gekennzeichneten, aber zensierten Versionen indizierter Spiele mittels sog. Bloodpatches dezensiert.831 Eine Indizierung ist insofern offensichtlich nicht in jedem Einzelfall effektiv und kann den intendierten Jugendmedienschutz nur in begrenztem Umfang gewährleisten. Das macht sie aber noch nicht verfassungswidrig. Die Maßnahme dürfte nur nicht
schlechthin ungeeignet, resp. gar kontraproduktiv sein.832 Vielmehr habe der Gesetzgeber nach
DECKER 2005 ja auch die Pflicht, "seinen Standpunkt durch gesetzliche Regelungen deutlich
zu machen."833
Ungeachtet dessen wird die Indizierung nach SCHULZ/BRUNN/DREYER et al. 2007 deshalb
als ein besonders effektives Mittel des Jugendschutzes angesehen, "da es sowohl Werbebeschränkungen als auch Abgabe- und Zugangsbeschränkungen enthält und so eine 'Unsicht827
828
829
830
831
832
833
Vgl. ERDEMIR 2000, S.117.
Vgl. SCHULZ/BRUNN/DREYER et al. 2007, S.141.
SCHULZ/BRUNN/DREYER et al. 2007, S.140 und vgl. SCHULZ/DREYER 2007a, S.2.
Vgl. BOSSELMANN 1987, S.132; URBAN 2002, S.169; DECKER 2005, S.18 und EGAN 2007.
Vgl. WIEMKEN 2001b, S.61; MÜLLER-LIETZKOW 2010, S.30 und SCHULZ/DREYER 2007a, S.2.
Vgl. BVerfGE 19, 119 (126f.); 30, 250 (263f.); 50, 142 (163); 67, 291 (313f.); 71, 206 (215/217f.); BverwG, Beschl. v. 22.03.
1986, Az.: 2 BvR 1499/84, 99/85 und MEIROWITZ 1993, S.227f..
Vgl. DECKER 2005, S.78.
149
barmachung' des entsprechenden Inhalts des Trägermediums erreichen soll."834 Kinder und
Jugendliche sollen (die Existenz) indizierte(r) Medien erst gar nicht wahrnehmen, so dass
infolge dessen die (illegale) Ersatzbeschaffung kein Problem mehr sein soll. Tatsächlich
kolportieren die Autoren, "dass indizierte Medien bei Kindern und Jugendlichen kaum bekannt
und kaum genutzt sind. Die Wirkung der Indizierung scheint also grundsätzlich gegeben zu
sein, wobei auch hier zwischen den unterschiedlichen Risikotypen der eher zufälligen, ungezielten Berührung mit ungeeigneten medialen Inhalten und der gezielten Suche zu unterscheiden ist; Letztere wird auch die Indizierung nur wenig erschweren können."835 Das HBI
rekurrierte aber diesbzgl. nur auf eine qualitative Teilstudie der Autoren THEUNERT/GEBEL/
BRÜGGEN et al. 2007, die tatsächlich (und auch nur basierend auf einer Befragung von 18
Kindern und Jugendlichen zwischen 12 und 17 Jahren) tenzenziell vielmehr das Gegenteil
konstatierten,836 ungeachtet dessen, dass sich die Nutzung indizierter Medien selten zweifelsfrei
feststellen ließ: Das aktive Ansprechen von Indizierungen wurde bspw. vermieden, "um nicht
zur Suche nach indizierten Produkten [...] zu animieren. […] Von manchen Medienangeboten
([…] Computerspielen etc.) liegen sowohl indizierte wie nicht indizierte Versionen vor. Eine
unverfängliche Spezifizierung des genutzten Materials war entsprechend nicht immer möglich.
[…] Ungeklärt bleibt darüber hinaus in einigen Fällen, welches Material die Befragten tatsächlich aus eigener Nutzung kennen […]."837 Insofern ist die Behauptung des HBI offensichtlich nicht fundiert.
Auch das KFN kolportierte (offenbar als Promotion seines Forschungsberichts Nr. 101; s.
Kapitel 22) infolge einer Befragung von 5.531 Viertklässlern (M = 10,3 Jahre) und 14.301
Neuntklässlern (M = 15,1 Jahre) zwischen dem 21.02.2005 und dem 18.03.2005,838 "dass jeder
zweite 10-jährige Junge über Erfahrungen mit Spielen verfügte, die ab 16 oder 18 eingestuft
sind und dass jeder Fünfte solche Spiele aktuell nutzte; von den 14-/15-jährigen Jungen hatten
82 Prozent Erfahrungen mit Spielen, die keine Jugendfreigabe erhalten haben, ein Drittel spielte
sie regelmäßig. Die Indizierung von Spielen durch die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende
Medien [...] erweist sich dagegen als sehr effektiv. Nur 0,1 Prozent der befragten 10-Jährigen
und 2,5 Prozent der 14-/15-Jährigen nutzten derartige Spiele."839 Die Behauptungen basieren
aber auf einer fragwürdigen Erhebungsmethode, die tatsächlich erst HÖYNCK/PFEIFFER 2007
und auch noch nur für die Viertklässler dokumentierten:
Um das Ausmaß, in dem entwicklungsbeeinträchtige Video- und Computerspiele von den befragten
Viertklässlern genutzt werden, detaillierter beleuchten zu können, wurden alle Kinder nach den Titeln der
drei von Ihnen zurzeit am intensivsten genutzten Computerspiele befragt. Für alle Spieletitel wurden
nachträglich die jeweiligen Altersfreigaben der USK [...] recherchiert. [...] Die Auswertung der von den
Kindern aktuell gespielten Spiele ergab, dass 3 Prozent der befragten Mädchen und 21,3 Prozent der
Jungen zum Befragungszeitpunkt mindestens ein Spiel spielten, das erst ab 16 freigeben ist bzw. keine
Jugendfreigabe hat. Spiele, die auf dem Index der [...] BPjM [...] stehen, [...] wurden dagegen so gut wie
gar nicht genutzt. In der gesamten westdeutschen Viertklässlerstichprobe ergaben sich nur sieben Fälle, in
denen Kinder ein indiziertes Spiel spielten. Zum Vergleich: Die Nutzung von Computerspielen ohne
Jugendfreigabe, die aber nicht indiziert sind, also in der Öffentlichkeit beworben und ausgestellt werden
dürfen, lag mit zwei Prozent (111 Fälle) unter allen befragten westdeutschen Viertklässlern um ein
Sechzehnfaches höher.840
Ungeachtet dessen, dass die Daten für Viert- und Neuntklässler nicht für andere Altersklassen
repräsentativ sind, wie auch, dass die Erhebungsmethode verdeckt, dass eine im Durchschnitt
marginale Nutzung indizierter Medien durch alle Schüler einer Jahrgangsstufe für einige
Schüler (u.U. gar die sog. gefährdungsgeeigneten Kinder und Jugendlichen) eine umso
intensivere Nutzung bedeuten kann, kann die Frage nach den drei "zurzeit" favorisierten
Computerspielen aber einerseits weder garantieren, dass die Kinder aktuell nicht auch indizierte
Spiele spielten, die nur nicht die ihrerseits zurzeit favorisierte(ste)n Spiele waren, noch dass sie
834
835
836
837
838
839
840
Vgl. SCHULZ/BRUNN/DREYER et al. 2007, S.133.
BRUNN/DREYER/HASEBRINK et al., S.52.
Vgl. THEUNERT/GEBEL/BRÜGGEN et al. 2007, S.84-88.
THEUNERT/GEBEL/BRÜGGEN et al. 2007, S.84.
Vgl. BAIER/PFEIFFER/WINDZIO et al. 2006.
HÖYNCK/MÖßLE/KLEIMANN et al. 2007a, S.1.
HÖYNCK/PFEIFFER 2007.
150
niemals indizierte Spiele gespielt haben. Andererseits liegen von manchen Spielen nicht nur
indizierte, wie auch nicht indizierte Versionen vor, sondern werden die Schüler selbst u.U. nicht
hinreichend zwischen den einzelnen Teilen einer Spieleserie differenziert haben (z.B. zwischen
dem indizierten MAX PAYNE und dem ohne Jugendfreigabe gekennzeichneten MAX PAYNE 2:
THE FALL OF MAX PAYNE),841 so dass eine unverfängliche Spezifizierung der genutzten Spiele
oftmals nicht möglich gewesen sein wird.
Letztlich konnten die Autoren die kolportierte "marginale Nutzung indizierter Spiele durch
Viertklässler"842 nicht belegen und selbst gem. dem Fall, dass sie dgl. hätten tun können, hätte
die skizzierte Methodik nicht demonstrieren können, dass das auch tatsächlich die Folge der
Beschränkungen (und insb. des Werbeverbots) nach § 15 Abs. 1 JuSchG gewesen wäre, so dass
die Spiele nur einen geringen Bekanntheitsgrad (den die Autoren ja de facto gar nicht
kontrollierten) erreichten und i.d.S. nur geringe Chancen gehabt hätten, "zu einem begehrten
Prestigeobjekt zu werden."843 Die Autoren realisieren nämlich selbst im (impliziten) Lichte
dessen, dass Spielefavorisierungen oftmal nur ein relativ flüchtiges Phänomen sind (d.h. dass
die favorisierten Spiele höchstwahrscheinlich auch nur aktuellere Spiele sind), dass den im
Erhebungsjahr nur 32 (gem. den Autoren fälschlicherweise gar nur 29) Indizierungen insg.
2.686 gekennzeichnete Spieleversionen gegenüberstanden, von denen 470 mit "Freigegeben ab
sechzehn Jahren" und 110 ohne Jugendfreigabe gekennzeichnet wurden, so dass bereits dgl.
eine marginale Nutzung indizierter Spiele begründen könnte.844 Tatsächlich entsprechen den 31
Versionen abzgl. diverser Portierungen und Demoversionen (insofern auch die entsprechenden
Vollversionen indiziert wurden) nur 20 Einzeltitel, von denen auch nur 13 Titel (resp. 22
Versionen) im Erhebungsjahr veröffentlicht wurden (die restlichen Versionen wurden bereits
zwischen 2003 und 2004 publiziert, fünf derselben waren gar mit bereits zwischen 1998 und
2004 indizierten Medien im Wesentlichen inhaltsgleich).845 Prägnanter ist aber der Umstand,
dass die BPjM zwischen März und November 2004 nur 10 Spieleversionen, die sieben
Spieletiteln entsprechen, indizierte und auch nur drei der Titel (d.h. acht Versionen) tatsächlich
im selben Jahr publiziert wurden, wie auch, dass bis zum Januar vor der Schülerbefragung keine
weiteren Spiele und erst im Erhebungszeitraum selbst zwei (bereits im Vorjahr publizierte,
inhaltgleiche) Versionen des im März 2004 indizierten (und im Juli desselben Jahres
beschlagnahmten) Spiels MANHUNT indiziert wurden.846 Insofern standen den aktuelleren
gekennzeichneten Spielen gar keine aktuelle(re)n indizierten Spiele gegenüber. Ungeachtet
dessen könnte eine marginale Nutzung indizierter Spiele insb. durch erst 10-jährige aber auch
nur die Folge einer fehlenden Nutzungsmotivation sein, explizitere Gewalt darstellende Spiele
dürften nämlich nicht besonders kinderaffin und insofern i.d.R. für jüngere Kinder (d.h. solche
deutlich unter der Schwelle zur Pubertät) uninteressant sein (ungeachtet des Bekanntheitsgrads
der Spiele).
Tatsächlich wurde die Effizienz der Indizierungsmaßnahme seit 1954 noch nie (probat)
evaluiert, aber der vermeintliche Vorteil einer Indizierung ggü. einem simplen Jugendverbot
nach § 12 Abs. 3 JuSchG (s.u.), nämlich die Unsichtbarmachung der entsprechenden Medien,
dürfte insb. im Lichte der onlineverfügbaren (internationalen) Vermarktung (z.B. Werbeanzeigen, Trailer, Demoversionen, Internetseiten), wie auch der Berichterstattung einschlägiger
Online- und Printmagazine bereits vor der Veröffentlichung (und infolge dessen auch vor der
Indizierung) eines Spiels erodieren.847 Kinder und Jugendliche können indizierte Spiele auch
insofern wahrnehmen, dass bspw. die Magazine nicht nur regelmäßig über aktuelle Spieleindizierungen, wie auch über die Maßnahme der Indizierung (und das Jugendmedienschutzsystem insg.), sondern auch (bspw. im Rahmen der Berichterstattung über für eine Alterskennzeichnungen noch anstehende oder bereits gekennzeichnete, konkrete Spiele) über die für eine
841
842
843
844
845
846
847
Vgl. MPFS 2004, S.31.
HÖYNCK/PFEIFFER 2007.
HÖYNCK/PFEIFFER 2007.
HÖYNCK/PFEIFFER 2007.
Vgl. BAnz. Nr. 40 v. 26.02.2005; Nr. 60 v. 31.03.2005; Nr. 82 v. 30.04.2005; Nr. 98 v. 31.05.2005; Nr. 120 v. 30.06.2005; Nr.
142 v. 30.07.2005; Nr. 186 v. 30.09.2005; Nr. 206 v. 29.10.2005; Nr. 209 v. 05.11.2005 und Nr. 248 v. 31.12.2005.
Vgl. BAnz. Nr. 65 v. 02.04.2004 und Nr. 40 v. 26.02.2005.
Vgl. SCHULZ/BRUNN/DREYER et al. 2007 S.139/144f. und SCHULZ/DREYER 2007a, S.2.
151
Alterskennzeichnung deutscher Spielversionen evtl. notwendigen Selbstzensuren (s.u.)
informieren, so dass das Vorhandensein einer unzensierten Version (unabhängig von einer evtl.
Indizierung) auch für Minderjährige evident sein dürfte (die Attribuierung eines Spiels als
deutsche Version ist tatsächlich bereits oftmals ein Synonym für den Umstand, dass es sich
dabei um eine zensierte Version handelt); das Wissen um Zensuren steigert aber oftmals die
Attraktivität der unzensierten Pendants derselben.848
Aufmerksamkeit für indizierte Spiele kann bei Kindern und Jugendlichen letztlich auch die oftmals skandalisierende (moralpanische) Berichterstattung der Massenmedien über gewaltdarstellende Spiele insg. schaffen.849 Auch dürften spieleinteressierte Jugendliche regelmäßig über
die Indizierung (konkreter Spiele) informiert sein. Dass ist insofern für den Jugendmedienschutz
misslich, dass die Indizierung eines Computerspiels dasselbe andererseits u.U. auch
prädikatisieren, resp. einen Werbe-, resp. Anlockeffekt (sog. forbidden fruit effect)850 zeitigen
könnte. Indizierte Medien sind tatsächlich oftmals regelrechte Kultobjekte. Nach SEIM 2003 ist
auch den Listen der BPjM (nicht überraschend) eine "janusköpfige Doppelfunktion" inhärent:
"Zum einen sollen sie anzeigen, was untersagt ist, zum anderen bringen sie erst diese Objekte
ins öffentliche Bewusstsein und wecken die Neugier, zu erfahren, was man eigentlich nicht
wissen darf […]. Verbote überhöhen die Produkte durch das Hautgout des Skandals. Stets sind
Indices auch 'Einkaufslisten'."851 Die Problematik relativiert auch weder der Umstand, dass der
Index nach § 15 JuSchG nicht zum Zweck der geschäftlichen Werbung abgedruckt oder veröffentlicht werden darf (Abs. 4), noch der, dass im Rahmen geschäftlicher Werbung nicht darauf
hingewiesen werden darf, dass ein Indizierungsverfahren anhängig (gewesen) ist (Abs. 5),
ungeachtet dessen, dass aber "Slogans der Machart 'Jetzt zugreifen, bevor es indiziert ist'"852 u.ä.
nach wie vor zulässig sind, insofern ein Indizierungsverfahren nicht anhängig (gewesen) ist. Die
beiden (dem SchSchmG entnommenen) Regelungen demonstrieren vielmehr, dass der Gesetzgeber sehenden Auges einen evtl. Anlockeffekt der Indizierung in Kauf genommen hat, der u.U.
entsprechende (andernfalls evtl. gar uninteressante) Medien so exponiert, dass eine Indizierung
ggf. nicht fördert, dass sie Medien bei Kindern und Jugendlichen kaum bekannt und kaum
genutzt sind, sondern das Gegenteil dessen. Insofern kann die Indizierung i.d.S. nicht unbedingt
immer, aber oftmals kontraproduktiv, d.h. verfassungsrechtlich ungeeignet (und der vermeintliche Vorteil einer Indizierung ggü. einem simplen Jugendverbot tatsächlich ein Nachteil) sein;
diesbzgl. Studien fehlen aber nach wie vor.
Letztlich soll die Indizierung auch nur eine ggü. dem elterlichen Erziehungsprivileg subsidiäre
Maßnahme sein, kann aber auch als eine paternalistische Konterkarierung desselben interpretiert
werden:853 Die Eltern können die Mediennutzung der eigenen Kinder nicht mehr umfassend
bestimmen, insofern indizierten Medien auch für sie selbst unsichtbar u./o. kaum oder gar nicht
mehr zugänglich sind (s.u.). Zusammengefasst kann der Maßnahme der Indizierung von gewaltdarstellenden Computerspielen keine Geeignetheit i.S.d. Verhältnismäßigkeitsgebots attestierten
werden, sie ist bereits auch insofern verfassungswidrig. Der Gesetzgeber ist prinzipiell zu einer
diesbzgl. Nachbesserung des Jugendmedienschutzrechts verpflichtet.854
11.10.2
Erforderlichkeit der Maßnahme
Die Indizierung ist auch nicht im verfassungsrechtlichen Sinn erforderlich: Die essentielle
Funktion der Maßnahme kann nur der Schutz von Kindern und Jugendlichen vor jugendgefährdenden Medieninhalten sein, die Rechtsfolgen einer Indizierung gehen darüber jedoch
weit hinaus. Das originäre GjS war prinzipiell nur ein literarisches Jugendmedienschutz-
848
849
850
851
852
853
854
Vgl. NIKELE 1996, S.63.
Vgl. RÖTZER 2004; DECKER 2005, S.28 und DAWSON/CRAGG/TAYLOR et al. 2007, S.7.
Vgl. STIX 2009, S.58-89.
SEIM 2003, S.525; vgl. NIKELE 1996. S.98f.; URBAN 1998, S.181; WIEMKEN 2001b, S.60f.; BÜTTNER 2002b, S.7 und
PLACHTA 2002, S.159.
Vgl. BRAUNBART 2001a, S.241.
Vgl. BOSSELMANN 1987, S.9 und SCHORB/THEUNERT 2001, S.12.
Vgl. BVerfGE 49, 89 (131f.) und 95, 267 (314f.).
152
gesetz,855 Kindern und Jugendlichen war z.B. innerhalb von Einzelhandelsgeschäften u.U. der
Zugang zu öffentlich ausgestellten Schriften (d.h. Printmedien) ermöglicht und sie konnten
gleichzeitig direkte Kenntnis von deren (vermeintlich) jugendgefährdenden Inhalten(!) erlangen,
so dass die Verbote des Zugänglichmachens, wie auch der Vorführung der Inhalte an Orten, die
Kindern oder Jugendlichen zugänglich sind oder von ihnen eingesehen werden können,
zumindest z.T. sachdienlich gewesen wären, nicht aber die restlichen Vetriebs-, Vermiet-, Einfuhr- und Werbeverbote (außer dem des § 15 Abs. 5 JuSchG) infolge einer Indizierung. Dem
Gebot, Kinder und Jugendliche nicht mit jugendgefährdenden Inhalten zu konfrontieren, wäre
bspw. nicht erst mit dem Verbot Genüge getan, dass indizierte Medien an den skizzierten Orten
nicht ausgestellt, d.h. nur "unter dem Ladentisch" verkauft werden dürfen, sondern auch bereits
insofern die entsprechenden Medien nur so ausgestellt werden, dass Kindern und Jugendlichen
im Ladengeschäft selbst kein Zugang zu den Inhalten derselben ermöglicht wird (indem die
Medien z.B. eingeschweißt oder in unzugänglichen Vitrinen ausgestellt werden). Aber dgl.
dürfte ggü. programmierten Datenträgern u.ä. nicht notwendig sein; Kinder und Jugendliche
können nämlich nicht bereits durch den Zugang zu dem betreffenden Datenträger innerhalb
eines Geschäfts direkte Kenntnis von dessen Inhalt erlangen.
Insg. stellen die Beschränkungen des § 15 Abs. 1 JuSchG auch nach SCHUMANN 2001 eine
"Überregulierung" dar: "Zum Schutz Jugendlicher vor sie gefährdenden Medien würde
grundsätzlich das Verbot ausreichen, ihnen diese Medien zugänglich zu machen."856 Eine ggü.
der Indizierung eines Computerspiels weniger belastende, den gewünschten Erfolg aber
gleichermaßen (oder gar besser) erreichende Maßnahme stellt i.d.S. bereits § 12 Abs. 3 JuSchG
dar, gem. dem u.a. Spiele, "die nicht […] nach § 14 Abs. 2 von der obersten Landesbehörde […]
gekennzeichnet sind," einerseits "einem Kind oder einer jugendlichen Person nicht angeboten,
überlassen oder sonst zugänglich gemacht werden" (Nr. 1) und andererseits "nicht im Einzelhandel außerhalb von Geschäftsräumen, in Kiosken oder anderen Verkaufsstellen, die Kunden
nicht zu betreten pflegen, oder im Versandhandel angeboten oder überlassen werden" (Nr. 2)
dürfen; jugendgefährdende Spiele dürfen natürlich nicht gekennzeichnet werden (14 Abs. 3
JuSchG). Das präsentierte Jugendverbot ist i.S.d. Erforderlichkeit insg. ein milderes Mittel, so
dass die Indizierungsmaßnahme auch insofern und insb. auch im Lichte der im Folgenden noch
demonstrierten enormen Belastungen der Betroffenen durch die Rechtsfolgen einer Indizierung
(insb. durch das Werbeverbot) unverhältnismäßig ist.
11.10.3
Angemessenheit der Maßnahme
Letztlich überwiegen die Nachteile einer Indizierung auch die Vorteile derselben: Indizierungsproponenten rezitieren zwar regelmäßig die formaljuristischen Rechtsfolgen der Maßnahme,
ignorieren aber die faktischen Konsequenzen derselben, so dass oftmals kolportiert wird, dass
sie bereits insofern verfassungsrechtlich unbedenklich sei, dass Erwachsenen indizierte Medien
nach geltendem Recht zugänglich gemacht werden dürfen,857 Elke MONSSEN-ENGBERDING
argumentierte bspw.: "Erwachsenen sind diese Spiele ja jederzeit zugänglich. Sie können diese
Spiele auf Anfrage unter der Ladentheke, wie das so schön heißt, erwerben, sie können sie in
Läden erwerben, zu denen Kinder und Jugendliche keinen Zutritt haben. Es gibt auch beispielsweise sehr viele Videotheken für Erwachsene, die auch Computerspiele anbieten. […] Darüber
hinaus kann man sie ja auch über den Weg des Versandhandels erwerben […]."858 Auch im
Rahmen von Indizierungentscheiden wird dgl. kolportiert, so schreibt die BPjM in der
Indizierungsentscheidung zum Film EDEN LAKE mit despektierlichem Unterton, dass
Erwachsene, "die unbedingt Wert auf die selbstzweckhaften Gewaltdarstellungen legen,"859 die
verfahrensgegenständliche Fassung ja weiterhin erwerben könnten.
855
856
857
858
859
Vgl. BOSSELMANN 1987, S.V.
Vgl. SCHUMANN 2001, S.87.
Vgl. MEIROWITZ 1993, S.281f..
Zitiert in: LANGE 2008b.
IE Nr. 8781 (V) v. 08.07.2009 (EDEN LAKE).
153
Auch das BVerfG konstatierte bereits am 23.03.1971, dass die Maßnahme verhältnismäßig sei:
Der Gesetzgeber habe durch § 4 Abs. 1 GjS nur mit einem absoluten Verbot belegt, dass
indizierte Medien im Einzelhandel außerhalb von Geschäftsräumen, in Kiosken oder anderen
Verkaufsstellen, die Kunden nicht zu betreten pflegen, im Versandhandel oder in gewerblichen
Leihbüchereien oder Lesezirkeln einer anderen Person angeboten oder überlassen werden, "[…]
mit der Folge, daß auch Erwachsene nicht mittels dieser Vertriebsarten an [...] jugendgefährdende Schriften gelangen können. Würde ein Verbot des Vertriebs im Versandhandel
zusammen mit den übrigen Vertriebsverboten des § 4 Abs. 1 bewirken, daß auch Erwachsene
völlig vom Bezug derartiger Schriften ausgeschlossen wären, so hätte der Gesetzgeber den in
Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG garantierten Rechten nicht Rechnung getragen und seine Regelungsbefugnis im Bereich des Jugendschutzes überschritten. Das ist jedoch nicht der Fall. § 4 Abs. 1
erfaßt nicht sämtliche denkbaren Vertriebsarten; Erwachsenen bleiben noch genügend Möglichkeiten (z.B. im Ladenhandel) zum Bezug der Schriften."860 Das Gericht prüfte die praktischen
(für unterschiedliche Medien nicht überraschend u.U. auch unterschiedlichen) Folgen der Maßnahme aber erst gar nicht: Tatsächlich war der Kioskvertrieb damals das einzige realistische
Vertriebsmodell für Schriften, so dass eine Indizierung faktisch bewirkte, dass auch Erwachsene
mehr oder weniger völlig vom Bezug indizierter Schriften ausgeschlossen waren und auch der
alternative Bezug über den Versandhandel (z.B. direkt über den Verlag) war auch noch absolut
(d.h. ohne eine Ausnahmeregelung, wie sie aktuell erst § 1 Abs. 4 JuSchG formuliert) verboten.
Die Indizierung wirkte also seit Jahrzehnten ggü. einem Gros der primär betroffenen Schriften
(z.B. Comics, Zeitschriften) wie ein (jugendmedienschutzrechtlich nicht legitimierbares)
faktisches Verbot.
Aber im Lichte dessen, dass der stationäre Handel innerhalb von Geschäftsräumen nach wie vor
das dominante Einzelhandelsmodell für den Vertrieb von Computerspielen, resp. für die sinnvolle wirtschaftliche Verwertung derselben darstellt, sind von den Rechtsfolgen der Indizierung
nach § 15 Abs. 1 JuSchG für den Handel mit solchen Spielen nicht die Verbreitungsverbote
außerhalb von Geschäftsräumen (Nr. 3, 4 und 5), sondern die Verbreitungsverbote an solchen
Orten, die Kindern u./o. Jugendlichen zugänglich sind oder von ihnen eingesehen werden
können (Nr. 2 und 4) und insb. das Werbeverbot (Nr. 6) besonders problematisch: Nach
SCHMID 2009 darf bspw. ein Einzelhändler einem Erwachsenen an solchen Orten auch auf
Nachfrage desselben dank des Werbeverbots u.U. selbst "unter dem Ladentisch" keine Liste der
(vorrätigen) indizierten Medien präsentieren, sondern denselben nur auf ausdrückliche Nachfrage nach konkreten indizierten Medien informieren, "ob er sie vorrätig hat oder nicht. Höchstwahrscheinlich hat er sie nicht auf Lager, weil so gut wie niemand danach fragt." Dass so gut
wie niemand nach indizierten Medien fragt, dürfte prinzipiell zwei Gründe haben: Einerseits
kann dank eines gewissen Stigmas, des potenziell Anrüchigen indizierter Medien u.U. bereits
eine solche Nachfrage für den Kunden desavouierend wirken.861 Andererseits ist für solche
Nachfragen ja auch eine gewisse Anzahl diesbzgl. informierter Kunden notwendig – das Vorrätighalten für nur ein paar Auserwählte rentiert sich nicht –, aber dank des Werbeverbots erreichen ja bereits kaum noch oder gar nicht hinreichend viele potenzielle Kunden entsprechende
Information über (die Existenz) indizierte(r) Medien.
Irma KEILHACK (SPD), Hauptrednerin der SPD in der dritten Lesung des Entwurfes für das
GjS, prognostizierte bereits in der 230. Sitzung des Deutschen Bundestages am 17.09.1952, dass
die Werbeverbote eine eklatante Gefahr für die Meinungs- und Informationsfreiheit
Erwachsener darstellen könnten.862 Selbst das BVerwG artikulierte Bedenken ggü. dem Werbeverbot, "ob es noch 'das gebotene und adäquate Mittel zum Schutz der Jugend' ist [...],
insbesondere ob es der in Art. 5 Abs. 1 GG garantierten Informationsfreiheit der Erwachsenen
ausreichend Rechnung trägt. Das Werbeverbot kommt bei Einzelerzeugnissen, insbesondere
Büchern, Schallplatten und Filmen, praktisch einem Verbot des Werkes gleich [...]. Darin liegt
eine sehr weitgehende Einschränkung der Informationsfreiheit Erwachsener. Es ist […] nicht
ersichtlich, daß das Verbot jedweder Form der Werbung, etwa auch solcher, die sich nach
860
861
862
BVerfGE 30, 336 (348).
Vgl. BARSCH 1988, S.37.
Vgl. BUCHLOH 2002, S.116.
154
Inhalt, Aufmachung und Verbreitungsart an Erwachsene richtet und selbst nicht jugendgefährdend ist, zum Schutz der Jugend geboten sein könnte."863 Das obligatorische Gegenargument der Indizierungsproponenten, dass das Werbeverbot nicht der Zweck, sondern nur die
Rechtsfolge der Indizierung sei, ignoriert die Problematik, dass das Verbot so oder so die
Freiheit der Berichterstattung unterminiert.
Einschlägige Print-, wie Onlinemagazine sind bspw. nach wie vor eine der primären
Informationsquellen über Computerspiele, die aber über indizierte Medien nur eingeschränkt
berichten (können): Positive (aber ungeachtet dessen u.U. auch kritische) Rezensionen
indizierter Medien u.ä. können bereits als verbotene Werbung interpretiert werden,864 so das die
Magazine dank des Verbots selbst gegenstandsneutraler Werbung auch prinzipiell objektive
Verkaufscharts, Berichte über Preisverleihungen etc. zensieren, die Namen indizierter Spiele
entfernen, dieselben germanisieren, ähnliche Fantasienamen (z.B. "Hundefelsen 4E", "Wolkenheim 3D" u.ä. statt WOLFENSTEIN 3D)865 kreieren oder pro forma konstatieren, dass sie (ggf.)
ausschl. die deutsche, nach § 14 JuSchG gekennzeichnete (und insofern nach § 18 Abs. 8
JuSchG nicht mehr indizierbare) und nicht die nicht gekennzeichnete Version eines Spiels
thematisieren. Magazine, die für indizierte Medien werben, verstoßen nämlich nicht nur gegen §
27 JuSchG, sondern können u.U. selbst (auch dann, wenn die Magazine bereits vor der
Indizierung des Spiels publiziert wurden) indiziert werden (die Werbung für jugendgefährdende
Medien ist nämlich selbst jugendgefährdend); dass ist insb. für Printmagazine brisant: Die
BPjM kann nach § 22 Abs. 1 JuSchG die automatische Vorausindizierung aller Folgen eines
periodisch erscheinenden Trägermediums auf die Dauer von drei bis zwölf Monaten ab der
nächsten Folge entscheiden (ungeachtet der tatsächlichen Inhalte der vorausindizierten Folgen),
"wenn innerhalb von zwölf Monaten mehr als zwei seiner Folgen indiziert worden sind. Dies
gilt nicht für Tageszeitungen und politische Zeitschriften."866 Eine solche Vorausindizierung ist
aber im vereinfachten Verfahren nicht möglich (§ 23 Abs. 2 JuSchG). Die Indizierung auch nur
einer einzigen Ausgabe (so dass sie ja u.a. nicht mehr in Kiosken vertrieben werden darf) ist
aber u.U. bereits der ökonomische Exitus eines Periodikums,867 ggf. gar des Verlages.
Relativiert wird die Problematik im Bereich der Computerspielemagazine seit ein paar Jahren
aber durch die zunehmende Bedeutung der Onlinemagazine, so dass auch über potentielle
Indizierungskandidaten erst gar nicht mehr in den Printmagazinen, sondern nur noch den
Onlinependants derselben berichtet wird und die entsprechenden Berichte im Falle einer
Indizierung einfach (und für die Informationsfreiheit misslich) entfernt oder ggf. in geschlossene Benutzergruppen (i.S.v. § 4 Abs. 2 JMStV) transferiert werden. Schlechterdings werden
solche Magazine aber für die Leser ggü. der internationalen (auch deutschsprachigen) Konkurrenz natürlich unattraktiver.
Die Umsatzeinbußen im Falle einer Indizierung sind i.d.R. drastisch:868 Durch den Wegfall
eines Gros des Einzelhandels fehlen dem Vertrieb nicht nur die Umsätze durch den Verkauf,
sondern sind auch Werbeauftritte im Vor- und Umfeld der Distribution vergeudetes Kapital,
ungeachtet einer evtl. zusätzlichen Stigmatisierung der Betroffenen. I.d.S. konstatierte u.a.
STATH 2006, dass die praktischen Konsequenzen einer Indizierung gravierender als die gesetzlichen sind: "Durch das […] umfassende öffentliche Werbeverbot ist es für viele Vertreiber
wirtschaftlich überhaupt nicht mehr sinnvoll, an der Produktion und am Vertrieb eines
indizierten Mediums festzuhalten. Eine Indizierung bedeutet für das betroffene Medium in aller
Regel den wirtschaftlichen Tod […]."869 Infolge dessen haben die Hersteller von Computerspielen indizierungsgefährdete Spiele für den deutschen Markt oftmals zensiert oder gar nicht
863
864
865
866
867
868
869
BVerfGE 39, 197 (201); vgl. BVerwG, Urt. v. 07.12.1966, Az.: V C 47.64; SEIM 1998, S.73 und BUCHLOH 2002, S.88.
Bzgl. einer detaillierten Kritik des Werbeverbots insg. und insb. auch der Verfassungswidrigkeit des Verbots im Rahmen öffentlicher Filmveranstaltungen s. DEGENHART 2008, S.67-73.
Vgl. BRAUNBART 2001c, S.232 und FROMM 2002, S.90. Bzgl. der (rechtlichen) Situation im Falle von sog. "Fansites" s.
die entsprechende Expertise von Thorsten FELDMANN in WIESNER 2003, S.5.
Vgl. KLIX 2012, S.1.
Diesbzgl. detaillierter auch STUMPF 2009, S.239-245.
Vgl. BUCHLOH 2002, S.88f. und STATH 2006, S.186.
Vgl. VOREGGER 2000; WIEMKEN 2001b, S.61; SCHULZ/BRUNN/DREYER et al. 2007, S.133.
STATH 2006, S.181; Vgl. BÜTTNER/GOTTBERG 1995, S.12; SEIM 1998, S.49; SEIM 2000, S.2ff.; VOLLBRECHT 2001,
S.42f.; STATH 2006, S.181f. und SCHULZ/DREYER 2007a, S.2.
155
erst in Deutschland veröffentlicht, seit Inkrafttreten des JuSchG generiert aber eine erfolgreiche
Teilname am Altersfreigabeverfahren nach § 14 JuSchG einen Schutz vor Indizierungen (§ 18
Abs. 8 JuSchG), wie auch bspw. einen unvermeidbaren Verbotsirrtum ggü. § 131 StGB, so dass
die Vertriebe aus Gründen der Planungssicherheit am Verfahren teilnehmen müssen, selbst gem.
dem Fall, dass sie nur Spiele für Erwachsene distribuieren wollen. Die Teilnahme an dem
Verfahren wird aber auch im Lichte des § 15 Abs. 2 JuSchG notwendig, gem. dem auch schwer
jugendgefährdende Medien denselben Beschränkungen unterliegen, wie expl. indizierte Medien,
"ohne dass es einer Aufnahme in die Liste und einer Bekanntmachung bedarf […]."
Infolge der Opazität des Tatbestands der schweren Jugendgefährdung, die den Behörden
prinzipiell eine willkürliche Handhabung desselben ermöglicht, können solchen Händlern, die
bereits nicht gekennzeichnete Spiele (ohne privatrechtliche Absicherung) nicht wie indizierte
Medien behandeln, u.U. fahrlässige oder gar mit Eventualvorsatz begangene (nach § 27 JuSchG
strafbare) Verstöße gegen die Beschränkungen oder ggf. gar gegen § 131 StGB vorgeworfen
werden! Der Handel benötigt insofern aus offensichtlichen Gründen eine Absicherung vor einer
Strafbarkeit, wie sie für Spiele eine Kennzeichnung im Rahmen des Altersfreigabeverfahrens
darstellt und verzichtet i.d.R. auf den Verkauf nicht gekennzeichneter Spiele.870 Ein Problem ist
aber der Umstand, dass für eine solche Kennzeichnung bereits oftmals (bereits vor der Teilnahme an dem Verfahren) Zensuren selbst von Spielen, die nur Erwachsenen zugänglich
gemacht werden sollen, notwendig werden (s.u).871
Kurioserweise stellen aber SCHULZ/BRUNN/DREYER et al. 2007 den Umstand als positiv
i.S.d. Jugendmedienschutzes dar, dass dank der Indizierungsmaßnahme selbst Spiele für
Erwachsene in Deutschland entweder nicht oder nur zensiert veröffentlicht werden:872 Die
Autoren argumentieren, dass die Maßnahme "Anreize" für die Wirtschaft schaffen solle, "an den
Selbstkontrollverfahren teilzunehmen, um bei Spielen, die die Indizierungskriterien nicht
erfüllen, eine Kennzeichnung schon vor dem in Verkehrbringen des Trägermediums zu
erreichen."873 Die Argumentation ignoriert aber, dass u.a. für Spielprogramme seit Inkrafttreten
des JuSchG bereits ein generelles Jugendverbot mit Erlaubnisvorbehalt existiert (§ 12 Abs. 1
JuSchG), so dass die Wirtschaft an den Selbstkontrollverfahren teilnehmen muss, um Kinderund Jugendmedien zielgruppenorientiert publizieren zu können. Nach § 12 Abs. 3 Nr. 1 JuSchG
dürfen u.a. Bildträger, "die nicht […] von der obersten Landesbehörde […] gekennzeichnet
sind, […] einem Kind oder einer jugendlichen Person nicht angeboten, überlassen oder sonst
zugänglich gemacht werden […]." D.h. dass nicht gekennzeichnete Spiele, die als einzige
überhaupt noch indizierungsfähig sind, bereits ausschl. Erwachsenen zugänglich gemacht
werden dürfen; eine Indizierung erfasst also ausschl. Erwachsenenspiele! Die Argumentation
ignoriert i.d.S., dass es kein (jugendschutzrechtlich) legitimer Zweck sein kann, die Wirtschaft
vor dem Inverkehrbringen eines Erwachsenenmediums zu der Teilnahme an einem Freigabeverfahren zu nötigen. Letztlich dürfte die Indizierungsmaßnahme faktische Zensur darstellen,
die eine Selbstzensur der potenziell Betroffenen evoziert.
Dass das Straf- und Existenzrisiko für die Betroffenen natürlich Selbstzensurzwänge hervorruft,
dürfte nicht nur offensichtlich sein, sondern demonstrierte bereits die Erfahrungen mit dem
SchSchmG,874 so dass dem Gesetzgeber vorgeworfen werden kann, dass er eine solche Wirkung
der Indizierungsmaßnahme nicht nur sehenden Auges in Kauf nahm, sondern gar intendierte.875
870
871
872
873
874
875
Vgl. SCHULZ/DREYER 2007a, S.2.
Vgl. WIEMKEN 2001b, S.61 und HÖYNCK/PFEIFFER 2007, S.92.
Vgl. SCHULZ/BRUNN/DREYER et al. 2007, S.133.
SCHULZ/BRUNN/DREYER et al. 2007, S.132.
Vgl. NIKLES 2002, S.122.
Bereits Emil KEMMER, Hauptredner der CDU/CSU-Fraktion in der dritten Lesung des GjS, wollte durch das Druckmittel der
Indizierung eindeutig eine Selbstzensur der Betroffenen erzwingen (vgl. BUCHLOH 2002, S.97f.). Die BPjM selbst
demonstriert diesbzgl. kaum Selbstreflexion. Im Rahmen einer Selbstdarstellung der eigenen Geschichte bramarbasiert sie
z.B.: "Seit Aufnahme ihrer Prüftätigkeit hat die BPjM Medien aus den unterschiedlichsten Gründen indiziert. Obwohl sich die
Antragspraxis im Laufe der Jahre mehr und mehr auf Prüfobjekte im Gewaltbereich verlagert hat, ist die BPjM auch in den
50er- und 60er Jahren schon gegen Gewaltmedien tätig geworden. So wurden bereits in den ersten Jahren verrohend wirkende
Comics und Schriften indiziert: Das erste Gewalt-Comic, das in die Liste der jugendgefährdenden Schriften aufgenommen
156
Die skizzierten, jugendmedienschutzrechtlich nicht legitimierbaren Wirkungen der Maßnahme
sind nicht lediglich ungewollte Nebenwirkungen derselben: Nach HÖYNCK/PFEIFFER 2007
ist die "Zerstörung von Marktchancen" der "Haupteffekt"876 der Maßnahme und nach Christian
PFEIFFER stellt die Indizierung insofern eine "Erziehungsmaßnahme des Staates gegenüber der
Industrie"877 dar. Das indizierte und auch bereits nur potenziell (vermeintlich) jugendgefährdende Medien entweder nicht oder nur zensiert veröffentlicht werden, resp. die generelle
Unrentabilität jugendgefährdender Medien wurde tatsächlich bereits auch als offizielles Ziel der
Maßnahme dargestellt.878 Dass ein solches Ziel den vermeintlichen Anspruch, dass indizierte
Medien Erwachsenen jederzeit zugänglich sein sollen, konterkariert, dürfte offensichtlich sein.
Die Indizierung verstößt (als Maßnahme erzwungener Kulturhygiene) auch i.d.S. gegen den
Verhältnismäßgkeitsgrundsatz im engeren Sinne, bzw. gegen das Übermaßverbot.
12.
Die Alterskennzeichnung von Computerspielen
Das System der Altersfreigaben für Computerspiele hat seinen Ursprung in der preußischen
Filmzensur des deutschen Kaiserreiches: Nach Paragraph 10 II 17 des Allgemeinen Landrechts
für die preußischen Staaten war u.a. die "Erhaltung der öffentlichen Ruhe, Sicherheit und
Ordnung" das Amt der Polizei. Ortspolizisten frequentierten i.d.S. regelmäßig öffentliche Filmveranstaltungen und konnten die öffentlichen Ruhe, Sicherheit und Ordnung vermeintlich
gefährdende Filme zensieren oder gar verbieten. Bereits die Polizeiverordnung des Polizeipräsidenten zu Berlin betreffend die Kinematographenzensur und Dauer der Vorstellungen v.
05.05.1906 installierte in Berlin erstmalig ein Verbot mit Erlaubnisvorbehalt für Filme in
Deutschland.879 Die Verordnung war der Ausgangspunkt für die Verfügung vom 16. Dezember
1910 betr. die Ausübung der Zensur gegenüber öffentlichen kinematographischen Schaustellungen des preußischen Innenministers Nikolaus M. L. J. von DALLWITZ, die die ordnungspolizeiliche Vorzensur in ganz Preußen installierte. Die restlichen der 19 Reichsglieder installierten ähnliche Zensursysteme. Die Anwesenheit bei öffentlichen Filmveranstaltungen durfte
Kindern und Jugendlichen z.T. bereits damals nur gestattet werden, wenn die Filme zur
Vorführung für ihre Altersstufe freigegeben worden waren,880 aber natürlich war nach wie vor
auch die generelle Erwachsenenzensur oder gar das absolute Verbot eines Films prinzipiell
zulässig.
Nach dem 1. Weltkrieg (und der zwischenzeitlichen Kontrolle der Filmzensur durch die
Militärbehörden) verkündete der Rat der Volksbeauftragten infolge der Novemberrevolution am
12.11.1918 mit Gesetzeskraft: "Eine Zensur findet nicht statt." Filmzensuren waren aber
regional, wie lokal nach wie vor bspw. über Verordnungen möglich, so dass ein erster Entwurf
einer Verfassung des Deutschen Reichs vom 17.02.1919 nach § 32 Abs. 2 desselben noch
876
877
878
879
880
wurde, war ein illustriertes Westernheftchen, in dem Grausamkeiten, Verbrechen und Gewalttaten zumindest nach damaliger
Ansicht derart in den Mittelpunkt gerückt wurden, dass die Lektüre auf Jugendliche verrohend wirken konnte." (BPjM 2010b)
Eines der ohne jede Ironie als "Gewalt-Comic" diskreditierten "Westernheftchen" war der zwölfte Bd. des Comics DER KLEINE
SHERIFF, den die BPjS als erstes von drei Prüfobjekten (ausnahmslos Comics) überhaupt am 09.06.1954 indizierte, die
Indizierungsgründe waren nach GUNKEL 2009b abenteuerlich: "CDU-Bundesinnenminister Gerhard Schröder empfand die
Abenteuer des Comic-Helden der fünfziger Jahre als 'nervenaufpeitschend und verrohend'. Die Zeichnungen seien das
'Ergebnis einer entarteten Phantasie', sie könnten Jugendliche in eine 'unwirkliche Lügenwelt' versetzen und 'förderten die
geistige Trägheit'. [...] Die Sittenwächter bemängelten die 'abstoßenden Physiognomien der Banditen' und waren entsetzt über
den 'grauenhaften' Tod eines Gauners, der 'nach einem aufregenden Kampf mit Raubvögeln in eine Felsenschlucht stürzt'. Die
Prüfer störten sich auch an der schnoddrige, rüde Sprache: Sätze wie 'Ihr Schakale', 'verdammte Mörder' oder 'Du Lümmel'
waren nicht akzeptabel." Die in der Literatur oftmals als humoreske Kuriositäten dargestellten Indizierungsexzesse waren für
die Betroffenen allerdings nicht besonders komisch, sondern zwangen die Betroffenen zu umfangreichen Selbstzensuren, um
ein Vertriebsverbot an den für den Handel mit Comics essentiellen Kiosken zu vermeiden (vgl. SEIM 2004). Die BPjS war
i.d.S. Teil einer eines moralpanischen Trends ggü. Comics, der auch die USA erfasst hatte und für den WERTHAM 1954 ein
Paradebeispiel darstellte. MERTEN 1999 resümierte den Inhalts des Pamphlets: "Die Rezeption von Comics fördere Libertinage, eine verstellte Wirklichkeit, Homosexualität und Gewaltanwendung […]. Comics seien wegen der offen dargestellten
Gewaltanwendung letztlich auch für die großen Rassenunruhen in New York Anfang der 50er Jahre verantwortlich zu machen
[…]. Die wissenschaftliche Prüfung der Untersuchungsergebnisse von Wertham fiel allerdings für Wertham verheerend aus: Vor
allem wurde moniert, dass die gesamte Datenerhebung wissenschaftlichen Standards in keiner Weise gerecht werde." (S.166)
Bzgl. einer Kritik s. auch LOWERY/DEFLEUR 1983, S.261-265
HÖYNCK/PFEIFFER 2007, S.92 und vgl. SPRUNG 2009, S.2.
Zitiert in: BT-Wortprotokoll Nr. 16/10 d. UA Neue Medien, S.21.
Vgl. STEFEN/ADAMS 1988a, S.269 und BT-Drs. 13/11001, S.54.
Vgl. LOIPERDINGER 2004, S.526.
Vgl. SCHORB 1994, S.151.
157
"insbesondere auch eine Vorprüfung von […] Lichtspielvorführungen" verbieten wollte.881 Im
Lichte allg. Ressentiments ggü. den Filmemachern, wie auch den Rezipienten, formulierte Art.
118 WRV vom 11.08.1919 aber letztlich das Gegenteil: "Eine Zensur findet nicht statt, doch
können für Lichtspiele durch Gesetz abweichende Bestimmungen getroffen werden."882 Eine
davon abweichende Regelung war das RLG vom 12.05.1920,883 das einerseits nach § 1 ein allg.
Verbot mit Erlaubnisvorbehalt für öffentliche Filmveranstaltungen installierte, andererseits
bedurften nach § 3 alle Filme, zu deren Vorführung minderjährige Kinder und Jugendliche unter
18 Jahren zugelassen werden sollten, einer besonderen Zulassung (Abs. 1); u.a. durften Filme,
die "schädliche Einwirkung auf die sittliche, geistige oder gesundheitliche Entwicklung oder
eine Überreizung der Phantasie der Jugendlichen" zeitigen konnten, nicht i.d.S. zugelassen
werden (Abs. 2) und auch Kinder unter sechs Jahren durften zu Filmvorführung generell nicht
zugelassen werden (Abs. 4). Über die Zulassung eines Films entschieden nach § 8 RLG drei
dem Reichsinnenminister unterstehende Behörden: Je eine Prüfstelle in Berlin und München,
wie auch eine Oberprüfstelle für Revisionen in Berlin (Abs. 2).884 Nach heutiger (wie auch
bereits nach zeitgenössischer) Auffassung diente das Gesetz insb. der politischen Zensur,885
auch unter dem Deckmantel eines angeblichen Jugendmedienschutzes. Das nationalsozialistische RLG vom 16.02.1934 zentralisierte zwar die Filmprüfung in Berlin und
präzisierte auch die Zulassungsvoraussetzungen für eine eine Jugendfreigabe, das Gesetz wurde
aber infolge der Gleichschaltung der Filmindustrie durch die RKK praktisch irrelevant.886 Nach
dem 2. Weltkrieg wurde das RLG durch das Kontrollratsgesetz Nr. 60 vom 19.12.1947
aufgehoben.887
Nach der Gründung der Bundesrepublik propagierten die CSU-Fraktion und Franz J. STRAUß’
(CSU) Bundestagsausschuß für Fragen der Jugendfürsorge am 10.11.1949 im Rahmen der 24.
Sitzung des Deutschen Bundestages nicht nur ein neues SchSchmG, sondern präsentierten auch
einen an den Filmzensurgesetzen diverser deutscher Reichsglieder vor dem 1. Weltkrieg und
den Jugendschutzverordnungen des stellvertretenden militärischen Generalkommandos während
desselben, wie auch insb. am RLG orientierten ersten Entwurf eines Gesetzes zum Schutze der
Jugend in der Öffentlichkeit (JÖSchG);888 der geänderte Entwurf wurde letztlich Gesetz, am
04.12.1951 verkündet und trat bereits am 04.01.1952 in Kraft.889 Nach § 6 des Gesetzes durften
gem. Abs. 1 zu öffentlichen Filmveranstaltungen nur noch Kinder bis zu 10 Jahren zugelassen
werden, insofern die Filme als jugendfördernd anerkannt waren (Nr. 1), Kinder und Jugendliche
im Alter von 10 bis 16 Jahren durften zu Filmveranstaltungen auch zugelassen werden, insofern
Filme als geeignet zur Vorführung vor Jugendlichen anerkannt waren (Nr. 2). Nach Abs. 2
hatten ausschl. die Obersten Landesjugendbehörden (OLJB) das Recht zur Anerkennung für
ihren jeweiligen Bereich. Die OLJB hätten i.d.S. einerseits binnen Monatsfrist bspw. eigene
Filmprüfstellen installieren müssen, andererseits hätten unterschiedliche Anerkennungen
zwischen den Bundesländern nicht nur die Effizienz, sondern auch die Plausibilität des Jugendmedienschutzes unterminiert. Im Lichte dessen, wie auch aus Gründen der Kostenersparnis,
erließen die einzelnen Bundesländer provisorische Verwaltungsvorschriften, so dass bis zum 31.
03.1952 u.a. alle Filme als zugelassen galten, die die bereits 1949 gegründete Freiwillige Selbstkontrolle der Filmwirtschaft (FSK) entsprechend freigegeben hatte.890 Im Lichte dessen, dass
die OLJB das Recht auf Anerkennung von Filmen aber einer gemeinsamen Stelle übertragen
wollten, integrierte die FSK nicht nur Vertreter der OLJB in die Prüfausschüsse, sondern hatte
den OLJB auch ein Recht auf Appellation eingeräumt, so dass eine gemeinsame Stelle obsolet
881
882
883
884
885
886
887
888
889
890
Vgl. PRUYS 1997, S.66.
Vgl. LOIPERDINGER 2004, S.527f. und NESSEL 2004, S.105-108.
Vgl. DICKFELDT 1979, S.31-34; KOLFHAUS 1994, S.142f. und GOTTBERG 1999, S.34f..
Bzgl. einer detaillierteren Darstellung des RLG s. auch PLACHTA 2006, S.154-159.
Vgl. LOIPERDINGER 2004, S.530.
Für eine detaillierte Darstellung der Filmzensur im 3. Reich s. LOIPERDINGER 2004, S.536f..
Vgl. GOTTBERG 1999, S.36; PLACHTA 2006, S.184-187; UHLENBROCK 2006, S.14 und KASPAREK 2007, S.24.
Vgl. BT- Drs. I/180; DICKFELDT 1979, S.131f.; KIENZLE 1980, S.23 und LIESCHING 2002, S.62.
Vgl. BT-Drs. I/2389; DICKFELDT 1979, S.134; LIEVEN 1994, S.167 und UHLENBROCK 2006, S.8.
Vgl. GOTTBERG 2002, S.33f. und KASPAREK 2007, S.37. Bzgl. einer detaillierten Geschichte der FSK s. GOTTBERG
1999, S.36f.; BUCHLOH 2002, S.191f.; LOIPERDINGER 2004, S.538f.; UHLENBROCK 2006, S.13-17 und KASPAREK
2007, S.24ff..
158
wurde; seitdem ist die FSK aber auch keine Organisation der freiwilligen Selbstkontrolle
mehr.891
Das erste Gesetz zur Änderung des Gesetzes zum Schutze der Jugend in der Öffentlichkeit vom
27.07.1957 änderte den § 6 JÖSchG maßgeblich: Seitdem dürfen Kinder und Jugendliche zu
öffentlichen Filmveranstaltungen nur noch zugelassen werden, wenn die Filme von der OLJB
für ihre Altersstufe freigegeben worden sind (Abs. 2); Filme konnten nach Abs. 3 ab 6, ab 12,
ab 16 oder ab 18 Jahren freigegeben werden (Abs. 4). Filme, die vermeintlich geeignet waren,
"die Erziehung von Kindern und Jugendlichen zur leiblichen, seelischen oder gesellschaftlichen
Tüchtigkeit zu beeinträchtigen," (Abs. 3) durften nicht zur Vorführung vor diesen freigegeben
werden.892 Seit Inkrafttreten des JÖSchNG am 25.02.1985 durften nach § 7 Abs. 1 JÖSchG
auch bespielte Videokassetten, Bildplatten und vergleichbare Bildträger einem Kind oder
Jugendlichen in der Öffentlichkeit nur noch zugänglich gemacht werden, "wenn die Programme
von der Obersten Landesbehörde für ihre Altersstufe freigegeben und gekennzeichnet worden
sind." Die OLJB konnten Filme aber seitdem auch als "Freigegeben ohne Altersbeschränkung"
(§ 6 Abs. 3 Nr. 1 JÖSchG) kennzeichnen.893 Seitdem sind die diesbzgl. Prüfungsvoten der FSK
als solche einer gutachterlichen Stelle von den OLJB mittels einer Ländervereinbarung als
eigene Entscheidungen aller OLJB übernommen und die Filme von ihnen gekennzeichnet.894
Das JuSchG transferierte am 01.03.2003 letztlich das Jugendverbot mit Erlaubnisvorbehalt des
JÖSchG für bespielte Videokassetten, Bildplatten und vergleichbare Bildträger auf trägermediale Computerspiele, wie bereits bereits seit 1999 diskutiert wurde.895
12.1
Das Jugendverbot mit Erlaubnisvorbehalt
Nach § 12 Abs. 1 JuSchG dürfen seitdem u.a. für die Wiedergabe auf oder das Spiel an
Bildschirmgeräten mit Spielen programmierte Datenträger einem Kind oder Jugendlichen in der
Öffentlichkeit nur zugänglich gemacht werden, "wenn die Programme von der obersten Landesbehörde […] für ihre Altersstufe freigegeben und gekennzeichnet worden sind oder wenn es
sich um Informations-, Instruktions- und Lehrprogramme handelt, die vom Anbieter mit 'Infoprogramm' oder 'Lehrprogramm' gekennzeichnet sind." Vorsätzliche, wie auch fahrlässige
Verstöße gegen das Verbot können nach § 28 JuSchG als Ordnungswidrigkeit mit einer Geldbuße bis zu 50.000 Euro geahndet werden (Abs. 5), dies gilt aber weder für personensorgeberechtigte Personen, noch solche Person, die im Einverständnis mit den personensorgeberechtigten Personen handeln (Abs. 4 Satz 2).
Die OLJB haben seit Inkrafttreten des JuSchG mittels einer Vereinbarung über die
Kennzeichnung von mit Spielen programmierten Bildträgern nach § 14 Abs. 6 Jugendschutzgesetz ein gemeinsames Verfahren für die Freigabe und Kennzeichnung der Spielprogramme
auf der Grundlage der Ergebnisse der Prüfung durch eine ehem. Organisation freiwilliger
Selbstkontrolle vereinbart: Die bereits 1994 gegründete (organisatorisch an der FSK orientierte)
Unterhaltungssoftware Selbstkontrolle (USK),896 die bereits seit Jahren auf freiwilligen Antrag
der Rechtsinhaber die Computerspiele derselben prüfte und ggf. unverbindliche Altersempfehlungen erteilte,897 dient den OLJB seitdem für die Prüfung von Computerspielen als gutachterliche Stelle. Nach Art. 1 der Ländervereinbarung sind die Prüfungsvoten der USK mit der
Unterzeichnung durch einen sog. Ständigen Vertreter der OLJB bei der USK als eigene
Entscheidung aller OLJB übernommen und die Spiele von ihnen gekennzeichnet,898 insofern
891
892
893
894
895
896
897
898
Vgl. GOTTBERG 1999, S.37ff..
Vgl. DICKFELDT 1979, S.29/136f. und LIESCHING 2002, S.43.
Vgl. LIEVEN 1994, S.173; PRUYS 1997, S.71 und UHLENBROCK 2006, S.17.
Vgl. KASPAREK 2007, S.59-63. Bzgl. der verwaltungsrechtlichen Formalitäten s. SUFFERT 2002, S.35f..
Bzgl. einer Entwicklungsgeschichte des JÖSchG bis zu den finalen Entwürfen eines JuSchG s. NIKLES 2002, S.119ff..
Vgl. GOTTBERG 2002, S.41.
Vgl. BRAUNBART 2001a, S.241; DECKER 2005, S.86f. und SPIELER 2007, S.1.
Die OLJB haben nach Art. 4 der Ländervereinbarung auch die zwischen dem 01.04.1994 und dem 31.03.2003 von der USK
bereits erteilten (privatrechtlichen) Altersempfehlungen als eigene Freigaben und Kennzeichnungen nach § 14 Abs. 2 Nr. 1 bis
4 JuSchG übernommen, das gilt aber einerseits nicht für die von der Bundesprüfstelle indizierten Computerspiele mit einer
solchen Altersempfehlung (Abs. 1) und andererseits nicht für die von der USK erteilten Empfehlungen "Nicht geeignet unter
18 Jahren" (Abs. 2); letzteres entsprach ca. 4,1 % aller der seit 1994 geprüften Spiele (vgl. WILLMANN 2003a). Spiele-
159
einzelne OLJB für ihre Bereiche keine abweichenden Entscheidungen treffen (§ 14 Abs. 6
JuSchG); dgl. ist aber noch nie passiert.
12.2
Die Besetzung der Prüfausschüsse und das Prüfverfahren der USK
Die USK operiert im Rahmen der gesetzlichen Bestimmungen auf Basis der sog. Grundsätze
der USK (USK-Grs): Die Prüfausschüsse der USK sollen nach § 20 Abs. 1 USK-Grs mit
Spielen programmierte Bildträger für die OLJB darauf prüfen, "ob die Voraussetzung einer
Freigabe und Kennzeichnung nach § 14 JuSchG gegeben sind und welcher Altersgruppe sie
zugänglich gemacht werden dürfen." Nach § 10 USK-Grs prüft die USK die Computerspiele
prinzipiell nur auf Antrag der Rechteinhaber derselben (Abs. 1). Die nicht öffentlichen
Prüfungen bestehen aus einer Präsentation des Prüfgegenstandes durch den Testbereich der
USK für den zuständigen Prüfausschuss, wie der Beratung und Beschlussfassung des
Ausschusses (Abs. 3). Die Prüfung erfolgt i.d.R. durch den sog. Regelausschuss (§ 13 USKGrs),899 dem vier Jugendschutzsachverständige, wie auch der Ständige Vertreter der OLJB als
Vorsitzender angehören (§ 7 Abs. 2 USK-Grs). Nach § 8 USK-Grs sind die Prüfer nicht an
Weisungen gebunden und die Beschlussfassungen vertraulich (Abs. 2), alle Ausschüsse
entscheiden mit Stimmenmehrheit, Stimmenthaltungen sind unzulässig (Abs. 4). Die Jugendschutzsachverständigen sind nach § 5 Abs. 3 USK-Grs so auszuwählen sind, "dass durch ihre
berufliche Erfahrung und durch ihre Ausbildung sichergestellt ist, dass ihre Altersempfehlungen
auf Fachwissen und Urteilsvermögen beruhen. Sie sollen Erfahrungen im Umgang mit Kindern
und Jugendlichen haben sowie über umfassende Medienkompetenz verfügen. Die Jugendschutzsachverständigen dürfen nicht bei einem Wirtschaftsunternehmen im Bereich der
Computer- und Videospielindustrie beschäftigt sein." Ziel der Prüfung ist die Erstellung eines
Gutachtens, das dem Ständigen Vertreter der OLJB eine konkrete Alterskennzeichnung oder
Nichtkennzeichnung eines Spiels empfiehlt.
Gegen eine Entscheidungen des Regelausschusses kann nach § 14 USK-Grs auf Antrag der
Anbieter oder des Ständigen Vertreters der OLJB ein Berufungsverfahren stattfinden (Abs. 1);
die angefochtene Entscheidung darf auf Berufung der ersteren aber nicht zum Nachteil derselben geändert werden (Abs. 5). Dem Berufungsausschuss gehören vier (nicht im Regelverfahren
mit der Prüfung befasste) Jugendschutzsachverständige und der durch den Beirat ernannte
Vorsitzende des Ausschusses an (§ 7 Abs. 3 USK-Grs). Seit 2006 finden erstmals durch die
Anbieter beantragte Berufungsverfahren statt;900 bis Ende 2012 gab es 126 Berufungsverfahren,
die Antragstellungen durch den Ständigen Vertreter der OlJB und durch die Anbieter sind aber
wie die Entscheide zugunsten oder zuungunsten der Anträge relativ ausgeglichen.
Gegen eine Entscheidung des Berufungsausschusses kann nach § 15 USK-Grs jede der OLJB
und können (im Einvernehmen mit dem Anbieter) die in der USK beteiligten Wirtschaftsverbände eine erneute Prüfung im Rahmen des Appellationsverfahrens verlangen (Abs. 1). Dem
Appellationsausschuss gehören der Vorsitzende desselben, vier durch die OLJB benannte Mitglieder und zwei (bislang nicht am Prüffall beteiligte) Jugendschutzsachverständige an (§ 7 Abs.
4 USK-Grs). Das erste Appellationsverfahren fand 2011 auf Antrag der bayerischen OLJB noch
nach der a.F. der USK-Grs statt (s. Kapitel 25), seitdem fanden nach der aktuellen Fassung der
Grundsätze erst drei weitere Appellationsverfahren auf Antrag der Anbieter statt (COUNTER
STRIKE: GLOBAL OFFENSIVE; METAL GEAR RISING: REVENGEANCE; SPEC OPS: THE LINE), die
899
900
antiquariate aus der Zeit vor 1994 haben nach § 12 Abs. 3 JuSchG aber keine Kennzeichnung (vgl. DECKER 2005, S.88f.);
i.d.S. monierte bereits Klaus-Peter GERSTENBERGER, der damalige Leiter der USK: "Nehmen Sie allein den ganzen
Bereich des 'Antiquariates'. Hätten wir in Deutschland beim Buch eine vergleichbare Kennzeichnungspflicht, dann wären ab
1.4.2003 alle Antiquariate in der Situation der Sexshops. […] Den guten alten PAC-MAN wird es nur noch für Erwachsene
geben. Der Spiele-Flohmarkt ist tot. Versandhandel mit historischen Originalen findet nicht mehr statt. Hier wird das Medium
als historisches Kulturgut schwer getroffen. Und Arbeitsplätze werden vernichtet." (zitiert in: WILLMANN 2003a)
Die Prüfung ist in speziellen Fällen auch im Rahmen besonderer Prüfverfahren nach § 16 USK-Grs möglich, die – mit Ausnahme des Verfahrens zur Anbieterkennzeichnung i.S.d. § 14 Abs. 7 JuSchG, dass der Test- und Fachbereich der USK
durchführt (Abs. 5) – der Ständige Vertreter der OLJB (mit Unterstützung des Testbereichs) durchführt.
SCHULZ/BRUNN/DREYER et al. 2007, S.124.
160
aber alle zugunsten derselben entschieden wurden (Stand: 12.03.2013). Alternativ können die
Anbieter auch gegen die Entscheidung der OLJB klagen,901 den auf den vermeintlich sachverständigen Gutachten der USK basierenden Entscheidungen der OLJB wird aber (wie einer
Indizierungsentscheidung) vor Gericht wahrscheinlich Entscheidungsvorrang einzuräumen sein,
so dass nur auf die inhaltlichen Erwägungen der USK abstellende Klagen keine gute Aussicht
auf Erfolg haben dürften. Nicht überraschend wurde bislang noch gegen keine Kennzeichnungsoder Nichtkennzeichnungsentscheidungen der OLJB geklagt.
12.3
Die Alterskennzeichnungen
Das JuSchG selbst formuliert nur eine Bedingung für die Zuordnung von Computerspielen in
die gesetzlichen Altersgruppen: Spielprogramme, "die geeignet sind, die Entwicklung von
Kindern und Jugendlichen oder ihre Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit zu beeinträchtigen, dürfen nicht für ihre Altersstufe freigegeben
werden." Aber das JuSchG definiert eine solche Jugendbeeinträchtigung nicht, so dass die
OLJB, resp. die USK letztlich einen diesbzgl. Ermessensspielraum haben. Nach FROMME/
MEDER 2000 ist die Altersfreigabe eine "Erweiterung und altersmäßige Differenzierung" der
Indizierung, die insb. einzuschätzen versucht, "wie viel […] Gewalt in welcher Form (realistisch
oder fiktiv) welcher Alters- und Entwicklungsstufe normalerweise schon zugemutet werden
kann. Weitergehende pädagogische Beurteilungskriterien spielen bei diesen Verfahren letztlich
keine Rolle."902
Nach § 19 Abs. 2 Nr. 3 USK-Grs sind i.d.S. solche Spieleinhalte jugendbeeinträchtigend,
"welche die Nerven überreizen, übermäßige Belastungen hervorrufen, die Phantasie über
Gebühr erregen, die charakterliche, sittliche (einschließlich religiöse) oder geistige Erziehung
hemmen, stören oder schädigen [...]."903 Die USK-Grs orientieren sich i.d.S. (und kurioserweise
erst seit der letzten Novellierung derselben vom 01.02.2011) an § 18 Abs. 2 Nr. 3 der
Grundsätze der Freiwilligen Selbstkontrolle der Filmwirtschaft (FSK-Grs), die sich selbst nach
wie vor an den (durch die Kinoreformbewegung inspirierten) kulturhygienischen Versagensgründen des § 3 Abs. 2 RLG vom 12.05.1920 orientieren.904 Diesbzgl. monierte bereits
HAUSMANNINGER 2002c: "Sie können […] schwerlich noch als ausreichend sachhaltig und
geeignet gelten, um eine zutreffende Bestimmung der Alterseignung […] zu ermöglichen."905
Ungeachtet dessen, insofern das die einzige Konkretisierung einer Jugendbeeinträchtigung darstellt, muss derselben ggü. eine erhebliche Unschärfe konstatiert werden. Der § 11 der nicht
mehr gültigen Prüfordnung der USK (USK-PrO) präzisierte noch die Anforderungen an die
Empfehlung für eine Altersstufe (die aber weiterhin als implizite Anforderungen in der Spruchpraxis der Organisation bestand haben):
(2)
(3)
(4)
(5)
901
902
903
904
905
"Freigegeben ohne Altersbeschränkung" im Sinne des § 14 Abs. 1 Nr. 1 JuSchG bedeutet: Spiele
mit dieser Altersfreigabe sind aus der Sicht des Jugendschutzes für Kinder jeden Alters
unbedenklich. Sie sind aber nicht zwangsläufig schon für jüngere Kinder verständlich oder gar
komplex beherrschbar.
"Freigegeben ab 6 Jahren" im Sinne des § 14 Abs. 1 Nr. 2 JuSchG bedeutet: Die Spiele wirken
abstrakt-symbolisch, comicartig oder in anderer Weise unwirklich. Spielangebote versetzen den
Spieler möglicherweise in etwas unheimliche Spielräume oder scheinen durch Aufgabenstellung
oder Geschwindigkeit zu belastend für Kinder unter sechs Jahren.
"Freigegeben ab 12 Jahren" im Sinne des § 14 Abs. 1 Nr. 3 JuSchG bedeutet: Aggressiv
konkurrenzfördernde oder kampfbetonte Grundmuster in der Lösung von Spielaufgaben herrschen
vor. Zum Beispiel setzen die Spielkonzepte auf Technikfaszination (historische Militärgerätschaft
oder Science-Fiction-Welt) oder auch auf die Motivation, tapfere Rollen in komplexen Sagen und
Mythenwelten zu spielen. Die Gewalt ist nicht in alltagsrelevante Szenarien eingebunden.
"Freigegeben ab 16 Jahren" im Sinne des § 14 Abs. 1 Nr. 4 JuSchG bedeutet: Rasante bewaffnete
Action, mitunter gegen menschenähnliche Spielfiguren, sowie Spielkonzepte, die fiktive oder
historische kriegerische Auseinandersetzungen atmosphärisch nachvollziehen lassen. Die Inhalte
lassen eine bestimmte Reife des sozialen Urteilsvermögens und die Fähigkeit zur kritischen
Bzgl. der Details s. SUFFERT 2002, S.47.
FROMME/MEDER 2000, S.235.
Bzgl. des Versuchs einer Präzisierung der einzelnen Schutzgüter s. STATH 2006, S.62ff..
Vgl. DICKFELDT 1979, S.137; LIESCHING 2002, S.62f. und LOIPERDINGER 2004, S.529/540.
HAUSMANNINGER 2002c, S.366.
161
(6)
Reflektion der interaktiven Beteiligung am Spiel erforderlich erscheinen.
"Keine Jugendfreigabe" im Sinne des § 14 Abs. 1 Nr. 5 JuSchG bedeutet: Der Inhalt ist geeignet,
die Entwicklung oder die Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen
Persönlichkeit von Kindern und Jugendlichen zu beeinträchtigen ohne diese zu gefährden.
Ungeachtet aller generellen Kritik an den Alterskohorten des § 14 Abs. 2 JuSchG906 stellt auch
das keine praktikable Konkretisierung einer Eignung zur Jugendbeeinträchtigung dar, vielmehr
ist den Prüfausschüssen selbst im Einzelfall überlassen, wie sie eine solche Eignung einschätzen. Insofern wird den Ausschüssen letztlich eine mehr oder weniger willkürliche Handhabung der Zuordnung der Spiele in die Altersgruppen ermöglicht. Daran ändert auch hier der
Orientierungspunkt nichts, dass nach § 19 Abs. 2 Nr. 4 USK-Grs im Rahmen der Einschätzung
nicht nur auf die Plattitüde eines durchschnittlichen, sondern auch auf die eines (nicht
konkretisierten) gefährdungsgeneigten Minderjährigen abzustellen sei. Das einzige Korrektiv
war nach § 7 Abs. 2 USK-PrO das nach wie vor gültige oberste Prinzip der Beurteilung von
Computerspielen unter Gesichtspunkten des Jugendschutzes, die ganzheitliche Betrachtung derselben: "Dies bedeutet, dass weder die Spielidee noch ihre Umsetzung a priori den Schwerpunkt
der Beurteilung insbesondere im Hinblick auf Wirkungsvermutungen darstellen. Vielmehr
erfordert die Natur des Mediums eine Beurteilung des Prüfgegenstandes in seiner Gesamtheit."
Das wird aber im Wesentlichen willkürliche Einigungen innerhalb der Ausschüsse nicht verhindern können. Im Lichte dessen, dass die Gutachten der USK im Wesentlichen auch nur
Ergebnisprotokolle sind, die die Entscheidungsprozesse innerhalb der Prüfausschüsse kaum
oder gar nicht refklektieren, dürften die Prüfvoten für Außenstehende oftmals nicht besonders
nachvollziehbar sein. Nicht überraschend monieren bspw. auch Eltern (die im Handel ja nicht
mit den Gutachten, sondern nur den Resultaten derselben in Form von Prüfsiegeln konfontiert
werden) regelmäßig die Opazität der Altersfreigaben.907
12.4
Die Verweigerung der Alterskennzeichnung
Die Prüfausschüsse entscheiden aber nicht nur über eine Zuordnung der Spiele in die Altersgruppen des § 14 Abs. 2 JuSchG, sondern auch über eine evtl. Nichtkennzeichnung derselben:
Die OLJB dürfen Spiele, die nach Einschätzung derselben, resp. der der USK einen jugend906
907
Im Rahmen der Neuregelung des Jugendmedienschutzes durch das JuSchG wurden die durch das JÖSchG etablierten
Alterskohorten u.a. aus Gründen der Akzeptanz und des Bekanntheitsgrades derselben nicht geändert (vgl. SCHUSTER 2003,
S.5). Tatsächlich monieren aber Eltern nach wie vor regelmäßig, dass die gesetzlichen Alterskohorten zu undifferenziert sind
(vgl. THEUNERT/GEBEL/BRÜGGEN et al. 2007, S.50/115f..). Insofern wird oftmals für die Einführung weiterer Altersgruppen (z.B. ab 10 Jahren u./o. ab 14 Jahren) plädiert (vgl. SEIM 1997, S.380 und STEINLECHNER 2008). Tatsächlich ist
nach SCHULZ/BRUNN/DREYER et al. 2007 die Frage, "ob die gesetzlich vorgegebenen Alterskohorten 0-6, 6-12 und 12-16
sowie 16-18 sachgerecht sind, [...] sicherlich so alt wie die gesetzliche Vorgabe selbst. [...] Die Anknüpfung an Altersstufen
hat nicht nur mit dem Problem zu kämpfen, dass bestimmt werden muss, welches Kompetenzniveau für die betreffende
Altersstufe zugrunde gelegt wird. Dazu kommt der Befund, dass die Annahme, dass bei einem Jugendlichen einer bestimmten
Altersstufe eine bestimmte Kompetenz vorhanden sein wird, zunehmend fragwürdig ist. Die psychosoziale und kognitive
Entwicklung erscheint heterogen, die Varianz so groß, dass es immer schwieriger wird, sich an dem Durchschnitt einer
bestimmten Altersgruppe zu orientieren. Dazu kommt, dass die Alterssprünge relativ groß sind, das betrifft insbesondere die
Spanne von 6-12 und von 12-16. [...] Auch dass die Medienkompetenzen eines 7- und eines 11-Jährigen erheblich auseinander fallen, liegt auf der Hand. Dies hat Akzeptanzprobleme zur Folge, wenn sich die Beurteilung sachgerechterweise am
unteren Rand einer Kohorte ausrichtet, mit der Folge, dass der 11-Jährige damit leben muss, dass für ihn nur Spiele freigegeben sind, die auch angesichts der kognitiven und emotionalen Fähigkeiten eines 6-Jährigen keine Entwicklungsbeeinträchtigung befürchten lassen." (S.108) Dennoch wollen die Autoren entwicklungspsychologische "Belege" für die Angemessenheit der gesetzlichen Alterkohorten gefunden haben, die aber kaum verfangen; die besonders problematische Kohorte
von 16 bis 18 Jahren rechtfertige sich bspw. unter folgendem Gesichtspunkt: "Aus den Befunden zu den Auswirkungen von
gewaltorientierten und erst ab 18 (oder gar nicht) freigegebenen Computerspielen bei Erwachsenen ist zu folgern, dass diese
Spiele zu Recht möglichst nicht von Jugendlichen gespielt werden sollten." (S.109) Entwicklungspsychologisch unterscheiden
sich 16- und 18-jährige aber kaum bis gar nicht (vgl. AUFENANGER 1999, S.6 und GOTTBERG 2000b, S.35), i.d.S. wird
bereits seit Jahrzehnten für eine Änderung der Altershöchstgrenze von 18 auf 16 Jahre plädiert (vgl. DICKFELDT 1979,
S.217). Tatsächlich ist im Bereich der Filmfreigaben in Europa die Altershöchstgrenze i.d.R. bereits 16 Jahre. Auch ungeachtet dessen bezweifelt z.B. UHLENBROCK 2006, dass die gesetzlichen Kohorten entwicklungspsychologisch legitimierbar
sind (S.52) und plädiert außerdem für eine Differenzierung in Kinder- und Jugendschutz; einzig Kinder bis max. 14 Jahren
bedürften noch verpflichtender Altersfreigaben, aber ab 14 jahren sollten die Freigaben nur noch empfehlend sein (S.58-84);
dgl. auch MIKOS 2002, S.69 und HILSE 2001, der Negativbegründungen per se zur Disposition stellt. Es wird inzwischen
von verschiedenen Seiten empfohlen, auf Negativbegründungen zu verzichten; es sollte nach HILSE 2001 vielmehr
thematisiert werden, "ob im Zeitalter der Digitalisierung die starren Altersangaben überhaupt noch angemessen sind oder
durch Empfehlungen ergänzt bzw. ersetzt werden sollten." (S.8) Ein Vorbild wären i.d.S. die Positivprädikatisierungen von
Spielen, wie sie die österreichische Bundesstelle für die Positivprädikatisierung von Computer- und Konsolenspielen erteilt.
Vgl. THEUNERT/GEBEL/BRÜGGEN et al. 2007, S.53f./113.
162
gefährdenden Inhalt haben, wie natürlich auch bereits formell indizierte Spiele und mit solchen
ganz oder im Wesentlichen inhaltsgleiche Spiele nicht kennzeichnen (§ 14 Abs. 3 und 4
JuSchG). Sollte aber bereits eine entsprechende Nichtindizierungsentscheidung der BPjM
existieren oder sollte die Behörde ein Spiel nach der Verweigerung der Kennzeichnung expl.
nicht indizieren, müssen die OLJB das Spiel im Rahmen eines Altersfreigabeverfahrens kennzeichnen.
Die Nichtkennzeichnung indizierungswürdiger Spiele ist ungeachtet dessen bereits aus rechtssystematischen Gründen geboten: Spielprogramme, die von den OLJB gekennzeichnet worden
sind, können nämlich nicht mehr indiziert werden (§ 18 Abs. 8 Satz 1 JuSchG). Das Prozedere
soll insg. Doppelprüfungen derselben Spiele durch die USK einerseits und durch die BPjM
andererseits verhindern,908 die aufgrund der mangelnden Bestimmtheit einer Jugendgefährdung
zu unterschiedlichen (fast ausschl. eine Frage der subjektiven Bewertung der Umstände durch
die jeweils Zuständigen darstellenden) Einschätzungen des Vorliegens derselben führen und
insofern der Kohärenz (und i.d.S. der Plausibilität) des Jugendmedienschutzes schaden könnten.
Infolge dessen umfasst das Prüfverfahren der USK immer auch eine Überprüfung einer evtl.
Eignung zur Jugendgefährdung, wie auch einer (wesentlichen) Inhaltsgleichheit eines Spiels mit
einem bereits indizierten Spiel; dgl. umfasst aber natürlich auch die Überprüfung des Vorliegens
evtl. Nichtindizierungsgründe (§ 19 Abs. 3 und 4 USK-Grs). Zwischen 2003 und 2011
verweigerten die OLJB jährlich in jeweils ca. 1,22 % der durchschnittlich ca. 2.563 Fälle die
Kennzeichnung. Letztlich ist im Lichte der bereits thematisierten Unbestimmtheit des Tatbestands der Jugendgefährdung aber auch eine Einigung der Prüfer der USK auf eine Nichtkennzeichnung mehr oder weniger immer willkürlich, insb. stellt sich die Frage nach den
konkreten Unterschieden zwischen jugendbeeinträchtigenden Spielen ab 16 und solchen ab 18
Jahren, wie auch zwischen solchen nur jugendbeeinträchtigenden und bereits vermeintlich
jugendgefährdenden Spielen. Diese auslegungsbedürftige Grauzone macht ein Prüfverfahren für
die Rechteinhaber immer zu einem Glücksspiel.
12.5
Zweifelsfälle nach § 14 Abs. 4 Satz 3 JuSchG
Die mangelnden Konturen einer Jugendbeeinträchtigung einerseits und einer Jugendgefährdung
andererseits können innerhalb der Prüfausschüsse natürlich Uneinigkeit, resp. Zweifel hervorrufen, ob ein Medieninhalt nur jugendbeinträchtigend oder u.U. bereits jugendgefährdend ist, so
dass die Ausschüsse nach § 10 USK-Grs in einem solchen sog. Zweifelsfall i.S.v. § 14 Abs. 4
Satz 3 JuSchG mit der notwendigen Stimmenmehrheit empfehlen können, diesbzgl. eine
gutachterliche Stellungnahme der BPjM einzuholen (Abs. 6 Nr. 7); ggf. wird der Ständige
Vertreter der OLJB mit dem Einverständnis des Antragstellers eine entsprechende Stellungnahme der BPjM einholen (Abs. 10). Auch im Rahmen des nur durch den Ständigen Vertreter
der OLJB durchgeführten besonderen Verfahrens zur Feststellung einer evtl. Inhaltsgleichheit
eines Prüfgegenstandes mit einem bereits indizierten Medien kann derselbe nach erfolgter
vorheriger Zustimmung des Antragstellers eine solche Stellungnahme der BPjM einholen (§ 16
Abs. 4 USK-Grs). Ohne ein solches Einverständnis bricht die USK das Prüfverfahren in beiden
Fällen ergebnislos (d.h. ohne Kennzeichnung des Prüfgegenstandes) ab. Insofern der Prüfgegenstand nach Einschätzung der BPjM jugendgefährdend ist, wird er nicht gekennzeichnet, sollte
die BPjM aber nicht einer solchen Auffassung sein, muss er gekennzeichnet werden.
Zweifelsfälle sind aber insg. Ausnahmen: Zwischen 2003 und Ende 2012 konsultierte die USK
die BPjM in nur insg. neun solchen Fällen (z.B. GEARS OF WAR 3; GOD OF WAR 3; GRAND
THEFT AUTO IV; LUCIUS; THE DARKNESS 2). Gründe für den geringen Bedarf an gutachterlichen Stellungnahmen der BPjM dürften nicht nur Doppeltätigkeiten von Beisitzenden der
BPjM als Jugendschutzsachverständige der USK, wie auch die nach § 5 Abs. 5 USK-Grs verpflichtenden und seit 2004 z.T. (auch zur Kriterienabstimmung) gemeinsam mit der BPjM
908
Vgl. BGHZ 128, 346 (350) und SUFFERT 2002, S.29.
163
stattfindenden Weiterbildungsveranstaltungen für die Jugendschutzsachverständigen,909 wie
auch der Sitz der Vorsitzenden der BPjM im Beirat der USK (§ 3 Abs. 2 Nr. 5 USK-Grs) sein,
sondern insb. auch eine gewisse Uniformität der Prüfausschüsse und der Umstand, dass eine
regelmäßige(re) Konsultierung der BPjM den Kompetenznimbus der USK, wie auch das Vertrauen der Antragsteller in die sog. freiwillige Selbstkontrolle unterminieren würde. Dessen ungeachtet erscheint es SCHULZ/BRUNN/DREYER et al. 2007 sinnvoll, "an dieser besonders
neuralgischen Stelle des Systems die Zusammenarbeit von USK und BPJM noch zu verbessern. […] Von der Möglichkeit, eine Einschätzung einzuholen, sollte grundsätzlich
Gebrauch gemacht werden. Verfassungsrechtliche Bedenken sind hier […] nicht zu erkennen."910 (S.165) Aber eine obligatorische Vorprüfung von Computerspielen durch die BPjM
dürfte das Vorzensurverbot aber ad absurdum führen.
12.6
Zusammenfassung: Das Altersfreigabeverfahren als Zensursystem
Insofern das JuSchG zwar ein Jugendverbot mit Erlaubnisvorbehalt formuliert,911 aber die
Veröffentlichung von Bildträgern formaljuristisch nicht von einer vorausgehenden Altersfreigabeprüfung abhängt und die Zugangs- und Vertriebsbeschränkungen für nicht gekennzeichnete
Bildträger prinzipiell nur gesetzliche Bestimmungen zum Schutze der Jugend sind, stelle sich
nach Auffassung der h.M. die Frage nach einer evtl. Zensur nicht.912 Nach BUCHLOH 2002
habe man bei Vertretern einer solchen Meinung allerdings oftmals den Eindruck, dass sie das
Altersfreigabeverfahren nicht zuletzt auf diese Weise interpretieren, weil sie dasselbe aus
praktisch-politischen Gründen für sinnvoll halten.913 Tatsächlich kann von einer freiwilligen
Teilnahme am Altersfreigabeverfahren vor der Veröffentlichung eines Bildträgers nicht ausschl.
im Fall eines formaljuristischen, sondern natürlich auch bereits in dem eines faktischen Prüfzwanges nicht mehr die Rede sein.914
Nach EIFLER 2011 bedingen bereits die erheblichen Beschränkungen des § 12 Abs. 3 Nr. 2
JuSchG, gem. dem nicht gekennzeichnete Bildträger nicht im Einzelhandel außerhalb von
Geschäftsräumen, in Kiosken oder anderen Verkaufsstellen, die Kunden nicht zu betreten
pflegen, oder im Versandhandel angeboten oder überlassen werden darf, einen Fall faktischer
Vorzensur: Ungeachtet dessen, dass in der Literatur z.T. argumentiert wird, dass das
Kennzeichnungsverbot insg. verfassungswidrig sei,915 argumentiert die Autorin, dass die
Beschränkungen nicht gekennzeichneten Medien die wichtigsten Vertriebswege abschnitten,
insb. den Versandhandel. Dies habe weitreichende Konsequenzen wirtschaftlicher Natur, d.h.
ohne eine Kennzeichnung sei die wirtschaftliche Verwertung eines Spiels gar nicht möglich, so
dass sich die Anbieter der Bildträger auch ohne formaljuristische Prüfungspflicht bereits aus
909
910
911
912
913
914
915
Vgl. HOLLING 2007, S.2 und SPIELER 2007, S.2.
SCHULZ/BRUNN/DREYER et al. 2007, S.165.
Das Jugendverbot mit Erlaubnisvorbehalt ist klassische Vorzensur im formellen Sinne, nach SUFFERT 2002 vertoße das
Verbot aber insofern nicht gegen das Zensurverbot, dass Medien ohne Erlaubnis nur Kindern und Jugendlichen, nicht aber
bereits der (erwachsenen) Allgemeinheit in der Öffentlichkeit nicht zugänglich gemacht werden dürfen; notwendige
Bedingung der Zensur wäre das generelle Verbot (S.124). Auch STATH 2006 argumentierte in Orientierung an BVerfG 87,
209 (230), dass das Vorzensurverbot eine nur partielle Vorzensur nicht erfasse: "Die Tatsache, dass Teilen der Bevölkerung
bestimmte Medieninhalte vorenthalten bleiben, rechtfertigt für sich genommen die Annahme einer verfassungswidrigen Vorzensur nicht. Vorzensur […] ist vielmehr der generelle Ausschluss von Medieninhalten, bevor sie an die Öffentlichkeit kommen." (S.259) Das verfängt aber nach KASPAREK 2007 insofern nicht, dass gem. einer solchen Argumentation dem
Begründungsansatz direkt am Zensurtatbestand die Möglichkeit immanent wäre, "das Zensurverbot auch in anderen Fallkonstellationen zurückzudrängen." (S.214) Andernfalls wäre auch eine gruppenspezifische Zensur z.B. von Journalisten,
Frauen etc. legitim. Vielmehr will er den speziellen Fall der Zensurierung von Kindern und Jugendlichen mit dem Verfassungsrang des Jugendschutzes legitimieren (S.180-196). Dgl. auch NOLTENIUS 1958, S.134f.; PFEIFER 2003, S.273;
NIKLES/ROLL/SPÜRCK et al. 2005, S.212 und SCHULZ/BRUNN/DREYER et al. 2007, S.85. Das Zensurverbot ist aber
absolut und legitimiert auch keine Zensur aus Gründen des Jugendschutzes (vgl. NESSEL 2004, S.173-176)! Insofern ist fragwürdig, ob und wie das Jugendverbot mit Erlaubnisvorbehalt im Lichte des Zensurverbots noch legitimiert werden kann. Auch
ERDEMIR 2000 kann letztlich nur noch einen diffusen gesellschaftlichen Konsens konstatieren, das Zensurverbot in dem Fall
zu ignorieren: "Ein Konsens übrigens, wie er bei einer entsprechenden Freigabelösung für die gedruckte 'Schrift', also für
Bücher und Zeitschriften, kaum vorstellbar wäre." (S.180)
Vgl. STATH 2006, S.260 und SCHULZ/DREYER 2007b, S.3.
Vgl. BUCHLOH 2002, S.214f..
Vgl. SUFFERT 2002, S.8f..
Vgl. SUFFERT 2002, S.129f. und DEGENHART 2008, S.66.
164
finanziellen Gründen zur Vorlage derselben gezwungen sähen; das Altersfreigabeverfahren
komme damit den Auswirkungen einer Zensur gleich. Einerseits dürften das aber nicht nur nicht
die wichtigsten Vertriebswege für die Bildträger sein, das JuSchG erlaubt auch nach wie vor
den Versandhandel, insofern sichergestellt ist, dass im Wege der Bestellung und Übersendung
der Ware durch Postversand oder elektronischen Versand durch persönlichen Kontakt zwischen
Lieferant und Besteller oder durch technische oder sonstige Vorkehrungen kein Versand an
Kinder und Jugendliche erfolgt (§ 1 Abs. 4 JuSchG). Andererseits gelten exakt dieselben
Beschränkungen auch für ohne Jugendfreigabe gekennzeichnete Medien: Tatsächlich resümiert
bspw. Martin LORBER, PR Director und Jugendschutzbeauftragter der Electronic Arts GmbH,
dass Spiele ohne Alterskennzeichnung keine Marktbedeutung haben, "ihre Verkaufszahlen sind
verschwindend gering."916 Vergleichsweise wurden seit Inkrafttreten des JuSchG zwischen 2003
und 2011 zwar durchschnittlich nur ca. 4,88 % der Spiele jährlich ohne Jugendfreigabe gekennzeichnet, nach Olaf WOLTERS, dem Geschäftsführer des BIU, erreichen aber ohne Jugendfreigabe gekennzeichnete Spiele einen Anteil von ca. 10 bis 15 % am Gesamtumsatz,917 der für
den Zeitraum gem. BIU (inkl. Downloads) jährlich durchschnittlich ca. 1.312 Mio. Euro betrug.
Insofern ist insg. nicht besonders plausibel, dass bereits die für nicht gekennzeichnete, wie auch
gekennzeichnete Spiele identischen Beschränkungen einen faktischen Prüfzwang für die
Anbieter von Spielen, die ausschl. Erwachsenen zugänglich gemacht werden sollen, generieren
können sollen.
Dennoch ist eine Alterskennzeichnung für die wirtschaftliche Verwertung auch eines
Erwachsenenspiels notwendig: Fie Kennzeichnung generiert nämlich einen Indizierungsschutz
(und einen gewissen Schutz vor dem § 131 StGB), nicht gekennzeichnete Spiele können aber
nach wie vor indiziert werden (§ 18 Abs. 8 JuSchG) und wie bereits dargestellt wurde, wirkt
nicht nur eine Indizierung, sondern gar bereits die Möglichkeit derselben faktisch wie ein
Verbot.918 Somit besteht auch für Erwachsenenspiele faktisch eine (jugendschutzrechtlich nicht
legitimierbare) Prüfpflicht, ja ein Verbot mit Erlaubnisvorbehalt, wodurch das Altersfreigabeverfahren zu einem Zensurverfahren wird (da die Kennzeichnung nicht automatisch erfolgt).
Die Anbieter müssen also aus finanziellen Gründen am Altersfreigabeverfahren teilnehmen,
spielen aber ggf. ein Vabanquespiel: Gekennzeichnete Medien können zwar nicht mehr indiziert
werden, eine Indizierung nach der Veröffentlichung ist aber quasi sicher für den Fall, dass eine
Kennzeichnung verweigert wird. Die USK selbst ist zwar weder indizierungsantrags-, noch
indizierungsanregungsberechtigt,919 antragsberechtigt sind aber nicht nur der ehem. Rechtsträger der USK, der Förderverein für Jugend und Sozialarbeit e.V. (fjs), sondern auch die OLJB
selbst. Beide haben seit Inkrafttreten des JuSchG aber offenbar noch nie eine Indizierung
beantragt. Ungeachtet dessen wurden einerseits bislang fast alle Spiele, die die OLJB als
jugendgefährdend expl. nicht kennzeichnete, nach der Veröffentlichung (als ausländische, aber
mit der nicht gekennzeichneten ganz oder im Wesentlichen inhaltsgleiche Versionen) früher
oder später als jugendgefährdend indiziert; nur in drei Fällen hat die BPjM ein solches Spiel
expl. nicht indiziert (CLIVE BARKER’S JERICHO; DARK MESSIAH OF MIGHT & MAGIC; GOD OF
WAR). Insofern ist die Indizierung eines Spiels nach der Verweigerung einer Altersfreigabe
quasi sicher, die BPjM muss ja nur noch das entsprechende Gutachten der USK rezitieren.920 Es
ist aber auch nicht überraschend, dass SCHULZ/BRUNN/DREYER et al. 2007 konstatieren,
dass weder die USK, noch die für dieselbe federführende OLJB des Landes NordrheinWestfalen die BPjM systematisch darüber informiere, "wenn einem Spiel die Kennzeichnung
aufgrund der Annahme, dass Indizierungskriterien erfüllt sind, verweigert wurde und das Spiel
dann ohne Kennzeichnung erscheint."921 Ungeachtet dessen, dass das JuSchG keine solche
Informationspflicht formuliert, werden solche Spiele erst gar nicht mehr in Deutschland veröffentlicht.
916
917
918
919
920
921
LORBER 2007, S.1.
Vgl. GÜNZEL 2006.
Vgl. KASPAREK 2007, S.111.
Vgl. SCHULZ/BRUNN/DREYER et al. 2007, S.134.
Vgl. HAUSMANNINGER 2000.
Vgl. SCHULZ/BRUNN/DREYER et al. 2007, S.134.
165
Andererseits reglementiert § 14 Abs. 3 JuSchG u.a., dass die OLJB, insofern ein Spiel nach
Einschätzung derselben im Rahmen des Prüfverfahrens einen schwer jugendgefährdenden Inhalt
hat und infolge dessen nicht gekennzeichnet wird, Tatsachen, die auf einen Verstoß gegen § 15
Abs. 1 JuSchG schließen lassen, der zuständigen Strafverfolgungsbehörde mitzuteilen haben.
Nach HEYL/LIESCHING 2008 ist eine solche Tatsache insb. der begründete Verdacht, "dass
trotz Ablehnung einer Kennzeichnung eine Verbreitung des Mediums weiterhin beabsichtigt
wird."922 Infolge dessen werden Spiele insb. auch nach einer solchen Verweigerung der
Altersfreigabe aus offensichtlichen Gründen normalerweise nicht in Deutschland publiziert. Das
Altersfreigabeverfahren ist also ein zweischneidiges Schwert, dass einerseits einen Indizierungsschutz, andererseits aber auch erst eine entsprechende Aufmerksamkeit der Jugendschützer
generieren kann, ungeachtet dessen aber für eine wirtschaftliche Verwertung von Bildträgern
unbedingt notwendig ist. Zynisch wirkt i.d.S. (resp. im Lichte der Indizierung) der Kommentar
von SCHULZ/BRUNN/DREYER et al. 2007, dass es insg. als ein "Erfolg des Funktionierens
des Gesamtsystems" angesehen werden könne, "dass die Kennzeichen in der Praxis eine
vertriebslenkende Funktion besitzen. Ohne Kennzeichnung bestellen viele der großen Handelsketten Spiele nicht für ihr Sortiment [...]. Zudem haben die Konsolenhersteller in ihrer Lizenzbedingung aufgenommen, dass Spiele, die keine Kennzeichnung der USK erhalten, in Deutschland nicht erscheinen. Hier spielt vor allem der Faktor 'Image' eine Rolle."923
Im Lichte regelmäßiger Zensurvorwürfe argumentieren die USK, wie auch die Proponenten derselben, technisch korrekt, dass nicht sie, sondern der Anbieter selbst oftmals die Spiele zensiere.
Das ist aber eine Argumentation zwischen Selbstschutz und Zynismus, die skizzierten Umstände stärken nämlich unweigerlich die Macht der USK, die Anbieter zu Selbstzensuren zu
veranlassen: Die Prüfausschüsse können bspw. im Regelverfahren auf Vorschlag des Ständigen
Vertreters der OLJB selbst die Empfehlung einer Kennzeichnung ohne Jugendfreigabe an die
Erfüllung von nicht konkretisierten Auflagen (wie z.B. Zensuren) knüpfen, so dass das Spiel
u.U. nicht zur Kennzeichnung empfohlen wird, sollte der Antragsteller den Auflagen nicht
entsprechen (§ 10 Abs. 7 USK-Grs). Aber auch ohne solche expl. Auflagen indizieren die Prüfgutachten den Anbietern im Falle einer Nichtkennzeichnung natürlich für eine Kennzeichnung
notwendige Zensuren, die präkererweise Spiele betreffen, die ohnehin ausschl. Erwachsenen
zugänglich gemacht werden sollen! Die Anbieter haben realistischerweise nur die Wahl, die
Spiele zu zensieren oder nicht zu veröffentlichen; beides trifft auch den mündigen Endverbraucher.924 Aus Gründen der Zeit- und Kostenersparnis zensieren die Anbieter die Spiele
oftmals provisorisch auch bereits vor der ersten Prüfung. Insofern solche (durch staatliche
Gesetzgebung verantwortete und mit dem Zensurverbot unvereinbare) Selbstzensurzwänge dem
Gesetzgeber bereits aus Jahrzehnten der entsprechenden Filmprüfpraxis der FSK bekannt sein
mußten,925 kann ihm vorgeworfen werden, dass er dgl. für Computerspiele nicht nur sehenden
Auges in Kauf nahm, sondern u.U. gar intendierte. Problematischerweise verkündete auch die
USK selbst bereits, dass sie in Zusammenarbeit mit den OLJB ihren Beitrag leisten werde, "dass
jugendgefährdende Spiele in Deutschland keine Chance haben [...]."926 Dies kann aber nicht die
Aufgabe einer solchen (staatlich sanktionierten) Jugendmedienschutzorganisaion sein.
13.
Exkurs I: Das PEGI-System
Der Rat der EU betonte bereits im Rahmen der Entschliessung des Rates vom 01.03.2002 zum
Schutz der Verbraucher, insb. von Jugendlichen, durch Kennzeichnung bestimmter Video- und
Computerspiele nach Zielaltersgruppen u.a. die Notwendigkeit, "dass die Verbraucher unter
dem Aspekt der Beurteilung von Inhalten und der entsprechenden Einstufung nach Zielaltersgruppen Zugang zu klaren Informationen über die auf dem Markt erhältlichen Produkte
erhalten, damit sie fundierte Entscheidungen treffen können und damit […] Jugendliche vor
922
923
924
925
926
Vgl. HEYL/LIESCHING 2008, S.46.
SCHULZ/BRUNN/DREYER et al. 2007, S.143.
Vgl. BRAUNBART 2001b, S.225.
Vgl. BUCHLOH 2002, S.207-210.
USK, Pressemitteilung v. 18.11.2005.
166
potenziell schädlichen Inhalten geschützt werden;" der Rat bekräftigte in diesem Zusammenhang, "dass die Kennzeichnung ein wichtiges Mittel darstellt, um eine bessere Information und
mehr Transparenz für die Verbraucher zu erreichen und ein harmonisches Funktionieren des
Binnenmarkts sicherzustellen" und stellte ausserdem fest, "dass es nützlich wäre, in allen Mitgliedstaaten auf die Entwicklung klarer und einfacher Einstufungssysteme hinzuwirken, mit
denen sich die Inhalte dieser Produkte beurteilen lassen […]."927 Tatsächlich entwickelte bereits
seit Mai 2001 eine internationale Arbeitsgruppe aus u.a. Vertretern europäischer Regierungen
und Alterseinstufungsinstitutionen, wie auch Verbänden der Spieleindustrie, die Pan European
Game Information (PEGI) als ein paneuropäisches Alterseinstufungssystem für Computerspiele,
das am 24.04.2003 in Belgien, Dänemark, Finnland, Frankreich, Griechenland, Großbritannien,
Italien, Irland, Luxemburg, den Niederlanden, Norwegen, Österreich, Portugal, Spanien,
Schweden und der Schweiz eingeführt wurde und z.T. bestehende nationale Alterseinstufungssysteme ersetzte (wie z.B. das der spanischen Asociación Española de Distribuidores y Editores
de Software de Entretenimiento, des französischen Syndicat des éditeurs de Logiciels de Loisirs
oder der britischen Entertainment and Leisure Software Publishers Association).928
Prinzipiell basiert das Altersempfehlungsverfahren auf einem enumerativen Kriterienkatalog,
d.h. dass die Antragsteller selbst 50 Fragen eines Bewertungs- und Anmeldeformulars ausfüllen,
die insb. das mögliche Auftreten von Gewalt- u./o. Sexdarstellungen, aber u.a. auch von
Drogenkonsum, Glückspiel, Diskriminierungen und vulgärer Sprache betreffen. Das Auftreten
von bestimmten Inhalten führt automatisch und für den Antragsteller selbst transparent zu einer
bestimmten (vorläufigen) Altersempfehlung ("PEGI 3", "PEGI 6", "PEGI 12", "PEGI 16" oder
"PEGI 18") und ggf. einem von acht erläuternden Inhaltssymbolen; bspw. führen "Depictions of
arcade style or sporting action showing violence containing blood or gore" (Frage 28) zu der
Altersfreigabe "PEGI 16" und dem Inhaltssymbol für Gewaltdarstellungen oder "Depictions of
ethnic, religious, nationalistic or other stereotypes like to encourage hatred" (Frage 23) zu der
Altersfreigabe "PEGI 18" und dem Inhaltssymbol für Diskriminierungen (könnte der Antragsteller beide Fragen bejahen, führte das zur vorläufigen Altersempfehlung "PEGI 18" und
beiden Inhaltssymbolen). Der Antragsteller sendet dem jeweils zuständigen der beiden PEGIAdministratoren das Formular, wie auch eine Zusammenstellung aller Informationen und
Materialien für die Überprüfung der vorläufigen Altersempfehlungen: Das Nederlands Instituut
voor de Classificatie van Audiovisuele Media ist der Administrator für die Spiele, die für "PEGI
3" und "PEGI 7" vorgeschlagen sind. Das britische Video Standards Council (VSC) ist der
Administrator für die Spiele, die für "PEGI 12", "PEGI 16" und "PEGI 18" vorgeschlagen sind.
Die Administratoren überprüfen i.d.R. nur die Korrektheit der Formularangaben und bestätigen
ggf. normalerweise die vorläufigen Altersempfehlungen. Dem Antragsteller wird letztlich i.A.
des Trägers von PEGI, der Interactive Software Federation of Europe (ISFE), eine Lizenz zur
Verwendung des Alterskennzeichens, wie auch der Inhaltssymbole erteilt. Der Antragsteller
verpflichtet sich durch die Nutzung des Systems gleichzeitig vertraglich zur Einhaltung des
PEGI-Verhaltenskodexes, der Aspekte der Alterskennzeichnung und der Bewerbung von
Computerspielen regelt.
Ein besonderer Vorteil des Systems liegt darin, dass die Hersteller bspw. bereits während der
Entwicklungsphase die späteren Empfehlungen kalkulieren können. Dem ggü. kann es nach
LORBER 2011 im Rahmen des deutschen Altersfreigabeverfahrens bei voller Ausschöpfung
des Instanzenzugs der USK (exkl. einer gutachterlichen Stellungnahme der BPjM in einem sog.
Zweifelsfäll nach § 14 Abs. 4 Satz 3 JuSchG) ab Verfahrenseröffnung bis zu 58 Tage dauern,
"bis ein finales Kennzeichen erteilt wird. Das ist in der heutigen schnelllebigen Medienkultur
eine Ewigkeit und kann über den Erfolg oder Misserfolg eines Spiels entscheiden." Das PEGISystem generiert also insb. Planungssicherheit. Die Transparenz des PEGI-System und die
detaillierteren Inhaltsangaben (statt nur einer simplen Altersempfehlung) sind aber auch ein
Vorteil für die Verbraucher, insb. für die Eltern.
927
928
ABl. 2002/C 65/02.
Vgl. DECKER 2005, S.86f. und KOM 2008/0207, S.3.
167
Alle großen europäischen Spielkonsolenhersteller, wie auch Spielehersteller unterstützen das
PEGI-Sytem. Aktuell nutzen 26 der 27 Mitgliedstaaten der EU (z.T. auch inoffiziell) das
System: Belgien, Bulgarien, Dänemark, Estland, Finnland, Frankreich, Griechenland, Großbritannien, Irland, Italien, Lettland, Litauen, Luxemburg, Malta, Niederlande, Ungarn, Österreich, Polen, Portugal, Rumänien, Slowakei, Slowenien, Spanien, Schweden, Tschechien und
Zypern. Aber auch Nichtmitgliedstaaten der EU, wie Island, Israel, Norwegen und die Schweiz
unterstützen das System. Die Staaten haben basierend auf dem System z.T. besondere Rechtsvorschriften für die Alterseinstufung (z.B. Kennzeichnungspflichten) u./o. den Verkauf von
Computerspielen erlassen – bspw. Großbritannien929 und Österreich930 –, die Kennzeichen sind
929
930
Erst seit Inkrafttreten des sog. Criminal Justice and Public Order Act 1994, der den Video Recordings Act 1984 (VRA)
novellierte, waren Computerspiele u.a. nach Art. 2 VRA kennzeichnungspflichtig, insofern sie u.a. "mutilation or torture of, or
other acts of gross violence towards, humans or animals" (Abs. 2) oder "criminal activity which is likely to any significant
extent to stimulate or encourage the commission of offences" (Abs. 3) darstellten; das British Board of Film Classification
(BBFC) prüfte solche Spiele, wie auch Spiele, die Filmsequenzen beinhalteten, die kein integraler Bestandteil der Spiele selbst
waren (z.B. Trailer) und kennzeichnete sie ggf. ab 12, ab 15 oder ab 18 Jahren, konnte die Kennzeichnung aber auch verweigern, so dass die Spiele erst gar nicht in Großbritannien distribuiert werden durften (die Behörde konnte die Spiele i.d.S.
effektiv verbieten). Die solchermaßen gekennzeichneten Spiele durften aber entsprechend jüngeren Kindern und Jugendlichen
in der Öffentlichkeit bei Strafe nicht zugänglich gemacht werden. Spiele, die das Gesetz nicht erfasste, konnten Kindern und
Jugendlichen in der Öffentlichkeit nach wie vor ohne Beschränkungen zugänglich gemacht werden. Zwischen 1994 und 2003
kennzeichnete die Entertainment and Leisure Software Publishers Association (ELSPA) solche Spiele, seit 2003 die PEGI
(insofern letztere ein Spiel erst ab 18 Jahren kennzeichnete, hatten sich die britischen Betroffenen verpflichtet, sie automatisch
der BBFC zu übermitteln). Das System änderte sich aber infolge eines Rechtsstreits zwischen dem BBFC und der Rockstar
Games, Inc.: Das BBFC verweigerte dem Spiel MANHUNT 2 im Juni 2007 die Kennzeichnung, wie auch einer zweiten,
zensierten Version im Oktober 2007. Die Rockstar Games, Inc. ging vor dem zuständigen Video Appeals Committee (VAC)
am 26.11.2007 in Berufung und argumentierte u.a., dass das BBFC eine tatsächliche Jugendgefährdung nicht habe
demonstrieren können. Geoffrey ROBERTSON, der Anwalt der Appellantin, spekulierte in der Eröffnungsverhandlung u.a.,
dass die BBFC das Spiel nur im Lichte der moralpanischen Kritik an der Behörde selbst im Zusammenhang mit dem ersten
Teil desselben nicht kennzeichnete: Am 27.02.2004 hatte der 17-jährige Warren LEBLANC den 14-jährigen Stefan
PAKEERAH ermordet und in den boulevardisierten Massenmedien wurde mehrere Wochen nicht nur behauptet, dass das
Spiel MANHUNT i.S.e. direkten Imitationswirkung tatauslösend gewesen sei, sondern hatten auch das BBFC kritisiert, die das
Spiel gekennzeichnet hatte; die Tat war aber nur ein simpler Raubmord, der Täter wollte Drogenschulden eintreiben (vgl.
CUMBERBATCH 2004, S.5 und GIBSON 2007). Die Behörde dementierte zwar den Vorwurf des Anwalts (vgl. MARTIN
2007a), tatsächlich war MANHUNT 2 aber das einzige Spiel, das seit 10 Jahren nicht gekennzeichnet wurde, resp. erst der
zweite Fall einer Nichtkennzeichnung eines Spiels insg.; das BBFC hatte bislang einzig dem Spiel CARMAGEDDON im Juli
1997 die Kennzeichnung verweigert, musste dasselbe aber infolge einer erfolgreichen Berufung der betroffenen GT Interactive
(Europe) Ltd. vor dem VAC im November 1997 kennzeichnen. Das VAC entschied auch am 10.12.2007 mit vier zu drei
Stimmen zugunsten des Appellanten (vgl. MARTIN 2007b); im Rahmen eines Revisionsverfahrens revidierte aber der
Londoner High Court of Justice die Entscheidung des VAC aufgrund einer falschen Entscheidungsgrundlage desselben (das
BBFC müsse keine konkrete, tatsächliche Jugendgefährdung für eine Nichtkennzeichnung demonstrieren, wie das VAC
argumentierte, tatsächlich sei ein spekulatives Gefährdungsrisiko diesbzgl. hinreichend) und entschied am 24.01. 2008, dass
dieselben sieben Mitglieder des VAC abermals über die Kennzeichnung, resp. Nichtkennzeichnung entscheiden mußten (vgl.
BOYES 2008). Das Komitee entschied im März 2008 abermals mit vier zu drei Stimmen zugunsten der Rockstar Games, Inc.,
so dass die BBFC das Spiel (ab 18 Jahren) kennzeichnen musste und dasselbe am 31.10.2008 in Großbritannien publiziert
wurde. Der Konflikt hatte für das BBFC insofern Konsequenzen, dass u.a. die der Behörde bereits seit 1997 kritisch gegenüberstehende ELSPA die Kompetenz derselben für die Alterseinstufung von Computerspielen so massiv in Frage stellte und
für die Substituierung derselben durch PEGI plädierte, dass u.a. das britische Department for Children, Schools and Families
zwischen September 2007 und März 2008 die prominente Psychologin Tanya BYRON beauftragt hatte, das nationale System
für die Alterseinstufung von Computerspielen zu evaluieren; die Empfehlungen der Autorin BYRON 2008 waren ein zentraler
Ausgangspunkt für die Neukonzeption der Alterseinstufung von Computerspielen, infolge der PEGI seit Juli 2012 zum
einzigen britischen Alterseinstufungssystem für Spiele avancierte (s. Digital Economy Act 2010); seitdem dürfen nur noch
entsprechend gekennzeichnete Spiele distribuiert und Kindern und Jugendlichen in der Öffentlichkeit bei Strafe nur solche mit
PEGI 12, PEGI 16 oder PEGI 18 gekennzeichnete Spiele zugänglich gemacht werden, die auch für ihre Altersstufe freigegeben worden sind (Spiele, die mit PEGI 3 oder PEGI 16 gekennzeichnet sind, unterliegen keinen Beschränkungen). Das
VSC ist für die Kennzeichnungen verantwortlich und kann nach wie vor Spielen, die in Art. 2 VRA bezeichnete Inhalte haben,
die Kennzeichnung verweigern.
Der österreichische Jugendmedienschutz ist Ländersache, aber nur zwei der Bundesländer reglementieren die Alterseinstufung
und den Verkauf von Computerspielen: § 10 Abs. 3 WrJSchG reglementiert seit April 2008, dass Computerspiele in Wien nur
noch Kindern und Jugendlichen eines bestimmten Alters gewerblich abgegeben werden dürfen, "wenn auf Grund einer klar
sichtbaren PEGI […] Kennzeichnung ersichtlich ist, dass sie für junge Menschen dieses Alters geeignet sind. […] Keine […]
Kennzeichnungspflicht besteht für Computerspiele zu Informations-, Instruktions- oder Lehrzwecken, die als Informations-,
Instruktions- oder Lehrprogramm gekennzeichnet sind und junge Menschen in ihrer Entwicklung nicht gefährden." Der § 11
Abs. 4 K-JSG reglementiert für Kärnten: "Bildträger, die auf Grund des § 12 Abs. 1 des […] JuSchG […] der Bundesrepublik
[…] nicht freigegeben oder für Kinder oder Jugendliche nur ab einem bestimmten Alter freigegeben sind, gelten auch in
Kärnten als nicht oder nur ab einem bestimmten Alter freigegeben. Datenträger, die Computerspiele enthalten, dürfen nur an
Kinder und Jugendliche eines bestimmten Alters gewerblich abgegeben werden, für die sie aufgrund einer klar sichtbaren
PEGI […] Kennzeichnung geeignet sind. Differieren diese Kennzeichnungen oder Freigaben, ist jene maßgeblich, die ein
höheres Alter für die Freigabe vorsieht. Die Landesregierung kann jedoch auf Antrag des Eigentümers oder sonst darüber
Verfügungsberechtigten […] eine hievon abweichende Entscheidung treffen." Die restlichen sieben Bundesländer haben keine
besonderen Rechtsvorschriften über die Alterskennzeichnung und den Verkauf von Spielen erlassen, so dass Kinder und
Jugendliche in Wien und Kärnten problemlos nicht für ihr Alter geeignete Spiele in den Bundesnachbarländern kaufen können; insofern demonstriert das Bsp. Österreich en miniature dasselbe Problem, dass der dt. Jugendmedienschutz bei Spielen in-
168
i.d.R. aber nur unverbindliche Altersempfehlungen, so dass die entsprechenden Spiele den
Kindern und Jugendlichen in der Öffentlichkeit auch zugänglich gemacht werden dürfen, wenn
sie nicht für ihre Altersstufe gekennzeichnet wurden.931 Innerhalb der EU unterstützt einzig
Deutschland das System nicht und hat eigene Rechtsvorschriften über die Alterskennzeichnung
und den Verkauf von Computerspielen erlassen.
Trotzdem das PEGI-System wesentlich unkomplizierter ist als das deutsche Altersfreigabeverfahren, kommen beide Systeme zu ähnlichen Alterseinstufungen, so dass nicht nur der Irrglaube erodiert, die Alterseinstufungen nach dem PEGI-System seien insg. laxer als die der
USK,932 sondern auch der vermeintliche Vorteil des deutschen Systems, dass externe Gutachter
die Spiele selbst durchspielen (und insofern versteckte Inhalte o.ä. entdecken können), keinen
Vorteil, sondern einen auf Ressentiments ggü. der Industrie basierenden Nachteil darstellt. Den
vermeintlichen Vorteil des deutschen Alterskennzeichnungsverfahrens stellen auch LANGER/
HOFMANN 2009 in Frage:
Um die geltende Lehrmeinung "PEGI bewertet lascher, USK strenger" zu überprüfen, haben wir 1.391
Computer- und Videospiele der letzten drei Jahre (Januar 2006 bis August 2009) erfasst, wobei wir –
anders als die USK in ihren Jahresmitteilungen – mehrere Plattform-Versionen nur dann einzeln gezählt
haben, wenn sich ihre Alterskennzeichnungen unterscheiden […]. […] Danach wurden diesen USKWertungen die jeweilige PEGI-Kennzeichnung gegenüber gestellt. […] Fast identisch sind die Zahlen für
die unterste Stufe, "ab 0" (USK) beziehungsweise "3" (PEGI): 501 beziehungsweise 462 Spiele erhielten
diese Kennzeichnung. Und auch wenn man bei der USK "ab 16" und "ab 18" addiert, sowie bei PEGI
"16" und "18", kommen fast dieselben Zahlen heraus: 300 USK-Wertungen fallen in diese Gruppe, und
333 PEGI-Kennzeichen. Immerhin: 38 mal öfter vergab die USK "ab 18" als PEGI ihren Warnsticker.
Dazu kommen mehrere Spiele, die aufgrund extremer Gewalt gar keine USK-Kennzeichnung erhalten
haben. Der größte Unterschied zwischen beiden Stichproben aber besteht bei den Kennzeichnungen "ab
6" beziehungsweise "7", hier stehen 249 USK-Kennzeichen 186 PEGI-Emblems gegenüber. Und "ab 12"
erhielten von der USK 336 Titel des Testfelds, "12" von der PEGI jedoch 410 Produkte. […] Wertet, von
Ausnahmen abgesehen, die USK nicht deutlich strenger? Nein: 212 mal vergab sie im Vergleich die
strengere Bewertung bei einem Spiel. 275 mal bewertete hingegen PEGI denselben Titel strenger. Wenn
man die Wertungsklassen in Zahlen umwandelt (1 für "ab 0" und "3", 5 für "ab 18" und "18", et cetera)
und daraus den mathematischen Durchschnittswert ermittelt, erscheint das PEGI-System sogar als etwas
schärfer denn die USK: 1,96 steht hier der 1,89 der USK gegenüber. Grund dafür sind vor allem härtere
PEGI-Einstufungen bei den 12er und 16er Titeln, und hier insbesondere den Sportspielen. […] Alleine
106 mal vergab PEGI ein Rating ab '7' oder höher in Fällen, in denen die USK denselben Titel als
vollkommen unbedenklich einstufte. Bei der USK sind es im Vergleich nur 73 Titel. […] Erst am oberen
Wertungsende ist die USK härter: Es gibt nur 20 Fälle, bei denen PEGI "18" wertete und die USK "ab
16" oder "ab 12". Demgegenüber stehen 61 Fälle, bei denen die USK "ab 18" erteilte, PEGI jedoch ein
"12" oder "16" als angemessen sah. […] Interessant sind die Genre-Unterschiede: Bei Actiontiteln wertet
[…] die USK härter, doch fasst man die Alterstuffen [sic] "16" und "18" zusammen, so kommt wiederum
fast die identische Zahl an Einstufungen zusammen: 218 Actionspiele bei der USK und 219 bei PEGI.
Selbst in diesem Genre aber überwiegt bei beiden Systemen der Anteil der […] Spiele, […] deren
Einstufungen bis einschließlich "ab 12" reichen. Im Strategie-Genre sieht die USK nur 35 "ab 16"- und 4
"ab 18"-Titel, bei PEGI sind es 31 "16" und 2 "18". Interessanterweise ist PEGI sowohl bei Sport- und
Rennspielen als auch bei den Adventures und Rollenspielen härter: Neunmal wird hier die rote "ab 18"Karte gezückt, und 69mal [sic] die gelbe "ab 16". Die USK kommt in diesen Genres auf nur 35 gelbe und
fünf rote Karten. […]Im Großen und Ganzen und oft auch im Speziellen bewerten PEGI und USK sehr
ähnlich, zwei Drittel der Kennzeichnungen befinden sich exakt auf derselben Stufe. Es stimmt nicht, dass
die USK generell härter bewerten würde: Der Schnitt der Wertungen ist praktisch identisch, ja sogar
strenger bei PEGI. Allerdings hat diese Analyse etwas der gemessenen contra der gefühlten
Temperatur: Im Wind ist's einfach kälter als auf dem geschützten Thermometer, und so fallen dem
typischen (vor allem jugendlichen) Spieler weniger die "fairen" Wertungen der USK im 12er Bereich auf,
als vielmehr die 'unfairen' im 18er-Bereich. Wieso dürfen Jugendliche in fast allen anderen Ländern
Europas viele Titel ab 16 spielen, die hierzulande ab "18" gelten? […] Im Bereich der Altersfreigaben "ab
16" und "ab 18" verschieben sich bei der USK die Gewichte hin zu letzteren: In Deutschland werden 10%
der Spiele als nicht für Jugendliche geeignet eingestuft, im restlichen Europa sind es 7%. Dazu kommen
in Deutschland einige, die gar keine Kennzeichnung bekommen. Ob deswegen aber die USK als sichtbare
Behörde des gesetzlich gewollten Jugendschutzes tatsächlich die Jugendlichen besser schützt? […]
Angesichts dieser Ergebnisse stellt sich die Frage, wieso sich Deutschland überhaupt die Extrawurst USK
leistet: Wenn mit derart viel Mehraufwand, Prüfungsakribie und Kosten für die Hersteller am Ende doch
fast dasselbe herauskommt, wie beim in 30 Ländern akzeptierten PEGI-System – muss man sich dann
diesen Extraaufwand überhaupt machen?933
931
932
933
nerhalb Europas hat. Bzgl. einer detaillierteren Darstellung des diesbzgl. österreichischen Jugendmedienschutzes s. LANGER
2010.
Vgl. KOM 2008/0207 und IP/08/618.
Vgl. LANGER 2006.
LANGER/HOFMANN 2009, S.1-4.
169
Auch im Lichte dessen wird das Insistieren auf einem deutschen Sonderweg erklärungsbedürftig. Die Spiele werden bspw. längst zentral produziert und europaweit vertrieben,934 so
dass sich auf den Packungen, wie auch den Datenträgern selbst oftmals nicht nur die Kennzeichen der USK, sondern auf die PEGI-Kennzeichnungen finden. Dgl. kann aber im Fall nicht
seltener Abweichungen nach SCHULZ/BRUNN/DREYER et al. 2007 insb. für die deutsche
Kennzeichnung dazu führen, "dass die Akzeptanz gegenüber der Kennzeichnung geschwächt
wird. Von Eltern wird viel verlangt, wenn sie sich an einen Maßstab halten sollen, es aber ein
mindestens ebenso prominent aufgeführtes Kennzeichen gibt, das einem anderen Maßstab folgt
und zu einem abweichenden Ergebnis kommt. […] Auch hier kann die oft abweichende PEGIKennzeichnung dazu führen, dass der Eindruck einer gewissen Beliebigkeit bei den Kriterien
für die Altersfreigabe entsteht."935 Der Eindruck wäre nicht falsch.
Aber auch ungeachtet dessen ist der deutsche Jugendmedienschutz bei Computerspielen als nur
einzelstaatliche Sonderregelung innerhalb der EU bereits im Lichte technischer, wie wirtschaftlicher Entwicklungen insg. nicht mehr angemessen:936 Kinder und Jugendliche in Deutschland
können hierzulande nicht für ihre Altersstufe freigegebene, indizierte oder gar nach § 131 StGB
beschlagnahmte Spiele im Lichte dessen, dass die entsprechenden Spiele im Gros der Mitgliedstaaten der EU ohne Beschränkungen des Versandhandels frei verkäuflich sind, dank der
fehlenden Grenzkontrollen innerhalb des europäischen Binnenmarkts problemlos aus den (oder
über die) Mitgliedstaaten der EU importieren,937 ungeachtet dessen, dass zwar Indizierungen,938
das Jugendverbot mit Erlaubnisvorbehalt939 und ggf. auch der § 131 StGB940 prinzipiell europarechtskonform sein dürften. Eine diesbzgl. Harmonisierung wäre also insb. auch im deutschen
Interesse. Tatsächlich rief die Europäische Kommission die Mitgliedstaaten im Lichte des
offensichtlichen "Werts der Videospiele für die kulturelle Vielfalt" im April 2008 auf, "das im
Rahmen der PEGI-Initiative [...] geschaffene Informations- und Einstufungssystem in ihre
nationalen Systeme einzubinden [...]."941 Einen Tag nach dem sog. Amoklauf von Winnenden
forderte auch die Entschließung des Europäischen Parlaments vom 12. März 2009 zu dem
Schutz der Verbraucher, insbesondere Minderjähriger, bei der Nutzung von Videospielen die
Mitgliedstaaten nachdrücklich auf, "dafür Sorge zu tragen, dass nationale Bewertungssysteme
nicht auf eine Art und Weise entwickelt werden, die zur Fragmentierung des Marktes führt
[...]."942 Für die Zukunft werden also höchstwahrscheinlich so oder so internationale und ggf.
(wie z.B. bereits in Dänemark, Finnland, Niederlande und Portugal) gar intermediale
Harmonisierung des Jugendmedienschutzes notwendig.943 Im Rahmen einer Harmonisierung
dürften aber natürlich Indizierungen, die ja nur ein ausschl. deutsches Phänomen darstellen, wie
auch das strafrechtliche Gewaltdarstellungsverbot nach § 131 StGB obsolet werden.
14.
Das strafrechtliche Gewaltdarstellungsverbot (§ 131 StGB)
Letztlich muss der Vollständigkeit halber natürlich auch das strafrechtliche Gewaltdarstellungsverbot des § 131 StGB diskutiert werden. Im Lichte öffentlicher, kirchlicher, wie auch
oppositioneller Kritik der Unionsparteien an den seit dem 1. StrRG realisierten und im Rahmen
des Entwurfs eines 4. StrRG der Regierungskoalition aus SPD und FDP geplanten, neuen
Liberalisierungen des Sexualstrafrechts, plädierte Bundesjustizminister Gerhard JAHN (SPD)
bereits 1971 für eine Neukonzeptualisierung des § 131 StGB (der bis dato den Tatbestand der
Staatsverleumdung normierte) i.S.e. Gewaltdarstellungsverbots und proklamierte einen diesbzgl. Entwurf ohne Beteiligung der Bundesregierung im BAnz.;944 die Formulierung der Norm
934
935
936
937
938
939
940
941
942
943
944
Vgl. BÜTTNER/GOTTBERG 1995, S.2; BITKOM 2002b, S.1; GANGLOFF 2001, S.23 und GANGLOFF 2003, S.47.
Vgl. SCHULZ/BRUNN/DREYER et al. 2007, S.152f..
Vgl. GANGLOFF 2001, S.23; BÜTTNER/GOTTBERG 2002, S.17 und GOTTBERG 2002, S.54.
Vgl. GOTTBERG 2002, S.53 und KLEIST/PALZER 2002, S.105.
Vgl. STATH 2006, S.264ff..
Vgl. EuGH, Urt. v. 14.02.2008, Az.: C 244/06 und RETZKE 2006, S.83f..
Dgl. könnte jedenfalls u.U. mutatis mutandis EuGH, Urt. v. 14.10.2004, Az.: C-36/02 suggerieren.
Vgl. KOM 2008/0207, S.10f..
INI/2008/2173.
Vgl. KOM 2008/0207, S.10.
GERHARDT 1974, S.21.
170
orientierte sich z.T. an § 9 Nr. 3 der Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutze des
deutschen Volkes vom 04.02.1933, die bereits ein Verbot periodischer Druckschriften
bestimmte, "wenn in ihnen zu Gewalttätigkeiten aufgefordert oder angereizt wird oder wenn in
ihnen Gewalttätigkeiten, nachdem sie begangen worden sind, verherrlicht werden." Aber bereits
GERHARDT 1974 spekulierte, dass das Gewaltdarstellungsverbot primär nur den "sentimentsbestimmten Regungen potentieller Wählerschichten" ein "Ausgleich zur Liberalisierung des
Sexualstrafrechts"945 sein sollte, "dass es bei der Einführung dieser Strafvorschrift nicht so sehr
um die Verwirklichung einer von der Fachwissenschaft gestützten gesetzgeberischen Notwendigkeit als vielmehr darum ging, bestimmten Teilen der Öffentlichkeit, die der heftig
umstrittenen Reform des Sexualstrafrechts scharf ablehnend gegenüberstanden, in einem
anderen, recht volkstümlichen Verlangen entgegenzukommen."946
Die verfassungsrechtlichen und die medienwirkungstheoretischen Bedenken ggü. der Norm
wurden im Gesetzgebungsprozess komplett ignoriert.947 Tatsächlich waren einerseits die
postulierten Kausalketten (auf Basis der Lerntheorie)948 zwischen der Mediengewaltexposition
und der realen Gewalttätigkeit der Rezipienten auch nach dem damaligem Kenntnisstand des
Gesetzgebers nicht strapazierbar. KIENZLE 1980 konstatierte i.d.S. korrekt, dass diese
Erweiterungen der Verfolgungsmöglichkeiten von Gewaltdarstellungen dazu bestimmt waren,
"eine 'Erklärung' gesellschaftlicher Gewaltursachen zu liefern und die Schuld Personen
(Autoren) statt Verhältnissen zuzuschieben."949 Ungeachtet dessen wurde die Neufassung des §
131 StGB letztlich in den Entwurf des 4. StrRG integriert, trat am 24.11.1973 in Kraft und sollte
auch als ein Komplement der §§ 130 und 130a StGB die vermeintliche Hochkonjunktur
nationalsozialistischer Schriften konterkarieren:950 I.d.S. kombinierte die Norm originär zwei
heterogene Straftatbestände: Gewaltdarstellung und Aufstachelung zum Rassenhass.
Am 25.02. 1985 wurde infolge des Inkrafttretens des JÖSchNG die Norm aus syntaktischen
Gründen neuformuliert und die Verletzung der Menschenwürde als eine dritte Tatbestandsalternative integriert und am 01.12.1994 wurde infolge des Inkrafttretens des Gesetzes zur
Änderung des Strafgesetzbuches, der Strafprozeßordnung und anderer Gesetze der Tatbestand
der Aufstachelung zum Rassenhass gestrichen. Die aktuelle Fassung der Norm ist die Folge des
am 01.04.2004 in Kraft getretenen Gesetzes zur Änderung der Vorschriften über die Straftaten
gegen die sexuelle Selbstbestimmung und zur Änderung anderer Vorschriften (SexÄndG) und
u.a. eine Reaktion auf den sog. Amoklauf von Erfurt vom 26.04. 2002:951
(1)
(2)
(3)
(4)
Wer Schriften (§ 11 Abs. 3), die grausame oder sonst unmenschliche Gewalttätigkeiten gegen
Menschen oder menschenähnliche Wesen in einer Art schildern, die eine Verherrlichung oder Verharmlosung solcher Gewalttätigkeiten ausdrückt oder die das Grausame oder Unmenschliche des
Vorgangs in einer die Menschenwürde verletzenden Weise darstellt,
1. verbreitet
2. öffentlich ausstellt, anschlägt, vorführt oder sonst zugänglich macht,
3. einer Person unter achtzehn Jahren anbietet, überläßt oder zugänglich macht oder
4. herstellt, bezieht, liefert, vorrätig hält, anbietet, ankündigt, anpreist, einzuführen oder auszuführen unternimmt, um sie oder aus ihnen gewonnene Stücke im Sinne der Nummern 1 bis 3 zu
verwenden oder einem anderen eine solche Verwendung zu ermöglichen,
wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft.
Ebenso wird bestraft, wer eine Darbietung des in Absatz 1 bezeichneten Inhalts durch Rundfunk,
Medien- oder Teledienste verbreitet.
Die Absätze 1 und 2 gelten nicht, wenn die Handlung der Berichterstattung über Vorgänge des
Zeitgeschehens oder der Geschichte dient.
Absatz 1 Nr. 3 ist nicht anzuwenden, wenn der zur Sorge für die Person Berechtigte handelt; dies
gilt nicht, wenn der Sorgeberechtigte durch das Anbieten, Überlassen oder Zugänglichmachen seine
Erziehungspflicht gröblich verletzt.
Das Strafmaß bei Verstoß gegen die Verbote des § 131 StGB ist gem. Abs. 1 i.V.m. § 40 Abs. 1
und 2 Satz 3 StGB mit bis zu einem Jahr Freiheitsstrafe oder einer Geldstrafe von bis zu 10,8
945
946
947
948
949
950
951
GERHARDT 1974, S.7.
GERHARDT 1974, S.15.
GERHARDT 1974, S.22f..
Vgl. OEHLER 1988, S.184 und ERDEMIR 2000, S.4.
Vgl. KIENZLE 1980, S. S.35f..
Vgl. BETHMANN 2002, S.90 und STATH 2006, S.39.
Vgl. KRAUSE 2006, S.8f.; ERDEMIR 2000, S.69f. und STATH 2006, S.39.
171
Millionen Euro bemessen.952 Den inkriminierten Trägermedien selbst droht nicht nur die
bundesweite Beschlagnahme, sondern nach § 74d StGB einerseits auch die Einziehung aller
Exemplare, "die sich im Besitz der bei ihrer Verbreitung oder deren Vorbereitung mitwirkenden
Personen befinden oder öffentlich ausgelegt oder beim Verbreiten durch Versenden noch nicht
dem Empfänger ausgehändigt worden sind." (Abs. 2) Andererseits wird ggf. gleichzeitig gar die
Unbrauchbarmachung aller Herstellungsvorrichtungen (Platten, Formen, Drucksätze, Druckstöcke, Negative, Matrizen, Masterbänder etc.) angeordnet (Abs. 1 Satz 2). I.d.S. drohen den
Betroffenen nicht nur finanzielle Verluste, die aus Verstößen gegen § 131 StGB (und ggf.
Verstößen gegen das JuSchG), i.d.S. fehlinvestierten Werbekampagnen und dem fehlenden
Umsatz resultieren, sondern den Rechteurhebern u./o. -inhabern drohen auch massive, u.U.
existenzielle, materielle Verluste;953 originär deutschen Produktionen droht u.U. gar die
komplette Zerstörung. Auch sensibilisieren spektakuläre (strafaktionistische) Massenbeschlagnahmen immer wieder die Betroffenen,954 die letztlich auch als Straftäter stigmatisiert werden.
Die Norm ist zwar (primär) keine des Jugendmedienschutzes (s.u.), sie tangiert aber erheblich
die generelle Medienausgestaltung: Seit dem 02.03.1974 (und aktuell gem. § 15 Abs. 2 Nr. 1
JuSchG) sind z.B. Trägermedien, die einen in § 131 StGB bezeichneten Inhalt haben, schwer
jugendgefährdend und infolge dessen automatisch indiziert, ohne dass es einer Aufnahme in den
Index und einer Bekanntmachung bedarf. Auch sind gem. § 18 Abs. 5 JuSchG konsequenterweise (und ohne eigene Prüfmöglichkeit der BPjM) Trägermedien in die Liste B des Index aufzunehmen, wenn ein Gericht in einer rechtskräftigen Entscheidung (Beschlagnahme, Strafbefehle u. -urteile etc.) einen diesbzgl. Inhalt festgestellt hat.955 Nach § 18 Abs. 2 Nr. 2 JuSchG
952
953
954
955
Vgl. SEIM 1997, S.132; ERDEMIR 2000, S.107f. und LAI 2006, S.58. Das OLG Hamm argumentierte mit Urt. v. 10.12.2002
(Az.: 4 Ws 232/02) gegen die Auffassung, dass § 131 Abs. 1 StGB alle Formen des Umgangs Erwachsener mit den
entsprechenden (beschlagnahmten) Medien verbiete: "Eine so verallgemeinernde Auslegung verbietet sich schon angesichts
der vom Gesetzgeber sehr differenziert und abgestuft geregelten einzelnen Straftatbestände in § 131 Abs. 1 Nr. 1 bis 4 StGB.
Tatsächlich ist auch z.B. der bloße Besitz – der bei Richtigkeit der Rechtsauffassung […] ebenfalls strafbewehrt sein müsste –
vom Straftatbestand eindeutig nicht erfasst. Auch der besondere und weitgehende Schutz von Personen unter achtzehn Jahren,
wie er in Nr. 3 dieser Vorschrift Ausdruck gefunden hat, läßt sich mit der Auffassung […] nicht in Einklang bringen. Denn
dafür hätte kein Anlass bestanden, wenn vom Gesetzgeber bereits das Anbieten, Überlassen oder Zugänglichmachen einer
entsprechenden Schrift – alles Formen des Umgangs damit – an einen Erwachsenen als für die Tatbestandserfüllung ausreichend angesehen worden wäre." Das Anbieten, Überlassen oder Zugänglichmachen der entsprechenden Schriften ist insb.
noch keine hinreichende Bedingungen der Erfüllung des Tatbestands des Verbreitens gem. § 131 Abs. 1 Nr. 1 StGB; ein
Verbreiten liegt nämlich gem. der ständigen Rechtsprechung des BGH nur dann vor, "wenn die Schrift ihrer Substanz nach –
und damit körperlich – einem größeren, nach Zahl und Individualität unbestimmten Personenkreis zugänglich gemacht wird
[…]." [St 47, 55 (59)] Nur für die Kettenverbreitung ist z.B. gem. BGHSt 45, 41 anerkannt, "daß die Weitergabe eines Einzelexemplars an eine bestimmte Person ausreicht, wenn sie in der Absicht erfolgt, daß ein größerer Personenkreis nacheinander in
dessen Besitz und damit in den Genuß der Benutzung kommen kann […]." Infolge dessen können bspw. Gewerbetreibende
einerseits Einzelexemplare oder gar kleinere Mengen gem. § 131 StGB beschlagnahmter Medien beziehen u./o. einführen und
vorrätig halten und im Einzelhandel innerhalb von Geschäftsräumen, die Kindern und Jugendlichen nicht zugänglich sind und
nicht von ihnen eingesehen werden können, Erwachsenen "unter dem Ladentisch" (auf dezidierte Nachfrage) zugänglich
machen. Ein Vorrätighalten einer (nicht definierten) größeren Menge der Medien kann i.d.S. aber andererseits bereits ein (hinreichendes) Indiz einer strafwürdigen Verbreitungsabsicht sein, ein Vorrätighalten ist aber eine i.d.R. notwendige Bedingung
eines attraktiven Handels, so dass der gewerbliche Handel ein unkalkulierbares, potenziell existenzbedrohendes Risiko bleibt.
Privatverkäufe und insb. der Gebrauchthandel (unter Berücksichtigung der sonstigen Verbote des § 15 Abs. 1 JuSchG und des
§ 131 StGB) werden dank des Urteils des OLG aber größtenteils entkriminalisiert.
Vgl. ERDEMIR 2000, S.107f..
Vgl. SEIM/SPIEGEL 2001, S.187.
Vgl. MONSSEN-ENGBERDING/LIESCHING 2008, S.11. Folge der Norm ist nach SCHUMANN 2001, dass bspw. selbst
ein sachlich falscher Strafbefehl, "der z.B. wegen Fristversäumnis rechtskräftig wird, automatisch bundesweite Indizierungswirkung für die betroffene Schrift entfaltet," (S.88) auch ungeachtet einer zuvor oder später ergangenen höchstrichterlichen
Entscheidung, die sie für nicht tatbestandserfüllend erklärt. Eine bürokratische Kettenreaktion der besonderen Art demonstriert
die Problematik der Norm: Am 24.01.2003 publizierte der Medienvertrieb in Buchholz die sog. "30th Anniversary Edition" des
gem. § 7 Abs. 2 JÖSchG mit "Nicht freigegeben unter achtzehn Jahren" gekennzeichneten Films NIGHT OF THE LIVING DEAD
in Deutschland. Im Dezember 2009 indizierte die BPjM die Edition auf Liste B des Index. Die Behörde hatte den Film offensichtlich mit der namensgleichen, 23 Jahre älteren und seit 1996 beschlagnahmten Neuverfilmung aus dem Jahre 1990 verwechselt! Die BPjM veranlasste aber infolge dessen keine Listenstreichung, denn das AG Tiergarten habe eine inhaltsgleiche
US-amerikanische Auflage des Films bereits am 09.05.2000 gem. § 131 StGB beschlagnahmt (Az.: 349 Gs 1913/00); de facto
hatte das AG aber nur eine Auflage der Neuverfilmung des Films im Vertrieb der Columbia TriStar Home Video, Inc.
beschlagnahmt, im Rahmen des Beschlusses aber fälschlich die Anchor Bay Entertainment, Inc. angegeben, die seit 1999 eine
US-amerikanische Auflage der "30th Anniversary Edition" des Originals vertrieb. Dass das AG nicht das Original, sondern nur
die Neuverfilmung beschlagnahmt hatte, demonstriert auch die Begründung des Beschlusses, dass inhaltsgleiche Auflagen des
Films bereits 1992 erstmals indiziert und 1996 gem. § 131 StGB beschlagnahmt worden waren, sieben, resp. drei Jahre vor der
Erstveröffentlichung der diskutierten Edition des Originals! Auch rekurrierte das Gericht expl. auf die eigenen Beschlüsse
bzgl. der Beschlagnahme der Neuverfilmung v. 28.03.1996 (Az.: 352 Gs 1221/96) und v. 09.07.1999 (Az.: 350 Gs 2816/99).
Ungeachtet dessen ist der BPjM offensichtlich nur der Name des Films und des Vertriebs hinreichend für die bis heute
172
sind natürlich auch Trägermedien in Liste B aufzunehmen, die nur nach Einschätzung der BPjM
im Rahmen eines regulären Indizierungsverfahrens einen diesbzgl. Inhalt haben. Infolge dessen
hat die Bundesprüfstelle ihre Entscheidung der zuständigen Strafverfolgungsbehörde mitzuteilen, aber ggf., sollte per rechtskräftigem Entscheid konstatiert werden, dass der Medieninhalt
den Tatbestand der Norm nicht erfüllt, in Liste A umzutragen oder den Fall gem. § 24 Abs. 4
JuSchG gar erneut entscheiden, "wenn in Betracht kommt, dass das Medium aus der Liste zu
streichen ist."
Das erst die BPjM als einer der diesbzgl. Hauptlieferanten der Staatsanwaltschaften erstinstanzlich ein Medium auf Liste B indiziert, ist der Regelfall: Nach SCHULZ/BRUNN/
DREYER et al. 2007 erfolgten einerseits infolge von regulären Indizierungsanträgen u./o. anregungen zwischen dem 01.04.2003 und Mai 2007 insg. 217 Einträge in Liste B des Index;
erst in knapp über 65 Fällen hatte die BPjM aber eine Rückmeldung bzgl. des
Verfahrensausgangs erhalten: "4 bundesweite Beschlagnahmen; mind. 50 Einstellungen des
Verfahrens, da der Täter entweder im Ausland ansässig oder nicht zu ermitteln war; 3 Fälle, in
denen die Strafbarkeit von englischen Musiktexten verneint wurde; 8 Strafurteile bzw.
Strafbefehle ohne begleitenden Beschlagnahmebeschluss."956 Bzgl. der restlichen 152 Medien
war nicht bekannt, "inwiefern das Ermittlungsverfahren noch läuft oder ob schlicht eine
Rückmeldung der zuständigen Staatsanwaltschaft unterblieben ist."957 Andererseits erfolgten
aber innerhalb desselben Zeitraums nur 26 Listeneinträge nach § 18 Abs. 5 JuschG (also auf
Liste B des Index) infolge einer rechtskräftigen, gerichtlichen Entscheidung
Natürlich sind die Strafttatbestände der Norm u.U. erfüllende Trägermedien gem. § 14 Abs. 3
JuSchG im Rahmen der Alterseinstufung auch nicht kennzeichnungsfähig: Der Ständige
Vertreter der OLJB bei der FSK weist bspw. die Antragsteller nach § 12 Abs. 2 FSK-Grs gar
darauf hin, "dass er den Vorgang der in FSK-Angelegenheiten zuständigen obersten Landesjugendbehörde zur Prüfung vorlegen wird, ob eine Mitteilung an die zuständige Strafverfolgungsbehörde für den Fall zu veranlassen ist, dass eine Veröffentlichung in dieser Fassung
vorgesehen ist." Die Mitteilung an die zuständige Strafverfolgungsbehörde wird ggf. die Regel
sein. Eine analoge Regelung formulieren die USK-Grs zwar nicht, aber bereits § 14 Abs. 3 Satz
2 JuSchG bestimmt, dass die OLJB Tatsachen, die auf einen Verstoß gegen § 15 Abs. 1 JuSchG
schließen lassen, der zuständigen Strafverfolgungsbehörde mitzuteilen haben, so dass i.d.R.
bereits Medien, die nur nach Einschätzung der OLJB einen in § 131 StGB bezeichneten Inhalt
haben, nicht in der BRD publiziert werden.
14.1
Der Schutzzweck der Norm
Bereits im Lichte der gravierenden Strafandrohungen stellt sich die Frage nach dem Sinn und
Zweck der Norm: Das erklärte Ziel des Gesetzgebers war ein Signal gegen die vermeintlichen
Brutalisierungstendenzen in den Medien, die Betroffenen selbst sollten zur Selbstkontrolle und
zur Beendigung des Geschäfts mit den Gewaltdarstellungen animiert werden.958 Wie KRAUSE
2006 aber richtig kommentiert, kann das nicht der legitime Zweck der Norm i.S.d. Verhältnismäßigkeitsprinzips sein,Aufgabe des Strafrechts ist nämlich nur der Rechtsgüterschutz: "Eine
sittenbildende Kraft soll dem Strafrecht gerade nicht zukommen."959 Eine Signalwirkung kann
i.d.S. nur ein (intendierter) Nebeneffekt zur Realisierung eines Rechtsgutschutzes sein, nicht
956
957
958
959
gültige(!) Indizierung gem. § 18 Abs. 5 JuSchG, ohne dass die Indizierung die Chance einer Verjährung hätte (vgl. KÖHLER/
DISTLER 2004 und MONSSEN-ENGBERDING/LIESCHING 2008); erst infolge einer Korrektur des Beschlagnahmebeschlusses wäre nach Auffassung der BPjM eine Listenstreichung möglich. Tatsächlich wurde im August 2010 gar eine
inhaltsgleiche US-amerikanische Version des Films im Vertrieb der UAV Entertainment auf Liste B indiziert. Der Vollständigkeit halber sei aber auch der bis heute einzige konträre Fall erwähnt: Im August 2009 erfolgte dank § 18 Abs. 7 JuSchG die
Listenstreichung des am 29.09.1984 indizierten Films MUTIERT – VERGESSEN IN DER HÖLLE im Vertrieb der Starlight-Film
Produktions- und Vertriebs GmbH, (s. BAnz. Nr. 128 v. 28.08.2009), tatsächlich ist der Film aber absolut Inhaltsgleich mit
dem Film CRYING FIELDS – SIE WURDEN ZU BESTIEN DER APOKALYPSE desselben Vertriebs, den das AG Bochum mit Beschl.
v. 22.01.1987 (Az.: 64 Gs 291/87) gem. § 131 StGB beschlagnahmt hatte.
SCHULZ/BRUNN/DREYER et al. 2007, S.153.
SCHULZ/BRUNN/DREYER et al. 2007, S.153f..
Vgl. BT-Drs. VI/3521, S.7; 10/2546, S.22; OEHLER 1988, S.184; MEIROWITZ 1993, S.352f. und ERDEMIR 2000, S.191.
Vgl. KRAUSE 2006, S.12f..
173
Selbstzweck der Norm. Die Frage ist aber, welches Rechtsgut § 131 StGB schützen soll? In
Orientierung an der Prämisse des Gesetzgebers, dass eine Mediengewaltexposition letztlich in
gewalttätigem, ja u.U. gar gewaltimitativen Verhalten der Rezipienten resultieren könne,
empfehlen sich nur vier Schutzgüter: Der Jugendmedienschutz, der Schutz des Einzelnen, der
Schutz der Menschenwürde und der Schutz des öffentlichen Friedens.960
14.1.1
Schutz der Jugend
Nach LIESCHING 2002 ist die Intention des Gesetzgebers insofern eindeutig, "als die Norm
'nicht nur' – also immerhin auch – 'als Jugendschutztatbestand'961 ausgestaltet werden sollte.
Zudem war der Ausgangspunkt aller Überlegungen zu einem Gewaltdarstellungsverbot, dass
[...] eine 'auf den Jugendschutz ausgerichtete Gesetzgebung'962 [...] auch die Verbreitung
gewaltverherrlichender Schriften regeln müsse. Kein Zufall ist es insofern, dass § 131 StGB
gerade durch das […] JÖSchNG […] eine tatbestandliche Erweiterung erfuhr, und auch im
Rahmen der Beratungen des Ausschusses für Jugend, Familie und Gesundheit als Maßnahme
zur Verbesserung des Jugendschutzes bezeichnet wurde."963 Auch die am 01.04.2004 in Kraft
getretene letzte Novellierung der Norm diskutierte der Gesetzgeber insb. im Lichte eines
jugendschützerischen Gesetzesaktionismus. Seitdem wird auch regelmäßig für eine deutlich
konsequentere Anwendung der Norm und gar die Schaffung einer analogen Verbotsnorm
speziell für gewaltdarstellende Computerspiele als Jugendmedienschutzmaßnahmen plädiert (s.
Kapitel 21.2). Auch nach dem Wortlaut der Norm selbst verbietet einerseits Abs. 1 Nr. 3 ausschließl., dass die inkriminierten Schriften Minderjährigen angeboten, überlassen oder sonst
zugänglich gemacht werden. Andererseits formuliert Abs. 4 gar ein Erziehungsprivileg.964 Die
Geschichte der Norm, wie auch die Exponierung des Jugendschutzes implizieren, dass der
Jugendmedienschutz selbst nach der gesetzgeberischen Intention ein eigenständiges Normziel
des § 131 StGB sein sollte.965 Nach der h.M. kann der Jugendmedienschutz aber nur ein
Nebeneffekt des Gewaltdarstellungsverbots sein.966 Verfassungsrechtlich wären die absoluten
Herstellungs- und Verbreitungsverbote nicht mir dem Rechtsgut des Jugendmedienschutzes
legitimierbar.967
14.1.2
Schutz des Einzelnen
Bzgl. des evtl. Schutzes des Einzelnen als Rechtsgut des § 131 StGB argumentierte bspw. der
BGH, die Norm solle auch den Einzelnen vor einer "aggressionsbedingten Fehlentwicklung"
bewahren, "wie sie etwa durch Aktivierung oder Verstärkung vorhandener Labilitäten oder
Anlagemomente im Sinne einer Stimulierung oder Abstumpfung und Verrohung eintreten kann
[...]."968 Der Zweck der Norm besteht im Lichte der Argumentation des BGH gem.
DEBUSMANN 2008 darin, "einem Individuum Schutz aufzuzwingen […]. Dieser Schutz in
Form der Freiheitsbeschränkung dient nicht dem Schutz berechtigter freiheitlicher Interessen
Anderer oder der Allgemeinheit: Einziger Grund für diese Bevormundung ist, den Einzelnen
vor sich selbst und seiner angeblich nicht sinnvoll genutzten Handlungsfreiheit zu schützen.
Dieses Einschreiten des Staates wird oftmals damit begründet, dass ein vermeintlich höheres
Ziel der moralischen Besserung der Bürger angestrebt wird, ebenso wie die Verhinderung von
Schlimmerem. […] Der legitime Gesetzeszweck basiert sozusagen auf selbstloser Nächstenliebe, denn die angestrebte Erziehungsmaßnahme erwachsener, mündiger Bürger soll schließlich deren seelisch-geistige Gesundheit bewahren."969
960
961
962
963
964
965
966
967
968
969
Vgl. SCHULZ 2002, S.58.
Vgl. BT-Drs. VI/3521, S.6 und 10/2546, S.16f..
Vgl. BT-Drs. VI/3521, S.2.
LIESCHING 2002, S.92f.; vgl. ERDEMIR 2000, S.70 und KRAUSE 2006, S.16.
Vgl. KRAUSE 2006, S.15f..
Vgl. LIESCHING 2002, S.92f..
Vgl. ERDEMIR 2000, S.113f. und KRAUSE 2006, S.15f..
Vgl. BEISEL 1998, S.297.
Vgl. BGH, Urt. v. 12.07.2007, Az.: I ZR 18/04 und Urt. v. 15.12.1999, Az.: 2 StR 365/99; BT-Drs. VI/3521, S.6 und BT-Drs.
10/2546, S.21.
Vgl. DEBUSMANN 2008.
174
Der pädagogische Gedanke des Schutzzwecks kann aber für ein Erwachsenenstrafrecht nicht
tragend sein:970 Der legitime Zweck der Norm kann nicht sein, die Entwicklung Erwachsener zu
selbstbestimmten und eigenverantwortlichen Personen, resp. Erwachsene vor sich und um ihrer
selbst Willen zu schützen,971 will man nicht eine der fundamentalen Prämissen der Demokratie,
d.h. die Annahme von mündigen, selbstbestimmten und eigenverantwortlichen Bürgern,
komplett zur Disposition stellen und die Bürger zu Medienmündeln degradieren. Nach BIRKE
2007 muss das Selbstbestimmungsrecht auch die Legitimation eines gewissen Risikoverhaltens
garantieren; "den Bürger vor sich selbst zu schützen, sollte keine staatliche Aufgabe sein.
Lungenkrebs durch Rauchen ist keine Legitimation für dessen Verbot im Privatbereich. Selbst,
wenn einst der Nachweis gelingen sollte, dass Gewaltmedien die echte Gewaltbereitschaft
geringfügig steigern [...], ist eine minimale Risikosteigerung noch keine Legitimation, mit
einem Totalverbot die individuelle Freiheit so weit zu beschneiden!"972 Der Schutz des
Einzelnen kann i.d.S. nur eine Rechtswirkung, aber nicht ein Schutzgut des § 131 StGB sein.
14.1.3
Schutz der Menschenwürde
Im Lichte der Tatbestandsalternative der Verletzung der Menschenwürde wird z.T. auch
argumentiert, dass der Schutz der Menschenwürde selbst das Rechtsgut der Norm sei.973 Dann
wäre aber die Frage vordringlich, wessen Würde die Norm schützen soll?974 Die Verletzung der
Menschenwürde fiktiver Menschen ist nicht möglich, denn sie (und insb. auch nur menschenähnliche Wesen; s.u.) können nicht Träger realer Grundrechte sein.975 Auch eine Verletzung der
Menschenwürde realer (freiwillig partizipierender) Darsteller, die die fiktiven Gewaltopfer
personifizieren, ist nicht plausibel: Nach KRAUSE 2006 ist zu beachten, "dass diese
Verletzungen in einer Scheinwirklichkeit stattfinden. Diese Verletzung des Darstellers durch die
[…] Simulation soll gerade nicht die Würde des Menschen verletzen können. Vielmehr ist auch
denkbar, dass sich der Schauspieler gerade durch die Wahl der Rolle und seine schauspielerische Leistung zu verwirklichen sucht. So wird auch betont, dass gerade die Freiwilligkeit eine Verletzung der Menschenwürde ausschließt. Der Schauspieler wird hier gerade nicht
wie ein Objekt angeboten sondern stellt sich vielmehr selber zur Schau. So kann kein
verletzender Angriff auf die Würde des Darstellers vorliegen, wenn dieser sich in keiner Weise
angegriffen fühlt."976
Die Norm soll der Vollständigkeit halber auch nach ganz h.M. nicht die Würde konkreter
(realer), dargestellter Personen schützen; die Wahrung des Ehrenschutzes ist bereits anderweitig
hinreichend strafrechtlich reglementiert.977 Auch ein evtl. Schutz der Würde der Rezipienten ist
nicht plausibel, Gewaltdarstellungen können (in einer demokratischen Gesellschaft als solche
prämissiv als Standard anzunehmende) selbstbestimmte und eigenverantwortliche Rezipienten
nämlich nicht zum Objekt degradieren.978 Die Orientierung an einer nur subjektiv empfundenen
Verletzung der Würde einzelner Rezipienten wäre ohnedies offensichtlich willkürlich.979
970
971
972
973
974
975
976
977
978
979
Vgl. KRAUSE 2006, S.14f./18.
Vgl. MEIROWITZ 1993, S.385; ERDEMIR 2000, S.121; LIESCHING 2002, S.92f.; SCHULZ 2002, S.63 und KRAUSE
2006, S.14f./18.
Vgl. BVerfGE 45 187 (227); 57, 275 (278) und BVerwGE 82, 45 (49).
Vgl. OEHLER 1988, S.189.
Vgl. KRAUSE 2006, S.15.
Bzgl. der philosophischen Problematik eines potenziellen Personenstatus von Computerfiguren, wie auch der Implikationen
einer evtl. "Dignitas virtualis", s. DEBUSMANN 2008.
KRAUSE 2006, S.17; vgl. MEIROWITZ 1993, S.384 und BEISEL 1998, S.298-301. Gem. SCHULZ/BRUNN/DREYER et
al. 2007 hat aber die Rechtsprechung z.B. nach BVerwGE 64, 274 und 84, 317 die Menschenwürde objektiviert und bspw. das
Verbot bestimmter Selbstdarstellungen als zulässig angesehen, "auch wenn die Darstellung dem subjektiven Willen und dem
Selbstverständnis der agierenden Darsteller entsprach." (S.76) Im Rahmen beider Gerichtsentscheide wurde aber nur
argumentiert, dass durch die Umstände ihres Ablaufs sog. Peepshows die Menschenwürde der Darsteller verletzten und infolge
dessen sittenwidrig seien. Diesbzgl. kommentierte aber bereits SCHULZ 1995: "Die 'Achtung der Menschenwürde', gemeint
als 'Wahrung der guten Sitten', hat nicht nur keine verfassungsrechtliche Basis, sondern erweist sich […] auch rechtspolitisch
als inadäquat." (S.357)
Vgl. ERDEMIR 2000, S.124.
Vgl. OEHLER 1988, S.189; BROCKHORST-REETZ 1989, S.42; MEIROWITZ 1993, S.152ff.; ERDEMIR 2000, S.125 und
KRAUSE 2006, S.18.
Vgl. ERDEMIR 2000, S.93 und KRAUSE 2006, S.18f..
175
Letztlich ist auch nicht plausibel, dass die Menschenwürde als nur abstrakter Rechtswert
geschützt sein soll, ungeachtet dessen, dass spätestens seit der tatbestandlichen Erweiterung des
§ 131 StGB durch das JÖSchNG und auch im Rahmen aktuellerer Debatten die Norm insb.
auch mit dem Schutz der Menschenwürde legitimiert werden soll: Nach STOFFERS 1989 ist
eine "imperative Qualität des Konsenses über den Schutz der Menschenwürde" mitverantwortlich dafür, "daß bei einer nach wie vor widersprüchlichen Forschungslage hinsichtlich
gefährdender Medienwirkungen mit allgemeiner Zustimmung massiv prohibitive Maßnahmen
gegenüber Medien mit angenommenem Gefährdungspotential gefordert und durchgesetzt
werden."980 Wie ERDEMIR 2000 aber bereits plausibel argumentierte, kann der Schutz einer
abstrakten Menschenwürde nicht mit den Kommunikationsfreiheiten des Art. 5 GG und insb.
nicht mit der Kunstfreiheit kollidieren, ergo nicht die Rechtsfolgen des § 131 StGB
legitimieren, denn die Freiheit des Einzelnen breche erst da, "wo Gefahren für Rechtsgüter
anderer erwachsen, nicht aber am Dogma der Prinzipien bzw. dort, wo Würde und Anstand als
Selbstzweck in Rede stehen."981
14.1.4
Schutz des öffentlichen Friedens
Letztlich ist gem. ganz h.M. in der rechtswissenschaftlichen Literatur, wie auch größtenteils der
Rechtsprechung, der öffentliche Friede das Rechtsgut der Norm,982 mithin ist § 131 StGB ja
auch Teil des siebten Abschnitts des besonderen Teils des StGB (Straftaten gegen die öffentliche Ordnung).983 Bereits der damalige, für die Reform der Norm im Rahmen des JÖSchNG
maßgeblich mitverantwortliche Bundesfamilienminister Heiner GEIßLER (CDU) fantasierte in
der dritten Lesung des JÖSchNG am 06.12.1984 von einer "Brutalographie" der Medien und
argumentierte, fiktionale Gewaltdarstellungen sollten verboten werden, damit sich reale Gräueltaten wie z.B. der "Holocaust, die Verbrechen der Nationalsozialisten in den Konzentrationslagern oder die Verbrechen von Kommunisten in Laos, Kambodscha, Vietnam oder in der
Sowjetunion selber im Archipel Gulag"984 nicht wiederholten, warnte i.d.S. gleichermaßen vor
einer medieninduzierten (anomischen) Dystopie infolge der Verbreitung der inkriminierten
Gewaltdarstellungen, wie er auch eine Teilschuld fiktionaler Medieninhalte an den referrierten
realen Gräueln implizierte!
Ungeachtet dessen wird der öffentliche Friede aber regelmäßig als undefinierbare, unkonkrete
und extrem weit auslegbare Leerformel moniert, die u.a. die Eigentumsgarantie (Art. 14 Abs. 1
Satz 1 GG), die allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG), das Recht auf Leben und
körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 GG) und i.w.S. den Staatsschutz subsumiert.985 Für
den § 131 StGB soll im Lichte der kolportierten Mediengewaltwirkungen aber konkret das
Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit einschlägig sein:986 I.d.S. wäre § 131
StGB ein abstraktes Gefährdungsdelikt, dass die Allgemeinheit vor sozialschädlicher Aggression, resp. Gewalttätigkeiten, d.h. einer medieninduzierten Tätergenerierung schützen soll.987
Aber KRAUSE 2006 monierte bspw. bereits, dass die Norm die Strafbarkeit weit vor eine den
öffentlichen Frieden tatsächlich störende Tat vorverlegt, "in ein Feld, wo ein konkretes Risiko
für eine Verletzung des Rechtsgutes durch eine Tathandlung [...] kaum nachweisbar ist."988
Der öffentliche Friede ist als schützenswertes Rechtsgut der Norm im Lichte der je nach Leseart
des Forschungsstands nur kaum bis gar nicht existenten Aggressionssteigerung infolge einer
Mediengewaltexposition aber insg. nicht tragfähig, so dass der Gesetzgeber wohl seine Einschätzungsprärogative definitiv massiv überstrapaziert hat: Selbst insofern die Prämisse zutref980
981
982
983
984
985
986
987
988
STOFFERS 1989, S.201.
ERDEMIR 2000, S.124 und vgl. MEIROWITZ 1993, S.397.
Vgl. BGH, Urt. v. 16.11.1993, Az.: 1 StR 193/93; Urt. v. 12.07.2007, Az.: I ZR 18/04; MEIROWITZ 1993, S.152f./350f. und
ERDEMIR 2000, S.69.
Vgl. STATH 2006, S.39.
BT-PlPr 10/108, S.8008.
Vgl. MEIROWITZ 1993, S.351.
Vgl. BEISEL 1998, S.306; ERDEMIR 2000, S.126 und KRAUSE 2006, S.14/28.
Vgl. BT-Drs. VI/3521, 6; 10/2546; MONSSEN-ENGBERDING 1998, S.130; ERDEMIR 2000, S.70 und SCHULZ/BRUNN/
DREYER et al. 2007, S.97.
Vgl. KRAUSE 2006, S.13f..
176
fend sein sollte, dass eine Mediengewaltexposition das Aggressionsniveau der Rezipienten
geringfügig steigern kann, soll das Strafrecht nicht bereits jede noch so geringfügige (potenzielle) Verletzung eines Rechtsguts pönalisieren, sondern das (antizipierte) sozial-schädliche
Verhalten muss gem. dem sog. fragmentarischen Charakter des Strafrechts vielmehr die soziale
Ordnung und den Rechtsfrieden besonders gravierend stören, um strafwürdig zu sein.989 Die für
eine Strafwürdigkeit medialer Gewaltdarstellungen prinzipiell notwendige Bedingung einer
auch bei erwachsenen Rezipienten diesbzl. qualifiziertes aggressives Verhalten, ja Gewalttätigkeiten (resp. Gewaltdelinquenz) generierenden, anomischen Wirkung der Darstellungen ist
weder belegt, noch von der seriösen Forschung indiziert;990 im Gegenteil: Die anomische
Wirkung fiktionaler Mediengewalt bleibt so eine Fiktion, wie der Rückenmarksschwund durch
Onanie. Die Annahme, dass eine Verbotsnorm wie der § 131 StGB der Prävention mediengewaltinduzierter anomischer Wirkungen dienen könnte, straft letztlich auch Lügen, dass in
Deutschland infolge der Norm verbotene Medien bspw. in den deutschen Nachbarländern
(selbst ohne z.B. dem § 15 Abs. 1 JuSchG ähnliche Abgabe-, Präsentations-, Verbreitungs- und
Werbeverbote) legal sind, ohne dass der öffentliche Frieden infolge dessen destabilisiert wäre.
Zusammengefasst ist die Strafwürdigkeit medialer Gewaltdarstellungen nicht indiziert und die
Norm i.S.d. Verhältnismäßgkeitsprinzips dank des fehlenden Gefährdungsmoments der Darstellungen offensichtlich nicht hinreichend geeignet: Eine Eignung absoluter Herstellungs- und
Verbreitungsverbote für nach § 131 inkriminierte Medien ist einerseits auch im Lichte dessen
fragwürdig, dass für Alkohol bspw. nur relative Abgabgeverbote gelten, ungeachtet dessen, dass
bspw. die polizeiliche Kriminalstatistik des Bundesministeriums des Innern für das Jahr 2011
(und dgl. bereits für die Vorjahre) konstatierte, dass (ungeachtet einer leichten Rückgängigkeit)
31,8 %, resp. 47.165 der aufgeklärten Fällen im Bereich der Gewaltkriminalität (insb. der
schweren und gefährlichen Körperverletzungsdelikten) unter Alkoholeinfluss verübt wurden,991
also Alkohol ein offensichtlich gravierenderer Gefährder des öffentlichen Friedens ist, als (es)
Mediengewaltdarstellungen (sein können). Andererseits könnten (wie es bereits bei der Maßnahme der Indizierung der Fall ist) die relativ einfachen Umgehungsmöglichkeiten absolute
Verbote nicht nur unterminieren, sondern i.V.m. Anlockeffekten gar kontraproduktiv werden
lassen (s. auch die diesbzgl. Kommentierungen der Eignung der Maßnahmen der Indizierung
und der verbindlichen Alterskennzeichen). Der § 131 StGB ist aber ohne einen hinreichend
tragfähigen Schutzzweck verfassungswidrig.
14.2
Die Tatbestandsmerkmale der Norm
Ein gravierendes Problem der Norm selbst ist eine eklatante Übersummation unbestimmter,
normativer Rechtsbegriffe und infolge dessen ein Verstoß gegen das Bestimmtheitsgebot.992 Das
BVerfG urteilte aber noch, dass die Norm hinreichend bestimmt sei: "§ 131 StGB ist nicht
schon wegen einer übermäßigen Häufung auslegungsbedürftiger Tatbestandsmerkmale zu unbestimmt, wie in der Literatur vielfach angenommen wird [...]. Für die Frage nach der
Bestimmtheit der Strafnorm im Hinblick auf Art. 103 Abs. 2 GG sind hier interpretationsbedürftig die Begriffe 'Mensch', 'grausam', 'unmenschlich', 'Gewalttätigkeit', 'schildern' und 'in
einer die Menschenwürde verletzenden Weise'. Es handelt sich um eine überschaubare Zahl
normativer Begriffe […]."993 Tatsächlich sind aber auch die Begriffe "Verherrlichung" und
"Verharmlosung" interpretationsbedürftig, wie auch der Begriff "menschenähnliche Wesen" seit
Inkrafttreten des SexÄndG vom 27.11.2003. Die Norm definieren letztlich kaum noch
deskriptive Merkmale, so dass sie zum Gummiparagraphen degeneriert und die Betroffenen
bzgl. der evtl. Strafbarkeit einer Darstellung massiv irritiert sein können. Die im Folgenden z.T.
auch diskutierte Spruchpraxis der Amts- und Landesgerichte potenziert dieses Problem.
989
990
991
992
993
Vgl. BGHSt 24, 318 (319); GÜNTHER 1978, S.12 und KRAUSE 2006, S.23.
Vgl. SEIM 1998, S.45f.; SCHULZ 2002, S.58; KRAUSE 2006, S.24-28 und LAI 2006, S.58.
Vgl. BMI 2012, S8.
Vgl. GERHARDT 1974 und LAI 2006, S.58. Bzgl. eines exemplarischen Überblicks über die in der Literatur formulierten
verfassungsrechtlichen Bedenken ggü. § 131 StGB s. ERDEMIR 2000, S.2f..
BVerfGE, 87, 209 (255).
177
14.2.1
Schriften & Gewalttätigkeiten
Unproblematisch ist z.B. noch der Schriftenbegriff: Nach dem sehr weiten Schriftenbegriff des
§ 11 StGB stehen Schriften Ton- und Bildträger, Datenspeicher, Abbildungen und andere Darstellungen gleich, so dass zweifellos bspw. auch Filme und Computerspiele erfasst sind.994
Prinzipiell ist auch der Begriff der Gewalttätigkeiten unproblematisch: Nach Auffassung des
BVerfG sei Gewalt i.S.d. Norm ein (nicht konsensuales) aggressives und aktives Verhalten,
"durch das unter Einsatz oder Ingangsetzen physischer Kraft unmittelbar oder mittelbar auf den
Körper eines Menschen in einer dessen leibliche oder seelische Unversehrtheit beeinträchtigenden oder konkret gefährdenden Weise eingewirkt wird."995 Problematisch ist aber die
Erfassung auch nur mittelbarer Einwirkungen, die in einer uferlosen Ausdehnung des Gewaltbegriffs resultieren kann.996
Ungeachtet dessen urteilte der BGH für die evtl. Fiktionalität einer Gewaltdarstellung, dass aus
den tatbestandlichen Voraussetzungen der Norm nicht folge, "daß lediglich solche
Schilderungen in Betracht kommen, die tatsächlich oder zumindest denkbar in der Realität vorkommende Vorgänge zum Gegenstand haben. Vielmehr können auch Darstellungen, welche das
Grausame und Unmenschliche rein fiktiver, erkennbar frei erfundener Gewalttätigkeiten in
ihren Einzelheiten ausbreiten, eine gewaltverherrlichende oder -verharmlosende Tendenz
ausdrücken oder das Gebot zur Achtung der Würde des Menschen verletzen und damit dem
Verbot des § 131 Abs. 1 StGB unterfallen [...]. Für den Schutzzweck des § 131 Abs. 1 StGB,
einer möglichen Förderung der Aggressions- und Gewaltbereitschaft durch exzessive Gewaltdarstellungen entgegenzuwirken, ist es unerheblich, ob eine Schilderung tatsächlich mögliche
Vorgänge oder reine Phantasieprodukte zum Gegenstand hat."997 Die Darstellung kann auch
eine nur virtuelle sein, so dass z.B. auch Comics, Animationsfilme und Computerspiele erfasst
sind. Aber bspw. im Lichte dessen, dass der Gesetzgeber im Rahmen der Schaffung der Norm
expl. auf die Lerntheorie rekurrierte und für Lerneffekte i.S.d. Theorie auch der Realismus einer
Darstellung relevant ist, kann (ungeachtet insg. fehlender medienwirkungstheoretischer
Fundierungen) nicht bzgl. jeder noch so absurden, ggf. gar phantastischen Gewaltdarstellung
das Potenzial einer Förderung der Aggressions- und Gewaltbereitschaft vermutet werden.
Bereits sieben Jahre vor der zitierten Entscheidung des BGH formulierte i.d.S. das BVerfG
einen diesbzgl. Strafausschließungsgrund für bspw. bizarre Übersteigerungen der Gewaltdarstellungen, resp. des Geschehens insg., dank der die Rezipienten nach dem Gesamteindruck eines
Mediums die Darstellung auch als lächerlich und grotesk erleben können;998 tatsächlich kann
der phantastische Charakter einer Darstellung ja auch bereits ein Grund einer Nichtindizierung
sein. Ungeachtet der evtl. Probleme einer praktikablen Differenzierbarkeit ernsthafter und übersteigerter Darstellungen haben infolge des Urteils deutsche Amts- und Landesgerichte regelmässig aber nicht im Zweifelsfall die Tatbestandlichkeit phantastischer Darstellungen negiert,
sondern unzulässigerweise (ungeachtet des tatsächlichen Realismus der Darstellungen) nur
stereotyp insb. den vermeintlichen besonderen Realismus der inkriminierten Darstellungen
exponiert. Die Gerichte demonstrieren mithin auch dieselbe Ironie-, Sarkasmus-, Satire- und
Humorresistenz, wie sie bereits die Entscheide der BPjM demonstrieren. Kurios ist bspw. die
Argumentation des AG Tiergarten bzgl. der Tatbestandlichkeit des Kampfsportspiels MORTAL
KOMBAT 3, in dem die Gewinner eines Duells die Kontrahenten mittels sog. "Fatalities" und
"Animalities" exekutieren können:
Sonya haucht ihren Gegner an, der in Flammen aufgeht (Fatality 1) oder hüllt ihren Gegner in einen
Plasma-Ball, der explodiert, Knochen und Blut fliegen herum (Fatality 2). Kano schaut u.a. seinen
Gegner mit Laserblick an, so daß er explodiert: Knochen und Blut fliegen durch die Luft (Fatality 2).
994
995
996
997
998
Vgl. OEHLER 1988, S.193; LIESCHING 2002, S.64ff. und SCHULZ/BRUNN/DREYER et al. 2007, S.98f..
BVerfGE, 87, 209 (227); vgl. BENZ 1998, S.51; MAST 1999, S.140 und KRAUSE 2006, S.10. I.d.S. ist bspw. die Darstellung autoaggressiven Verhaltens nicht tatbestandlich erfasst (vgl. ERDEMIR 2000, S.72).
Vgl. BGHSt 23, 46 (51); MAST 1999, S.140 und ERDEMIR 2000, S.72.
BGH, Urt. v. 15.12.1999, Az.: 2 StR 365/99 und vgl. MEIROWITZ 1993, S.339.
Vgl. BVerfGE 87, 209 (229f.).
178
Kung Lao setzt seinen Hut als Kreissäge ein und "püriert" seinen Gegner, das Blut spritzt dabei in alle
Richtungen (Fatality 1) oder er köpft damit seinen Gegner (Fatality 2). Liu Kang zündet seinen Gegner
an, so daß dieser bis auf das Skelett verbrennt (Fatality 1) oder er läßt eine riesige Musikbox auf den
Gegner fallen (Fatality 2). Jax' Arme verwandeln sich in Klingen und zerschneiden Gegner (Fatality 1)
oder er wächst sehr schnell und wird immer größer, der Bildschirm blendet dann das Opfer ein, welches
durch einen großen Stiefel zermatscht wird (Fatality 2). Sub-Zero friert seinen Gegner ein, hebt ihn über
den Kopf und zerbricht ihn in zwei Teile (Fatality 1) oder er bläst seinen Gegner an, der zur Eissäule erstarrt, die umfällt und in unzählige Teile zerbricht (Fatality 2). Shang Tsung schlüpft in seinen Gegner
und sprengt ihn auseinander, so daß die Knochen fliegen (Fatality 1) oder er schleudert seinen Gegner auf
ein Nagelbrett (Fatality 2). Kabal erschreckt den Gegner zu Tode (Fatality 1) oder pumpt ihn voll Luft,
bis er explodiert (Fatality 2). Sektor röstet den Gegner mit einem Flammenwerfer (Fatality 1) oder zerquetscht ihn mit einer Gerätschaft (Fatality 2). Sheeva rammt den Gegner mit wuchtigen Schlägen der
bloßen Faust in den Boden (Fatality 1) oder reißt dem Gegner Haut und Fleisch bis auf die Knochen in
Fetzen vom Körper (Fatality 2). Stryker bindet Sprengstoff an seinen Gegner, dieser explodiert, so daß
Knochen herumfliegen und Blut spritzt (Fatality 1) oder er schießt mit einem Taser auf seinen Gegner
und frittiert ihn (Fatality 2). Cyrax fliegt u.a. über seinen Gegner und stößt blitzartig auf den Gegner
herunter, der durch Rotorblätter zerstückelt wird. In Ergänzung zu den oben genannten "Fatalities"
werden "Animalities" zur Verfügung gestellt. Der siegreiche Kämpfer verwandelt sich in ein Tier (Hai,
Löwe, Eisbär, Dinosaurier, etc.) und reißt den Körper des unterlegenen Gegners in blutige Fetzen, beißt
ihm z.B. "lediglich" den Kopf ab oder frißt ihn gänzlich. [...] Weder akustische noch graphische
Animationen sind geeignet, das Geschehen als ein realitätsfernes auszuweisen, wenn auch einige Spielfiguren eher im Bereich der Fabel- oder Comicwesen als im richtigen Leben anzusiedeln sind. Dem Gros
der Charaktere ist ein menschliches Äußeres gegeben, deren Kampfrepertoire real existierenden Kampftechniken entstammt. Der Einsatz voluminöser Waffen, über den Bildschirm schwappendes Blut in
Verbindung mit markerschütternden Schreien, die Aufforderung "finish him" führen dazu, daß, dem Titel
[...] entsprechend, der Tod des Gegners zumindest billigend in Kauf genommen werden muß.999
Offensichtlich stellt das Spiel (in ihrer konkreten Darstellung durchaus humorvolle) Gewaltgrotesken, ja -persiflagen dar. Das Gericht ignorierte aber nicht nur den phantastischen Hintergrund des Spiels (s.u.) und negierte gar die Realitätsferne der skizzierten Gewaltdarstellungen, –
ungeachtet dessen, dass die Spielfiguren auch nicht nur unzählige Liter Blut verlieren, sondern
die (größtenteils anthropomorphen) Körper derselben auch anatomisch falsch z.B. in mehrere(!)
Schädel, Brustkörbe u.ä. zerbersten können –, sondern zog zu diesem Argument u.a. auch den
Umstand heran, dass bereits die Verpackungen der verfahrensgegenständlichen Versionen der
Spiele mit dem Realismus der Gewaltdarstellungen ("Realistic violence"; "Realistic blood and
gore"; "A fully digitized bloodbath of magical realism") werben. Der Vollständigkeit halber soll
auch erwähnt werden, dass das Gericht darüber hinaus argumentierte, dass der ohnehin fragwürdige gewaltverherrlichende Charakter des Spiels selbst dann nicht entfalle, wenn in einer
geänderten Version bspw. die Blutvisualisierungen und insb. die Exekutionen deaktiviert wären:
In dem Fall wäre das Spiel aber tatsächlich nur noch ein mehr oder weniger ordinäres Kampfsportspiel, in dem diverse phantastische Charaktere während einer postapokalyptischen Paralleluniversenkonjunktion gegeneinander kämpfen, das sich bzgl. seines Gewaltdarstellungsniveaus
nicht mehr von anderen Genrespielen mit einer Jugendfreigabe unterscheidet.
Bezeichnenderweise konstatierte selbst das 12er-Gremium der BPjM bzgl. des siebten Teils der
Serie – MORTAL KOMBAT: ARMAGEDDON –, dass das Spiel u.a. dank seines offensichtlich
fehlenden Realismus nicht tatbestandlich i.S.d. § 131 StGB sei: "Sog. Blutspritzer und -lachen
werden in nicht-realer Form […] dargestellt und haben untergeordnete Bedeutung. Außer in
Form von irrealen Fontänen oder Spritzern zeigen sie bei dem Aussehen der betroffenen Spielfigur keine Folgen […]. […] Die Spielfiguren bewegen sich eindeutig in einer Phantasiewelt. Es
fehlt insoweit an einem menschlichen Bezug wie auch an einer Werthaftigkeit von Gewalt. Die
Kampfmethoden (z.B. Blitze, Feuer), sind größtenteils ebenfalls irreal. Solche Darstellungen
müssen daher mit lediglich beschreibenden Gewaltdarstellung gleichgesetzt werden […]."1000
Ähnliches gilt wohl auch für jeden anderen Teil der Spieleserie (wie auch alle beschlagnahmten
Computerspiele und das Gros der auf Liste B indizierten Spiele), wie z.B. den neunten Serienteil MORTAL KOMBAT (ungeachtet dessen, dass die Gewalttätigkeiten bei diesem Spiel auch
Folgen für das Aussehen der betroffenen Spielfiguren zeitigen), den die BPjM aber ohne jede
Diskussion des Realismus der Darstellungen auf Liste B des Index indizierte;1001 andere (die
seitens des AG Tiergarten monierten Merkmale gleichermaßen erfüllende) Teile der Serie, wie
MORTAL KOMBAT: DEADLY ALLIANCE oder MORTAL KOMBAT: DECEPTION, sind gar als nur
999
1000
1001
AG Tiergarten, Beschl. v. 12.06.1997, Az.: 351 Gs 2856/97 (MORTAL KOMBAT 3).
IE Nr. 5478 v. 12.04.2007 (MORTAL KOMBAT: ARMAGEDDON).
Vgl. IE Nr. I 68/11 v. 07.10.2011; Nr. VA 1f./11 v. 2.5.2011 und Nr. 5830f. v. 09.06.2011 (MORTAL KOMBAT).
179
jugendbeeinträchtigend ohne Jugendfreigabe nach § 14 Abs. 1 Nr. 5 JuSchG gekennzeichnet
worden. Die demonstrierte Willkür kann die Betroffenen nur irritieren, denn jugendbeeinträchtigende, -gefährdende und sozialschädliche Darstellungen sind offenbar auch für die
zuständigen Institutionen nicht mehr voneinander differenzierbar.
14.2.2
Schilderung von Gewalttätigkeiten
Problematisch könnte aber der Begriff der Schilderung von Gewalttätigkeiten sein: Schildern ist
prinzipiell eng auszulegen und verlangt bei audiovisuellen Medien die lückenlose,1002 unmittelbare, optische u./o. akkustische Wiedergabe einer Gewalttätigkeit. Auslegungsschwierigkeiten könnte der Begriff der Schilderung aber gem. HÖYNCK 2008 bzgl. Computerspielen
evozieren, denn die Besonderheiten des interaktiven Mediums ließen es zumindest diskussionswürdig erscheinen, "ob die dort auslösbaren Darstellungen von Gewalttätigkeiten eine
Schilderung gemäß § 131 StGB sind. [...] Problematisch könnte in Bezug auf Computerspiele
das Erfordernis der Unmittelbarkeit sein, wenn die Darstellungen nicht in Zwischensequenzen
gezeigt werden, sondern ihre Erzeugung durch den Spieler notwendig ist. Soweit dieser Aspekt
angesprochen wird, wird [...] davon ausgegangen, dass es ausreicht, wenn in dem Spiel Gewalttätigkeiten auf vorprogrammierte Art gezeigt werden, sei es auch nur als Abfolge nach Tätigwerden des Spielers. [...] Nicht mehr unter den Begriff des Schilderns würde die Darstellung
von Gewalttätigkeiten nur dann fallen, wenn nur ein Programm angeboten würde, das vom
Spieler oder mehreren Spielern erst ausgefüllt werden muss."1003
Kritisch dürfte i.d.S. das Vorliegen einer Schilderung bei nur optionalen, aber nicht zwingend
notwendigen Gewalthandlungen infolge willentlicher Entscheidungen des Spielers sein; u.U.
muss wie beim evtl. Vorliegen einer Gewaltbeherrschtheit i.S.d. § 15 Abs. 3a JuSchG gem.
SPÜRCK 2011 darauf abzustellen sein, "ob der Spieler an (im tatbestandlichen Sinne
qualifizierten) Gewaltdarstellungen im Spiel nicht vorbei kommt, weil etwa standardmäßig
derartige gewalthaltige Szenen in bestimmten Spielsituationen als Videosequenz abgespielt
werden bzw. weil (tatbestandlich qualifizierte) Gewalt erforderlich ist, um im Spiel weiterzu1002
1003
Die Staatsanwaltschaft beim LG München I argumentierte im Rahmen des Einstellungsbeschlusses v. 12.05.1995 bzgl. des
Films NATURAL BORN KILLERS (Az.: 465 b Js 95), dass der Begriff der Schilderung eng auszulegen sei, so dass gem.
Bestimmtheitsgebot tatbestandsmäßige und nicht tatbestandsmäßige Darstellungen praktikabel differenzierbar sind; i.d.S. sei
insb. eine lückenlose Wiedergabe der Gewalttätigkeit notwendig: "Eine Schilderung in diesem Sinne liegt deshalb nur dann
vor, wenn die Gewalteinwirkung auf das Opfer gezeigt wird. Das ist beispielsweise nicht der Fall, wenn der Gewalttäter mit
der Tatwaffe gezeigt wird [...] und im nächsten Bild das Opfer gezeigt wird, bei welchem die Gewalteinwirkung jedoch bereits
abgeschlossen ist [...]." ERDEMIR 2000 ist aber ggü. dem zitierten Einstellungsbeschluss der a.A., dass die Wiedergabe
prinzipiell auch lückenhaft sein dürfe (S.75-83). Das ist natürlich insofern korrekt, dass auch Darstellungen z.B. ungeachtet
filmtechnischer Mittel wie Zwischenschnitten u.ä. erfasst sein dürften, die Darstellung der Gewalteinwirkung ist aber eine
notwendige Bedingung der der Tatbestandlichkeit. Dgl. auch MAST 1999, gem. der "verfremdete Beschreibungen eines an
sich grausamen Vorgangs sowie zurückhaltende und gemäßigte Darstellungen nur andeutender Natur" nicht tatbestandlich
erfasst seien: "Die phantasieanregende Wirkung, auf die solche Schilderungen angelegt sein können, hat der Gesetzgeber
bewusst außer betracht gelassen." (S.141) Nach NIKLES/ROLL/SPÜRCK et al. 2005 sind natürlich auch Darstellungen, die
nicht die Gewalteinwirkung selbst, sondern nur die Folgen schildern, nicht tatbeständsmäßig (S.64). Oftmals attestieren
Gerichte aber Darstellungen eine Tatbestandlichkeit, die i.d.S. gar keine Gewalttätigkeiten schildern; HARTLIEB 2004
moniert z.B., dass das AG Karlsruhe mit Beschl. v. 20.01.2004 insg. acht Einzelszenen des Films BLOOD FEAST als Gewaltdarstellungen inkriminierte (Az.: 31 Gs 134/04), ohne dass die vier Szenen der 14., 23., 27. und 40. Minute überhaupt tatbestandlich waren: Die Gewalteinwirkungen verdeckt im ersten Fall der Täter und in den anderen Fällen finden sie im Off
statt, so dass das Merkmal der Schilderung einer Gewaltdarstellung nicht erfüllt ist (S.2); mithin sind die Szenen der 47., 51.
und 53. Minute (ungeachtet eklatanter Beobachtungsfehler des Gerichts bzgl. aller drei Szenen, wie auch der konstant falschen
Verwendung filmtechnischer Terminologie) auch nur potenzielle Ekelszenen, Gewalttätigkeiten werden de facto gar nicht
dargestellt (S.3f.). Einzig die monierte 48. Minute des Films schildert tatsächlich Gewalteinwirkungen, das Auspeitschen einer
Frau, das aber so dilitantisch wirkt, dass die Gewaltdarstellung problemlos auch als lächerlich und grotesk erlebt werden kann:
"Es handelt sich insgesamt um einen Thriller-Film mit sogenannten 'Splatter'-Anteilen. Das 'hohe Alter' des Filmes (über 40
Jahre) merkt man ihm an. Handwerklich und technisch ist er lange nicht (mehr) auf dem neuesten Stand. Dies hat auf den
Filmzuschauer von der Grundstimmung und der Rezeption her bereits eine distanzierende Wirkung bezüglich der einzelnen
(Gewalt-)Darstellungen. Insgesamt macht der Film eher einen – gewollt oder ungewollt – unbeholfenen Eindruck. Dies ist
gerade bei den 'Splatter'-Szenen deutlich: Hier ist immer wieder klar zu erkennen, mit welch simplen Tricks ('Filmblut', nachgebaute 'Körperteile' etc.) gearbeitet wurde." (S.2f.) Dgl. auch HÖLTGEN 2004a: "Auffällig ist hier der besonders schlechte
Spezialeffekt: Es wird schon nach dem ersten Schlag mit der Peitsche deutlich, dass diese mit rotem Farbstoff getränkt ist, der
sich sofort auf der Wand neben der Frau befindet, als die Peitsche diese berührt. Diese Beobachtung schwächt den Eindruck
der Folterung, den der Beschlusstext vermittelt, doch erheblich und macht überdeutlich, dass man es mit einer recht kruden
Inszenierung zu tun hat." (S.20) Bereits infolge der skizzierten Defizite des Beschlusses war die Beschlagnahme des Films
prinzipiell rechtswidrig.
HÖYNCK 2008, S.207f. und vgl. SCHULZ/BRUNN/DREYER et al. 2007, S.98f..
180
kommen."1004 In letzterem Fall wäre bereits i.d.S. das Gros der bis dato nach § 131 StGB
inkriminierten Spiele rechtswidrig beschlagnahmt.
14.2.3
Grausame Gewalttätigkeiten
Die Darstellung von Gewalttätigkeiten ist für eine Strafbarkeit nach § 131 StGB nicht hinreichend, sondern die geschilderte Gewalt muss auch grausam u./o. unmenschlich sein: Gem.
ganz h.M. ist das Tatbestandsmerkmal der Grausamkeit analog zu den Merkmalen von Mord
gem. § 211 Abs. 2 StGB zu auszulegen.1005 Grausam ist eine Gewalthandlung i.d.S. gem.
BVerfG, "wenn sie unter Zufügung besonderer Schmerzen oder Qualen körperlicher oder
seelischer Art ausgeführt wird und außerdem eine brutale, unbarmherzige Haltung desjenigen
erkennen läßt, der sie begeht [...]."1006 Ungeachtet dessen, dass bereits GUTKNECHT 2007a
diesbzgl. monierte, dass eine genauere Bestimmung des Merkmals insg. und ungeachtet
vermeintlich evidenter Fälle ("z.B. detaillierter Hinrichtungsszenen") problematisch, wie auch
eine Anknüpfung an § 211 Abs. 2 StGB dank der fehlenden Bezugspunkte zwischen beiden
Delikten nur bedingt zulässig sei,1007 sollen regelmäßig bereits Gewalttätigkeiten grausam sein,
die über das für die Erreichung des erstrebten Zweckes der Gewalttätigkeit (z.B. die Tötung des
Opfers) oder gar nach dem Sinn der Darstellung vermeintlich notwendige Maß an Gewalt
hinausgehen.1008 Letzteres ist aber nur eine Geschmacksfrage und kann (wie bereits bzgl. § 18
Abs. 1 Satz 1 JuSchG demonstriert wurde) kein probater und insb. kein hinreichender Bezugspunkt sein. Anders als aber z.B. auch TRÖNDLE/FISCHER 2006 i.d.S. argumentieren, dass
diverse Gewalttätigkeiten, wie z.B. das Verbrennen, Verbrühen u./o. Verstümmeln der Opfer
per se grausame Gewalttätigkeiten seien,1009 können sie ungeachtet ihres Kontextes für sich genommen nicht zwingend eine brutale, unbarmherzige Haltung des Täters erkennen lassen, insb.
nicht im Lichte der Problematik, dass die Opfer ggf. ja nicht Menschen, sondern nur menschenähnliche Wesen sind, die u.U. keine besonderen Schmerzen oder Qualen körperlicher oder
seelischer Art empfinden können und denen ggü. eine brutale, unbarmherzige Haltung infolge
dessen auch prinzipiell gar nicht möglich ist (s.u.).
Ungeachtet dessen kann aber konstatiert werden, dass die Gerichte regelmäßig von einem unzulässig weiten Verständnis der Strafvorschrift ausgehen: Dem AG München war z.B. im Fall des
Spiels CONDEMNED bereits das gem. Beschlagnahmebeschluss durch die optische und akkustische Darstellung erreichte sehr hohe Ausmaß an Brutalität der dargestellten Gewalttätigkeiten hinreichendes Synonym der Darstellung grausamer Gewalttätigkeiten. Kurioserweise
führte das Gericht aber als einziges konkretes Beispiel einer vermeintlich grausamen Gewalttätigkeit nur das optionale (aber nicht notwendige) "Töten des Gegners durch Brechen des
Genicks"1010 an: Einerseits ist das aber eine Gewalttätigkeit, die in ihrer konkreten Ausführung
nicht in besonderen Schmerzen oder Qualen körperlicher oder seelischer Art für das Opfer
resultiert. Andererseits konnte das Gericht auch ohne die diesbzgl. notwendige, aber unterlassene Kontextualisierung der Tat (s.u.) nicht darstellen, dass sie eine brutale, unbarmherzige
Haltung des Täters erkennen ließe.
Insofern aber interaktive Medien wie Computerspiele dem Spieler Gewalthandlungen unter
Zufügung besonderer Schmerzen oder Qualen körperlicher oder seelischer Art für das Opfer nur
als eine nicht notwendige Verhaltensoption infolge einer willlentlichen Entscheidung des
Spielers selbst ermöglichen, ist eine tatbestandlich qualifizierte Haltung des Spielersubstituts
selbst regelmäßig nicht mehr attestierbar; d.h. dass die brutale, unbarmherzige Haltung des
(prinzipiell gesinnungslosen) Spielersubstitus prinzipiell nicht mehr geschildert wird, sondern
nur noch die Konsequenz des idiosynkratischen Spielstils des Spielers sein kann. Auch dass
1004
1005
1006
1007
1008
1009
1010
SPÜRCK 2011, S.25.
Vgl. BT-Drs. 10/2546, S.22; MAST 1999, S.140f.; ERDEMIR 2000, S.74; LIESCHING 2002, S.96; NIKLES/ROLL/
SPÜRCK et al. 2005, S.64; KRAUSE 2006, S.12; STATH 2006, S.211 und HÖYNCK 2008, S.212.
BVerfGE 87, 209 (226).
GUTKNECHT 2007a, S.51.
Vgl. KRAUSE 2006, S.12 und TRÖNDLE/FISCHER 2006, S.883.
Vgl. TRÖNDLE/FISCHER 2006, S.883.
AG München, Beschl. v. 15.01.2008, Az.: 855 Gs 10/08 (CONDEMNED).
181
Gewalttätigkeiten, wie z.B. die sog. "Fatalities" (die hyperviolente Exekution unterlegener
Gegner) der insb. deswegen beschlagnahmten Kampfsportspiele MORTAL KOMBAT,1011
MORTAL KOMBAT II1012 und MORTAL KOMBAT 31013 eine Schilderung grausamer Gewalttätigkeiten darstellen sollen, ist i.d.S. nicht mehr plausibel. Selbst die BPjM konstatierte ggü. dem
siebten Serienteil MORTAL KOMBAT: ARMAGEDDON: "Es liegt keine grausame Gewaltanwendung vor. Die Anwendung von Gewalt ist reine Spielverabredung. Die Fatalities spielen
innerhalb des Spielverlaufs lediglich eine untergeordnete Rolle."1014 Der Vollständigkeit halber
konstatierte die BPjM auch dass die Darstellungen i.d.S. auch nicht mehr gewaltverherrlichend
seien. Bei Computerspielen (wie bspw. allen bis dato beschlagnahmten Spielen) wird letztlich
regelmäßig das Vorliegen grausamer Gewalttätigkeiten negiert werden müssen.
14.2.4
Unmenschliche Gewaltdarstellungen
Dgl. gilt prinzipiell auch für das nicht minder problematische Merkmal der Unmenschlichkeit
der dargestellten Gewalttätigkeiten: Eine Gewalthandlung soll nach dem Willen des Gesetzgebers nach Auffassung des BVerfG zum Ausdruck bringen, "dass mit menschenverachtender,
rücksichtsloser, roher oder unbarmherziger Gesinnung gehandelt wird […],1015 so etwa, weil es
dem Täter Vergnügen bereitet, völlig bedenkenlos und kaltblütig Menschen zu mißhandeln oder
zu töten."1016 Ein populäres Beispiel in der Literatur ist z.B. das Erschießen von Menschen nur
zum Spaß.1017 Bei unmenschlichen Gewalttätigkeiten sind an den Grad der Gewalthandlungen
geringere Anforderungen zu stellen als bei grausamen Gewalthandlungen, d.h. dass die Zufügung von Schmerzen oder Qualen keine notwendige Bedingung der Merkmalserfüllung mehr
ist, so dass das Merkmal der Grausamkeit prinzipiell nicht nur redundant wird (eine grausame
Gewalttätigkeit wird i.d.R. immer auch unmenschlich sein), sondern auch der Rahmen einer
noch klaren, handhabbaren Bestimmtheit des Merkmals erodiert: Kann bspw. noch zwischen
einer unmenschlichen und einer evtl. menschlichen Gewalttätigkeit praktikabel differenziert
werden?1018 Ungeachtet dessen kann aber abermals konstatiert werden, dass die Gerichte regelmäßig von einem unzulässig weiten Verständnis der Strafvorschrift ausgehen. Dem AG
Tiergarten waren im Fall des Spiels LEFT 4 DEAD 2 bspw. bereits "zahlreiche drastische Gewaltdarstellungen" eine hinreichende Bedingung der Darstellung unmenschlicher Gewalt:
So rufen Treffen [sic] mit Nahkampfaufnahmen und Schusswaffen Blutspritzer, -flecken und -lachen auf
Boden und Wänden hervor. Besonders das Zersägen von Gegnern mit der Kettensäge resultierte in einer
blutbesudelten Spielumgebung. Durch Kopfschüsse zerplatzen den Opfern die Schädel, Nahkampfangriffe, etwa mit einer Axt, trennen den Schädel ab, zurück bleibt jeweils der blutige Halsstumpf. Einige
Opponenten schleppen sich mit abgetrenntem Kopf noch einige Schritte weit, bevor sie dann tot zusammenbrechen. Angriffe mit schweren Waffen oder der Motorsäge reißen Gliedmaßen ab, zertrennen den
Körper des Gegners auf Höhe der Gürtellinie oder reißen Fleischstücke aus dem Körper, so dass
beispielsweise darunter liegende Rippen zum Vorschein kommen. Diese Angriffe resultieren zudem
darin, dass die abgetrennten Körperteile durch die Luft fliegen. Der Einsatz von Brandmunition,
Molotow-Cocktails oder Gas- bzw. Benzintanks setzt Gegner in Brand, in der Folge sind verkohlte
Leichen zu sehen. Die Darstellungen werden zusätzlich durch Stöhnen und Schreie der Opfer akustisch
untermalt. [...] Das Spiel enthält mit seinen Tötungsszenarien, dem Abtrennen von Armen und Beinen
sowie unter Beschuss zerfetzenden Köpfen omnipräsente und brutalste Gewaltdarstellungen. [...] Die im
Spiel präsentierten Gewaltszenen lassen sowohl im Hinblick auf ihre Intensität als auch ihren Umfang ein
extrem hohes Maß an menschenverachtender Geisteshaltung erkennen.1019
Wie auch beim Merkmal grausamer Gewalttätigkeiten lassen Darstellung von Gewalttätigkeiten
ungeachtet der Intensität der dargestellten Gewalthandlungen (i.S.d. audiovisuellen Darstellung
der spezifischen Trefferwirkungen der schweren Waffen, der Motorsäge, der Brandmunition,
der Molotow-Cocktails oder der Gas- bzw. Benzintanks) nicht per se ein extrem hohes Maß an
1011
1012
1013
1014
1015
1016
1017
1018
1019
Vgl. AG München, Beschl. v. 11.11.1994, Az.: ER Gs 465b Js 172960/94 (MORTAL KOMBAT).
Vgl. AG München, Beschl. v. 08.02.1995, Az.: 8340 Gs 9/95 (MORTAL KOMBAT II)
Vgl. AG Tiergarten, Beschl. v. 12.06.1997, Az.: 351 Gs 2856/97 (MORTAL KOMBAT 3)
IE Nr. 5478 v. 12.04.2007 (MORTAL KOMBAT: ARMAGEDDON).
Vgl. BT-Drs. VI/3521, S.7.
BVerfGE 87, 209 (226f.).
Vgl. LIESCHING 2002, S.96; NIKLES/ROLL/SPÜRCK et al. 2005, S.64 und KRAUSE 2006, S.12.
Vgl. OEHLER 1988, S.185f..
AG Tiergarten, Beschl. v. 15.02.2010, Az.: (353 Gs) 75 Js 1079/09 (694/10) (LEFT 4 DEAD 2).
182
menschenverachtender Geisteshaltung hinreichend erkennen, auch nicht Splatter- u./o. Goreeffekte. Die für den strapazierbaren Vorwurf einer qualifizerten Geisteshaltung der in den Medien
agierenden Täter notwendige ganzheitlichen Betrachtung des (phantastischen) Kontextes unterlässt das Gericht, das nur die Gewaltdarstellungen enumerierte, natürlich auch: Die Spielersubstitute kämpfen aber nur um das eigene Überleben und ausschließl. (und prinzipiell in Notwehr, wie auch ggf. in Nothilfe) gegen zombieähnliche (z.T. massiv mutierte) sog. Infizierte,
denen ggü. die Spielesubstitute generell kaum oder gar nicht menschenverachtend, rücksichtslos, roh u./o. unbarmherzig agieren können. Insb. ersteres gilt auch für das Gros der bis dato
beschlagnahmten Spiele.
Die dekontextualisierende Aufzählung der Gewalttätigkeiten ist aber – ungeachtet des Mediums
– generell ein endemisches Problem aller Beschlagnahmebeschlüsse nach § 131 StGB. Das AG
München argumentierte z.B. im Fall des Spiels CONDEMNED, dass die dargestellten Gewalttätigkeiten per se nicht nur "kaltblütig", sondern gar "sinnlos" seien, ohne aber die Frage des
Sinns im Rahmen der Narration des Spiels zu thematisieren (s.u.), gem. der die Gewalthandlungen des Spielersubstituts tatsächlich insg. nur Notwehrhandlungen in einem phantastischen
Szenario der existenzbedrohenden Notwehrlage für das Substitut selbst sind. Stattdessen rekurriert der Beschluss des Gerichts ausschließl. auf die Spielmechanik: Die Tötung der Gegner
durch sog. "finishing moves" diene keinem Zweck, gleiches gälte für das Nachschlagen auf
einen bereits toten Gegner, "um sicherzustellen, dass dieser auch wirklich tot ist. Beides sei
reiner Selbstzweck und somit Ausdruck einer rücksichtslosen Gesinnung." Beides ist aber
falsch: Einerseits dienen die "finishing moves" dem Zweck der Beendigung der Notwehrsituation, denn nicht eliminierte Gegner attackieren das Spielersubstitut ohne Ende, so dass die
Tötung i.w.S. von § 32 Abs. 2 StGB, § 227 Abs. 2 BGB und § 15 Abs. 2 OWiG erforderlich
sein könnte. Andererseits ist für das "Nachschlagen auf bereits tote Gegner" eine willentliche
Interaktion des Spielers notwendig, so dass erstens eine Schilderung u.U. gar nicht mehr vorliegt und dass zweitens nur ein Interaktionspotenzial markiert wird, das auch unzähligen nicht
inkriminierten (und auch nich indizierten) Spielen (quasi allen Spielen, in denen getötete
Gegner nicht instantan desintegrieren) zu eigen ist und infolge dessen natürlich auch nicht mehr
hinreichend tatbestandlich qualifizierend sein kann. Auch der diesbzgl. Kommentar des damals
zuständigen Richters Robert GRAIN demonstriert, dass das Gericht von einem unzulässig
weiten Verständnis der Strafvorschrift und insb. auch der Voraussetzung für das Vorliegen von
Gewalt ausgegangen ist: "Die Finishing Moves sind völlig sinnlos. Es wäre ebenso gewaltverherrlichend, wenn ich in einem Spiel auf eine Leiche eintreten könnte – auch wenn das Opfer in
diesem Fall ja keine Schmerzen mehr empfindet."1020 Die skizzierte Störung der Totenruhe wäre
aber bereits ungeachtet der Meinung des Amtsrichters nicht einmal mehr eine Gewalttätigkeit
i.S.d. Norm.
Die diskutierten, wie auch ähnliche Beschlüsse korrespondieren mit der besonders fragwürdigen
Problematisierung des Spielprinzips des Schutzes von Leib und Leben des Spielersubstituts im
Rahmen diesbzgl. gegenwärtiger Gefahren für dasselbe: Ggü. dem Spiel SOLDIER OF FORTUNE:
PAYBACK hatte bspw. das AG Amberg eine "äußerst menschenverachtende Grundhaltung"
moniert, "die jedes Element des Spiels durchzieht. Das eigene Überleben steht im Vordergrund,
nichts anderes ist von Wert; somit gilt es jeden, der sich in den Weg stellt, zu töten."1021 Das
Gericht ignorierte aber das Szenario einer fiktionalen Extremsituationen, der konstanten, gegenwärtigen Bedrohung von Leib und Leben des Spielersubstituts durch die weder verhandlungsbereiten, noch -fähigen Antagonisten; tötet das Spielersubsitut die Antagonisten nicht, wird es
selbst getötet. Selbstschutz dürfte aber eine tatbestandlich notwendige menschenverachtende,
rücksichtslose, rohe oder unbarmherzige Gesinnung, wie auch eine brutale, unbarmherzige
Haltung effektiv konterkarieren. Mithin ist auch das ein Spielprinzip, das auch unzähligen nicht
inkriminierten (und auch nich indizierten) Spielen zu eigen ist und infolge dessen natürlich
abermals auch nicht mehr hinreichend tatbestandlich qualifizierend sein kann. Das die Gerichte
1020
1021
Zitiert in: SIEGISMUND 2008, S.3.
AG Amberg, Beschl. v. 17.6.2008, Az.: 102 UJs 1987/08 (SOLDIER OF FORTUNE: PAYBACK).
183
aber Spielprinzipien u.ä. inkriminieren, die gar für komplette Genres u.ä. konstituierend sind, ist
keine Ausnahme, wie noch im Folgenden noch demonstriert wird.
14.2.5
14.2.5.1
Verherrlichung u./o. Verharmlosung von Gewalttätigkeiten
Verherrlichung von Gewalttätigkeiten
Die dargestellten Gewalttätigkeiten müssen nicht nur grausam u./o. unmenschlich sein, sondern
i.S.v. zweien der drei Tatbestandsalternativen der Norm ggf. in einer Art geschildert werden, die
eine Verherrlichung u./o. eine Verharmlosung solcher Gewalttätigkeiten per se (und nicht nur
der konkret dargestellten Handlungen) ausdrückt; beide Kriterien basieren expl. auf dem
Indizierungskriterium der Kriegsverherrlichung des § 15 Abs. 2 Nr. 2 JuSchG.1022 Zu der Frage
der Auslegung der Merkmale ist bislang aber noch keine höchstrichterliche Rechtsprechung
ergangen, gem. der Kommentarliteratur soll aber z.B. der Begriff der Verherrlichung weit
auszulegen sein, so dass nicht nur direkte Glorifizierungen und Lobpreisungen solcher Gewalttätigkeiten (die aber außerhalb bspw. dezidiert misanthroper u.ä. Medieninhalte nicht vorliegen
werden), sondern auch Darstellungen erfasst sein sollen, durch die solche Gewalttätigkeiten affirmiert oder positiv bewertet werden,1023 bspw. dadurch, daß sie als anziehend, reizvoll, wertvoll oder als Kennzeichen für männliche Tugenden und Möglichkeit dargestellt werden,
Anerkennung, Ruhm oder Auszeichnungen zu gewinnen.
Nach ERDEMIR 2000 sind diese Kriterien natürlich ggf. geeignet, "beim Betrachter einen
positiven Eindruck über Gewalttätigkeiten und damit eine werbende Wirkung zu erreichen. Will
man jedoch der uferlosen Ausdehnung des Tatbestands entgegenwirken, […] ist mehr zu verlangen. Die heldenhafte Zeichnung der Protagonisten und die damit einhergehende Besetzung
sämtlicher Gegner mit negativen Emotionen […], mag vielleicht ein Indiz für das Vorliegen
einer Gewaltverherrlichung sein, ist letztlich jedoch ein unverzichtbares Stilmittel bestimmter
Genres wie beispielsweise des Abenteuer- und des Action-Films. Sie erfüllen […] eine unverzichtbare dramaturgische Funktion. So enthalten die meisten dieser Filme grausame oder sonst
unmenschliche Gewalttätigkeiten, die zum Teil durchaus auch von sympathischen und heldenhaft gezeichneten Figuren – man denke nur an James Bond oder Indiana Jones – ausgehen.
Unstreitig will § 131 StGB jedoch nicht bestimmte Filmgenres per se verbieten.1024 […] Eine
tatbestandliche Gewaltverherrlichung im Sinne des § 131 StGB liegt hiernach dann vor, wenn
die betreffende Darstellung auf Grund ihres grausamen oder unmenschlichen Inhalts und des
Kontextes, in dem sie erfolgt, eindeutig und für jedermann1025 erkennbar für die konkret ausge1022
1023
1024
1025
Vgl. BT-Drs. VI/3521 S.7.
Vgl. LIESCHING 2002, S.98.
Im Lichte einer drohenden uferlosen Ausdehnung des Tatbestands sollen gem. ganz h.M. diverse genreimmanente Gewaltdarstellungen bspw. des Western-, Abenteuer-, Agenten-, Kriminal- oder Comicgenres ungeachtet evtl. Tatbestandserfüllungen
nicht von § 131 StGB erfasst sein (vgl. KRAUSE 2006, S.20); z.T. wird expl. für die Formulierung eines Ausnahmetatbestands der Sozialadäquanz im Rahmen des § 131 StGB plädiert (vgl. HEINRICH 2008, S.1). Eine Klausel, die aber bspw.
arbiträrerweise nur bestimmten Darstellungen auch noch nur im Rahmen bestimmter Genres eine Sozialadäquanz attestiert,
ginge an der Realität der Medien vorbei. Auch SCHULZ/BRUNN/DREYER et al. 2007 argumentieren: "dass sich rechtliche
Anforderungen, die an Genres anknüpfen, in der Praxis als schwierig erweisen." (S.25) Ungeachtet dessen muß die Annahme
einer Sozialadäquanz für nicht expl. propagandistische und insb. nur fiktionale (und ggf. gar auch nur phantastische) Darstellungen per se(!) an dieser Stelle natürlich ausdrücklich begrüßt werden. Dem Schutz der Darstellungen wäre aber u.U. auch
bereits mit einer betont engen Auslegung der Verherrlichung Genüge getan. Der Vollständigkeit halber sei auch noch
HÖYNCK 2008 kommentiert, die bzgl. der Annahme einer Sozialadäquanz im Einzelfall prüfen lassen will, "ob die zu
bewertenden Inhalte in einer Weise gängig sind, dass davon auszugehen ist, dass sie von nahezu jedem Betrachter in einer
Weise wahrgenommen und eingeordnet werden können, die einen verherrlichenden Charakter ausschließt […]." (S.209) Nicht
nur kann ein Tatrichter im Lichte der Heterogenität menschlicher Rezeption auf dem Feststellungsweg gar nicht konstatieren,
wie nahezu jeder Betrachter eine Darstellung wahrnehmen und einordnen wird, auch würde dank der Erforderlichkeit der
Konkordanz nahezu aller Betrachter (die wohl nie erzielt werden kann) die Sozialadäquanz einer Darsellung nie verfangen!
Vgl. BGH, Urt. v. 15.12.1999, Az.: 2 StR 365/99; LIESCHING 2002, S.97 und STATH 2006, S.212. Gem. der h.M. wird –
wie z.B. auch bei der Bewertung der Offensichtlichkeit einer schweren Jugendgefährdung gem. § 15 Abs. 2 Nr. 5 JuSchG –
auf die diesbzgl. Bewertung eines durchschnittlichen Betrachters abzustellen sein (vgl. STATH 2006, S.212), so dass sich die
Verherrlichung (ohne besondere Mühe) erkennbar aus dem Gesamteindruck oder u.U. gar aus besonders ins Auge springenden
Einzelheiten ergeben und bereits i.d.S. im Lichte der Diversität der Medienrezeption für eine enge Auslegung des Merkmals
plädiert werden mus: Eine weite Auslegung, die auch bereits nur implizite Verherrlichungen (auch noch i.w.S.) erfassen und
infolge dessen auf den nur noch subjektiven Eindruck des Betrachter rekurrieren soll, verstößt gegen das Bestimmtheitsgebot.
Die Problematik demonstrierte auch das AG Tiergarten aktuell mit Beschl. v. 28.02.2012 [Az.: (353 Gs) 284 Js 1762/11
(1013/12)] bzgl. des Films SAW VII – VOLLENDUNG, das argumentierte, dass der "geneigte Rezipient" ggü. diversen (im
184
übte Gewalttätigkeit – gerade auch in ihrer Grausamkeit oder sonstigen Unmenschlichkeit –
wirbt. Insoweit ist das Vorliegen einer unverhohlenen, direkten Glorifizierung der gezeigten
Gewalttätigkeiten erforderlich, die erkennbar über den Grad hinausgeht, der bestimmten Filmtypen allein schon genrebedingt immanent ist."1026 Ähnliches gilt u.a. auch für Computerspiele.
Notwendig wird eine eng(st)e Auslegung der Verherrlichung auch dadurch, dass z.B. nach
MAST 1999 die praktikable "Abgrenzung zwischen Verherrlichen, bloßem Beschreiben und der
Anregen zum kritischen Nachdenken"1027 im Lichte einer weiten Auslegung des Merkmals
i.d.R. objektiv kaum oder gar möglich sein wird.1028 Zusammengefasst wäre insg. eine enge
Auslegung des Merkmals notwendig, die ausschließl. unverhohlene, direkte Glorifizierung der
gezeigten Gewalttätigkeiten erfasst. Letztlich hat auch das BVerfG bereits der Tatbestandsalternative der Verletzung der Menschenwürde nur im Rahmen einer engen Auslegung eine
hinreichende Bestimmtheit attestiert (s.u.).1029 Infolge einer engen Auslegung der Verherrlichung dürfte die Tatbestandsalternative aber auch keine Praxisrelevanz mehr haben, denn
kaum einer oder gar keiner der aktuell diesbzgl. inkriminierten Filme und keines der Computerspiele wäre noch erfasst.
Amts- und Landesgerichte legen das Merkmal aber ungeachtet dessen i.d.R. extrem, ja unzulässig weit aus: Das Gros oder gar alle der nach § 131 StGB beschlagnahmten, vermeintlich
gewaltverherrlichenden Filme, wie auch alle diesbzgl. Computerspiele dürften aber kaum für
jedermann plausibel gewaltverherrlichend sein;1030 z.T. fehlen den Gerichtsbeschlüssen rechtswidrigerweise argumentativ fundierte(!) Feststellungen, daß die Rezipienten tatsächlich zu einer
bejahenden Anteilnahme an den Gewalttätigkeiten angeregt werden könnten (s.u.), so dass nach
der Logik der diesbzgl. Beschlüsse bereits Darstellungen solcher Gewalttätigkeiten per se hinreichend tatbestandserfüllend sein sollen (s.u.) – Darstellungen grausamer u./o. unmenschlicher
Gewalt verherrlichen aber für sich genommen solche Gewalthandlungen nicht, die Schilderung
in einer Art, die eine Verherrlichung solcher Gewalttätigkeiten ausdrückt, ist ja als besonderes
Merkmal genannt ist, das zusätzlich zur Schilderung einer Gewalttätigkeit erfüllt sein muß –, so
dass selbst Medien inkriminiert werden können, die (je nach Interpretation des Rezipienten)
Gewalt prinzipiell missbilligen. Ein aktuelleres, prägnantes Beispiel für einen solchen Beschlag-
1026
1027
1028
1029
1030
Rahmen des Beschlusses ohne Kontextualisierung enumerierter, aber ungeachtet der Positionierung des Gerichts insg. nicht
tatbestandserfüllender) Gewaltdarstellungen die Gelegenheit erhalte, sich an den Leiden der Gewaltopfer "weiden" oder
"delektieren" zu können und dass auch die vermeintlich "verworrene Story" einzig dazu diene, "dem geneigten Betrachter ein
sadistisches Vergnügen an dem Geschehen zu vermitteln." Ungeachtet dessen, dass bereits die Medienkompetenzdefizite des
Tatrichters nicht Basis eines Gerichtsbeschlusses sein können, werden sich ungeachtet der (unerheblichen Intention der Urheber, wie auch der) äußeren Form und des Gesamtkontexts der Darstellung immer(!) Geneigte finden lassen, die sich an
Gewaltdarstellungen "weiden" oder "delektieren" können, selbst an unpathetisch-nüchternen Darstellungen (wie bspw. auch
Dokumentationen, Nachrichten etc.) oder auch z.B. dezidierten Antikriegs- u./o. -gewaltfilmen (die die qualifizierten Gewalttätigkeiten schildern): Entsprechend Geneigte können auch einen Film wie AMERICAN HISTORY X als Plädoyer für Rassismus
oder DIE BLECHTROMMEL als Propagierung der Kinderpornographie interpretieren.
ERDEMIR 2000, S.84-108 und vgl. HEINRICH 2008, S.2.
Vgl. MAST 1999, S.140f..
Vgl. HÖYNCK 2008, S.206.
Vgl. BVerfGE 87, 209 (228f.).
Vgl. BIRKE 2007. Bspw. sind in einem Gros der inkriminierten Filme (bspw. FREITAG DER 13. – DAS LETZTE KAPITEL;
HOSTEL 2; TANZ DER TEUFEL etc.) regelmäßig vielmehr die Opfer der Gewalthandlungen prägnantere Identifikationsmodelle
als die Täter; HARTLIEB 2004 konstatiert i.d.S. für den Film BLOOD FEAST mehrmals, dass der Film nicht nur anregt, Mitleid
mit den Opfern zu evozieren und die Menschenwürde tendenziell betont und nicht negiert: "Entscheidend ist darüber hinaus,
dass der Film insgesamt […] die gezeigte Gewalt weder verherrlicht, noch verharmlost. Im Gegenteil: Die Morde werden als
abstoßend und von einem Psychopaten durchgeführt geschildert. Es entsteht keinerlei Animationseffekt. Ebenso wenig kann
von einer Verharmlosung die Rede sein, da das Grausame und Grässliche des Geschehens deutlich vor Augen geführt wird.
Ebenso wenig entsteht beim Betrachter eine Einstellung, dass derartige Taten etwa zu billigen sind oder gar Freude hieran
aufkommt. Das Gegenteil ist der Fall. Das Verhalten des Täters wirkt auf den Betrachter abstoßend, es wird intensives Mitleid
mit den (unschuldigen) Opfern erzeugt." (S.1f.) Dgl. HÖLTGEN 2004a, S.21f.. Ähnliches konstatiert für das Gros der Genrefilme per se auch STIGLEGGER 2010. Ungeachtet dessen implizieren aber diverse Beschlüsse, die Gewalttäter seien die
primären, mithin einzig möglichen Identifikationsmodelle der Rezipienten, selbst ggü. vermeintlichen Modellen, die sowohl
individualbiographisch, als auch situational nicht mit den durchschnittlichen Rezipienten vergleichbar und z.T. phantastische
Kreaturen sind. Die oftmals salopp implizierte, affirmative Adaption der textuellen Täterperspektive (die die Richter selbst
wohl kaum in Anspruch nehmen) seitens der Rezipienten ist mithin nur die Manifestation des Ressentiments, das Klientel der
inkriminierten Medien rekrutiere sich aus gewaltaffinen, sadistischen Voyeuren. In Computerpielen ist das Spielersubstitut
selbst zwar regelmäßig der potenzielle Gewalttäter, aber auch in den Fällen dürfte eine Verherrlichung infolge der bereits
skizzierten und noch zu skizzerenden Gründe i.d.R. praktisch ausgeschlossen sein.
185
nahmebeschluss ist der des AG Detmold ggü. dem Spiel WOLFENSTEIN; einzig der Leitsatz der
Redaktion kolportierte: "Der Inhalt des PC-Spiels […] ist als Gewalt verherrlichend anzusehen
und verwirklicht damit den Tatbestand des § 131 StGB."1031 Darüber hinaus wird im kompletten
Beschluss nur noch im Rahmen zweier Sätze die Beschlagnahme und Einziehung des Spiels angeordnet und bzgl. der Gründe formuliert:
Die PC-Spiel-DVD […] enthält sowohl Gewaltdarstellungen nach § 131 StGB, als auch die Darstellung
nationalsozialistischer Symbole. Schon auf dem Cover des Spiels finden sich der Totenkopf als Zeichen
der SS-Totenkopfverbände und als Kragenspiegel getragene SS-Runen. In den Spielabschnitten befinden
sich zahlreiche Abbildungen von Hakenkreuzen und SS-Runen, etwa auf Fahnen, Propagandaplakaten
und Uniformen, sowie Hitler-Bilder. Unter andererm werden folgende Gewalttätigkeiten gezeigt: […]
Zwei Krankenschwestern werden von unsichtbaren Kämpfern der Nazis getötet. […] Ein Mann wird
durch einen Kopfschuss eliminiert. […] Der Spieler bekämpft zahlreiche Gegner, die er mit einer Axt
tötet und verstümmelt, mittels Kopfschuss tötet oder mit einem Flammenwerfer in Brand setzt, worauf
das in Flammen stehende Opfer schreiend umherläuft und dann tot zusammenbricht. […] Anderen
Gegnern wird mit einem Bajonett die Kehle durchtrennt, das Opfer greift sich röchelnd an den Hals, aus
dem Blut sprudelt, und fällt nach einigen Sekunden tot um. […] Gezielte Schüsse und Explosionen lassen
die Köpfe der Gegner explodieren oder reißen ihm Gliedmaßen ab. […] Der Spieler tötet unbewaffnete
Wissenschaftler, von denen eine Gefahr nicht ausgeht und die zudem um Gnade betteln und sich auf den
Boden kauern.
Ungeachtet dessen, dass dem Gericht fälschlicherweise offensichtlich auch bereits das offensichtlich nicht affirmative Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Symbole nach §
86a StGB die Anordnung der Beschlagnahme legitimieren konnte (es also i.d.S. die Tendenzschutzklausel des Abs. 3 der entsprechenden Norm ignorierte), ist der Beschluss extrem opak:
Tatsächlich werden nicht nur einzig und allein die ersten beiden der monierten Gewalttätigkeiten (als Zwischensequenzen) geschildert, auch wirbt keine der beiden Schilderungen für die
dargestellten Gewalttätigkeiten. Ohne im Folgenden die Handlung des Spiels en détail skizzieren zu wollen, will in ersterem Fall eine Krankenschwester, eine Kontaktperson des Spielersubstituts, eines Geheimagenten des US-amerikanischen Office of Secret Actions, denselben
über geheime Menschenversuche der Nazis in einem Hospital informieren. Dem kommt aber
ein Attentäter der Nazis zuvor, der die Informantin und eine andere anwesende Krankenschwester vor den Augen des Protagonisten in einem mittels einer Schutzscheibe isolierten
Rezeptionsareal des Hospitals exekutiert. Dem Fluchtversuch der zweiten Krankenschwester assistiert der Protagonist gar noch hilflos alarmierend ("Get out! Get out of there!") und die
Scheibe manuell und per Stuhl traktierend. Im zweiten Fall exekutiert einer der Hauptantagonisten des Spiels, SS-Hauptsturmführer Hans GROSSE, den verräterischen Doppelagenten
Dr. Leonid ALEXANDROV, nachdem dieser für die Nazis nutzlos geworden ist. Ähnliches
sind bspw. auch klassische Sujets unzähliger Spionagefilme und können als Handlungen der
Antagonisten, die ja auch i.d.S. diabolisiert werden sollen, kaum oder besser gar nicht als
affirmativ intendierte Darstellungen interpretiert werden; der Effekt dürfte vielmehr ein
repulsiver und kein affirmativer sein.
Bei den anderen Fällen skizzierter Gewalttätigkeiten handelt es sich auch nur noch um Interaktionspotenziale infolge willentlicher Entscheidungen des Spielers, nicht um Spielszenen, die –
wie der Beschluss aber suggeriert – so zwingend im Spiel vorkommen. Mithin kann die bloße
Aufzählung (tendenziell unrealistischer) immersiver Splatter- u./o. Goreeffekte für sich genommen auch keine Tatbestandsmäßigkeit indizieren, insb. sind ähnliche Darstellungen regelmäßig
nach der Spruchpraxis der BPjM nur jugendgefährdend oder nach der der USK gar nur jugendbeeinträchtigend. Bezeichnenderweise waren die ersten beiden der sechs Gewaltdarstellungen
auch Inhalt der von den OLJB mit "Keine Jugendfreigabe" gekennzeichneten deutschen
Versionen des Spiels, in der nur die entsprechenden Bluteffekte entfernt wurden. Auch war es in
dieser Version nach wie vor möglich, Gegner mit einem Flammenwerfer in Brand zu setzen,
inkl. der monierten Animationen (aber ohne dass dies akkustisch durch Schreie untermalt
wurde). Den Unterschied zwischen einem nur jugendbeeinträchtigenden und einem sozialschädlichen Medieninhalt sollen also nach Auffassung des Gerichts nur noch Splatter- u./o.
Goreeffekte und nicht mehr (wie eigentlich vorgesehen) eine gewisse (tenenzielle) Gewalt1031
AG Detmold, Beschl. v. 19.01.2010, Az.: 3 Gs 99/10 (WOLFENSTEIN).
186
affirmation u./o. -bagatellisierung markieren, womit auch dieser Beschlagnahmebeschluss
prinzipiell rechtswidrig sein dürfte.
14.2.5.2
Verharmlosung von Gewalttätigkeiten
Der Bundestagsausschuss für Jugend, Familie und Gesundheit wollte im Rahmen des JÖSchNG
die zweite Tatbestandsalternative, d.h. die der Gewaltverharmlosung weit auslegen und bereits
"Fälle der 'beiläufigen', 'emotionsneutralen' Schilderung von grausamen oder sonst unmenschlichen Gewalttätigkeiten ohne ein 'Herunterspielen'" erfasst wissen, "sofern derartige Schilderungen als 'selbstzweckhaft' einzuordnen sind."1032 Ungeachtet des einer weiten Auslegung inhärenten, aber für ein Erwachsenenstrafrecht nicht tragfähigen pädagogischen Gedankens (der
auch nicht die Aufgabe jeder Gewaltdarstellung sein kann),1033 hat nicht nur das BVerfG acht
Jahre später die Tatbestandsmäßigkeit (vermeintlich) selbstzweckhafter Darstellungen
grausamer u./o. unmenschlicher Gewalt im Rahmen der Tatbestandsalternative der Verletzung
der Menschenwürde als unzulässig weite Aulegung der Strafvorschrift kritisiert (s.u.),1034 die
Folgen der Auslegung des Ausschusses wäre auch insg. eine uferlose Ausdehnung der Strafvorschrift,1035 die an die Strafbarkeit einer Gewaltdarstellung geringere Anforderungen als an
eine Eignung zur Jugendgefährdung oder gar -beeinträchtigung stellen würde.
Gewaltverharmlosend können i.d.S. nicht gleich neutrale oder nicht (hinreichend) mahnende
Schilderung grausamer u./o. unmenschlicher Gewalttätigkeiten sein. Nicht hinreichend ist aber
auch die nur marginal engere Auslegung, dass bereits eine nicht oder nicht (hinreichend)
realistische Schilderung der Konsequenzen der Gewalttätigkeiten erfasst sein soll.1036 Die Folge
wäre gleichermaßen eine Uferlosigkeit der Vorschrift, die das Gros aller (grausame u./o. unmenschliche) Gewalt darstellenden Medien verbieten würde.1037 Die weite Auslegung des Merkmals würde gem. BITKOM 2002c insg. auch Darstellungen wie "James-Bond-Filme" erfassen,
"bei denen man mit gutem Grund sagen könnte, dass dort eine verharmlosende Darstellung von
Tötungen erfolgt, die angesichts einer allgemeinen gesellschaftlichen Akzeptanz aber sicher
nicht in den Bereich der Strafbarkeit fallen sollten. Ähnliches gilt für jeden satirischen oder
komödiantischen Umgang mit dem Thema Tod und Gewalt […]."1038
Auch die im Lichte dessen in der Literatur regelmäßig vorgeschlagene Auslegung, dass nur
Darstellungen erfasst sein sollen, die für jedermann erkennbar für grausame u./o. unmenschliche
Gewalttätigkeiten werben, indem sie die Gewalt auch bereits nur implizit herunterspielen u./o.
als alltägliches, probates und ggf. legitimes Konfliktlösungsmittel darstellen,1039 ist nicht hinreichend; diesbzgl. gilt dieselbe Kritik, wie ggü. der analogen Auslegung der Tatbestandsalternative der Gewaltverherrlichung (s.o.). Tatsächlich demonstrieren die entsprechenden, d.h.
auf eine bereits nur implizite (vermeintlich jedermann erkennbare) und nicht etwa explizite
Gewaltverharmlosung abstellenden Gerichtsbeschlüsse auch eine extreme, ja unzulässig weite
Auslegung des Tatbestandsmerkmals.
Dem AG München war bspw. im Fall des Kampfsportspiels MORTAL KOMBAT (im Beschl.
selbst konstant falsch "Mortal Combat" genannt) bereits das reziproke, vermeintlich "pausenlose
Zufügen schwerster Körperverletzungen" der "Kampffiguren" diesbzgl. hinreichend, ohne dass
dieselben Schlagkraft verlieren, "selbst wenn sie bereits mehrfach und schwer vom Gegner
getroffen wurden. Auch sind die Spielfiguren in jeder neuen Spielrunde erneut einsatzfähig,
ohne daß die Folgen bereits erlittener Verletzungen sichtbar würden. Das Computerprogramm
läßt keine Möglichkeit, den offensichtlich zwischen den Kampffiguren konstruierten Konflikt
anders als durch brutale Gewalt zu lösen. Hierin liegt eine Bagatellisierung der Gewalt als eine
1032
1033
1034
1035
1036
1037
1038
1039
BT-Drs. 10/2546, S.22.
Vgl. ERDEMIR 2000, S.88.
Vgl. BVerfG 87, 209 (229f.).
Vgl. LIESCHING 2002, S.98f..
Vgl. ERDEMIR 2000, S.88 und HEINRICH 2008, S.2.
STATH 2006, S.214.
Vgl. BITKOM 2002c, S.6.
Vgl. MAST 1999, S.141; ERDEMIR 2000, S.88; KRAUSE 2006, S.12; STATH 2006, S.213f. und HÖYNCK 2008, S.212.
187
im menschlichen Leben übliche Form des Verhaltens und als nachahmenswerte Methode zur
Lösung von Konflikten."1040 Ungeachtet dessen, dass ein phantastisches Kampfsportturnier, in
dem gleichermaßen phantastische Figuren (s.u.) gegeneinander kämpfen, offenbar keine im
menschlichen Leben übliche Situation ist und infolge dessen dort dargestellte Gewalttätigkeiten
kaum oder gar nicht als nachahmenswerte Methode zur Lösung von realen Konflikten bagatellisieren kann, wie auch, dass fragwürdig ist, wie im Rahmen eines derartigen Turniers ein
"Konflikt" zwischen den Kampffiguren anders als durch Kampfsport zu lösen sein soll,
konstatierte auch bereits LANGNER 1996 ggü. dem ersten Spiel einen "Comic-Charakter der
Kampffiguren" und monierte: "Ob den Computerspielfiguren ständig schwerste Körperverletzungen zugefügt werden, lässt sich keinesfalls feststellen, allerhöchstens vermuten. Treffer
des Gegners lassen zumindest optisch keine Verletzungen erkennen. Unabhängig davon sind in
einem Kampfsportspiel entsprechenden Hiebe, Schläge und Tritte unverzichtbar. Ein KarateSpiel ohne Karate-Techniken ist sinnlos."1041 Nach der Argumentation des Gerichts wären
tatsächlich Kampfsportspiele per se, selbst solche, die normalerweise eine Jugendfreigabe
erhalten (z.B. SOUL CALIBUR 4, STREET FIGHTER IV), regelmäßig tatbbestandlich gewaltverharmlosend. Mithin sind die hyperviolenten Gewaltdarstellung der Spiele aber auch Paradebeispiele nicht tatbestandlicher gewaltsatirischer (ggf. lächerlicher und grotesker), bizarrer
Übersteigerungen (s.o. die Kommentierung zum dritten Teil der Spieleserie).
Bezeichnenderweise konstatierte selbst die BPjM bzgl. des siebten Teils der Serie – MORTAL
KOMBAT: ARMAGEDDON –, dass eine Verharmlosung von Gewalt tatsächlich nicht stattfindet:
"Die Spielfiguren bewegen sich eindeutig in einer Phantasiewelt. Es fehlt insoweit an einem
menschlichen Bezug wie auch an einer Werthaftigkeit von Gewalt. Die Kampfmethoden (z.B.
Blitze, Feuer), sind größtenteils ebenfalls irreal. Solche Darstellungen müssen daher mit
lediglich beschreibenden Gewaltdarstellung gleichgesetzt werden, die das Tatbestandsmerkmal
der Verharmlosung generell nicht erfüllen [...]."1042 Dies stellt die eindeutig überzeugendere
Argumentation dar.
Ein anderes Beispiel einer unzulässig weiten Auslegung des Tatbestandsmerkmals ist die
Beschlagnahme des Spiels SCARFACE – THE WORLD IS YOURS nach Beschluss desselben Amtsgerichts dar: Nicht nur sei die dargestellte Gewalt grausam und unmenschlich, auch müsse ein
Spieler dadurch, "dass ein Zwischenspeichern nicht möglich ist, […] so oft die Eliminierung
wiederholen, bis er die Mission beendet hat. Auch das führt zur Bagatellisierung der Tötungshandlungen."1043 I.d.S. wird bereits mit der Spielekompetenz eines fiktionalen Spielers für die
Tatbestandlichkeit des Spiels argumentiert (je erfolgreicher der Spieler ist, desto geringer sei die
Gewaltverharmlosung und umgekehrt): Nach der Logik des Beschlusses wäre jede Darstellung
grausamer u./o. unmenschlicher Gewalt, insofern sie nur (und sei es auch nur infolge des
aktiven Tätigwerdens des Spielers selbst) hinreichend oft wiederholt wird, eine Verharmlosung.
Letztlich argumentierte auch das AG Tiergarten mit Beschl. v. 15.02.2010 im Rahmen der
Beschlagnahme des Spiels LEFT 4 DEAD 2: "Alleiniger Spielinhalt […] ist das Töten von zahlreichen Opponenten, deren Anzahl von der Spieldauer abhängt und bei einer Spieldauer von
mehr als einer Stunde den vierstelligen Bereich erreichen kann. [...] Die menschlichen Opponenten treten in sehr hoher Anzahl auf, so dass es zu einer entsprechend hohen Anzahl an
Tötungen kommt. [...] Jede Einzeltat wird bereits durch die Quantität der Darstellungen
bagatellisiert und damit verharmlost."1044 Einerseits, ignoriert das Gericht aber den Kontext der
Darstellungen (d.h. den tatsächlichen Spielinhalt). Andererseits ist die Feststellung, dass die
"Anzahl an Tötungen" und die Spielzeit positiv korrelieren, nicht nur trivial, sondern suggeriert
kurioserweise auch, dass das Spiel bei kürzeren Spielzeiten nicht mehr gewaltverhamlosend sei.
Auch im Lichte solch inflationärer Auslegungen wäre abermals eine enge Auslegung des Tatmerkmals dringend angeraten, die ausschließl. unverhohlene, direkte Bagatellisierungen der
1040
1041
1042
1043
1044
AG München, Beschl. v. 11.11.1994, Az.: ER Gs 465b Js 172960/94 (MORTAL KOMBAT). Dgl. behauptete dasselbe Gericht
mit Beschl. v. 08.02.1995 auch ggü. dem Spiels MORTAL KOMBAT II (Az.: 8340 Gs 9/95), wie auch das AG Tiergarten mit
Beschl. v. 12.06. 1997 ggü. MORTAL KOMBAT 3 (Az.: 351 Gs 2856/97).
LANGNER 1996, S.9f..
IE Nr. 5478 v. 12.04.2007 (MORTAL KOMBAT: ARMAGEDDON).
AG München, Beschl. v. 20.11.2007, Az.: 855 Gs 426/07 (SCARFACE – THE WORLD IS YOURS).
AG Tiergarten, Beschl. v. 15.02.2010, Az.: (353 Gs) 75 Js 1079/09 (694/10) (LEFT 4 DEAD 2).
188
gezeigten Gewalttätigkeiten erfasst, so dass aber infolge dessen auch die zweite Tatbestandsalternative keine Praxisrelevanz mehr hätte; bspw. wäre kaum einer oder gar keiner der aktuell
diesbzgl. inkriminierten Filme und keines der Computerspiele noch erfasst. Die letzten beiden
Auslegungen wären aber auch nicht mehr hinreichend von der Tatbestandsalternative der
Gewaltverherrlichung unterscheidbar: Bereits ERDEMIR 2000 argumentierte plausibel, insofern der Tatbestand der Gewaltverharmlosung verlange, "daß die Gewalttätigkeiten als in
besonderem Maße nachahmenswert geschildert werden, so beinhaltet eine entsprechende
Berühmung der Gewalttätigkeit letztlich auch ein Verharmlosen dergestalt, daß die Wertwidrigkeit der Gewalttätigkeit der wirklichen Bedeutung widersprechend bagatellisiert wird."1045 Die
Tatbestandsalternative erfasst keine Darstellungen, die nicht bereits der Tatbestand der Gewaltverherrlichung erfasst, so dass der Tatbestand der Gewaltverharmlosung nicht nur redundant ist,
sondern auch gegen das Bestimmtheitsgebot verstößt.1046
14.2.6
Die Menschenwürde verletzende Gewaltdarstellungen
Seit Inkrafttreten des JÖSchNG sind nach § 131 StGB auch Schriften strafbar, "die grausame
oder sonst unmenschliche Gewalttätigkeiten gegen Menschen oder menschenähnliche Wesen in
einer Art schildern, die […] die das Grausame oder Unmenschliche des Vorgangs in einer die
Menschenwürde verletzenden Weise darstellt […]." Nach STATH 2006 wurde im Rahmen des
Gesetzgebungsprozesses kolportiert, dass die von der geplanten Norm (de lege ferenda)
Betroffenen die Anwendbarkeit des § 131 StGB unterminierten, "indem sie sich stereotyp auf
die verfassungsmäßig garantierte Kunstfreiheit des Art. 5 Abs. 3 GG beriefen."1047 Zwischen
1974 und 1983 wurden nur 22 Verurteilungen nach § 131 StGB dokumentiert, so dass die
Gesetzesproponenten im Lichte der allg. moralpanischen Medienhysterie ggü. Mediengewaltdarstellungen seit 1982 angesichts einer vermeintlichen Brutalisierung der Medien ein diesbzgl.
Vollzugsdefizit konstruierten, das korrigiert werden müsse;1048 die Novellierung der Norm sei
rechtspolitisch notwendig gewesen. Aber bereits RIEPE 2003 monierte, dass die Novellierung
eine "Rechtsbeugung" normieren sollte, die insb. den "strategischen Zweck" habe, "die
Reichweite der Vorschrift so weit auszudehnen, daß die in Artikel 5 garantierte Kunst- und
Pressefreiheit grundsätzlich nachrangig ist."1049
I.d.S. konnte bspw. das LG München I ggü. dem Film TANZ DER TEUFEL nach der Darstellung
des BVerfG argumentieren,1050 es könne offen bleiben, ob der Film als Kunstwerk einzustufen
sei: "Die Kunstfreiheit sei jedenfalls nicht schrankenlos gewährt, sondern durch das Grundgesetz selbst begrenzt. Die gebotene Abwägung mit anderen Grundrechtsgarantien führe dazu,
daß die Kunstfreiheit hier auch dann hinter der Menschenwürde anderer zurücktreten müsse,
wenn man dem Film überwiegend künstlerische Darstellung zubilligen würde."1051 Das war ein
Standardargument für das Gros der entsprechenden Beschlagnahmen seit Inkrafttreten des
JÖSchNG.1052
BIRKE 2007 kommentierte i.d.S., dass mit der Novellierung eine Umwandlung der Norm
erfolgte, "vom realitätsbezogenen Gewaltdarstellungs-Verbot in ein Zensurgesetz gegen
Fantasiemedien. […] Sogar das Gebot der Menschenwürde in Artikel 1 GG kann zum Un-Wert
mutieren, wenn es nicht mehr echte Menschen schützt, sondern zur Reglementierung reiner
Fantasiewelten zweckentfremdet wird." Die fundamentale Prämisse der Gerichte, dass der
Schutz einer auch nur abstrakten Menschenwürde grundsätzlich ggü. der Kunstfreiheit vorrangig sei, dürfte aber falsch sein (s.o.). Mithin ist nicht die Menschenwürde das Schutzgut des
§ 131 StGB, sondern der öffentliche Friede: Die durch das Grundrecht der Kunstfreiheit
geschützten Interessen kollidieren mit dem Rechtsgut des öffentlichen Friedens, nicht mit dem
1045
1046
1047
1048
1049
1050
1051
1052
ERDEMIR 2000, S.89 und vgl. BITKOM 2002c, S.6.
Vgl. ERDEMIR 2000, S.109f.
STATH 2006, S.39f..
Vgl. BT-Drs. 10/2546, S.21.
RIEPE 2003, S.7.
Vgl. LG München I, Beschl. v. 11.05.1989, Az.: 15 Qs 18/89 (TANZ DER TEUFEL).
BVerfGE 87, 209 (218).
Vgl. RIEPE 2003, S.23.
189
der Menschenwürde, so dass in jedem Fall eine (ergebnisoffene) Güterabwägung geboten war.
Beschlüsse, die im Rekurs auf die vermeintlich grundsätzliche Vorrangigkeit der Menschenwürde Medien ohne die skizzierte Güterabwägung beschlangahmten oder gar auch einzogen,
dürften i.d.S. rechtswidrig sein.
Ungeachtet dessen wurde aber auch bereits die Bestimmtheit dieser Tatbestandsalternative
intensiv diskutiert: Unproblematisch sei die Bestimmtheit des Merkmals nach Auffassung des
BVerfG, "soweit es Fälle erfaßt, in denen durch die filmische Darstellung konkrete Personen in
ihrer Würde verletzt werden. Darin erschöpft sich jedoch der erkennbare Sinn der Vorschrift
nicht. Vielmehr ergibt sich aus deren Wortlaut und systematischem Zusammenhang, daß sie vor
allem auch Fälle erfassen soll, in denen die Schilderung […] darauf angelegt ist, beim
Betrachter eine Einstellung zu erzeugen oder zu verstärken, die den fundamentalen Wert- und
Achtungsanspruch leugnet, der jedem Menschen zukommt. Das geschieht insbesondere dann,
wenn grausame oder sonstwie unmenschliche Vorgänge gezeigt werden, um beim Betrachter
ein sadistisches Vergnügen an dem Geschehen zu vermitteln, oder um Personen oder Gruppen
als menschenunwert erscheinen zu lassen. Eine solche Tendenz schließt die Vorstellung von der
Verfügbarkeit des Menschen als bloßes Objekt ein, mit dem nach Belieben verfahren werden
kann. Deshalb kann auch eine menschenverachtende Darstellung rein fiktiver Vorgänge das
Gebot zur Achtung der Würde des Menschen verletzen. Sie ist zudem geeignet, einer allgemeinen Verrohung Vorschub zu leisten, den Respekt vor der Würde des Mitmenschen beim
Betrachter zu mindern und so auch die Gefahr konkreter Verletzungen dieses Rechtsguts zu
erhöhen."1053 Nicht der Wortlaut der Norm selbst, sondern die Rechtsprechung will i.d.S.
kurioserweise auf eine diesbzgl. intentionale Menschenwürdeverletzung seitens der Medienmacher abstellen (die Schilderung soll "darauf angelegt" sein). Eine solche Intention kann aber
insb. nicht mittels einer simplen Textanalyse ermittelt werden und dürfte ohne Ressentiments
ggü. den Medienmachern (wie auch z.T. ggü. dem Publikum) oder außerhalb realpropagandistischer (und ggf. volksverhetzender) Medien normalerweise auch nicht besonders
plausibel sein.
Nach dem Willen des Gesetzgebers sollen aber ungeachtet dessen sogar bereits "exzessive
Schilderungen von Gewalttätigkeiten" erfasst sein, "die u.a. gekennzeichnet sind durch das Darstellen von Gewalttätigkeiten in allen Einzelheiten, z.B. das (nicht nur) genüssliche Verharren
auf einem leidverzerrten Gesicht oder den aus einem aufgeschlitzten Bauch herausquellenden
Gedärmen."1054 Will man der uferlosen Ausdehnung des Tatbestands entgegenwirken, ist aber
mehr zu verlangen als nur eine detaillierte Gewaltdarstellung zu Unterhaltungszwecken:1055
Einerseits können Schilderungen der Art (insb. auch im Rahmen der entsprechenden Kontexte
derselben) nämlich auch Sympathien mit dem Opfer erzeugen oder verstärken; ob und wie die
Rezipienten die Täter- oder Opferperspektive im Rahmen solcher Schilderungen einnehmen,
kann nicht alleine anhand der Medieninhalte selbst ermittelt werden, auch sind in einem Gros
der beschlagnahmten Filme auch tendenziell die Opfer und nicht die Täter die plausibleren
Identifikationsmodelle. Andererseits könnte der Tatbestand andernfalls u.U. sogar bereits
geringere Anforderungen an eine Beschlagnahme als an eine Indizierung nach § 18 Abs. 1 Nr. 1
und nach § 15 Abs. 2 Nr. 3a JuSchG stellen. Tatsächlich rezitierte das AG München u.a. im Fall
der Beschlagnahme des Films HOSTEL 2 (trotz juristischer Unbedenklichkeitserklärung der
SPIO/JK) auch nur die entsprechende Argumentation der BPjM,1056 die bereits im Rahmen der
antezedierenden Indizierung nicht hinreichend zwischen einer schweren Jugendgefährdung
i.S.d. letzteren Norm und einer Verletzung der Menschenwürde nach § 131 StGB differenzierte:
"Gewalt- und Tötungshandlungen prägen das mediale Geschehen. Gewalt wird selbstzweckhaft
und detailliert dargestellt, ihre Anwendung legitimiert und gerechtfertigt. Eine solche Botschaft
1053
1054
1055
1056
BVerfGE 87, 209 (228f.); vgl. OEHLER 1988, S.189f.; MEIROWITZ 1993, S.152ff.; ERDEMIR 2000, S.92-96;
GOTTBERG 2000a, S.129; LIESCHING 2002, S.102; KRAUSE 2006, S.12/16ff.; STATH 2006, S.214-217; SCHULZ/
BRUNN/DREYER et al. 2007, S.99 und SCHULZ/DREYER 2007b, S.1.
BT-Drs. 10/2546, S.23; vgl. NIKLES/ROLL/SPÜRCK et al. 2005, S.541f. und STATH 2006, S.154.
Vgl. ERDEMIR 2000, S.95.
Vgl. IE Nr. 8049 (V) v. 06.02.2008 (HOSTEL 2).
190
widerspricht dem Gebot, die Menschenwürde zu achten."1057 Nach Auffassung desselben
Gerichts,1058 wie nach der des AG Tiergarten, verletzten aber auch bereits vermeintlich selbstzweckhafte Darstellungen grausamer u./o. sonst unmenschlicher Gewalttätigkeiten ungeachtet
des Detailgrads derselben die Menschenwürde;1059 das Standardargument der Gerichte seit Inkrafttreten des JÖSchNG.
Eine Ausnahme ggü. dieser Argumentation markiert im Bereich der Computerspiele nur die
Beschlagnahme des Spiels SCARFACE – THE WORLD IS YOURS durch das AG München: "Die
Missionen können nur durch Tötungen erfüllt werden. Sie sind notwendiges Zwischenstadium
des Spiels. Es müssen insgesamt 83 Gangs mit jeweils einem Dutzend Mitgliedern eliminiert
werden, sodass im Endeffekt ein blindes 'Niedermetzeln' von allem, was sich dem Spieler in den
Weg stellt das Ergebnis ist und der Gegner wie Schlachtvieh seinem Ende entgegen sieht. Der
Gegner verliert dadurch jegliche menschliche Qualität und wird zum Tötungsobjekt degradiert.
Die Tötungen selbst werden […] so selbstverständlich wie Autofahren oder Laufen."1060
Kurioserweise sollte aber einerseits nach demselben Beschluss dgl. (d.h. die Quantität der
Gewaltdarstellungen) auch bereits hinreichend eine Gewaltverharmlosung indizieren (s.o.),
andererseits wurde bereits moniert, dass die Statistenfunktion expersonalisierter Opponenten für
Genrespiele wie das gegenständliche oftmals konstitutiv ist und nichtmal eine einfache Jugendgefährdung begründen kann, will man einer Uferlosigkeit derselben entgegenwirken.
Tatsächlich hatte das BVerfG aber bereits 1992 konstatiert, dass es nicht hinreichend tatbestandserfüllend sein kann, "dass rohe Gewalttaten in aufdringlicher Weise anreißerisch und
ohne jegliche sozial sinnhafte Motivation um ihrer selbst Willen gezeigt würden. Damit wird
das Tatbestandsmerkmal einer die Menschenwürde verletzenden Darstellung in einer Weise
ausgelegt, die keine hinreichend bestimmten Konturen mehr erkennen lässt. Gewalttätigkeit […]
verletzt für sich genommen die Menschenwürde nicht. Das ergibt sich schon daraus, dass die
Darstellung in einer die Menschenwürde verletzenden Weise im Tatbestand als besonderes
Merkmal genannt ist, das zusätzlich zur Schilderung der Gewalttätigkeit erfüllt sein muss. Deswegen kann auch weder die Häufung noch die aufdringliche und anreißerische Darstellung von
Gewalttätigkeiten für sich allein den Tatbestand erfüllen. Jedenfalls ließen sich, wenn es auf
diese Kriterien ankäme, die […] verbotenen Handlungen nicht deutlich genug von als zulässig
anzusehenden Darstellungen etwa in Abenteuer- oder Kriminalfilmen abgrenzen."1061 Insofern
dürfte das Gros der entsprechenden Beschlagnahmen, wie die konkreten Beispiele bereits
demonstrieren, insg. rechtswidrig sein.1062
Die Frage stellt sich, welche Darstellungen der Tatbestand außerhalb (bereits von § 130 StGB
erfasster) realpropagandistischer oder solcher (wahrscheinlich gar nicht existenter) intentionale
Menschenwürdeverletzungen expl. artikulierender Medien überhaupt noch erfassen könnte.
Ungeachtet dessen argumentiert aber letztlich auch ERDEMIR 2000, dass die Tatbestandsalternative der Menschenwürdeverletzung redundanterweise insg. keine neuen Darstellungen
erfasst, die nicht bereits auch gewaltverherrlichend, d.h. darauf angelegt sind, beim Betrachter
eine Einstellung zu erzeugen oder zu verstärken, die den fundamentalen Wert- und Achtungsanspruch leugnet, der jedem Menschen zukommt. Damit bleibe festzustellen, "daß zur Einführung des hochgradig wertausfüllungsbedürftigen Begriffes der 'Menschenwürde' in den §
131 StGB [...] keine gesetzliche Notwendigkeit bestand. Folglich ist auch diese Tatbestandsalternative mit Art. 103 Abs. 2 GG nicht vereinbar und somit verfassungswidrig."1063
1057
1058
1059
1060
1061
1062
1063
AG München, Beschl. v. 10.6.2008, Az.: 465 Js 306253/08 (HOSTEL 2).
Vgl. AG München, Beschl. v. 10.12.2008, Az.: 855 Gs 596/08 (STORM WARNING).
Vgl. AG Tiergarten, Beschl. v. 28.02.2012, Az.: (353 Gs) 284 Js 1762/11 (1013/12), aufgeh. durch Beschl. v. 12.12.2012, Az.:
528 Qs 126/12 (SAW VII – VOLLENDUNG).
AG München, Beschl. v. 20.11.2007, Az.: 855 Gs 426/07 (SCARFACE – THE WORLD IS YOURS).
BVerfGE 87, 209 (229) und vgl. RIEPE 2003, S.25.
Vgl. RIEPE 2003, S.25.
ERDEMIR 2000, S.97 und vgl. HÖYNCK 2008, S.212.
191
14.2.7
Menschenähnliche Wesen
Letztlich ist notwendig, dass die Medien grausame oder sonst unmenschliche Gewalttätigkeiten
gegen Menschen oder sog. menschenähnliche Wesen schildern. Der originäre Wortlaut der
Norm erfasste nur Menschen,1064 der Gesetzgeber, resp. der im Rahmen der Beratungen für das
JÖSchNG zuständige Ausschuss für Jugend, Familie und Gesundheit, argumentierte aber bereits
1984, "dass unter dem Merkmal 'Menschen' auch menschenähnliche Wesen verstanden werden,
wie […] z.B. […] 'Zombies' oder ähnliche Wesen."1065 Im Lichte dessen beschlagnahmten
deutsche Gerichte in den folgenden Jahren hunderte von Filmen, die Gewalttätigkeiten auch
bereits nur gegen menschenähnliche Wesen schilderten.
Das BVerfG widersprach der Auffassung des Gesetzgebers aber 1992 als Verstoß gegen das
Analogieverbot des Art. 103 Abs. 2 GG: "Wenn der Gesetzgeber die filmische Darstellung von
Gewalt gegen menschenähnliche Wesen [vor allem sogenannte Zombies] hätte unter Strafe stellen wollen, hätte er dies im Wortlaut der Vorschrift zum Ausdruck bringen müssen."1066 Aber
weder wurden infolge dessen die bereits beschlossenen, rechtswidrigen Gerichtsbeschlüsse
revidiert, noch konnte das Gerichtsurteil innerhalb der nächsten elf Jahre weitere unrechtmässige Beschlagnahmen solcher Medien, die (fast) ausschl. Gewalttätigkeiten gegen menschenähnliche Wesen schildern, verhindern.1067 Erst infolge des sog. Amoklaufs von Erfurt am 26.04.
2002 wurde die Norm im Rahmen des SexÄndG novelliert, so dass seitdem auch Gewalttätigkeiten gegen menschenähnliche Wesen erfasst werden.
Der Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages hatte einerseit kolportiert, dass sich in der
Vorgeschichte des Täters, wie auch der Täter ähnlicher Verbrechen, ein "übermäßiger Konsum
gewaltverherrlichender Videofilme und Computerspiele" finde und dass das ein "gewisses
Gefährdungspotenzial medialer Gewaltdarstellungen" indiziere; das sei auch "überwiegend" in
der Wissenschaft die Auffassung.1068 Tatsächlich konnte dgl. aber nie demonstriert werden.1069
Andererseits habe sich auch in der Praxis gezeigt, "dass ein gewisses Missverhältnis zwischen
der öffentlich wahrzunehmenden Fülle von medialen Gewaltdarstellungen und der […] Aburteilungen und Verurteilungen wegen einer Straftat nach § 131 besteht. Diese Beobachtung
legt es nahe, gesetzgeberische Maßnahmen zu ergreifen, die geeignet und bestimmt sind, die
1064
1065
1066
1067
1068
1069
Vgl. KORTLÄNDER 1998, S.143f..
Vgl. BT-Drs. 10/2546, S.22.
Vgl. BVerfGE 87, 209 (225f.).
Ein diesbzgl. interessanter Fall ist der der Beschlagnahme des Films DAS GEISTERSCHIFF DER SCHWIMMENDEN LEICHEN;
bereits das AG München hatte den Film mit Beschl. v. 26.01.1987 beschlagnahmt (Az.: 443 Gs 8/87 465 b Js 173061/86) und
mit Beschl. v. 24.03.1988 gar eingezogen (Az.: 443 Cs 465 b Js 173061/86). Das AG Tiergarten beschlagnahmte im Rekurs
auf die vorangegangene Beschlagnahme eine Neuauflage des Films mit Beschl. v. 01.03.2000 und zählte auch diverse,
vermeintlich tatbestandsmäßige Schilderungen von Gewalttätigkeiten auf, wie bspw. die der 157. Minute: "Ein Skelett verbrennt […]." (Az.: 351 Gs 763/00) Ungeachtet dessen, dass das Prozedere der Enumeration von Gewaltdarstellungen bereits in
sachlich-rechtlich Hinsicht für die Feststellung einer solche Tatbestandserfüllung unzureichend ist (s.u.), konnte (und kann) ein
(untotes) Skelett als nur menschenähnliches Wesen offensichtlich nicht von § 131 StGB als Opfer von Gewalttätigkeiten erfasst werden; mithin können einem solchen weder besondere Schmerzen oder Qualen körperlicher oder seelischer Art zugefügt
und konnte einem solchen ggü. auch keine menschenverachtende Gesinnung demonstriert werden (s.u.). Der Fall ist umso
kurioser, dass der Film in der verfahensgegenständlichen (zensierten) Fassung nur ca. 86:01 Minuten dauert, die monierte
Szene also Film gar nicht vorkommen kann. Das Gericht hatte die 1997 von Astro Records & Filmwork publizierte Videokassette DIE GESCHICHTE DER REITENDEN LEICHEN 2 beschlagnahmt, ein Doppelprogramm, dass unmittelbar nach dem
inkriminierten Film auf demselben Band auch noch den damals bereits indizierten Film DAS BLUTGERICHT DER REITENDEN
LEICHEN präsentierte, hatte aber nicht realisiert, dass das Videoband zwei Filme beinhaltete. Ungeachtet dessen verjährte die
Indizierung nach 25 Jahren (vgl. BAnz. Nr. 166 v. 31.10.2008) und tatsächlich beinhaltet auch die infolge dessen publizierte
und von den OLJB ab 16 Jahren freigegebene Fassung des Films die inkriminierte Szene.
BT-Drs. 15/1311, S.22.
Zwar konstatierten auch GASSER/CREUTZFELDT/NÄHER et al. 2004, die den Bericht der Kommission Gutenberg
Gymnasium formulierten, ein Jahr später, der Täter habe seit seinem 14. Lebenjahr in einem "überdurchschnittlichem Ausmaß
Computerspiele und Videofilme mit zum großen Teil gewaltverherrlichenden Inhalten" (S.297) rezipiert, konnten das aber
nicht belegen: Vielmehr differenzierte die Kommission offenbar nicht zwischen jugendbeeinträchtigen, jugendgefährdenden
und sozialschädlichen Medien, sondern attribuierte bereits solche Medien als gewaltverherrlichend, die das nur nach der
subjektiven Einschätzung der Autoren waren, auch ohne dass eine (rechtskräftige) gerichtliche Entscheidung dgl. konstatiert
hätte. Tatsächlich ist keiner der von der Kommission expl. benannten Filme und keines der Spiele (S.335f.) nach § 131 StGB
beschlagnahmt (ein paar waren aber auf Liste A des Index indiziert); mithin waren zur Tatzeit insg. auch überhaupt erst drei
Spiele nach § 131 StGB beschlagnahmt, ungeachtet dessen, dass eine Referenz für das durchschnittliche Ausmaß einer solchen
Rezeption fehlte, anhand derer man dem Täter eine überdurchnittliche Rezeption hätte attestieren können.
192
Wirksamkeit der Strafvorschrift zu verbessern."1070 Mittels mehr oder weniger derselben
Argumente wurde die Norm bereits 1985 novelliert, allerdings sind Gewaltdarstellungen nicht
nur nicht generell strafbar, so dass die vermeintliche (auch kaum oder gar nicht objektivierbare)
"Fülle" von dgl. kein Vollzugsdefizit indizieren kann, sondern wurden seitdem auch bereits
hunderte Medien nach § 131 StGB beschlagnahmt (ungeachtet der Dunkelziffer nur zensiert
oder gar nicht veröffentlichter Medien), so dass das konstatierte "Missverhältnis" nicht verfängt.
Insofern war die Novellierung offensichtlich ein Paradebeispiel symbolischer Politik, der
transparente Versuch, sich mittels künstlich gesteigerter Aburteilungen und Verurteilungen nach
§ 131 StGB zu profilieren. Das Mittel zum Zweck war die Erweiterung des § 131 Abs. 1 StGB
um Darstellungen von Gewalttätigkeiten auch bereits gegen menschenähnliche Wesen, "weil es
nicht darauf ankommen kann, ob die Opfer der wiedergegebenen Gewalttätigkeiten als
'Androide', 'künstliche Menschen', 'Außerirdische', 'Untote', als Verkörperung übersinnlicher
Wesen oder ähnliche Wesen dargestellt werden. Entscheidend ist vielmehr, ob sie nach
objektiven Maßstäben ihrer äußeren Gestalt nach Ähnlichkeit mit dem Menschen aufweisen.
Die Ergänzung stellt zudem klar, dass auch gezeichnete […] oder in Form elektronischer
Spezialeffekte dargestellte Menschen […] erfasst werden."1071 Das ist aber kein Argument,
sondern nur ein Zirkelschluss de lege ferenda. Die Frage ist nämlich nach wie vor, warum es
nicht darauf ankommen kann, dass die Opfer der wiedergegebenen Gewalttätigkeiten nur
Phantasiewesen sind. Mithin waren auch "gezeichnete [...] oder in Form elektronischer Spezialeffekte dargestellte Menschen" bereits zweifelsfrei von der Strafvorschrift erfasst. Tatsächlich
haben die ergriffenen Maßnahmen die Norm aber "verschlimmbessert"1072 und nicht verbessert,
wie auch bereits der Bundesrat in einer Stellungnahme im Rahmen der Anrufung des Vermittlungsausschusses konstatierte:
a) Der Begriff [...] ist von erheblicher Unbestimmtheit geprägt. Ein Teil der Praxis sieht das verfassungsrechtlich verankerte und für Straftatbestände in besonderem Maße geltende Bestimmtheitsgebot als
verletzt an. Jedenfalls ist der Begriff geeignet, der Praxis unüberwindliche Interpretationsprobleme zu
bereiten. Der Bericht des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages [...] bleibt [...] eine Erläuterung
dazu schuldig, welche Merkmale mindestens erfüllt sein müssen, damit ein Wesen als dem Menschen
ähnlich eingestuft werden kann. Gewiss erfasst wären Kunstgestalten wie Dracula oder Frankenstein.
Einbezogen wäre jedoch auch ein breites Spektrum von Computerspielen, Zeichentrickfilmen und Comic
Strips. Da "menschenähnliche" Tierwesen wie z. B. Fix und Foxi, Micky Maus, Goofy etc. mit der
Sprechfähigkeit, dem Denkvermögen und der Fähigkeit, Gefühle zu empfinden und auszudrücken,
wesentliche Eigenschaften des Menschen aufweisen, wären wohl auch sie einbezogen [...]. Es existiert
dabei eine Vielzahl von Comics und Zeichentrickfilmen, in denen Gewalttätigkeiten "genüsslich"
geschildert werden (etwa "Roadrunner", "Tom und Jerry"). Auch beim "Pfählen" eines Vampirs
("Dracula") kann die Auffassung vertreten werden, es solle dem Betrachter ein sadistisches Vergnügen an
dem Geschehen vermittelt bzw. das "menschenähnliche Wesen" solle als "menschen-"‚ bzw. "lebensunwert" hingestellt werden. Im Hinblick auf das Legalitätsprinzip wäre die Strafjustiz u.U. gehalten, gegen
solche, durch die Rechtsgemeinschaft weithin akzeptierte Produkte einzuschreiten und ggf. die allgemeine Beschlagnahme zu veranlassen. b) Der Begriff des 'menschenähnlichen Wesens' fügt sich nicht
in § 131 Abs. 1 StGB ein. Nahezu alle anderen Merkmale des Tatbestandes sind auf den ('echten')
Menschen zugeschnitten. Zum Beispiel zeichnet sich das Merkmal "unmenschlich" durch eine menschenverachtende Gesinnung aus und wird der Begriff der Gewalttätigkeit in dem Sinne ausgelegt, dass unmittelbar oder mittelbar auf den Körper eines Menschen eingewirkt wird [...]. Am deutlichsten wird die
Problematik aber an dem Erfordernis einer die Menschenwürde verletzenden Darstellung. Der
Fundamentalsatz der Menschenwürde soll den sozialen Wert- und Achtungsanspruch schützen [...], der in
dieser Weise nur dem ('echten') Menschen und eben nicht einem "menschenähnlichen" Kunstprodukt
zukommt. […] Entweder läuft diese Alternative für "menschenähnliche Wesen" leer, weil ihnen
Menschenwürde nicht zukommt, oder es wird auch in der Weise ein Analogieschluss gezogen, dass eine
Verletzung der Menschenwürde durch die Schilderung dann angenommen wird, wenn die Schilderung
der Gewalttätigkeit, wäre sie gegenüber einem "echten" Menschen verübt worden, dessen Achtungsanspruch verletzen würde. Dann aber würde […] eine Palette von bislang als relativ harmlos empfundenen
Produkten in das Verbot und die Strafbarkeit einbezogen [...]. c) Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass
das Bundesverfassungsgericht für das geltende Recht Raum gelassen hat, fiktiv verfremdete menschliche
Wesen ('Zombies') als Menschen i.S. der Vorschrift anzusehen [...]. Der Tatbestand ist danach nicht
schon dann zwingend zu verneinen, wenn der menschliche Schauspieler im Film als "Untoter", Zombie
etc. bezeichnet wird [...]. Einzuräumen ist, dass eine solche Auslegung in Grenzfällen Schwierigkeiten
bereitet (z.B. "Frankenstein", "Dracula" [...]). Die Auslegungsprobleme potenzieren sich aber, wenn
bereits der Gesetzgeber "menschenähnliche Wesen" einbezieht. Ein zumindest einigermaßen über-
1070
1071
1072
BT-Drs. 15/1311, S.22.
BT-Drs. 15/1311, S.22.
BIRKE 2007.
193
zeugender Gradmesser ist nicht erkennbar (siehe oben Buchstaben a und b).1073
Auch insofern die Norm in Orientierung an der Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses
des Deutschen Bundestages auf eine morphologische Menschenähnlichkeit abstellen würde,
wäre nach KRAUSE 2006 nicht einfach zu bestimmen, "ab wann Wesen so phantasievoll sind,
dass sie nicht mehr menschenähnlich, sondern nur noch Kreatur sind."1074 Die Norm verbietet
aber die Schilderung von Gewalttätigkeiten gegen menschenähnliche und nicht nur gegen mehr
oder weniger humanoide Wesen, insofern ist mehr als nur eine solche Ähnlichkeit zu verlangen,
wie z.B. die Erfüllung verstandgeleiteter, verhaltensbezogener Kriterien.1075 Im Lichte dessen,
dass grausame Gewalttätigkeiten die Zufügung besonderer Schmerzen oder Qualen körperlicher
oder seelischer Art verlangen, wäre insg. auch notwendig, dass die Wesen solche (menschliche)
Schmerzen oder Qualen überhaupt empfinden können, so dass insb. solche Wesen, wie sie der
Rechtsausschuss erfasst wissen wollte, oftmals nicht mehr erfasst sein dürften. Zusammengefasst ist das Merkmal so fragwürdig, wie vage und generiert nur zusätzliche Rechtsunsicherheit insb. für die Medienmacher,1076 resp. verstößt insg. gegen das Bestimmtheitsgebot.
Der Vollständigkeit halber muss aber noch erwähnt werden, dass der BGH bereits 1999
konstatierte, dass es irrelevant sei, ob der Gewalttäter ein Mensch oder ein menschenähnliches
Wesen (oder gar nur eine Kreatur u.ä.) sei; eine diesbzgl. Einschränkung lasse sich weder dem
Wortlaut des § 131 Abs. 1 StGB, insb. "dem Begriff der Gewalttätigkeit, noch dem Schutzgedanken der Vorschrift entnehmen."1077 Dem ist aber zu entgegnen, dass insofern der Begriff
der Gewalttätigkeit nur ein willensgesteuertes Verhalten erfassen kann, nicht willens-, sondern
nur triebgesteuerte (z.B. Tiere) oder programmierte (z.B. Roboter) Wesen denklogisch keine
Gewalttäter i.S.d. Norm sein können:1078 Die Wesen müssen eine brutale, unbarmherzige
Haltung u./o. eine menschenverachtende, rücksichtslose, rohe oder unbarmherzigen Gesinnung
überhaupt erst haben können; dass dürfte aber regelmäßig nicht der Fall sein.
I.d.S. argumentiert auch DEBUSMANN 2008, dass insofern die dargestellte Gewalt bspw. unmenschlich sein muß, "so fällt die Möglichkeit unmenschlich zu handeln auch nicht Fabelwesen
oder Zombies zu, da sie grundsätzlich der Eigenschaft 'menschlich' entbehren."1079 Das
ignorieren die Gerichte aber i.d.R., bspw. ist der Gewalttäter des beschlagnahmten Films
MEXICAN WEREWOLF1080 ein sog. Chupacabra, ein Fabeltier lateinamerikanischer Folklore, das
der skizzierten Haltung, resp. Gesinnung grundsätzlich entbehrt. Ungeachtet dessen negiert es
bspw. normalerweise auch nicht die Subjektqualität des Opfers, dass es Beute eines Raubtiers
wird, andernfalls wäre ein Gros ähnlicher Filme des sog. Tierhorrorgenres tatbestandsmäßig.
Letztlich dürften i.d.R. nur Menschen als Gewalttäter erfasst sein, solange nicht die entsprechenden Haltungen, resp. Gesinnungen menschenähnlicher Täter plausibel angenommen
werden können.
14.2.8
Die Rechtspraxis deutscher Gerichte
Zusammenfassend ist einerseits das Gros der Tatbestandsmerkmale so unbestimmt, dass die
Strafbarkeit einer Darstellung fast ausschl. eine Frage der subjektiven Bewertung der Umstände
durch den zuständigen Richter ist und die Norm i.d.S. zum Gummiparagraphen degeneriert;1081
dgl. ist prinzipiell auch die Auffassung von SCHMIDT 2008, der diplomatischer formuliert,
dass § 131 StGB "sehr flexibel für individuelle Auslegungen"1082 sei. Andererseits hatte das
BVerfG im Lichte dessen zwar konstatiert, dass die Tatbestandsmerkmale realtiv eng auszu-
1073
1074
1075
1076
1077
1078
1079
1080
1081
1082
BT-Drs. 15/1642, S.1f..
KRAUSE 2006, S.11.
Vgl. BITKOM 2002a, S.5 und BITKOM 2002c, S.4.
Vgl. BITKOM 2002c, S.4.
BGH, Urt. v. 15.12.1999, Az.: 2 StR 365/99; vgl. STATH 2006, S.210 und SCHULZ/BRUNN/DREYER et al. 2007, S.98.
Vgl. KRAUSE 2006, S.10.
Vgl. DEBUSMANN 2008.
Vgl. AG Neubau/Donau, Beschl. v. 25.05.2007, Az.: 1 Gs 170/07 (MEXICAN WEREWOLF).
Vgl. OEHLER 1988, S.187 und SCHULZ 2002, S.54.
SCHMIDT 2008, S.99.
194
legen sind,1083 tatsächlich legt aber das Gros der oder legen gar alle Beschlagnahmebeschlüsse
nach § 131 StGB die Merkmale unzulässig weit aus und ignorieren insb., dass die Merkmale
eine ganzheitliche Betrachtung der Medieninhalte verlangen: Der objektive Erklärungswert
einer Darstellung ergibt sich erst aus Inhalt, äußerer Form und Gesamtkontext derselben, so dass
dargestellte Gewalttätigkeiten ungeachtet der Intensität, wie auch Extensität der dargestellten
Gewalt für sich genommen natürlich nicht bereits immer auch grausame u./o. unmenschliche
Gewalt schildern und auch keine Verherrlichung oder Verharmlosung solcher Gewalttätigkeiten
ausdrücken oder das Grausame oder das Unmenschliche des Vorgangs in einer die Menschenwürde verletzenden Weise darstellen. Die Frage der Tatbestandsmäßigkeit einer Darstellung ist
infolge dessen eine Frage des Gesamtkontextes, so dass die Gerichte diesbzgl. auf eine (u.a.
dramaturgische) Einbettung der Gewalt in die Handlung abzustellen haben und Darstellungen
nicht dekontextualisierend inkriminieren können.1084 Letztlich konstatierte auch das BVerfG im
Rekurs auf den zeichentheoretischen Kunstbegriff, dass ein unverzichtbares Element der
Interpretation eines Kunstwerks die Gesamtschau des Werks ist, so dass es sich verbietet,
"einzelne Teile eines Kunstwerks aus dessen Zusammenhang zu lösen und gesondert darauf zu
untersuchen, ob sie als Straftat zu würdigen sind."1085
Wie bereits die typischen Indizierungsentscheide der BPjM sind aber auch die typischen
Beschlagnahmebeschlüsse nach § 131 StGB i.d.R. nur Lückentexte, Sammelsurien immer
identischer (gerichtspezfischer) Textbausteine, die regelmäßig nur (oftmals mehr oder weniger
subtil moralisierend, pejorativ-prosaisch formulierte)1086 Aufzählungen diverser, kaum oder gar
nicht kontextualisierter Gewaltdarstellungen dokumentieren und auch nur die Ergebnisse der
Bewertungen der inkriminierten Darstellungen mitteilen, ohne näher erkenntlich zu machen, auf
welche in den (sich aus Inhalten, äußeren Formen und Gesamtkontexten ergebenden)
Erklärungswerten der Darstellungen zu findenden Umstände sich die Wertungen der Tatrichter
gründen. Sie würdigen so wesentliche Aspekte, wie eine Rückbeziehung auf die narrativen
Kontexte,1087 auf künstlerische und ästhetische Konzepte und auch auf genretypische,
dramaturgische Darstellungskonventionen u.ä. entweder nur unzureichend oder lassen sie völlig
unberücksichtigt, so dass sie revisionsrechtliche Nachprüfungen der tatrichterlichen Rechtsanwendungen kaum oder gar nicht zulassen und infolge dessen rechtswidrigerweise auch nicht den
1083
1084
1085
1086
1087
Vgl. BVerfGE 87, 209 (223-230) und SCHULZ/BRUNN/DREYER et al. 2007, S.81.
Vgl. OLG Köln, Urt. v. 24.06.1980, ERDEMIR 2000, S.90f.; GOTTBERG 2000a, S.129 und LIESCHING 2002, S.94.
BVerfGE 67, 213 (228f.).
Bzgl. eines prägnanten Bsp. s. den Beschl. des AG Karlsruhe v. 20.01.2004 zur Beschlagnahme des Films BLOOD FEAST (Az.:
31 Gs 134/04), resp. die diesbzgl. Kommentierung in HÖLTGEN 2004a, S.16f..
Das AG München thematisiert mit Beschl. v. 27.08.2008 (Az.: 855 Gs 384/08) die Handlung des Spiels CONDEMNED 2 bspw.
mit nur zwei Sätzen: "Der Spieler steuert, wie bereits im Vorgängerspiel [...] den FBl-Agenten Ethan Thomas. Dieser geht
gegen Obdachlose, eine Sekte namens 'Oro' und den bereits im Vorgängerspiel aktiven Serienkiller 'X' vor." Bereits die
präkursorische Zusammenfassung der Handlung, die suggeriert, das Spiel hätte kaum eine Handlung, ist fehlerhaft; bspw. ist
der Protagonist kein "FBI-Agent" (mehr), ein für die Handlung extrem relevanter Umstand. Nicht überraschend will das
Gericht die nicht hinreichende Würdigung der Handlung im nächsten Absatz gar indirekt legitimieren und konstatiert bzgl. des
Spiels: "Es fordert den Spieler zur Vernichtung menschlicher Wesen auf und stellt diese Vorgänge detailfreudig und sehr
realitätsnah dar. 'Condemned 2' wird von brutalen Gewaltdarstellungen und Tötungsvorgänge [sic] beherrscht. Andere Spielinhalte aber auch die Rahmenhandlung treten demgegenüber völlig in den Hintergrund." Die Gewaltdarstellungen sind offenbar ein so starkes Stimulanz für das Gericht, dass der Beschluss vier Absätze später den zitierten Absatz wortwörtlich (in
vertauschter Satzreihenfolge und inkl. Orthographiefehler) abermals rezitiert; der pornographische Blick par excellence. Im
Übrigen rezitiert der Beschluss auch wortwörtlich den der Beschlagnahme des Vorgängerspiels. Die vermeintliche Gewaltbeherrschtheit ist aber letztlich auch nur ein (für sich genommen noch nicht hinreichendes) Merkmal einer schweren Jugendgefährdung nach § 15 Abs. 2 Nr. 3a JuSchG. Dasselbe Gericht rezitierte bereits mit Beschl. v. 19.07.2004 (Az.: 853 Gs
261/04) bzgl. des Spiels MANHUNT als Beschlussgründe prinzipiell nur Exzerpte des IE Nr. 6600 (V) der BPjM v. 11.03.2004,
die das Spiel bereits auf Liste B des Index indiziert hatte aber bereits ihrerseits nicht plausibel konkretisieren konnte, dass das
Spiel nicht nur (schwer) jugendgefährdend, sondern gar strafrechtlich relevant sei. Teilweise negieren die Gerichte gar expl.
die Kontexte einer Darstellung; keine Ausnahme ist diesbzgl. z.B der Beschl. des AG München v. 10.06.2008 (465 Js 306253/
08) zur Beschlagnahme des Films HOSTEL 2, in dem das Gericht nicht mehr nur durch das puristische Arrangement des
Beschlusses, resp. die dekontextualisierende Enumeration vermeintlich tatbestandsmäßiger Gewaltdarstellungen impliziert, der
Film selbst sei nur noch eine Aneinanderreihung sinnloser Gewaltdarstellungen, sondern dem Film dgl. gar expl. Vorgeworfen
wird: "Eine Handlung besitzt der Film nicht. Er besteht aus einer Aneinanderreihung von Gewaltexzessen. Sozialkritische
Ansätze, wie sie die Bundesprüfstelle erwähnt, sind nicht gegeben." Ohne dass das Gericht die Geschichte des Films überhaupt
thematisierte, sondern nur lapidar auf den nicht Mal zitierten, aber diesbzgl. konträren (und natürlich auch kaum analytischen),
den Beschluss konterkarierenden IE Nr. 8049 (V) v. 06.02.2008 der BPjM rekurrierte, wurde statt eines objektiven Erklärungswertes der Darstellungen der offensichtlich fehlsame, pornographische Blick des Tatrichters zur Basis einer Beschlagnahme;
bzgl. einer gesellschaftskritischen Leseart u.a. des Films u.ä. Genrefilme s. aber STIGLEGGER 2010, bzgl. des Genres insg.
auch UHLEMANN 2004 und KÖHNE/KUSCHKE/METELING 2005.
195
in sachlich-rechtlicher Hinsicht zu stellenden Anforderungen an derartige Beschlüsse genügen.
Teilweise spezifizieren die Gerichte nicht einmal die Tatbestandsmerkmale, die im Falle einer
konkreten Darstellung vermeintlich einschlägig sein sollen, sondern rezitieren z.B. im Rahmen
der Darstellungen der Sachverhalte einzig die Tatbestandsmerkmale des § 131 StGB insg. und
konstatieren indifferent (und oftmals – ungeachtet der kursorischen Formulierungen – auch
nicht ohne eklatante Beobachtungsfehler, wie auch Interpretationen, statt Beobachtungen),1088
die inkriminierten Medien schilderten Gewalttätigkeiten, ohne zu verdeutlichen, inwiefern diese
tatbestandlich qualifiziert sein sollen.
Im Fall der Beschlagnahme des Spiels DEAD RISING behauptete das AG Hamburg bspw. nur,
dass Gründe für die Annahme vorlägen, "dass das vorbezeichnete Computerspiel eingezogen
wird, da es einen solchen Inhalt hat, dass jede vorsätzliche Verbreitung zur Kenntnis seines
Inhalts den Tatbestand der Gewaltdarstellung […] verwirklichen würde."1089 I.d.S. war dem
Gericht auch bereits die dekontextualisierende Aufzählung diverser möglicher Gewalttätigkeiten
infolge willentlicher Entscheidungen des Spielers hinreichend für den Beschluss, die aber
prinzipiell keine tatbestandlichen Schilderungen mehr darstellen:
Das Spiel zeigt die Tötung der Zombies grafisch sehr deutlich. Diese erfolgt u.a. mit einer Kettensäge,
einer überdimensionalen Axt sowie einem motorisierten Rasenmäher. Die Zombies geben dabei
Schmerzenslaute von sich; die Zerteilung der Körper ist realistisch dargestellt, wobei [...] auch einzelne
Körperteile umherfliegen. Die Gewaltanwendung auf gegnerische Spielfiguren ruft Blutspritzer und flecken hervor. Blut findet sich auf Boden und Wänden; manche Areale sind sowohl am Boden als auch
an Wänden und Gegenständen so stark mit Blut befleckt, dass die eigentliche Grundfarbe des Untergrundes fast nicht mehr zu erkennen ist. Verletzt oder tötet "Frank" einen Gegner im "Nahkampf", ist
seine Kleidung blutbefleckt. Teilweise lassen sich dort sogar Knochensplitter oder Gehirnmasse erkennen. Verletzte Zombies, denen nach einer Attacke etwa der Unterschenkel öder der Unterleib fehlt,
kriechen umher und ziehen dabei eine Blutspur hinter sich her. Die einsetzbaren Waffen zeigen in
drastischer Weise unterschiedliche Folgen beim Gegner. Eine Sichel erlaubt wahlweise das Abschlagen
der Beine eines Zombies oder alternativ, je nach vom Spieler gewählter Attacke, das Enthaupten des
Gegners. Dabei wird letztgenannter Angriff mit 100 Erfahrungspunkten vergütet, ähnlich wie das
Überfahren des Zombies mit einem Rasenmäher oder das gewaltsame Niederschlagen mit einem Baseballschläger, was in beiden Fällen allerdings nur mit zehn Erfahrungspunkten je getötetem Gegner
belohnt wird. Ein überdimensionaler Bohrer erlaubt das Aufspießen eines Zombies auf Bauchhöhe. Wenn
der Bohrer dann eingeschaltet wird, beginnt sich der Körper des durchbohrten Zombies unter Austritt von
Blutspritzern und -fontänen zu drehen und ist nun seinerseits als Waffe einsetzbar. Vom sich auf dem
Bohrer drehenden Zombie getroffene Gegner werden zu Boden geschleudert, der rotierende Zombie verliert nach und nach alle Gliedmaßen, bis sich nur noch ein blutiger Rumpf auf dem Bohrer dreht, der aus
allen Wunden stark blutet.1090
Ungeachtet dessen, dass die aufgezählten Gewalthandlungen gegen die Zombies prinzipiell
zwar tatsächlich "grafisch sehr deutlich" (aber die Zerteilungen der Körper nicht besonders
1088
1089
1090
Bspw. monierte das AG Karlsruhe mit Beschl. v. 20.01.2004 (Az.: 31 Gs 134/04) bzgl. der 27. Minute des Films BLOOD
FEAST: "Der Mörder steckt ein Messer in den Brustkorb einer Frau. Das im Körper der Frau steckende Messer wird in
Nahaufnahme gezeigt. Anschließend wird der Brustkorb mittels des Messers geöffnet und das Herz entnommen, welches in
Nahaufnahme gezeigt wird. Ebenfalls wird der geöffnete blutende Brustkorb in Nahaufnahme gezeigt." HÖLTGEN 2004a
kritisiert aber ungeachtet der den Beschl. insg. prägenden filmtechnisch falschen Terminologie (S.19) insb., dass das Gericht
nicht nur den "extrem bedeutsamen Kontext der Szene" nicht thematisiert hat, sondern auch die monierten Beobachtungsfehlern auffällig sind: "Der vierte Mord wird vom Text besonders ausführlich beschrieben. Nicht erwähnt wird dabei aber der
extrem bedeutsame Kontext der Szene: Es handelt sich um die Illustration des Vortrages, den sich Suzette Freemont und ihr
Freund Pete Thornton an der Universität anhören. Die gesamte Szene ist mit dem Vortragstext des Dozenten unterlegt, der den
Hergang des kultischen Rituals aus dem alten Ägypten referiert. Da der Film [...] keinen Anlass zum Verdacht gibt, hier würde
plötzlich eine 'Rückblende ins alte Ägypten' stattfinden oder es handele sich um eine Parallelmontage, in der Fuad Ramses ein
weiteres Opfer ermordet (diesen Verdacht würde die Szene durch ihre Ausstattung und Darsteller leugnen), muss davon
ausgegangen werden, dass es die Projektion eines universitären Lehrfilms ist, den sich die Studenten ansehen, während der
Professor einen erläuternden Kommentar dazu spricht. Dies ist vor allem relevant, weil es diese Szene in die Handlungslogik
des Films zurückbindet und damit keinen vom § 131 StGB inkriminierenden Selbstzweck darstellt. Darüber hinaus beschreibt
der Beschlusstext in dieser Szenen wiederum Details, die eher der Interpretation als der Beobachtung des Autors entstammen:
Zwar sieht man wirklich das in der Brust des Opfers steckende Messer, aber man sieht keineswegs wie 'der Brustkorb mittels
des Messers geöffnet' wird und schon gar nicht, wie 'das Herz entnommen' wird. Kameramann Lewis erweckt diesen Eindruck
durch gezielte Montage vom Körper auf das Messer, zurück auf den Körper, in dem das Messer steckt, wiederum auf das
Messer, das nun blutig außerhalb des Körpers zu sehen ist und schließlich auf eine Hand, die schon etwas in sich hält, was
dadurch, dass es ebenfalls blutig ist, aus dem Körper zu stammen scheint. Ob es das Herz ist bleibt dabei genauso unklar,
ebenso wie, auf welche Weise es aus dem Brustkorb entnommen worden sein soll." (S.18) Die Gewaltdarstellung dürfte
letztlich auch gar keine Schilderung i.S.d. Norm mehr sein.
AG Hamburg, Beschl. v. 11.06.2007, Az.: 167 Gs 551/07 (DEAD RISING).
AG Hamburg, Beschl. v. 11.06.2007, Az.: 167 Gs 551/07 (DEAD RISING).
196
realistisch) realisiert worden sind, wie auch der diesbzgl. quasi obligatorischen Beobachtungsfehler des Gerichts ("Knochensplitter"; "Gehirnmasse"), thematisiert dasselbe für eine evtl.
Strafwürdigkeit des Spiels (ohne hinreichende Rückbeziehungen und diesbzgl. Relationswerte)
relativ irrelevante Details, wie bspw. dass Enthauptungen mit 100 Erfahrungspunkten "vergütet"
werden, statt z.B. auf die dramaturgische Einbettung der Gewalt in die Handlung (Gewalt ist
dort tatsächlich nur i.S.v. Notwehr- und Nothilfehandlungen notwendig) abzustellen.
Das oftmals unzulässig weite Verständnis der Strafvorschrift seitens der Gerichte demonstriert
auch in diesem Fall, dass statt der einer spezifischen Ausrichtung z.B. der Handlung vielmehr
Spielmechaniken als tatbestandserfüllend inkriminiert wurden, die konstitutiv für ein Gros
diverser Spielegenres (z.B. Rollenspiele) und i.d.S. für sich genommen nicht sozialschädlich
und bereits auch nicht jugendgefährdend sein können.: "Auf dem Weg zur Erfüllung des Spielziels rückt das Leid eines Gegners völlig in den Hintergrund. Die feindlichen Figuren stehen
zwischen dem Spieler und dem Erfüllen der jeweiligen Mission oder fungieren nur als Punktlieferanten, die den Status der Spielerfigur verbessern. Sie müssen zum Teil auch zwangsläufig
getötet werden, wenn sie etwa Wege blockieren oder für die Entwicklung der Rahmenhandlung
eliminiert werden müssen. [...] Zudem hinterlassen viele Gegner nach ihrem Tod Waffen, sodass ein weiterer besonderer Anreiz besteht, diese zu töten."1091 Insbesondere die 'Psychopathen'
hinterlassen besonders starke und durchschlagskräftige Waffen. Abstrus ist einerseits im Lichte
des Umstands der Statistenfunktion des Gros der Gegner, die auch noch – ungeachtetet der
"Psychopathen" (die selbst auch eine gegenwärtige Gefahr für Leib und Leben des Spielersubstituts darstellen und denen ggü. die skizzierten, grafisch deutlichen Gewalttätigkeiten nicht
möglich sind) – Zombies sind, nicht nur die obligatorische Floskel, dass das Leid der Gegner
völlig in den Hintergrund rücke. Andererseits ist auch der Umstand, dass viele Gegner nach
ihrem Tod Waffen hinterlassen, ein Merkmal unzähliger auch nur jugendbeeinträchtigender
Spiele und kann i.d.S. kaum als Beispiel einer sozialschädlichen Spielmechanik herhalten.
Letztlich markieren oftmals auch bereits nur vermeintliche Gewaltspitzen den vermeintlichen
Unterschied zwischen einer nur jugendbeeinträchtigenden, einer jugendgefährdenden und einer
sozialschädlichen Darstellung: Der zensierten, ab 16 Jahren gekennzeichneten Fassung des
Films MEXICAN WEREWOLF fehlen bspw. nur ca. 18,92 Sekunden an Gewaltdarstellungen in in
insg. fünf Einzelszenen ggü. der unzensierten, beschlagnahmten Fassung! Beschlüsse dieser Art
erscheinen skurril, sind aber nicht nur die Regel, sondern dekuvrieren die Norm auch als ein
kunst- und kulturhygienisches Instrument.
14.3
Schutz der Kunst und der Vorgänge des Zeitgeschehens oder der Geschichte
Ggf. ist § 131 StGB auch im Lichte der Kunstfreiheit im engeren Sinne insg. nicht verhältnismäßig: Einerseits ist nämlich der Werkbereich eines Kunstwerks prinzipiell quasi absolut
geschützt, Abs. 4 der Norm verbietet aber bereits (ohne detailliertere Definition derselben) die
Herstellung der inkriminierten Schriften, ungeachtet dessen, dass auch bereits die Strafbarkeit
des Künstlers im Wirkbereich faktisch die Kunstfreiheit im Werkbereich tangiert. Andererseits
unterminiert auch die Einziehung und Unbrauchmachung von Kunstwerken nach § 74d StGB
infolge einer Beschlagnahme nach § 131 StGB den Wesensgehalt der Kunst.1092 Die Norm
tangiert infolge Wirk- und Werkbereich der Kunst gleichermaßen und greift i.d.S. unverhältnismäßig in die Grundrechte nach Art. 5 GG ein.1093
Ungeachtet dessen müssen die Gerichte im Rahmen der Beschlagnahmeverfahren natürlich immer eine Güterabwägung zwischen den durch das Grundrecht der Kunstfreiheit geschützten
Interessen und dem durch die Strafvorschrift geschützten Rechtsgut des öffentlichen Friedens
vornehmen.1094 Prinzipiell werden aber besonders hohe Anforderungen an das Vorliegen einer
1091
1092
1093
1094
AG Hamburg, Beschl. v. 11.06.2007, Az.: 167 Gs 551/07 (DEAD RISING).
Vgl. BEISEL 1997, S.378.
Vgl. SEIM 1998, S.45f. und LAI 2006, S.58.
Der Vollständigkeit halber sei auch Abs. 3 der Norm nicht unerwähnt, der eine Tendenzschutzklausel formuliert, gem. der ein
Verstoß gegen die Verbote der Abs. 1 und 2 auch nicht pönalisiert wird, "wenn die Handlung der Berichterstattung über
197
Eignung zur Gefährdung des öffentlichen Friedens zu stellen sein müssen, die Kunstfreiheit der
inkriminierten Medien dürfte ggü. dem nur abstrakt (und insb. auch nicht plausibel) gefährdeten
Rechtsgut des öffentlichen Friedens aber i.d.R. eigentlich vorrangig sein.1095 Diversen der
Beschlagnahmebeschlüsse ist aber irrigerweise der Schutz der Menschenwürde das Rechtsgut
des § 131 StGB, das pauschal ggü. der Kunstfreiheit vorrangig sei (s.o.); eine offensichtlich
fehlsame Rechtsauslegung.1096
Ungeachtet dessen glaubte der Gesetzgeber im Rahmen der ersten Novellierung der Norm
kurioserweise, dass nur im Einzelfall künstlerische Schriften Gegenstand eines Verfahrens nach
§ 131 StGB sein könnten (und ggf. die Kunstfreiheit generell vorrangig sein müßte) und die
Formulierung eines expl. Kunstvorbehalts "Anknüpfungspunkte für nicht erwünschte Rückschlüsse" hätte evozieren können, "daß der Gesetzgeber den Kunstcharakter einer Schrift [...]
i.S.d. Absatzes 1 grundsätzlich für möglich hält."1097 I.d.S. argumentierte auch Gesetzesinitiator
Heiner GEIßLER (CDU): "Was der neue § 131 des Strafgesetzbuches verbietet, hat mit Kunst
nichts zu tun."1098 De facto sind aber beschlagnahmte Filme, wie z.B. DAS BÖSE,1099 TANZ DER
TEUFEL,1100 ZOMBIE,1101 oder ZOMBIE 2 – DAS LETZTE KAPITEL1102 oftmals nicht nur (international) künstlerisch renommierte, sondern auch filmwissenschaftlich und -historisch relevante
Werke.1103 Solches unreflektiertes, das Faktische negierende Überlegenheitsdünkeln ist aber
evtl. der Ausgangspunkt der Problematik, dass die Beschlagnahmebeschlüsse ungeachtet der
Mediengattung ausnahmslos keine hinreichende und die absolute Mehrheit der Beschlüsse sogar
gar keine Güterabwägung der Gerichte zwischen dem Rechtsgut des Schutzes des öffentlichen
Friedens einerseits und des Rechtsguts der Kunstfreiheit andererseits dokumentieren und i.d.S.
bereits a priori rechtswidrig sind: Bzgl. Computerspielen thematisiert bspw. ein einziger
Beschluss die evidente Rechtsgutkollision, kolportiert aber nur salopp (und revisionsrechtlich
nicht überprüfbar), die Beschlagnahme sei unter Abwägung des Menschenwürde-, wie auch des
Jugendschutzes(!) einerseits und der Kunstfreiheit andererseits verhältnismäßig (q.e.d.).1104
Insofern wird eine Thematisierung der Rechtspraxis bei Filmen notwendig, bei denen der
Kunstcharakter derselben (ungeachtet der Kunstdefinitionen des BVerfG) z.T. konkret negiert
wird. Das LG München I argumentierte bspw. im Fall des Films KETTEN-SÄGEN-MASSAKER:
"Dieser triviale Film ist sicher kein Werk der Kunst, so daß bereits aus diesem Grunde auf die
Bedeutung des Kunstvorbehaltes des Art. 5 Abs. 3 GG für § 131 StGB nicht eingegangen
werden braucht."1105 Die (vermeintliche) Trivialität eines Mediums ist aber verfassungsrechtlich
kein Ausschlusskriterium für die Aktivierung des Kunstvorbehaltes. Die 20. Strafkammer des
Gerichts argumentierte im Fall des Nachfolgefilms TEXAS CHAINSAW MASSACRE PART 2 gar
selbst noch 1994, dass der Film keine Kunst, sondern ein "Unterhaltungsfilm" sei: Das "Wesen
eines Kunstwerkes" war gem. Gericht, "daß es auf Dauer geschaffen wurde. Wenn diese
Absicht hinter dem Werk steht, muß regelmäßig von einem Kunstwerk gesprochen werden.
1095
1096
1097
1098
1099
1100
1101
1102
1103
1104
1105
Vorgänge des Zeitgeschehens oder der Geschichte dient." HÖLTGEN 2004a argumentiert i.d.S. plausibel bzgl. des
beschlagnahmten Films BLOOD FEAST, "dass in den Bildern eine Kodierung vom Zeitgeschehen der frühen 1960er Jahre zum
Tragen kommt, bei der die Affekt-Produktion durch Gewaltdarstellung zu einem wichtigen Kriterium des Verständnisses wird.
Der Film stellt – im historischen Kontext seiner Entstehung gesehen – ein sehr subtiles Werk zeitgeschichtlicher Kodierung
von Wirklichkeit in der Kunst dar. [....] Davon abgesehen, dass Filmtheoretiker seit den ersten Tagen des Dokumentarfilms
sehr kontrovers über eine Definition von 'dokumentarisch' als 'wirklichkeitsnah' streiten, lässt sich […] fragen, ob ein Film wie
BLOOD FEAST nicht auch auf Grund der in ihm verhandelten Diskurse – als Spiegelung zeitgeschichtlicher Phänomene – der
Zuschreibung 'Dokument des Zeitgeschehens' gerecht wird. Der Erkenntnisgewinn reflektierender Rezeption, der sich aus dem
Film ableiten lässt, steht jedenfalls dem eines Dokumentarfilms in nichts nach." (S.21) Das gilt gem. Autor auch für unzählige
andere Filme; dgl. auch STIGLEGGER 2010. Ähnliches ist natürlich ggf. auch bei Computerspielen konstatierbar. Aber weder
die Organisationen der sog. freiwilligen Selbstkontrolle, noch die BPjM und letztlich die Gerichte haben je dgl. erwogen.
Vgl. FISCHER 1988; MEIROWITZ 1993, S.394 und BUCHLOH 2002, S.284.
ERDEMIR 2000, S.124 und vgl. MEIROWITZ 1993, S.397.
BT-Drs. 10/2546, S.23.
Zitiert in: BT-PlPr 10/108, S.8008.
Vgl. AG München, Beschl. v. 08.05.1991, Az.: 451 Gs 54/91 (DAS BÖSE).
Vgl. AG München, Beschl. v. 17.02.1985, Az.: 451 Ds 465 b Js 166153/84 (TANZ DER TEUFEL).
Vgl. AG Bochum, Beschl. v. 25.07.1991, Az.: 32 Ds 39 Js 275/91 (ZOMBIE).
Vgl. AG München, Beschl. v. 22.11.1990, Az.: 443 Gs 185/90 (ZOMBIE 2 – DAS LETZTE KAPITEL).
Vgl. HABEL 2003, S.109 und SEIM 2003, S.525.
Vgl. AG Tiergarten, Beschl. v. 15.02.2010, Az.: (353 Gs) 75 Js 1079/09 (694/10) (LEFT 4 DEAD 2).
LG München I, Beschl. v. 23.12.1985, Az.: 15 Qs 34/ 85 (KETTEN-SÄGEN-MASSAKER).
198
Kunst hat einen sehr strengen jedoch gerechten Richter, nämlich die Zeit. Werke, die Jahrzehnte, Jahrhunderte oder gar Jahrtausende überleben, sind und bleiben Kunstwerke. Ist die Absicht des Autors jedoch nur kurze Unterhaltung zu bieten und ist das Werk dann anschließend in
Vergessenheit geraten, so kann es sich nicht um ein Kunstwerk handeln. So sind z.B. ComicHefte für Kinder mit Sicherheit keine Kunst. Der Autor legt es nur darauf an, den Kindern für
kurze Zeit Unterhaltung zu verschaffen, die Hefte geraten dann schnellstens in Vergessenheit.
Anders verhält es sich mit weltberühmten Märchen, wie 1001 Nacht, Grimms oder Andersons
Märchen. Diese Werke leben heute noch, werden auch von Erwachsenen gelesen und stellen
Kunst in höchster Vollendung dar."1106 Selbst auf die Plattitüde eines gesunden Menschenverstands rekurrierend schwadronierte das Gericht, dass diverse Darstellungen im Rahmen
traditioneller Kunst legitim seien, nicht aber im Film. Das stellt aber insg. nicht nur eine
atavistische Dichotomisierung in Hoch- und Populärkultur dar, sondern auch die Negierung
kontemporärer Kunst. Auch wurden die Gutachten der Rechteinhaber, die dem Film Kunstcharakter attestierten, negiert: Das Gericht argumentierte nämlich (ad verecundiam), dass der
Vorsitzende der Strafkammer Opern und Theater frequentiere, wie auch klassische Filme
rezipiere und i.d.S. qualifiziert sei, dem Film den Kunstcharakter abzujudizieren.1107 In einer
solchen Argumentation wird nicht nur eine (altbekannte) unangemessene, d.h. normative
Dichotomisierung in Hoch- und Popkultur, sondern mit ihr auch klassisches Überlegenheitsdünkeln deutlich.
Der Kunstcharakter eines Spielfilms wird zwar z.T. nicht konkret negiert, aber ohne (plausible)
Begründung so relativiert, dass die Aktivierung des Kunstvorbehalts (unzulässigerweise) nicht
mehr einschlägig sei: Das AG München z.B. argumentierte ggü. Filmen in den 1980ern oftmals,
dass keine Anhaltspunkte für überwiegend schutzwürdige künstlerische Darstellungen vorlägen,
so dass auf den Kunstvorbehalt nicht eingegangen werden müsse.1108 Dasselbe Gericht
argumentierte auch im Rahmen zweier aktuellerer Beschlüsse des Jahres 2008: "Der Film kann
auch nicht die Grundrechte der Kunstfreiheit nach Art. 5 Abs. 3 und der Meinungsfreiheit nach
Art. 5 Abs. 1 Grundgesetz in Anspruch nehmen. Die Intensität und die Häufung der Gewaltdarstellung sprechen dagegen. [...] Da überdies eine offensichtliche Jugendgefährdung gegeben
ist, haben die Grundrechte aus Art. 5 GG zurückzutreten."1109 Auch das sind Pseudoargumente:
Eine Nichtaktivierung des Kunstvorbehalts infolge der Attestierung einer generell unplausiblen
Antonymie einer nur subjektiven Intensität und Quantität der Gewaltdarstellungen einerseits
und des Kunstscharakters andererseits ist verfassungsrechtlich nicht zulässig; die Aktivierung
des Kunstvorbehalts ist keine Frage des Gewaltdarstellungsniveaus. Insb. haben aber auch die
Grundrechte aus Art. 5 GG nicht bereits im Lichte einer Jugendgefährdungseignung kategorisch
zurückzutreten (das war eine Rechtsauffassung, die damals bereits seit 18 Jahren falsch war).1110
14.4
Schlussbemerkungen zum Gewaltdarstellungsverbot
Das die prinzipiell rechtswidrigen, i.w.S. nur den Gusto, wie auch die Medienkompetenzdefizite
der Richter dokumentierenden Beschlüsse nicht regelmäßig auch Gegenstand rechtlicher
Beschwerden werden, ist insg. eine Folge dessen, dass – wie bereits im Fall von Klagen gegen
Indizierungen – auch Klagen gegen solche Beschlagnahmen (ggf. auch noch über mehre
Instanzen hinweg) i.d.R. unwirtschaftlich sind; die Gründe sind mehr oder weniger identisch.
Mithin statuierte der Staat bereits mit dem berüchtigten "Zensurtanz"1111 um den Film TANZ
1112
DER TEUFEL zwischen 1984 und 1993 ein diesbzgl. Exempel,
dem nach MANIAC1113 und
1106
1107
1108
1109
1110
1111
1112
LG München I, Beschl. v. 27.04.1994, Az.: 20 Ns 465 Js 170434/90 (TEXAS CHAINSAW MASSACRE PART 2).
Bzgl. einer detailierten Transkription und Kommentierung der Entscheidung s. SEIM/SPIEGEL 1998, S.269-275.
Vgl. AG München, Beschl. v. 03.03.1986, Az.: 443 Gs 20/86 (MAN-EATER) und v. 19.09.1986, Az.: 443 Gs 181/86
(LEBENDIG GEFRESSEN).
AG München, Beschl. v. 10.6.2008, Az. 465 Js 306253/08 (HOSTEL 2) und v. 10.12.2008, Az.: 855 Gs 596/08 (STORM
WARNING).
Vgl. BVerfGE 83, 130.
BETHMANN 2002, S.360.
Im Februar 1984 startete der Film in den westdeutschen Kinos und wurde zeitgleich als Videofilm für die Videotheken
publiziert, aber bereits am 02.07.1984 beschlagnahmte das AG München die beiden identischen Fassungen des Films – die
BPjS hatte die Videofassung der VCL Communications GmbH bereits am 27.04.1984 indiziert (vgl. BAnz. Nr. 81 v.
199
NIGHTMARE1114 insg. dritten Film, der je nach § 131 StGB beschlagnahmt wurde. Die Gefahr
eines u.U. jahrelangen (evtl. gar ruinösen) Rechtsstreits infolge einer evtl. Beschreitung des
Rechtswegs ist für die Betroffenen unkalkulierbar.
Der für 19 Jahre einzige erfolgreiche Fall der Aufhebung eines diesbzgl. Beschlagnahme- und
gar Einziehungsbeschlusses war nämlich der des deutschen Films NEKROMANTIK 2; der Film ist
nicht nur nicht mehr beschlagnahmt, sondern wurde trotz fehlender Alterskennzeichnung
nichtmal indiziert.1115 Die Betroffenen der Norm sind seit den Indizierungs-, Beschlagnahmeund Einziehungsexzessen der 1980er und auch bereits dank der skizzierten Jugendmedienschutzsystematik i.d.R. Medien, die gar nicht erst in Deutschland publiziert werden: Wie im Fall
einer Indizierung haben die ausländischen Rechteurheber und -inhaber der verfahrensgegenständlichen Medien aber aus offensichtlichen Gründen i.d.R. kaum oder gar kein Interesse an
einem Rechtsstreit (oder werden erst gar nicht hinreichend über das Verfahren informiert).
Erst 2011 klagte wieder ein Rechteinhaber gegen einen Beschlagnahmebeschluss: Die Turbine
Medien GmbH konnte nach 26 Jahren im August 2011 die Aufhebung der Beschlagnahme des
Films KETTEN-SÄGEN-MASSAKER erwirken,1116 so dass der Film im Dezember desselben Jahres
auch von der Liste jugendgefährdender Medien gestrichen1117 und infolge dessen ohne Jugendfreigabe gekennzeichnet werden konnte. Seitdem konnte nicht nur die STUDIOCANAL GmbH
im Dezember 2012 erfolgreich gegen die Beschlagnahme des Films SAW VII – VOLLENDUNG
klagen – der Film ist aber nach wie vor (auf Liste A des Index) indiziert –,1118 auch konnte die
capelight pictures Gerlach Selms GbR bereits im Oktober desselben Jahres eine Revidierung
1113
1114
1115
1116
1117
1118
27.04.1984) –, ungeachtet dessen, dass die SPIO/JK dem Videofilm eine strafrechtliche Unbedenklichkeit attestiert hatte. Die
Betroffenen legten Juli 1984 im Lichte des Gutachtens der SPIO/JK, wie auch des (internationalen) künstlerischen Renommees des Films Widerspruch ein, aber erst mit Beschl. v. 17.02.1985 bestätigte das AG München die Beschlagnahme und
beschloss gar die bundesweite Einziehung des Films (Az.: 451 Ds 465 b Js 166153/84); dgl. mit Beschl. v. 07.10. auch das LG
München I (Az.: 12 Ns 465 Js 166153/84). Die Betroffenen legten infolge dessen am 27.11.1985 Verfassungsbeschwerde
beim BVerfG ein, aber erst nach 23 Monaten(!) proklamierte das Gericht am 20.10.1987, dass die Beschwerde (formaljuristisch) unzulässig sei. Die Prokino Filmverleih GmbH hatte aber ggü. der FSK inzwischen bereits im Juni 1987 die
Prüfung einer ersten, zensierten Schnittfassung des Films (ohne die Szenen, die das AG München monierte) beantrag, aber die
FSK lehnte eine Kennzeichnung ab. Auch die noch im selben Monat beantragte Kennzeichnung einer zweiten Schnittfassung
lehnte der Arbeitsausschuss im September ab. Erst infolge der noch im selben Monat beantragten Prüfung einer dritten
Schnittfassung empfahl der Arbeitsausschuss im Oktober eine Kennzeichnung ohne eine Jugendfreigabe, aber der Ständige
Vertreter der OLJB bei der FSK wollte den Film nur kennzeichnen, insofern die bayerische Zentralstelle zur Bekämpfung
gewaltverherrlichender, pornographischer und sonstiger jugendgefährdender Schriften keine strafrechtlichen Bedenken diesbzgl. hattee. Nach BVerfGE 87, 209 lehnte die Staatsanwaltschaft eine Stellungnahme auf ein Ersuchen der Rechteinhaberin
ab, "weil eine präventive Begutachtung als Vorzensur ausgelegt werden könne; die Videokassette sei nicht vervielfältigungsfähig, werde also offenbar nicht zur Verbreitung bereitgehalten. Der Ständige Vertreter gab die Videokassette daraufhin zur
Kennzeichnung an die zuständige Oberste Landesbehörde weiter, die ihrerseits die Staatsanwaltschaft einschaltete. Diese
vertrat nunmehr die Auffassung, aus dem von der Beschwerdeführerin gestellten Kennzeichnungsantrag folge die Bestimmung
der Kassette zur Verbreitung. An der Strafverfolgung bestehe jedoch kein öffentliches Interesse. Deshalb stellte sie das von ihr
eingeleitete Ermittlungsverfahren mit gerichtlicher Zustimmung wegen geringer Schuld ein. Sie beantragte jedoch die Einziehung der Kassette." (215f.) Infolge der bis dato noch aktiven staatsanwaltlichen Beschlagnahme im März 1988 entsprach
das AG München erst mit Beschl. v. 04.04.1989 dem Antrag (Az.: 443 Ds 465 b Js 163696/88). Das LG München I verwarf
die diesbzgl. sofortige Beschwerde der Betroffenen mit Beschl. v. 11.05.1989 als unbegründet (Az.: 15 Qs 18/89). Die Betroffene legte i.d.S. am 09.06.1989 eine Verfassungsbeschwerde ein. Nach über drei Jahren wurde gem. BVerfGE 87, 209 am
20.10.1992 entschieden, dass Beschlagnahme und Einziehung unzulässig waren, konstatierte u.a., dass die bayerischen
Gerichte die Tatbestandsmerkmale des § 131 StGB falsch ausgelegt und auch gegen das Vorzensurverbot verstoßen hatten:
Das Kennzeichnungsverfahren dürfe nicht so gehandhabt werden, "daß ein Antragsteller nicht mehr frei darüber entscheiden
kann, ob er den zur Kennzeichnung vorgelegten Film verbreiten will oder nicht. Begehrt ein Antragsteller die Kennzeichnung
eines Films mit 'Nicht freigegeben unter achtzehn Jahren', weil er nur einen gekennzeichneten Film vertreiben möchte, so hat
er über die Verbreitung des Films noch nicht entschieden. Wird in einem solchen Fall durch die Beschlagnahme des Films
dessen Verbreitung verhindert, ohne daß dem Antragsteller zuvor Gelegenheit gegeben worden ist, wegen der im Kennzeichnungsverfahren deutlich gewordenen strafrechtlichen Bedenken von dessen Verbreitung Abstand zu nehmen, so kommt
diese Maßnahme einer Zensur gleich und verstößt gegen Art. 5 Abs. 1 Satz 3 GG." (232) Die dritte Schnittfassung konnte im
Januar 1993 in den deutschen Kinos starten, der Prokino Filmverleih GmbH war aber bereits ein Schaden in Millionenhöhe
entstanden; ein Pyrrussieg. Auch die im März desselben Jahres publizierte Videofassung der VCL Communications GmbH
wurde bereits im Dezember indiziert (vgl. BAnz. Nr. 243 v. 28.12.1993). Der Fall ist i.d.S. ein mahnendes Bsp., das für die
Betroffenen Rechteurheber und -inhaber Signalwirkung hatte und hat und den Rechtsweg zur Farce degenerieren lässt. Bzgl.
einer Darstellung der Zensurgeschichte des Films en détail s. auch MEIERDING 1993, S.82; SEIM 1998, S.75; ERDEMIR
2000, S.1f.; SEIM/SPIEGEL 2001, S.283; BETHMANN 2002, S.360-392 und NESSEL 2004, S.42f..
Vgl. AG München, Beschl. v. 08.08.1983, Az.: 127 b Js 4038/83 (Maniac).
Vgl. AG Bielefeld, Beschl. v. 23.05.1984, Az.: 9 Gs 982/84 (NIGHTMARE).
Vgl. KEREKES 1998, S.76-89 und HÖLTGEN 2004b.
Vgl. AG Frankfurt am Main, Beschl. v. 29.08.2011, Az.: 5/31 Qs 13/11 (KETTEN-SÄGEN-MASSAKER).
Vgl. BAnz. Nr. 197 v. 30.12.2011.
Vgl. AG Tiergarten, Beschl. v. 12.12.2012, Az.: 528 Qs 126/12 (SAW VII – VOLLENDUNG).
200
der Beschlagnahme des (ebenfalls nach wie vor indizierten) Films BATTLE ROYAL erreichen.1119
Ungeachtet dessen könnte der falsche Eindruck entstehen, dass die Norm infolge der geringen
Falldichte für die Betroffenen relativ irrelevant sein könnte; bspw. wurden bis heute zwar ein
paar hundert Filme nach § 131 StGB beschlagnahmt,1120 aber nur 15 Computerspiele in diversen
Portierungen (s. Tab. 2).
Tab. 2: Nach § 131 StGB bis Oktober 2013 beschlagnahmte Computerspiele
System
Amtsgericht
Datum
Aktenzeichen
Xbox 360
München
15.01.2008 855 Gs 10/08
PC DVD-ROM
München
08.02.2008 855 Gs 53/08
Xbox 360
München
27.08.2008 855 Gs 384/08
Xbox 360
Hamburg
11.06.2007 167 Gs 551/07
Xbox 360
Bautzen
18.11.2011 43 Gs 837/11
PlayStation 3
Bautzen
02.08.2012 43 Gs 649/12
PlayStation 3
Duisburg
21.09.2012 11 Gs 2236/12
PlayStation 3
Duisburg
18.08.2013 11 Gs 370/13
PC DVD-ROM
Tiergarten
15.02.2010 (353 Gs) 75 Js 1079/09 (694/10)
PlayStation 2
München
19.07.2004 853 Gs 261/04
PlayStation 2
München
10.03.2010 853 Gs 79/10
Wii
München
10.03.2010 853 Gs 80/10
PlayStation Portable
München
10.03.2010 853 Gs 81/10
Game Gear
München I
11.11.1994 ER Gs 465b Js 172960/94
Master System
Mega CD
Mega Drive
MORTAL KOMBAT: KOMPLETE EDITION
PlayStation 3
Duisburg
21.09.2012 11 Gs 2237/12
MORTAL KOMBAT II
Amiga
München
08.02.1995 8340 Gs 9/95
Game Gear
Master System
MegaDrive
PC 3.5''-Diskette
PC CD-ROM
Super NES1121
MORTAL KOMBAT 3
Genesis
Tiergarten
12.06.1997 351 Gs 2856/97
PlayStation
SCARFACE – THE WORLD IS YOURS
PC DVD-ROM
München
20.11.2007 855 Gs 426/07
PlayStation 2
SILENT HILL – HOMECOMING
PlayStation 3
Frankfurt a. M. 20.06.2011 391 Gs 914/11
SILENT HILL – HOMECOMING
Xbox 360
Frankfurt a. M. 19.11.2010 4843 Js 238595/10 – 931 Gs
SOLDIER OF FORTUNE: PAYBACK
PC DVD-ROM
Amberg
17.06.2008 102 UJs 1987/08
WOLFENSTEIN
PC DVD-ROM
Detmold
19.01.2010 Gs 99/10
Titel
CONDEMNED
CONDEMNED
CONDEMNED 2
DEAD RISING
DEAD RISING 2
DEAD RISING 2
DEAD RISING 2
DEAD RISING 2
LEFT 4 DEAD 2
MANHUNT
MANHUNT 2
MANHUNT 2
MANHUNT 2
MORTAL KOMBAT
Zehn der bis heute insg. 22 Beschlagnahmebeschlüsse sind das Resultat der Rechtsprechung des
AG München, das bereits bei Filmbeschlagnahmen (nach dem AG Tiergarten) auf dem zweiten
Platz der diesbzgl. aktivesten Gerichte rangiert. Ungeachtet dessen wurden zwischen 1994 (dem
Jahr der ersten Spielbeschlagnahme) und dem Inkrafttreten der Novellierung des § 131 StGB
am 01.04.2003 insg. nur drei Spiele beschlagnahmt, seitdem hat sich die Anzahl der Beschlagnahmen aber mehr als versiebenfacht. Das ist aber tendenziell nicht das Resultat der Novellierung der Norm, sondern u.U. der (im Folgenden noch thematisierten) Moralpanik infolge des
sog. Amoklaufs von Emsdetten am 20.11.2006; zwischen 2007 und Juni 2013 wurden 16 der
Spiele beschlagnahmt.
Die geringe Falldichte sollte aber generell nicht über die restriktive Signalwirkung selbst
einzelner Beschlagnahmen für die Betroffenen hinwegtäuschen; die gravierende Strafandrohung
des § 131 StGB führt in der Praxis dazu, dass bereits die Vertriebe u.U. kontroverse, aber
prinzipiell legale Medien nur massiv zensiert oder gar nicht veröffentlichen, so dass die Grundrechte des Art. 5 GG ggf. mittelbar unterminiert werden.1122 Bereits eine Indizierung in Liste B
1119
1120
1121
1122
Vgl. AG Fulda, Beschl. v. 20.02.2013, Az.: 27 Gs – 51 UJs 58348/12, aufgeh. durch Beschl. V. 19.09.2013, Az.: 2 Qs 127/13
(BATTTLE ROYAL).
Vgl. SEIM/SPIEGEL 2001, S.187.
Der Beschlagnahmebeschluss listet irritierenderweise "alle Versionen" des Spieles als beschlagnahmt, die einzige Ausnahme
ist nach Beschl. desselben AG v. 24.04.1995 (Az. 8340Gs9/95) die Version für den Game Boy. Beschlagnahmt können aber
nur solche Fassungen sein, die dem Gericht auch tatsächlich vorlagen.
Vgl. MÜHLBAUER 2007 und HEINRICH 2008, S.1f..
201
des Index wirkt auch ohne eine antezedierende Beschlagnahme i.d.R. faktisch wie ein
Verbot.1123 Letztlich war das Gros der auf Liste B indizierten Spiele aber bis heute noch nicht
Gegenstand eines entsprechenden Gerichtsverfahrens.1124 Die Listenteinträge überragen die tatsächlichen Beschlagnahmen aber um mehr als das Eineinhalbfache, so dass in Zukunft die
Anzahl der Beschlagnahmen steigen könnte.
Tatsächlich attestiert die BPjM Computerspielen auch relativ leichtfertig eine strafrechtliche
Relevanz, mithin fehlt es i.d.R. an einer dezidierten Prüfung der Tatbestandsvoraussetzungen
von § 131 StGB. Die Behörde kontextualisiert u.a. die inkriminierten Gewaltdarstellungen nicht
(hinreichend) u./o. attestiert den Spielen bereits eine qualifizierte Gewaltverharmlosung infolge
der Quantität vermeintlich grausamer, unmenschlicher u./o. die Menschenwürde verletzender
Gewaltdarstellungen. Das 3er-Gremium argumentierte bspw. im Fall der indizierung des Spiels
ALIENS VS. PREDATOR, dass eine strafrechtlich relevante Gewaltverharmlosung vorliege, "wenn
Gewalttätigkeiten bagatellisiert und als akzeptables Mittel zur Lösung von Konflikten
präsentiert werden oder wenn der Eindruck vermittelt wird, es handele sich im Kern um fast alltägliche Verhaltensformen im menschlichen Zusammenleben. Die Tötungsszenen des Spiels
zeigen ausschließlich massivste Gewaltanwendungen. Durch die ständige Aneinanderreihung
dieser Sequenzen entsteht der Eindruck, es gebe kein anderes Konfliktlösungsmittel. Die Einzeltat wird bereits durch die Quantität der Darstellungen bagatellisiert und damit verharmlost. [...]
Insbesondere bei den verdeckten Tötungen, die an menschlichen Gegnern mit äußerst
drastischer Gewaltanwendung ausgeübt werden (Abtrennen von Köpfen und anderen Gliedmassen, Zerbeißen des Gesichts, jeweils untermalt von den Schmerzensschreien der Opfer), finden
sich […] Darstellungen menschenunwürdiger, grausamer und brutaler Art, die auch nicht durch
das Umfeld einer Science-Fiction-Geschichte so weit relativiert werden, dass eine Strafbarkeit
der genannten Darstellungen nicht mehr zu vermuten wäre."1125 Ein typischer Textbaustein der
BPjM, deren Vorwürfe aber natürlich ggü. einem Spiel, das den Kampf von Menschen und den
eponymen Filmmonstern widereinander auf einem extrasolaren Planent thematisiert, offensichtlich nicht besonders plausibel ist. Ähnlich problematisch sind auch die entsprechenden
Argumente für die Indizierung des Gros der anderen auf Liste B indizierten Spiele, die (i.d.R.
unrealistische) Ausnahmesituationen (und nicht alltägliche Verhaltensformen) i.V.m. größtenteils gar phantastischen Szenarien präsentieren.
Gleichermaßen kurios ist auch die Indizierung des Spiels CALL OF DUTY: MODERN WARFARE 2
auf Liste B, das die BPjM insb. aufgrund des vierten Kapitels desselben indizierte:
In der […] Mission 'No Russian' verkörpert der Spieler einen US-amerikanischen Agenten, der verdeckt
bei russischen Terroristen ermittelt. Diese begleitet er bei einem Massaker an einem fiktiven russischen
Flughafen, bei dem Dutzende unbewaffneter Zivilisten sowie einige russische Polizisten erschossen
werden. Dabei kann der Spieler passiv in der Rolle des Beobachters bleiben oder aktiv auf Sicherheitspersonal und Zivilisten feuern. Unabhängig von seiner Verhaltensweise werden alle Zivilisten getötet,
denn wenn sie nicht vom Spieler selber erschossen werden, töten die Terroristen sie. Die Russen wollen
erreichen, dass das Massaker den US-Amerikanern in die Schuhe geschoben wird, weshalb ihr Chef
Makarov auch zu Beginn des Spielabschnitts noch mal die der Mission namensgebende Devise "No Russian" […] ausgibt. Nach dem Massaker im ersten Teil des Spielabschnittes und nachdem die Terroristen
im zweiten Teil des Spielabschnittes zahlreiche russische Sicherheitskräfte getötet haben, wird der vom
Spieler gesteuerte US-Agent am Ende der Mission von Makarov erschossen, ohne dass der Spieler etwas
dagegen machen kann. Makarov deckt so die Nationalität des Agenten auf und lastet dadurch den
Anschlag den US-Amerikanern an, sodass kurz darauf die Russen als Racheakt eine Invasion in Amerika
starten. […] Dem Gremium erschließt sich grundsätzlich nicht die Notwendigkeit, eine derart gestaltete
1123
1124
1125
Vgl. SCHMID 2009b.
Wären die Staatsanwaltschaften nicht chronisch überlastet (vgl. SCHULZ/BRUNN/DREYER et al. 2007, S.150-161), könnten
u.U. gar mehr als nur die auf Liste B indizierten Spiele gefährdet sein, Gegenstand eines Beschlagnahmeverfahrens nach § 131
StGB zu werden; im Fall der Beschlagnahme des Spiels CONDEMNED durch Beschl. des AG München v. 15.01.2008 (Az.: 855
Gs 10/08) hatte die zuständige Staatsanwaltschaft gem. SIEGISMUND 2008 die Liste A des Index(!) als Leseliste missbraucht: Das Verfahen wurde nur eröffnet, weil das Spiel auf Liste A des Index indiziert war! Tatsächlich wurde auch nur
basierend auf der Argumentation des Indizierungsentscheids die Beschlagnahme entschieden, die aber (ungeachtet aller
anderen Defizite desselben) natürgemäß keine Argumente für eine strafrechtliche Relevanz der Inhalte präsentierte! Offensichtlich konnten die Staatsanwaltschaft und das Gericht nicht zwischen der Liste A und der Liste B des Index differenzieren.
Inoffiziell monierte auch die BPjM den Fall; eine Beschlagnahme eines auf Liste A indizierten Spiels unterminiert nämlich auf
den Kompetenznimbus der BPjM selbst.
IE Nr. 9256 (V) v. 07.05.2010 (ALIENS VS. PREDATOR).
202
Szene vor dem Hintergrund der Rahmenhandlung und deren Verständnis zwingend im Spiel zu
integrieren. Sie liefert einen Grund für die Invasion der Russen in Amerika, allerdings ist die Rahmenhandlung insgesamt schwer verständlich und weist verschiedene Logikfehler auf. So bleibt zum Beispiel
die Frage, warum der US-Agent nicht in einem passenden Moment die vier Terroristen tötet, neben vielen
anderen Fragen ungeklärt. […] Das Gremium sieht diese Mission dementsprechend als rein selbstzweckhafte Effekthascherei auf Kosten der […] kaltblütig erschossenen Zivilisten und Polizisten an, die zu
keinem Zeitpunkt zum Nachdenken oder zur Reflektion [sic] anregen soll und dies aufgrund ihrer
Gestaltung auch nicht bewirken könnte. Auch eine Darstellung dieser Szene als vollständig nichtinteraktive Zwischensequenz in Form eines Videos würde […] keine in Bezug auf den Jugendschutz
entlastende Alternative darstellen, da die Visualisierung der Gewalt und die damit verbundenen
Wirkungen die gleichen wären. […] Das Dreier-Gremium geht über die Jugendgefährdung hinaus davon
aus, dass der Inhalt […] als Gewalt verherrlichend […] anzusehen ist. […] Das Spiel enthält […] eine
Sequenz (die beschriebene Flughafenszene), in welcher der Spieler Dutzende unbewaffneter und teilweise
verletzter Menschen erschießen kann. Dies wird mit blutigen Details und Schmerzensschreien der Opfer
untermalt. Angeschossene Personen, die verzweifelt versuchen, sich in Sicherheit zu bringen oder solche,
die anderen hierbei helfen wollen, werden erbarmungslos hingerichtet. Der Spieler wird unmittelbar daran
beteiligt, wie die sadistische und kaltblütige Auslöschung von Menschenleben allein aus strategischem
Kalkül erfolgt. Nach Auffassung des Gremiums lassen diese […] Gewaltszenen im Hinblick auf ihre
Intensität ein bislang aus Spielen so nicht bekanntes, extremst hohes Maß an menschenverachtender
Geisteshaltung erkennen.1126
Tatsächlich wird die Szene aber eindeutig als verbrecherische Tat dargestellt und in keiner
Weise verherrlicht oder verharmlost. Auch wird das Verbrechen insg. auch nicht in einer die
Menschenwürde verletzenden Weise dargestellt, sondern vielmehr ist das Gegenteil der Fall.
Ungeachtet dessen offenbart der Kommentar der Behörde, dass sich ihr weder die Dramaturgie,
noch die Geschichte des Spiels erschließen, dass sie sich essentiell als Kunstrichterin geriert;
mangelndes Textverständnis kann letztendlich kein Grund für eine indizierung sein.
Ungeachtet dieser Ausführungen zur Spruchpraxis der BPjM wurde aber insg. für den Fall des §
131 StGB demonstriert, dass die Norm auch von deutschen Gerichten nicht nur rechtswidrig
ausgelegt wird, sondern insg. wohl verfassungswidrig sein dürfte. Insofern wird wohl nur die
Derogation derselben eine praktikable Lösung beider Probleme sein. Eine der letzten
prominenten Aktionen zur Abschaffung der Norm war eine Bundestagspetition des Medialog
e.V. – Verein zur Förderung von Medienkompetenz im September 2004. Ausgangspunkt derselben war die bundesweite Beschlagnahme des 41-jährigen, im Jahr 2002 erstmalig (ohne Alterskennzeichen oder z.B. Gutachten der SPIO/JK) in Deutschland publizierten Films BLOOD
FEAST am 20.01.2004: Der Verein monierte, dass das verantwortliche AG Karlsruhe einen
kulturell und filmhistorisch relevanten Film im Eilverfahren, d.h. einerseits ohne Miteinbeziehung des Nutzungsrechteinhabers cmv-Laservision oder des Rechteurhebers Herschell G.
LEWIS und andererseits auch ohne filmwissenschaftliches Gutachten verboten hatte, so dass
der Beschluss infolge dessen nur ein Sammelsurium inhaltlicher und fachlicher Fehler warm.1127
Die Petition forderte, "dass 1. eine bundesweit wirksam werdende Entscheidung, wie die Filmverbote nach dem § 131 StGB, nicht den einzelnen Amtsgerichten überlassen wird, 2. Standards
gefunden werden, die ein Verfahren unter Ausschluss des Beklagten weitestgehend verunmöglichen und sicherstellen, dass unabhängige und filmwissenschaftlich fundierte Gutachter
auf das Verfahren Einfluss nehmen können, 3. keine Verurteilung erfolgen kann, solang sich
Aussagen von Gutachten widersprechen und somit der Kunstwert dem verhandelten Objekt
nicht pauschal abgesprochen werden kann, 4. der Beklagte das Recht erhält, eigene Gutachter zu
stellen, sofern ihre Kompetenz nach klaren Vorgaben anerkannt wurde, 5. grundsätzlich
fiktionale Spielfilme ausdrücklich von der Strafverfolgung nach § 131 StGB ausgenommen."1128
Der Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages widersprach der Eingabe aber in allen
Punkten und empfahl erfolgreich, die Petition abzuschließen, hatte aber der inhaltlichen
Argumentation der Petition keine hinreichende Beachtung geschenkt. 1129
Der Vollständigkeit halber sei auch erwähnt, dass die Europäische Kommission solche Verbote
von Computerspielen, wie sie die Folge des § 131 StGB sind, bereits missbilligte: "Wie bei al1126
1127
1128
1129
IE Nr. VA 3/09 v. 25.11.2009 (CALL OF DUTY: MODERN WARFARE 2).
Entsprechendes demonstrieren ausführlich (im Auftrag des Vereins) nicht nur die beiden Gutachten von HARTLIEB 2004 und
HÖLTGEN 2004a, sondern auch die diesbzgl. Stellungnahme von WULFF 2004.
MEDIALOG 2004, S.5.
Vgl. MEDIALOG 2005.
203
len anderen Medien muss es ein Hauptanliegen der Politik sein, die Meinungsfreiheit sowohl
der Schöpfer als auch der Spieler zu wahren. […] Die Kommission ist der Ansicht, dass solche
Verbote die Ausnahme bleiben sollten. Sie sollten angemessen sein und daher auf schwere
Verletzungen der Menschenwürde beschränkt werden."1130 Nicht nur wurde die Verletzung der
Menschenwürde bislang nicht in allen, sondern nur ein paar Fällen behauptet, auch waren
solche Behauptungen seitens der Gerichte bislang noch nie strapazierbar. Ungeachtet dessen
straft die insg. laxere Jugendmedienschutzpraxis der europäischen Nachbarstaaten (s.o.) das
Szenario einer Gefährdung der öffentlichen Ordnung durch bestimmte gewaltdarstellende
Spiele, Lügen:1131 Deutschland hat trotz der rigiden Kontrolle medialer Gewaltdarstellungen
kein unterdurchschnittliches Niveau der Gewaltdelinquenz, sondern etwa dasselbe wie die
liberaleren Niederlande.1132
1130
1131
1132
KOM 2008/0207, S.2-7.
Im Rahmen der allg. Moralpanik infolge des sog. Amoklaufs von Emsdetten verkündete Bundesjustizministerin Brigitte
ZYPRIES (SPD) nach dem informellen Treffen der Justiz- und Innenminister der EU-Mitgliedstaaten in Dresden im Januar
2007, man werde die dt. EU-Ratspräsidentschaft u.a. für die Erstellung einer schwarzen Liste der in den Staaten verbotenen
Spiele nutzen; nicht überraschend musste die Bundesministerin nach der Tagung der Justiz- und Innenminister in Luxemburg
am 13.06. desselben Jahres verkünden, dass letztlich nur die BRD selbst eine derartige Liste präsentierte (vgl. ERMERT/
KURI 2007). Erst nach der Befragung verboten das Irish Film Classification Office, wie auch und das britische BBFC im Juli
2007 faktisch erstmalig (und seitdem nicht wieder) ein Computerspiel: MANHUNT 2 (vgl. KOM 2008/0207, S.7); am
10.03.2010 beschlagnahmte das AG München drei bereits indizierte, zensierte Versionen des Spiels in Deutschland (Az.: 853
Gs 79ff./10).
Vgl. STATH 2006, S.278 und HEINRICH 2008, S.2.
204
3. Teil:
Die moralpanische "Killerspiel"-Debatte
205
206
15.
Ein aktuelles Modell der Moralpanik
Ungeachtet fehlender, resp. nicht hinreichender Gefährdungsmomente durch fiktionale Mediengewaltdarstellungen und verfassungsrechtlicher, wie auch rechtspraktischer Probleme des
deutschen Jugendmedienschutzes und des strafrechtlichen Gewaltdarstellungsverbots, stellt sich
die Rechtsgeschichte derselben ggü. Gewaltdarstellungen als eine der quasi ausschl. Verschärfungen dar. Ausgangspunkte der Verschärfungen waren aber in den letzten Jahrzehnten
nicht neue wissenschaftliche Erkenntnisse über die Wirkung solcher Darstellungen (vielmehr
prägt die öffentlichen Debatten über die vermeintlichen Mediengewaltwirkungen und diesbzgl.
vermeintlich notwendige Konsequenzen eine konsequente Missachtung des Forschungsstandes),1133 sondern (zyklischer) Moralpaniken1134 ggü. den Inhalten der jeweils (mehr oder
weniger) neue(re)n Medien (Comics, Videofilme, Privatfernsehen, Computerspiele etc.), die als
Sündenböcke (sog. folk devils) für einen vermeintlichen Anstieg gesellschaftlicher Gewalt u./o.
für spektakuläre Gewaltverbrechen (z.B. Schulamokläufe) missbraucht werden.1135 Ein aktuelleres Modell der Moralpanik speziell am Beispiel von Computerspielen formulierte bereits
FERGUSON 2008b:
Several authors […] have discussed mechanisms by which politicians, news media, and social scientists
interact to cause a moral panic in the general populace. A moral panic occurs when a segment of society
believes that the behaviour or moral choices of others within that society poses a significant risk to the
society as a whole […]. Moral panics may emerge from "culture wars" occurring in a society, although
moral beliefs often become disguised as scientific "research", oftentimes of poor quality […]. Each of
these groups, politicians, news media and social scientists, arguably has motives for promoting hysterical
beliefs about media violence, and video games specifically. Actual causes of violent crime, such as family
environment, genetics, poverty, and inequality, are oftentimes difficult, controversial, and intractable
problems. By contrast, video games present something of a "straw man" by which politicians can create
an appearance of taking action against crime […]. As for the news media, […] negative news […] "sell"
better than do positive news […]. [...] news media and politicians may both pay greater attention to
"negative" news about video games than 'positive' news as it better suits their agendas. As for social
scientists, it has been observed that a small group of researchers have been most vocal in promoting the
anti-game message […], oftentimes ignoring research from other researchers, or failing to disclose
problems with their own research. As some researchers have staked their professional reputation on antigame activism, it may be difficult for these researchers to maintain scientific objectivity regarding the
subject of their study. [...] it may be argued that granting agencies are more likely to provide grant money
when a potential problem is identified, rather than for studying a topic with the possibility that the
outcome may reveal that there is nothing to worry about […]. […] "societal beliefs", which may include
"commonsense notions", moral beliefs, religious beliefs, scientific dogma, and other beliefs, essentially
'spin the wheel' of moral panic. The populace begins to become concerned about something, in this case
the media […], particularly something that is new, foreign, or alien. It may be more likely that societal
"elders" who are particularly unfamiliar with a new media technology, and perhaps wary of youth
rebelliousness against the social order, are often the progenitors of a panic. […] the majority of
individuals critical of video games are above the age of 35 (many are elderly) and oftentimes admit to not
having directly experienced the games.1136 Some commentators make claims betraying their unfamiliarity,
such as that games like Grant Theft Auto "award points" for antisocial behaviour […] despite that few
games award points for anything anymore, instead focusing on stories. Even Grand Theft Auto includes
negative ramifications for antisocial behaviour, such as police attention, and it would be more accurate to
state that Grand Theft Auto does not prohibit antisocial behaviour, more so than awarding points for it.
The player is left to make many decisions in this regard for themselves. […] These societal beliefs
become the basis for early news stories and calls for "research" of the potential problem. As the moral
panic develops, research is "cherry-picked" that supports the panic. Research supportive of the moral
panic is accepted without question (or thorough examination), whereas research suggestive that little
problem exists is typically ignored (or at best, criticised and discarded). […] The media […] reports on
the most negative results, as these results "sell" to an already anxious public. Politicians seize upon the
panic, eager to be seen as doing something particular as it gives them an opportunity to appear to be
"concerned for children". Media violence […] is an odd social issue with the ability to appeal both to
voters on the far right […] and on the far left […]. The unfortunate result of this moral panic wheel is that
mistaken beliefs are promulgated in the general public and the hysteria sown for the gain of the news
media, politicians, and some activist scholars. The cost comes in reference to personal freedoms, the
threat of increased government intrusion in parenting […], and loss of credibility for social science […]
once the most dire of predictions to not come true (as is already the case in regard to video games).1137
1133
1134
1135
1136
1137
Vgl. MERTEN 1999, S.171 und EISERMANN 2001, S.23.
Bzgl. des Phänomens der Moralpanik s. HALL/CRITCHER/JEFFERSON et al. 1978; COHEN 1980; JENKINS 1992;
GAUNTLETT 1995; JENKINS 1998; THOMPSON 1998; CRITCHER 2003 und GOODE/BEN-YEHUDA 2009.
Vgl. WEBER 2003, S.37.
Vgl. SCHINDLER 2001, S.33.
FERGUSON 2008b, S.30-34; vgl. MERTEN 1999, S.221-228; FERGUSON 2010, S.70f..
207
Das Ziel einer Moralpanik ist i.d.R. die soziale Kontrolle der sog. folk devils,1138 insb. auch über
imperative, materielle Maßnahmen. Das bereits geltende Recht (z.B. Beschränkungen, Verbote)
wird dabei aber oftmals ignoriert. I.d.S. können politische Moralunternehmer bspw. nach
BUCHLOH 2002 über ein Engagement gegen die entsprechenden Medieninhalte (z.B. Verbotsforderungen) nicht nur i.S.v. symbolischer Politik die eigene politische Tatkraft und moralische
Rechtschaffenheit ggü. den potenziellen Wählern demonstrieren, sondern natürlich auch versuchen, "die Aufmerksamkeit auf angebliche Fehlentwicklungen in den Medien […] zu lenken,
denen man […] Herr werden müsse. Missstände in der Gesellschaft oder unzureichende
Leistungen in der eigenen Politik sollen dadurch in der öffentlichen Diskussion weniger deutlich zutage treten."1139 Insofern ist die Mediengewaltdebatte nach LUDWIG/PRUYS 1998 ein
"Ersatzforum"1140 für die Debatte über die gesellschaftlichen Ursachen realer Gewalt (z.B.
Desintegration,1141 Armut, Arbeitslosigkeit); indem man Mediengewalt als Ursache realer
Gewalt darstellt, kann suggeriert werden, dass Maßnahmen gegen Mediengewalt auch reale
Gewalt reduzierten.1142
Ein Beispiel des Ablenkungsmotivs i.V.m. symbolischer Politik sind die relativ transparenten,
klientelpolitischen Ambitionen einiger solcher Politiker, die den Status quo beim Waffenrecht
konservieren wollen, während sie gleichzeitig Medienverbote u.ä. popagieren: Die Tatwaffen
der sog. Amokläufe von Erfurt und Emsdetten wurden nämlich nicht nur legal erworben, auch
waren die Täter Schützenvereinsmitglieder, so dass diverse Politiker und auch Teile der Medien
Verschärfungen des Waffengesetzes propagierten und massiv die deutsche Schützenvereinen
kritisierten. Sportschützen u.ä. sind aber nicht nur ein (aus der Sicht entsprechender Politiker)
traditionelles Klientel konservativer Parteien, sondern auch insg. eine zahlenmäßig relevante
Wählerschaft, insb. in Bayern und Niedersachsen;1143 generell sind Schützenvereine insb. im
ländlichen Raum regelmäßig eine (wahltechnisch relevante) gesellschaftliche Institution.
Gleichzeitig sind die zentralen politischen Verbotsproponenten z.T. selbst entsprechende
Vereinsmitglieder, z.B. ist Edmund STOIBER (CSU) Ehrenvorsitzender der Königlich
privilegierten Feuerschützengesellschaft Wolfratshausen, Günther BECKSTEIN (CSU) Mitglied des Polizei-Sportschützen München e.V. und Uwe SCHÜNEMANN (CDU) Mitglied des
Sportschützenclub v. 1955 e.V. Holzminden. I.d.S. sollen die Medienverbote wohl auch
(indirekt) den eigenen Lebensstil konservieren, indem sie den Fokus von einem Sündenbock auf
den nächsten transferieren. Politiker, die (im Rahmen der skizzierten Situation) den Status quo
des Waffenrechts konservieren und Schützenvereine protegieren, können so ggü. Schützenvereinen, aber auch Jägern und Co., reüssieren.1144
1138
1139
1140
1141
1142
1143
1144
Vgl. O’SULLIVAN/FISKE/HARTLEY/SAUNDERS 1983, S.141f..
BUCHLOH 2002, S.319; vgl. RÖSER 2003, S.215 und KUNCZIK 2007, S.2.
LUDWIG/PRUYS 1998, S.588.
Vgl. HEITMEYER 1994 und ANHUT/HEITMEYER 2000.
Vgl. GRIMM 1999, S.729.
Der Bayerische Sportschützenbund ist gem. Mitgliederstatistik des Deutschen Schützenbund e.V. bspw. der größte dt. Landesverband und zählt 470.998 Mitglieder (Stand: 31.12.2011), während der niedersächsische Verband der zweitgrößte Verband
Deutschlands ist und 174.556 Mitglieder zählt (vgl. DSB 2012). Auch organisiert z.B. die niedersächsische Landeshauptstadt
jährlich das Schützenfest Hannover, das größte Schützenfest der Welt.
Vgl. RÖTZER 2002 und WEBER 2003, S.38. Erhellend ist i.d.S. bspw. ein Kommentar des bayerischen Staatsministers und
Leiters der Bayerischen Staatskanzlei Erwin HUBER (CSU) am 31.03.2001 bzgl. des 50. Jubiläums des Schützenbezirks
Niederbayern: "Die schrecklichen Ereignisse von Bad Reichenhall, Metten und Brannenburg haben uns aufgerüttelt. Wir müssen alles tun, um Gewalt bei Jugendlichen zu unterbinden bzw. zu verhindern. Gewalt bei Jugendlichen hat immer ein ganzes
Bündel von Ursachen, die vielfach auch im unkontrollierten Konsum von Gewalt verherrlichenden und schwer jugendgefährdeten Videofilmen und von sogenannten Killerspielen liegen. Der Einfluss der Medien auf unsere Kinder und Jugendliche ist oftmals kontraproduktiv zu unseren Wertvorstellungen, die wir unseren Kindern vermitteln wollen, die gerade auch in
den Schützenvereinen vermittelt werden." (zitiert in: BOTT 2002) I.d.S. proklamierte auch das BStMI per Pressemitteilung Nr.
105/02 v. 04.03.02 bzgl. des Entwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung des Waffenrechts (WaffRNeuRegG) der Bundesregierung eine Stellungnahme des LIM Günther BECKSTEIN: "Vor allem für den Missbrauch von Schusswaffen insbesondere durch Jugendliche gibt es ein ganzes Bündel anderer Ursachen als den legalen Waffenbesitz. Dazu zählt etwa der
unkontrollierten [sic] Konsum von gewaltverherrlichenden und schwer jugendgefährdenden Videofilmen und die
Beschäftigung mit sogenannten Killerspielen, die in menschenverachtender Weise Todeshandlungen am Mitspieler
simulieren." Dgl. artikulierte der dato ehem. LIM (und Ministerpräsident) auch infolge des sog. Amoklaufs von Winnenden
(vgl. FISCHER 2009), wie auch der niedersächsische LIM Uwe SCHÜNEMANN (vgl. SCHÖNEBERG 2009).
208
Natürlich können sich Moralunternehmer aller Art auch nur aus Gründen schlichter Intoleranz
ggü. anderen Meinungen, Kunstauffassungen, Lebensstilen u.ä. gegen die inkriminierten Inhalte
in den Medien engagieren.1145 Ungeachtet dessen soll im Folgenden die (politische) moralpanische Debatte über die vermeintlichen Gefahren gewaltdarstellender Computerspiele in
Deutschland dargestellt werden.
Die "Lex Steinhäuser"1146
16.
Gewaltdarstellende Computerspiele wurden erstmals 1999 ein Politikum: Infolge des sog.
Amoklaufs von Bad Reichenhall vom 01.11.1999 beschloss die Bayerische Staatsregierung acht
Tage später, der bayerische Landesinnenminister (LIM) Günther BECKSTEIN (CSU) solle
noch im selben Jahr dem Bundesrat einen Entschliessungsantrag für u.a. rechtsverbindliche
Alterskennzeichnungen von Computerspielen, ein absolutes Vermietverbot (schwer) jugendgefährdender Medien (ceterum censeo der Unionsparteien seit 1982)1147 und eines Verbots
sportiver Spiele wie z.B. Paintball und Lasertag formulieren, den der unionsdominierte Rat auch
am 25.02.2000 beschloss;1148 die Bundesregierung ignorierte den Antrag. Erst im Bundestagswahlkampfjahr 2002 konnte der sog. Amoklauf von Erfurt am 26.04.2002 die Moralpanik der
letzten beiden Jahrzehnte ggü. gewaltdarstellenden Medieninhalten reanimieren. Die Medien
diabolisierten z.T. bereits selbst am Tattag gewaltdarstellende Computerspiele,1149 insb. den
populären Egoshooter COUNTER-STRIKE. Die FRANKFURTER ALLGEMEINE SONNTAGSZEITUNG
(F.A.S.) titelte z.B. am 28.04.2002 im Rahmen des Feuilletons "Die Software fürs Massaker"
und fabulierte ein die Debatte prägendes Sammelsurium an eklatanten Falschinformationen das
in Punkto Gewaltdarstellung relativ unspektakulären Spiel betrefffend, das den Täter trainiert
habe:
Was ging in dem Kopf des Amokläufers von Erfurt vor? Die Antwort darauf steht auf diesen Seiten. Das
populäre und indizierte Computeronlinespiel "Counterstrike" [sic] simuliert Terror- und Antiterrorkriegsführung in Echtzeit. Über das Internet spielen überwiegend jugendliche Spieler in Terror- oder Antiterrorgruppen – nach Angaben des Herstellers sind zu jeder beliebigen Zeit 500 000 Spieler eingeloggt. Es geht
um die Besetzung von Gebäuden, die Sprengung von Fahrzeugen, um die Befreiung von Geiseln – oder,
wemn man die Gegenseite spielt – um deren Gefangennahme. Das Waffenarsenal ist gewaltig, der
Munitionsvorrat, eine prekäre Ressource, muß während des Spiels immer wieder aufgestockt werden.
1145
1146
1147
1148
1149
Vgl. BUCHLOH 2002, S.320f.. Das dürfte auch ein zentrales Motiv insb. der extremsten der Medienkritiker, wie auch der
zentralen politischen Verbotsproponenten der im Folgenden dargestellten Debatten sein. Bspw. desavouierte sich der niedersäschsische LIM Uwe SCHÜNEMANN (CDU) diesbzgl. infolge des sog. Amoklaufs von Emsdetten selbst: "Aber über die
brutalen Varianten darf es überhaupt keine Diskussion geben. Da braucht man auch kein Gutachten. Das ist so pervers, dass es
keine Alternative zum Verbot gibt. [...] Wenn Sie verstehen, wie brutal die Szenen sind, die dort gespielt werden müssen, dann
ist völlig klar, dass dieses für niemanden förderlich sein kann. Solche Spiele brauchen wir nicht! Deshalb gehören sie
verboten! [...] Wenn man sich diese Spiele selbst ansieht, kann man auch keine andere Position vertreten." (zitiert in:
GÜßGEN 2006) Dgl. auch am 27.03.2009 infolge des sog. Amoklaufs von Winnenden bzgl. des Themas "Waffenrecht – wie
machen's andere Länder?" in der politischen ZDF-Talkshow MAYBRIT ILLNER: "Und ich glaube, die Erwachsenen brauchen
solche Spiel auf gar keinen Fall, deshalb muss so etwas auch verboten werden." Dgl. auch der hessische LIM Volker
BOUFFIER (CDU): "Ich bin der Auffassung, so etwas braucht niemand." (zitiert in: KANNING 2009) Dgl. auch der
bayerische LIM Joachim HERRMANN (CSU), der auf der Website abgeordnetenwatch.de in einer Antwort v. 22.06.2010
formulierte: "In der Tat kann ich auch bei Erwachsenen kein schützenswertes Recht erkennen, sich mit derartigen Machwerken
zu beschäftigen […]. Mir fehlt jedes Verständnis dafür, Killerspiele als harmlose Freizeitbeschäftigung oder gar als Inbegriff
der eigenen Selbstverwirklichung anzusehen. Mit Kunst oder freier Meinungsäußerung hat dies rein gar nichts zu tun. Eine
zivilisierte Gesellschaft darf und muss hier Grenzen setzen." Werden aber Grundrechte wie die freie Entfaltung der Persönlichkeit und die Rezipientenfreiheit ignoriert oder gar als schützensunwerte Rechte relativiert, ist die Debatte letztlich nur noch
eine paternalistische, ja antiliberale Notwendigkeitsdebatte. I.d.S. argumentiert z.B. BIRKE 2007, dass das Recht auf
individuelle Selbstbestimmung hier das zentrale, schützenswerte Recht ist, "die Schaffung eines Bereichs in Privatleben und
Fantasie, in dem Staat und Gesellschaft mit Normvorgaben nichts verloren haben. Neben der Sexualität als traditionell am
meisten von Repressionen bedrohtem Privatvergnügen sind Medien wie Film, Musik, Literatur und Computerspiele ein
entscheidender Teil von Privatleben und einvernehmlichen Versammlungen, wo die Fantasie ohne Grenzen bedient und
gleichzeitig niemand dadurch geschädigt werden kann. Folglich muss spätestens mit dem vollendeten 18. Lebensjahr ohne
Grenzen alles erlaubt sein. Das gilt für alle 'Killerspiele', ob einfache Räuber- und Gendarm-Ballerei wie 'Counterstrike' [sic],
Horrorshooter wie die 'Doom'-Titel, Extremwerke wie 'Manhunt' oder auch reine Perversionsdarstellungen. Es ist ein zu
schützender Wert, wenn der erwachsene Bürger das Recht hat, sich durch extreme Darstellungen, auch selbstzweckhafte und
exzessive Gewalt-Fiktionen, Nervenkitzel nach seinem eigenen Anliegen zu schaffen."
GRIMM 2002, S.56.
Vgl. BR-Drs. 921/90 und -PlPr 643, S.278. Bzgl. eines Resümees diesbzgl. Ambitionen bis einschl. 1992 s. MEIROWITZ
1993, 293f..
Vgl. BR-Drs. 764/99.
Vgl. MERTEN 1999, S.228 und WEBER 2003, S.36. Bzgl. einer detaillierten, exemplarischen Diskursanalyse (am Bsp. der
Berichterstattung der Tageszeitung F.A.Z. und des Nachrichtenmagazins DER SPIEGEL) s. BEYER 2004.
209
Robert Steinhäuser war, wie seine Mitschüler berichten, ein begeisterter 'Counterstrike'-Spieler [sic]. Und
das Spiel, in dem man vom Polizisten […] über den Passanten bis hin zum Schulmädchen jeden erschiessen soll, ehe man selber erschossen wird, liefert einen Handlungscode für den Amoklauf von Erfurt [...].
Wie im Spiel, wo der Spieler mit einer Primär- und einer Sekundärwaffe, nämlich Gewehr und Pistole
ausgestattet ist, versah sich der 19jährige mit Pumpgun und Revolver und einer riesigen Menge Munition.
Seine Maskenverkleidung schaute er sich den Spielfiguren ab. Und die Empfehlung, die auf der Seite von
amazon.com gegeben wird, man solle, wenn man in dem Spiel VIPs erschieße, an Leute denken, die man
nicht mag, hat Robert Steinhäuser ebenfalls ganz wörtlich genommen. Ob der Massenmord für ihn Spiel
oder das Spiel schon Mord war, werden Psychologen erkunden. Doch das Inventar der Haßindustrie wird
täglich wirklichkeitsnäher. "Erschieß mich doch", hat der Lehrer zu Steinhäuser gesagt, der ihm die
Kapuze und damit die Rolle vom Leib riß. Und der Mann, der soeben siebzehn Menschen ermordet hatte,
antwortete wie Kinder, die den Computer abschalten: "Ich habe jetzt keine Lust mehr."
Ungeachtet der (bis heute regelmäßig) konsequent falschen Schreibweise des Spielnamens (und
dass das Durchschnittsalter der Spieler salopp behauptet, aber natürlich nicht erhoben wurde)
war (und ist) das Spiel nicht indiziert:1150 Das Spiel ist prinzipiell eine moderne, computerisierte
Variante des populären Geländespiels "Räuber und Gendarm" und es geht weder um die
Besetzung von Gebäuden, noch die Sprengung von Fahrzeugen. Man soll auch weder jeden
erschießen (insb. nicht die Geiseln), noch existieren Passanten, Schulmädchen o.ä. in diesem
Spiel. Auch einen "Handlungscode für den Amoklauf von Erfurt" liefert das Spiel i.d.S. nicht:
Die Analogien zwischen dem Spiel und der Tat sind nicht einmal rudimentärer Natur, ja der
"Handlungscode" des Spiels steht dem der Tat quasi diametral ggü. und selbst die Behauptung,
dass das Spiel den Modus Operandi der Tat modelliert hätte, wäre eine nur indizienlose
Spekulation; dass der Täter mit einer Primär- und einer Sekundärwaffe und einer "Maskenverkleidung" ausgestattet war, ist diesbzgl. insg. nicht hinreichend. Der Artikel provozierte u.a.
über 2.500 kritische E-Mails der (implizit) selbst auch diffamierten Spieler, die z.B. die
evidenten Fehler des Artikels, wie auch die Diffamation der Industrie ("Hassindustrie")
monierten.
Ungeachtet dessen war der Artikel Ausgangspunkt unzähliger Presseartikel, die das Spiel
gleichermaßen diabolisierten, die Falschdarstellungen der Zeitung kritiklos kopierten und i.S.d.
Flüsterpostprinzips gar immer neue, immer skandalösere Spielinhalte fingierten. Am 29.04.2002
fabulierte z.B. das HAMBURGER ABENDBLATT: "Alles, was sich bewegt, wird erschossen. Nur
wer schneller schießt, kommt weiter. Die Opfer schlagen blutberströmt einen Salto rückwärts.
Wer sich den Weg freiballert, bekommt einen Bonus. Kinderwagen mit Großmüttern bringen
Extra-Punkte. Der Blutfluss kann programmiert werden – für Anfänger normal, für Fortgeschrittene schnell und heftig. [...] Am begehrtesten sind Pumpguns, denn die bringen die meisten
Punkte – Steinhäuser hatte bei seinem Amoklauf auch eine solche Waffe dabei."1151 Auch die
Tageszeitung DIE WELT fabulierte am selben Tag: "Er soll ein begeisterter 'Counterstrike'Spieler [sic] gewesen sein, ein indiziertes Spiel, das Terrorangriffe und -bekämpfung simuliert.
Tatsächlich kommt die subjektive Sicht der Computerspiele dem Amoklauf bedenklich nahe:
Der Schütze läuft durch Gänge und schießt auf eklige Tiere oder eben Terroristen. Man nennt
die Gattung Ego-Shooter: Ich-Findung mit Hilfe von Gewaltfantasien im virtuellen Raum. Der
Spieler wird durch immer bessere Waffen belohnt, und oben auf der Skala steht die Pumpgun.
Diese Waffe bedient die Fantasien von pubertierenden Jugendlichen besonders, das Nachladen
imitiert die Masturbationshandlung. Das klackende Geräusch der Waffe, die offene, Furchtlosigkeit signalisierende Haltung vor dem Bauch ist im Kino tradiert worden; ebenso die
erschreckende Wirkung der Schrotgeschosse."1152 Offensichtlich hatte Keiner der Jorunalisten
das Spiel je selbst gesehen.
1150
1151
1152
De facto war aber vor der Tat ein Indizierungsverfahren anhängig: Bereits im Vorfeld der Entscheidung plädierte Maria
BÖHMER (CDU), Bundesvorsitzende der Frauen Union der CDU Deutschlands, für ein generelles Vermietverbot (schwer)
jugendgefährdender Medien und artikulierte laudiert von Maria EICHHORN (CSU), Vorsitzende der Frauen-Union der CSU,
den Wunsch, "dass das Lieblingsspiel von Robert Steinhäuser, […] endlich verboten wird." (zitiert in: BT-PPr 14/236,
S.23535) Letztlich entschied das 12er-Gremium der BPjM aber am selben Tag gem. IE Nr. 5116 v. 16.05.2002 gegen die
Indizierung und statuierte i.d.S. nicht das Exempel, für das bpsw. auch Bundeskanzler Gerhard SCHRÖDER (SPD) plädiert
hatte, der infolge dessen monierte, die Nichtindizierung sei ein "absolut verkehrtes Signal" (zitiert in: DECKER 2005, S.60);
dgl. Bundesfamilienministerin Christine BERGMANN (SPD) im Rahmen der Jahrestagung der BPjM am 28./29.05.2002 (vgl.
GRIMM 2002, S.5).
SÖRING 2002.
KREITLING 2002.
210
Die bis dato offensichtlich nicht konsultierte Polizeidirektion Erfurt proklamierte aber bereits
am 30.04.2002, dass sie insg. keine Parallelen zwischen den Inhalten der im Rahmen der
Ermittlung beschlagnahmten Computerspiele des Täters und der Tat identifizieren konnte.1153
Zwei Jahre später konstatierte letztlich auch der abschließende Bericht der speziell dafür
eingesetzten Kommission Gutenberg-Gymnasium, "dass Robert Steinhäuser nicht […] die
Nächte durch Counterstrike [sic] gespielt hat und Counterstrike [sic] auch kein Dauerbrenner
von Robert Steinhäuser gewesen ist."1154 Aber selbst bis heute ist der diesbzgl. Mythos virulent
und das Spiel war und ist insb. solchen Medienkritikern ein populäres Beispiel eines "Killerspiels" (s.u.), die bzgl. Computerspielen offensichtlich kaum oder gar nicht fachkompetent sind.
Hardliner rezitierten reflexartig die Falschinformationen der Medien, argumentierten insb. mit
simplen Alltagstheorien und propagierten salopp absolute Verbote (fiktiver) medialer Gewaltdarstellungen. JÖRNS 2003 resümierte später, "dass kaum ein Politiker das in den Reden immer
erwähnte Spiel Counterstrike [sic] tatsächlich je gesehen, geschweige denn gespielt hatte."1155
Besonders aktiv waren insb. Spitzenpolitiker der CSU: Am 27.04.2002 forderte z.B. der
damalige Kanzlerkandidat und bayerische Ministerpräsident Edmund STOIBER (CSU) im
Rahmen einer Landesdelegiertenversammlung der CSU in München ein generelles Verbot von
Gewaltdarstellungen in Computerspielen;1156 u.a. sekundierten ihm die bayerische Familienministerin Christa STEWENS (CSU), wie auch LIM Günther BECKSTEIN (CSU).1157 Letzterer
propagierte bspw. am 29.04.2002 die unionsintern populären (absoluten) Vermietverbote für
indizierte Medien, behauptete eine (medieninduzierte) der tatsächlichen Sachlage nicht entsprechende "Explosion von Gewalt bei Jugendlichen"1158 und kritisierte die Bundesregierung,
sie sei seit dem Entschließungsantrag des Bundesates im Jahr 2000 in skandalöser Weise untätig
1153
1154
1155
1156
1157
1158
Vgl. MANZ 2002. SCHIRRMACHER 2002, Chefredakteur des Feuilletons des F.A.S., veröffentlichte erst am 01.05.2002 den
rabulistischen Kommentar, dass die Redaktion insg. nicht der Meinung sei, dass der Artikel Recherchefehler enthalte(!) und
konstatierte: "Dass der Ablauf des Spiels in Details anders sein mag (Besetzung von Gebäuden/Fahrzeuge), ändert ja nichts
daran, worum es in diesem Spiel geht. Der Originalartikel in der Sonntagszeitung war mit unzähligen Screenshots aus dem
Spiel versehen, die keinen Zweifel daran lassen können, dass CS ein Spiel ist, in dem es darum geht, realistisch auf Menschen
zu schießen. […] Und die Tatsache, dass Skins von Schulmädchen, Prominenten, Terrorgruppen (Hisbollah) und Polizeigruppen (GSG 9) im Internet herunterzuladen sind, zeigt, welche Bedürfnisse durch Counterstrike [sic] auch angesprochen werden
können. Damit ist nicht gesagt und sollte nicht gesagt werden, dass Counterstrike-Spieler [sic] massenhaft Schulmädchenskins
herunterladen oder Geiseln erschießen. Aber erschiessen sie Polizisten? [...] Es wird damit auch nicht gesagt, dass jeder
Spieler ein Amokläufer ist. Gesagt wird nur, dass das Spiel etwas simuliert, was Robert Steinhäuser in die Tat umsetzte. […]
Ich glaube, wir müssen aufhören – und auch der Artikel hat dies so sagen wollen – einfache Ursachen für solche
Erscheinungen zu suchen. Counterstrike [sic] ist n i c h t [sic] schuld am Massaker. Und wenn der Attentäter ein anderes
Spiel gespielt hat, ist dies auch nicht schuld im klassischen Sinne von Ursache und Wirkung. Aber es gibt doch so etwas wie
einen 'Symptompool'. Wenn sich, wie dies in den vergangenen Jahren mehrfach der Fall gewesen ist, herausstellt, dass Highschool-Attentäter a u c h [sic] über Killer-Computerspiele verfügten, muss man darüber nachdenken, warum das so ist." Ungeachtet der Phrase "Killer-Computerspiele" (s.u.) ist das Spielen auch gewaltdarstellender Computerspiele aber insg. ein
ubiquitäres Phänomen Jugendlicher, kein besonderes Verhalten o.ä., wie z.B. auch die sog. JIM-Studien bis dato demonstriert
hatten – der Ausgangsartikel selbst konstatierte ja z.B.bereits nur für das Spiel COUNTER-STRIKE mind. 500.000 (internationale) "überwiegend jugendliche" Spieler –, so dass man prinzipiell eben nicht darüber nachdenken muss, warum
jugendliche Gewalttäter ggf. auch gewaltdarstellende Spiele spielen.
GASSER/CREUTZFELD/NÄHER et al. 2004, S.337f.. Der Täter hatte nicht einmal einen (für das prinzipielle Onlinespiel)
notwendigen Internetzugang (S.298). Natürlich konnte aber nicht überraschend die Rezeption auch Gewalt darstellender Filme
und Computerspiele rekonstruiert werden, ohne dass die Kommission (ungeachtet des pejorativen Duktus des Berichts) diesbzgl. Expertise demonstrieren konnte; bspw. klassifizierte sie das Computerspiel TOM CLANCY’S SPLINTER CELL: PANDORA
TOMORROW als Egoshooter (S.341)! Auch attestierte die Kommission der Mediengewaltrezeption des Täters salopp, d.h. ohne
diesbzgl. Indizien oder hinreichende Medienwirkungsexpertise, eine tatstimulierende Wirkung (S.335-346). D.h. "dass ein
exzessiver Konsum von sogenannten Egoshootern jedenfalls unter der Bedingung von Persönlichkeitskrisen und fehlenden
Kompensationsmechnanismen von einem zwar oberflächlich harmlosen, der Struktur nach aber unterschwellig das Prinzip der
Achtung der menschlichen Unversehrtheit in Frage stellenden Reaktionsspiel zu einem regelrechten Gewaltanwendungstraining entarten kann. Tritt ein latentes Vorhandensein weiterer Faktoren hinzu, wie z.B. narzisstische Persönlichkeitsstruktur, geringes Selbstwertgefühl, leichte Kränkbarkeit, Hunger nach Anerkennung, hochstrebende Vorstellungen und trifft
eine solche Disposition dann noch auf die leichte Verfügbarkeit von (Schuss-)Waffen, kann dies zu einer tödlichen, auf einen
Anlass zur Entladung ausgerichtete Mixtur führen." (S.344) Dies stellt nicht nur einen Rückgriff auf simple Alltagstheorien
dar, auch konnte die Kommission (insb. ohne Relationswerte) bereits die Exzessivität des Medienkonsums, resp. eine
Anormalität des Medienhabitus des Täters nicht demonstrieren. BÖSCHE/GESERICH 2007 konnten aber im Lichte der
subjektiven Täterlogik plausibel argumentieren, dass die Mediengewaltrezeption weder eine hinreichende, noch eine notwendige Bedingung der Tat war (S.59-62).
Vgl. JÖRNS 2003, S.123.
Vgl. OPITZ 2002.
Vgl. BOTT 2002.
Zitiert in: RAMELSBERGER 2002.
211
gewesen; der Schulamoklauf war zum Wahlkampfthema degeneriert.
Tatsächlich hatte aber bereits die Enquete-Kommission des Deutschen Bundestags "Zukunft der
Medien in Wirtschaft und Gesellschaft – Deutschlands Weg in die Informationsgesellschaft"
seit 1996 u.a. eine Neuregelung des Jugendmedienschutzrechts diskutiert. Eine entsprechende
Novelle war auch bereits Gegenstand einer von der Jugendministerkonferenz am 17./18.06.1999
eingesetzte Bund-Länder-Arbeitsgruppe, die im Februar 2000 erste Eckpunkte für eine Neuregelung des Jugendschutzes präsentiert hatte, so dass die Jugendministerkonferenz bereits am
18./19.05. desselben Jahres beschlossen hatte, die Bundesregierung solle einen Entwurf zur
Neuregelung des Jugendschutzes formulieren.1159 Erst auf der Ministerpräsidentenkonferenz am
08.03.2002 hatten sich Bund und Länder aber auf die Eckwerte einer Neuregelung einigen können. Infolge dessen hatten die Bundestagsfraktionen der SPD und von BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN bereits am 13.04.2002 einen Entwurf eines Jugendschutzgesetzes präsentiert,1160 der
erst nach der Bundestagswahl im September 2002 hätte beschlossen werden sollen, der den
Gesetzgebungsprozess aber im Lichte des Schulamoklaufs und einer Atmosphäre allg.
politischen Aktionismus in Rekordzeit passierte: Das Bundeskabinett verabschiedete den
Entwurf am 08. 05.2002, der Bundestag am 14.06.2002 und der Bundesrat letztlich am 21.06.
2002;1161 das neue JuSchG trat am 01.04.2003 in Kraft.
Das Fundament der späteren "Killerspiel"-Verbotsdebatten wurde bereits im Gesetzgebungsprozess gesetzt: Diverse Unionspolitiker, insb. solche der Frauen Union, formulierten am 14.05.
2002 den Antrag "Jugendschutz stärken", nach dem der Bundestag die Bundesregierung auffordern sollte, "entsprechende Maßnahmen zu ergreifen, dass 1. ein klares und übersichtliches
Jugendschutzgesetz mit eindeutigen Zuständigkeitsregelungen für Jugendämter, Ordnungsämter, Gewerbeaufsichtsämter und Polizei vorgelegt wird; 2. Regelungen zum Jugendmedienschutz auf internationaler Ebene getroffen werden; 3. ein generelles Verbot schwer jugendgefährdender Videofilme, Computer- und Videospiele erfolgt; 4. gesetzlich bindende Alterskennzeichnungen von Computer- und Videospielen eingeführt werden sowie eine Freiwillige
Selbstkontrolle wie beim Film installiert wird; 5. ein striktes Verbot von Videoautomaten
gewährleistet wird; 6. ein generelles Verbot von Killerspielen erfolgt; 7. die Lockerung der
Schutzbestimmungen bei Spielautomaten zurückgenommen wird [...]."1162 Der Bundestag
beschloss am 14.06.2002 den Antrag gegen die Stimmen der Fraktionen der Unionsparteien und
der FDP abzulehnen.1163
Dieselben Novellierungen proponierte auch der am 20.06.2002 im Bundesrat eingebrachte
Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Jugendschutzgesetzes (JuSchGÄndG) der bayerischen
Staatskanzlei,1164 den der unionsdominierte Rat mit Beschluss vom 27.09.20021165 am 14.11.
2002 als Gesetzesinitiative beim Bundestag einbrachte.1166 Der Bundestag votierte aber am 04.
04.2003 mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und denen der FDP-Fraktion gegen die der
Unionsfraktion gegen den Entwurf. Den allg. Tenor ggü. dem Entwurf demonstriert ein
prägnanter Kommentar der Abgeordneten Jutta DÜMPE-KRÜGER (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN): "Er ist längst überholt, enthält vor allem eine Unmenge an Verboten, stellt das
Verhältnismäßigkeitsgebot durch unterschiedliche Bußgeldrahmen auf den Kopf und widerspricht dem Gleichbehandlungsgrundsatz. Er trägt auch nicht zur Verbesserung des Jugendschutzes bei. [...] Kurzum, [...] aus meiner grünen Sicht wäre dieses Papier am besten als Baum
im Wald stehen geblieben."1167 Die Debatte war beendet und spätestens seit der Ausfertigung
1159
1160
1161
1162
1163
1164
1165
1166
1167
Vgl. HEYL 2001.
Vgl. BT-Drs. 14/9013.
Bzgl. einer detaillierteren Darstellung der gesetzgeberischen Geschichte des JuSchG s. NIKLES/ROLL/SPÜRCK et al. 2005,
S.24-28 und RETZKE 2006, S.2-9.
Vgl. BT-Drs. 14/9027, S.2.
Vgl. BT-PlPr 14/243, S.24494.
Vgl. BR-Drs. 585/02.
Vgl. BR-PlPr 780, S.454.
Vgl. BT-Drs. 15/88.
Zitiert in: BT-PlPr 15/38, S.3169.
212
des parallel diskutierten SexÄndG am 27.12.2003, resp. dem Inkrafttreten der Norm am 01.04.
2004, kein Politikum mehr. Ungeachtet dessen wurde der Entwurf vier Jahre später reanimiert
(s.u.).
17.
Medienhysterie: FRONTAL21 als Ausgangspunkt der Debatte
Das ZDF-Politmagazin FRONTAL21 reanimierte die Debatte am 09.11.2004 im Rahmen eines
ersten Berichts des Autors Rainer FROMM: "Video-Gemetzel im Kinderzimmer: Killerspiele
und Behördenversagen."1168 Der Bericht war ein Sammelsurium eklatanter Falsch- und Fehlinformationen. Nicht nur der provokante Titel, auch die Anmoderation des stellvertretenden
Redaktionsleiters Theo KOLL ("Massenmord als Kindersport"), der pejorative Duktus ("Killerspiel", "Metzelspiele"; "Gewaltspiel"), wie auch die Skandalisierung der (dekontextualisierten)
Gewaltdarstellungen demonstrieren das boulevardeske Niveau des Berichts, der u.a. eine
Brutalisierung der Computerspiele diagnostizierte und die Wirkungslosigkeit der Altersbeschränkungen kolportierte: Der Bericht präsentierte i.d.S. Jugendliche, die (das suggeriert der
Schnitt) das (ohne Jugendfreigabe gekennzeichnete) Spiel DOOM 3 spielten, das einer der
Jugendlichen (ein 14-Jähriger und somit kein Kind mehr) im Rahmen eines einzigen (mittels
versteckter Kamera) dokumentierten Testkaufs kaufen konnte. Der Bericht, der die Rechtsverbindlichkeit der Altersbeschränkung nicht thematisierte, dokumentierte i.d.S. nur ein nach §
28 Abs. 1 Nr. 15 JuSchG bereits ordnungswidriges Verhalten der Verkäuferin (und nach Abs. 4
u.U. ein solches des Autors des Berichts), resp. ein Vollzugsdefizit, wäre ein einziger Testkauf
(im Bericht euphemistisch als "Stichprobe" bezeichnet) denn diesbzgl. auch repräsentativ.
Ein Vollzugsdefizit wurde aber nicht thematisiert, das Problem sei das eponyme "Behördenversagen" der OLJB. Der Autor kolportierte im Rahmen eines Interviews mit Jürgen HILSE,
dem (im Lichte der Falsch- und Fehlinformationen des Autors konsterniert reagierenden)
Ständigen Vertreter der OLJB bei der USK, man könne den Verkäuferinnen(!) nicht zumuten,
"dass sie die Arbeit leisten, die eigentlich der Jugendschutz leisten müsste." Dass das simple
Prozedere der Alterskontrolle, das im Rahmen öffentlicher Filmveranstaltungen seit 1956 und
im Einzelhandel für Filmprogramme seit 1985, wie auch seit Jahrzehnten z.B. für Alkoholika
u.ä. Rechtspflicht ist, ggü. Computerspielen nicht zumutbar sei, ist aber nicht plausibel. Der
Bericht kolportierte auch, dass die USK die Nachfolger indizierter Spiele systematisch(!) kennzeichne und suggerierte, dass das Gros der Spiele per se jugendgefährdend sei und die Arbeit,
die die USK eigentlich leisten müsste, eine Nichtkennzeichnungsquote sei, der ggü. sich die
Organisation nicht bewährt habe: "3.500 Spiele sind hier geprüft worden, fast alle sind im
Handel. Nur 23 Spiele haben keine Freigabe bekommen: Selbstzufriedenheit im Amt." Die
Daten sind falsch: Die USK prüfte bis zum Inkrafttreten des JuSchG ca. 8.800 und seitdem
etwas weniger als 3.958 Spiele; 2003 prüfte sie insg. 1.806 und 2004 insg. 2.152 Spiele. Auch
kennzeichnete die USK seit 2003 insg. 51 Spiele nicht; 2003 insg. 32 und 2004 insg. 19 Spiele.
Der Bericht ignoriert auch die Dunkelziffer nicht geprüfter (und infolge dessen i.d.R. in der
BRD nicht veröffentlichter) Spiele. Die Argumentation des Berichts ist aber auch ungeachtet
dessen unplausibel, wie bereits WINKLER 2007 konstatierte: "Das entwertet allerdings nur ein
von vorneherein wertloses Argument. Wievielen Spielen eine Kennzeichnung verweigert wird,
kann kein Kriterium für die Qualität der Arbeit der USK sein. Aufgabe der USK ist es, jedes
Spiel für sich genommen fair zu bewerten. Es ist nicht ihre Aufgabe, Vergabequoten zu erfüllen."1169 Auch monierte der Bericht nebulös: "Die USK sollte den Jugendschutz verbessern, das
Gegenteil ist der Fall. Mehr brutale Gewaltspiele statt weniger."1170 Einen (prozentualen) An1168
1169
1170
Bzgl. einer Transkription s. SOMMERAUER 2009, S.101ff..
Vgl. WINKLER 2007, S.3.
Auch die Diskreditierung der Organisationen der freiwilligen Selbstkontrolle ist ein eingeübtes Ritual der Medienkritik: Der
ehem. Vorsitzende der BPjS, Rudolf STEFEN, kritisierte bspw. 1984 die Pläne der OLJB, die FSK im Rahmen des JÖSchNG
als Gutachter bzgl. Videofilmen zu mandatieren und monierte kurioserweise, die Organisation habe in den letzten 35 Jahren
"manch fragwürdige Entscheidung" (zitiert in: DER SPIEGEL 1984, S.52) getroffen, z.B. (seit 1983) die Jugendfreigabe von
ca. 30 Videofilmen, die die BPjS ex post facto indizierte (vgl. GOTTBERG 1999, S.42). Im Lichte der unzähligen fragwürdigen Entscheidungen der BPjS ist der Vorwurf nicht nur unreflektiert, sondern indiziert auch ein gewisses Überlegenheits- und Unfehlbarkeitsdünkel. War die BPjS in den 1980ern aber selbst noch ein Kritiker der FSK, laudiert die aktuelle
213
stieg der "Gewaltspiele" demonstriert der Bericht aber (auch ohne eine Definition solcher
Spiele) erst gar nicht. Im Gegenteil ignoriert der Autor, dass die Systematik des JuSchG Selbstzensuren und ggf. gar die Nichtveröffentlichung (potenziell) nicht kennzeichnungsfähiger Spiele
bewirkt.
Den Bericht garnierten Kommentare dreier LIM; Brandenburgs LIM Jörg SCHÖNBOHM
(CDU) demonstrierte z.B. die eklatanten Defizite seiner Jugendmedienschutzexpertise und
proklamierte ad hoc: "Das nunmehr durch die USK Filme und solche Spiele nicht indiziert und
damit verboten werden, ist nicht akzeptabel. Was umso schwieriger ist, wenn man sich überlegt,
dass die Vorgängerspiele, von einer ähnlichen Brutalität und Grausamkeit, schon von der
Bundesprüfstelle verboten wurden und jetzt nicht. Also hier muss eingegriffen und muss was
geändert werden." Der bayerische LIM Günther BECKSTEIN (CSU) rezitierte die
obligatorischen Verbotspostulate der CSU: "Ich sage wir brauchen Herstellungsverbote. Denn
die Technik hat sich ja so entwickelt, dass der einzelne Träger solcher Spiele nicht mehr viel
kostet, so dass der Preis für Verleihen und für Kauf nicht mehr sehr unterschiedlich ist. Und ich
sage, wenn etwas auf dem Markt ist, dann wird es von Jugendlichen erworben und auch
schwarz kopiert und weiter vertrieben." Der Bericht resümierte: "Herstellungsverbote, das klingt
gut. Bis jetzt schafft es die Politik aber noch nicht einmal bestehende Gesetze anzuwenden. Ein
Armutszeugnis."1171
Am 26.04.2005 prolongierte FRONTAL21 das Kritikpodium und sendete einen zweiten Bericht
desselben Autors und seines Koautors Thomas REICHART: "Gewalt ohne Grenzen: Brutale
Spiele im Kinderzimmer."1172 Der Tenor des Berichts war prinzipiell derselbe, so dass Sprecher
Rainer FROMM monierte: "Die meisten Brutalspiele sind nicht indiziert und dürfen frei
verkauft werden." Die nur moralische Indignation des ersten Beitrags garnierte aber das alltagstheoretische Ressentiment, "Gewaltspiele" machten gewaltbereit und aggressiv. Dem Wirkungsmythos sekundierten (ad verecundiam) berüchtigte Koryphäen der deutschen Medienkritik;
Helmut LUKESCH und Manfred SPITZER. Letzterer rezitierte bspw. sein im Januar desselben
Jahres publiziertes Pamphlet SPITZER 2005b und behauptete: "Also da muss man sehr klar
sagen, dass es diese Zusammenhänge gibt und dass die auch erforscht sind und was wir heute
wissen, dass virtuelle Gewalt entweder passiv rezipiert übers Fernsehen oder noch schlimmer,
aktiv eingeübt am Computerspiel, macht tatsächlich gewalttätig. Also ein friedfertiger Mensch
der viele Videospiele spielt ist am Ende gewaltbereiter als ein eher gewaltbereiter Mensch der
gar nicht spielt. Das ist nachgewiesen." Indiz der (medieninduzierten) Gewaltbereitschaft der
Spieler waren den Autoren nur drei polemische(re) von insg. ein paar tausend kritischen EMails an die Redaktion infolge des ersten Berichts; Manfred SPITZER alarmierte: "Leider
bahnen diese Spiele eben Gewaltbereitschaft, gewalttätige Gedanken, entsprechende Emotionen
und Handlungen. Wenn wir das alles zusammen nehmen, dann wundert mich überhaupt nicht,
dass sich Menschen die sich jetzt da angegriffen oder angesprochen fühlen, entsprechend heftig,
1171
1172
Vorsitzende der BPjM heute bspw. der (Zusammenarbeit mit der) USK (s.u.).
Ein im Internet-Videoportal youtube.com am 15.11.2007 veröffentlichtes Video des Studenten DITTMAYER 2007, das die
suggestiven Falsch- und Fehlinformationen des Berichts dekonstruierte und eine respektable Medienresonanz evozierte,
provozierte am 30.11.2007 eine rabulistische Reaktion des Redaktionsleiters RICHTER 2007, der kurioserweise nicht nur die
Fehler des Berichts selbst reproduzierte, sondern die Dekonstruktion indigniert auch noch als "gänzlich unbelegt, nicht
stichhaltig oder irreführend" (S.5) kritisierte. Der Autor selbst behauptete aber bspw. im Rekurs auf DOOM 3 (ohne dass die
fehlende Jugendfreigabe des Spiels thematisiert wurde), "dass zahlreiche extrem brutale Spiele auf dem Markt sind, deren
Vorgängerversionen noch indiziert waren. Das steht im Widerspruch zum Jugendschutzgesetz." (S.3) Eine offensichtlich
fehlsame Auslegung der (wesentlichen) Inhaltsgleichheit gem. § 14 Abs. 4 JuSchG; jugendmedienschutzrechtliches Falschund Fehlinformationen waren also ein grundlegender Ausgangspunkt der Kritik an der USK. Argumentationsresistent reagierte
der Redaktionsleiter u.a. auch bzgl. der Kritik, dass der im Bericht den Kontext eines finalen Rettungsschuss im Rahmen des
Spiels SILENT SCOPE 3 ignorierte und als "gezielten Mord" diabolisierte: "Im Zusammenhang mit dem Spiel [...] die Frage
nach der Rechtfertigung von 'finalen Rettungsschüssen' bei Geiselnahmen zu diskutieren, ist abwegig. [...] Und auch [...] geht
es keinesfalls allein um finale Rettungsschüsse bei Geiselnahmen. Alleiniger Spielinhalt ist wieder das reaktionsschnelle
Erschießen menschlicher Gegenüber." (S.4) Dgl. auch der Rainer FROMM ggü. GEHLEN 2007. Bzgl. detaillierter Kritik an
der Sendung, wie auch der Reaktion des Redaktionsleiters, s. z.B. WINKLER 2007, der resümierte: "Ein Kuriosum, dass wir
heute hier sitzen und über einen Fernsehbericht debattieren, der bereits drei Jahre alt ist. Aber noch immer fehlt der
zuständigen Redaktion die Einsicht, was damals schief gelaufen ist und womit sie die wütenden Reaktionen eigentlich
provoziert hat. […] Was gerade die jetzige Stellungnahme beweist, die erschreckend viel Unkenntnis gepaart mit unerschütterlichem Glauben an die eigene Unfehlbarkeit offenbart." (S.3)
Bzgl. einer Transkription s. SOMMERAUER 2009, S.109ff..
214
mit heftiger Gewalt auch realer Gewalt reagieren." Weder die qualifizierte(re) Kritik, noch die
eklatanten Defizite des ersten Beitrags wurden thematisiert, Spieler wurden vielmehr überlegenheits- und unfehlbarkeitsdünkelnd generell als Diskussionspartner disqualifiziert.1173
Zusammengefasst konnten die Berichte aber keine Defizite der Kennzeichnungspraxis der USK
(resp. der OLJB) demonstrieren, sondern waren nur Podien für die private Meinungsäußerung,
d.h. den pornographischen Blick, die Falsch- und Fehlinformationen und die Nichtkennzeichnungs-, Indizierungs- und Verbotsfantasien der Autoren.1174 Die Berichte initiierten aber
trotzdem einen insb. im Rahmen öffentlich-rechtlicher Fernsehberichte in den folgenden Jahren
prolongierten Kampagnenjournalismus gegen Computerspiele und die USK, wie auch eine
entsprechende Debatte in den Printmedien, resp. den digitalen Pendants derselben, die z.T.
unkritisch-affirmativ die Kritik an der USK rezitierten.1175 Rainer FROMM selbst resümierte:
"Ich fand meine Filme nicht schlecht recherchiert."1176
18.
Der Koalitionsvertrag vom 11.11.2005: "Verbot von 'Killerspielen'"?
Im Rahmen der Medienkampagne wurden gewaltdarstellende Computerspiele abermals ein
Politikum, so dass letztlich nach Punkt 6.3 ("Aufwachsen ohne Gewalt") des Koalitionsvertrags
zwischen CDU, CSU und SPD vom 11.11.2005 u.a. die Eckpunkte "Wirksamkeit des
Konstrukts 'Regulierte Selbstkontrolle'", "Altersgrenzen für die Freigabe von Filmen und
1173
1174
1175
1176
Dgl. HUBER 2008, der im Rahmen einer Analyse der diesbzgl. Beiträge im Forum des Politmagazins während der ersten
sieben Tage nach der ersten (im Rahmen der Analyse laudierten) Sendung "players of killer games, religious extremists, or
fundamentalists of any kind" (S.29) gleichermaßen als irrationale Dialogpartner diffamierte und konstatierte: "Experiences and
world views acquired and/or reinforced in long-term practice with violent computer games are internalized and applied to
interactions with the real world. […] the author of the irritating report is seen as a […] dangerous opponent, maybe even an
enemy. Now how do you cope with opponents in violent games? You 'take care of them,' that is, you eliminate them – and that
is exactly what many of the participants in the forum express explicitly or implicitly, when they wish the author of the report to
be dismissed or at least to be prosecuted. Even worse in this process of internalizing the standards of killer games are the
consequences for the democratic functions of a free media system." (S.44) Das die nicht thematisierten, aber evidenten Falschund Fehlinformationen der Sendung, die Diabolisierung der Spiele(r) und der provokante Tenor natürlich nicht nur sachlichnüchterne Reaktionen evozieren, ist nicht überraschend, aber dass das (im Rahmen der Meinungsäußerungen prinzipiell
artikulierte) berechtigte Interesse an einer nach § 6 Abs. 1 ZDF-StV umfassenden, wahrheitsgetreuen und sachlichen Berichterstattung gar als Gefährdung des freien Mediensystems kritisiert wird, ist absurd. Werner H. HOPF will die Opposition gar
generell als unmündige Disskusionspartner disqualifizieren: "Ein mündiger Bürger ist sich der Gefahren und Wirkungen von
Mediengewalt bewusst und handelt gesellschaftlich verantungsvoll [sic], indem er die Verbreitung derartiger menschenverachtender und unethischer Medieninhalte verurteilt und verhindert, soweit er kann." (zitiert in: WEIß 2010b) Dgl. auch WEIß
2008b.
Bereits SCHULZ 1989 konstatierte im Rahmen einer Kritik des generellen Objektivitätsmangels der Massenmedien, dass
Agitatoren ein Podium für die Artikulation ihrer eigenen tendenziösen, ideologischen Weltsicht, ihrer Ressentiments und ihrer
politischen Einstellung geboten wird (S.139); auch KUNCZIK 1994c monierte, dass Journalisten dazu neigen, "nur solche
Befunde zu verbreiten, die den eigenen Vorurteilen entsprechen." (S.118) Kourioserweise monierte FROMM 2002 selbst u.a.
im Lichte der polemischen, populistischen Jugendmedienschutzdebatte infolge des sog. Amoklaufs von Erfurt u.a. die "unreflektierte Berichterstattung im Zusammenhang mit Ego-Shootern" (S.83), ungeachtet der Detailfehler auch noch in der
zweiten, erheblich korrigierten Auflage der Publikation, wie z.B. die Kategorisierung der Spiele AMERICAN MCGEES’S ALICE
und HITMAN: CODENAME 47 als Egoshooter (S.62); der Autor realisierte aber selbst: "So sehen auch Eltern, Pädagogen und
Jugendschützer beim Gaming oft etwas anderes als der Spieler selbst. Achtet der Beobachter meist auf die blutige Handlung,
das heißt Grafik, befindet sich der Jugendliche häufig in einer Turniersituation." (S.18) Im Rahmen der beiden Berichte, die
selbst Paradebeispiele unreflektierter Berichterstattung waren, missbrauchte der Autor nicht nur das Phänomen, sondern wurde
gar selbst stilprägender Initiator und Spiritus Rector der Diffamation der USK, wie auch der Spiele(r). Im Rahmen des
Münchener Kongresses "Computerspiele und Gewalt" am 20.11.2008 sprach der Autor nicht nur von psychologischem
Faschismus, mentaler Lethargisierung und einer ubiquitären Kriegs- und Gewaltverherrlichung in und durch Computerspiele,
sondern konstatierte ironischerweise auch: "Computerspiele sind heutzutage virtuelle Tarnkappenbomber, die eine junge
Generation auch geistig militarisieren. Diese Spiele haben zum Teil einen Inhalt, der unserem Grundgesetz diametral gegenüber steht. Mit der berechtigten Kritik an Computerspielen macht man sich als Redaktion aber unglaubwürdig, wenn man in
den Grundlagen sachliche Fehler macht." (zitiert in: GEHLEN 2007) Aber weder war die Kritik, vulgo waren die Diffamationen berechtigt, noch waren die Grundlagen der Berichte (sachlich) ohne Fehler. Im Rahmen eines Interviews suggerierte der Autor gar, die USK sei mehr oder weniger korrupt und formuliere nur Gefälligkeitsgutachten für die Industrie:
"Ein entscheidender Punkt ist doch, dass die USK von ihrer Genese her eine Organisation ist, die gegründet wurde, weil man
den Markt unkonventionell, also ohne staatlichen Eingriff regulieren wollte. Ihr Entstehung ist also eng an die Industrie
gekopppelt. Dazu kommt, dass ich mir viele USK-Wertungen auch einfach nicht anders erklären kann. Wenn es keine
Affinität zur Industrie ist, dann ist es eine gewisse Ferne von den Jugendschutzkriterien. […] Einzige […] Möglichkeit ist die
erwähnte Affinität. Für mich gibt es da keinen anderen Erklärungsansatz." (zitiert in: PESCHKE 2006b, S.1) Unterschiede in
der Beurteilung der Spiele durch die USK und Rainer FROMM sollen i.d.S. ein Beleg einer "Ferne von den Jugendschutzkriterien" sein; der Ausgangspunkt der Kritik an der USK ist letztlich nur der Glaube an die absolute Richtigkeit der
eigenen Gesetzesauslegung und die eigene Unfehlbarkeit des Autors bei der Bewertung von Computerspielen.
Bzgl. einer detaillierte Diskursanalyse der aktuellen Debatte s. SCHUMACHER 2010.
Zitiert in: BALAZIK 2005.
215
Spielen/Alterskennzeichnung von Computerspielen" und ein "Verbot von 'Killerspielen'" vorranging erörtert werden sollten. Der Passus, der insb. auch das Resultat des Engagements
diverser Spitzenpolitikerinnen der Frauen Union war,1177 definierte "Killerspiele" aber nicht:
Unionspolitiker hatten seit 1999 insb. sportive Spiele wie z.B. Paintball und Lasertag als "Killerspiele" tituliert;1178 am 17.11.2005 konstatierte i.d.S. Maria EICHHORN (CSU), Landesvorsitzende der Frauen-Union der CSU: "Unter Killerspielen verstehen wir Spiele wie Gotcha,
Paintball oder Laserdrome."1179 Gleichzeitig thematisierte aber einerseits Maria BÖHMER
(CDU), Bundesvorsitzende der Frauen Union der CDU,1180 nur ein evtl. Verbot gewaltdarstellender Computerspiele,1181 andererseits differenzierte die bayerische Familienministerin Christa
STEWENS (CSU) ohne weitere Ausführungen die besagten "Killerspiele" (ohne Anführungszeichen) in reale, wie auch in virtuelle, "die Gewalt geradezu abfeiern […]."1182 Dgl. am 09.12.
2005 auch Bundesfamilienministerin Ursula G. von der LEYEN (CDU).1183 Ungeachtet dessen
interpretierten auch die Oppositionsparteien den Eckpunkt i.S.e. geplanten Verbots gewaltdarstellender Computerspiele, das sie kategorisch ablehnten.1184
Sollen "Killerspiele" aber ein Synonym spezifischer gewaltdarstellender Computerspiele sein,
ist der Begriff nicht hinreichend bestimmt. Nach SACHER 2000 kursierten zwar bereits seit
1983 Pejorative wie "Killer- oder Kriegsspielautomaten"1185 als Synonym gewaltdarstellender
Computerspiele,1186 den Begriff "Killerspiel" verwendeten aber erst die beiden Computerspiel1177
1178
1179
1180
1181
1182
1183
1184
1185
1186
Vgl. MÜHLBAUER 2007.
Vgl. BR-Drs. 764/99, S.6; BT-Drs. 15/88, S.1 und GROTE/SINNOKROT 2006, S.5f..
Zitiert in: NEUBER 2005 und vgl. HARTMANN 2006, S.81.
Gem. Thomas JARZOMBEK (CDU), Beauftragter für Neue Medien der CDU-Landtagsfraktion NRW, ist der Passus insg.
und insb. der Eckpunkt u.U. nur ein Vehikel der politischen Ambitionen der Initiatoren: "[…] Und ich glaube das ist deshalb
in den Koalitionsvertrag – auch wegen Frau Böhmer als Person – hereingekommen, denn das ist ein Zeitpunkt gewesen, wo
zwar die Ministerstellen schon bestellt waren, aber noch nicht die […] parlamentarischen Staatssekretäre. Und das ist alles
genau gelaufen in der Phase wo das Geschacher um diese Positionen war. Und um da irgendwie in den Fokus der Macher, der
Kanzlerin und der Parteivorsitzenden zu kommen, […] muss halt irgendwie demonstrieren, dass man selbst vielleicht besser
ist als andere. […] und mit so einer Aussage bundesweit durch die Medien zu laufen ist natürlich nicht verkehrt, das hilft
einem in so einer Phase. Und das, glaube ich, ist auch der ausschlaggebende Grund dafür gewesen, warum das gerade dann
gelaufen ist. Und in dem Moment, wo die Posten verteilt waren, Frau Böhmer auch Staatsministerin wurde, hat man ja auch
nicht mehr viel davon gehört." (Zitiert in: PÖHLMANN 2006, S.74) I.d.S. auch BIRKE 2006; "mehrfach wurde bestätigt, dass
sie maßgeblich die Absicht eines 'Killerspiel'-Verbots in den Koalitionsvertrag der Bundesregierung von 2005 brachte. Offensichtlich wollte sie sich damit für ihre politischen Ambitionen profilieren. Gleichzeitig ist Böhmer stellvertretende Vorsitzende im ZDF-Fernsehrat, der über die Programminhalte des Senders wacht. In dieser Situation liegt ein starker Interessenkonflikt vor: Einerseits können im Fernsehrat bestimmte Inhalte forciert werden, andererseits dadurch eigene politische
Ambitionen gefördert werden. Und der Sender könnte so formal eine Lobbyistin in höchste politische Ämter pushen. Es ist
deshalb sehr bemerkenswert, dass die intensive Hetze gegen Computerspiele hauptsächlich in ZDF-Sendungen ('Frontal 21',
'aspekte', 'Mona Lisa') läuft [...]." Natürlich dementierte die Politikerin solche Vorwürfe (vgl. BIRKE 2007), sie hatte aber z.B.
bereits 1994 die Aktion "Rote Karte für TV" gegen u.a. Gewaltdarstellungen im Fernsehen und 2003 die Aktion "Rote Karte
gegen Gewalt" initiiert: In der im Rahmen der zweiten Aktion publizierten Broschüre BÖHMER 2003 propagierte sie u.a. ein
expl. "Killerspiel"-Verbot, inkl. eines Besitzverbots, behauptete, das Genre der Egoshooter sei per se gewaltverherrlichendend
und Bildschirmmedien "Tatorte" (S.5), rezitierte alltagstheoretische Imitations- und Desensibilisierungshypothesen und rekurrierte auf die Pseudoexpertise extremster Medienkritiker, wie z.B. Helmut LUKESCH, Rudolf H. WEIß und Werner
GLOGAUER. Bereits bzgl. der ersten Aktion resümierte HAUSMANNINGER 2000: "Deshalb sind auch die organisierten
Boykottaktionen mehr als ärgerlich: Widerstand aller Art sollte es in einer demokratischen Gesellschaft nur bei Bedrohung
ihrer grundsätzlichen Wertentscheidungen geben, nicht aber zum Zweck der Begrenzung ihrer Verwirklichung. Doppelt ärgerlich zudem, weil die Aktion von oben kommt und kein Komplement besitzt. Die berühmte 'Rote Karte' für das Fernsehen,
deren Nutzung übrigens wenig Überlegung voraussetzt, weil die Gründe für die Beschwerde (Gewalt und/oder Sex) schon zum
Ankreuzen vorgedruckt sind, wird von einer Ministerin bereitgestellt." Bereits 1965 hatte der Bundestagsabgeordnete Adolf
SÜSTERHENN (CDU) die "Aktion Saubere Leinwand" initiiert (die bereits nur eine Kopie analoger Aktionen der 1950er
war), gem. KIENZLE 1980 eine "manipulierte Volksbewegung" (S.26), die u.a. für eine rigidere Spruchpraxis der FSK
plädierte; s. auch FERCHL 1980: "140 Bundestagsabgeordnete der CDU/CSU, angefeuert von Prof. Adolf Süsterhenn […],
[…] forderten einen Zusatz zu Art. 5 GG, der die Freiheit von Kunst, Wissenschaft, Forschung und Lehre an die 'Treue zur
Verfassung' und die 'Wahrung der sittlichen Ordnung' binden sollte. Zwar wurde dieser Grundgesetzänderungsantrag zeitweise
von der Hälfte der CDU/CSU-Fraktion unterstützt, hatte jedoch keinen Erfolg." (S.216)
Vgl. DEGENHARDT 2005.
Vgl. BStMAS, Pressemitteilung 635.05 v. 17.11.2005.
Vgl. GRAFF 2005a.
Am 24.01.2006 votierte z.B. die Bundestagsfraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN per Fraktionsbeschluss gegen Verbotsambitionen sog. "Killerspiele" betreffend und auch die FDP-Kommission für Internet und Medien plädierte im Namen der
Partei am 23.03.2006 gegen solche Verbote (vgl. KREMPL 2006a). Selbst die nordrhein-westfälische CDU kritisierte den
Eckpunkt, der z.B. gem. Familienminister Armin LASCHET (CDU) "reißerisch" (zitiert in: LUIBL 2006) sei. Thomas
JARZOMBEK (CDU), Beauftragter für Neue Medien der CDU-Landtagsfraktion NRW, propagierte i.d.S. zynisch ein "Elternverbot statt Computerspieleverbot" (zitiert in: WILKENS 2005).
KOLFHAUS 1988b, S.168.
Vgl. SACHER 2000, S.175.
216
journalisten FORSTER/WEITZ 1991. Die erste Verwendung des Begriffes im politischen
Tagesgeschäft als Synonym gewaltdarstellender Spiele wurde bereits im Rahmen der Bundestagsdebatte "Gewalt und Gesellschaft – Ursachen erkennen, Werte vermitteln, friedliches
Zusammenleben stärken" vom 03.07.2002 dokumentiert, als Angela MERKEL (CDU), Parteivorsitzende der CDU, proklamierte: "Es ist Zeit gegen Gewalt und insbesondere gegen Darstellung von Gewalt in den Medien konsequenter vorzugehen. In diesem Punkt können wir alle
noch mehr tun. Wir können erstens schwer jugendgefährdendes Material schlicht und ergreifend
verbieten. Nur so können wir verhindern, dass brutalste Videos und Computerspiele von älteren
Freunden gekauft oder ausgeliehen und dann an die Jüngeren weitergegeben werden. Es ist
richtig, den Zugang zu gewaltverherrlichenden Videos und Computerspielen zu erschweren;
denn Killerspiele sind keine Spiele."1187
Ungeachtet dessen existiert aber z.B. kein Genre der "Killerspiele". HÖLTGEN 2006
argumentiert i.d.S., dass der englisch-deutsche Neologismus insb. einen Diskurs transportiert:
"Wer heute das Wort 'Killerspiele' benutzt, der tut dies nicht innerhalb einer zur Neutralität
verpflichteten Unterhaltung […]. […] Vielmehr wird das Wort genau dann benutzt, wenn man
möchte, dass sich beim Zuhörer oder Leser bestimmte Evokationen einstellen. Wenn jemand
'Killerspiele' sagt, schwingen sofort Diskurse über 'Gewalt und Medien' und nicht zuletzt eben
auch über 'Amoklauf und Schule' mit. Aufgrund der Tatsache, dass 'Killerspiele' immer dann
auftauchen, wenn etwas Schreckliches passiert ist, was angeblich mit ihnen zu tun haben soll,
kann man das Wort gar nicht benutzen, ohne das mit ihm in Verbindung gebrachte schreckliche
Geschehen mitzumeinen."1188 I.d.S. warnen auch HEITMEYER/HAGAN 2002:
Ein mit pejorativ besetzten Begriffen und Formulierungen vorgehender Diskurs, der den […] Gegenstand
immer schon be- bzw. entwertet und quasi mit gerümpfter Nase und angewidert mit den Fingerspitzen hin
und herwendet, ist in der "Skandalisierungsfalle". Zudem befindet er sich immer schon in der
"Moralisierungsfalle", bei der es nicht um Analyse geht, sondern darum, unter Bezug auf axiomatisch
angesetzte Vorstellungen von "Gut" und "Böse", Betroffenheit zu erzeugen. Die Frage an den Leser,
Zuhörer lautet immer: gehörst Du auch zu diesem Schund? Bist Du nicht auch Teil der anständigen
Bevölkerung? Dass die hierbei vorgetragenen Argumente und Beweise auch in der "Reduktionsfalle"
sind, bei der einfachste Erklärungen für komplexe Phänomene vorgenommen werden, liegt auf der Hand.
[…] Brisant wird es […], wenn mit Meinungen, die sich als Wissen(schaft) ausgeben und solchermaßen
interpretiert werden, Politik betrieben wird. Indem einfachste Erklärungen und Reduktionen vorgenommen werden, Moralisierung betrieben und Betroffenheit erzeugt werden soll, wird in Absehung von
komplexen sozialen und politischen Ursachenzusammenhängen "eine moralische Selbstentlastung wie
politische Erleichterung von Herrschenden betrieben (...), die repressiven administrativen Maßnahmen
Vorschub" leisten. Gerade da solche Erklärungsansätze einfach und eingängig sind, finden sie weite Verbreitung und finden solche politischen Forderungen, die die entsprechend administrativen Maßnahmen
fordern, ihre Mehrheit.1189
Ein (insg. skandalisierende Darstellungen der gewaltdarstellenden Spiele akzentuierendes)
Pejorativum wie "Killerspiel" hat i.d.S. auch die konkrete politische Funktion, den Diskurs
gleichermaßen zu emotionalisieren und zu hermetisieren, so dass nur noch die opportunen
Meinungen der Verbotsproponenten öffentlich artikuliert werden und das (niedrige) Prestige
gewaltdarstellender Spiele noch mehr reduziert wird. Je niedriger aber gem. BUCHLOH 2002
das Prestige eines Mediums ist, "das Gegenstand von Zensurmaßnahmen wird, desto weniger
werden gesellschaftliche Gruppen und andere Medien bereit sein, sich für die Freiheit des
zensierten Medium einzusetzen."1190 Diesbzgl. interessant sind auch die Resultate der Studie
IVORY/KALYANARAMAN 2009: "We found that consideration of a specific violent video
game, as opposed to violent video games in general, leads to lower perceived media effects on
others and diminished support for censorship. […] our findings indicate that considering a
specific violent video game can reduce perceptions of negative media effects and support for
censorship compared to considering violent video games in general."1191 D.h. dass den Verbotsproponenten eine Skandalisierung nicht näher spezifizierter "Killerspiele" tatsächlich (intuitiv)
1187
1188
1189
1190
1191
Zitiert in: BT-PlPr 14/247, S.24983.
Dgl. SLOTOSCH 2006.
Vgl. HEITMEYER/HAGAN 2002, S.21.
BUCHLOH 2002, S.131.
IVORY/KALYANARAMAN 2009, S.9.
217
sachdienlicher sein könnte, als die konkreter gewaltdarstellender Spieletitel. Letztlich müssen
die Medienkritiker sich auch nicht die Blöße geben, über Spiele zu referieren, die sie gar nicht
oder nur vom Hörensagen kennen. I.d.S. ist der Begriff "Killerspiel" (insb. ohne Anführungszeichen) aber auch ein Indiz für eine fehlende Expertise. Dgl. gilt für analoge Pejorative.
Ungeachtet dessen konstatierte die Bundesregierung letztlich am 07.08.2006, dass ihr eine
rechtliche Definition des Begriffs nicht bekannt ist,1192 so dass der Eckpunkt nur eine Leerformel war.
Ungeachtet dessen propagierten die LIM am 03.03.2006 im Rahmen der Tagung der Unionsinnenminister im sachsen-anhaltischen Wanzleben im Rekurs auf den Koalitionsvertrag ein "Killerspiel"-Verbot und kritisierten gem. Pressemitteilung, "dass die im JugendmedienschutzStaatsvertrag [sic] vereinbarte Prüfung der Spiele durch die 'Unterhaltungssoftware Selbstkontrolle' nur sehr mangelhaft funktioniert und nicht mit dem Jugendschutzrecht in Einklang
stehe."1193 Die Minister verwechselten also offenbar bereits das JuSchG mit dem JMStV. Der
hessische LIM Volker BOUFFIER (CDU) resümierte: "Wir beobachten die zunehmende
Gewaltbereitschaft gerade von Kindern und Jugendlichen mit großer Sorge. Deshalb muss
konsequent gegen Spiele, die Gewalt in jeder Form verherrlichen, vorgegangen werden. Dazu
sollte das Jugendschutzgesetz insofern geändert werden, dass eine niedrigere Eingriffsschwelle,
durch das Streichen des Wortes 'offensichtlich' jugendgefährdend, erreicht wird."1194 Aber die
LIM konnten weder eine nur sehr mangelhaft funktionierende und nicht mit dem Jugendschutzrecht in Einklang stehende Spruchpraxis der USK, noch eine medieninduziert(!) zunehmende
Gewaltbereitschaft insb. von Kindern und Jugendlichen demonstrieren. Auch ignorierte der
hessische LIM nicht nur, dass u.a. gewaltverherrlichende Medien bereits seit ca. 33 Jahren nach
§ 131 StGB verboten waren, sondern dass infolge des Streichens des Adjektivs "offensichtlich"
z.B. im Rahmen des § 15 Abs. 5 JuSchG, gem. dem offensichtlich schwer jugendgefährdende
Medien den Rechtsfolgen der Indizierung unterliegen, ohne dass es einer Aufnahme in die Liste
und einer Bekanntmachung bedarf, die Norm so unbestimmt wäre, daß sie keine verläßliche
Beurteilung des Einzelfalls mehr erlauben würde und deswegen Vertrieb und Handel im
Interesse der Strafvermeidung zwänge, mehr Publikationen als erforderlich zurückzuhalten.
Nach höchstrichterlicher Rechtsprechung ist das Merkmal der Offensichtlichkeit aber notwendig für die Bestimmtheit der Norm!
Die Tagung initiierte ungeachtet dessen eine Verbotsdebatte, die insb. diverse Unionspolitiker
prolongierten. Die FDP-Bundestagsfraktion stellte aber am 20.07.2006 eine diesbzgl. Kleine
Anfrage ("Jugendmedienschutz und das Verbot von Computerspielen"), die u.a. interessierte,
wie die Bundesregierung die USK beurteilte und ob die Regierung der Auffassung war, "dass
das deutsche Strafrecht im Hinblick auf Unterhaltungssoftware verschärft werden muss?"1195
Die Antwort der Regierung vom 07.08.2006 attestierte der USK einerseits eine "hohe Qualität
bei der Altersfreigabe von Computerspielen"1196 und konstatierte andererseits, dass derzeit insg.
kein gesetzgeberischer Handlungsbedarf im StGB im Hinblick auf Unterhaltungssoftware
gesehen wurde.1197
19.
Das "Forschungsprojekt zu gewaltverherrlichenden Computerspielen"
Das Niedersächsische Ministerium für Inneres und Sport verkündete aber am 18.09.2006 ein
"Forschungsprojekt zu gewaltverherrlichenden Computerspielen" des KFN im Auftrag des
Ministeriums (das selbst im Auftrag der Konferenz der Unionsinnenminister handelte), das den
"Jugendschutz bei Killerspielen" untersuchen sollte. Ungeachtet der irreführenden Überschrift
präzisierte die Pressemitteilung: "In einem ersten Schritt werden […] die Inhalte von rund 90
Computerspielen ermittelt, die unterschiedliche Alterseinstufungen erhalten haben. Danach
1192
1193
1194
1195
1196
1197
Vgl. BT-Drs. 16/2361, S.4 und BT-Drs. 16/4818, S.148.
Vgl. Ministerium für Inneres und Sport des Landes Sachsen-Anhalt, Pressemitteilung Nr. 049/06 v. 03.03.2006.
Zitiert in: Ministerium für Inneres und Sport des Landes Sachsen-Anhalt, Pressemitteilung Nr. 049/06 v. 03.03.2006.
Vgl. BT-Drs. 16/2287, S.2.
BT-Drs. 16/2361, S.2.
BT-Drs. 16/2361.
218
werden die entsprechenden Gutachten der USK überprüft, in wie weit die Einstufungen nachvollziehbar sind oder es nach den Regeln des Jugendmedienschutzes zu anderen Bewertungen
hätte kommen müssen. Auf der Basis der gewonnenen Erkenntnisse sollen anschließend in einer
Arbeitsgruppe unter Einbindung des Jugend- und Kultusministeriums Konsequenzen ermittelt
und ein Konzept mit dem Ziel einer gemeinsamen Initiative von Bund und Ländern erarbeitet
werden. Schünemann und Pfeiffer waren sich darin einig, dass der Jugendschutz bei Gewalt
verherrlichenden Computerspielen deutlich verbessert werden muss."1198 Der Endbericht sollte
am 31.05.2007 der Jugendministerkonferenz präsentiert werden.1199
Der niedersächsische LIM Uwe SCHÜNEMANN (CDU) war seit der Innenministerkonferenz
(IMK) im März desselben Jahres der insg. aktivste politische Proponent eines "Killerspiel"Verbots geworden,1200 der im Lichte (staatsautoritärer) Ressentiments ggü. der Computerspielindustrie u.a. auch eine Verstaatlichung der USK, resp. der Alterskennzeichnung von Computerspielen propagierte und insistierte: "Gewaltverherrlichende Spiele, bei denen es ums Töten geht,
1198
1199
1200
Niedersächsisches Ministerium für Inneres und Sport, Pressemitteilung v. 18.09.2006.
Vgl. SEEL 2006.
Konnte Uwe SCHÜNEMANN (CDU) noch im Juni 2006 auch auf Nachfrage kein konkretes "Killerspiel" nennen, dass eine
neue Verbotsnorm erfassen könnte (vgl. STÖCKER 2006d), definierte der LIM am 01.12.2006 i.S.d. soufflierenden KFN
"Killerspiele" wie folgt: "Das sind Gewalt verherrlichende Computerspiele, in denen menschenverachtende Szenen gezeigt
werden. Das Töten von Menschen ist Sinn und Inhalt dieser Spiele. Ich meine Computerspiele, in denen zum Beispiel Passantinnen hinterrücks mit einem Messer die Kehle durchgeschnitten wird, in denen Gliedmaßen mit einer Kettensäge abgetrennt werden, in denen Blut spritzt oder man Blutlachen sieht. Als Beispiele möchte ich die Spiele GTA San Andreas und Der
Pate anführen." (zitiert in: SCHMIDT 2006, S.175) Ungeachtet dessen, dass eine Strafbarkeit der skizzierten Bluteffekte
absurd wäre und keines der Bsp. ohne Kontext der skizzierten Gewaltdarstellungen eine (pauschal Gewaltdarstellungen per se
attestierte) Gewaltverherrlichung o.ä. indizieren kann, ist nicht überraschend, dass die beiden Spiele die Paradebeispiele seines
Souffleurs Christian PFEIFFER für eine Dysfunktionalität des Jugendmedienschutzes waren: Das ignoriert aber, dass beide
Spiele in Punkto Gewaltdarstellung relativ unspektakulär sind und dass z.B. GRAND THEFT AUTO: SAN ANDREAS nur zensiert
in Deutschland publiziert wurde; die unzensierte Version indizierte die BPjM im Januar 2009. Der LIM fantasierte am
08.12.2006 in der 108. Sitzung des niedersächsichen Landtags im Rekurs auf einen Vorabbericht des KFN-Forschungsberichts
Nr. 101 (s.u.): "Die USK hat in ihrem Gutachten dargestellt, dass ihr von dem Spiel nur eine englischsprachige Betaversion
vorgeführt worden ist und das Handbuch überhaupt nicht vorgelegen hat. In diesem Handbuch aber wird genau dargestellt, wie
man dieses Spiel umsetzen sollte. Danach soll man zunächst einmal mit einer Kettensäge die Arme absägen, es soll gequält
werden, und erst in letzter Instanz soll man dann den Tötungsvorgang vornehmen. Das gibt die meisten Punkte. Dies steht in
dem Handbuch, das der USK noch nicht einmal vorgelegen hat. Dieses Spiel ist dann ab einem Alter von 16 Jahren freigegeben worden. Ich muss mich fragen, ob diese Klassifizierung richtig ist." (Niedersächsischer Landtag, Stenografischer
Bericht der 108. Sitzung v. 08.12.2006, S.24) Einerseits konstatiert das der Endbericht des KFN aber gar nicht (mehr),
andererseits wird auch im Handbuch des Spiels nichts dgl. dargestellt; letztlich kann man nämlich z.B. die Arme (o.a. Gliedmaßen) im Rahmen des Spiels gar nicht absägen o.ä.. Am selben Tag konstatierte der LIM (der selbst nicht spielt): "Bei den
'Killerspielen' geht es darum, dass die Spieler selbst zum Töten animiert werden. Sie müssen auf einen Knopf drücken. Dadurch wird etwa ein Arm mit einer Kettensäge abgetrennt. Diese Handlung wird zudem positiv bewertet, wenn man sein Opfer
zuvor quält. Fürs Arm-Abtrennen gibt es 100 Punkte, fürs Kopf-Abtrennen 1000 Punkte." (zitiert in: GÜßGEN 2006) Einerseits demonstriert die semantische Nichtdifferenzierung zwischen Realität und Fiktion gem. HÖLTGEN 2006 den pornographischen Blick des LIM: "Werden die Spieler zum Töten in der virtuellen oder in der 'realen' Realität animiert? […] Die
konsequente Vermischung bzw. Verwechslung von Realität und Virtualität, sonst selbst als pathologisch eingestuft, wird vom
Redner hier rhetorisch vollzogen, um einen nach seiner Meinung im Spielen verborgenen krankhaften Zug zu offenbaren."
Eine Argumentationspraxis, die nicht nur im Rahmen unzähliger Indizierungsentscheidungen, sondern auch bei diversen
Medienkritiker, wie auch dem Gros der Verbotsproponenten populär war; so definierte bspw. Edmund STOIBER (CSU)
"Killerspiele" als Spiele, "in denen Mord und Totschlag propagiert und dazu angeleitet wird." (zitiert in: WEILAND 2006)
Andererseits proklamierte Klaus ENGEMANN, Pressesprecher des niedersächsischen Ministerium für Inneres und Sport, auch
noch im April 2007, dass der LIM das Spiel GRAND THEFT AUTO: SAN ANDREAS referiert habe: "Kettensägen, brutalste
Tötungsszenen – aber freigegeben ab 16." (zitiert in: LISCHKA 2007) Superlative Gewaltdarstellungen präsentiert das Spiel
aber gar nicht; i.d.S. korrigierte Jochen FÄRBER, Pressesprecher der Take 2 Interactive GmbH: "Es gibt in dem Spiel eine
Kettensäge und wenn man mit ihr Menschen berührt, fallen sie um. Brutalste Tötungsszenen sind nicht möglich, man kann
keine Gliedmaßen absägen oder so etwas." (zitiert in: LISCHKA 2007) Das einzige spielmechanisch analoge Spiel, das
zumindest das (i.w.S. punktbewehrte) Abtrennen der Gliedmaßen per Kettensäge ermöglicht (aber ohne dass das Handbuch
das seitens des LIM skizzierte darstellt), ist die nicht gekennzeichnete (und infolge dessen nie in der BRD veröffentlichte), unzensierte und seit Mai 2007 indizierte, resp. seit November 2007 gem. § 131 StGB beschlagnahmte (und inhaltsgleiche)
Version(en) des Spiels SCARFACE – THE WORLD IS YOURS. Das Bsp. führt u.a. den Vorwurf, dass § 131 StGB bzgl. (vermeintlich) gewaltverherrlichenden Spielen nicht anwendbar sei, ad absurdum. Der LIM fantasierte aber selbst noch am 27.03.2009
im Rahmen der politischen ZDF-Talkshow MAYBRIT ILLNER (infolge des sog. Amoklaufs von Winnenden): "Es ist so, dass es
tatsächlich zunächst einmal eine Version gibt, wo es noch nicht so weit geht, dass man mit Kettensägen zunächst einmal Arme
usw. dann abtrennt und man kriegt mehr Punkte, wenn man dann erst zum Schluss diese Tötung vornimmt. Aber man kann
über das Internet einen Patch drauf bringen, wo wir dann anschließend genau diese Brutalität haben." Als Beleg präsentierte
der LIM der Kamera eine CD; nur das Trägermedium, nicht den Inhalt! Kilian RICKEN, Manager des E-Sport-Clans
N!FACULTY, dem der LIM die CD anvertraute, proklamierte im Rahmen des Chats nach der Sendung, dass sie nur Ausschnitte
der spiele GRAND THEFT AUTO: SAN ANDREAS und DER PATE demonstriere (höchstwahrscheinlich eine Präsentation des
KFN); ungeachtet dessen, dass nur für die zensierte Version des ersten Spiels ein sog. (inoffizieller) Bloodpatch existiert, der
auch nur die Zensuren revidiert, kann das auch kein Agrument gegen die Spiele selbst sein. Der LIM hatte (und hat) offensichtlich keine Fachkompetenz bei Computerspielen, wie auch beim Thema des Jugendmedienschutzrechts.
219
haben nichts in den Händen von Kindern und Jugendlichen zu suchen."1201 Tatsächlich war die
Alterskennzeichnung von Spielen aber einerseits bereits seit Inkrafttreten des JuSchG die
Aufgabe der OLJB, andererseits waren auch gewaltverherrlichende Spiele seit Jahrzehnten
verboten (s.o.). Die Mangelexpertise ist aber nicht überraschend, denn bereits im Juni hatte der
LIM kommentiert, FRONTAL21 hätte ihn zu seinem Engagement inspiriert.1202
Christian PFEIFFER, Direktor des KFN, der spätestens bereits seit 1999 mediale Gewaltdarstellungen monierte,1203 war im Laufe des Jahres der berüchtigste Kritiker gewaltdarstellender
Computerspiele geworden und kolportierte bereits am 19.09.2006, dass die Tester der USK die
Jugendschutzsachverständigen der Organisation systematisch manipulierten und indignierte:
"Ich kann nicht begreifen, dass solche Spiele auf dem Markt sind."1204 Beides suggerierte i.V.m.
bspw. dem letzten Satz des zitierten Exzerpts der insg. dekuvrierenden Pressemitteilung, dass
die Resultate des Projekts u.U. bereits im Vorfeld feststanden, wie auch u.a. auch einen Monat
später demonstriert wurde (s.u.).
I.d.S. monierte die USK am 22.09.2006: "Wir sehen in den Äußerungen [...] mehr als nur eine
Herabwürdigung dieses zu großen Teilen ehrenamtlichen Engagements. Die Wirkung solcher
auf öffentliche Aufmerksamkeit statt Sachlichkeit zielenden Politik geht aber noch weiter: Sie
bewirkt die Schwächung dessen, wofür sie vorgibt einzutreten: den Jugendschutz. Denn wieso
sollten Handel, Eltern und Pädagogen einem System vertrauen und es unterstützen, das in der
Öffentlichkeit als ungenügend gebrandmarkt wird? Wir hoffen, noch immer, dass die Diskussion wieder auf eine sachliche Grundlage zurück findet und sich auf die klaren rechtlichen
Regelungen bezieht, anstatt vermeintliche Erkenntnisse aus Forschungsvorhaben zu ziehen, die
noch nicht einmal richtig begonnen wurden."1205
Ungeachtet dessen war das Projekt insg. auch a priori redundant: Einerseits hatten der Bund
und die Länder bereits am 08.03.2002 eine Evaluierung der Neuregelung und Neustrukturierung
des Jugenschutzes innerhalb eines Zeitraums von fünf Jahren nach Inkrafttreten des JuSchG
beschlossen.1206 Andererseits diktierte auch der Koalitionsvertrag die schnellstmögliche
Evaluierung des JuSchG noch vor März 2008; i.d.S. hatten Bund und Länder im Rahmen der
Jugend- und Familienministerkonferenz der Länder bereits am 18./19.05.2006 den Beginn der
offiziellen Evaluation noch im selben Jahr beschlossen, der Endbericht sollte spätestens Ende
2007 präsentiert werden. Beauftragt wurde infolge dessen das HBI, das die Evaluierung im
Oktober 2006 startete und den Endbericht ein Jahr später präsentieren sollte.1207
Das Forschungsprojekt flankierte am 20.10.2006 ein neuer Bericht des Autors Rainer FROMM
im Rahmen des ZDF-Kulturmagazins ASPEKTE: "Wie Kinder Spaß am Morden finden."1208 Der
Titel des Berichts demonstrierte abermals das typische Niveau der Sendebeiträge des Autors:
Bereits die Moderatorin Luzia BRAUN kolportierte, dass "jeder" Computerspiele ungeachtet
der (erst gar nicht thematisierten) Rechtsverbindlichkeit der Alterskennzeichen "überall" kaufen
könne. Der Autor selbst warf der USK (und insb. dem Beirat derselben) eine jugendmedienschutzrechtliche Orientierungslosigkeit, resp. eine generelle Inkompetenz vor, kritisierte, dass
die Alterskennzeichen nur "Gütesiegel" seien und propagierte eine restriktivere Spruchpraxis
der USK, wie auch die Steigerung einer Indizierungsquote. Der Bericht nahm i.d.S. bereits ein
1201
1202
1203
1204
1205
1206
1207
1208
Zitiert in: ZIEGLER 2006.
Vgl. STÖCKER 2006d: Der LIM übernahm u.a. die quantitative Argumentation des ZDF-Politmagazins v. November 2004,
dass die USK insg. 3.500 Spiele geprüft habe und nur 23 Spiele nicht gekennzeichnet worden seien; Zahlen, die bereits über 1
½ Jahre vorher falsch waren, auch stagnierte die Prüfpraxis der USK seitdem nicht! De facto hatte die Organisation seit 1994
ca. 15.444 Spiele geprüft, zwischen 2003 und (einschl.) 2005 insg. 6.644 Spiele. Die USK kennzeichnete seit 2003 insg. 91
Spiele nicht; nur 2005 z.B. bereits 40 Spiele. LANGER 2006 kommentierte: "Wer sich nicht auskennt, der argumentiert wie
Uwe Schünemann, dass von der USK einfach nicht genügend Spiele aus dem Verkehr gezogen würden. Das hat die
bestechende Logik einer sozialistischen Polizeistaat-Planwirtschaft: die Festnahmen-Quote muss erfüllt werden, auch wenn es
nicht genug Verbrecher gibt."
Vgl. EISERMANN 2001, S.39f..
Zitiert in: Klaß 2006.
USK, Pressemitteilung v. 22.09.2006.
Vgl. BT-Drs. 14/9013, S.34.
USK, Pressemitteilung v. 22.09.2006.
Bzgl. einer Transkription s. SOMMERAUER 2009, S.107f..
220
Gros der Resultate des KFN-Forschungsberichts Nr. 101 vorweg (s.u.).
Abermals sekundierten drei LIM der Kritik an der USK: Der sachsen-anhaltinische LIM Holger
HÖVELMANN (SPD) behauptete, die USK diene nicht dem Jugendschutz, sondern primär den
monetären Interessen der Industrie. Der Kommentar des sächsischen LIM Albrecht BUTTOLO
(CDU) ist nicht nur für die Mangelexpertise der Verbotsproponenten, sondern auch für das
Argumentationsniveau und die fragwürdige Logik der Kritik an der USK exemplarisch: "Für
mich sind einige Spiele völlig unakzeptabel, ob nun ab 16 oder ab 18. Eine unabhängige Stelle
müsste dies natürlich dann auch so sehen und das Töten von Menschen unabhängig von der
Altersgrenze als nicht marktfähig wegnehmen." Nicht überraschend forderte letztlich auch
Niedersachsens LIM Uwe SCHÜNEMANN (CDU) Herstellungs- und Verbreitungsverbote und
für das Altersfeigabeverfahren bei Computerspielen: "Das gehört auf jeden Fall in staatliche
Hände, das muss von den Jugendministern in Zukunft anders organisiert werden, die USK kann
das in Zukunft sicherlich nicht machen." Christian PFEIFFER präsentierte letztlich einen Monat
nach Beginn die ersten Resultate des (noch acht Monate laufenden) Forschungsprojekts:
"Bereits das Spielen der ersten zwanzig Spiele [...] weckt bei uns massive Zweifel daran, dass
das System funktioniert. Bei einigen Spielen würden wir sagen 'überhaupt nicht für den Markt
geeignet', bei anderen eine höhere Alterseinstufungen empfehlen. Also müssen wir in den
Dialog treten, mit der USK, um zu prüfen, woran liegt’s, dass das so, aus unserer Sicht, falsch
läuft?" Der Dialog kam aber nie zustande.
20.
Der sog. Amoklauf von Emsdetten vom 20. November 2006
Inmitten dieser Situation radikalisierte der sog. Amoklauf von Emsdetten vom 20.11.2006 die
Kritik an gewaltdarstellenden Computerspielen: Hardliner wie Jörg SCHÖNBOHM (CDU),
Günther BECKSTEIN (CSU), Uwe SCHÜNEMANN (CDU) und Edmund STOIBER (CSU)
kritisierten bereits am Tattag reflexhaftig die USK und propagierten "Killerspiel"-Verbote;
Dieter WIEFELSPÜTZ (SPD), der innenpolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion,
kritisierte z.B. "blitzschnelle Erklärungsmuster" und konstatierte gleichzeitig: "Ich bin sehr
dafür, ein Verbot von Killerspielen in Betracht zu ziehen."1209 Auch Wolfgang BOSBACH
(CDU), stellvertretender Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, argumentierte am 21.
11.2006: "Sollte sich tatsächlich herausstellen, dass der […] Täter sich über einen längeren Zeitraum und intensiv mit so genannten Killerspielen beschäftigt hat, müsste der Gesetzgeber nun
endlich handeln."1210 Einerseits ist die Meinungsäußerung im Lichte der Problematik, dass der
Begriff "Killerspiel" ein Blankettbegriff ist i.V.m. der Universalität des Phänomens Computerspiele(n) eine Farce, andererseits propagierte der stellvertretende Vorsitzende noch am selben
Tag in der PHOENIX-Sendung DER TAG ein "Killerspiel"-Verbot und negierte entsprechende
verfassungsrechtliche Bedenken. Sowohl Edmund STOIBER (CSU),1211 als auch Uwe
SCHÜNEMANN (CDU) kündigten zeitgleich Bundesratsinitiativen für ein "Killerspiel"-Verbot
an.1212 Am 23.11. proklamierte selbst Ulrich WILHELM (CDU), Sprecher der Bundesregierung
und Chef des Bundespresseamts, ungeachtet der Positionierung der Regierung von vor ca. drei
Monaten: "Die Regierung will hart durchgreifen."1213 Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU)
warnte aber vor einer parteipolitischen Instrumentalisierung der Tat.1214 Die Massenmedien
sekundierten aber bereits der Kritik an der USK, wie auch an gewaltdarstellenden Computerspielen.1215
1209
1210
1211
1212
1213
1214
1215
Zitiert in: NEUERER 2006.
Zitiert in: NEUERER 2006.
Vgl. FISCHER 2006a und STÖCKER 2006c.
Vgl. KURI 2006.
Zitiert in: LUTZ 2006.
Vgl. LUTZ 2006.
Vgl. LANGER 2006, S.14 und STÖCKER 2006e. Den Zenit der falsch- und fehlinformativen Diffamationen markierte drei
Tage nach der Tat ein Bericht des ZDF-Politmagazins KONTRASTE der Autoren Steffen MAYER und Ursel SIEBER: "Killerspiele als Gebrauchsanweisung zum Morden." Der Bericht präsentierte die obligatorischen Skandalisierungen der Spielinhalte,
suggerierte, die USK sei korrupt (formuliere bspw. nur Gefälligkeitsgutachten für die Industrie) und kolprotierte, die
Kriminalitätsstatistik demonstriere die Steigerung einer (medieninduzierten) Gewaltkriminalität insb. der Kinder und Jugendlichen: "Für Wissenschaftler messbar werden im Gehirn gewalttätige Verhaltensmuster festgeschrieben. […] Gewalttätigkeit
221
Die Verbotsproponenten konnten eine am 30.11.2006 veröffentlichte Ausarbeitung der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages bzgl. des Themas "Rechtmäßigkeit einer
bundesgesetzlichen Verbotsregelung für die Einfuhr, den Verkauf und die Vermietung von
gewaltverherrlichenden Computerspielen ('Killerspiele')" referieren, die bereits am 15.08.2006
publikationsreif war, aber (u.U. im Lichte der Antwort der Bundesregierung vom 07.08.2006;
s.o.) nicht publiziert wurde. Die Autoren GROTE/SINNOKROT 2006 resümierten, dass der
Gesetzgeber generell nicht gehindert sei, "ein Einfuhr-, Verkaufs-, Vermiet und Verleihverbot
für 'Killerspiele' zu erlassen. Eine solche Regelung würde nicht per se gegen das Grundgesetz
verstoßen. Jedoch ist im Hinblick auf die Berufsfreiheit der Hersteller und Händler dem
Grundsatz der Verhältnismäßigkeit besondere Beachtung zu schenken. Darüber hinaus bedarf
eine solche Regelung zur Wahrung der Bestimmtheit einer genauen Definition dessen, was als
'Killerspiel' unter den Tatbestand fallen soll."1216 Nach Auffassung der Autoren seien "Killerspiele" solche Computerspiele, "in denen das realitätsnah simulierte Töten von Menschen in der
fiktiven Spielwelt wesentlicher Bestandteil der Spielhandlung ist und der Erfolg des Spielers im
Wesentlichen davon abhängt. Dabei sind insbesondere die graphische Darstellung der
Tötungshandlungen und die spielimmanenten Tötungsmotive zu berücksichtigen."1217
Der Titel der Ausarbeitung demonstriert aber ihre Redundanz, denn gewaltverherrlichende
Spiele waren ja bereits nach § 131 StGB verboten. Auch sollte der Jugendmedienschutz, ungeachtet z.B. der diesbzgl. konträren (und nicht thematisierten) höchstrichterlichen Rechtsprechung, umfassende Verbotsnormen legitimieren können. Die Autoren formulierten bzgl. des
elterlichen Erziehungsrechts i.d.S. eine (verfassungswidrige) Verletzung des Subsidiaritätsprinzips, die sie gar als Realisierung desselben darstellten: Der Staat müsse dort eingreifen, "wo
Eltern aus welchen Gründen auch immer versagen oder nicht in der Lage sind, den ausreichenden Schutz der Kinder zu gewährleisten. Angesichts des zunehmenden Einflusses und
der immer leichteren Verfügbarkeit von medialen Informationen und Inhalten scheint eine
Stärkung der Schutzaufgabe des Staates erforderlich. Ein staatlicher Eingriff in das Elternrecht,
der bestimmte mediale Inhalte verbietet und damit ein Stück der medialen Erziehungskompetenz der Eltern beschneidet, dürfte daher nach Abwägung mit dem staatlichen Schutzauftrag im Bereich des Jugendschutzes im Ergebnis als zulässig zu bewerten sein."1218
Auch thematisiert die Ausarbeitung weder einen evtl. Verstoß gegen das Zensurverbot, noch
gegen die Wesensgehaltsgarantie ggü. den Kommunikationsfreiheiten oder evtl. Verstöße gegen
die Berufsfreiheit.1219 Die Rechtmäßigkeit einer bundesgesetzlichen Verbotsregelung konnte sie
insg. nicht demonstrieren, insb. auch nicht im Lichte des etablierten Jugendmedienschutzes, der
bereits einen ausreichenden Schutz der Jugend gewährleisten soll. Ungeachtet dessen rezitierte
auch der parlamentarische Staatssekretär Hermann KUES (CDU) im Auftrag des BMFSFJ
infolge einer entsprechenden Anfrage der Bundestagsfraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN am
1216
1217
1218
1219
wird tief verinnerlicht und verfestigt." Die Agitation kulminierte gar in der alarmistischen Warnung: "Gewalttätige [sic]
Computerspiele sind eine wichtige Ursache für Amokläufe." I.d.S. propagierte der Bericht die Notwendigkeit eines "Killerspiel"-Verbots; die Autoren demonstrierten aber nur Gewaltdarstellungen aus ohne Jugendfreigabe gekennzeichneten oder (im
Fall der unzensierten Version des Spiels GRAND THEFT AUTO: SAN ANDREAS) nicht in Deutschland publizierten Spielen, die
Kindern und Jugendlichen (ungeachtet des sog. Erzieherprivilegs) generell nicht zugänglich gemacht werden dürfen. Kurios
war auch die markttechnische Naivität der Autoren, die konstatierten: "Bei einem Verbot müsste die Industrie sich umstellen,
sie würde nicht riskieren, Millionen Euro in die Entwicklung eines Killerspiels zu stecken, wenn es dann nicht massenhaft
verkauft werden kann." Tatsächlich wird das Gros (insb. evtl. indizierungsrelevanter) Spiele aber gar nicht in Deutschland
entwickelt; MÜLLER-LIETZKOW 2007a: "[...] Produktionen mit Budgets jenseits der Ein-Millionen-Euro-Grenze werden
grundsätzlich für internationale Märkte entwickelt. Wie bedeutsam ist da überhaupt die nationale deutsche Gesetzgebung für
Entscheidungen? Mit 1,3 Milliarden Euro Software-Umsatz 2006 ist Deutschland ein durchaus ernst zu nehmender Markt
innerhalb Europas. Daraus folgt allerdings keinesfalls, dass Produzenten bei strengeren deutschen Gesetzen auf gewalthaltige
Spiele verzichten würden, da sowohl der US-amerikanische als auch der asiatische Markt diese Spiele fordern und in ihrer
Größe den deutschen weit übertreffen. Anders formuliert: Die Situation eines einzelnen Teilmarktes beeinflusst die Entscheidungen der internationalen Publisher grundsätzlich wenig." (S.2) Die Moderatorin Silke BÖSCHEN behauptete gar
moralpanisch, dass nicht nur Einzeltäter, sondern "ganz viele Kinder" dank der Spiele "verdummen und verrohen" würden.
GROTE/SINNOKROT 2006, S.3.
GROTE/SINNOKROT 2006, S.5.
GROTE/SINNOKROT 2006, S.3.
Vgl. SCHULZ/BRUNN/DREYER et al. 2007, S.77-86.
222
01.12.2006 nicht nur das generelle Lob der Bundesregierung vom August 2006 ggü. der USK,
sondern konstatierte auch (abermals), dass gewaltverherrlichende Computerspiele bereits nach §
131 StGB verboten seien und generell die erfolgreiche Beendigung der offiziellen Evaluierung
des Jugendmedienschutzsystems durch das HBI vor evtl. legislatorischen Maßnahmen vorrangig sei.1220
Trotzdem präsentierte der bayerische LIM Günther BECKSTEIN (CSU) bereits am 05.12.2006,
ca. zwei Wochen nach dem Schulamoklauf, in Rekordzeit seine ersten "Arbeitshypothesen"
eines "Killerspiel"-Verbots; eine Novellierung des § 131 StGB, die im Wesentlichen an der
Ausarbeitung der wissenschaftlichen Dienste orientiert war: "Wer Computerspiele, die es den
Spielern als Haupt- oder Nebenzweck ermöglichen, eine grausame oder die Menschenwürde
verletzende Gewalttätigkeit gegen Menschen oder menschenähnliche Wesen auszuüben,
verbreitet, [...] herstellt, bezieht, liefert [...], wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder
Geldstrafe bestraft."1221 Der Entwurf, resp. die Verbotspostulate insg., provozierten massive
Kritik diverser Bundes- und Landespolitiker von FDP, SPD und BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN.1222 Auch waren kaum einer Landesregierung solche Verbotsambitionen unterstützenswert.1223
Am 12.12.2006 präsentierte aber auch der LIM Uwe SCHÜNEMANN (CDU) ein prinzipiell
äquivalentes niedersächsisches Pendant eines solchen Verbots, das aber Freiheitsstrafen bis zu
zwei Jahren oder Geldstrafen intendierte und Computerspiele kriminalisieren sollte, "bei denen
ein wesentlicher Bestandteil der Spielhandlung die Ausübung von wirklichkeitsnah dargestellten Tötungshandlungen oder anderen Gewalttätigkeiten gegen Menschen oder menschenähnliche Wesen ist."1224 Der Entwurf plante gar die Kriminalisierung der Spieler selbst: Erwerb
und Besitz der Spiele sollten in ausdrücklicher Orientierung am Besitzverbot für kinderpornograpische Schriften nach § 184b Abs. 4 Satz 2 StGB mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr
oder mit Geldstrafe pönalisiert werden. Zynischerweise dementierte der LIM den Vorwurf der
Kriminalisierung der Spieler in einem Interview, antwortete aber im Rahmen desselben
Interviews auf die Frage, ob auch Spieler selbst mit Razzien zu Hause rechnen müßten:
"Natürlich. Diejenigen, die die brutalen, verbotenen Spiele spielen, müssen damit rechnen, dass
sie dingfest gemacht werden. Das halte ich auch für richtig."1225 Zuletzt plante der LIM auch die
Verstaatlichung der USK!1226 Aber eine bereits für Februar 2007 geplante Bundesratsinitiative
Niedersachsens war nie realistisch: Im Landtag boykottierten sowohl die Fraktionen der
Oppositionsparteien (77 Sitze), als auch die des Koalitionspartners FDP (15 Sitze) die diesbzgl.
Ambitionen der CDU (91 Sitze) kategorisch.1227
Letztlich kritisierte auch Bundesjustizministerin Brigitte ZYPRIES (SPD) beide Entwürfe: Eine
Strafbarkeitslücke des § 131 StGB existiere nicht, die Entwürfe seien ohne strafrechtlichen
1220
1221
1222
1223
1224
1225
1226
1227
Vgl. KREMPL/KURI 2006a.
Zitiert in: FISCHER 2006a.
Vgl. KREMPL/KURI 2006b.
Vgl. KRUSE 2006 und s. die diesbzgl. Befragung der Website stern.de: <http://www.stern.de/politik/deutschland/killerspieleso-stehen-die-laender-zum-verbot-578072.html>, Stand: 04.10.2012.
Zitiert in: FISCHER 2006b.
Zitiert in: GÜßGEN 2006a.
Vgl. FISCHER 2006b. Der LIM plädierte bereits im März desselben Jahres und gar selbst einen Tag nach dem sog. Amoklauf
für eine diesbzgl. Verstaatlichung (vgl. KREITLING 2006, S.1), resp. bis März 2007 für die Fusion der USK mit der BPjM
(vgl. LISCHKA 2007). Eine "Bundesanstalt für Jugendmedienschutz" propagierte der LIM zwar auch noch im Mai 2007,
relativierte aber: "Aus verfassungsrechtlichen Gründen wird es nicht möglich sein, dass nur staatliche Stellen über eine
Indizierung entscheiden. Das würde bedeuten, dass Spiele einer Zensur unterliegen, bevor sie auf dem Markt kommen. Wir
sind also auf die Mitarbeit der Unterhaltungssoftware-Industrie angewiesen." (zitiert in: AVERESCH/VATES 2007). Interessanterweise waren HÖYNCK/MÖßLE/KLEIMANN et al. 2007b, die Autoren des einen Monat später publizierten
Forschungsberichts im Auftrag des niedersächsischen Ministeriums für Inneres und Sport (s.u.), gegen eine Überführung der
USK in eine behördliche Struktur (S.65); dgl. PFEIFFER 2008, Spiritus Rector des LIM. Ungeachtet dessen artikulierte Fritz
R. KÖRPER (SPD), stellvertretender Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion, bzgl. der USK und der BPjM selbst noch im
Juli 2007, dass darüber nachgedacht werden müsse, "ob sich die beiden Stellen zu einer staatlichen Prüfstelle zusammenführen
lassen." (zitiert in: PÄTZOLD/ANKER 2007)
Vgl. KREMPL 2006c.
223
Mehrwert und die "Phantomdebatte"1228 gefährde die Glaubwürdigkeit der Politik.1229 Verbotsprononenten wie der niedersäschsiche LIM1230 und die bayerische Familienministerin Christa
STEWENS (CSU)1231 negierten aber nicht nur die evidente Nichtigkeit des strafrechtlichen
Mehrwerts der Entwürfe, sondern rekurrierten gar auf Punkt 6.3 des Koalitionsvertrag zwischen
CDU, CSU und SPD vom 11.11.2005 und behaupteten fälschlich, der Vertrag diktiere der
großen Koalition die Ausarbeitung eines diesbzgl. Verbots.
21.
Der Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung des Jugendschutzes (JuSchVerbG)
Am 09.01.2007 präsentierte die bayerische Staatsregierung ungeachtet dessen einen Entwurf
eines Gesetzes zur Verbesserung des Jugendschutzes (JuSchVerbG) und initiierte am 02.02.
2007 eine diesbzgl. Bundesratsinitiative. Der Entwurf kolportierte insg. die Medieninduziertheit
der sog. Amokläufe von Bad Reichenhall, Erfurt und Emsdetten und behauptete gleichermaßen
alltagstheoretisch, "dass insbesondere sog. Killerspiele, die menschenverachtende Gewalttätigkeiten zum Gegenstand haben, eine gewaltabstumpfende und für bestimmte labile Charaktere
auch eine stimulierende Wirkung haben können. […] Zahlreiche wissenschaftliche Erkenntnisse
legen […] eine nachteilige Wirkung gerade auf Jugendliche nahe. Nach dem heutigen
Forschungsstand bestehen insbesondere keine begründeten Zweifel daran, dass der Kontakt mit
derartigen Medien vor allem bei Kindern, Jugendlichen und Heranwachsenden, aber auch bei
Erwachsenen, die Gefahr einer Nachahmung und einer Abstumpfung in sich birgt, die sich
schädlich auf die Gemeinschaft auswirken kann. Die schrecklichen Vorfälle zeigen, dass Maßnahmen notwendig sind, um insbesondere Kinder und Jugendliche vor Gewaltexzessen in Form
menschenverachtender Gewaltspiele zu schützen. In den vergangenen Jahren wurden zwar im
Bereich des Jugendmedienschutzes Verbesserungen erzielt, um den wachsenden Gefährdungen
auf dem Mediensektor zu begegnen. Dies ist jedoch nicht ausreichend, wie die jüngste schreckliche Gewalttat in Emsdetten zeigt."1232
Der Entwurf plante ein strafrechtliches Verbot von sog. "Killerspielen" und auch eine generelle
Verschärfungen des JuSchG, insb. ggü. audiovisuellen Trägermedien. Das JuSchVerbG
intendierte i.d.S. einen neuen, wie auch (ungeachtet angedachter Regelungen für Bildschirmspielgeräte)1233 die Verschärfung von sechs aktuellen Paragraphen des geltenden JuSchG (exkl.
der daraus resultierenden Folgeänderungen). Die geplanten Änderungen kopierten dabei inhaltlich größteneils das bereits fünf Jahre ältere bayerische JuSchGÄndG.
1228
1229
1230
1231
1232
1233
Zitiert in: JUNGHOLT 2006.
Vgl. FISCHER 2006b und GÜßGEN 2006.
Vgl. GÜßGEN 2006 und KREMPL/KURI 2006b.
Vgl. KREMPL 2006b.
Vgl. BR-Drs. 76/07, S.1.
Der Vollständigkeit halber sollen die Pläne des JuSchVerbG bzgl. Bildschirmspielgeräten gem. § 13 JuSchG nicht unerwähnt
bleiben: Der Entwurf plante, dass die infolge des JÖSchNG in Kraft getretenen Aufstellungsverbote des § 8 Abs. 3 und 4
JÖSchG für entgeltliche Bildschirmspielgeräte ohne Gewinnmöglichkeiten reaktiviert werden, die das (intendierte) vorzeitige
Ende der Arcadeautomaten in Deutschland verursacht hatten. Die Verbotsproponenten hatten u.a. (erfolgreich) von einer
Suchtgefahr für (Taschengeld verspielende) Kinder und Jugendliche fantasiert (vgl. STATH 2006, S.134-140). Dem Abgeordneten Roland SAUER (CDU) war am 06.12.1984 im Rahmen einer Lesung des JÖSchNG eine kolportierte, nein
fantasierte Beschaffungskriminalität der Kinder und Jugendlichen gar ein "schrilles Signal" (zitiert in: BT-PlPr 10/108,
S.8002) der diesbzgl. Gefahr! Im Lichte Verbreitungen des PC und insb. der Spielkonsolen seit Ende der 1980er hatte das
JuSchG die Aufstellungsverbote aber liberalisiert, u.a. ist auch die Entgeltlichkeit der Spiele nicht mehr relevant (vgl. BT-Drs.
14/9013, S.49f.). Mithin sind Automatenspiele auch international Im Lichte der Verbreitung des PC und der Spielkonsolen,
steigender Automatenpreise und fehlender Innovationen (vgl. SCHULZ/ BRUNN/DREYER et al. 2007, S.131) seit Ende der
1980er ein kaum noch existentes Phänomen. I.d.S. war auch die Arbeit der erst 1982 gegründeten Automaten Selbstkontrolle
redundant (vgl. DECKER 2005, S.70), die aber noch zwischen 1982 und dem 31.03.2003 ca. 1.200 Spiele prüfte. Seit Inkrafttreten des JuSchG ist sie – wie die die USK – ein mandatierter Gutachter der OLJB, aber quasi aufgabenlos, da sie seitdem
insg. nur noch 189 Bildschirmspielgeräte prüfte (Stand: Januar 2011). Die bayerische Landesregierung wollte aber ungeachtet
dessen bereits im Rahmen des JuSchGÄndG die Liberalisierungen des JuSchG revidieren, ignorierte die diesbzgl. Entwicklungen der letzten ca. 17 Jahre und formulierte i.d.S. nur noch Ressentiments: "Häufig handelt es sich bei diesen Spielen
um niveaulose 'Baller-Spiele'. Die von Bildschirmgeräten ausgehende Sogwirkung gilt es zu vermeiden und nicht dadurch zu
erhöhen, dass ein öffentliches Spielen Kindern ab 6 Jahren erlaubt wird." (BR-Drs. 585/05, S.12) Diesbzgl. identisch ist auch
der Entwurf des JuSchVerbG (vgl. BR-Drs 76/07, S.17).
224
21.1
21.1.1
Änderungen des JuSchG
Akkreditierung der Organisationen der freiwilligen Selbstkontrolle
Der Entwurf plante in Orientierung an den FSK-Grs und insb. auch an § 19 JMStV erstens einen
(auch ggü. dem JuSchGÄndG) neuen § 14a JuSchG, gem. dem eine befristete Akkreditierung
der Organisationen der Freiwilligen Selbstkontrolle eine notwendige Bedingung der
Mandatierung, wie auch der Beleihung derselben im Rahmen des Verfahrens nach § 14 Abs. 6
JuSchG werden sollte. Der Entwurf kolportierte salopp, dass bei den Organisationen der Freiwilligen