Vice - RWTH Aachen University
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Der Jugendmedienschutz bei Gewalt darstellenden Computerspielen Mediengewaltwirkungsforschung, Jugendschutzgesetz, Gewaltdarstellungsverbot & Moralpanik Von der Philosophischen Fakultät der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen zur Erlangung des akademischen Grades eines Doktors der Philosophie genehmigte Dissertation vorgelegt von Patrick Portz Berichter: Universitätsprofessor Dr. rer. pol. Ralph Rotte Universitätsprofessor Dr. phil. Emanuel Richter Tag der mündlichen Prüfung: 22.10.2013 Diese Dissertation ist auf den Internetseiten der Hochschulbibliothek online verfügbar. "The whole principle is wrong; it’s like demanding that grown men live on skim milk because the baby can’t eat steak." 1 1 HEINLEIN 1950, S.188. Danksagung Nach Jahren intensiver Arbeit möchte ich mich an dieser Stelle endlich bei all den Menschen in meinem Leben bedanken, die mir in dieser entbehrungsreichen Zeit bewusst oder unbewusst, durch Rat und Tat oder sei es auch nur von Zeit zu Zeit durch ein offenes Ohr für meine Ideen, Probleme und sonstigen Eigenheiten bei der Anfertigung meiner Doktorarbeit geholfen haben, die ich hier aber leider nicht alle einzeln anführen kann. Mein besonderer Dank gilt dabei meiner Partnerin Birte Jansen, die ich unzählige Male mit ausschweifenden Monologen zu meiner Arbeit traktierte und die doch fast nie müde wurde, mir zuzuhören. Auch danke ich meinen Eltern, ohne die mir meine Promotion schlichtweg nicht möglich gewesen wäre. Nicht zuletzt möchte ich auf besonderen Wunsch auch Mephisto danken, dessen aufmunterndes Wesen mir auch an dunkleren Tagen immer ein aufhellender Lichtblick war. * Gewidmet meinen Großeltern Maria und Walter J. Pfennig. Inhaltsverzeichnis Abkürzungsverzeichnis 9 Tabellenverzeichnis 11 1. Einleitung 13 1. Teil: Der aktuelle Stand der Computerspielgewaltwirkungsforschung 17 2. Die Computerspielgewaltwirkungsforschung 19 3. Die Mediengewaltwirkungstheorien 20 3.1 Die Katharsishypothese 21 3.2 Die Stimulationshypothese 22 3.3 Die Desensibilisierungshypothese 23 3.4 Die Lerntheorie 25 3.5 Das General Aggression Model (GAM) 29 4. Die Mediengewaltwirkungsfrage 31 5. Die Operationalisierung von Computerspielgewaltexposition und -stimulus 36 5.1 Korrelationsstudien 36 5.2 Experimentalstudien 39 6. Die Mediengewaltwirkungen 46 6.1 Aggressives Verhalten 46 6.2 Errregungen, aggressive Kognitionen, Emotionen & Desensibilisierungen 57 6.2.1 Erregung 57 6.2.2 Aggressive Kognition 59 6.2.3 Aggressive Emotionen und Desensibilisierung ggü. Gewalt 63 7. Die Befunde von Metaanalysen 73 8. Die Frage der praktischen Relevanz der Mediengewaltwirkungen 78 9. Zusammenfassung: Aggressiv durch Mediengewalt? 83 2. Teil: Indizierungen, Alterskennzeichnungen und das Gewaltdarstellungsverbot 89 Der staatliche Jugendmedienschutzauftrag und seine Grenzen 91 10.1 Das Zensurverbot 93 10.2 Die Kunstfreiheit 97 10. 11. Die Indizierung Gewalt darstellender Computerspiele durch die Bundesprüfstelle 99 11.1 Die Rechtsfolgen einer Indizierung 101 11.2 Das Indizierungsverfahren 104 5 11.3 11.4 11.2.1 Einleitung des Indizierungsverfahrens 104 11.2.2 Personelle Besetzung der BPjM (12er-Gremium) 105 Jugendgefährdende Gewaltdarstellungen 108 11.3.1 Sebstzweckhafte und detaillierte Mord- und Metzelszenen 116 11.3.2 Selbstjustiz 120 Schwer jugendgefährdende Medien 121 11.4.1 Kriegsverherrlichende Medien 122 11.4.2 Gewaltbeherrschte Medien 126 11.4.2.1 Besonders realistische Gewaltdarstellungen 127 11.4.2.2 Besonders grausame Gewaltdarstellungen 128 11.4.2.3 Besonders reißerische Gewaltdarstellungen 129 11.4.2.4 Darstellungen selbstzweckhafter Gewalt 130 11.4.2.5 Beherrschtheit des Geschehens 131 11.4.2.6 Schlussbemerkungen zu gewaltbeherrschten Medien 132 Offensichtlich schwer jugendgefährdende Medien 132 11.4.3 12. 11.5 Inhaltsgleiche Medien 133 11.6 Das vereinfachte Verfahren (3er-Gremium) 135 11.7 Nichtindizierungen 137 11.7.1 Gründe einer Nichtindizierung 137 11.7.2 Fälle geringer Bedeutung 140 11.7.3 Indizierungsverbote 142 11.8 Die Verjährung von Indizierungen 145 11.9 Der Rechtsweg gegen Indizierungsentscheidungen 147 11.10 Die Frage der Verhältnismäßigkeit der Indizierungsmaßnahme 148 11.10.1 Eignung der Maßnahme 148 11.10.2 Erforderlichkeit der Maßnahme 152 11.10.3 Angemessenheit der Maßnahme 153 Die Alterskennzeichnung von Computerspielen 157 12.1 Das Jugendverbot mit Erlaubnisvorbehalt 159 12.2 Die Besetzung der Prüfausschüsse und das Prüfverfahren der USK 160 12.3 Die Alterkennzeichnungen 161 12.4 Die Verweigerung der Alterskennzeichnung 162 12.5 Zweifelsfälle nach § 14 Abs. 4 Satz 3 JuSchG 163 12.6 Zusammenfassung: Das Altersfreigabeverfahren als Zensursystem 164 13. Exkurs I: Das PEGI-System 166 14. Das strafrechtliche Gewaltdarstellungsverbot (§ 131 StGB) 170 14.1 Der Schutzzweck der Norm 173 14.1.1 Schutz der Jugend 174 14.1.2 Schutz des Einzelnen 174 14.1.3 Schutz der Menschenwürde 175 6 14.1.4 14.2 Schutz des öffentlichen Friedens 176 Die Tatbestandsmerkmale der Norm 177 14.2.1 Schriften & Gewalttätigkeiten 178 14.2.2 Schilderung von Gewalttätigkeiten 180 14.2.3 Grausame Gewalttätigkeiten 181 14.2.4 Unmenschliche Gewalttätigkeiten 182 14.2.5 Verherrlichung u./o. Verharmlosung von Gewalttätigkeiten 184 14.2.5.1 Verherrlichung von Gewalttätigkeiten 184 14.2.5.2 Verharmlosung von Gewalttätigkeiten 187 14.2.6 Die Menschenwürde verletzende Gewaltdarstellungen 189 14.2.7 Menschenähnliche Wesen 192 14.2.8 Die Rechtspraxis deutscher Gerichte 194 14.3 Schutz der Kunst und der Vorgänge des Zeitgeschehens oder der Geschichte 197 14.4 Schlussbemerkungen zum Gewaltdarstellungsverbot 199 3. Teil: Die moralpanische "Killerspiel"-Debatte 205 15. Ein aktuelles Modell der Moralpanik 207 16. Die "Lex Steinhäuser" 209 17. Medienhysterie: FRONTAL21 als Ausgangspunkt der Debatte 213 18. Der Koalitionsvertrag vom 11.11.2005: "Verbot von 'Killerspielen'"? 215 19. Das "Forschungsprojekt zu gewaltverherrlichenden Computerspielen" 219 20. Der sog. Amoklauf von Emsdetten vom 20. November 2006 221 21. Der Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung des Jugendschutzes (JuSchVerbG) 224 21.1 22. Änderungen des JuSchG 225 21.1.1 Akkreditierung der Organisationen der freiwilligen Selbstkontrolle 225 21.1.2 Absolutes Vermietverbot jugendgefährdender Medien 227 21.1.3 Unzulässigkeit schwer jugendgefährdender Medien 228 21.1.4 Verbrechen ohne nachteilige Wirkungen 230 21.1.5 Abschaffung des Indizierungsschutzes 231 21.1.6 Einfache Mehrheiten beim Indizierungsverfahren 232 21.1.7 Höhere Bußgelder 233 21.2 Das Verbot virtueller "Killerspiele" 234 21.3 Schlussbemerkungen zum JuSchVerbG 238 Der KFN-Forschungsbericht Nr. 101 239 22.1 Die Kritik an der USK 243 22.1.1 Vorwürfe ggü. dem Testbereich 247 22.1.2 Der Vorwurf der Industrienähe 251 7 22.2 Die Reformvorschläge des KFN 251 22.3 Schlussbemerkungen zum Forschungsbericht 255 23. Das 1. Gesetz zur Änderung des Jugendschutzgesetzes (1. JuSchGÄndG) 257 24. Das Ende der "Killerspiel"-Debatte? 260 25. Exkurs II: Der Fall DEAD SPACE 2 265 Zusammenfassung und Ausblick 269 Literaturverzeichnis 277 8 Abkürzungsverzeichnis 1. JuSchGÄndG: 1. StrRG: 3. FFGÄndG: 4. StrRG: AAP: ABl.: BAJ: BAnz.: BayOblG: BBFC: BDKJ: BGB: BGH: BGHSt: BGHZ: BITKOM: BIU: BMFSFJ: BPAQ: BPjM: BPjS: BR-Drs.: BStMAS: BStMI: BT-Drs.: BT-PlPr: BVerfGE: BVerwGE: CRTT: DSB: DVO-JuSchG: EEG: ELSPA: ERP : F.A.S.: fjs: fMRt: FSK: FSK-Grs: FSM: GAM: GCS: GjS: GSR: HBI: HR: HSP: IFG NRW: K-JSG: KFN: KrWaffKontrG: LIM: NICAM: IAPS: IE: IMK: INI: ISFE: JMStV: JÖSchG: JÖSchNG: JuSchG: JuSchGÄndG: JuSchVerbG: KFN: KJM: KOM: Ofcom: OLJB: OWiG: PEGI: PISA: q.e.d.: Erstes Gesetz zur Änderung des Jugendschutzgesetzes 1. Strafrechtsreformgesetz Drittes Gesetz zur Änderung des Filmförderungsgesetzes 4. Strafrechtsreformgesetz American Academy of Pediatrics Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften Bundesarbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz Bundesanzeiger Bayerisches Oberstes Landesgericht British Board of Film Classification Bund und der katholischen Jugend Bürgerliches Gesetzbuch Bundesgerichtshof Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Strafsachen Entscheidungssammlung des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen Bundesverband Informationswirtschaft, Telekommunikation und neue Medien e.V. Bundesverband Interaktive Unterhaltungssoftware e.V. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Buss-Perry Aggression Questionary Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften (und Medien) Drucksachen des Deutschen Bundesrates Bayerisches Staatsministerium für Arbeit und Sozialordnung, Familie und Frauen Bayerisches Staatsministerium des Innern Drucksachen des Deutschen Bundestages Plenarprotokoll des Deutschen Bundestages Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts Competitive Reaction Time Test Deutscher Schützenbund e.V. Verordnung zur Durchführung des Jugendschutzgesetzes Elektroenzephalographie Entertainment and Leisure Software Publishers Association event-related potential Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung Förderverein für Jugend und Sozialarbeit e.V. funktionelle Magnetresonanztomographie Freiwillige Selbstkontrolle der Filmwirtschaft Grundsätze der Freiwilligen Selbstkontrolle der Filmwirtschaft Freiwillige Selbstkontrolle Multimedia-Dienstanbieter e.V. General Aggression Model Gewaltcomputerspiele Gesetz über die Verbreitung jugendgefährdender Schriften (und Medien) galvanic skin response Hans-Bredow-Institut heart rate Hot-Sauce Paradigma Informationsfreiheitsgesetz Nordrhein-Westfalen Kärntner Gesetz vom 6. November 1997 über den Schutz der Jugend Kriminologisches Forschungsinstitut Niedersachsen Kriegswaffenkontrollgesetz Landesinnenminister Nederlands Instituut voor de Classificatie van Audiovisuele Media International Affective Picture System Indizierungsentscheidung Innenministerkonferenz Entschließung des Europäischen Parlaments Interactive Software Federation of Europe Staatsvertrag über den Schutz der Menschenwürde und den Jugendschutz in Rundfunk und Telemedien Gesetz zum Schutze der Jugend in der Öffentlichkeit Gesetz zur Neuregelung des Jugendschutzes in der Öffentlichkeit Jugendschutzgesetz Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Jugendschutzgesetzes Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung des Jugendschutzes Kriminologisches Forschungsinstitut Niedersachsen e.V. Kommission für Jugendmedienschutz Dokumente der Europäischen Union Office of Communications Oberste Landesjugendbehörde Gesetz über Ordnungswidrigkeiten Pan European Game Information Programme for International Student Assessment quod esset demonstrandum 9 RKG: RKK: RLG: RStV: SchSchmG: SCR: SexÄndG: SGB VIII: SHS: SPIO/JK: USK: USK-Grs: USK-PrO: UT3: VRA: VSC: VWB: VwVfG: WrJSchG: WRV: ZDF-StV: Reichskulturkammergesetz Reichskulturkammer Reichslichtspielgesetz des Deutschen Reiches Staatsvertrag für Rundfunk und Telemedien Gesetz zur Bewahrung der Jugend vor Schund- und Schmutzschriften vom 18.12.1926 skin conductance response Gesetz zur Änderung der Vorschriften über die sexuelle Selbstbestimmung und zur Änderung anderer Vorschriften vom 27.12.2003 Achtes Buch Sozialgesetzbuch State Hostility Scale Juristenkommission der Spitzenorganisation der Filmwirtschaft e.V. Unterhaltungssoftware Selbstkontrolle Grundsätze der Unterhaltungssoftware Selbstkontrolle Prüfordnung der Unterhaltungssoftware Selbstkontrolle Unreal Tournament 3 Video Recordings Act 1984 Video Standards Council Volkswartbund Verwaltungsverfahrensgesetz Wiener Gesetz zum Schutz der Jugend Weimarer Reichsverfassung ZDF-Staatsvertrag 10 Tabellenverzeichnis Tabelle 1: Indizierungsanträge/-anregungen bei Computerspielen (2004-2012) 105 Tabelle 2: Nach § 131 StGB bis Oktober 2013 beschlagnahmte Computerspiele 201 11 12 1. Einleitung COMPUTER SPACE war 1971 das erste je veröffentlichte kommerzielle Computerspiel2 überhaupt; seitdem avancierten Computerspiele innerhalb der nächsten 42 Jahre zu einem Massenphänomen.3 Die Branche erzielte 2012 nach Angaben des Bundesverbands Interaktive Unterhaltungssoftware e.V. (BIU) durch den Verkauf von ca. 73,7 Mio. träger-, wie auch telemedialen Computerspielen alleine in Deutschland einen Umsatz von 1.501 Mio. Euro, zzgl. 226 Mio. Euro für virtuelle Zusatzinhalte und 124 Mio. Euro an Gebühren für Online- (z.B. WORLD OF WARCRAFT) und Browserpiele. Deutschland ist somit nach Großbritannien der zweitgrößte europäische und global insg. der fünft- bis sechstgrößte Markt für Computerspiele;4 2011 spielten ungeachtet der Einkommensklasse ca. 23 Mio. Bundesbürger über zehn Jahren (d.h. fast ein Drittel aller Deutschen) Computerspiele und lag der Altersdurchschnitt der Spieler bei ungefähr 31 Jahren.5 Durch die enorme Verbreitung der Spiele interessieren sich aber auch zunehmend Medienkritiker für dieselben; Computerspiele wurden bereits in den 1980ern nicht nur als aggressionsfördernd, sondern z.T. auch ungeachtet konkreter Inhalte bspw. als stupidisierend, gesundheitsschädlich und suchtgefährlich, allg. motorische Unruhe, physiologische Übererregung, Stress, Realitätsverlust6 und Phantasielosigkeit generierend, wie auch das sozialkompatible Kommunikationsverhalten und die Emotionen degenerierend kritisiert.7 Seit den 1990ern wurde zunehmend speziell ggü. Gewalt darstellenden Spielen der Vorwurf artikuliert, sie evozierten deviantes, wie gewaltdelinquentes Verhalten (und gar Automatenaufbrüche)8 oder würden gewaltbereite Rechtsradikale und ggf. radikale Autonome generieren.9 Aktueller machen u.a. nach Christian PFEIFFER, dem Direktor des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen (KFN), Bildschirmmedien per se und insb. Gewalt darstellende Spiele "dick, krank, 2 3 4 5 6 7 8 9 Für eine Typologisierung von Computerspielen s. LADAS 2002, S.33-40 und KUNCZIK/ZIPFEL 2004, S.184. Im Folgenden soll terminologisch nicht zwischen Computer- und Videospielen differenziert werden, insofern Videospielkonsolen immer auch (spezialisierte) Computer sind (vgl. MERTENS/MEIßNER 2006, S.8). Für eine Entwicklungsgeschichte der Computerspiele s. FROMME/VOLLMER 2000, S.5-9; DECKER 2005, S.52 und SCHUMACHER 2010, S.24-41. Vgl. MÜLLER-LIETZKOW 2007a und MÜLLER-LIETZKOW 2007b. Vgl. BIU 2011a; BIU 2011b und QUANDT/FESTL/SCHARKOW 2011. Dgl. ist zwar ein seit PLATON besonders populärer Vorwurf an die Medien, tatsächlich können aber selbst 3-jährige Kinder bereits zwischen Realität und Fiktion differenzieren und erst recht Kinder ab ca. fünf Jahren, die Computerspiele als Spiele mit eigenen Regeln realisieren, die nicht für die Realität gelten (vgl. HEIDTMANN 1992, S.91; KUNCZIK 1998, S.15; SØRENSEN/JESSEN 2000; WOOLLEY/REET 2006 und FERGUSON/DYCK 2012). Vgl. SACHER 2000, S.175f. und DECKER 2005, S.21ff.. Vgl. GLOGAUER 1993; HOPF 2004 und HOPF/HUBER/WEIß 2008. WEIß 1997 kolportierte bspw. im Rahmen einer für solche Aussagen ungeeigneten Korrelationsstudie, dass (habituale) Mediengewaltexpositionen per se Sympathien (männlicher) jugendlicher Rezipienten mit Gruppierungen evozierten, "bei denen zur Durchsetzung eigener Interessen auch Gewalt eingesetzt wird (Skinheads, Hooligans, Rechtsradikale). […] Indirekte Wirkungen der Horror-Gewaltfilme bereiten den Boden für Gewalt, die direkten Wirkungen anderer Gewaltmedien konkretisieren das Ziel und die Objekte für Gewalt. Herauskommen kann ein brauner Macho oder bei türkischen Jugendlichen ein radikaler Autonomer." (S.101-111) Die Jugendlichen würden nicht nur sehr stark mit gewaltbereiten radikalen oder gar extremistischen Gruppierungen sympathisieren, sondern infolge dessen wahrscheinlich auch selbst gewaltbereit (S.98); indiziell war dem Autor diesbzgl. aber nur ein (vermeintlich) immer gewaltaffineres Vokabular der Jugendlichen (S.102.), ohne dass er dasselbe auch detaillierter analysieren würde. Ungeachtet dessen, dass bspw. die Fragebögen der Studie noch zwischen Skinheads, Hooligans und Rechtsradikalen differenzierten, die Gruppierungen aber infolge fälschlich nur als Rechtsradikale subsumiert wurden (S.97), wie auch, dass Begriffe wie z.B. der der "Horror-Gewalt-Videos" (S.101) kein einziges Mal definiert wurden und unzähliger (gravierendster) methodischer Defizite der Studie ignorierte der Autor insb. das klassische Henne-Ei-Problem: Dass bereits rechtsradikale oder radikal-autonome Rezipienten u.U. auch nur mehr gewaltdarstellende Medien rezipieren ist ein deutlich plausiblerer Rückschluss, den der Autor aber erst gar nicht erwägte. Im Gegenteil behauptete auch noch WEIß 2002 diesbzgl.: "Eine direkte Schiene der Vermarktung geht dabei von Bravo, Bild über TVSchmuddeltalk und RTL-News bis hin zu Natural Born Killers, Freitag der 13. oder Carmageddon und Anti-Türken-Test im PC oder Internet oder den aufpeitschenden Neonazisongs von 'Noie Werte' oder den 'Bösen Onkels'." (S.2) Am 18.06.2005 konstruierte WEIß 2005 auf dem Landespsychologentag in Freiburg aber eine noch abstrusere Mediengewaltwirkungshypothese: "[...] Traumatisierende Bilder können auch durch Medien autonom vermittelt und dann verinnerlicht werden. Dies kann ich nicht alleine mit mir herumtragen. Ich suche mir – wie ein Alkoholiker – immer wieder die gleich belasteten und 'gleichgesinnten', besser gleichgestimmten, Kumpels aus denen sich dann relativ lang dauernde Gruppenbeziehungen, die Kameradschaften, entwickeln können. So ähnlich könnte man sich auch das Geschehen in den 20er Jahren bei der Entstehung des Nationalsozialismus vorstellen als sich um Hitler die Gesinnungsgenossen scharten." (S.3) Mediengewaltdarstellungen als Ausgangspunkt des 3. Reichs?! Wirkungsfantasien wie die skizzierten sind keine einmaligen Ausnahmen; auch Christian PFEIFFER, Direktor des KFN, behauptete bspw., dass (gewaltdarstellende) Computerspiele zum Einstieg bei (gewaltbereiten) "Rocker-Gruppen" (zitiert in: WILLE 2010) führen könnten und demonstrierte i.d.S. prägnant seine fehlende Expertise ggü. der Rockerszene. 13 dumm und traurig"10 und gewaltbereit,11 so dass sie auch eine Ursache für die 2006 im Rahmen der PISA-Studie demonstrierten Leistungsdefizite deutscher Schüler und speziell eines steigenden schulischen Leistungsabstands zwischen Mädchen und Jungen zuungunsten letzterer seit Anfang der 1990er,12 (infolge) gar für eine (vermeintlich) zunehmend abnehmende Wirtschaftskraft der BRD seien.13 Computerspiele sollen nach HÄNSEL/HÄNSEL 2006 gar für den sog. Abu-Ghuraib-Folterskandal u.ä. Skandale im Gefangenenlager der Guantanamo Bay Naval Base und anderen Gefängnissen des US-amerikanischen Militärs verantwortlich sein.14 Gewalt darstellende (violente) Computerspiele werden sowohl für allg. gesellschaftliche Gewaltentwicklungen (wie die vermeintliche Zunahme von Gewalt in der Gesellschaft), wie auch spektakuläre Einzeltaten verantwortlich gemacht. Vor allem nach Gewalttaten wie z.B. dem Amoklauf von Emsdetten vom 20.11.2006 werden inzwischen Gewalt darstellende Computerspiele oftmals bereits unmittelbar nach der Tat als vermeintliche Auslöser derselben präsentiert und Verbote solcher Spiele gefordert, ohne dass der tatsächliche Stand der Forschung zur Wirkung solcher Spiele oder auch nur die geltende Rechtslage im Rahmen solcher Debatten zur diskutiert würde. Wie selbstverständlich solche Aversionen gegen Gewalt darstellende Computerspiele geworden sind, demonstrierte bspw. auch die letzte Repräsentativumfrage zur Verankerung des Wertes der Freiheit in der deutschen Bevölkerung des John Stuart Mill Instituts; auf die Frage "Unabhängig davon, ob das tatsächlich verboten ist oder nicht: Was meinen Sie, was sollte der Staat in jedem Fall verbieten, wo muss der Staat die Menschen vor sich selber schützen?" antworteten 65 % der Bevölkerung ab sechzehn Jahren selbst noch im August 2011, dass "Computerspiele mit vielen Gewaltdarstellungen" verboten werden sollten.15 Tatsächlich hat Deutschland aber wohl bereits das strengste Jugendmedienschutzregime aller demokratischen Staaten der Welt und ein strafrechtliches Verbot bestimmter Gewaltdarstellungen, deren Verfassungskonformität die Betroffenen selbst aber oftmals in Frage stellen und als Zensur empfinden. Die vorliegende Dissertation soll nun einen Beitrag zu der vordringlichen Frage der evtl. Probleme und Defizite des Jugendmedienschutzes, wie auch des strafrechtlichen Gewaltdarstellungsverbotes nach § 131 StGB bei Gewalt darstellenden Computerspielen, wie auch zur evtl. Notwendigkeit entsprechender Verbesserungen leisten. Die rechtswissenschaftliche Literatur hat das Thema zwar bereits ausführlich diskutiert und nicht nur detailliertere Darstellungen,16 sondern auch kritische(re) Analysen des Jugendmedienschutzsystems, wie auch des strafrechtlichen Gewaltdarstellungsverbots bei solchen Computerspielen u.a. Medien hervorgebracht,17 aber ungeachtet dessen, dass im Rahmen dieser Arbeiten im Folgenden noch als relevant erachtete Probleme nicht oder nicht hinreichend diskutiert oder auch nur einfach anders bewertet werden, wird der aktuelle Forschungsstand zu den Wirkungen von Gewalt darstellenden Computerspielen im Rahmen solcher Analysen insg. nicht oder nicht hinreichend thematisiert, allenfalls werden bspw. einzelne Wirkungsstudien kursorisch referiert oder wird insg. argumentiert, dass negative Wirkungspotenziale medialer Gewaltdarstellungen zwar nach wie vor nicht sicher seien, dass solche aber vernünftigerweise auch nicht bestritten werden könnten.18 Das eigentliche wirkungstheoretische Fundament der Rechtslage wird also nicht angemessen thematisiert. Die zwei zentralen Fragen der Arbeit sind demnach die nach den tatsächlichen Wirkungen von Gewalt darstellenden Computerspielen und im Lichte dessen die nach der materiellen Verfassungsmässigkeit des Jugendmedienschutzsystems, wie auch des strafrechtlichen Gewaltdarstellungsverbotes nach § 131 StGB bei solchen Spielen. 10 11 12 13 14 15 16 17 18 Zitiert in: Krell 2005. Vgl. SCHMALER/WIEDERSHEIM 2006. Dgl. auch bereits SPITZER 2005b, S.245. Vgl. HÖYNCK/MÖßLE/KLEIMANN et al. 2007b, S.17. Bzgl. einer Kritik s. BERTHOLD/HOLLING 2007b. Vgl. Christian PFEIFFER, zitiert in: SCHMALER/WIEDERSHEIM 2006. Vgl. HÄNSEL/HÄNSEL 2006, S.9. Vgl. PETERSEN 2012, S.45. Vgl. NIKLES/ROLL/SPÜRCK et al. 2005. Vgl. STATH 2006; SCHULZ/BRUNN/DREYER et al. 2007; STUMPF 2009 und EIFLER 2011. Vgl. STATH 2006, S.261f.. 14 Insofern soll im ersten Teil der Dissertation nach der Prämisse, dass Gefährdungen von Kindern und Jugendlichen, wie auch von Erwachsenen durch mediale Gewaltdarstellungen die essentiell notwendigen Bedingungen für einen staatlichen Schutz vor solchen Darstellungen sind, der aktuelle Forschungsstand zu den Wirkungen von Gewaltdarstellungen in Computerspielen, d.h. die gängigen Mediengewaltwirkungstheorien und -modelle, wie auch die tatsächlichen Inhalte der quantitativen Computerspielgewaltwirkungsforschung dargestellt und analysiert werden. Um eine eigene kritische Literaturübersicht anfertigen zu können, wurden einerseits die Inhalte bereits veröffentlichter Literaturübersichten und Metaanalysen, wie auch die ensprechenden Literaturverzeichnisse derselben auf der Suche nach einschlägiger Literatur und entsprechender Wirkungsstudien selbst recherchiert und ausgewertet. Andererseits wurden auch der Methode von ANDERSON/SHIBUYA/IHORI et al. 2010 folgend die zwischen 1984 (dem Beginn der Computerspielgewaltwirkungsforschung)19 und 2012 angefertigen Studien über die Datenbanken PsycINFO und PubMed mittels der Suchbegriffe "(video* or computer or arcade) and (game*) and (attack* or fight* or aggress* or violen* or hostil* or ang* or arous* or prosocial or help* or desens* or empathy)"20 ermittelt, die wiederum einen Ausganspunkt für weitere Literaturrecherchen darstellten. Von besonderer Bedeutung ist dabei die Frage, ob Gewalt darstellende Computerspiele aggressionsfördernd wirken und ggf. ob solche Wirkungen auch substanziell relevant sind. Im zweiten Teil der Dissertation sollen basierend auf den Ergebnissen des ersten Teils nicht nur die gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend, d.h. die Problematik des Verfahrens der Indizierung bestimmter Gewalt darstellender Computerspiele vor der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien (BPjM) und das System der Altersfreigabe für Computerspiele durch die Obersten Landesjugendenbehörden (OLJB), sondern auch das erwähnte strafrechtliche Verbot durch deutsche Gerichte diskutiert werden. Die Diskussion beschränkt sich dabei aber aus Gründen der Übersichtlichkeit, wie auch des Umstands, dass ein Altersfreigabeverfahren nur für solche Spiele existiert und dieselben markttechnisch nach wie vor am bedeutsamsten sind, auf die entsprechende Problematik für trägermediale Computerspiele nach § 1 Abs. 2 des Jugendschutzgesetzes (JuSchG): "Trägermedien […] sind Medien mit Texten, Bildern oder Tönen auf gegenständlichen Trägern, die zur Weitergabe geeignet, zur unmittelbaren Wahrnehmung bestimmt oder in einem Vorführ- oder Spielgerät eingebaut sind."21 D.h., dass der Themenbereich telemedialer Computerspiele (wie z.B. Browserspiele) aus Gründen analytischer Klarheit ausgespart wird. Im dritten Teil der Dissertation sollen letztlich die politischen Debatten über Gewalt darstellende Computerspiele zwischen 1999 und 2012 beschrieben und analysiert werden, vor allem die Entwicklung und die Inhalte der Kritik an den mit dem neuen JuSchG am 01.04.2004 auch für solche Spiele in Kraft getretenen Altersfreigabeverfahren und der damit einhergehenden Forderungen nach weiteren Verschärfungen des Jugendmedienschutzes, wie auch die Forderungen nach einem absoluten Herstellungs- und Verbreitungsverbot von als "Killerspielen" diabolisierten Spielen. Insofern sollen insb. der bayerische Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung des Jugendschutzes (JuSchVerbG), der massive Änderungen des JuSchG und als einziger konkreter Gesetzesentwurf auch ein Verbot von "Killerspielen" formulierte, wie auch der KFN-Forschungsbericht Nr. 101 ("Jugendmedienschutz bei gewalthaltigen Computerspielen: Eine Analyse der USK-Alterseinstufungen"), der das Altersfreigabeverfahren bei der im Laufe der Debatte diskreditierten Unterhaltungssoftware Selbstkontrolle (USK) kritisierte, diskutiert werden. 19 20 21 Vgl. KIRSH 2010, S.204-208. Vgl. ANDERSON/SHIBUYA/IHORI et al. 2010, S.157. Bzgl. einer detaillierteren Definition von Trägermedien s. STATH 2006, S.50-54. 15 16 1. Teil: Der aktuelle Stand der Computerspielgewaltwirkungsforschung 17 18 2. Die Computerspielgewaltwirkungsforschung Die Geschichte der Mediengewaltwirkungsforschung ist bereits seit den zwischen 1929 und 1932 veröffentlichten (sog.) Payne Fund Studies22 eine Geschichte voller Missverständnisse: Frappant ist insb. das Ausmaß der Prämisse, dass die Forschung seit Jahrzehnten – spätestens seit dem internationalen "Boom der Fernsehwirkungsforschung im Bereich der Wirkungen von Gewaltdarstellungen"23 infolge der Paradigmatisierung der sozial-kognitiven Lerntheorie24 (s.u.) in den 1960ern – konstant demonstriere, dass Mediengewaltdarstellungen u.a. direkt u./o. indirekt die Wahrscheinlichkeit kurz- und langfristig aggressiven oder gar gewalttätigen Verhaltens erhöhten.25 Bekannt ist i.d.S. das "Joint Statement on the Impact of Entertainment Violence on Children" der American Academy of Pediatrics (AAP), der American Academy of Child & Adolescent Psychiatry, der American Psychological Association, der American Medical Association, der American Academy of Family Physicians und der American Psychiatric Association vom 26.07.2000, die behaupteten, dass "well over 1000 studies […] point overwhelmingly to a causal connection between media violence and aggressive behavior in some children. […] Its effects are measurable and long-lasting. Moreover, prolonged viewing of media violence can lead to emotional desensitization toward violence in real life."26 Der Präsident der AAP proklamierte gar drei Monate später ggü. dem U.S. Senate Committee on Commerce, Science, and Transportation, dass "more than 3,500 research studies in the United States and around the world […] have examined whether there is an association between exposure to media violence and subsequent violent behavior. All but 18 have shown a positive correlation […]."27 Auch das Committee on Public Education der AAP behauptete dgl.,28 referierte aber tatsächlich nicht etwa diesbzgl. aussagekräftige Metaanalysen, Literaturübersichten o.ä., die aktuell nur zwischen ca. 200 und 300 diesbzgl. so inkonistenter Studien finden können, dass oftmals (die tatsächliche Aussagekraft der Studien aber ignorierend) argumentiert wird, dass sich anhand der Literatur prinzipiell jede denkbare Position bzgl. der Wirkung von Mediengewaltdarstellungen einnehmen lassen könne,29 sondern nur ein populärwissenschaftliches Pamphlet von GROSSMAN/ DEGAETANO 1999.30 Das Argument ad numerum ist seitdem zwar virulent,31 aber insg. substanziell falsch: Bereits FREEDMAN 2002 argumentierte, dass zwar innerhalb der letzten Jahrzehnte tatächlich insg. tausende Medienwirkungsstudien veröffentlicht worden sein könnten, nicht aber etwa empirische Mediengewaltwirkungsstudien, die die Wirkungen von Gewaltdarstellungen auf das aggressive oder gar gewalttätige Verhalten der Probanden analysieren.32 Gleichzeitig demonstrierte der Autor, dass nur 37 % der 87 im Rahmen der Literaturübersicht analysierten (experimentellen) Studien statistisch signifikante Zusammenhänge zwischen der Rezeption medialer Gewaltdarstellungen und dem aggressiven Verhalten der Probanden konstatierten, 41 % dies aber nicht konnten (22 % der Resultate waren mehr oder weniger ambivalent). Ignorierte der Autor die fragwürdigeren der Studien, die aggressives Verhalten z.B. über das Zerplatzenlassen von Luftballons u.ä. operationalisierten (s.u.), demonstrierten gar 55 % der Studien keine und nur noch 28 % statistisch signifikante Zusammenhänge solcher Art. 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 Vgl. CHARTERS 1935; FORMAN 1935 und LOWERY/DEFLEUR 1995, S.382. KREBS 1994, S.354. Vgl. BANDURA/ROSS/ROSS 1961; BANDURA/ROSS/ROSS 1963 und BANDURA/WALTERS 1963. Vgl. BOYLE/HIBBERD 2005, S.22f./30f.; FERGUSON 2010, S.69f. und FERGUSON/DYCK 2012, S.226. COOK/KESTENBAUM/HONAKER et al. 2000. COOK 2000, S.2. Vgl. BARON/BROUGHTON/BUTTROSS et al. 2001, S.1223. Vgl. THEUNERT 1987, S.10; KUNCZIK 1988, S.73; STOLTE 1988, S.12; MEIROWITZ 1993, S.78-81; SWOBODA 1994, S.419; FRITZ/HÖNEMANN/MISEK-SCHNEIDER et al 1997, S.197; FOWLES 1999, S.49; MERTEN 1999, S.9ff.; FRITZ/ FEHR 2003, S.50; KUNCZIK/ZIPFEL 2004, S.238; GOLDSTEIN 2005, S.350 und BUTTS 2006, S.21. Vgl. FERGUSON 2010, S.72. Vgl. STRASBURGER 2007, S.1398. In der deutschsprachigen Literatur kursiert gar der Mythos von mehr als 5.000(!) internationalen Mediengewaltwirkungsstudien (vgl. GROEBEL/GLEICH 1993, S.15, KÜBLER 1998, S.471, KUNCZIK 1998, S.IX, LUDWIG/PRUYS 1998, S.597; GRIMM 1999, S.57 und RÖSER 2003, S.216). Vgl. FREEDMAN 2002, S.24. 19 Ungeachtet dessen behaupteten bspw. auch noch ANDERSON/BERKOWITZ/DONNERSTEIN et al. 2003, wie auch ANDERSON/HUESMAN 2005, dass zweifelsfrei sei, dass Mediengewaltdarstellungen die Wahrscheinlichkeit kurz- und langfristig aggressiven oder gar gewalttätigen Verhaltens erhöhe. Speziell für den Bereich der Wirkungen Gewalt darstellender Computerspiele behaupteten ENGELSTÄTTER/CUNNINGHAM/WARD 2011: "Psychological studies invariably find a positive relationship between violent video game play and aggression."33 Bestätigungsfehler, die das Resultat eines noch zu diskutierenden Publikationsbias (positive Wirkungszusammenhänge demonstrierende werden wahrscheinlicher als keine Zusammenhänge demonstrierende Studien publiziert) und eines Zitierbias (Forscher ignorieren Studien – z.T. die eigenen –, insofern sie den selbst konjizierten, aggressionssteigernden Medienwirkungshypothesen widersprechen), wie einer unkritisch-affirmativen Studienauswahl seitens der Forscher sind, die die (im Folgenden skizzierten) endemischen, so evidenten, wie gravierenden Defizite der referierten Studien gar nicht erst realisieren u./o. gar ignorieren (als orientierten sich die Autoren nur an den Abstracts der Studien) und infolge dessen selbst solche Studien als Belege aggressionssteigernder u.ä. Medienwirkungen referieren, die vielmehr diesbzgl. Negativbefunde darstellen (wie das z.B. bei ANDERSON/DILL 2000 als einer der seit über einem Jahrzehnt am häufigsten zitierten Studien der Fall ist).34 Fehler, die auch symptomatisch für eine Forschungsdisziplin sind, die von z.T. seit Jahrzehnten gemeinsam agierenden, ein Gros der fraglichen Studien anfertigenden und mehr oder weniger selbstreferentiellen Zitierkartellen (wie aktuell z.B. dem von Craig A. ANDERSON, Brad J. BUSHMAN, Douglas A. GENTILE, L. Rowell HUESMANN et al.) geprägt ist.35 Tatsächlich sind die theoretischen, wie methodischen Probleme der Mediengewaltwirkungsforschung insg. immer noch dieselben, die bereits seit ca. sechs Jahrzehnten ggü. der Forschung im Bereich der Wirkungen von Fernsehgewaltdarstellungen moniert werden,36 insofern ist eine Darstellung des Forschungsstandes der Mediengewaltwirkungsforschung zwangsläufig auch immer eine Darstellung der endemischen Probleme derselben. 3. Die Mediengewaltwirkungstheorien Eine gewisse Obsoleszenz der empirischen Mediengewaltwirkungsforschung demonstriert u.a. der Umstand, dass sich das Gros derselben auch noch immer essentiell an den Axiomen des ausschl. medienzentrierten, behavioristischen Stimulus-Reaktion-37 oder vielmehr des neobehavioristischen Stimulus-Organismus-Reaktion-Modells38 der Medienwirkung orientiert;39 die dominierende Frage der Forschung ist nach wie vor die nach den genuinen, linearen Kausalwirkungen dargestellter Gewalt geblieben.40 Formale und andere (z.B. kontextuelle) Medienin33 34 35 36 37 38 39 40 ENGELSTÄTTER/CUNNINGHAM/WARD 2011, S.6. Vgl. GRIFFITHS 1999; FREEDMAN 2002; GAUNTLETT 1995; SAVAGE 2004; FERGUSON 2007b, S.310; FERGUSON 2009, S.108ff. und FERGUSON 2010, S.73. Vgl. VOGELSANG 1991, S.111f. und KUNCZIK 1998, S.274. Vgl. DURKIN 1995; GAUNTLETT 1995; FREEDMAN 1996; KUNCZIK/ZIPFEL 1998, S.564; MERTEN 1999, S.10f.; GAUNTLETT 2001, S.56f.; FREEDMAN 2002; RÖSER 2003, S.216; SHERRY 2007; TREND 2007; GRIMES/ ANDERSON/BERGEN 2008; FERGUSON 2009; FERGUSON 2010 und FERGUSON/SAVAGE 2012. Bzgl. der endemischen, im Folgenden skizzierten Defizite der Mediengewaltwirkungsforschung speziell am Bsp. des Bereichs der Wirkungen gewaltdarstellender Computerspiele s. auch die diesbzgl. kritische(re)n Kommentare und Literraturübersichten, wie bspw. von EMES 1997; GUNTER 1998; GRIFFITHS 1999; DURKIN/AISBETT 1999; GRIFFITHS 1999; WARTELLA/ O’KEEFE/SCANTLIN 2000; BENSLEY/EENWYK 2001; UNSWORTH/WARD 2001; FERGUSON 2002; FRINDTE/ OBWEXER 2003; CUMBERBATCH 2004; KUNCZIK/ZIPFEL 2004, S.236ff.; OLSON 2004; SAVAGE 2004; SOUTHWELL/DOYLE 2004; GOLDSTEIN 2005; BRYCE/RUTTER 2006; BUTTS 2006; SCHULZ/BRUNN/DREYER et al. 2007, S.66; SHERRY 2007; FERGUSON/RUEDA/CRUZ et al. 2008; FERGUSON 2009; MITROFAN/PAUL/SPENCER 2009 und dem AUSTRALIAN ATTORNEY-GENERAL’S DEPARTMENT 2010. Vgl. LASWELL 1927, S.630. Vgl. WOODWORTH 1929. Vgl. SCHULZ 1982, S.50; BOSSELMANN 1987, S.118; MERTEN 1994, S.296; SANDER/VOLLBRECHT 1994, S.362; SCHENK 1998, S.527; MAST 1999, S.57; HICKETHIER 2001, S.10; VOLLBRECHT 2001, S.168; HAUSMANNINGER 2002a, S.42 und RÖSER 2003, S.216. Vgl. THEUNERT 1987, S.25; DRINCK/EHRENSPECK/HACKENBERG et al. 2001, S.5; EISERMANN 2001, S.43; WEBER 2003, S.39f. und SCHULZ/ BRUNN/DREYER et al. 2007, S.45. Bzl. einer detaillierten Dekonstruktion der zentralen Axiome der beiden Modelle, d.h. der Annahme der Transitivität, Proportionalität und Kausalität des Rezeptionsprozesses, s. insb. MERTEN 1994, S.295ff.. 20 halts-, personale Rezipienten- und situationale Rezeptionsvariablen werden nicht oder ggf. bestenfalls nur als mediatisierende Störfaktoren der für alle Rezipienten prinzipiell als mehr oder weniger identisch konjizierten, ausschließl. am Stimulus festgemachten Wirkungen, nicht aber (wie es realistischererweise z.B. im Rahmen der rezipientenorientierteren Medien- und Kommunikationswissenschaft und der allg. Medienpsychologie spätestens seit den 1970ern der Fall ist)41 als für evtl. Wirkungspotenziale selbst erst gleichermaßen konstitutiv realisiert.42 Infolge dessen ist den Mediengewaltwirkungstheorien und -studien auch die gem. MERTEN 1994 wesentliche Annahme der beiden atavistischen Modelle nach wie vor inhärent: "Gleicher Stimulus erzeugt gleiche Wirkung […] und […] je intensiver/anhaltender/direkter der Stimulus, desto größer die Wirkung […]."43 Die Selektivität, Reflexivität und Konstruktivität des Rezeptionsprozesses werden ignoriert, so dass die Forschung die Rezipienten letztlich auch immer noch als vermeintlich objektive Medienstimuli unkritisch-affirmativ adaptierende, passive tabulae rasa konzipiert und i.d.S. eine pro forma konjizierte Uniformität zwischen Stimulus und Reaktion impliziert, die bereits BARKER 2001 monierte: "So horrible things will make us horrible, not horrified. Terrifying things will make us terrifying, not terrified. To see something aggressive makes us feel aggressive, not aggressed against. And the nastier it is, the nastier it is likely to make us. This idea is so odd, it is hard to know where to begin challenging it […]."44 I.d.S. resümierte auch bereits CUMBERBATCH 2004 den Forschungsstand: "[…] perhaps the most obvious deficiency lies in the grossly oversimplified approach taken to both media content and media experiences."45 Das prägnanteste Beispiel für die skizzierte Problematik ist die für die Mediengewaltwirkungsforschung insg. prototypische, aber natürlich nicht strapazierbare Suggestionshypothese, nach der die Rezipienten dargestellte Mediengewalt mehr oder weniger identisch, wie auch unmittelbar imitieren.46 Nicht überraschend sind aber auch die im folgenden skizzierten Wirkungstheorien der Computerspielgewaltwirkungsforschung, die größtenteils auf dieselben Wirkungstheorien, wie auch bereits die Film- und Fernsehgewaltwirkungsforschung zurückgreift,47 kaum plausibler oder auch nur wesentlich elaborierter.48 3.1 Die Katharsishypothese Nach der von FESHBACH 1961 formulierten und von LORENZ 1963 popularisierten aristotelischen Katharsishypothese fungiert u.a. Phantasieaggression, wie z.B. dargestellte Gewalt als funktionales Äquivalent, resp. Ventil real aggressiven Verhaltens und reduziert infolge die Aggressivität und konsequenterweise auch das aggressive Verhalten der Rezipienten.49 Die Hypothese gilt im Rahmen der Film- und Fernsehforschung seit den 1980ern zwar als falsifiziert,50 die Versuchsanordnungen orientierten sich aber bis heute (ungeachtet z.T. im 41 42 43 44 45 46 47 48 49 50 Vgl. BOSSELMANN 1987, S.119; DOELKER 1989, S. 201; WINTER 1992, S.75; MERTEN 1994, S.297; AUFENANGER 1995, S.229; FRIEDRICHSEN 1995, S.400; SCHABEDOTH 1995, S.395; MOSER 1995, S.144; WINTER 1995, S.1626/115; HUNZIKER 1998, S.25; MERTEN 1999, S.357; FROMME/VOLLMER 2000, S.12 und FRITZ/FEHR 2003, S.51. Vgl. VOGELSANG 1991, S.75f.; BOMMERT/WEICH/DIRKSMEIER 1995, S.15f./21; KÜBLER 1998, S.477f.; RÖSER 2003, S.216; CUMBERBATCH 2004, S.32 und STRÜBER 2006, S.44. MERTEN 1994, S.294ff.. BARKER 2001, S.38. CUMBERBATCH 2004, S.33. Vgl. KUNCZIK 1978, S.99; KUNCZIK 1998, S.99-104; VOLLBRECHT 2001, S.169 und BUCHLOH 2002, S.44f.. Vgl. CUMBERBATCH 2004, S.11; KUNCZIK/ZIPFEL 2006, S.303 und KUNCZIK 2007, S.1. Vgl. FRINDTE/OBWEXER 2003, S.9f.. Vgl. KUNCZIK 1975, S.135-293; KUNCZIK 1978, S.35; GUGEL 1983, S.75; LUKESCH 1990, S.139; VOGELSANG 1991, S.101; KUNCZIK/ZIPFEL 1998, S.564f.; MERTEN 1999, S.131; DRINCK/EHRENSPECK/HACKENBERG et al. 2001, S.4; EISERMANN 2001, S.46; WIEMKEN 2001b, S.60; BUCHLOH 2002, S.43 und TEDESCHI 2002, S.575f.. Vgl. KUNCZIK 1988, S.73; VOGELSANG 1991, S.101; LADAS 2002, S.62ff. und KUNCZIK/ZIPFEL 2004, S.72. Autoren wie KUNCZIK/ZIPFEL 2010 argumentieren regelmäßig, dass vereinzelt festgestellte Aggressionsreduktionen infolge der Mediengewaltexposition besser mit der sog. Inhibitionhypothese (s. KUNCZIK 1978, S.35; GUGEL 1983, S.75f.; SCHIRP 1996; MERTEN 1999, S.131; VOLLBRECHT 2001, S.169; BODMER 2002, S.34; BUCHLOH 2002, S.43 und FEIBEL 2004, S.146) erklärbar seien: "Diesem Ansatz zufolge löst die Beobachtung medialer Gewalt – v.a. bei Darstellung der negativen Konsequenzen violenter Akte – Aggressionsangst aus, wirkt damit abschreckend auf den Rezipienten und hemmt auf diese Weise die Neigung zu eigener Gewaltausübung." (S.142) Bzgl. evtl. Medienbedingungen einer Inhibitionswirkung s. GRIMM 2000, S.50. Die Inhibitionshypothese wurde aber kaum empirisch untersucht (vgl. BUCHLOH 2002, S.43-44), insb. 21 Folgenden skizzierter, endemischer Defizite der Mediengewaltwirkungsforschung) größtenteils nur an der unrealistischen Prämisse, dass Gewaltdarstellungen per se (ungeachtet des Kontextes derselben etc.) immer und ggü. allen Rezipienten, ungeachtet der Stimmung und der Nutzungsmotivation derselben, wie auch der Rezeptionssituation generell karthatische Wirkungen zeitigen können sollen.51 Insofern wurde auch bereits in Frage gestellt, dass evtl. Katharsispotenziale dargestellter Gewalt bis heute überhaupt jemals probat analysiert worden sind.52 Dgl. gilt auch für die diesbzgl. Computerspielgewaltwirkungsforschung,53 ungeachtet dessen, dass ein paar aktuellere Studien eine Aggressionsreduktion infolge des Spielens Gewalt darstellender Computerspiele indizieren, der Forschungsstand aber auch in dem Fall sehr heterogen ist.54 Nicht ignoriert werden darf aber, dass die Spieler selbst (nicht nur Gewalt darstellende) Computerspiele oftmals zur Stimmungsregulation, wie bspw. zum Abreagieren negativer Emotionen und Aggressionen, wie auch zur Stressbewältigung, resp. Kompetenzhygiene nutzen.55 Dass dgl. auch tatsächlich funktionieren kann, ist prinzipiell plausibel, wurde aber bis heute kaum analysiert; ggf. kanalisieren spannende Spiele, resp. die durch dieselben verursachten flow-Erlebnisse die Aufmerksamkeit der Spieler56 oder ermüdet langfristigeres Spielen dieselben.57 Solche Wirkungen wären dann aber keine spezifischen Gewaltdarstellungswirkungen mehr, ungeachtet dessen, dass die spannenderen oftmals auch die Gewalt darstellenden Spiele sind und die besondere Effektanz von virtuellem Gewaltverhalten (z.B. die spielerinduzierte Hervorrufung von Blut- und Goreeffekten auf Knopfdruck) u.U. für die (unroutinierteren) Spieler aufmerksamkeitsfördernd sein könnten. Die klassischen Katharsisannahmen sind aber insg. kaum oder gar nicht plausibel. 3.2 Die Stimulationshypothese Die Stimulationshypothese nach JO/BERKOWITZ 1994 ist ein kognitives Modell neoassoziativer Netzwerke,58 gem. dem Gewaltdarstellungen kurzfristige kognitive Wirkungen ggü. den Rezipienten zeitigen können, so dass, "for a short time afterwards, their thoughts and actions are colored by what they have just seen, heard, and/or read […]. […] Under certain circumstances and for a short period of time, there is an increased chance that the viewers will (a) have hostile thoughts that can color their interpretation of other people, (b) believe other forms of aggressive conduct are justified and/or will bring them benefits, and (c) be aggressively inclined."59 Infolge dieser Prägung würden nach der Mediengewaltrezeption in ambigen, potenziellen Konfliktsituationen (z.B. Unfällen, Rempeleien) ggf. aggressive Verhaltensskripte zugänglicher, so dass letztlich auch aggressives Verhalten wahrscheinlicher sei; habituelle Mediengewaltexpositionen könnten solchermaßen aggressive Verhaltensskripte u.U. gar langfristig aktivieren.60 SALISCH/OPPL/KRISTEN 2007 argumentieren aber, dass eine das sog. 51 52 53 54 55 56 57 58 59 60 noch nicht im Rahmen der Computerspielgewaltwirkungsforschung. Vgl. FREITAG/ZEITTER 1999 und BODMER 2002, S.34. Bzgl. diverser Bsp. für fragwürdige Versuchsanordnungen zur Analyse evtl. Katharsiswirkungen s. WEGGE/KLEINBECK 1997. Vgl. SCHINDLER 2001, S.34f.. Frappant ist das Ausmaß der kategorischen Negierung evtl. karthatischer Gewaltdarstellungswirkungen (auch bereits ggü. Computerspielen, als dgl. noch gar nicht analysiert worden war) und der diesbzgl. Polemik; bspw. bezeichnete SELG 1997 die Hypothese mokant als "Stein der Weisen" und argumentierte, man müsse, "der Hypothese konsequent folgend, 1.) generell möglichst viel Gewalt zeigen. 2.) speziell auch möglichst viel sexuelle Gewalt verherrlichen und 3.) noch spezieller vor allem auch möglichst viel härteste Kinderpornographie ausstrahlen. Seltsam, daß kein Medienmacher, kein Katharsistheoretiker diese naheliegenden Vorschläge je gemacht hat. Warum wohl nicht? Weil jeder spürt, daß es eine solche Katharsis nicht gibt." Gem. OTTO 2008 wird die Hypothese gar systematisch unterdrückt (S.159-188). Vgl. SHERRY 2007; FERGUSON/RUEDA 2010, S.100 und KUNCZIK/ZIPFEL 2010, S.41-49. Vgl. COLWELL/KATO 2003; UNSWORTH/DEVILLY/WARD 2007; SHIBUYA/SAKAMOTO/IHORI et al. 2008 und DENZLER/HÄFNER/FÖRSTER 2012. Vgl. KESTENBAUM/WEINSTEIN 1985; FRITZ/MISEK-SCHNEIDER 1995, S.90; WEGGE/KLEINBECK/QUÄCK 1995, S.214; LADAS 2002; FEIBEL 2004, S.145; KUTNER/OLSON 2008, S.113/136/153; OLSON/KUTNER/WARNER 2008 und FERGUSON/OLSON 2012. Vgl. LADAS 2002, S.138 und BUTTS 2006, S.23. Vgl. SHERRY 2001 und FRITZ/FEHR 2003, S.53f.. Vgl. SALISCH/OPPL/KRISTEN 2007, S.85. JO/BERKOWITZ 1994, S.45f.; vgl. KUNCZIK 1978, S.34f.; BERKOWITZ 1990; LUKESCH 1990, S.304; GRIMM 1999, S.73; MERTEN 1999, S.132; EISERMANN 2001, S.47; BUCHLOH 2002, S.43; KUNCZIK/ZIPFEL 2004, S.15; KUNCZIK/ ZIPFEL 2005, S.103ff.; FRINDTE/GEYER 2007, S.177 und SALISCH/OPPL/KRISTEN 2007, S.85f.. Vgl. KUNCZIK/ZIPFEL 2004, S.124. Bzgl. der Skripttheorie s. KUNCZIK/ZIPFEL 2010, S.227ff.. 22 Priming begünstigende (resp. für dgl. gar notwendige) Bedingung sei, "dass die Gewaltdarstellungen auch tatsächlich als Aggression wahrgenommen werden (und nicht zum Beispiel als sportlicher Wettkampf) und gerechtfertigt erscheinen, sowie eine Identifikation durch die Rezipienten mit den Mediencharakteren und eine möglichst realistische Präsentation."61 Aber die Spieler selbst konstatieren regelmäßig, dass virtuelle Gewalt ihrerseits anders als reale Gewalt gerahmt und tatsächlich nicht als Aggression, sondern u.a. nur ästhetisiert, empathiefrei und funktionalistisch wahrgenommen wird.62 Insofern konstatiert auch HARTMANN 2006, "dass Handlungen innerhalb eines Spiels eine andere Bedeutung besitzen als […] in der Alltagswirklichkeit […], weswegen auch scheinbar gewalttätige Computerspielhandlungen nicht ohne weiteres als tatsächliche Aggression, mit der einem Lebewesen geschadet werden soll, definiert werden können […]. In 'gewalthaltigen Computerspielen' kommt es […] zur Ausführung 'virtueller Gewalt', mit der nur scheinbar […] Computerspielfiguren […] Schaden (innerhalb der Spielrealität) zugefügt wird. Konservativ formuliert, lässt sich jene 'virtuelle Gewalt' mit dem Schlagen einer Spielfigur im Schach vergleichen, was ebenfalls in einem symbolischen Kontext (Türme, Könige, Bauern), insbesondere aber in einem durch die Spiellogik ('den Gegner schachmatt setzen') strukturierten Realitätsrahmen vollzogen wird."63 HARTMANN/VORDERER 2009 komplementieren die Definition und argumentieren i.d.S., dass "[…] virtual violence can be defined as any user behavior that follows the intention to do harm to other social characters in a video game, while the game characters are motivated to avoid the harm-doing. One could argue that the concept of doing harm does not apply to video games at all, because game characters are not living beings and thus do not fall into the 'scope of justice' […]. In fact, users of violent games argue that shooting opponents in a video game does not constitute the elimination of social entities but rather the removal of objects or obstacles […]. If so, the term 'virtual violence' would be inappropriate […]."64 Auch ist die Präsentation der Gewaltdarstellungen regelmäßig nicht besonders realistisch (s.u.). Insofern dürfte ein Priming aggressiver Kognition durch violente Computerspiele i.d.R. bereits theoretisch kaum oder gar nicht plausibel sein. 3.3 Die Desensibilisierungshypothese Nach der Desensibilisierungshypothese desensibilisiert Mediengewalt die Rezipienten namensgemäß nicht nur affektiv, sondern auch kognitiv ggü. realer Gewalt, so dass infolge einer reduzierten Empathie als Inhibitor aggessiven Verhaltens (affektive Desensibilisierung),65 wie auch einer normativen Akzeptanz von Gewalt als legitimen Konfliktlösungsmittel (kognitive Desensibilisierung) eine Förderung aggressiven Verhaltens wahrscheinlich sei.66 Bereits im Lichte einer "Lesekompetenz […] für Gewaltdarstellungen" ist aber gem. WILLMANN 2003b nicht plausibel, dass Mediengewaltdarstellungen die Rezipienten nicht einzig ggü. anderen Mediengewaltdarstellungen habitualisieren,67 sondern auch ggü. unmittelbarer, realer Gewalt desensibilisieren können sollen: Diejenigen, die mit den ästhetischen Konventionen einer bestimmten Schule von Gewalt-Ikonographie nicht vertraut sind,68 betrachten entsprechende Werke mit quasi "pornographischem" Blick – und unterstellen diesen auch dem Stammpublikum: Der dargestellte Gewaltakt wirkt als starkes Stimulanz wahrgenommen, das die Barriere zwischen Fiktion und Realität zu transzendieren scheint; das unmittelbare, körperliche Erregung hervorruft; das sämtliche Schutzwälle der distanzierten Betrachtung durchbricht. Diese Wirkung schwächt sich mit wiederholtem Ansehen einer speziellen Art von Gewalt-Ästhetik ab: Man lernt, mit der entsprechenden Darstellungsform umzugehen, ihren Inhalt nicht mehr als einzigen und unkalkulierbar starken Reiz zu empfinden. Es ergibt sich eine Normalisierung des Blicks, der gezeigte 61 62 63 64 65 66 67 68 SALISCH/OPPL/KRISTEN 2007, S.85f.. Vgl. FRITZ/FEHR 1997, S.284ff.; LADAS 2002, S.165 und LADAS 2003, S.31. HARTMANN 2006, S.83f. und vgl. WEGENER-SPÖHRING 1997, S.263. HARTMANN/VORDERER 2009, S.865f.; vgl. HARTMANN 2011. Vgl. SONG 2002. Vgl. KUNCZIK 1978, S.37; VOGELSANG 1991, S.103; BOHRMANN 1997, S.180; KUNCZIK 1998, S.109-113; VOLLBRECHT 2001, S.169f.; BUCHLOH 2002, S.43f.; SPARKS/SPARKS 2002, S.279; FEIBEL 2004, S.146 und KUNCZIK 2007, S.1. Vgl. KUNCZIK 1975, S.132f. und KÜBLER 1998, S.480f.. Vgl. WULFF 1985. 23 Gewaltakt wird zum Element in einem größeren, komplexeren Kontext. Das ist jedoch etwas anderes als ein 'Gewöhnungseffekt' im Sinne einer Desensibilisierung – es betrifft nicht automatisch die Wahrnehmung von Gewalt an sich (und erst recht nicht realer Gewalt [...]). Es ist gerade umgekehrt eine Sensibilisierung für die Regeln, Codes und Konventionen einer Darstellungsweise. Und vor allem ist es eine Sensibilisierung für die Fiktionalität der Darstellung.69 Oder zumindest ihre Medialität: Wir alle haben uns an den Anblick sterbender Menschen oder verhungernder Kinder in den Abendnachrichten zumindest soweit gewöhnt, dass wir diese Bilder – und auch sie gehorchen unausgesprochen genauen Abbildungsregeln – mit der überlebensnotwendigen Distanz sehen können. Das heißt nicht, dass irgendjemanden von uns der reale Anblick eines sterbenden Menschen, eines verhungernden Kindes auch nur annähernd kalt lassen würde.70 Ungeachtet dessen, dass der skizzierte pornographische Blick der "Analphabeten des BilderBlutes"71 ein Ausgangspunkt der Mediengewaltwirkungsforschung, wie auch des deutschen Jugendmedienschutzes und der moralpanischen Diabolisierungen der Mediengewalt ist, orientiert sich die Argumentation des Autors essentiell an einer insb. ggü. Gewalt darstellenden Computerspielen nicht besonders plausiblen, aber zentralen Prämisse der Hypothese, wie sie auch Proponenten derselben formulieren; CARNAGEY/ANDERSON/BUSHMAN 2007 behaupten bspw., dass Darstellungen fiktionaler, wie auch virtueller Gewalt per se aversive Stimuli seien und infolge dessen "normal negative reactions to violence"72 evozierten: "The initial response […] to violent media is fear and anxiety […]. When violent stimuli are repeatedly presented in a positive emotional context (e.g., exciting background music, sound effects, visual effects, rewards for violent actions in the game), these initial distressing reactions are reduced."73 BÖSCHE 2010 argumentierte diesbzgl., dass "[…] one might disagree with the assumption that seeing and enacting of virtual violence will (unless desensitized) result in a negative aversive emotional state per se. […] it […] remains rather doubtful that playing violent video games raises exclusively negative emotions. […] It is conceivable that a player understands aggressive stimuli as being 'not for real' or not really hazardous, but rather virtual, and habitual violent video game players often emphasize the idea of a game-reality distinction […]. The conscious marking of stimuli as being virtual can indeed allow for different emotional and behavioral responses than those elicited by real stimuli […]."74 Auch FRITZ/FEHR 2003 argumentieren mehr oder weniger i.d.S., dass Empathie im Rahmen der virtuellen Welt des Computerspiels regelmäßig unangemessen sei: Das vom Computer generierte 'Gegenüber' lässt sich nicht empathisch erschließen, sondern nur einschätzen hinsichtlich seiner programmierten Reaktionsmuster. Nicht Empathie wird verlangt, sondern strategisch-taktisches Verhalten im Rahmen eines festgelegten Regelsystems, das für die jeweilige virtuelle Welt Gültigkeit hat. Die Figuren im Computerspiel sind nur Handlungsträger in funktional bestimmten Abläufen und keinesfalls Objekte, denen man emotional getönte Empathie entgegenbringen müsste [...]. Ein virtuelles Gegenüber kann nur Objekt im Rahmen funktionaler Denk- und Handlungsprozesse sein, nie Subjekt. Deshalb haben moralische Erwägungen im Handlungsvollzug des Computerspiels keinen Ort. Für die Entfaltung von Macht, Herrschaft und Kontrolle ist die Handlungsebene 69 70 71 72 73 74 Vgl. WINTER 1995, S.127-213. WILLMANN 2003b, S.137f.; vgl. KUNCZIK 1975, S.132f. und KÜBLER 1998, S.18. GRAFF 2005b. CARNAGEY/ANDERSON/BUSHMAN 2007, S.495 CARNAGEY/ANDERSON/BUSHMAN 2007, S.491 und vgl. BARTHOLOW/BUSHMAN/SESTIR 2006, S.532. BÖSCHE 2010, S.140; vgl. BOYLE/HIBBERD 2005, S.22 und RIEPE 2003, S.9. Bereits BÖSCHE 2009 argumentierte, dass insofern Mediengewaltdarstellungen per se vermeintlich normale, negative Affeke der Probanden evozieren können sollen, dieselben Affekte auch Spielleistungen inhibieren müssten: "If an aversive stimulus is expected as a consequence of a certain action, or if there is an inhibition of that action, it will be initiated and executed more slowly, or not at all. [...] poor performance within a VVG can be considered a simple and straightforward indicator of inhibition of aggression. […] if there are negative emotional responses to virtual violence in VVGs initially, then playing a video game that contains violence would be expected to result in inferior game performance compared to a game without violence. […] if novice players perceive VVGs as a digitized version of intrinsically harmless and essentially positively evaluated rough-and-tumble play, the result might be an enhanced level of performance. The experiment described here tested these competing hypotheses by randomly assigning naive participants to one of three versions of a custom-made video game in which the presence of violent content was manipulated by exchanging critical graphics, sounds and instructions. Game performance and its development over time were recorded while the participants played essentially the same game, which differed only in the level of violence depicted. A non-violent game version, a moderately violent one, and […] a third, extremely violent version were developed. […] The participants show superior performance in the violent game versions compared to the non-violent one from beginning to end of the game. In other words, the virtual violence or the potentially fearful and disgusting stimuli associated with the game did not harm performance. Rather than a hesitation or inhibition effect, the results show a facilitation of performance by violent acts, lending support to the idea that such violent acts are not perceived as repulsive or disgusting, but rather as exciting and as enhancing the enjoyment of the game." (S.5-13) Für eine detailliertere Darstellung (der drei Versionen) des eigens programmierten Spiels s. Kapitel 5.2. 24 entscheidend. Die Inhaltsebene des Computerspiels dient nur zur anfänglichen Motivation und als Orientierungshilfe für die Entwicklung angemessener Handlungsmuster. Dies gilt prinzipiell auch für gewaltorientierte Spielhandlungen. Unter permanentem Handlungsdruck bleibt ohnehin nicht die Zeit, das Gegenüber empathisch zu erschließen, ihm Achtung zu erweisen oder moralische Erwägungen anzustellen: Erst kommt das "Überleben" und dann die "Moral".75 Insofern aber die im Rahmen von Computerspielen dargestellten Gewaltakte (z.B. auch dank Rationalisierungsprozessen der Spieler selbst oder des sog. Uncanney Valley) regelmäßig ein "Dispens von Empathie"76 charakterisiert, sie gar kein starkes, initiale Empathiereaktionen evozierendes Stimulanz für die Spieler sind, ist noch nicht einmal eine Habitualisierung ggü. Gewaltdarstellungen in anderen Computerspielen, insb. aber keine Desensibilisierung ggü. realer Gewalt anzunehmen.77 Auch insofern Computerspielfiguren z.B. gem. LADAS 2003 im Rahmen einer "ausgeprägten, psychologisch tiefen Spielgeschichte"78 doch ein empathisches Empfinden der Spieler (wie z.B. Mitleid) evozieren können, muss konstatiert werden, dass die Überwindung der Hemmschwelle zur virtuellen Gewaltanwendung und dgl. zur realen Gewaltanwendung prinzipiell wohl kaum vergleichbar sind; einerseits ist die virtuelle Gewalt für die Realität nämlich prinzipiell folgenlos, andererseits wird dieselbe seitens der Spieler i.d.R. ja auch gar nicht als Gewalt i.e.S. wahrgenommen (s.o.). Nichtsdestotrotz ist die Hypothese nicht nur in der Mediengewaltwirkungsforschung, sondern auch in der Öffentlichkeit nach wie vor extrem populär,79 bspw. wird argumentiert, dass eine vermeintliche Brutalisierung der Medien i.S.e. Reizspirale (desensibilisierte Rezipienten benötigten immer extremere Gewaltstimuli) ein indirektes Indiz für die Desensibilisierung (und nicht nur die Habitualisierung) der Rezipienten sei.80 Letztlich basiert auch das im Folgenden noch diskutierte Indizierungskriterium der Verrohung des § 18 Abs. 1 JuSchG (s. Kapitel 11.3) essentiell auf der Desensibilisierungshypothese. 3.4 Die Lerntheorie Nach der sozial-kognitiven Lerntheorie81 ist aggressives Verhalten (wie soziales Verhalten per se) primär, resp. mehr oder weniger gar ausschließ. erlerntes Verhalten; gem. KUNCZIK/ ZIPFEL 2004 geht die Lerntheorie davon aus, "daß sich Menschen Handlungsmuster aneignen, indem sie das Verhalten anderer Personen verfolgen (sei es in der Realität oder in den Medien) und daraus Regeln abstrahieren ('Lernen am Modell'). […] Ob aus den latenten Handlungsmodellen manifestes Verhalten resultiert, hängt von verschiedenen Faktoren ab, die während des Lernprozesses wirksam werden. Hierzu gehören neben der Ähnlichkeit der Situation und dem Vorhandenein der entsprechenden Mittel für eine Imitation (z.B. Besitz von Waffen) in erster Linie die Konsequenzen eines solchen Verhaltens (Erfolg bzw. Mißerfolg, Belohnung bzw. Bestrafung) sowohl für das Modell als auch für den Beobachter. […] Gewalttätiges Verhalten unterliegt normalerweise Hemmungen, d.h. regulativen Mechanismen wie sozialen Normen, Furcht vor Bestrafung und Vergeltung, Schuldgefühlen und Angst, die verhindern, daß Gewalt tatsächlich ausgeübt wird.82 Insgesamt werden im Rahmen der Lerntheorie neben den Merkmalen von Medieninhalten (z.B. Stellenwert, Deutlichkeit, Nachvollziehbarkeit von Gewalt; Effizienz, Rechtfertigung, Belohung von Gewalt) die Eigenschaften des Beobachters (z.B. Wahrnehmungsfähigkeit, Erregungsniveau, Charaktereigenschaften, frühere Erfahrungen, wie z.B. Bekräftigung erworbener Verhaltensmuster) sowie situative Bedingungen (z.B. Sozialisation, Normen und Verhaltensweisen in der familiären Umwelt und in den Bezugsgruppen, d.h. Peer-Groups) als Einflußfaktoren bei der Wirkung von Mediengewalt einbezogen […]. Die Lerntheorie berücksichtigt, daß Handeln durch Denken kontrolliert wird und 75 76 77 78 79 80 81 82 FRITZ/FEHR 2003, S.55ff.; vgl. GIESELMANN 2000; LADAS 2002, S.21; STRÜBER 2006, S.54 und WEBER/ RITTERFELD/MATHIAK 2006. FRITZ/FEHR 1997, S.284. Vgl. LADAS 2002, S.192f.. LADAS 2003, S.33. Vgl. BODMER 2002, S.34. Für eine diesbzgl. Kritik s. KUNCZICK 1994a. Vgl. BANDURA/ROSS/ROSS 1961; BANDURA/ROSS/ROSS 1963; BANDURA/WALTERS 1963; BANDURA 1979a; BANDURA 1979b und BANDURA 1979c. Vgl. BANDURA 1979a, S.97 und KUNCZIK 1995, S.137. 25 verschiedene Beobachter identische Inhalte unterschiedlich wahrnehmen und daraus auch unterschiedliche Verhaltenskonsequenzen ableiten können."83 Infolge dessen können im Rahmen der Lerntheorie prinzipiell keine Aussagen zur generellen Wirkung medialer Gewaltdarstellungen o.ä. gemacht werden, da diese bspw. auch i.S.v. negativem Lernen gem. VOLLBRECHT 2001 vermitteln können, "dass Gewalt sich nicht lohnt und schwerwiegende Folgen für die Opfer hat."84 Das Erlernen von aggressiven Verhaltensweisen selbst medialer Modelle ist insg. zwar auch plausibel (und gleichermaßen trivial), ungeachtet dessen, dass die Lerntheorie u.a. gem. THEUNERT 1987 oftmals insb. "wegen der impliziten statischen und mechanistischen Auffassung menschlicher Lernprozesse und der relativ monokausalen Vorstellung von Zustandekommen und Ausformung menschlichen Verhaltens und Handelns"85 kritisiert wird (als müssten Menschen mehr oder weniger zwingend alle möglichen Verhaltensweisen anderer Personen erlernen und sich bei passender Gelegenheit auch noch danach richten),86 argumentieren aber z.B. FERGUSON/DYCK 2012 im Lichte aktuellerer, biologischer Aggressionsbefunde, dass Lerntheorien insg. wohl auch kaum die passabelsten Theorien zur Erklärung aggressiven Verhaltens sind: The social cognitive paradigm argues that aggression is largely a process of cognition, in which cognitive schemas and scripts are learned through observation and applied with automaticity to new environmental antecedents. […] Social cognitive models of aggression portray the cognitive and affective processes of aggression as largely automatic, mechanistic and unconscious. […] Although social cognitive models of aggression may [...] allow for some biological or personological influences, they are seldom detailed at length, and the social cognitive view remains largely a "learning only" view, at least in its elaboration […].87 […] The view that aggressive behavior is primarily a learned behavior [...] ignores considerable evidence regarding the genetic […], neurobiological […], neuroendocrine […] and other biological elements that contribute to aggression […]. […] although it is clear that environment and environmental strain can increase aggressiveness […] it is less clear if learning is the primary mechanism through which the environment influences aggression. For instance, there is considerable evidence that stress from the environment rather than learning, is a key variable […]. This is not to say that learning of aggression does not happen; only that it appears to be a relatively weak variable compared to other inputs.88 Ungeachtet dessen dürften mediale Modelle für das Erlernen und auch die Ausführung aggressiver Verhaltensweisen aber auch insg. nicht besonders prägend sein; Menschen lernen nämlich unmittelbar (und infolge dessen wesentlich intensiver) und auch noch vor den ersten Kontakten mit Mediengewaltdarstellungen durch reale, primäre (Eltern; familiäre Umwelt), wie auch sekundäre Sozialisationsinstanzen und -agenten (z.B. Peer-Groups; Schule) aggressives Verhalten.89 Dass aber die Medien insg. und selbst auch nur fiktionale Inhalte den beiden Sozialisatoren gleichrangig sein und die Erziehung, wie auch die primäre und sekundäre Sozialisation und die skizzierte antizipatorischen Kontrolle menschlichen Verhaltens konterkarieren können sollen, ist nicht besonders plausibel.90 Infolge dessen ist die Lerntheorie auch kein "Allmachtsmodell der Massenkommunikation"91 o.ä., wird aber als dgl. oftmals vor allem im Rahmen der Mediengewaltwirkungsforschung missbraucht.92 Insb. Computerspiele dürften i.d.R. auch keine besonders passablen Lernmodelle sein; einerseits argumentieren Autoren wie bspw. SHERRY/LUCAS/GREENBERG et al. 2006, dass bereits die aktive Wahl der Rollenmodelle seitens der Spieler evtl. Lerneffekte unterminieren müsste: "If video game players were acquiring behavior via a social learning mechanism, they would be aware of and self-reflective upon their choices. However, video game users do not report using games to learn how to behave in the same manner as television and film viewers do. While there may be incidental social learning of behavior, it is more likely that video game effects will 83 84 85 86 87 88 89 90 91 92 KUNCZIK/ZIPFEL 2004, S.13; vgl. KUNCZIK 1975, S.398-529; MOSER 1995, S.166; KÜBLER 1998, S.16; KUNCZIK/ ZIPFEL 1998, S.567ff.; VOLLBRECHT 2001, S.168; BUCHLOH 2002, S.44 und TEDESCHI 2002, S.577ff.. VOLLBRECHT 2001, S.172 und vgl. GRIMM 1999, S.706ff. THEUNERT 1987, S.17. Vgl. TEDESCHI 2002, S.578 und FERGUSON 2010, S.68. En détail bzgl. der Dogmatisierung der Lerntheorie im Rahmen der Sozialwissenschaften s. FERGUSON 2010, S.68. FERGUSON/DYCK 2012, S.221-224. Vgl. KUNCZIK 1994b, S.221 und STRÜBER 2006, S.78. Vgl. BOSSELMANN 1987, S.107; KÜBLER 1998, S.4; und KUNCZIK 1998, S.1. KUNCZIK 1988, S.87. Vgl. KUNCZIK 1988, S.75 und FERGUSON 2010, S.71f.. 26 result from another mechanism […]."93 Andererseits sind für das Erlernen aggressiven Verhaltens der Realismus der Gewaltdarstellungen, wie auch für die Ausführung der erlernten Verhaltensweisen gewisse Ähnlichkeiten der realen mit den modellierenden, medialen Situationen mehr oder weniger notwendige Bedingungen: Ungeachtet dessen, dass die Spieler selbst Computerspiele insg. i.d.R. als nicht besonders realistisch wahrnehmen,94 können Gewaltdarstellungen in Computerspielen infolge einer gewissen technischen Progression zwar visuell immer realistischer werden und wird Gewalt z.T. auch bereits so explizit, wie detailliert dargestellt (ohne diesbzgl. quantitative Entwicklungstendenzen des Angebots, bspw. eine Brutalisierung der Computerspiele kolportieren zu wollen; s.u.), aber auch ungeachtet bereits infolge fehlender fotorealistischer Graphik u./o. zugunsten bspw. ästhetischer Gründe verfremdeter Gewaltdarstellungen sind entweder ein mangelnder Detailgrad (z.B. fehlende Details, Blut- oder Physikeffekte) u./o. (cineastischerweise) spektakuläre, hyperviolente Splatter- und Goreeffekte (Blutfontänen; explodierende Körper etc.) die Regel (s. GEARS OF WAR 3; DEAD RISING 2; DEAD SPACE 2; MORTAL KOMBAT). Aber selbst gem. dem Fall, dass Gewalteinwirkungen visuell realistisch dargestellt würden, wäre das natürlich noch keine hinreichende Bedingung für die Bezeichnung einer Gewaltdarstellung als realistisch, diesbzgl. werden nämlich bspw. im Lichte der sechs Dimensionen perzipierten Realismus nach HALL 2003 – "plausibility, typicality, factuality, emotional involvement, narrative consistency, and perceptual persuasiveness" – auch die Kontexte der Darstellung relevant. Nicht nur phantastische Szenarien relativieren aber offensichtlicherweise den Realismus einer Gewaltdarstellung, auch an der realen Welt orientiertere Szenarien sind i.d.R. nicht die realistischsten und thematisieren regelmäßig unwahrscheinlich(st)e Extremsituationen, in die kein Normalsterblicher je manövriert würde. Insofern ist auch eine (hinreichende) Ähnlichkeit der realen mit den evtl. modellierenden Spielsituationen quasi nie der Fall, weder insofern die Spielszenarien phantastisch sind, noch gem. dem Fall einer hypothetisch wahren Existenz des Szenariums: Auch die mehr oder weniger realistischeren, an der realen Welt orientierten Spielewelten (z.B. in Kriegsspielen) haben mit den Lebenswelten der Spieler kaum oder gar keine Überschneidungen (das dürfte ja auch einer der Gründe für die Attraktivität der Spiele sein), so dass die ohnehin unwahrscheinliche Ausführung der u.U. erlernten Verhaltensweisen noch unwahrscheinlicher wird. Lerntheoretisch orientierte Computerspielgewaltwirkungsforscher wie bspw. CARNAGEY/ ANDERSON 2004 argumentieren aber ungeachtet dessen nicht nur, dass gewaltdarstellende Computerspiele ein formidables Lernumfeld für den Erwerb aggressiver Konfliktlösestrategien böten, sondern auch höchstwahrscheinlich stärkere Lerneffekte, resp. ein stärkeres diesbzgl. Gefährdungspotenzial als bspw. Film und Fernsehen zeitigen würden: […] playing violent video games involve almost complete attention and involvement, more identification with violent characters, more reinforcement of violent acts, and higher frequency of violent scenes. […] A player must typically focus his [...] attention towards the video game or a failure of goals will occur. This means that the player is constantly watching the screen and is focused on any potential violence that will be shown. […] Viewing television or movies can be a relatively passive process. Violence will occur during the television program regardless of what the viewer does. In video games, this is not the case. […] Video game players are responsible for the violence they see on the screen. […] learning is enhanced when people are actively rather than passively involved. […] Violent video game players are essentially forced to identify with the character they are controlling. Players are required to take on the identity of a video game persona and "become" the violent character. In first person video games, the player sees the virtual world through the eyes of the main character. The perspective on the screen is everything that the main character would see. In some third person games, players are allowed to alter the appearance, gender, and name of the character they are controlling. This can allow the player to create a visual replica of oneself in the video game. In some […] games, the player can import scanned images of faces directly onto characters in the game […]. […] identifying with a violent character increases the media violence effect. […] When viewing television or movies, a viewer may only receive indirect rewards for violent actions of the characters (e.g., witnessing when a violent character is rewarded for his or her actions). When individuals play violent video games, there is direct (and typically instant) reinforcement for their choice of action. This reinforcement can come in numerous forms: visual effects, sound effects (e.g., 93 94 SHERRY/LUCAS/GREENBERG et al. 2006, S.26. Kritisch auch DECKER 2005, S.14; WILLIAMS/SKORIC 2005 und SHERRY 2007, S.251ff.. Vgl. BUTTS 2006, S.22; MALLIET 2006, S.383 und DAWSON/CRAGG/TAYLOR et al. 2007, S.11. 27 groans of pain from an injured target), verbal praise (e.g., when a target is hit the computer says "well done" or "impressive"), points for various violent actions, and advancing to the next game level after obtaining certain goals. […] aggression is likely to increase when it is rewarded. […] Even in the most violent movies, the violence is not completely constant. […] This is not necessarily the case for video games. Despite the more recent addition of "cut scenes" [...], the violence in video games is almost continuous. […] Players are almost continuously exposed to scenes of gore, blood, and screams of pain.95 Ungeachtet dessen, dass auch aktuell nur ein paar Studien die diesbzgl. Medienwirkungspotenziale von Film und Fernsehen einerseits und Computerspielen andererseits miteinander verglichen haben und nicht überraschend auch nicht durch eine Konsistenz der Resultate (aber mit den im folgenden noch diskutierten endemischen Problemen der Mediengewaltwirkungsforschung) brillieren,96 konzipieren die zitierten Argumente für ein stärkeres diesbzgl. Gefährdungspotenzial von Computerspielen dieselben Spiele, wie auch das Spielen derselben insg. zu simpel: Anders als Nichtspieler regelmäßig glauben, sind auch für Computerspiele bspw. je nach Spielgenre, -komplexität, -dynamik und -schwierigkeitsgrad i.V.m. der Spielekompetenz der Spieler selbst insb. für routiniertere Spieler dekonzentriertere Spielweisen – ähnlich den "dekonzentrierten Sehweisen"97 für z.B. das Fernsehen – denkbar, so dass Computerspiele wie Film und Fernsehen auch nur ein Nebenbeimedium sein können (bzgl. diverser Echtzeitstrategiespiele u.ä. dürfte das bspw. auch offensichtlich sein). Aber auch insg. darf die Interaktivität der Spieler nicht überbewertet werden; die Spieler sind zwar regelmäßig für die konkreten Gewalthandlungen ihrer Spielersubstitute selbst verantwortlich, im Rahmen von Computerspielen wird virtuelle Gewalt aber nur dargestellt; d.h.: Die Spieler selbst, die virtuelle und reale Gewalt unterschiedlich rahmen (s.o.), verhalten sich nicht aggressiv oder gar gewalttätig und trainieren i.d.S. auch keine Gewalthandlungen, sondern erlernen Spielmechaniken und -reglements, trainieren die für die Spielkontrolle notwendige sensumotorische Synchronisation u.ä.. Auch das die Spieler sich zwingend mit den (auch noch so unsympathischen, unrealistischen etc.) Spielersubstituten identifizieren müssten – auch ungeachtet fehlender Immersion u.ä. – und diesbzgl. technische Aspekte, die Egoperspektive oder der Umstand, dass die Spieler die Substitute kontrollieren, hinreichend sein könnten, ist nicht besonders plausibel. Relevanter für eine Identifizierung mit dem Spielersubstitut dürften Sympathien für das Substitut, Ähnlichkeiten der Lebenssituation desselben und der des Spielers und eine immersive, wie auch emotionale Involvierung des Spielers (die sich nicht alleine technisch begründen lässt) sein (s. auch die Kommentierung zur Katharsishypothese). Oftmals bieten die Substitute dem Spieler aber nur so viel Identifikationspotenzial, wie eine Schachfigur. Ein tendenziell simpleres Verständnis von Computerspielen demonstriert auch der Kommentar, dass gewaltdarstellende Computerspiele die virtuellen Gewaltausübungen der Spieler i.d.R. belohnten. Belohnungen sollen aber inflationärerweise bspw. nicht nur Punkte, sondern bereits Treffervisualisierung und der generelle Spielfortschritt infolge der Gewaltausübungen sein, so dass insofern bereits quasi jede nicht erfolgte ausdrückliche (spielmechanische) Sanktionierung von virtueller Gewalt als Belohnung derselben kritisiert werden könnte; eine atavistische Wahrnehmung von Computerspielen, die auch bereits FERGUSON 2009 kritisierte: […] many commentators (including psychologists), particularly society’s "elders," are giving testimony on content that they have not personally viewed or have become familiar with. For instance many social scientists and other speakers still comment about games such as Grand Theft Auto as "awarding points" for shooting police officers and other antisocial acts. However, almost no modern video game "awards points" for anything anymore but rather seek to tell complex stories. In fact, games such as Grand Theft Auto and Bully include severe ramifications for antisocial acts (such as more police officers coming in greater amounts, ultimately to shoot the player’s character), although antisocial acts are not specifically prohibited. Comments such as these are immediately viewed as uneducated, moralistic and non-credible by individuals actually familiar with modern media content, and owing to such irresponsible comments, 95 96 97 CARNAGEY/ANDERSON 2004, S.5f.; dgl. auch DILL/DILL 1998, S.411-414; ANDERSON/DILL 2000, S.788; ANDERSON/BUSHMAN 2001; WARTELLA/O’KEEFE/ SCANTLIN 2000, S.72f.; KLIMMT/TREPTE 2003; ANDERSON 2004; FUNK/BALDACCI/PASOLD et al. 2004, S.24; KRAHÈ/MÖLLER 2004, S.54; KUNCZIK 2007; MÖLLER 2007; HÖYNCK/MÖßLE/KLEIMANN et al. 2007b, S.14; SCHULZ/BRUNN/DREYER et al. 2007, S.54-58 und KRCMAR/ FARRAR 2009. Vgl. COOPER/MACKIE 1986; SILVERN/WILLIAMSON 1987; HOPF 2004; TAMBORINI/EASTIN/SKALSKI et al. 2004; HOPF/HUBER/WEIß 2008; POLMAN/CASTRO/AKEN 2008 und FERGUSON/KILBURN 2010. KÜBLER 1998, S.9. 28 the psychological profession loses credibility with wide swaths of the general population.98 Letztlich ist auch der Vorwurf einer quasi endlosen Aneinanderreihung von Gewaltdarstellungen im Rahmen violenter Computerspiele regelmäßig kaum strapazierbar und – abgesehen bspw. vom Genre der Kampfsportspiele (MORTAL KOMBAT etc.) – für aktuellere Spiele tendenziell die Ausnahme; insg. gilt, dass die Quantität der Gewaltausübungen i.d.R. bereits eine Frage des idiosynkratischen Spielstils der Spieler selbst ist (s.u.).99 3.5 Das General Aggression Model (GAM) Das aktuell populärste Aggressions-, wie auch Mediengewaltwirkungsmodell ist das sog. General Aggression Model (GAM) nach ANDERSON/BUSHMAN 2002,100 dass u.a. die Skript- und die sozial-kognitive Lerntheorie, wie auch die Stimulations-, die Desensibilisierungs-, die Kultivierungs- und die Erregungstransferhypothese in einem einzigen Modell miteinander kombinieren will. Eine aktuellere Inkarnation des Modells präsentieren u.a. CARNAGEY/ANDERSON 2004, die auch die im Rahmen des Modells kolportierte besondere Gefährlichkeit von medialen Gewaltdarstellungen für aggressives Verhaltens exponieren: GAM describes a cyclical pattern of interaction between the person and the environment. Three main points compose the cycle: input variables of person and situation, present internal state of the individual, and outcomes resulting from various appraisal and decision processes. […] a person’s behavior is based on 2 main kinds of input variables: the person and the situation […]. The person variables are [...] factors a person brings into the current situation, including traits, current states, beliefs, attitudes, values, sex, scripts, and aggressive personality. Situation variables are [...] environmental factors surrounding the individual, including factors in the environment that could affect the person’s actions, like aggressive cues, provocation, pain, rewards, and frustration. […] Input variables [...] affect an individual’s appraisal of a situation and ultimately affect the behavior performed in response to that appraisal, primarily by influencing the present internal state of the individual. [...] these influences can occur through 3 main aspects of the present internal state: cognition, affect and arousal. […] Input variables can influence internal states by making aggressive constructs more readily accessible in memory. [...] As a construct is repeatedly accessed, its activation threshold decreases. This means that the construct requires less energy necessary for activation, making it chronically accessible. A situational input (e.g., a violent film) results in a temporary lowered threshold of activation, making the construct accessible for a short time. [...] Situational variables may also activate aggressive scripts. Aggressive scripts can bias the interpretation of a situation and the possible responses to that situation. Repeated access of aggressive scripts can also make them more readily accessible and more likely to be activated in future situations, guiding future behavior. […] Input variables can also influence the present internal state through affect, which in turn can impact later behavior. […] Exposure to violent [...] video games also increases state hostility. [...] personality variables are also related to hostility-related affect. […] The final aspect of the present internal state that can be influenced is arousal. [...] An increase in arousal can strengthen an already present action tendency, which could be an aggressive tendency. For example, if the person has been provoked at the time of increased arousal, aggression is more likely to be an outcome than if the arousal increase didn’t occur. […] Arousal elicited by other sources (e.g., exercise) may be misattributed as anger in situations involving provocation, thus more likely producing anger-motivated aggressive behavior. A third […] way is that unusually high and low levels of arousal may be aversive and may stimulate aggression in a similar manner as other aversive stimuli. […] Not only input variables can influence cognition, affect, and arousal, but these 3 routes may also influence one another. […] Typically, the individual will appraise the current situation and then select a behavior appropriate for the situation before that behavior is emitted. Depending on the situational variables and resources present, appraisals may be made hastily and automatically, without much (or any) thought or awareness, resulting in an impulsive behavior. […] frequently the individual will have the time and resources to reappraise the situation and perform a more thoughtful action. […] This action will then be followed by a reaction from the environment, which is typically other people’s response to the action. This social encounter can alter the input variables, depending on the environmental response. This encounter could then modify situation variables, person variables, or both, resulting in a reinforcement or inhibition of similar behavior in the future. […] GAM can be used to interpret the effects of exposure to violent media. Theoretically, violent media can affect all 3 components of internal state. […] the literature on violent video games has shown that playing them can temporarily increase aggressive thoughts, affect and arousal. […] exposure to violent media can reduce arousal to subsequent depictions of violence. Playing a violent video game can also influence the person’s internal state through the affective route by increasing feelings of anger, and 98 99 100 FERGUSON 2009, S.121. Vgl. LACHLAN/MALONEY 2008. Vgl. HARTMANN 2007b, S.2 und GOODSON/PEARSON/GAVON 2010, S.4. Studien, die das GAM in ihren theoretischen Rahmen integrieren, sind z.B. KIRSH 2003; UHLMANN/SWANSON 2004; ANDERSON 2004; ANDERSON/CARNAGEY/ FLANAGAN et al. 2004; ARRIAGA/ESTEVES/CARNEIRO et al. 2006; BARTHOLOW/BUSHMAN/SESTIR 2006; BARLETT/HARRIS/BALDASSARO 2007; GIUMETTI/MARKEY 2007; ANDERSON/GENTILE/BUCKLEY 2007; ANDERSON/CARNAGEY/ BUSHMAN 2007 und ANDERSON/BUSHMAN 2009, wie auch das Gros der anderen, noch im Folgenden thematisierten Computerspielgewaltwirkungsstudien. 29 through the arousal route by increasing heart rate. [...] The cyclical process of GAM lends itself to addressing long-term effects of exposure to media violence. With repeated exposure to certain stimuli (e.g., media violence), particular knowledge structures (e.g., aggressive scripts) become more readily accessible. […] Over time, the individual will employ these knowledge structures and possibly receive environmental reinforcement for their usage. Over time, these knowledge structures become strengthened and more likely to be used in later situations. […] Such long-term effects result from the development, automatization, and reinforcement of aggression-related knowledge structures. In essence, the creation and automatization of these aggression-related knowledge structures and the desensitization effects change the individual’s personality. Long-term consumers of violent media [...] can become more aggressive in outlook, perceptual biases, attitudes, beliefs, and behavior than they were before the repeated exposure, or would have become without such exposure.101 Das GAM präsentiert aber prinzipiell keinen wesentlichen Erkenntnisfortschritt z.B. ggü. der sozial-kognitiven Lerntheorie und auch bzgl. der Interaktion von Kognition, Emotion und Erregung besteht noch Konkretisierungsbedarf,102 ungeachtet dessen, dass bspw. Stimulationsund Desensibilisierungseffekte durch Gewaltdarstellungen in Computerspielen nach wie vor weder besonders plausibel, noch (ungeachtet der konträren Postulate der Proponenten des Modells) empirisch verifiziert, resp. im Lichte der (endemischen) forschungspraktischen Defizite der Mediengewaltwirkungsforschung strapazierbar sind (wie im Folgenden auch noch diskutiert wird). Ein massives Defizit ist auch der Umstand, dass Persönlichkeit i.S.d. Modells nicht viel mehr als nur ein Konstrukt aus Verhaltensskripten und -schemata als Resultat eines sozial-kognitiven Lernprozesses sein soll,103 wie bereits FERGUSON 2009 monierte: "This theory implies 'passive modeling' in which individuals exposed to violent media will more often engage in violent behavior, regardless of personality, family environment, genetics, or other biological contributions. Although researchers [...] acknowledge that some populations may be more susceptible than others, at the same time they argue that anyone exposed to such media will become more aggressive […]. Thus, this passive-modeling theory implies that individuals can begin with no preexisting motivation to aggression or violence but acquire it through repeated exposure to media violence, and it is, as such, a 'tabula rasa' approach […]."104 Teilweise degeneriert das Modell ggü. Computerspielen in der Argumentation seiner Proponenten wie WHITAKER/BUSHMAN 2009 gar zu einem gleichermaßen unplausiblen, wie simplen Konditionierungsmodell, nach dem die Spieler in der Realität gewalttätig(!) sind, weil sie auf dieselben(!) Gratifikationen gewalttätigen Verhaltens spekulieren, wie sie sie in der virtuellen Welt erhalten!105 Nicht besonders überraschend plädieren aktuell FERGUSON/DYCK 2012 überzeugend für eine Abschaffung des Modells; die beiden Autoren kritisieren die (auch nicht besonders plausiblen) fünf fundamentalen (impliziten) Prämissen des Modells – "Aggression is always bad", "The human brain does not distinguish reality from fiction",106 "Aggression is mainly learned", "Aggression is mainly cognitive" und "Aggression is mainly automatic" – als entweder nicht falsifizierbar oder gar als bereits (mehr oder weniger) falsifiziert.107 Bzgl. letzterem, der Auffassung von menschlicher Aggression als primär einem Resultat automatischer, mechanistischer Lernprozesse, monieren sie bspw.: "[…] modeling of behavior is passive, something that individuals must do rather than something they can choose to do. […] the alternative reasoning that watching Brokeback Mountain (or playing violent videogames) may simply create more knowledge on a topic which can in fact be assessed and put to use by the viewer in the way he [...] wants instead of blindly following the script to become homosexual doesn't appear to have been considered in depth."108 Insg. ist das Modell ohne die Gültigkeit des naiven Medien101 102 103 104 105 106 107 108 CARNAGEY/ANDERSON 2004, S.11ff.; vgl. BUSHMAN/ANDERSON 2002, S.1680f.; ANDERSON/CARNAGEY/ EUBANKS 2003; KLIMMT/TREPTE 2003, S.115f.; KUNCZIK/ZIPFEL 2004, S.111-114; KRISTEN 2006, S.46-50; MATHIAK/WEBER 2006a, S.102f. und FERGUSON 2009, S.105. Für eine frühere Inkarnation des Modells, das General Affective Aggression Modell s. auch ANDERSON/DILL 2000. Vgl. KUNCZIK/ZIPFEL 2007, S.224f.. Vgl. FERGUSON/DYCK 2012, S.222.. FERGUSON 2009, S.105; vgl. FERGUSON/RUEDA/CRUZ et al. 2008, S.314 und FERGUSON/DYCK 2012. Vgl. WHITAKER/BUSHMAN 2009, S.1046f.. Dass das menschliche Gehirn nicht zwischen realer und virtueller Gewaltdarstellung differenzieren könne ist eine Prämisse, die aktueller bspw. REGENBOGEN/HERRMANN/FEHR 2010 experimentell in Frage stellen. Vgl. FERGUSON/DYCK 2012, S.222-225. FERGUSON/DYCK 2012, S.225. 30 informationskonzepts i.V.m. der negativen Anthropologie des Stimulus-Objekt-ReaktionModells nicht strapazierbar, resp. nicht plausibel. 4. Die Mediengewaltwirkungsfrage Ungeachtet dessen, dass bereits die Axiome der skizzierten Wirkungstheorien, resp. dieselben nicht besonders plausibel sind, ist auch die so zentrale, wie indifferente Frage der Mediengewaltwirkungsforscher nach den genuinen Wirkungen von Mediengewaltdarstellungen per se unangemessen, wie auch bereits BARKER/PETLEY 2001 kritisierten: "Their question has the same status as those who […] insistently asked if human illnesses, the death of pigs, thunderstorms, and crop failures were the result of witchcraft. The fallacy is that you have a 'thing' called 'witchcraft' for the question to make sense in the first place. […] The central reason, then, why the insistent question is so wrong is because there is no such thing as 'violence' in the media which can have harmful – or beneficial – effects. Of course, different kinds of media use different kinds of 'violence' for different purposes – just as they use music, colour, stock characters, deep-focus photography, rhythmic editing and scenes from the countryside, among many other. But in exactly the same way as it is daft to ask 'what are the effects of rhythmic editing or the use of countryside scenes?' without asking where, when and in what context are they used, so, we insist, it is stupid simply to ask 'what are the effects of violence?"'109 Infolge der indifferenten Ausgangsfrage interessiert die Medien- und insb. die Computerspielgewaltwirkungsforschung ggf. – insofern die Gewalt überhaupt differenziert wurde – quasi ausschl., inwiefern ein (vermeintlich) höheres Gewaltdarstellungsniveau (s.u. die Kommentierung zu BARLETT/HARRIS/BRUEY 2008) oder ausnahmsweise realistische(re) Gewaltdarstellungen ggü. unrealistische(re)n Gewaltdarstellungen stärkere Wirkungseffekte zeitigen.110 Bestenfalls implizieren i.d.S. (lerntheoretisch orientierte) Forscher, die die Mediengewalt nicht (oder nicht hinreichend) differenzieren, dass Gewalt im Rahmen violenter Medieninhalte ein mehr oder weniger homogenes, nur qualitativ (i.S.v. Explizität, Detailgrad, Verletzungsarten etc.) u./o. quantitativ, u.U. vielleicht auch bzgl. des Realismus der Darstellung differenzierbares Phänomen sei – Gewalt insg. (und insb. Mediengewalt) ist aber gem. BONACKER/IMBUSCH 2010 ein Phänomen diverser "Typen und Formen, Dimensionen und Sinnstrukturen, Dynamiken und Kontexte"111 – und dass Gewalt ausnahmslos als nachvollziehbare, effiziente (und ggf. mehr oder weniger belohnte) Verhaltensweise legitimiert wird, wie auch dass die Rezipienten die Gewaltdarstellungen i.d.S. wahrnehmen (und z.B. auch unkritisch-affirmativ die textuelle Tätersperspektive adaptieren, egal wie unangemessen oder gar absurd das Rollenmodell ist), auch ungeachtet dessen, dass bzgl. Computerspielen ein mangelnder Spielerfolg des Spielers dgl. (im Sinne negativen Lernens) u.U. konterkarieren könnte (den diesbzgl. Erfolg aber noch 109 110 111 BARKER/PETLEY 2001, S.1f.. Kurioserweise hat erst eine Studie einen inhaltlichen und gleichzeitig auch graphischen Realismus als notwendige Bedingung für eine Attribuierung einer Darstellung als realistisch formuliert, nämlich ANDERSON/CARNAGEY/FLANAGAN et al. 2004: "We […] provided a first attempt to examine the effects of varying the realism or the 'humanness' of the targets of aggression within a game. […] Half of the violent game participants played the original version of Marathon 2, in which the targets are humanoid aliens with green blood. The other half played the same game except that the targets were given a human appearance and spouted red blood when shot." (225) Nach dem Spielen wurde die Zugänglichkeit aggressiver Gedanken der Experimental- und der Kontrollgruppe (per Wortergänzungstest; s.u.) kontrolliert, ohne dass die Unterschiede statistisch signifikant waren. Die Autoren spekulierten, dass die Operationalisierung des Realismus (der Menschlichkeit) u.U. ungeeignet war. Tatsächlich ist das Spiel in beiden Versionen kein besonders realistisches (und als 1995 erstmalig veröffentlichtes auch ein bereits damals nicht mehr repräsentatives) Spiel. Entsprechend kritisch kommentierte KUNCZIK 2002, dass die Frage offen bliebe, "weshalb die Autoren nicht getestet haben, wie die Wirkung blauen Blutes sein könnte?" (S.2) BARLETT/ RODEHEFFER 2009 war bereits das Kriterium der "probability of seeing an object in real life" (S.216) ein hinreichendes Realismuskriterium. Erst der aktuellste Realismusfragebogen von MCGLOIN/FARRAR/KRCMAR 2013 ist plausibler: "Perceived video game realism was broken down into three main types: graphical realism, sound realism, and game play realism. All three of these subscales were measured on a 7-point scale (1 = strongly disagree, 7 = strongly agree). Graphical realism was measured using 10 items […]. Sound realism was measured with 10 items […] and game play realism was measured with six items […]. The scaled included items such as 'The graphics looked like something I would see in real life,' 'The sound effects (throwing of punches, punches landing, foot movement, grunts and groans of characters being hit, etc.) were realistic,' and 'The boxers in the game moved in a natural, human-like fashion.'" (S.75) Aber auch dieser Fragebogen erfasst offensichtlich nicht alle Dimensionen perzipierten Realismus nach bspw. HALL 2003. BONACKER/IMBUSCH 2010, S.83; vgl. GLEICH 1995, S.8f.; HUGGER/STADLER 1995; KUNCZIK 1998, S.13f.; MERTEN 1999, S.21f.; IMBUSCH 2002, S.38-42 und KUNCZIK/ZIPFEL 2004, S.11. 31 keine einzige Wirkungsstudie kontrolliert hat; s.u.). Schlechtestenfalls sollen mediale Gewaltdarstellungen diverser Coleur in Spielen wie SUPER MARIO BROS. bis hin zu Spielen wie MANHUNT 2 mehr oder weniger identisch wirken.112 Beides ist aber nicht besonders plausibel. Plausibler (aber auch weder hinreichend, noch personale Rezipienten- und situationale Rezeptionsvariablen nicht nur als mehr oder weniger mediatisierende Störfaktoren realisierend) wäre bspw. eine bereits von OLSON 2004 propagierte, aber in der Forschungspraxis größtenteils ignorierte Ausdifferenzierung der Mediengewalt, "going beyond the gore level. Does violence that serves a worthy end (e.g., a SWAT team rescuing hostages) or violence that is ultimately punished (e.g., a criminal protagonist ends up dead or in jail) have different effects than violence that is rewarded [...]? Do children who enjoy violent games with story lines differ from those who prefer bouts of fighting? Do violent games that make use of irony and sarcasm […] have differential effects on children who are not cognitively able to detect that irony and sarcasm?"113 Stattdessen fragt die Mediengewaltwirkungsforschung aber nach wie vor nur nach der Wirkung von Gewaltdarstellungen per se. Ein gleichermaßen gravierendes Problem ist im Lichte der Heterogenität der Gewalt, dass das Gros der Mediengewaltwirkungsstudien die den Wirkungsanalysen zugrunde liegenden Gewaltbegriffe erst gar nicht definiert,114 der Gewaltbegriff für sich genommen aber auch im Rahmen der diesbzgl. Forschung nicht eineindeutig ist.115 Irrig ist nach IMBUSCH 2002 gar (oder vielmehr insb.) die Hoffnung, "dass Gewalt wenigstens alltagssprachlich ein einigermaßen präziser Begriff sei, weil doch eigentlich jeder wisse, was damit gemeint sei, und erst durch die sozialwissenschaftliche Ausweitung auf eine breite Palette von Phänomenen seine Konturen und wissenschaftliche Brauchbarkeit eingebüßt hätte, [...] offenbaren doch […] Bevölkerungsumfragen eine hochgradige kognitive Diffusität des Gewaltbegriffs […], die von körperlichen und seelischen Verletzungen über bestimmte Formen von Kriminalität und rüdem Verhalten im Straßenverkehr und Sport bis hin zu soziopolitischer Benachteiligung reicht […]."116 Auch insofern zwar im Rahmen der Mediengewaltwirkungsforschung noch mehr oder weniger (implizit) zwischen personeller und struktureller Gewalt117 differenziert wird und bis dato prinzipiell nur die Wirkungen der Darstellungen ersterer Gewaltart von Interesse sind, ist ohne eine transparente, intersubjektivierbare Gewaltdefinition (auch ungeachtet der dank dessen reduzierten oder gar fehlenden Vergleichbarkeit der einzelnen Studien miteinander) aber schlechtestenfalls überhaupt nicht mehr nachvollziehbar, inwiefern die Mediengewaltexposition der Probanden probat operationalisiert wurde (s.u.) und ob die Interpretationen der Studienergebnisse durch die Forscher selbst noch plausibel sind;118 ggf. sind die Studien gar mehr oder weniger gegenstandslos: Die Forscher analysieren u.U. die Wirkungseffekte Gewalt darstellender Medien, die andere erst gar nicht als (besonders) gewaltdarstellend einstufen würden.119 Ein notwendiger Ausgangspunkt der diesbzgl. Wirkungsstudien, wie auch Inhaltsanalysen, muss i.d.S. eine konkrete Definition des analysierten Phänomens sein, ohne aber natürlich dass eine solche Definition inflationär und praktisch grenzenlos sein darf.120 In Orientierung an aktuelleren Definitionen aggressiven Verhaltens (s.u.) ist z.B. eine Mindestvoraussetzung inter112 113 114 115 116 117 118 119 120 Vgl. CUMBERBATCH 2004, S.33f.. Vgl. OLSON 2004, S.149. Vgl. THEUNERT 1987, S.22; STECKEL 1998, S.13; MAST 1999, S.15; KUNCZIK/ZIPFEL 2004, S.10; MÖLLER 2006, S.62 und SCHULZ/BRUNN/DREYER et al. 2007, S.47/66. Bspw. konstatierte MERTEN 1999 bereits für des Korpus der empirischen Fernsehgewaltwirkungsstudien, dass ca. die Hälfte der Studien den zugrunde liegenden Gewaltbegriff erst gar nicht definierte, ca. ein Viertel der Studien den Begriff inflationär und nur das letzte Viertel das Phänomen mehr oder weniger probat definierte (S.9). Vgl. KUNCZIK 1994a; GLEICH 1995, S.7f.; KLEBER 2000, S.2 und HEITMEYER/HAGAN 2002, S.16. Bzgl. der Etymologie und historischen Genese des Gewalttbegriffs (inkl. diverser Begriffsdefinitionen) s. KUNCZICK 1975, S.33-70; MERTEN 1999, S.13-63 und IMBUSCH 2002, S.28-37. IMBUSCH 2002, S.26; vgl. ZEITTER/JAISER/KAPP et al. 1996 und KEPPLINGER 2002, S.1424f.. Vgl. GALTUNG 1971, S.57; GALTUNG 1975; KUNCZICK 1975, S.37-42; KREBS 1994, S.358; SEIM 1997, S.37; KÜBLER 1998; S.469; MERTEN 1999, S.23; VOLLBRECHT 2001, S.166; IMBUSCH 2002, S.39f.; SCHMIDT 2008, S.11f.. Vgl. KORNADT 1982, S.64f.; GLEICH 1995, S.3 und WOLOCK 2002, S.24. Vgl. SACHER 1993, S.322. Vgl. MAST 1999, S.22. 32 personalen, gewalttätigen Verhaltens (als Form extremer Aggression) die nicht konsensuale Absicht zur Schädigung eines dieselbe Schädigung vermeiden wollenden Interaktionspartners,121 so dass im Rahmen der Mediengewaltwirkungsforschung bereits als Gewalt kommunizierte Phänomene wie Unfälle oder Naturkatastrophen,122 wie auch bspw., dass sich eine Suchtkranke selbst Heroin injiziert,123 eindrucksvolle Beispiele inflationärer Gewaltdefinitionen sind. Insofern die Forschung auch das quantitative, wie ggf. qualitative Gewaltdarstellungsniveau interessiert, muss der Vollständigkeit halber einerseits auch konstatiert werden, dass selbst eine hohe Intercoderreliabilität z.B. der Probanden selbst, wie auch anderer Probanden (bspw. im Rahmen einer Pilotstudie) oder speziell rekrutierter (vermeintlicher) Experten, die die Gewalthaltigkeit der Medieninhalte einschätzen sollen (s.u.), keine hinreichende Intersubjektivierbarkeit der Gewalthalthaltigkeit demonstrieren und eine differenzierte Gewaltdefinition nicht ersetzen kann, ungeachtet dessen, dass solche Einschätzungen auch nicht objektiv sind.124 Ohne eine gemeinsame, verbindliche Gewaltdefinition werden sich die Kodierer tendenziell nur an subjektiven, alltagssprachlichen, resp. an den ggü. den Versuchsleitern antizipierten Gewaltbegriffen orientieren (können), so dass die Versuchsleiter i.V.m. dem Umstand, dass die Kodierer i.d.R. nur mittels eines einzigen Fragebogenitems die Gewalthaltigkeit eines Medieninhaltes kodieren sollen (s.u.), riskieren, dass selbst identische Skalenwerte unterschiedlicher Kodierer keine tatsächlich mehr oder weniger identische Einschätzung der Gewalthaltigkeit derselben Medieninhalte indizieren. Mithin kann u.U. auch bereits die indifferente Frage nach der Gewalthaltigkeit einer Darstellung eine Antworttendenz zur Mitte oder i.S.e. Versuchsleitereffekts evozieren, so dass sich die Kodierer nur an der antizipierten Einschätzung der Versuchsleiter orientieren und ggf. gar Darstellungen als gewalthaltig(er) klassifizieren, die sie selbst aber gar nicht als (dermaßen) gewalthaltig einschätzen. Andererseits wurden mögliche Gewaltdarstellungs- und -wahrnehmungspotenziale violenter Computerspiele tatsächlich auch noch kaum bspw. mittels Inhaltsanalysen, die ggf. einen Eindruck von der Quantität und u.U. auch den Typen und Formen, Dimensionen und Sinnstrukturen, Dynamiken und Kontexten der in den Spielen enthaltenen Gewaltdarstellungen vermitteln könnten, adäquat erfasst. Dennoch ist ein mehr oder weniger zentrales Axiom der Mediengewaltwirkungsforschung insg., wie auch des deutschen Jugendmedienschutzes und der moralpanischen Diabolisierungen der Mediengewalt, eine vermeintliche Brutalisierung der Medien selbst; KÜBLER 2003 monierte i.d.S., dass bereits seit Jahrzehnten geargwöhnt werde, "dass Medien immer mehr Gewalt präsentieren und verbreiten. Pauschal werden dabei alle Medien genannt, mindestens vom Fernsehen bis zu Computerspielen, on- oder offline, ohne die vielfältigen und deutlichen Unterschiede in deren Strukturen, deren Aufgaben, deren Programmen, deren Inhalte und deren Nutzung auch nur annähernd einzubeziehen."125 Einerseits orientieren sich die diesbzgl. Inhaltsanalysen von Computerspielen methodisch offensichtlich an lineare(re)n Medien (insb. Filmen) und ignorieren insg. die Interaktivität der Computerspiele.126 I.d.S. monieren bspw. auch KUNCZIK/ZIPFEL 2010, dass im Lichte dessen, dass die Spielinhalte i.d.R. in Abhängigkeit von idiosynkratischen Spielstilen unterschiedlich ausfallen können (s.u.), den Umstand, "dass das Spiel zur 'Erzeugung' der zu analysierenden Inhalte meistens nur von einem einzigen Spieler gespielt wird."127 Infolge dessen kann eine evtl. Gewalthaltigkeit der analysierten Spiele (insb. auch i.V.m. mit der Subjektivität der Gewaltwahrnehmung; s.o.) kaum oder gar nicht objektiviert werden. Andererseits wurden tatsächlich noch gar keine vergleichbaren Stichproben in Orientierung am selben (weder inflationär, noch nicht hinreichend definierten) Gewaltbegriff mittels derselben Methodik über einen längeren Zeitraum kontinuierlich analysiert, so dass bzgl. vermeintlicher Entwicklungstendenzen von Computer121 122 123 124 125 126 127 Vgl. THEUNERT 1987, S.58. Vgl. RÖSER 2003, S.215. Vgl. LUDWIG/PRUYS 1998, S.581. Vgl. FERGUSON/RUEDA/CRUZ et al. 2008, S.317f. und FERGUSON/RUEDA 2010, S.102. KÜBLER 2003, S.12. Vgl. LACHLAN/MALONEY 2008, S.285. KUNCZIK/ZIPFEL 2010, S.87f.. 33 spielen noch gar keine Aussagen getroffen werden können. I.d.R. werden auch nur die Inhalte der bspw. innerhalb relativ kleiner Märkte (z.B. einer Stadt) u./o. der für diverse Plattformen populärsten Spiele analysiert, wird dabei aber die Popularität nicht nur unterschiedlich definiert (z.B. über Charts, Vermiet- und Verkaufszahlen, Spielernominierungen), sondern sind die Stichproben selbst regelmäßig bereits zum Zeitpunkt der Veröffentlichung der Analysen mehrere Jahre alt und infolge dessen nicht mehr für einen Markt mehrerer zigtausend Spiele (der jährlich auch noch einige tausend neue Spiele veröffentlicht) oder auch nur konkrete(re) Segmente desselben repräsentativ.128 Letztlich wird regelmäßig argumentiert, dass für eine evtl. Mediengewaltwirkung tendenziell notwendig sei, dass die Rezipienten dargestellte Mediengewalt auch selbst als Gewalt (i.e.S.) wahrnehmen.129 Insofern muss im Rahmen der empirischen Mediengewaltwirkungsforschung natürlich z.B. auch kontrolliert werden, inwiefern die Probanden selbst die von den Forschern (im Lichte fehlender oder mangelnder Gewaltdefinitionen mehr oder weniger willkürlich) präselektierten (vermeintlich) violenten Medienhalte selbst als violent definieren.130 I.d.S. kommentierte auch VENUS 2007, dass um die Reliabilität der Messergebnisse garantieren zu können die unabhängige Variable wie ein physikalisches Objekt aufgefasst werden müsse, "das über eindeutige Merkmale verfügt, die der abhängigen Variable, dem Verhalten der Spielenden, systematisch voraus liegen. Genau dies ist ganz offensichtlich nicht der Fall. Medienangebote, Bilder, Klänge, Texte und ihre Kombinationsformen, stoßen dem Einzelnen nicht zu wie ein physikalischer Körper oder eine chemische Substanz. Es handelt sich bei ihnen um Zeichenkomplexe, die nach Maßgabe individueller Wissensbestände und Interessen, die sich in der Sozialisation vermitteln, wahrgenommen, affektiv besetzt, verstanden und beurteilt werden. D.h. die Merkmale des Medienangebots werden im Rezeptionsprozess konstituiert.131 Das physikalische Substrat eines Medienangebots ist nur dessen notwendige, nicht aber dessen hinreichende Bedingung. Medienangebote verwirklichen ihre Merkmale erst im Rahmen spezifischer, sozial vermittelter, und vor allem: milieuspezifisch differenter und historisch veränderlicher Praktiken."132 Bereits MERTEN 1999 konstatierte nämlich, dass Gewalt insg. kein "Beobachtungsterminus" ist, "sondern ein soziales Unwerturteil, welches durch Zuschreibung [...] entsteht und von bestimmten soziostrukturellen Faktoren beeinflusst wird [...]."133 Im Rahmen funktioneller Fernsehinhaltsanalysen, die nicht nur z.B. die präsentierten Gewaltakte zählten, sondern auch das wahrgenommene Gewaltpotenzial des Programms durch verschiedene Zielgruppen analysierten, konnte für die Wahrnehmung von Mediengewalt per se gültig demonstriert werden, dass die Gewalt im Medienangebot erst durch die Interpretation der Rezipienten entsteht;134 i.d.S. resümierte auch VOLLBRECHT 2001: "Ob eine Handlung als Gewalthandlung (soziale Abweichung) oder als normal angesehen wird, unterliegt der Deutung. Es gibt keine Gewalt an sich – weder in den Medien noch in der Realität."135 Insofern ist auch nicht überraschend, dass weder zwischen der objektiven, bspw. inhaltsanalytisch (s.u.) 128 129 130 131 132 133 134 135 Vgl. BRAUN/GIROUX 1989; DIETZ 1998; SCHIERBECK/CARSTENS 2000; GLAUBKE/MILLER/PARKER et al. 2001; HEINTZ-KNOWLES/HENDERSON/GLAUBKE et al. 2001; THOMPSON/HANINGER 2001; LACHLAN/SMITH/ TAMBORINI 2003; HANINGER/THOMPSON 2004; SHIBUYA/SAKAMOTO 2005; DILL/GENTILE/RICHTER et al. 2005; KLEIN 2005; LACHLAN/SMITH/TAMBORINI 2005; HANINGER/THOMPSON/TEPICHIN 2006 und KUNCZIK/ ZIPFEL 2010, S.90f.. Vgl. MAST 1999, S.23; FRÜH 2001, S.16/215; LADAS 2003, S.34 und SCHULZ/BRUNN/DREYER et al. 2007, S.67. Trivial ist im Lichte der bereits artikulierten Kritik an der Lerntheorie der Kommentar von LUKESCH 2002a, dass das Argument der Notwendigkeit der Wahrnehmung von Mediengewaltdarstellungen als Gewaltdarstellungen i.e.S. die Möglichkeit latenten Lernens, resp. das Lernen einer Handlungsweise, ohne dass dieselbe auch subjektiv als Gewaltverhalten kodiert sein muss, ignoriere (S.643); dgl. bereits KUNCZIK 1998, S.55. Vgl. KUNCZIK 1988, S.78f.; MEIROWITZ 1993, S.81; FRÜH 1995; KUNCZIK 1998, S.43; MAST 1999, S.176f.; FRÜH 2001; POTTER/TOMASELLO 2003 und KUNCZIK/ZIPFEL 2004, S.18. Vgl. HALL 1980, S.136ff.; FAULSTICH 1988, S.9; DOELKER 1989, S.24; WINTER 1992; WINTER 1995; KROTZ 1999, S.123; HICKETHIER 2001, S.6/23ff.; MIKOS 2001b, S.173-208; GEHLEN 2002, S.12; WILLMANN 2003b, S.137 und MIKOS 2007. VENUS 2007, S.75. MERTEN 1999, S.17; vgl. BÜTTNER 1988, S.106; RATHMAYR 1996; SCHMIDT 1997; MIKOS 2000, S.60; VOLLBRECHT 2001, S.163 und FRÜH 2001, S.213. Vgl. FRÜH 1995 und FRÜH 2001, S.213. VOLLBRECHT 2001, S.163; vgl. FELTEN 2000; WOLOCK 2002, S.24 und TAMBORINI/WEBER/BOWMAN et al. 2013. 34 erhobenen (und insb. nicht der z.B. nur mehr oder weniger subjektiv seitens der Forscher postulierten) Quantität der Gewaltdarstellungen, noch der Qualität derselben (i.S.v. Explizität, Detailgrad, Verletzungsarten etc.) einerseits und einem von den Rezipienten wahrgenommenen Gewaltdarstellungsniveau, wie auch insb. der moralischen Bewertung der Gewaltdarstellungen andererseits ein konsistenter Zusammenhang besteht.136 Dgl. sind aber ohnehin nicht nur Fragen formaler137 und kontextueller Medien-,138 sondern bspw. auch personaler Rezipienten- und situationaler Rezeptionsvariablen.139 Nur ein paar relativ konsistente Wahrnehmungstendenzen konnten bis dato identifiziert werden: Die Rezipienten nehmen bspw. im Rahmen der Film- und Fernsehgewaltwirkungsstudien i.d.R. (auch bereits perzeptiv) weniger als die quantitiv tatsächlich präsentierten Gewaltakte wahr.140 Auch konnte bspw. FRÜH 2001 demonstrieren, dass Frauen mehr Darstellungen als Männer und ältere Rezipienten (> 35 Jahre) mehr Darstellungen als jüngere Rezipienten (wie auch tendenziell – aber nicht besonders signifikant – Rezipienten mit höherer Bildung als mit niedrigerer Bildung) als gewalthaltig interpretieren. Nicht überraschend wurden mithin auch Darstellungen realer Gewalt als gewalthaltiger als fiktionale Gewaltdarstellungen und Darstellungen von als legitim interpretierter Gewalt (z.B. staatliche Gewalt, Notwehr) als weniger gewalthaltig als Darstellungen von als illegitim interpretierter Gewalt wahrgenommen.141 Auch eine Erwartbarkeit von Gewalt bedingt u.a. gem. KUNCZIK 1988 die Wahrnehmung des Gewaltdarstellungsniveaus: Gewalt in Zusammenhängen, in denen man sie erwartet, "wird als ritualisierte bzw. stereotypisierte Handlungssequenz wahrgenommen, die für die Zuschauer mit der 'Realität' und mit 'Echter Gewalt' nichts zu tun hat."142 Letztlich sind für die Attribuierung einer Darstellung als gewalthaltig, wie auch die Einschätzung des Gewaltniveaus und der moralischen Bewertung der Darstellung seitens der Medienvariablen die Kontexte der Gewalt und nicht so sehr die Quantität u./o. Qualität derselben am relevantesten.143 I.d.S. konnten bspw. POTTER/TOMASELLO 2003, die die Anzahl der Gewaltdarstellungen ein und derselben Folge der Fernsehserie WALKER, TEXAS RANGER variierten, experimentell demonstrieren, dass die objektive Anzahl der dargestellten Gewaltakte für die Wahrnehmung der Gewalthaltigkeit seitens der Rezipienten nicht besonders relevant ist, denn "treatment differences accounted for only about 7% of the variance in judgments of the degree of violence, whereas a set of interpretive variables accounted for more than 48%."144 Auch insofern ist die bereits monierte Nichtdifferenzierung der Mediengewalt problematisch. Für Computerspiele wurde mithin auch bereits festgestellt, dass die Spieler selbst die dargestellte Gewalt nicht als Gewalt i.e.S. (und tendenziell auch weniger Gewalt als z.B. in vergleichbaren filmischen Darstellungen) wahrnehmen (s.o.). Ungeachtet dessen kontrolliert das Gros der Computergewaltwirkungsstudien das von den Probanden wahrgenommene Gewaltdarstellungsniveau aber nicht oder nicht hinreichend.145 Das Problem relativiert aus offensichtlichen Gründen (s.o.) auch nicht das bereits kritisierte Prozedere, dass die Probanden teilweise selbst die Gewalthaltigkeit der Spiele, die sie im Rahmen der Experimente oder privat spielten, einschätzen sollen. 136 137 138 139 140 141 142 143 144 145 KUNCZIK 1998, S.43. TAFALLA 2007 konnte bspw. demonstrieren, dass u.U. bereits die Musik eines Spiels die Wahrnehmung der Gewalthaltigkeit desselben bedingen kann: Spieler beider Geschlechter, die das Spiel DOOM mit aktivierter Spielmusik spielten, bewerteten das Spiel (ungeachtet der thematisierten Kodierungsprobleme) als gewalthaltiger als Spieler, die das Spiel ohne Musik spielten. Bzgl. diverser, die Gewaltwahrnehmung und moralischen Bewertung der dargestellten Film- und Fernsehgewalt evtl. bedingenden (und u.U. auch auf Computerspiele extrapolierbarer) Inhaltsvariablen s. bspw. HOWITT/CUMBERBATCH 1974; GUNTER 1985; THEUNERT 1987, S.106; LUDWIG/PRUYS 1998, S.590; MERTEN 1999, S.63; VOLLBRECHT 2001, S.164f. und KUNCZIK/ ZIPFEL 2004, S.130-146. Vgl. KUNCZIK 1978, S.22; THEUNERT 1987, S.179f.; WINTER 1992; MEIROWITZ 1993, S.81; KUNCZIK 1994a;; RÖSER/KROLL 1995; WINTER 1995; FRITZ/FEHR 1997, S.279; BERGMANN 2000, S.192; MIKOS 2003, S.16; UHLENBROCK 2006, S.56 und VENUS 2007, S.75. Vgl. KUNCZIK 1988, S.78f.. Vgl. FRÜH 2001; MAST 1999, S.179; KEPPLINGER 2002, S.1425 und KUNCZIK/ZIPFEL 2004, S.38. KUNCZIK 1988, S.79; Vgl. KUNCZIK 1994a und SCHULZ/BRUNN/DREYER et al. 2007, S.67. Vgl. FRÜH 2001, S.213 und MORAN 2007. POTTER/TOMASELLO 2003, S.315 und vgl. FUNK/FLORES/BUCHMAN et al. 1999. Vgl. FRÜH 1995, S.172; GAUNTLETT 2001 und GOLDSTEIN 2005, S.341. 35 5. 5.1 Die Operationalisierung von Computerspielgewaltexposition und -stimulus Korrelationsstudien Ungeachtet dessen operationalisierte noch keine Wirkungsstudie die antezedierende oder gar habituelle quantitative, wie auch qualitative Mediengewaltexposition der Probanden im Rahmen des Computerspielens probat, selbst gem. dem Fall, dass der Mediengewaltbegriff hinreichend definiert und ausdifferenziert, wie auch garantiert worden wäre, dass die Probanden selbst die Spiele, die sie spielten, als hinreichend gewalthaltig interpretieren. Offensichtlich ist das bspw. für Studien, die nicht zwischen einem generellen (u.U. mediengattungsspezifischen) Medienkonsum und einer speziellen Mediengewaltexposition der Probanden differenzieren,146 wie auch für Studien, die ungeachtet der Diversität der Medieninhalte auch innerhalb einzelner (vermeintlich per se Gewalt darstellender) Genres nur die Nutzungshäufigkeit derselben kontrollierten.147 Nicht unproblematischer ist aber auch das Prozedere, den Probanden nur eine mehr oder weniger willkürliche Liste konkreter Medientitel zu präsentierten und sie zu instruieren, ihre Nutzungshäufigkeiten für jeden der Titel zu dokumentieren.148 Bspw. präsentierten HOPF/ HUBER/WEIß 2008 den Probanden i.d.S. eine Liste mit 19 Filmtiteln (z.B. SCREAM, FREITAG DER 13.) und 16 Computerspieltiteln (z.B. HALF-LIFE, DOOM, RESIDENT EVIL) für die sie auf einer 5-stufigen Skala pro Titel dokumentieren sollten, wie oft sie denselben jemals genutzt hatten (0-, 1- bis 2-, 3- bis 10-, 11- bis 30- oder mehr als 30-mal). Die Skalenwerte wurden für jedes Medium einzeln addiert und durch die Anzahl der jeweiligen Titel dividiert, so dass die Autoren mediengattungsspezifische Expositionsmaße für Film- und Computerspielgewalt generieren konnten. Die Studie kopierte damit exakt das Prozedere der Querschnittstudie HOPF 2004, den Probanden wurden gar exakt dieselben Medientitel präsentiert (einzig die Anzahl der Spieletitel wurde verdoppelt). Ungeachtet dessen, dass die Listen z.T. bereits zum Erhebungszeitpunkt (den Jahren 1999 und 2000), aber insb. zum Veröffentlichungszeitpunkt der älteren der beiden Studien veraltet waren (bzgl. der Problematik s.u.), führt bereits der Umstand das Expositionsmaß ad absurdum, dass die Probanden privat aus unzähligen anderen Gewalt darstellenden Titeln wählen und sie mehr oder weniger häufig nutzen können, die aber einfach nur nicht Teil der Listen sind, so dass hohe Expositionsmaße der Probanden u.U. (zzgl. der noch zu thematisierenden Probleme) nicht tatsächlich auch eine höhere Mediengewaltexposition derselben indizieren (dafür müssten die Autoren u.a. erst garantieren können, dass die Probanden auch keine anderen als die präsentierten Titel nutzten). Das aktuell populärste der Mediengewaltexpositionsmaße erfanden ANDERSON/DILL 2000: "Participants were asked to name their five favorite video games. After naming each game, participants responded on scales anchored at 1 and 7, rating how often they played the game and how violent the content and graphics of the game were. Responses of 1 were labeled rarely, little or no violent content, and little or no violent graphics, respectively. Responses of 7 were 146 147 148 Vgl. COLWELL/PAYNE 2000 und ANDERSON/SAKAMOTO/GENTILE et al. 2008. Vgl. KRAHÈ/MÖLLER 2004; KRAHÈ/MÖLLER 2010, S.403f.; KRAHÈ/MÖLLER 2011; KRAHÈ/MÖLLER/ HUESMANN et al. 2011 und ANDERSON/SAKAMOTO/GENTILE et al. 2008. Ein diesbzgl. besonders fragwürdiges Bsp. stellt die Studie WILLOUGHBY/ADACHI/GOOD 2010 dar: "Participants were asked to indicate yes or no to whether they played action (e.g., God of War) or fighting (e.g., Mortal Kombat) video games. After consulting with professionals in the industry, these video game categories were chosen because all games in these categories contain violence. Other categories such as strategy games were not included, as some strategy games involve violence (e.g., RainbowSix), while others do not (e.g., Civilization). An index of sustained violent video game play was created by calculating the ratio of number of waves in which the participant reported playing either action or fighting video games to the total number of waves that the participant completed. This index ranged from 0 (never played violent video games during any of the high school grades) to 1 (played violent video games during all of the high school grades). When participants were in Grades 11 and 12 only, frequency of violent video game play also was assessed, and computed as an average of two items: 'On an average day, how often do you play action games?' and 'On an average day, how often do you play fighting games?' (based on a 5-point scale: 1 = not at all to 5 = 5 or more hr). Higher composite scores indicated a higher frequency of violent video game play." (S.105) Ungeachtet dessen, dass im konkreten Fall sog. Kampfsportspiele ("fighting games") auch nur ein Subgenre der Actionsspiele sind und de facto auch nicht alle Spiele des Metagenres der Actionsspiele Gewalt darstellen, ist das generelle Problem aller diesbzgl. Studien, dass die Gewaltdarstellungsniveaus und die diesbzgl. Abstraktionsgrade (wie die Typen, Formen, Dimensionen, Dynamiken, Sinnstrukturen und Kontexte) der dargestellten Gewalt sich bereits innerhalb der Genres gravierend unterscheiden können, insofern Gewalt überhaupt konkret dargestellt wird. Vgl. FERREIRA/RIBEIRO 2001; KRAHÈ/MÖLLER 2004 und MÖLLER 2006. 36 labeled often, extremely violent content, and extremely violent graphics, respectively. […] For each participant, we computed a violence exposure score for each of their five favorite games by summing the violent content and violent graphics ratings and multiplying this by the how-often rating. These five video game violence exposure scores were averaged to provide an overall index of exposure to video game violence."149 Die das Maß seitdem adaptierenden Computerspielgewaltwirkungsstudien variieren bspw. die Anzahl der favorisierten Spiele u./o. den analysierten Nutzungszeitraum, regelmäßig schätzen auch nicht die Probanden selbst das Gewaltniveau der Spiele ein, sondern vermeintliche Experten (s.o.) oder man extrapoliert die Gewalthaltigkeit ggf. aus einer Alterskennzeichnung für das entsprechende Spiel. Das Gros der Studien ignoriert aber die originär empfohlene, aber selbst bereits im Lichte der Diversität der Gewaltdarstellungen unterkomplexe, mittels nur je einem einzigen Fragebogenitem erhobene inhaltliche und graphische Niveaudifferenzierung derselben und fragt stattdessen nur über ein einziges Item (und natürlich i.d.R. auch ohne Definition des Gewaltbegriffs) nach dem generellen Gewaltdarstellungsniveau der Spiele.150 Die Reduzierung der Spiele auf die Gewaltdarstellungsniveaus ignoriert letztlich auch unzählige konfundierende Merkmale derselben (s.u.). Ungeachtet dessen kann das skizzierte Maß aber auch insg. nicht garantieren, dass dieselben Indexwerte auch faktisch dieselbe quantitative, wie qualitative Mediengewaltexposition der Probanden indizieren: Eine Spielefavorisierung indiziert nämlich nicht auch zwangsläufig eine entsprechende Nutzungshäufigkeit der favorisierten Spiele und insb. keine häufigere Nutzung derselben ggü. anderen, u.U. gar violenteren (aber eben nicht favorisierten) Spielen, die die Probanden gleich häufig oder gar häufiger spielen.151 Diese Problematik wird von der Forschung insg. und selbst noch in der aktuellsten Studie zur Validität der gängigen Expositionsmaße konsequent übersehen.152 Auch differenziertere Fragebögen, die die Nutzungshäufigkeit aller Spiele kontrollieren, die die Probanden im Analysezeitraum insg. spielten, können das Problem gem. FERGUSON 2009 kaum oder gar nicht korrigieren: "Whether self-report (or parent report) measures truly measure exposure or only the degree to which certain kinds of exposure are more memorable to certain individuals is a question of concern."153 Selbst gem. dem Fall, dass garantiert werden könnte, dass die Probanden dasselbe Zeitpensum in objektiv gleichermaßen violente, resp. identische Spiele investieren (bspw. im Rahmen einer Langzeitstudie instruiert werden, dass sie ausschl. dieselben, konkreten Spiele für den Analysezeitraum spielen sollen), könnte bereits im Lichte der Interaktivität der Spiele nicht garantiert werden, dass sie qualitativ u./o. quantitativ denselben Mediengewaltniveaus ausgesetzt wären (s.u.).154 Auch selbst gem. dem Fall, dass die antezedierende, ggf. habituelle Mediengewaltexposition probat operationalisiert werden würde, prägt ein weiteres Problem die Mediengewaltwirkungsforschung insg.: Die einschlägigen Korrelationsstudien kontrollieren oftmals nur die bivariaten Korrelationen zwischen der Mediengewaltexposition und bspw. dem aggressiven Verhalten der Probanden, aber nicht (hinreichend) evtl. konfundierende Drittvariablen, die für sich genommen ggf. bereits einen relevanten, eigenständigen Einfluss auf bspw. das aggressive Verhalten haben können, wie bspw. die Persönlichkeit (z.B. die Aggressivität), soziodemographische Faktoren (z.B. Alter, Geschlecht), häusliche Gewalt oder gar die genetischen Dispositionen der Probanden, so dass evtl. Zusammenhänge natürlich u.U. überinterpretiert werden,155 wie aber149 150 151 152 153 154 155 ANDERSON/DILL 2000. Vgl. BUCHANAN/GENTILE/NELSON et al. 2002; FUNK/BUCHMAN/JENKS et al. 2003; ANDERSON/CARNAGEY/ FLANAGAN et al. 2004; FUNK/BALDACCI/PASOLD et al. 2004; GENTILE/LYNCH/LINDER et al. 2004; TAMBORINI/ EASTIN/SKALSKI et al. 2004; BARTHOLOMEW/SESTIR/DAVIS 2005; ANDERSON/SAKAMOTO/GENTILE et al. 2008; FERGUSON/RUEDA/CRUZ et al. 2008; KOGLIN/WITTHÖFT/PETERMANN 2009; BUSHMAN/GIBSON 2010; FERGUSON/RUEDA 2010; FERGUSON/MIGUEL/GARZA 2012; FERGUSON/GARZA/RAMOS et al. 2013; HASAN/ BÈGUE/SCHARKOW 2013 und IVORY/ KAESTLE 2013. Vgl. SALISCH/OPPL/KRISTEN 2007, S.76. Vgl. BUSCHING/GENTILE/KRAHÈ et al. 2013. FERGUSON 2009, S.105. Vgl. SCHULZ/BRUNN/DREYER et al. 2007, S.66 und PENG/LIU/MOU 2008. Vgl. KOLFHAUS 1988a, S.197; KÜBLER 1998, S.471; VOLLBRECHT 2001, S.165; FREEDMAN 2002; WOLOCK 2002, S.25; FRINDTE/OBWEXER 2003; SLATER/HENRY/SWAIM 2003, S.715; WEBER 2003, S.40; CUMBERBATCH 2004, S.19ff./33; KUNCZIK/ZIPFEL 2004, S.235; OLSON 2004, S.147f.; SAVAGE 2004; FERGUSON 2007a; SCHULZ/ 37 mals bereits FERGUSON 2009 monierte: One of the key problems with the extant literature is the failure [...] to take account of key variables that may explain both why individuals are attracted to violent media and why they behave violently. Although researchers sometimes claim to have controlled for "personality" or "family history," this is simply not the case. […] many of the measures used lack reliability and validity. Even if that were not an issue, the measures used are generally substandard for the task at hand. [...] most studies in media violence make no effort to control for personality at all. Those studies that do most often use a single "face-valid" measure of "trait aggression" […] such as the Buss Aggression Questionnaire […]. The problem with such measures is that [...] their purpose is easy to figure out and thus lie upon. [...] Probably the personality characteristic that has been best associated with violent criminal activity is psychopathy […]. The best available measure for this personality trait is the Psychopathy Checklist (PCL […]). Few, if any, studies to date have controlled for this personality characteristic in the examination of media violence effects using the PCL or any other valid measure that has been associated with actual violent behavior. [...] media violence studies rarely make a serious attempt to control for exposure to violence within the family. To the extent that environmental exposure can predict future behavior (that is to say, independent of biology), family violence is arguably a better fit for social modeling theories than is media violence effects, owing to the proximity and emotional closeness to the modeling source. Yet this factor is almost never considered in media violence literature. To the extent that authors claim that it is considered, a close inspection of the data reveals that this is not the case. […] Problems with […] self-report behavior by parents on their own negative behavior should be evident. […] The majority of studies […] simply make no effort to include this important variable. It is difficult to understand the unique contribution of media violence to violent behavior while studies leave family violence variables uncontrolled. Biology represents a third variable that has remained uncontrolled in the current body of media violence literature. Several recent analyses have indicated that genetics plays an important role in the development of antisocial personalities […], with shared environmental influences playing comparatively little role in the development of these traits. To date, no studies have considered genetic heritability in the context of media violence effects. This powerful influence on antisocial behavior has not been included in theoretical models of media violence effects […], and genetic effects have never been controlled for in any study of media violence effects. Given studies indicating a dominant role for genetics over environment in regards to personality development […], this is a major oversight.156 Tatsächlich demonstriert der Forschungsstand, dass je mehr der (und je probater die) relevanten Drittvariablen kontrolliert werden, desto mehr erodieren bspw. die Zusammenhänge zwischen der Mediengewaltexposition und dem aggressiven Verhalten der Probanden.157 Die Problematik fehlender oder nicht hinreichender Drittvariablenkontrollen legt insg. nahe, dass das Gros der korrelativen Mediengewaltwirkungsstudien noch gar nicht den eigenständigen Einfluss der Mediengewaltexposition auf bspw. die Aggressionen der Probanden untersucht hat. Letztlich ist im Rahmen querschnittlicher Studien auch die Frage nach der Wirkungsrichtung der Zusammenhänge i.d.R. offen, d.h. ob Gewalt darstellende Medieninhalte aggressives Verhalten fördern (Wirkungshypothese) oder ob bereits aggressive(re) Menschen lediglich vermehrt (u./o. explizitere) Gewalt darstellende Medieninhalte rezipieren (Selektionshypothese). Dies ist ein Problem, dass dank der ungenügenden Drittvariablenkontrolle, wie auch nicht immer plausibler Pfadanalysen u.ä. auch Längsschnittstudien betrifft.158 Aber ungeachtet dessen werden oftmals rein korrelative Zusammenhänge nach wie vor salopp als Belege für die Wirkungshypothese interpretiert, obwohl auch das Zutreffen der Selektionshypothese wahrscheinlich (und auch theoretisch plausibler) wäre.159 156 157 158 159 BRUNN/DREYER et al. 2007, S.50; STRENG 2007, S.200; FERGUSON 2008b, S.27; FERGUSON/RUEDA/CRUZ et al. 2008; FERGUSON/KILBURN 2009, S.759; FERGUSON/MIGUEL/HARTLEY 2009; FERGUSON 2010, S.74; FERGUSON/OLSON/KUTNER et al 2010 und FERGUSON/DYCK 2012, S.177. Tatsächlich konnte bspw. FERGUSON 2010 demonstrieren, dass die im Rahmen der Korrelationsstudie GENTILE/LYNCH/LINDER et al. 2004 nur bivariat kontrollierten Zusammenhänge zwischen der Mediengewaltexposition und der Aggression offensichtlich einen Geschlechtereffekt kuvrierten; so dass "[…] controlling for gender alone removes most of the overlapping variance. As boys are both more aggressive and play more violent video games than do girls, any bivariate correlation may simply be masking an underlying gender effect." (S.74) Bzgl. einer Kritik der insg. auch nur (realtivierbar) kleine Wirkungszusammenhänge postulierenden Korrelationsstudie s. auch CUMBERBATCH 2004, S.21. FERGUSON 2009, S.110ff.. Vgl. FERGUSON/RUEDA/CRUZ et al. 2008. Dgl. demonstriert bspw. ELBERS 2009 u.a. am Bsp. von HOPF 2004 und HOPF/HUBER/WEIß 2008. Vgl. KUNCZIK/ZIPFEL 2006, S.324f.. Bzgl. einer älteren Kritik der querschnittlichen Mediengewaltwirkungsstudien s. auch CUMBERBATCH 2004, S.17-21. 38 5.2 Experimentalstudien Auch im Rahmen von Experimentalstudien sind die Operationalisierungen der unabhängigen Variablen und insb. die Differenzierungen der Stimuli in violente Computerspiele für die Experimental- und nicht violente Spiele für die Kontrollgruppen insg. besonders problematisch; z.T. dokumentieren (oder spezifizieren) die Versuchsleiter auch erst gar nicht, welche (Teile der) Spiele sie überhaupt als Stimuli nutzen160 u./o. kategorisieren wie bspw. KONIJN/ BIJVANK/BUSHMAN 2007 Spiele der Kontrollgruppe (THE SIMS 2; TONY HAWK’S UNDERGROUND 2; FINAL FANTASY) so salopp wie falsch als nicht violent, die de facto auch i.S.v. engeren Auslegungen Gewalt darstellend sind.161 Das zentrale Problem ist aber, dass die Versuchsleiter die violenten und die nicht violenten Spiele z.T. gar nicht(!) und ggf. nicht hinreichend bzgl. (aller relevanten) evtl. konfundierenden Spielevariablen äquivalieren.162 Die bis heute populärste Methode der Kontrolle von Störvariablen erfanden (in Orientierung an ANDERSON/FORD 1986) abermals ANDERSON/DILL 2000: Die Probanden sollen nach dem Spielen i.d.R. sieben 7-stufige (unipolare) Items eines Fragebogens beantworten, der eruiert, "how difficult, enjoyable, frustrating, and exciting the games were as well as how fast the action was and how violent the content and graphics of the game were."163 Ungeachtet dessen, dass das Gros der das Maß adaptierenden Experimente erst gar nicht zwischen dem inhaltlichen und dem graphischen Gewaltdarstellungsniveau differenziert, wie auch, dass die Störvariablen i.d.R. nur mittels eines einzigen Fragebogenitems pro Variable kontrolliert werden (so dass bereits dgl. die skizzierten Antwortverzerrungen evozieren kann; s.o.)164 und dass z.T. nicht die Probanden selbst, sondern nur Dritte die Fragen beantworten, divergieren die letztendlich genutzten Gewalt darstellenden und keine Gewalt darstellenden Computerspiele gem. ELSON 2011 insg. in mehr als nur den kontrollierten Variablen, "e.g. the perspective, required spatial attention, required hand-eye coordination, etc. Even though some researchers try to control for that by using games that score similarly on a few variables like difficulty, enjoyment, action, frustration, and differ on violent graphics and content […], the vast differences between the […] games used in those studies become apparent once one takes a look (or plays) them. Although there is a lot of proof for a difference in the short-term effects of those games on physiological arousal and aggressive behavior, the question whether this can be traced back to the displays of violence remains unanswered because there are plenty of other possible causes that were not eliminated or controlled in these studies."165 Nicht überraschend vergleichen Experimentatoren, die sich auf die skizzierte o.ä. rein statistische Methoden verlassen, vorzugsweise Äpfel mit Birnen;166 tatsächlich konnte bis heute noch kaum eine (und insb. keine an der kritisierten Methode orientierte) Studie eine (oder mehrere) mehr oder weniger plausible Spielepaarung(en) präsentieren, die eine vorbehaltlose Zuschreibung evtl. Wirkungseffekte auf die Gewaltdarstellungen erlauben könnte(n). 160 161 162 163 164 165 166 Vgl. WOLOCK 2002, S.25; RÖSER 2003, S.216 und KUNCZIK/ZIPFEL 2004, S.213. Vgl. FERGUSON 2010, S.74ff.. Vgl. FREEDMAN 2002; KUNCZIK/ZIPFEL 2004, S.234; PRZYBYLSKI/RIGBY/RYAN 2010 und ADACHI/ WILLOUGHBY 2011b. ANDERSON/DILL 2000. Erst CARNAGEY 2006 kontrollierte bspw. (wie dgl. auch erst wieder ANDERSON/CARNAGEY 2009) die Variable der Kompetitivität (anders als die anderen Störvariablen) mittels vier und nicht nur eines Items: "'to what extent did you feel like you were competing with the other team,' 'how hard were you trying to win the game,' 'how competitive was this video game,' […] 'to what extent did this video game involve competition'" (S.26). Aber erst VALADEZ/FERGUSON 2012 konstruierten einen auch für (nur) zwei weitere Störvariablen elaborierteren Fragebogen: "The difficulty scale was composed of four items: 'how difficult was the game', 'to what extent did you feel like you could win this game', 'how difficult was it to understand the rules and purpose of this game', and 'how hard was it to learn the game controls'. The pace of action scale was created from five items: 'how exciting was this video game', 'how fast was the pace of action for this video game', 'how boring was this video game', 'how often did you feel like you were doing the same, repetitive actions', and 'to what extent did this video game have exciting, 'action-packed' moments'. The competitiveness scale was composed of five items: 'how challenging did you feel the game was', 'how important did you feel it was to succeed at the game', 'how tough was this video game', 'to what extent did you feel like you accomplished something during the game', and 'how much did you feel like you were competing against the video game'." (S.261) Ob die Fragen die Variablen auch hinreichend erfassen, ist aber nach wie vor die Frage. ELSON 2011, S.2 und vgl. VALADEZ/FERGUSON 2012, S.609. Vgl. LADAS 2002, S.119ff.. 39 Im Lichte der Komplexität, wie auch der Multidimensionalität der Computerspiele werden aber einerseits selbst (elaboriertere) Kontrollen additionaler Störvariablen nicht garantieren können, dass auch tatsächlich alle evtl. wirkungsrelevanten Variablen (hinreichend) erfasst werden.167 Andererseits werden die Forscher auf dem Markt auch kaum violente und nicht violente Spiele finden können, die außer in der Frage der Gewaltdarstellung im Wesentlichen identisch sind,168 so dass sie nur die Möglichkeit haben, dass sie entweder selbst violente und nicht violente Versionen entsprechender Spiele progammieren oder bereits veröffentlichte Spiele i.d.S. modifizieren (lassen). Erst zwei aktuellere Experimente sind aber in dieser Hinsicht akzeptabler und bis dato auch die einzigen, die die violenten und die nicht violenten Spiele bzgl. aller evtl. konfundierenden Spielevariablen äquivalieren; BÖSCHE 2009 programmierte bspw. selbst ein simpleres Reaktionsspielchen in zwei unterschiedlich violenten und einer nicht violenten Version: The objective of all game versions was to click on targets (rabbits) that emerged from burrows and withdrew again after 1.3 seconds. The targets popped up at five different screen locations with equal probability at an average of about 1 target per second, multiple targets being possible. If the participant clicked on a visible target, 1 point was added to his score, and a gadget was applied to the target, changing the target’s appearance, while an appropriate sound was played […]. When the participant did not click on the target within 1.3 seconds of its appearance, 1 point was subtracted. If the participant clicked on an empty location, 1 point was subtracted as well, such that the gadget moved with its characteristic sound, but did not change anything. The game automatically logged the number of targets which appeared, targets clicked on and missed, empty locations clicked, and the total score. All game versions used exactly the same program core; only graphics and sounds were exchanged to produce the three different versions […]. In the non-violent version, targets were cartoonish rabbits with their ears hanging down, making "heeho" noises when popping up. The gadget used in this version was a big carrot. If a target was clicked, the carrot was moved to the rabbit’s mouth, a chewing sound followed by a satisfied "heehee" sound was played, and the rabbit’s ears went up […]. For the moderately violent version, identical target graphics were used, but in reverse order. The rabbits appeared with their ears up, making 'heeho' noises. The gadget, however, was a big hammer. If a target was clicked, the hammer slammed down on the rabbit’s head, a clapping sound following cartoonish screaming was played, and the rabbit’s ears went down […]. The extremely violent version used different graphics: A rabbit with somewhat cuddlier features and a hammer with metal-reinforced hitting edges. If a target was clicked, the hammer slammed down on the rabbit’s head with a splash, less cartoonish pain noises followed, and the rabbit’s head was dismembered: One ear was bloodily ripped off, the eye protruded, and the skull broke, showing a part of the brain […].169 167 168 169 Die probateste Störvariablenkontrolle demonstrieren aber auch nicht VALADEZ/FERGUSON 2012, die als erste und einzige dasselbe unmodifizierte(!) Spiel als violenten Stimulus für die Experimental- und als nicht violenten Stimulus für die Kontrollgruppe nutzten: "Participants randomly assigned into the violent game-play condition played Red Dead Redemption from a predetermined save point with approximately 30% of the game already completed. […] Participants randomly assigned to the non-violent game-play within a violent game condition played Red Dead Redemption from the beginning of the game, when human vs. human violence has not yet entered the storyline. [...] during this last condition, participants played a relatively nonviolent game before the actual violence ensues." (S.611) Einerseits dürften beide Stimuli zwar tatsächlich weitgehend identisch sein, je nach Spielmission können sich aber bspw. die Anforderungen an den Spieler u.U. erheblich unterscheiden und andererseits haben die Autoren das Spielverhalten der Probanden nicht kontrolliert, so dass u.U. die Spieler der Experimentalgruppe nicht u./o. die der Kontrollgruppe doch virtuelle Gewalt ausübten und infolge dessen das Experiment gegenstandslos wäre (bzgl. der Problematik s.u). Ein paar Versuchsleiter haben nicht nur die Experimentalgruppen Gewalt darstellende und die Kontrollgruppen (nicht hinreichend äquivalierte) keine Gewalt darstellende Spiele spielen lassen, sondern ließen erstere auch bereits unterschiedlich blutige Versionen ein und derselben violenten Spiele spielen, so dass sich evtl. voneinander unterscheidende Medienwirkungen innerhalb der Gruppe auf den ersten Blick theoretisch (auch ohne statistische Störvariablenkontrolle) ausschl. auf die Variationen der Bluteffekte als einem Surrogat der generellen Gewalthaltigkeit der Spiele reduzieren lassen können sollten: BALLARD/WIEST 1996 nutzten z.B. je eine Version des Kampfsportspiels MORTAL KOMBAT mit deaktivierten und aktivierten Bluteffekten (pro Treffer spritzen z.T. mehrere Liter an Blut) als Gewaltstimuli für die Experimentalgruppen, wie auch ein nicht violentes Spiel für die Kontrollgruppe; dgl. auch BALLARD/LINEBERGER 1999, die kurioserweise auch das Nachfolgespiel MORTAL KOMBAT II salopp als "more violent version" (S.546) der blutigen Version des ersten Teils nutzten (die ersten beiden Teile der Spieleserie sind aber insg. nicht identisch), wie z.B. auch BARLETT/HARRIS/BRUEY 2008, die aber noch im Folgenden thematisiert werden sollen. Auch FARRAR/KRCMAR/ NOWAK 2006 und KRCMAR/FARRAR 2009 wollten analysieren, inwiefern ein Spiel wie HITMAN 2: SILENT ASSASSIN mit deaktivierten und aktivierten Bluteffekten evtl. divergierende Wirkungen zeitigt. Insofern die blutigeren Versionen in allen Fällen auch tatsächlich stärkere Wirkungen zeitigten, ist aber (ungeachtet der im Folgenden noch diskutierten Probleme der Mediengewaltwirkungsforschung) der fundamentale Fehler aller fünf Studien die Prämisse, dass je blutiger eine Darstellung (auch bspw. ungeachtet der Kontexte derselben) ist, desto sei violenter das Spiel: Inwiefern die Probanden selbst die blutigeren Spielevarianten aber auch als violenter erlebten, interessierte keine der Studien. Bizarre Übersteigerungen der Gewaltdarstellungen (wie sie insb. für MORTAL KOMBAT, MORTAL KOMBAT II, MORTAL KOMBAT: DEADLY ALLIANCE und die anderen Teile der Spieleserie typisch sind) können die Rezipienten aber bspw. auch als lächerlich und grotesk (und u.U. die sauberere Gewalt darstellenden Variationen der Spiele im Umkehrschluss gar als violenter) erleben. Vgl. FREEDMAN 2001; FRINDTE/OBWEXER 2003 und KUNCZIK/ZIPFEL 2004, S.213. BÖSCHE 2009, S.9ff.. 40 Das zentrale Problem des technisch, wie spielerisch mehr oder weniger atavistischen Stimulusmaterials ist aber die insg. offensichtlich mangelnde Repräsentativität desselben für aktuellere Computerspiele (ungeachtet bspw. simplerer Browserspiele u.ä.).170 Zwar nicht für violente Computerspiele per se, aber für ein (relativ überschaubares) Subgenre violenter Egoshooter nach wie vor repräsentativ ist aber z.B. UNREAL TOURNAMENT 3 (UT3), das ELSON 2011 selbst so modifizierte, dass eine mit der violenten Version des Spiels für die Experimental- eine im Wesentlichen identische, nicht violente Version für die Kontrollgruppe entstand,171 quasi ein virtuelles Äquivalent eines Kampf- und Tobespiels (schlechtestenfalls könnte aber argumentiert werden, dass das Kontrollspiel nach wie vor violent ist und Gewalt nur abstrakter darstellt). Die im Folgenden skizzierten Modifikationen demonstrieren den notwendigen Aufwand für die Bereitstellung zweier prinzipiell identischer Spiele, die sich nur bei den Gewaltdarstellungen voneinander unterscheiden; eine ersatzlose Streichung aller (für das Spiel integraler) Gewalteffekte (oder auch nur -spitzen) und insb. auch -handlungen wäre keine hinreichende Alternative gewesen (solche Maßnahmen würden im Rahmen narrativerer Spieleinhalte i.d.R. gar direkt die komplette Sinnstruktur maßgeblich verändern, so dass man letztlich wieder nur Äpfel mit Birnen vergleichen könnte): The biggest part of the displayed violence in UT3 is the visual gore. [...] weapons usually cause massive blood loss and/or spectacular body explosions ("gib" […]). These very explicit displays of violence can be disabled in the settings of UT3 […]. [...] characters (hereafter "pawns") in the game would still literally drop dead when their health was reduced to zero, so there was still a clear display of violence that had to be removed. [...] players needed some kind of visual feedback when they hit or killed another pawn, even in the non-violent condition. […] Instead of dropping to the ground [...], pawns would now freeze if they were killed. [...] to avoid confusion between dead pawns and pawns just standing still, they would also drop their weapon and become spectrally transparent. Once the player would look in another direction, the ghost-like pawn completely disappeared [...]. […] Other [...] indicators of violence in UT3 are the weapons. […] The tendency of weapons to increase the likelihood of aggression by their simple presence in a real situation has been investigated in several studies [...]. [...] Since a weapon is required to play a 170 171 Dgl. gilt für BLUEMKE/FRIEDRICH/ZUMBACH 2010, die auch ein Reaktionsspielchen in einer violenten, einer nicht violenten und einer abstrakten Version programmierten: "Irrespective of the specific treatment condition, the virtual environment (a forest scene) and the actions (a left-side mouse click of the right hand) were identical […]. In the violent game, participants were exposed to a war scenario that required shooting enemy soldiers from a firstperson perspective in order to score high. Soldiers returned fire if they were not eliminated immediately. The goal was to shoot as many enemies as quickly as possible by firing at them with mouse clicks (hits), before they fired back and disappeared, resulting in score losses (misses). The mean rate of soldiers per minute could be determined by the programmer and was kept constant across participants (and conditions), but the program implemented a random component with regard to timing and location of the targets so that players could not routinely counter the attacks. Misses after the fraction of a second resulted in being injured and decreased the score, signaled by a different sound than for hits, which were visually emphasized by blood spills. [...] in the peaceful game sunflowers popped up in the same wood in the same speed like the soldiers in the violent game, yet the players’ task was to water the flowers with their watering can, else they 'died' visually due to water shortage. Whenever this happened, a 'sad' sound occurred and reminded a participant to water the sunflowers continuously and fast. On success, a player’s score increased, as indicated by a sound of accomplishment. Misses resulted in the same loss of points as in the violent game. [...] in the abstract game participants removed the colored triangles that popped up in the woods by pinpointing them with a small cursor triangle before clicking the mouse button. Acoustic and visual signals added relevance to hits and misses. […] Computer games were carefully matched in terms of target location, how quickly the targets appeared, and the physical mouse actions taken toward these targets." (S.5-10) Die drei Spielversionen unterscheiden sich aber offensichtlich nicht ausschließl. in der Frage der Gewaltdarstellungen, bspw. fehlt der abstrakten Version das Punktesystem der beiden anderen Versionen. Bereits STAUDE-MÜLLER/BLIESENER/LUTHMAN 2008 konfrontierten ihre Probanden mit der originären Version des Spiels UNREAL TOURNAMENT 2003, dem Vorvorgänger(!) des Spiels UNREAL TOURNAMENT 3, wie mit einer mittels der populären Modifikation "Team Freeze 2003" modifizierten Variante: "The […] study manipulated the level of violence in a single video game (high vs. low level of violence) as the independent variable. […] In the game, two teams of figures fight against each other in an arena with different weapons. The player belongs to a team with three virtual teammates fighting against four virtual enemies." (S.5) Die Autoren selbst realisieren aber, dass die Modifikation nicht nur das Violenzniveau, sondern auch die Spielmechanik veränderte: "Because 'frozen' teammates can be 'defrosted' and thereby brought back into play by standing next to them, the 'gameplay' differs considerably in the two conditions." (S.5) I.d.S. können evtl. Differenzen zwischen den abhängigen Variablen der Kontroll- und der Experimentalgruppe nicht einfach der Manipulation der Gewaltdarstellungen attribuiert werden. Neu ist die Idee der Modifikation existenter Spiele aber insg. nicht, denn bereits SHEESE/ GRAZIANO 2005 konfrontierten ihre Probanden mit einer violenten und einer modifizierten, nicht violenten Version des 1993(!) publizierten Egoshooters DOOM, "in which they would complete a series of three-dimensional mazes. They were told that they would earn points for every maze they completed within 25 min. Both players had to reach the end of a given maze before the pair could advance to the next maze. […] In the two conditions, the mazes and the goal of the game were identical. [...] in the violent condition, both players were provided with weapons, and the mazes included opponents that would attack the two players. In the nonviolent condition, players had no weapons, and there were no opponents within the mazes. In the two conditions, the mazes and the goal of the game were identical. [...] in the violent condition, both players were provided with weapons, and the mazes included opponents that would attack the two players. In the nonviolent condition, players had no weapons, and there were no opponents within the mazes." (S.355) Die Gewalt darstellende und die keine Gewalt darstellende Version unterscheiden sich aber offensichtlich nicht nur in der Frage der Gewaltdarstellung, sondern auch spielmechanisch voneinander. 41 first-person shooter (hence "shooter"), the only way to minimize such an effect is to make the weapon look unlike a real weapon. […] only one weapon was modded, while the other weapons in the game were replaced by instances of the one chosen weapon […]. The Flak Cannon was an ideal choice [...] because its secondary firing mode is a ballistic grenade that could easily be transformed into a tennis ball. […] I designed a new texture for the Flak Cannon […]. This texture should resemble a toy nerf gun, so bright colors like pink, yellow, turquoise and red were used extensively. […] I placed a Fisher Price label on the weapon’s stock to make it look more like a real toy. [...] Because the firing and detonation of the projectile still sounded too much like a grenade, the sound files were replaced as well. The files […] resembled the sound of a tennis ball machine […]. […] At this point, the weapon looked and sounded like a toy gun, but still physically behaved like the original weapon. […] the weapon’s primary firing mode (ripping metal shards) was disabled. [...] tennis ball [sic] do not have a damage radius like a grenade, and would only inflict damage upon pawns in case of a direct hit. Hence, the explosion radius was set to 0. […] Because of the ToyGun’s reduced firing modes and damage radius, the Flak Cannon had to be altered accordingly in order to avoid gameplay advantages for the players in the violent conditions. Therefore, another duplication of the Flak Cannon was created […]. Models, Textures, and other objects stayed the same, only the damage radius and impact explosion effect were disabled exactly like in the ToyGun’s scripts, as well as the primary firing mode. […] After that, there were two weapons, the ToyGun and the FlakGun [...]. […] In UT3 there are more cues for violence than the gib and the weapons. Mainly two things had to be altered for the non-violent conditions. One was the flashing red screen that alerts the player if the own pawn is hit by a projectile and gives a general direction of the damage source. The other element that had to be modified was the voices of all pawns that could be heard by the player when the pawn was nearby (because they automatically insult other pawns), or, of course, if the player’s pawn itself was talking […]. The voice volume of pawns can be reduced to zero in UT3’s settings menu. [...] this does not turn off the pain screams of pawns that take damage or die. Both the pain screams and the red flashing could be disabled […]. To still alert the player when the pawn was hit, arrows around the weapon’s crosshairs indicated from where projectiles that hit the player’s pawn were fired. The Language UT3 is full of violence or aggression related words that appear both in UT3’s menu and during the game after certain events. […] Also, in the standard settings of UT3, players constantly get information about the deaths and achievements of all other pawns […]. This […] could be turned off […].172 Die beiden Experimentalsstudien sind in über zweieinhalb Jahrzehnten de facto die einzigen beiden Computerspielgewaltwirkungsstudien, die plausible und äquivalente Spielepaarungen präsentieren konnten. Aber selbst gem. dem Fall, dass die im Rahmen der Studien genutzten violenten und nicht violenten Computerspiele regelmäßig im Wesentlichen identisch wären, würden auch noch weitere (gleichermaßen gravierende) Probleme den Aussagegehalt der Studien relativieren. Bereits OLSON 2004 monierte bspw., dass das Gros aller Experimente nur das Spielen eines einzigen (violenten) Spiels beinhalte, "which cannot reasonably represent the effects of playing an array of games in real life. Additionally, […] people commonly play games with others. […] Effects of the social context of games, be they positive or negative, have received little attention to date."173 Aber auch ungeachtet dessen und dass noch keine Studie die seitens der Probanden der Experimentalgruppen selbst subjektiv wahrgenommene Gewalthaltigkeit der Spiele adäquat kontrolliert hat, ist insb. die den Experimenten insg. inhärente Prämisse, dass die Probanden alle das objektiv gleiche oder ein vergleichbares Maß an Mediengewalt erfahren würden, bereits für die lineare(re)n Medieninhalte, d.h. für Film und Fernsehen im Lichte dekonzentrierter Sehweisen und auch rein perzeptiv nicht plausibel, für Computerspiele aber schlichtweg falsch. Gewalthandlungen im Rahmen von Spielen sind oftmals nur optional, so dass dank der Interaktivität der Spiele der von den Spielern tatsächlich selbst generierte Gewaltgehalt (außerhalb von bspw. stärker geskripteten Sequenzen, wie auch Zwischensequenzen) quantitativ, wie auch qualitativ extrem variieren kann und eine Frage des idiosynkratischen Spielstils (und der Spielkompetenzen) der Spieler ist.174 Das konnten auch LACHLAN/MALONEY 2008 experimentell demonstrieren, die die Probanden für 20 Minuten u.a. GRAND THEFT AUTO III spielen ließen und die seitens derselben generierten Gewaltakte kontrollierten: "[...] the content characteristics of a single game may be substantially different in terms of both the total number of violent acts depicted and the contexts in which these acts take place. [...] For example, the range of scores for total number of violent acts depicted in Grand Theft Auto 3 ran from 0.00 to 108.00, with a mean score of 27.00 and a standard deviation of 24.87. […] it verifies [...] that game content may be highly variable."175 172 173 174 175 Vgl. ELSON 2011, S.41-44. OLSON 2004, S.147. Vgl. KUNCZIK/ZIPFEL 2007, S.238f.. LACHLAN/MALONEY 2008, S.296 und vgl. LACHLAN/SMITH/TAMBORINI 2003. 42 Auch WEBER/BEHR/TAMBORINI et al. 2009, die den prozentualen Anteil violenter Inhalte kontrollierten, die 13 männliche, versierte deutsche Computerspieler zwischen 18 und 26 Jahren durchschnittlich in ca. 50 Minuten Spielzeit des Egoshooters TACTICAL OPS: ASSAULT ON TERROR generierten, konnten dgl. demonstrieren: "Violent player actions were defined as those periods of playing time when a player fires his weapon (combat-phase). The analysis revealed that these violent player actions occurred in 15% of all events and accounted for 7% of the total time played. In addition, experience as the target of video game violence (when players were attacked by opponents without engaging in violent behavior themselves) was also analyzed. This was covered by the under-attack phase of our content analysis, occurring in 7% of all events and corresponding to 1% of the time played."176 Insofern müssten die von den einzelnen Probanden generierten Gewalthandlungen im Rahmen der Wirkungsstudien prinzipiell auch immer kontrolliert werden,177 aber bis dato hat noch keine einzige Studie dgl. kontrolliert, so dass erhebliche Verzerrungen der Forschungsresultate riskiert werden und evtl. gemessene Medienwirkungen auch nicht ohne weiteres den Gewaltdarstellungen attribuiert werden können. Auch ignoriert das Gros der Wirkungsstudien, dass Computerspiele insg. technisch, wie auch inhaltlich progressive Medien sind und ältere Spiele für neuere Spiele oftmals rapide nicht mehr repräsentativ sind. Offensichtlich nicht mehr für aktuellere violente Spiele repräsentativ sind bspw. Spiele wie MISSILE COMMAND, SUPER MARIO BROS. oder ZAXXON, die im Rahmen der Gewaltwirkungsstudien der 1980er und ’90er bereits als Gewalt darstellende Spiele für die Experimentalgruppen genutzt wurden.178 Aber auch im Rahmen der Wirkungsstudien seit der Jahrtausendwende lassen die Versuchsleiter die Probanden regelmäßig nur mehr oder weniger antiquierte Spiele spielen. Die aktuellen Rekordhalter dürften GREITMEYER/MCLATCHIE 2011 sein, die die Probanden der Experimentalgruppe das zum Zeitpunkt der Publikation der Studie bereits 19 Jahre alte Spiel LAMERS spielen ließen. Die offensichtliche Problematik monierte bereits ELSON 2011: "[…] a lot of researchers use games that are heavily outdated, even considering the time it takes to administer an experiment, write a paper, have it reviewed and published. […] we have to ask ourselves […]: Can we learn anything about the effects of today’s games from studies on games that are 5, 8, 12 or even 18 years old? Are those games really the same in principal as new games? Or have games changed in graphics […], sound, gameplay, and many other ways so drastically that they cannot be taken as one homogeneous group with the games that were created more than a decade ago? There has been little research on the psychological effects of technological advancements in digital games, but results indicate e.g. that higher image quality leads to a significantly higher immersion […], presence, involvement and even physiological arousal […]. Even if it was true that the games commonly used in research cause increases in aggression, this would not be a big problem since those games have scarcely been played for many years anyway."179 Teilweise sind aber auch innerhalb der einzelnen Studien die Gewalt darstellenden und die keine Gewalt darstellenden Spiele keine Spiele derselben Generationen. Regelmäßig wird ggü. experimentellen Mediengewaltwirkungsstudien auch generell kritisiert, dass Laborsituationen selbst Stressoren für die Probanden sind, die die ökologische Validität der Resultate unterminieren könnten:180 Bereits im Rahmen der Film- und Fernsehgewaltwirkungsstudien analysieren die Versuchsleiter seit Jahrzehnten nicht die Wirkung kompletter gewaltdarstellender Filme o.ä. auf die Probanden, sondern konfrontieren letztere irritierenderweise in einer ungewohnten Situation mit nur mit paar Sekunden(!) oder Minuten dekontextualierten, 176 177 178 179 180 WEBER/BEHR/TAMBORINI et al. 2009, S.1024. Die Resultate demonstrieren auch, dass Gewaltkompilationen, ob als Stimulusmaterial der Mediengewaltwirkungsforschung oder als skandalisierende Inhaltsdarstellungen violenter Computerspiele im Rahmen diesbzgl. Berichterstattungen in den Massenmedien (s. Kapitel 17.), die Wirklichkeit der Spiele kaum oder besser gar nicht korrekt darstellen. Vgl. KUNCZIK/ZIPFEL 2004, S.234; SCHULZ/BRUNN/DREYER et al. 2007, S.66 und PENG/LIU/MOU 2008. Vgl. PORTER/STARCEVIC 2007, S.424. ELSON 2011, S.30f.; vgl. WOLOCK 2002, S.25; KUNCZIK/ZIPFEL 2004, S.238; OLSON 2004, S.149; SCHULZ/BRUNN/ DREYER et al. 2007, S.67f. und GOODSON/PEARSON/GAVON 2010, S.5. Vgl. THEUNERT 1987, S.30; MEIROWITZ 1993, S.77f./88; THEUNERT 1994, S.395; GANGLOFF 2001, S.34; BUCHLOH 2002, S.39f.; KUNCZIK/ZIPFEL 2004, S.235 und SCHULZ/BRUNN/DREYER et al. 2007, S.47f. 43 Gewalt darstellenden Filmmaterials (bspw. Aneinanderreihungen von Gewaltakten),181 die aber keinem natürlichen Medienangebot mehr entsprechen, so dass die Studien prinzipiell auch gar keine Aussagen mehr über die Wirkungen Gewalt darstellender Filme treffen können. Der Problematik entspricht im Rahmen der Computerspielgewaltwirkungsforschung, dass die Versuchsleiter die Probanden die Spiele i.d.R. nur zwischen fünf und 20 Minuten spielen lassen.182 Kürzere Spielzeiten sind aber einerseits bereits ökologisch nichts besonders valide und SHERRY 2001 konnte im Rahmen seiner Metaanalyse am Beispiel von BALLARD/WIEST 1995 und HOFFMAN 1994 gar (ungeachtet der methodischen Defizite beider Studien) einen negativen Zusammenhang zwischen der Spielzeit und der Aggressivität der Probanden demonstrieren.183 Beide Studien waren methodologisch mehr oder weniger im Wesentlichen identisch, nutzten u.a. denselben Aggressivitätsfragebogen, wie auch das Kampfsportspiel MORTAL KOMBAT als den Gewalt darstellenden Stimulus für die Experimentalgruppe, divergierten aber erheblich bei der Frage nach den Spielzeiten für die Probanden: Erstere ließen die Probanden das Spiel nur zehn Minuten spielen und fanden einen (nach COHEN 1988) starken Korrelationskoeffizienten von r = .90, letzterer ließ die Probanden 75 Minuten spielen und konnte nur noch einen kleinen Korrelationskoeffizienten von r = .05 finden. Ausgehend von diesen beiden Studien argumentierte der Autor, dass ein initialer, die Aggressivität der Probanden stimulierender Erregungseffekt nach längerer Spielzeit durch Langeweile oder Ermüdung stark absinke: "The results suggest that playing even the most violent of games for 181 182 183 Vgl. THEUNERT 1994, S.395. Vgl. VALADEZ/FERGUSON 2012, S.610. Dgl. DEVILLY/CALLAHAN/ARMITAGE 2012. Konträre Resultate demonstrierten aber BARLETT/RODEHEFFER 2009, die evtl. divergierende Wirkungen realistischer und unrealistischer Gewaltdarstellungen im Rahmen des Computerspielens u.a. auf die aggressiven Gedanken und die Feindseligkeit der Spieler interessierten: "[…] the video games selected were Conflict Desert Storm (violent realistic), Star Wars Battlefront 2 (violent unrealistic), and Hard Hitter Tennis (nonviolent control). […] All participants were randomly assigned to one of the three conditions. […] Participants were asked to complete the first set of questionnaires, which consisted of the State Hostility Scale, 24 items on the Word Completion Task, and the Aggression Questionnaire. After the participants completed the aforementioned baseline measures, all participants received a brief tutorial on how to play the video game. […] After demonstrating compliance with the video game, the participants played their video game for 15 min. Then the participants completed the next set of questionnaires, which consisted of the State Hostility Scale and the next 24 word fragments of the Word Completion Task (which took approximately 3 min to complete both measures). As soon as the participants had completed the next set of questionnaires, the video game was played for another 15 min. This same procedure was repeated until the questionnaires had been completed four times and the video game was played for 45 min. […] we utilized a repeated measures design, such that all participants completed the State Hostility Scale and Word Completion Task four times." (S.218f.) Ungeachtet dessen, dass das hinreichende Kriterium des Realismus der beiden violenten Spiele nur die "probability of seeing an object in real life" (S.216) sein sollte, dies aber nur ein notwendiges, nicht aber bereits hinreichendes Kriterium für dgl. sein kann (vgl. HALL 2003), konnten die Autoren folgendes konstatieren: "The results […] suggest that those who played a violent video game had an increase in aggressive thoughts, aggressive feelings, and heart rate from baseline. Despite the increases in aggression from baseline for the two violent video games, those in the violent realistic condition had […] higher aggressive feelings after the initial 15 min compared with the unrealistic violent condition. Aggressive thoughts did not differ between the two violent conditions. Those in the nonviolent control condition did not have such a dramatic change in the dependent variables over time. Overall, the trend in the means for all conditions suggests a stabilization effect such that there is an initial increase in aggression and arousal, which does not change after that initial increase. […] For aggressive feelings, results showed no difference between the violent realistic and unrealistic video games at baseline or 15 min after game play. However, after the initial increase in hostility, results show that the violent realistic video game was related to significantly higher aggressive feelings than the violent unrealistic video game. This suggests that video game realism does make a difference in state hostility, but only after the initial 15 min of game play." (S.222) Im Lichte dessen, dass die Autoren aber Äpfel mit Birnen verglichen – die drei Spiele divergieren nicht nur bei den Gewaltdarstellungen und dem Realismus derselben –, können aber natürlich weder die graduellen Unterschiede in den Kurvenverläufen zwischen den beiden violenten Spielen einerseits und dem nicht violenten Spiel andererseits auf den Umstand der Gewaltdarstellung, noch die diesbzgl. Unterschiede zwischen den beiden violenten Spielen selbst auf den Umstand unterschiedlichen Realismus reduziert werden. Im Gegenteil könnten die ungeachtet der divergierenden (konfundierenden) Spielevariablen und bspw. Spannungskurven aller drei Spiele insg. ähnlichen Kurvenverläufe für beide Messwerte auch ein Indiz für den Umstand sein, dass die Probanden u.U. gar nur auf die Versuchsanordnung selbst (das wiederholte Absolvieren der immer gleichen Messverfahren) reagierten. Der Vollständigkeit halber müssen auch VALADEZ/ FERGUSON 2012 erwähnt werden, die keine statistischen Differenzen zwischen der Feindseligkeit der Probanden nach einer 15-minütigen und einer 45-minütigen Spielphase des (aber nur je nach Spielstil des Spielers) violenten Spiels RED DEAD REDEMPTION demonstrieren konnten: "Two possibilities for this are that no real-life differences between playing a video game for either of these two time frames exist or the time span between the two experimental groups was not large enough or representative of average game play. While the girst option is possible, it seems more likely that the secound option is at play for this lack of group contrast. If violent video games decrease hostility and depression […], it is most likely that this occurs after longer, rather than short, game play periods. [...] if participants with little gaming experience are given more time to master novel controls, it may allow for a more pleasurable experience and lower frustration levels […]. Future research looking at potential differences with time spent playing should vary game play periods and make sessions longer than the 45 min used in the present study. [...] we caution researchers from overgneralizing the results of short experimental sessions to real life game play." (S.615) 44 extended times may not increase aggression."184 Insofern ist der bereits die Aussagekraft des Gros der Wirkungsstudien drastisch reduziert und u.U. gar eine systematische Verzerrung der Computerspielgewaltwirkungsforschung indiziert. Andererseits kann die Laborsituation die Probanden u.U. auch insg. frustrieren: Im Lichte der Prämisse, dass die Beherrschung und Kontrolle des Spiels regelmäßig zentrale Motive des Spielens sind,185 wird z.T. argumentiert, dass die (insb. unerfahreneren) Probanden die ggf. mehr oder weniger komplexen Kontrollen, wie auch das Reglement der Spiele in der kurzen Spielzeit gar nicht meistern können und das Spiel sie frustriert (insofern wären also nicht die Gewaltinhalte für den skizzierten Erregungseffekt verantwortlich).186 Ungeachtet dessen, dass der (ggf. auch nur subjektive) Spielerfolg der Probanden i.d.R. nicht kontrolliert wird (und die Kontrollen des Frustpotenzials der Spiele nicht hinreichend sind; s.o.), konstatierte bereits FRITZ 1997a im Rahmen einer qualitativen Befragungen von jugendlichen Spielern, dass Äußerungen derselben oftmals "Unlusterfahrungen" beinhalten, "die mit Verlusten der Kontrolle des Spiels verbunden sind. […] Es beginnt mit Gefühlen der Aufregungen und Unruhe, wenn man es nicht geschafft hat, wenn man einfach nicht weiterkommt, wenn es nicht gelingt, die Spielfigur angemessen zu führen […]. Die frustrierende Situation führt häufig dazu, das Spiel nach einiger Zeit zu beenden […]. [...] Heftige Wutreaktionen auf Kontrollverluste im Spiel sind kein Ausnahmefall [...]. [...] Jungen geraten nicht selten bei Misserfolgen im Spiel in eine Frustrations-Aggressions-Spirale. Trotz andauernder Bemühungen will es ihnen einfach nicht gelingen, Kontrolle über das Spiel auszuüben. Dies führt zu immer heftiger werdenden aggressiven Gefühlen […].187 […] Spieler mit größeren Spielerfahrungen […] können verschiedene Techniken entwickeln, um ein Anschwellen der Ärgerreaktionen zu vermeiden […]."188 Der skizzierte "'Mensch ärgere dich nicht'-Effekt"189 ist von einer evtl. Gewalthaltigkeit der Spiele aber insg. unabhängig. Auch GOODSON/PEARSON/GAVON 2010 bemängeln i.d.S., dass die Forschung bis dato i.d.R. nicht realisiert, dass auch die allg. Spielerfahrung und -kompetenz der Probanden einen Einfluss auf die Fähigkeiten derselben haben kann, die Spiele zu spielen, "either by keyboard control or joy pad/stick. Non-gamers have no experience of playing video games, […] games […] have become very complex and require a degree dexterity to play. If this variable is not taken into account when designing research […] it is more than likely that any measures taken will relate to the frustration of playing the game rather than the participants interaction with the violent content […]."190 Ärgerreaktionen können aber ggf. nicht nur mangelnde Spielerfolge, sondern u.U. auch der abrupte (ggf. unangekündigte) Spielabbruch durch den Versuchsleiter oder das mehr oder weniger aufgezwungene Spielen eines Spiels evozieren, das der Proband nicht besonders mag und selbst (außerhalb des Experiments) bereits längst beendet hätte.191 184 185 186 187 188 189 190 191 Vgl. SHERRY 2001, S.424f. und SHERRY 2007. Vgl. FRITZ 1995, S.38 und ADACHI/WILLOUGHBY 2011b. Vgl. PRZYBYLSKI/RIGBY/RYAN 2010 und VALADEZ/FERGUSON 2012, S.610. Im Rahmen der sog. "Misserfolgsspirale" gelinge es Spielern nach MISEK-SCHNEIDER/FRITZ 1995 nicht, "sich angemessen zum Spiel in Beziehung zu setzen. Sie können das Spiel nicht kontrollieren und erfahren deutliche Misserfolgserlebnisse und Frustrationen, die als Distress erlebt werden. In dem Maße, wie die Fähigkeit zur Kontrolle des Spiels schwindet, desto stärker werden die Misserfolge und die damit verbundenen Unlust- und Anspannungsgefühle – bis das Spiel vom Spieler beendet wird, er sich einem anderen Spiel zuwendet oder ganz mit dem Computerspiel aufhört. Ganz anders verhält es sich dagegen bei der sog. Erfolgsspirale. Hier gelingt es dem Spieler zunehmend, das Spiel zu beherrschen und seine Fähigkeiten zur Kontrolle des Spiels zu entwickeln. Mit der Zunahme der Kontrollfähigkeit wächst der Spielerfolg und damit auch die Erfolgszuversicht. Diese gibt den Motivationsschub, immer mehr Leistung zu verlangen (und von sich zu erwarten), um auch schwierigere Levels des Spiels zu bewältigen. So wachsen kontinuierlich Fähigkeiten und Erfolgserwartungen. Die Wechselwirkungsprozesse zwischen Konzentration, Leistung und Anspannung einerseits und Erfolgserlebnisse sowie Gefühlen der Kontrolle andererseits können zu einer Sogwirkung des Computerspiels führen. Gespeist wird dieser Sog von den affektiven Begleitreaktionen der Spieler: Gefühlen der Kompetenz, der unmittelbaren Gegenwärtigkeit und der Kontrolle über sich und das Geschehen. Dieses Gefühl kann bei bestimmten Spielern und Spielsituationen so stark werden, daß sie nach eigenen Aussagen mit dem Spiel 'verschmelzen' und etwas erfahren, was man als 'flow'-Erlebnisse beschreiben könnte." (S.65) Bzgl. des Konzepts sog. flow-Erlebnisse s. CSIKSZENTMIHÁLY 1975. FRITZ 1997a, S.188; vgl. DURKIN/AISBETT 1999; FRITZ/MISEK-SCHNEIDER 1995, S.100; MISEK-SCHNEIDER 1995; FRITZ 2003, S.15f.; FEIBEL 2004, S.143 und KUNCZIK/ZIPFEL 2004, S.206f.. BRAUNBART 2001a, S.244. GOODSON/PEARSON/GAVON 2010, S.5f. und vgl. CUMBERBATCH 2004, S.29. Vgl. JONES 2002, S.35; CUMBERBATCH 2004, S.32f. und VALADEZ/FERGUSON 2012, S.610. 45 Letztlich kann u.U. auch die im Rahmen der Experimente genutzte, ggf. antiquierte, dem Spielhabitus der Probanden nicht entsprechende oder gar mit der Spielkontrolle u.ä. interferierende Peripherie (Kontrollperipherie, Bildschirme etc.) die Probanden frustrieren.192 Die konkrete Spielsituation der Probanden dokumentieren die Studien aber nur ausnahmsweise, wie z.B. WEBER/RITTERFELD/MATHIAK 2006, die ein besonders prägnantes Beispiel einer ökologisch invaliden Laborsituation konstruierten: Die Probanden sollten innerhalb eines Kernspintomographen für ca. eine Stunde den Egoshooter TACTICAL OPS: ASSAULT ON TERROR spielen, wobei ihre Köpfe fixiert und ihnen nur ein Ausschnitt des Spielbilds per Videobrille projiziert wurde und sie das Spiel (das i.d.R. per Maus- und Tastatur oder ggf. per Gamepad kontrolliert wird) nur per dreitastigem(!) Trackball spielen sollten! Das diesbzgl. Frustrationserleben der Probanden wurde aber natürlich nicht kontrolliert. Die Autoren realisierten den Mangel ökologischer Validität, argumentierten aber so salopp wie kurios, dass die Immersion des Spiels das Problem neutralisieren würde.193 Das Argument verfängt aber nicht. Insofern hat quasi noch keine Studie die unabhängige Variable probat operationalisiert und evtl. Störvariablen hinreichend kontrolliert, resp. neutralisiert. 6. 6.1 Die Mediengewaltwirkungen Aggressives Verhalten Das Hauptinteresse der Computerspielgewaltwirkungsforschung gilt der Problematik aggressiven Verhaltens als Folge des Spielens violenter Computerspiele. Prinzipiell ist Aggression ein komplexes Phänomen diverser Typen und Formen, Dimensionen und Sinnstrukturen, wie auch Dynamiken und Kontexte.194 Der Aggressionsbegriff ist für sich genommen selbst im Rahmen der diesbzgl. Forschung und auch alltagssprachlich nicht eineindeutig definiert,195 so dass ohne eine konkrete Aggressionsdefinition die diesbzgl. Studien schlechtestenfalls gegenstandslos sein können. Tatsächlich definiert ein Gros der Wirkungsstudien aggressives Verhalten nicht oder nicht hinreichend. Die notwendige Mindestdefinition aggressiven Verhaltens formulierte dabei aber bereits BARON 1997: "Aggression is any form of behaviour directed toward the goal of harming or injuring another living being who is motivated to avoid such treatment."196 Aggressionsdefinitionen, die nicht auf eine Absicht zur Schädigung eines Interaktionspartners und nicht auch gleichzeitig auf eine die Schädigung vermeidende Motivation desselben abstellen,197 können nicht zwischen einerseits aggressivem Verhalten und andererseits bspw. destruktivem Gehorsam,198 Unfällen, Kampfsport, sog. Kampf- und Tobespielen199 oder auch konsensualem BDSM differenzieren. Insofern müssen die im Folgenden diskutierten Operationalisierungen aggressiven Verhaltens letztlich garantieren können, dass die Probanden eine nicht konsensuale Schädigung eines Interaktionspartners intendieren. Korrelationsstudien operationalisieren das aggressive Verhalten der Probanden i.d.R. mittels Selbst-, aber bei Kindern und Jugendlichen insb. auch mittels Peer-, Eltern- u./o. Lehrerreport.200 Problematischerweise sind die Aggressionsfragebögen aber oftmals nicht (klinisch) validiert und messen ggf. nicht die tatsächliche Aggression der Probanden, bspw. ignorieren die Fragebogenitems z.T. die intentionale Bedingung aggressiven Verhaltens (erfragen z.B. nur, ob die Probanden in physische Konfliktsituationen involviert waren, ohne gleichzeitig auch zu 192 193 194 195 196 197 198 199 200 Vgl. GOODSON/PEARSON/GAVON 2010, S.5. Vgl. MATHIAK/WEBER 2006b, S.948. Vgl. KUNCZICK 1988, S.75; GROEBEL/GLEICH 1993, S.48; SCHNEIDER/SCHMALT 1994, S.190; CORNELL/ WARREN/HAWK et al. 1996; SELG/MEES/BERG 1997; BARRATT/SLAUGHTER 1998; ANDERSON/BUSHMAN 2002; BIERHOFF 2006, S.169 und PARROT/GIANCOLA 2007. Vgl. GROEBEL/GLEICH 1993, S.41 und KUNCZIK 1994a. BARON 1977, S.7; vgl. BARON/RICHARDSON 1994, S.7; MUMMENDEY/OTTEN 2001, S.317; STRÜBER 2006, S.57f. und FERGUSON/BEAVER 2009, S.286f.. Vgl. BUSS 1961, S.1 und ARONSON/WILSON/AKERT 1997, S.324. Vgl. BIERHOFF 2006, S.169. Vgl. PELLEGRINI/SMITH 1998; SMITH/SMEES/PELLEGRINI 2004 und FERGUSON 2010, S.68. Vgl. SCHIE/WIEGMAN 1997; BUCHANAN/GENTILE/NELSON et al. 2002; SALISCH/OPPL/KRISTEN 2007; WALLENIUS/PUNAMÄKI/RIMPELÄ 2007; ANDERSON/SAKAMOTO/GENTILE et al. 2008; KRAHÈ/MÖLLER 2011 und GENTILE/COYNE/ WALSH 2011. 46 kontrollieren, ob sie selbst die Aggressoren oder nur die Opfer derselben waren) oder kontrollieren tendenziell vielmehr soziale Kompetenzdefizite (z.B. Ungehorsam, Unhöflichkeit).201 Im Rahmen der Selbstreporte wird Aggression oftmals auch nur mittels (der Subskalen) des sog. Buss-Perry Aggression Questionary (BPAQ) operationalisiert,202 einem Aggressivitäts-, aber keinem Aggressionsmaß.203 Ungeachtet dessen können klassischere Antwortverzerrungen (z.B. soziale Erwünschtheit) natürlich ein Problem insb. der Selbstreporte sein.204 Peer-, Eltern- u. Lehrerreporte können die Problematik zwar relativieren, die Bewertungsgrundlage aggressiven Verhaltens kann dann aber i.d.R nicht mehr die subjektive Absicht des vermeintlichen Aggressors zur Schädigung, sondern wird insb. nur noch die Beobachtung des Verhaltens desselben sein: Die Frage ist aber, inwiefern die Reporter aggressives Verhalten einerseits und z.B. soziale Kompetenzdefizite oder Kampf- und Tobespiele andererseits hinreichend differenzieren (können), denn die Attribuierung eines Verhaltens als aggressiv ist ohne die Kontrolle der Intention des evtl. Aggressors ggf. nur ein soziales Unwerturteil, kann u.a. eine Frage bspw. des Geschlechts, des Alters, der sozialen Herkunft und des sozioökonomischen Status des Reporters, wie auch dgl. des evtl. Aggressors, des situativen Kontextes und gar der Intensität des Verhaltens sein.205 Dgl. ist auch ein Problem der Experimentalstudien, die Aggression bspw. nur über die Beobachtung, resp. Analyse des Verhaltens der Probanden im Rahmen einer Freispielsituation messen wollen (s.u.). Infolge dessen sind die im Rahmen der Mediengewaltwirkungsforschung genutzten Aggressionsfragebögen als Aggressionsmaße oft nicht besonders angemessen. Aber auch im Rahmen von Experimentalstudien werden z.T. nicht tatsächliche Aggressionen der Probanden, sondern nur die aggressiven Verhaltenstendenzen derselben im Rahmen hypothetischer Szenarien kontrolliert.206 I.d.S. ließen GIUMETTI/MARKEY 2007 ihre Probanden bspw. drei ambige Geschichten vervollständigen: "Each of these story stems presented a brief scenario that involved a negative outcome for the main character (e.g., getting into a car accident). After reading a story stem participants were asked to write down 20 unique things they thought the main character might do, think, or feel. Therefore, each of the three story stems produced […] responses that could be examined for aggressiveness."207 Im Methodenteil der Studie noch als Aggressivitätsmaß dargestellt, behaupteten die Autoren aber im Rest der Studie, das aggressive Verhalten der Probanden kontrolliert zu haben (ein Umstand, der u.U. eine Irritation der Autoren ggü. den beiden Phänomenen demonstriert), ungeachtet dessen, dass mittels ähnlicher Methoden normalerweise nicht das aggressive Verhalten, sondern nur die aggressiven Kognitionen der Probanden kontrolliert werden sollen (s.u). Die meisten Studien kontrollieren das aggressive Verhalten der Probanden aber über das tatsächliche Verhalten derselben. Da aber eine Provokation von ernsthafteren, interpersonalen Aggressionen (Schläge, Tritte etc.) aus ethischen Gründen ausscheidet, können die Forscher das Aggressionsverhalten nur indirekt über die Kontrolle diverser (vermeintlicher) Surrogate aggressiven Verhaltens messen.208 Das Gros dieser Verhaltenssurrogate ist aber bestenfalls kurios, wie bereits KUNCZIK 1998 resümierte: Rotter-Willermann-Satzergänzungstest, bei dem kurze Satzanfänge zu ergänzen sind; Fragebogen zur Messung der Einstellung gegenüber dem Versuchsleiter, dem Experiment sowie der psychologischen Forschung im allgemeinen; Analyse von TAT-Geschichten; Analyse von Träumen; Beobachtung von Verhalten in Spielsituationen; Wort-Assoziationstests; Analyse der Gespräche zwischen Versuchspersonen; Austeilen harmloser Elektroschocks; Angriffe auf eine Bobo-Doll (eine aufblasbare Puppe, die sich immer wieder aufrichtet); Zerstörung von Sammelbüchsen einer Wohltätigkeitsorganisation; […] 201 202 203 204 205 206 207 208 Vgl. FERGUSON 2009, S.109f.. Vgl. ANDERSON/SAKAMOTO/GENTILE et al. 2008; KOGLIN/WITTHÖFT/PETERMANN 2009 und MÖLLER/KRAHÈ 2009. Vgl. SCHMID 2005, S.523 und LIN 2011, S.12f.. Vgl. SCHMID 2005, S.523. Vgl. KUNCZICK 1975, S.22f./61; BANDURA 1979a, S.19-25; BACH/GOLDBERG 1981, S.15ff.; VOLLBRECHT 2001, S.163; HENRY 2006; HARTMANN 2007a, S.235 und FERGUSON/ KILBURN 2009, S.761. Vgl. MAHOOD 2007. GIUMETTI/MARKEY 2007, S.1239. Vgl. FREEDMAN 2001 und SAVAGE/YANCEY 2008. 47 Zerplatzenlassen von Luftballons; Einsatz von Spielzeugpistolen; Drücken eines Knopfes, der bewirkt, daß eine Puppe einer anderen Puppe auf den Kopf schlägt usw. […] Diese ohne Anspruch auf Vollständigkeit zusammengestellte Liste verdeutlicht, daß dimensionale Identität zwischen den verschiedenen Operationalisierungen nur in den seltensten Fällen vorliegt. Dimensionale Identität aber ist Voraussetzung für Vergleichbarkeit.209 So ist es nicht überraschend, daß selbst innerhalb einzelner Studien je nach verwandtem Aggressionsmaß unterschiedliche und z.T. entgegengesetzte Resultate erhalten worden sind […]. Aggression ist ganz offensichtlich kein eindimensionales Phänomen, sondern muß weiter ausdifferenziert werden [...].210 Gem. MEIROWITZ 1993 kann die Spannweite der Operationalisierungen des aggressiven Verhaltens im "Extremfall" dazu führen, "daß der Leser einer Studie, die Aggressionssteigerungen feststellt, von seiner eigenen Vorstellung über aggressives Verhalten ausgeht, während das Experiment in Wirklichkeit nur 'das Umstürzen von Bauklötzen' betraf."211 Eines der aktuell fragwürdigeren Aggressionsmaße der letzten Jahre ist z.B. das von CICCHIRILLO/ CHORY-ASSAD 2005: Die Probanden der Experimentalgruppe spielten die ersten 10 Minuten des je nach individuellem Spielstil entweder Gewalt oder keine Gewalt darstellenden Spiels GRAND THEFT AUTO: VICE CITY, die Kontrollgruppe spielte das keine Gewalt darstellende Spiel TETRIS WORLDS. Ohne dass den Probanden eine Coverstory präsentiert worden wäre, sollten sie nach dem Spielen u.a. den Versuchsleiter mittels eines Fragebogens evaluieren: "Participants' responses to the items [...] are said to be used in deciding whether the researcher should be granted a work-study position and its accompanying financial support. The evaluation form asks participants to rate the researcher's courtesy, competence, and deservedness of financial support on 11-point semantic differential scales, with anchors ranging from 1 (not at all […]) to 11 (extremely [...]).212 […] participants in the violent video game condition rated the researcher as less courteous (M = 9.81, SD = 1.30) and less deserving of financial support (M = 9.88, SD = 1.43) than did participants in the nonviolent video game condition (M = 10.31, SD = 0.97; M = 10.50, SD = 0.92, respectively)."213 Eine negative(re) Evaluation war den Experimentatoren ein Indikator aggressive(re)n Verhaltens. Ungeachtet der substanziell irrelevanten Unterschiede zwischen beiden Gruppen (die den Versuchsleiter beide insg. positiv bewerteten) war die negativere Evaluation durch die Experimentalgruppe aber u.U. nur die Konsequenz einer irritierenderen u./o. frustriererenden Spielsituation: Die Probanden sollten die erste Mission des Spiels ("The Party") spielen. Insg. reduzieren aber die ca. 4 ½ Minuten Zwischensequenzen dieser Mission die Nettospielzeit der Spieler erheblich, so dass das Experiment u.U. bereits beendet wurde, ohne dass die Probanden (auch im Lichte einer ggf. mehrminütigen Lernphase) die Mission beendet hatten. Das stellt einen potenziellen Frustrator speziell für die Experimentalgruppe dar (ungeachtet dessen, dass versierte Spieler die Mission theoretisch binnen ca. zwei Minuten Nettospielzeit absolvieren können). Auch spekulieren die Autoren selbst, dass das Resultat auch die Konsequenz einer im Lichte einer komplexeren Spielmechanik u.U. detaillierteren Instruktion der Experimentalgruppe durch den Versuchsleiter sein könnte, "which may have given participants who played the violent game more information on which to evaluate the researcher."214 Letztlich ist die erste Mission des Spiels prinzipiell auch ohne virtuell gewalttätiges Verhalten absolvierbar (und auch in der 2. Mission wird erst nach mindestens drei Minuten Bruttospielzeit eine Gewalttätigkeit notwendig), so dass i.V.m. der Problematik, dass das Spielverhalten der Probanden nicht kontrolliert wurde, die Differenzen zwischen den beiden Gruppen nicht ohne weiteres auf die Gewaltdarstellungen zurückgeführt werden können. Ein zweites Beispiel fragwürdiger Operationalisierung aggressiven Verhaltens präsentieren auch BARLETT/HARRIS/BRUEY 2008; die Autoren hypothetisieren, dass die Probanden sich um so aggressiver verhalten würden, je blutiger ein Computerspiel ist, weshalb sie zur Kontrolle der Hypothese das Kampfsportspiel MORTAL KOMBAT: DEADLY ALLIANCE spielen sollten: 209 210 211 212 213 214 Vgl. SCHULZ/BRUNN/DREYER et al. 2007, S.47. KUNCZIK 1998, S.13f.. Vgl. KUNCZIK 1975, S.509f.; MEIROWITZ 1993, S.89; WOLOCK 2002, S.24f.; GOLDSTEIN 2005, S.347f. und FERGUSON 2009, S.107. MEIROWITZ 1993, S.89. Vgl. CHORY/GOODBOY/HIXSON 2007. CICCHIRILLO/CHORY-ASSAD 2005, S.442f.. Dgl. auch KRCMAR/FARRAR 2009. CICCHIRILLO/CHORY-ASSAD 2005, S.446. 48 This game was selected because the researcher could manipulate four levels of blood (maximum, medium, low, and absent). In the maximum blood level, when any character is hit, a number of units of blood would be expelled and fall onto the ground. The more severe the hit, the more blood would be expelled. [...] blood would be dripping from the character’s body after certain hits were landed. [...] the blood on the ground would stay there and accumulate, and when a character stepped on the blood, they would track the blood onto other locations. In the medium blood level, it was more difficult for the blood to be expelled. It took a harder hit to equal the same amount of blood expelled in the maximum blood condition. The low condition did not have any blood drip from the body or land on the ground. Blood would only be expelled in low amounts after an extremely hard hit. [...] the low condition was identical to the blood absent condition with the exception of the small amounts of blood that would be expelled. [...] the player was able to choose when the character’s weapon was used. All fighters had three different fighting styles. The first two were martial arts-based […] and the third was a weapon-based fighting style, and the players could wield the weapon that every character had […]. The player could choose to use whichever fighting style for as long as they wanted. […] Aggressive behaviors were measured by using the ratio of total weapon time to total game playing time in the game. We justified this measure as a gauge of aggressive behavior two ways. The first is that the participants got to choose how long they wanted to use the character’s weapon. All participants were told that the use of the weapon causes more damage. If they decided to use the weapon more, that suggests that they want to cause more damage to their opponent, which fits with the operational definition of aggression. [...] the number of seconds spent with their weapon and the time each round was played was recorded, with a higher ratio of time with a weapon being indicative of aggressive behavior. Second, past research has used other such measures to assess aggressive behavior […].215 Die Waffenzeit ist aber insg. kein plausibles Aggressionsmaß: Einerseits ist virtuell gewalttätiges Verhalten insg. kein funktionales Äquivalent realer Aggression (s.o.). Andererseits ist das konsensuale (und auch i.d.S. nicht aggressive), wie auch reziproke, virtuell gewalttätige Verhalten der Charaktere ein fundamentales Prinzip und der Triumph über die jeweiligen Antagonisten das Ziel des Spiels, so dass die Waffenzeit i.d.S. auch nur ein Indikator der Kompetitivität der Probanden sein könnte, die das Spiel höchstwahrscheinlich gewinnen wollen und ja auch informiert wurden, dass die bewaffneten Kampfstile (auch im Lichte des Zeitlimits der Kampfrunden) die effizientesten sind. Ungeachtet dessen war die Waffenzeit der Probanden der blutigen Spielkonditionen statistisch signifikant höher, als die der unblutigen Kondition. Aber auch das könnte evtl. nur ein Effektanzphänomen infolge der effektvolleren Treffervisualisierung sein (die Spieler drücken einen Knopf und evozieren damit Blut- und Goreeffekte), das u.U. auch andere (gleichermaßen eindrucksvolle) Treffereffekte (z.B. Schweiß, Funken oder Zahlenkolonnen, die den Schaden indizieren) zeitigen könnten. Ungeachtet solcher Ausnahmen der Operationalisierung aggressiven Verhaltens dominieren vier Paradigmen der allg. Aggressionsforschung die entsprechenden Mediengewaltwirkungsstudien. Eines der prominentesten Aggressionparadigmen ist das von BANDURA/ROSS/ROSS 1961 konzipierte "Bobo doll"-Paradigma: Im Rahmen einer Freispielsituation werden Quantität und ggf. auch Qualität des vermeintlich aggressiven Verhaltens von (i.d.R.) Kindern ggü. dem eponymen Stehaufmännchen "Bobo" registriert, die gleichzeitig auch das generelle Aggressionsniveau der Probanden indizieren sollen. Bereits FREEDMAN 2001 kommentierte aber 215 BARLETT/HARRIS/BRUEY 2008, S.541. Bereits ANDERSON/MORROW 1995, die u.a. aggressives Verhalten im Rahmen einer kompetitiven und einer kooperativen Spielsituation analysierten, operationalisierten reale Aggression per virtuell gewalttätigem Verhalten der Probanden, die das Plattformspiel SUPER MARIO BROS. spielten: "The aggression measures were […] derived from how the subject had the main character deal with the deadly creatures. […] the main character can kill the creatures by jumping directly on top of them. [...] under some circumstances the main character can obtain the ability […] to throw fireballs. Hitting a creature with a fireball kills it. Two additional ways of dealing with the creatures involve avoiding them. […] A coder […] simply counted the creatures (a) jumped on, (b) fireballed, (c) jumped over, and (d) avoided in other ways. […] The main dependent measure […] was the proportion of creatures encountered during the scenario that were killed […]." (S.1025f.) Auch ASK/AUGOUSTINOS/WINEFIELD 2000 interessierte aggressives Verhalten im Rahmen einer kompetitiven Spielsituation: I.d.S. spielten u.a. 16 versierte Spieler ein Qualifikationsspiel und infolge ein Turnier (inkl. Preisgeld und Publikum) des Kampfsportspiels MORTAL KOMBAT 3. Die Spielersubstitute der Gewinner eines Duells konnten per Tastenkombination die der Kontrahenten exekutieren: Die sog. "Fatalities" waren der Indikator des aggressiven Verhaltens. Die Gewinner exekutierten die Substitute der Kontrahenten im Rahmen der Qualifikation in 67 % und im Rahmen des Turniers in 84 % der Duelle. Einerseits gilt bzgl. der Studie aber prinzipiell dieselbe Kritik, wie bzgl. BARLETT/HARRIS/ BRUEY 2008. Andererseits sind die "Fatalities" gem. GOLDSTEIN 2005 ein Paradebeispiel sog. "mock violence" (S.345) und könnten nur eine Spielstrategie sein, die z.B. die Kontrahenten demoralisieren und eine besondere Spielkompetenz demonstrieren sollten (S.348). Auch waren die ephemeren Tastenkombinationen mehr oder weniger kompliziert, so dass die Gewinner die Substitute der Kontrahenten u.U. öfter exekutieren wollten, als sie konnten; sechs Probanden, die nie exekutierten, wurden de facto gar aus der Analyse exkludiert. Letztlich konnte BÖSCHE 2008 demonstrieren, dass das Verhalten der Versuchsleitung virtuell gewalttätige Spielleistungen der Probanden generell inhibieren kann, so dass u.U. insb. die Resultate des Qualifikationsspiels nicht akurat sind. 49 diesbzgl., dass "[…] Bobo dolls are designed to be hit. When you hit a Bobo doll, it falls down and then bounces back up. You are supposed to hit it and it is supposed to fall down and then bounce back up. There is little reason to have a Bobo doll if you do not hit it. Calling punching a Bobo doll aggressive is like calling kicking a football aggressive. [...] No harm is intended and none is done. [...] it is difficult to understand why anyone would think this is a measure of aggression."216 I.d.S. wird regelmäßig kritisiert, dass das Paradigma nicht aggressives Verhalten, sondern vielmehr Kampf- und Tobespielverhalten misst.217 Die Computerspielgewaltwirkungsforschung nutzte das Paradigma aber insg. kaum.218 Der Vollständigkeit halber stellen aber auch die Studien keine Verbesserung der skizzierten Problematik dar, die die Quantität u./o. die Intervalle und ggf. auch Qualität vermeintlich aggressiven Verhaltens von Kindern ggü. anderen Kindern (und nicht nur einem Stehaufmännchen) im Rahmen einer Freispielsituation als Indikator des Aggressionsniveaus kontrollierten,219 aber gleichermaßen nicht (hinreichend) zwischen aggressivem Verhalten und Kampfund Tobespielverhalten differenzierten,220 wie z.B. bereits DURKIN 1995 am Beispiel von SCHUTTE/MALOUFF/POST-GORDEN et al. 1988 verdeutlichten: It is not clear […] how the researchers distinguished between "pretend to push, hit, kick" and actual examples of these behaviours. What constituted an actual push, hit or kick? [...] the authors provide no details of these key measurement issues. It is possible that the researchers’ boundaries between pretend and real were arbitrary. A child might "pretend" to hit a peer by striking him or her lightly on the shoulder; in some contexts this could be playful. The study fails to provide information to address this point. [...] it is reasonable to assume that the incidence of authentic, painful attacks would be very low. We can assume that responsible scientific investigators did not flout the ethical considerations of allowing kindergarten children to continue serious assaults on one another. If for some reason they did, then it is obvious that any effective attacks would result in the victim suffering pain, most likely crying or attempting to flee, and the experiment itself would be disrupted. Recall that during the whole procedure, two strange adults were sitting at a table in the room observing the children. One might suspect that only youngsters of an already pathological disposition would engage in real violence under these conditions. Even if we put these arguments aside and assume that the experimenters really did observe authentic violent aggression among the children, the mean number of time intervals was 1.08 but the standard deviation […] was quite high (2.68). This suggests that some children have contributed rather a lot of the instances, and others none. Since there were 15 subjects in the group, it is possible that a small number of already aggressive children may have contributed most of the actions. A more plausible inference is that the children were only playing; their peers knew they were playing, and the experimenters knew they were playing, or they would have had to intervene.221 Insofern kann per Verhaltensbeobachtung im Rahmen einer Freispielsituation ohne die Garantie einer elaborierten, objektivierbaren Differenzierung zwischen aggressivem Verhalten und Kampf- und Tobespielverhalten das Aggressionsniveau natürlich insg. nicht probat gemessen werden.222 216 217 218 219 220 221 222 FREEDMAN 2002, S.61. Vgl. KLAPPER 1968; TEDESCHI/SMITH/BROWN 1974; TEDESCHI/QUIGLEY 1996; CUMBERBATCH 2004, S.27; SMITH/SMEES/PELLEGRINI 2004 und KIRSH 2010, S.205. Bzgl. detaillierterer, genereller Kritik an den originären Experimenten von Albert BANDURA et al. s. auch bereits KELMER/STEIN 1975, S.32-38.; KUNCZIK 1975, S.495-529; NOBLE 1975, S.133f.; KUNCZIK 1978, S.67ff.; GUGEL 1983, S.33f.; THEUNERT 1987, S.17-20; THEUNERT 1994, S.395; GAUNTLETT 1995; THEUNERT 1996, S.40; CUMBERBATCH 2004, S.27; KIMM 2005, S.113-116 und FERGUSON 2010, S.71f.. Vgl. SILVERN 1986; SILVERN/WILLIAMSON 1987 und SCHUTTE/MALOUFF/POST-GORDEN et al. 1988. Vgl. COOPER/MACKIE 1986; und IRWIN/GROSS 1995. Vgl. GRIFFITHS 1999, S.209f. und BENSLEY/EENWYK 2001. DURKIN 1995, S.32f.. Dgl. ist auch eines der fundamentalen Probleme der Interventionsstudie ROBINSON/WILDE/NAVRACRUZ et al. 2001, bei der die Experimentalgruppe, Schüler dritter und vierter Klassen (M = 8,9 Jahre), im Rahmen eines sechsmonatigen Interventionsprogramms ihren generellen Konsum audiovisueller Medien (TV, Filme und Computerspiele) reduzieren sollte: "It consisted of eighteen 30- to 50-minute classroom lessons taught by the regular […] classroom teachers […] as part of the standard curriculum in the intervention school. […] Early lessons included self-monitoring and reporting of television, videotape, and video game use to motivate children to want to reduce the time they spent in these activities. These lessons were followed by a TV Turnoff during which children were challenged to watch no television or videotapes and play no video games for 10 days. After the turnoff, children were encouraged to follow a 7 hour per week television, videotape, and video game budget. To help with budgeting, each household also received an electronic television time manager […]. […] Several final lessons enlisted children as advocates for reducing media use. Parent newsletters were designed to motivate parents to help their children stay within their budgets, and suggested strategies for limiting television, videotape, and video game use for the entire family. We allowed parents to decide whether to include computer use in their child’s budget. The intervention targeted media use alone and did not address aggressive behavior." (S.18) In Relation zur Kontrollgruppe waren aber nur die Reduzierung zweier der vier Messwerte aggressiven Verhaltens statistisch signifikant: Peer- nicht aber Elternreporte aggres- 50 BUSS 1961 konzipierte eines der ersten und insb. im Rahmen der Film- und Fernsehgewaltwirkungsforschung populärsten Aggressionsparadigmen, das sog. Lehrer-Schüler-Paradigma: Die Probanden werden informiert, der Versuchsleiter wolle den postiven Einfluss von Bestrafungen auf das Lernen analysieren und instruiert, dass sie als "Lehrer" Fehler eines anderen (räumlich nicht anwesenden) Probanden (der de facto nur ein Computer oder ein Verbündeter des Versuchsleiters ist, der nicht wirklich bestraft wird), der als "Schüler" eine Lernaufgabe absolvieren soll, per sog. Aggressionsmaschine bestrafen sollen, die originär unangenehme Elektroschocks und aktueller mehr oder weniger gleichermaßen unangenehmes weißes Rauschen appliziert. Die "Lehrer" können die Stimulusintensität u./o. -dauer justieren, beides soll aggressives Verhalten indizieren, d.h. je intensiver u./o. länger der applizierte aversive Stimulus ist, desto aggressiver verhielten sich die Probanden. Die Computerspielgewaltwirkungsforschung nutzt das Paradigma insg. kaum: WINKEL/ OVAK/ HOPSON 1987 ließen den "Lehrer" z.B. für jeden Fehler des "Schülers" den Betrag einer monetären Vergütung für denselben für die Teilnahme an dem Experiment reduzieren und BALLARD/LINEBERGER 1999 ließen die "Lehrer" ggf. eine Hand des "Schülers" in Eiswasser eintauchen. Ungeachtet dessen, dass die Schocks zwar aversiv, aber natürlich nicht gesundheitsschädlich o.ä. sind und bereits i.d.S. kaum oder gar keine Surrogate ernsthafter Aggressionen sein können, ist insb. die Coverstory ein fundamentales Problem für die Konstruktvalidität des Aggressionsmaßes: Der "Lehrer" muss im Lichte der Coverstory glauben, dass die Elektroschocks dem "Schüler" helfen sollen, effizienter zu lernen. I.d.S. spekulierte bereits KUNCZIK 1975, dass ein intensiverer Schock ggf. auch weniger oder gar nicht aggressiv, sondern tendenziell gar prosozial motiviert sein könnte und seitens der Probanden möglicherweise geglaubt werde, "durch zunächst starke Schocks die Lernleistung des Schockempfängers derart verbessern zu können, daß späterhin keine bzw. nur ganz schwache Schocks ausgeteilt werden müßten."223 In Frage stellte die Validität des Paradigmas aber auch bereits MILGRAM 1963, der mittels einer ähnlichen Versuchsanordnung nicht das aggressive Verhalten, sondern den destruktiven Gehorsam der Probanden messen wollte. Eine Variation des letzten Paradigmas konzipierte bereits TAYLOR 1967, den sog. Competitive Reaction Time Test (CRTT): Im Rahmen der Mediengewaltwirkungsforschung nutzte erstmals BUSHMAN 1995 einen bereits durch BOND/LADER 1986 aktualisierten CRTT, die u.a. den aversiven Stimulus im Rahmen des Tests (originär abermals ein Elektroschock) durch weißes Rauschen ersetzt hatten. Seit ANDERSON/DILL 2000 dominiert der CRTT letztlich auch die Computerspielgewaltwirkungsforschung:224 "[…] the participant's goal is to push a button faster than his […] opponent. If participants lose this race, they receive a noise blast at a level supposedly set by the opponent (actually set by the computer). Aggressive behavior is operationally defined as the intensity and duration of noise blasts the participant chooses to deliver to the op- 223 224 siven Verhaltens und die Beobachtung verbaler, nicht aber physischer Aggression im Rahmen einer Freispielsituation. Ungeachtet dessen konstruierten die Autoren aus dem Resultat einen Beleg mediengewaltinduzierter Aggression! Einerseits ist das klassisches capitalizing on chance, andererseits eine Demonstration des bereits diskutierten Problems, dass ein genereller Medien- mit einem speziellen und Mediengewaltkonsum synonymisiert wird. I.d.S. moniert bspw. KIMM 2005, dass es auch fragwürdig erscheint, "die positiven Effekte einer grundsätzlichen Reduktion des medialen Konsums in Form eines Umkehrschlusses als monokausalen Beweis für die Wirksamkeit medialer Gewaltdarstellungen zu verwenden. Aspekte wie z.B. die Verbesserung der Sozialkompetenz durch häufigere und intensivere Sozialkontakte, in Anbetracht des Wegfalls des 'sozialen Ersatzraums' Fernsehen (oder Computer), wurden erst gar nicht in die Überlegungen mit einbezogen." (S.117) Bzgl. einer Kritik der Studie s. auch GOLDSTEIN 2005, S.348f. und SCHULZ/ BRUNN/DREYER et al. 2007, S.50f.. Ungeachtet dessen argumentieren bspw. auch BARLETT/ANDERSON 2009, träte in der BRD ein (noch) restriktiver Jugendmedienschutz bspw. i.S.d. JuSchVerbG (s. Kapitel 21.) in Kraft, "so wäre es aus wissenschaftlicher Sicht möglich, Aggressionsniveaus zu eichen […], um festzustellen, ob das Aggressionsniveau (teilweise entstanden durch den Konsum gewalthaltiger Computerspiele) abnimmt. Gewiss gibt es neben gewalthaltigen Medien viele andere Risikofaktoren für aggressives Verhalten, so dass gesamtgesellschaftlich große Veränderungen unwahrscheinlich sind. Dennoch sollte die dramatische Verringerung der Intensität, mit der Kinder medialer Gewalt ausgesetzt sind, in einem Zeitraum von mehreren Jahren zu einer messbaren Abnahme der tatsächlichen Aggressionsneigung dieser Kinder führen. Damit könnte ein überdeutlicher Zusammenhang zwischen medialer Gewalt und aggressivem Verhalten nachgewiesen werden." (S.237) Ein überaus kritikwürdiger Vorschlag. KUNCZIK 1975, S.373f. und vgl. BARON/RICHARDSON 1994. Vgl. ANDERSON/MURPHY 2003; ANDERSON/CARNAGEY/FLANAGAN et al. 2004; CARNAGEY/ANDERSON 2005; BARTHOLOW/BUSHMAN/SESTIR 2006; KONIJN/BIJVANK/BUSHMAN 2007; KRAHÈ/MÖLLER/HUESMANN et al. 2011; HASAN/BÈGUE/BUSHMAN 2012; CHARLES/BAKER/HARTMAN et al. 2013 und HASAN/BÈGUE/ SCHARKOW 2013 51 ponent. We used 25 competitive reaction time trials; the participant won 13 and lost 12. The pattern of wins and losses was the same for each participant. Prior to each trial the participant set noise intensity and duration levels. Intensity was set by clicking on a scale that ranged from 0 to 10. Duration was set by holding down a 'Ready' button and was measured in milliseconds. After each trial the participants were shown on their computer screen the noise levels supposedly set by their opponent. For this experiment, the noise blast intensities supposedly set by the opponent were designed to appear in a random pattern. [...] three noise blasts of intensity Levels 2, 3, 4, 6, 7, 8, and 9, and four noise blasts of Level 5 were randomly assigned to the 25 trials. A noise blast at Level 1 corresponded to 55 decibels, a noise blast at Level 2 corresponded to 60 decibels, and the decibels increased by five for each subsequent noise blast level to a maximum of 100 decibels for a noise blast at Level 10. Similarly, the duration of noise blasts the participant received were determined by the computer, were in a random pattern, and were the same for each participant. The durations varied from 0.5 seconds to 1.75 seconds."225 Aber das Paradigma prägen u.a. massive Validitätsdefizite (s.u.). Regelmäßig wird bspw. argumentiert, dass der CRTT vielmehr ein Kompetitivitäts- und kein Aggressionsmaß ist, wie bereits der Name suggeriert.226 LIEBERMAN/SOLOMON/GREENBERG et al. 1999 konzipierten eines der neueren Aggressionsparadigmen, das sog. Hot-Sauce Paradigma (HSP). Aktuell haben aber erst ein paar der Computerspielgewaltwirkungsstudien aggressives Verhalten per HSP operationalisiert,227 wie z.B. ADACHI/WILLOUGHBY 2011a: "[…] the participant is given an […] food preference questionnaire and told that another participant […] has completed this questionnaire and, as indicated by the questionnaire, does not like hot or spicy food. The participant is then given four bottles of hot sauce ranked in terms of hotness and is informed that his […] job is to choose one of the four bottles and mix up some hot sauce for the other participant to drink. The amount of hot sauce given and the degree of hotness is indicative of overt aggressive behavior […]."228 Die Intention der Applikation der i.d.R. capsaicinhaltigen Sauce muss aber abermals keine aggressive sein. Insb. wird ignoriert, dass bspw. die Capsaicinrezeptoren der Probanden unterschiedlich (de)sensibilisiert sein können. Probanden, die bspw. regelmäßig capsaicinhaltige Nahrung konsumieren, werden dagegen resistenter, so dass sie die Saucen u.U. gar nicht mehr als scharf wahrnehmen. De facto hat auch noch keine der Studien den Schärfegrad der Saucen objektiviert (z.B. per Hochleistungsflüssigchromatographie). Zusammengefasst ist keines der skizzierten Paradigmen als Aggressionsmaß valide, wie auch die diesbzgl. Literatur bereits hinreichend demonstrierte.229 Ungeachtet einzelner paradigmaspezifischer Probleme generieren insg. alle der Laborstudien eine permissive Gesamtsituation, so dass generell keine illegitime Aggression der Probanden messbar werden kann.230 Vielmehr müssen die Probanden gar glauben, dass die Applizierung der aversiven Stimuli im Rahmen rechtmäßiger Experimente mehr oder weniger auf prinzipiellem Konsens aller freiwillig an den Experimenten partizipierenden Probanden basiert. Insb. werden im Rahmen der letzten vier Paradigmen auch keine ernsthafteren Aggressionen messbar, denn die zu applizierenden Stimuli sind zwar mehr oder weniger aversiv, aber nicht gesundheitsschädlich. Auch ignoriert das Gros der Studien die subjektive Intentionalität des Verhaltens der Probanden. Im Lichte der bereits vorgestellten Prämisse, dass eine entsprechende Intention eines Akteurs (dem Gegenüber zu schaden zu wollen) eine notwendige Bedingung für die Attribuierung eines Verhaltens als aggressiv darstellt, argumentiert schon CAPSELLO 2008 folgendermaßen: 225 226 227 228 229 230 ANDERSON/DILL 2000. Vgl. ADACHI/WILLOUGHBY 2011b, S.259. Vgl. BARLETT/BRANCH/RODEHEFFER et al. 2009, FISCHER/KASTENMÜLLER/GREITMEYER 2010. ADACHI/WILLOUGHBY 2011a, S.261. Vgl. FREEDMAN 1992; TEDESCHI/QUIGLEY 1996; EMES 1997; TEDESCHI/QUIGLEY 2000; FREEDMAN 2001; SAVAGE 2004; RITTER/ESLEA 2005; FERGUSON 2009, S.107f. und FERGUSON 2010, S.74ff.. Vgl. THEUNERT 1987, S.24 und KIRSH 2010, S.204. 52 […] measures of this intention need to be incorporated in laboratory experiments.231 [...] if subjects are told they are engaging in a competitive game, how can we be sure […] the intent of their responses is to do harm and not merely to compete? […] It is possible that the ultimate goal is reciprocity, and that subjects retaliate at a level consistent with how they have been treated by the confederate. [...] this is even what is expected in paradigms using provocation. Then, individual variations in responses reflect variations in feelings of injustice, instead of variations in aggression. Alternatively, the ultimate goal may be conformity to the strategy adopted by the opponent. Conversaly, the primary goal may be one of social control. Either aiming to persuade the opponent to refrain from using high intensities or subjects might set low intensities for the opponent, to persuade them to conform to their strategy. And finally, the behaviour might be aimed at self-preservation. The goal might be to do well, hoping for a positive opinion from the experimenter with respect to one’s adequacy compared to the other participant. […] Intent to contribute to the aims of the experimenter may influence how subjects respond, i.e. how much sauce they chose allocate to their opponent. […]. If participants wish to behave non-aggressively it is very likely they will do so by choosing the weakest response. [...] this does not mean that when participants choose this response, their motive is a non-aggressive one. […] Moreover, when response options are limited, and administration of shocks is required, behaviour might become influenced by (unintentional) cues from the experimenter suggesting what is expected from the participant. If there is only one way to respond, subjects easily grasp what is expected from them, regardless of whether they have the same interpretation of the situation.232 […] Alternatively, if aggressive responses can be initiated at any time and at any frequency […], the situation becomes too complex for subjects to figure out/assess what behavioural pattern is expected.233 Ungeachtet dessen ist die Diskussion über die Validität der Paradigmen im Lichte fehlender Standardisierung der Aggressionsmaße aber gem. FERGUSON 2009 noch gar nicht angemessen: "Discussion of the validity of a measure of any construct can occur only once its reliability has been established, and the reliability of a measure can be established only if the measure is standardized. None of the common laboratory measures […] are used in a standardized way in the literature, nor are reliability data commonly provided for these instruments. These measures of aggression are often varied both in administration […] and in 'scoring' the measure. […] Seldom is any form of reliability reported for these measures […] in the studies that utilize them. It is impossible to address what a particular instrument is measuring if it is not used in a standardized way and if data on its reliability are not made available."234 Eine fehlende Standardisierung ermöglicht (und provoziert) aber insb. im Lichte u.U. mehrerer abhängiger Variablen, die alle dasselbe Konstrukt messen sollen, ein sog. capitalization on chance. Auch ELSON 2011 konnte die Problematik der Verwendung eines unstandardisierten CRTT eindrucksvoll demonstrieren und resümiert für seine eigenen Studienergebnisse, dass "[…] it would have been possible to find results with large effects for any desired outcome: Violent games increase aggression, violent games have no effect, even that violent games actually reduce aggressive behavior. [...] This finding [...] should be a good advice for other researchers to use any test in a theoretically sound and ideally standardized way to avoid making results not only incomparable, but altogether meaningless and random. Due to the dissimilarity in aggression scores derived from the same raw data, it is clear that not all scores calculated with the CRTT actually are measures for aggression. Regardless of what they actually show, publishing results gained with different test versions under the same 'umbrella' is very problematic and might lead to a false estimation of effects. […] Obtaining results indicating that the different 231 232 233 234 Vgl. RITTER/ESLEA 2005, S.413. Kaum eine Computergewaltwirkungsstudie kontrollierte aktuell die diesbzgl. Probandenmotivation; eine Ausnahme sind ANDERSON/MURPHY 2003, die (in Orientierung an ANDERSON/BARTHOLOW 2002) einen Fragebogen konstruierten, der primär die Motivation der Probanden für die Applizierung des aversiven Stimulus im Rahmen eines CRTT kontrollieren sollte: "Six items asked participants to 'indicate the extent to which this motive describes your motive when deciding on where to set the noise levels.' Responses were on a 5-point unipolar scale anchored at 1 (not at all), 2 (a little bit), 3 (somewhat), 4 (quite a lot) and 5 (a lot). The 6 items were: (a) I wanted to impair my opponent’s performance in order to win more; (b) I wanted to control my opponent’s level of responses; (c) I wanted to make my opponent mad; (d) I wanted to hurt my opponent; (e) I wanted to pay back my opponent for the noise levels he/she set; (f) I wanted to blast him/her harder than he/she blasted me. The first two items represent instrumental reasons for aggressing. […] The latter four items represent a revengeful type of aggressive motive […]." (S.425f.) Der Fragebogen war aber insg. kaum elaboriert, die Motive (c) und (d) indizieren bspw. nicht eineindeutig Vergeltungsmotive, sondern können vielmehr auch zwei mehr oder weniger unterschiedliche Strategien i.S.v. Motiv (a) sein. Der Vollständigkeit halber sei auch erwähnt, dass die Autoren auch nur den Durchschnittswert der addierten Werte beider Aggressionsmotive dokumentieren: Probanden der Experimentalgruppe waren aggressiver motiviert (M = 1.98), als die der Kontrollgruppe (M = 1.59). Der Unterschied ist statistisch signifikant, aber nicht besonders prägnant und indiziert bereits, dass die Applizierung des aversiven Stimulus im Rahmen eines CRTT kein probater Indikator aggressiven Verhaltens ist. Vgl. KELMER/STEIN 1975, S.23; FREEDMAN 2001 und SAVAGE 2001, S.28. CAPSELLO 2008, S.15-25. FERGUSON 2009, S.106; vgl. FERGUSON 2007a, S.471f. und FERGUSON 2007b. 53 versions of the CRTT might hardly be comparable raises some questions about the actual state of research on violent game effects, since many studies employed diverse versions of this test and analyzed it differently."235 Auch insofern erodiert das Gros der mehr als eineinhalb Jahrzehnte der diesbzgl. Forschung. Aktuell haben erst ein paar Autoren vermeintlich aggressives Verhalten mittels eines standardisierten (und natürlich auch reliablen) CRTT operationalisiert, konnten aber bezeichnenderweise insg. keine Zusammenhänge zwischen dem Spielen von Gewalt darstellenden Computerspielen und dem gemessenen Verhalten demonstrieren.236 Zusammengefasst konnte bislang die Computerspiel-, resp. die Mediengewaltwirkungsforschung insg. nicht demonstrieren, dass Mediengewaltdarstellungen aggressives Verhalten hervorrufen.237 Insofern demonstriert wurde, dass Mediengewaltdarstellungen offenbar kein physisch aggressives Verhalten evozieren, gewalttätiges Verhalten selbst aber nur eine extreme Form aggressiven Verhaltens darstellt, wird die Frage nach den gewalttätiges Verhalten evozierenden Wirkungen medialer Gewaltdarstellungen prinzipiell mehr oder weniger hinfällig. Tatsächlich wurde die Wirkung von Gewalt darstellenden Computerspielen auf das gewalttätige (und nicht nur aggressive) Verhalten auch noch kaum oder besser noch gar nicht (angemessen) untersucht,238 wie auch bereits FERGUSON 2009 konstatierte: There are [...] some excellent, structured, clinical measures of violence prediction available (e.g., HCR-20 […]). These are measures that are standardized and reliable and have promising validity data. These are never used in media violence literature, nor do any of these measures include exposure to media violence among their actuarial indices. Given that some controversy continues over the degree to which these welldesigned and reliable measures can accurately predict violence risk […], it is unlikely that unstandardized tools can accomplish what these clinical tools continue to struggle for. The methods employed in media violence validation are very indirect, often comparing the results of experimental and non-experimental studies to suggest that external validity is implied by "general agreement" between the two […]. [...] no studies exist to suggest that the various measures of "aggression" employed in experimental media violence studies are predictive of violent criminal behavior or any other external criterion. Despite protestations to the contrary […], there is simply no evidence to support the external validity of these measures.239 Tatsächlich wird oftmals einerseits nicht oder nicht hinreichend zwischen aggressivem und gewalttätigem Verhalten differenziert,240 wie u.a. bereits OLSON 2004 monierte: "Some researchers use aggression and violence almost interchangeably, implying that one inevetiably leads to the other. […] Aggressive thoughts, feelings, and behavior may be presented as equivalent in importance and treated as valid surrogates for real-life violence [...]. The muddled terminology and unspoken assumptions can undermine the credibility of studies."241 Andererseits werden für die vermeintliche Gefährlichkeit von Gewaltdarstellungen regelmäßig auch nur anekdotische Evidenzen präsentiert. Wie einleitend erwähnt wurde, werden Gewalt darstellende Computerspiele sowohl für eine vermeintliche Zunahme von Gewalt in der Gesellschaft (insb. unter Jugendlichen), wie auch spektakuläre Einzeltaten verantwortlich gemacht. Die notwendige (aber natürlich nicht hinreichende) Bedingung für die erste Behauptung ist aber eine tatsächliche Zunahme solcher Gewalttaten.242 BENSLEY/EENWYK 2001 bspw. konnten aber bereits am Beispiel US-amerikanischer Kriminalitätsstatistiken demonstrieren, dass solche Gewalttaten trotz einer zunehmenden Verbreitung auch Gewalt darstellender Computerspiele rückläufig sind, so dass "[…] population-level evidence suggests that between 1991 and 1997, there was a linear decrease in adolescent weapon-carrying and physical fighting, and this downward trend continued in 1999. [...] between 1993 and 1998 […] national homicide rates dropped from 2.5 to 1.5 per 100,000 for 10- to 14-year-olds and from 20.5 to 11.7 per 100,000 for 15- to 19-year235 236 237 238 239 240 241 242 ELSON 2011, S.75. Bzgl. einer detaillierten Kritik. insb. des CRTT s. FERGUSON/SMITH/MILLER-STRATTON et al. 2008 und FERGUSON/RUEDA 2009. Vgl. FERGUSON/RUEDA/CRUZ et al. 2008, FERGUSON/RUEDA 2010 oder ELSON 2011,. Vgl. DURKIN/AISBETT 1999; SAVAGE/YANCEY 2008 und FERGUSON/KILBURN 2009, S.762. Vgl. OLSON 2004; FERGUSON 2007a und ANDERSON/COLVIN 2008, S.133. FERGUSON 2009, S.107f.; vgl. OLSON 2004; FERGUSON 2007a und ANDERSON/COLVIN 2008, S.133. Vgl. KUNCZICK 1975, S.16f./42-62; STOLTE 1988, S.12; KREBS 1994, S.356; MERTEN 1999, S.20f.; KLEBER 2000, S.2; IMBUSCH 2002, S.27; RÖSER 2003, S.215 und OLSON 2004, S.146f.. OLSON 2004, S.146f.. Vgl. EISERMANN 2001, S.124. 54 olds. During this period, video games were ubiquitous, and most games contained violence, calling into question the notion that video games have a largescale harmful effect on youth violence."243 Einerseits lassen sich ähnliche Entwicklungen der entsprechenden Kriminalitätsraten z.B. auch für Kanada, Australien und diverse Mitgliedstaaten der EU konstatieren.244 Andererseits divergieren die entsprechenden Raten zwischen Ländern wie Kanada, Japan, England, Finnland und Australien z.T. erheblich, trotz ähnlicher Nutzungszahlen auch für Gewalt darstellende Computerspiele.245 I.d.S. resümierte bereits GOTTBERG 1997 bzgl. derselben Vorwürfe ggü. Gewaltdarstellungen in Film und Fernsehen: "Es gibt keine erkennbare Korrelation zwischen der Gewaltbereitschaft einer Jugendgeneration innerhalb einer Gesellschaft und der […] Gewaltdarstellung in den jeweiligen Medien."246 Ungeachtet dessen konnte FERGUSON 2010 zwischen 1996 und 2007 einen starken negativen Zusammenhang zwischen der Anzahl verkaufter Computerspiele und der Gewaltdelinquenz von Kindern und Jugendlichen feststellen (r = -.95): "It should be […] noted that video game consumption is unlikely to be responsible for this decline […], even in part. […] However, we can be sure that violent video games have not sparked a violent crime epidemic because there is no violent crime epidemic. The violent video game issue is a crusade in search of a crisis. Some causal hypothesis scholars may claim that this realworld data does not matter, but the same scholars often pointed to violent crime trends when they appeared to work in the favor of their hypotheses […] or raise the issue of youth violence while ignoring youth violence data […]. Claiming that video game effects theories need never relate to actual world phenomenon is a pseudoscientific claim, one that is more akin to a moral panic than objective science."247 Das ignorieren Medienkritiker aber regelmäßig. STRASBURGER 2007 behauptet bspw. nach wie vor, dass "[…] an estimated 10% to 30% of violence in society can be attributed to the impact of media violence."248 Die zweite Behauptung, dass Gewalt darstellende Computerspiele oder auch andere Gewalt darstellende Medien für spektakuläre Einzeltaten verantwortlich seien, basiert gleichermaßen auf anekdotischer Evidenz und i.d.R. auch nur auf Zeitungsberichten, die salopp Zusammenhänge zwischen mehr oder weniger bestimmten Mediengewaltdarstellungen und solchen Taten (z.T. 243 244 245 246 247 248 BENSLEY/EENWYK 2001, S.244; vgl. HOWE/STRAUSS 2000, S.207; BODMER 2002, S.34; STERNHEIMER 2007, S.13; KIERKEGAARD 2008 und FERGUSON/KILBURN 2010. FERGUSON 2008b, S.33f.. Vgl. OLSON 2004; FERGUSON 2008b; KIERKEGAARD 2008 und FERGUSON 2009. GOTTBERG 1997, S.1. FERGUSON 2010, S.75. Die Entwicklungen der Kriminalitätsraten sind zwar kein strapazierbares Indiz oder gar ein Beleg für den Umkehrschluss, dass die Nutzung gewaltdarstellender Spiele gewaltkriminelles Verhalten reduziere, dgl. will aber WARD 2007 demonstriert haben, der die Kriminalitätsraten mit den Nutzungsraten von Computerspielen zwischen 1994 und 2004 in ca. 854 US-amerikanischen Landkreisen (die ca. 80% der US-amerikanischen Population beherbergen) kontrastierte. Indiz der Computerspielnutzung war ihm kurioserweise die Anzahl der Computerspielgeschäfte (per capita) pro Landkreis: "For six of eight categories of crime, more game stores are associated with significant declines in crime rates. Proxies for other leisure activities, sports and movie viewing, do not have a similar effect. […] mortality rates, especially mortality rates stemming from injuries, also […] negatively related to the number of game stores." (S.2) Die Studie prägen aber bereits massive theoretische Probleme (die der Autor z.T. auch selbst realisiert). Dgl. auch ENGELSTÄTTER/CUNNINGHAM/WARD 2011, die auf Basis des GAM zwar prinzipiell an gewaltkriminelles Verhalten induzierende Wirkung gewaltdarstellender Spiele glauben(!), aber gleichzeitig einen gewaltkriminelles Verhalten inhibierenden Zeiteffekt der Nutzung von (gewaltdarstellenden) Computerspielen demonstriert haben wollen: "[…] psychological laboratory experiments cannot address the time use effects of video games which tend to incapacitate gamers from violent activity […] by drawing them into extended gameplay. […] We empirically investigate how video games could affect crime using four years of weekly data from the US by matching four different data sources. The number of violent and nonviolent crime incidents each week we obtain from the National Incident Based Reporting System [...]. Our measure for video game play is derived from VGChartz which report the unit sales of the top 50 video games across the US each week. To determine the violent content of each game, we collect information from the Entertainment Software Rating Board [...]. […] To control for unobserved factors that might influence both crime rates and video game play like […] we focus only on changes in game sales associated with differences in game quality as measured by Gamespot, a […] video game rating board […]. Our results indicate two opposing effects. […] If not for the incapacitation effect, violent video games would be associated with more violent crimes. […] the results also support a voluntary incapacitation effect in which playing either violent or non-violent games decrease crimes. Sales of either violent or non-violent games are associated with decreased violent and non-violent crime. The incapacitation effect dominates the behavioral effect such that, overall, violent video games lead to decreases in violent crime." (S.3) Ungeachtet des fragwürdigen Maßes für die Nutzung der Spiele kann die simple Korrelationsstudie aber bereits naturgemäß gar keine Verhaltenseffekte des Spielens (bspw. eine Aggressionssteigerung) demonstrieren. STRASBURGER 2007, S.1398. 55 nicht einmal auf Basis augenscheinlichster Analogien zwischen bestimmten Darstellungen und den Taten) kolportieren. Zusammenhänge, die z.T. selbst Akademiker249 ungeprüft rezitieren,250 so dass bereits CUMBERBATCH 2004 monierte, dass "as social scientists, they should be ashamed [...] in offering only second hand undocumented hearsay support for a link."251 Seit dem Columbine High School massacre vom 20.04.1999 wird oftmals behauptet, dass Gewalt darstellende Computerspiele eine wesentliche Ursache für sog. Schulamokläufe (engl.: school shootings) seien. Nicht nur, aber besonders auch innerhalb der deutschen Debatten kursiert insb. der moderne Mythos, dass das Gros oder gar alle Schulamokläufer exzessive Spieler Gewalt darstellender Computerspiele gewesen seien,252 so als wäre das Spielen solcher Spiele ein besonderes Alleinstellungsmerkmal solcher Täter. Nach Christian PFEIFFER sind (Gewalt darstellende) Computerspiele im Lichte diverser Gefährdungsfaktoren gar ein generell "notwendiger Faktor für den Amoklauf"253 und für Bastian BOSSE, Täter des sog. Amoklaufs von Emsdetten vom 20.11.2006, kolportierte der Direktor des KFN, hätte er nicht nur keine violenten, sondern insg. gar keine Computerspiele gespielt, "wäre er mit Sicherheit kein Amokläufer geworden. […] Man muss sich vor Augen halten: Sämtliche Amokläufer unter 20 Jahre, die wir in der letzten Zeit sehen mussten, sind massiv durch Computerspiele beeinflusst gewesen. Sie haben Handlungsmuster nachempfunden, die sie als attraktiv erlebt haben, sind also quasi auf den Spuren ihrer Computerspiele unterwegs gewesen."254 Politiker rezitierten solche Phantastereien oftmals. Günther BECKSTEIN (CSU) behauptete bspw., "dass nicht jeder Nutzer gewaltverherrlichender Computerspiele ein potentieller Amoktäter wird. Dennoch haben gerade einige schreckliche Vorkommnisse an Schulen in den letzten Jahren gezeigt, dass sich gewisse Personenkreise durch die sogenannten 'Killerspiele' inspirieren lassen. So etwas dürfen wir sehenden Auges nicht zulassen!"255 Ähnlich auch sein Amtskollege Uwe SCHÜNEMANN (CDU): "Nicht jeder, der Killerspiele auf dem Computer hat, wird zum Amokläufer. Aber die überwiegende Zahl der Amokläufer, die wir in den letzten Jahren hatten, hat solche Spiele betrieben. Es gibt also Zusammenhänge."256 Tatsächlich konnten aber VOSSEKUIL/FEIN/ REDDY et al. 2002 demonstrieren, dass von den 41 US-amerikanischen, elf bis 21 Jahre alten Schulamokläufern seit 1974 nur 12 %, d.h. fünf Täter überhaupt ein Interesse an violenten Computerspielen hatten;257 ähnliches ist auch für die Fälle nach 2000,258 wie auch für die deutschen Pendants konstatierbar. I.d.S. konnten HOFFMANN/ROSHDI/ROBERTZ 2009 demonstrieren, dass sich nur vier von sieben der jugendlichen Täter sog. Amokläufe zwischen 1999 und 2006 mehr oder weniger intensiv für Gewalt darstellende Computerspiele interessierten (das war z.B. nicht der Fall beim Täter des sog. Amoklaufs von Winnenden am 11.03.2009), ohne dass aber (dank fehlender Referenzwerte) ggf. ein für Jugendliche insg. überdurchschnittliches oder gar ein pathologisches Interesse o.ä. hätte konstatiert werden können. Das Interesse an Gewalt darstellenden Computerspielen könnte für solche Täter also u.U. gar unterdurchschnittlich sein. Ungeachtet dessen verfängt auch die Argumentation nicht, dass u.U. das Spielen gewaltdarstellender Spiele singuläre Phänome wie Schulamokläufe u.ä. evozieren könnte, insofern nämlich das Spielen solcher Spiele ein mehr oder weniger universelles Phänomen unter Jugendlichen darstellt. Gem. BÖSCHE/GESERICH 2007 kommen "Gewaltcomputerspiele" (GCS) als solche Taten evozierender Faktor überhaupt nur dann in Frage, "wenn bei Konsumenten die Amoklaufrate größer ist als bei vergleichbaren Nichtkonsumenten. Für die Vergleichbarkeit müssen Faktoren wie Geschlecht, sozioönomischer Status und Alter kontrolliert werden. Je mehr GCS 249 250 251 252 253 254 255 256 257 258 Bspw. ANDERSON/DILL 2000; WEIß 2000, S. S.88-93; WEIß 2002; ANDERSON 2004; SPITZER 2005b, S.156 und WEIß 2009, S.2. Vgl. RIEPE 2003, S.1f./5/13. CUMBERBATCH 2004, S.34. Vgl. SPITZER 2005b, S.211ff.. Zitiert in: Peschke 2006a, S.2. Zitiert in: Peschke 2006a, S.2. BECKSTEIN 2007. Zitiert in: LISCHKA 2007. Vgl. VOSSEKUIL/FEIN/REDDY et al. 2002, S.22. Vgl. LANGMAN 2006 und FERGUSON/COULSON/BARNETT 2011. 56 zur Verursachung von extremen Gewalttaten beitragen, desto größer sollte bei GCSKonsumenten die Amoklaufrate im Vergleich zu Nichtkonsumenten sein, und je mehr Konsumenten es gibt, desto mehr Amokläufe sollten stattfinden. Wenn man zunächst die Grundraten betrachtet, so fällt auf, dass die Zahl von Konsumenten und Extremkonsumenten erheblich ist, und im Vergleich dazu die Anzahl von Amokläufen verschwindend gering ausfällt. Wenn das Konsumieren von GCS stark zu Amokläufen und Massakern anregen würde, so müßten erheblich mehr extreme Gewalttaten stattfinden, da täglich etliche Millionen Spielstunden in GCS weltweit anfallen."259 I.d.S. identifiziert auch FERGUSON 2008b den thematisierten Kausalnexus als Moralpanik, so dass "'linking' an individual crime to violent games easily risks the investigative equivalent of a type I error. Such errors may mislead the public, contribute to unnecessary panic, and focus attention away from real social issues that contribute to youth crime. This is true also in cases in which perpetrators themselves claim to have been influenced by games."260 6.2 6.2.1 Errregungen, aggressive Kognitionen, Emotionen & Desensibilisierungen Erregung Die Computerspiel-, resp. Mediengewaltwirkungsforschung insg. interessieren aber nicht nur mehr oder weniger direkte Verhaltenseffekte der Mediengewaltexposition, sondern auch Wirkungen und Prozesse, die – bspw. i.S.d. GAM – aggressives Verhalten bereits auch nur begünstigen könnten, wie z.B. mediengewaltinduzierte Erregungen, aggressive Kognitionen u./o. Affekte oder eine Desensibilisierung ggü. Gewalt, die aber weder eigenständig, noch miteinander kombiniert verhaltensrelevant werden müssen,261 ungeachtet dessen, dass dgl. oftmals kolportiert wird. Bspw. gehen Proponenten der auch in das GAM integrierten Erregungstransferthese262 gem. KUNCZIK/ZIPFEL 2004 davon aus, "dass verschiedene Medieninhalte (Gewalt, […] Erotik, Humor, Sport usw.) unspezifische emotionale Erregungszustände beim Rezipienten auslösen können. Diese bilden ein 'Triebpotenzial', das die Intensität nachfolgenden Verhaltens erhöht. Um welches Verhalten es sich handelt, hängt von Situationsfaktoren ab und steht mit der Qualität der gesehenen Inhalte in keinerlei Zusammenhang. Die These besagt lediglich, dass residuale […] Erregung in Situationen, die zu der die Erregung bewirkenden Situation keinerlei Beziehung aufweisen müssen, zu intensiverem Verhalten führt. Bei einer entsprechenden situationsbedingten Motivation können erotische Medieninhalte ebenso gewalttätiges Verhalten fördern, wie violente Inhalte in der Lage wären, prosoziale Handlungen zu unterstützen. Aggressionen können dabei auf zwei verschiedene Arten gesteigert werden. Einerseits begünstige eine höhere physiologische Aktivierung generell aktuelle dominante Verhaltenstendenzen. Andererseits bestehe die Möglichkeit, dass ein gesteigertes Arousal nicht auf einen internen Zustand attribuiert werde, sondern auf einen externen Reiz, etwa auf die wahrgenommene Provokation durch eine andere Person."263 Diverse Studien haben bereits analysiert, inwiefern Gewaltdarstellungen in Computerspielen die Spieler (intensiver als nicht violente Spiele) erregen, die Resultate sind aber insg. extrem heterogen. Forschungspraktisch wird die Erregung i.d.R. über die physiologisch-sensuellen Indikatoren (Blutdruck, 259 260 261 262 263 BÖSCHE/GESERICH 2007, S.58 und vgl. FAUST 2003. FERGUSON 2008b, S.34. Dass sich u.a. (jugendliche) Gewalttäter selbst oder ihre Verteidiger dieselben vor Gericht als Opfer der Medien inszenieren, so dass nicht sie, sondern Gewaltdarstellungen in den Medien für ihre Taten maßgeblich verantwortlich seien, ist zwar nicht die Regel, aber auch keine Ausnahme. Bereits LUKESCH 1990 schätzte, dass ca. 10 % der männlichen und ca. 25 % der weiblichen Delinquenten, resp. ihre Verteidiger derart argumentieren (S.285). Letztlich sind solche Tricks seit über einem Jahrhundert dokumentiert (vgl. FRIEDLÄNDER 1920, S.6-17; KUNCZIK 1975, S.658-663; SIEGERT 1995, S.149 und VOLLBRECHT 2001, S.27f.). Offenbar sind solche Wirkungsannahmen fast schon eine kulturelle Selbstverständlichkeit, so dass Staatsanwälte und Richter dgl. oftmals selbst suggerieren; i.d.S. konnten KUNCZIK/ZIPFEL 1998 relativ häufige Ressentiments von (nordrhein-westfälischen) Richtern und Staatsanwälten ggü. fiktionale Gewalt darstellenden Medien, wie auch den Rezipienten selbst demonstrieren; über 90 % der Befragten glaubten z.B. an Desensibilisierungs- und ca. 2/3 gar an direkte Imitationswirkungen: "Insbesondere bei schweren, mit Personenschäden verbundenen Delikten (95 Prozent) und Sexualdelikten (63 Prozent) wurde dem Konsum von Mediengewalt eine wichtige Rolle zugemessen, während nur relativ wenige Befragte einen Einfluß der Massenmedien auf politisch motivierte Gewalt (41 Prozent) und Eigentumsdelikte (25 Prozent) annahmen." (S.572) Vgl. KUCNZIK/ZIPFEL 2010, S.34. Vgl. ZILLMAN 1971 und ANDERSON/BUSHMAN 2002. KUNCZIK/ZIPFEL 2004, S.15; vgl. KÜBLER 1995, S.98; ANDERSON/BUSHMAN 2001; BUCHLOH 2002, S.43f.; KLIMMT/TREPTE 2003 und DECKER 2005, S.17f.. 57 Herzfrequenz, Hautwiderstand etc.) derselben operationalisiert.264 Prinzipiell problematisch ist aber auch im Lichte der nachfolgenden Probleme, dass nur ausnahmsweise auch (gleichzeitig) das subjektive Erregungsempfinden der Probanden über Selbstangaben erhoben wird.265 Auch werden regelmäßig nur einzelne oder nur ein paar der möglichen Indikatoren einer allg. Erregung kontrolliert, eine multivariate Messung wäre aber notwendig. Eine Steigerung der Herzfrequenz indiziert nämlich bspw. nicht auch automatisch eine gleichzeitige Steigerung anderer Erregungsindikatoren, wie z.B. des Hautwiderstands, ja das Gegenteil kann der Fall sein.266 Im Lichte dessen, dass bislang auch noch kaum eine Studie die Gewalt darstellenden und die keine Gewalt darstellenden Spiele probat äquivaliert hat, können evtl. Erregungssteigerungen auch noch gar nicht den Gewaltdarstellungen selbst attribuiert werden. Die violenten Spiele könnten z.B. auch nur komplizierter zu kontrollieren oder spannender sein, so dass zum Spielen eine höhere Aktivation der Spieler notwendig ist.267 Auch konnte bspw. TAFALLA 2007 demonstrieren, dass bereits der Soundtrack eines Spiels geschlechterspezifische Wirkungen auf das physiologisch-sensuelle Erregungsniveau der Spieler zeitigen kann. Der Autor ließ die Experimentalgruppe das Spiel DOOM mit und die Kontrollgruppe dasselbe Spiel ohne den Soundtrack spielen: "Only men's heart rates were significantly greater with the soundtrack, indicative of arousal. Only women's systolic and diastolic blood pressures were significantly greater with the soundtrack, indicative of stress."268 Aufschlussreich sind insb. auch die Resultate von ELSON 2011, der nicht nur den Hautwiderstand (GSR) und die Herzfrequenz (HR), sondern u.a. auch die Körperbewegungen als Erregungsindikatoren der Probanden kontrollierte und dank einer probaten Äquivalierung des Stimulusmaterials nicht nur evtl. Wirkungen der Gewaltdarstellungen, sondern bspw. auch der Spielgeschwindigkeit auf die Erregung analysieren konnte: While there was an increase in GSR in all experimental conditions, the results yielded no significant effect of displayed violence or game speed. The interaction was significant, but contrary to what was predicted, this revealed that participants in the normal-speed non-violent game condition had the highest average GSR, significantly different from the normal-speed violent condition (which had the lowest average GSR). The analysis of average HR was unremarkable: Neither did it change very much over the course of the experiment, nor were there any differences between experimental conditions. [...] the commonly found effects of displayed violence on these more underlying biological measures of physiological arousal could not be replicated, and no systematic effect of game speed was found either. […] Game speed was suspected to be the one of the actual causes for increases in arousal found in other studies. Since this was investigated in this study, but did not prove true, another possibility is that all conditions shared a constant game characteristic that was not manipulated, but had a strong effect on the measures, e.g. the first-person perspective. […] There were [...] some very interesting results with regard to the more behavioral measures of physiological arousal. A fast-paced game like a first-person shooter is very demanding of the players in terms of concentration, reaction capacity, hand-eye coordination and motor skills. "Unnecessary" motion can put their in-game performance at risk, even more so with the additional obstacle of increased speed. [...] it was predicted that with an increase in game speed the participants would show less body movement […]. […] game speed had a large effect on body movement in the hypothesized direction. However, there was an interaction with the effects of displayed violence: Participants showed more body movement when they were playing a normal-speed digital game, but only when that game was non-violent. [...] participants in the normal-speed non-violent condition had the highest body movement (significantly higher than in any other condition), while those in the high-speed non-violent condition had the lowest. However, this condition was not significantly different from the two violent conditions. […] it was shown that at least two typical characteristics of first-person shooters (or digital games in general) have an effect on body movement. Since body movement (e.g., exercise) itself is most certainly correlated with other biological responses, it becomes more and more clear that carefulness when interpreting psychophysiological data, especially such abstract indicators like e.g. galvanic skin response, is paramount. The relations between stimuli, perception, and biological responses are so complex that a monocausal and direct link between violent games and higher-order arousal (as modeled by GAM, e.g.) seems more and more unlikely. Until now, there has been no systematic research on how (consciously or unconsciously) suppressing body movement during game playing or any other activity might influence psychophysiological arousal measures like GSR and HR. It is possible that consciously 264 265 266 267 268 Vgl. WINKEL/NOVAK/HOPSON 1987; CALVERT/TAN 1994; GRIFFITH/DANCASTER 1995; BALLARD/WIEST 1996; FLEMING/RICKWOOD 2001; PANEE/BALLARD 2002; FRINDTE/OXWEBER 2003; ANDERSON/CARNAGEY/ FLANAGAN et al. 2004; BALDARO/TUOZZI/CODISPOTI et al. 2004; BRADY/MATTHEWS 2006; ARRIAGA/STEVES/ CARNEIRO et al. 2006; BARLETT/HARRIS/BALDASSARO 2007; HAMBY/BALLARD 2007 und MAHOOD 2007. Bzgl. einer Zusammenfassung der diesbzgl. Forschung s. ELSON 2001, S.24. Vgl. MÖLLER 2006, S.88. Vgl. MANGOLD 1998, S.643f.. Vgl. FREEDMAN 2001 und VORDERER 2006. TAFALLA 2007, S.2008. 58 restraining intentional actions, or even unintentional ones like a wiggle of the foot or a postural shift, to maximize performance during a certain task (in this case, winning at a digital game) could cause a higher muscular tension and activate body systems that regulate the skin conductance level or heart rate.269 Ein Problem der diesbzgl. Forschung ist auch, dass die Erregung z.T. gar nur einmalig nach der Mediengewaltexposition (teilweise gar ohne vorherige Kontrolle der Baseline) erhoben wird, so dass auch i.V.m. den regelmäßig zu kurzen Spielzeiten evtl. Entwicklungen der Erregungsverläufe ignoriert werden, wie bspw. ein höhere Aktivation zu Beginn der Spielphase, die aber u.U. nach ein paar Minuten während der Spielphase allmählich wieder absinken könnte.270 Selbst mehrmalige Messungen der Erregung innerhalb der Spielphase sind i.d.R. nur tonisch, kontrollieren also nur die durchschnittliche Erregung innerhalb des Erhebungszeitraums (evtl. abzgl. der Baseline). Interessant wären für die Analyse einer mediengewaltspezifischen Erregung aber insb. phasische Erhebungen;271 WEBER/BEHR/TAMBORINI et al. 2009, dokumentierten bspw. pro Proband je 50 Minuten individuellen Spielverlaufs des Egoshooters TACTICAL OPS: ASSAULT ON TERROR per Videoaufnahme und kontrollierten gleichzeitig konstant die Hautwiderstände und Herzfrequenzen der Testsubjekte. Das Videomaterial wurde dann in unterschiedliche Spielphasen segmentiert, die mit den Erregungsverläufen kontrastiert wurden, so dass die Autoren demonstrieren konnten, dass nicht die virtuellen Gewaltphasen für sich genommen, sondern das (Entladen und) Laden einer Schusswaffe in einer Kampfsituation die größten herzfrequenziellen, nicht aber hautwiderstandlichen Erregungssteigerungen hervorriefen. Eine besondere Problematik einer evtl. Erregungssteigerungen konnte die einschlägige Forschung ungeachtet dessen letztlich auch aus zwei weiteren Gründen noch gar nicht demonstrieren: Einerseits konnte noch keine Studie eine Steigerung bspw. der Herzfrequenz oder des Blutdrucks über das Niveau hinaus demonstrieren, dass für erwachsene Menschen im Ruhezustand als normal gilt. Andererseits sind die Unterschiede zwischen den Messwerten der Baseline und denen nach (ggf. auch während) der Medienexposition, wie auch zwischen denen der Experimental- und der Kontrollgruppen u.U. zwar statistisch signifikant, insg. aber praktisch relativierbar (s.u. auch die Kommentierung zu ANDERSON/BUSHMAN/CARNAGEY 2007). 6.2.2 Aggressive Kognition Ein weiteres Forschungsinteresse der Computerspielgewaltwirkungsforschung ist die Frage, inwiefern Gewalt darstellende Computerspiele die aggressiven Kognitionen der Probanden stimulieren können. ANDERSON/SHIBUYA/IHORI et al. 2010 resümieren die diesbzgl. üblichen Operationalisierungen der abhängigen Variable: "Short-term experimental studies have used reading reaction time, story completion, word fragment completion, Stroop interference,272 speed to recognize facial emotions, and hostile attribution bias measures. Occasionally, more traitlike measures of aggressive cognition (such as attitudes toward violence) have been used in short-term experimental studies;273 these are inappropriate because they measure stable thoughts and beliefs that develop over a lifetime and should not be influenced by playing a video game for a few minutes. Nonexperimental studies have used measures of trait hostility, hostile attribution bias, attitudes toward violence, hypothetical aggression statements, aggression vignettes, implicit association tests, and normative beliefs about aggression."274 Ein paar der prägnantesten Beispiele werden im Folgenden präsentiert. Ein Gros der Studien interessiert eine evtl. Bahnung (Priming) aggressiver Gedanken infolge der Mediengewaltexposition. ANDERSON/DILL 2000 operationalisierten die Zugänglichkeit der aggressiven Gedanken der Probanden bspw. per Lesegeschwindigkeitstest: "This task presents aggressive words (e.g., murder) and three types of control words individually on a 269 270 271 272 273 274 Vgl. ELSON 2011, S.76f.. Vgl. MÖLLER 2006, S.88. Vgl. RAVAJA/SAARI/LAARNI et al. 2005, S.3 und SAARI/TURPEINEN/KUIKKANIEMI et al. 2009, S.408. Vgl. KIRSH/OLCZAK/MOUNTS 2005 und PEARSON/GOODSON 2010. Vgl. KUNCZIK/ZIPFEL 2010, S.34-38. ANDERSON/SHIBUYA/IHORI et al. 2010, S.157. 59 computer screen. The participant's task is to read each word aloud as quickly as possible. The three types of control words are anxiety words (e.g., humiliated), escape words (e.g., leave), and control words (e.g., consider). There are 24 words in each category. Each word is presented twice, for a total of 192 trials, with 48 trials for each word type. The four word lists have been equated for word length. […] The computer records the reaction time to each word. Words were presented in the same random order for each participant. […] reaction times to the three types of control words (control, anxiety, and escape) were combined into a composite. A new variable was then formed in which the average reaction time to aggressive words was subtracted from the average reaction time to control words. This new variable is the Aggression Accessibility Index. People with relatively high scores have relatively greater access to aggressive thoughts."275 Die Autoren konnten zwar demonstrieren, dass die Indizes der Experimentalgruppe höher waren als die der Kontrollgruppe, aber der Umstand, dass sie Reaktionszeiten unter 275 und über 875 ms als statistische Außreiser ignorierten (die Autoren selbst dokumentieren die absoluten Reaktionszeitdurchschnitte beider Gruppen inkl. der entsprechenden Standardabweichungen weder für die vier einzelnen Wortgruppen, noch für beide Wortkategorien), indiziert abermals nur extrem kurze Tastendruckzeiten und keinen substanziell relevanten Unterschied zwischen den Gruppen, ungeachtet dessen, dass die statistische Signifikanz des ermittelten Unterschieds evtl. auch nur ein Resultat der Stichprobengröße (n = 210) war. Dgl. gilt auch für ein paar aktuellere Studien, die die Zugänglichkeit aggressiver Gedanken per lexikalischem Entscheidungstest operationalisierten,276 im Rahmen dessen den Probanden vermeintlich aggressive, neutrale und Pseudowörter präsentiert werden und sie schnellstmöglich (per Tastendruck) entscheiden müssen, ob das präsentierte Wort ein realexistentes Wort oder doch nur ein Pseudowort ist. Je schneller die Probanden die vermeintlich aggressiven Wörter als realexistente Wörter identifizieren, desto zugänglicher sollen ihnen aggressive Gedanken sein (die Fehlerrate kann u.U. auch relevant sein). Im Rahmen eines solchen Tests wollen GLOCK/ KNEER 2009 aber demonstriert haben, dass nicht die violenten Inhalte der Computerspiele die Zugänglichkeit aggressiver Gedanken bahnen, sondern dass Nichtspieler, nicht aber habituelle Spieler dank einer tendenziell vermeintlich aggressionsinduzierende Wirkungen gewaltdarstellender Spiele exponierenden Berichterstattung über violente Spiele (s. Kapitel 17.) dieselben mit Aggressionen assoziieren. Eine Hälfte der Nichtspieler und die Spieler wurden bereits vor dem ersten Entscheidungstest informiert, dass die Studie einen Zusammenhang zwischen dem Spielen Gewalt darstellender Computerspiele und der Reaktionszeit auf Wörter analysieren will und dass das Spielen eines violenten Computerspiels (UNREAL TOURNAMENT) Bestandteil des Experiments sein wird. Solchermaßen geprägte Nichtspieler reagierten ein paar Millisekunden schneller auf aggressive Wörter (M = 498.68 / SD = 63.41), als ungeprägte Nichtspieler (M = 655.31 / SD = 137.82) und Spieler (M = 750.60 / SD = 164.10); d.h. en détail: Die geprägten Nichtspieler reagierten auf die aggressiven Wörter durchschnittlich vor dem Spiel in 527.5 (SD = 84.36) und nach dem Spiel in 469.86 (SD = 61.56), die ungeprägten Nichtspieler vor dem Spiel in 685.33 (SD = 147.41) und nach Spiel in 625.29 (SD = 144.42) und die Spieler vor dem Spiel in 791.17 (SD = 178.54) und nach dem Spiel in 710.03 ms (SD = 171.94). Ungeachtet dessen, dass die Spieler u.U. auch nur i.S.e. sozialen Erwünschtheit reagierten, wie die Autorinnen auch selbst thematisierten, resümierten sie: "While priming 'violent digital game' activated the concept 'aggression' for nonplayers, active playing had no impact at all. The individual knowledge about these games had stronger impact on psychological responses than playing a violent digital game."277 Nicht nur im Lichte einer ubiquitären Problematisierung, ja einer Diabolisierung Gewalt darstellender Computerspiele in der Öffentlichkeit indiziert das Resultat u.U. eine systematische Verzerrung der Mediengewaltwirkungsforschung. Bereits ELSON 2011 mahnte bzgl. des Primings: "Maybe not the actual game content, but the sheer typical look of a first-person shooter or even the knowledge that this study would be about digital games was enough to prime aggression-related 275 276 277 ANDERSON/DILL 2000. Vgl. BÖSCHE 2010; DENZLER/HÄFNER/FÖRSTER 2011 und KRAHÈ/MÖLLER/HUESMANN et al. 2011. GLOCK/KNEER 2009, S.151. 60 concepts […] that lead to equally aggressive behavior in all conditions."278 ANDERSON/CARNAGEY/FLANAGAN et al. 2004 etablierten im Rahmen der Computerspielgewaltwirkungsforschung einen Wortergänzungstest, der seitdem die wohl populärste der Operationalisierung der Zugänglichkeit aggressiver Gedanken wurde:279 "The word completion task […] involves examining a list of 98 words with one or more letters missing, and filling in the missing letters. The missing letters are strategic, such that each item can make more than one word. For instance, one item is 'explo_e,' which may be completed as 'explore' or 'explode.' Participants were told that their task was to fill in the blanks to make complete words. Participants were given 3 minutes to complete as much of the task as they could. An accessibility of aggressive thoughts score was calculated for each participant by dividing the number of aggressive word completions by the total number of completions. Fortynine of the items can yield an aggressive word when completed."280 Die Experimentalgruppe komplementierte statistisch signifikant mehr der Lückenwörter als vermeintlich aggressive Worte (14,7 %) als die Kontrollgruppe (12,5 %). Das ist ein substanziell irrelevanter Unterschied von nur 2,2 %, ungeachtet dessen, dass die Probanden theoretisch 50 % der Worte (vermeintlich) aggressiv hätten vervollständigen können und insofern offensichtlich keinen der beiden Gruppen aggressive Gedanken besonders zugänglich waren. Der Vollständigkeit halber seien auch FRINDTE/ GEYER 2007 erwähnt, die für dgl. interessanterweise denselben Wortergänzungstest nutzten, mittels dem bereits GEYER 2006 nicht die Zugänglichkeit aggressiver Gedanken, sondern die Mortalitätssalienz der Probanden i.S.d. sog. Terror-Management-Theorie281 operationalisierte. Der Wortergänzungstest, der Worte wie "Sarg", "Messer", "Wut", "Wunde", "fassen" etc. als "gewaltvoll"282 kategorisierte(!), kann aber nicht gleichermaßen Maß der Zugänglichkeit aggressiver Gedanken283 und der Mortalitätssalienz der Probanden sein. Eine noch kuriosere Operationalisierung der Zugänglichkeit aggressiver Gedanken präsentierten aber IVORY/KALYANARAMAN 2007, nämlich einen Wortassoziationstest, "in which participants rate the similarity of aggressive and ambiguous word pairs. [...] if a violent stimulus increases participants’ accessibility of aggressive thoughts, 'then ambiguous words will tend to be interpreted in a relatively more aggressive way, leading to relatively higher similarity ratings of aggressive-ambiguous pairs'284 […]. […] The aggressive words used here were 'choke,' 'fight,' 'hurt,' 'kill,' and 'wound,' and the ambiguous words used were 'alley,' 'animal,' 'drugs,' 'night,' and 'rock.' Using a 9-point scale (1 = 'not at all similar, associated, or related,' 9 = 'extremely similar, associated, or related'), participants rated each of the 45 possible word pairs (20 similar, 25 dissimilar). Scores for the pairs were placed into two groups: similar word pairs (aggressive-aggressive and ambiguous-ambiguous) and dissimilar word pairs (aggressiveambiguous). […] Each participant’s mean rating for dissimilar word pairs was subtracted from the participant’s mean rating for similar word pairs to produce a measure of aggressive thoughts, with smaller scores indicating greater accessibility thereof."285 Aggressive Gedanken waren der Experimentalgruppe aber nicht zugänglicher als der Kontrollgruppe, sondern das Gegenteil war der (statistisch nicht signifikante) Fall. Ungeachtet der inkohärenten Resultate der einzelnen Studien (insb. auch solcher, welche die Zugänglichkeit aggressiver Gedanken per lexikalischem Entscheidungs- oder Wortergänzungstest operationalisierten), ist ein fundamentales Problem aller skizzierten Operationalisierungen, dass den Probanden nur dekontextualisierte Worte, resp. Lückenworte präsentiert werden, die nicht per se in neutrale und (auch nur tendenziell) aggressive Worte unterteilt werden können: 278 279 280 281 282 283 284 285 ELSON 2011, S.74. Vgl. CARNAGEY/ANDERSON 2005; CICCHIRILLO/CHORY-ASSAD 2005; FRINDTE/GEYER 2007; MAHOOD 2007; MCGLOIN/FARRAR/KRCMAR 2010 und CHARLES/BAKER/HARTMAN et al. 2013 und IVORY/KAESTLE 2013. ANDERSON/CARNAGEY/FLANAGAN et al. 2004, S.208f.. Vgl. LIEBERMANN/SOLOMON/GREENBERG et al. 1998. FRINDTE/GEYER 2007, S.186. Bzgl. einer Diskussion der diesbzgl. Validität des Wortergänzungstests s. CRAIGHEAD/HARGIS/KIM et al. 2011. ANDERSON/CARNAGEY/EUBANKS 2003, S.963. IVORY/KALYANARAMAN 2007, S.540f.. 61 Worte zeitigen nämlich erst im Lichte kontextueller, syntaktischer, para- und körpersprachlicher Momente evtl. einen aggressiven Bedeutungsgehalt; Worte wie z.B. "murder", "explode", "Sarg", "Messer", "Wut", "Wunde" und "fassen" sind ohne die skizzierten Momente nicht automatisch aggressiv (konnotiert) und können infolge dessen für sich genommen auch kaum ein oder vielmehr gar kein Indiz aggressiver Gedanken sein. Dgl. gilt auch für TAMBORINI/ EASTIN/SKALSKI et al. 2004, die eine evtl. Evozierung aggressiver Gedanken mittels eines Gedankenauflistungstests operationalisierten: "Participants were told 'to record only those ideas that you were thinking during exposure to the video-game,' to 'state your thoughts and ideas as briefly as possible,' and to 'ignore spelling grammar, and punctuation.' Participants were given exactly 4 minutes to write their thoughts. Coders blind to both the experimental conditions counted the number of hostile thoughts. A hostile thought was defined operationally as any word having a hostile connotation. Hostile thoughts included those sub-categorized as references to weapons, references to the use of weapons, references to destruction of property or physical harm, expressions of negative affect, verbally abusive terms, and profanity."286 Die Methode ist aber bis heute eine Ausnahme geblieben.287 Das andere Gros der Studien interessiert, inwiefern violente Computerspiele evtl. feindselige Wahrnehmungsverzerrungen hervorrufen können, d.h. inwiefern die Probanden sich selbst mit aggressiven Merkmalen und Verhaltensweisen assoziieren (die sog. automatische Selbstwahrnehmung)288 oder vielmehr ambiges Verhalten ggü. ihnen selbst oder dgl. zwischen Dritten als aggressiv interpretieren oder prognostizieren, dass andere in prinzipiell ambigen Konfliktsituationen aggressiv reagieren würden. Die populärste Messmethode für dgl. sind Geschichtenergänzungstests: Die Probanden sollen Geschichten offenen Endes (Vignetten) komplettieren, die die Protagonisten (die ggf. Substitute der Probanden selbst sein sollen) in ambige Konfliktsituationen (z.B. Unfälle, Rempeleien etc.) manövrieren, die keinen direkten Rückschluss auf die Intentionen der die Protagonisten provozierenden Antagonisten zulassen. Je mehr aggressive Intentionen, resp. Gedanken und Gefühle sie den Antagonisten attestierten u./o. je mehr feindselige Geschichtenergänzungen (z.B. aggressives Verhalten der Antagonisten u./o. der Protagonisten) die Probanden wählen, desto verzerrter solle die Wahrnehmung derselben sein. Ungeachtet dessen, dass in der Realität auch unzählige situationale Merkmale, wie auch solche des vermeintlichen Provokateurs für die Attribuierung eines Verhaltens und insb. auch für evtl. nachfolgendes Verhalten relevant sind, die Tests dgl. aber natürlich kaum oder gar nicht abbilden können, sind die Resultate der diesbzgl. Studien auch abermals extrem heterogen.289 Der Vollständigkeit halber seien auch KIRSH/MOUNTS 2007 erwähnt, die einen negativen Verarbeitungsbias bei der Wahrnehmung von emotionalen Gesichtsausdrücken infolge einer Mediengewaltexposition analysierten: "[…] participants played either a violent or nonviolent video game and then watched a series of calm facial expressions morph (i.e, change) to either an expression of happiness or anger, Participants were asked to make a speeded identification of the emotion (happiness or anger) as soon as possible during the morph sequenze."290 Den Probanden wurden in randomisierter Reihenfolge insg. 30 neutrale Gesichter präsentiert, die je 286 287 288 289 290 TAMBORINI/EASTIN/SKALSKI et al. 2004, S.14. Vgl. CHORY/GOODBOY/HIXSON 2007. Der Vollständigkeit halber seien auch KRCMAR/FARRAR 2009 erwähnt, die einen vergleichbaren Assoziationsgeschwindigkeitstest konstruierten: "Participants are told they are completing a test to see how quickly they can think. The sheet of paper has 50 words, each with a blank space next to it. In the space after each word, participants are told to write – as quickly as they can – the first word or phrase that comes to mind. In total, 25 of the words were homonyms with a potentially aggressive interpretation (such as boot). These could elicit either neutral words (i.e., shoe) or aggressive terms (i.e., kick). The remaining 25 were neutral words with no aggressive meaning (e.g., note). Upon completion, each participant had generated 50 words. Responses were then coded as an aggressive word (e.g., hit) or a nonaggressive one. Participants with more readily accessible aggressive thoughts are expected to list more aggressive terms." (S.126) Die Autoren interessierte aber die evtl. unterschiedliche Zugänglichkeit aggressiver Gedanken infolge des Spielens violenter und nicht violenter Computerspiele nicht und bis heute hat keine anderen Studie dgl. i.d.S. operationalisiert. Vgl. UHLMANN/SWANSON 2004 und BLUEMKE/FRIEDRICH/ZUMBACH 2010. Vgl. KIRSH 1998; LYNCH/GENTILE/OLSON et al. 2001; BUCHANAN/GENTILE/NELSON et al. 2002; BUSHMAN/ ANDERSON 2002; ANDERSON/CARNAGEY/FLANAGAN et al. 2004; KRAHÈ/MÖLLER 2004; BRADY/MATTHEWS 2006; BARLETT/HARRIS/BALDASSARO 2007; GIUMETTI/MARKEY 2007; HASAN/BÈGUE/BUSHMAN 2012; IVORY/KAESTLE 2013 und HASAN/BÈGUE/SCHARKOW 2013. KIRSH/MOUNTS 2007, S.354. 62 zur Hälfte innerhalb von 2,4 Sekunden in einen der beiden Gesichtsausdrücke morphten. Normalerweise werden fröhliche Gesichtsausdrücke gem. dem sog. "happy-face advantage"Phänomen schneller erkannt als ärgerliche. Die Experimental- und die Kontrollgruppe konnten auch beide die fröhlichen Gesichtsausdrücke schneller erkennen, erstere hatte aber einen Wahrnehmungsvorteil von nur 2.5 ms (SE = 23), letztere aber einen von 95 ms (SE = 24). Die Autoren resümieren i.d.S.: "Violent video game play may predispose an individual to percieve anger more rapidly, when anger is present, indicating an atentional bias toward threatening affect. This attentional bias may then increase the likelihood of acting aggressively by priming aggressive scripts or by limiting the processing of information which could reduce likelihood of aggression."291 Die Praxisrelevanz der Resultate (z.B. inwiefern eine Reduzierung des Phänomens aggressives Verhalten fördert) ist aber nicht nur im Lichte der relativierbaren absoluten Unterschiede zwischen beiden Gruppen fragwürdig, sondern auch im Lichte dessen, dass die Fehlerrate beider Gruppen nur ca. zwei Pozent betrug. Ungeachtet der insg. heterogenen Resultate, wie auch der methodischen Defizite der skizzierten Studien, ist ein anderes fundamentales Problem derselben, dass ihre Autoren regelmäßig vermeintliche Steigerungen der Zugänglichkeit aggressiver Gedanken oder der Tendenzen zu einer feindseligen Wahrnehmungsverzerrungen (insb. im Rahmen des GAM) als Belege der Entwicklung aggressiver Skripts interpretieren, wie auch bereits FERGUSON/DYCK 2012 kritisierten: "One could expose participants to almost any theme or topic stimulus and naturally they will be thinking of that thing immediately afterward, much more so than other individuals not so exposed. This is not evidence that long-term cognitive scripts have been formed that will later be used to direct behavior. [...] were experimenters to have some participants watch a movie with homosexuality themes such as Brokeback Mountain and another group of participants watch a heterosexually themed film, undoubtedly we would find that those who watched Brokeback Mountain had greater accessibility to homosexuality related cognitions immediately afterward. However the notion that this would be evidence for the creation of longterm cognitive scripts that would actually increase the likelihood of those participants adopting a homosexual lifestyle later on quite clearly has no merit. […] There is no evidence that these measures are able to demonstrate that these cognitive processes predict aggression in the real world […]. We suspect that demonstrating the existence or non-existence of cognitive 'scripts' for aggression is not possible with these types of measures and may [...] not be possible at all."292 Insofern ist die Praxisrelevanz der entsprechenden Studien natürlich generell fragwürdig. 6.2.3 Aggressive Emotionen und Desensibilisierungen ggü. Gewalt Ein weiteres Forschungsinteresse der Computerspielgewaltwirkungsforschung ist die Frage, inwiefern violente Computerspiele i.w.S. aggressive Emotionen der Probanden evozieren können, wie Ärger, Wut, Feindseligkeit, Frustration und Angst. Das Gros der Studien operationalisiert aggressive Emotionen über Vignetten (s.o.) und insb. über Selbstreportfragebögen, wie z.B. die Ärger- und Feindseligkeitssubskalen des BPAQ oder die entsprechenden Skalen des BussDurkee Aggressionsfragebogens, die State Hostility Scale (SHS)293 oder Adjektivchecklisten. Ungeachtet der Gefahr sozialer Erwünschtheit setzen die Fragebögen aber gem. KUNCZIK/ ZIPFEL 2010 auch voraus, "dass sich die Probanden ihrer Gefühle bewusst sind und diese benennen bzw. einschätzen können und wollen."294 Nicht überraschend sind die Resultate der entsprechenden Studien abermals extrem heterogen.295 Im Lichte dessen, dass kaum eine Studie 291 292 293 294 295 KIRSH/MOUNTS 2007, S.358. FERGUSON/DYCK 2012, S.224 und vgl. FERGUSON 2007a, S.480. Vgl. ANDERSON/DEUSER/DENEVE 1995. KUNCZIK/ZIPFEL 2010, S.39; vgl. MANGOLD 1998, S.643f. und REEKUM/JOHNSTONE/BANSE et al. 2004. Vgl. NELSON/CARLSON 1985; ANDERSON/FORD 1986; SCOTT 1994; BALLARD/WIEST 1996; WEGGE/LEINBECK 1997; FUNK/HAGAN/SCHIMMING 1999; ANDERSON/DILL 2000; FLEMING/RICKWOOD 2001; PANEE/BALLARD 2002; FRINDTE/OXWEBER 2003; BALDARO/TUOZZI/CODISPOTI et al. 2004; BARTHOLOMEW/SESTIR/DAVIS 2005; CARNAGEY/ANDERSON 2005; BRADY/MATTHEWS 2006; MÖLLER 2006, 87f.; BARLETT/HARRIS/ BALDASSARO 2007; MAHOOD 2007; UNSWORTH/DEVILLY/WARD 2007; BARLETT/HARRIS/BRUEY 2008; KRCMAR/FARRAR 2009; ANDERSON/SHIBUYA/IHORI et al. 2010; BLUEMKE/FRIEDRICH/UMBACH 2010; FERGUSON/RUEDA 2010; DEMIROK/OZDAMLI/HURSEN et al. 2012; VALADEZ/FERGUSON 2012 und IVORY/ 63 das Stimulusmaterial probat äquivalierte und z.B. auch noch keine Studie das generelle Spielverhalten und speziell den (subjektiven) Spielerfolg der Probanden kontrolliert hat, ist gem. SCHULZ/BRUNN/DREYER et al. 2007 nach wie vor die Frage ungeklärt, "inwieweit die evozierten Emotionen tatsächlich auf die (violenten) Inhalte oder vielmehr auf den (mangelnden) Spielerfolg zurückzuführen sind."296 Für die Mediengewaltwirkungsforschung interessanter ist aber eine evtl. affektive (reduzierte Empathie) u./o. kognitive Desensibilisierung (normative Gewaltakzeptanz) der Rezipienten infolge der Mediengewaltexposition, ohne dass bis dato solche Wirkungen uniform definiert oder gar operationalisiert worden wären. Wie auch ANDERSON/BUSHMAN/CARNAGEY 2007 demonstrieren, wurden bereits diverseste Phänomene als Desensibilisierung bezeichnet: "(a) an increase in aggressive behavior; (b) a reduction in physiological arousal to reallife violence; (c) a flattening of affective reactions to violence; (d) a reduction in likelihood of helping a violence victim; (e) a reduction in sympathy for a violence victim; (f) a reduction in the sentence for a convicted violent offender,297 (g) a reduction in the perceived guilt of a violence perpetrator; and (h) a reduction in judged severity of a violence victim’s injuries. This hodge-podge of definitions […] results from a failure to distinguish underlying psychological desensitization processes from potential desensitization effects on other responses. Too much is included in this broad definition."298 Relativ uninteressant sind aus offensichtlichen Gründen, wie z.B. der Henne-Ei-Problematik (cum hoc ergo propter hoc), Korrelationsstudien wie bspw. SAKAMOTO 1994, der einen positiven Zusammenhang zwischen der Quantität des generellen Computerspielkonsums (und nicht der speziellen Computerspielgewaltnutzung) einerseits und einer reduzierten Empathie von Viert- bis Sechstklässlern andererseits demonstrieren konnte oder aber auch BARNETT/ VITAGLIONE/HARPER et al. 1997, die einen positiven Zusammenhang zwischen der Präferenz für violente Spiele und einer reduzierten sog. Fantasieempathie (der Fähigkeit sich in die Gefühlswelt von bspw. Film- oder Spielfiguren zu versetzen) demonstrieren konnten. Aktuell haben nur ein paar Studien, insb. Korrelationsstudien, eine normative Gewaltakzeptanz infolge des Spielens gewaltdarstellender Computerspiele analysiert (bspw. über Vignetten; s.o.), aber ohne konsistente Resultate demonstrieren zu können.299 Experimentalstudien interessieren regelmäßig nur affektive Desensibilisierungswirkungen, die sie insb. per physiologisch-sensueller Indikatoren emotionaler Reaktionen (Herzfrequenz, Hautwiderstand, Blutdruck etc.) auf aversive u./o violente Darstellungen infolge der Mediengewaltexposition, d.h. als z.B. ggü. der Baseline u./o. der Kontrollgruppe reduzierte physiologische Erregung operationalisieren (inkl. derselben Defizite, wie sie auch für die Kontrolle evtl. Erregungswirkungen endemisch sind; s.o.). Ungeachtet der insg. nicht probaten Operationalisierungen der Mediengewaltexposition konnte aber noch keine einzige Studie eine strapazierbare (und insb. keine praktisch relevante) Desensibilisierungswirkung ggü. realer (oder gar unmittelbarer) Gewalt und nicht nur eine Habitualisierung ggü. medialen Gewaltdarstellungen demonstrieren. Einerseits werden entweder nur die Erregungsverläufe ggü. anderen Mediengewaltdarstellungen oder ggü. Bildersätzen des International Affective Picture System (IAPS)300 kontrolliert, einer Sammlung von standardisierten, affektinduzierenden Bildmotiven. Andererseits monierte bereits KÜBLER 1998 die fehlende Eineindeutigkeit der (physiologischen) Erregung als hinreichenden Indikator einer Desensibilisierung: "Das autonome, denkende und fühlende Individuum mit Verstand und Bewußtsein wird gewissermaßen um- oder übergangen. Die Interpretation der Befunde obliegt allein dem Versuchsleiter und Forscher, dessen Autorität und Deutungsmacht unangefochten 296 297 298 299 300 KAESTLE 2013. SCHULZ/BRUNN/DREYER et al. 2007, S.52; vgl. FRITZ 1997a, S.188; DURKIN/AISBETT 1999; FRITZ/MISEKSCHNEIDER 1995, S.100; MISEK-SCHNEIDER 1995; DURKIN/AISBETT 1999, S.98; LADAS 2002, S. 243; FRITZ 2003, S.15f.; FEIBEL 2004, S.143; KUNCZIK/ZIPFEL 2004, S.206f. und RAVAJA/SAARI/LAARNI et al. 2005. Vgl. DESELMS/ALTMAN 2003. ANDERSON/BUSHMAN/CARNAGEY 2007, S.490 und vgl. KUNCZIK 2007, S.1. Vgl. DESELMS/ALTMAN 2003; KRAHÈ/MÖLLER 2004; FUNK/BALDACCI/PASOLD et al. 2004; BRADY/ MATTHEWS 2006; KJOS 2008; MÖLLER/KRAHÈ 2009 und KRAHÈ/MÖLLER 2011. Vgl. LANG/BRADLEY/CUTHBERT 1999. 64 sind: […] Wer beispielsweise keine Schweißausbrüche zeigt, gilt als abgebrüht, wessen Puls ansteigt, wird als sensibel und beeinflußbar diagnostiziert. Subsumiert werden unter diese Erregungssymptome außerdem sämtliche emotionalen Befindlichkeiten, auch Wut, Empörung, Scham, Kummer, Abscheu, sie alle gelten in ihrer physiologischen Symptomatik als identisch. Ebensowenig ist ergründet, ob sich im Laufe der Entwicklungen Emotionen wie Symptome verändern. Bekannt ist nur, daß Kinder auf andere mediale Szenen und Figuren physiologisch anders reagieren als Erwachsene."301 Oder in der Kurzfassung nach KUNCZIK 2007: "Ist eine geringere Herzfrequenz beim Betrachten realer Gewaltszenen nach dem Spielen eines Computerspiels ein Hinweis auf Abstumpfung oder auf emotionale Betroffenheit?"302 Das kognitive, wie auch das Affekterleben der Probanden wird aber i.d.R. erst gar nicht kontrolliert, ggf. konnten aber auch keine konsistenten Resultate demonstriert werden.303 Insofern ist der Aussagegehalt der entsprechenden Studien bereits a priori fragwürdig. Eine für die skizzierten Defizite typische, aber methodisch relativ unkonventionelle (und innerhalb des deutschen Sprachraums prominentere) experimentelle Desensibilisierungsstudie, an der 280 Kinder teilnahmen und die sich in zwei Abschnitte gliederte, konstruierten TRUDEWIND/ STECKEL 2003: […] Kinder im Alter von 8 bis 14 Jahren […] wurden […] zufällig einem von drei Computerspielen zugeteilt und spielten für ca. 20 Minuten entweder a) mit dem aggressionshaltigen Kampfspiel "Virtua Fighter", b) mit dem eher die Empathie und das Leistungsmotiv anregenden Problemlösespiel "Die Abenteuer der Zobinis", c) mit einer interaktiven Spielgeschichte "Der kleine Prinz". […] Zur Erfassung der emotionalen Reaktionen unmittelbar nach Beendigung des Spielens wurde den Kindern auf dem Computerbildschirm ein Bildersatz von 3x32 Bildern zur Betrachtung vorgegeben. Der einzelne Satz enthält 16 emotionsanregende Fotos von Menschen und Tieren in bedrückenden Situationen, sowie 16 eher neutrale oder positiv getönte Bilder mit Landschaftsaufnahmen oder Aufnahmen von Pflanzen und Blumen, die alternierend dargeboten wurden. Während des Anschauens sollten kardiovaskuläre Reaktionen erfasst werden. Dazu wurde den Kindern eine Elektrode am Zeigefinger der linken Hand appliziert. Den Kindern wurde gesagt, dass wir ihre physiologischen Reaktionen auf das Spielen registrieren wollten und sie sich während dieser Zeit noch ein paar Bilder ansehen könnten. Sie erhielten die Instruktion, sich die Bilder per Tastendruck zu präsentieren und wurden explizit darauf verwiesen, dass sie sich so viele Bilder ansehen könnten, wie sie wollten, das Gerät aber jederzeit auch ausschalten könnten. Wir versuchten die emotionalen Reaktionen auf die belastenden Bilder auf verschiedenen Ebenen zu erfassen. Neben den physiologischen Reaktionen wurde die Anzahl der angeschauten Bilder und die Betrachtungsdauer für jedes einzelne Bild automatisch registriert. Während die Kinder die Bilder betrachteten wurden sie videographiert, um Mimik und Gestik festzuhalten.304 Ungeachtet dessen, dass die Autorinnen mit den gewählten Spielen nur Äpfel mit Birnen verglichen und infolge der Aufnahme des Spiels DIE ABENTEUER DER ZOBINIS anders als sie glaubten bspw. nicht ggü. dem vermeintlich "aggressionshaltigen" Spiel VIRTUA FIGHTER kontrollieren konnten, "ob […] die gewalthaltigen Inhalte oder eher eine allgemeine Erregung zu einer unmittelbaren emotionalen Desensibilisierung führen […],"305 konnten sie demonstrieren, dass bei der Anzahl der betrachteten Bilder zwischen den Spielern des Spiels DER KLEINE PRINZ (ca. 48 Bilder) und denen des Spiel DIE ABENTEUER DER ZOBINIS (ca. 43 Bilder) kein bedeutsamer Unterschied auftrat, der Unterschied der Anzahl der betrachteten Bilder zwischen den Spielern des Spiels VIRTUA FIGHTER (ca. 57 Bilder) und denen des Spiels DER KLEINE PRINZ aber marginal (p = .085), der zwischen ersteren und den Spielern des Spiel DIE ABENTEUER DER ZOBINIS (ca. 43 Bilder) gar hoch signifikant (p = .000) war. In absoluten Zahlen bleiben die Unterschiede aber marginal. Für den zweiten Kennwert allerdings, der Betrachtungsdauer für die Bilder, "mit dem die relative Präferenz für belastende Bilder bei der Bildbetrachtung gemessen wurde, zeigte sich diese Differenzierung allerdings nur für die Teilstichprobe (n = 122), die sich auch noch bei der Wiederholung des Bildersatzes im 2. Durchgang mindestens vier Bilder angeschaut hatten. Den Erwartungen entsprechend zeigten als Folge ihrer geringeren Empathiefähigkeit die unsicher gebundenen Kinder einen signifikant 301 302 303 304 305 KÜBLER 1998, S.18 und vgl. FERGUSON/DYCK 2012. KUNCZIK 2007, S.1 und vgl. KUNCZIK/ZIPFEL 2010, S.39-44. Vgl. STAUDE-MÜLLER/BLIESENER/LUTHMAN 2008; ARRIAGA/MONTEIRO/ESTEVES 2011 und KRAHÈ/ MÖLLER/HUESMANN et al. 2011. TRUDEWIND/STECKEL 2003, S.247ff.. TRUDEWIND/STECKEL 2003, S.248. 65 höheren Präferenzwert für die belastenden Bilder (gemittelt über alle drei Spielgruppen) als die sicher gebundenen Kinder. […] Nach dem Spielen des gewalthaltigen Computerspiels zeigen die sicher gebundenen Kinder einen höheren Präferenzkennwert für belastende Bilder als die sicher gebundenen Kinder nach den gewaltfreien Spielen. […] Jedoch muss dabei bedacht werden, dass gerade die unsicher gebundenen Kinder nach dem gewalthaltigen Computerspiel keine Präferenz für belastende Bilder mehr zeigten."306 De facto zeigten die sicher gebundenen Kinder der Experimentalgruppe einen noch niedrigeren Präferenzwert als die unsicher gebundenen Kinder der Kontrollgruppen (der Kennwert der Gruppe mit dem Problemlösespiel war gar ca. doppelt so hoch) und die unsicher gebundenen Kinder der ersten Gruppe zeigten als einzige unsicher gebundene Kinder gar keine diesbzgl. Präferenz, ungeachtet dessen, dass die Moderatorvariable der Eltern-Kind-Bindungssicherheit durch einseitiges Befragen der Kinder wohl kaum oder gar nicht zu ermitteln ist.307 Die Autorinnen dokumentieren aber nur den relativen Präferenzwert, keine konkreten (durchschnittlichen) Betrachtungsdauern, die für einzelne Bilder oft so kurz waren (und u.U. nur Sekundenbruchteile währten), dass die kardio-vaskulären Reaktionen auf die belastenden und die nicht belastenden Bilder (auch dank vieler Bewegungsartefakte) nicht getrennt erfasst werden konnten, so dass die praktische Relevanz der Resultate noch fragwürdiger wird. Insb. ist eine höhere Präferenz insg. kein eineindeutiges Indiz einer emotionalen Desensibilisierung, sondern könnte z.B. gem. GEHLEN 2006 auch darauf zurückzuführen sein, "dass das Kind mit Hilfe eben dieser Bilder versucht, das im Spiel Erlebte zu verarbeiten."308 Letztlich unterschieden sich die Experimentalgruppe und die Kontrollgruppen weder mimisch (anders z.B. noch bei STECKEL 1998, ungeachtet dessen, dass Mimik einerseits auch nicht eineindeutig und andererseits auch noch ohne besondere Mühe bewusst kontrollierbar ist), noch gestisch voneinander. Ungeachtet der skizzierten Defizite resümieren die Autorinnen aber kurioserweise, "dass der Umgang mit gewalthaltigen Computerspielen nachweisbare unmittelbare Effekte erzeugt, die sich als Ergebnis einer emotionalen Desensibilisierung und Beeinträchtigung des empathischen Reaktionssystems deuten lassen. Damit ist experimentell ein Wirkmechanismus aufgedeckt, der bei intensivem und langdauerndem Umgang mit Gewaltspielen die Entwicklung der dispositionellen Empathie beeinträchtigen und damit die Hemmungskomponente des Aggressionsmotivs schwächen kann."309 Ungeachtet dessen, dass die Autorinnen salopp vor Langzweitwirkungen warnen, ohne dass sie dgl. analysiert hätten (ein weiteres endemisches Problem der Mediengewaltwirkungsforschung), indiziert der Umstand, dass nur zwei von vier Maßen statistisch signifikante, aber substanziell irrelevante Resultate erzeugten, vielmehr keine Desensibilisierung der Probanden.310 ANDERSON/BUSHMAN/CARNAGEY 2007 wollten eine evtl. Desensibilisierung der Probanden über die Kontrolle der Herzfrequenz und des galvanischen Hautwiderstands derselben nach dem Spielen violenter Computerspiele demonstrieren: […] Participants were tested individually. […] 5 min baseline HR and GSR measurements were taken […]. […] Participants played a randomly assigned violent or nonviolent video game for 20 min. […] we used four violent games (Carmageddon, Duke Nukem, Mortal Kombat, Future Cop) and four nonviolent games (Glider Pro, 3D Pinball, 3D Munch Man, Tetra Madness). After game play, a second set of 5-min HR and GSR measurements were taken. Next, participants watched a 10-min videotape of real violence in four contexts: courtroom outbursts, police confrontations, shootings, and prison fights. These were actual violent episodes (not Hollywood reproductions) selected from TV programs and commercially released films. […] HR and GSR were monitored continuously while they watched the real-life violence.311 Im Lichte dessen, dass die durchschnittlichen Herzfrequenzen und Hautwiderstände der Experimentalgruppe zum dritten Messzeitpunkt statistisch signifikant niedriger waren, als die der Kontrollgruppe, glaubten die Autoren, dass sie als erste eine Desensibilisierung der Spieler 306 307 308 309 310 311 TRUDEWIND/STECKEL 2003, S.265. Vgl. GEHLEN 2002, S.46. GEHLEN 2002, S.46. TRUDEWIND/STECKEL 2003, S.267. Bzgl. einer kritischen Analyse der Studie s. auch GEHLEN 2002, S.46 und KÜBLER 2003, S.14f.. ANDERSON/CARNAGEY/BUSHMAN 2007, S.492. 66 ggü. realweltlicher Gewalt infolge des Spielens violenter Computerspiele demonstriert hätten. Ungeachtet klassischer Probleme, wie z.B. dass die Autoren abermals nur Äpfel mit Birnen verglichen, der unnatürlich kurzen Spielzeiten, wie auch, dass die Studie (anders als die Autoren behaupten) keine Desensibilisierung ggü. realweltlicher (insb. nicht unmittelbarer), sondern prinzipiell nur ggü. spezifisch medial bearbeiteten Gewaltdarstellungen312 hätte demonstrieren können, indizieren die Messwerte kaum oder gar keine Desensibilisierungen: Die durchschnittliche Herzfrequenz der Experimentalgruppe betrug zum ersten Messzeitpunkt 66,4 bpm, zum zweiten Zeitpunkt 69,3 bpm und zum dritten Zeitpunkt 68,5 bpm. Die durchschnittliche Herzfrequenz der Kontrollgruppe betrug zum ersten Messzeitpunkt 65,5 bpm, zum zweiten Zeitpunkt 68,4 bpm und zum dritten Zeitpunkt 70,7 bpm. Die Autoren selbst präsentierten aber nur ein Diagramm, das weder die exakten Messwerte, noch die Standardabweichungen derselben dokumentierte und das u.a. bereits CASTRANOVA 2006 als statistische Scharlatanerie kritisierte: Die vertikale Achse präsentierte nur den Abschnitt zwischen 60 und 75 bpm, aber die Herzfrequenz gesunder Erwachsener im Ruhezustand rangiert tatsächlich bereits durchschnittlich zwischen 50 und 100 bpm, so dass das komplette Diagramm innerhalb der Parameter normaler menschlicher Herzfrequenzen rangiert, aber gleichzeitig auch substanziell signifikante Unterschiede zwischen den Messwerten der Baseline und denselben nach dem Spielen der violenten Spiele suggeriert. Letztlich sind nicht nur die absoluten Unterschiede zwischen den Höchstwerten der unterschiedlichen Messzeitpunkte innerhalb der Experimental- (2,9 bpm) und der Kontrollgruppe (5,2 bpm), sondern ist auch der Unterschied der finalen Messwerte zwischen den beiden Gruppen (2,2 bpm) marginal; dgl. gilt für den Hautwiderstand. Ungeachtet der praktischen Irrelevanz der Forschungsresultate fantasieren die Autoren aber so alarmistisch wie überinterpretierend von "frightening […] implications" derselben: "The existing rating systems […], the content of much entertainment media, and the marketing of those media combine to yield a powerful desensitization intervention on a global level. […] the modern entertainment media landscape could accurately be described as an effective systematic violence desensitization tool. Whether modern societies want this to continue is largely a public policy question, not an exclusively scientific one […]."313 Das kuvriert aber kaum oder gar nicht die medienpolitische Agenda der Autoren, die ein ähnliches endemisches Problem der Mediengewaltwirkungsforschung darstellt, wie die Überinterpretation von Forschungsergebnissen. ARRIAGA/MONTEIRO/ESTEVES 2011 präsentierten den Probanden zur Erfassung der emotionalen Reaktionen derselben unmittelbar nach Beendigung des Spielens einen Bildersatz von 32 Bildern des IAPS – "10 unpleasant–violent pictures (e.g., scenes of mutilated and disfigured bodies, attacking humans, pointed guns […]); 12 neutral pictures (e.g., scenes of household objects, people, places […]); and 10 pleasant pictures (e.g., scenes of babies, families, fun […])"314 –, kontrollierten während des Anschauens aber nicht nur die phasische Komponente des Hautwiderstand (SCR) als vermeintlich objektiven Indikator der Erregung (resp. der emotionalen Reagibilität), sondern auch die affektive Valenz und Erregung der Probanden über Selbstangaben derselben: "These subjective ratings were distributed over a 9point pictorial scale. For valence, the ratings ranged from 1 (very sad/unpleasant) to 5 (neutral) to 9 (very happy/pleasant) affective states. For arousal, the ratings ranged from 1 (very calm/low arousal) to 9 (very excited/high arousal) affective states."315 Die Autoren interessierte aber nicht nur eine evtl. Desensibilisierung ggü. Gewaltdarstellungen infolge des Spielens gewaltdarstellender Spiele: "[…] we […] analyze whether the changes in emotional reactions are specifically triggered by violent stimuli […], or whether they might also occur with stimuli that are usually perceived as pleasant. [...] Such analyses [...] may fail to provide unequivocal information regarding emotional desensitization effects [...]. [...] to guarantee that desensitization effects have occurred, we predict a higher attenuation on emotional responses to violent and pleasant pictures, relative to neutral ones, for participants who played the VG, as compared to the NVG 312 313 314 315 Vgl. MIKOS 2001a, S.20. ANDERSON/CARNAGEY/BUSHMAN 2007, S.495. ARRIAGA/MONTEIRO/ESTEVES 2011, S.1906. ARRIAGA/MONTEIRO/ESTEVES 2011, S.1907. 67 group. […] We […] computed two indexes to test for attenuation between responses to affective pictures in relation to responses to neutral pictures. A lower difference between these categories (violent minus neutral; and pleasant minus neutral) reflects a higher emotional desensitization."316 Die Unterscheide zwischen der ein violentes Spiel (VG) spielenden Experimental- und der ein nicht violentes Spiel (NVG) spielenden Kontrollgruppe nach nur 7minütigem(!) Spielen waren aber insg. marginal: […] following exposure to the violent pictures, participants felt displeasure (M = 2.44); after exposure to the neutral pictures, they expressed neutral feelings of valence (M = 5.23); and following exposure to the pleasant pictures, they felt pleasure (M = 7.36), with statistically significant differences among the three picture types […]. As predicted, we found a significant interaction between picture type and game condition […]. We further analyzed the simple main effects within each of the three categories of pictures, using the confidence intervals adjusted by the Bonferroni procedure. As expected, this analysis shows no difference between game conditions in the valence ratings for neutral pictures […]. In line with our predictions, participants in the VG condition also reported less displeasure (or less discomfort) toward violent pictures (M = 2.91) than did those who played the NVG (M = 1.97) […]. There were also differences between the games in valence ratings toward pleasant pictures […], indicating that these pictures elicited less pleasure (M = 7.01) among participants in the VG condition than among participants in the NVG condition (M = 7.71). […] The difference in valence ratings for violent and neutral pictures was lower in the VG condition […] than in the NVG condition […]. In a similar direction, the divergence between pleasant and neutral pictures was lower in the VG condition […] than in the NVG condition […]. […] The SCRs were higher when participants viewed violent pictures (M = 0.35), as compared to neutral pictures (M = 0.24) and pleasant pictures (M = 0.29). [...] the differences in SCRs while participants viewed neutral and pleasant pictures did not approach significance […]. We further analyzed the results for the two attenuation indexes (SCRs for violent or pleasant minus SCRs for neutral pictures), which contributed to clarifying these interactions. […] The mean difference in SCRs toward violent pictures and neutral pictures […] was smaller for participants who played the VG than for those in the NVG condition […]. However, the simple main effects for game conditions […], within each of the three categories of pictures, were not statistically significant […]. We further analyzed the results for the two attenuation indexes (SCRs for violent or pleasant minus SCRs for neutral pictures), which contributed to clarifying these interactions. […] The mean difference in SCRs toward violent pictures and neutral pictures […] was smaller for participants who played the VG than for those in the NVG condition […]. […] Participants who played the VG reported an overall lower affective arousal (M = 3.84) than did participants in the NVG condition (M = 4.51), regardless of picture type. The expected interaction between picture type and game did not approach significance […]. […] the prediction of a higher attenuation on arousal ratings between violent and neutral pictures for participants in the VG condition when compared to the NVG condition was not supported. […] participants who played the VG expressed less arousal to all types of portrayed stimuli, compared to participants in the NVG condition. [...] perceived arousal was not specific to violent material. […] There was a higher attenuation in physiological arousal between violent and neutral pictures among participants who played the VG, as compared to those in the control condition. This latter result is in line with the emotional desensitization hypothesis and may be taken as evidence of less emotional reactivity to violent stimuli caused by previous exposure to the VG.317 Prinzipiell indizieren die Resultate keine Desensibilisierung speziell ggü. Gewaltdarstellungen. Aber auch das Indiz für eine generelle Desensibilisierung ist nicht nur im Lichte der marginalen Differenzen zwischen den hautwiderstandlichen Attenuationsindexwerten für die Experimentalund denen für die Kontrollgruppe substanziell kaum strapazierbar: Die beiden Indexwerte der Experimentalgruppe waren nur 0,12 ("violent minus neutral") und 0,07 ("pleasant minus neutral"), resp. insg. 0,19 Hz niedriger als die der Kontrollgruppe (das Messspektrum für die phasische Komponente des Hautwiderstandes rangiert zwischen 0,05 und 1,5 Hz), ungeachtet dessen, dass ohne Referenzwerte, wie z.B. des normalen Frequenzspektrums des Hautwiderstandes im Ruhezustand oder der diesbzgl. Werte pathologischer Stichproben die praktische Relevanz der Resultate nicht diskutierbar ist und sich die Indexwerte zwischen beiden Gruppen für die affektive Valenz und die Erregung der Probanden nicht statistisch signifikant voneinander unterschieden. Das Problem fehlender Eineindeutigkeit psychophysiologischer Desensibilisierungsmaße prägt auch aktuellere Studien, die eine Desensibilisierung neurobiologisch operationalisieren wollen: Bspw. hypothetisieren die Autoren der Studie BARTHOLOW/BUSHMAN/SESTIR 2006 u.a., dass "desensitization should be reflected in the amplitude of the P300 component of the eventrelated brain potential (ERP). […] The amplitude of the P300 component of the ERP, often 316 317 ARRIAGA/MONTEIRO/ESTEVES 2011, S.1904-1912. ARRIAGA/MONTEIRO/ESTEVES 2011, S. S.1912-1918. 68 associated with working memory updating […], also has been shown to reflect the extent of evaluative categorization during processing of affective or emotionally relevant stimuli […]. […] For example, infrequent negative target images presented in a context of frequently presented neutral images elicit large P300s […]. It follows, […] that violent images presented in a context of neutral images should also elicit large P300s. To the extent that an individual is desensitized to violence […] the P300 elicited by violent images should be reduced. […] to the extent that a P300 reduction reflects motivational processes associated with desensitization to violence, the P300 reduction should be restricted to evaluative categorization of violent images and not to negative images more generally. […] A number of studies have shown that the P300 elicited by negative information reflects activation of the aversive/withdrawal motivational system […]. Given that aggression is incompatible with withdrawal motivation […], and that desensitization theoretically weakens the aversive motivation system pertaining to violence […], there should be an inverse relationship between P300 amplitudes elicited by violent stimuli and indices of aggressive behavior."318 I.d.S. erhoben sie den habituellen Konsum ihrer Probanden von gewaltdarstellenden Computerspielen (à la ANDERSON/DILL 2000; s.o.) und konfrontierten sie mit Bildersätzen des IAPS. Gleichzeitig wurde per EEG die Komponente P300 der ereigniskorrelierten Potentiale kontrolliert und infolge ein CRTT praktiziert. De facto war die Komponente P300 der Experimentalgruppe reduzierter als die der Kontrollgruppe, so dass die Autoren resümierten, dass eine chronische Mediengewaltexposition "lasting deleterious effects on brain function and behavior"319 hätte. Dgl. war auch ein Ergebnis einer ähnlichen Studie von ENGELHARDT/BARTHOLOW/ KERR et al. 2011: "[…] at least for individuals whose prior exposure to video game violence was low, playing a violent video game caused a reduction in the brain’s response to depictions of real-life violence, and this reduction […] predicted an increase in aggression. […] the fact that playing a violent video game increased aggression for both low- and high-exposure participants, but the P3 response to violence was reduced for high-exposure participants regardless of the game they played, suggests that additional mechanisms not measured here are important to consider."320 Tatsächlich ist aber bei beiden Studien weder die Operationalisierung der unabhängigen Variablen, noch die des aggressiven Verhaltens probat. Insb. ist auch die Reduzierung der Komponente P300 nicht eineindeutig interpretierbar, muss letztlich keine Desensibilisierung (im negativen, moralistischen Sinne o.ä.) demonstrieren, sondern kann gem. BÖSCHE/GESERICH 2007 z.B. auch nur die "Folge einer geringeren Überraschung oder geringerem benötigtem kognitiven Aufwand zur Verarbeitung des Reizes"321 sein. Keine Verbesserung stellt auch die Studie von MONTAG/WEBER/TRAUTNER et al. 2012 dar, die habituellen Spielern von Egoshootern und einer Kontrollgruppe von Nichtspielern (des Genres) Bildersätze des IAPS präsentierten und gleichzeitig ihre Hinraktivität per funktioneller Magnetresonanztomographie (fMRt) kontrollierten: "[…] gamers showed a significantly lower activation of the left lateral medial frontal lobe while processing negative emotions. […] Due to a frequent confrontation with violent scenes, the first-person-shooter-video-gamers might have habituated to the effects of unpleasant stimuli resulting in lower brain activation. […] the lower activity of the lateral prefrontal cortex in gamers can be interpreted as a dampening of experienced empathy elicited by the harm of a third person. […] the lateral prefrontal cortex is also involved in the evaluation and labeling of emotions […], and therefore serves psychological functions of high importance in social interactions."322 Gem. FERGUSON/ DYCK 2012 sind andere Interpretationen als eine evtl. Desensibilisierung aber plausibler: "[…] decreased activation of the frontal lobes may simply indicate boredom, whereas some scholars may prematurely conclude such effects represent disinhibition of aggression or desensitization. The results of brain imaging studies […] may be akin somewhat to Rorschach cards with scholars 318 319 320 321 322 BARTHOLOW/BUSHMAN/SESTIR 2006, S.533. BARTHOLOW/BUSHMAN/SESTIR 2006, S.538. ENGELHARDT/BARTHOLOW/KERR et al. 2011, S.1086. BÖSCHE/GESERICH 2007, S.56 und vgl. HRUBY/MARSALEK 2003. MONTAG/WEBER/TRAUTNER et al. 2012, S.107-110. 69 seeing in them what they wish to see."323 Kaum plausibler sind auch die Resultate von ANDERSON/BUSHMAN 2009, die eine Desensibilisierungen der Probanden infolge der Mediengewaltexposition in zwei Experimenten als nachlassendes Hilfeverhalten derselben operationalisierten und die selbst in der nichtwissenschaftlichen Öffentlichkeit prominent diskutiert wurden. Das erste der beiden Experimente orientierte sich an klassischeren Experimenten, wie bspw. denen von DRABMAN/THOMAS 1974 oder MOLITOR/HIRSCH 1994: Participants were 320 college students […]. […] participants played a randomly assigned violent (Carmageddon, Duke Nukem, Mortal Kombat, Future Cop) or nonviolent (Glider Pro, 3D Pinball, Austin Powers, Tetra Madness) video game […]. […] After playing the video game for 20 min, participants […] completed a lengthy bogus questionnaire […]. The […] purpose of the questionnaire was to keep participants busy while a recording of a staged fight was played outside the lab. Three minutes after the participant finished playing the video game, the experimenter, who was outside of the lab, played an audio recording of a staged fight between two actors. The 6-min fight was professionally recorded using experienced actors. Two parallel versions of the fight involved male actors (used for male participants) or female actors (used for female participants). […] the […] actors were presumably waiting to do an experiment. They began by talking about how one stole the other’s girlfriend (male version) or boyfriend (female version). The discussion quickly deteriorated into a shouting match (as indicated in the following script from the male version): First actor: ["]You stole her from me. I’m right, and you know it, you loser.["] Second actor: ["]Loser? If I’m a loser, why am I dating your ex-girlfriend?["] First actor: ["]Okay, that’s it, I don’t have to put up with this shit any longer.["] When the recording reached this point, the experimenter threw a chair onto the floor, making a loud crash, and kicked the door to the participant’s room twice. Second actor: [groans in pain] First actor: ["]Ohhhh, did I hurt you?["] Second actor: ["]It’s my ankle, you bastard. It’s twisted or something.["] First actor: ["]Isn’t that just too bad?["] Second actor: ["]I can’t even stand up!["] First actor: ["]Don’t look to me for pity.["] Second actor: ["]You could at least help me get off the floor.["] First actor: ["]You’ve gotta be kidding me. Help you? I’m outta here.["] [slams the door and leaves] At this point, the experimenter pressed the start button on the stopwatch to time how long it would take for participants to help the […] violence victim. On the recording, the victim groaned in pain for about 1.5 min. […] The experimenter waited 3 min after the groans of pain stopped to give participants ample time to help. If the participant left the room to help the victim, the experimenter pressed the stop button on the stopwatch and then debriefed the participant. If the participant did not help after 3 min, the experimenter entered the room and said, "Hi, I’m back. Is everything going all right in here? I just saw someone limping down the hallway. Did something happen here?" The experimenter recorded whether the participant mentioned hearing the fight outside the room. Those who reported hearing the fight rated how serious it was on a 10-point scale (1 = not at all serious, 10 = extremely serious). As justification for rating the severity of the fight, the experimenter explained the rating was required for a formal report that needed to be filed with the campus police. Finally, the participant was fully debriefed.324 Die Probanden konstatierten ohne relevanten Unterschied (94 % der Experimental- und 99 % der Kontrollgruppe), dass sie den inszenierten Streit gehört hatten, insg. halfen aber nur 21 % der Experimental- und 25 % der Kontrollgruppe. Weder die erste (M = 5.91), noch die zweite Gruppe (M = 6.44) attestierte dem Streit, resp. der Situation des Opfers, besondere Ernsthaftigkeit. Auch der Unterschied von nur 0.51 Skalenpunkten ist nicht nur marginal, sondern entspricht quasi dem Unterschied zwischen Männern (M = 5,92) und Frauen (M = 6,49). Ungeachtet dessen (und fehlender Dokumentationen der Standardabweichungen, wie auch der Effektstärken) alarmierten die Autoren: "Participants who played a violent game took significantly longer to help, over 450% longer, than participants who played a nonviolent game."325 De facto benötigte die Experimentalgruppe aber durchschnittlich nur 73,3 Sekunden und die Kontrollgruppe 16,2 Sekunden. Insofern wären bspw. auch immer noch die Fragen der Effektdauer oder der praktischen Relevanz der Effekte offen, wäre nicht abermals bereits die Operationalisierung der Mediengewaltexposition nicht probat gewesen. Dgl. gilt auch für das Feldexperiment der beiden Autoren: Participants were 162 adult moviegoers. […] A minor emergency was staged just outside theaters that were showing either a violent movie (e.g. The Ruins, 2008) or a nonviolent movie (e.g. Nim’s Island, 2008). […] Participants had the opportunity to help a young woman with a wrapped ankle who dropped her crutches just outside the theater and was struggling to retrieve them. […] A researcher hidden from view timed with a stopwatch how long it took participants to help the confederate. […] The researcher flipped a coin in advance to determine whether the emergency was staged before or after the showing of a 323 324 325 FERGUSON/DYCK 2012, S.224. ANDERSON/BUSHMAN 2009, S.275. ANDERSON/BUSHMAN 2009, S.276. 70 violent or nonviolent movie. Staging the emergency before the movie allowed us to test (and control) the helpfulness of people attending violent versus nonviolent movies. Staging the emergency after the movie allowed us to test the hypothesis that viewing violence inhibits helping. The confederate dropped her crutch […] 9 times in each of the four experimental conditions.326 Die Autoren konstatierten: "[…] participants who had just viewed a violent movie took over 26 % longer to help (M = 6,89 s) than participants in the other three conditions (M = 5,46 s)."327 Ungeachtet dessen, dass die Autoren abermals Äpfel mit Birnen vergleichen, ist der Unterschied von durchschnittlich nur 1,43 Sekunden(!) zwar de facto statistisch signifikant, aber offensichtlich nicht besonders praktisch relevant; insb. wurde der Verbündeten der Experimentatoren auch in jedem Fall binnen 11 Sekunden geholfen. Aber die Autoren resümieren dennoch: "In sum, the present studies clearly demonstrate that violent media exposure can reduce helping behavior […]. People exposed to media violence become 'comfortably numb' to the pain and suffering of others and are consequently less helpful."328 Im Lichte der offensichtlichen Defizite der Experimente, der marginalen, praktisch irrelevanten Unterschiede zwischen den jeweiligen Experimental- und den Kontrollgruppen, wie auch der (obligatorischen) Übertreibungen der Autoren, dürfte "comfortably numb" letztlich vielmehr ein Attribut sein, dass das Resümee der Autoren selbst oder gar den Stand der Mediengewaltwirkungsforschung insg. charakterisiert. Nicht überraschend konnten der Vollständigkeit halber letztlich auch qualitative Studien keine Indizien einer Desensibilisierung der Spieler durch Gewalt darstellende Spiele präsentieren.329 Ungeachtet dessen kursiert seit einigen Jahren der Mythos, dass das Militär seine Soldaten auch mittels Gewalt darstellender Computerspiele systematisch desensibilisiere und ihnen eine (vermeintlich) natürliche Tötungshemmung abtrainiere; so fragt z.B. Manfred SPITZER: "Und warum gewöhnt die US-Armee Soldaten mit Hilfe von Computerspielen die Tötungshemmung ab, wenn das nicht funktionieren würde? Dann würde die Army das nicht machen."330 Und auch Christian PFEIFFER glaubte: "Wenn die Kinder täglich solche Spiele spielen, reduzieren sie ihre Empathie nachhaltig. Das macht sich die amerikanische Armee zunutze: In großen, computerspielähnlichen Kinos probt man den Ernstfall. Mit dem Ergebnis, dass die Soldaten viel stärker befähigt sind, ohne Hemmungen den Gegner zu töten. Wenn die amerikanische Armee das gezielt einsetzt, ist es ja wohl absurd zu behaupten, dass das keine Folgen hat!"331 Und in der Sendung HART ABER FAIR vom 11.03.2009 zum Thema "Schule der Angst – was macht Kinder zu Amokläufern?" behauptete er, dass US-amerikanische Soldaten mit Gewalt darstellenden Spielen ihre Tötungshemmung von 75 % auf 35 % reduzierten. Dgl. kolportierte bspw. der Journalist Dagobert LINDLAU am 26.03.2009 in der ZDF-Sendung MAYBRIT ILLNER, nämlich dass erwiesen sei, "dass ihre Soldaten in bewaffneten Nahkampfsituationen zu 80 % eine Hemmung haben, den anderen niederzuschießen. Nach der Schulung mit solchen Dingen, die wir unseren Kindern zumuten, sinkt das auf 20 %. Das sind Zahlen, die nicht zu wiederlegen sind." Ausgangspunkte solcher Aussagen sind sicherlich die Falschinterpretationen der bestenfalls populärwissenschaftlichen Publikationen eines ehem. US-amerikanischen Militärpsychologen. GROSSMAN 1995 argumentierte, dass das US-amerikanische Militär seine Soldaten im Rahmen des Schießtrainings mittels operanter Konditionierungsmaßnahmen systematisch desensibilisiere und konstruierte auch direkte Parallelen zwischen solchen militärischen Ausbildungsmethoden und dem Spielen sog. Lightgun-Shooter (quasi den digitalen Pendants von Schießbuden), kolportierte aber noch nicht, dass das Militär die Soldaten mittels Computerspielen desensibilisiere: Instead of firing at a bull’s-eye target, the modern soldier fires at man-shaped silhouettes that pop up for brief periods of time inside a designated firing lane. The soldiers learn that they have only a brief second 326 327 328 329 330 331 ANDERSON/BUSHMAN 2009, S.276. ANDERSON/BUSHMAN 2009, S.276. ANDERSON/BUSHMAN 2009, S.277. Vgl. FRITZ 1997b, S.237f.; LADAS 2002, S.132 und WITTING/ESSER 2003. Zitiert in: GÜNZEL 2006. Zitiert in: STEINLECHNER 2009a, S.2. 71 to engage the target, and if they do it properly their behavior is immediately reinforced when the target falls down. If he knocks down enough targets, the soldier gets a marksmanship badge and usually a threeday pass. After training on rifle ranges in this manner, an automatic, conditioned response called automaticity sets in, and the soldier then becomes conditioned to respond to the appropriate stimulus in the desired manner. This process […] is one of the key ingredients in a methodology that has raised the firing rate from 15 to 20 percent in World War II to 90 to 95 percent in Vietnam.332 […] In video arcades children stand slack jawed but intent behind machine guns and shoot electronic targets that pop up on the video screen. When they pull the trigger the weapon rattles in their hand, shots ring out, and if thex hit the "enemy" they are firing at, it drops to the ground […]. […] video games can […] be superb at teaching violence – violence packaged in the same format that has more than quadrupled the firing rat of modern soldiers. […] The kind of games that are very definitely enabling violence are the ones in which you actually hold a weapon in your hand and fire it at human-shaped targets on the screen.333 Einerseits monierte aber bereits FERGUSON 2010 den Unterschied zwischen wehrpflichtigen, "poorly trained, nonprofessional WWII soldiers firing primarily the semiautomatic M1 with limited ammunition, to the modern volunteer, professional, highly trained soldier firing primarily the fully automatic M16 or M4 […]. Changes in training regarding selecting specific targets (in WWII) versus using 'blind' suppressing fire (in the modern army) better explain differences in firing rates […]."334 Andererseits orientierte sich der Autor für die Aussagen zu den Feuerraten der Soldaten im 2. Weltkrieg an den bereits von SPILLER 1988 dekonstruierten Daten von MARSHALL 1947,335 d.h. nur an einem Mythos damals größerer Tötungshemmung der Soldaten, so dass die Argumentation insg. nicht verfängt. Letztlich dient das Schießtraining auch nicht der Desensibilisierung der Soldaten, sondern nur dem korrekten Schusswaffengebrauch. Ungeachtet dessen kolportierten aber auch GROSSMAN/DEGAETANO 2002,336 dass das U.S. Marine Corps das Spiel MARINE DOOM – eine Modifikation des kommerziellen Spiels DOOM – einsetze, "um Rekruten das Töten beizubringen. […] Die wichtigste Funktion […] besteht darin, den Willen zu töten auszubilden, indem der Tötungsakt so oft wiederholt wird, bis er ganz natürlich wirkt."337 Die Gefahr sei für kommerzielle Computerspiele (insb. Egoshooter) dieselbe. Die Autoren warnen, "daß […] Kinder durch übermäßigen Konsum von sinnlosen Gewaltdarstellungen einem systematischen Konditionierungsprozeß unterworfen sind, der ihre kognitive, emotionale und soziale Entwicklung derart beeinflußt, daß sie das Verlangen und/oder den konditionierten Reflex entwickeln, sich ohne Reue gewalttätig zu verhalten. […] Während unsere Kinder immer härtere Gewaltformen verlangen und immer weiter desensibiliert werden, lernen sie, daß Verletzen Spaß macht, 'natürlich' und richtig ist."338 Tatsächlich verfangen solche Wirkungspostulate nicht nur im Lichte des Forschungsstandes nicht, sondern nutzt das US-amerikanische Militär solche Spiele wie MARINE DOOM bspw. (soweit bekannt) nur für das Erlernen der taktischen Vorgehensweise einer Gruppe in Gefechtsbedingungen.339 Trotzdem bleibt der Mythos virulent und ist gar Ausgangspunkt für noch abenteuerlichere Mythen, bspw. dass das US-amerikanische Militär die Computerspiele per se (zur Desensibilisierung) erfunden habe und die heutigen Spiele insg. nur Derivate solcher ursprünglich militärischen Spiele seien;340 der emeritierte bayerische Ministerpräsident Günther BECKSTEIN (CSU) behauptete bspw. im September 2009 gänzlich falsch: "Das Spiel CounterStrike wurde von der US-Army entwickelt, um die Gewaltschwelle bei den Soldaten herabzusetzen. Derartige Spiele gehören nicht nur zensiert, sondern verboten."341 Letztlich ist WAGNER 2009 zuzustimmen, der resümierte, "dass die derzeit im Umlauf befindlichen Aussagen zur Reduktion der Tötungshemmung auf Arbeiten basieren, die einer […] wissenschaftlichen Kritik in keiner Weise standhalten können […], die teilweise an den Haaren herbei332 333 334 335 336 337 338 339 340 341 Vgl. GROSSMAN/DEGAETANO 2002, S.87. GROSSMAN 1995, S.313ff. Vgl. FERGUSON 2010, S.70. Für eine Dekonstruktion des auf MARSHALL 1947 basierenden Datenmaterials von Dave GROSSMANN (et al.) s. auch ENGEN 2008. Bzgl. der Kritik des Pamphletes s. RHODES 2000, S.1; GEHLEN 2002, S.47; FEIBEL 2004, S.153; HAUSMANNINGER 2005 und FERGUSON 2010, S.70. GROSSMAN/DEGAETANO 1999, S.91. GROSSMAN/DEGAETANO 2002, S.61. Vgl. STAHL 2006, S.117. Vgl. DITTMAYER 2011. Zitiert in: BECK 2009. 72 gezogen sind. Es handelt es sich hierbei ganz klar um einen Mythos auf Basis der Medieninkompetenz seiner Verbreiter."342 7. Die Befunde von Metaanalysen Ungeachtet der fragwürdigen Operationalisierungen der Mediengewaltexposition und bspw. des aggressiven Verhaltens, wie auch der ggf. nur substanziell marginalen Differenzen zwischen Experimental- und Kontrollgruppen und des insg. heterogenen Forschungsstandes, ist ein weiteres fundamentales Problem speziell der Mediengewaltwirkungsforschung (wie auch z.B. psychologischer Studien insg.) der geringe Standard vermeintlicher empirischer Belege von Wirkungszusammenhängen, wie u.a. auch bereits FERGUSON 2010 monierte: "Studies with statistically significant effects, no matter how small in practical effect, are more likely to be published than those with null results. Although a problem throughout published research, in an atmosphere of moral panic, publication bias effects are likely to become greater in magnitude. This has been demonstrated both through statistical publication bias analyses […] as well as through examining differences between published and unpublished studies […].343 […] publication bias and bias more generally are highly likely for research fields with small effect sizes, small studies, great flexibility in designs, measurement and analysis, and 'hotter' and more political issues raised, all clear issues for the violent video game field. […] demonstrating 'statistical significance' is not an adequate method for determining the utility of theories in explaining events […] particularly when increasing sample sizes can make almost any effect statistically significant. Some researchers […] have cynically encouraged researchers to chase statistical significance by increasing sample sizes, in tacit acknowledgment that effects are small. Given that null results are easily dismissed as type-II errors, it is not practically feasible to falsify psychological theories. Thus a weak theory, such as the causal hypothesis may remain influential despite frail evidence […]."344 SIMMONS/NELSON/SIMONSOHN 2011 konnten demonstrieren, dass dank diverser Freiheiten der Forscher – "flexibility in (a) choosing among dependent variables, (b) choosing sample size, (c) using covariates, and (d) reporting subsets of experimental conditions"345 – problemlos statistische Signifikanzen für alle möglichen Zusammenhänge generiert werden können, resp. sich die Wahrscheinlichkeit von falsch-positiven Ergebnissen (Fehler 1. Art) erhöhen kann. Insofern dürften im Lichte der skizzierten Publikationspraxis der Fachzeitschriften (u.a. auch i.V.m. dem Problem eines ubiquitären Publikationsdrucks; publish or perish)346 selbst mehr oder weniger bewusst fahrlässige Forschungsmethoden und gar Manipulationen im Rahmen der Mediengewaltwirkungsforschung nicht besonders überraschend sein. I.d.S. monierte bereits FERGUSON 2009: "[…] many of the studies that examine media violence effects employ multiple dependent variables […] of the same 'aggression' construct. Thus, a number of separate analyses are conducted, some of which are significant, some of which are not. Seldom are Bonferoni corrections for multiple analyses applied to the results. To a large degree, these studies are capitalizing on chance. In the discussion of these studies, the disconfirming results are seldom mentioned, and focus is placed upon the results that are significant.347 A study can be reported as 'positive' when in fact the majority of its findings do not support the hypothesis. [...] researchers beginning with an a-priori hypothesis seem to be 'cherry-picking' results that support that hypothesis. […] the majority of scientists and laypersons alike do not read these studies carefully, this point goes largely unnoticed. […] this problem appears to be endemic to much of the literature and is not limited to a few studies."348 Ungeachtet dessen indiziert die statistische Signifikanz eines Zusammenhangs aber auch generell keine praktische Relevanz desselben. Indizieller wären diesbzgl. relative (stichprobenunabhängige) Effekstärkemaße wie 342 343 344 345 346 347 348 WAGNER 2009. Vgl. FERGUSON 2007a; FERGSUON 2007b und FERGUSON/KILBURN 2009. FERGUSON 2010, S.74ff.. SIMMONS/ NELSON/SIMONSOHN 2011, S.1360. Vgl. MICHAELIS 2004, S.18. Vgl. FERGUSON 2007a, S.472. FERGUSON 2009, S.108f. und vgl. FERGUSON 2007a, S.472. 73 der Pearsonsche Korrelationskoeffizient r,349 die aber gem. LIND 2010 auch nur statistische Verfahren sind, "die eine theoretische und praktische Bewertung eines Befunds nicht ersetzen können."350 Ungeachtet dessen sprechen die in den einzelnen Computerspielgewaltwirkungsstudien ermittelbaren (innerhalb derselben oftmals aber erst gar nicht kalkulierten) Korrelationskoeffizienten insg. nur für (relativierbar) kleine bis max. mittlere Effekte nach COHEN 1988,351 gem. dem r = .1 einen kleinen, r = .3 einen mittleren und r = .5 einen starken Effekt indiziert. Dgl. können auch die entsprechenden Metaanalysen am Beispiel des Zusammenhangs zwischen der Mediengewaltexposition und dem aggressivem Verhalten der Probanden demonstrieren, ungeachtet der infolge deutlich divergierenden Stimulusmaterials, methodischer Defizite und Unterschiede, wie auch der Anlage, Zielrichtung und Qualität der Einzelstudien reduzierten Vergleichbarkeit derselben.352 SHERRY 2001 analysierte 25 zwischen 1975 und 2000 publizierte Studien und konstatierte insg. nur kleine Effekte (.15): Studien, die aggressives Verhalten per Selbstreport u./o. (hypothetischer) Verhaltenstendenzen analysierten, konstatieren größere Effekte (.19) als Studien, die konkretes Verhalten analysierten (.09). Gleichermaßen waren die Effekte für Korrelationsstudien größer (.16), als für Experimentalstudien (.11). Ähnlich auch ANDERSON/ BUSHMAN 2001, die 33 Studien analysierten und gleichermaßen kleine Effekte (.19) feststellen konnten, aber ungeachtet dessen proklamierten: "[…] these results support the hypothesis that exposure to violent video games poses a public health threat to children and youths, including college-age individuals."353 Die Analyse wurde aufgrund des Kardinalfehlers der indifferenten (und unkritisch-affirmativen) Miteinbeziehung auch methodisch fragwürdig(st)er Studien in die generelle Kalkulation des arithmetischen Mittelwerts der Effekstärke (ungeachtet der diversen, qualitativ divergierenden Methoden der Einzelstudien)354 massiv kritisiert.355 Denn bereits KUNCZIK/ZIPFEL 2004 resümierten zeitlos für die Metaanalysen (zur Film- und Fernsehgewaltwirkungsforschung), "dass schlechte und methodisch problematische Studien in ihrer Aussagekraft nicht dadurch besser werden, dass man sie in eine Meta-Analyse einbezieht. [...] Das Gesamtergebnis mag bestimmte Schlussfolgerungen über den Forschungsstand zum untersuchten Thema suggerieren, viele Artefakte bzw. unzutreffende Befunde addieren sich deshalb aber noch lange nicht zu einem zutreffenden Ergebnis."356 ANDERSON 2004 reanalysierte i.d.S. 32 Einzelstudien, bzgl. der er z.T. diverse methodische Defizite identifizierte: "1. Non-violent video game condition contained violence, and there was no suitable non-violent control condition. 2. Violent video game condition contained little or no violence. 3. Evidence that the violent and non-violent conditions differed significantly in ways that could contaminate the conditions, such as the non-violent condition being more (or less) difficult, boring, or frustrating than the violent condition. 4. A pre-post design was used, but only the average of the pre- and post-manipulation measures was reported. 5. Each research session involved both a video game player and an observer, but only the average of the player349 350 351 352 353 354 355 356 Vgl. CUMBERBATCH 2004, S.32ff. und FERGUSON 2007a, S.471 LIND 2010, S.3. Vgl. FERGUSON 2002; OLSON 2004; SAVAGE 2004; FERGUSON 2007a; SCHULZ/BRUNN/DREYER et al. 2007, S.65f. und FERGUSON 2010. Ein Trend der Mediengewaltwirkungsforschung, der auch bereits die Film- und Fernsehgewaltwirkungsforschung insg. prägt (vgl. ANDISON 1976; WOOD/WANG/CHACHERE 1991; BUSHMAN/ANDERSON 2001; PAIK/COMSTOCK 1994; SAVAGE/YANCEY 2008 und FERGUSON/KILBURN 2009). Eine prägnante Ausnahme ist die Querschnittstudie HOPF 2004, die insb. bei der Problemgruppe der Hauptschüler einen Kausalnexus mittlerer Effekte zwischen einer Mediengewaltexposition und aggressivem Verhalten (.48), resp. großer Effekte zwischen dgl. und dem gewalttätigem Verhalten (.61) derselben konstatiert, "die andere Befunde aus den Sozialwissenschaften weit übertreffen [...]." (S.111) Dgl. sind auch die Resultate der analogen Längsschnittstudie HOPF/HUBER/WEIß 2008, die mittlere Effekte zwischen einer Mediengewaltexposition und dem gewalttätigem (.47) und auch dem delinquentem Verhalten (.48) – wie z.B. Automatenaufbrüchen – der Probanden konstatiert,. Beide Studien prägen aber gravierendste methodische Defizite und eine mangelnde Plausibilität ihrer Resultate, die doppelt bis dreimal so große Effekte konstatieren, wie andere entsprechende Studien. Bzgl. einer detaillierteren Kritik beider Studien s. EBERS 2009. Vgl. WOLOCK 2002, S.25; FERGUSON 2007b und SCHULZ/BRUNN/DREYER et al. 2007, S.46. ANDERSON/BUSHMAN 2001, S.358. Vgl. KUNCZIK/ZIPFEL 2004, S.288. Vgl. BLOOM 2002; FERGUSON 2002 und FERGUSON 2007a, S.475. KUNCZIK/ZIPFEL 2004, S.169f.. 74 observer measures was reported. 6. The aggressive behaviour measure was not aggression against another person […]. […] 9. In a correlational study, the measure of video game exposure was not specifically tied to violent video games […]. Samples that had none of these weaknesses were classified as 'best practices' samples, whereas those with at least one weakness were classified as 'not best practices' samples."357 Der Autor demonstrierte insg. kleine Effekte (.20). Die dedizierte Analyse beider Kategorien demonstrierte aber größere Effekte der ersteren (.26) als der letzteren Studienkategorie (.14). Die Metanalyse prägen jedoch nicht nur diverse methodische Mängel,358 problematisch ist nach KUNCZIK/ZIPFEL 2004 einerseits auch ihre Intransparenz, da sie nicht dokumentiert, "welche Studien in welche Kategorie fallen. Dies wäre allerdings nicht zuletzt insofern aufschlussreich, als diverse der einbezogenen Untersuchungen von Anderson bzw. seinen Koautoren selbst stammen. Diese Untersuchungen werden vermutlich nicht zu den methodisch kritikwürdigen gerechnet worden sein, obwohl sie [...] ebenfalls als problematisch betrachtet werden müssen."359 Andererseits dürften die ersten drei durch den Autor der Analyse selbst identifizierten Defizite solche sein, die tatsächlich für das Gros der analysierten Einzelstudien gelten (insb. hatte zu dem Zeitpunkt noch keine einzige Studie das violente und das nicht violente Stimulusmaterial probat äquivaliert). Auch hat noch (nach wie vor) keine Studie i.S.d. sechsten Defizits das aggressive Verhalten der Probanden angemessen operationalisiert. Letztlich wurde durch den Autor weder eine fehlende Standardisierung der Operationalisierungen aggressiven Verhaltens als methodisches Defizit aufgeführt, noch ein evtl. Publikationsbias realisiert, so dass plausibel ist, dass die ermittelten Effekte tendenziell kleiner sind, als sie die Studie darstellt. FERGUSON 2007a konstatierte i.d.S. für fünf Experimentalstudien kleine Effekte (.29). Eine Korrektur des skizzierten Publikationsbias demonstrierte aber wesentlich kleinere Effekte (.15). Gleichermaßen demonstrierte die Analyse der neun Korrelationsstudien insg. kleine (.15) und nach einer Korrektur wesentlich kleinere Effekte (.06). FERGUSON 2007b analysierte 17 zwischen 1995 und 2007 publizierte Studien und konstatierte insg. gleichermaßen kleine (.14) und nach einer Korrektur wesentlich kleinere Effekte (.04). Diesbzgl. konsistente Ergebnisse präsentierten auch FERGUSON/KILBURN 2009, die insg. 22 zwischen 1998 und 2008 publizierte Mediengewaltwirkungstudien analysierten und die für die 15 Studien, die eine evtl. Wirkung violenter Computerspiele untersucht hatten, insg. kleine (.15) und nach einer Korrektur wesentlich kleinere Effekte (.05) konstatieren konnten. Die Resultate der Analyse sind aber auch insg. interessant: Only experimental studies with "proxy" measures of aggression did not experience any publication bias. […] Results suggested that the [...] effect for exposure to media violence on subsequent aggression was r+ = .08. […] Uncorrected results are also [...] weak (ru = .14), yet these results appear to have been inflated by publication bias, thus giving us confidence that the r+ = .08 figure is more accurate. Results also support that outcome varies widely in the methodology used. […] 1) Aggression measures that were unstandardized/unreliable produced the highest effects (r+ = .24); effect sizes for measures that were reliable were much lower r+ = .08; 2) [...] aggression measures with poor validity data produced higher effect sizes (r+ =.09) than did those with good validity data (r+ = .05); 3) "Proxy" measures of aggression, that did not make use of directly aggressive or violent behaviors, produced the highest effect sizes (r+ = .25), with effect sizes for aggressive behavior toward another person (r+ = .08) and violent behavior (r+ = .02), considerably lower; and 4) Research designs that controlled for "third" variables tended to produce lower effect sizes (r+ = .08) than did those that failed to control adequately for "third" variables (r+ = .09). [...] Much higher effect sizes were found for experimental designs than for either correlational or longitudinal designs. Unfortunately, experimental designs are greatly impaired by their consistent use of poor aggression measures. Slightly larger effects were seen for children than for adults. Studies of "mixed" media produced slightly larger effects than did those for video games or television.360 Die aktuellste Analyse, ANDERSON/SHIBUYA/IHORI et al. 2010, die insg. 140 Korrelationskoeffizienten analysierte, konstatierte insg. auch kleine Effekte (.18). Nach einer detaillierteren Analyse demonstrierten die Autoren gleichermaßen kleine Effekte für die 45 experimentellen (.18), die 81 querschnittlichen (.18) und die 14 längsschnittlichen Koeffizienten (.19). Die 357 358 359 360 ANDERSON 2004, S.116. Bzgl. einer detaillierten Kritik s. auch CUMBERBATCH 2004, S.33; OLSON 2004, S.147f. und FERGUSON 2010, S.73. KUNCZIK/ZIPFEL 2004, S.237. FERGUSON/KILBURN 2009, S.760ff.. 75 Effektstärken wurden in zwei weitere Subkategorien differenziert: Eine, "labeled the 'best raw' data set, consisted of all best practices studies with effects in their rawest form. The other, labeled the 'best partials' data set, contained only effects that had been corrected for sex, either by separate estimates for males and females or by use of partial correlations. For longitudinal studies, the best raw data set contained the correlations between Time 1 VGV exposure and Time 2 outcomes. For the best partials data set, the effect sizes were partial correlations with both sex and Time 1 outcomes partialed out. The main analyses and all of the moderator analyses were carried out on the best partials data set. [...] results from the best partials data set are very conservative estimates and may well underestimate the true video game effects. However, comparing these effects to the corresponding best raw effects gives another indication of the strength (or weakness) of the overall effects of violent video games."361 Für die 79 Koeffizienten des "'best raw' data set" konstatierten sie i.d.S. aber auch insg. nur kleine Effekte (.24). Eine detailliertere Analyse demonstrierte gleichermaßen kleine Effekte der 27 experimentellen (.21), der 40 querschnittlichen (.26) und der 12 längsschnittlichen Koeffizienten (.20). Für die 75 Koeffizienten des "'best partial' data set" konstatierten die Autoren wesentlich kleinere Effekte (.15). Die detailliertere Analyse demonstrierte gleichermaßen kleine Effekte der 27 experimentellen (.21), der 36 querschnittlichen (.17) und der 12 längsschnittlichen Koeffizienten (.07). Die Analyse repliziert aber u.a. ein Gros der bereits ggü. ANDERSON 2004 kritisierten Defizite. Massive Kritik formulierten i.d.S. FERGUSON/KILBURN 2010,362 bspw. dass eine fehlende Standardisierung der Operationalisierung aggressiven Verhaltens abermals nicht als methodisches Defizit realisiert wurde, dass eine Kategorisierung der Studien als "best practices studies" hätte negieren müssen; "the best practices-nominated studies are populated with manuscripts in which unstandardized assessments were used. This fact, rather than the quality of those reports, probably explains why the effect sizes seen for this group or paper were higher than those for other papers."363 Gleichermaßen klassifizierte die Metaanalyse diverse Studien auch entg. der eigenen Kriterien als "best practices studies". Ungeachtet dessen moniert das Autorenduo, dass die Autoren der Analyse das nur bivariate "'best raw' data set" präferierten und dass selbst das adäquatere "'best partial' data set" relevante Drittvariablen ignoriert: "The r = .15 estimate includes only basic controls […]. Our own research suggests that when other risk factors (e.g., depression, peers, family) are controlled, video game effects drop to near zero […]. […] focusing on bivariate correlations is problematic, as they overestimate relationships due to third variables. Males both play more VVGs and are more aggressive than females. [...] aggression will tend to correlate with VVGs and with any other male-dominated activity, such as growing beards, dating women, and wearing pants rather than dresses. […] It is obvious that controlling other important risk factors related to personality, family, and even genes (if one could) would further reduce the unique predictive value of VVGs. Anderson et al. ignored this third variable effect, although it has been well known for some time."364 Letztlich identifizieren sie auch einen Publikationsbias und kritisieren ebenfalls die Selbstreferenzialität der Datenerhebung: "[…] from only a small group of researchers, albeit those who differ from Anderson et al. in perspective, a considerable number of published, inpress, and unpublished studies were missed. One can only speculate at the number of other missed studies from unknown authors. […] when examining the appendix of included studies, one finds that unpublished studies from Anderson et al.’s research group and colleagues are well represented. For example, of two unpublished studies, both are from Anderson et al.’s broader research group. Of three in-press manuscripts included, two (67 %) are from the Anderson et al. group. Of conference presentations included, 9 of 12 (75 %) are from the Anderson et al. group and colleagues. Whatever techniques used by Anderson et al. to garner unpublished studies, 361 362 363 364 ANDERSON/SHIBUYA/IHORI et al. 2010, S.10. Bzgl. einer Kritik s. auch auch FERGUSON 2010, S.73f.. FERGUSON et al. kritisieren und dekonstruieren seit Jahren insb. auch die Studien des Zitationszirkels von ANDERSON et al.; nicht überraschend ist i.d.S., dass die Analyse ANDERSON/ SHIBUYA/IHORI et al. 2010 eine relativ unstrapazierbare Generalkritik der konkurrierenden Metaanalysen einleitet und die Analyse von FERGUSON/KILBURN 2010 eine direkte Apologie (insb. auch ad hominem) des Zitationszirkels provozierte, wie z.B. ANDERSON/BUSHMAN/ROTHSTEIN 2010 und HUESMAN 2010, die aber die Kritik des Autorenduos nicht relativieren konnte. FERGUSON/KILBURN 2010, S.183f..; vgl. FERGUSON 2007a; FERGUSON 2007b und FERGUSON/KILBURN 2009. FERGUSON/KILBURN 2010, S.177. 76 these techniques worked very well for their own unpublished studies but poorly for those from other groups."365 Insg. konnte i.d.S. auch die aktuellste Metaanalyse keine (praktisch relevanten) Belege eines mediengewaltinduzierten aggressiven Verhaltens präsentieren, ungeachtet der divergierenden Postulate ihrer Autoren. BUSHMAN/ANDERSON 2001 analysierten die entsprechenden, seit 1975 im Rahmen der Mediengewaltwirkungsstudien insg. dokumentierten Korrelationskoeffizienten in vierjährigen Intervallen und konstatierten für die Studien der Periode von 1975 bis 1990 durchschnittlich kleine (.13), bzgl. der Periode von 1990 bis 1995 marginal größere (.14) und seit 1995 – ungeachtet einer in Relation signifikanten Vergrößerung derselben – gleichermaßen kleine Effekte (.20): Experimentelle Studien demonstrierten seit 1975 relativ konstant durchschnittlich kleine Effekte (.24). Nicht experimentelle Studien demonstrierten auch bis 1995 relativ konstant kleine(re) Effekte (.10) und seit 1995, ungeachtet einer abermals signifikanten Vergrößerung, gleichermaßen kleine Effekte (.18).366 Dgl. waren auch die Ergebnisse von SHERRY 2001, der zwischen den Publikationsjahren und den demonstrierten Effektstärken mittlere Effekte (.39) in Richtung einer Vergrößerung der Effektstärken seit 1995 demonstrierte. Er argumentierte, dass das evtl. das Resultat einer vermeintlich (kontinuierend) realistischeren, auch (insb. im Lichte genereller technischer Progression) detaillierteren und ggf. expliziteren graphischen Gewaltdarstellung, d.h. eines Brutalisierungsprozesses für die Computerspiele sein könnte. Konträre Resultate präsentiert aber FERGUSON 2007a: "[…] there was no evidence that year the study was published (r = -.14) was a moderator variable in this analysis. Although video games are getting more graphically violent […] this development in the gaming industry does not seem to be producing greater effects in regards to aggressive behavior. Interestingly [...] year of the study and the use of 'best practices'367 were negatively related (r = -.32), with more recent studies tending to use measures with decreasing standardization. This is an unfortunate trend in the literature."368 Prägnant ist aber auch ein bereits im Rahmen der Film- und Fernsehgewaltwirkungsforschung identifizierbarer Trend,369 dass die ermittelbaren Zusammenhänge zwischen der Mediengewaltexposition der Probanden einerseits und z.B. ihrem aggressivem Verhalten andererseits umso kleiner sind, je geringer die methodischen Defizite der Studien sind. Zusammengefasst sprechen sich die Autoren von vier der sieben Metaanalysen explizit gegen eine praktische Relevanz der Effekte aus, aber auch die drei anderen Analysen des Autorenkollektivs von ANDERSON et al. haben ungeachtet der Postulate der Autoren nur das Potenzial (dem generellen Trend der Einzelstudien folgend) höchstens kleine oder gar keine Effekte demonstrieren zu können. Insg. sind die Effekte auch zu klein, um praktisch relevant zu sein, selbst wenn sie das Resultat methodologisch perfekter Studien und valider Aggressionsmaße wären.370 Gem. KUNCZIK 2000 ist es letztlich auch eine Konvention, Effekte, "deren Stärke geringer als 0,2 ist, als unbedeutend und uninterpretierbar nicht weiter zu beachten."371 Insofern resümierte auch FERGUSON 2010 diplomatisch: "Thus the debate on video game violence has been reduced to whether video game violence produces no effects… or almost no effects."372 365 366 367 368 369 370 371 372 FERGUSON/KILBURN 2010, S.175. Vgl. GENTILE/ANDERSON 2003. Die einzige notwendige Bedingung für die Kategorisierung einer Studie als "best practices"-Studie war im Lichte der evidenten Defizite unstandardisierter Operationalisierungen aggressiven Verhaltens die folgende: "A measure of aggression was considered to be consistent with 'best practices' if it reported an adequate […] level of reliability and was used in a standardized way consistent with the literature on the development of the instrument. Instruments for which reliability was not reported for the observed sample, or which were used in an unstandardized way across studies (as in the case of the TCRTT) were considered inconsistent with 'best practices.' Of the 40 individual measurements examined (across studies) only 15 (38%) provided evidence for the reliability of their measures in their study." (S.478f.) FERGUSON 2007a, S.479f.. Vgl. KUNCZIK 1988, S.85; SACHER 1993, S.322; SACHER 1994, S.7; MERTEN 1999, S.11/159; DRINCK/ EHRENSPECK/HACKENBERG et al. 2001, S.6; CUMBERBATCH 2004, S.31 und MICHAELIS 2004, S.3-9. Vgl. GAUNTLETT 1995; FERGUSON 2002; FREEDMAN 2002; FRITZ/FEHR 2003, S.50; CUMBERBATCH 2004, S.31f.; OLSON 2004; SAVAGE 2004; GOLDSTEIN 2005, S.350; SHERRY 2007; FERGUSON 2010. KUNCZIK 2000, S.30. FERGUSON 2010, S.74 und vgl. FREEDMAN 2002. 77 8. Die Frage der praktischen Relevanz der Mediengewaltwirkungen Besonders proaktive Forscher realisieren zwar die Problematik, dass die Korrelationskoeffizienten nach gängiger Praxis tendenziell nur als klein und unbedeutend interpretiert werden können, BUSHMAN/ROTHSTEIN/ANDERSON 2010 plädieren im Lichte dessen aber für eine Rekonzeptualisierung der Effekstärkenkonvention, "in which r = .1 is small, r = .2 is medium, and r = .3 is large." Resp. "[…] a reconceptualization […] in which r = .07 is small, r = .22 is medium, and r = .41 is large."373 Ungachtet der Problematik, dass der prozentuale Anteil aufgeklärter Varianz so oder so mehr oder weniger irrelevant ist und selbst mittlere u./o. hohe Korrelationskoeffizienten nicht auch eine (besondere) theoretische und praktische Relevanz der Befunde indizieren, würde dass der Forschung der Autoren (insb. in einem bspw. pauschal an der Demonstration von – u.U. mittleren u./o. großen – Effekstärken orentiertem Metier) natürlich eine Bedeutung verschaffen, die sie im Lichte konventioneller Interpretationen derselben nicht hat. ANDERSON/SHIBUYA/IHORI et al. 2010 argumentieren aber korrekt, dass selbstverständlich auch kleine Effektstärken u.U. praktisch relevant sein können: "When effects accumulate across time, or when large portions of the population are exposed to the risk factor, or when consequences are severe, statistically small effects become much more important […]. All three of these conditions apply to violent video game effects."374 Ungeachtet dessen, dass ohne eine zeitliche Akkumulation von Wirkungseffekten u./o. eine hinreichende Ernsthaftigkeit derselben die Frage nach dem Risikoexpositionsgrad der Bevölkerung prinzipiell unerheblich ist, konnte einerseits noch gar keine (strapazierbare) zeitliche Akkumulation von Wirkungseffekten demonstriert werden: Tatsächlich konstatiert nicht nur die Metaanalyse der Autoren selbst für Längsschnittstudien (die bereits ohne mehr oder weniger robuste Belege kurzfristiger Wirkungseffekte von Mediengewaltdarstellungen noch gar nicht angemessen sein dürften)375 die kleinsten (resp. gar keine) Effekte,376 sondern sind auch die Resultate der entsprechenden Studien insg. sehr heterogen.377 Auch erodieren i.S.d. bereits thematisierten und für Längsschnittstudien besonders problematischen Drittvariablenproblematik (je länger der Analysezeitraum ist, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass gar nicht oder nicht hinreichend kontrollierte, intervenierende Störfaktoren die Analyse verzerren)378 letztlich die Zusammenhänge zwischen den Mediengewaltexpositionen und den (vermeintlichen) Wirkungen derselben auf die Probanden, je mehr der und insb. je probater die relevanten Drittvariablen durch die Forscher kontrolliert wurden.379 Andererseits konnte die Forschung selbst ungeachtet aller ihrer theoretischen, wie auch methodischen Probleme noch gar keine besonders problematische Wirkung violenter Computerspiele demonstrieren (s.u.). Eine praktische Relevanz auch kleiner Korrelationskoeffizienten soll letztlich über Analogien demonstriert werden. Bspw. behaupteten BUSHMAN/ANDERSON 2001 u.a., dass der im 373 374 375 376 377 378 379 BUSHMAN/ROTHSTEIN/ANDERSON 2010, S.185. Vgl. ANDERSON/SHIBUYA/IHORI et al. 2010, S.170. Auch im Rahmen sog. Risikogruppenansätze wird argumentiert, dass das Risiko mediengewaltinduzierter Aggressionen für das Gros der Rezipienten irrelevant ist, aber für bereits ggü. aggressivem Verhalten dispositionierte Rezipienten (insb. im Lichte der Lerntheorie) i.S.e. Aggressionssteigerung relevant sein könnte (vgl. BOHRMANN 1997, S.185; KUNCZIK 1998, S.172/273ff.; FUNK/HAGAN/SCHIMMING et al. 2002, S.142; GENTILE/ANDERSON 2003, S.145; KUNCZIK/ZIPFEL 2006, S.320ff. und FERGUSON 2007b, S.314f.); z.B. argumentiert KUNCZIK 2000, "dass eine im Schnitt recht schwache Beziehung für alle Probanden eines Samples für einige Probanden bzw. Subpopulationen eine durchaus starke Beziehung bedeuten kann." (S.30) Bis dato sind das aber nur Spekulationen: Ungeachtet der generellen Defizite der Mediengewaltwirkungsforschung wurde weder die Mediengewaltwirkung auf evtl. Risikogruppen systematisch analysiert, noch sind die diesbzgl. Resultate kohärent (vgl. FERGUSON/OLSON 2013). Auch ist insg. kaum oder gar nicht wahrscheinlich, dass die insg. (relativierbar) kleinen Effekte für einige (nicht pathologische) Probanden bzw. Subpopulationen essentiell größere, resp. gar große Effekte sein könnten. Vgl. FRINDTE/OBWEXER 2003. Vgl. FERGUSON/KILBURN 2010, S.177. Vgl. SLATER/HENRY/SWAIM/ANDERSON 2003; GENTILE/WALSH/ELLISON/FOX/CAMERON 2004; KRAHÈ/ MÖLLER 2004; WILLIAMS/SKORIC 2005; MÖLLER 2006; SALISCH/OPPL/KRISTEN 2007; ANDERSON/ SAKAMOTO/GENTILE et al. 2008; MÖLLER/KRAHÈ 2009; HOPF/HUBER/WEIß 2008; KRAHÈ/MÖLLER 2010; STAUDE-MÜLLER 2010; SALISCH/ VOGELSANG/KRISTEN et al. 2011 und WILLOUGHBY/ADACHI/GOOD 2011. Vgl. KUNCZIK/ZIPFEL 2004, S.179. Vgl. FERGUSON 2011 und FERGUSON/MIGUEL/GARZA et al. 2011. 78 Rahmen der Mediengewaltwirkungsforschung demonstrierte Zusammenhang zwischen der Mediengewaltexposition der Probanden und ihrem aggressivem Verhalten so groß wie oder gar noch größer als der zwischen (aktivem) Rauchen und Lungenkrebs seien. Eine besonders virulente Analogie,380 die aber bereits FERGUSON/KILBURN 2009 dekonstruieren konnten: By the most liberal estimates available (r2 = .02 compared with r2 = .16 for smoking/lung cancer), the effects seen for smoking and lung cancer at are least [sic] 8-times stronger than for media violence exposure. By using the more conservative figures of r = .9 for smoking and lung cancer and r = .08 for media violence exposure, that number is closer to 135-times stronger. To put this in context for violent behavior, the effect size for other variables related to violence include genetics (r = .75), personal selfcontrol and criminal opportunity (r = .58), poverty, (r = .25), and exposure to childhood physical abuse (r = .25). […] Bushman and Anderson calculate the effect size for smoking and lung cancer as approximately r = .4 on the basis of binomial effect size display-related effect size calculations. These types of calculation are controversial, because some authors argue that they grossly underestimate effect sizes. [...] Bushman and Anderson also calculate effect sizes r for other medical effects such as passive smoking and lung cancer, condom use and HIV infections, asbestos exposure and laryngeal cancer, [...] all of which they calculate as less than the effects [...] for media violence. Unfortunately they fail to make clear that they are attempting to convert odds ratios and relative risks into Pearson r effect sizes, which is considered invalid.381 A related issue is that comparing psychological research to clinical research may be problematic because of concerns about the validity of outcome data. To the extent that clinical research uses mortality or morbidity as outcome (eg, smoking research), few problems with the validity of the outcome are apparent. [...] aggression measures used in media violence research have historically been criticized for validity problems associated with generalizing effects to real-world violence.382 Bushman and Anderson’s figure of r = .4 would suggest that 16% of the variance in lung cancer can be attributed to smoking; however, the American Cancer Society places this figure at 87%, closer to the calculations of Block and Crain of an effect size of approximately r = .9. In comparing media violence effects with those of smoking and lung cancer, Bushman and Anderson […] use an effect size for media violence research calculated by Paik and Comstock of r = .31 for media violence and aggression. [...] there are several apparent problems with the use of this statistic. [...] no other metaanalysis of media violence effects finds effects this large. It is unknown why Bushman and Anderson ignore their own lower effect size results in favor of that of Paik and Comstock. Because Paik and Comstock appear not to have weighted the effect sizes in their analysis according to sample size, it is likely that their result is inflated; they also noted that the effect size results were highly dependent on the type of measure used. Higher effects were found for "proxy" measures of aggression and much smaller results for actual physical aggression and violent crime. The effect size for media violence on violent crime was a much lower r = .1. This observation relates back to the observation that the validity of aggression measures is important to consider when measuring the effect size of media violence research. Thus the comparison between media effects and smoking research appears to have been grossly over inflated, possibly because of ideological factors.383 Dennoch ist die Analogie ein populärer moderner Mythos diverser Medienkritiker,384 der nicht nur eine akute Gefahrensituation suggeriert, die prinzipiell eine legislatorische Intervention verlangt, sondern u.U, auch gleichermaßen alarmierende, wie konspirative Konnotationen hervorrufen soll. Bspw. behaupteten u.a. GROSSMAN/DEGAETANO 2002: "Wie bei Tabak und industrieller Umweltverschmutzung befasst sich die Gewaltindustrie systematisch mit einer verfälschten Darstellung der Auswirkungen ihrer Erzeugnisse."385 I.d.S. wird auch oftmals behauptet, dass (alle) Studien, die konträre oder gar keine negativen Effekte finden können, wie auch bspw. Studien, die die evidenten (endemischen) Defizite der Mediengewaltwirkungsforschung kritisieren, von einer "Gewaltindustrie" gekauft seien,386 wie das ähnlich z.B. auch im Rahmen der "Abwehrschlachten"387 der Zigarettenindustrie in den 1960er und ’70ern z.T. der 380 381 382 383 384 385 386 387 Bzgl. ähnlicher Analogien s. auch ANDERSON/BERKOWITZ/DONNERSTEIN et al. 2003; SPITZER 2005b, S.271f.; SPITZER 2006b und FULD/MULLIGAN/ALTMANN et al. 2009, S.1497. Vgl. BLOCK/CRAIN 2007 und FERGUSON 2009, S.113. Diesbzgl. a.A. sind aber bspw. (nicht überraschend) BUSHMAN/ ANDERSON 2007, wie auch BONETT 2007. Vgl. KUNCZIK 2005, S.41 und FERGUSON 2009, S.113/117f.. FERGUSON/KILBURN 2009, S.762; vgl. FERGUSON 2002, S.446; BLOCK/CRAIN 2007; FERGUSON 2009, S.112 und FERGUSON 2010, S.74. Vgl. BUSHMAN/HUESMANN 2001; LUKESCH/BAUER/EISENHAUER et al. 2004; SPITZER 2005a, S.35 und SPITZER 2006b. GROSSMAN/DEGAETANO 2002, S.14. Vgl. WEIß 1997, S.96; GROSSMAN/DEGAETANO 2002, S.14/36; LUKESCH 2002b; LUKESCH 2005, S.76; ANDERSON 2004, S.115; SPITZER 2005, S.256 und SCHIFFER 2008. Natürlich dient das auch einer Selbstinszenierung; ungewollt humoresk ist bspw., dass sich Christian PFEIFFER, Direktor des KFN und einer der berüchtigsten deutschen Mediengewaltkritiker der letzten Jahre – der natürlich auch an den skizzierten Mythos glaubt (vgl. BT-Wortprotokoll Nr. 16/10 d. UA Neue Medien, S.8) – selbst in einer ähnlichen Rolle wie die ersten Wissenschaftler sieht, "die behauptet haben, dass Rauchen gefährlich sei. Die mussten anfangs auch Spießruten laufen, wurden von Kollegen und Medien angegriffen und setzten sich letztlich durch. Das wird hier ganz ähnlich laufen. Und ich bin mir da so sicher, weil wir nicht Meinungen, sondern Erkenntnisse produzieren – gut gemachte Wissenschaft setzt sich durch." (zitiert in: HERDE/SCHULTES 2008) IMBUSCH 2007. 79 Fall war. Letztlich dürften kleine Korrelationskoeffizienten im Rahmen der Mediengewaltwirkungsforschung aber tatsächlich auch nur eine kleine, ggf. relativierbare praktische Relevanz indizieren.388 Ungeachtet dessen indizieren selbst mittlere oder gar starke Korrelationskoeffizienten noch nicht automatisch auch die substanzielle Relevanz eines Zusammenhangs zwischen Mediengewaltexpositionen einerseits und z.B. einer Erregung, aggressivem Verhalten, aggressiven Gedanken und Emotionen, wie auch einer Desensibilisierung andererseits. Für Korrelationsstudien wurde bereits die Drittvariablenproblematik thematisiert, wie auch die der offenen Frage der Wirkrichtung. Aber auch im Rahmen von Experimentalstudien sind die Resultate nicht immer eindeutig interpretierbar, regelmäßig fehlen nämlich selbst Baselinemessungen der abhängigen Variablen (i.d.R. unbegründet, z.T. werden aber – außer ggü. Erregungseffekten – die reaktiven Effekte moniert, die die Messungen u.U. provozieren),389 so dass evtl. Unterschiede zwischen der Experimental- und der Kontrollgruppe am Ende eines Experiments bspw. auch nur das Resultat der bereits a priori signifikanten Unterschiede zwischen den beiden Gruppen u./o. auch ggf. des Umstands sein könnten, dass die nicht violenten Computerspiele Aggressionen, aggressive Kognitionen und Emotionen, wie auch die allg. Erregungen der Probanden (intensiver) inhibieren und ggü. Gewaltdarstellungen (intensiver) sensibilisieren als violente Computerspiele.390 I.d.S. konnten bspw. VALADEZ/FERGUSON 2012 demonstrieren, dass die (mittels der SHS) kontrolliere Feindseligkeit der Probanden der Experimentalgruppe nach dem 45-minütigen Spielen größer (M = 74.3, SD = 23.0) als die der Kontrollgruppe (M = 66.4, SD = 7.81) war, aber auch, dass die Feindseligkeit ersterer vor dem Spielen geringer (M = 80.0, SD = 23.1) als die letzterer (M = 91.6, SD = 20.4) war und sich insg. infolge des Spielens ungeachtet der Spielkonditionen reduzierte (ungeachtet dessen, dass die SHS nur einen Wert zwischen 35 und 175 annehmen kann und die Unterschiede zwischen den Gruppen zwar statistisch signifikant sind, aber insg. keiner der ermittelten Werte eine problematische Feindseligkeit indiziert): "It may be that previous experimental results, failing to include pre-post designs, mistakenly ascribed differentials in a reduction in hostility to a hostility increase."391 Aber selbst insofern demonstriert werden würde, dass Gewaltdarstellungen ggü. der Baseline u./o. der Kontrollgruppe tatsächlich das aggressive Verhalten, die aggressiven Gedanken und Emotionen, wie auch die Erregung der Probanden erhöhen und sie affektiv, wie kognitiv desensibilisieren, fehlten einerseits größtenteils nach wie vor (klinische) Schwellenwerte, die für die theoretischen und praktischen Bewertungen der Befunde notwendig wären, so dass pathologische Wirkungen auch erst gar nicht identifiziert werden könnten.392 Andererseits fehlten natürlich auch generell solche Relationswerte, die eine besonders problematische Wirkung violenter Computerspiele ggü. anderen Aktivitäten wie Kampf- und Mannschaftssportarten oder dem Spielen von Brettspielen, wie auch ggü. Gewaltdarstellungen im Rahmen anderer Mediengattungen (bspw. Printmedien) demonstrieren könnten.393 388 389 390 391 392 393 Vgl. FERGUSON/DYCK 2012. Vgl. SESTIR/BARTHOLOW 2010, S.936f.. Vgl. BARLETT/BRANCH/RODEHEFFER et al. 2009, S.225. VALADEZ/FERGUSON 2012, S.615. Vgl. FERGUSON 2010, S.74f. und FERGUSON/DYCK 2012, S.322f.. Insofern dgl. überhaupt diesbzgl. relevant sein kann, indizieren aber bspw. auch die Unterschiede zwischen den absoluten Messwerten der Experimental- und Kontrollgruppen, resp. zwischen den Experimentalgruppen insg. keine besondere praktische Relevanz evtl. Mediengewaltwirkungen. Bspw. unterscheiden sich die Reaktionszeiten der Gruppen im Rahmen von lexikalischen Entscheidungstests, Lesegeschwindigkeitstests oder dem CRTT i.d.R. nur in ein paar bis ein paar hundert Millisekunden: ANDERSON/DILL 2000 konnten z.B. auch nur demonstrieren, dass die Probanden der Experimentalgruppe das weiße Rauschen im Rahmen eines CRTT ca. 2 % länger (M = 681 ms) als die der Kontrollgruppe (M = 665 ms) applizierten. Dieser absolute Unterschied von 16 ms – die Lidschlagdauer des menschlichen Auges dauert vergleichsweise durchschnittlich ca. 150 bis 250 ms (vgl. STERN/WALRATH/ GOLDSTEIN 1984) – indiziert vielmehr, dass die Probanden die Applikationstaste insg. nur schnellstmöglich drückten und die statistische Signifikanz des Unterschieds u.U. nur ein Resultat der Stichprobengröße (N = 210) war, ungeachtet des capitalizing on chance im Rahmen der Studie und des Umstandes, dass keiner der Probanden das Basisniveau des weißen Rauschens von 55 dB variierte und eine solche Lautstärke (im Lichte des Fehlens einer nicht aggressiven Reaktionsalternative) auch ungeachtet der fehlenden Validität des CRTT kaum eine oder besser gar keine aggressive Intention der Probanden demonstriert. Bzgl. einer Kritik speziell dieser Studie s. auch CUMBERBATCH 2004, S.31f.; FERGUSON 2007b, S.310; PORTER/STARCEVIC 2007, S.424 und FERGUSON 2010, S.73. Vgl. CUMBERBATCH 2004, S.29 und VENUS 2007, S.75ff.. 80 Im Lichte des ersten der letzten beiden Probleme ist aber die indifferente Problematisierung (nicht pathologischen) aggressiven Verhaltens als insg. destruktives Verhalten unangemessen, wie u.a. auch bereits FERGUSON 2010 (ggü. der diesbzgl. Prämisse des GAM) monierte: "[…] it is assumed that aggression has no adaptive function and is always pathological and undesirable. This would appear to be naive, and at best is an assumption. In moderate doses, aggression may very well be adaptive, guiding individuals toward many behaviors approved of by society including standing up for one’s beliefs, assertiveness, defending others in need, careers in law enforcement, the military, business, legal affairs, and so forth, sporting activities, political involvement, debate and discourse indeed including scientific debate […]. Particularly as most video game research uses individuals who may be expected to be below average in aggression, such as college students394 or healthy children, we should be wary of regression to the mean effects. In the absence of clinical cut-offs aggression scores remain difficult to interpret."395 Dgl. gilt insb. auch für eine Problematisierung affektiver Desensibilisierung, denn gem. BÖSCHE/GESERICH 2007 ist es zumindest für z.B. professionelle Helfer wie Polizisten vorteilhaft, "wenn sie nicht panikartig auf die Begegnung mit Gewaltopfern reagieren und gelassen und mit 'ruhigem Kopf' in aggressiven Situationen agieren können."396 Für die theoretischen und praktischen Bewertungen der Befunde ist im Rahmen von Experimentalstudien u.U. letztlich auch die Frage nach der zeitlichen Konsistenz der Mediengewaltwirkungen relevant. Ungeachtet dessen, dass Experimente naturgemäß nur kurzfristige Wirkungen mehr oder weniger unmittelbar nach dem Spielen der violenten Spiele messen können, dieselben aber oftmals unzulässigerweise als Belege langfristiger Wirkungen interpretiert werden, haben bis dato noch kaum Studien die Kurzfristigkeit der Wirkungen quantifiziert. Erst BARLETT/BRANCH/RODEHEFFER et al. 2009 kontrollieren im Rahmen eines ersten Experiments die aggressiven Gedanken der Probanden (per Wortergänzungstest), wie die aggressiven Emotionen (per SHS) und die Herzfrequenz derselben vor dem 15-minütigen Spielen eines violenten (MORTAL KOMBAT: DEADLY ALLIANCE) oder nicht violenten Spiels (HARD HITTER TENNIS), wie auch entweder unmittelbar nach dem Spielen, nach 4 oder nach 9 Minuten: "Results indicated that those who played a violent video game had a significant increase in aggressive feelings, aggressive thoughts, physiological arousal […] over baseline compared with those who played a nonviolent game. Also, the time delay analyses revealed the short-term increases in aggressive thoughts and aggressive feelings last less than 4 min, whereas heart rate after violent video game play may last more than 4 but less than 9 min."397 Im Rahmen eines zweiten Experiments sollten die Probanden entweder unmittelbar nach dem Spielen des violenten Spiels, nach 5 oder nach 10 Minuten das HSP absolvieren: "Results showed a significant main effect for delay condition […]. Bonferroni corrected pairwise comparisons showed that those in the 0 min condition […] and the 5 min condition […] had significantly […] higher scores than those in the 10 min condition […]."398 Auch SESTIR/ BARTHOLOW 2010 kontrollierten einerseits im Rahmen eines ersten Experiments die aggressiven Gedanken der Probanden (per Wortergänzungstest), wie die aggressiven Emotionen (per SHS) derselben entweder unmittelbar oder 15 Minuten nach dem 30minütigen Spielen eines von zwei violenten (QUAKE III ARENA; UNREAL TOURNAMENT) oder nicht violenten Spielen (ZUMA; THE NEXT TETRIS), wie auch andererseits in einem mehr oder weniger identischen zweiten Experiment das aggressive Verhalten der Probanden (per CRTT): 394 395 396 397 398 Tatsächlich basieren die Befunde über die vermeintlich generellen Wirkungen von Mediengewaltdarstellungen größtenteils nur auf Gelegenheitsstichproben von Studenten und spezieller von Psychologiestudenten (vgl. OLSON 2004, S.147), die aber für solche Aussagen nicht repräsentativ sind (vgl. HENRICH/HEINE/NORENZAYAN 2010) und regelmäßiger auch einen Verdacht oder gar ein konkretes Wissen über den Sinn und Zweck der Messungen, Befragungen u./o. Experimente im Rahmen der Mediengewaltwirkungsforschung haben dürften, so dass sie sich als Probanden für die diesbzgl. Studien ggf. disqualifizieren (vgl. CUMBERBATCH 2004, S.31f.); die Kontrolle evtl. Verdachtsmomente studierter, wie auch nicht studierter Probanden ist aber nach wie vor insg. eine Ausnahme, so dass ein Gros der Studien und infolge dessen der Forschungsstand insg. auch i.d.S. systematisch verzerrt sein könnte. FERGUSON 2010, S.74; vgl. GUGEL 1983, S.12; ROGGE 1999, S.142f.; FERGUSON 2008a, S.4; FERGUSON/BEAVER 2009, S.286f. und Vgl. FERGUSON/DYCK 2012, S.322f.. Vgl. BÖSCHE/GESERICH 2007, S.57. BARLETT/BRANCH/RODEHEFFER et al. 2009, S.232. BARLETT/BRANCH/RODEHEFFER et al. 2009, S.233. 81 When outcomes were assessed immediately following game play, participants who had played violent games displayed increased accessibility of aggressive thoughts and increased hostile affect relative to participants who had played a nonviolent game […]. [...] when assessment was delayed by 15 min, game effects were nonexistent. […] delaying assessment led to significant decreases in aggressive outcomes in the violent game condition and significant increases in the nonviolent game condition. […] As with measures of aggressive cognition and hostile affect […], assessment of aggressive behavior immediately following game play showed the typical violent video game effect, with significantly more aggression displayed by those who played a violent compared to a nonviolent game […]. When assessment was delayed 15 min […] this difference in aggression disappeared. Most importantly, whereas the delay significantly changed aggression levels in the predicted directions for both game-play conditions, […] aggression levels in the no-game control condition were not affected by the delay. […] The fact that responses in the two gameplay conditions did not differ significantly from responses in the control condition further suggests that interpretation of the violent game effect depends on the choice of a comparison group.399 Insofern relativiert auch das die praktische Relevanz der Befunde der Computerspielgewaltwirkungsforschung, denn selbst gem. dem Fall, dass sich die Wahrscheinlichkeit aggressiven Verhaltens der Spieler tatsächlich infolge des Spielens violenter Spiele erhöhte, wäre dgl. nur sehr kurzfristig der Fall. Auch wurden bereits negative Zusammenhänge zwischen der Spielzeit violenter Computerspiele und z.B. der Aggressivität und dem aggressiven Verhalten der Probanden statistisch demonstriert.400 Ähnliches demonstrierten KRCMAR/LACHLAN 2009 aber auch experimentell, die u.a. die physische Aggressivität (per BPAQ), die aggressiven Kognitionen (per Wortergänzungstest) und Emotionen (per SHS), wie auch die Erregung (per Selbstreport) der Probanden einer gar nicht erst spielenden Kontrollgruppe (als Baseline) und – nach dem Spielen – dgl. der Probanden der vier Experimentalgruppen kontrollierten, die entweder für 10, 15, 20 oder 30 Minuten ein violentes Spiel (MAX PAYNE) spielen sollten: Die Autoren konnten einen krummlinigen Zusammenhang zwischen der Spielzeit einerseits und der physischen Aggressivität, den aggressiven Kognitionen und auch der Erregung andererseits identifizieren; d.h. dass die Experimentalgruppen im Vergleich zur Kontrollgruppe diesbzgl. zwar insg. signifikant höhere Werte hatten, aber auch, dass die Werte der nur für 10 Minuten spielenden Gruppe insg. am höchsten und auch noch signifikant höher als die der für 15, 20 und 30 Minuten spielenden Gruppen waren (resp. dass je länger die Spielzeit war, desto niedriger die Werte wurden). Die Autoren konnten aber weder zwischen der Kontroll- und den Experimentalgruppen, noch innerhalb letzterer signifikante Unterschiede für die aggressiven Emotionen der Probanden identifizieren. Im Lichte dessen, dass die Spieler selbst aber außerhalb des Labors violente Computerspiele (im Rahmen einzelner Sitzungen) tendenziell länger spielen als nur 10 oder gar 399 400 Vgl. SESTIR/BARTHOLOW 2010, S.936ff.. Langfristigere Wirkungen wollen aber BUSHMAN/GIBSON 2010 demonstriert haben, die eine Hälfte der eines von drei violenten Spielen (MORTAL KOMBAT VS. DC UNIVERSE; RESISTANCE: FALL OF MAN; RESIDENT EVIL 5) für 20 Minuten spielenden Probanden der Experimentalgruppe und eine Hälfte der eines von dreien nicht violenten Spielen (GUITAR HERO; GRAN TURISMO 5; SHAUN WHITE SNOWBOARDING) für dieselbe Zeit spielenden Probanden der Kontrollgruppe instruierten, über das Spiel zu ruminieren: "'In the next 24 hours, think about your play of the game, and try to identify ways your game play could improve when you play again.' On returning to the lab the following day, participants were given 3 min to list what they thought about in the past 24 hr. […] To evaluate the rumination manipulation, two independent coders computed the percentage of words participants listed about the video game they had played […]. As expected […] participants in the rumination condition thought more about the video game than did those in the control condition (M = 56%, SD = 42.7, and M = 37%, SD = 35.7, respectively) […]. Thus, the rumination manipulation was effective." (S.30) Ungeachtet des tatsächlich aber fragwürdigen Erfolgs der Instruktion sollten die Probanden infolge auch einen CRTT absolvieren: Die Probanden der Experimentalgruppen waren insg. zwar statistisch signifikant (vermeintlich) aggressiver als die der Kontrollgruppen, die Kontrolle des Probandengeschlechts demonstrierte aber bereits Geschlechtereffekte zuungunsten der Männer; d.h. einerseits, dass die männlichen Probanden insg. aggressiver waren als die weiblichen Probanden und andererseits, dass einzig die männlichen Probanden der Experimentalgruppen aggressiver waren als die männlichen Probanden der Kontrollgruppen, dass aber die weiblichen Probanden der Experimentalgruppen nicht aggressiver waren als die weiblichen Probanden der Kontrollgruppen. Kontrollierten die Autoren auch evtl. Ruminationseffekte, waren gar nur noch die ruminierenden Männer der Experimentalgruppe aggressiver als die nicht ruminierenden Männer derselben Gruppe, wie auch als die Männer der Kontrollgruppe insg.; tatsächlich hatten aber die nicht ruminierenden Männer der Experimentalgruppe die kleinsten Aggressionswerte aller Männer (ein Befund, der die regulären Befunde von Brad J. BUSHMAN et al. im Rahmen des CRTT zwar prinzipiell konterkariert, den die Autoren aber – nicht überraschend – ignorieren). Ungeachtet der nicht hinreichenden Operationalisierungen der unabhängigen und abhängigen Variablen, wie auch dessen, dass die Autoren die Korrelationskoeffizienten erst gar nicht kalkurierten, interpretierten sie die Befunde nicht nur als Beleg für eine auch längerfristig aggressionsinduzierende Wirkung von violenten Computerspielen auf (über die Spiele ruminierende) Männer, sondern resümieren gar (ohne dass dgl. auch analysiert worden wäre): "Rumination keeps aggressive thoughts, feelings, and behavioral tendencies active in semantic memory, as predicted by cognitive neoassociation theory […]." (S.31) Ein Paradedebeispiel für das im Rahmen der Mediengewaltwirkungsforschung ubiquitäre Problem der Überinterpretation. Vgl. SHERRY 2001, S.424f. und SHERRY 2007. 82 30 Minuten, relativieren auch die skizzierten Befunde die praktische Relevanz evtl. Computerspielgewaltwirkungen. 9. Zusammenfassung: Aggressiv durch Mediengewalt? Summa summarum indiziert der Forschungsstand prinzipiell keine aggressionsfördernden Wirkungen, kein besonderes Gefährdungsmoment von Gewaltdarstellungen in Computerspielen ggü. Gewaltdarstellungen in anderen Medien, wie auch ggü. nicht violenten Medienhalten. Selbst gem. dem Fall, dass man der Mediengewaltwirkungsforschung eine theoretisch, wie auch methodisch bereits hinreichende Untersuchung bspw. der aggressionsfördernden Wirkungen violenter Computerspiele konzedierte, könnte sie offensichtlich nur marginale und praktisch insg. irrelevante Wirkungspotenziale derselben demonstrieren. Tatsächlich wurde die Frage nach den evtl. schädlichen Wirkungen gewaltdarstellender Computerspiele im Lichte der skizzierten (endemischen) Forschungsprobleme der Mediengewaltwirkungsforschung aber auch – diplomatisch formuliert – noch kaum oder besser gar nicht angemessen untersucht (oder auch nur formuliert), ungeachtet eines "Forschungsaufwands von industriellem Außmaß"401 innerhalb der letzten fünf Jahrzehnte und hunderten von Mediengewaltwirkungsstudien, wie auch bereits CUMBERBATCH 2004 monierte: Any cursory look at the research field will note that the same problems and the same reservations apply to research today as thirty years ago. […] Although most studies would seem a quite pointless exercise, an additional complaint must be that research is very expensive and wastes thousands of hours of participants’ time. The opportunity cost alone for more interesting studies is considerable. It is far from easy to detect any obvious improvement in research designs. Measures have changed but perhaps less often to achieve validity and more to help ensure significant results. […] The real puzzle is that anyone looking at the research evidence in this field could draw any conclusions about the pattern, let alone argue with such confidence and even passion that it demonstrates the harm of violence on television, in film and in video games. […] If one conclusion is possible, it is that the jury is not still out. It’s never been in. Media violence has been subjected to lynch mob mentality with almost any evidence used to prove guilt.402 Infolge dessen plädieren Autoren wie SHERRY 2007 bereits (mehr oder weniger) für die Abschaffung der Mediengewaltwirkungsforschung.403 Wie bereits diverse Kritiker der diesbzgl. Forschung zu recht argumentieren, sind für die evtl. Wirkungen medialer Gewaltdarstellungen – wie für Medienwirkungen insg. – tendenziell die individuellen Interpretationen und Nutzungsmotive der Rezipienten relevanter als objektive Charakteristika der Medieninhalte selbst.404 I.d.S. ignoriert bspw. GOLDSTEIN 2005 nicht, dass Medieninhalte insg. (also auch Gewaltdarstellungen) natürlich auch das Verhalten, die Kognitionen und Emotionen, wie auch das Erregungsniveau der Rezipienten beeinflussen können (und dgl. ja u.U. auch ein Nutzungsmotiv derselben ist), präzisiert aber, "there is no evidence that media shape behaviour in ways that override a person’s own desires and motivations. Can a violent video game make a person violent? It can if he wants it to. […] people may […] have other goals in mind when they play violent video games, including trying to improve their score, distraction, emotional and physiological self-regulation, and to have common experiences to share with friends. The media may affect some people, but not necessarily in ways that media violence researchers typically fear. […] There is no evidence that media influence people in ways that go against their grain."405 Infolge dessen wäre zwar bspw. plausibel, dass Medien-, resp. Mediengewaltdarstellungen ggf. den Modus Operandi des aggressiven Verhaltens der Rezipienten modellieren, nicht aber, dass sie das aggressive Verhalten derselben auch tatsächlich evozieren.406 Insofern ist letztlich auch 401 402 403 404 405 406 EISERMAN 2001, S.234. CUMBERBATCH 2004, S.32ff.; vgl. GAUNTLETT 1998, S.1 und GOODSON/PEARSON/GAVON 2010, S.9. Vgl. SHERRY 2007, S.244. Vgl. FRITZ 1995, S.16ff.; SCHABEDOTH 1995, S.395; KLEBER 2000, S.8; DRINCK/EHRENSPECK/HACKENBERG et al. 2001, S.5; SHIBUYA/SAKAMOTO/IHORI et al. 2008 und MIKOS 2009, S.70. GOLDSTEIN 2005, S.350. Vgl. DOUGLAS/OLSHAKER 1999, S.82-87; FISCHOFF 1999 und POOLE 2007, S.359f.. Erst FERGUSON/RUEDA/CRUZ et al. 2008 formulierten insb. in Orientierung an aktuelleren, biologischen Aggressionsbefunden ein diathetisches, selektionshypothetisches Katalysatormodell der Medien-, resp. Mediengewaltwirkungspotenziale in direkter Konkurrenz zum GAM: "According to this model, the development of a violence-prone personality occurs through a largely biological pathway in which genetic predisposition (particularly in males) leads directly to an aggressive child temperament and aggressive adult 83 die im Folgenden noch dargestellte Auffassung des deutschen Gesetzgebers, dass Gewaltdarstellungen u.a. aggressionsfördernd zu wirken vermögen, eine offensichtlich fehlsame, bereits theoretisch (vernünftigerweise) auszuschließende Auffassung. Wie bereits einleitend kritisiert wurde, wird ungeachtet des tatsächlichen Forschungsstandes seitens eines Teils der Mediengewaltwirkungsforscher selbst kolportiert, dass die Forschung seit Jahrzehnten demonstriere, dass Mediengewaltdarstellungen u.a. direkt u./o. indirekt die Wahrscheinlichkeit kurz- und langfristig aggressiven oder gar gewalttätigen Verhaltens erhöhe. Bereits FERGUSON 2010 kritisierte, dass "[…] the causal hypothesis increasingly has been presented not only as one side of a reasonable debate, or a theory with some support, but rather as a fact […] and a public health crisis on par with smoking and lung cancer […], or even a scientific law […]. Such rhetoric is [...] quite rare in the social sciences, due to the limitations of social science research […], and even uncommon in the 'hard' sciences. This rhetoric appears to have [...] increased in direct contrast to […] more frequent criticisms of media violent research […]. Given the rarity of such rhetoric in the social sciences, concerns have been raised that psychology’s focus on media violence effects as 'truth' may have less in common with the objective sciences of physics, chemistry, and biology, and more in common with moral advocacy crusades such as temperance and antipornography crusades […]."407 Oftmals sind die entsprechenden Forscher offenbar auch nicht an einem kritischen Wissenschaftsdiskurs, sondern vielmehr an einem homogenen, ja hermetischen (und i.d.S. nicht mehr wissenschaftlichen) Diskurs ohne die Beteiligung von Kritikern interessiert und dass umso mehr, je mehr die vermeintlichen Belege einer aggressionsfördernden Wirkung gewaltdarstellender Computerspiele und die Forschung insg. in Frage gestellt werden. Immerhin geht es nicht nur um die Preservierung einer wissenschaftlichen, ggf. auch moralischen408 Deutungshoheit innerhalb des entsprechenden Wissenschaftsdiskurses, wie auch in der Öffentlichkeit,409 sondern z.T. um nichts weniger als die eigene wissenschaftliche Karriere,410 die oftmals (insb.) auch auf Jahren und Jahrzehnten entsprechender Wirkungsforschung basiert. Im Rahmen dessen warnen bereits FERGUSON/DYCK 2012 vor einem Phänomen, das sie als "Advocacy Effect" bezeichnen: "[...] once theories are proposed there is a risk that their proponents become emotionally attached to them and unable to consider them objectively. This is [...] the [...] paradigm change, in which proponents of a preexisting theoretical paradigm defend the paradigm vigorously, even in the face of disconfirmatory data. [...] scholars begin to invest their energy into proving true a particular theory rather than falsifying it, which would be the proper conduct of science. Once scholars have become invested (whether emotionally, 407 408 409 410 personality through maturation. Environmental factors moderate the causal influence of biology in this model, particularly through the influence of family violence. This model suggests that individuals who have an aggressive personality are more likely to engage in violent behavior during times of environmental strain. [...] although the environment does not cause violence propensity, times of stress may act as catalysts for violent acts for an individual already prone to them. Such environmental strains could include financial and social problems caused by divorce, legal troubles, and similar events. [...] although the basic propensity to respond to events violently is brought about primarily through biological factors and family violence, the environment can supply the immediate motive for violence. Violent behaviors would then be expected to occur more frequently at times during which environmental motives are more plentiful. Individuals with higher violence proneness are likely to require less environmental strain to engage in violent behavior, although the possibility exists that a considerable proportion of individuals may engage in violent behavior under significant environmental strain (e.g., war-like conditions). The role of media violence (including video games) in such a model is not causal. [...] violent video games may act as stylistic catalysts. When an individual high in violence proneness decides to act violently, this person may then model violence that he or she has seen in the media. [...] the style or form of violence may be socially modeled but not the desire to act violently itself. Thus, an individual may model violent behaviors he or she has witnessed in a video game, but had that video game been removed from that individual’s sphere of modeling opportunities, the violence would still occur in another form. [...] video game violence does not cause violent behavior but may have an impact on its form. To the extent that violent behavior is influenced by social learning in the catalyst model, the individual is an 'active' modeler. This means that the individual, predisposed (or not) to violent behavior because of genetic factors, begins to actively seek out modeling opportunities that are consistent with an innate motivational system. This model predicts that an individual predisposed to violence would be more prone to model violence even when presented with contrasting (violent and nonviolent) modeling opportunities, whereas an individual not so predisposed would be prone to actively seek out nonviolent models." (S.314f.) Erste Befunde von Christopher J. FERGUSON et al. selbst (z.B. FERGUSON/IVORY/BEAVER 2013) oder bspw. SURETTE 2012 sprechen bereits vielmehr für einen solchen Katalysatoreffekt anstatt für das Vorliegen der klassischeren Mediengewaltwirkungen. FERGUSON 2010, S.70 und vgl. FERGUSON/KILBURN 2009. Vgl. EISERMANN 2001. Vgl. BROSIUS/SCHWER 2008. Vgl. KUNCZIK 1994c, S.113 und ANDERSON/COLVIN 2008, S.135. 84 financially or through their reputations) in a particular theory, they risk slipping into functioning as advocates for their position rather than as objective scientists. [...] we suggest that the degree to which a theory in the social sciences is stated by its proponents with absolute conviction and claims of near universal support is inversely related to the quality of data available to actually support this theory. The more scholars make extreme claims in support of their theories, the more difficult to maintain an objective view once disconfirmatory information comes to light."411 Das kann natürlich die Kredibilität psychologischer Forschung per se gefährden.412 Ein paar medienkritischere Autoren suchen andere Wege als den der inhaltlichen Auseinandersetzung mit der Kritik an der Mediengewaltwirkungsforschung und führen regelrechte Abwehrschlachten (auch ad hominem), nicht ohne der Gegenseite selbst vorzuwerfen, dass sie einen Wissenschaftsstreit inszeniere.413 Bereits KUNCZIK 1975 monierte, dass sich die "Intoleranz der Argumentation" nicht nur in einer gewissen Apologetik zeige, "sondern zugleich Studien, die keine negativen Effekte belegen, als mehr oder weniger unwissenschaftlich abgekanzelt werden."414 Obligatorisch ist bspw. der Vorwurf, dass die Kritik an der Mediengewaltwirkungsforschung außerwissenschaftlich motiviert, ja korrumpiert sei.415 HUESMANN 2010 bspw. argumentierte, dass die Kritiker der Computerspielgewaltwirkungsforschung nicht zu einer solchen Kritik qualifiziert wären, "either because playing these games is an important part of their identity (e.g., Ferguson; Jenkins) or because they have been funded by the media industry (e.g., Freedman) […]."416 Bereits HUESMANN/TAYLOR 2003 stellten die Kompetenz von Kritikern in Frage, insofern sie selbst noch keine Mediengewaltwirkungsstudien vorgestellt hatten. Nach einer solchen Logik wäre aber bspw. auch eine Kritik der parawissenschaftlichen Ufologie nur seitens Ufologen selbst angemessen. I.d.S. auch ANDERSON/GENTILE 2008, die von den Kritikern u.a. einen Doktorgrad in einer probaten (empirischen) Wissenschaft und "multiple publications in top-ranked, peer-reviewed journals, based on original empirical data gathered to examine media violence effect"417 forderten. Solche Desiderate resultierten in einem der fragwürdigsten Autoritätsargumente der vergangenen Jahre, das im Folgenden dargestellt werden soll: Ausgangspunkt ist das kalifornische Assembly Bill 1179 vom 07.10.2005, das der US-amerikanische Bundesstaat basierend auf der Annahme verabschiedete, dass Gewalt darstellende Computerspiele u.a. aggressives oder gar gewalttätiges Verhalten von Kindern und Jugendlichen förderten und das u.a. auch ein strafbewehrtes Jugendverbot für solche Spiele formulierte.418 Infolge einer gemeinsamen Klage der Entertainment Software Association und der Interactive Entertainment Merchants Association vor dem Bundesbezirksgericht wurde das auf den 01.01.2006 terminierte Inkrafttreten des Gesetzes aber am 21.12.2005 per einstweiliger Anordnung untersagt und das Gesetz selbst im August 2007 endgültig zugunsten der Kläger derogiert, denn das Gesetz sei nicht hinreichend bestimmt, verstoße gegen den 1. Zusatzartikel zur Verfassung der Vereinigten Staaten und basiere auf unbelegten Wirkungsannahmen (dgl. war in der Vergangenheit bereits das Schicksal ähnlicher Gesetzesvorhaben anderer Bundesstaaten). Einen Monat später ging der republikanische Gouverneur Arnold SCHWARZENEGGER gegen die Entscheidung in Berufung, das Bundesberufungsgericht bestätigte aber das Urteil des Bezirksgerichts im Februar 2008. Daraufhin petitionierte Kalifornien im Mai 2009 erfolgreich vor dem Obersten Gerichtshof für eine neuerliche Überprüfung der Entscheidung des Berufungsgerichts (ein sog. Certiorari). Im Laufe des Verfahrens wurden dem Gericht zwei besondere Stellungnahmen (sog. amici curiae briefs) sowohl für als auch gegen die Annahme des Bundesstaates präsentiert, dass Gewalt darstellende Computerspiele u.a. aggressionsfördernd sein könnten: Die 128 Unterzeichner des sog. "Gruel Brief" vom 19.07.2010 (u.a. Craig A. ANDERSON; Douglas A. 411 412 413 414 415 416 417 418 FERGUSON/DYCK 2012, S.225f.. Vgl. HALL/DAY/HALL 2011 und FERGUSON/DYCK 2012, S.226. Vgl. HÄNSEL 2002, S.3 und SPITZER 2005b, S.273. KUNCZIK 1975, S.6 und vgl. KUNCZIK 1998, S.250. Bzgl. eines prägnanten Bsp. s. ANDERSON 2004, S.115. Vgl. PETER 1994, S.346. HUESMAN 2010, S.180. Vgl. ANDERSON/GENTILE 2008, S.287. Vgl. Cal. Civ. Code §§ 1746-1746.5. 85 GENTILE; Brad J. BUSHMAN; Akira SAKAMOTO; Ed DONNERSTEIN; L. Rowell HUESMANN; Barbara KRAHÈ; Ingrid MÖLLER) postulierten einen solchen Kausalnexus, den aber die 82 Unterzeichner des sog. "Millet Brief" vom 17.09.2010 (u.a. Martin BARKER; Wolfgang BÖSCHE; Kevin DURKIN; Christopher J. FERGUSON; Simon GOODSON; Tom GRIMES, John C. KILBURN; Cheryl K. OLSON; Sarah PEARSON; John L. SHERRY) – auch mittels der Dekonstruktion der Studien der konkurrierenden Amici Curiae (insb. der Verfasser der Stellungnahme) – negierten. Im Mai 2011 verfassten daraufhin mit SACKS/BUSHMAN/ ANDERSON 2011 zwei der 13 Autoren des "Gruel Brief" und ihre Koautorin ein Essay, in dem sie die Unterzeichner des "Millet Brief" diskreditierten und infolge dessen an das Gericht appellierten, die oppositionelle Stellungnahme zu ignorieren und zugunsten des Gesetzes zu votieren: The data for this Essay were obtained from PsycINFO database […]. We searched the literature to 2011. For each expert author or signatory to the scientific briefs, we searched for general articles on violence or aggression […]. The abstracts (and sometimes entire articles) were examined to verify relevance to violence or aggression. Publications were divided into three categories: (1) peer-reviewed journal articles, (2) book chapters or essays, and (3) books. We also searched for original empirical research on violence or aggression […]. In addition to searching for general publications on violence or aggression, we also searched for specific original empirical articles, rather than reviews of research conducted by others, on media violence. […]. The abstracts (and sometimes entire articles) were examined to determine whether research tested for a media violence effect […] on an outcome variable related to aggression or violence. […] Next, we determined whether the peer-reviewed journal was a top-tier journal. [...] Although there is no universally agreed-upon criteria for what constitutes a "top-tier journal," we used five-year impact factors from the ISI Web of Knowledge Journal Citation Report. Journals with a five-year impact factor of 2.5 or higher were defined as top-tier journals. Almost all top-tier psychology journals have impact factors of 2.5 or above. [...] on average, each article published in a top-tier journal was cited by 2-3 other researchers. […] the authors and signatories of the Gruel Brief have significantly more expertise on violence, aggression, and media effects than the signatories of the Millett [sic] Brief. The Gruel Brief authors have authored eighteen times as many publications on violence or aggression as the Millett [sic] Brief signatories, and the Gruel Brief‘s signatories have authored eight times as many publications. The differences are even greater for peer-reviewed articles reporting the results of original empirical research on violence or aggression. As compared to the Millet Brief signatories, the Gruel Brief authors have published over twenty-eight times as many and the Gruel Brief signatories have published over fourteen times as many articles. A comparison of violent media effects articles published in top-tier journals is particularly striking: the Gruel Brief authors have published over 338 times more articles, and its signatories have published over forty-eight times more articles than the Millett [sic] Brief signatories. Although the Millett [sic] Brief states that its signatories have "extensive experience with the research regarding the effects on individuals of media violence, including violence in video games," this assertion is wholly unsupported by their scholarly publication records. Of the eighty-two "expert" signatories to the Millett [sic] Brief, only 13% have published at least one article on media violence. At least two of these "experts" own or work for video game companies, and none of these experts specialize in violent media effects on children. [...] the Millet Brief signatories lack significant expertise on violence or aggression in general – only 17% have published at least one article on violence or aggression. [...] 100 % of the Gruel Brief authors and 60% of its signatories have published at least one article on violence or aggression, and each of the Gruel Brief authors and 37% percent of its signatories have published at least one article on media violence. Significant differences also exist for most non-peer-reviewed publications (e.g., book chapters, essays, books). [...] the Statement contained in the Appendix of the Gruel Brief was written and endorsed by the most recognized experts on violent media effects and violence generally. These experts concluded that violent video games cause cognitive and other harm to children and adolescents. Over one hundred additional researchers endorsed the Gruel Brief, many of whom specialize in violence, violent media, and the effects of media on children. [...] the signatories to the Millett [sic] Brief opposing the California law have minimal expertise conducting specific research on the effects of violent media or even research on aggression or violence more generally. [...] the Millet Brief signatories are relatively unqualified to offer "expert" opinions on the effects of violent video games on children.419 Ungeachtet der suboptimalen, d.h. nur einen Teil der tatsächlichen (im Fall von Constance STEINKUEHLER bspw. nur 9 von 49 themenrelevanten, kreuzbegutachteten) Publikationen der Unterzeichner des "Millett Brief" identifizierenden und insofern auch bereits die Befunde der Studie verzerrenden Suchmethoden der Autoren,420 wie auch des Problems einer generell niedrigeren Publikationmenge und -rate für qualitativ hochwertigere Studien infolge eines i.d.R. höheren Zeitaufwands für dieselben (und auch des bereits thematisierten Problems eines Publikationsbias), argumentieren die Autoren offensichtlich nicht mehr wissenschaftlich, sondern ausschl. ad numerum und ad verecundiam. Die Probleme sind selbstevident: Schlechte und methodisch problematische Studien, wie bspw. die der nicht überraschend als "top media- 419 420 SACKS/BUSHMAN/ANDERSON 2011. Vgl. HALL/DAY/HALL 2011 und FERGUSON/DYCK 2012, S.227. 86 effects researchers"421 idealisierten Autoren des Gruel Briefs (Craig A. ANDERSON, Brad J. BUSHMAN, Bruce D. BARTHOLOW. L. Rowell HUESMANN, Barbara KRAHÈ, Ingrid MÖLLER et al.), die größtenteils auch noch exemplarisch sind für die Probleme der Mediengewaltwirkungsforschung, werden in ihrer Aussagekraft nicht dadurch besser, dass sie en masse u./o. in "top-tier journals" publiziert werden (der Einflussfaktor der Fachzeitschriften indiziert natürlich auch keine höhere, resp. hinreichende Qualität der in denselben publizierten Artikel, wie die diesbzgl. Artikel der Autoren des Gruel Briefs selbst demonstrieren). Ohne dass die Studie selbst die inhaltliche, ggü. der Mediengewaltwirkungsforschung (und insb. auch den Studien der Autoren des Gruel Briefs) kritische Argumentation des Millet Briefs überhaupt thematisierte, kommentierte sie Koautor Brad J. BUSHMAN folgendermaßen: "It provides strong support for the argument that video game violence is indeed harmful."422 Ein kritikwürdiges Wissenschaftsverständnis, dass auch der Akzeptanz von Pseudowissenschaften u.ä. Vorschub leisten könnte, insofern nur hinreichend viele Pseudowissenschaftler genügend Artikel in vielzitierten Zeitschriften publizieren. Infolge dessen steht nicht die Kredibilität der Unterzeichner des "Millet Brief" zur Disposition, sondern die der drei Autoren des Essays. Letztlich verfingen aber weder die Argumente des "Gruel Brief", noch die des Essays und das Gericht entschied am 27.06. 2011, dass das Gesetz verfassungswidrig ist, u.a. auch, weil der Kläger keine empirischen Belege einer aggressionsfördernden Wirkung violenter Computerspiele präsentieren konnte; eine Grundsatzentscheidung, die deutsche Gerichte erst noch nachvollziehen müssen. 421 422 SACKS/BUSHMAN/ANDERSON 2011. Zitiert in: GRABMEIER 2011 und vgl. SACKS/BUSHMAN/ANDERSON 2011. 87 88 2. Teil: Indizierungen, Alterskennzeichnungen und das Gewaltdarstellungsverbot 89 90 10. Der staatliche Jugendmedienschutzauftrag und seine Grenzen Jugendschutz ist eine kulturelle Selbstverständlichkeit, aber kulturgeschichtlich ist die wohl auf das sechzehnte Jahrhundert zu datierende "Entdeckung der Kindheit"423 relativ neu. Erst 1762 markierte Jean-Jacques ROUSSEAU mit dem gesellschaftskritischen Erziehungsroman ÉMILE 424 und eines JugendOU DE L’ÉDUCATION den "Beginn moderner Erziehungsreflexion" 425 schutzes, der im Deutschland des neunzehnten Jahrhundert in den ersten allg. Jugendschutzgesetzen und 1900 in der sog. Lex Heinze, dem ersten deutschen Jugendmedienschutzgesetz kulminierte.426 Mit Inkrafttreten des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland wurde der Jugendschutz gar erstmals ein Verfassungsgut. Nach der seitdem h.M. konstituieren das elterliche Erziehungsrecht, resp. die -pflicht, das staatliche Wächteramt, das allg. Persönlichkeitsrecht und der Jugendschutz als Grundrechtschranke nach Art. 5 Abs. 2, Art. 11 Abs. 2 und Art. 13 Abs. 7 GG einen staatlichen Jugendschutzauftrag:427 Insb. das "Recht auf Personwerden"428 nach Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 2 Abs. 1 GG begründet nach Auffassung des BVerfG u.a. den staatlichen Auftrag, Kindern und Jugendlichen evtl. durch bestimmte Medieninhalte drohende, sozial-ethisch desorientierende Gefahren abzuwehren, "die […] zu erheblichen, schwer oder gar nicht korrigierbaren Fehlentwicklungen führen können."429 Kinder und Jugendliche sollen sich zu eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeiten entwickeln.430 Aber nach GOTTBERG 2002 ist es nicht die Aufgabe eines Jugendmedienschutzes, "für 'saubere' Medien im Sinne einer allgemeinen gesellschaftlichen Moral zu sorgen, vielmehr ist die Wirkung von Medien auf Kinder und Jugendliche, die geeignet ist, Einstellungen zu erzeugen, die verfassungsrechtlichen Grundwerten widersprechen, sein zentrales Anliegen."431 Nach Auffassung des BVerfG darf der Gesetzgeber im Rahmen seiner Einschätzungsprärogative ohne Verfassungsverstoß davon ausgehen, dass bestimmte Medieninhalte solche jugendgefährdende Wirkungen haben können und braucht seine legislatorischen Maßnahmen nicht vom wissenschaftlich-empirischen Nachweis abhängig machen, daß Medien überhaupt einen sozialethisch desorientierenden Einfluß auf Kinder und Jugendliche ausüben können. Das Gericht argumentierte bspw. für pornographische Darstellungen, dass die zur Vorbereitung des 4. Strafrechtsreformgesetzes (4. StrRG) vom 23.11.1973 durchgeführte wissenschaftliche Bestandsaufnahme gezeigt habe, "daß die Möglichkeit einer Jugendgefährdung durch Schriften zwar nicht erhärtet, trotz überwiegend in die Gegenrichtung weisender Stellungnahmen aber auch nicht ausgeschlossen werden kann. [...] In einer solchen wissenschaftlich ungeklärten Situation ist der Gesetzgeber befugt, die Gefahrenlagen und Risiken abzuschätzen und zu entscheiden, ob er Maßnahmen ergreifen will oder nicht [...]. [...] Den ihm zustehenden Entscheidungsraum hätte der Gesetzgeber daher nur dann verlassen, wenn eine Gefährdung Jugendlicher nach dem Stand der Wissenschaft vernünftigerweise auszuschließen wäre."432 Natürlich darf sich der Gesetzgeber aber nicht an offensichtlich fehlsamen Auffassungen u.ä. orientieren und muss in einer solchen (vermeintlich) ungeklärten Situation auch die weiteren Entwicklungen des Forschungsstandes beobachten und ggf. Nachbesserungen der getroffenen 423 424 425 426 427 428 429 430 431 432 Vgl. ARIÈS 2011, S.92-111. TENORTH 2005. Vgl. BOSSELMANN 1987, S.5f. und KOLFHAUS 1994, S.139. Vgl. HEINRITZ 1985; BOSSELMANN 1987, S.6; SEIM 1998, S.17; LIESCHING 2002, S.62 und TAUBERT 2004, S.26. Bzgl. der historischen Genese des dt. Jugendmedienschutzes seit Beginn des 20. Jahrhunderts s. LIESCHING 2002, S.4-63.. Vgl. BVerfGE 30, 336 (348); 77, 346 (356); 83, 130 (139f.); MEIROWITZ 1993, S.226f.; STEFEN 1998, S.236; MAST 1999, S.131; MERTEN 1999, S.233; ERDEMIR 2000, S.17; NEVERMANN 2002, S.145; NIKLES/ROLL/SPÜRCK et al. 2005, S.4/19/144; RETZKE 2006, S.42; STATH 2006, S.164; SCHULZ/DREYER 2007b, S.1 und SCHULZ/BRUNN/DREYER et al. 2007, S.74. SCHULZ/DREYER 2007b, S.2; vgl. BVerfGE 24, 119 (144); 57, 361 (383); 99, 145 (156ff.); MONSSEN-ENBERDING 1998, S.109; ERDEMIR 2004, S.V; RETZKE 2006, S.133f. und SCHULZ/BRUNN/DREYER et al. 2007, S.75. Vgl. BVerfGE 30, 336 (347). Vgl. BVerfGE 79, 51 (63); BVerwGE 77, 75 (82); PFEIFER 2003, S.68; RETZKE 2006, S.132-135; SCHULZ/BRUNN/ DREYER et al. 2007, S.74f. und KAPPENBERG 2008, S.50f.. GOTTBERG 2002, S.32 und vgl. SCHULZ/BRUNN/DREYER et al. 2007, S.84. BVerfGE 83, 130 (140ff.); vgl. BVerwGE 39, 197 (200); BOSSELMANN 1987, S.145; MEIROWITZ 1993, S.226f.; MERTEN 1999, S.234; ERDEMIR 2000, S.118; LIESCHING 2002, S.3; STATH 2006, S.37/182; SCHULZ/BRUNN/ DREYER et al. 2007, S.82/290; SCHULZ/DREYER 2007b, S.2 und DEGENHART 2008, S.54f.. 91 Maßnahmen vornehmen.433 Das Gericht argumentierte bereits 1986, dass für Gewaltdarstellungen überwiegend anerkannt sei, "dass sie aggressionsstimulierend zu wirken und die Hemmschwelle für aggressive und kriminelle Verhaltensweisen herabzusetzen vermögen, zumal wenn sie beim Betrachter auf bestimmte Prädispositionen treffen. Dargestellte Formen aggressiven Verhaltens können […] von Kindern […] gelernt und über einen längeren Zeitraum im Gedächtnis behalten werden. Darüber hinaus wird eine Abnahme der Sensibilität gegenüber Gewalttätigkeiten in der Realität für möglich gehalten und angenommen, dass die gehäufte Betrachtung von Gewaltszenen eine zunehmende Bereitschaft fördern kann, Gewalt als Mittel der Lösung von Konflikten zu akzeptieren."434 Nach dem Stand der Wissenschaft war und ist eine solche Wirkung medialer Gewaltdarstellungen aber vernünftigerweise auszuschließen. D.h. dass z.B. gewaltdarstellende Computerspiele für sich genommen offenbar nicht die Entwicklung von Kindern u./o. Jugendlichen oder ihre Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit gefährden können, indem sie z.B. direkt oder indirekt (hinreichend) aggressives Verhalten hervorrufen, resp. dass die ggf. aggressionssteigernden Wirkungen solcher Darstellungen relativierbar marginal und evtl. Aggressionssteigerungen (wie auch Desensibilisierungen) nicht per se negativ sind (und infolge dessen auch nicht generell inhibiert werden müssen). Insofern ist die skizzierte Mediengewaltwirkungshypothese des Gesetzgebers eine offensichtlich fehlsame Auffassung, so dass prohibitive Maßnahmen ggü. gewaltdarstellenden Medien nicht über die vermeintlich anomischen Wirkungen derselben o.ä. legitimiert werden können.435 Ungeachtet dessen ist das am 01.04.2003 in Kraft getretene Jugendschutzgesetz (JuSchG) – ein Konglomerat aus dem Gesetz über die Verbreitung jugendgefährdender Schriften und Medieninhalte (GjS) und dem Gesetz zum Schutze der Jugend in der Öffentlichkeit (JÖSchG) – ggü. Computerspielen ein essentiell bewahrpädagogisches Gesetz, das sich nach wie vor an solchen (kausalen) atavistischen Medienwirkungsmodellen orientiert. Ähnliches gilt auch für das strafrechtliche Gewaltdarstellungsverbot nach § 131 StGB. Im Folgenden soll das deutsche Jugendmedienschutzsystem ggü. gewaltdarstellenden (trägermedialen) Computerspielen analysiert werden, wie es das JuSchG auch i.V.m. dem strafrechtlichen Gewaltdarstellungsverbot konstituiert, d.h. die Maßnahme der Indizierung solcher Spiele durch die BPjM und das System der Alterskennzeichnung derselben durch die OLJB, wie auch das Gewaltdarstellungsverbot (das aber prinzipiell keine Jugendmedienschutznorm i.e.S. darstellt). Im Rahmen der Analyse interessieren primär Verfassungsfragen des Systems, wie evtl. Konflikte mit den Schranken und Freiheiten des Art. 5 GG, insb. dem Zensurverbot (Abs. 1 Satz 3) und der Kunstfreiheit (Abs. 3 Satz 1), aber auch mit dem allg. Bestimmtheitsgebot (Art. 103 Abs. 2 GG)436 und dem Verhältnismäßigkeitsprinzip.437 Eine absolute Grenze für Konzepte des ordnungsrechtlichen Jugendmedienschutzes erfolgt im Lichte der Wesensgehaltsgarantie (Art. 19 Abs. 2 GG) und der sog. Wechselwirkungslehre438 bspw. bereits aus den Kommunikationsgrundrechten (Art. 5 GG): Die gesetzlichen Jugendmedienschutzbestimungen dürfen nicht bewirken, dass auch Erwachsene völlig vom Bezug bspw. (vermeintlich) jugendgefährdender o.ä. Medien ausgeschlossen wären, der Gesetzgeber hätte andernfalls seine Regelungsbefugnis überschritten.439 Insofern wäre bspw. ein absolutes Verbot nur jugendgefährdender Medien verfassungswidrig. Auch dürfen Maßnahmen des Jugendmedienschutzes im Lichte des elterlichen Erziehungsrechtes nur subsidiär sein und nicht so weit gehen, dass der Staat die Eltern bei der Wahl der Lektüre für die eigenen Kinder bevormundet.440 433 434 435 436 437 438 439 440 Vgl. BVerfGE 30, 292 (317); 37, 1 (20); 49, 89 (131f.); 83, 130 (141f.); 95, 267 (314f.) und SCHULZ/BRUNN/DREYER et al. 2007, S.82. BVerfG, Beschl. v. 22.03.1986, Az.: 2 BvR 1499/84. Vgl. BUCHLOH 2002, S.46. BVerfGE 93, 213 (238); vgl. 47, 109 (120); 71, 108 (114); 73, 206 (234); 75, 329 (340f.); 78, 374 (381f.); 85, 69 (73); 87, 209 (223f.); 87, 363 (391f.); 96, 68 (97f.); 105, 135 (153); ERDEMIR 2000, S.64; SCHULZ/BRUNN/DREYER et al. 2007, S.81 und SCHULZ/ DREYER 2007b, S.3. Vgl. BVerfGE 11, 30 (45) und 50, 290 (332f.). Vgl. BVerfGE 35, 202 (225); 90,1 (20f.); 12, 113 (124f.); ERDEMIR 2000, S.30; BUCHLOH 2002, S.30 und NESSEL 2004, S.123. Vgl. BVerfGE 30, 334 (336); 30, 336 (348-353); BVerwGE 85, 169; MERTEN 1999, S.232f.; ERDEMIR 2000, S.17; GUCHT 2000, S.21; LIESCHING 2002, S.136f.; SCHULZ 2002, S.52; PFEIFER 2003, S.68 und SCHULZ/BRUNN/ DREYER et al. 2007, S.87. Vgl. BVerfGE 4, 52 (57); 7, 320 (323f.); 24, 119 (143f.); 83, 130 (140); MERTEN 1999, S.234; STATH 2006, S.273 und 92 10.1 Das Zensurverbot Der Jugendschutz ist (wie die Vorschriften der allgemeinen Gesetze und das Recht der persönlichen Ehre) nach Art. 5 Abs. 2 GG eine der drei legitimen Schranken der Meinungs-, Informations-, Presse-, Rundfunk- und Filmfreiheit. Die Schranke findet ihre eigenen Schranken aber nicht nur in den generellen Schranken-Schranken des GG, sondern insb. auch in der speziellen Schranken-Schranke des Art. 5 Abs. 1 Satz 3 GG: "Eine Zensur findet nicht statt." Das Zensurverbot ist absolut, so dass Grundrechtsschranken (und -ausgestaltungen) in keinem Fall wie Zensuren wirken dürfen.441 Das Verbot dient insg. dem Schutz vor einer sog. Lähmung des Geisteslebens,442 Zensurmaßnahmen sollen nämlich nicht nur dazu führen, dass konkrete Kommunikationsinhalte nicht oder nur noch verändert der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden, sondern auch, dass die bereits (auch nur evtl.) zensurierten Kommunikatoren die externen Zensurkriterien der intervenierenden Instanzen als interne Maxime internalisieren.443 KIENZLE 1980 konstatierte diesbzgl. bereits, dass auch die "Barbarei der Bücherverbrennung" nur ein "wirkungsloses Spektakel" bleibe, "wenn sie nicht Angst und Internalisierung der Zensur bewirkt, wenn sie nicht zur Selbstzensur wird." 444 Selbstzensur ist regelmäßig nicht nur kaum oder gar nicht nachweisbar,445 auch wird eine "Schere im Kopf"446 natürlich umso weiter auseinanderklaffen, je vager die Zensurkriterien sind, so dass sich die Betroffenen ggf. selbst intensiver als notwendig (oder externen Zensoren möglich) zensurieren.447 Insofern tangieren bereits Maßnahmen, die Selbstzensureffekte auch nur fördern können, das Zensurverbot.448 Im Lichte der Absolutheit des Zensurverbots wird seit Jahrzehnten kontrovers diskutiert, welcher Zensurbegriff den angemessensten darstellt, je nach Zensurbegriff können nämlich den Freiheiten des Art. 5 Abs. 1 GG nur unterschiedlich enge Schranken gezogen werden.449 Deshalb soll im Folgenden diskutiert werden, ob verfassungsrechtlich nur materielle oder formelle, ob Vor- oder Vor- und Nachzensur verboten sind: Nach dem materiellem Zensurbegriff sind alle (auch anlassabhängige und punktuelle; s.u.) konformistischen, repressiven Kontrollen des Geisteslebens infolge einer besonderen (z.B. ideologischen, politischen, sittlichen, religiösen, moralischen u./o. gustatorischen) Begründungs- und Motivlage Zensurmaßnahmen;450 gem. GUCHT 2000 sind das gar alle Maßnahmen einer intervenierenden Instanz, "die auf irgendeine Weise dazu führen, daß ein Beitrag zur Meinungsbildung nicht oder nur 441 442 443 444 445 446 447 448 449 450 SCHULZ/BRUNN/DREYER et al. 2007, S.74f./87.. Vgl. BVerfGE 33, 52 (72); 73, 118 (166); ROHDE 1996, S.157; ERDEMIR 2000, S.57ff.; GUCHT 2000, S.38f.; HÜPER 2004, S.10 und KASPEREK 2007, S.72-76. Bereits gesetzessystematisch verfängt die Auslegung nicht, dass die Grundrechtsschranken des Art. 5 Abs. 2 GG auch eine Schranke des Zensurverbots seien, so dass bspw. eine Zensur infolge der gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend legitim sei (vgl. NIKLES/ROLL/SPÜRCK et al. 2005, S.212), wie aber z.B. bereits NOLTENIUS 1958 kolportierte (S.134f.); z.T. wird auch argumentiert, eine Zensur aus Gründen den Jugendschutzes sei im Lichte dessen legitim, dass die Zensur ja ggf. nur partiell sei und nur die Kommunikationsgrundrechte der Kinder und Jugendlichen tangiere (vgl. PFEIFER 2003, S.273 und SCHULZ/BRUNN/DREYER et al. 2007, S.85). NESSEL 2004 argumentiert aber plausibel, dass weder eine grammatische, historisch-genetische, systematische, noch teleologische Auslegung des Zensurverbots eine solche Differenzierung in eine verbotene generelle und eine erlaubte partielle Zensur erlaubt, andernfalls könnte auch gruppenspezifische Zensur (z.B. von Journalisten, Frauen etc.) legitimiert werden (S.173176): "Das Grundgesetz läßt zensurverbotskonforme Zensurräume nicht zu." (S.142) Vgl. BVerfGE 7, 198 (230); NOLTENIUS 1958, S.117; ROHDE 1996, S.162f.; SCHULZ/BRUNN/DREYER et al. 2007, S.84 und SCHULZ/DREYER 2007b, S.3. Vgl. KIENZLE/MENDE 1980, 231; SEIM 1997, S.35; SEIM 1998, S.69 und BUCHLOH 2002, S.16f./208. KIENZLE 1980, S.16. Vgl. KIENZLE 1980, S.40 und PLACHTA 2006, S.20. Die Zensurierten haben oftmals selbst ein Interesse an einer Kuvrierung von Zensierungen der eigenen Kommunikationsinhalte, ungeachtet dessen, ob fremde Instanzen oder die Zensurierten selbst die Inhalte zensiert haben, denn im Wissen um die Zensuren sind zensierte Inhalte regelmäßig für die Rezipienten unattraktiv (vgl. BUCHLOH 2002, S.18); bspw. wurde gem. MÜLLER-LIETZKOW 2010 das Spiel QUAKE 4 in Deutschland dank des im Folgenden noch dargestellten Jugendmedienschutzsystems nur in einer für den deutschen Markt zensierten Version veröffentlicht, "so dass es eine USK-16-Freigabe erhalten hat. Die Kosten sind nicht genau bezifferbar, aber es hat sich relativ schnell gezeigt, dass die Konsumenten eine geschnittene Version nicht gekauft haben. Das Spiel wurde in der entsprechenden Version weit weniger als erwartet verkauft und letztlich als Low-Price-Produkt sehr schnell unter der ursprünglichen, für die Refinanzierung notwendigen Kalkulation verkauft." (S.30) Dgl. MÜLLER-LIETZKOW 2007a, S.2. Vgl. BRODER 1976. Vgl. BUCHLOH 2002, S.208. Vgl. BVerfGE 90, 60 (89) und SCHULZ 2002, S.53. Vgl. SEIM 1997, S.21-25/27ff.; BUCHLOH 2002, S.29ff. und NESSEL 2004, S.14f.. Vgl. BVerwGE 23, 194 (199); NOLTENIUS 1958; ROHDE 1996, S.104; BUCHLOH 2002, S.32f.; SUFFERT 2002, S.106f. und NESSEL 2004, S.64-69. 93 verändert der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird […]."451 Insofern für das Vorliegen einer Zensur aber nur die konformistische "Zielsetzung intervenierender Tätigkeit"452 hinreichend sein soll, wird der Nachweis einer diesbzgl. Ratio einer Maßnahme i.d.R. nur kaum oder gar nicht demonstriert werden können, so dass der Begriff nicht hinreichend justiziabel wäre.453 Ein materieller Zensurbegriff würde letztlich auch die Schrankentrias des Art. 5 Abs. 2 GG unterminieren. I.d.S. sind es rechtsstaatliche Gründe für die Notwendigkeit eines formellen Zensurbegriffs. Bereits ROHDE 1997 argumentierte, dass wenn das Zensurverbot eine SchrankenSchranke der Schranken des Art. 5 Abs. 2 GG ist, "so derogiert es die Schrankenbestimmungen […] in Bezug auf einen zensorischen Gehalt derart, daß hierauf beruhende Meinungsbeschränkungen nur dann verfassungskonform sind, wenn sie […] nicht zensorischen Charakter haben. Damit wird von der Verfassung ein deutlicher, systematischer Unterschied vorgegeben, der inhaltlich, […] durch eine formale Bestimmung der Zensur, nachzuzeichnen ist."454 Gem. SUFFERT 2002 sind gewisse Grundvoraussetzungen formeller Zensur generell akzeptiert: 1. 2. 3. 4. Das Geistesleben muss planmäßig überwacht und überprüft werden, wobei jegliche Beiträge zum geistigen leben, egal ob in Filmen, Büchern, Vorträgen etc., davon betroffen sein können. Die Überwachung muss durch eine – vom Standpunkt des Überwachten aus betrachtet – fremde Instanz stattfinden. Kontrollen im internen Bereich (z.B. des Produktionsleiters beim Film oder des Chefredakteurs gegenüber dem Verlagsvolontär) oder individuelle innere Anpassungsmechanismen stellen keine Zensur dar. Zensur muss eine inhaltliche Prüfung zum Gegenstand haben. Genehmigungsverfahren, Vorlageund Anzeigepflichten, die sich ausschließlich gegen Gefahren richten, die – unabhängig vom Inhalt – durch eine bestimmte Form der Meinungsäußerung entstehen (z.B. das Verbot, aus sicherheitspolitischen Gründen Flugblätter aus Flugzeugen abzuwerfen), sind keine Zensur.455 Die Zensurinstanz muss es vom Ergebnis ihrer Überprüfung abhängig machen, ob der Überwachte seine Rechte aus Art. 5 GG ungehindert ausüben darf. Dazu bedarf sie zumindest eines gewissen Einflusses auf den Überwachten, die Meinungsbildung oder Meinungs- bzw. Informationsverbreitung. Wenn sie tatsächlich überhaupt keine Möglichkeit und Macht dazu hat, das Geistesleben zu beschränken, kann sie auch keine Zensur ausüben.456 Aus den Grundvoraussetzungen resultiert gem. Autorin ein allgemeiner Zensurbegriff, "wonach Zensur die seitens einer für die Meinungsbildung bzw. Informationsverbreitung maßgeblichen fremden Instanz vorgenommene planmäßige Überwachung und Überprüfung des Geisteslebens ist, von deren Ergebnis die Behinderung bzw. Nichtbehinderung dieser Betätigung abhängig gemacht wird."457 Nach der h.M. ist der Staat der ausschl. Adressat des speziellen Zensurverbotes des GG,458 aber zweifellos können nicht nur auch Maßnahmen privater Instanzen u.U. das Geistesleben lähmen. Das Zensurverbot soll aber u.a. die öffentliche Meinungsbildung insg. schützen, so dass z.B. gem. HÜPER 2004 die h.M. nicht gebilligt werden könne, "da sie angesichts der Verlagerung von Staatsaufgaben auf staatsunabhängige Institutionen zu einer Aushöhlung des Zensurverbots führen würde."459 Insofern sei festzuhalten, "dass das Zensurverbot jedenfalls dann eine 'mittelbare Drittwirkung' bzw. Schutzfunktion in Privatrechtsverhältnissen entfaltet, wenn der einzelne Kommunikator bzw. Rezipient sich anlassunabhängigen planmäßigen und systematischen Kommunikationskontrollen und -unterdrückungen durch private Betreiber von Kommunikationsmedien nicht aus eigener Kraft entziehen kann."460 451 452 453 454 455 456 457 458 459 460 GUCHT 2000, S.7. Bzgl. detaillierterer Kommentierungen des materiellen Zensurbegriffs s. ERDEMIR 2000, S.48f.; SUFFERT 2002, S.105f. und KASPEREK 2007, S.155-163. NESSEL 2004, S.64. Vgl. GUCHT 2000, S.10; BUCHLOH 2002, S.33 und HÜPER 2004, S.8. ROHDE 1997, S.112f.; vgl. BUCHLOH 2002, S.31; HÜPER 2004, S.5-10 und PLACHTA 2006, S.19ff.. Insofern Inhaltskontrollen notwendige Bedingungen für das Vorliegen von Zensur sind und infolge dessen ledigliche Verbote gewisser Verbreitungsarten eines Mediums ungeachtet des Inhalts desselben prinzipiell keine Zensuren darstellen (vgl. ZELGER 1999, S.10 und GUCHT 2000, S.5f./9), warnt z.B. HÜPER 2004, "dass es sich bei vordergründig inhaltsunabhängigen Maßnahmen um dissimulierte Inhaltskontrolle handeln kann, die gegebenenfalls als solche zu behandeln wäre. Denn ungeachtet der Frage, ob nicht letztlich jedes Äußerungsmerkmal auch den Inhalt mitbestimmt, können jedenfalls typische Formelemente wie Ort, Zeit oder Medium durchaus zentrale Äußerungsinhalte transportieren. Bei der Qualifizierung als inhaltsneutrale Maßnahme ist daher Vorsicht geboten." (S.6) Vgl. SUFFERT 2002, S.86f.. Bzgl. diverser Konkretisierungen des formellen Zensurbegriffs und Beispiele formeller Zensur s. ROHDE 1996, S.112-118; GUCHT 2000, S.4ff.; SUFFERT 2002, S.88-95 und KASPEREK 2007, S.153ff.. Vgl. SUFFERT 2002, S.87. Vgl. GUCHT 2000, S.31; HÜPER 2004, S.17f. und NESSEL 2004, S.50. HÜPER 2004, S.19. HÜPER 2004, S.86; vgl. ERDEMIR 2000, S.60ff.; BUCHLOH 2002, S.212/217; SUFFERT 2002, S.88-95 und SCHULZ/ BRUNN/ DREYER et al. 2007, S.85. 94 Die letzte offene Frage ist die, ob das GG ausschließl. die Vor- oder auch die Vor- und die Nachzensur verbietet. Nach Auffassung der h.M., wie auch der des BVerfG, sind nämlich nur einschränkende Maßnahmen vor der Herstellung oder Verbreitung eines Geisteswerkes Zensur i.S.d. Zensurverbots, "insbesondere das Abhängigmachen von behördlicher Vorprüfung und Genehmigung seines Inhalts (Verbot mit Erlaubnisvorbehalt) […]."461 Im Lichte der gem. SEIM 1997 "diffizilen sozialen Dimension zensorischer Eingriffe"462 ungeachtet des Zeitpunktes derselben (s.u.), des nicht auf ein Verbot nur der Vorzensur reduzierten Wortlauts des Art. 5 Abs. 1 Satz 3 GG, wie auch der im Folgenden diskutierten grammatischen, historisch-genetischen, systematischen, wie auch teleologischen Auslegung des Verbots ist die Beschränkung desselben auf nur ein Verbot der Vorzensur aber nicht strapazierbar: Ungeachtet dessen, dass dem Begriff der Zensur insg. in der Literatur z.T. ambivalente, z.B. je nach Fachgebiet u.ä. divergierende Deutungsmöglichkeiten konstatiert werden,463 ist die Sprache des GG keine besondere Rechtssprache, sondern prinzipiell eine nüchtern an Allgemeinverständlichkeit orientierte Sprache, so dass i.V.m. dem Umstand, dass der Wortlaut des Verbots selbst nicht zwischen Vor- und Nachzensur differenziert, eine enge Auslegung des Zensurbegriffs als ausschl. Synonym der Vorzensur tendenziell bereits gem. der (diesbzgl. aber nur indiziellen)464 grammatischen Auslegung nicht plausibel ist.465 Indiziell für den Bedeutungsgehalt des Zensurverbots ist auch die Entstehungsgeschichte desselben.466 Das BVerfG argumentierte einerseits i.S.e. Kontinuitätsthese, dass sich auch bereits das analoge Verbot des Art. 118 Abs. 2 Satz 1 der Weimarer Reichsverfassung (WRV) gem. damals h.M. nur auf ein Verbot der Vorzensur (und insb. ein Verbot des Verbots mit Erlaubnisvorbehalt) beschränkt habe.467 Andererseits habe der Abgeordnete Ludwig BERGSTRÄSSER (SPD) im Rahmen der 25. Sitzung des Grundsatzausschusses des Parlamentarischen Rates am 24.11.1948 im Lichte des Entwurfes des Allgemeinen Redaktionsausschusses, dass nur eine Vorzensur nicht stattfinden solle, zwar remonstriert, "so handelt es sich doch nur um einen kleinen Teil der Zensur. Die Nachzensur wollen wir doch auch nicht."468 Die Äußerung sei aber nicht weiter verfolgt worden. Der Ausschuß habe sich vielmehr auf eine Fassung im Anschluß an die diesbzgl. Formulierung der WRV geeinigt.469 Einerseits ignoriert das Gericht aber nicht nur den anhaltenden Auslegungsstreit über den Bedeutungsgehalt des Verbots bereits innerhalb der Weimarer Republik selbst, den erst die nationalsozialistischen Zensurgesetze beendeten,470 sondern auch den Wandel des Staatsdenkens seitdem.471 NESSEL 2004 bspw. kritisierte diesbzgl.: "Mit solchen Begründungsversuchen wird die […] Worttreue des grundgesetzlichen Verfassungsgebers mit einer Interpretationstreue gleichgesetzt, die unterschiedliche Interpretationsergebnisse zum Weimarer Zensurverbot mit der Maxime eines allgemein akzeptierten Entwicklungsstands zu nivellieren sucht, um diesen Rechtszustand dann doch nur mit der herrschenden Verbotsvorstellung zu Art. 118 Abs. 2 S. 1 HS 1 WRV zu beschreiben. Es ist jedoch unter keinem Aspekt nachvollziehbar, warum allein die Formulierungsgleichheit einen Beleg zur Übernahme gerade der Weimarer Mehrheitsmeinung liefern könnte, wenn doch der Weimarer Gegenansicht dieselbe Verbotsformulierung zugrunde lag."472 Andererseits 461 462 463 464 465 466 467 468 469 470 471 472 Vgl. BVerfGE 33, 52 (72); 47, 198 (236); 73, 118 (166); 83, 130 (155); 87, 209 (230); NOLTENIUS 1958, S. 106; GERNERT 1985, S.74f.; ROHDE 1996, S.1/102f./113f.; SEIM 1997, S.26; STEFEN 1998, S.238; ERDEMIR 2000, S.46ff.; GUCHT 2000, S.4f.; BUCHLOH 2002, S.29-32.; HÜPER 2004, S.1/9; NESSEL 2004, S.51/64; SCHULZ/BRUNN/DREYER et al. 2007, S.84f.; SCHULZ/ DREYER 2007b, S.3 und KASPEREK 2007, S.213f.. Vgl. SEIM 1997, S.26. Vgl. HÜPER 2004, S.23f. unf PLACHTA 2006, S.13-19. Vgl. BVerfGE 30, 1 (19) Vgl. BUCHLOH 2002, S.33; PFEIFER 2003, S.135 und NESSEL 2004, S.32/49/142-159. Vgl. BVerfGE 1, 299 (312); 8, 274 (307); 11, 126 (131) und HÜPER 2004, S.23. Gem. HÜPER 2004 referieren Proponenten eines ausschließl. Verbotes der Vorzensur z.T. gar die Paulskirchenverfassung vom 28.03.1849, die in Satz 2 des § 143 auch nur die Vorzensur verbot (S.13f.): "Die Preßfreiheit darf unter keinen Umständen und in keiner Weise durch vorbeugende Maaßregeln, namentlich Censur [...] oder andere Hemmungen des freien Verkehrs beschränkt, suspendirt [sic] oder aufgehoben werden." Zitiert in: PIKART/WERNER 1993, S.654. Vgl. BVerfGE 33, 52 (73); GUCHT 2000, S.13f./19; NESSEL 2004, S.14f./32; UHLENBROCK 2006, S.13 und KASPEREK 2007, S.146. Vgl. GUCHT 2000, S.3; NESSEL 2004, S.23/106f. und KASPEREK 2007, S.144-147. Vgl. HÜPER 2004, S.15. NESSEL 2004, S.113f.; vgl. ROHDE 1996, S.2/92f. und HÜPER 2004, S.15. 95 formulierte auch bereits der Unterausschuss I für Grundsatzfragen des Verfassungskonvents auf Antrag des hessischen Staatssekretärs Hermann L. BRILL (SPD) im Rahmen der fünften Sitzung desselben am 19.08.1948 ein Verbot der Zensur als Verbot der Vor- und der Nachzensur und nicht nur der Vorzensur. Der Rückschluss auf die Zulässigkeit einer Nachzensur sollte ausdrücklich erst gar nicht hervorgerufen werden.473 Insofern verfolgte nämlich auch der Grundsatzausschuss des Parlamentarischen Rates, der infolge der 25. Sitzung nur noch ein Verbot der Zensur und nicht mehr nur der Vorzensur formulierte, tendenziell wahrscheinlicher die Äußerungen des Nichtwollens einer Nachzensur weiter und rezitierte vielmehr den Verfassungskonvent und nicht die WRV.474 Hätte der Rat nur ein Verbot der Vorzensur intendiert, wäre auch eine diesbzgl. präzise Formulierung (wie z.B.: "Eine Nachzensur findet sich statt.") notwendig gewesen, der Begriff der Zensur selbst erfasste nämlich von Anfang an im Rahmen der Diskussionen des Verfassungskonents, wie auch des Parlamentarischen Rates immer sowohl die Vor-, wie auch die Nachzensur, so dass letztlich auch die Argumentation des BVerfG nicht wirklich verfängt.475 Auch gem. der sog. "Gegenstandlosigkeitsthese"476 argumentierte das BVerfG, dass das Zensurverbot einzig die Vorzensur verbiete, denn im Fall eines Verbots auch der Nachzensur wären die Schranken des Art. 5 Abs. 2 GG gegenstandslos.477 Die Argumentation verfängt aber nur infolge einer Zensurdefinition, nach der Nachzensur eine jede Beschränkung der Kommunikationsgrundrechte nach der Publikation der Kommunikationsinhalte sein soll.478 Bereits ROHDE 1996 argumentierte aber diesbzgl. plausibel, dass insofern Art. 5 Abs. 2 GG Schranke der Meinungs-, Informations-, Presse-, Rundfunk- und Filmfreiheit und das Zensurverbot diesbzgl. Schranken-Schranke ist, deutlich sei, "daß die zensorische Kontrolle inhaltlich eine andere Qualität als die Beschränkung des Art. 5 Abs. 2 GG aufweisen muß. Da nun aber Art. 5 Abs. 2 GG eine Beschränkung der Rechte des Art. 5 Abs. 1 Satz 1 und 2 GG im Einzelfall, aufgrund verfassungsrechtlich bestimmter und in ihrem jeweiligen Schutzgehalt definierter, Einzelrechtsgüter gewährleistet, ist es evident, daß diese auf den Einzelfall abzielenden Beschränkungsmöglichkeiten dort begrenzt werden müssen, wo sie in generalisierender und planmäßiger Weise eine umfassende Meinungskontrolle oder -unterdrückung bewirken könnten."479 I.d.S. sind nur anlassunabhängige und systematische Kontroll- und Repressivmaßnahmen (wie bspw. Verbote mit Erlaubnisvorbehalt und gleichermaßen systematische, funktionelle Äquivalente) bereits formell zensurverbotswidrig, nicht aber anlassabhängige und nur punktuelle Kontroll- oder(!) Repressivmaßnahmen.480 Letztlich argumentiert auch HÜPER 2004, dass insb. infolge systematischer Gründe auch die Nachzensur verboten sein muss: "Würde [...] Art. 5 II GG gegenstandslos, wenn das Zensurverbot auch die Nachzensur erfasse, so wäre Art. 5 II GG nur auf Maßnahmen der Nachzensur anwendbar, während Art. 5 I 3 GG nur auf Maßnahmen der Vorzensur anwendbar wäre. Bei diesen verschiedenen zeitlichen Anwendungsbereichen könnte Art. 5 I 3 GG nicht Schranken-Schranke des Art. 5 II GG sein."481 Letztlich ist auch nach einer teleologischen Auslegung des Zensurverbotes ein Verbot der Vor-, wie auch der Nachzensur notwendig: Einerseits können Zensurmaßnahmen zweifellos nicht nur 473 474 475 476 477 478 479 480 481 Vgl. ROHDE 1996, S.59 und NESSEL 2004, S.110. Bzgl. einer Darstellung der konzeptionellen Geschichte des Art. 5 Abs. 1 Satz 3 GG im Rahmen des Verfassungskonvents s. ROHDE 1996, S.54-62 und NESSEL 2004, S.109-115. Vgl. ROHDE 1996, S.61/92f.; HÜPER 2004, S.16f. und NESSEL 2004, S.110-115. Diesbzgl. a.A. sind z.B. PFEIFER 2003, S.272-275 und ERDEMIR 2000, S.43f.. Diesbzgl. diplomatischer ist HÜPER 2004, die argumentiert, dass die historischgenetische Auslegung weder nur ein Verbot der Vorzensur, noch ein Verbot der Vor- und der Nachzensur indizieren könne (S.27-39). Bzgl. diverser Darstellungen der Entstehungsgeschichte des Zensurverbots im Rahmen des Parlamentarischen Rates s. ROHDE 1996, S.63-93; PFEIFER 2003, S.260-272 und NESSEL 2004, S.109-115. NESSEL 2004, S. 137f.. Vgl. BVerfGE 33, 52 (72); ROHDE 1996, S.1.; ERDEMIR 2000, S.44; GUCHT 2000, S.12; SUFFERT 2002, S.95ff.; HÜPER 2004, S.11ff. und NESSEL 2004, S. 137f.. Vgl. ROHDE 1996, S.121. ROHDE 1996, S.170 und vgl. NESSEL 2004, S.142. Vgl. ROHDE 1996, S.1117/75/187; GUCHT 2000, S.13; EISERMANN 2001, S.131; SUFFERT 2002, S.96f. und HÜPER 2004, S.14ff./39-50/64ff.. HÜPER 2004, S.16 und vgl. ROHDE 1996, S.142ff.. 96 vor, sondern auch nach der Publikation von Kommunikationsinhalten zu anpasslerischer Vorsicht (Selbstzensuren) veranlassen, resp. das Geistesleben lähmen, dass das Zensurverbot ja schützen soll.482 Andererseits soll der Art. 5 GG auch die Kommunikationsgrundrechte nicht nur temporär gewährleisten. Dem BVerfG ist aber bereits hinreichend, dass ein Geisteswerk ein Mal an die Öffentlichkeit gelangt und Wirkung auszuüben vermag, so dass Zensurmaßnahmen nach der Publikation das Geistesleben prinzipiell nicht mehr lähmen könnten.483 Das ignoriert aber nicht nur, dass ohne ein Verbot auch der Nachzensur Kommunikationsinhalte auch bereits in einer logischen Sekunde nach der Publikation zensuriert werden könnten und der für eine realistische Wirkungsentfaltung notwendige Zeitraum je nach Medium und Inhalt divergiert, sondern auch, dass eine historische Retrospektive der Zensur nicht nur demonstriert, dass die Nach- und nicht die Vorzensur die originäre Zensurmaßnahme war,484 sondern die Wirksamkeit einer Zensurmaßnahme keine generelle Frage des Zeitpunkts der Maßnahme (vor oder nach der Publikation), sondern der Art der Kommunikationsverbreitung ist. Die klassische Nachzensur ist z.B. ggü. Tageszeitungen u.ä. Medien relativ unwirksam, nicht aber z.B. ggü. Medien mit längerer Distributionsphase.485 Ungeachtet dessen argumentiert auch die h.M., dass einzig der Vorzensur auch eine "Gesamtverbreitungsbehinderungsoption"486 eigen sei, die eine Wirkungsentfaltung komplett inhibieren kann.487 Das Argument verfängt aber insofern gem. HÜPER 2004 nicht, dass eine absolute Inhibition von Kommunikationsinhalten gar keine notwendige Bedingung für das Vorliegen von Zensur ist: "Die Tatsache, dass die Möglichkeit der Unterdrückung einer Meinung nicht hundertprozentig sicher ist, wenn sie erst nach ihrer Verbreitung ansetzt, kann […] die Annahme einer größeren Gefährlichkeit der Vorzensur gegenüber der Nachzensur für die freie individuelle und öffentliche Meinungsbildung nicht rechtfertigen, da auch Maßnahmen der Vorzensur seit jeher Lücken aufweisen."488 Insofern muss davon ausgegangen werden, dass Art. 5 Abs. 1 Satz 3 GG letztlich formelle Vor-, wie auch Nachzensur verbietet.489 Ungeachtet dessen ist realtiv unstrittig, dass das Zensurverbot aber auch Maßnahmen erfasst, die bereits nur faktisch wie Funktionsäquivalente einer formellen Zensur wirken können.490 10.2 Die Kunstfreiheit Die zweite Schranke für Konzepte des Jugendmedienschutzes ist die nach Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG vorbehaltlos garantierte Freiheit der Kunst, die gleichermaßen Werk- und Wirkbereich künstlerischen Schaffens schützt.491 Nur kollidierende Grundrechte Dritter, wie auch andere mit Verfassungsrang ausgestattete Rechtsgüter können das prinzipiell uneinschränkbare Grundrecht ausnahmsweise in einzelnen Beziehungen begrenzen (also die sog. verfassungsimmanenten Schranken),492 so z.B. der Jugendschutz. MEIROWITZ 1993 argumentiert diesbzgl. im Lichte der Wesensgehaltsgarantie, dass prinzipiell nur der Wirk-, nicht aber der Werkbereich der Kunst begrenzt werden darf.493 Sinn und Aufgabe des Grundrechts ist nämlich gem. BVerfG, "die auf 482 483 484 485 486 487 488 489 490 491 492 493 Vgl. HOFFMANN-RIEM 1989, S.458; BUCHLOH 2002, S.30f.; SUFFERT 2002, S.98ff.; HÜPER 2004, S.50-86 und NESSEL 2004, S.216. Vgl. BVerfGE 33, 52 (72); HÜPER 2004, S.57 und KASPAREK 2007, S.147-151. Vgl. SUFFERT 2002, S.100f. Bzgl. der Entwicklungsgeschichte der Zensur seit der Antike s. PFEIFER 2003, S.188-259 und NESSEL 2004, S.74-108. Bzgl. der Entwicklungsgeschichte der neuzeitlichen Zensur in Deutschland seit Erfindung des Buchdrucks s. PLACHTA 2006. Bzgl. dgl. und einer detaillierten Darstellung der diesbzgl. Entwicklungen seit dem 19. Jahrhundert und insb. der Entwicklung des Zensurverbotes s. ROHDE 1996, S.4-53. Vgl. BUCHLOH 2002, S.30f.; SUFFERT 2002, S.98-101 und HÜPER 2004, S.15f.. HÜPER 2004, S.56. Vgl. SUFFERT 2002, S.98 und HÜPER 2004, S.12f.. HÜPER 2004, S.56. Vgl. ROHDE 1996, S.187 und HÜPER 2004, S.14-17. Vgl. BVerfGE 87, 209 (232f.); BVerwGE 23, 194; GUCHT 2000, S.22-31; SUFFERT 2002, S.103-107; BÄR 2003, S.85f.; NESSEL 2004, S.57; BRAUHARDT 2007, S.30; KASPEREK 2007, S.214 und SCHULZ/BRUNN/DREYER et al. 2007, S.85. Bzgl. diverser a.A. s. GUCHT 2000, S.28ff.. Bzgl. diverser Bsp. faktischer Zensur s. BRAUHARDT 2007, S.30-38 und KASPEREK 2007, S.170-177. Vgl. BVerfGE 30, 173 (189-192). Vgl. BVerfGE 28, 243 (261); 67, 213 (228); 69, 1 (54f.); 81, 278 (292f.); GOTTBERG 2002, S.32; PFEIFER 2003, S.79 und ERDEMIR 2000, S.29f.. Bzgl. einer detaillierten Diskussion der grundrechtsimmanenten Schranken der Kunstfreiheit s. MEIROWITZ 1993, S.182-187 und BEISEL 1997. Vgl. MEIROWITZ 1993, S.186. 97 der Eigengesetzlichkeit der Kunst beruhenden, von ästhetischen Rücksichten bestimmten Prozesse, Verhaltensweisen und Entscheidungen von jeglicher Ingerenz öffentlicher Gewalt freizuhalten."494 Generell darf aber auch der Wirkbereich insg. nur so begrenzt werden, dass Erwachsene die Kunstwerke noch rezipieren können.495 Ungeachtet dessen zieht natürlich auch die Kunstfreiheit ihrerseits der Ausübung und dem Geltungsbereich des Jugendschutzes Schranken.496 Weder die Kunstfreiheit, noch der konkurrierende Jugendschutz haben einen generellen Vorrang voreinander, so dass im Rahmen einer notwendigen Güterabwägung im Einzelfall praktische Konkordanz hergestellt werden muss.497 Gem. ERDEMIR 2000 wird aber im Zweifelsfall ein nur vorbehaltlich gewährleistetes einem vorbehaltslosen Grundrecht weichen müssen, "um nicht die unterschiedliche Gewährleistung zu unterlaufen."498 Die Kunstfreiheit ist ggü. den diskutierten Medieninhalten aber nur relevant, insofern sie überhaupt Kunstcharakter haben; i.S.d. notwendigen, verfassungsrechtlichen Schutzbereichsbestimmung499 hat das BVerfG insg. drei weite Kunstbegriffe formuliert, gem. derer Kunst von "NichtKunst"500 abgegrenzt werden können soll. Nach dem formalen, typologischen Kunstbegriff ist das Wesentliche eines Kunstwerkes, "daß bei formaler, typologischer Betrachtung die Gattungsanforderungen eines bestimmten Werktyps erfüllt sind […]."501 Das Gericht selbst exemplifizierte, dass "Tätigkeit und […] Ergebnisse etwa des Malens, Bildhauens, Dichtens"502 per se Kunst seien. Die Werke der sog. schönen Künste, d.h. Musik, Literatur, bildende (z.B. Malerei, Grafik, Bildhauerei, Architektur, Fotographie) und darstellende Kunst (z.B. Theater, Tanz), sind infolge dessen zweifellos Kunst. Ungeachtet dessen, dass die ausschl. Orientierung an Phänotypen etablierter Kunst die für die Kunst so typische, wie essentielle Avantgarde ignorieren könnte,503 so dass der skizzierte Kunstbegriff auch nur eine hinreichende, nicht aber notwendige Bedingung des Kunstcharakters eines Werkes sein kann, sind bspw. Spielfilme nicht nur genuine Werke bildender Kunst,504 sondern (wie bspw. auch die Oper) regelmäßig auch ein Konglomerat der diversen etablierten Kunstgattungen. Dasselbe gilt natürlich auch für Computerspiele,505 die i.d.S. per se intrinsische Kunst sind. Nach dem sog. offenen (zeichentheoretischen) Kunstbegriff ist das Wesentliche eines Kunstwerks, "dass es wegen der Mannigfaltigkeit ihres Aussagegehaltes möglich ist, der Darstellung im Wege der fortgesetzten Interpretation immer weiterreichende Bedeutungen zu entnehmen, so dass sich eine praktisch unerschöpfliche, vielstufige Informationsvermittlung ergibt [...]."506 Im Lichte der Polymorphie und -semie der Medieninhalte, resp. der generellen Multidechiffrierbarkeit derselben i.V.m. mit der Subjektivität, resp. der Produktivität des Rezipienten,507 ist das für die diskutierten Spiele aber per se der Fall. Ungeachtet dessen warnt bspw. MEIROWITZ 1993, dass dem Begriff eine "versteckte Qualitätsbeurteilung sowie der Ausschluß jeglichen fehlgeschlagenen künstlerischen Bemühens" inhärent sein könnte und zudem auch die Gefahr bestehe, "daß derzeit noch unverständliche avangardistische Kunst ausgenommen bleibt, da sie mangels Verständnisses keine vielstufige Informationsvermittlung entfalten könne."508 Letztlich sind die diskutierten Spiele auch i.S.d. ältesten der Kunstbegriffe, des materiellen Kunstbegriffs, per se Kunst. Nach diesem Kunstbegriff soll das Wesentliche eines Kunstwerks 494 495 496 497 498 499 500 501 502 503 504 505 506 507 508 Vgl. BVerfGE 30, 173 (189f.). Vgl. ERDEMIR 2000, S.123. Vgl. BVerfGE 77, 240 (253). Vgl. BVerfGE 83, 130 (143); MEIROWITZ 1993, S.185 und MONSSEN-ENGBERDING 1998, S.114f.. ERDEMIR 2000, S.30. BVerfGE 67, 213 (225) und 75, 369 (377). BGH, Urt. v. 03.06.1975, Az.: VI ZT 123/74. BVerfGE 67, 213 (226f.). BVerfGE 67, 213 (226f.). Vgl. MEIROWITZ 1993, S.163. Diesbzgl. a.A. ist bspw. SUFFERT 2002, S.109. Vgl. STATH 2006, S.162. BVerfGE 67, 213 (227). Vgl. WINTER 1995. Vgl. MEIROWITZ 1993, S.165. 98 die "freie schöpferische Gestaltung" desselben sein, "in der Eindrücke, Erfahrungen, Erlebnisse des Künstlers durch das Medium einer bestimmten Formensprache zu unmittelbarer Anschauung gebracht werden. Alle künstlerische Tätigkeit ist ein Ineinander von bewussten und unbewussten Vorgängen, die rational nicht aufzulösen sind. Beim künstlerischen Schaffen wirken Intuition, Phantasie und Kunstverstand zusammen; es ist primär nicht Mitteilung, sondern Ausdruck und zwar unmittelbarster Ausdruck der individuellen Persönlichkeit des Künstlers."509 In der Literatur werden zwei weitere Indizien für die Feststellung des Kunstcharakters eines Werkes diskutiert: Erstens die subjektive Selbstdefinition des Grundrechtsträgers als Künstler, resp. seines Werks als Kunst. Dass der Grundrechtsträger sich selbst nicht als Künstler, resp. sein Werk nicht als Kunstwerk definiert ist aber im Umkehrschluss natürlich kein Indiz für den fehlenden Kunstcharakter eines Werkes. Zweitens die Anerkennung durch kunstsachverständige Dritte: MEIROWITZ 1993 warnt aber vor den diesbzgl. Problemen, wie z.B. der "Auslieferung an Vorurteile Dritter, begrenzten Sachverstand, Irrtümer von Experten, Orientierungslosigkeit in der Kunsttheorie"510 u.ä. und auch ERDEMIR 2000 argumentiert, dass beides nur von von indizieller Bedeutung sein kann, "will man den Kunstbegriff nicht durch Schaffung eines subjektiven Definitionsmonopols für juristisch unbrauchbar erklären." 511 Computerspiele sind damit letztendlich eine intrinsische Kunstgattung und infolge dessen auch generell und nicht nur ausnahmsweise (wie in der Literatur regelmäßig und auch noch ohne Beispiele berhauptet wird)512 von der Kunstfreiheit erfasst.513 Mithin sind auch kaum oder gar keine Spiele denkbar, die nicht erfasst sein könnten. Nach RÖTZER 2003 stellen Computerspiele gar die "eigentliche Kunstform des digitalen Zeitalters"514 dar und auch nach Gerhard FLORIN, dem ehem. Executive Vice President und General Manager International Publishing der Electronic Arts Inc., stellen sie das "wichtigste kulturelle Medium dieses Jahrhunderts" dar, so dass er warnt: "Wenn wir uns weigern, Computerspiele als legitime Kunst anzuerkennen, riskieren wir ein Jahrhundert der kulturellen Stille."515 Auch insofern die Medieninhalte gewaltdarstellend sind, negiert das grundsätzlich nicht ihren Kunstcharakter,516 wie auch das BVerfG konstatierte: "Die Kunstfreiheit umfaßt auch die Wahl eines jugendgefährdenden, insbesondere Gewalt [...] thematisierenden Sujets sowie dessen Beund Verarbeitung nach der vom Künstler selbst gewählten Darstellungsart."517 Tatsächlich ist Gewalt ja auch bereits seit der Antike ein integrales, ja zentrales Sujet der Kunst.518 Die Anerkennung des Kunstcharakters darf auch nicht als bspw. nur (vermeintlich) trivialer Kommerz o.ä. von verfassungsrechtlich unzulässigen (und insg. überlegenheitsdünkelnden) Stil-, Niveauu./o. Inhaltskontrollen u./o. gar nur der Beurteilung (vermeintlicher) bspw. jugendbeeinträchtigender, -gefährdender oder sozialschädlicher Wirkungspotenziale der Werke abhängig gemacht werden.519 Insofern ist es auch irrelevant, dass Gewaltdarstellungen so regelmäßig wie salopp als Ramsch oder "Schrott" diskreditiert werden.520 11. Die Indizierung Gewalt darstellender Computerspiele durch die Bundesprüfstelle Nach Inkrafttreten des Reichsstrafgesetzbuches am 15.05.1871 wurde gem. § 184 desselben erstmalig pönalisiert, wer sog. unzüchtige Schriften, Abbildungen oder Darstellungen, d.h. insb. 509 510 511 512 513 514 515 516 517 518 519 520 BVerfGE 30, 173 (188f.). MEIROWITZ 1993, S.167. ERDEMIR 2000, S.24. Vgl. SCHULZ/BRUNN/DREYER et al. 2007, S.78. Vgl. STATH 2006, S.162/257 und SCHULZ 2007, S.10. RÖTZER 2003, S.9. Zitiert in: GRAFF 2005b, S.3. Vgl. SCHULZ/BRUNN/DREYER et al. 2007, S.79 und SCHULZ/DREYER 2007b, S.2. BVerfGE 83, 130 (147f.). Vgl. ROSENTHAL 1989, S.142; KUNCZIK 1993; HEIDTMANN 2003, S.9; ZIMMERMANN/SCHULZ 2007, S.12 und ZIMMERMANN 2009. Vgl. BVerfGE 75, 369 (377); 81, 278 (291); 83, 130 (138/147ff.) und BVerfG, Urt. v. 03.11.2000, Az.: 1 BvR 581/00. Vgl. EISENHAUER/HÜBNER 1988, S.217. 99 Erotika i.w.S., "verkauft, vertheilt [sic] oder sonst verbreitet, oder an Orten, welche dem Publikum zugänglich sind, ausstellt oder anschlägt […]."521 Die Norm wurde im Rahmen der sog. "Lex Heinze" vom 25.06.1900, bzgl. der sich das Regentenpaar (insb. Kaiserin Auguste Viktoria) persönlich engagierte,522 novelliert, so daß seitdem nach Abs. 2 u.a. auch pönalisiert wurde, "wer […] Unzüchtige Schriften, Abbildungen oder Darstellungen einer Person unter sechzehn Jahren gegen Entgelt überläßt oder anbietet;" erstmalig legitimierte ein vermeintlicher Jugendmedienschutz ein deutsches Zensurgesetz. Die Reichsregierung präsentierte 1914 einen Entwurf eines Gesetzes gegen die Gefährdung der Jugend durch Zurschaustellung von Schriften, Abbildungen und Darstellungen (sog. Schaufenstergesetz), der noch weitere Einschränkungen der Medienfreiheit intendierte, aber dank des Votums der SPD-Fraktion im Reichstag kein Gesetz wurde.523 Nach dem 1. Weltkrieg beschloss aber die Weimarer Nationalversammlung am 15.04.1920 auf Druck der konservativen Parteien die Formulierung eines analogen Gesetzesentwurfs gegen sog. Schund- und Schmutzliteratur und argumentierte u.a., dass die inkriminierte Literatur (und Filme) die Nachkriegsjugend kriminalisier(t)e(n).524 Am 12.09.1923 vereinbarten in Genf zwar bereits über 90 Staaten inkl. des Deutschen Reichs eine Restriktion der Verbreitung unzüchtiger Schriften in ihren Hoheitsgebieten, aber erst am 18.12. 1926 trat letztlich das Gesetz zur Bewahrung der Jugend vor Schund- und Schmutzschriften (SchSchmG) in Kraft, nach dem solche Schriften in eine öffentlich Liste aufgenommen werden sollten; die Rechtsfolgen der sog. Indizierung waren nach Abs. 1 des Gesetzes diverse Abgabe-, Präsentations-, Verbreitungs- und Werbeverbote. Infolge dessen wurden gem. § 2 Abs. 1 SchSchmG zwei Prüfstellen in Berlin und München und als Revisionsinstanz eine Oberprüfstelle in Leipzig installiert. Die Prüfstellen wurden auf Antrag tätig, antragsberechtigt waren die Landeszentralbehörden und die Landesjugendämter. Seit Inkrafttreten des nationalsozialistischen Reichskulturkammergesetzes (RKG) vom 22.09.1933 war das Gesetz obsolet, so dass die Reichskulturkammer (RKK) es am 10.04.1935 aufhob.525 Stattdessen erließ Joseph GOEBBELS, Präsident der RKK, am 25.04. 1935 eine "Anordnung über schädliches und unerwünschtes Schrifttum", gem. deren § 1 die RKK eine (nicht öffentliche) Liste solcher Bücher und Schriften führen sollte, "die das nationalsozialistische Kulturwollen gefährden. Die Verbreitung dieser Bücher und Schriften durch öffentlich zugängliche Büchereien und durch den Buchhandel in jeder Form […] ist untersagt." Seit das RKG im Rahmen der Besatzungszeit per alliierter Kontrollratsgesetze im Jahr 1945 aufgehoben und das GG am 23.05.1949 in Kraft getreten war, reorientierten sich bürgerliche Jugendschützer an den kaiserlichen und vor allem den weimarer Jugendmedienschutzentwürfen; Rheinland-Pfalz war das erste Bundesland, das ein Landesgesetz zum Schutze der Jugend vor Schmutz und Schund vom 12. Okt. 1949 verabschiedete. Ganz i.S.d. Schaffung eines neuen Bundesgesetzes engagierten sich aber insb. bereits CDU und CSU, wie auch die evangelische Innere Mission und der katholische Volkswartbund (VWB).526 Am 14.10.1949, nicht einen Monat nach der Konstituierung der ersten Bundesregierung, hatten Heinrich von BRENTANO (CDU) und 24 Parteikameraden einen Antrag für ein im Wesentlichen vom Generalsekretär des VWB, Michael CALMES, formuliertes Schmutz- und Schundgesetz im Deutschen Bundestag eingereicht.527 In der 24. Sitzung des Deutschen Bundestages am 10.11.1949 ersuchten infolge dessen die CSU-Fraktion und Franz J. STRAUß’ (CSU) Bundestagsausschuß für Fragen der Jugendfürsorge die Bundesregierung einstimmig, "angesichts der die deutsche Jugend und die öffentliche Sittlichkeit bedrohenden Entwicklung gewisser Auswüchse des Zeitschriftenwesens ein Bundesgesetz gegen Schmutz und Schund 521 522 523 524 525 526 527 Vgl. BOSSELMANN 1987, S.8. Vgl. TAUBERT 2004, S.27. Bzgl. der sozialen Bewegung gegen Schundliteratur im deutschen Kaiserreich s. MAASE 2002. Vgl. DECKER 2005, S.12. Vgl. DICKFELDT 1979, S.28ff.; BOSSELMANN 1987, S.9ff.; KOLFHAUS 1994, S.141ff.; SEIM 1998, S.15ff.; LIESCHING 2002, S.18/62 und PLACHTA 2006, S.159-162. Bzgl. einer Skizzierung des diesbzgl. nationalsozialistischen Zensurregimes des 3. Reichs s. BOSSELMANN 1987, S.11f.; SEIM 1997, S.119-122; SEIM 1998, S.21-26; LIESCHING 2002, S.34-41 und PLACHTA 2006, S.170-183. Vgl. DICKFELDT 1979, S.144. Vgl. BT-Drs. I/103 und DICKFELDT 1979, S.14/123/144ff.. 100 vorzulegen." Der Bundestag akzeptierte die Ersuchung am 16.12.1949 gegen das Votum der KPD. Bundeskanzler Konrad ADENAUER (CDU) übermittelte dem Bundestag infolge dessen am 28.06.1950 einen Entwurf eines Gesetzes über den Vertrieb jugendgefährdender Schriften inkl. Begründung.528 In letzterer argumentierte die Regierung, dass seit Jahren in einem "besorgniserregendem Umfang" Schriften vertrieben worden seien, die eine "ernste Gefahr für die heranwachsende Jugend" seien, weil sie die Jugend kriminalisierten.529 Dass die Gefahr dringend geworden sei, "zeigt die sich ständig mehrende kriminelle Betätigung Jugendlicher, Erfahrungsberichte von Jugendrichtern, aber auch von Ärzten beweisen, welche verheerende moralische Wirkung viele heute frei käufliche, insbesondere auf sexuellen Anreiz gerichtete Schriften für Jugendliche im Pubertätsalter haben können."530 Die Regierung rezitierte i.d.S. alltagstheoretische Ressentiments, deren Folge bereits das originäre SchSchmG gewesen war, ein Gesetzt, das sie als Paradebeispiel effektiven, die Medienfreiheit nicht negativ tangierenden Jugendmedienschutzes rühmte!531 Das ignorierte aber den umfangreichen Korpus der Kritik ggü. dem SchSchmG, bspw. seitens Intellektueller, des liberal-demokratischen Bürgertums und diverser (linker) Parteien,532 wie auch seinen Missbrauch als politisches Zensurgesetz,533 so dass eine dreijährige (zur weimarer Reichstagsdebatte prinzipiell analoge) parlamentarische Debatte über das Gesetz ausgelöst wurde,534 bis das GjS letztlich am 14.07.1953 in Kraft trat und – ungeachtet der Odyssee des Entwurfs –535 das bewahrpädagogische Indizierungskonzept des SchSchmG perpetuierte, ja im Wesentlichen formulatorisch (identisch) kopierte.536 11.1 Die Rechtsfolgen einer Indizierung Infolge dessen installierte der Bund am 14.07.1953 die sog. Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften (BPjS)537 – seit Inkrafttreten des JuSchG führt die Behörde gem. § 17 Abs. 1 den Namen Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien (BPjM) –, eine originär dem Bundesministerium des Innern, seit ihrer ersten konstituierenden Sitzung vom 18.05.1954 aber dem Bundesministerium für Familienfragen, resp. ihren Nachfolgeministerien, d.h. seit 1994 dem Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) nachgeordnete, kollegiale und selbständige Bundesoberbehörde in Bonn. Der Bund hatte, resp. hat i.d.S. abschließend von seinem Gesetzgebungsrecht Gebrauch gemacht.538 Die BPjM ist das Fundament des ordnungsrechtlichen deutschen Jugendmedienschutzes, denn i.d.R. ist sie es, die nach § 17 Abs. 2 JuSchG über die Aufnahme sog. jugendgefährdender Medien in und ggf. über ihre Streichung aus dem sog. Index entscheidet.539 Die Rechtsfolgen der sog. Indizierung sind 528 529 530 531 532 533 534 535 536 537 538 539 Vgl. BT-Drs. I/1101. Vgl. DICKFELDT 1979, S.159. BT-Drs. I/1101, S.8. Vgl. BOSSELMANN 1987, S.12f.. Vgl. DICKFELDT 1979, S.13 und LIESCHING 2002, S.16f.. Vgl. DICKFELDT 1979, S.157. Vgl. DICKFELDT 1979, S.123 und PLACHTA 2006, S.203f.. Bzgl. zweier Zusammenfassungen der parlamentarischen Diskussionsbeiträge s. DICKFELDT 1979, S.154-160 und BUCHLOH 2002, S.115-132. Der Entwurf (und letztlich das realisierte Gesetz) war(en) im Lichte der frappierenden materiellen und sozialen Probleme der Nachkriegszeit, wie z.B. der Wohnungsnot (ca. drei Millionen Obdachlosen), der Arbeitslosigkeit (ca. 1,5 Millionen Arbeitslosen), dem Schul- und Lehrstellenmangel, der Nahrungsmittel- und Brennmittelknappheit, wie der Kriegswaisen, d.h. der desolaten sozialen Situation insg. absurd, auch nach der Auffassung parlamentarischer, wie außerplaramentarischer Zeitgenossen. Seitens der bzgl. des Entwurfs konsultierten (vermeintlichen) Jugendschützer wurden die Probleme ignoriert, denn Schuld an der Misere sei ein Mangel an Ethik, an christlicher Sittlichkeit (vgl. DICKFELDT 1979, S.118f./157; SEIM 1997, S.144; VOLLBRECHT 2001, S.40 und BUCHLOH 2002, S.124). Kritiker wie Erich KÄSTNER, der 1950 als diesbzgl. Sachverständiger vor dem Bundestag auftrat, monierten die Symptombekämpfung: "Wenn's schon nicht gelingt, die tatsächlichen Probleme zu lösen, die Arbeitslosigkeit, die Flüchtlingsfrage, die Steuerreform, dann löst man geschwind ein Scheinproblem. Hokuspokus – endlich ein Gesetz! Endlich ist die Jugend gerettet! Endlich können sich die armen Kleinen am Kiosk keine Aktphotos mehr kaufen und bringen das Geld zur Sparkasse." (zitiert in: SEIM 2004) Auch Irma KEILHACK (SPD) monierte bereits im Rahmen der dritten Lesung des Gesetzesentwurfes in der 230. Sitzung des Deutschen Bundestages am 17.09.1952, dass der Enwurf der Regierung unplausibel und der diesbzgl. Stand der Medienwirkungsforschung nicht hinreichend sei: Im Rahmen einer Anhörung des Bundestagsausschußes für Fragen der Jugendfürsorge habe bspw. keiner der konsultierten Psychologen, Richter, Erzieher oder Schriftsteller konkret eine durch die inkriminierten Schriften induzierte Jugendgefährdung belegen können (vgl. BUCHLOH 2002, S.115). Vgl. BT-Drs. I/3666 und I/4158. Vgl. SEIM 1997, S.143 und LIESCHING 2002, S.62. Bzgl. der Geschichte der Indizierung s. bspw. STUMPF 2009, S.32-42. Vgl. BUCHLOH 2002, S.82 und PLACHTA 2006, S.203f.. Vgl. MEIROWITZ 1993, S.220ff. und STATH 2006, S.47. Bzgl. der Listenführung s. § 18 Abs. 2 JuSchG i.V.m. § 13 Abs. 1 DVO-JuSchG. Gem. § 13 Abs. 2 DVO muss die BPjM die 101 nach § 15 Abs. 1 Nr. 1 bis 5 JuSchG ein generelles Jugendverbot und diverse relative, wie auch absolute Präsentations-, Verbreitungs- und Werbeverbote für die betroffenen Medien.540 Indizierte Medien, deren Indizierung bekannt gemacht wurde, dürfen Kindern und Jugendlichen generell insb. nicht zugänglich gemacht werden,541 d.h.: 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. einem Kind oder einer jugendlichen Person angeboten, überlassen oder sonst zugänglich gemacht werden, an einem Ort, der Kindern oder Jugendlichen zugänglich ist oder von ihnen eingesehen werden kann, ausgestellt, angeschlagen, vorgeführt oder sonst zugänglich gemacht werden, im Einzelhandel außerhalb von Geschäftsräumen, in Kiosken oder anderen Verkaufsstellen, die Kunden nicht zu betreten pflegen, im Versandhandel oder in gewerblichen Leihbüchereien oder Lesezirkeln einer anderen Person angeboten oder überlassen werden, im Wege gewerblicher Vermietung oder vergleichbarer gewerblicher Gewährung des Gebrauchs, ausgenommen in Ladengeschäften, die Kindern und Jugendlichen nicht zugänglich sind und von ihnen nicht eingesehen werden können, einer anderen Person angeboten oder überlassen werden, im Wege des Versandhandels eingeführt werden, öffentlich an einem Ort, der Kindern oder Jugendlichen zugänglich ist oder von ihnen eingesehen werden kann, oder durch Verbreiten von Träger- oder Telemedien außerhalb des Geschäftsverkehrs mit dem einschlägigen Handel angeboten, angekündigt oder angepriesen werden, hergestellt, bezogen, geliefert, vorrätig gehalten oder eingeführt werden, um sie oder aus ihnen gewonnene Stücke im Sinne der Nummern 1 bis 6 zu verwenden oder einer anderen Person eine solche Verwendung zu ermöglichen. I.d.S. existieren für indizierte Trägermedien prinzipiell nur drei legale Vertriebswege: Erstens dürfen Gewerbetreibende indizierte Medien u.a. im Einzelhandel innerhalb von Geschäftsräumen, die Kindern und Jugendlichen zugänglich sind u/o. von ihnen eingesehen werden können, dank der Präsentationsverbote der Nr. 2 weder zugänglich machen, noch gem. der Werbeverbote der Nr. 6 anbieten, ankündigen oder anpreisen542 und i.d.S. auch Erwachsenen nur "unter dem Ladentisch" (auf dezidierte Nachfrage hin) verkaufen. Indizierte Medien dürfen nämlich nur innerhalb von Ladengeschäften, die Kindern und Jugendlichen nicht zugänglich sind und nicht von ihnen eingesehen werden können, wie auch innerhalb des Geschäftsverkehrs mit dem einschlägigen Handel, nicht aber in der Öffentlichkeit beworben werden (bspw. per Zeitungsannonce, Postwurfsendung, Plakat- oder Fernsehwerbung); auch die sog. Gegenstandsneutrale Werbung ist verboten,543 so dass z.T. gar argumentiert wird, dass selbst die Namensnennung verboten sei.544 Zweitens ist auch die gewerbliche Vermietung u.ä. nur innerhalb der skizzierten Ladengeschäfte legal: Ladengeschäfte sind räumlich und organisatorisch eigenständig betriebene Einzelhandels- 540 541 542 543 544 öffentlichen Teile des Index in einer geeigneten Weise übersichtlich zusammenstellen und veröffentlichen; i.d.S. publiziert die BPjM den Index nach § 23 Abs. 3 JuSchG monatlich im BAnz., wie auch im vierteljährlichen amtlichen Mitteilungsblatt BPJM-AKTUELL und dem monatlichen JMS-REPORT (vgl. SEIM 1997, S.184). Vgl. BUCHLOH 2002, S.83 und SEIM 2003, S.524. Bzgl. einer Definition des Zugänglichmachens s. MONSSEN-ENGBERDING 1998, S.120, WENDLAND 2003, S.5 und STATH 2006, S.114f.. Bzgl. einer detaillierteren Definition des gleichermaßen verbotenen Verbreitens s. BGHSt 36, 56 und LIESCHING 2002, S.66f.. Bzgl. einer Definition der Tatbestände des Anbietens und des Überlassens, die Derivate des Zugänglichmachens sind, s. BGHSt 34, 94 (98); SCHOLZ 1999, S.26 und STATH 2006, S.236-241. Nach § 1 Abs. 2 Satz 2 JuSchG stehen dem gegenständlichen Zugänglichmachen u./o. Verbreiten von Trägermedien ihre elektronischen Pendants gleich, soweit es sich nicht um Rundfunk i.S.d. § 2 RStV handelt. Die Regelung hat prinzipiell kaum Praxisrelevanz, denn Medieninhalte, die z.B. mittels elektronischer Datenübertragung transferiert werden, sind i.d.R. per definitionem Telemedieninhalte (vgl. STATH 2006, S.53f.). HEYL/LIESCHING 2008 argumentieren i.d.S., dass ein elektronischer Versand immer nur dann anzunehmen sei, "wenn der Inhalt eines Trägermediums auf elektronischem Wege ohne Nutzung eines Telemediums versandt wird. Erfasst wird daher z.B. die Übermittlung von Texten und Bildern per Telefax. Auch das Vorlesen eines indizierten oder pornografischen Buches am Telefon stellt einen elektronischen Versand dar. Nach ganz herrschender Meinung nicht erfasst ist aber die Verbreitung von Trägermedien Daten über das Internet oder als Anhang einer E-Mail. Denn insoweit handelt es sich um ein Telemedium nach Abs. 3, auf das in erster Linie die Vorschriften des JMStV Anwendung finden." (S.10) OLG Hamburg, Beschl. v. 10.11.2006, Az.: III – 124/06 – 1 Ss 214/06 und vgl. LG Düsseldorf, Urt. v. 21.09.2004, Az.: 70 Js 6582/01. Vgl. BVerfG, Beschl. V. 22.03.1986 (Az.: 2 BvR 1499/84, 99/85); BVerwG, Urt. v. 08.03.1977, Az.: I C 39.72; und SEIM 1997, S.149. Gegenstandsneutral ist i.d.S. Werbung, die selbst nicht jugendgefährdend ist und die jugendgefährdenden Inhalte nicht anpreist. Das absolute Werbeverbot galt im Rahmen des GjS gem. BGHSt 15, 153 (154) und 26, 156 (158) nicht für öffentliche Filmveranstaltungen (vgl. DEGENHART 2008, S.10f.). Vgl. MONSSEN-ENGBERDING 1998, S.124. 102 geschäfte, die ausschl. von öffentlichen Verkehrsflächen zu betreten sein dürfen und eigenes Personal (oder bestimmte technische Sicherungen)545 haben müssen.546 Illegal sind i.d.S. gem. Rechtsprechung z.B. sog. Wechselvideotheken,547 wie auch das sog. "Shop in the Shop"System.548 Die Verbote sollen insb. der öffentlichen Kontrolle der Gewerbetreibenden, aber auch der Kinder und Jugendlichen selbst dienen.549 Der dritte legale Vertriebsweg ist der Versandhandel, denn verboten ist nicht der Versandhandel per se, sondern gem. Legaldefinition des § 1 Abs. 4 JuSchG nur ein entgeltliches Geschäft, "das im Wege der Bestellung und Übersendung einer Ware durch Postversand oder elektronischen Versand ohne persönlichen Kontakt zwischen Lieferant und Besteller oder ohne dass durch technische oder sonstige Vorkehrungen sichergestellt ist, dass kein Versand an Kinder und Jugendliche erfolgt, vollzogen wird."550 Kurioserweise dürfen indizierte Medien nach Nr. 5 der Norm auch nicht ohne persönlichen Kontakt zwischen Lieferant und Besteller zwecks Alterskontrolle oder ohne dass durch technische oder sonstige Vorkehrungen sichergestellt ist, dass kein Versand an Kinder und Jugendliche erfolgt, importiert werden: Eine relativ gegenstandslose Regelung, denn die (ohne Weiterverbreitungsabsicht) bei einem ausländischen Versand bestellenden inländischen Endverbraucher machen sich nicht als Einführer strafbar, sind nur notwendige Teilnehmer der dadurch verursachten strafbaren Einführung durch ausländische Vertreiber,551 die aber i.d.R. gem. der Gesetze der Vertreiberländer legal handeln und nicht nach deutschem Recht belangt werden können. Die Norm legitimiert aber bspw. eine Alterskontrolle des inländischen Endverbrauchers durch deutsche Zollbehörden, die Postsendungen indizierter Medien i.d.S. zurück545 546 547 548 549 550 551 Vgl. BGHSt 48, 278. Vgl. BayOblG, Urt. v. 11.03.1986, Az.: RReg 4 St 226/85; LG Hamburg, Beschl. v. 02.12.1988, Az.: 1300 Js 155/88; MONSSEN-ENGBERDING 1998, S.121f.; WENDLAND 2003, S.5 und BPjM 2008a. Vgl. LG Hannover, Beschl. v. 17.04.1986, Az.: 32 Qs 104/85. Vgl. BGH, Urt. v. 07.07.1987, Az.: 1 StR 247/87; BayOblG, Urt. v. 11.03.1986, Az.: RReg 4 St 226/85; BT-Drs. 10/2546, S.17/24f. und SCHOLZ 1999, S.61f.. Eine originäre Intention des die Vermietverbote diktierenden JÖSchNG vom 25.02.1985, wie der rigiden Definition eines Ladengeschäfts, war eine Unrentabilität, resp. die Reduzierung sog. Erwachsenenvideotheken zugunsten sog. Familienvideotheken und i.d.S. gleichermaßen die Reduzierung jugendgefährdender Videofilme insg.; GOTTBERG 1999 konstatierte aber, "dass dies nicht gelungen ist. Die Mehrheit der Videotheken wollte vor allem auf das Geschäft mit Pornographie nicht verzichten und erklärte […] ihren Laden zur Videothek für Erwachsene […]. Da sich Jugendliche ihre Videos nun durch Ältere besorgen lassen mussten […], spielten die Altersfreigaben und die Indizierungen für den Konsum letztlich eine nur geringe Rolle." (S.43) Dgl. auch BT-Drs. 14/1105, S.3-9 und HEIDTMANN 1992, gem. dem das Verbot gar u.U. dazu führen konnte, "daß Kinder auf die im Haushalt vorhandenen Erwachsenenprogramme ausweichen (vielleicht sogar auf die, vor denen sie geschützt werden sollen)." (S.100) Im Lichte der unintendierten, "unverhältnismäßigen Schwierigkeiten" des Vermietverbots und des Phänomens, dass ca. 80 % aller Videotheken Erwachsenenvideotheken waren, plädierte das Bundesministerium für Wirtschaft bereits am 06.08.1997 im Rahmen des Referentenentwurfs des 3. FFGÄndG für eine Änderung des § 3 Abs. 1 Nr. 3 GjS, wie des analogen § 184 Abs. 1 Nr. 3a StGB. Hinter dem Wort "Ladengeschäften" sollten die Worte "oder in durch baulich-technische Maßnahmen sowie durch geeignete Zugangssicherungen abgetrennten Geschäftsräumen" eingefügt werden: "Vor allem kleine Videotheken haben nicht die räumlichen Möglichkeiten, für das Vermietgeschäft mit Videos, die Kindern und Jugendlichen zugänglich gemacht werden dürfen, ein besonderes Geschäft mit eigenem Eingang von außen anzugliedern und haben sich daher in vielen Fällen entschlossen, den Zugang zu ihrem Geschäft Kindern und Jugendlichen gänzlich zu verbieten. Im Interesse des Jugendschutzes muß es aber liegen, daß Videotheken nach Möglichkeit jugendoffen als sogenannte 'Familienvideotheken' geführt werden können. Die mangelnde Akzeptanz gerade dieser Bestimmung hat auch zu Vollzugsdefiziten geführt. Es sollten daher 'abgetrennte Geschäftsräume, die durch baulichtechnische Maßnahmen sowie durch geeignete Zugangssicherungen' Gewähr dafür bieten, daß Kindern und Jugendlichen weder Einsicht noch Zutritt möglich ist, 'Ladengeschäften' gleichgestellt werden. Der Aufbau von Familienvideotheken würde insgesamt zu besseren Entfaltungs- und Refinanzierungsmöglichkeiten der Videowirtschaft gerade in bezug auf die Produktion und den Vertrieb von Kinder- und Jugendfilmen führen, die im Vergleich zu anderen Ländern in Deutschland beeinträchtigt sind." (BT-Drs. 14/1105, S.1f.) Gleichzeitig hatten die Bundesländer ihre Erfahrungen zu den Auswirkungen des § 3 Abs. 1 Nr. 3 GjS mitgeteilt: Neun Bundesländer plädierten für eine Gesetzesänderung (Baden-Württemberg, Bremen, Hamburg und Rheinland Pfalz aber nur im Rahmen einer Reform der Jugendschutzgesetze insg.); Berlin und das Saarland kommentierten eine evtl. Gesetzesänderung nicht und Bayern, Niedersachsen, Hessen und Nordrhein-Westfalen votierten gegen eine Gesetzesänderung, insb. weil sich das geltende Recht bewährt(!) habe (vgl. BT-Drs. 14/1105, S.3-9). Ungeachtet dessen, dass der Gesetzgeber das Plädoyer (auch im Rahmen der späteren Entwürfe des JuSchG) ignorierte, hatte sich die Situation der Videotheken bis 2011 nach Angaben des Interessenverband des Video- und Medienfachhandels in Deutschland e.V. fundamental geändert: "Die meisten der in Deutschland ansässigen […] Videotheken sind zu 71 Prozent Kombivideotheken (Vorjahr 67 Prozent). Reine Erwachsenenvideotheken machen 23 Prozent (Vorjahr 29 Prozent) des Marktes aus und reine Familienvideotheken etwa 6 Prozent." (IVD 2012, S.5) Aktuell demonstriert LIESCHING 2011a die prinzipielle Legalität des "Shop in the Shop"-Systems: Waren Kombi- oder Familienvideotheken im Jahre 2006 für ca. 35 % der Videotheken unrentabel, könnten Familienvideotheken inkl. "Shop in the Shop"-System i.d.S. das neue Primärmodell der dt. Videotheken werden. Vgl. STATH 2006, S.245. Vgl. OLG München, Urt. v. 29.07.2004, Az.: 29 U 2745/04 und STATH 2006, S.117-122. Vgl. LG Freiburg, Beschl. v. 26.08.1997, Az.: III QS 61/97 und OLG Hamm, Urt. v. 22.03.2000, Az.: 2 Ss 1291/99. 103 halten oder gar abweisen können. Die insb. innerhalb der EU offenen Grenzübergänge i.V.m. den nur stichprobenartigen Kontrollen ausländischer Warensendungen sind aber insg. nicht geeignet, den nach dem JuSchG illegalen Versandhandel zu unterminieren, so dass indizierte Medien ohne Probleme regelmäßig auch von Kindern und Jugendlichen im Ausland bestellt und hierzulande in Empfang genommen werden können, letztlich das bewahrpädagogische Jugendmedienschutzkonzept bereits von Anfang an erodiert. Wer gegen die skizzierten Verbote verstößt, wird nach den Strafvorschriften des § 27 JuSchG mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe, bzw. im Falle von Fahrlässigkeit mit Freiheitsstrafe bis zu sechs Monaten oder Geldstrafe bis zu hundertachtzig Tagessätzen bestraft. Gewerbetreibenden drohen auch wettbewerbsrechtliche Konsequenzen gem. § 3 UWG.552 Nicht bestraft werden aber dank des sog. Elternprivilegs des § 27 Abs. 4 JuSchG personensorgeberechtigte Personen, die indizierte Medien anvertrauten Kindern und Jugendlichen zugänglich machen, außer sie verletzen durch das Zugänglichmachen ihre Erziehungspflicht gröblich. 11.2 11.2.1 Das Indizierungsverfahren Einleitung des Indizierungsverfahrens Die BPjM wird nach § 21 JuSchG i.d.R. auf Antrag tätig: Antragsberechtigt sind das BMFSFJ, die OLJB und die Landes- und Jugendämter, d.h. bundesweit ca. 800 Institutionen.553 Kommt infolge eines Antrags eine Indizierung oder Listenstreichung bspw. im Lichte einer bereits erfolgten Indizierung, einer Nichtindizierung eines (im Wesentlichen) inhaltsgleichen Mediums oder der Nichteinhaltung der Verjährungsfristen offensichtlich nicht in Betracht, kann die Vorsitzende – seit 1991 ist das nach wie vor Elke MONSSEN-ENBERDING – das Verfahren einstellen. Seit Inkrafttreten des JuSchG sind auch alle deutschen Behörden und die anerkannten Träger der freien Jugendhilfe anregungsberechtigt (z.B. Polizeidienststellen, Schulen); bundesweit sind das ca. 800.000 Institutionen. Im Rahmen einer Anregung wird die BPjM aber nur tätig, wenn die Vorsitzende die Durchführung eines Verfahrens im Interesse des Jugendschutzes für geboten hält. Bis dato hielt die BPjM aber noch infolge jeder Anregung ein Verfahren für geboten.554 Nicht nur hat die Alternative der Anregung die Indizierungsverfahren insg. zahlreicher gemacht, ungeachtet dessen, dass die Verfahren nach § 3 DVO-JuSchG einheitlich sind, ist mittlerweile für Computerspiele auch feststellbar, dass die Indizierungsverfahren i.d.R. gar die Folge von Anregungen und nicht etwa mehr von klassischen Anträgen geworden sind (s. Tab. 1).555 552 553 554 555 Vgl. BGH, Urt. v. 12.07.2007, Az.: I ZR 18/04. Vgl. MONSSEN-ENGBERDING 1998, S.115f.. Bereits nach § 2 Abs. 2 SchSchmG waren die Landeszentralbehörden und die Landesjugendämter Indizierungsantragsberechtigt. Nach dem GjS waren originär aber nur die elf OLJB antragsberechtigt; Heiner GEIßLER (CDU), Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit, verordnete angesichts eines im Lichte einer vermeintlichen Inflation rechtsradikaler Schriften nicht genügenden Quantums der Indizierungsanträge erst am 12.05.1978, dass mittels § 2 DVO-GjS auch die ca. 500 Landes- und Jugendämter Westdeutschlands antragsberechtigt waren (vgl. BOSSELMANN 1987, S.14; EISENHAUER/HÜBNER 1988, S.222 und LIEVEN 1994, S.176). Auch sollte die Verordnung eine fehlende Bürgernähe des Verfahrens kompensieren und ermöglichte letztlich einen Anstieg der Ende der 1970er (infolge sittenrechtlicher Liberalisierungen seit 1968 und eines generellen Desinteresses an der Indizierungsmaßnahme) nur unter 100 jährlichen Indizierungsanträge auf die hunderten jährlichen Anträge seit den 1980ern (vgl. BARSCH 1988 S.17). Vgl. MONSSEN-ENGBERDING/BOCHMANN 2005, S.18f. und CARUS/HANNAK-MAYER/KORTLÄNDER 2006, S.6. Ursächlich dafür ist nicht nur die hohe Anzahl anregungsberechtigter Institutionen, sondern auch ein geringeres Begründungsniveau für eine Anregung: Nach § 2 DVO-JuSchG sind gleichermaßen Indizierungsanträge, wie auch -anregungen prinzipiell begründungspflichtig, praktisch wird man aber geringere Anforderungen an eine Anregung stellen müssen, als an einen ordnungsgemäßen Antrag; ungeachtet dessen, dass im Zweifelsfall einfach nur eine vermeintliche Offensichtlichkeit der Jugendgefährdung i.S.d. § 15 Abs. 2 Nr. 5 JuSchG konstatiert werden muss (s.u.), ergibt sich ein vergleichsweise besonderes Begründungsniveau eines Antrages bereits aus der Tatsache, dass gem. § 25 Abs. 2 JuSchG nur antragstellenden Behörden, nicht aber anregenden Institutionen das Recht zusteht, gegen eine Entscheidung der BPjM ein Medium nicht in die Liste jugendgefährdender Medien aufzunehmen, wie gegen eine Verfahrenseinstellung im Verwaltungsrechtsweg Klage zu erheben. Der BPjM war im Fall von IE Nr. 8818 (V) v. 05.08.2009 z.B. bereits die Begründung des anregungsberechtigten bayerischen Landeskriminalamts für die Indizierung des Spiels CALL OF DUTY 4: MODERN WARFARE hinreichend, das nur auf einen Vermerk des Operativen Ergänzungsdienstes der Polizeiinspektion Traunstein verwies, "in dem ausgeführt wird, dass aufgrund der Bebilderung und Beschreibung des lediglich mit dem Hinweis 'PEGI 16+' versehenen Spiels von einem jugendgefährdenden Inhalt auszugehen ist." Eine Begründung, mittels der prinzipiell bzgl. quasi aller nicht nach § 14 JuSchG gekennzeichneten Spiele bestimmer Segmente salopp eine Indizierung angeregt werden könnte. 104 Tab. 1: Indizierungsanträge/-anregungen bei Computerspielen (2004-2012) Behörde/Bundesland Indizierungsanträge Indizierungsanregungen BAJ 2 BMFSFJ 161 Bundesamt für Verfassungsschutz 1 Baden-Württemberg 3 46 Bayern 4 221 Berlin 1 Brandenburg 1 Niedersachsen 1 9 Nordrhein-Westfalen 4 46 Sachsen 1 Schleswig-Holstein 2 174 329 Gesamt: Quelle: <http://www.bundespruefstelle.de/bpjm/Jugendmedienschutz/statistik>, Stand: 08.04.2013. Das Indizierungsverfahren basiert i.d.S. primär auf der Partizipation der Bürger: Die BPjM kontrolliert den Markt nicht selbst von Amts wegen systematisch, kann aber prinzipiell bspw. dank interessierter Kreise eine umfassende Kontrolle gewährleisten. Bereits 1951 formierten sich z.B. die Bischöfliche Arbeitsstelle für Fragen der Volkssittlichkeit und die Bundesarbeitsgemeinschaft Aktion Jugendschutz – die heutige Bundesarbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz (BAJ) –, wie auch 1953 die Zentralstellen zur Bekämpfung unzüchtiger und jugendgefährdender Schriften, Abbildungen und Darstellungen bei den Obersten Landesjustizbehörden, die u.a. evtl. indizierungswürdige Schriften systematisch kontrollierten und den antragsberechtigten Institutionen z.T. die Anträge selbst vorformulierten.556 Indizierungsanträge und -anregungen dienen auch der Beschleunigung des Verfahrens, wie der Entlastung der BPjM, wie bspw. die Formulierungsidentitäten zwischen den Anträgen und Anregungen einerseits und den letztlichen Indizierungsentscheiden (IE) andererseits demonstrieren,557 die die BPjM nur mit standardisierten Textbausteinen garniert (s.u.). Auch wird moniert, dass die BPjM natürlich selbst über die antrags- bzw. anregungsberechtigten Institutionen Indizierungsverfahren einleiten könnte.558 Ungeachtet dessen wird die BPjM seit Inkrafttreten des JuSchG auch auf Veranlassung der Vorsitzenden u.a. gem. § 21 Abs. 5 JuSchG von Amts wegen tätig, "1. wenn zweifelhaft ist, ob ein Medium mit einem bereits indizierten Medium ganz oder im Wesentlichen inhaltsgleich ist, 2. wenn bekannt wird, dass die Voraussetzungen für die Indizierung nach nicht mehr vorliegen, oder 3. wenn die Aufnahme in die Liste nach 25 Jahren wirkungslos wird und weiterhin die Voraussetzungen für die Aufnahme in die Liste vorliegen." In ihren ersten fünf Jahrzehnten indizierte die BPjS ca. 15.000 Medien;559 aktuell sind inkl. (im Wesentlichen) inhaltsgleicher Spiele (s.u.) ca. 652 Computerspiele formell indiziert (Stand: 31. 08.2013).560 11.2.2 Personelle Besetzung der BPjM (12er-Gremium) Die nach § 19 JuSchG je auf die Dauer von drei Jahren bestimmten (Abs. 3), weisungsfreien (Abs. 4)561 Mitglieder der BPjM sind die (inkl. Stellvertreter) vom BMFSFJ ernannte Vorsitzende, je ein von jeder Landesregierung, resp. OLJB zu ernennender ehrenamtlicher Länderbeisitzer und weitere vom BMFSFJ zu ernennende, ehrenamtliche Gruppenbeisitzer (Abs. 1), die den Kreisen der Kunst, der Literatur, des Buchhandels und der Verlegerschaft, der Anbieter von Bildträgern und von Telemedien, der Träger der freien Jugendhilfe, der Träger der öffentlichen Jugendhilfe, der Lehrerschaft und der Kirchen, der jüdischen Kultusgemeinden und anderer öffentlich-rechtlicher Religionsgemeinschaften562 auf Vorschlag der in § 20 JuSchG 556 557 558 559 560 561 562 Vgl. FERCHL 1980, S.214f. und BOSSELMANN 1987, S.13. Dgl. war bereits im Rahmen des SchSchmG möglich, s. DECKER 2005, S.12. Vgl. BOSSELMANN 1987, S.48ff.. Vgl. BUCHLOH 2002, S.85. Vgl. SEIM 1997, S.150/182 und SEIM 2004. Quelle: <http://www.bundespruefstelle.de/bpjm/Jugendmedienschutz/statistik>, Stand: 08.04.2013. Vgl. BVerfGE 83, 130 (150). Die Privilegierung der Religionsgemeinschaften verstößt nach STATH 2006 gegen den sog. Gleichheitssatz nach Art 3 Abs. 3 GG; die BPjM sei i.d.S. gem. Art. 4 Abs. 1 und 2 GG nicht neutral (S.275). Nach der Auffassung des BVerfG sei aber diesbzgl. insb. nicht zu beanstanden, "daß im Gegensatz zu Religionsgemeinschaften [...] weltanschauliche Gruppen keine 105 genannten Gruppen zu entnehmen sind (Abs. 2). Das BMFSFJ darf gem. STATH 2006 einzelne Vorschläge, nicht aber alle Vorschläge einer Gruppe ablehnen, "da ansonsten ein verfassungsrechtlich bedenklicher staatlicher Einfluss auf die Zusammensetzung der Bundesprüfstelle ausgeübt werden könnte."563 Infolge der Aufnahme des Verfahrens entscheidet die BPjM i.S.d. Gesetzes regulär in der Besetzung von zwölf Mitgliedern: Die Mitglieder des sog. 12erGremiums – gem. der Behörde selbst das "zentrale Entscheidungsorgan der BPjM"564 – sind nach § 19 JuSchG die Vorsitzende, drei Beisitzer der Länder und je ein Beisitzer der genannten Kreise. Das Gremium ist auch in einer Besetzung von mindestens neun Mitgliedern beschlussfähig, von denen mindestens zwei den Kreisen der Kunst, der Literatur, des Buchhandels und der Verlegerschaft oder der Anbieter von Bildträgern und von Telemedien angehören müssen (Abs. 5). Das 12er-Gremium entscheidet mit Zweidrittelmehrheit, bzw. in der Besetzung von neun Mitgliedern mit sieben Stimmen (Abs. 6). Nach § 12 DVO-JuSchG wird die Reihenfolge der Teilnahme der Gruppenbeisitzer an den einzelnen Verhandlungen von der Vorsitzenden für ein Jahr im Voraus festgelegt (Abs. 2); bzgl. der Länderbeisitzer legt die Vorsitzende dgl. im Einvernehmen mit den Länderbeisitzern selbst fest (Abs. 3). Nach § 7 bis 9 DVO-JuSchG sind die mündlichen Verhandlungen, Beratungen und Abstimmungen der BPjM insg. nicht öffentlich. Im Rahmen der Beratungen und Abstimmungen dürfen nur die entscheidenden Gremienmitglieder anwesend sein, die verpflichtet sind, "über den Hergang bei der Beratung und Abstimmung Stillschweigen zu bewahren." Das BVerwG attestierte den Gremien eine "vermutete Fachkenntnis und Elemente gesellschaftlicher Repräsentanz"565 und das BVerfG argumentierte, dass die Beteiligung von Vertretern gesellschaftlicher Gruppen unter dem Gesichtspunkt gerechtfertigt sei, "daß Entscheidungen, die die Presse- und Kunstfreiheit betreffen, möglichst in einer gewissen Staatsferne und aufgrund einer pluralistischen Meinungsbildung ergehen sollen. [...] Die staatliche Verwaltung nimmt danach nicht in Anspruch, die Wertmaßstäbe für die Indizierungsentscheidung mit dem eigenen, monokratisch strukturierten Beamtenapparat zu bestimmen. Sie stellt vielmehr ein Forum zur Verfügung, auf dem die widerstreitenden Wertvorstellungen ermittelt und die Entscheidung im Hinblick auf ein ganz bestimmtes Werk aufgrund einer Erörterung gefällt wird. Die Beteiligung von Gruppenvertretern soll dabei gerade im Interesse der Kunstfreiheit sicherstellen, daß alle für die Indizierungsentscheidung maßgeblichen Gesichtspunkte gesammelt, die hierbei tragenden Werte ermittelt und zu einem Ausgleich gebracht werden."566 Emil KEMMER (CSU), Hauptredner der CDU/CSU-Fraktion, argumentierte im Rahmen der dritten Bundestagslesung des GjS, die BPjS sei gar eine Selbstkontrollinstitution: Verleger, Autoren und Buchhändler hätten es in der Hand, "durch Verbreitung guter Bücher, durch Zusammenarbeit mit den Behörden, mit den Jugendverbänden und ihren Buchvertrieben, vor allem aber durch Ablehnung aller schlüpfrigen und zerstörenden Literatur dieses Gesetz bald überflüssig zu machen."567 563 564 565 566 567 Berücksichtigung finden. Das verstößt nicht gegen den Gleichheitssatz. Richtig ist zwar, daß die Arbeit der Kirchen in der Jugendpflege ihrem jeweiligen religiösen Hintergrund verpflichtet ist. Kirchen werden jedoch vor allem deshalb an der Tätigkeit der Bundesprüfstelle beteiligt, weil sie sich seit jeher in besonderem Maße mit der Kinder- und Jugendbetreuung befaßt haben. Das gilt für weltanschauliche Gemeinschaften im Hinblick auf den Jugendschutz nicht in gleicher Weise." (E 83, 130) Das sich die Weltanschauungsgemeinschaften nicht in gleicher Weise mit der Kinder- und Jugendbetreuung befasst hätten, ist im Lichte der generellen Privilegierungen der Religionsgemeinschaften einerseits eine Farce. Andererseits ist die originäre Privilegierung der Religionsgemeinschaften auch nicht das Resultat eines besonderen Engagements derselben, sondern des katholischen Konservativismus der Ära Adenauer. STATH 2006, S.172. Bzgl. des originären, bis zum Inkrafttreten des Gesetzes zur Änderung des GjS v. 29.10.1993 verfassungswidrigen § 9 Abs. 2 GjS, nach dem nicht reglementiert war, welche Gruppen vorschlagberechtigt waren und das Bundesministerium des Innern, resp. das Bundesministerium für Familienfragen und seine Nachfolgeministerien problemlos einen bedenklichen Einfluss auf die Zusammensetzung der BPjS ausüben, z.B. insb. konservative Gruppenbeisitzer rekrutieren konnten, s. BVerfGE 83, 130 und BUCHLOH 2002, S.89/98. Bereits im Rahmen des RLG v. 29.05.1920 wurden insb. auch Kinoreformer, die u.a. eine miasmatische Wirkung des Kinos behaupteten und Pejorative wie "Schundfilm" u.ä. etablierten, in die Gremien der Filmprüfstellen rekrutiert (vgl. HAUSMANNINGER 1992, S.80/196; DIEDRICHS 2004, S.505 und LOIPERDINGER 2004, S.527f.). BPjM 2008b. BVerwGE 39, 197 (203f.); 77, 75 (78) und 91, 211 (216). BVerfGE 83, 130 (150). Zitiert in: BUCHLOH 2002, S.98. 106 Die Behauptungen sind insg. nicht plausibel, denn den Beisitzern wird bspw. keinerlei Art von Qualifikationsprüfung abverlangt. Dies sei allerdings gem. BVerfG nicht zu beanstanden, denn das Ziel ihres Mitwirkens sei es, "die Anschauungen der sachkundigen Kreise einzubringen. Es fehlt damit jeder durchgreifende Grund, den einzelnen Gruppenbeisitzern einen über die Verbandszugehörigkeit hinausgehenden Qualifikationsnachweis abzuverlangen."568 Fraglich ist dann aber einerseits die pauschal attestierte Sachkunde der Kreise, andererseits die naive Prämisse, die nicht an Weisungen gebunden Beisitzer brächten die Anschauungen ihrer Kreise und nicht ihre subjektiven Auffassungen ein; so läßt sich z.B. gem. MÜHLBAUER 2007 nicht feststellen, "ob sie, wie die Medienwirkungsforschung heute, mit 'vernetzten Verursachungsketten', 'komplexen Kausalanalysen', 'multiplen Wirkungspfaden' und 'rekursiven Beeinflussungsprozessen' arbeiten, oder als Laien intuitiv von einfachen Reiz-Reaktions-Schemata ausgehen." Die Indizierungsentscheide implizieren regelmäßig insb. letzteres, wie auch eine mehr oder weniger implizite Orientierungen an Medienressentiments und anachronistisch anmutenden Moraltraditionen.569 Die Gremien der BPjM sind darüber hinaus nicht nur i.d.R. fachfremd besetzt,570 sondern sind auch nicht besonders gesellschaftlich repräsentativ. SEIM 1997 kritisiert z.B., dass naturgemäß i.d.R. bewahrpädagogisch orientierte Mitglieder ernannt werden, die bspw. primär im Interesse des Jugendschutzes und nicht der Kunstfreiheit votieren,571 wie die Indizierungsentscheide auch tatsächlich demonstrieren (s.u.). Letztlich kann der relativ homogene, reziprok-affirmative Mikrokosmos einer solchen Behörde (auch dank ihrer arkanen Sitzungen) innerhalb der Behörde einerseits abweichende Auffassungen auch relativ leicht unterbinden.572 Andererseits ist die gesellschaftliche Repräsentativität solcher prinzipiell bewahrpädagogisch orientierter Gremien generell unrealistisch: Robert SCHILLING, von 1954 bis 1966 der erste Vorsitzende der BPjS, behauptete auch nur, dass die BPjS nicht die gesamte Gesellschaft, sondern nur einen vermeintlich "moralisch intakten Teil der Bevölkerung"573 repräsentiere. Ein Überlegenheitsdenken, dass die spätere Argumentation des BVerfG bereits a priori desavouierte. Auch i.d.S. ist insb. die Fiktion einer Selbstkontrolle nicht plausibel: Nach KIENZLE 1980 wolle die BPjM mittels der Beteiligung von Vertretern gesellschaftlicher Gruppen nur das "Anrüchige einer repressiven Staatszensur"574 vermeiden und BUCHLOH 2002 konstatiert, dass eine staatliche "Zensurinstanz" nur deshalb als Selbstkontrolleinrichtung bezeichnet wurde, "um ihr eine größere Anerkennung bei denjenigen zu verschaffen, die von den Zensurmaßnahmen möglicherweise betroffen sind. Von einer wirklichen Selbstkontrolle von Presse und Literatur kann indes nicht gesprochen werden: Die 'Selbstkontrolle' wird vom Staat erzwungen; in den Prüfgremien arbeiten neben Verlegern, Buchhändlern und Schriftstellern auch Staats- und Kirchenvertreter sowie Repräsentanten anderer Gruppen mit, dabei ist die Literaturseite eindeutig in der Minderheit [...]."575 Das 12er-Gremium dominieren auch so ex officio indizierungssaffinere Personen jugendschützerischer Professionen: Die Vorsitzende, die drei Länder- und die vier Gruppenbeisitzer der Träger der freien Jugendhilfe, der Träger der öffentlichen Jugendhilfe und der Lehrerschaft und der Kirchen.576 I.d.S. ignorieren die Proponenten der BPjM die massive Kritik bspw. der Normunterworfenen selbst, die bereits das GjS als Zensurgesetz und autopoietisches Instrument konservativer Autoritäten kritisierten.577 Letztlich zeige die Zusammensetzung der Gremien gem. SCHUMANN 2001, "dass Fragen des Jugendmedienschutzrechts, bei denen es immerhin um Eingriffe in die Kommunikationsfreiheiten des Art. 5 I GG, 568 569 570 571 572 573 574 575 576 577 BVerfGE 83, 130 (150). Vgl. SEIM 1997, S.184 und GANGLOFF 2001, S.19. Vgl. SCHUMANN 2001, S.90f. und SCHMID 2009a. Im Lichte der fachfremden Gremien protestierte bspw. der Börsenverein des Deutschen Buchhandels e.V. gegen die BPjS und nahm bereits 1984 sein Recht des Vorschlags der zu ernennenden Gruppenbeisitzer nicht mehr wahr (vgl. SEIM 1997, S.185 und SEIM 1998, S.46). Vgl. SEIM 1997, S.185. Vgl. BÜTTNER 2002a, S.209. Zitiert in: KIENZLE 1980, S.24. KIENZLE 1980, S.24. BUCHLOH 2002, S.98. Vgl. STATH 2006, S.183. Vgl. DICKFELDT 1979, S.155-160. 107 aber auch die Kunstfreiheit des Art. 5 III GG geht, in Deutschland fälschlich nicht als Rechtsfragen, sondern als Fragen der gesellschaftlichen Akzeptanz oder der Akzeptanz durch interessierte Kreise angesehen werden."578 11.3 Jugendgefährdende Gewaltdarstellungen Die BPjM indiziert namensgemäß sog. (vermeintlich) jugendgefährdende (resp. sozialethisch desorientierende)579 Medien.580 Nach § 18 Abs. 1 JuSchG sind das Medien, die geeignet sind, "die Entwicklung von Kindern oder Jugendlichen oder ihre Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit zu gefährden [...].581 [...] Dazu zählen vor allem unsittliche, verrohend wirkende, zu Gewalttätigkeit, Verbrechen oder Rassenhass anreizende Medien [...]." Ohne eine konkretere Definition jugendgefährdender Medien müssen solche die Literatur, die Rechtsprechung und die Spruchpraxis der BPjM konkretisieren.582 Bereits in der Entstehungszeit des GjS wurden aber Zweifel ggü. der Bestimmtheit der Norm artikuliert, denn das Konstrukt der Jugendgefährdung ist subjektiv, z.B. je nach Zeitgeist, wie pädagogischer Perspektive und Medienwirkungshypothese variabel interpretierbar.583 Ungeachtet dessen konstatiert das BVerfG, der Begriff jugendgefährdender Medien sei prinzipiell gleichermaßen hinreichend bestimmt, wie auch eine "erhebliche Unschärfe"584 des Indizierungstatbestands. Eine genauere begriffliche Umschreibung sei aber kaum möglich, weil insb. kasuistische Reglementierungen und lediglich enumerative Kriterienkataloge im Lichte der Komplexität der Medien und der Diversität ihrer Inhalte kontraproduktiv wären.585 Nach Auffassung des BVerfG seien aber die (nicht finalen) Beispiele ein notwendiges Korrektiv, das erkennen ließe, "daß eine Indizierung erst bei einem deutlichen Gefährdungsgrad und einer erheblichen Intensität der Gefahr in Betracht kommen soll [...]."586 Bspw. indizierte die BPjM seit Inkrafttreten des JuSchG u.a. Frauen, Homosexuelle, Adipöse oder auch Behinderte diskriminierende, wie Drogen-, resp. Alkoholkonsum, Anorexie587 oder Suizid (vermeintlich) propagierende Inhalte. Kurioserweise verlange der Gefährdungsbegriff aber nach Auffassung der Rechtsprechung keine konkrete oder gar nachweisbare Wirkung im Einzelfall. Eine Gefährdung sei bspw. gem. OVG NRW vielmehr schon dann zu bejahen, "wenn eine nicht zu vernachlässigende Wahrscheinlichkeit angenommen werden darf, dass überhaupt Kinder und/oder Jugendliche durch die dargestellten Inhalte beeinflusst werden können."588 Die BPjM ist infolge dessen nach Auffas578 579 580 581 582 583 584 585 586 587 588 Vgl. SCHUMANN 2001, S.90f.. Vgl. BVerwGE 23, 112 (114); 25, 318; 39, 197 (206) und RETZKE 2006, S.131f.. Vgl. NIKLES/ROLL/SPÜRCK et al. 2005, S.259. Die Formulierung orientiert sich an § 1 Abs. 1 SGB VIII und ist präziser, als die Formulierung des § 1 Abs. 1 GjS, gem. der eine Jugendgefährdung die Eignung war, "Kinder oder Jugendliche sittlich zu gefährden [...]." Die Neuformulierung ist aber nur kosmetischer Art, soll also keine inhaltliche Änderung der Beurteilungskriterien ergeben (vgl. BT-Drs. 14/9013, S.58). Mithin divergieren aber die aktuelle und die originäre Auslegung der Jugendgefährdung: Unsittliche Medien gefährdeten Kinder und Jugendliche gem. BGHSt 8, 80 (83) noch, "wenn sie […] in jungen Menschen den Aufbau der […] christlichabendländischen Weltanschauung" erschwerten. Bzgl. einer Kritik an dieser Auslegung s. DICKFELDT 1979, S.149f.. Vgl. BUCHLOH 2002, S.83f.; LIESCHING 2002, S.129 und STATH 2006, S.230. Vgl. SEIM 1997, S.151; EISERMANN 2001, S.13; BUCHLOH 2002, S.115 und MIKOS 2009, S.70. Auch das originäre SchSchmG konnte bereits keine Legaldefinition der Schund- und Schmutzschriften präsentieren (vgl. SEIM 1998, S.20; KOLFHAUS 1994, S.144; LIESCHING 2002, S.19 und PLACHTA 2006, S.160), so dass die beiden Prüfstellen, wie die Oberprüfstelle selbst die normativen Rechtsbegriffe vollumfänglich auslegen konnten; s. LIESCHING 2002 für die damaligen Definitionen der Schundschriften (S.19ff.), bzw. der Schmutzschriften (S.21f.) im Rahmen der Spruchpraxis der Oberprüfstelle. BVerfGE 90, 1 (16). Bzgl. der Polymorphie und -semie des Begriffs der sozialethischen Desorientierung u.a. am Bsp. der diversen, divergierenden Auslegungen der dt. Regulierungs- und Kontrolleinrichungen, wie auch der Organisationen der sog. freiwilligen Selbstkontrolle, s. HAJOK/SELG/HACKENBERG 2010. Vgl. BVerfGE 11, 234 (237f.); 30, 336, (346ff.); SCHOLZ 1999, S.48; GEHLEN 2002, S.31; LIESCHING 2002, S.110; BROSIUS 2005, S.28 und NIKLES/ROLL/SPÜRCK et al. 2005, S.261. BVerfGE 90, 1 (17); vgl. VG Köln, Beschl. v. 31.05.2010, Az.: 22 L 1899/09; NIKLES/ROLL/SPÜRCK et al. 2005, S.259 und STATH 2006, S.145f.. Vgl. BACHMANN/HAJOK 2012. OVG NRW, Urt. v. 05.12.2003, Az.: 20 A 5599/98; vgl. BVerwGE 39, 197 (203ff.); 77, 75 (84f.); BGHSt 3, 256 (258); BOSSELMANN 1987, S.53/132; MEIROWITZ 1993, S.226f.; SCHOLZ 1999, S.49 und KÜBLER 2002. Erst seit dem erstgenannten Urt. des BVerwG v. 16.12.1971 mußte eine Jugendgefährdung nicht mehr konkret nachgeweisen werden. Ungeachtet dessen (und des Standes der Medienwirkungsforschung) konstatierte die BPjS im Rahmen der Indizierungsentscheidungen bis dato natürlich die Faktizität der Jugendgefährdung, wie sie bis heute die entsprechend die Faktizität der ent- 108 sung des Hans-Bredow-Instituts (HBI) darauf verwiesen, "[...] auf den Erkenntnisstand über die Wirkung von Mediendarstellungen auf Kinder und Jugendliche abzustellen. […] Dies bedeutet […], dass die BPjM sich kontinuierlich mit dem Erkenntnisstand über die Wirkung von entsprechenden Darstellungen auf Kinder und Jugendliche vertraut machen […] und die Anwendungskriterien entsprechend anpassen muss. Dabei kommt ihr […] ein Beurteilungsspielraum zu, so dass ist sie nicht etwa gehalten ist, sich an einer Mehrheitsmeinung in der Wissenschaft zu orientieren."589 I.d.S. kann (speziell im Rahmen einer unkritisch-affirmativen Interpretation entsprechender Studien) die Indizierung per se legitimiert, resp. konserviert werden, auch wenn der entsprechende Forschungskorpus die prämissive Wirkungshypothese des JuSchG prinzipiell ad absurdum führt.590 Rechtsprechung und JuSchG protegieren damit gleichermaßen (i.w.S.) arbiträren Indizierungsentscheidungen, denn die Wahrscheinlichkeit der Eignung einer Jugendgefährdung ist einfacher konstatiert als (eine konkrete Gefährdung) nachgewiesen: Jugendgefährdend sind im Lichte der Spruchpraxis der BPjM die Medien, die sie (ad hoc) indiziert. Kann die BPjM i.d.S. aber prinzipiell Allem und Nichts eine Gefährdungseignung attestieren, sind ohne ein besonderes Begründungsniveau Willkür, verbotene Inhaltskritik u.ä. einerseits und legitime Gefahrenprognosen andererseits im Zweifelsfall letztlich nicht mehr voneinander differenzierbar, insb. im Lichte der fundamentalen Problematik, dass die evtl. Wirkungseignung eines Mediums exkl. dem Medieninhalt zugeschrieben wird (ungeachtet dessen, dass ein medienzentriertes Wirkungsmodell nie – auch nicht 1954 –591 plausibel war). Bereits BARSCH 1988 kritisierte, dass die Indizierungsentscheide gem. "älterer hermeneutischer Vorstellungen von Verstehen" die "Botschaft" einer Schrift per Inhaltsanalyse konstatieren wollen: "Auf diese Weise sollen […] wertende Texteigenschaften wie 'unsittlich' und 'kriegsverherrlichend' problemlos und eindeutig ermittelbar sein, allein auf der Basis subjektiven Textverstehens und ohne Bezug auf konkrete Leser. [...] Damit wird eine individuelle bzw. BPS-kollektive Leseart zur Basis einer Verwaltungsentscheidung gemacht. In der Spruchpraxis der BPS sieht dann die Inhaltsanalyse so aus, daß Texten eine bestimmte Botschaft unterstellt wird, die natürlich für alle Leser gleich sein soll."592 Indem man die evtl. Medienwirkung aber auf den Faktor "Inhalt" reduziert, wird nicht nur das prinzipiell naive Medieninformationskonzept, sondern auch die 589 590 591 592 sprechenden Gefährdungseignung konstatiert. SCHULZ/BRUNN/DREYER et al. 2007, S.96; vgl. BVerwGE 39, 197 (203f.); 77, 75 (84f.); SCHOLZ 1999, S.49 und NIKLES/ROLL/SPÜRCK et al. 2005, S.259. Bzgl. der obsoleten Negierung eines Beurteilungsspielraumes der BPjS s. BVerwGE 23, 112 und 28, 223. Ggf. könnten die regelmäßigen, beim Autorenduo Michael KUNCZIK und Astrid ZIPFEL seit 2004 vom BMFSFJ in Auftrag gegebenen und seitens der BPjM referierten Literaturübersichten zur Wirkung von Mediengewaltdarstellungen eine hinreichende Informierung der Behörde indizieren, wären die Autoren insg. kritischer (z.B. insb. ggü. der Lerntheorie). Erst seit 2005 existiert aber ein Medienkompetenzbereich der BPjM selbst, der u.a. aktuelle Forschungsresultate der Medienwirkungsforschung analysieren soll. Ungeachtet dessen demonstrieren die Indizierungsentscheidungen der BPjM regelmäßig gleichermaßen eine unkritisch-affirmative Selektivität bei den Studien, die sie rezitieren und paraphrasieren, wie auch eine Orientierung an Alltagstheorien (vgl. HILPERT 2008, S.8) und gar kuriosesten Einzelmeinungen kontroverser Personen, wie z.B. Werner GLOGAUER (vgl. HAUSMANNINGER 1999 und HAUSMANNINGER 2002a, S.49), der "Gallionsfigur der Hysteriker und Fatalisten" (GANGLOFF 1998, S.3). Aktuellere Indizierungsentscheidungen bei Computerspielen rezitieren als einzigen Beleg(!) einer Verrohung oftmals gar die Desensibiliserungspostulate der Studie STECKEL/ TRUDEWIND 1997; bzgl. einer Kritik dieser Studie s. die Kommentierung zur analogen Studie TRUDEWIND/STECKEL 2003 (s.o.). Problematisch ist auch die obligatorische Referierung eines Exzerpts aus FRITZ/FEHR 1997 – die selbst konstatieren, dass die Wirkungsforschung die Indizierung nicht legitimieren kann –, in dem die Autoren ihre Privatmeinung artikulieren, dass Inhalte "jugendgefährdend" i.S.v. unmoralisch, resp. -ethisch sein könnten, nicht direkt i.S.d. gesetzlichen Indizierungstatbestands. Bzgl. der öffentlichen Kritik nicht hinreichender Wirkungsindizien und der Problematik, dass die Mitglieder der BPjM die Behörde u.U. als Vehikel persönlicher Moralvorstellungen missbrauchen, indignierte aber Elke MONSSEN-ENGBERDING: "Das stimmt überhaupt nicht. Die Entscheidungen der Gremien der Bundesprüfstelle basieren vielfach auf den Erkenntnissen der Wirkungsforschung und natürlich auf dem gesellschaftlichen Wertekonsens." (zitiert in: LANGE 2008b) Am 23.09.2010 sendete FRAUTV als frauenpolitisches Fernsehmagazin des WDR den Beitrag "Eine tote Frau bringt 100 Punkte" des Autors Arno KLOTHEN; im Rahmen des Beitrags fantasierte die Vorsitzende der BPJM aber selbst: "[…] auf jeden Fall kann die dauerhafte Berieselung mit Gewalt dazu führen, dass einmal die Mitleidsfähigkeit des Sehenden herabgesetzt wird oder auch seine Hemmschwelle, selbst Gewalt anzuwenden, herabgesetzt wird." Diesbzgl. differenzierter und auch. der Desensibilisierungshypothese insg. kritischer ggü. waren aber nicht erst KUNCZIK/ZIPFEL 2010: "[…] die […] Befundlage ist […] zu dürftig, um derart weitreichende Schlussfolgerungen zu ziehen." (S.188) Diese Äußerung der Vorsitzenden ist aber exemplarisch für die Problematik, dass Alltagstheorien offenbar oftmals die essentiellen Entscheidungsgrundlagen der Behörde darstellen. Vgl. BARSCH 1988, S.31. Vgl. DICKFELDT 1979, S.159 und BUCHLOH 2002, S.190. Vgl. BARSCH 1988, S.21f.. 109 negative Anthropologie des Stimulus-(Objekt-)Reaktion-Modells normativ kodifiziert und auch weiterhin perpetuiert.593 Eine "logische Wirkungsanalyse" kann aber gem. SEIM 1997 nicht vorgenommen werden, "wenn sie auf den Faktor 'Inhalt' reduziert wird [...]."594 Medienrezeption ist ein konstruktiver Prozess: Botschaft, wie auch Nutzung einer Schrift sind im Lichte der Polymorphie und -semie der Medieninhalte eine Frage individueller Rezeption.595 Textinterpretationen demonstrieren i.d.S. tendenziell auch vielmehr die Perspektive des Interpreten als objektive Botschaften der Medien,596 wie bereits der Aquinate realisierte.597 Letztlich dürfe es gem. FAULSTICH 2004 generell nicht um Inhalte per se gehen, "sondern nur um wahrgenommene Inhalte […]."598 Die Mitglieder der BPjM sind aber quasi von Amts wegen besonders sensibilisiert, exponieren und problematisieren u.U. Details, die das Gros der Jugendlichen evtl. gar nicht realisieren, resp. Nichtmitglieder problematisieren würden. Das Problem relativiert auch nicht die Orientierung der BPjM an der Plattitüde gefährdungsgeeigneter Jugendlicher.599 593 594 595 596 597 598 599 Vgl. EISERMANN 2001, S.72. SEIM 1997, S.184. Vgl. HALL 1980, S.136ff.; FAULSTICH 1988, S.9; DOELKER 1989, S.24; WINTER 1992; WINTER 1995; KROTZ 1999, S.123; HICKETHIER 2001, S.6/23ff.; MIKOS 2001b, S.173-208; GEHLEN 2002, S.12; WILLMANN 2003b, S.137 und MIKOS 2007. Vgl. BARSCH 1988, S.39 und BÜTTNER 2002b, S.8f.. Vgl. S. th. Ia q 75 art. 5. Vgl. FAULSTICH 2004, S.74. Im Rahmen des Bestimmtheitsgebots müssen nicht nur die Merkmale einer Jugendgefährdung definiert werden, sondern ggf. auch der Typus Jugendlicher, der Schutzobjekt und i.d.S. Orientierungspunkt des Jugendmedienschutzes ist. Verfassungsrechtlich legitim wäre bspw. eine Orientierung am Durchschnittsjugendlichen (vgl. SCHULZ/BRUNN/DREYER et al. 2007, S.84): Die Rechtsprechung hatte aber bereits 1955 gem. BGHSt 8, 80 (83) argumentiert, dass es dabei nicht nur auf den Durchschnittsjugendlichen ankomme, "sondern auch auf den infolge Anlage, mangelhafter Erziehung oder ungünstiger Wohnverhältnisse für schädliche Einflüsse besonders anfälligen Jugendlichen […]." Eine Dekade später argumentierte BVerwGE 25, 318 (321ff.), dass einzig der Durchschnittsjugendliche ein verfassungsrechtlich legitimer Orientierungspunkt sei. Durch BVerwGE 39, 197ff. wurde die Entscheidung aber revidiert: Der Jugendmedienschutz diene auch gefährdungsgeeigneten Jugendlichen; die Orientierung an "Extremfällen einer völligen Verwahrlosung oder krankhaften Anfälligkeit" sei aber illegitim. HACKENBERG/HAJOK/HUMBERG et al. 2010, eine Arbeitsgruppe aus Mitgliedern des Beschwerdeausschusses des FSM, proponierten eine praxisbezogene Einzelfallanwendung und argumentieren, "dass bei der Bewertung von Inhalten [...] grundsätzlich vom durchschnittlichen, nicht gefährdungsgeneigten Jugendlichen auszugehen ist. Wenn sich aber anhand objektivierbarer Kriterien und Angebotseigenschaften (v.a. Inhalt, Darstellungsform, Ansprache, Zielgruppe und Nutzerschaft) ableiten lässt, dass eine Risikogruppe gefährdungsgeneigter Jugendlicher das Angebot vermeintlich überdurchschnittlich nutzt, ist der gefährdungsgeneigte Jugendliche als Referenztyp für die Bewertung heranzuziehen. Mit diesem Vorgehen wird nicht pauschal auf den 'gefährdungsgeneigten' oder 'durchschnittlichen' Minderjährigen abgestellt, sondern das Kriterium 'Gefährdungsneigung' in Abhängigkeit von Angebot und Nutzerschaft einbezogen. [...] Einerseits wird nicht einseitig auf die gefährdungsgeneigten Minderjährigen abgestellt, was zu einer sehr starken Beschränkung der Informationsfreiheit der nichtgefährdungsgeneigten Minderjährigen, die auch als Minderjährige ein Grundrecht auf Information haben, sowie der Meinungsfreiheit der Inhalte-Anbieter führen könnte. Andererseits wird nicht allein auf die durchschnittlichen Minderjährigen abgestellt, was zu einer unzureichenden Berücksichtigung des durch die Verfassung zugesicherten Schutzes gefährdungsgeneigter Minderjähriger bzw. ihrer Jugend in einer besonderen Lebenssituation führen könnte." (S.4f.) Der FSM hat die Einzelfallanwendung in seine aktuellen Prüfgrundsätze übernommen, aber weder die BPjM, noch die USK haben eine analoge Regelung, sondern stellen pauschal auf gefährdungs-, resp. beeinträchtigungsgeeignete Jugendliche ab. Letztlich markierte das VG Köln mit Beschl. v. 31.05.2010 (Az.: 22 L 1899/09) gar einen genreversierten, affinen Rezipientenkreis ("jugendliche Fans") als Orientierungspunkt der BPjM, wenn die Behörde für eine wesentliche Verbreitung eines Mediums über diesen Kreis hinaus keinerlei hinreichende Anhaltspunkte vorlegen kann. Dieser konkrete Fall impliziert auch, dass hohe Auflagen u./o. eine intensive Werbekampagne nicht i.d.S. hinreichend sind; prinzipiell konterkariert der Beschluss die Spruchpraxis der BPjM. Bzgl. der maßgeblich zu schützenden Kreise Jugendlicher bei Bewertungen des Jugendmedienschutzes s. auch LIESCHING 2011b. Tatsächlich argumentiert auch Thomas HAUSMANNINGER in Orientierung an der Filmrezipiententypologie von WINTER 1995, "dass die häufigste Nutzung entsprechender Genres kaum bei den Fremden, auch nicht bei den Touristen, sondern in erster Linie bei den Buffs und den Freaks stattfindet – und, dass die Fremden und Touristen sich normalerweise weiterentwickeln, wenn sie weiter ihr Genre nutzen. Bei Buffs und Freaks aber muss mit einer anderen Ausstattung an Rezeptionskompetenzen gerechnet werden – also ist die Prüfleistung entsprechend auszurichten. […] Das wirft natürlich eine weitere Frage auf: Was ist mit den wenigen Fremden, die sich solche Filme auch anschauen? – Keine Sorge, sie kommen damit schon zurecht." (zitiert in: GOTTBERG 2001a, S.48f.) Ungeachtet dessen, welcher generalisierte Typus Jugendlicher den maßgeblichen Orientierungspunkt darstellt, sind nach BÜTTNER 2002a auch die "Bilder, Konzepte und Definitionen von Kindheit und Jugend" (S.211) und i.d.S. die Frage, welche Inhalte welchen Typus Jugendlicher wie gefährden könnten, Fragen der individuellen Entwicklungsgeschichte der Jugendschützer, so dass eine objektive Inhaltsprüfung prinzipiell nicht möglich ist. Andererseits kann im Lichte der Diversität der Medienrezeption keiner der Orientierungspunkte konkretisieren, welche Medieninhalte wie evtl. wirken sollen, resp. die Indizierungskriterien legitimieren; weder rezipieren gefährdungsgeeignete Jugendliche heterogen, noch sind die Wirkungen heterogen. Letztlich dient die Orientierung an einem prädispositionierten, gefährdungsgeeigneten Jugendlichen einzig einer so arbiträren, wie spekulativen Spruchpraxis, resp. der Skizzierung eines unkritisch-affirmativen Rezipienten, der auch die absurdesten Medieninhalte linear rezipiert; ein (u.U. gar pathologisches) Synonym des Extremfalls (vgl. BARSCH 1988, S.31), der kein legitimer Orientierungspunkt ist. Bzgl. der Entstehungsgeschichte des Begriffs des gefährdungsgeeigneten Jugendlichen s. letztlich HAHN 2010. 110 Das Gros aller indizierten Filme, Film- und Spielprogramme wird seit den 1980ern qua ihrer vermeintlich jugendgefährdenden Gewaltdarstellungen indiziert.600 Theoretisch sollen aber nicht alle Gewaltdarstellung per se jugendgefährdend sein, es gäbe jedoch Gewaltdarstellungen, bzgl. derer nach MONSSEN-ENGBERDING 1998 sowohl die pluralistische Gesellschaft als auch die Wirkungsforschung davon ausgingen, "daß sie die Grenzen der Zumutbarkeit, der moralischen Vertretbarkeit überschreiten."601 Im gesetzlichen Jargon sind das seit den 1970ern sog. verrohend wirkende Gewaltdarstellungen. Verrohung ist ein Schlagwort der Kinoreformer: Das württembergische Lichtspielgesetz vom 31.03.1914 pönalisierte erstmals Filme, die nach Art. 2 des Gesetzes eine "verrohende [...] Einwirkung" zeitigen können sollten.602 Das Reichslichtspielgesetz (RLG) vom 29.05.1920 orientierte sich im Wesentlichen am württembergischen Original, wie u.a. auch 33 Jahre später z.T. das GjS, resp. das aktuelle JuSchG. Das anachronistische Wirkungspostulat der Verrohung basiert aber auf der negativen Anthropologie und dem naiven Medieninformationskonzept, wie dem antiquierten Sittlichkeitsbegriff der Kinoreformer und kann nicht ohne dgl. funktionieren.603 Ungeachtet dessen konstatierte das VG Köln in Orientierung an insb. stimulations- und desensibilisierungshypothetische Ressentiments, Medien wirkten verrohend, "wenn sie geeignet sind, bei Kindern und Jugendlichen negative Charaktereigenschaften wie Sadismus und Gewalttätigkeit, Gefühllosigkeit gegenüber anderen, Hinterlist und gemeine Schadenfreude zu wecken oder zu fördern. Dies wird etwa dann angenommen, wenn mediale Darstellungen Brutalität fördern bzw. ihr entschuldigend das Wort reden, was vor allem dann gegeben ist, wenn Gewalt ausführlich und detailliert gezeigt wird und die Leiden der Opfer ausgeblendet bzw. sie als ausgestoßen, minderwertig oder Schuldige dargestellt werden. Als zu befürchtende und zu vermeidende Folge solcher Darstellungen ist eine Desorientierung von Kindern und Jugendlichen im Hinblick auf die im Rahmen des gesellschaftlichen Zusammenlebens gezogenen Grenzen der Rücksichtnahme und Achtung anderer Individuen anzusehen."604 Denn eine sadistische, gewalttätige, gefühllose, hinterlistige und schadenfrohe Persönlichkeit konterkariert 600 601 602 603 604 Vgl. DECKER 2005, S.83. Originär indizierte die BPjM primär sog. unsittliche (bzw. sexualethisch desorientierende) Medien als jugendgefährdend, z.B. Erotika i.w.S. (vgl. SCHOLZ 1999, S.50 und STATH 2006, S.147f.): In ihren ersten zwei Jahrzehnten diente die BPjS gem. DICKFELDT 1979 insb. der Revision des Säkularisierungsprozesses (S.118), resp. der Perpetuierung und Prolongierung eines in der Restaurationsphase reanimierten, repressiven, katholisch-konservativen Normen- und Wertesystems, speziell einer unreflektierten Sexualmoral (vgl. BOSSELMANN 1987, S.24/129 und BUCHLOH 2002, S.93/133f.). I.d.S. demonstrierten ihre insb. den Duktus der Leipziger Oberprüfstelle rezitierenden (vgl. LIESCHING 2002, S.62f.) Indizierungsentscheidungen eine aggressiv-aversive Praxis pädagogischer Sanktionierungen der Normunterworfenen und konstatierten eine (altersunabhängige) Gefährlichkeit entsprechender Medieninhalte (vgl. KIENZLE 1980, S.24; SEIM 1997, S.182f.; BUCHLOH 2002, S.137/91-99/132-140 und SEIM 2003, S.525): In den 1960ern wurden insb. Schriften der sog. Nacktkultur und selbst 1972 bspw. zwei Ausgaben der Jugendzeitschrift BRAVO wegen Verharmlosung der Onanie indiziert, denn Onanie könne paranoide Reaktionen und Rückenmarkschwindsucht evozieren (vgl. MÜHLBAUER 2007, GUNKEL 2009a, S.2 und GUNKEL 2009b). Die Geschichte der BPjM ist i.d.S. nicht überraschend seit ihrem Beginn eine Geschichte des Missbrauchs des Jugendschutzes. Die sexuelle Revolution und ihre Konsequenzen, wie z.B. das 1. Strafrechtsreformgesetz (1. StrRG) v. 25.06.1969, das u.a. Ehebruch und einfache Homosexualität entkriminalisierte und einen Trend der Liberalisierung der Sittlichkeitsdelikte markierte, initiierte aber die Erodierung des Fundaments der BPjS: Nach BVerfGE 30, 336 (336) v. 23.03.1971 waren Schriften der Nacktkultur nicht mehr (schwer) jugendgefährdend. Das am 25.01.1974 inkraftgetretene 4. StrRG degorierte i.d.S. § 6 Abs. 2 GjS und minimierte gleichermaßen die Sittlichkeitsdelikte im Wesentlichen auf Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung, auch sog. einfache Pornographie wurde bspw. legalisiert. Infolge des 4. StrRG kündigte die BRD drei Tage später auch das Genfer Übereinkommen zur Bekämpfung der Verbreitung und des Vertriebes unzüchtiger Veröffentlichungen v. 12.09.1923, das bereits seit dem Austritt Dänemarks 1967 erodierte. Aber im Lichte der vermeintlichen Problematik, dass die Filme der 1970er Körperbilder des 1968 veröffentlichten Films BLOOD FEAST, der das Genre des Splatterfilms erfand, adaptierten und ein Ende "sauberer" Gewalt initiierten (vgl. STOLTE 1988, S.9f. und PRUYS 1997, S.170), wurde der BPjS am 02.03.1974 ein neuer primärer Indizierungsgegenstand zugeordnet: Gewalt in den Medien (vgl. DICKFELDT 1979, S.203). Seitdem waren u.a. auch "verrohend wirkende, zu Gewalttätigkeiten [...] anreizende" Schriften gem. § 1 Abs. 1 GjS jugendgefährdend (vgl. NIKLES 2002, S.124); Ungeachtet dessen reduzierten sich die Indizierungsanträge im Laufe der Zeit: Ordnungsämter, Jugendämter und kommunale Polizeidienststellen kontrollierten den Gesetzesvollzug nicht mehr und die sozial-liberale Regierungskoalition plädierte Ende der 1970er gar für die Auflösung der Behörde, die aber dank des marginalen öffentlichen Interesses, dem Ende der Koalition und der Auflösung des Bundestages am 01.10.1982 nicht mehr realisiert wurde (vgl. GOTTBERG 1999, S.49 und RIEPE 2005). Im Lichte des sog. "Video-Boom" der 1980er und einer generellen diesbzgl. Moralpanik revitalisierte die schwarz-gelbe Koalition die BPjS wieder (vgl. LIEVEN 1994, S.175 und EISERMANN 2001, S.29). MONSSEN-ENGBERDING 1998, S.130f.. Vgl. SIEGERT 1995, S.150 und VOLLBRECHT 2001, S.34. Vgl. LUDWIG/PRUYS 1998, S.588; HAUSMANNINGER 2000 und HAUSMANNINGER 2002c, S.367. VG Köln, Beschl. v. 31.05.2010, Az.: 22 L 1899/09; vgl. OVG NRW, Beschl. v. 02.03.2009, Az.: 20 A 97/08; BT-Drs. II/ 3565, S.2ff.; BOSSELMANN 1987, S.73 und SCHOLZ 1999, S.51. 111 eklatant das Erziehungsziel der Gemeinschaftsfähigkeit.605 Gewaltdarstellungen wirken i.d.S. gem. FEIBEL 2004 nach der Spruchpraxis der BPjM u.a. dann verrohend, "wenn Gewalt in großem Stil und in epischer Breite geschildert wird; wenn Gewalt als vorrangiges Konfliktlösungsmittel propagiert wird, wobei in diesen Fällen überwiegend auch auf die Brutalität der Gewaltdarstellung abgestellt wird; wenn die Anwendung von Gewalt im Namen des Gesetzes oder im Dienste einer angeblich guten Sache als völlig selbstverständlich und üblich dargestellt wird, die Gewalt jedoch in Wahrheit Recht und Ordnung negiert; wenn Selbstjustiz als einziges probates Mittel zur Durchsetzung der vermeintlichen Gerechtigkeit dargestellt wird; wenn Mord- und Metzelszenen selbstzweckhaft und detailliert geschildert werden."606 Wesentlich ist insg. der Kontext der Gewaltdarstellungen, also dass ein Medium einen bestimmten, bspw. gewaltaffirmativen u./o. -bagatellisierenden (und in die Realität transferierbaren) Gedankenzusammenhang vermittelt.607 Notwendige Bedingung einer rechtskonformen Indizierungsentscheidung sind infolge dessen nicht nur nachvollziehbare Darstellung dessen, dass die verfahrensgegenständlichen Medien die formalen Indizierungskriterien erfüllen, sondern – auch im Lichte der (kontextorientierten) Gründe einer Nichtindizierung (s.u.) – eine die (vermeintlich) jugendgefährdenden Gewaltdarstellungen kontextualisierende, ganzheitliche Betrachtung der gegenständlichen Medien. D.h. dass die Entscheidungsgründe der BPjM i.d.S. gem. BVerwG erkennen lassen müssen, "dass sie sich mit dem indizierten Medium vollständig und nicht nur exemplarisch bzw. lückenhaft auseinander gesetzt hat [...]; allerdings ist nicht erforderlich, dass alle Mitglieder der Bundesprüfstelle das zu indizierende Medium 'Wort für Wort' gelesen haben [...]."608 Diese nicht begründete Nichterforderlichkeit widerspricht aber nicht nur dem gleichzeitigen Gebot einer vollständigen Auseinandersetzung, sondern ist insb. auch ggü. linearen Medien (z.B. Filmen, Büchern) nicht plausibel: Sie provoziert die Gefahr (bereits formal) falscher u./o. fehlerhafter Entscheidungsgründe, dass die BPjM bspw. einen Teil des Mediums übersieht oder sonst den Inhalt des Mediums falsch wiedergibt. Sachverhaltsirrtümer nämlich, die die Indizierungsentscheidungen tatsächlich auch regelmäßig prägen. Bei nicht linearen, interaktiven Medien, wie z.B. Computerspielen, ist eine vollständige Auseinandersetzung mit denselben schlechterdings regelmäßg kaum möglich. Aktuellere Indizierungsentscheidungen konstatieren aber diesbzgl., die Spiele seien dem zuständigen Gremien in ihren "wesentlichen Teilen" vorgeführt und erläutert worden, definieren die wesentlichen Teile aber nicht: In Orientierung an den Formulierungen der Indizierungsentscheidungen insg., wie auch der Spruchpraxis der Behörde bei im Wesentlichen inhaltsgleichen Medien (s.u.), stellen wohl nach Auffassung der BPjM bereits (dekontextualiserte) Gewaltdarstellungen das Wesentliche eines Spiels dar. Auch dass das Indizierungsverfahren auf Beschleunigung ausgelegt ist,609 demonstriert i.V.m. dem Phänomen, dass eine vollständige Auseinandersetzung mit einem Spiel ggf. mehrere Stunden bis Tage Spielzeit beanspruchen kann, dass sich die BPjM auch im Lichte mangelnder Spielekompetenz, resp. der Fachfremde der Mitglieder, wie auch einer in der Natur ihrer Arbeit liegenden Fokussierung primär (vermeintlich) indizierungsrelevanter Einzelelemente, nur exemplarisch bzw. lückenhaft mit den Medien auseinandersetzt, so dass die Entscheidungen 605 606 607 608 609 Vgl. BÜTTNER/GOTTBERG 2002, S.7. BAUM 2007 argumentiert plausibel, dass die Eigenverantwortlichkeit als normatives Schutzgut des JMStV und (mutatis mutandis) i.d.S. auch des JuSchG entbehrlich ist, selbst ausgehend von der Annahme, dass Mediengewaltdarstellungen tatsächlich gravierendes Aggressionsverhalten oder selbst Schulamokläufe auslösten: "Tatsächlich ist in diesen Fällen eine verhängnisvolle Vorbildwirkung gewalthaltiger Medienangebote mit Händen zu greifen, doch die Annahme, es handele sich dabei um eine Art verantwortlichkeitsausschließender Verhaltenskonditionierung nach dem Muster Pawlowscher Reflexe, hat die seriöse Medienwirkungsforschung bekanntlich seit Jahrzehnten überwunden. Pointiert formuliert, besteht die eigentliche Problematik jeder missglückten Mediensozialisation darin, dass sie Persönlichkeiten zu formen hilft, die ihr eigenverantwortliches Handeln mehr oder weniger umfassend nach sozial unverträglichen Maßstäben ausrichten. Eigentlich entscheidend ist demnach die Frage, was vor dem Hintergrund des Rechts auf Selbstbestimmung Minderjähriger als sozial unverträglich einzustufen ist. Da das Kriterium der Eigenverantwortlichkeit eine solche Richtungsangabe nicht liefert, ist es als normatives Schutzgut […] entbehrlich." Ungeachtet dessen ist aber natürlich auch die Gemeinschaftsfähigkeit ein extrem ausfüllungsbedürftiger Begriff (S.274-277). FEIBEL 2004, S.160; vgl. MONSSEN-ENGBERDING 1998, S.110f. und STATH 2006, S.148f.. Vgl. MONSSEN-ENGBERDING 1998, S.110 und ALTENHAIN/LIESCHING 2011. BVerwG, Urt. v. 03.03.1987, Az.: 1 C 16.86; SCHOLZ 1999, S.50 und NIKLES/ROLL/SPÜRCK et al. 2005, S.259. Vgl. STATH 2006, S.181. 112 i.d.R. weder Kontextualisierungen der inkriminierten Gewaltdarstellungen, noch eine Diskussion evtl. relativierender Inhalte und Kontexte beinhalten. Tatsächlich ist eine typische Indizierungsentscheidung ungeachtet des konkreten, verfahrensgegenständlichen Medieninhalts ein Lückentext, ein Sammelsurium immer identischer Textbausteine,610 garniert mit z.T. nur einzelnen Sätzen über die verfahrensgegenständlichen Medieninhalte, der nur den Antrag, resp. die Anregung rekapituliert, den Sachverhalt und die Indizierungsgründe skizziert, wie die Spruchpraxis und Rechtsprechung referiert. Dies ist ein Korsett, dass die ganzheitliche Betrachtung des Einzelfalls ad absurdum führt. Die Skizzierung der Sachverhalte, d.h. für narrative Medien die Inhaltsangaben, demonstrieren i.d.R. ein nur so kursorisches, wie rudimentäres Klappentextniveau, aber keine elaborierteren Inhaltsanalysen. Sachverhalte und Indizierungsgründe sind z.T. gar so rudimentär (und pejorativ formuliert), resp. opak, dass Zweifel entstehen können, ob die skizzierten und die gem. Indizierungsentscheidung indizierten Medien auch tatsächlich identisch sind. Bei Computerspielen ignoriert die BPjM auch regelmäßig die Narration zugunsten der (fragmentarischen) Darstellung der Spielmechanik. Die Inhaltsangaben u./o. ggf. die Darstellungen der Spielmechaniken sind prinzipiell aber nur (formaljuristisch notwendige) Staffage, denn die faktischen Entscheidungsgründe sind i.d.R. simple Leichenzählerei, dekontextualisierte Addierung (resp. z.T. minutiöse und oftmals auch sachlich falsche Darstellung) der Gewaltdarstellungen und -spitzen und exakt das, was die BPjM den indizierten Medien attestiert: Simple Gewaltkompilationen.611 Bspw. konstatierte sie bzgl. DEAD RISING 2, das Spiel erschöpfe sich in einer fließbandartigen, resp. endlosen "Aneinanderreihung von Mord- und Metzelszenen"612 – auch dem Spiel DEAD ISLAND wurde dgl. vorgeworfen.613 Die monierte Aneinanderreihung ist aber nur das Resultat eines die Narration, wie auch alternative, gewaltfreie(re) Spielmechaniken ignorierenden, idiosynkratischen Spielstils, denn die Quantität und Qualität der Gewaltdarstellungen diktiert insb. der Spieler (im Rahmen seiner Spielkompetenz) selbst. Letztlich dokumentieren die Praxis der plakativen Addierung der Gewaltdarstellungen, wie die regelmäßig pejorativ-prosaisch und z.T. moralinsauer formulierten Indizierungsgründe die pornographische Perspektive der Gremien, also auch ihre idiosynkratischen Empörungen u./o. Animositäten, wie das u.a. auch die regelmäßigen (semantischen) Vermischungen von Realität und Fiktion innerhalb der Indizierungsentscheide demonstrieren.614 Insg. sind der BPjM also insb. explizite Gewaltdarstellungen und -spitzen, wie z.B. Splatteru./o. Goreeffekte, hinreichende Bedingung einer Jugendgefährdung. Nicht überraschend präsentiert die BPjM i.d.S. u.a. für Computerspiele einen semi-enumerativen Katalog von Gewaltdarstellungen, die generell indizierungswürdig seien; die BPjM indiziert gem. MONSSEN-ENGBERDING 1998 Spiele u.a. dann, "wenn Gewaltanwendung gegen Menschen als einzig mögliche Spielhandlung dargeboten wird; wenn Gewalttaten gegen Menschen deutlich visualisiert bzw. akustisch untermalt werden (blutende Wunden, zerberstende Körper, Todesschreie); wenn Gewaltanwendung (insbesondere Waffengebrauch) durch aufwändige Inszenierung ästhetisiert wird; Verletzungs- und Tötungsvorgänge zusätzlich zynisch oder vermeintlich komisch kommentiert werden; wenn Gewalttaten gegen Menschen dargeboten werden, wobei die Gewaltanwendung 'belohnt' wird (z.B. Punktegewinn, erfolgreiches Durchspielen des Computerspiels nur bei Anwendung von Gewalt)."615 Bzw. sie indiziert Spiele gem. 610 611 612 613 614 615 Vgl. SCHMID 2009b und SCHMID 2011, S.4. Vgl. SCHMID 2009a und SCHMID 2009b. IE Nr. 9610 (V) v. 15.12.2010 (DEAD RISING 2). Vgl. IE Nr. 10214/11 (V), 10215/11 (V) und 10216/11 (V) v. 17.11.2011 (DEAD ISLAND). Vgl. BENZ 1997, S.51 und BENZ 1998, S.49f.. Ein prägnantes Bsp. stellt auch MONSSEN-ENGBERDING 1998, S.128 dar: Die Vorsitzende formulierte bspw., Spiele seien indizierungsrelevant, wenn sie Spieler animierten, "einen Mitspieler möglichst brutal zu ermorden." (zitiert in: KREMPL/KURI 2007c) Im Rahmen des HEUTE JOURNAL-Beitrags "Brutale Computerspiele – Forscher warnen" des Autors Rainer FROMM v. 21.04.2009 resümierte sie letztlich: "Also man hat natürlich den Eindruck, dass sie grausamer geworden sind, weil sie eben realistischer sind. Es ist [...] ein himmelweiter Unterschied, ob Sie also eine ganz deutliche Spielfigur massakrieren oder ob Sie den Eindruck haben, Sie haben jetzt ein realistisches Geschehen vor sich, ja. Sie haben wirklich den Eindruck, Sie schleichen sich an, schneiden jemandem die Kehle durch, der fällt zu Boden, der schreit und Sie haben wirklich den Eindruck, Sie begehen einen realen Mord." Ein Paradebeispiel des pornographischen Blicks i.S.v. WILLMANN 2003b. MONSSEN-ENGBERDING 1998, S.131f.. 113 der entsprechenden Formulierungen in den Indizierungsentscheiden dann, "wenn kaum oder keine alternativen Handlungsoptionen/Konfliktlösungsmöglichkeiten vorhanden sind, [...] wenn die Wahl alternativer Handlungsoptionen/Konfliktlösungsmöglichkeiten zwar möglich, aber für die Erreichung des Spielzieles nachteilig oder irrelevant ist, [...] wenn das Ausüben von entsprechender Gewalt als unproblematisch oder gesellschaftlich normal erscheint, nicht mit negativen Folgen oder Sanktionen versehen ist oder im Rahmen des Spiels belohnt wird, [...] wenn Gewalt gegen Unbeteiligte Bestandteil des Spiels ist und nicht oder nur eingeschränkt sanktioniert wird."616 Letztlich ist das Kriterium der Verrohung insg. ein "Gummi-Maßstab"617 für den Vorwurf einer Jugendgefährdung: Die BPjM dekontextualisiert explizite ("schmutzige") Gewaltdarstellungen und synonymisiert ihre "Detailfreude"618 einerseits und eine Gewaltaffirmation u./o. -bagatellisierung andererseits, konstatiert z.B. für ihre ständige Spruchpraxis, "dass schon das Demonstrieren kugelzerfetzter Körper, auseinandergeteilter Körper oder abgeschossener Köpfe ein hinreichendes Indiz für eine verrohende Wirkung ist, die von diesen Spielen ausgeht."619 Bspw. problematisierte sie bereits 1994 das Spiel DOOM u.a. deswegen, weil Liquidationsakte auf mannigfaltige Art und Weise positiv verstärkt würden, "[...] z.B. durch die aufwendige Darstellung blutig zerfetzter gegnerischer Körper."620 Generell sind ihre Vorwürfe eines medieninduzierten, gewaltaffirmativen u./o. -bagatellisierenden Gedankenzusammenhangs also so inflationär, wie kurios,621 ganz nach dem Motto: Je expliziter die Gewaltdarstellung, desto affirmativer, resp. bagetellisierender sei der (intendierte und) vermittelte Gedankenzusammenhang.622 Kritiker wie Roland SEIM monieren die regelmäßige Zeitgeist-, wie auch Ironie- und Sarkasmusresistenz – humoreske Gewaltdarstellungen werden entweder nicht als humoresk realisiert oder pauschal als (jugendgefährdender) Zynismus problematisiert – der Gremien, ihre i.d.R. wörtlichen Textinterpretationen,623 wie z.B. die Synonymisierung amoralisch agierender Akteure und einer amoralischen Intention, ja Wirkung des Inhalts. Im Rahmen der Prüfpraxis ist 616 617 618 619 620 621 622 623 IE Nr. 8818 (V) v. 05.08.2009 (CALL OF DUTY 4: MODERN WARFARE). Die BPjM konstatiert auch bzgl. aktueller Trends der Bewegungssteuerung pauschal, dass die jugendgefährdende Wirkung der Gewaltdarstellungen per (i.w.S.) realitätsimitierender Steuerungs- und Bedienungselemente verstärkt werde (vgl. BPjM 2009b). Tatsächlich sind die diesbzgl. Studien aber (ungeachtet der obligatorischen Studiendefizite) so rar, wie ambig, s. BARLETT/HARRIS/BALDASSARO 2007; MAHOOD/ CICCHIRILLO 2008; MARKEY/SCHERER 2009; MELZER/DERKS/HEYDEKORN et al. 2010; LIN 2011; CHARLES/ BAKER/HARTMAN et al. 2013; MCGLOIN/FARRAR/ KRCMAR 2013 und WILLIAMS 2013. SEIM 1998, S.44. IE Nr. VA 11/98 v. 09.12.1998 (HALF-LIFE); vgl. Nr. 4771 v. 07.05.1998 (RESIDENT EVIL 2); Nr. VA 1/2000 v. 07.01.2000 (QUAKE) und Nr. 4995f. v. 04.05.2000 (RESIDENT EVIL 3: NEMESIS). IE Nr. 5169 v. 06.03.2003 (RESIDENT EVIL: CODE VERONICA X) und Nr. 6600 (V) v. 11.03.2004 (MANHUNT). IE Nr. 4637 (V) v. 25.05.1994 (DOOM). Bspw. formulierte die BPjM bzgl. des Spiels HALF-LIFE gem. IE Nr. VA 11/98 v. 09.12.1998: "Während es in den beiden ersten Leveln dieses Spiels noch darum geht, Aliens zu vernichten, ändert sich die Spielhandlung in den folgenden Leveln dahingehend, daß der Spieler im wesentlichen die nunmehr in Mengen auftauchenden Marines vernichten muß. Die Tötungshandlungen sind dabei sehr grausam in Szene gesetzt, die Marines können sowohl mit einem Schuß aber auch mit mehreren gezielten Schüssen getötet werden und fallen dann sehr realitätsnah in Szene gesetzt langsam um und bleiben sodann in einer Blutlache liegen. Befinden sich jene Marines vor Wänden, spritzt das Blut der getöteten Soldaten in hohem Bogen an die Wand. Ein besonders verrohendes Moment tritt auch dadurch hinzu, daß die getöteten Soldaten während der gesamten Spielphase auf dem Boden liegen bleiben und der Spieler hinüber laufen kann. Das Spielersubstitut wird unterstützt durch Wachleute der Forschungsstation, die der Spieler alternativ aber auch töten kann. Sobald er über diese Wachleute läuft, erhält er zusätzliche Munition, die für den Spielverlauf eine bedeutende Rolle spielt, womit das Töten von Menschen qualifiziert positiv bewertet wird. Andere verrohende Momente treten im Spielverlauf hinzu. So passiert es immer wieder, daß Wissenschaftler, die der Spieler eigentlich retten soll, von Aliens angegriffen werden, die sich bevorzugt auf dem Kopf der Wissenschaftler festsetzen. Um zu vermeiden, daß sich die Wissenschaftler dann in Aliens verwandeln, die den Spieler angreifen, muß er diese mit gezielten Schüssen töten." Der Entscheid demonstriert die pornographische Perspektive der BPjM: Erstens synonymisiert sie indifferent detaillierte (vermeintlich realitätsnahe) und strafrechtlich konnotierte grausame Gewaltdarstellungen, fantasiert in einem pejorativ-pittoresken, haematophoben Kinoreformerduktus, Blut getöteter Soldaten spritze in hohen Bögen an Wände; de facto materialisieren die Bluttexturen ggf. nur instantan an Wänden. Andererseits konstatiert sie, eine kuriose Variante der Störung der Totenruhe sei ein "besonders verrohendes Moment"; die Möglichkeit des Hinüberlaufens über getötete Figuren ist aber nur das Resultat einer konsequenten Immersion, die Usus unzähliger, nicht indizierter Spiele ist. Ungeachtet dessen forcierte die exponierte Kritik Selbstzensureffekte, so dass liquidierte Antagonisten in den dt. Versionen diverser Spiele bspw. dematerialisieren (s. bspw. SAINTS ROW 2; NO ONE LIVES FOREVER 2: AGENTIN IN GEHEIMER MISSION; RESIDENT EVIL 3: NEMESIS). Letztlich ist die Munition im Spiel keine Rarität, so dass die Liquidation der Wachleute nicht nötig ist; auch wäre die Liquidation der Aliens ("Headcrabs") und nicht die der Wissenschaftler eine (plausiblere) Alternative, die die BPjM aber erst gar nicht realisiert hat. Vgl. IE Nr. 6183 (V) v. 22.02.2002 (RETURN TO CASTLE WOLFENSTEIN) und Nr. 6359 (V) v. 15.10.2002 (GORE). Vgl. SEIM 2004 und GUNKEL 2009b. 114 das Konstrukt der Jugendgefährdung i.d.S. ein Konglomerat aus Medienressentiments und einer negativen Anthropologie. Die Entscheidungen problematisieren selbst technische Limitationen, argumentieren z.B. ggü. dem Echtzeitstragiespiel COMMAND & CONQUER: GENERALS, dass ein evtl. "empathischer Mitvollzug der Leiden der Opfer" ausgeschlossen sei, "da das einzelne gesichts- und charakterlos verbleibende Tötungsobjekt in der Masse identischer Klone förmlich untergeht [...]."624 I.d.S. werden auch ggf. generische, gar genrekonstitutive Darstellungen inkriminiert, wie z.B. im Fall des Egoshooters CALL OF DUTY 4: MODERN WARFARE die Statistenfunktion der Antagonisten625 – ein Kriterium, das gerichtlich aber auch bereits als hinreichende Bedingung einer Gewaltverherrlichung i.S.d. § 131 StGB inkriminiert wurde626 – oder ein Gros violenter Computerspiele per se definierende Mechaniken,627 wie (i.w.S.) Belohnungen virtueller Gewaltanwendungen (z.B. "Punktegewinn, erfolgreiches Durchspielen des Computerspiels nur bei Anwendung von Gewalt"). Die Probleme der Spruchpraxis sind evident, denn erstens können Gewaltdarstellung nicht per se, sondern nur ggf. im Lichte eines Kontextes eine Gewaltaffirmation u./o. -bagatellisierung indizieren, zweitens konterkariert (und erodiert) die kontextorientierte(re) Spruchpraxis der Organisationen der freiwilligen Selbstkontrolle, resp. der OLJB, die der BPjM: Oftmals ist einerseits der einzige Unterschied zwischen indizierten Medien und ihren nach § 14 JuSchG gekennzeichneten, nicht indizierten (d.h. zensierten) deutschen Pendants die Explizität der Gewaltdarstellungen.628 Andererseits werden selbst explizit(e) Gewalt darstellende Computerspiele otmals (i.S.d. §§ 12 und 14 JuSchG) als nicht jugendgefährdend gekennzeichnet. Die Indizierungsentscheide liefern i.d.S. einerseits insg. keine hinreichenden Belege für hinreichend schwerwiegende Eignungen zur Jugendgefährdung durch die indizierten Medien, resp. für die Vorwürfe, die indizierten Medien vermittelten bspw. einen gewaltaffirmativen u./o. -bagatellisierenden Gedankenzusammenhang: Es wird nicht begründet, warum bereits bloße Gewaltdarstellungen für sich genommen geeignet sein könnten, Kinder und Jugendliche zu gefährden, denn die BPjM würdigt wesentliche Aspekte entweder nur unzureichend oder läßt sie völlig unberücksichtigt. Insb. vermögen die Skizzierungen der Inhalte, resp. der Gewaltdarstellungen, für sich genommen die erhobenen Vorwürfe nicht zu stützen; insoweit sich die BPjM bspw. auf vermeintlich gewaltaffirmative u./o. -bagatellisierende Gewaltdarstellungen bezieht, unterlässt sie eine Rückbeziehung auf den narrativen Kontext, wie auf künstlerische und ästhetische Konzepte, genretypische dramaturgische und visuelle Darstellungskonventionen u.ä. (resp. muss sie bereits im Lichte i.d.R. offensichtlich fehlender Sachkunde der Gremien unterlassen). Letztlich muss die Rechtwidrigkeit einer solchen Spruchpraxis ausschl. Thematisierungen der Gewaltdarstellungen konstatiert werden, denn somit genügen die Entscheidungen nicht den in sachlich-rechtlicher Hinsicht zu stellenden Anforderungen an eine 624 625 626 627 628 IE Nr. 1/03 v. 25.02.2003 (COMMAND & CONQUER: GENERALS). Vgl. IE Nr. 8818 (V) v. 05.08.2009 (CALL OF DUTY 4: MODERN WARFARE). Vgl. AG München, Beschl. v. 20.11.2007, Az.: 855 Gs 426/07 (SCARFACE – THE WORLD IS YOURS). Vgl. FRITZ 2007, S.54. Der Vollständigkeit halber soll erwähnt werden, dass auch insofern die seitens der BPjM salopp kolportierten, lerntheoretischen Vorbildwirkungen oder gar Imitationsgefahren medialer Gewaltdarstellungen plausibel wären, eine prinzipiell z.B. nur an der Explizität der Gewaltdarstellungen orientierte Spruchpraxis das falsche Signal evoziert. Im Lichte der Indizierung ist nämlich das häufigste (erfolgreiche) Mittel der Selbstzensur die Entfernung der monierten Darstellungen, wie nur der Splatter- u./o. Goreeffekte, der Gewaltspitzen. Bereits im Rahmen der Kennzeichnungsverfahren nach § 14 JuSchG machen solche Zenuren z.T. den Unterschied zwischen einer Kennzeichnung und einer Nichtkennzeichnung aus, die "Erzählung der Gewalt" (WULFF 1985) ändern sie aber nicht (vgl. GANGLOFF 2001, S.28), wie auch DECKER 2005 konstatierte: "In der Tat tragen diese Entschärfungen ausschließlich der Gesetzeslage Rechnung. Unter medienpädagogischen Gesichtspunkten ist eine Reduzierung des Gefährdungspotenzials durch die Änderung der Blutfarbe nur schwer nachvollziehbar. Gefährdungspotential steckt eher in der gesamten Ausrichtung der Spiele und ihrer Struktur, nicht unbedingt in einigen vordergründigen Schockeffekten." (S.82) Auch GRIMM 2000 argumentiert i.S.d. der Lerntheorie, an der sich die BPjM ja auch orientiert, gegen solche Zensuren: "Eine Vorbildfunktion erfüllten am wenigsten 'schmutzige' Blutszenen, sondern schon eher eine geschönte, 'saubere' Gewaltästhetik, in der beunruhigende Aspekte wie Verletzungen ausgeblendet waren. Daher wäre es unter dem Gesichtspunkt der Aggressionsvermeidung geradezu kontraproduktiv, aus einem Film alle Blutszenen zu entfernen und somit gänzlich 'schmutzige' Gewalt in 'saubere' zu verwandeln. Eine 'saubere' Gewaltästhetik ist zwar weniger angsteinflössend und leichter konsumierbar, erhöht aber die Akzeptanz des Gewaltmodells und die Übernahmebereitschaft der Rezipienten." (S.50) 115 Indizierung, weil sie weder eine revisionsrechtliche Nachprüfung zulassen, noch die Normunterworfenen i.S.d. Bestimmtheitsgebots abschätzen können, welche Gewaltdarstellungen evtl. indizierungswürdig sind und welche nicht.629 Auch die im Folgenden noch diskutierten Konkretisierungen des Indizierungstatbestands durch § 18 Abs. 1 Satz 2 und § 15 Abs. 2 JuSchG relativieren die Problematik nicht, im Gegenteil sind nämlich auch diese nicht hinreichend bestimmt. Seit das Erste Gesetz zur Änderung des Jugendschutzgesetzes (1. JuSchGÄndG) am 01.07.2008 in Kraft trat, exemplifizieren § 18 Abs. 1 Nr. 1 und 2 JuSchG zwei Beispiele jugendgefährdender, resp. verrohender Medien: Medien, "in denen 1. Gewalthandlungen wie Mordund Metzelszenen selbstzweckhaft und detailliert dargestellt werden oder 2. Selbstjustiz als einzig bewährtes Mittel zur Durchsetzung der vermeintlichen Gerechtigkeit nahe gelegt wird." Die Novelle sollte u.a. die Indizierungskriterien hinsichtlich medialer Gewaltdarstellungen erweitern und präzisieren;630 faktisch kodifizierte sie aber nur eine Auslegung des Verrohungskriteriums, resp. eine Spruchpraxis der BPjM, die bereits seit mindestens(!) 10 Jahren Usus war. Insofern sind die Exemplifizierungen weder Erweiterungen, noch (neue) Präzisierungen der Kriterien, im Gegenteil demonstrieren sie ihre Nebulosität. 11.3.1 Sebstzweckhafte und detaillierte Mord- und Metzelszenen Das erste Beispiel sind nach § 18 Abs. 1 Nr. 1 JuSchG Medien, "in denen […] Gewalthandlungen wie Mord- und Metzelszenen selbstzweckhaft und detailliert dargestellt werden […]." Ungeachtet des pejorativen Duktus ("Metzelszenen") akzentuiert der Tatbestand prinzipiell die gebotene ganzheitliche Betrachtung der Medien.631 HILPERT 2008, Referent der BPjM, skizziert aber die diesbzgl. konträren Prämissen der Behörde: Einerseits könne Gewalt in Computerspielen als ein "Mittel zur Erreichung eines Zweckes" eingesetzt werden, aber andererseits könne man auch Gewalt ausüben, "weil diese Tat selbst (oder aber ihre mediale Wiedergabe) ein als angenehmes Gefühl, Lust, auslöst. Gewalt (oder ihre mediale Wiedergabe) ist in diesem Fall selbst das Erstrebte. Wird Gewalt praktiziert oder auf Medien gebannt, um Lust hervorzurufen, ist sie selbstzweckhaft. Es kann sein, dass eine Gewalttat in einem Spiel zunächst mit einem bestimmten Zweck, wie z.B. die Bekämpfung eines Angreifers, begründet wird. Wenn aber Gewalt in einer Weise praktiziert, ja inszeniert wird, die so auf keinen Fall zur Erreichung des erstrebten Zweckes notwendig oder sinnvoll ist, dann wird die ursprünglich als Mittel eingesetzte Gewalt zu einem Selbstzweck. Leider finden sich in Computerspielen immer wieder virtuelle Gewaltakte, die als selbstzweckhaft bezeichnet werden müssen, da die Aufgaben, zu deren Erfüllung Gewalt eingesetzt werden soll, weder Ausmaß noch Detailreichtum der Gewaltakte begründen. [...] Warum wird Gewalt in einigen Computerspielen besonders detailliert und blutig dargestellt? Welche Antwort darauf auch immer gefunden wird: Sie kann und wird nichts mit dem in der Aufgabenstellung definierten Spielzweck tun haben, egal ob dieser Zweck die Ausschaltung bestimmter Gegner oder das 'Verteidigen' bzw. das 'Erobern' einer bestimmten (virtuellen) Lokalität sein mag. Wird Gewalt in einem Computerspiel detailliert dargestellt, so liegt deshalb der Verdacht nahe, Gewalt werde selbstzweckhaft, zur Erzeugung von (im weiteren Sinne) lustvoller emotionaler Wirkung inszeniert."632 629 630 631 632 Vgl. BÜTTNER/GOTTBERG 1995, S.23 und FROMM 2002, S.90f.. Bzgl. a.A. s. z.B. SCHULZ/BRUNN/DREYER et al. 2007, S.102 und RETZKE 2006 S.133f.. Vgl. BR-Drs. 3/08. Gem. der das 1. JuSchGÄndG initiierenden Pressemitteilung des BMFSFJ v. 13.02.2007, die ein "Sofortprogramm zum wirksamen Schutz von Kindern und Jugendlichen vor extrem gewalthaltigen Computerspielen" proponierte, konstatierte Gesetzesinitiatorin Ursula G. von der LEYEN plakativ: "Spiele, in denen deutlich visualisierte Gewaltanwendung mit 'Leben sammeln' oder Erreichen eines weiteren Levels belohnt wird, oder in denen Mord- oder Metzelszenen detailliert dargestellt werden, kommen auf den Index." Im Rahmen der Evaluation des dt. Jugendmedienschutzes konstatierte die Expertise FRITZ 2007 aber diesbzgl., dass "deutlich visualisierte Gewaltanwendung", wie auch "Leben sammeln" oder das "Erreichen eines weiteren Levels" infolge der Gewaltanwendung Elemente sind, "die für viele (vermutlich für die meisten) Computer- und Videospiele konstitutiv sind." (S.54) HILPERT 2008, S.9-14. 116 Ungeachtet dessen, dass eine detaillierte und blutige Gewaltdarstellung natürlich auch spielmechanisch relevant sein kann (s. DEAD SPACE 2; METAL GEAR RISING: REVENGEANCE; SPLATTERHOUSE), demonstriert die Argumentation das perspektivische Problem, dass Nichtspieler regelmäßig Gewalt als Zweck eines Spiels problematisieren, die Spieler sie aber nur als "Mittel zur Erreichung eines Zweckes" realisieren.633 Die Prämissen sind auch weder hinreichend, noch korrekt, denn die BPjM realisiert Spiele nicht als komplexe, integrale Werke, sondern dichotomisiert Gewaltdarstellungen indifferent in Mittel zur Erreichung eines dramaturgischen Zwecks und dekontextualisierte Gewaltdarstellungen als Lustmittel der Rezipienten. I.d.S. kommentieren auch HEYL/LIESCHING 2008, das Attribut der Selbstzweckhaftigkeit brächte zum Ausdruck, "dass nur außerhalb jeder Dramaturgie stehende Gewaltexzesse erfasst werden, die erkennbar allein zur Befriedigung entsprechender voyeuristischer Zuschauer- und Nutzerinteressen in aller Breite dargestellt werden. Darstellung von Gewalt zu Unterhaltungszwecken (z.B. in Kriminalfilmen, Western) begründen hingegen noch keine Selbstzweckhaftigkeit."634 Die erkennbare Befriedigung ausschl.(!) voyeuristischer (resp. sadistischer) Rezipienteninteressen sei gem. SPÜRCK 2011 bei Computerspielen etwa dann der Fall, wenn Tötungshandlungen detailliert präsentiert werden, "die spieltechnisch entbehrlich sind (also z.B. nicht für das Fortkommen im Spiel erforderlich sind)."635 Eine extrem inflationäre Auslegung, dank der die Freiheiten des Computerspiels deutlich hinter denen des Spielfims und anderer Medien zurückfallen würde. Die Auslegungen sind auch nicht plausibel, denn erstens kann die "Geschmacksfrage"636 der Notwendigkeit der (Intensität der) Gewaltdarstellung im Rahmen der Dramaturgie kein praktikabler Orientierungspunkt sein; eine Behörde, die über die (dramaturgische) Notwendigund Zweckmäßigkeit einer Gewaltdarstellung entscheidet, geriert sich als Kunstrichterin. Zweitens können (formale Aspekte der) Gewaltdarstellungen generell nicht objektiv die Intention einer Voyeurismusbefriedigung indizieren: Die skizzierten Prämissen ignorieren insb., dass der Zweck einer (detaillierten) Gewaltdarstellung kein ausschl. dramaturgischer (oder genrekonstituierender) sein muss, sondern dass Mediengewalt für sich genommen i.d.R. ein komplexes Konglomerat z.B. narrativer (und die Narration akzentuierender immersiver, atmosphärischer), stilistischer, ästhetischer, symbolischer und im Fall von Computerspielen ggf. auch spielmechanischer Funktionen darstellt, dass Mediengewalt insg. auch immer im Rahmen diverser Kontexte inszeniert wird.637 Die indifferente (und degoutante) Reduzierung der Gewaltdarstellungen auf die "Erzeugung von [...] lustvoller emotionaler Wirkung", resp. die Befriedigung eines Gewaltvoyerismus, demonstriert primär Ressentiments und eine fehlende Expertise der BPjM ggü. Genre-, resp Gewaltdarstellungskonventionen. Prinzipiell ist insb. die Differenzierung in voyeuristische und in unterhaltungsorientierte Rezipienteninteressen fragwürdig und u.U. tendenziell die Demonstration eines unreflektierten Überlegenheitsdünkelns, denn auch in z.B. Kriminalfilmen und Western ist ein Zweck der Gewaltdarstellung regelmäßig auch(!) i.w.S. eine Lustgenerierung (z.B. Angstlust). 633 634 635 636 637 Vgl. FRITZ 2007, S.18-24. HEYL/LIESCHING 2008, S.53. SPÜRCK 2001, S.23f.. STIEFLER 2010, S.5 und vgl. SPÜRCK 2011, S.23f.. Vgl. BOHRMANN 1997, S.129/181 und WULFF 2004, S.1. Kurioserweise realisiert HILPERT 2008 selbst, dass Gewaltdarstellungen z.B. auch atmosphärische Funktionen haben können: "Einige Spieler von Ego-Shootern, vor allem von TaktikShootern, legen häufig keinen großen Wert auf detaillierte Gewaltdarstellungen. Andere Fans von Ego-Shootern halten solche 'realistischen' Darstellungen für unverzichtbar. Wenn man letztere fragt, warum sie denn diese Spiele bevorzugen und Spielvarianten ablehnen, in denen Gewaltdarstellungen weniger brutal dargestellt werden, so wird in der Regel darauf verwiesen, dass erst die detaillierte Darstellung für die richtige Atmosphäre sorgt. Der Wunsch nach der 'richtigen' Atmosphäre soll hier nicht kommentiert oder in einer bestimmten Weise bewertet werden, wenn er von erwachsenen Spielern kommt. Doch bestätigt der Wunsch nach einer 'gruseligen' oder 'blutigen' Atmosphäre, dass die Absicht des Konsums von Gewaltdarstellungen eine emotionale Wirkung ist. Auch wenn der Wunsch nach einem solchen emotionalen Affekt für Erwachsene zu akzeptieren ist: Kinder und Jugendliche sollten einer solchen 'Atmosphäre' nicht ausgesetzt werden." (S.14) Einerseits ist die Problematisierung einer emotionalen Wirkung nicht überzeugend, denn prinzipiell könnte das als eine Metafunktion der Unterhaltung per se bezeichnet werden. Andererseits ist es nicht i.S.d. Jugendschutzauftrags der BPjM, Kinder und Jugendliche vor einer "'gruseligen' oder 'blutigen' Atmosphäre", resp. vor potenziellen Angst- oder Schockwirkungen, bzw. Angstlust zu bewahren. 117 Letztlich ist das Merkmal der selbstzweckhaften Gewaltdarstellung eine Plattitüde, wie auch die Spruchpraxis demonstriert: Bspw. wurden u.a. bereits Spielmodi, die für viele nur jugendbeeinträchtigende Computerspiele konstitutiv sind, wie z.B. das sog. "Deathmatch" i.V.m. (genrekonventionellen) detaillierten Gewaltdarstellungen, als selbstzweckhaft kritisiert; es ginge um nicht mehr, "als das möglichst effektive und lustvolle Abschlachten, Massakrieren menschlich agierender Gegenspieler."638 Eine Überstrapazierung des Gewaltbegriffs markierte auch, dass die Behörde z.B. im Fall von FALLOUT 3 gar "stationäre Gewalt" als tatbestandlich selbstzweckhaft deklarierte, "also Darstellungen, die vom Spieler nicht interaktiv hervorgerufen wurden oder zu beeinflussen sind. Dazu zählen etwa Leichen, die, oftmals verstümmelt, an verschiedenen Orten [...] auf Haken hängen oder herumliegen."639 Gewaltfolgen sind aber nach dem eindeutigen Wortlaut der Norm nicht von derselben erfasst. I.d.S. kann auch eine nach Auffassung der BPjM selbstzweckhafte Darstellung der Gewaltfolgen, wie sie der Film INSIDE "sekundenlang genüsslich" präsentiere, nicht hinreichend tatbestandlich sein. Ungeachtet dessen argumentierte das 3er-Gremium gem. dem Motto je länger, desto affirmativer,640 "dass ein lang anhaltendes, besonders drastisches und voyeuristischen Bedürfnissen dienendes Abbilden der Gewaltfolgen [...] tatbestandsmäßig ist."641 Das ein besonders drastisches Abbilden der Gewaltfolgen auch ein Stilmittel sein kann, das eine Identifikation mit dem Opfer und empathische Reaktionen des Rezipienten evozieren soll, realisiert die Behörde nicht.642 Besonders kritikwürdig war auch die Argumentation für eine Jugendgefährdung durch das komplett englischsprachige Spiel MAX PAYNE; zweifelhaft sei, "ob Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren, denen im Regelfalle nur Schulenglisch zur Verfügung stehen dürfte, die in teils sehr anspruchsvollem amerikanischen Slang verfassten Informationssequenzen und kleineren Gespräche überhaupt verstehen. Wahrscheinlicher ist vielmehr, dass sie die Möglichkeit nutzen, per Mausklick darüber hinwegzugehen. Dadurch wird das Töten sinn- und motivlos und dies wiederum stellt eine selbstzweckhafte Schilderung von Gewalt im Sinne des Tatbestandes dar."643 I.d.S. dienen selbst spekulative Spielstile der Negierung einer relativ komplexen, einen Zweck generierenden, narrativen Komponente, so dass letztlich jede (detaillierte) Gewaltdarstellung im Rahmen eines fremdsprachigen Medieninhalts salopp als mehr oder weniger selbstzweckhaft diskreditiert werden könnte. Insg. kann die Selbstzweckhaftigkeit einer Gewaltdarstellung auch erst gar nicht objektiviert werden, das Tatbestandsmerkmal befriedigt also vornehmlich nur Ressentiments der (Proponenten der) BPjM ggü. den Medien, den Inhalteurhebern und -inhabern, wie auch den Rezipienten. Unter einer detaillierten Gewaltdarstellung versteht die BPjM insb. Darstellungen, "in denen Gewalt gegen Menschen oder menschenähnliche Wesen deutlich visualisiert bzw. akustisch untermalt wird (blutende Wunden, zerberstende Körper, Todesschreie, zynische Kommentare)."644 Das Merkmal erfasst "ungeachtet des Abstraktionsgrades der grafischen Darstellung"645 reale, realistische und unrealistische Darstellungen sog. "schmutziger" Gewalt gleichermaßen, bspw. generell und insb. (effektvolle) Splatter- u./o. Goreeffekte. Unplausibel ist aber einerseits, dass eine auch nur (deutliche) akustische Untermalung, z.B. selbst zynische Kommentare (die der BPjM immer ein Indiz einer positiven Akzentuierung der Gewalt waren), hinreichende Bedingung einer detaillierten Gewaltdarstellung sein soll. Andererseits synonymisiert die BPjM regelmäßig die beiden separaten, additiven Merkmale der selbstzweckhaften und der detaillierten Gewaltdarstellung; z.B. waren ihr im Fall des Spiels WOLFENSTEIN bereits nur die im Folgenden skizzierten (aber nicht kontextualisierten) Gewaltdarstellungen eine hinreichende Bedingung einer gleichermaßen selbstzweckhaften, wie auch detaillierten Darstellung von Mord- und Metzelszenen: 638 639 640 641 642 643 644 645 IE Nr. 6183 (V) v. 22.02.2002 (RETURN TO CASTLE WOLFENSTEIN) und Nr. 6359 (V) v. 15.10.2002 (GORE). IE Nr. 5648f. v. 02.07.2009 (FALLOUT 3) und vgl. IE Nr. 8153 (V) v. 16.4.2008 (CONDEMNED 2). Vgl. SCHMID 2009a, S.2. Zitiert in: SCHMID 2009a, S.2. Bzgl. einer detaillierteren Kritik s. SCHMID 2009a. IE Nr. 6099 (V) v. 24.09.2001 (MAX PAYNE). IE Nr. 8818 (V) v. 05.08.2009 (CALL OF DUTY 4: MODERN WARFARE). IE Nr. 4995 v. 04.05.2000 (RESIDENT EVIL 3: NEMESIS). 118 Treffer rufen Blutwolken und -flecken auf Wänden und Boden hervor. Angriffe mit einem Bajonett auf den Hals des Opfers können dessen Kehle zerfetzen; dem Opfer strömt Blut aus der Wunde und es stirbt nach einigen Sekunden röchelnd. Angriffe mit anderen Nahkampfwaffen wie etwa einer Axt erlauben das gezielte Köpfen des Opfers sowie das Abtrennen der übrigen Gliedmaßen. Das implementiere "rag-doll"System setzt äußere physikalische Einflüsse wie Einschläge von Kugeln oder Explosionen scheinbar korrekt auf die Spielfiguren um. So zucken Gegner im Kugelhagel und werden – auch nach ihrem Tod – durch Explosionen durch die Luft gewirbelt und zerfetzt. Granaten können Gegnern neben dem Kopf und den Beinen auch beide Arme abreißen, so dass teilweise nur der Rumpf der Opfers liegen bleibt, während die übrigen Körperteile in der Umgebung herumliegen. Schwere Treffer lassen den Kopf des Opponenten in einer Blutwolke zerplatzen, zurück bleibt der blutige Hals, aus dem Teile der Wirbelsäule herausragen. Schüsse ins Bein können selbiges abreißen, das Opfer hüpft dann auf einem Bein umher und bricht nach wenigen Sekunden tot zusammen. Der Flammenwerfer setzt Gegner in Brand, die sodann schreiend umherlaufen und nach einigen Sekunden tot und verkohlt zu Boden fallen. Andere Waffen lösen Gegner komplett auf oder skelettieren sie, bevor die Knochen zu Staub zerfallen. Die Darstellungen werden akustisch durch Schreie, Stöhnen und Röcheln der Opfer untermalt.646 Diese zusammenhanglose Skizzierung der Gewaltdarstellungen kann aber nicht plausibel eine hinreichende Tatbestandserfüllung demonstrieren. Wie bereits erwähnt, konterkariert (und erodiert) auch die kontextorientierte(re) Spruchpraxis der Organisationen der freiwilligen Selbstkontrolle, resp. die der OLJB, die der BPjM, denn einerseits werden bspw. selbst Spiele gem. § 14 JuSchG gekennzeichnet, die gleichermaßen (i.d.S.) detaillierte (oder gar detailliertere) Gewaltdarstellungen präsentieren (z.B. DEAD SPACE 2; GEARS OF WAR 3; GOD OF WAR 3; SHADOW OF ROME). Andererseits sind diverse gekennzeichnete mit indizierten Computerspielen hinsichtlich ihres Gewaltdarstellungsniveaus identisch: Das gekennzeichnete DOOM 3 bspw. präsentiert insg. auch exakt dieselben Gewaltdarstellungen, die der BPjM bei DOOM 3: RESURRECTION OF EVIL hinreichende Bedingung einer Jugendgefährdung waren.647 Eine hinreichende Begründung einer Jugendgefährdung kann also nicht die Skizzierung bloßer Gewaltdarstellungen sein, sondern notwendig sind Kontextualisierungen der Darstellungen. Das Beispiel demonstriert aber auch die Orientierungslosigkeit der BPjM, die i.d.R. einzig die Medien wahrnimmt, die auch Gegenstand eines Indizierungsverfahrens werden. D.h. dass sie das 2003 publizierte, gekennzeichnete Spiel wahrscheinlich gar nicht gekannt haben wird, so dass sie gar nicht realisieren konnte, dass die Gewaltdarstellungen des zwei Jahre später publizierten, indizierten Spiels prinzipiell identisch sind. Letztlich skizziert die BPjM selbst bzgl. der Nichtindizierung des Spiels DARK MESSIAH OF MIGHT & MAGIC diverse "brutale und gewalttätige [sic] Szenen", resp. detaillierte Gewaltdarstellungen, ohne dass sie diesen eine Selbstzweckhaftigkeit unterstellen würde: Vorrangig sind hier die Tötungen von auf dem Boden liegenden, temporär außer Gefecht gesetzten Gegnern sowie die durch die besonders starken 'power strikes' hervorgerufenen, in Zeitlupe gezeigten Verstümmelungen wie das Abschlagen von Köpfen, Armen und Beinen zu nennen. Zudem können gegnerische Spielfiguren in Brand gesetzt, aufgespießt, von Klippen gestoßen und unter Kisten zerquetscht werden. [...] Nach Auffassung des Gremiums sind diese Darstellungen nicht als selbstzweckhaft einzustufen. Da der Spieler zunächst mehrere Gegner töten muss, um einen "power strike" ausführen zu können, ist eine Ausführung von Verstümmelungen in dichter Folge nicht möglich. Lediglich die Verwendung der Fähigkeit Adrenalin ermöglicht es, ausreichend Adrenalin vorausgesetzt, zwei anstatt einem 'power strike' auszuführen. Zudem werden "power strikes" nicht automatisch ausgeführt, der Spieler kann sie optional einsetzen und nach Meinung des Gremiums dienen sie keinem Selbstzweck, sonder [sic] dazu, einen Gegner schneller zu besiegen. Ein Selbstzweck wurde bei den Visualisierungen bei denen gegnerische Spielfiguren – etwa durch Zauber oder indem sie in Feuer gestoßen werden – in Brand gesetzt, auf dem Boden liegend mit einem Schwert durchbohrt, aufgespießt, von Klippen gestoßen und unter Kisten zerquetscht werden, ebenfalls nicht angenommen. Abschließend sind Zaubereffekte zu nennen, bei denen Gegner durch Einfrieren in mehrere Stücke zerspringen oder durch Telekinese bewegt oder geworfen werden können.648 Die Entscheidung markiert eine ausnahmsweise Realisierung diverser, die Gewaltdarstellungen relativierender Kontexte seitens der BPjM, bspw. lasse auch der "fantastische Hintergrund dieser Optionen" eine Verrohung nicht annehmen. Eine Argumentation, die prinzipiell auch für ein Gros der ungeachtet dessen indizierten Spiele gilt, ohne dass die BPjM die Gewaltdarstellungen in diesen Fällen kontextualisiert hätte. Zusammengefasst demonstrieren die Beispiele 646 647 648 IE Nr. 8939 (V) v. 07.10.2009 (WOLFENSTEIN) und vgl. Nr. VA 3/09 v. 25.11.2009 (CALL OF DUTY: MODERN WARFARE 2). Vgl. IE Nr. 6960 (V) v. 24.05.2005 (DOOM 3: RESURRECTION OF EVIL). IE Nr. 5550 v. 07.02.2008 (DARK MESSIAH OF MIGHT & MAGIC). 119 aber eine wahrscheinliche Rechtswidrigkeit der Spruchpraxis der BPjM, wie insg. die Willkür des deutschen Jugendmedienschutzes, u.a. auch, weil deutschen Gerichten z.T. gar (gleichermaßen rechtswidrig) bereits deutlich undetaillierte(re) Gewaltdarstellungen die einzigen, hinreichenden Bedingungen einer Gewaltverherrlichung i.S.v. § 131 StGB waren (s. Kapitel 14.). Die Norm ist letztlich auch so unbestimmt, dass die Normunterworfenen insg. nicht mehr differenzieren können, ob Gewaltdarstellungen evtl. indizierungswürdig sind oder nicht. 11.3.2 Selbstjustiz Gleichermaßen neues Regelbeispiel einer Jugendgefährdung ist der Indizierungstatbestand des § 18 Abs. 1 Nr. 2 JuSchG, gem. dem Medien jugendgefährdend sind, "in denen […] Selbstjustiz als einzig bewährtes Mittel zur Durchsetzung der vermeintlichen Gerechtigkeit nahe gelegt wird." Die Gefahr sei eine evtl. Akzeptanz der Selbstjustiz und das für Kinder und Jugendliche die Grenzen zwischen legitimierter und illegitimierbarer Gewalt erodierten.649 Der Entwurf des 1. JuSchGÄndG begründete die Erweiterung nicht,650 insb. war die skizzierte Propagierung der Selbstjustiz bei den für den Entwurf ausschlaggebenden (gewaltdarstellenden) Computerspielen nie ein besonders relevanter Indizierungsgrund: Selbst das letzte und prominenteste Beispiel, MAX PAYNE, verjährte nach ca. 10 Jahren im Februar 2012.651 Wie arbiträr die Interpretation des Tatbestands ist, demonstriert nicht nur die Begründung der Listenstreichung, sondern auch, dass die USK das Spiel (in Orientierung an der Spruchpraxis der BPjM) bereits (als nicht jugendgefährdend) gekennzeichnet hatte (ohne dass die Kennzeichnung damals bereits einen rechtliche Indizierungsschutz generieren konnte; s.u.). Nach HEYL/LIESCHING 2008 ist der Tatbestand auch eng auszulegen, "da die Propagierung von Selbstjustiz auch ein Bewertungskriterium bzw. ein Indiz einer (bloßen) Entwicklungsbeeinträchtigung [...] sein kann. Gemäß dem Wortlaut werden daher nur solche Inhalte erfasst, die Selbstjustiz als 'einziges' probates Mittel positiv darstellen. Werden nach dem Gesamteindruck des Medieninhaltes indes besonders außergewöhnliche Umstände für die Anwendung von Selbstjustiz deutlich oder erschließen sich dem neutralen Beobachter aufgrund der Art der Darstellung auch andere Optionen zur Durchsetzung von Gerechtigkeit, so ist der Tatbestand in der Regel noch nicht erfüllt."652 I.d.S. sind z.B. undistanzierte, resp. -reflektierte Thematisierungen, simple positive Akzentuierungen und auch Glorifizierungen der Selbstjustiz (die Alternativen zur Durchsetzung von Gerechtigkeit nicht negieren) nicht hinreichend tatbestandserfüllend und ist damit dieses mehr oder weniger neue Indizierungskriterium gegenstandlos. Denn die eine Selbstjustiz thematisierenden, fiktionalen Computerspiele propagieren im Grunde einerseits nie eine (alternativlose) Selbstjustiz als i.S.d. Norm einzig bewährtes Mittel zur Durchsetzung der vermeintlichen Gerechtigkeit; i.d.R. wählen die Protagonisten (bspw. i.S.e. Rachemotivs) die Alternative(!) der Selbstjustiz. Andererseits legitimieren auch regelmäßig die besonderen Umstände der Einzelfälle, gem. der sie z.T. de facto(!) das einzig bewährte Mittel zur Durchsetzung der Gerechtigkeit ist, die Selbstjustiz: Ein (faktischer) Absenz der Gerechtigkeit u./o. der Rechtstaatlichkeit ist bspw. ein klassisches Sujet des Selbstjustiztopos, z.B. in phantastischen, historischen, dystopischen, konspirativen, korrupten u./o. anomischen Szenarien.653 Eine Indizierungspraxis, die z.B. historisch und regional divergierende rechts- und gesellschaftspolitische Idiosynkrasien ignorierte u./o. nicht zwischen realen und fiktionalen, ggf. 649 650 651 652 653 Vgl. HILPERT 2008, S.11. Vgl. BT-Drs. 16/8546. Vgl. IE Nr. 5887 v. 02.02.2012 (MAX PAYNE). HEYL/LIESCHING 2008, S.58. Bzgl. einer detaillierten Analyse des Kriteriums (insb. im Filmbereich) s. LIESCHING 2009. I.d.S. irritieren bspw. Indizierungen, wie die des Films MAD MAX, der eine endzeitliche Dystopie skizziert, in der die Rechtstaatlichkeit erodiert (ist); die BPjS argumentiert, dass die "positiv besetzte Figur" des eponymen Protagonisten alle Personen tötet, "die zuvor seine Familie getötet haben, ohne auch nur den Versuch zu unternehmen, ihnen mit rechtsstaatlichen Mitteln beizukommen. Der Film suggeriert, dass die Polizei keine Handhabe gegen die Verbrecher hat und dass Max nur noch mit denselben Mitteln wie die Verbrecher Gerechtigkeit erlangen kann. Eingeleitet wird dies durch die Szene, in der einer der Rocker auf Veranlassung seines Anwaltes als schuldunfähig freigelassen werden muss. Der Film spielt jedoch gerade nicht in einer Zeit der Gesetzlosigkeit herrscht, sondern wie in der ersten Hälfte des Films ausführlich beschrieben, sind Max und seine Kollegen als Polizisten ständig im Einsatz und es existiert noch immer ein Rechtssystem mit Anwälten und Gerichten." [IE Nr. 1761 (V) v. 02.12.1983; Nr. 7351 (V) v. 03.01.2007 und Nr. VE 1/08 v. 12.11.2008] Eine offensichtlich fehlsame Darstellung des im Film selbst dargestellten Rechtssystems. 120 phantastischen Szenarien differenzierte, müßte konsequenterweise ggf. auch bspw. gleichermaßen tatbstandliche Thematisierungen der Sagengestalt Robin Hood, des Sklavenaufstands des Spartacus (73-71 v. Chr.), wie auch des Attentats auf Adolf HITLER am 20.07.1944 indizieren. Die BPjM indizierte bis dato aber nur vermeintlich die Selbstjustiz in zeitgenössisch mehr oder weniger realistischen Szenarien propagierende Medien,654 so dass dgl. Bislang noch nicht zu einem praktischen Problem geworden ist. Die Implikationen (der Indifferenz) des Tatbestands sind aber auch ungeachtet dessen problematisch, denn einerseits kann eine konsequente Indizierungspraxis, die ggf. die Notwendigkeit eines absoluten Gehorsams ggü. der formalen, u.U. Ungerechtigkeit selbst generierenden oder nicht pönalisierenden Rechtsordnung suggeriert, selbst nicht rechtens sein; bzgl. letzterem Beispiel – dem Attentat im Juli 1944 – ist der Tyrannenmord bspw. ein grundrechtsgleiches Recht und im Lichte des Widerstandsrechts gem. Art. 20 Abs. 4 GG nicht prinzipiell illegal. Andererseits demonstriert der Tatbestand ein Misstrauen einer Bundesbehörde, resp. des Gesetzgebers, in die Überzeugungskraft der deutschen Strafjustiz. Die aber i.d.S. einzig hinreichende, d.h. die expl. Aufforderung zur alternativlosen Selbstjustiz, erfüllt generell (mindestens) den Straftatbestand des § 111 StGB und gilt als sozialschädlich, kann also nicht einfach jugendgefährdend sein. Letztlich interpretierte z.B. das AG München bereits eine "Glorifizierung der Selbstjustiz"655 (rechtswidrigerweise; s.u.) als hinreichendes Kriterium einer Gewaltverherrlichung, resp. -verharmlosung i.S.d. § 131 StGB, so dass die Strafbarkeit u.U. gar unter der Schwelle einer Jugendgefährdung liegt und die Normunterworfenen sich nicht mehr i.S.d. Bestimmtheitsgebots orientieren können. 11.4 Schwer jugendgefährdende Medien Infolge des 4. StrRG gelten gem. § 15 Abs. 2 JuSchG auch ohne eine rechtswirksame Indizierung und ihre (prinzipiell notwendige) Bekanntmachung im Bundesanzeiger (BAnz.) die Rechtsfolgen des § 15 Abs. 1 JuSchG für sog. schwer jugendgefährdende Trägermedien, so dass den Normunterworfenen eine eigene Prüfungspflicht subsidiär auferlegt wird, ob ein Medium schwer jugendgefährdend ist oder nicht.656 Schwer jugendgefährdende Trägermedien sind u.a. Medien, "die 1. einen der in […] § 131 […] des Strafgesetzbuches bezeichneten Inhalte haben, 2. den Krieg verherrlichen, […] 3a. besonders realistische, grausame und reißerische Darstellungen selbstzweckhafter Gewalt beinhalten, die das Geschehen beherrschen […] oder 5. offensichtlich geeignet sind, die Entwicklung von Kindern oder Jugendlichen oder ihre Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit schwer zu gefährden." Die Norm ist gem. dem Willen des Gesetzgebers die "zentrale Grundlage"657 des Jugendmedienschutzes ggü. insb. gewaltverherrlichenden, rassenhetzerischen und pornographischen Medien. Tatsächlich waren (und sind) Kinder und Jugendliche aber bereits im Lichte der §§ 131, 130 und 184 StGB diesbzgl. hinreichend geschützt. Ungeachtet dessen ist nach Auffassung des BGH eine schwere Jugendgefährdung gegeben, "wenn die Erziehung der jungen Menschen zu sittlich verantwortungsbewussten Persönlichkeiten unmittelbar in Frage gestellt wird, weil die Jugendlichen durch die Wahrnehmung oder Nutzung von Trägermedien dieser Art der nahen Gefahr ausgesetzt werden, dass sie eine dem Erziehungsziel entgegengesetzte Haltung einnehmen."658 Der materielle Unterschied zwischen einer einfachen und einer schweren Jugendgefährdung ist i.d.S. nur ein gradueller.659 Auf dem Feststellungsweg kann die Nähe der Gefahr der Einnahme einer dem Erziehungsziel entgegengesetzten Haltung, resp. können diesbzgl. unterschiedliche Eignungsgrade aber insg. nicht logisch konstatiert werden. Auch eine graduelle Differenzierung ist unpraktikabel, weil bereits 654 655 656 657 658 659 Vgl. LIESCHING 2009, S.3. AG München, Beschl. v. 15.01.2008, Az.: 855 Gs 10/08 (CONDEMNED) und v. 10.12.2008, Az.: 855 Gs 596/08 (STORM WARNING). Vgl. BVerfGE 77, 346 (357); SCHOLZ 1999, S.69; LIESCHING 2002, S.134 und STATH 2006, S.194. BT-Drs. 7/514. BGHSt 8, 80 (83); vgl. SCHOLZ 1999, S.70 und RETZKE 2006, S.139. Vgl. STATH 2006, S.231-235. 121 ähnliche, kaum differenzierbare Tatbestände existieren, wie die sich prinzipiell auch nur graduell von einer einfachen Jugendgefährdung unterscheidende Jugendbeeinträchtigung nach § 14 Abs. 1 JuSchG.660 Das HBI identifizierte auch das Problem, "dass eine Konkretisierung durch die BPjM in Fällen des § 15 Abs. 2 grundsätzlich nicht erfolgt (die BPjM soll in diesem Bereich in Zweifelsfällen lediglich klarstellend indizieren),661 so dass sie weitgehend aus sich heraus verständlich sein müssen. Da die Vorschriften strafbewehrt sind (§ 27 Abs. 1 JuSchG) sind die Anforderungen an die Bestimmtheit besonders hoch […]."662 Wie aber im Folgenden am Beispiel der für gewaltdarstellende Computerspiele relevanten Exemplifizierungen des § 15 Abs. 2 Nrn. 1, 3a und 5 JuSchG demonstriert wird, ist auch eine schwere Jugendgefährdung nicht hinreichend bestimmt. 11.4.1 Kriegsverherrlichende Medien Auf Antrag des Bundestagsausschusses für Jugendfürsorge sind seit 1961 kriegsverherrlichende Schriften kraft Gesetzes jugendgefährdend:663 War die Kriegsverherrlichung nach § 1 Abs. 1 Satz 2 GjS noch ein Regelbeispiel einer (einfachen) Jugendgefährdung, ist sie seit Inkrafttreten des JuSchG dgl. für eine schwere Jugendgefährdung.664 Der Entwurf des JuSchG begründete die Änderung nicht;665 insb. war aber eine Kriegsverherrlichung bei Computerspielen seit den 1990ern kein besonders relevanter Indizierungsgrund mehr. Die Rechtsprechung legte die Kriegsverherrlichung bis dato im Rahmen des GjS aber sehr weit aus. Bspw. argumentierte das OLG Köln, dass generelles Einvernehmen bestehe, "daß der Teilbegriff der Kriegsverherrlichung weit auszulegen ist. Dies ist geboten, da eine enge Auslegung nur uneingeschränkte Lobpreisungen des Krieges treffen würde. Die vom Gesetz und auch von Art. 26 GG angestrebte Friedensgesinnung wird in der Vorstellung der Jugend aber nicht nur durch eine uneingeschränkte Lobpreisung des Krieges gefährdet. Die gewünschte sozialethische Einstellung kann vielmehr schon durch solche Darstellungen gefährdet werden, durch die der Krieg irgendwie qualifiziert positiv bewertet wird, etwa dadurch, daß er als anziehend, reizvoll, wertvoll, als romantisches Abenteuer oder in erster Linie als eine Bewährungsprobe für männliche Tugenden und Möglichkeit dargestellt wird, Anerkennung, Ruhm oder Auszeichnung zu gewinnen."666 Die Rechtsprechung legt die Kriegsverherrlichung gar so weit aus, dass auch eine Kriegsverharmlosung eigenständig tatbestandlich sei;667 gem. BPjS steht eine Kriegsverharmlosung einer -verherrlichung i.d.S. gleich, "wenn Tod, Zerstörung, Kriegsnot und Kriegselend bagatellisiert werden."668 Tatsächlich indizierte die BPjS bereits Medien, weil sie Kriegsgräuel und -leiden nicht (hinreichend) thematisierten.669 Kurioserweise interpretiert die BPjM aber selbst die ohne weiteres als kriegskritisch interpretierbaren Darstellungen des Spiels CALL OF DUTY: WORLD AT WAR, die Kriegsgräuel und -leiden, wie z.B. Kriegsverbrechen authentisch(er) darstellen, nicht als Kriegsverherrlichung, resp. -verharmlosung, aber als affirmative, selbstzweckhafte Mord- und Metzelszenen i.S.d. § 18 Abs. 1 Nr. 1 JuSchG, gar als Gewaltverherrlichung i.S.d. § 131 StGB.670 Gegen eine Synonymisierung der Kriegsverherrlichung mit der Kriegsverharmlosung argumentiert aber auch LIESCHING 2007 plausibel, dass eine Verharmlosung – "z.B. durch bloßes Ausblenden der Kriegsfolgen und Verschweigen der Opfer und des Leids der 660 661 662 663 664 665 666 667 668 669 670 Vgl. MAST 1999, S.143 und BUCHLOH 2002, S.83f.. Vgl. BVerwG, Urt. v. 03.03.1987, Az.: l C 27/85; MONSSEN-ENGBERDING 1998, S.114; CARUS/HANNAK-MAYER/ KORTLÄNDER 2006, S.8 und STATH 2006, S.194. SCHULZ/BRUNN/DREYER et al. 2007, S.103 und vgl. BITKOM 2007, S.2. Vgl. BOSSELMANN 1987, S.13. Vgl. STATH 2006, S.224. Vgl. BT-Drs. 14/9013. OLG Köln, Urt. v. 16.09.1993, Az.: 7 U 72/92; vgl. BVerwGE 23, 112 (115f.); 28, 61; BOSSELMANN 1987, S.58f.; STEFEN/ADAMS 1988b, S.114; MONSSEN-ENGBERDING 1998, S.112; NIKLES/ROLL/SPÜRCK et al. 2005, S.245 und STATH 2006, S.224f.. Vgl. BVerwGE 23, 112 (114f.); MONSSEN-ENGBERDING 1998, S.112 und MAST 1999, S.141f.. Dgl. war auch der Wille des Gesetzgebers, s. BT-Drs. VI/3521, S.7 und STEFEN/ADAMS 1988b, S.115. IE Nr. 1/03 v. 25.02.2003 (COMMAND & CONQUER: GENERALS). Vgl. STEFEN/ADAMS 1988a, S.260. Vgl. IE Nr. 8525 (V) v. 20.1.2009 (CALL OF DUTY: WORLD AT WAR). 122 Menschen"671 – nicht per se eigenständig tatbestandlich erfasst, sondern nur Indiz einer Kriegsverherrlichung sein kann. Insg. kann auch eine sachliche, unpathetisch-nüchterne Darstellung des Krieges,672 wie auch eine simple Nichtthematisierung des Kriegsgräuels und -leidens, nicht erfasst sein.673 Bei der Auslegung des Tatbestands ist im Rahmen des indifferenten Wortlauts der Norm auch die Frage der Notwendigkeit eines Realitätsbezugs der Kriegsdarstellung relevant:674 Das OVG Münster konstatierte z.B. die Rechtswidrigkeit der Indizierung des relativ abstrakten Brettspiels RISIKO, dem ein hinreichender Realitätsbezug fehle.675 Wäre ein gewisser Realitätsbezug irrelevant, wäre letztlich auch eine Unzahl kriegsdarstellender Medien jugendgefährdend, die gem. Auffassung der OLJB aktuell nur jugendbeeinträchtigend sind.676 Ungeachtet dessen indizierte die BPjS aber auch bereits i.d.S. unrealistische Medien (s.u.). Insg. fördert eine extrem weite Auslegung aber eine (im Lichte des Bestimmtheitsgebots verfassungswidrige) uferlose Weite des Tatbestandes, wie im Folgenden am Beispiel der (für die Spruchpraxis der BPjM auch historisch relevanten) Indizierungen dreier Computerspiele demonstriert wird. Die BPjS indizierte mit Bekanntmachung im BAnz. Nr. 238 vom 19.12.1984 erstmals in ihrer Geschichte drei Computerspiele; BATTLEZONE,677 RIVER RAID678 und SPEED RACER.679 Die Behörde argumentierte, die beiden ersteren seien u.a. kriegsverherrlichend und präzisierte z.B. für das zweite der Spiele: Das Videospiel […] hat emotionssteuernde und aggressionssteigernde Eigenschaften. Bei älteren Jugendlichen führt das Bespielen von […] zu physischer Verkrampfung, Ärger, Aggressivität, Fahrigkeit im Denken, Konzentrationsschwierigkeiten. Kopfschmerzen u.a. [...]. Der Computer erzeugt durch das Spielen Aggression im Zusammenhang kriegerischer Ereignisse; da außer dem Befehl-/GehorsamVerhältnis (es muß geschossen und der Feind vernichtet werden) keine differenzierten sozialen Regeln angeboten werden für die Bewältigung von Wut und Zerstörungsgefühlen, kann davon ausgegangen werden, daß etwa auftretende Aggressionsneigungen auch in außerspielerischen Situationen insbesondere von gefährdungsgeneigten Kindern und Jugendlichen nicht adäquat beherrscht werden können. Aggressive Verhaltensmuster werden spielerisch eingeübt. [...] Das Videospiel […] ist kriegsverherrlichend und -verharmlosend. Wie der Antragsteller zu Recht hervorhebt, soll sich der Spieler in die Rolle eines kompromißlosen Kämpfers und Vernichters hineindenken. Dies geht klar aus der Spielanleitung hervor. Scharfschützenqualitäten sind im Spiel gefordert. Der Abschuß feindlicher Ziele wird hoch belohnt. Die Vernichtung eines gegnerischen Tankers, Hubschraubers, Treibstofflagers oder Jets bringt bis zu 100 Punkten, die Vernichtung einer gegnerischen Brücke 500. Die Anwendung kriegerischer Gewalt wird belohnt; wer die meisten Ziele zerstört hat, bekommt die meisten Punkte. Er hat die Möglichkeit, die Auszeichnung des "River Raider" zu erhalten. Das Spiel 'River Raid' ist auch kriegsverharmlosend, weil der Krieg nicht sachlich nüchtern dargestellt wird; Kriegsereignisse werden als automatisierte, durch technische Hilfsmittel herbeigeführte Geschehnisse vorgestellt und damit vordergründig einer moralischen Wertung entzogen. Die Schrecken und Leiden des Angriffkrieges werden weder erwähnt, noch in irgendeiner Weise angedeutet.680 Ungeachtet dessen, dass der BGH bereits 1955 klarstellte, dass körperliche oder geistige Gefährdungen nicht vom Tatbestand der sittlichen Gefährdung erfasst sind,681 indizierte die BPjS noch bis Anfang der 1990er i.d.S. per z.T. identischem Wortlaut ein Sammelsurium diverser, mehr oder weniger (i.w.S.) martialischer Reaktions- u./o. Geschicklichkeits-, wie auch Strategiespiele.682 Selbst noch Ende der 1990er konstatierte MONSSEN-ENGBERDING 1998 unreflektiert, das Schlagwort einer medieninduzierten(!) "paramilitärischen Ausbildung im 671 672 673 674 675 676 677 678 679 680 681 682 LIESCHING 2007, S.82. Vgl. BVerwGE 28, 61; OVG Münster, Urt. v. 17.05.1972, Az.: XII A 554/70; VG Köln, Urt. v. 02.11.1982, Az.: 10 K 2758/81; STEFEN/ADAMS 1988b, S.119; MAST 1999, S.142 und LIESCHING 2007, S.78. Vgl. BVerwGE 23, 112 (115); 28, 61 und STATH 2006, S.224. Vgl. STATH 2006, S.224 und LIESCHING 2007, S.79f.. Vgl. VG Köln, Urt. v. 10.01.1984 (Az.: 10 K 6287/82); OVG Münster, Urt. v. 04.06.1987, Az.: 10 A 1148/84 und KAMPE 1988, S.140f.. Vgl. ERDEMIR 2005, Rn. 59. Vgl. IE Nr. 3432 v. 13.12.1984 (BATTLEZONE). Vgl. IE Nr. 3433 v. 13.12.1984 (RIVER RAID). Vgl. IE Nr. 34324 v. 13.12.1984 (SPEED RACER). IE Nr. 3433 v. 13.12.1984 (RIVER RAID). Vgl. BGHSt 8, 80. Vgl. IE Nr. 3497 v. 08.08.1985 (RAID OVER MOSCOW). 123 Kindes- bzw. Jugendalter" hätte bis dato seine Aktualität bewahrt.683 Auf Antrag des Rechteinhabers strich die BPjS das Spiel letztlich 19 Jahre später aus dem Index und führte ihre originäre Entscheidung ad absurdum: "Das Computerspiel ist im Wesentlichen abstrakt gehalten. Es gilt ausschließlich auf Gegenstände zu schießen. Das Schießen auf Gegenstände ist aus Sicht der heutigen Spruchpraxis der Gremien der Bundesprüfstelle nicht ausreichend, um ein Computerspiel als jugendgefährdend einzustufen. [...] Das das Schießen auf Gegenstände in irgendeiner Form aggressionssteigende Wirkung vermuten läßt, ist auf Grund heutiger Sicht nicht mehr anzunehmen. Ebenso hat das 12er-Gremium der Bundesprüfstelle das Spiel in der seinerzeitigen Entscheidung als kriegsverharmlosend eingestuft. Dass es sich hier um Krieg handeln kann, ist bestenfalls einer Spielbeschreibung zu entnehmen nicht jedoch dem Spiel selbst. Die Aufgabe des Spielers besteht ausschließlich darin, wie bereits ausgeführt, auf Gegenstände zu schießen, wobei es sich bei diesen Gegenständen um Hubschrauber und Boote handelt. Irgendein Bezug zu einem konkreten Krieg kann dem Spiel selbst nicht entnommen werden."684 Die USK kennzeichnete das Spiel am 05.02.2003 ohne Altersbeschränkung. Seit den 1990ern wurde kaum mehr ein Spiel als kriegsverherrlichend indiziert. Ungeachtet dessen argumentierte aber die BPjS z.B. bzgl. der deutschen Erstauflage des Strategiespiels PANZER GENERAL, "daß der Inhalt des Computerspiels […] kriegsverharmlosend und kriegsverherrlichend ist, […] im weitesten Sinne die Ideologie des Nationalsozialismus verharmlost wird und […] gegen Art. 26 GG verstößt, da das Führen eines Angriffskrieges befürwortet wird."685 Das Strategiespiel sei bereits kriegsverharmlosend, "weil die Schrecken und Leiden des Krieges […] verschwiegen werden. […] Damit wird objektiv der Tatbestand der Kriegsverharmlosung durch nahezu alle Kriegssimulationsspiele erfüllt."686 Dies stellt zweifellos eine definitive Überinterpretation des Indizierungskriteriums dar (s.o.). Ausschlaggebend für die anderen Vorwürfe, dass das Spiel kriegsverherrlichend sei, die Ideologie des Nationalsozialismus verharmlose und das Führen eines Angriffskrieges befürwortet werde, war nicht das Spiel selbst, sondern waren diverse Passagen des Handbuches: Kriegsverherrlichend seien insb. prinzipiell zweckmäßige Erläuterungen über den Kriegsverlauf des u.a. nachspielbaren Polenfeldzugs während des 2. Weltkrieges, den die Behörde als Aufforderung interpretierte, "den Blitzkrieg gegen Polen detailliert nachzuspielen, also einen Angriffskrieg zu führen […]."687 Das habe zugleich kriegsverherrlichende Tendenzen. Eine Befürwortung des Angriffskrieges indizieren solche sachlichnüchterne Darstellungen aber wohl kaum. Kurioser ist gar noch der Vorwurf, das Spiel verharmlose die Ideologie des Nationalsozialismus, denn "[…] durch die ohne jegliche historische Erklärung sich wiederholende Verwendung des Wortes […] 'Blitzkrieg' sah das 12er-Gremium eine Befürwortung der Ideologie des Nationalsozialismus und damit den Versuch gegeben, diese Ideologie wieder gesellschaftsfähig zu machen bzw. beizutragen, sie in den Kinderzimmern zu platzieren."688 Eine Kriegsverherrlichung u./o. -verharmlosung, wie auch eine Verharmlosung nationalsozialistischer Ideologie oder die Befürwortung eines Angriffskrieges demonstriert das aber prinzipiell nicht. Selbst im Lichte einer direkten Glorifizierung des Blitzkriegs wäre das Postulat der BPjS nicht besonders überzeugend, dass das Spiel gegen Art. 26 GG verstoße: Verfassungswidrig sind nur reale(!) Handlungen, die bspw. die Führung eines Angriffskrieges vorbereiten. Kurioserweise habe das 12-Gremium der BPjS aber ungeachtet dessen nicht verkannt, "daß das Handbuch in seinem Vorwort durchaus Passagen enthält, die das nationalsozialistische Terrorregime eindeutig verurteilen und ebenso das Ergebnis der beiden Weltkriege als katastrophal einstuft. [...] Das 12er-Gremium hat aber demgegenüber betont, daß der Hersteller, der Kinder und Jugendliche auffordert, […] kriegerische Handlungen, Vernichtung, Bombardierung und Zerstörung spielerisch einzuüben, zugleich Zweifel an der Ernsthaftigkeit derartiger vorgeblich mahnender Worte aufkommen läßt. So könnte dieses Handbuch in Verbindung mit dem Spiel 683 684 685 686 687 688 Vgl. MONSSEN-ENGBERDING 1998, S.128. IE Nr. A 1/03 v. 20.01.2003 (RIVER RAID). IE Nr. 4600 v. 13.06.1996 (PANZER GENERAL). IE Nr. 4600 v. 13.06.1996 (PANZER GENERAL). IE Nr. 4600 v. 13.06.1996 (PANZER GENERAL). IE Nr. 4600 v. 13.06.1996 (PANZER GENERAL). 124 als ein Lehrbuch zur Führung des Zweiten Weltkrieges angesehen werden."689 Die BPjS artikulierte letztlich nur ein simples Ressentiment ggü. dem i.d.S. pauschal diskreditierten Hersteller, das aber weder plausibel ist, noch eine Negierung selbst der mahnenden Worte des Vorworts des Handbuchs legitimieren kann. Der letzte (prominente) Fall war die Indizierung des Echtzeitstrategiespiels COMMAND & CONQUER: GENERALS am 25.02.2003: Das Spiel hatte nach der Auffassung der BPjS u.a. ein insg. "hohes Maß an allgemein kriegsverherlichenden Elementen", ästhetisierte bspw. militärische Gewalt: "In den Zwischensequenzen werden Panzer präsentiert, die in geschlossenen Reihen durch die Wüste rollen oder Kampfbomber, die Formationen über feindlichem Gebiet fliegen. Die Kampagnen von USA und China enden jeweils mit festlichen MilitärParaden. Die Amerikaner lassen ihre Luftwaffe über eine tosende Menge hinwegdonnern, während China seine Panzer auffahren lässt. Dabei werden die Salutschüsse der NuklearArtillerie durch frenetischen Jubel kommentiert."690 Hinreichend ist aber gem. LIESCHING 2007 nicht, "dass lediglich bestimmte Teilnehmer an Kriegshandlungen oder bestimme Armeeteile, Divisionen oder Korps z.B. als 'Helden' verherrlicht werden, oder auch nur Kriegsmaterial, Kriegswaffen, Waffengattungen oder -systeme durch positive Aussagen propagandistisch überhöht werden. [...] Die bloße Glorifizierung von Kriegsparteien, Kriegsführern oder Soldaten begründet alleine noch keine Verherrlichung des Krieges. Gleiches gilt, wenn nur Kriegsmaterial, Kriegswaffen, Waffengattungen und -systeme verherrlicht werden. Derartige Inhalte können aber ein Indiz im Rahmen der Gesamtbewertung für die Bejahung einer Kriegsverherrlichung sein [...]."691 Insb. demonstrieren die Zwischensequenzen auch nur die (propagandistisch überhöhte) Perspektive der Kriegsparteien selbst; der Bellizismus (der Kriegsparteien) ist aber nur ein Topos und nicht die objektive Botschaft des Spiels. Die BPjS interpretierte abermals (vermeintlich) positive Darstellungen per se als affirmativ, so dass insg. eine Thematisierung des Krieges, die bspw. auch i.S.e. Authentiziät Propaganda darstellt, problematisiert wird. Sollen aber z.B. nicht auch bereits Präsentationen propagandistischen Materials im Rahmen neutraler Dokumentationen tatbestandserfüllend sein, kann die BPjS eine Kriegsverherrlichung folglich nur im Rahmen einer Gesamtbewertung bejahen,692 so dass die dekontextualisierende Beschreibung der Zwischensequenzen nicht ohne Weiteres eine Tatbestandserfüllung demonstrieren kann. Die Behörde unterlässt die i.d.S. notwendige Rückbeziehung auf den narrativen Kontext, künstlerische und ästhetische Konzepte, wie (oftmals auch genretypische) dramaturgische und (visuelle) Darstellungskonventionen u.ä. Merkmale des Spiels. Die Indizierung desselben wurde aber (erst) im September 2013 nach § 23 Abs. 4 JuSchG (s.u.) aufgehoben.693 Die drei Beispiele demonstrieren eine insb. arbiträre Spruchpraxis der BPjS und die Probleme einer weiten Auslegung der Kriegsverherrlichung. Ist die Kriegsverherrlichung ein Regelbeispiel einer schweren Jugendgefährdung, ist aber letztlich auch ungeachtet dessen insg. eine enge(re) Auslegung notwendig, denn eine Konkretisierung des Indizierungskriteriums durch die BPjM erfolgt nicht mehr und die skizzierte weite Auslegung der Kriegsverherrlichung ist nicht aus dem Tatbestand per se heraus verständlich.694 Auch ist bereits im Rahmen einer engen Auslegung im Lichte der Diversität der (mehr oder weniger plausiblen) Interpretationen derselben Medieninhalte eine eindeutige Differenzierbarkeit zwischen einer Verherrlichung, simpler Deskription oder der Kritik des Krieges i.d.R. nicht möglich;695 eine vermeintliche Glorifizierung könnte bspw. auch i.S.e. desavouierenden Ridikülisierung interpretiert werden. Bereits der ehem. Leiter der Freiwilligen Selbstkontrolle der Filmwirtschaft (FSK), Ernst KRÜGER, realisierte, dass man nicht verlangen kann, "Filme nur unter dem Gesichtspunkt 689 690 691 692 693 694 695 IE Nr. 4600 v. 13.06.1996 (PANZER GENERAL). IE Nr. 1/03 v. 25.02.2003 (COMMAND & CONQUER: GENERALS). LIESCHING 2007, S.79 und vgl. BVerwGE 23, 112 (116). Vgl. VG Köln, Urt. v. 10.01.1984, Az.: 10 K 6287/82 und DECKER 2005, S.81. Vgl. IE Nr. 5981 v. 05.09.2013 (COMMAND & CONQUER: GENERALS). Vgl. ALTENHEIN 2006, Rn. 15. Dgl. bereits MAST 1999 bzgl. der Gewaltverherrlichung i.S.d. § 131 StGB (S.140f.). 125 pazifistischer Tendenzen freizugeben. Eine reale Darstellung des Krieges, ferner die Schilderung positiver männlicher und menschlicher Eigenschaften im Krieg wie Mut, Opfersinn, Entschlossenheit und Einstehen für seine Mitmenschen [...] können keinen Verbotsgrund abgeben."696 Im Gegenteil könnte bspw. ein heldenhaftes Opfertum gar auch ein Kriegsleiden ausdrücken.697 Kurios ist i.d.S. bspw. die Indizierung des Films STARSHIP TROOPERS: Die BPjS konstatierte salopp, "dass der Propaganda für Nationalismus und soldatischer Hingabe für das Vaterland […] nur wenig entgegen zu setzen ist […]."698 Die Behörde negierte eine Faschismusu./o. Militarismussatire, resp. argumentierte, dass die Gewaltdarstellungen die Satire (wie auch den Kunstwert) des Films derogierten. Plausibler ist aber eine konträre Interpretation des Films, so dass die Willkürlichkeit der nur medienorientierten Spruchpraxis abermals demonstriert wird. Im Lichte des Bestimmtheitsgebots kann infolge dessen (d.h. im Sinne rechtlicher Klarheit) prinzipiell nur eine direkte Verherrlichung des Krieges tatbestandlich und ggf. eine dezidierte Negierung, resp. Relativierung der Kriegsgräuel und -leiden für dgl. indiziell sein, will man eine uferlose Weite des Tatbestandes, wie auch eine oktroyierte Pädagogisierung des Kriegssujets per se (z.B. i.S.v. Vorbehaltsfilmen) vermeiden. Letztlich ist die besondere Problematisierung einer Kriegsverherrlichung als schwer jugendgefährdend auch insofern kritikwürdig, dass auch der Hurrapatriotismus der beiden Weltkriege nicht (auf jeden Fall nicht nur) das Resultat kriegsverherrlichender, resp. -verharmlosender Medien war, sondern insb. auch spezifischer sozialer, kultureller und politischer Rahmenbedingungen und insg. einer militaristischen Homogenisierung der Gesellschaft, dank der die Medien bereits existente Einstellungen u.U stabilisieren konnten, ohne die eine entsprechende Medienwirkung aber noch unplausibler wird. 11.4.2 Gewaltbeherrschte Medien Seit Inkrafttreten des 1. JuSchGÄndG sind gem. § 15 Abs. 2 Nr. 3a JuSchG auch Trägermedien schwer jugendgefährdend, "die [...] besonders realistische, grausame und reißerische Darstellungen selbstzweckhafter Gewalt beinhalten, die das Geschehen beherrschen [...]." Tatsächlich wirkten mediale Gewaltdarstellungen nach der Spruchpraxis der BPjM aber bereits seit Jahren u.a. dann verrohend, "wenn Gewalt- und Tötungshandlungen das mediale Geschehen insgesamt prägen. Das ist z.B. dann der Fall, wenn das Geschehen ausschließlich oder überwiegend auf dem Einsatz brutaler Gewalt bzw. auf Tötungshandlungen basiert und/oder wenn das Medium Gewalt in großem Stil und in epischer Breite schildert. Unter Umständen kann auch das Herunterspielen von Gewaltfolgen eine Gewaltverharmlosung zum Ausdruck bringen und somit in Zusammenhang mit anderen Aspekten (z.B. thematische Einbettung, Realitätsbezug) jugendgefährdend sein, soweit nicht bereits die Art der Visualisierung oder die ernsthafte inhaltliche Auseinandersetzung mit Gewalt die notwendige Distanzierung erkennbar werden lässt."699 Initial der Norm war u.a. der saloppe (und forschungstechnisch nicht fundierte) Kommentar des HBI, dass sozialwissenschaftliche Befunde darauf hindeuteten, "dass besonders selbstzweckhafte Gewalt ein Problem für die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen darstellen kann. […] Angesichts der für die Industrie gewichtigen Indizierungsfolgen und der verfassungsrechtlich notwendigen Bestimmtheit sollte klargestellt werden, dass einzelne Sequenzen selbstzweckhafter Gewalt nicht ausreichen, sondern dass Spiel davon beherrscht sein muss."700 Eine diesbzgl. Klarstellung fehlt aber der Norm, so dass letztlich i.d.S. bereits vorab die fundamentale Problematik der Norm, d.h. die nicht hinreichende Bestimmtheit derselben, hätte evident sein müssen. 696 697 698 699 700 Zitiert in: HOCHHEIDEN 1980, S.157. Vgl. STATH 2006, S.224f.. IE Nr. 4881 v. 10.03.1999 (STARSHIP TROOPERS). IE Nr. 10214/11 (V), 10215/11 (V) und 10216/11 (V) v. 17.11.2011 (DEAD ISLAND). SCHULZ/BRUNN/DREYER et al. 2007, S.160. 126 11.4.2.1 Besonders realistische Gewaltdarstellungen Erstens ist einerseits bereits die der Norm inhärente Differenzierung in (einfach) realistische und besonders realistische Darstellungen fragwürdig, insb. im Lichte der Subjektivität eines wahrgenommenen Realismus.701 Andererseits ist auch die maßgebliche Dimension des Realismus fraglich: HEYL/LIESCHING 2008 argumentieren diesbzgl., dass bei Filmen mit menschlichen Akteuren als Gewaltopfer i.d.R. von einer besonders realistischen Gewaltdarstellung ausgegangen werden könne, "bei Computerspielen hingegen nur, wenn aufgrund technischer Gestaltung von Grafik, Bewegungsabläufen etc. die dargestellte Gewalt derart wirklichkeitsnah anmutet, dass sie von einem wiedergegebenen realen Geschehen nicht offensichtlich unterschieden werden kann."702 Auch nach SPÜRCK 2011 soll nur der (besondere) audiovisuelle Realismus der Gewaltdarstellung für die Erfüllung des Indizierungskriteriums notwendig sein, "hingegen nicht die hypothetisch wahre Existenz des Täters oder des Tatortes."703 Auch der BPjM war diesbzgl. ein (besonderer) audiovisueller Realismus der Darstellung i.d.R. hinreichend;704 bspw. behauptete sie bereits bei DOOM: "Die Tötungsakte und ihre Folgen werden weitgehend realistisch in Szene gesetzt."705 Die Behörde konstatiert aber i.S.e. Temporarität des Realismus bspw. im Rahmen aktuellerer Listenstreichungen diverser Egoshooter der 1990er, "dass die [...] technische Entwicklung im Bereich der Computerspiele dazu geführt hat, dass fotorealistische Darstellungen den zeitgemäßen Standard markieren und dementsprechend der Maßstab, welche Abbildungen oder Schilderungen als realistisch/realitätsnah und detailliert gelten können, einem starken Wandel unterzogen wurde. […] Jedoch sind die [...] präsentierten Gewaltszenen nach heutigen Maßstäben weder als detailliert noch als realistisch/realitätsnah einzustufen."706 Tatsächlich wird eine solche Temporarität insb. des Realismus der Spielgraphik regelmäßig auch bspw. seitens der Spielemagazine, der (werbenden) Nutzungsrechteurheber und -inhaber, wie auch der rechtswissenschaftlichen Literatur707 (indirekt) konstatiert und gelten Spiele, die in der Vergangenheit als (besonders) realistisch präsentiert wurden, heute als (graphisch obsolet und) unrealistisch. Regelmäßig wird ein graphischer Realismus praktisch aber nur in Relation zu aktuellen und älteren Spielen konstatiert und ist i.d.S. Synonym technischen Fortschritts. Graphischer Realismus ist aber nichts, das im Lichte technischen Fortschritts erodieren könnte; entweder ist ein Darstellung graphisch realistisch oder nicht: Auch die "Tötungsakte" eines DOOM waren bereits im Jahre 1994 nicht weitgehend realistisch in Szene gesetzt. Stellt man auch letztlich nur auf die Suffizienz eines audiovisuellen Realismus und nicht gleichzeitig die Notwendigkeit eines hypothetisch realen Geschehens ab, sind realistische und i.S.d. § 18 Abs. 1 Nr. 1 JuSchG detaillierte Gewaltdarstellungen (s.o.) auch nicht mehr hinreichend differenzierbar, wie auch die Spruchpraxis der BPjM demonstriert.708 Weder können i.d.S. im 701 702 703 704 705 706 707 708 Vgl. HALL 2003. HEYL/LIESCHING 2008, S.53 und vgl. LIESCHING 2008. SPÜRCK 2011, S.21. Vgl. HILPERT 2008, S.16. IE Nr. 4637 (V) v. 25.05.1994 (DOOM). IE Nr. 5847 v. 04.08.2011 (DOOM); Nr. 10224 (V) v. 09.11.2011 (QUAKE) und vgl. LIESCHING 2008. Vgl. LIESCHING 2008. Ein "Beispiel für eine realistische Darstellung von Tötungsvorgängen in modernen Ego-Shootern" (BPjM 2010a) ist der Bundesprüfstelle bspw. die per IE Nr. 6602 (V) v. 08.03.2004 indizierte Demo des Spiels FAR CRY: "Die menschlichen Gegner werden […]sehr lebensnah dargestellt und animiert. Wird eine solche Gegnerfigur beschossen, berechnet das Spiel scheinbar auf das Polygon genau, wo die Kugel einschlägt, und erstellt eine Schadenstextur an der exakten Trefferstelle. Es entstehen neben den obligatorischen Blutspritzern blutrote Einschusslöcher, die je nach benutzter Waffe und Eintrittswinkel unterschiedlich groß ausfallen können und unter Umständen gar freiliegendes Muskelgewebe zu zeigen scheinen. Getötete Gegner bluten langsam aus und bilden dabei ausgedehnte Blutlachen oder, wenn das Opfer im Wasser treibt, regelrechte 'Wolken' blutroten Wassers. Zusätzlich verfügt 'Far Cry' über ein aussgeklügeltes 'Ragdoll'-System. Anhand dieses Programmbausteins errechnet das Spiel physikalisch korrekt, wie sich der Körper einer Spielfigur bei Einwirkungen von außen, so z.B. bei Beschuss, verhält. Daher fallen die erschossenen Gegner im Spiel nicht einfach in einer vorberechneten Sterbeanimation um. Vielmehr verhält sich die Leiche der getöteten Spielfigur so, wie es wohl von einem echten Körper in der gegebenen Situation zu erwarten wäre. Wird ein Gegner etwa von vorne durch einen Kopfschuss getötet, reißt die Wucht der Kugel den Kopf nach hinten, woraufhin der Rest des Körpers mitgerissen wird. Erfolgt der tödliche Treffer in den Bauch, sackt die Spielfigur in sich zusammen, trifft man die Beine, kippt der Gegner vornüber [...]." Dasselbe Exzerpt hätte auch ein Bsp. einer detaillierten Gewaltdarstellung sein können. Ungeachtet der (obligatorischen) Falschbeschreibungen ("freiliegendes Muskelgewebe") unterscheiden sich die indizierte Demo und die nicht indizierte, zensierte dt. Vollversion (ohne Jugendfreigabe) nur 127 Fall von Filmen fiktionale Gewaltdarstellungen ggü. realen Schauspielern tatbestandlich hinreichend sein, noch ist im Fall von Computerspielen die Reduzierung der Darstellung auf die Graphik, resp. die Synonymisierung eines (besonderen) Realismus i.S.d. der Norm und eines graphischen Realismus plausibel. Notwendig wäre nicht nur mindestens eine Fotorealistik und Authentizität der Gewaltwirkung, sondern – insb. im Lichte der sechs Dimensionen des perzipierten Realismus gem. HALL 2003 ("plausibility, typicality, factuality, emotional involvement, narrative consistency, and perceptual persuasiveness") und im Rahmen einer generell obligatorischen Gesamtbewertung – auch ein (besonders) realistisches Szenario, das auch der heutigen Lebenswirklichkeit, insb. dem Lebensumfeld von Kindern und Jugendlichen, entsprechen muss. Das Gros der Szenarien indizierter Spiele ist aber phantastisch. Das ein unrealistisches Szenario in der Verneinung eines Realismus der Gewaltdarstellung resultiert hätte, ist aber bis dato im Rahmen der Spruchpraxis der BPjM seit Inkrafttreten des JuSchG eine nur zweimalige Ausnahme geblieben: Bzgl. des Spiels DARK MESSIAH OF MIGHT & MAGIC argumentierte die BPjM, dass der "fantastische Hintergrund" der Gewaltdarstellungen eine Verrohung nicht annehmen lasse und auch ggü. dem Spiel CLIVE BARKER’S JERICHO realisierte die Behörde, dass die Gewalthandlungen "eindeutig [...] surrealistisch"709 sind (s.u.). Kurioserweise argumentierte sie aber bspw. bei GORE, "dass die Rahmenhandlung und der hierin vorhandene Ansatz, das Spielgeschehen in eine fiktive Zukunftsszenerie zu verlegen, in der Wahrnehmung der Spieler eine untergeordnete Rolle spielen. Das Decodieren des Szenerie als 'grellfarbig surrealistisch klobig', setzt eine Genre-Erfahrung voraus, die ältere Kinder und jüngere Jugendliche, die durchaus zur Zielgruppe des Spieles gehören, nicht besitzen."710 Das demonstriert abermals die Willkür der Spruchpraxis der BPjM. Letztlich kann das Merkmal der (besonders) realistischen Darstellung der (selbstzweckhaften, das Geschehen beherrschenden) Gewalt kein hinreichendes Indiz einer (schweren) Jugendgefährdung sein; i.d.S. argumentiert bspw. der Freiwillige Selbstkontrolle Multimedia-Diensteanbieter e.V. (FSM), daß z.B. gerade der aufklärerische Kontext einer besonders realistischen Gewaltdarstellung dazu führen könne, "dass das entsprechende Trägermedium gerade nicht als schwer jugendgefährdend einzustufen ist. Aus diesem Grund greift etwa § 131 StGB, der in § 15 Absatz 2 Ziffer 1 JuSchG genannt ist, gerade auch auf die 'Art der Darstellung' zurück, um den Kontext mit einzubeziehen. Gleiches gilt für die Ziffern 2 und 3 des § 15 Absatz 2 JuSchG, die wertende Aspekte des Kontextes (etwa 'verherrlichen' oder 'Menschenwürde verletzenden Weise') mit einbeziehen. Dieser wichtige Aspekt des Kontextes findet bei der hier vorgeschlagenen Regelung in den Begriffen 'besonders realistisch' sowie die 'Beherrschung des Geschehens' keine Berücksichtigung."711 11.4.2.2 Besonders grausame Gewaltdarstellungen Zweitens ist das Merkmal der besonders grausamen Darstellung unpraktikabel, resp. ist das Konstrukt einer besonders grausamen Darstellung insg. fragwürdig und reproduziert ein formulatorisches Defizit, das bereits den § 131 StGB zwischen seinem Inkrafttreten am 02.03.1974 und dem Inkrafttreten des Gesetzes zur Neuregelung des Jugendschutzes in der Öffentlichkeit (JÖSchNG) am 25.02.1985 prägte, nämlich die Pönalisierung einer grausamen Darstellung und nicht der Darstellung grausamer Gewalt:712 Grausam ist eine Handlung nach 709 710 711 712 hinsichtlich eines reduzierten "Ragdoll"-Systems, einer reduzierten Blutmenge, resp. -densität oder -farbintensität und des fehlenden Ausblutens, d.h. fehlender Blutlachen und -"wolken", nicht aber hinsichtlich der Blutspritzer und Einschusslöcher. Die exponierte Kritik z.B. des "Ragdoll"-Systems forciert auch aktuell Selbstzensureffekte, so dass dt. Versionen evtl. indizierungsgefährdeter Computerspiele u.a. das System regelmäßig nicht mehr implementieren (s. HAZE; KANE & LYNCH 2: DOG DAYS; MERCENARIES 2: WORLD IN FLAMES; CONFLICT: DENIED OPS; BULLETTSTORM). Kurioserweise sind die im IE monierten (immersiven) Gewalteffekte und -visualisierungen heute aber auch Usus unzähliger Spiele, die nach § 14 JuSchG nur jugendbeeinträchtigend, aber nicht -gefährdend sind; prinzipiell demonstriert das die Fehlsamkeit der einzig an dekontextualisierten Gewaltvisualisierungen orientierten Spruchpraxis der BPjM. IE Nr. 5551 v. 07.02.2008 (CLIVE BARKER’S JERICHO). IE Nr. 6359 (V) v. 15.10.2002 (GORE). FSM 2007, S.3f. und vgl. BITKOM 2007, S.1f. Vgl. BT-Drs. 10/2546, S.22; OEHLER 1988, S.185 HAUSMANNINGER 2002c, S.364; KRAUSE 2006, S.8f./12 und STATH 128 Auffassung des BVerfG i.S.d. Mordmerkmale des § 211 StGB, "wenn sie unter Zufügung besonderer Schmerzen oder Qualen körperlicher oder seelischer Art ausgeführt wird und außerdem eine brutale, unbarmherzige Haltung desjenigen erkennen läßt, der sie begeht [...]."713 Ergo wäre eine besonders grausame Darstellung eine Darstellung, die dem Rezipienten besonders besondere Schmerzen oder Qualen körperlicher oder seelischer Art zufügt und außerdem eine brutale, unbarmherzige Haltung bspw. der Rechteurheber u./o. -inhaber erkennen liesse. Das ist natürlich eine nicht justiziable Auslegung. HEYL/LIESCHING 2008 argumentieren i.d.S., dass entgegen dem Wortlaut der Norm nicht die Darstellung, sondern die dargestellte Gewalt "grausam" sein müsse:714 Einerseits ist das aber eine gleichermaßen problematische Auslegung, insb. bei menschenähnlichen Tätern u./o. Opfern, wie noch im Rahmen des § 131 StGB präzisiert wird. Problematisch ist dies nach SPÜRCK 2011 insb. auch bei Computerspielen, "soweit der Spieler hier selbst Gewalt ausübt: Gerade beim für violente Computerspiele typischen Egoshooter ist die vom Spieler ausgeübte Gewalt selbst bei intensivstem 'Quälen' der virtuellen Gegener (objektive Komponente) nicht ohne weiteres eine damit korrespondierende subjektive Komponente verbunden."715 Andererseits ist im Lichte der gebotenen engen Auslegung der Norm ihr Wortlaut, der von einer besonders grausamen Darstellung und nicht von der Darstellung besonders grausamer Gewalt spricht, eigentlich ihre Auslegungsgrenze. Bzgl. beider Auslegungen wäre letztlich auch die Differenzierbarkeit (einfach) grausamer und besonders grausamer Darstellungen i.S.e. graduellen Steigerung fraglich,716 denn notwendige Bedingung einer Grausamkeit ist ja u.a. bereits die Zufügung besonderer(!) Schmerzen oder Qualen. 11.4.2.3 Besonders reißerische Gewaltdarstellungen Drittens ist auch das Merkmal einer (besonders) reißerischen Darstellung nicht hinreichend bestimmt: Einerseits synonymisieren bspw. HEYL/LIESCHING 2008 reißerische und die Plattititüde selbstzweckhafter Gewaltdarstellungen i.S.d. § 18 Abs. 1 Nr. 1 JuSchG (s.o.) miteinander.717 Andererseits ist eine Gewaltdarstellung nach der Spruchpraxis der FSK gem. BESTGEN 2008 bereits (einfach) reißerisch, "wenn sie besonders spannend und effektvoll inszeniert ist."718 Bzgl. letzterem wird gem. SPÜRCK 2011 – in Orientierung an den Beurteilungskriterien der Kommission für Jugendmedienschutz für eine mögliche anreißerische Form der Darstellung (im Hinblick auf die filmtechnische Gestaltung), die das Kriterium des berechtigten Interesses an der Form der Darstellung oder Berichterstattung i.S.d. § 5 Abs. 6 des Staatsvertrag über den Schutz der Menschenwürde und den Jugendschutz in Rundfunk und Telemedien (JMStV) präzisieren sollen – darauf abzustellen sein, "ob die Darstellung primär den Voyerismus des Nutzers bediene; relevant ist hier namentlich eine subjektive Kameraperspektive (i.S. einer Frosch- bzw. Vogelperspektive); ferner etwa eine fokussierende Kameraführung durch Nah- und Großaufnahmen sowie Zooms und Schwenks auf beeinträchtigende Inhalte; weiterhin optische Gestaltungsmittel wie Trickbilder, Zeitraffer, Zeitlupen, Einfärbungen etc. sowie akustische Hervorhebungen namentlich durch Geräusche und Musik. [...] Erforderlich ist [...] die Feststellung, dass der Nutzer in einer gesteigerten Weise dahingehend intinsiv [sic] emotional berührt wird, dass die Darstellung den Leser, Zuschauer oder Spieler ''mitreißen' und an das dargestellte Geschehen besonders fesseln' oder ihn 'in den Bann ziehen' soll und kann – auch gegen den Willen des Nutzers."719 Die Präzisierung ist redundant, denn die BPjM nimmt eine detaillierte Darstellung i.S.d. § 18 Abs. 1 Nr. 1 JuSchG gem. der Ergebnisse ihrer Jahrestagung im Jahre 2009 bereits immer dann an, "wenn die Gewalthandlung durch stilistische Mittel wie Nahaufnahme, Zeitlupe, Kamerafokussierung minutiös dargeboten 713 714 715 716 717 718 719 2006, S.211. BVerfGE 87, 209 (226). Vgl. HEYL/LIESCHING 2008, S.53. SPÜRCK 2011, S.22. Vgl. SPÜRCK 2001, S.23. Vgl. HEYL/LIESCHING 2008, S.53. BESTGEN 2008, S.81 und vgl. SEIFERT 2008, S.16. SPÜRCK 2011, S.22. 129 werde."720 Der BPjM war auch bereits hinreichend, dass "Tötungshandlungen" audiovisuell detailliert präsentiert werden.721 Eine reißerische Darstellung kann aber nicht auch noch gleichzeitig Synonym einer selbstzweckhaften und einer detaillierten (effektvollen) Darstellung sein. Letztlich ist einerseits die Frage des Zwecks der Form der Darstellung eine Frage ihres Kontextes: Eine isolierte Aufzählung der skizzierten film- bzw. spieltechnischen Mittel und ggf. ihrer spezifischen Arrangements kann i.d.S. eine primär den Voyerismus des Nutzers bedienende Darstellung für sich genommen nicht hinreichend indizieren. Andererseits ist "Unterhaltungsgewalt"722 nicht generell illegitim und eine (besonders) spannende und effektvolle Inszenierung ein reguläres Mittel den Rezipienten intensiv emotional zu berühren, mitzureissen und an das dargestellte Geschehen besonders zu fesseln oder ihn in den Bann zu ziehen, das u.a. vermeintlich voyeristischen, wie z.B. aufklärerischen Intentionen gleichermaßen dienen kann und nicht per Formenanalyse objektivierbar ist. 11.4.2.4 Darstellungen selbstzweckhafter Gewalt Viertens ist ein Teil der Literatur der Auffassung, das Merkmal der Darstellung selbstzweckhafter Gewalt sei dasselbe, wie das Merkmal der selbstzweckhaften Darstellung der Gewalt i.S.d. § 18 Abs. 1 Nr. 1 JuSchG.723 Einerseits wäre die Auffassung i.V.m. der skizzierten Synonymisierung (besonders) reißerischer und selbstzweckhafter Gewaltdarstellungen natürlich redundant. Andererseits ist der Wortlaut der Norm abermals ihre Auslegungsgrenze; d.h., dass die Akteure die dargestellte Gewalt selbstweckhaft (causa sui) praktizieren müssen.724 I.d.S. kann bzgl. Computerspielen optionale Gewalt, die für ein Fortkommen im Spiel nicht erforderlich ist, eigentlich nicht ohne weiteres tatbestandlich erfasst sein. HILPERT 2008 realisiert, dass in modernen Computerspielen der "Anteil optionaler Komponenten" steige und nicht mehr die Notwenigkeit bestehe, "linear eine Aufgabe nach der anderen zu lösen. Der Spielende hat viele Möglichkeiten des Agierens. Der Spieler kann sowohl mit einem Auto Radio hörend durch die Stadt fahren, als auch harmlose Passanten ermorden. Das Verhalten des Spielers ist also immer mehr bestimmend für den Ablauf des Spieles. Kann denn in diesem Fall die Möglichkeit gewalttätiger oder anderer krimineller (virtueller) Handlungen unter Jugendschutzgesichtspunkten überhaupt als problematisch bewertet werden? Gibt ein solches Spiel denn nicht nur die Realität wieder, in der ja auch die Möglichkeit gegeben ist, kriminell zu handeln? Tatsächlich kann die Möglichkeit, eine kriminelle Handlung zu begehen, alleine nicht als jugendgefährdend angesehen werden. Wenn allerdings in einer virtuellen Welt Rauben und Morden durch fehlende Sanktionierung als vorteilhafte Verhaltensweisen bestärkt werden, dann ist dies im Sinne des Jugendschutzes als sehr problematisch und jugendgefährdend einzuschätzen."725 Dessen ungeachtet ist die Spruchpraxis der BPjM, der bspw. bereits die optionale Liquidierung (unbeteiligter) Zivilisten, ohne dass der Spieler einen Nachteil davonträgt, hinreichende Bedingung einer Indizierung ist,726 nicht plausibel: Einerseits kann daraus, dass Gewalt spielintern, resp. -mechanisch nicht (hinreichend) sanktioniert wird, nicht ohne weiteres (und insb. nicht ohne Rückbeziehung auf bspw. den Kontext) geschlossen werden, ein Spiel vermittle einen (die Jugendgefährdung konstituierenden) gewaltaffirmativen (u./o. -bagatellisierenden) Gedankenzusammenhang. Andererseits haben nicht erst seit Inkrafttreten des JuSchG auch Spiele eine Alterskennzeichnung (und z.T. eine Jugendfreigabe) erhalten, die optionale Gewalt gegen Zivilisten u.U. (i.w.S.) spielmechanisch gratifizieren; die BPjM selbst ignorierte ja im Fall der Nichtindizierung des Spiels GOD OF WAR, dass das Spielersubstitut Zivilisten liquidieren kann, um seine "Gesundheitsanzeige" zu füllen.727 Darüber hinaus ist die Modalität 720 721 722 723 724 725 726 727 BPjM 2009a. Vgl. IE Nr. VA 3/09 v. 25.11.2009 (CALL OF DUTY: MODERN WARFARE 2). HÄNSEL/HÄNSEL 2006. Vgl. SPÜRCK 2011, S.22. Vgl. STIEFLER 2010, S.5. HILPERT 2008, S.9. Vgl. IE Nr. 9521 (V) v. 20.10.2010 (KANE & LYNCH 2: DOG DAYS). Vgl. IE Nr. 5367 v. 05.01.2006 (GOD OF WAR). 130 gem. FSM insg. nicht plausibel, "denn unabhängig von der Unbestimmtheit dieser Begrifflichkeit wird auch eine Gewaltdarstellung z.B. im aufklärerischen Kontext oft 'selbstzweckhafte' Gewalt zum Inhalt haben, soweit man hierunter eine Gewaltausübung 'ohne weiteren Grund' versteht. [...] Es sollte insoweit vielmehr auf die 'Selbstzweckhaftigkeit' der gesamten Darstellung und nicht der Gewalt selbst ankommen, wie gesagt sollte jedoch die Begrifflichkeit wegen der Unbestimmtheit im Gesamten vermieden werden."728 11.4.2.5 Beherrschtheit des Geschehens Fünftens ist die Beherrschtheit des Geschehens nicht hinreichend bestimmt. Zwei Fragen sind diesbzgl. evident: 1.) Ist eine Gewaltbeherrschtheit des kompletten Medieninhaltes notwendig oder ist auch hinreichend, dass tatbestandlich qualifizierte Darstellungen der Gewalt nur die Gewaltdarstellungen selbst beherrschen? 2.) Ist eine quantitative oder qualitative Beherrschtheit hinreichend oder ist beides notwendig? Bereits der initiale Kommentar des HBI präzisierte indirekt bzgl. der ersten Frage, dass im Lichte der Rechtsfolgen des § 15 Abs. 1 JuSchG und des Bestimmtheitsgebots klargestellt werden sollte, "dass einzelne Sequenzen selbstzweckhafter Gewalt nicht ausreichen, sondern dass Spiel davon beherrscht sein muss."729 I.d.S. und insb. auch im Rahmen der generell notwendigen Gesamtbewertung ist eine Gewaltbeherrschtheit des kompletten Medieninhalts notwendig (dgl. auch die h.M.). Als Antwort auf die zweite Frage ist z.B. nach SPÜRCK 2011 bei Filmen eine quantitative Gewaltbeherrschtheit hinreichend, die man immer dann annehmen müsse, "wenn die [...] Gewalt [...] zeitlich dominiert, also jedenfalls mehr als 50 Prozent beträgt."730 BESTGEN 2008 argumentiert aber diesbzgl., hätte der Gesetzgeber die Dauer der Gewaltdarstellungen in den Mittelpunkt rücken wollen, hätte er das Geschehen bspw. adjektivisch bzgl. der Zeitkomponente präzisiert; auch spräche insg. mehr dafür, "[…] auf die dramaturgische Einbettung der Gewalt in die […] Handlung abzustellen."731 Eine quantitative Beherrschtheit ist aber insg. auch nur ggü. linearen Medien konstatierbar, denn die Interaktivität der Computerspiele, resp. die Variabilität der Spielzeiten und Gewaltdarstellungen relativieren i.d.R. diesbzgl. notwendige Orientierungspunkte. Dgl. abermals SPÜRCK 2011, gem. dem qualitativ entscheidend ist, "ob der Spieler an (im tatbestandlichen Sinne qualifizierten) Gewaltdarstellungen im Spiel nicht vorbei kommt, weil etwa standardmäßig derartige gewalthaltige Szenen in bestimmten Spielsituationen als Videosequenz abgespielt werden bzw. weil (tatbestandlich qualifizierte) Gewalt erforderlich ist, um im Spiel weiterzukommen. Kann mit anderen Worten der Spieler etwa quasi nebenher auch unbeteiligte Dritte durch (tatbestandlich qualifizierte) Gewalt verletzen, reicht dies für die Gewaltbeherrschtheit ebenso wenig aus; das gilt erst recht, wenn derartiges Verhalten mit Punktabzug oder erschwertem Fortkommen im Spiel sanktioniert wird. Die tatbestandliche Gewalt muss hier aber für den Spieler einen besonderen Reiz ausüben, indem sie etwa zentral im Spielgeschehen verankert ist und nicht nur Randbereiche betrifft."732 Die Bewertungsgrundlage einer qualitativen Gewaltbeherrschtheit ist aber regelmäßig abermals nur eine Frage des Geschmacks. Eine (tatbestandlich qualifizierte) Beherrschtheit des Geschehens ist als Kriterium einer (schweren) Jugendgefährdung insofern letztlich nicht hinreichend bestimmt. I.d.S. kommentierte FRITZ 2007 bereits die Pläne der sog. Leyen-Laschet-Initiative, die im 1. JuSchGÄndG resultierten: Es sei problematisch, "Spiele mit einem Abgabeverbot zu belegen, 'wenn das ganze Spiel von Gewalt beherrscht wird'. Eine solche gesetzliche Bestimmung ginge an der Realität virtueller Spielwelten vorbei. Wie ausführlich dargelegt wurde, gehört es zum Wesen der Computer- und Videospiele gegen einen 'Widerstand' die Spielziele durchzusetzen. Das Erreichen des Spielziels ist bei den allermeisten Spielen untrennbar mit den verschiedenen Formen der Gewaltanwendung verbunden (Abschießen von Raumschiffen, Vernichten von 728 729 730 731 732 FSM 2007, S.4. SCHULZ/BRUNN/DREYER et al. 2007, S.160. Vgl. SPÜRCK 2011, S.25. Vgl. BESTGEN 2008, S.81. SPÜRCK 2011, S.25. 131 Armeeeinheiten, Abdrängen eines Autos, Erledigen von Monsterhorden, Zerstören von Gegenständen, bis hin zu sportlicher Gewalt). Die Gewaltanwendung kann in sehr unterschiedlicher grafischer Form erfolgen: phantastisch bis realistisch, comicartig bis futuristisch, kleinteilig bis großflächig. Ein Abgabeverbot würde die meisten Computer- und Videospiele betreffen, auch diejenigen, die mit USK 12 gekennzeichnet sind."733 Die additiven Merkmale der besonders realistischen, grausamen und reißerischen Gewaltdarstellungen und der Selbstzweckhaftigkeit der dargestellten Gewalt können den Kommentar dank ihrer mangelnden Bestimmtheit nicht relativieren. Gravierender ist gar abermals die Kritik des FSM: "Denn eben jener Punkt hat genauso wenig wie die 'Selbstzweckhaftigkeit' der Gewalt [...] Aussagekraft über die Art und Weise bzw. den Kontext der Darstellung im Gesamten. Demgegenüber mögen die Merkmale 'reißerisch' und 'grausam' zwar insoweit Elemente des Kontextes und der Art der Darstellung enthalten, sie sind vor dem Hintergrund der bereits bestehenden, ausreichenden Bestimmungen aber unnötig. Neben diesen inhaltlichen Kritikpunkten ist nämlich angesichts der übrigen Regelungen des § 15 Absatz 2 JuSchG die zusätzliche Ziffer 3 a) überflüssig. Es sind keine Darstellungen denkbar, die hierdurch auf sinnvolle Weise neben den etwa in Ziffer 1-3 genannten Darstellungen zusätzlich mit abgedeckt werden."734 11.4.2.6 Schlussbemerkungen zu gewaltbeherrschten Medien Ungeachtet ihres evtl. Anwendungsbereichs entspricht die Norm insg. nicht dem rechtsstaatlichen Grundsatz der Normenklarheit;735 i.d.S. argumentierte bspw. auch Kai GEHRING (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN), stellvertretendes Mitglied im Bundestagsausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, der bereits den Entwurf des 1. JuSchGÄndG als "Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für Juristen und Gerichte"736 dekuvrierte. Letztlich sind der BPjM bereits auch (rechtswidrig) nur (vereinzelte) detaillierte Gewaltdarstellungen gleichermaßen hinreichende Bedingungen (einfacher) Jugendgefährdungen nach § 18 Abs. 1 Nr. 1 JuSchG, wie auch schweren Jugendgefährdung nach § 15 Abs. 2 Nr. 3a JuSchG, wie deutschen Gerichten dgl. gar (ebenfalls rechtswidrig) hinreichende Bedingung einer Gewaltverherrlichung, resp. -verharmlosung i.S.d. § 131 StGB ist, aber nach der Spruchpraxis der der USK, resp. der OLJB, nur ein Kriterium einer Jugendbeeinträchtigung markiert. Die Normunterworfenen können i.d.S. die Rechtslage nicht erkennen und infolge dessen ihr Verhalten nicht danach ausrichten. 11.4.3 Offensichtlich schwer jugendgefährdende Medien Der Beispielkatalog des § 15 Abs. 2 JuSchG ist nicht final: Nach Nr. 5 sind auch Medien schwer jugendgefährdend, "die […] offensichtlich geeignet sind, die Entwicklung von Kindern oder Jugendlichen oder ihre Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit schwer zu gefährden." Nach Auffassung des Gesetzgebers war originär namentlich an Fälle gedacht, "in denen Zeitschriften oder Broschüren durch vermeintlich anreißerische erotische Bilder auf der Außenseite die Kauflustigen zu animieren suchen."737 Das BVerfG attestierte der Norm hinreichende Bestimmtheit, denn der Gesetzgeber habe klar gemacht, "daß nicht Grenzfälle, sondern nur jedem unbefangenen Beobachter erkennbar jugendgefährdende Schriften erfaßt werden sollen [...]. Gleichzeitig bringt das Merkmal der Offensichtlichkeit zum Ausdruck, daß zur Feststellung der schweren Jugendgefährdung keine detaillierte Kontrolle der Publikation verlangt werden darf; die Gefährdung muß sich vielmehr aus dem Gesamteindruck [...] oder aus besonders ins Auge springenden Einzelheiten ergeben."738 733 734 735 736 737 738 FRITZ 2007, S.55. FSM 2007, S.4 und vgl. SPÜRCK 2001, S.25. Vgl. BR-Drs. 3/1/08, S.3f.; BT-Drs. 16/9024; BITKOM 2007, BIU 2007a, FSK 2007; FSM 2007 und DEGENHART 2008, S.74-79. Zitiert in: BT-PlPr 16/151, S.16213. BT-Drs. I/1101, S.12. BVerfGE 77, 346 (357f.); vgl. 11, 234 (237f.); 83, 130 (145); BROCKHORST-REETZ 1989, S.1ff.; LIESCHING 2002, S.129f.; SCHOLZ 1999, S.70; RETZKE 2006, S.139 und STATH 2006, S.231. Bzgl. diverser, vermeintlich prägnanter Bsp. offensichtlich schwer jugendgefährdender Medien s. HEYL/LIESCHING 2008, S.54. 132 Aber bereits vor dem Inkrafttreten des GjS wurden massive Zweifel an der Bestimmtheit der Norm artikuliert:739 Im Lichte der generell mangelnden Bestimmtheit des Konstrukts der Jugendgefährdung, der Diversität der Medienrezeption, wie auch individueller "Bilder, Konzepte und Definitionen von Kindheit und Jugend"740 und i.d.R. nur alltagstheoretischer Medienwirkungshypothesen als Bewertungsgrundlage für solche Fragen, degeneriert die Offensichtlichkeit einer (schweren) Jugendgefährdung zu einer Plattitüde. Ein Medien inhalt, der dem einen ohne detaillierte Kontrolle schwer jugendgefährdend ist, ist dem anderen nicht ohne detaillierte Kontrolle, nicht schwer oder gar nicht jugendgefährdend.741 Die einzigen offensichtlich jugendgefährdenden Medien können i.d.S. denklogisch eigentlich nur solche Medien sein, die mit einem Trägermedium, das bereits als schwer jugendgefährdend indiziert ist, ganz inhaltsgleich sind. 11.5 Inhaltsgleiche Medien Seit Inkrafttreten des Gesetzes zur Regelung der Rahmenbedingungen für Informations- und Kommunikationsdienste am 01.08.1997 und infolge dessen aktuell gem. § 15 Abs. 3 JuSchG unterliegen den Beschränkungen des § 15 Abs. 1 JuSchG auch ohne konkrete Indizierung solche Trägermedien, "die mit einem Trägermedium, dessen Aufnahme in die Liste bekannt gemacht ist, ganz oder im Wesentlichen inhaltsgleich sind."742 Die BPjM muß bspw. nicht mehr alle inhaltlich mehr oder weniger identischen Plattformportierungen, wie auch Parallel- und Wiederveröffentlichungen eines Medieninhalts nur dank evtl. Verlags-, Namens- oder Verpackungsänderungen u.ä. separat indizieren; die Norm schließt i.d.S. eine empfindliche Lücke der Indizierungen und entlastet auch die BPjM.743 Ungeachtet dessen indiziert die BPjM aus deklaratorischen Gründen aber nach wie vor regelmäßig auch mit bereits indizierten Medien ganz oder im Wesentlichen inhaltsgleiche Medien.744 Über dgl. entscheidet alleine die Vorsitzende der BPjM. Ungeachtet des selbstevidenten Bedeutungsgehalts einer gänzlichen Inhaltsgleichheit (das indizierte und das zur Listenaufnahme anstehende Medium müssen inhaltlich komplett identisch sein) ist für die Feststellung einer nur wesentlichen Inhaltsgleichheit gem. VG Köln darauf abzustellen, "ob und inwieweit die Passagen der Ursprungsfassung, die Anlass für deren Indizierung waren, in die zur Listen739 740 741 742 743 744 Vgl. MAST 1999, S.143; BUCHLOH 2002, S.83f.; LIESCHING 2002, S.129 und STATH 2006, S.230. BÜTTNER 2002a, S.211. Vgl. BARSCH 1988, S.31/36. Gem. BGHSt 8, 80 (87) war offensichtlich, "was klar zutage liegt und deshalb für jedermann ohne besondere Mühe erkennbar ist […]." Das Gericht formulierte aber im überlegenheitsdünkelnden Duktus der Ära Adenauer die Plattitüde, dass der Begriff "jedermann" der Einschränkung bedürfe, "als nicht [...] das Urteil des beliebigen Durchschnittsbürgers maßgebend sein muß, sondern das Urteil des für Jugenderziehung und Jugendschutz aufgeschlossenen Lesers, der die Wirkungen guten und schlechten Schrifttums auf Geist und Gemüt von Jugendlichen zu beurteilen vermag. Auf die Meinung von Kreisen, die dem Gedanken des Jugendschutzes gleichgültig gegenüberstehen oder ihn aus geschäftlichen oder sonstigen Gründen sogar ablehnen, kann es nicht ankommen. Einer besonderen Sachkunde oder Vorbildung in erzieherischen oder seelenkundlichen Fragen bedarf es hierzu nicht; auch der einfache Mensch verfügt meist über ein sehr gutes Urteilsvermögen darüber, ob ein Lesestoff Jugendliche sittlich gefährden kann. Bei den Bildstreifenheften, deren ausschließlicher oder hauptsächlicher Inhalt in der Schilderung von Gewalttaten, hinterhältigen Überfällen, Schießereien und Grausamkeiten besteht und die den Leser, sei es auch unter dem Deckmantel des angeblichen Kampfes für das Gute, in die Welt des Faustrechts einführen und ihn mit den Einzelheiten gemeiner Verbrechen und den dabei angewendeten Mitteln vertraut machen, wird eine schwere sittliche Gefährdung in der Regel für jeden einsichtigen und verständigen Menschen ohne weiteres erkennbar sein." Eine selbst im Rahmen des relativen gesellschaftlichen Konformismus und der ubiquitären, verbindlichen Moraldoktrin der Ära Adenauer abstruse Argumentation. Ungeachtet dessen insistierte der BGH auch, dass eine schwere Jugendgefährdung ohne besondere Mühe jedermann ggf. objektiv offensichtlich sein müsse, da die Norm ansonsten nicht justiziabel ist (89); Realitätsverweigerung par excellence. Bzgl. der Problematik der Unbestimmtheit der "Offensichtlichkeit" s. auch den Prozess gegen den garmisch-patenkirchener Einzelhändler Lorenz MAIER, der der Ausgangspunkt für das zitierte Urteil war (vgl. DER SPIEGEL 1957 und KIENZLE 1980, S.28). Bereits § 1 Abs. 4 SchSchmG formulierte, dass eine Schrift automatisch indiziert sei, "die sich sachlich als eine bereits auf die Liste gesetzte Schrift darstellt." HEYL/LIESCHING 2008 konstatieren, dass § 15 Abs. 3 JuSchG eine "unvollständige Norm" sei, "deren Verletzung nicht geahndet wird. Denn in § 27 Abs. 1 Nr. 1 und 2 JuSchG sind nur die Absätze 1 und 2 des § 15 JuSchG in Bezug genommen, nicht Absatz 3 [...]." (S.65) Ungeachtet dessen, dass die Autoren selbst realisieren, dass aber bspw. gewerberechtliche Ordnungsverfügungen gegen den Handel möglich sind (S.70), gelten auch ohne konkrete Indizierung die eigenständig strafbewehrten Verbote des § 15 Abs. 1 JuSchG bzgl. Trägermedien, die mit einem indizierten Trägermedium, ganz oder im Wesentlichen inhaltsgleich sind; die Inbezugnahme des § 15 Abs. 3 JuSchG im Rahmen des § 27 Abs. 1 JuSchG ist i.d.S. nicht notwendig. Vgl. SCHOLZ 1999, S.89f. und BRAUNBART 2001b, S.224. Vgl. HEYL/LIESCHING 2008, S.65. 133 aufnahme [...] anstehende […] Ausgabe übernommen worden sind und sich damit der jugendgefährdende Charakter in der Neufassung fortsetzt."745 Die Vorsitzende ist dabei aber gem. OLG Köln nicht befugt, "eine wertende Entscheidung darüber zu treffen, ob trotz vorgenommener Änderungen an den für die Indizierung maßgeblichen Stellen noch eine Eignung zur Jugendgefährdung vorliegt [...]. Wenn in den für die frühere Indizierung maßgebenden Partien des Werks nicht nur völlig belanglose Kürzungen vorgenommen worden sind, so ist es im Regelfall zumindest zweifelhaft, ob noch von wesentlicher Inhaltsgleichheit ausgegangen werden kann; es muß dann die Vorlage [...] an das ordentliche Prüfgremium erfolgen [...]."746 Die BPjM wird im Zweifelsfall auf Veranlassung der Vorsitzenden von Amts wegen tätig (§ 21 Abs. 5 Nr. 1 JuSchG). Eine wesentliche Inhaltsgleichheit ist aber auch denklogisch kategorisch zweifelhaft, insofern zwar die für die Indizierung maßgeblichen Passagen (wie z.B. Gewaltdarstellungen und spitzen) in das zur Listenaufnahme anstehende Medium mehr oder weniger im Wesentlichen übernommen wurden, aber bzgl. der kontextuellen Einbindungen derselben Änderungen vorgenommen worden sind.747 Die BPjM könnte andernfalls bspw. die Demoversion eines noch nicht publizierten Spiels indizieren, so dass die Vollversion, insofern die indizierungsrelevanten Partien übernommen wurden, im Rahmen des Kennzeichnungsverfahrens nach § 14 Abs. 4 JuSchG nicht mehr kennzeichnungsfähig wäre (s. Kapitel 12.4) – dgl. war bspw. der Fall nach den Indizierungen der Demos von FAR CRY748 und PAINKILLER749 – und bereits ab der ersten logischen Sekunde nach der Veröffentlichung den Beschränkungen des § 15 Abs. 1 JuSchG unterläge, ungeachtet dessen, dass solche Demos normalerweise nur einen dekontextualisierten Bestandteil der Vollversionen beinhalten. D.h. dass die BPjM insb. das fundamentale Gebot der ganzheitlichen Betrachtung der verfahrensgegenständlichen Medien unterminieren könnte. Ob trotz Änderungen des Inhalts eines indizierten Mediums noch immer von einer wesentlichen Inhaltsgleichheit desselben mit der Ursprungsfassung ausgegangen werden kann, ist für die Normunterworfenen dank des erheblichen Einschlags wertender Elemente einer solchen Entscheidung (resp. eines nur subjektiven Maßstabs der Wesentlichkeit) auch oftmals nicht besonders transparent, so dass sie auch solche Medien prophylaktisch wie indizierte Medien behandeln. Der Gesetzgeber hat aber (zumindest) den Nutzungsrechteurhebern und -inhabern mit § 21 Abs. 2 JuSchG das Antragsrecht für die (ergebnisoffene) Feststellung der BPjM eingeräumt, "dass ein Medium nicht mit einem bereits in die Liste aufgenommenen Medium ganz oder im Wesentlichen inhaltsgleich ist […]." Die Berechtigung ist aber z.B. für die Nutzungsrechteurheber und -inhaber von Computerspielen, die ja i.d.R. bereits vor einer Markteinführung derselben am Kennzeichnungsverfahren der OLJB nach § 14 JuSchG (das ggf. auch die Kontrolle einer evtl. Inhaltsgleichheit beinhaltet) teilnehmen (s.u.), praktisch irrelevant. Der Vollständigkeit halber soll auch nicht unerwähnt bleiben, dass auf nicht nach § 14 JuSchG gekennzeichnete Medien, die aber mit einem bereits gekennzeichneten Medium ganz oder im Wesentlichen inhaltsgleich sind, das Indizierungsverbot nach § 18 Abs. 8 JuSchG (s.u.) keine Anwendung findet: Die BPjM indizierte bspw. im Oktober 2011 eine europäische, nicht gekennzeichnete Version des Spiels X-MEN ORIGINS: WOLVERINE für die PlayStation 2 auf Liste B des Index,750 die aber tatsächlich mit der bereits am 30.04.2009 publizierten, gekennzeichneten deutschen Version inhaltsgleich war; die Listenstreichung erfolgte zwar bereits im Folgemonat,751 der Fall demonstriert aber die generellen Probleme der Indizierungstatbestände, 745 746 747 748 749 750 751 VG Köln, Beschl. v. 26.11.1990, Az.: 17 L 1391/90. OLG Köln, Urt. v. 06.05.1993, Az.: 7 U 115/92. Dgl. hat auch die FSK im Fall des gem. § 14 Abs. 2 Nr. 5 JuSchG mit "Keine Jugendfreigabe" gekennzeichneten Films GRINDHOUSE mehr oder weniger realisiert, einem Doppelprogramm aus dem Film DEATH PROOF und aus der um ca. 22 Minuten ggü. der indizierten Fassung gekürzten Schnittfassung des Films PLANET TERROR, die aber immer noch das Gros der für die Indizierung maßgeblichen Gewaltdarstellungen ohne Änderungen übernommen hatte. Die Kennzeichnung des Films konterkariert aber natürlich auch die Spruchpraxis der BPjM, die PLANET TERROR mittels IE Nr. 5589 v. 04.09.2008 nur dank der Gewaltdarstellungen und ohne hinreichende Rückbeziehung auf den narrativen Kontext indiziert hatte. Vgl. IE Nr. 6602 (V) v. 08.03.2004 (FAR CRY). Vgl. IE Nr. 6622 v. 31.03.2004 (PAINKILLER). Vgl. BAnz. Nr. 164 v. 28.10.2011. Vgl. BAnz. Nr. 180 v. 30.11.2011. 134 immerhin hatten die OLJB und die BPjM denselben Inhalt mittels derselben Kriterien sehr unterschiedlich bewertet. 11.6 Das vereinfachte Verfahren (3er-Gremium) Als Konsequenz eines Initiativantrags der Unionsparteien wurde am 21.03.1961 das sog. vereinfachte Verfahren eingeführt. Die BPjM kann seitdem (und aktuell gem. § 23 JuSchG) in der Besetzung durch die Vorsitzende und zwei Beisitzende, von denen einer den Kreisen der Kunst, der Literatur, des Buchhandels und der Verlegerschaft oder der Anbieter von Bildträgern und von Telemedien angehören muss, ohne mündliche Verhandlung (§ 10 Abs. 2 DVOJuSchG) einstimmig eine Indizierung entscheiden, insofern das Medium offensichtlich jugendgefährdend ist (Abs. 1) oder nach zehn Jahren seit der Indizierung die Streichung aus der Liste beschließen (Abs. 4). Weder ist eine Stimmenthaltung möglich – wie in allen Verfahren der BPjM –, noch kann das 3er-Gremium einen Bagatellfall (s.u.) feststellen oder eine Nichtindizierung veranlassen;752 kommt eine einstimmige Entscheidung nicht zustande, entscheidet das 12er-Gremium (Abs. 1). Die Nutzungsrecheurheber und -inhaber können gegen eine Entscheidung des 3er-Gremiums innerhalb eines Monats nach Zustellung des Entscheids einen Antrag auf eine Entscheidung durch das 12er-Gremium stellen (Abs. 3). Das OVG Münster betont ggü. dem vereinfachten Verfahren, "dass der Zweck [...] die Vereinfachung und die Beschleunigung des Verfahrens sowie Entlastung des 12er-Gremiums ist [...]. Das 12er-Gremium soll von der routinehaften Anwendung seiner Bewertungsmaßstäbe sowie von solchen Entscheidungen freigestellt werden, die auf der Grundlage seiner bisherigen Praxis zweifelsfrei nicht anders als im Sinne des Indizierungsantrages ausfallen können. Danach spricht alles dafür, eine Jugendgefährdung als 'offenbar gegeben' [...] anzusehen, wenn sie sich aus denjenigen abstrakt-generellen Kriterien und Bewertungsgrundlagen ergibt, die im Plenum der Bundesprüfstelle Anerkennung gefunden haben und als feststehend gehandhabt werden [...]."753 Eine Jugendgefährdung soll nach h.M. und der Spruchpraxis der BPjM selbst auch offensichtlich sein, insofern sie für einen durchschnittlichen, unvoreingenommenen Rezipienten klar und zweifelsfrei zutage tritt,754 praktisch soll für die Verfahrenseröffnung aber bereits nur die diesbzgl. Einschätzung der Vorsitzenden (als Person mit vermeintlich besonderer Fachkenntnis) hinreichend sein.755 Für das Tätigwerden des 3er-Gremiums ist i.d.S. notwendig, dass die Vorsitzende dem verfahrensgegenständlichen Medium bereits ex ante, d.h. ohne detaillierte Kontrolle des Inhalts eine Jugendgefährdung attestieren kann. Die Gefährdung muß sich ihr unter Zugrundelegung der Wertungsmaßstäbe der BPjM (in Orientierung an der Rechtsprechung zu § 15 Abs. 2 JuSchG) aus dem Gesamteindruck oder aus besonders ins Auge springenden Einzelheiten des Medieninhalts ergeben (die Indizierungsentscheidungen des 3erGremiums implizieren aber oftmals, dass die Verfahrenseröffnungen u.U. gar nicht erst auf eine antezedierende Betrachtung der Inhalte durch die Vorsitzende selbst zurückzuführen sind, sondern unzulässigerweise auch bereits die Ausführungen der Antrags- oder Anregungsberechtigten diesbzgl. hinreichreichend waren). Das dürfte zwar ggü. Pornographika u.ä., i.d.R. aber nicht ggü. gewaltdarstellenden Computerspielen möglich sein, insofern für die Feststellung einer jugendgefährdenden Eignung derselben (auch im Lichte der kontextorientierten Gründe der Nichtindizierung; s.u.) der Kontext der Gewaltdarstellungen wesentlich ist und dass die Spiele insg. auch einen bestimmten, gewaltaffirmativen u./o. -bagatellisierenden (und auch in die Realität transferierbaren) Gedankenzusammenhang vermitteln müssen: Feststellungen solcher (vermeintlicher) Eignungen der Spiele können nämlich (insofern überhaupt) denklogisch und auch von Rechts wegen nur im Rahmen detaillierter, ganzheitlicher Betrachtungen und nicht bereits ex ante erfolgen. Eine ex ante nur oberflächlich mögliche Betrachtung wird demggü. bestenfalls nur das Vorliegen mehr 752 753 754 755 Vgl. MONSSEN-ENGBERDING 1998, S.118. OVG Münster, Urt. v. 24.10.1996, Az.: 20 A 3106/96 und vgl. BVerfGE 31, 113 (118). Vgl. MONSSEN-ENGBERDING 1998, S.118 und SCHOLZ 1999, S.87. Vgl. SCHOLZ 1999, S.87 und CARUS/HANNAK-MAYER/KORTLÄNDER 2006, S.7. 135 oder weniger expliziter (detaillierter, realistischer etc.) Gewaltdarstellungen festellen können. Dgl. dürfte zwar nicht für eine Indizierung und infolge dessen prinzipiell auch nicht für die Eröffnung des vereinfachten Verfahrens hinreichend sein, die BPjM eröffnete aber ungeachtet dessen bereits nur aufgrund "detaillierter und drastischer"756 Gewaltdarstellungen in Computerspielen das vereinfachte Verfahren. Tatsächlich führen die aktuelleren Entscheidungen als Grund für die Eröffnung des vereinfachten Verfahrens ggü. den verfahrensgegentändlichen Computerspielen i.d.R. eine (mehr oder weniger immer identische) Feststellung aus, die erst der Befund eines abgeschlossenen Prüfverfahrens sein kann, dass nämlich eine Jugendgefährdung offenbar gegeben war, "da das Zwölfergremium der Bundesprüfstelle Spiele, deren Spielzweck einzig oder zum ganz überwiegenden Teil in der Tötung von menschlichen oder menschenähnlichen Gegnern besteht und in denen diese Tötungshandlungen detailliert und in drastischer Art und Weise dargestellt werden, stets als jugendgefährdend indiziert hat."757 Insofern dürften die Eröffnungen des vereinfachten Verfahrens oftmals bereits nicht rechtmäßig gewesen sein. Ungeachtet dessen wird aber bereits ein Gros der Indizierungen gewaltdarstellender Computerspiele im vereinfachten Verfahren entschieden. Das zentrale Entscheidungsorgan der BPjM soll zwar prinzipiell das 12er-Gremium sein, tatsächlich werden aber dank organisatorisch bedingter Arbeitsüberlastungen der Behörde im Rahmen des eigentlich nur für einzelne Ausnahmefälle konzipierten vereinfachten Verfahrens aktuell auch bereits über 80 % aller Indizierungen insg. entschieden!758 Das ist nicht nur im Lichte der verfahrensrechtlichen Nachteile für die Betroffenen,759 sondern auch insofern problematisch, dass die Vorsitzende einen bedenklichen Einfluss auf die Entscheidungen des Gremiums ausüben kann: Einerseits ist im Rahmen des vereinfachten Verfahrens nicht nur die Stimme derselben immer bereits für eine Indizierung voreingenommen (andernfalls hätte sie ja das reguläre Verfahren eröffnet), sondern kann u.U. auch bereits die Verfahrenseröffnung selbst das Votum der beiden Beisitzenden mehr oder weniger präjudizieren oder wie SCHMID 2008 bzgl. der Filmprüfungen des 3er-Gremiums kommentierte: "Jemand in der Behörde stellt fest, dass ein Film 'offensichtlich' jugendgefährdend ist, und dann stellen drei Leute fest, dass der Film jugendgefährdend ist? Oder, anders gesagt: Wenn sich drei Leute treffen, um unvoreingenommen [...] einen Film zu beurteilen, dann wissen sie schon, dass die Behörde den Film für 'offensichtlich jugendgefährdend' hält […]."760 Für die Bestätigung einer offensichtlichen Jugendgefährdung wäre auch i.d.S. eine einstimmige Entscheidung des 12er-Gremiums u.U. überzeugender. Andererseits stellt die Vorsitzende auch die beiden Beisitzenden in der jeweiligen Verhandlungsbesetzung für ein Jahr selbst im Voraus fest (§ 12 Abs. 4 DVO-JuSchG): Ungeachtet einer bereits ggü. dem 12er-Gremium fragwürdigen, aber insofern gar noch fragwürdigeren Fachkenntnis und gesellschaftlichen Repräsentanz des 3er-Gremiums, birgt das die Gefahr eines noch eingeschworeneren, mehr oder weniger routinemäßig oder gar nur aus Prinzip unisono entscheidenden Gremiums. Ungeachtet dessen kann nach § 23 JuSchG eine Indizierung im Rahmen des vereinfachten Verfahrens aber auch vorläufig angeordnet werden, insofern die Gefahr besteht, dass ein offensichtlich jugendgefährdendes Medium kurzfristig in großem Umfange vertrieben, verbreitet oder zugänglich gemacht wird (Abs. 5). Die vorläufige Indizierung tritt nach Monatsfrist außer Kraft, wenn die Frist nicht (einmalig und um höchstens einen Monat) verlängert wird oder eine abschließende Entscheidung der BPjM ergeht (Abs. 6). Die Betroffenen haben kein Recht zur Stellungnahme.761 Das reguläre Indizierungsverfahren dauert nach Eingang des Indizierungs756 757 758 759 760 761 Vgl. IE Nr. VA 1/11 und VA 2/11 v. 02.05.2011 (MORTAL KOMBAT). IE Nr. 8525 (V) v. 20.01.2009 (CALL OF DUTY: WORLD AT WAR); Nr. 8818 (V) v. 05.08.2009 (CALL OF DUTY 4: MODERN WARFARE); Nr. VA 3/09 v. 25.11.2009 (CALL OF DUTY: MODERN WARFARE 2); Nr. 9256 (V) v. 07.05.2010 (ALIENS VS. PREDATOR); Nr. 9521 (V) v. 20.10.2010 (KANE & LYNCH 2: DOG DAYS); vgl. Nr. 8669 (V) v. 13.05.2009 (BROTHERS IN ARMS: HELL’S HIGHWAY); Nr. 8939 (V) v. 07.10.2009 (WOLFENSTEIN); Nr. 9562 (V) v. 12.11.2010 (SINGULARITY); Nr. 9610 (V) v. 15.12.2010 (DEAD RISING 2); Nrn. 10214/11 (V), 10215/11 (V) und 10216/11 (V) v. 17.11.2011 (DEAD ISLAND). Vgl. SCHULZ/BRUNN/DREYER et al. 2007, S.136f.. Vgl. STATH 2006, S.275. SCHMID 2008, S.7. Für eine diesbzgl. Kritik s. STATH 2006, S.188f.. 136 antrags, resp. der -anregung bis zur Bekanntmachung der Indizierung im BAnz. durchschnittlich 10 bis 12 Wochen. Dgl. ist nach SCHULZ/BRUNN/DREYER et al. 2007 für die vorläufige Anordnung so erheblich verkürzt, "[…] dass schon wenige Tage nach Eingang des Antrages eine Bekanntmachung im Bundesanzeiger erfolgen kann. Nach Auskunft der BPjM kann nach Eingang des Antrages sofort die Anbieterfirma benachrichtigt werden, die Entscheidung eines Dreier-Gremiums erfolgt am gleichen oder nächstfolgenden Tag, das Bekanntgabeersuchen an die Bundesanzeiger ebenfalls am gleichen oder nachfolgenden Tag und die Bekanntmachung wiederum einen Tag später. Dieses Verfahren wurde bereits mehrfach für Spiele durchgeführt."762 Tatsächlich dürften solche kurzfristigen Indizierungen von (insb. umfangreicheren) Computerspielen aber i.d.R. demonstrieren, dass sich das 3er-Gremium nur exemplarisch bzw. lückenhaft mit den verfahrengegenständlichen Spielen auseinandergesetzt hat, bzw. nur haben kann. Letztlich liegen der BPjM i.d.R. keine verlässlichen (prinzipiell auch nur den gar nicht erst angehörten Betroffenen bekannte) Daten und Fakten über die Vertriebslage der verfahrensgegenständlichen Medien vor, die die Annahme eines Vertriebs von Computerspielen in großem Umfange begründen könnten; nach STATH 2006 soll aber z.B. bereits die "Platzierung in den (Vor-)Verkaufscharts"763 diesbzgl. hinreichend indiziell sein, der BPjM selbst ist aber oftmals bereits hinreichend, dass die Medien überhaupt in den einschlägigen Fachzeitschriften (mehr oder weniger) beworben werden! Der Annahme dürfte aber u.U. widersprechen, dass indizierungsfähige Computerspiele seit Inkrafttreten des JuSchG i.d.R. erst gar nicht mehr in Deutschland publiziert (und infolge dessen auch nicht mehr beworben) werden (s.u.), eine ausländische Vertriebslage für die Annahme eines Vertriebs in großem Umfange aber kaum oder gar nicht ausschlaggebend sein dürfte. 11.7 11.7.1 Nichtindizierungen Gründe einer Nichtindizierung Offensichtlich in Orientierung an der falschen Prämisse, dass bereits Gewaltdarstellungen für sich genommen Kinder und Jugendliche u.U. gefährden könnten, skizziert MONSSENENGBERDING 1998 auch Gründe, die nach der Spruchpraxis der BPjM die vermeintlich generell jugendgefährdenden Wirkungen solcher Darstellungen evtl. neutralisieren können sollen: Bspw. seien solche gewaltdarstellende Computerspiele (noch) nicht jugendgefährdend, "die Körperverletzungshandlungen gegen Menschen darstellen, wobei der Tod des Gegners weder vorsätzlich noch fahrlässig verursacht […] wird und das Ergebnis der Kampfhandlungen unblutig präsentiert wird […], in denen andere Elemente als Gewalt gegen Menschen eine wesentliche Rolle spielen […], in denen Tötungsvorgänge gegen Menschen verfremdet dargestellt werden und zwar in einer Form, die Parallelen zur Realität nur mit Mühe herstellen lassen […], in denen Tötungsvorgänge ausschließlich gegen 'Monster', Menschen weitgehend unähnlichen Wesen, dargestellt werden […], in denen auch Horror- und Splatterelemente enthalten sind, in denen jedoch andere nicht gewalthaltige Anteile spielbestimmend sind, wobei die Horrorelemente nicht so gestaltet sein dürfen, daß aufgrund der besonderen Brutalität die anderen Spielelemente in den Hintergrund treten."764 Dass nach Auffassung der Behörde tatsächlich Gewaltdarstellungen für sich genommen jugendgefährdend sein sollen, indiziert die Nichtindizierung des Spiels VIETCONG: PURPLE HAZE fünf(!) Jahre nach der Publikation desselben: Die BPjM verneinte eine Jugendgefährdung nämlich "trotz der im Spiel enthaltenen Gewaltszenen" (ungeachtet des Kontext derselben) nur aufgrund dessen, "da die Darstellung der Gewalttaten nicht als detailliert einzustufen ist, sondern im Vergleich zu anderen indizierten Spielen eher zurückhaltend visualisiert wird."765 Seit Inkrafttreten des JuSchG wurde aber noch kaum ein verfahrensgegenständliches Spiel nicht indiziert. 762 763 764 765 Vgl. SCHULZ/BRUNN/DREYER et al. 2007, S.136. Vgl. STATH 2006, S.188. MONSSEN-ENGBERDING 1998, S.131f. und vgl. BPjM 2009b. IE Nr. 5627 v. 12.03.2009 (VIETCONG: PURPLE HAZE). 137 Eine Ausnahme ist das Spiel GOD OF WAR, bei dem die BPjM u.a. eine wesentliche Rolle anderer Elemente als Gewalt gegen Menschen realisierte: Das Spiel verfüge neben "gewalthaltigen Kampfszenen und Filmsequenzen" auch über große Spielanteile, "die mehr als die zur grundsätzlichen Bedienung eines Computer- oder Videospieles sicherlich notwendige Geschicklichkeit fordern. Die […] Kletter-, Balancier- und Sprungaufgaben sind teilweise sehr anspruchsvoll und zeitaufwändig. In einem Fall muss eine solche Aufgabe innerhalb eines knapp bemessenen Zeitlimits gelöst werden. Viele enthaltene Rätsel zwingen den Spieler, will er im Spielverlauf vorankommen, zum Überlegen und Nachdenken, sie sind also integraler Bestandteil der Spielhandlung. In einem Fall erinnert die gestellte Aufgabe – der Spieler muss ein dreidimensionales [...] Puzzle lösen – schon an eine Denksportaufgabe. Diese Rätselelemente haben nach Auffassung der [...] Beisitzer einen eigenen Spielwert. Sie sind nicht nur vorgeschobene, als Rätselaufgabe deklarierte, aber ohne jeglichen Zeit- oder gedanklichen Aufwand zu lösende Spielsequenzen wie sie in manch anderem Spiel enthalten sind. Damit ist der alleinige Zweck des Spiels nicht das Töten von Gegnern, sondern das Spiel weist ein weiteres wesentliches Element auf."766 Das ist zwar insg. plausibel (ungeachtet dessen, dass auch ohne die skizzierten Elemente das Töten von Gegnern nicht der alleinige Zweck des Spiels, sondern nur die evtl. dominierende Mechanik desselben wäre), aber auch ein Gros der indizierten Spiele weist (noch) anspruchsvolle(re) und zeitaufwändige(re) Rätselelemente als (noch) integrale(re) Bestandteile der Spielhandlung,767 resp. generell auch andere wesentliche Elemente als nur Gewalt gegen Menschen auf, die die BPjM aber im Rahmen der entsprechenden Indizierungsentscheidungen erst gar nicht realisierte oder gar salopp als nur vorgeschobene Spielsequenzen diskreditierte.768 GOD OF WAR wurde auch im Lichte dessen nicht indiziert, dass sich die Gewaltanwendungen "fast ausschließlich" gegen menschenunähnliche Wesen richteten, "die ihren Ursprung in der griechischen Mythologie haben und eher an Drachen oder Schlangen erinnern sowie gegen Untote."769 Gewaltanwendungen gegen menschliche oder menschenähnliche Gegner könnten lediglich an drei verschiedenen Stellen im Spiel ausgeübt werden. Tatsächlich ist aber der einzige drachenähnliche Opponent des Spiels die im ersten der 17 Spielabschnitte ("Das Ägäische Meer") omnipräsente Hydra, die einzigen (i.w.S.) schlangenähnlichen Opponenten sind die optisch offensichtlich Desmond DAVIS’ Film KAMPF DER TITANEN (1981) entlehnte Medusa des zweiten Spielabschnitts ("Die Tore Athens") und die (nur farblich von derselben divergierenden) – im Spielverlauf relativ raren – Gorgonen. Insg. richten sich die Gewaltanwendungen vielmehr gegen (mehr oder weniger) humanoide Fabelwesen (z.B. Minotauren, Satyr, Zyklopen) und insb. sehr stark überwiegend gegen menschliche Untote. Die Falschdarstellungen sind aber insofern irrelevant, dass nach Auffassung der BPjM nicht bereits dem Menschen nur nach Maßstäben der äußeren Gestalt ähnliche Wesen, sondern nur solche Wesen menschenähnlich sind, die auch (z.B. im Verletzungs- oder Tötungsfalle) menschlich reagieren. Gewalt ggü. Menschen, wie auch menschenähnlichen Wesen könne (anders als ggü. Phantasiefiguren) eine jugendgefährdende Wirkung entfalten.770 Das ist aber ungeachtet dessen, dass menschenähnliche Wesen per se nur Phantasiefiguren sind, nicht besonders plausibel.771 766 767 768 769 770 771 IE Nr. 5367 v. 05.01.2006 (GOD OF WAR). Vgl. IE Nr. VA 8/98 v. 24.04.1998 (RESIDENT EVIL 2); Nr. 4995f. v. 04.05.2000 (RESIDENT EVIL 3: NEMESIS); Nr. 5169 v. 06.03.2003 (RESIDENT EVIL: CODE VERONICA X); Nr. 5309 v. 31.08.2005 (COLD FEAR) und Nr. 7140 (V) v. 08.03.2006 (GUN). Vgl. IE Nr. 5171 v. 06.03.2003 (GRAND THEFT AUTO: VICE CITY); Nr. 7844 (V) v. 08.11.2007 (GRAND THEFT AUTO: VICE CITY STORIES); Nr. 7921 (V) v. 04.12.2007 (GRAND THEFT AUTO: LIBERTY CITY STORIES); Nr. 8519 (V) v. 07.01.2009 (GRAND THEFT AUTO: SAN ANDREAS). IE Nr. 5367 v. 05.01.2006 (GOD OF WAR). Vgl. BPjM 2009b. HILPERT 2008 argumentiert bspw., dass oftmals "Klonkrieger, Replikanten, Zombies oder menschenähnliche Außerirdische" die Opponenten sind und bereits insofern die Frage aufkomme, "ob von dem Spieler die fiktive, zum Teil nur in einer Anfangssequenz vollzogene Definition des Gegners als ein 'irgendwie' nicht 'ganz' menschliches Wesen überhaupt in der Wahrnehmung vollzogen wird. Es gibt aber noch einen anderen Grund, warum es ausgesprochen problematisch wäre, wenn Jugendschützer oder Eltern das Töten von (virtuellen) Replikanten anders bewerten würden als das Töten von (virtuellen) Menschen: Die Tatsache, dass die Gegner nicht in unserem Sinne Menschen sind, dient in aller Regel in dem Computerspiel als Legitimation sowohl für den Konflikt (Bedrohung durch Replikanten, Zombies etc.) wie auch als Legitimation des ungehemmten Tötens. Genau diese Mechanismen sind aber auch bei realen Kriegs- und Vernichtungsaktionen zu beobachten: Bestimmte Menschen oder Personengruppen werden von ihren Feinden z.B. als Heiden, Ungläubige, Parasiten, Untermenschen bezeichnet, womit ihnen das vollwertige Menschsein abgesprochen und sowohl der Konflikt selber als auch ihre 138 Auch das Spiel DARK MESSIAH OF MIGHT AND MAGIC wurde aufgrund der Auffassung der BPjM nicht indiziert, dass u.a. nur äußerst wenigen Opponenten eine menschliche oder menschenähnliche Darstellung zugeschrieben werden könne, "nämlich den zombifizierten Dorfbewohnern im Kapitel vor dem Epilog, die dort in einer Anzahl von etwa einem halben Dutzend auftreten. Der sehr stark überwiegende Anteil an gegnerischen Spielfiguren stellt sich als Fantasiefiguren dar und ist in Form von Goblins, Orks, Zombies, Rittern ähnelnden Schwertkämpfern ('black guards', 'vampire knights') oder zaubernden Nekromanten visualisiert. Die eindeutig als Menschen dargestellten Stadtwachen von Stonehelm stehen dem vom Spieler […] nicht feindlich gegenüber, müssen nicht bekämpft werden und sind daher nicht als Opponenten zu werten."772 Tatsächlich sind die gegnerischen Spielfiguren der sog. "Black Guard" und die Nekromanten eindeutig Menschen. Die Falschdarstellung ist aber insofern irrelevant, dass das phantastische Szenario des Spiels, die "realitätsferne Darstellung der mittelaterlichen [sic] Fantasywelt […] mit […] Zauberern, Orks, Zyklopen und Drachen"773 bereits für sich genommen zu einer (hinreichenden) Distanzbildung zwischen Spielern und Spielgeschehen beitrage; i.d.S. hätten sich die Gewaltanwendungen u.U. wohl auch (fast) ausschl. gegen Menschen richten können, das Spiel wäre trotzdem nicht jugendgefährdend. Dasselbe Gremium war auch ggü. dem Spiel CLIVE BARKER’S JERICHO der Auffassung, dass einerseits den nach Maßstäben der äußeren Gestalt menschenähnlichen (dämonischen oder untoten) Opponenten des Spiels keine menschliche oder menschenähnliche Darstellung zugeschrieben werden könne, insofern sie sich nur als "fiktive Monster" darstellen, "die teilweise und dann nur entfernt an Menschen erinnern. Zudem verfügen einige Opponenten über fantastische Fähigkeiten und können fliegen, schweben oder zaubern."774 Andererseits vermochte die BPjM auch dank der großen Realitätsferne infolge der fiktiven Rahmenhandlung (Handlungshintergrund des Spiels ist die Hölle) i.V.m. der phantastischen "Darstellung von Spielabschnitten, Teammitgliedern und Opponenten" im Spielgeschehen insg. keine Jugendaffinität zu sehen; "ein Bezug zu Lebenswirklichkeit von Kindern und Jugendlichen ist in keinem Fall gegeben."775 Eine fehlende Jugendaffinität ist aber nicht nur generell für phantastische Szenarien, sondern auch für die mehr oder (vielmehr) weniger realistische(re)n, i.d.R. auch nur unwahrscheinlich(st)e Extremsituationen (ohne konkreten, unmittelbaren Bezug zur Lebenswirklichkeit von Kindern und Jugendlichen, wie auch Erwachsenen) darstellenden Szenarien indizierter Spiele, wie bspw. CALL OF DUTY: MODERN WARFARE,776 CALL OF DUTY: MODERN WARFARE 2,777 KANE & LYNCH 2: DOG DAYS,778 MANHUNT779 u.a., der Fall. Die drei Nichtindizierungsentscheidungen sind letztlich insofern interessant, dass die BPjM quantitativ, wie auch qualitativ ähnliche Darstellungen von Gewalt gegen (fast) ausschl. (vergleichbar) menschenähnliche Wesen normalerweise (und oftmals gar als nach § 131 StGB strafrechtlich relevant) indiziert, dgl. gar (infolge) beschlagnahmt wird (die Spielfiguren werden i.d.R. illegitimerweise nur aufgrund der äußeren Gestalt derselben als menschenähnlich klassifiziert), ohne dass der phantastische Hintergrund der Spielfiguren, resp. der der -szenarien 772 773 774 775 776 777 778 779 Vernichtung legitimiert werden. Diesen Rechtfertigungsmechanismus zuzulassen, verbietet sich für einen Jugendmedienschutz, der auf die werteorientierte Erziehung von Kindern und Jugendlichen ausgerichtet ist. Deshalb sind virtuelle menschenähnliche Wesen in den gesetzlichen Regelungen virtuellen Menschen gleichgestellt." (S.7) Ungeachtet der Unbestimmtheit menschenähnlicher Wesen (s. Kapitel 14.2.7) verfängt die Argumentation insg. nicht, dass die Spieler insb. auch ungeachtet der zwangsläufig phantastischen Szenarien der Spiele u.U. kognitiv nicht zwischen nur menschenähnlichen Wesen einerseits und Menschen (und insb. auch zwischen virtuellen und realen Menschen) andererseits differenzieren (könnten). Absurd ist aber offensichtlich auch der Vergleich mit der Dehumanisierung realer Menschen, der ignoriert, dass menschenähnliche Wesen per definitionem nicht menschlich sind (und infolge dessen nicht dehumanisiert werden können), wie auch, dass i.d.R. in den Spielen nicht etwa der Umstand, dass die Gegner nicht Menschen sind, die Konflikte legitimiert, sondern dass die menschenähnlichen Wesen tatsächlich eine reale, aggressive Existenzbedrohung für die Protagonisten darstellen; Tötungshemmungen ggü. einem Zombie wären nicht besonders empfehlenswert. IE Nr. 5550 v. 07.02.2008 (DARK MESSIAH OF MIGHT & MAGIC). IE Nr. 5550 v. 07.02.2008 (DARK MESSIAH OF MIGHT & MAGIC). IE Nr. 5551 v. 07.02.2008 (CLIVE BARKER’S JERICHO). IE Nr. 5551 v. 07.02.2008 (CLIVE BARKER’S JERICHO). IE Nr. 8818 (V) v. 05.08.2009 (CALL OF DUTY 4: MODERN WARFARE). IE Nr. VA 3/09 v. 25.11.2009 und Nr. 5698 vom 07.01.2010 (CALL OF DUTY: MODERN WARFARE 2). IE Nr. 9521 (V) v. 20.10.2010 (KANE & LYNCH 2: DOG DAYS). IE Nr. 6600 (V) v. 11.03.2004 (MANHUNT). 139 auch nur thematisiert würde. Tatsächlich sind die Nichtindizierungsgründe der BPjM in der Praxis prinzipiell nur Makulatur; seit Inkraftteten des JuSchG am 01.04.2003 bis einschl. 2012 entschied die Behörde bereits in 368 Verfahren (ohne dieselben des Jahres 2003) für die Indizierung, aber erst in neun Fällen für die Nichtindizierung der verfahrensgegenständlichen Computerspiele – neben den vier bereits genannten Spielen sind das nur FALLOUT: NEW VEGAS;780 HITMAN 2: SILENT ASSASSIN;781 MEDAL OF HONOR: FRONTLINE;782 ONECHANBARA: BIKINI ZOMBIE SLAYERS783 und PARIAH784 – obwohl die in den Entscheiden artikulierten Nichtindizierungsgründe auch für das Gros der trotzdem indizierten Spiele zutreffend sind. Im Rahmen der Indizierungsverfahren werden also die Gewaltdarstellungen i.d.R. mit quasi pornographischen Blick als starkes Stimulanz wahrgenommen, so dass die anderen Spielelemente in den Hintergrund treten, ignoriert oder gar negiert werden; insg. sind die Indizierungsentscheidungen diesbzgl. sehr dekuvrierend.785 11.7.2 Fälle geringer Bedeutung Das 12er-Gremium kann dank § 18 Abs. 4 JuSchG in Fällen von geringer Bedeutung auch von der Indizierung eines (auch schwer u./o. mit einem bereits indizierten Medium ganz oder im Wesentlichen inhaltsgleichen) jugendgefährdenden Trägermediums absehen: Nach der Rechtsprechung des BVerwG hat die BPjM für den Fall einer Indizierung den Grad der Jugendgefährdung durch den Medieninhalt,786 wie auch den Umfang der Verbreitung des Mediums zu berücksichtigen und darf von der Prüfung, "ob ein Fall von geringer Bedeutung […] vorliegt, und einer Darlegung der hierüber angestellten Erwägungen […] nur dann absehen, wenn eine 780 781 782 783 784 785 786 IE Nr. 5813 v. 05.05.2011 (FALLOUT: NEW VEGAS). IE Nr. 5159 v. 09.01.2003 (HITMAN 2: SILENT ASSASSIN). IE Nr. 5193 v. 07.08.2003 (MEDAL OF HONOR: FRONTLINE). IE Nr. 5786 v. 03.02.2011 (ONECHANBARA: BIKINI ZOMBIE SLAYERS). IE Nr. 5836 v. 07.07.2011 (PARIAH). Ein aktuelles, besonders prägnantes Bsp. ist das der Indizierung des Rollenspiels FALLOUT 3 nach IE Nr. 5648 v. 02.07.2009; zwar konstatierte die Behörde, dass das Spiel "verschiedene gewaltfreie Spielelemente wie die Rahmenhandlung mit zahlreichen, teilweise sehr umfangreichen und tief greifenden Dialogen, das Erkunden der sehr großen Spielwelt oder das in Form von durchaus anspruchsvollen Minigames implementierte Hacken von Computern oder Öffnen von Schlössern" enthät: "Diese Spielelemente können […] aber nicht losgelöst von den Gewaltdarstellungen betrachtet werden, da sie untrennbar miteinander verknüpft sind. Der Spieler kann die Welt erkunden und Dialoge führen, wird aber dadurch nicht von der Ausübung der detailliert dargestellten Gewalt entbunden. Zudem stellen die vorgenannten Elemente keine zu den Gewalthandlungen alternativen Vorgehensweisen dar, da der Spieler sie nicht zwingend bewältigen muss, um im Spielgeschehen voran zu kommen. Sicherlich kann der Spieler durch Nutzung der Fähigkeiten seiner Spielfigur, insbesondere wenn diese beispielsweise über hohe Werte an Charisma und Sprache verfügt, beispielsweise in Gesprächen aus mehr Antwortoptionen auswählen als eine minder charismatische Spielfigur und dadurch einigen Auseinandersetzungen aus dem Weg gehen. Allerdings lässt sich ein Großteil der Kämpfe nicht umgehen, egal wie gut die Spielfigur verhandeln kann. Der Spieler kann mit seiner Spielfigur vor Kämpfen fliehen, muss aber für den Verlauf der Rahmenhandlung zwingend zahlreiche Opponenten töten. […] Das Gremium hat weitere zusätzliche gewaltfreie Elemente des Spiels zur Kenntnis genommen, wie z.B. das im Jahr 2277 angesiedelte postnukleare Setting des Spiels, in dem unter anderem Mutanten und Roboter im zerstörten Washington D.C. vorkommen. […] Nach umfassender und sorgsamer Erörterung und Abwägung aller genannten Bestandteile des Spiels geht das Gremium jedoch insgesamt davon aus, dass die gewaltfreien Spielelemente nicht in der Lage sind, die überaus drastischen, detaillierten und selbstzweckhaften Gewaltdarstellungen in dem Maße zu relativieren, dass nicht mehr von einer daraus resultierenden Jugendgefährdung auszugehen wäre." Nicht nur ist das Gros der Opponenten (anders als die BPjM kolportiert) nicht menschlich oder menschenähnlich, sondern stellt (mutierte) animalische Gegner, Roboter u.ä. dar, tatsächlich kann man das Spiel auch dank der verschiedenen gewaltfreien Spielelemente fast ohne (eigene) Tötungen menschlicher oder menschenähnlicher Opponenten absolvieren, einzig in einer Mission ("The Waters of Life") muss der Spieler kein Dutzend (nach Auffasung der BPjM menschenähnlicher) Supermutanten unmittelbar oder mittelbar (mittels der Aktivierung von Selbstschussanlagen) eliminieren, allen anderen Auseinandersetzungen kann man dank praktikabler, alternativer Vorgehensweisen ohne Gewaltanwendunge), aus welchen dem Spieler kaum oder gar keine Nachteile erwachsen, aus dem Weg gehen. Schließlich sind die Geschehnisse im Spiel in eine dichte, sehr umfangreiche (phantastische) Rahmenhandlung eingebettet. Dgl. waren aber auch die (hinreichenden) Gründe für eine Nichtindizierung des vergleichbar violenten Spiels DARK MESSIAH OF MIGHT AND MAGIC. Ungeachtet dessen wertete das Gremium auch diverse Spezialfähigkeiten des Spielersubstituts (perks) für sich genommen als jugendgefährdend: Im Lichte dessen, dass die bereits vor dem Verfahren nach § 14 Abs. 2 Nr. 5 JuSchG gekennzeichnete und die verfahrensgegenständliche Version des Spiels aber abgesehen von den in der ersteren fehlenden Blut- und Goreeffekten identisch sind, können infolge dessen auch nur dieselben Effekte indizierungsrelevant sein: Nicht nur ist nicht besonders plausibel, dass die Gewaltdarstellungen für sich genommen (d.h. auch ohne konkrete Rückbeziehungen auf die Kontexte derselben) jugendgefährdend sein sollen, kurioserweise kennzeichneten die OLJB im November 2011 auch eine Neuauflage des Nachfolgespiels FALLOUT: NEW VEGAS ohne Jugendfreigabe, die identische Gewaltdarstellungen beinhaltete, aber nach IE Nr. 5813 v. 05.05.2011 von der BPjM expl. nicht indiziert worden war! Vgl. BVerfGE 90, 1 (17); VG Köln, Beschl. v. 31.05.2010, Az.: 22 L 1899/09; NIKLES/ROLL/SPÜRCK et al. 2005, S.259 und STATH 2006, S.145f.. 140 Anwendung dieser Vorschrift nach der besonderen Lage des Falles von vornherein überhaupt nicht in Betracht kommt. Die geringe Bedeutung eines Falles kann sich nicht nur aus dem Inhalt der Schrift, sondern auch aus den der Verbreitung unter der Jugend entgegenstehenden Vertriebsbedingungen ergeben."787 Die BPjM kann i.d.S. einerseits für den Fall eines nur undeutlichen Gefährdungsgrads und einer unerheblichen Intensität desselben von der Indizierung eines Mediums absehen, also insofern der Gefährdungsgrad des Medieninhalts graduell noch unter dem einer einfachen Jugendgefährdung liegt.788 Im Lichte dessen, dass derselbe aber so oder so gar nicht erst konkretisiert werden kann, wären auch solche Feststellungen arbiträr. Andererseits kann die BPjM (in Orientierung an § 23 Abs. 5 JuSchG; s.o.) von einer Indizierung absehen, insofern die verfahrensgegenständlichen Medien z.B. nicht (mehr) in großem Umfang oder nur in Ladengeschäften, die Kindern und Jugendlichen nicht zugänglich sind und von ihnen nicht eingesehen werden können vertrieben, verbreitet oder zugänglich gemacht werden, wie u.U. auch nach STATH 2006, insofern die Medien eine Sprache verwenden, "die von Kindern und Jugendlichen in der Regel nicht verstanden wird […]."789 Nicht hinreichend soll aber kurioserweise der Umstand sein, dass nicht gem. § 14 Abs. 2 JuSchG gekennzeichnete Computerpiele, die als einzige Spiele überhaupt noch indizierungsfähig sind (§ 18 Abs. 8 JuSchG), Kindern und Jugendlichen nach § 12 Abs. 3 JuSchG generell nicht zugänglich gemacht werden dürfen: Nach der Rechtsprechung des OVG NRW weichen nämlich die Beschränkungen, die u.a. mit einer fehlenden Kennzeichnung einhergehen, so erheblich von den Rechtsfolgen einer Indizierung ab, dass ein Absehen von derselben nur aufgrund des Jugendverbots regelmäßig nicht ermessensgerecht wäre.790 Das solche Bagatellfälle selbst nur von geringer Bedeutung für die Spruchpraxis der BPjM sind, dürfte insb. auch die Folge des Umstandes sein, dass dasselbe Gerichtsurteil für die Ermessensermächtigung der Behörde im Rahmen der Norm konstatierte, "daß die Richtung der Entscheidung [...] in der Weise vorgezeichnet ist, daß die Listenaufnahme einer jugendgefährdenden Schrift dem Gesetz näher steht als das Absehen von der Aufnahme. [...] Die 'Bedeutung' des Falles hat der Gesetzgeber nicht unter die Voraussetzungen der Indizierung eingereiht, sondern deren Bejahung nachgestellt. Die Ermessensermächtigung [...] dient daher nicht der Grundrechtsoptimierung [...]. Sie soll es der Bundesprüfstelle vielmehr lediglich ermöglichen, von einer nach der grundsätzlichen Zielsetzung des Gesetzes an sich gebotenen Listenaufnahme abzusehen, wenn ihr dies aufgrund besonderer Umstände im Einzelfall – ausnahmsweise – angemessen erscheint. Die Bundesprüfstelle genügt demgemäß (bei nachteiligen Entscheidungen) den Anforderungen an die Willensbildung wie ihrer Begründungspflicht regelmäßig schon dann, wenn sie das Vorliegen eines geringfügigen Falles verneint und dieses Ergebnis ihrer Prüfung zum Ausdruck bringt."791 Bereits vor dem Urteil dokumentierte oftmals nur die simple, unkommentierte Negierung eines Falls geringer Bedeutung den kompletten Ermessensprozeß der BPjM und nach wie vor ist die Frage aktuell, inwiefern die Behörde überhaupt hinreichende Erwägungen über das evtl. Vorliegen eines Bagatellfalls anstellt. Die BPjM konstatiert ggü. den verfahrensgegenständlichen Computerspielen i.d.R. nämlich ausschl., dass über dieselben in einschlägigen Medien vor, wie nach der Veröffentlichung berichtet wurde und dgl. erfahrungsgemäß die Aufmerksamkeit insb. auch jugendlicher Spiele auf die entsprechenden Spiele lenke.792 Der simple Umstand der Berichterstattung über ein 787 788 789 790 791 792 BVerwGE 23, 112, (122f.); 39, 197 (199) und SCHOLZ 1999, S.58. Vgl. MONSSEN-ENGBERDING 1998, S.117f. und STATH 2006, S.166. Vgl. STATH 2006, S.146. Vgl. OVG NRW, Urt. v. 23.05.1996, Az.: 20 A 298/94. OVG NRW, Urt. v. 23.05.1996, Az.: 20 A 298/94. Vgl. IE Nr. VA 2/05 v. 02.11.2005 und Nr. 5354 v. 30.11.2005 (QUAKE 4); Nr. 7182 (V) v. 05.04.2006 (CONDEMNED); Nr. 7365 (V) v. 18.01.2007 (MORTAL KOMBAT: ARMAGEDDON); Nr. 8153 (V) v. 16.04.2008 (CONDEMNED 2); Nr. 8525 (V) v. 20.1.2009 (CALL OF DUTY: WORLD AT WAR); Nr. 8669 (V) v. 13.05.2009 (BROTHERS IN ARMS: HELL’S HIGHWAY); Nrn. 5648f. v. 02.07.2009; Nr. 8818 (V) v. 05.08.2009 (CALL OF DUTY 4: MODERN WARFARE); Nr. 8939 (V) v. 07.10.2009 (WOLFENSTEIN); Nr. 9256 (V) v. 7.5.2010 (ALIENS VS. PREDATOR); Nr. 9521 (V) v. 20.10.2010 (KANE & LYNCH 2: DOG DAYS); Nr. 9562 (V) v. 12.11.2010 (SINGULARITY); Nr. 9610 (V) v. 15.12.2010 (DEAD RISING 2); Nrn. VA 1f./11 v. 02.05.2011; Nr. 5830f. v. 09.06.2011 (MORTAL KOMBAT); Nrn. 10214ff./11 (V) v. 17.11.2011 und Nr. 5879 v. 11.01.2012 (DEAD ISLAND). Bereits im Bereich der Filmindizierungen waren die konkreteren Erwägungen der BPjS gegen das Vorliegen eines Falls von geringer Bedeutung oftmals besonders kurios: Bspw. argumentierte die Behörde selbst noch am 03.12.1998 im 141 Medium indiziert aber noch keinen großen, nicht nur geringen Umfang der Verbreitung desselben. Verlässliche Angaben über den Umfang des Vertriebs, die die Annahme eines Falls nicht nur geringer Bedeutung begründen könnten, liegen der Behörde aber i.d.R. auch nicht vor; dgl. sind Daten und Fakten, die normalerweise ausschl. den Betroffenen bekannt sind. Einerseits werden dieselben aber bspw. im Rahmen der Verfahren des 3er-Gremiums erst gar nicht konsultiert, andererseits sind die einzigen indizierungsfähigen Computerspiele seit Inkrafttreten des JuSchG nicht gekennzeichnete Spiele, die i.d.R. erst gar nicht in Deutschland veröffentlicht werden. Die Vertriebsbedingungen der Spiele außerhalb Deutschlands sind aber für die Frage nach dem Umfang der Verbreitung derselben in der BRD selbst irrelevant. Die BPjM negierte ungeachtet dessen einen Fall geringer Bedeutung z.B. im Rahmen der Indizierung des Spiels CALL OF DUTY: MODERN WARFARE 2 bereits mit dem "hohen Bekanntheitsgrad" desselben: "Der indizierte indirekte Vorgänger 'Call of Duty – Modern Warfare' gewann […] zahlreiche Auszeichnungen. Zudem hat so gut wie jedes Online- und PrintMagazin, das sich mit Computer- und Konsolenspielen befasst, Vor- und Testberichte, letztere zumeist in Form einer Titelgeschichte, zu 'Call of Duty – Modern Warfare 2' veröffentlicht. Darüber hinaus wurden zahlreiche Videos aus dem Spiel veröffentlicht. Folglich ist bei 'Call of Duty – Modern Warfare 2' insgesamt von einem enorm hohen Bekanntheitsgrad auszugehen, was sich u.a. in den sehr guten Platzierungen in den Verkaufscharts verschiedener Onlinehändler niederschlägt."793 Das ist prinzipiell nicht falsch, aber die Argumentation ignoriert nicht nur die bereits skizzierte Problematik, sondern auch, dass die verfahrensgegenständliche USamerikanische Version des Spiels erst gar nicht in Deutschland veröffentlicht wurde und die "sehr guten Platzierungen in den Verkaufscharts verschiedener Onlinehändler" wahrscheinlich vielmehr Verkäufe der gem. § 14 Abs. 2 Nr. 5 JuSchG gekennzeichneten, nicht indizierungsfähigen Version des Spiels sein dürften (die Orientierung an ausländischen Verkaufscharts wäre natürlich nicht ermessensgerecht). Insofern entscheidet die BPjM i.d.R. in dubio contra reo. Die diskutierte Norm hat i.d.S. für Computerspiele keine praktische Bedeutung, denn seit 2003 war der BPjM kein einziges Spiel je ein Fall geringer Bedeutung. 11.7.3 Indizierungsverbote Letztlich formuliert das JuSchG auch konkrete Indizierungsverbote. Erstens dürfen nach § 18 Abs. 8 Satz 1 JuSchG u.a. Computerspiele, die nach § 14 Abs. 2 Nr. 1 bis 5 JuSchG gekennzeichnet sind, nicht indiziert werden. Zweitens formuliert auch § 18 Abs. 3 JuSchG drei Tendenzschutzklauseln: "Ein Medium darf nicht in die Liste aufgenommen werden 1. allein wegen seines politischen, sozialen, religiösen oder weltanschaulichen Inhalts, 2. wenn es der Kunst oder der Wissenschaft, der Forschung oder der Lehre dient, 3. wenn es im öffentlichen Interesse liegt, es sei denn, dass die Art der Darstellung zu beanstanden ist." Als einschlägig erweist sich ggü. Computerspielen als intrinsischen Kunstwerken insb. die (im Lichte des Art. 5 Abs. 3 GG aber prinzipiell redundante)794 erste Alternative der Nr. 2. Das Merkmal "dient" ist pragmatisch auszulegen: Ein Medium "dient" der Kunst, sollte das Resultat der i.S.d. Herstellung praktischer Konkordanz notwendigen Güterabwägung im Einzelfall eine Vorrangigkeit der der Belange der Kunstfreiheit ggü. denen des Jugendschutzes sein.795 Bzgl. der Abwägung der Gewichtung der konkurrierenden Belange der Kunstfreiheit einerseits und des Jugendschutzes andererseits, wie auch der Frage des Kunstcharakters der Spiele,796 hat die BPjM einen Ermes- 793 794 795 796 Rahmen von IE Nr. 4850 bzgl. des mit "Nicht freigegeben unter 18 Jahren" gekennzeichneten Films SCREAM – SCHREI!, dass ein Bagatellfall nicht angenommen werden könne, "[…] angesichts des niedrigen Mietpreises, der es auch Kindern und Jugendlichen erlaubt, den Film zu entleihen […]." Ein Argument, dass aber bereits seit 1985 dank § 7 Abs. 3 JÖSchG (u.a. dem Vermietverbot solcher Filme ggü. Kindern und Jugendlichen) obsolet war! IE Nr. VA 3/09 v. 25.11.2009 (CALL OF DUTY: MODERN WARFARE 2). Vgl. STATH 2006, S.164. Vgl. BVerfGE 83, 130 (143); 77, 240 (253) und STATH 2006, S.161ff.. Vgl. BVerwG, Urt. v. 18.02.1998, Az.: 6 C 9.97; Urt. v. 28.08.1996, Az.: 6 C. 15.94 und LIESCHING 2002, S.124. Die BPjS desavouierte sich gem. BUCHLOH 2002 in der Vergangenheit – insb. (aber nicht nur) im Lichte der Rechtsprechung des BVerwG zwischen 1966 und 1971 (s.u.) – regelmäßig als "Kunstrichterin" (S.136), die den Kunstcharakter der verfahrensgegenständlichen Medien oftmals nur salopp-überlegenheitsdünkelnd bspw. i.S.e. Antonymisierung von Kunst einerseits und Unterhaltung u./o. Kommerz andererseits, wie auch künstlerischen Werken der vermeintlichen Hochkultur einerseits und gleichermaßen nur vermeintlich trivialen, per se gem. Behörde nicht künstlerischen Werken der Populärkultur negierte. Gem. der aktuellen Spruchpraxis der BPjM wird aber (auch infolge der Kunstbegriffe des BVerfG) der Begriff "Kunst" weit 142 sensspielraum.797 Für die Gewichtung der Kunstfreiheit kann nach Auffassung des BVerfG von Bedeutung sein, "in welchem Maße gefährdende Schilderungen in ein künstlerisches Konzept eingebunden sind. Die Kunstfreiheit umfaßt auch die Wahl eines jugendgefährdenden, insbesondere Gewalt […] thematisierenden Sujets sowie dessen Be- und Verarbeitung nach der vom Künstler selbst gewählten Darstellungsart. Sie wird um so eher Vorrang beanspruchen können, je mehr die den Jugendlichen gefährdenden Darstellungen künstlerisch gestaltet und in die Gesamtkonzeption des Kunstwerkes eingebettet sind […]. Die Prüfung, ob jugendgefährdende Passagen eines Werkes nicht oder nur lose in ein künstlerisches Konzept eingebunden sind, erfordert eine werkgerechte Interpretation. Weiterhin kann für die Bestimmung des Gewichtes, das der Kunstfreiheit bei der Abwägung mit den Belangen des Jugendschutzes im Einzelfall beizumessen ist, auch dem Ansehen, das ein Werk beim Publikum genießt, indizielle Bedeutung zukommen. Echo und Wertschätzung, die es in Kritik und Wissenschaft gefunden hat, können Anhaltspunkte für die Beurteilung ergeben, ob der Kunstfreiheit Vorrang einzuräumen ist."798 Ungeachtet dessen, dass der wahre Wert eines Kunstwerks oftmals erst nach Jahren offenbar wird, so dass insb. kurzfristige Indizierungen (u.U. noch bevor das Werk wirklich wirken konnte) problematisch sein können, sei es gem. BVerwG insg. hinreichend, "wenn im Rahmen der Abwägung die Gewichtung der widerstreitenden Belange soweit eingegrenzt wird, dass [...] das im Einzelfall gebotene Mindestmaß an Differenzierung erreicht wird, das erforderlich ist, um eine dem Ergebnis angemessene Abwägung der beiderseits in die Waagschale zu legenden Gesichtspunkte vorzunehmen. Daher hängt der Umfang der […] gebotenen Ermittlungen wesentlich von den Umständen des Einzelfalles ab: Je mehr sich die Waagschalen dem Gleichgewicht nähern, desto intensiver muß versucht werden, die beiderseitigen Wertungen abzusichern und auch Einzelgesichtspunkte exakt zu wägen, die möglicherweise den Ausschlag geben; ist dagegen ein Belang stark ausgeprägt und eine Diskrepanz zu den auf der anderen Seite betroffenen Belangen von vornherein offenkundig, dann ist es nicht notwendig und wäre somit unverhältnismäßig, die Gewichtung der beiderseitigen Belange weiter zu betreiben, als es 797 798 ausgelegt und (auch im Zweifelsfall) den verfahrensgegenständlichen Medien i.d.R. ein (regelmäßig aber nur marginaler; s.u.) Kunstcharakter attestiert (vgl. STEFEN 1998, S.236f.). Vgl. BVerfGE 83, 130 (143); BVerwG, Urt. v. 26.11.1992, Az.: 7 C 22/92; Urt. v. 18.02.1998, Az.: 6 C 9.97; BGH, Urt. v. 21. 06.1990, Az: 1 StR 477/89 und SCHULZ/BRUNN/DREYER et al. 2007, S.84. Die Rechtsprechung des BVerwG war diesbzgl. extrem ambivalent (en détail s. STUMPF 2009, S.201-208): Zwischen dem 12.01.1966 und dem 16.12.1971 galt gem. BVerwGE 23, 104, (109f.) eine kategorische Vorrangigkeit des Kunstschutzes ggü. dem Jugendschutz; gem. BVerwGE 39, 197 wurde aber konstatiert, dass sich aus dem Wort "dient" ergebe, "daß nicht jedes Ergebnis künstlerischen Bemühens dem Jugendschutz schlechthin vorgeht, sondern nur ein solches, daß ein bestimmte Maß an künstlerischem Niveau besitzt. Dies beurteilt sich nicht allein nach ästhetischen Kriterien, sondern auch nach dem Gewicht, das das Kunstwerk für die pluralistische Gesellschaft nach den Vorstellungen über die Funktion der Kunst hat. Kunstwerke, die dem nicht genügen, können gegenüber den Erfordernissen des Jugendschutzes keinen Vorrang beanspruchen. [...] Auch diese Entscheidung fällt in den Beurteilungsspielraum der Bundesprüfstelle." Das Gericht argumentierte, dass ohne eine Einschränkung des Kunstvorbehaltes eine Indizierung regelmäßig nicht mehr praktikabel wäre, ungeachtet dessen, dass bis dato unzählige Kunstwerke indiziert worden waren (vgl. DICKFELDT 1979, S.153). STOLLE 1986 kommentierte, dass für die BPjS mit diesem Urteil "der Himmel voller Geigen" hing; "die BPS konnte nach eigenem Ermessen schalten und den Kunstvorbehalt lässig austricksen." (S.200) Der Kunstcharakter eines Werkes musste nicht mehr negiert, sondern nur noch der Kunstwert relativiert werden. Nach BARSCH 1988 diente das Urteil insb. der Möglichkeit, "vor allem Texte der sogenannten Trivialliteratur verfolgen und indizieren zu können. Wenn überhaupt Kunst eines Schutzes bedarf, dann ist es genau dieser Bereich. In einer pluralistischen Gesellschaft mit einer demokratischen Grundordnung ist 'große' oder 'hohe' Kunst nie ernsthaft in Gefahr gewesen. Gerade die sogenannten 'Niederungen' der Literatur, wozu in diesem Kontext auch Karikatur und Satire zu rechnen sind, bedürfen des besonderen gesetzlichen Schutzes." (S.35) Letztlich sollte mit Urt. v. 03.03.1987 gem. BVerwGE 77, 75 (83) gar der Kunstvorbehalt für einfache und schwer jugendgefährdende Schriften divergieren: "Schwer jugendgefährdende Schriften [...] können selbst dann in die Liste der jugendgefährdenden Schriften aufgenommen werden, wenn sie Kunstwerke sind; der Kunstvorbehalt [...] gilt insoweit nicht. 'Schlicht' jugendgefährdende Schriften [...] unterliegen dagegen, wenn sie Kunstwerke sind, nicht der Indizierung." Eine offensichtlich verfassungswidrige Auslegung, so dass mit Urt. v. 27.11.1990 durch BVerfGE 80, 130 (144ff.) entschieden wurde: "Die Indizierung einer als Kunstwerk anzusehenden Schrift, setzt auch dann eine Abwägung mit der Kunstfreiheit voraus, wenn die Schrift offensichtlich geeignet ist, Kinder oder Jugendliche sittlich schwer zu gefährden [...]." SCHULZ/BRUNN/DREYER et al. 2007 argumentieren aber, dass eine "besonders schwere Beeinträchtigung des Jugendschutzes" evident sein müsse, "um Beschränkungen auch im Wirkbereich der Kunst zu rechtfertigen." (S.83) Eine nur einfache(re) Jugendgefährdung kann i.d.S. nicht hinreichend sein, gem. aktueller höchstrichterlicher Rechtsprechung soll aber eine schwere Jugendgefährdung i.S.d. JuSchG auch nicht für eine Beschränkung der Kunstfreiheit notwendig sein. Ungeachtet dessen soll der Vollständigkeit halber nicht unerwähnt bleiben, dass letztlich keine der Änderungen in der höchstrichterlichen Rechtsprechung in einer Derogation der antezedierenden Indizierungsentscheide der BPjS resultierte. BVerfGE 83, 130 (147f.) und vgl. STEFEN 1998, S.242. 143 zur Feststellung eines eindeutigen Übergewichts einer Seite geboten ist."799 I.d.S. kann die Behörde z.B. im Fall eines nur marginalen Kunstwertes und einer gleichzeitig hohen Grades der Jugendgefährdung umso knapper ein Überwiegen der Belange des Jugendschutzes konstatieren, je geringer der Kunstwert und je höher der Grad der Jugendgefährdung eines Mediums ist; dgl. gilt prinzipiell auch umgekehrt. Nicht überraschend sind Nichtindizierungen dank des Kunstvorbehalts aber nur spektakuläre Einzelfälle, so dass bzgl. der BPjM auch der Eindruck entsteht, dass sie i.S.e. prinzipiellen Jugendschutzprärogative (in dubio contra arte) entscheidet: I.d.S. monierte bspw. auch bereits BARSCH 1988, "daß der Kunstvorbehalt in die Hände einer Institution gelegt wird, deren Aufgaben per definitionem im Bereich des Jugendschutzes und nicht im Bereich der Literatur liegen, die also Schriften nicht unter literarischen, sondern unter Aspekten einer potentiellen Jugendgefährdung interpretiert."800 Die Behörde realisiert Computerspiele inzwischen i.d.R. zwar als Kunstwerke, seit Inkrafttreten des JuSchG wurde aber noch kein einziges (vermeintlich) jugendgefährdendes Spiel (auch) aufgrund seines Kunstwerts nicht indiziert. Die Entscheide genügen i.d.R. aber tatsächlich auch bereits in sachlich-rechtlicher Hinsicht nicht den an die Güterabwägung zu stellenden Anforderungen: Weder hinsichtlich der auf der Seite des Jugendschutzes noch der der Kunst einzustellenden Abwägungskriterien enthalten sie hinreichend ausdifferenzierte Bewertungen, sie gehen nicht wesentlich über die Feststellungen hinaus, die indizierten Medien seien jugendgefährdend und hätten einen demggü. mehr oder weniger relativierbaren Kunstwert, so dass z.B. bereits bzgl. der Belange des Jugendschutzes die für die Jugendgefährdung verantwortlich gemachten Bestandteile keiner eigenständigen Bewertung unterzogen werden. In welcher Weise solche Bestandteile in das künstlerische Gesamtkonzept eingepasst sind und welche relativierende Wirkung auch dieser Umstand auf eine von ihnen vermeintlich ausgehende jugendgefährdende Wirkung haben kann, wird von der BPjM, die ja normalerweise nur dekontextualisierend die Gewaltdarstellungen u.ä. aufzählt und ggf. auch die (vermeintlich) einschlägigen Paragraphen des JuSchG referiert, nicht thematisiert. Gleichermaßen problematisch sind aber auch die Ermittlungen der Belange der Kunstfreiheit, resp. ist die notwendige Bewertung des Kunstwerts eines verfahrensgegenständlichen Mediums: Die Behörde muss zwar im Rahmen der notwendigen Abwägung der Gewichtung der Kunstwerke dieselben in jedem Fall werkgerecht, d.h. im Lichte des künstlerischen Willens des Urhebers, der Gesamtkonzeption der Werke und ihrer Gestaltung, wie auch anderer Kunstwerke bewerten,801 die Entscheide thematisieren aber ggü. Computerspielen ausnahmslos nichts dgl.; die Beisitzenden können solche Aspekte auch gar nicht adäquat bewerten: Einerseits moniert bspw. STATH 2006 die untragbare Praxis, "den Kreis der Beteiligten möglichst eng zu fassen, mit dem Ergebnis, dass maßgeblich beteiligte Personen wie beispielsweise der Drehbuchautor oder der Komponist […] nicht gehört werden."802 Infolge dessen bleibt der künstlerische Wille der Urheber i.d.R. opak. Andererseits ist aber auch generell, d.h. ohne die Notwendigkeit einer diesbzgl. Qualifikationsprüfung, der (insb. auch mediengattungsspezifische) Sachverstand (wie auch die ggü. Kunst prinzipiell notwendige Aufgeschlossenheit) der regelmäßig fachfremden Beisitzenden fraglich.803 Ein typischer Indizierungsentscheid skizziert tatsächlich nur die behördliche Einschätzung des Qualitätsniveaus der Spiele, basierend auf ausschl. technischen(!) Aspekten derselben, wie bspw. der Graphik, der Tonkulisse, der Steuerung und der künstlichen Intelligenz der (gegnerischen) Spielfiguren und referiert andererseits (in Orientierung an dem für den Kunstwert indiziellen Ansehen, das ein Werk beim Publikum genießt) nur die durchschnittliche 799 800 801 802 803 BVerwG, Urt. v. 18.02.1998, Az.: 6 C 9.97; vgl. Urt. v. 28.08.1996, Az.: 6 C 15.94; OVG NRW, Urt. v. 23.05.1996, Az.: 20 A 298/94 und VG Köln, Beschl. v. 31.05.2010, Az.: 22 L 1899/09. BARSCH 1988, S.35. Vgl. BVerfGE 83, 130 (147); BVerwGE 91, 211 (212f.); VG Köln, Beschl. v. 31.05.2010, Az.: 22 L 1899/09; MONSSENENGBERDING 1998, S.115 und BPjM 2012. Vgl. STATH 2006, S.276. Derselbe kritisiert auch detailliert die diesbzgl. nur begrenzte Sachaufklärungspflicht der BPjM (S.181f.). Vgl. BUCHLOH 2002, S.136f. und SCHMID 2009a. 144 Bewertung der Spiele, wie sie Internetseiten wie gamerankings.com, metacritic.com u./o. (die inzwischen deaktivierte Seite) critify.com, die die entsprechenden Bewertungen internationaler (insb. englischsprachiger) Online- und Printmagazine sammeln und aus den einzelnen Testergebnissen einen prozentualen Durchschnittswert bilden, dokumentieren. Die BPjM referierte zur Ermittlung der "Werkhöhe" im Rahmen älterer Entscheide noch mehr oder weniger willkürlich (und oftmals tendenziös) ausgewählte Besprechungen deutscher Printmagazine und (ca. seit der Jahrtausendwende) deutschsprachiger Internetseiten, die sie über Eingabe des Spieltitels in Suchmaschinen wie google.de und altavista.de ermittelte.804 Einerseits ist aber die ausschl. Einschätzung (oftmals auch nur einzelner) technischer Aspekte der Spiele für den Kunstwert derselben offensichtlich irrelevant und andererseits interessiert auch das Gros der Online- und Printmagazine im Rahmen der Bewertung nicht der etwaige Kunst-, sondern der Unterhaltungswert der rezensierten Spiele. Insofern ist beides kein probater Orientierungspunkt für die Ermittlung des Kunstwerts eines Spiels, resp. der Bestimmung des der Kunstfreiheit beizumessenden Gewichts. Ungeachtet dessen konstatiert die Behörde i.d.R., insg. keine Aspekte zu erkennen, welche die verfahrensgegenständlichen, z.T. aber gar international honorierten Spiele (bspw. CALL OF DUTY 4: MODERN WARFARE oder FALLOUT 3) zu Kunstwerken von nennenswertem Rang erheben könnten, so dass die (vermeintlich) jugendgefährdenden Gewaltdarstellungen ausnahmslos die etwaigen künstlerischen Aspekte überwiegen würden;805 die BPjM stellt die Entscheidungen zu Gunsten des Jugendschutzes z.T. gar als Sachzwänge dar! Im Lichte dessen wird die (nach wie vor offene) Frage vordringlich, wie die Behörde ein Kunstwerk von nennenswertem Rang überhaupt definiert und ob ein Computerspiel nach Auffassung der BPjM überhaupt einen nennenswerten Kunstwert haben kann. 11.8 Die Verjährung von Indizierungen Indizierungen sind i.d.R. keine Verwaltungsakte mit Dauerwirkung: Die BPjM kann gem. § 23 Abs. 4 JuSchG bereits nach Ablauf von zehn Jahren seit der Indizierung die Streichung aus der Liste im vereinfachten Verfahren beschließen, wenn bekannt wird, dass die Voraussetzungen für die Indizierung nicht mehr vorliegen; d.h. in der Praxis, dass die Nutzungsrechteurheber u/o. -inhaber ggf. einen entspechenden (gebührenpflichtigen; s. § 21 Abs. 10 Nr. 2 JuSchG) Antrag auf Listenstreichung stellen müssen (§ 21 Abs. 2 JuSchG). Medien sind aber auch ohne Antrag nach § 18 Abs. 7 JuSchG aus der Liste zu streichen, "wenn die Voraussetzungen für eine Aufnahme nicht mehr vorliegen. Nach Ablauf von 25 Jahren verliert eine Aufnahme in die Liste 804 805 Vgl. IE Nr. 6183 (V) v. 22.2.2002 (RETURN TO CASTLE WOLFENSTEIN). I.d.S. ermittelte die BPjM in der Vergangenheit primär Ansehen, Echo und Wertschätzung eines Werks in Deutschland und ignorierte das Renommee, das ein Werk in einem internationalen, freien Diskursumfeld gefunden hatte. Eine ausschl. germanozentrische Perspektive ist insofern problematisch, dass deutsche Medien bereits u.U. indizierungsrelevante Computerspiele im Lichte dessen erst gar nicht oder nur noch negativ rezensieren, dass positive Besprechungen als verbotene Werbung interpretiert werden und infolge dessen selbst strafrechtlich-, wie auch indizierungsrelevant sein können (vgl. SCHMID 2009a). Die Branche sensibilisieren diesbzgl. bereits Fälle wie der der Indizierung des am 09.09.1994 publizierten Spiels MORTAL KOMBAT II: Infolge des Inkrafttretens der Indizierung mit BAnz. Nr. 186 v. 30.09.1994 beschlagnahmten nach BRAUNBART 2001a ambitionierte Staatsanwälte rigoros die aktuellen Ausgaben solcher einschlägigen Printmagazine, "die in gutem Glauben Tests oder Werbeanzeigen des Spiels enthielten […]." (S.237) Vgl. IE Nr. 9610 (V) v. 15.12.2010 (DEAD RISING 2). Den diesbzgl. pornographischen Blick der BPjM besonders demonstrierend ist die Indizierungen des Films EDEN LAKE: Die Behörde argumentierte mit IE Nr. 8781 (V) v. 08.07.2009, dass die FSK ggü. einer zensierten Fassung des Films zwar eine Selbstzweckhaftigkeit der Gewalt i.S.e. jugendgefährdenden Wirkung noch verneinte, die erfahrensgegenständliche Fassung aber eine "detaillierte Ausweitung der Gewaltakte" enthalte, "die die künstlerisch hochwertigen Aspekte der Geschichte nicht mehr tragen." SCHMID 2009a monierte diesbzgl., dass die Behörde zwar Behauptungen über die Unterschiede zwischen beiden Filmfassungen aufstellt, das 3er-Gremium aber laut Entscheid nur die verfahrensgegenständliche Version gesehen hatte: "Trotzdem kennt das Gremium die Unterschiede ganz genau. Die längeren Fassungen enthalten mehr 'Gewaltspitzen', damit ist alles gesagt. Was man schon vorher weiß, muss man nicht überprüfen. Wieder wird die Analyse durch Addieren bzw. Subtrahieren ersetzt. Die BPjM verwechselt Filmanalyse mit Mathematik. Die Wirkung von Filmen und deren künstlerischer Wert lassen sich aber nicht mit Hilfe der Grundrechenarten bestimmen. Eine Kulturnation, wie wir es sein wollen, sollte das doch wissen. Hier wird so getan, als wäre die zensierte Fassung eines Films dasselbe wie die unzensierte, nur eben mit etwas weniger Gewalt. Das kann so sein, muss aber nicht. Je besser ein Film, umso weniger stimmt es. Der BPjM, die so tapfer zwischen Jugendschutz und Kunstfreiheit 'abwägt', fehlt dafür jegliches Verständnis. [...] Wenn das 3er-Gremium meint, man könne beliebig hinzufügen oder wegnehmen, weil es um mehr oder weniger Gewalt geht und sonst gar nichts, ist das zunächst nur eines: ein Vorurteil." 145 ihre Wirkung."806 Die Behörde kann aber auch nach Ablauf von 25 Jahren auf Veranlassung der Vorsitzenden dank § 21 Abs. 5 Nr. 3 JuSchG von Amts wegen tätig werden und entscheiden, dass ein Medium für mind. 10 weitere Jahre in der Liste verbleibt, "wenn […] weiterhin die Voraussetzungen für die Aufnahme in die Liste vorliegen." Die Voraussetzungen für eine Indizierung liegen z.B. nicht mehr vor, wenn das Medium inzwischen nur noch ein Fall von geringer Bedeutung ist (z.B. infolge der Einstellung von Produktion u./o. Vertrieb des Mediums etc.) oder die originären Entscheidungsgründe den aktuellen Richtlinien, der Spruchpraxis der BPjM u./o. den gesellschaftlichen Wert- und Moralvorstellungen nicht mehr entsprechen.807 KÖHLER/DISTLER 2004 attestieren der letzteren Regelung eine verfassungsrechtliche Konsequenz, "da gerade mit Blick auf Meinungs-, Informations-, Glaubens- und Berufsfreiheit die mit der Listenaufnahme verbundenen Beschränkungen [...] nur solange verhältnismäßig sind, wie eine Jugendgefährdung tatsächlich vorliegt. Die Befristung der Indizierung auf 25 Jahre rechtfertigt sich vor dem Hintergrund, dass jede Generation die Frage der Jugendgefährdung jeweils selbst unter Berücksichtigung der aktuell maßgeblichen Wert- und Moralvorstellungen der Gesellschaft bestimmt."808 Ungeachtet dessen, dass außer einem ethischen Minimalkonsens die "aktuell maßgeblichen Wert- und Moralvorstellungen der Gesellschaft" insb. auch nur ggü. fiktionalen Darstellungen im Lichte des ethischen Relativismus pluraler Gesellschaften kaum oder gar nicht konkretisier-, resp. ermittelbar sind, demonstriert eine solche Argumentation einerseits, dass Fragen des Jugendschutzes (auch de iure) offensichtlich immer noch nicht als Fragen der evtl. Jugendgefährdung durch Medieninhalte verstanden, sondern einer gesellschaftlichen Akzeptanz derselben missverstanden werden und der Begriff der Jugendgefährdung insg. nur einen Blankettbegriff darstellt, der dem Zeitgeist unterliegt: Entweder ist ein Spiel wie RIVER RAID, das zwischen 1984 und 2002 als kriegsverherrlichend indiziert war, aber seitdem ohne Altersbeschränkung freigegeben wurde (s.o.), objektiv kriegsverherrlichend oder nicht, so dass ggf. bereits die originäre Indizierung eine Falschentscheidung war (und ein solcher Fall auch vor aktuellen Fehlentscheidungen warnen sollte). Andererseits ignoriert die Argumentation der beiden Autoren, dass die BPjM ja selbst über die Verjährung entscheidet, so dass (auch im Lichte der fehlenden gesellschaftlichen Repräsentativität der Gremien derselben) praktisch nur die aktuellen Wert- und Moralvorstellungen der BPjM, resp. der im Einzelfall entscheidenden Gremien für die Frage der Jugendgefährdung maßgeblich sind. Der Vollständigkeit halber muss i.d.S. auch kritisiert werden, dass z.B. Elke MONSSENENGBERDING, die seit 1979 erst Referentin und bereits seit 1980 stellvertretende Vorsitzende der Behörde war und seit 1991 die Vorsitzende derselben ist, nicht nur für das Gros der seit 2005 verjährenden Indizierungen maßgeblich mitverantwortlich war, sondern kurioserweise auch selbst für die Verjährung derselben mitverantwortlich sein soll. Tatsächlich funktionieren aber zumindest die Listenstreichungen der ersten indizierten Computerspiele seit 2009 relativ 806 807 808 Das GjS befristete Indizierungen noch nicht, so dass bspw. Elke MONSSEN-ENGBERDING konstatieren konnte, dass die Indizierung ein "Verwaltungsakt mit Dauerwirkung" (zitiert in: BRAUNBART 2001a, S.233f.) sei. Nach 15 Jahren waren aber in Orientierung an allg. Vorschriften des Verwaltungsverfahrenrechts auf Antrag der Verfahrensbeteiligten aber theoretisch Listenstreichungen aufgrund veränderter Umstände zwar bereits möglich (vgl. SEIM 1997, S.184; BETHMANN 2002, S.67 und KÖHLER/DISTLER 2004, S.4), aber praktisch nur von geringer Bedeutung. Die Regelung orientierte sich auch an der a.F. von § 20 FSK-Grs (dem aktuellen § 16 FKS-Grs), gem. dem die Rechteurheber und -inhaber eines Films aufgrund (nicht konkretisierter) veränderter Umstände i.d.R. nach 15 Jahren eine neue Alterskennzeichnung beantragen konnten; ggf. hatte ein 3er-Gremium der FSK aus dem Ständigen Vertreter der OLJB und je einem Vertreter der öffentlichen Hand und der Filmwirtschaft einstimmig über die Freigabe zu entscheiden, kam eine einstimmige Entscheidung nicht zustande, entschied der Hauptausschuss der FSK in voller (7-köpfiger) Besetzung. Vgl. BRAUNBART 2001a, S.234. Die Verjährungsregelungen betreffen aber prinzipiell nur Medien, die nicht nach § 18 Abs. 5 JuSchG infolge einer rechtskräftigen Gerichtsentscheidung (Beschlagnahme, Strafbefehl u. -urteil etc.) automatisch indiziert wurden: Das JuSchG reglementiert die Verjährung solcher Indizierungen nicht und sowohl im Rahmen der Rechtsprechung, wie auch dem der Literatur ist die Frage nach der Verjährung derselben noch offen (vgl. KÖHLER/DISTLER 2004, S.4f.). Im Lichte dessen, dass die nach den §§ 86, 130, 130a, 131, 184, 184a, 184b und 184c StGB bezeichneten Inhalte aber auch noch nach Jahren objektiv identisch und i.d.S. strafrechtlich relevant sind, streicht die BPjM solche Medien ggf. erst nach einer entsprechenden Änderung der Rechtslage, resp. infolge eines entsprechenden gerichtlichen Entscheids der fehlenden strafrechtlichen Relevanz des konkreten Medieninhalts aus der Liste B des Index jugendgefährdender Medien (vgl. MONSSENENGBERDING/LIESCHING 2008, S.7-10). KÖHLER/DISTLER 2004, S.4. 146 problemlos (d.h. ohne Folgeindizierungen) und spektakulärerweise wurden ein paar Spiele – DOOM;809 HITMAN: CODENAME 47;810 MAX PAYNE;811 QUAKE812 etc. – auf Antrag der Rechteurheber, resp. -inhaber auch bereits vor Ablauf von 25 Jahren von der Liste gestrichen. Die Frage bleibt aber vordringlich, ob die Spiele überhaupt je jugendgefährdend waren. 11.9 Der Rechtsweg gegen Indizierungsentscheidungen Im Lichte der demonstrierten Rechtswidrigkeiten und der unzähligen anderen Probleme eines offensichtlichen Gros der Indizierungsentscheide wird die Frage nach den Klagemöglichkeiten der Betroffenen vordringlich: Entscheidungen der BPjM sind Verwaltungsakte i.S.v. § 35 VwVfG, insofern ist nach § 25 JuSchG natürlich der Verwaltungsrechtsweg gegen dieselben gegeben.813 Die Entscheide der BPjM unterliegen (erst seit 1990) der vollen gerichtlichen Nachprüfbarkeit,814 den der Entscheidung zugrunde liegenden Erwägungen der BPjM soll aber (aufgrund der den Gremien pauschal attestierten Fachkenntnis) als (vermeintlich) sachverständige Aussagen nach Auffassung des VG Köln kurioserweise ein Entscheidungsvorrang einzuräumen sein, so dass die Erwägungen wirksam in Frage zu stellen nicht einfaches Vorbringen, sondern denselben Aufwand erfordere, "der notwendig ist, um die Tragfähigkeit fachgutachtlicher Stellungnahmen zu erschüttern."815 Die Entscheide der BPjM sind aber offensichtlich keine fachgutachterlichen Stellungnahmen, sondern (wie bereits demonstriert wurde) letztlich nur mehr oder weniger willkürliche Konsensentscheidungen regelmäßig fachfremder (und insg. auch nicht besonders qualifizierter) Gremien, basierend auf fehlsamen Medienwirkungshypothesen i.V.m. fehlendem Kunstsachverstand u.ä.; gem. BVerwG soll aber noch nicht der bloße Umstand eine Entscheidung der BPjM rechtswidrig machen, "daß die Bundesprüfstelle von einem Sachverhalt ausgegangen ist, zu deren Feststellung sie einen Sachverständigen hätte heranziehen müssen […]; die Aufhebung setzt voraus, daß ihre Unrichtigkeit festgestellt wurde."816 Die Wahrscheinlichkeit der Eignung einer Jugendgefährdung kann aber seitens der BPjM z.B. einfacher konstatiert als eine diesbzgl. Nichteignung seitens der Kläger nachgewiesen werden. Insofern dürfte eine Klage aufgrund evtl. Verfahrensfehler u.ä. noch am realistischen sein. Ungeachtet dessen und dass bereits die initiale Indizierung selbst ein finanzielles Fiasko (und u.U. eine Stigmatisierung) für die Betroffenen sein kann (s.u.), dauert der Rechtsweg gegen eine Entscheidung der BPjM ein Medium in die Liste jugendgefährdender Medien aufzunehmen (oder einen Antrag auf Streichung aus der Liste abzulehnen) oftmals mehrere Jahre und ist auch entsprechend kostenintensiv, ohne eine aufschiebende Wirkung der Klage (§ 25 Abs. 4 JuSchG),817 wie auch Anspruch auf Schadensersatz im Falle einer erfolgreichen Klage oder auch nur besonders hoher Chancen auf einen Erfolg derselben,818 so dass bspw. BRAUNBART 2001b den Rechtsweg als "Farce"819 und SCHMID 2009b denselben als eine "schöne Theorie" kritisieren. Spektakuläre Fälle, wie der Rechtsstreit um das Buch JOSEFINE MUTZENBACHER, 809 810 811 812 813 814 815 816 817 818 819 Vgl. IE Nr. 5847 v. 04.08.2011 (DOOM). Vgl. IE Nr. 5921 v. 06.09.2012 (HITMAN: CODENAME 47). Vgl. IE Nr. 5887 v. 02.02.2012 (MAX PAYNE). Vgl. IE Nr. 10224 (V) v. 09.11.2011 (QUAKE). Vgl. MONSSEN-ENGBERDING 1998, S.12 und STATH 2006, S.171. Vgl. BVerfGE 15, 275 (282); BVerfGE 18, 203 (212); 21, 191 (194f.); BVerwGE 91, 211 (215f.); VG Köln, Urt. v. 17.2.2006, Az.: 27 K 6557/05; LIESCHING 2002, S.110; SUFFERT 2002, S.125f.; BRUNNER 2005 und STATH 2006, S.156. Diesbzgl. aber a.A. sind z.B. SCHOLZ 1999, S.49; SEIM 1997, S.151/184 und NIKLES/ROLL/SPÜRCK et al. 2005, S.259, die den Entscheiden der BPjM insb. in Orientierung am diesbzgl. obsoleten BVerwGE 39, 197 (203f.) nach wie vor eine nur beschränkte gerichtliche Nachprüfbarkeit attestieren. Ungeachtet dessen argumentierte bereits JESTAEDT 2005, dass die Weisungsfreistellung der Gremien der BPjM die Frage aufwerfe, "ob nicht die demokratisch-legitimatorischen Defizite, die derartigen Gremien innewohnt, nur durch den Grundrechtsschutz verbürgende Vollkontrolle kompensiert werden können." (S.318) VG Köln, Urt. v. 17.2.2006, Az.: 27 K 6557/05; Urt. v. 16.11.2007, Az.: 27 K 3012/06; vgl. BVerwGE 91, 211 (215f.); BVerwG, Urt. v. 28.08.1996, Az.: 6 C 15.94 und STATH 2006, S.156. Vgl. BVerwG, Urt. v. 03.03.1987 (Az.: BVerwG 1 C 39.84); SCHOLZ 1999, S.50 und NIKLES/ROLL/SPÜRCK et al. 2005, S.259. Vgl. VG Köln, Beschl. v. 31.05.2010, Az.: 22 L 1899/09 und SCHOLZ 1999, S.71. Vgl. SEIM 1998, S.45. Vgl. BRAUNBART 2001b, S.225. 147 sensibilisieren die Betroffenen ggü. den Problemen des Rechtswegs und lassen sie u.U. bereits a priori resignieren: Nachdem die BPjS das Buch im November 1982 indiziert hatte,820 aber erst das BVerfG die Entscheidung nach achtjährigem(!) Rechtsstreit am 27.11.1990 u.a. aufgrund dessen derogierte, dass die Behörde das Gebot der Abwägung zwischen Jugendschutz und Kunstfreiheit ignoriert hatte,821 indizierte die BPjS dasselbe Buch im November 1992 abermals.822 Letztlich ist der Rechtsweg aber auch ungeachtet dessen im Bereich der Indizierungen von Computerspielen von besonders geringer Bedeutung: Seit Inkrafttreten des JuSchG werden indizierungsfähige Computerspiele i.d.R. erst gar nicht mehr in Deutschland veröffentlicht und die ausländischen Rechteurheber und -inhaber der verfahrensgegenständlichen Spieleversionen haben kaum oder gar kein Interesse an einem Rechtsstreit. Die einzigen noch indizierungsfähigen, offiziell auch in Deutschland publizierten Spiele wurden fast ausschl. vor dem 01.04. 2003 veröffentlicht und nicht oder mit "Nicht geeignet unter 18 Jahren" von der USK gekennzeichnet (s.u.), dürften letztlich für die Rechteurheber und -inhaber (insofern sie überhaupt noch existieren) wirtschaftlich nicht mehr interessant sein. 11.10 Die Frage der Verhältnismäßigkeit der Indizierungsmaßnahme Der legitime Zweck der Indizierung ist der Schutz der Entwicklung von Kindern und Jugendlichen u./o. ihrer Erziehung zu eigenverantwortlichenen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeiten, aber ungeachtet dessen, dass einerseits jugendgefährdende Medien insg. offensichtlich nicht hinreichend bestimmt und andererseits auch die Indizierungen selbst regelmäßig rechtswidrig sind, ist die Frage nach der Verhältnismäßigkeit der Indizierung von Computerspielen, d.h. die nach der Geeignetheit, Erforderlichkeit und Angemessenheit der Maßnahme für sich genommen, nach wie vor relativ offen und soll im Folgenden diskutiert werden. Nach ERDEMIR 2000 verlangt das Gebot der Geeignetheit den Einsatz solcher Maßnahmen, "mit deren Hilfe der gewünschte Erfolg gefördert werden kann.823 Insoweit muß zwischen dem durch den Eingriff geschaffenen Zustand und dem Zustand, in dem der verfolgte Zweck als verwirklicht zu betrachten ist, ein durch bewährte Hypothesen über die Wirklichkeit vermittelter Zusammenhang bestehen. Das Gebot der Erforderlichkeit verlangt, daß der gewünschte Erfolg nicht auch durch ein anderes, ebenso geeignetes Mittel erreicht werden kann, welches das betreffende [...] nicht oder jedenfalls weniger fühlbar einschränkt und damit auch für den Bürger weniger belastend ist.824 Mit dem Gebot der Angemessenheit schließlich wird dem Grundsatz der Verhälntnismäßigkeit noch ein letztes Kriterium abverlangt. Insoweit müssen die Schwere des Eingriffs und er mit ihm verfolgte Zweck in recht gewichtetem und wohl abgewogenem Verhältnis zueinander stehen. Hierbei sind das Gewicht und die Bedeutung des durch den Eingriff rechtfertigenden Gründe dem Gewicht und der Bedeutung des durch den Eingriff beeinträchtigten Grundrechts gegenüberzustellen.825 Im Ergebnis verlangt das Gebot der Angemessenheit damit eine Güterabwägung."826 11.10.1 Eignung der Maßnahme Insofern gewaltdarstellende Computerspiele offensichtlich nicht (hinreichend) die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen u./o. ihre Erziehung zu eigenverantwortlichenen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeiten gefährden, die Frage nach der Geeignetheit der Indizierung im Lichte des legitimen Zwecks derselben aber primär die Frage nach einer solchen Wirkung dar820 821 822 823 824 825 826 Vgl. IE Nr. I 20/82 v. 04.11.1982 (JOSEFINE MUTZENBACHER). Vgl. BVerfGE 83, 130. Vgl. IE Nr. 4274 v. 05.11.1992 (JOSEFINE MUTZENBACHER). Vgl. BVerfGE 30, 292 (316); 33, 171 (187) und 67, 157 (173). Vgl. BVerfGE 53, 135 (145f.); 67, 157 (177); 68, 193 (219); 77, 84 (110f.) und 81, 70 (91f.). Vgl. BVerfGE 67, 157 (173) und 83, 1 (9). ERDEMIR 2000, S.115f.. 148 stellt,827 kann die Maßnahme bereits nicht i.S.d. Verhältnismäßigkeitsprinzips geeignet sein und ist infolge dessen verfassungswidrig: Ohne eine diesbzgl. Jugendgefährdung durch mediale Gewaltdarstellungen kann eine Indizierung auch keinen solchen Jugendschutz kausal bewirken oder zumindest fördern! Aber auch gem. dem hypothetischen Fall einer (hinreichend) jugendgefährdenden Wirkungseignung medialer Gewaltdarstellungen, so dass die Frage nach der Geeignetheit der Indizierung nur noch die nach der Wirksamkeit des absoluten Jugendverbots sein könnte, wäre dieselbe fragwürdig: Die Beschränkungen des § 15 Abs. 1 JuSchG können (ungeachtet des Erziehungsprivilegs) sicherlich den legalen Zugang von Kindern und Jugendlichen zu jugendgefährdenden Medien verhindern, dürften aber im Rahmen des privaten, wie auch semiprofessionellen Handels oftmals ignoriert werden.828 Nach SCHULZ/BRUNN/DREYER et al. 2007 trifft auch ein grundsätzliches Problem für den Jugendmedienschutz für indizierte Computerspiele zu, "nämlich die Möglichkeit, unter Umgehung deutscher Vertriebs- und Zugangsbestimmungen Medien aus dem Ausland zu beziehen. So kann es vorkommen, dass ein Spiel, wenn eine Indizierung droht, gar nicht bei der USK vorgelegt wird und auch nicht offiziell in Deutschland vertrieben wird, das Spiel aber dennoch durch Grauimporte von Einzel- und Zwischenhändlern nach Deutschland gelangt. Auch durch den internationalen Versandhandel können nationale Jugendschutzvorschriften konterkariert werden. So sind in Deutschland indizierte Spiele, die nur nach entsprechendem Altersnachweis und einer persönlichen Übergabe an den volljährigen Besteller versandt werden dürfen, etwa in Österreich, Großbritannien oder Holland ohne jeglichen Altersnachweis zu bestellen und in Empfang zu nehmen. Eine derartige Einfuhr indizierter Medien ist zwar gem. § 15 Abs. 1 Nr. 5 JuSchG prinzipiell verboten, der Zoll kontrolliert Sendungen aus Staaten, die das Schengener Abkommen unterschrieben haben, aber lediglich stichprobenartig; im Falle der Entdeckung von indizierten Medien wird die Sendung einbehalten und [...] gegen entsprechenden Altersnachweis an den Empfänger ausgehändigt. Es gibt Hinweise darauf, dass im Bereich Video- und Computerspiele eine nicht unerhebliche Stückzahl indizierter Spielprogramme auf diesem Wege – meist unkontrolliert – nach Deutschland gelangt: So erwähnt der Jahresbericht 2006 des Ständigen Vertreters der OLJB bei der USK, dass davon ausgegangen wird, dass mehr als 100.000 Stück der indizierten EU-Version des Spiels 'Gears of War' für die Xbox 360 über ausländische Versender nach Deutschland gedrungen sind. […] Ausländische Anbieter werben im Internet ausdrücklich damit, dass eine Indizierung in Deutschland erfolgt ist. Da nicht auszuschließen ist, dass sich zumindest bestimmte Gruppen von Jugendlichen dadurch eher zu dem entsprechenden Spiel hingezogen fühlen […], ist dies für den Jugendschutz ein Problem […]."829 Wahlweise werden indizierte Spiele aber auch schwarz kopiert (der private Handel zwischen Schülern florierte bereits in den 1980ern),830 resp. (illegal) aus dem Internet heruntergeladen oder die gekennzeichneten, aber zensierten Versionen indizierter Spiele mittels sog. Bloodpatches dezensiert.831 Eine Indizierung ist insofern offensichtlich nicht in jedem Einzelfall effektiv und kann den intendierten Jugendmedienschutz nur in begrenztem Umfang gewährleisten. Das macht sie aber noch nicht verfassungswidrig. Die Maßnahme dürfte nur nicht schlechthin ungeeignet, resp. gar kontraproduktiv sein.832 Vielmehr habe der Gesetzgeber nach DECKER 2005 ja auch die Pflicht, "seinen Standpunkt durch gesetzliche Regelungen deutlich zu machen."833 Ungeachtet dessen wird die Indizierung nach SCHULZ/BRUNN/DREYER et al. 2007 deshalb als ein besonders effektives Mittel des Jugendschutzes angesehen, "da es sowohl Werbebeschränkungen als auch Abgabe- und Zugangsbeschränkungen enthält und so eine 'Unsicht827 828 829 830 831 832 833 Vgl. ERDEMIR 2000, S.117. Vgl. SCHULZ/BRUNN/DREYER et al. 2007, S.141. SCHULZ/BRUNN/DREYER et al. 2007, S.140 und vgl. SCHULZ/DREYER 2007a, S.2. Vgl. BOSSELMANN 1987, S.132; URBAN 2002, S.169; DECKER 2005, S.18 und EGAN 2007. Vgl. WIEMKEN 2001b, S.61; MÜLLER-LIETZKOW 2010, S.30 und SCHULZ/DREYER 2007a, S.2. Vgl. BVerfGE 19, 119 (126f.); 30, 250 (263f.); 50, 142 (163); 67, 291 (313f.); 71, 206 (215/217f.); BverwG, Beschl. v. 22.03. 1986, Az.: 2 BvR 1499/84, 99/85 und MEIROWITZ 1993, S.227f.. Vgl. DECKER 2005, S.78. 149 barmachung' des entsprechenden Inhalts des Trägermediums erreichen soll."834 Kinder und Jugendliche sollen (die Existenz) indizierte(r) Medien erst gar nicht wahrnehmen, so dass infolge dessen die (illegale) Ersatzbeschaffung kein Problem mehr sein soll. Tatsächlich kolportieren die Autoren, "dass indizierte Medien bei Kindern und Jugendlichen kaum bekannt und kaum genutzt sind. Die Wirkung der Indizierung scheint also grundsätzlich gegeben zu sein, wobei auch hier zwischen den unterschiedlichen Risikotypen der eher zufälligen, ungezielten Berührung mit ungeeigneten medialen Inhalten und der gezielten Suche zu unterscheiden ist; Letztere wird auch die Indizierung nur wenig erschweren können."835 Das HBI rekurrierte aber diesbzgl. nur auf eine qualitative Teilstudie der Autoren THEUNERT/GEBEL/ BRÜGGEN et al. 2007, die tatsächlich (und auch nur basierend auf einer Befragung von 18 Kindern und Jugendlichen zwischen 12 und 17 Jahren) tenzenziell vielmehr das Gegenteil konstatierten,836 ungeachtet dessen, dass sich die Nutzung indizierter Medien selten zweifelsfrei feststellen ließ: Das aktive Ansprechen von Indizierungen wurde bspw. vermieden, "um nicht zur Suche nach indizierten Produkten [...] zu animieren. […] Von manchen Medienangeboten ([…] Computerspielen etc.) liegen sowohl indizierte wie nicht indizierte Versionen vor. Eine unverfängliche Spezifizierung des genutzten Materials war entsprechend nicht immer möglich. […] Ungeklärt bleibt darüber hinaus in einigen Fällen, welches Material die Befragten tatsächlich aus eigener Nutzung kennen […]."837 Insofern ist die Behauptung des HBI offensichtlich nicht fundiert. Auch das KFN kolportierte (offenbar als Promotion seines Forschungsberichts Nr. 101; s. Kapitel 22) infolge einer Befragung von 5.531 Viertklässlern (M = 10,3 Jahre) und 14.301 Neuntklässlern (M = 15,1 Jahre) zwischen dem 21.02.2005 und dem 18.03.2005,838 "dass jeder zweite 10-jährige Junge über Erfahrungen mit Spielen verfügte, die ab 16 oder 18 eingestuft sind und dass jeder Fünfte solche Spiele aktuell nutzte; von den 14-/15-jährigen Jungen hatten 82 Prozent Erfahrungen mit Spielen, die keine Jugendfreigabe erhalten haben, ein Drittel spielte sie regelmäßig. Die Indizierung von Spielen durch die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien [...] erweist sich dagegen als sehr effektiv. Nur 0,1 Prozent der befragten 10-Jährigen und 2,5 Prozent der 14-/15-Jährigen nutzten derartige Spiele."839 Die Behauptungen basieren aber auf einer fragwürdigen Erhebungsmethode, die tatsächlich erst HÖYNCK/PFEIFFER 2007 und auch noch nur für die Viertklässler dokumentierten: Um das Ausmaß, in dem entwicklungsbeeinträchtige Video- und Computerspiele von den befragten Viertklässlern genutzt werden, detaillierter beleuchten zu können, wurden alle Kinder nach den Titeln der drei von Ihnen zurzeit am intensivsten genutzten Computerspiele befragt. Für alle Spieletitel wurden nachträglich die jeweiligen Altersfreigaben der USK [...] recherchiert. [...] Die Auswertung der von den Kindern aktuell gespielten Spiele ergab, dass 3 Prozent der befragten Mädchen und 21,3 Prozent der Jungen zum Befragungszeitpunkt mindestens ein Spiel spielten, das erst ab 16 freigeben ist bzw. keine Jugendfreigabe hat. Spiele, die auf dem Index der [...] BPjM [...] stehen, [...] wurden dagegen so gut wie gar nicht genutzt. In der gesamten westdeutschen Viertklässlerstichprobe ergaben sich nur sieben Fälle, in denen Kinder ein indiziertes Spiel spielten. Zum Vergleich: Die Nutzung von Computerspielen ohne Jugendfreigabe, die aber nicht indiziert sind, also in der Öffentlichkeit beworben und ausgestellt werden dürfen, lag mit zwei Prozent (111 Fälle) unter allen befragten westdeutschen Viertklässlern um ein Sechzehnfaches höher.840 Ungeachtet dessen, dass die Daten für Viert- und Neuntklässler nicht für andere Altersklassen repräsentativ sind, wie auch, dass die Erhebungsmethode verdeckt, dass eine im Durchschnitt marginale Nutzung indizierter Medien durch alle Schüler einer Jahrgangsstufe für einige Schüler (u.U. gar die sog. gefährdungsgeeigneten Kinder und Jugendlichen) eine umso intensivere Nutzung bedeuten kann, kann die Frage nach den drei "zurzeit" favorisierten Computerspielen aber einerseits weder garantieren, dass die Kinder aktuell nicht auch indizierte Spiele spielten, die nur nicht die ihrerseits zurzeit favorisierte(ste)n Spiele waren, noch dass sie 834 835 836 837 838 839 840 Vgl. SCHULZ/BRUNN/DREYER et al. 2007, S.133. BRUNN/DREYER/HASEBRINK et al., S.52. Vgl. THEUNERT/GEBEL/BRÜGGEN et al. 2007, S.84-88. THEUNERT/GEBEL/BRÜGGEN et al. 2007, S.84. Vgl. BAIER/PFEIFFER/WINDZIO et al. 2006. HÖYNCK/MÖßLE/KLEIMANN et al. 2007a, S.1. HÖYNCK/PFEIFFER 2007. 150 niemals indizierte Spiele gespielt haben. Andererseits liegen von manchen Spielen nicht nur indizierte, wie auch nicht indizierte Versionen vor, sondern werden die Schüler selbst u.U. nicht hinreichend zwischen den einzelnen Teilen einer Spieleserie differenziert haben (z.B. zwischen dem indizierten MAX PAYNE und dem ohne Jugendfreigabe gekennzeichneten MAX PAYNE 2: THE FALL OF MAX PAYNE),841 so dass eine unverfängliche Spezifizierung der genutzten Spiele oftmals nicht möglich gewesen sein wird. Letztlich konnten die Autoren die kolportierte "marginale Nutzung indizierter Spiele durch Viertklässler"842 nicht belegen und selbst gem. dem Fall, dass sie dgl. hätten tun können, hätte die skizzierte Methodik nicht demonstrieren können, dass das auch tatsächlich die Folge der Beschränkungen (und insb. des Werbeverbots) nach § 15 Abs. 1 JuSchG gewesen wäre, so dass die Spiele nur einen geringen Bekanntheitsgrad (den die Autoren ja de facto gar nicht kontrollierten) erreichten und i.d.S. nur geringe Chancen gehabt hätten, "zu einem begehrten Prestigeobjekt zu werden."843 Die Autoren realisieren nämlich selbst im (impliziten) Lichte dessen, dass Spielefavorisierungen oftmal nur ein relativ flüchtiges Phänomen sind (d.h. dass die favorisierten Spiele höchstwahrscheinlich auch nur aktuellere Spiele sind), dass den im Erhebungsjahr nur 32 (gem. den Autoren fälschlicherweise gar nur 29) Indizierungen insg. 2.686 gekennzeichnete Spieleversionen gegenüberstanden, von denen 470 mit "Freigegeben ab sechzehn Jahren" und 110 ohne Jugendfreigabe gekennzeichnet wurden, so dass bereits dgl. eine marginale Nutzung indizierter Spiele begründen könnte.844 Tatsächlich entsprechen den 31 Versionen abzgl. diverser Portierungen und Demoversionen (insofern auch die entsprechenden Vollversionen indiziert wurden) nur 20 Einzeltitel, von denen auch nur 13 Titel (resp. 22 Versionen) im Erhebungsjahr veröffentlicht wurden (die restlichen Versionen wurden bereits zwischen 2003 und 2004 publiziert, fünf derselben waren gar mit bereits zwischen 1998 und 2004 indizierten Medien im Wesentlichen inhaltsgleich).845 Prägnanter ist aber der Umstand, dass die BPjM zwischen März und November 2004 nur 10 Spieleversionen, die sieben Spieletiteln entsprechen, indizierte und auch nur drei der Titel (d.h. acht Versionen) tatsächlich im selben Jahr publiziert wurden, wie auch, dass bis zum Januar vor der Schülerbefragung keine weiteren Spiele und erst im Erhebungszeitraum selbst zwei (bereits im Vorjahr publizierte, inhaltgleiche) Versionen des im März 2004 indizierten (und im Juli desselben Jahres beschlagnahmten) Spiels MANHUNT indiziert wurden.846 Insofern standen den aktuelleren gekennzeichneten Spielen gar keine aktuelle(re)n indizierten Spiele gegenüber. Ungeachtet dessen könnte eine marginale Nutzung indizierter Spiele insb. durch erst 10-jährige aber auch nur die Folge einer fehlenden Nutzungsmotivation sein, explizitere Gewalt darstellende Spiele dürften nämlich nicht besonders kinderaffin und insofern i.d.R. für jüngere Kinder (d.h. solche deutlich unter der Schwelle zur Pubertät) uninteressant sein (ungeachtet des Bekanntheitsgrads der Spiele). Tatsächlich wurde die Effizienz der Indizierungsmaßnahme seit 1954 noch nie (probat) evaluiert, aber der vermeintliche Vorteil einer Indizierung ggü. einem simplen Jugendverbot nach § 12 Abs. 3 JuSchG (s.u.), nämlich die Unsichtbarmachung der entsprechenden Medien, dürfte insb. im Lichte der onlineverfügbaren (internationalen) Vermarktung (z.B. Werbeanzeigen, Trailer, Demoversionen, Internetseiten), wie auch der Berichterstattung einschlägiger Online- und Printmagazine bereits vor der Veröffentlichung (und infolge dessen auch vor der Indizierung) eines Spiels erodieren.847 Kinder und Jugendliche können indizierte Spiele auch insofern wahrnehmen, dass bspw. die Magazine nicht nur regelmäßig über aktuelle Spieleindizierungen, wie auch über die Maßnahme der Indizierung (und das Jugendmedienschutzsystem insg.), sondern auch (bspw. im Rahmen der Berichterstattung über für eine Alterskennzeichnungen noch anstehende oder bereits gekennzeichnete, konkrete Spiele) über die für eine 841 842 843 844 845 846 847 Vgl. MPFS 2004, S.31. HÖYNCK/PFEIFFER 2007. HÖYNCK/PFEIFFER 2007. HÖYNCK/PFEIFFER 2007. Vgl. BAnz. Nr. 40 v. 26.02.2005; Nr. 60 v. 31.03.2005; Nr. 82 v. 30.04.2005; Nr. 98 v. 31.05.2005; Nr. 120 v. 30.06.2005; Nr. 142 v. 30.07.2005; Nr. 186 v. 30.09.2005; Nr. 206 v. 29.10.2005; Nr. 209 v. 05.11.2005 und Nr. 248 v. 31.12.2005. Vgl. BAnz. Nr. 65 v. 02.04.2004 und Nr. 40 v. 26.02.2005. Vgl. SCHULZ/BRUNN/DREYER et al. 2007 S.139/144f. und SCHULZ/DREYER 2007a, S.2. 151 Alterskennzeichnung deutscher Spielversionen evtl. notwendigen Selbstzensuren (s.u.) informieren, so dass das Vorhandensein einer unzensierten Version (unabhängig von einer evtl. Indizierung) auch für Minderjährige evident sein dürfte (die Attribuierung eines Spiels als deutsche Version ist tatsächlich bereits oftmals ein Synonym für den Umstand, dass es sich dabei um eine zensierte Version handelt); das Wissen um Zensuren steigert aber oftmals die Attraktivität der unzensierten Pendants derselben.848 Aufmerksamkeit für indizierte Spiele kann bei Kindern und Jugendlichen letztlich auch die oftmals skandalisierende (moralpanische) Berichterstattung der Massenmedien über gewaltdarstellende Spiele insg. schaffen.849 Auch dürften spieleinteressierte Jugendliche regelmäßig über die Indizierung (konkreter Spiele) informiert sein. Dass ist insofern für den Jugendmedienschutz misslich, dass die Indizierung eines Computerspiels dasselbe andererseits u.U. auch prädikatisieren, resp. einen Werbe-, resp. Anlockeffekt (sog. forbidden fruit effect)850 zeitigen könnte. Indizierte Medien sind tatsächlich oftmals regelrechte Kultobjekte. Nach SEIM 2003 ist auch den Listen der BPjM (nicht überraschend) eine "janusköpfige Doppelfunktion" inhärent: "Zum einen sollen sie anzeigen, was untersagt ist, zum anderen bringen sie erst diese Objekte ins öffentliche Bewusstsein und wecken die Neugier, zu erfahren, was man eigentlich nicht wissen darf […]. Verbote überhöhen die Produkte durch das Hautgout des Skandals. Stets sind Indices auch 'Einkaufslisten'."851 Die Problematik relativiert auch weder der Umstand, dass der Index nach § 15 JuSchG nicht zum Zweck der geschäftlichen Werbung abgedruckt oder veröffentlicht werden darf (Abs. 4), noch der, dass im Rahmen geschäftlicher Werbung nicht darauf hingewiesen werden darf, dass ein Indizierungsverfahren anhängig (gewesen) ist (Abs. 5), ungeachtet dessen, dass aber "Slogans der Machart 'Jetzt zugreifen, bevor es indiziert ist'"852 u.ä. nach wie vor zulässig sind, insofern ein Indizierungsverfahren nicht anhängig (gewesen) ist. Die beiden (dem SchSchmG entnommenen) Regelungen demonstrieren vielmehr, dass der Gesetzgeber sehenden Auges einen evtl. Anlockeffekt der Indizierung in Kauf genommen hat, der u.U. entsprechende (andernfalls evtl. gar uninteressante) Medien so exponiert, dass eine Indizierung ggf. nicht fördert, dass sie Medien bei Kindern und Jugendlichen kaum bekannt und kaum genutzt sind, sondern das Gegenteil dessen. Insofern kann die Indizierung i.d.S. nicht unbedingt immer, aber oftmals kontraproduktiv, d.h. verfassungsrechtlich ungeeignet (und der vermeintliche Vorteil einer Indizierung ggü. einem simplen Jugendverbot tatsächlich ein Nachteil) sein; diesbzgl. Studien fehlen aber nach wie vor. Letztlich soll die Indizierung auch nur eine ggü. dem elterlichen Erziehungsprivileg subsidiäre Maßnahme sein, kann aber auch als eine paternalistische Konterkarierung desselben interpretiert werden:853 Die Eltern können die Mediennutzung der eigenen Kinder nicht mehr umfassend bestimmen, insofern indizierten Medien auch für sie selbst unsichtbar u./o. kaum oder gar nicht mehr zugänglich sind (s.u.). Zusammengefasst kann der Maßnahme der Indizierung von gewaltdarstellenden Computerspielen keine Geeignetheit i.S.d. Verhältnismäßigkeitsgebots attestierten werden, sie ist bereits auch insofern verfassungswidrig. Der Gesetzgeber ist prinzipiell zu einer diesbzgl. Nachbesserung des Jugendmedienschutzrechts verpflichtet.854 11.10.2 Erforderlichkeit der Maßnahme Die Indizierung ist auch nicht im verfassungsrechtlichen Sinn erforderlich: Die essentielle Funktion der Maßnahme kann nur der Schutz von Kindern und Jugendlichen vor jugendgefährdenden Medieninhalten sein, die Rechtsfolgen einer Indizierung gehen darüber jedoch weit hinaus. Das originäre GjS war prinzipiell nur ein literarisches Jugendmedienschutz- 848 849 850 851 852 853 854 Vgl. NIKELE 1996, S.63. Vgl. RÖTZER 2004; DECKER 2005, S.28 und DAWSON/CRAGG/TAYLOR et al. 2007, S.7. Vgl. STIX 2009, S.58-89. SEIM 2003, S.525; vgl. NIKELE 1996. S.98f.; URBAN 1998, S.181; WIEMKEN 2001b, S.60f.; BÜTTNER 2002b, S.7 und PLACHTA 2002, S.159. Vgl. BRAUNBART 2001a, S.241. Vgl. BOSSELMANN 1987, S.9 und SCHORB/THEUNERT 2001, S.12. Vgl. BVerfGE 49, 89 (131f.) und 95, 267 (314f.). 152 gesetz,855 Kindern und Jugendlichen war z.B. innerhalb von Einzelhandelsgeschäften u.U. der Zugang zu öffentlich ausgestellten Schriften (d.h. Printmedien) ermöglicht und sie konnten gleichzeitig direkte Kenntnis von deren (vermeintlich) jugendgefährdenden Inhalten(!) erlangen, so dass die Verbote des Zugänglichmachens, wie auch der Vorführung der Inhalte an Orten, die Kindern oder Jugendlichen zugänglich sind oder von ihnen eingesehen werden können, zumindest z.T. sachdienlich gewesen wären, nicht aber die restlichen Vetriebs-, Vermiet-, Einfuhr- und Werbeverbote (außer dem des § 15 Abs. 5 JuSchG) infolge einer Indizierung. Dem Gebot, Kinder und Jugendliche nicht mit jugendgefährdenden Inhalten zu konfrontieren, wäre bspw. nicht erst mit dem Verbot Genüge getan, dass indizierte Medien an den skizzierten Orten nicht ausgestellt, d.h. nur "unter dem Ladentisch" verkauft werden dürfen, sondern auch bereits insofern die entsprechenden Medien nur so ausgestellt werden, dass Kindern und Jugendlichen im Ladengeschäft selbst kein Zugang zu den Inhalten derselben ermöglicht wird (indem die Medien z.B. eingeschweißt oder in unzugänglichen Vitrinen ausgestellt werden). Aber dgl. dürfte ggü. programmierten Datenträgern u.ä. nicht notwendig sein; Kinder und Jugendliche können nämlich nicht bereits durch den Zugang zu dem betreffenden Datenträger innerhalb eines Geschäfts direkte Kenntnis von dessen Inhalt erlangen. Insg. stellen die Beschränkungen des § 15 Abs. 1 JuSchG auch nach SCHUMANN 2001 eine "Überregulierung" dar: "Zum Schutz Jugendlicher vor sie gefährdenden Medien würde grundsätzlich das Verbot ausreichen, ihnen diese Medien zugänglich zu machen."856 Eine ggü. der Indizierung eines Computerspiels weniger belastende, den gewünschten Erfolg aber gleichermaßen (oder gar besser) erreichende Maßnahme stellt i.d.S. bereits § 12 Abs. 3 JuSchG dar, gem. dem u.a. Spiele, "die nicht […] nach § 14 Abs. 2 von der obersten Landesbehörde […] gekennzeichnet sind," einerseits "einem Kind oder einer jugendlichen Person nicht angeboten, überlassen oder sonst zugänglich gemacht werden" (Nr. 1) und andererseits "nicht im Einzelhandel außerhalb von Geschäftsräumen, in Kiosken oder anderen Verkaufsstellen, die Kunden nicht zu betreten pflegen, oder im Versandhandel angeboten oder überlassen werden" (Nr. 2) dürfen; jugendgefährdende Spiele dürfen natürlich nicht gekennzeichnet werden (14 Abs. 3 JuSchG). Das präsentierte Jugendverbot ist i.S.d. Erforderlichkeit insg. ein milderes Mittel, so dass die Indizierungsmaßnahme auch insofern und insb. auch im Lichte der im Folgenden noch demonstrierten enormen Belastungen der Betroffenen durch die Rechtsfolgen einer Indizierung (insb. durch das Werbeverbot) unverhältnismäßig ist. 11.10.3 Angemessenheit der Maßnahme Letztlich überwiegen die Nachteile einer Indizierung auch die Vorteile derselben: Indizierungsproponenten rezitieren zwar regelmäßig die formaljuristischen Rechtsfolgen der Maßnahme, ignorieren aber die faktischen Konsequenzen derselben, so dass oftmals kolportiert wird, dass sie bereits insofern verfassungsrechtlich unbedenklich sei, dass Erwachsenen indizierte Medien nach geltendem Recht zugänglich gemacht werden dürfen,857 Elke MONSSEN-ENGBERDING argumentierte bspw.: "Erwachsenen sind diese Spiele ja jederzeit zugänglich. Sie können diese Spiele auf Anfrage unter der Ladentheke, wie das so schön heißt, erwerben, sie können sie in Läden erwerben, zu denen Kinder und Jugendliche keinen Zutritt haben. Es gibt auch beispielsweise sehr viele Videotheken für Erwachsene, die auch Computerspiele anbieten. […] Darüber hinaus kann man sie ja auch über den Weg des Versandhandels erwerben […]."858 Auch im Rahmen von Indizierungentscheiden wird dgl. kolportiert, so schreibt die BPjM in der Indizierungsentscheidung zum Film EDEN LAKE mit despektierlichem Unterton, dass Erwachsene, "die unbedingt Wert auf die selbstzweckhaften Gewaltdarstellungen legen,"859 die verfahrensgegenständliche Fassung ja weiterhin erwerben könnten. 855 856 857 858 859 Vgl. BOSSELMANN 1987, S.V. Vgl. SCHUMANN 2001, S.87. Vgl. MEIROWITZ 1993, S.281f.. Zitiert in: LANGE 2008b. IE Nr. 8781 (V) v. 08.07.2009 (EDEN LAKE). 153 Auch das BVerfG konstatierte bereits am 23.03.1971, dass die Maßnahme verhältnismäßig sei: Der Gesetzgeber habe durch § 4 Abs. 1 GjS nur mit einem absoluten Verbot belegt, dass indizierte Medien im Einzelhandel außerhalb von Geschäftsräumen, in Kiosken oder anderen Verkaufsstellen, die Kunden nicht zu betreten pflegen, im Versandhandel oder in gewerblichen Leihbüchereien oder Lesezirkeln einer anderen Person angeboten oder überlassen werden, "[…] mit der Folge, daß auch Erwachsene nicht mittels dieser Vertriebsarten an [...] jugendgefährdende Schriften gelangen können. Würde ein Verbot des Vertriebs im Versandhandel zusammen mit den übrigen Vertriebsverboten des § 4 Abs. 1 bewirken, daß auch Erwachsene völlig vom Bezug derartiger Schriften ausgeschlossen wären, so hätte der Gesetzgeber den in Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG garantierten Rechten nicht Rechnung getragen und seine Regelungsbefugnis im Bereich des Jugendschutzes überschritten. Das ist jedoch nicht der Fall. § 4 Abs. 1 erfaßt nicht sämtliche denkbaren Vertriebsarten; Erwachsenen bleiben noch genügend Möglichkeiten (z.B. im Ladenhandel) zum Bezug der Schriften."860 Das Gericht prüfte die praktischen (für unterschiedliche Medien nicht überraschend u.U. auch unterschiedlichen) Folgen der Maßnahme aber erst gar nicht: Tatsächlich war der Kioskvertrieb damals das einzige realistische Vertriebsmodell für Schriften, so dass eine Indizierung faktisch bewirkte, dass auch Erwachsene mehr oder weniger völlig vom Bezug indizierter Schriften ausgeschlossen waren und auch der alternative Bezug über den Versandhandel (z.B. direkt über den Verlag) war auch noch absolut (d.h. ohne eine Ausnahmeregelung, wie sie aktuell erst § 1 Abs. 4 JuSchG formuliert) verboten. Die Indizierung wirkte also seit Jahrzehnten ggü. einem Gros der primär betroffenen Schriften (z.B. Comics, Zeitschriften) wie ein (jugendmedienschutzrechtlich nicht legitimierbares) faktisches Verbot. Aber im Lichte dessen, dass der stationäre Handel innerhalb von Geschäftsräumen nach wie vor das dominante Einzelhandelsmodell für den Vertrieb von Computerspielen, resp. für die sinnvolle wirtschaftliche Verwertung derselben darstellt, sind von den Rechtsfolgen der Indizierung nach § 15 Abs. 1 JuSchG für den Handel mit solchen Spielen nicht die Verbreitungsverbote außerhalb von Geschäftsräumen (Nr. 3, 4 und 5), sondern die Verbreitungsverbote an solchen Orten, die Kindern u./o. Jugendlichen zugänglich sind oder von ihnen eingesehen werden können (Nr. 2 und 4) und insb. das Werbeverbot (Nr. 6) besonders problematisch: Nach SCHMID 2009 darf bspw. ein Einzelhändler einem Erwachsenen an solchen Orten auch auf Nachfrage desselben dank des Werbeverbots u.U. selbst "unter dem Ladentisch" keine Liste der (vorrätigen) indizierten Medien präsentieren, sondern denselben nur auf ausdrückliche Nachfrage nach konkreten indizierten Medien informieren, "ob er sie vorrätig hat oder nicht. Höchstwahrscheinlich hat er sie nicht auf Lager, weil so gut wie niemand danach fragt." Dass so gut wie niemand nach indizierten Medien fragt, dürfte prinzipiell zwei Gründe haben: Einerseits kann dank eines gewissen Stigmas, des potenziell Anrüchigen indizierter Medien u.U. bereits eine solche Nachfrage für den Kunden desavouierend wirken.861 Andererseits ist für solche Nachfragen ja auch eine gewisse Anzahl diesbzgl. informierter Kunden notwendig – das Vorrätighalten für nur ein paar Auserwählte rentiert sich nicht –, aber dank des Werbeverbots erreichen ja bereits kaum noch oder gar nicht hinreichend viele potenzielle Kunden entsprechende Information über (die Existenz) indizierte(r) Medien. Irma KEILHACK (SPD), Hauptrednerin der SPD in der dritten Lesung des Entwurfes für das GjS, prognostizierte bereits in der 230. Sitzung des Deutschen Bundestages am 17.09.1952, dass die Werbeverbote eine eklatante Gefahr für die Meinungs- und Informationsfreiheit Erwachsener darstellen könnten.862 Selbst das BVerwG artikulierte Bedenken ggü. dem Werbeverbot, "ob es noch 'das gebotene und adäquate Mittel zum Schutz der Jugend' ist [...], insbesondere ob es der in Art. 5 Abs. 1 GG garantierten Informationsfreiheit der Erwachsenen ausreichend Rechnung trägt. Das Werbeverbot kommt bei Einzelerzeugnissen, insbesondere Büchern, Schallplatten und Filmen, praktisch einem Verbot des Werkes gleich [...]. Darin liegt eine sehr weitgehende Einschränkung der Informationsfreiheit Erwachsener. Es ist […] nicht ersichtlich, daß das Verbot jedweder Form der Werbung, etwa auch solcher, die sich nach 860 861 862 BVerfGE 30, 336 (348). Vgl. BARSCH 1988, S.37. Vgl. BUCHLOH 2002, S.116. 154 Inhalt, Aufmachung und Verbreitungsart an Erwachsene richtet und selbst nicht jugendgefährdend ist, zum Schutz der Jugend geboten sein könnte."863 Das obligatorische Gegenargument der Indizierungsproponenten, dass das Werbeverbot nicht der Zweck, sondern nur die Rechtsfolge der Indizierung sei, ignoriert die Problematik, dass das Verbot so oder so die Freiheit der Berichterstattung unterminiert. Einschlägige Print-, wie Onlinemagazine sind bspw. nach wie vor eine der primären Informationsquellen über Computerspiele, die aber über indizierte Medien nur eingeschränkt berichten (können): Positive (aber ungeachtet dessen u.U. auch kritische) Rezensionen indizierter Medien u.ä. können bereits als verbotene Werbung interpretiert werden,864 so das die Magazine dank des Verbots selbst gegenstandsneutraler Werbung auch prinzipiell objektive Verkaufscharts, Berichte über Preisverleihungen etc. zensieren, die Namen indizierter Spiele entfernen, dieselben germanisieren, ähnliche Fantasienamen (z.B. "Hundefelsen 4E", "Wolkenheim 3D" u.ä. statt WOLFENSTEIN 3D)865 kreieren oder pro forma konstatieren, dass sie (ggf.) ausschl. die deutsche, nach § 14 JuSchG gekennzeichnete (und insofern nach § 18 Abs. 8 JuSchG nicht mehr indizierbare) und nicht die nicht gekennzeichnete Version eines Spiels thematisieren. Magazine, die für indizierte Medien werben, verstoßen nämlich nicht nur gegen § 27 JuSchG, sondern können u.U. selbst (auch dann, wenn die Magazine bereits vor der Indizierung des Spiels publiziert wurden) indiziert werden (die Werbung für jugendgefährdende Medien ist nämlich selbst jugendgefährdend); dass ist insb. für Printmagazine brisant: Die BPjM kann nach § 22 Abs. 1 JuSchG die automatische Vorausindizierung aller Folgen eines periodisch erscheinenden Trägermediums auf die Dauer von drei bis zwölf Monaten ab der nächsten Folge entscheiden (ungeachtet der tatsächlichen Inhalte der vorausindizierten Folgen), "wenn innerhalb von zwölf Monaten mehr als zwei seiner Folgen indiziert worden sind. Dies gilt nicht für Tageszeitungen und politische Zeitschriften."866 Eine solche Vorausindizierung ist aber im vereinfachten Verfahren nicht möglich (§ 23 Abs. 2 JuSchG). Die Indizierung auch nur einer einzigen Ausgabe (so dass sie ja u.a. nicht mehr in Kiosken vertrieben werden darf) ist aber u.U. bereits der ökonomische Exitus eines Periodikums,867 ggf. gar des Verlages. Relativiert wird die Problematik im Bereich der Computerspielemagazine seit ein paar Jahren aber durch die zunehmende Bedeutung der Onlinemagazine, so dass auch über potentielle Indizierungskandidaten erst gar nicht mehr in den Printmagazinen, sondern nur noch den Onlinependants derselben berichtet wird und die entsprechenden Berichte im Falle einer Indizierung einfach (und für die Informationsfreiheit misslich) entfernt oder ggf. in geschlossene Benutzergruppen (i.S.v. § 4 Abs. 2 JMStV) transferiert werden. Schlechterdings werden solche Magazine aber für die Leser ggü. der internationalen (auch deutschsprachigen) Konkurrenz natürlich unattraktiver. Die Umsatzeinbußen im Falle einer Indizierung sind i.d.R. drastisch:868 Durch den Wegfall eines Gros des Einzelhandels fehlen dem Vertrieb nicht nur die Umsätze durch den Verkauf, sondern sind auch Werbeauftritte im Vor- und Umfeld der Distribution vergeudetes Kapital, ungeachtet einer evtl. zusätzlichen Stigmatisierung der Betroffenen. I.d.S. konstatierte u.a. STATH 2006, dass die praktischen Konsequenzen einer Indizierung gravierender als die gesetzlichen sind: "Durch das […] umfassende öffentliche Werbeverbot ist es für viele Vertreiber wirtschaftlich überhaupt nicht mehr sinnvoll, an der Produktion und am Vertrieb eines indizierten Mediums festzuhalten. Eine Indizierung bedeutet für das betroffene Medium in aller Regel den wirtschaftlichen Tod […]."869 Infolge dessen haben die Hersteller von Computerspielen indizierungsgefährdete Spiele für den deutschen Markt oftmals zensiert oder gar nicht 863 864 865 866 867 868 869 BVerfGE 39, 197 (201); vgl. BVerwG, Urt. v. 07.12.1966, Az.: V C 47.64; SEIM 1998, S.73 und BUCHLOH 2002, S.88. Bzgl. einer detaillierten Kritik des Werbeverbots insg. und insb. auch der Verfassungswidrigkeit des Verbots im Rahmen öffentlicher Filmveranstaltungen s. DEGENHART 2008, S.67-73. Vgl. BRAUNBART 2001c, S.232 und FROMM 2002, S.90. Bzgl. der (rechtlichen) Situation im Falle von sog. "Fansites" s. die entsprechende Expertise von Thorsten FELDMANN in WIESNER 2003, S.5. Vgl. KLIX 2012, S.1. Diesbzgl. detaillierter auch STUMPF 2009, S.239-245. Vgl. BUCHLOH 2002, S.88f. und STATH 2006, S.186. Vgl. VOREGGER 2000; WIEMKEN 2001b, S.61; SCHULZ/BRUNN/DREYER et al. 2007, S.133. STATH 2006, S.181; Vgl. BÜTTNER/GOTTBERG 1995, S.12; SEIM 1998, S.49; SEIM 2000, S.2ff.; VOLLBRECHT 2001, S.42f.; STATH 2006, S.181f. und SCHULZ/DREYER 2007a, S.2. 155 erst in Deutschland veröffentlicht, seit Inkrafttreten des JuSchG generiert aber eine erfolgreiche Teilname am Altersfreigabeverfahren nach § 14 JuSchG einen Schutz vor Indizierungen (§ 18 Abs. 8 JuSchG), wie auch bspw. einen unvermeidbaren Verbotsirrtum ggü. § 131 StGB, so dass die Vertriebe aus Gründen der Planungssicherheit am Verfahren teilnehmen müssen, selbst gem. dem Fall, dass sie nur Spiele für Erwachsene distribuieren wollen. Die Teilnahme an dem Verfahren wird aber auch im Lichte des § 15 Abs. 2 JuSchG notwendig, gem. dem auch schwer jugendgefährdende Medien denselben Beschränkungen unterliegen, wie expl. indizierte Medien, "ohne dass es einer Aufnahme in die Liste und einer Bekanntmachung bedarf […]." Infolge der Opazität des Tatbestands der schweren Jugendgefährdung, die den Behörden prinzipiell eine willkürliche Handhabung desselben ermöglicht, können solchen Händlern, die bereits nicht gekennzeichnete Spiele (ohne privatrechtliche Absicherung) nicht wie indizierte Medien behandeln, u.U. fahrlässige oder gar mit Eventualvorsatz begangene (nach § 27 JuSchG strafbare) Verstöße gegen die Beschränkungen oder ggf. gar gegen § 131 StGB vorgeworfen werden! Der Handel benötigt insofern aus offensichtlichen Gründen eine Absicherung vor einer Strafbarkeit, wie sie für Spiele eine Kennzeichnung im Rahmen des Altersfreigabeverfahrens darstellt und verzichtet i.d.R. auf den Verkauf nicht gekennzeichneter Spiele.870 Ein Problem ist aber der Umstand, dass für eine solche Kennzeichnung bereits oftmals (bereits vor der Teilnahme an dem Verfahren) Zensuren selbst von Spielen, die nur Erwachsenen zugänglich gemacht werden sollen, notwendig werden (s.u).871 Kurioserweise stellen aber SCHULZ/BRUNN/DREYER et al. 2007 den Umstand als positiv i.S.d. Jugendmedienschutzes dar, dass dank der Indizierungsmaßnahme selbst Spiele für Erwachsene in Deutschland entweder nicht oder nur zensiert veröffentlicht werden:872 Die Autoren argumentieren, dass die Maßnahme "Anreize" für die Wirtschaft schaffen solle, "an den Selbstkontrollverfahren teilzunehmen, um bei Spielen, die die Indizierungskriterien nicht erfüllen, eine Kennzeichnung schon vor dem in Verkehrbringen des Trägermediums zu erreichen."873 Die Argumentation ignoriert aber, dass u.a. für Spielprogramme seit Inkrafttreten des JuSchG bereits ein generelles Jugendverbot mit Erlaubnisvorbehalt existiert (§ 12 Abs. 1 JuSchG), so dass die Wirtschaft an den Selbstkontrollverfahren teilnehmen muss, um Kinderund Jugendmedien zielgruppenorientiert publizieren zu können. Nach § 12 Abs. 3 Nr. 1 JuSchG dürfen u.a. Bildträger, "die nicht […] von der obersten Landesbehörde […] gekennzeichnet sind, […] einem Kind oder einer jugendlichen Person nicht angeboten, überlassen oder sonst zugänglich gemacht werden […]." D.h. dass nicht gekennzeichnete Spiele, die als einzige überhaupt noch indizierungsfähig sind, bereits ausschl. Erwachsenen zugänglich gemacht werden dürfen; eine Indizierung erfasst also ausschl. Erwachsenenspiele! Die Argumentation ignoriert i.d.S., dass es kein (jugendschutzrechtlich) legitimer Zweck sein kann, die Wirtschaft vor dem Inverkehrbringen eines Erwachsenenmediums zu der Teilnahme an einem Freigabeverfahren zu nötigen. Letztlich dürfte die Indizierungsmaßnahme faktische Zensur darstellen, die eine Selbstzensur der potenziell Betroffenen evoziert. Dass das Straf- und Existenzrisiko für die Betroffenen natürlich Selbstzensurzwänge hervorruft, dürfte nicht nur offensichtlich sein, sondern demonstrierte bereits die Erfahrungen mit dem SchSchmG,874 so dass dem Gesetzgeber vorgeworfen werden kann, dass er eine solche Wirkung der Indizierungsmaßnahme nicht nur sehenden Auges in Kauf nahm, sondern gar intendierte.875 870 871 872 873 874 875 Vgl. SCHULZ/DREYER 2007a, S.2. Vgl. WIEMKEN 2001b, S.61 und HÖYNCK/PFEIFFER 2007, S.92. Vgl. SCHULZ/BRUNN/DREYER et al. 2007, S.133. SCHULZ/BRUNN/DREYER et al. 2007, S.132. Vgl. NIKLES 2002, S.122. Bereits Emil KEMMER, Hauptredner der CDU/CSU-Fraktion in der dritten Lesung des GjS, wollte durch das Druckmittel der Indizierung eindeutig eine Selbstzensur der Betroffenen erzwingen (vgl. BUCHLOH 2002, S.97f.). Die BPjM selbst demonstriert diesbzgl. kaum Selbstreflexion. Im Rahmen einer Selbstdarstellung der eigenen Geschichte bramarbasiert sie z.B.: "Seit Aufnahme ihrer Prüftätigkeit hat die BPjM Medien aus den unterschiedlichsten Gründen indiziert. Obwohl sich die Antragspraxis im Laufe der Jahre mehr und mehr auf Prüfobjekte im Gewaltbereich verlagert hat, ist die BPjM auch in den 50er- und 60er Jahren schon gegen Gewaltmedien tätig geworden. So wurden bereits in den ersten Jahren verrohend wirkende Comics und Schriften indiziert: Das erste Gewalt-Comic, das in die Liste der jugendgefährdenden Schriften aufgenommen 156 Die skizzierten, jugendmedienschutzrechtlich nicht legitimierbaren Wirkungen der Maßnahme sind nicht lediglich ungewollte Nebenwirkungen derselben: Nach HÖYNCK/PFEIFFER 2007 ist die "Zerstörung von Marktchancen" der "Haupteffekt"876 der Maßnahme und nach Christian PFEIFFER stellt die Indizierung insofern eine "Erziehungsmaßnahme des Staates gegenüber der Industrie"877 dar. Das indizierte und auch bereits nur potenziell (vermeintlich) jugendgefährdende Medien entweder nicht oder nur zensiert veröffentlicht werden, resp. die generelle Unrentabilität jugendgefährdender Medien wurde tatsächlich bereits auch als offizielles Ziel der Maßnahme dargestellt.878 Dass ein solches Ziel den vermeintlichen Anspruch, dass indizierte Medien Erwachsenen jederzeit zugänglich sein sollen, konterkariert, dürfte offensichtlich sein. Die Indizierung verstößt (als Maßnahme erzwungener Kulturhygiene) auch i.d.S. gegen den Verhältnismäßgkeitsgrundsatz im engeren Sinne, bzw. gegen das Übermaßverbot. 12. Die Alterskennzeichnung von Computerspielen Das System der Altersfreigaben für Computerspiele hat seinen Ursprung in der preußischen Filmzensur des deutschen Kaiserreiches: Nach Paragraph 10 II 17 des Allgemeinen Landrechts für die preußischen Staaten war u.a. die "Erhaltung der öffentlichen Ruhe, Sicherheit und Ordnung" das Amt der Polizei. Ortspolizisten frequentierten i.d.S. regelmäßig öffentliche Filmveranstaltungen und konnten die öffentlichen Ruhe, Sicherheit und Ordnung vermeintlich gefährdende Filme zensieren oder gar verbieten. Bereits die Polizeiverordnung des Polizeipräsidenten zu Berlin betreffend die Kinematographenzensur und Dauer der Vorstellungen v. 05.05.1906 installierte in Berlin erstmalig ein Verbot mit Erlaubnisvorbehalt für Filme in Deutschland.879 Die Verordnung war der Ausgangspunkt für die Verfügung vom 16. Dezember 1910 betr. die Ausübung der Zensur gegenüber öffentlichen kinematographischen Schaustellungen des preußischen Innenministers Nikolaus M. L. J. von DALLWITZ, die die ordnungspolizeiliche Vorzensur in ganz Preußen installierte. Die restlichen der 19 Reichsglieder installierten ähnliche Zensursysteme. Die Anwesenheit bei öffentlichen Filmveranstaltungen durfte Kindern und Jugendlichen z.T. bereits damals nur gestattet werden, wenn die Filme zur Vorführung für ihre Altersstufe freigegeben worden waren,880 aber natürlich war nach wie vor auch die generelle Erwachsenenzensur oder gar das absolute Verbot eines Films prinzipiell zulässig. Nach dem 1. Weltkrieg (und der zwischenzeitlichen Kontrolle der Filmzensur durch die Militärbehörden) verkündete der Rat der Volksbeauftragten infolge der Novemberrevolution am 12.11.1918 mit Gesetzeskraft: "Eine Zensur findet nicht statt." Filmzensuren waren aber regional, wie lokal nach wie vor bspw. über Verordnungen möglich, so dass ein erster Entwurf einer Verfassung des Deutschen Reichs vom 17.02.1919 nach § 32 Abs. 2 desselben noch 876 877 878 879 880 wurde, war ein illustriertes Westernheftchen, in dem Grausamkeiten, Verbrechen und Gewalttaten zumindest nach damaliger Ansicht derart in den Mittelpunkt gerückt wurden, dass die Lektüre auf Jugendliche verrohend wirken konnte." (BPjM 2010b) Eines der ohne jede Ironie als "Gewalt-Comic" diskreditierten "Westernheftchen" war der zwölfte Bd. des Comics DER KLEINE SHERIFF, den die BPjS als erstes von drei Prüfobjekten (ausnahmslos Comics) überhaupt am 09.06.1954 indizierte, die Indizierungsgründe waren nach GUNKEL 2009b abenteuerlich: "CDU-Bundesinnenminister Gerhard Schröder empfand die Abenteuer des Comic-Helden der fünfziger Jahre als 'nervenaufpeitschend und verrohend'. Die Zeichnungen seien das 'Ergebnis einer entarteten Phantasie', sie könnten Jugendliche in eine 'unwirkliche Lügenwelt' versetzen und 'förderten die geistige Trägheit'. [...] Die Sittenwächter bemängelten die 'abstoßenden Physiognomien der Banditen' und waren entsetzt über den 'grauenhaften' Tod eines Gauners, der 'nach einem aufregenden Kampf mit Raubvögeln in eine Felsenschlucht stürzt'. Die Prüfer störten sich auch an der schnoddrige, rüde Sprache: Sätze wie 'Ihr Schakale', 'verdammte Mörder' oder 'Du Lümmel' waren nicht akzeptabel." Die in der Literatur oftmals als humoreske Kuriositäten dargestellten Indizierungsexzesse waren für die Betroffenen allerdings nicht besonders komisch, sondern zwangen die Betroffenen zu umfangreichen Selbstzensuren, um ein Vertriebsverbot an den für den Handel mit Comics essentiellen Kiosken zu vermeiden (vgl. SEIM 2004). Die BPjS war i.d.S. Teil einer eines moralpanischen Trends ggü. Comics, der auch die USA erfasst hatte und für den WERTHAM 1954 ein Paradebeispiel darstellte. MERTEN 1999 resümierte den Inhalts des Pamphlets: "Die Rezeption von Comics fördere Libertinage, eine verstellte Wirklichkeit, Homosexualität und Gewaltanwendung […]. Comics seien wegen der offen dargestellten Gewaltanwendung letztlich auch für die großen Rassenunruhen in New York Anfang der 50er Jahre verantwortlich zu machen […]. Die wissenschaftliche Prüfung der Untersuchungsergebnisse von Wertham fiel allerdings für Wertham verheerend aus: Vor allem wurde moniert, dass die gesamte Datenerhebung wissenschaftlichen Standards in keiner Weise gerecht werde." (S.166) Bzgl. einer Kritik s. auch LOWERY/DEFLEUR 1983, S.261-265 HÖYNCK/PFEIFFER 2007, S.92 und vgl. SPRUNG 2009, S.2. Zitiert in: BT-Wortprotokoll Nr. 16/10 d. UA Neue Medien, S.21. Vgl. STEFEN/ADAMS 1988a, S.269 und BT-Drs. 13/11001, S.54. Vgl. LOIPERDINGER 2004, S.526. Vgl. SCHORB 1994, S.151. 157 "insbesondere auch eine Vorprüfung von […] Lichtspielvorführungen" verbieten wollte.881 Im Lichte allg. Ressentiments ggü. den Filmemachern, wie auch den Rezipienten, formulierte Art. 118 WRV vom 11.08.1919 aber letztlich das Gegenteil: "Eine Zensur findet nicht statt, doch können für Lichtspiele durch Gesetz abweichende Bestimmungen getroffen werden."882 Eine davon abweichende Regelung war das RLG vom 12.05.1920,883 das einerseits nach § 1 ein allg. Verbot mit Erlaubnisvorbehalt für öffentliche Filmveranstaltungen installierte, andererseits bedurften nach § 3 alle Filme, zu deren Vorführung minderjährige Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren zugelassen werden sollten, einer besonderen Zulassung (Abs. 1); u.a. durften Filme, die "schädliche Einwirkung auf die sittliche, geistige oder gesundheitliche Entwicklung oder eine Überreizung der Phantasie der Jugendlichen" zeitigen konnten, nicht i.d.S. zugelassen werden (Abs. 2) und auch Kinder unter sechs Jahren durften zu Filmvorführung generell nicht zugelassen werden (Abs. 4). Über die Zulassung eines Films entschieden nach § 8 RLG drei dem Reichsinnenminister unterstehende Behörden: Je eine Prüfstelle in Berlin und München, wie auch eine Oberprüfstelle für Revisionen in Berlin (Abs. 2).884 Nach heutiger (wie auch bereits nach zeitgenössischer) Auffassung diente das Gesetz insb. der politischen Zensur,885 auch unter dem Deckmantel eines angeblichen Jugendmedienschutzes. Das nationalsozialistische RLG vom 16.02.1934 zentralisierte zwar die Filmprüfung in Berlin und präzisierte auch die Zulassungsvoraussetzungen für eine eine Jugendfreigabe, das Gesetz wurde aber infolge der Gleichschaltung der Filmindustrie durch die RKK praktisch irrelevant.886 Nach dem 2. Weltkrieg wurde das RLG durch das Kontrollratsgesetz Nr. 60 vom 19.12.1947 aufgehoben.887 Nach der Gründung der Bundesrepublik propagierten die CSU-Fraktion und Franz J. STRAUß’ (CSU) Bundestagsausschuß für Fragen der Jugendfürsorge am 10.11.1949 im Rahmen der 24. Sitzung des Deutschen Bundestages nicht nur ein neues SchSchmG, sondern präsentierten auch einen an den Filmzensurgesetzen diverser deutscher Reichsglieder vor dem 1. Weltkrieg und den Jugendschutzverordnungen des stellvertretenden militärischen Generalkommandos während desselben, wie auch insb. am RLG orientierten ersten Entwurf eines Gesetzes zum Schutze der Jugend in der Öffentlichkeit (JÖSchG);888 der geänderte Entwurf wurde letztlich Gesetz, am 04.12.1951 verkündet und trat bereits am 04.01.1952 in Kraft.889 Nach § 6 des Gesetzes durften gem. Abs. 1 zu öffentlichen Filmveranstaltungen nur noch Kinder bis zu 10 Jahren zugelassen werden, insofern die Filme als jugendfördernd anerkannt waren (Nr. 1), Kinder und Jugendliche im Alter von 10 bis 16 Jahren durften zu Filmveranstaltungen auch zugelassen werden, insofern Filme als geeignet zur Vorführung vor Jugendlichen anerkannt waren (Nr. 2). Nach Abs. 2 hatten ausschl. die Obersten Landesjugendbehörden (OLJB) das Recht zur Anerkennung für ihren jeweiligen Bereich. Die OLJB hätten i.d.S. einerseits binnen Monatsfrist bspw. eigene Filmprüfstellen installieren müssen, andererseits hätten unterschiedliche Anerkennungen zwischen den Bundesländern nicht nur die Effizienz, sondern auch die Plausibilität des Jugendmedienschutzes unterminiert. Im Lichte dessen, wie auch aus Gründen der Kostenersparnis, erließen die einzelnen Bundesländer provisorische Verwaltungsvorschriften, so dass bis zum 31. 03.1952 u.a. alle Filme als zugelassen galten, die die bereits 1949 gegründete Freiwillige Selbstkontrolle der Filmwirtschaft (FSK) entsprechend freigegeben hatte.890 Im Lichte dessen, dass die OLJB das Recht auf Anerkennung von Filmen aber einer gemeinsamen Stelle übertragen wollten, integrierte die FSK nicht nur Vertreter der OLJB in die Prüfausschüsse, sondern hatte den OLJB auch ein Recht auf Appellation eingeräumt, so dass eine gemeinsame Stelle obsolet 881 882 883 884 885 886 887 888 889 890 Vgl. PRUYS 1997, S.66. Vgl. LOIPERDINGER 2004, S.527f. und NESSEL 2004, S.105-108. Vgl. DICKFELDT 1979, S.31-34; KOLFHAUS 1994, S.142f. und GOTTBERG 1999, S.34f.. Bzgl. einer detaillierteren Darstellung des RLG s. auch PLACHTA 2006, S.154-159. Vgl. LOIPERDINGER 2004, S.530. Für eine detaillierte Darstellung der Filmzensur im 3. Reich s. LOIPERDINGER 2004, S.536f.. Vgl. GOTTBERG 1999, S.36; PLACHTA 2006, S.184-187; UHLENBROCK 2006, S.14 und KASPAREK 2007, S.24. Vgl. BT- Drs. I/180; DICKFELDT 1979, S.131f.; KIENZLE 1980, S.23 und LIESCHING 2002, S.62. Vgl. BT-Drs. I/2389; DICKFELDT 1979, S.134; LIEVEN 1994, S.167 und UHLENBROCK 2006, S.8. Vgl. GOTTBERG 2002, S.33f. und KASPAREK 2007, S.37. Bzgl. einer detaillierten Geschichte der FSK s. GOTTBERG 1999, S.36f.; BUCHLOH 2002, S.191f.; LOIPERDINGER 2004, S.538f.; UHLENBROCK 2006, S.13-17 und KASPAREK 2007, S.24ff.. 158 wurde; seitdem ist die FSK aber auch keine Organisation der freiwilligen Selbstkontrolle mehr.891 Das erste Gesetz zur Änderung des Gesetzes zum Schutze der Jugend in der Öffentlichkeit vom 27.07.1957 änderte den § 6 JÖSchG maßgeblich: Seitdem dürfen Kinder und Jugendliche zu öffentlichen Filmveranstaltungen nur noch zugelassen werden, wenn die Filme von der OLJB für ihre Altersstufe freigegeben worden sind (Abs. 2); Filme konnten nach Abs. 3 ab 6, ab 12, ab 16 oder ab 18 Jahren freigegeben werden (Abs. 4). Filme, die vermeintlich geeignet waren, "die Erziehung von Kindern und Jugendlichen zur leiblichen, seelischen oder gesellschaftlichen Tüchtigkeit zu beeinträchtigen," (Abs. 3) durften nicht zur Vorführung vor diesen freigegeben werden.892 Seit Inkrafttreten des JÖSchNG am 25.02.1985 durften nach § 7 Abs. 1 JÖSchG auch bespielte Videokassetten, Bildplatten und vergleichbare Bildträger einem Kind oder Jugendlichen in der Öffentlichkeit nur noch zugänglich gemacht werden, "wenn die Programme von der Obersten Landesbehörde für ihre Altersstufe freigegeben und gekennzeichnet worden sind." Die OLJB konnten Filme aber seitdem auch als "Freigegeben ohne Altersbeschränkung" (§ 6 Abs. 3 Nr. 1 JÖSchG) kennzeichnen.893 Seitdem sind die diesbzgl. Prüfungsvoten der FSK als solche einer gutachterlichen Stelle von den OLJB mittels einer Ländervereinbarung als eigene Entscheidungen aller OLJB übernommen und die Filme von ihnen gekennzeichnet.894 Das JuSchG transferierte am 01.03.2003 letztlich das Jugendverbot mit Erlaubnisvorbehalt des JÖSchG für bespielte Videokassetten, Bildplatten und vergleichbare Bildträger auf trägermediale Computerspiele, wie bereits bereits seit 1999 diskutiert wurde.895 12.1 Das Jugendverbot mit Erlaubnisvorbehalt Nach § 12 Abs. 1 JuSchG dürfen seitdem u.a. für die Wiedergabe auf oder das Spiel an Bildschirmgeräten mit Spielen programmierte Datenträger einem Kind oder Jugendlichen in der Öffentlichkeit nur zugänglich gemacht werden, "wenn die Programme von der obersten Landesbehörde […] für ihre Altersstufe freigegeben und gekennzeichnet worden sind oder wenn es sich um Informations-, Instruktions- und Lehrprogramme handelt, die vom Anbieter mit 'Infoprogramm' oder 'Lehrprogramm' gekennzeichnet sind." Vorsätzliche, wie auch fahrlässige Verstöße gegen das Verbot können nach § 28 JuSchG als Ordnungswidrigkeit mit einer Geldbuße bis zu 50.000 Euro geahndet werden (Abs. 5), dies gilt aber weder für personensorgeberechtigte Personen, noch solche Person, die im Einverständnis mit den personensorgeberechtigten Personen handeln (Abs. 4 Satz 2). Die OLJB haben seit Inkrafttreten des JuSchG mittels einer Vereinbarung über die Kennzeichnung von mit Spielen programmierten Bildträgern nach § 14 Abs. 6 Jugendschutzgesetz ein gemeinsames Verfahren für die Freigabe und Kennzeichnung der Spielprogramme auf der Grundlage der Ergebnisse der Prüfung durch eine ehem. Organisation freiwilliger Selbstkontrolle vereinbart: Die bereits 1994 gegründete (organisatorisch an der FSK orientierte) Unterhaltungssoftware Selbstkontrolle (USK),896 die bereits seit Jahren auf freiwilligen Antrag der Rechtsinhaber die Computerspiele derselben prüfte und ggf. unverbindliche Altersempfehlungen erteilte,897 dient den OLJB seitdem für die Prüfung von Computerspielen als gutachterliche Stelle. Nach Art. 1 der Ländervereinbarung sind die Prüfungsvoten der USK mit der Unterzeichnung durch einen sog. Ständigen Vertreter der OLJB bei der USK als eigene Entscheidung aller OLJB übernommen und die Spiele von ihnen gekennzeichnet,898 insofern 891 892 893 894 895 896 897 898 Vgl. GOTTBERG 1999, S.37ff.. Vgl. DICKFELDT 1979, S.29/136f. und LIESCHING 2002, S.43. Vgl. LIEVEN 1994, S.173; PRUYS 1997, S.71 und UHLENBROCK 2006, S.17. Vgl. KASPAREK 2007, S.59-63. Bzgl. der verwaltungsrechtlichen Formalitäten s. SUFFERT 2002, S.35f.. Bzgl. einer Entwicklungsgeschichte des JÖSchG bis zu den finalen Entwürfen eines JuSchG s. NIKLES 2002, S.119ff.. Vgl. GOTTBERG 2002, S.41. Vgl. BRAUNBART 2001a, S.241; DECKER 2005, S.86f. und SPIELER 2007, S.1. Die OLJB haben nach Art. 4 der Ländervereinbarung auch die zwischen dem 01.04.1994 und dem 31.03.2003 von der USK bereits erteilten (privatrechtlichen) Altersempfehlungen als eigene Freigaben und Kennzeichnungen nach § 14 Abs. 2 Nr. 1 bis 4 JuSchG übernommen, das gilt aber einerseits nicht für die von der Bundesprüfstelle indizierten Computerspiele mit einer solchen Altersempfehlung (Abs. 1) und andererseits nicht für die von der USK erteilten Empfehlungen "Nicht geeignet unter 18 Jahren" (Abs. 2); letzteres entsprach ca. 4,1 % aller der seit 1994 geprüften Spiele (vgl. WILLMANN 2003a). Spiele- 159 einzelne OLJB für ihre Bereiche keine abweichenden Entscheidungen treffen (§ 14 Abs. 6 JuSchG); dgl. ist aber noch nie passiert. 12.2 Die Besetzung der Prüfausschüsse und das Prüfverfahren der USK Die USK operiert im Rahmen der gesetzlichen Bestimmungen auf Basis der sog. Grundsätze der USK (USK-Grs): Die Prüfausschüsse der USK sollen nach § 20 Abs. 1 USK-Grs mit Spielen programmierte Bildträger für die OLJB darauf prüfen, "ob die Voraussetzung einer Freigabe und Kennzeichnung nach § 14 JuSchG gegeben sind und welcher Altersgruppe sie zugänglich gemacht werden dürfen." Nach § 10 USK-Grs prüft die USK die Computerspiele prinzipiell nur auf Antrag der Rechteinhaber derselben (Abs. 1). Die nicht öffentlichen Prüfungen bestehen aus einer Präsentation des Prüfgegenstandes durch den Testbereich der USK für den zuständigen Prüfausschuss, wie der Beratung und Beschlussfassung des Ausschusses (Abs. 3). Die Prüfung erfolgt i.d.R. durch den sog. Regelausschuss (§ 13 USKGrs),899 dem vier Jugendschutzsachverständige, wie auch der Ständige Vertreter der OLJB als Vorsitzender angehören (§ 7 Abs. 2 USK-Grs). Nach § 8 USK-Grs sind die Prüfer nicht an Weisungen gebunden und die Beschlussfassungen vertraulich (Abs. 2), alle Ausschüsse entscheiden mit Stimmenmehrheit, Stimmenthaltungen sind unzulässig (Abs. 4). Die Jugendschutzsachverständigen sind nach § 5 Abs. 3 USK-Grs so auszuwählen sind, "dass durch ihre berufliche Erfahrung und durch ihre Ausbildung sichergestellt ist, dass ihre Altersempfehlungen auf Fachwissen und Urteilsvermögen beruhen. Sie sollen Erfahrungen im Umgang mit Kindern und Jugendlichen haben sowie über umfassende Medienkompetenz verfügen. Die Jugendschutzsachverständigen dürfen nicht bei einem Wirtschaftsunternehmen im Bereich der Computer- und Videospielindustrie beschäftigt sein." Ziel der Prüfung ist die Erstellung eines Gutachtens, das dem Ständigen Vertreter der OLJB eine konkrete Alterskennzeichnung oder Nichtkennzeichnung eines Spiels empfiehlt. Gegen eine Entscheidungen des Regelausschusses kann nach § 14 USK-Grs auf Antrag der Anbieter oder des Ständigen Vertreters der OLJB ein Berufungsverfahren stattfinden (Abs. 1); die angefochtene Entscheidung darf auf Berufung der ersteren aber nicht zum Nachteil derselben geändert werden (Abs. 5). Dem Berufungsausschuss gehören vier (nicht im Regelverfahren mit der Prüfung befasste) Jugendschutzsachverständige und der durch den Beirat ernannte Vorsitzende des Ausschusses an (§ 7 Abs. 3 USK-Grs). Seit 2006 finden erstmals durch die Anbieter beantragte Berufungsverfahren statt;900 bis Ende 2012 gab es 126 Berufungsverfahren, die Antragstellungen durch den Ständigen Vertreter der OlJB und durch die Anbieter sind aber wie die Entscheide zugunsten oder zuungunsten der Anträge relativ ausgeglichen. Gegen eine Entscheidung des Berufungsausschusses kann nach § 15 USK-Grs jede der OLJB und können (im Einvernehmen mit dem Anbieter) die in der USK beteiligten Wirtschaftsverbände eine erneute Prüfung im Rahmen des Appellationsverfahrens verlangen (Abs. 1). Dem Appellationsausschuss gehören der Vorsitzende desselben, vier durch die OLJB benannte Mitglieder und zwei (bislang nicht am Prüffall beteiligte) Jugendschutzsachverständige an (§ 7 Abs. 4 USK-Grs). Das erste Appellationsverfahren fand 2011 auf Antrag der bayerischen OLJB noch nach der a.F. der USK-Grs statt (s. Kapitel 25), seitdem fanden nach der aktuellen Fassung der Grundsätze erst drei weitere Appellationsverfahren auf Antrag der Anbieter statt (COUNTER STRIKE: GLOBAL OFFENSIVE; METAL GEAR RISING: REVENGEANCE; SPEC OPS: THE LINE), die 899 900 antiquariate aus der Zeit vor 1994 haben nach § 12 Abs. 3 JuSchG aber keine Kennzeichnung (vgl. DECKER 2005, S.88f.); i.d.S. monierte bereits Klaus-Peter GERSTENBERGER, der damalige Leiter der USK: "Nehmen Sie allein den ganzen Bereich des 'Antiquariates'. Hätten wir in Deutschland beim Buch eine vergleichbare Kennzeichnungspflicht, dann wären ab 1.4.2003 alle Antiquariate in der Situation der Sexshops. […] Den guten alten PAC-MAN wird es nur noch für Erwachsene geben. Der Spiele-Flohmarkt ist tot. Versandhandel mit historischen Originalen findet nicht mehr statt. Hier wird das Medium als historisches Kulturgut schwer getroffen. Und Arbeitsplätze werden vernichtet." (zitiert in: WILLMANN 2003a) Die Prüfung ist in speziellen Fällen auch im Rahmen besonderer Prüfverfahren nach § 16 USK-Grs möglich, die – mit Ausnahme des Verfahrens zur Anbieterkennzeichnung i.S.d. § 14 Abs. 7 JuSchG, dass der Test- und Fachbereich der USK durchführt (Abs. 5) – der Ständige Vertreter der OLJB (mit Unterstützung des Testbereichs) durchführt. SCHULZ/BRUNN/DREYER et al. 2007, S.124. 160 aber alle zugunsten derselben entschieden wurden (Stand: 12.03.2013). Alternativ können die Anbieter auch gegen die Entscheidung der OLJB klagen,901 den auf den vermeintlich sachverständigen Gutachten der USK basierenden Entscheidungen der OLJB wird aber (wie einer Indizierungsentscheidung) vor Gericht wahrscheinlich Entscheidungsvorrang einzuräumen sein, so dass nur auf die inhaltlichen Erwägungen der USK abstellende Klagen keine gute Aussicht auf Erfolg haben dürften. Nicht überraschend wurde bislang noch gegen keine Kennzeichnungsoder Nichtkennzeichnungsentscheidungen der OLJB geklagt. 12.3 Die Alterskennzeichnungen Das JuSchG selbst formuliert nur eine Bedingung für die Zuordnung von Computerspielen in die gesetzlichen Altersgruppen: Spielprogramme, "die geeignet sind, die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen oder ihre Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit zu beeinträchtigen, dürfen nicht für ihre Altersstufe freigegeben werden." Aber das JuSchG definiert eine solche Jugendbeeinträchtigung nicht, so dass die OLJB, resp. die USK letztlich einen diesbzgl. Ermessensspielraum haben. Nach FROMME/ MEDER 2000 ist die Altersfreigabe eine "Erweiterung und altersmäßige Differenzierung" der Indizierung, die insb. einzuschätzen versucht, "wie viel […] Gewalt in welcher Form (realistisch oder fiktiv) welcher Alters- und Entwicklungsstufe normalerweise schon zugemutet werden kann. Weitergehende pädagogische Beurteilungskriterien spielen bei diesen Verfahren letztlich keine Rolle."902 Nach § 19 Abs. 2 Nr. 3 USK-Grs sind i.d.S. solche Spieleinhalte jugendbeeinträchtigend, "welche die Nerven überreizen, übermäßige Belastungen hervorrufen, die Phantasie über Gebühr erregen, die charakterliche, sittliche (einschließlich religiöse) oder geistige Erziehung hemmen, stören oder schädigen [...]."903 Die USK-Grs orientieren sich i.d.S. (und kurioserweise erst seit der letzten Novellierung derselben vom 01.02.2011) an § 18 Abs. 2 Nr. 3 der Grundsätze der Freiwilligen Selbstkontrolle der Filmwirtschaft (FSK-Grs), die sich selbst nach wie vor an den (durch die Kinoreformbewegung inspirierten) kulturhygienischen Versagensgründen des § 3 Abs. 2 RLG vom 12.05.1920 orientieren.904 Diesbzgl. monierte bereits HAUSMANNINGER 2002c: "Sie können […] schwerlich noch als ausreichend sachhaltig und geeignet gelten, um eine zutreffende Bestimmung der Alterseignung […] zu ermöglichen."905 Ungeachtet dessen, insofern das die einzige Konkretisierung einer Jugendbeeinträchtigung darstellt, muss derselben ggü. eine erhebliche Unschärfe konstatiert werden. Der § 11 der nicht mehr gültigen Prüfordnung der USK (USK-PrO) präzisierte noch die Anforderungen an die Empfehlung für eine Altersstufe (die aber weiterhin als implizite Anforderungen in der Spruchpraxis der Organisation bestand haben): (2) (3) (4) (5) 901 902 903 904 905 "Freigegeben ohne Altersbeschränkung" im Sinne des § 14 Abs. 1 Nr. 1 JuSchG bedeutet: Spiele mit dieser Altersfreigabe sind aus der Sicht des Jugendschutzes für Kinder jeden Alters unbedenklich. Sie sind aber nicht zwangsläufig schon für jüngere Kinder verständlich oder gar komplex beherrschbar. "Freigegeben ab 6 Jahren" im Sinne des § 14 Abs. 1 Nr. 2 JuSchG bedeutet: Die Spiele wirken abstrakt-symbolisch, comicartig oder in anderer Weise unwirklich. Spielangebote versetzen den Spieler möglicherweise in etwas unheimliche Spielräume oder scheinen durch Aufgabenstellung oder Geschwindigkeit zu belastend für Kinder unter sechs Jahren. "Freigegeben ab 12 Jahren" im Sinne des § 14 Abs. 1 Nr. 3 JuSchG bedeutet: Aggressiv konkurrenzfördernde oder kampfbetonte Grundmuster in der Lösung von Spielaufgaben herrschen vor. Zum Beispiel setzen die Spielkonzepte auf Technikfaszination (historische Militärgerätschaft oder Science-Fiction-Welt) oder auch auf die Motivation, tapfere Rollen in komplexen Sagen und Mythenwelten zu spielen. Die Gewalt ist nicht in alltagsrelevante Szenarien eingebunden. "Freigegeben ab 16 Jahren" im Sinne des § 14 Abs. 1 Nr. 4 JuSchG bedeutet: Rasante bewaffnete Action, mitunter gegen menschenähnliche Spielfiguren, sowie Spielkonzepte, die fiktive oder historische kriegerische Auseinandersetzungen atmosphärisch nachvollziehen lassen. Die Inhalte lassen eine bestimmte Reife des sozialen Urteilsvermögens und die Fähigkeit zur kritischen Bzgl. der Details s. SUFFERT 2002, S.47. FROMME/MEDER 2000, S.235. Bzgl. des Versuchs einer Präzisierung der einzelnen Schutzgüter s. STATH 2006, S.62ff.. Vgl. DICKFELDT 1979, S.137; LIESCHING 2002, S.62f. und LOIPERDINGER 2004, S.529/540. HAUSMANNINGER 2002c, S.366. 161 (6) Reflektion der interaktiven Beteiligung am Spiel erforderlich erscheinen. "Keine Jugendfreigabe" im Sinne des § 14 Abs. 1 Nr. 5 JuSchG bedeutet: Der Inhalt ist geeignet, die Entwicklung oder die Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit von Kindern und Jugendlichen zu beeinträchtigen ohne diese zu gefährden. Ungeachtet aller generellen Kritik an den Alterskohorten des § 14 Abs. 2 JuSchG906 stellt auch das keine praktikable Konkretisierung einer Eignung zur Jugendbeeinträchtigung dar, vielmehr ist den Prüfausschüssen selbst im Einzelfall überlassen, wie sie eine solche Eignung einschätzen. Insofern wird den Ausschüssen letztlich eine mehr oder weniger willkürliche Handhabung der Zuordnung der Spiele in die Altersgruppen ermöglicht. Daran ändert auch hier der Orientierungspunkt nichts, dass nach § 19 Abs. 2 Nr. 4 USK-Grs im Rahmen der Einschätzung nicht nur auf die Plattitüde eines durchschnittlichen, sondern auch auf die eines (nicht konkretisierten) gefährdungsgeneigten Minderjährigen abzustellen sei. Das einzige Korrektiv war nach § 7 Abs. 2 USK-PrO das nach wie vor gültige oberste Prinzip der Beurteilung von Computerspielen unter Gesichtspunkten des Jugendschutzes, die ganzheitliche Betrachtung derselben: "Dies bedeutet, dass weder die Spielidee noch ihre Umsetzung a priori den Schwerpunkt der Beurteilung insbesondere im Hinblick auf Wirkungsvermutungen darstellen. Vielmehr erfordert die Natur des Mediums eine Beurteilung des Prüfgegenstandes in seiner Gesamtheit." Das wird aber im Wesentlichen willkürliche Einigungen innerhalb der Ausschüsse nicht verhindern können. Im Lichte dessen, dass die Gutachten der USK im Wesentlichen auch nur Ergebnisprotokolle sind, die die Entscheidungsprozesse innerhalb der Prüfausschüsse kaum oder gar nicht refklektieren, dürften die Prüfvoten für Außenstehende oftmals nicht besonders nachvollziehbar sein. Nicht überraschend monieren bspw. auch Eltern (die im Handel ja nicht mit den Gutachten, sondern nur den Resultaten derselben in Form von Prüfsiegeln konfontiert werden) regelmäßig die Opazität der Altersfreigaben.907 12.4 Die Verweigerung der Alterskennzeichnung Die Prüfausschüsse entscheiden aber nicht nur über eine Zuordnung der Spiele in die Altersgruppen des § 14 Abs. 2 JuSchG, sondern auch über eine evtl. Nichtkennzeichnung derselben: Die OLJB dürfen Spiele, die nach Einschätzung derselben, resp. der der USK einen jugend906 907 Im Rahmen der Neuregelung des Jugendmedienschutzes durch das JuSchG wurden die durch das JÖSchG etablierten Alterskohorten u.a. aus Gründen der Akzeptanz und des Bekanntheitsgrades derselben nicht geändert (vgl. SCHUSTER 2003, S.5). Tatsächlich monieren aber Eltern nach wie vor regelmäßig, dass die gesetzlichen Alterskohorten zu undifferenziert sind (vgl. THEUNERT/GEBEL/BRÜGGEN et al. 2007, S.50/115f..). Insofern wird oftmals für die Einführung weiterer Altersgruppen (z.B. ab 10 Jahren u./o. ab 14 Jahren) plädiert (vgl. SEIM 1997, S.380 und STEINLECHNER 2008). Tatsächlich ist nach SCHULZ/BRUNN/DREYER et al. 2007 die Frage, "ob die gesetzlich vorgegebenen Alterskohorten 0-6, 6-12 und 12-16 sowie 16-18 sachgerecht sind, [...] sicherlich so alt wie die gesetzliche Vorgabe selbst. [...] Die Anknüpfung an Altersstufen hat nicht nur mit dem Problem zu kämpfen, dass bestimmt werden muss, welches Kompetenzniveau für die betreffende Altersstufe zugrunde gelegt wird. Dazu kommt der Befund, dass die Annahme, dass bei einem Jugendlichen einer bestimmten Altersstufe eine bestimmte Kompetenz vorhanden sein wird, zunehmend fragwürdig ist. Die psychosoziale und kognitive Entwicklung erscheint heterogen, die Varianz so groß, dass es immer schwieriger wird, sich an dem Durchschnitt einer bestimmten Altersgruppe zu orientieren. Dazu kommt, dass die Alterssprünge relativ groß sind, das betrifft insbesondere die Spanne von 6-12 und von 12-16. [...] Auch dass die Medienkompetenzen eines 7- und eines 11-Jährigen erheblich auseinander fallen, liegt auf der Hand. Dies hat Akzeptanzprobleme zur Folge, wenn sich die Beurteilung sachgerechterweise am unteren Rand einer Kohorte ausrichtet, mit der Folge, dass der 11-Jährige damit leben muss, dass für ihn nur Spiele freigegeben sind, die auch angesichts der kognitiven und emotionalen Fähigkeiten eines 6-Jährigen keine Entwicklungsbeeinträchtigung befürchten lassen." (S.108) Dennoch wollen die Autoren entwicklungspsychologische "Belege" für die Angemessenheit der gesetzlichen Alterkohorten gefunden haben, die aber kaum verfangen; die besonders problematische Kohorte von 16 bis 18 Jahren rechtfertige sich bspw. unter folgendem Gesichtspunkt: "Aus den Befunden zu den Auswirkungen von gewaltorientierten und erst ab 18 (oder gar nicht) freigegebenen Computerspielen bei Erwachsenen ist zu folgern, dass diese Spiele zu Recht möglichst nicht von Jugendlichen gespielt werden sollten." (S.109) Entwicklungspsychologisch unterscheiden sich 16- und 18-jährige aber kaum bis gar nicht (vgl. AUFENANGER 1999, S.6 und GOTTBERG 2000b, S.35), i.d.S. wird bereits seit Jahrzehnten für eine Änderung der Altershöchstgrenze von 18 auf 16 Jahre plädiert (vgl. DICKFELDT 1979, S.217). Tatsächlich ist im Bereich der Filmfreigaben in Europa die Altershöchstgrenze i.d.R. bereits 16 Jahre. Auch ungeachtet dessen bezweifelt z.B. UHLENBROCK 2006, dass die gesetzlichen Kohorten entwicklungspsychologisch legitimierbar sind (S.52) und plädiert außerdem für eine Differenzierung in Kinder- und Jugendschutz; einzig Kinder bis max. 14 Jahren bedürften noch verpflichtender Altersfreigaben, aber ab 14 jahren sollten die Freigaben nur noch empfehlend sein (S.58-84); dgl. auch MIKOS 2002, S.69 und HILSE 2001, der Negativbegründungen per se zur Disposition stellt. Es wird inzwischen von verschiedenen Seiten empfohlen, auf Negativbegründungen zu verzichten; es sollte nach HILSE 2001 vielmehr thematisiert werden, "ob im Zeitalter der Digitalisierung die starren Altersangaben überhaupt noch angemessen sind oder durch Empfehlungen ergänzt bzw. ersetzt werden sollten." (S.8) Ein Vorbild wären i.d.S. die Positivprädikatisierungen von Spielen, wie sie die österreichische Bundesstelle für die Positivprädikatisierung von Computer- und Konsolenspielen erteilt. Vgl. THEUNERT/GEBEL/BRÜGGEN et al. 2007, S.53f./113. 162 gefährdenden Inhalt haben, wie natürlich auch bereits formell indizierte Spiele und mit solchen ganz oder im Wesentlichen inhaltsgleiche Spiele nicht kennzeichnen (§ 14 Abs. 3 und 4 JuSchG). Sollte aber bereits eine entsprechende Nichtindizierungsentscheidung der BPjM existieren oder sollte die Behörde ein Spiel nach der Verweigerung der Kennzeichnung expl. nicht indizieren, müssen die OLJB das Spiel im Rahmen eines Altersfreigabeverfahrens kennzeichnen. Die Nichtkennzeichnung indizierungswürdiger Spiele ist ungeachtet dessen bereits aus rechtssystematischen Gründen geboten: Spielprogramme, die von den OLJB gekennzeichnet worden sind, können nämlich nicht mehr indiziert werden (§ 18 Abs. 8 Satz 1 JuSchG). Das Prozedere soll insg. Doppelprüfungen derselben Spiele durch die USK einerseits und durch die BPjM andererseits verhindern,908 die aufgrund der mangelnden Bestimmtheit einer Jugendgefährdung zu unterschiedlichen (fast ausschl. eine Frage der subjektiven Bewertung der Umstände durch die jeweils Zuständigen darstellenden) Einschätzungen des Vorliegens derselben führen und insofern der Kohärenz (und i.d.S. der Plausibilität) des Jugendmedienschutzes schaden könnten. Infolge dessen umfasst das Prüfverfahren der USK immer auch eine Überprüfung einer evtl. Eignung zur Jugendgefährdung, wie auch einer (wesentlichen) Inhaltsgleichheit eines Spiels mit einem bereits indizierten Spiel; dgl. umfasst aber natürlich auch die Überprüfung des Vorliegens evtl. Nichtindizierungsgründe (§ 19 Abs. 3 und 4 USK-Grs). Zwischen 2003 und 2011 verweigerten die OLJB jährlich in jeweils ca. 1,22 % der durchschnittlich ca. 2.563 Fälle die Kennzeichnung. Letztlich ist im Lichte der bereits thematisierten Unbestimmtheit des Tatbestands der Jugendgefährdung aber auch eine Einigung der Prüfer der USK auf eine Nichtkennzeichnung mehr oder weniger immer willkürlich, insb. stellt sich die Frage nach den konkreten Unterschieden zwischen jugendbeeinträchtigenden Spielen ab 16 und solchen ab 18 Jahren, wie auch zwischen solchen nur jugendbeeinträchtigenden und bereits vermeintlich jugendgefährdenden Spielen. Diese auslegungsbedürftige Grauzone macht ein Prüfverfahren für die Rechteinhaber immer zu einem Glücksspiel. 12.5 Zweifelsfälle nach § 14 Abs. 4 Satz 3 JuSchG Die mangelnden Konturen einer Jugendbeeinträchtigung einerseits und einer Jugendgefährdung andererseits können innerhalb der Prüfausschüsse natürlich Uneinigkeit, resp. Zweifel hervorrufen, ob ein Medieninhalt nur jugendbeinträchtigend oder u.U. bereits jugendgefährdend ist, so dass die Ausschüsse nach § 10 USK-Grs in einem solchen sog. Zweifelsfall i.S.v. § 14 Abs. 4 Satz 3 JuSchG mit der notwendigen Stimmenmehrheit empfehlen können, diesbzgl. eine gutachterliche Stellungnahme der BPjM einzuholen (Abs. 6 Nr. 7); ggf. wird der Ständige Vertreter der OLJB mit dem Einverständnis des Antragstellers eine entsprechende Stellungnahme der BPjM einholen (Abs. 10). Auch im Rahmen des nur durch den Ständigen Vertreter der OLJB durchgeführten besonderen Verfahrens zur Feststellung einer evtl. Inhaltsgleichheit eines Prüfgegenstandes mit einem bereits indizierten Medien kann derselbe nach erfolgter vorheriger Zustimmung des Antragstellers eine solche Stellungnahme der BPjM einholen (§ 16 Abs. 4 USK-Grs). Ohne ein solches Einverständnis bricht die USK das Prüfverfahren in beiden Fällen ergebnislos (d.h. ohne Kennzeichnung des Prüfgegenstandes) ab. Insofern der Prüfgegenstand nach Einschätzung der BPjM jugendgefährdend ist, wird er nicht gekennzeichnet, sollte die BPjM aber nicht einer solchen Auffassung sein, muss er gekennzeichnet werden. Zweifelsfälle sind aber insg. Ausnahmen: Zwischen 2003 und Ende 2012 konsultierte die USK die BPjM in nur insg. neun solchen Fällen (z.B. GEARS OF WAR 3; GOD OF WAR 3; GRAND THEFT AUTO IV; LUCIUS; THE DARKNESS 2). Gründe für den geringen Bedarf an gutachterlichen Stellungnahmen der BPjM dürften nicht nur Doppeltätigkeiten von Beisitzenden der BPjM als Jugendschutzsachverständige der USK, wie auch die nach § 5 Abs. 5 USK-Grs verpflichtenden und seit 2004 z.T. (auch zur Kriterienabstimmung) gemeinsam mit der BPjM 908 Vgl. BGHZ 128, 346 (350) und SUFFERT 2002, S.29. 163 stattfindenden Weiterbildungsveranstaltungen für die Jugendschutzsachverständigen,909 wie auch der Sitz der Vorsitzenden der BPjM im Beirat der USK (§ 3 Abs. 2 Nr. 5 USK-Grs) sein, sondern insb. auch eine gewisse Uniformität der Prüfausschüsse und der Umstand, dass eine regelmäßige(re) Konsultierung der BPjM den Kompetenznimbus der USK, wie auch das Vertrauen der Antragsteller in die sog. freiwillige Selbstkontrolle unterminieren würde. Dessen ungeachtet erscheint es SCHULZ/BRUNN/DREYER et al. 2007 sinnvoll, "an dieser besonders neuralgischen Stelle des Systems die Zusammenarbeit von USK und BPJM noch zu verbessern. […] Von der Möglichkeit, eine Einschätzung einzuholen, sollte grundsätzlich Gebrauch gemacht werden. Verfassungsrechtliche Bedenken sind hier […] nicht zu erkennen."910 (S.165) Aber eine obligatorische Vorprüfung von Computerspielen durch die BPjM dürfte das Vorzensurverbot aber ad absurdum führen. 12.6 Zusammenfassung: Das Altersfreigabeverfahren als Zensursystem Insofern das JuSchG zwar ein Jugendverbot mit Erlaubnisvorbehalt formuliert,911 aber die Veröffentlichung von Bildträgern formaljuristisch nicht von einer vorausgehenden Altersfreigabeprüfung abhängt und die Zugangs- und Vertriebsbeschränkungen für nicht gekennzeichnete Bildträger prinzipiell nur gesetzliche Bestimmungen zum Schutze der Jugend sind, stelle sich nach Auffassung der h.M. die Frage nach einer evtl. Zensur nicht.912 Nach BUCHLOH 2002 habe man bei Vertretern einer solchen Meinung allerdings oftmals den Eindruck, dass sie das Altersfreigabeverfahren nicht zuletzt auf diese Weise interpretieren, weil sie dasselbe aus praktisch-politischen Gründen für sinnvoll halten.913 Tatsächlich kann von einer freiwilligen Teilnahme am Altersfreigabeverfahren vor der Veröffentlichung eines Bildträgers nicht ausschl. im Fall eines formaljuristischen, sondern natürlich auch bereits in dem eines faktischen Prüfzwanges nicht mehr die Rede sein.914 Nach EIFLER 2011 bedingen bereits die erheblichen Beschränkungen des § 12 Abs. 3 Nr. 2 JuSchG, gem. dem nicht gekennzeichnete Bildträger nicht im Einzelhandel außerhalb von Geschäftsräumen, in Kiosken oder anderen Verkaufsstellen, die Kunden nicht zu betreten pflegen, oder im Versandhandel angeboten oder überlassen werden darf, einen Fall faktischer Vorzensur: Ungeachtet dessen, dass in der Literatur z.T. argumentiert wird, dass das Kennzeichnungsverbot insg. verfassungswidrig sei,915 argumentiert die Autorin, dass die Beschränkungen nicht gekennzeichneten Medien die wichtigsten Vertriebswege abschnitten, insb. den Versandhandel. Dies habe weitreichende Konsequenzen wirtschaftlicher Natur, d.h. ohne eine Kennzeichnung sei die wirtschaftliche Verwertung eines Spiels gar nicht möglich, so dass sich die Anbieter der Bildträger auch ohne formaljuristische Prüfungspflicht bereits aus 909 910 911 912 913 914 915 Vgl. HOLLING 2007, S.2 und SPIELER 2007, S.2. SCHULZ/BRUNN/DREYER et al. 2007, S.165. Das Jugendverbot mit Erlaubnisvorbehalt ist klassische Vorzensur im formellen Sinne, nach SUFFERT 2002 vertoße das Verbot aber insofern nicht gegen das Zensurverbot, dass Medien ohne Erlaubnis nur Kindern und Jugendlichen, nicht aber bereits der (erwachsenen) Allgemeinheit in der Öffentlichkeit nicht zugänglich gemacht werden dürfen; notwendige Bedingung der Zensur wäre das generelle Verbot (S.124). Auch STATH 2006 argumentierte in Orientierung an BVerfG 87, 209 (230), dass das Vorzensurverbot eine nur partielle Vorzensur nicht erfasse: "Die Tatsache, dass Teilen der Bevölkerung bestimmte Medieninhalte vorenthalten bleiben, rechtfertigt für sich genommen die Annahme einer verfassungswidrigen Vorzensur nicht. Vorzensur […] ist vielmehr der generelle Ausschluss von Medieninhalten, bevor sie an die Öffentlichkeit kommen." (S.259) Das verfängt aber nach KASPAREK 2007 insofern nicht, dass gem. einer solchen Argumentation dem Begründungsansatz direkt am Zensurtatbestand die Möglichkeit immanent wäre, "das Zensurverbot auch in anderen Fallkonstellationen zurückzudrängen." (S.214) Andernfalls wäre auch eine gruppenspezifische Zensur z.B. von Journalisten, Frauen etc. legitim. Vielmehr will er den speziellen Fall der Zensurierung von Kindern und Jugendlichen mit dem Verfassungsrang des Jugendschutzes legitimieren (S.180-196). Dgl. auch NOLTENIUS 1958, S.134f.; PFEIFER 2003, S.273; NIKLES/ROLL/SPÜRCK et al. 2005, S.212 und SCHULZ/BRUNN/DREYER et al. 2007, S.85. Das Zensurverbot ist aber absolut und legitimiert auch keine Zensur aus Gründen des Jugendschutzes (vgl. NESSEL 2004, S.173-176)! Insofern ist fragwürdig, ob und wie das Jugendverbot mit Erlaubnisvorbehalt im Lichte des Zensurverbots noch legitimiert werden kann. Auch ERDEMIR 2000 kann letztlich nur noch einen diffusen gesellschaftlichen Konsens konstatieren, das Zensurverbot in dem Fall zu ignorieren: "Ein Konsens übrigens, wie er bei einer entsprechenden Freigabelösung für die gedruckte 'Schrift', also für Bücher und Zeitschriften, kaum vorstellbar wäre." (S.180) Vgl. STATH 2006, S.260 und SCHULZ/DREYER 2007b, S.3. Vgl. BUCHLOH 2002, S.214f.. Vgl. SUFFERT 2002, S.8f.. Vgl. SUFFERT 2002, S.129f. und DEGENHART 2008, S.66. 164 finanziellen Gründen zur Vorlage derselben gezwungen sähen; das Altersfreigabeverfahren komme damit den Auswirkungen einer Zensur gleich. Einerseits dürften das aber nicht nur nicht die wichtigsten Vertriebswege für die Bildträger sein, das JuSchG erlaubt auch nach wie vor den Versandhandel, insofern sichergestellt ist, dass im Wege der Bestellung und Übersendung der Ware durch Postversand oder elektronischen Versand durch persönlichen Kontakt zwischen Lieferant und Besteller oder durch technische oder sonstige Vorkehrungen kein Versand an Kinder und Jugendliche erfolgt (§ 1 Abs. 4 JuSchG). Andererseits gelten exakt dieselben Beschränkungen auch für ohne Jugendfreigabe gekennzeichnete Medien: Tatsächlich resümiert bspw. Martin LORBER, PR Director und Jugendschutzbeauftragter der Electronic Arts GmbH, dass Spiele ohne Alterskennzeichnung keine Marktbedeutung haben, "ihre Verkaufszahlen sind verschwindend gering."916 Vergleichsweise wurden seit Inkrafttreten des JuSchG zwischen 2003 und 2011 zwar durchschnittlich nur ca. 4,88 % der Spiele jährlich ohne Jugendfreigabe gekennzeichnet, nach Olaf WOLTERS, dem Geschäftsführer des BIU, erreichen aber ohne Jugendfreigabe gekennzeichnete Spiele einen Anteil von ca. 10 bis 15 % am Gesamtumsatz,917 der für den Zeitraum gem. BIU (inkl. Downloads) jährlich durchschnittlich ca. 1.312 Mio. Euro betrug. Insofern ist insg. nicht besonders plausibel, dass bereits die für nicht gekennzeichnete, wie auch gekennzeichnete Spiele identischen Beschränkungen einen faktischen Prüfzwang für die Anbieter von Spielen, die ausschl. Erwachsenen zugänglich gemacht werden sollen, generieren können sollen. Dennoch ist eine Alterskennzeichnung für die wirtschaftliche Verwertung auch eines Erwachsenenspiels notwendig: Fie Kennzeichnung generiert nämlich einen Indizierungsschutz (und einen gewissen Schutz vor dem § 131 StGB), nicht gekennzeichnete Spiele können aber nach wie vor indiziert werden (§ 18 Abs. 8 JuSchG) und wie bereits dargestellt wurde, wirkt nicht nur eine Indizierung, sondern gar bereits die Möglichkeit derselben faktisch wie ein Verbot.918 Somit besteht auch für Erwachsenenspiele faktisch eine (jugendschutzrechtlich nicht legitimierbare) Prüfpflicht, ja ein Verbot mit Erlaubnisvorbehalt, wodurch das Altersfreigabeverfahren zu einem Zensurverfahren wird (da die Kennzeichnung nicht automatisch erfolgt). Die Anbieter müssen also aus finanziellen Gründen am Altersfreigabeverfahren teilnehmen, spielen aber ggf. ein Vabanquespiel: Gekennzeichnete Medien können zwar nicht mehr indiziert werden, eine Indizierung nach der Veröffentlichung ist aber quasi sicher für den Fall, dass eine Kennzeichnung verweigert wird. Die USK selbst ist zwar weder indizierungsantrags-, noch indizierungsanregungsberechtigt,919 antragsberechtigt sind aber nicht nur der ehem. Rechtsträger der USK, der Förderverein für Jugend und Sozialarbeit e.V. (fjs), sondern auch die OLJB selbst. Beide haben seit Inkrafttreten des JuSchG aber offenbar noch nie eine Indizierung beantragt. Ungeachtet dessen wurden einerseits bislang fast alle Spiele, die die OLJB als jugendgefährdend expl. nicht kennzeichnete, nach der Veröffentlichung (als ausländische, aber mit der nicht gekennzeichneten ganz oder im Wesentlichen inhaltsgleiche Versionen) früher oder später als jugendgefährdend indiziert; nur in drei Fällen hat die BPjM ein solches Spiel expl. nicht indiziert (CLIVE BARKER’S JERICHO; DARK MESSIAH OF MIGHT & MAGIC; GOD OF WAR). Insofern ist die Indizierung eines Spiels nach der Verweigerung einer Altersfreigabe quasi sicher, die BPjM muss ja nur noch das entsprechende Gutachten der USK rezitieren.920 Es ist aber auch nicht überraschend, dass SCHULZ/BRUNN/DREYER et al. 2007 konstatieren, dass weder die USK, noch die für dieselbe federführende OLJB des Landes NordrheinWestfalen die BPjM systematisch darüber informiere, "wenn einem Spiel die Kennzeichnung aufgrund der Annahme, dass Indizierungskriterien erfüllt sind, verweigert wurde und das Spiel dann ohne Kennzeichnung erscheint."921 Ungeachtet dessen, dass das JuSchG keine solche Informationspflicht formuliert, werden solche Spiele erst gar nicht mehr in Deutschland veröffentlicht. 916 917 918 919 920 921 LORBER 2007, S.1. Vgl. GÜNZEL 2006. Vgl. KASPAREK 2007, S.111. Vgl. SCHULZ/BRUNN/DREYER et al. 2007, S.134. Vgl. HAUSMANNINGER 2000. Vgl. SCHULZ/BRUNN/DREYER et al. 2007, S.134. 165 Andererseits reglementiert § 14 Abs. 3 JuSchG u.a., dass die OLJB, insofern ein Spiel nach Einschätzung derselben im Rahmen des Prüfverfahrens einen schwer jugendgefährdenden Inhalt hat und infolge dessen nicht gekennzeichnet wird, Tatsachen, die auf einen Verstoß gegen § 15 Abs. 1 JuSchG schließen lassen, der zuständigen Strafverfolgungsbehörde mitzuteilen haben. Nach HEYL/LIESCHING 2008 ist eine solche Tatsache insb. der begründete Verdacht, "dass trotz Ablehnung einer Kennzeichnung eine Verbreitung des Mediums weiterhin beabsichtigt wird."922 Infolge dessen werden Spiele insb. auch nach einer solchen Verweigerung der Altersfreigabe aus offensichtlichen Gründen normalerweise nicht in Deutschland publiziert. Das Altersfreigabeverfahren ist also ein zweischneidiges Schwert, dass einerseits einen Indizierungsschutz, andererseits aber auch erst eine entsprechende Aufmerksamkeit der Jugendschützer generieren kann, ungeachtet dessen aber für eine wirtschaftliche Verwertung von Bildträgern unbedingt notwendig ist. Zynisch wirkt i.d.S. (resp. im Lichte der Indizierung) der Kommentar von SCHULZ/BRUNN/DREYER et al. 2007, dass es insg. als ein "Erfolg des Funktionierens des Gesamtsystems" angesehen werden könne, "dass die Kennzeichen in der Praxis eine vertriebslenkende Funktion besitzen. Ohne Kennzeichnung bestellen viele der großen Handelsketten Spiele nicht für ihr Sortiment [...]. Zudem haben die Konsolenhersteller in ihrer Lizenzbedingung aufgenommen, dass Spiele, die keine Kennzeichnung der USK erhalten, in Deutschland nicht erscheinen. Hier spielt vor allem der Faktor 'Image' eine Rolle."923 Im Lichte regelmäßiger Zensurvorwürfe argumentieren die USK, wie auch die Proponenten derselben, technisch korrekt, dass nicht sie, sondern der Anbieter selbst oftmals die Spiele zensiere. Das ist aber eine Argumentation zwischen Selbstschutz und Zynismus, die skizzierten Umstände stärken nämlich unweigerlich die Macht der USK, die Anbieter zu Selbstzensuren zu veranlassen: Die Prüfausschüsse können bspw. im Regelverfahren auf Vorschlag des Ständigen Vertreters der OLJB selbst die Empfehlung einer Kennzeichnung ohne Jugendfreigabe an die Erfüllung von nicht konkretisierten Auflagen (wie z.B. Zensuren) knüpfen, so dass das Spiel u.U. nicht zur Kennzeichnung empfohlen wird, sollte der Antragsteller den Auflagen nicht entsprechen (§ 10 Abs. 7 USK-Grs). Aber auch ohne solche expl. Auflagen indizieren die Prüfgutachten den Anbietern im Falle einer Nichtkennzeichnung natürlich für eine Kennzeichnung notwendige Zensuren, die präkererweise Spiele betreffen, die ohnehin ausschl. Erwachsenen zugänglich gemacht werden sollen! Die Anbieter haben realistischerweise nur die Wahl, die Spiele zu zensieren oder nicht zu veröffentlichen; beides trifft auch den mündigen Endverbraucher.924 Aus Gründen der Zeit- und Kostenersparnis zensieren die Anbieter die Spiele oftmals provisorisch auch bereits vor der ersten Prüfung. Insofern solche (durch staatliche Gesetzgebung verantwortete und mit dem Zensurverbot unvereinbare) Selbstzensurzwänge dem Gesetzgeber bereits aus Jahrzehnten der entsprechenden Filmprüfpraxis der FSK bekannt sein mußten,925 kann ihm vorgeworfen werden, dass er dgl. für Computerspiele nicht nur sehenden Auges in Kauf nahm, sondern u.U. gar intendierte. Problematischerweise verkündete auch die USK selbst bereits, dass sie in Zusammenarbeit mit den OLJB ihren Beitrag leisten werde, "dass jugendgefährdende Spiele in Deutschland keine Chance haben [...]."926 Dies kann aber nicht die Aufgabe einer solchen (staatlich sanktionierten) Jugendmedienschutzorganisaion sein. 13. Exkurs I: Das PEGI-System Der Rat der EU betonte bereits im Rahmen der Entschliessung des Rates vom 01.03.2002 zum Schutz der Verbraucher, insb. von Jugendlichen, durch Kennzeichnung bestimmter Video- und Computerspiele nach Zielaltersgruppen u.a. die Notwendigkeit, "dass die Verbraucher unter dem Aspekt der Beurteilung von Inhalten und der entsprechenden Einstufung nach Zielaltersgruppen Zugang zu klaren Informationen über die auf dem Markt erhältlichen Produkte erhalten, damit sie fundierte Entscheidungen treffen können und damit […] Jugendliche vor 922 923 924 925 926 Vgl. HEYL/LIESCHING 2008, S.46. SCHULZ/BRUNN/DREYER et al. 2007, S.143. Vgl. BRAUNBART 2001b, S.225. Vgl. BUCHLOH 2002, S.207-210. USK, Pressemitteilung v. 18.11.2005. 166 potenziell schädlichen Inhalten geschützt werden;" der Rat bekräftigte in diesem Zusammenhang, "dass die Kennzeichnung ein wichtiges Mittel darstellt, um eine bessere Information und mehr Transparenz für die Verbraucher zu erreichen und ein harmonisches Funktionieren des Binnenmarkts sicherzustellen" und stellte ausserdem fest, "dass es nützlich wäre, in allen Mitgliedstaaten auf die Entwicklung klarer und einfacher Einstufungssysteme hinzuwirken, mit denen sich die Inhalte dieser Produkte beurteilen lassen […]."927 Tatsächlich entwickelte bereits seit Mai 2001 eine internationale Arbeitsgruppe aus u.a. Vertretern europäischer Regierungen und Alterseinstufungsinstitutionen, wie auch Verbänden der Spieleindustrie, die Pan European Game Information (PEGI) als ein paneuropäisches Alterseinstufungssystem für Computerspiele, das am 24.04.2003 in Belgien, Dänemark, Finnland, Frankreich, Griechenland, Großbritannien, Italien, Irland, Luxemburg, den Niederlanden, Norwegen, Österreich, Portugal, Spanien, Schweden und der Schweiz eingeführt wurde und z.T. bestehende nationale Alterseinstufungssysteme ersetzte (wie z.B. das der spanischen Asociación Española de Distribuidores y Editores de Software de Entretenimiento, des französischen Syndicat des éditeurs de Logiciels de Loisirs oder der britischen Entertainment and Leisure Software Publishers Association).928 Prinzipiell basiert das Altersempfehlungsverfahren auf einem enumerativen Kriterienkatalog, d.h. dass die Antragsteller selbst 50 Fragen eines Bewertungs- und Anmeldeformulars ausfüllen, die insb. das mögliche Auftreten von Gewalt- u./o. Sexdarstellungen, aber u.a. auch von Drogenkonsum, Glückspiel, Diskriminierungen und vulgärer Sprache betreffen. Das Auftreten von bestimmten Inhalten führt automatisch und für den Antragsteller selbst transparent zu einer bestimmten (vorläufigen) Altersempfehlung ("PEGI 3", "PEGI 6", "PEGI 12", "PEGI 16" oder "PEGI 18") und ggf. einem von acht erläuternden Inhaltssymbolen; bspw. führen "Depictions of arcade style or sporting action showing violence containing blood or gore" (Frage 28) zu der Altersfreigabe "PEGI 16" und dem Inhaltssymbol für Gewaltdarstellungen oder "Depictions of ethnic, religious, nationalistic or other stereotypes like to encourage hatred" (Frage 23) zu der Altersfreigabe "PEGI 18" und dem Inhaltssymbol für Diskriminierungen (könnte der Antragsteller beide Fragen bejahen, führte das zur vorläufigen Altersempfehlung "PEGI 18" und beiden Inhaltssymbolen). Der Antragsteller sendet dem jeweils zuständigen der beiden PEGIAdministratoren das Formular, wie auch eine Zusammenstellung aller Informationen und Materialien für die Überprüfung der vorläufigen Altersempfehlungen: Das Nederlands Instituut voor de Classificatie van Audiovisuele Media ist der Administrator für die Spiele, die für "PEGI 3" und "PEGI 7" vorgeschlagen sind. Das britische Video Standards Council (VSC) ist der Administrator für die Spiele, die für "PEGI 12", "PEGI 16" und "PEGI 18" vorgeschlagen sind. Die Administratoren überprüfen i.d.R. nur die Korrektheit der Formularangaben und bestätigen ggf. normalerweise die vorläufigen Altersempfehlungen. Dem Antragsteller wird letztlich i.A. des Trägers von PEGI, der Interactive Software Federation of Europe (ISFE), eine Lizenz zur Verwendung des Alterskennzeichens, wie auch der Inhaltssymbole erteilt. Der Antragsteller verpflichtet sich durch die Nutzung des Systems gleichzeitig vertraglich zur Einhaltung des PEGI-Verhaltenskodexes, der Aspekte der Alterskennzeichnung und der Bewerbung von Computerspielen regelt. Ein besonderer Vorteil des Systems liegt darin, dass die Hersteller bspw. bereits während der Entwicklungsphase die späteren Empfehlungen kalkulieren können. Dem ggü. kann es nach LORBER 2011 im Rahmen des deutschen Altersfreigabeverfahrens bei voller Ausschöpfung des Instanzenzugs der USK (exkl. einer gutachterlichen Stellungnahme der BPjM in einem sog. Zweifelsfäll nach § 14 Abs. 4 Satz 3 JuSchG) ab Verfahrenseröffnung bis zu 58 Tage dauern, "bis ein finales Kennzeichen erteilt wird. Das ist in der heutigen schnelllebigen Medienkultur eine Ewigkeit und kann über den Erfolg oder Misserfolg eines Spiels entscheiden." Das PEGISystem generiert also insb. Planungssicherheit. Die Transparenz des PEGI-System und die detaillierteren Inhaltsangaben (statt nur einer simplen Altersempfehlung) sind aber auch ein Vorteil für die Verbraucher, insb. für die Eltern. 927 928 ABl. 2002/C 65/02. Vgl. DECKER 2005, S.86f. und KOM 2008/0207, S.3. 167 Alle großen europäischen Spielkonsolenhersteller, wie auch Spielehersteller unterstützen das PEGI-Sytem. Aktuell nutzen 26 der 27 Mitgliedstaaten der EU (z.T. auch inoffiziell) das System: Belgien, Bulgarien, Dänemark, Estland, Finnland, Frankreich, Griechenland, Großbritannien, Irland, Italien, Lettland, Litauen, Luxemburg, Malta, Niederlande, Ungarn, Österreich, Polen, Portugal, Rumänien, Slowakei, Slowenien, Spanien, Schweden, Tschechien und Zypern. Aber auch Nichtmitgliedstaaten der EU, wie Island, Israel, Norwegen und die Schweiz unterstützen das System. Die Staaten haben basierend auf dem System z.T. besondere Rechtsvorschriften für die Alterseinstufung (z.B. Kennzeichnungspflichten) u./o. den Verkauf von Computerspielen erlassen – bspw. Großbritannien929 und Österreich930 –, die Kennzeichen sind 929 930 Erst seit Inkrafttreten des sog. Criminal Justice and Public Order Act 1994, der den Video Recordings Act 1984 (VRA) novellierte, waren Computerspiele u.a. nach Art. 2 VRA kennzeichnungspflichtig, insofern sie u.a. "mutilation or torture of, or other acts of gross violence towards, humans or animals" (Abs. 2) oder "criminal activity which is likely to any significant extent to stimulate or encourage the commission of offences" (Abs. 3) darstellten; das British Board of Film Classification (BBFC) prüfte solche Spiele, wie auch Spiele, die Filmsequenzen beinhalteten, die kein integraler Bestandteil der Spiele selbst waren (z.B. Trailer) und kennzeichnete sie ggf. ab 12, ab 15 oder ab 18 Jahren, konnte die Kennzeichnung aber auch verweigern, so dass die Spiele erst gar nicht in Großbritannien distribuiert werden durften (die Behörde konnte die Spiele i.d.S. effektiv verbieten). Die solchermaßen gekennzeichneten Spiele durften aber entsprechend jüngeren Kindern und Jugendlichen in der Öffentlichkeit bei Strafe nicht zugänglich gemacht werden. Spiele, die das Gesetz nicht erfasste, konnten Kindern und Jugendlichen in der Öffentlichkeit nach wie vor ohne Beschränkungen zugänglich gemacht werden. Zwischen 1994 und 2003 kennzeichnete die Entertainment and Leisure Software Publishers Association (ELSPA) solche Spiele, seit 2003 die PEGI (insofern letztere ein Spiel erst ab 18 Jahren kennzeichnete, hatten sich die britischen Betroffenen verpflichtet, sie automatisch der BBFC zu übermitteln). Das System änderte sich aber infolge eines Rechtsstreits zwischen dem BBFC und der Rockstar Games, Inc.: Das BBFC verweigerte dem Spiel MANHUNT 2 im Juni 2007 die Kennzeichnung, wie auch einer zweiten, zensierten Version im Oktober 2007. Die Rockstar Games, Inc. ging vor dem zuständigen Video Appeals Committee (VAC) am 26.11.2007 in Berufung und argumentierte u.a., dass das BBFC eine tatsächliche Jugendgefährdung nicht habe demonstrieren können. Geoffrey ROBERTSON, der Anwalt der Appellantin, spekulierte in der Eröffnungsverhandlung u.a., dass die BBFC das Spiel nur im Lichte der moralpanischen Kritik an der Behörde selbst im Zusammenhang mit dem ersten Teil desselben nicht kennzeichnete: Am 27.02.2004 hatte der 17-jährige Warren LEBLANC den 14-jährigen Stefan PAKEERAH ermordet und in den boulevardisierten Massenmedien wurde mehrere Wochen nicht nur behauptet, dass das Spiel MANHUNT i.S.e. direkten Imitationswirkung tatauslösend gewesen sei, sondern hatten auch das BBFC kritisiert, die das Spiel gekennzeichnet hatte; die Tat war aber nur ein simpler Raubmord, der Täter wollte Drogenschulden eintreiben (vgl. CUMBERBATCH 2004, S.5 und GIBSON 2007). Die Behörde dementierte zwar den Vorwurf des Anwalts (vgl. MARTIN 2007a), tatsächlich war MANHUNT 2 aber das einzige Spiel, das seit 10 Jahren nicht gekennzeichnet wurde, resp. erst der zweite Fall einer Nichtkennzeichnung eines Spiels insg.; das BBFC hatte bislang einzig dem Spiel CARMAGEDDON im Juli 1997 die Kennzeichnung verweigert, musste dasselbe aber infolge einer erfolgreichen Berufung der betroffenen GT Interactive (Europe) Ltd. vor dem VAC im November 1997 kennzeichnen. Das VAC entschied auch am 10.12.2007 mit vier zu drei Stimmen zugunsten des Appellanten (vgl. MARTIN 2007b); im Rahmen eines Revisionsverfahrens revidierte aber der Londoner High Court of Justice die Entscheidung des VAC aufgrund einer falschen Entscheidungsgrundlage desselben (das BBFC müsse keine konkrete, tatsächliche Jugendgefährdung für eine Nichtkennzeichnung demonstrieren, wie das VAC argumentierte, tatsächlich sei ein spekulatives Gefährdungsrisiko diesbzgl. hinreichend) und entschied am 24.01. 2008, dass dieselben sieben Mitglieder des VAC abermals über die Kennzeichnung, resp. Nichtkennzeichnung entscheiden mußten (vgl. BOYES 2008). Das Komitee entschied im März 2008 abermals mit vier zu drei Stimmen zugunsten der Rockstar Games, Inc., so dass die BBFC das Spiel (ab 18 Jahren) kennzeichnen musste und dasselbe am 31.10.2008 in Großbritannien publiziert wurde. Der Konflikt hatte für das BBFC insofern Konsequenzen, dass u.a. die der Behörde bereits seit 1997 kritisch gegenüberstehende ELSPA die Kompetenz derselben für die Alterseinstufung von Computerspielen so massiv in Frage stellte und für die Substituierung derselben durch PEGI plädierte, dass u.a. das britische Department for Children, Schools and Families zwischen September 2007 und März 2008 die prominente Psychologin Tanya BYRON beauftragt hatte, das nationale System für die Alterseinstufung von Computerspielen zu evaluieren; die Empfehlungen der Autorin BYRON 2008 waren ein zentraler Ausgangspunkt für die Neukonzeption der Alterseinstufung von Computerspielen, infolge der PEGI seit Juli 2012 zum einzigen britischen Alterseinstufungssystem für Spiele avancierte (s. Digital Economy Act 2010); seitdem dürfen nur noch entsprechend gekennzeichnete Spiele distribuiert und Kindern und Jugendlichen in der Öffentlichkeit bei Strafe nur solche mit PEGI 12, PEGI 16 oder PEGI 18 gekennzeichnete Spiele zugänglich gemacht werden, die auch für ihre Altersstufe freigegeben worden sind (Spiele, die mit PEGI 3 oder PEGI 16 gekennzeichnet sind, unterliegen keinen Beschränkungen). Das VSC ist für die Kennzeichnungen verantwortlich und kann nach wie vor Spielen, die in Art. 2 VRA bezeichnete Inhalte haben, die Kennzeichnung verweigern. Der österreichische Jugendmedienschutz ist Ländersache, aber nur zwei der Bundesländer reglementieren die Alterseinstufung und den Verkauf von Computerspielen: § 10 Abs. 3 WrJSchG reglementiert seit April 2008, dass Computerspiele in Wien nur noch Kindern und Jugendlichen eines bestimmten Alters gewerblich abgegeben werden dürfen, "wenn auf Grund einer klar sichtbaren PEGI […] Kennzeichnung ersichtlich ist, dass sie für junge Menschen dieses Alters geeignet sind. […] Keine […] Kennzeichnungspflicht besteht für Computerspiele zu Informations-, Instruktions- oder Lehrzwecken, die als Informations-, Instruktions- oder Lehrprogramm gekennzeichnet sind und junge Menschen in ihrer Entwicklung nicht gefährden." Der § 11 Abs. 4 K-JSG reglementiert für Kärnten: "Bildträger, die auf Grund des § 12 Abs. 1 des […] JuSchG […] der Bundesrepublik […] nicht freigegeben oder für Kinder oder Jugendliche nur ab einem bestimmten Alter freigegeben sind, gelten auch in Kärnten als nicht oder nur ab einem bestimmten Alter freigegeben. Datenträger, die Computerspiele enthalten, dürfen nur an Kinder und Jugendliche eines bestimmten Alters gewerblich abgegeben werden, für die sie aufgrund einer klar sichtbaren PEGI […] Kennzeichnung geeignet sind. Differieren diese Kennzeichnungen oder Freigaben, ist jene maßgeblich, die ein höheres Alter für die Freigabe vorsieht. Die Landesregierung kann jedoch auf Antrag des Eigentümers oder sonst darüber Verfügungsberechtigten […] eine hievon abweichende Entscheidung treffen." Die restlichen sieben Bundesländer haben keine besonderen Rechtsvorschriften über die Alterskennzeichnung und den Verkauf von Spielen erlassen, so dass Kinder und Jugendliche in Wien und Kärnten problemlos nicht für ihr Alter geeignete Spiele in den Bundesnachbarländern kaufen können; insofern demonstriert das Bsp. Österreich en miniature dasselbe Problem, dass der dt. Jugendmedienschutz bei Spielen in- 168 i.d.R. aber nur unverbindliche Altersempfehlungen, so dass die entsprechenden Spiele den Kindern und Jugendlichen in der Öffentlichkeit auch zugänglich gemacht werden dürfen, wenn sie nicht für ihre Altersstufe gekennzeichnet wurden.931 Innerhalb der EU unterstützt einzig Deutschland das System nicht und hat eigene Rechtsvorschriften über die Alterskennzeichnung und den Verkauf von Computerspielen erlassen. Trotzdem das PEGI-System wesentlich unkomplizierter ist als das deutsche Altersfreigabeverfahren, kommen beide Systeme zu ähnlichen Alterseinstufungen, so dass nicht nur der Irrglaube erodiert, die Alterseinstufungen nach dem PEGI-System seien insg. laxer als die der USK,932 sondern auch der vermeintliche Vorteil des deutschen Systems, dass externe Gutachter die Spiele selbst durchspielen (und insofern versteckte Inhalte o.ä. entdecken können), keinen Vorteil, sondern einen auf Ressentiments ggü. der Industrie basierenden Nachteil darstellt. Den vermeintlichen Vorteil des deutschen Alterskennzeichnungsverfahrens stellen auch LANGER/ HOFMANN 2009 in Frage: Um die geltende Lehrmeinung "PEGI bewertet lascher, USK strenger" zu überprüfen, haben wir 1.391 Computer- und Videospiele der letzten drei Jahre (Januar 2006 bis August 2009) erfasst, wobei wir – anders als die USK in ihren Jahresmitteilungen – mehrere Plattform-Versionen nur dann einzeln gezählt haben, wenn sich ihre Alterskennzeichnungen unterscheiden […]. […] Danach wurden diesen USKWertungen die jeweilige PEGI-Kennzeichnung gegenüber gestellt. […] Fast identisch sind die Zahlen für die unterste Stufe, "ab 0" (USK) beziehungsweise "3" (PEGI): 501 beziehungsweise 462 Spiele erhielten diese Kennzeichnung. Und auch wenn man bei der USK "ab 16" und "ab 18" addiert, sowie bei PEGI "16" und "18", kommen fast dieselben Zahlen heraus: 300 USK-Wertungen fallen in diese Gruppe, und 333 PEGI-Kennzeichen. Immerhin: 38 mal öfter vergab die USK "ab 18" als PEGI ihren Warnsticker. Dazu kommen mehrere Spiele, die aufgrund extremer Gewalt gar keine USK-Kennzeichnung erhalten haben. Der größte Unterschied zwischen beiden Stichproben aber besteht bei den Kennzeichnungen "ab 6" beziehungsweise "7", hier stehen 249 USK-Kennzeichen 186 PEGI-Emblems gegenüber. Und "ab 12" erhielten von der USK 336 Titel des Testfelds, "12" von der PEGI jedoch 410 Produkte. […] Wertet, von Ausnahmen abgesehen, die USK nicht deutlich strenger? Nein: 212 mal vergab sie im Vergleich die strengere Bewertung bei einem Spiel. 275 mal bewertete hingegen PEGI denselben Titel strenger. Wenn man die Wertungsklassen in Zahlen umwandelt (1 für "ab 0" und "3", 5 für "ab 18" und "18", et cetera) und daraus den mathematischen Durchschnittswert ermittelt, erscheint das PEGI-System sogar als etwas schärfer denn die USK: 1,96 steht hier der 1,89 der USK gegenüber. Grund dafür sind vor allem härtere PEGI-Einstufungen bei den 12er und 16er Titeln, und hier insbesondere den Sportspielen. […] Alleine 106 mal vergab PEGI ein Rating ab '7' oder höher in Fällen, in denen die USK denselben Titel als vollkommen unbedenklich einstufte. Bei der USK sind es im Vergleich nur 73 Titel. […] Erst am oberen Wertungsende ist die USK härter: Es gibt nur 20 Fälle, bei denen PEGI "18" wertete und die USK "ab 16" oder "ab 12". Demgegenüber stehen 61 Fälle, bei denen die USK "ab 18" erteilte, PEGI jedoch ein "12" oder "16" als angemessen sah. […] Interessant sind die Genre-Unterschiede: Bei Actiontiteln wertet […] die USK härter, doch fasst man die Alterstuffen [sic] "16" und "18" zusammen, so kommt wiederum fast die identische Zahl an Einstufungen zusammen: 218 Actionspiele bei der USK und 219 bei PEGI. Selbst in diesem Genre aber überwiegt bei beiden Systemen der Anteil der […] Spiele, […] deren Einstufungen bis einschließlich "ab 12" reichen. Im Strategie-Genre sieht die USK nur 35 "ab 16"- und 4 "ab 18"-Titel, bei PEGI sind es 31 "16" und 2 "18". Interessanterweise ist PEGI sowohl bei Sport- und Rennspielen als auch bei den Adventures und Rollenspielen härter: Neunmal wird hier die rote "ab 18"Karte gezückt, und 69mal [sic] die gelbe "ab 16". Die USK kommt in diesen Genres auf nur 35 gelbe und fünf rote Karten. […]Im Großen und Ganzen und oft auch im Speziellen bewerten PEGI und USK sehr ähnlich, zwei Drittel der Kennzeichnungen befinden sich exakt auf derselben Stufe. Es stimmt nicht, dass die USK generell härter bewerten würde: Der Schnitt der Wertungen ist praktisch identisch, ja sogar strenger bei PEGI. Allerdings hat diese Analyse etwas der gemessenen contra der gefühlten Temperatur: Im Wind ist's einfach kälter als auf dem geschützten Thermometer, und so fallen dem typischen (vor allem jugendlichen) Spieler weniger die "fairen" Wertungen der USK im 12er Bereich auf, als vielmehr die 'unfairen' im 18er-Bereich. Wieso dürfen Jugendliche in fast allen anderen Ländern Europas viele Titel ab 16 spielen, die hierzulande ab "18" gelten? […] Im Bereich der Altersfreigaben "ab 16" und "ab 18" verschieben sich bei der USK die Gewichte hin zu letzteren: In Deutschland werden 10% der Spiele als nicht für Jugendliche geeignet eingestuft, im restlichen Europa sind es 7%. Dazu kommen in Deutschland einige, die gar keine Kennzeichnung bekommen. Ob deswegen aber die USK als sichtbare Behörde des gesetzlich gewollten Jugendschutzes tatsächlich die Jugendlichen besser schützt? […] Angesichts dieser Ergebnisse stellt sich die Frage, wieso sich Deutschland überhaupt die Extrawurst USK leistet: Wenn mit derart viel Mehraufwand, Prüfungsakribie und Kosten für die Hersteller am Ende doch fast dasselbe herauskommt, wie beim in 30 Ländern akzeptierten PEGI-System – muss man sich dann diesen Extraaufwand überhaupt machen?933 931 932 933 nerhalb Europas hat. Bzgl. einer detaillierteren Darstellung des diesbzgl. österreichischen Jugendmedienschutzes s. LANGER 2010. Vgl. KOM 2008/0207 und IP/08/618. Vgl. LANGER 2006. LANGER/HOFMANN 2009, S.1-4. 169 Auch im Lichte dessen wird das Insistieren auf einem deutschen Sonderweg erklärungsbedürftig. Die Spiele werden bspw. längst zentral produziert und europaweit vertrieben,934 so dass sich auf den Packungen, wie auch den Datenträgern selbst oftmals nicht nur die Kennzeichen der USK, sondern auf die PEGI-Kennzeichnungen finden. Dgl. kann aber im Fall nicht seltener Abweichungen nach SCHULZ/BRUNN/DREYER et al. 2007 insb. für die deutsche Kennzeichnung dazu führen, "dass die Akzeptanz gegenüber der Kennzeichnung geschwächt wird. Von Eltern wird viel verlangt, wenn sie sich an einen Maßstab halten sollen, es aber ein mindestens ebenso prominent aufgeführtes Kennzeichen gibt, das einem anderen Maßstab folgt und zu einem abweichenden Ergebnis kommt. […] Auch hier kann die oft abweichende PEGIKennzeichnung dazu führen, dass der Eindruck einer gewissen Beliebigkeit bei den Kriterien für die Altersfreigabe entsteht."935 Der Eindruck wäre nicht falsch. Aber auch ungeachtet dessen ist der deutsche Jugendmedienschutz bei Computerspielen als nur einzelstaatliche Sonderregelung innerhalb der EU bereits im Lichte technischer, wie wirtschaftlicher Entwicklungen insg. nicht mehr angemessen:936 Kinder und Jugendliche in Deutschland können hierzulande nicht für ihre Altersstufe freigegebene, indizierte oder gar nach § 131 StGB beschlagnahmte Spiele im Lichte dessen, dass die entsprechenden Spiele im Gros der Mitgliedstaaten der EU ohne Beschränkungen des Versandhandels frei verkäuflich sind, dank der fehlenden Grenzkontrollen innerhalb des europäischen Binnenmarkts problemlos aus den (oder über die) Mitgliedstaaten der EU importieren,937 ungeachtet dessen, dass zwar Indizierungen,938 das Jugendverbot mit Erlaubnisvorbehalt939 und ggf. auch der § 131 StGB940 prinzipiell europarechtskonform sein dürften. Eine diesbzgl. Harmonisierung wäre also insb. auch im deutschen Interesse. Tatsächlich rief die Europäische Kommission die Mitgliedstaaten im Lichte des offensichtlichen "Werts der Videospiele für die kulturelle Vielfalt" im April 2008 auf, "das im Rahmen der PEGI-Initiative [...] geschaffene Informations- und Einstufungssystem in ihre nationalen Systeme einzubinden [...]."941 Einen Tag nach dem sog. Amoklauf von Winnenden forderte auch die Entschließung des Europäischen Parlaments vom 12. März 2009 zu dem Schutz der Verbraucher, insbesondere Minderjähriger, bei der Nutzung von Videospielen die Mitgliedstaaten nachdrücklich auf, "dafür Sorge zu tragen, dass nationale Bewertungssysteme nicht auf eine Art und Weise entwickelt werden, die zur Fragmentierung des Marktes führt [...]."942 Für die Zukunft werden also höchstwahrscheinlich so oder so internationale und ggf. (wie z.B. bereits in Dänemark, Finnland, Niederlande und Portugal) gar intermediale Harmonisierung des Jugendmedienschutzes notwendig.943 Im Rahmen einer Harmonisierung dürften aber natürlich Indizierungen, die ja nur ein ausschl. deutsches Phänomen darstellen, wie auch das strafrechtliche Gewaltdarstellungsverbot nach § 131 StGB obsolet werden. 14. Das strafrechtliche Gewaltdarstellungsverbot (§ 131 StGB) Letztlich muss der Vollständigkeit halber natürlich auch das strafrechtliche Gewaltdarstellungsverbot des § 131 StGB diskutiert werden. Im Lichte öffentlicher, kirchlicher, wie auch oppositioneller Kritik der Unionsparteien an den seit dem 1. StrRG realisierten und im Rahmen des Entwurfs eines 4. StrRG der Regierungskoalition aus SPD und FDP geplanten, neuen Liberalisierungen des Sexualstrafrechts, plädierte Bundesjustizminister Gerhard JAHN (SPD) bereits 1971 für eine Neukonzeptualisierung des § 131 StGB (der bis dato den Tatbestand der Staatsverleumdung normierte) i.S.e. Gewaltdarstellungsverbots und proklamierte einen diesbzgl. Entwurf ohne Beteiligung der Bundesregierung im BAnz.;944 die Formulierung der Norm 934 935 936 937 938 939 940 941 942 943 944 Vgl. BÜTTNER/GOTTBERG 1995, S.2; BITKOM 2002b, S.1; GANGLOFF 2001, S.23 und GANGLOFF 2003, S.47. Vgl. SCHULZ/BRUNN/DREYER et al. 2007, S.152f.. Vgl. GANGLOFF 2001, S.23; BÜTTNER/GOTTBERG 2002, S.17 und GOTTBERG 2002, S.54. Vgl. GOTTBERG 2002, S.53 und KLEIST/PALZER 2002, S.105. Vgl. STATH 2006, S.264ff.. Vgl. EuGH, Urt. v. 14.02.2008, Az.: C 244/06 und RETZKE 2006, S.83f.. Dgl. könnte jedenfalls u.U. mutatis mutandis EuGH, Urt. v. 14.10.2004, Az.: C-36/02 suggerieren. Vgl. KOM 2008/0207, S.10f.. INI/2008/2173. Vgl. KOM 2008/0207, S.10. GERHARDT 1974, S.21. 170 orientierte sich z.T. an § 9 Nr. 3 der Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutze des deutschen Volkes vom 04.02.1933, die bereits ein Verbot periodischer Druckschriften bestimmte, "wenn in ihnen zu Gewalttätigkeiten aufgefordert oder angereizt wird oder wenn in ihnen Gewalttätigkeiten, nachdem sie begangen worden sind, verherrlicht werden." Aber bereits GERHARDT 1974 spekulierte, dass das Gewaltdarstellungsverbot primär nur den "sentimentsbestimmten Regungen potentieller Wählerschichten" ein "Ausgleich zur Liberalisierung des Sexualstrafrechts"945 sein sollte, "dass es bei der Einführung dieser Strafvorschrift nicht so sehr um die Verwirklichung einer von der Fachwissenschaft gestützten gesetzgeberischen Notwendigkeit als vielmehr darum ging, bestimmten Teilen der Öffentlichkeit, die der heftig umstrittenen Reform des Sexualstrafrechts scharf ablehnend gegenüberstanden, in einem anderen, recht volkstümlichen Verlangen entgegenzukommen."946 Die verfassungsrechtlichen und die medienwirkungstheoretischen Bedenken ggü. der Norm wurden im Gesetzgebungsprozess komplett ignoriert.947 Tatsächlich waren einerseits die postulierten Kausalketten (auf Basis der Lerntheorie)948 zwischen der Mediengewaltexposition und der realen Gewalttätigkeit der Rezipienten auch nach dem damaligem Kenntnisstand des Gesetzgebers nicht strapazierbar. KIENZLE 1980 konstatierte i.d.S. korrekt, dass diese Erweiterungen der Verfolgungsmöglichkeiten von Gewaltdarstellungen dazu bestimmt waren, "eine 'Erklärung' gesellschaftlicher Gewaltursachen zu liefern und die Schuld Personen (Autoren) statt Verhältnissen zuzuschieben."949 Ungeachtet dessen wurde die Neufassung des § 131 StGB letztlich in den Entwurf des 4. StrRG integriert, trat am 24.11.1973 in Kraft und sollte auch als ein Komplement der §§ 130 und 130a StGB die vermeintliche Hochkonjunktur nationalsozialistischer Schriften konterkarieren:950 I.d.S. kombinierte die Norm originär zwei heterogene Straftatbestände: Gewaltdarstellung und Aufstachelung zum Rassenhass. Am 25.02. 1985 wurde infolge des Inkrafttretens des JÖSchNG die Norm aus syntaktischen Gründen neuformuliert und die Verletzung der Menschenwürde als eine dritte Tatbestandsalternative integriert und am 01.12.1994 wurde infolge des Inkrafttretens des Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuches, der Strafprozeßordnung und anderer Gesetze der Tatbestand der Aufstachelung zum Rassenhass gestrichen. Die aktuelle Fassung der Norm ist die Folge des am 01.04.2004 in Kraft getretenen Gesetzes zur Änderung der Vorschriften über die Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung und zur Änderung anderer Vorschriften (SexÄndG) und u.a. eine Reaktion auf den sog. Amoklauf von Erfurt vom 26.04. 2002:951 (1) (2) (3) (4) Wer Schriften (§ 11 Abs. 3), die grausame oder sonst unmenschliche Gewalttätigkeiten gegen Menschen oder menschenähnliche Wesen in einer Art schildern, die eine Verherrlichung oder Verharmlosung solcher Gewalttätigkeiten ausdrückt oder die das Grausame oder Unmenschliche des Vorgangs in einer die Menschenwürde verletzenden Weise darstellt, 1. verbreitet 2. öffentlich ausstellt, anschlägt, vorführt oder sonst zugänglich macht, 3. einer Person unter achtzehn Jahren anbietet, überläßt oder zugänglich macht oder 4. herstellt, bezieht, liefert, vorrätig hält, anbietet, ankündigt, anpreist, einzuführen oder auszuführen unternimmt, um sie oder aus ihnen gewonnene Stücke im Sinne der Nummern 1 bis 3 zu verwenden oder einem anderen eine solche Verwendung zu ermöglichen, wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft. Ebenso wird bestraft, wer eine Darbietung des in Absatz 1 bezeichneten Inhalts durch Rundfunk, Medien- oder Teledienste verbreitet. Die Absätze 1 und 2 gelten nicht, wenn die Handlung der Berichterstattung über Vorgänge des Zeitgeschehens oder der Geschichte dient. Absatz 1 Nr. 3 ist nicht anzuwenden, wenn der zur Sorge für die Person Berechtigte handelt; dies gilt nicht, wenn der Sorgeberechtigte durch das Anbieten, Überlassen oder Zugänglichmachen seine Erziehungspflicht gröblich verletzt. Das Strafmaß bei Verstoß gegen die Verbote des § 131 StGB ist gem. Abs. 1 i.V.m. § 40 Abs. 1 und 2 Satz 3 StGB mit bis zu einem Jahr Freiheitsstrafe oder einer Geldstrafe von bis zu 10,8 945 946 947 948 949 950 951 GERHARDT 1974, S.7. GERHARDT 1974, S.15. GERHARDT 1974, S.22f.. Vgl. OEHLER 1988, S.184 und ERDEMIR 2000, S.4. Vgl. KIENZLE 1980, S. S.35f.. Vgl. BETHMANN 2002, S.90 und STATH 2006, S.39. Vgl. KRAUSE 2006, S.8f.; ERDEMIR 2000, S.69f. und STATH 2006, S.39. 171 Millionen Euro bemessen.952 Den inkriminierten Trägermedien selbst droht nicht nur die bundesweite Beschlagnahme, sondern nach § 74d StGB einerseits auch die Einziehung aller Exemplare, "die sich im Besitz der bei ihrer Verbreitung oder deren Vorbereitung mitwirkenden Personen befinden oder öffentlich ausgelegt oder beim Verbreiten durch Versenden noch nicht dem Empfänger ausgehändigt worden sind." (Abs. 2) Andererseits wird ggf. gleichzeitig gar die Unbrauchbarmachung aller Herstellungsvorrichtungen (Platten, Formen, Drucksätze, Druckstöcke, Negative, Matrizen, Masterbänder etc.) angeordnet (Abs. 1 Satz 2). I.d.S. drohen den Betroffenen nicht nur finanzielle Verluste, die aus Verstößen gegen § 131 StGB (und ggf. Verstößen gegen das JuSchG), i.d.S. fehlinvestierten Werbekampagnen und dem fehlenden Umsatz resultieren, sondern den Rechteurhebern u./o. -inhabern drohen auch massive, u.U. existenzielle, materielle Verluste;953 originär deutschen Produktionen droht u.U. gar die komplette Zerstörung. Auch sensibilisieren spektakuläre (strafaktionistische) Massenbeschlagnahmen immer wieder die Betroffenen,954 die letztlich auch als Straftäter stigmatisiert werden. Die Norm ist zwar (primär) keine des Jugendmedienschutzes (s.u.), sie tangiert aber erheblich die generelle Medienausgestaltung: Seit dem 02.03.1974 (und aktuell gem. § 15 Abs. 2 Nr. 1 JuSchG) sind z.B. Trägermedien, die einen in § 131 StGB bezeichneten Inhalt haben, schwer jugendgefährdend und infolge dessen automatisch indiziert, ohne dass es einer Aufnahme in den Index und einer Bekanntmachung bedarf. Auch sind gem. § 18 Abs. 5 JuSchG konsequenterweise (und ohne eigene Prüfmöglichkeit der BPjM) Trägermedien in die Liste B des Index aufzunehmen, wenn ein Gericht in einer rechtskräftigen Entscheidung (Beschlagnahme, Strafbefehle u. -urteile etc.) einen diesbzgl. Inhalt festgestellt hat.955 Nach § 18 Abs. 2 Nr. 2 JuSchG 952 953 954 955 Vgl. SEIM 1997, S.132; ERDEMIR 2000, S.107f. und LAI 2006, S.58. Das OLG Hamm argumentierte mit Urt. v. 10.12.2002 (Az.: 4 Ws 232/02) gegen die Auffassung, dass § 131 Abs. 1 StGB alle Formen des Umgangs Erwachsener mit den entsprechenden (beschlagnahmten) Medien verbiete: "Eine so verallgemeinernde Auslegung verbietet sich schon angesichts der vom Gesetzgeber sehr differenziert und abgestuft geregelten einzelnen Straftatbestände in § 131 Abs. 1 Nr. 1 bis 4 StGB. Tatsächlich ist auch z.B. der bloße Besitz – der bei Richtigkeit der Rechtsauffassung […] ebenfalls strafbewehrt sein müsste – vom Straftatbestand eindeutig nicht erfasst. Auch der besondere und weitgehende Schutz von Personen unter achtzehn Jahren, wie er in Nr. 3 dieser Vorschrift Ausdruck gefunden hat, läßt sich mit der Auffassung […] nicht in Einklang bringen. Denn dafür hätte kein Anlass bestanden, wenn vom Gesetzgeber bereits das Anbieten, Überlassen oder Zugänglichmachen einer entsprechenden Schrift – alles Formen des Umgangs damit – an einen Erwachsenen als für die Tatbestandserfüllung ausreichend angesehen worden wäre." Das Anbieten, Überlassen oder Zugänglichmachen der entsprechenden Schriften ist insb. noch keine hinreichende Bedingungen der Erfüllung des Tatbestands des Verbreitens gem. § 131 Abs. 1 Nr. 1 StGB; ein Verbreiten liegt nämlich gem. der ständigen Rechtsprechung des BGH nur dann vor, "wenn die Schrift ihrer Substanz nach – und damit körperlich – einem größeren, nach Zahl und Individualität unbestimmten Personenkreis zugänglich gemacht wird […]." [St 47, 55 (59)] Nur für die Kettenverbreitung ist z.B. gem. BGHSt 45, 41 anerkannt, "daß die Weitergabe eines Einzelexemplars an eine bestimmte Person ausreicht, wenn sie in der Absicht erfolgt, daß ein größerer Personenkreis nacheinander in dessen Besitz und damit in den Genuß der Benutzung kommen kann […]." Infolge dessen können bspw. Gewerbetreibende einerseits Einzelexemplare oder gar kleinere Mengen gem. § 131 StGB beschlagnahmter Medien beziehen u./o. einführen und vorrätig halten und im Einzelhandel innerhalb von Geschäftsräumen, die Kindern und Jugendlichen nicht zugänglich sind und nicht von ihnen eingesehen werden können, Erwachsenen "unter dem Ladentisch" (auf dezidierte Nachfrage) zugänglich machen. Ein Vorrätighalten einer (nicht definierten) größeren Menge der Medien kann i.d.S. aber andererseits bereits ein (hinreichendes) Indiz einer strafwürdigen Verbreitungsabsicht sein, ein Vorrätighalten ist aber eine i.d.R. notwendige Bedingung eines attraktiven Handels, so dass der gewerbliche Handel ein unkalkulierbares, potenziell existenzbedrohendes Risiko bleibt. Privatverkäufe und insb. der Gebrauchthandel (unter Berücksichtigung der sonstigen Verbote des § 15 Abs. 1 JuSchG und des § 131 StGB) werden dank des Urteils des OLG aber größtenteils entkriminalisiert. Vgl. ERDEMIR 2000, S.107f.. Vgl. SEIM/SPIEGEL 2001, S.187. Vgl. MONSSEN-ENGBERDING/LIESCHING 2008, S.11. Folge der Norm ist nach SCHUMANN 2001, dass bspw. selbst ein sachlich falscher Strafbefehl, "der z.B. wegen Fristversäumnis rechtskräftig wird, automatisch bundesweite Indizierungswirkung für die betroffene Schrift entfaltet," (S.88) auch ungeachtet einer zuvor oder später ergangenen höchstrichterlichen Entscheidung, die sie für nicht tatbestandserfüllend erklärt. Eine bürokratische Kettenreaktion der besonderen Art demonstriert die Problematik der Norm: Am 24.01.2003 publizierte der Medienvertrieb in Buchholz die sog. "30th Anniversary Edition" des gem. § 7 Abs. 2 JÖSchG mit "Nicht freigegeben unter achtzehn Jahren" gekennzeichneten Films NIGHT OF THE LIVING DEAD in Deutschland. Im Dezember 2009 indizierte die BPjM die Edition auf Liste B des Index. Die Behörde hatte den Film offensichtlich mit der namensgleichen, 23 Jahre älteren und seit 1996 beschlagnahmten Neuverfilmung aus dem Jahre 1990 verwechselt! Die BPjM veranlasste aber infolge dessen keine Listenstreichung, denn das AG Tiergarten habe eine inhaltsgleiche US-amerikanische Auflage des Films bereits am 09.05.2000 gem. § 131 StGB beschlagnahmt (Az.: 349 Gs 1913/00); de facto hatte das AG aber nur eine Auflage der Neuverfilmung des Films im Vertrieb der Columbia TriStar Home Video, Inc. beschlagnahmt, im Rahmen des Beschlusses aber fälschlich die Anchor Bay Entertainment, Inc. angegeben, die seit 1999 eine US-amerikanische Auflage der "30th Anniversary Edition" des Originals vertrieb. Dass das AG nicht das Original, sondern nur die Neuverfilmung beschlagnahmt hatte, demonstriert auch die Begründung des Beschlusses, dass inhaltsgleiche Auflagen des Films bereits 1992 erstmals indiziert und 1996 gem. § 131 StGB beschlagnahmt worden waren, sieben, resp. drei Jahre vor der Erstveröffentlichung der diskutierten Edition des Originals! Auch rekurrierte das Gericht expl. auf die eigenen Beschlüsse bzgl. der Beschlagnahme der Neuverfilmung v. 28.03.1996 (Az.: 352 Gs 1221/96) und v. 09.07.1999 (Az.: 350 Gs 2816/99). Ungeachtet dessen ist der BPjM offensichtlich nur der Name des Films und des Vertriebs hinreichend für die bis heute 172 sind natürlich auch Trägermedien in Liste B aufzunehmen, die nur nach Einschätzung der BPjM im Rahmen eines regulären Indizierungsverfahrens einen diesbzgl. Inhalt haben. Infolge dessen hat die Bundesprüfstelle ihre Entscheidung der zuständigen Strafverfolgungsbehörde mitzuteilen, aber ggf., sollte per rechtskräftigem Entscheid konstatiert werden, dass der Medieninhalt den Tatbestand der Norm nicht erfüllt, in Liste A umzutragen oder den Fall gem. § 24 Abs. 4 JuSchG gar erneut entscheiden, "wenn in Betracht kommt, dass das Medium aus der Liste zu streichen ist." Das erst die BPjM als einer der diesbzgl. Hauptlieferanten der Staatsanwaltschaften erstinstanzlich ein Medium auf Liste B indiziert, ist der Regelfall: Nach SCHULZ/BRUNN/ DREYER et al. 2007 erfolgten einerseits infolge von regulären Indizierungsanträgen u./o. anregungen zwischen dem 01.04.2003 und Mai 2007 insg. 217 Einträge in Liste B des Index; erst in knapp über 65 Fällen hatte die BPjM aber eine Rückmeldung bzgl. des Verfahrensausgangs erhalten: "4 bundesweite Beschlagnahmen; mind. 50 Einstellungen des Verfahrens, da der Täter entweder im Ausland ansässig oder nicht zu ermitteln war; 3 Fälle, in denen die Strafbarkeit von englischen Musiktexten verneint wurde; 8 Strafurteile bzw. Strafbefehle ohne begleitenden Beschlagnahmebeschluss."956 Bzgl. der restlichen 152 Medien war nicht bekannt, "inwiefern das Ermittlungsverfahren noch läuft oder ob schlicht eine Rückmeldung der zuständigen Staatsanwaltschaft unterblieben ist."957 Andererseits erfolgten aber innerhalb desselben Zeitraums nur 26 Listeneinträge nach § 18 Abs. 5 JuschG (also auf Liste B des Index) infolge einer rechtskräftigen, gerichtlichen Entscheidung Natürlich sind die Strafttatbestände der Norm u.U. erfüllende Trägermedien gem. § 14 Abs. 3 JuSchG im Rahmen der Alterseinstufung auch nicht kennzeichnungsfähig: Der Ständige Vertreter der OLJB bei der FSK weist bspw. die Antragsteller nach § 12 Abs. 2 FSK-Grs gar darauf hin, "dass er den Vorgang der in FSK-Angelegenheiten zuständigen obersten Landesjugendbehörde zur Prüfung vorlegen wird, ob eine Mitteilung an die zuständige Strafverfolgungsbehörde für den Fall zu veranlassen ist, dass eine Veröffentlichung in dieser Fassung vorgesehen ist." Die Mitteilung an die zuständige Strafverfolgungsbehörde wird ggf. die Regel sein. Eine analoge Regelung formulieren die USK-Grs zwar nicht, aber bereits § 14 Abs. 3 Satz 2 JuSchG bestimmt, dass die OLJB Tatsachen, die auf einen Verstoß gegen § 15 Abs. 1 JuSchG schließen lassen, der zuständigen Strafverfolgungsbehörde mitzuteilen haben, so dass i.d.R. bereits Medien, die nur nach Einschätzung der OLJB einen in § 131 StGB bezeichneten Inhalt haben, nicht in der BRD publiziert werden. 14.1 Der Schutzzweck der Norm Bereits im Lichte der gravierenden Strafandrohungen stellt sich die Frage nach dem Sinn und Zweck der Norm: Das erklärte Ziel des Gesetzgebers war ein Signal gegen die vermeintlichen Brutalisierungstendenzen in den Medien, die Betroffenen selbst sollten zur Selbstkontrolle und zur Beendigung des Geschäfts mit den Gewaltdarstellungen animiert werden.958 Wie KRAUSE 2006 aber richtig kommentiert, kann das nicht der legitime Zweck der Norm i.S.d. Verhältnismäßigkeitsprinzips sein,Aufgabe des Strafrechts ist nämlich nur der Rechtsgüterschutz: "Eine sittenbildende Kraft soll dem Strafrecht gerade nicht zukommen."959 Eine Signalwirkung kann i.d.S. nur ein (intendierter) Nebeneffekt zur Realisierung eines Rechtsgutschutzes sein, nicht 956 957 958 959 gültige(!) Indizierung gem. § 18 Abs. 5 JuSchG, ohne dass die Indizierung die Chance einer Verjährung hätte (vgl. KÖHLER/ DISTLER 2004 und MONSSEN-ENGBERDING/LIESCHING 2008); erst infolge einer Korrektur des Beschlagnahmebeschlusses wäre nach Auffassung der BPjM eine Listenstreichung möglich. Tatsächlich wurde im August 2010 gar eine inhaltsgleiche US-amerikanische Version des Films im Vertrieb der UAV Entertainment auf Liste B indiziert. Der Vollständigkeit halber sei aber auch der bis heute einzige konträre Fall erwähnt: Im August 2009 erfolgte dank § 18 Abs. 7 JuSchG die Listenstreichung des am 29.09.1984 indizierten Films MUTIERT – VERGESSEN IN DER HÖLLE im Vertrieb der Starlight-Film Produktions- und Vertriebs GmbH, (s. BAnz. Nr. 128 v. 28.08.2009), tatsächlich ist der Film aber absolut Inhaltsgleich mit dem Film CRYING FIELDS – SIE WURDEN ZU BESTIEN DER APOKALYPSE desselben Vertriebs, den das AG Bochum mit Beschl. v. 22.01.1987 (Az.: 64 Gs 291/87) gem. § 131 StGB beschlagnahmt hatte. SCHULZ/BRUNN/DREYER et al. 2007, S.153. SCHULZ/BRUNN/DREYER et al. 2007, S.153f.. Vgl. BT-Drs. VI/3521, S.7; 10/2546, S.22; OEHLER 1988, S.184; MEIROWITZ 1993, S.352f. und ERDEMIR 2000, S.191. Vgl. KRAUSE 2006, S.12f.. 173 Selbstzweck der Norm. Die Frage ist aber, welches Rechtsgut § 131 StGB schützen soll? In Orientierung an der Prämisse des Gesetzgebers, dass eine Mediengewaltexposition letztlich in gewalttätigem, ja u.U. gar gewaltimitativen Verhalten der Rezipienten resultieren könne, empfehlen sich nur vier Schutzgüter: Der Jugendmedienschutz, der Schutz des Einzelnen, der Schutz der Menschenwürde und der Schutz des öffentlichen Friedens.960 14.1.1 Schutz der Jugend Nach LIESCHING 2002 ist die Intention des Gesetzgebers insofern eindeutig, "als die Norm 'nicht nur' – also immerhin auch – 'als Jugendschutztatbestand'961 ausgestaltet werden sollte. Zudem war der Ausgangspunkt aller Überlegungen zu einem Gewaltdarstellungsverbot, dass [...] eine 'auf den Jugendschutz ausgerichtete Gesetzgebung'962 [...] auch die Verbreitung gewaltverherrlichender Schriften regeln müsse. Kein Zufall ist es insofern, dass § 131 StGB gerade durch das […] JÖSchNG […] eine tatbestandliche Erweiterung erfuhr, und auch im Rahmen der Beratungen des Ausschusses für Jugend, Familie und Gesundheit als Maßnahme zur Verbesserung des Jugendschutzes bezeichnet wurde."963 Auch die am 01.04.2004 in Kraft getretene letzte Novellierung der Norm diskutierte der Gesetzgeber insb. im Lichte eines jugendschützerischen Gesetzesaktionismus. Seitdem wird auch regelmäßig für eine deutlich konsequentere Anwendung der Norm und gar die Schaffung einer analogen Verbotsnorm speziell für gewaltdarstellende Computerspiele als Jugendmedienschutzmaßnahmen plädiert (s. Kapitel 21.2). Auch nach dem Wortlaut der Norm selbst verbietet einerseits Abs. 1 Nr. 3 ausschließl., dass die inkriminierten Schriften Minderjährigen angeboten, überlassen oder sonst zugänglich gemacht werden. Andererseits formuliert Abs. 4 gar ein Erziehungsprivileg.964 Die Geschichte der Norm, wie auch die Exponierung des Jugendschutzes implizieren, dass der Jugendmedienschutz selbst nach der gesetzgeberischen Intention ein eigenständiges Normziel des § 131 StGB sein sollte.965 Nach der h.M. kann der Jugendmedienschutz aber nur ein Nebeneffekt des Gewaltdarstellungsverbots sein.966 Verfassungsrechtlich wären die absoluten Herstellungs- und Verbreitungsverbote nicht mir dem Rechtsgut des Jugendmedienschutzes legitimierbar.967 14.1.2 Schutz des Einzelnen Bzgl. des evtl. Schutzes des Einzelnen als Rechtsgut des § 131 StGB argumentierte bspw. der BGH, die Norm solle auch den Einzelnen vor einer "aggressionsbedingten Fehlentwicklung" bewahren, "wie sie etwa durch Aktivierung oder Verstärkung vorhandener Labilitäten oder Anlagemomente im Sinne einer Stimulierung oder Abstumpfung und Verrohung eintreten kann [...]."968 Der Zweck der Norm besteht im Lichte der Argumentation des BGH gem. DEBUSMANN 2008 darin, "einem Individuum Schutz aufzuzwingen […]. Dieser Schutz in Form der Freiheitsbeschränkung dient nicht dem Schutz berechtigter freiheitlicher Interessen Anderer oder der Allgemeinheit: Einziger Grund für diese Bevormundung ist, den Einzelnen vor sich selbst und seiner angeblich nicht sinnvoll genutzten Handlungsfreiheit zu schützen. Dieses Einschreiten des Staates wird oftmals damit begründet, dass ein vermeintlich höheres Ziel der moralischen Besserung der Bürger angestrebt wird, ebenso wie die Verhinderung von Schlimmerem. […] Der legitime Gesetzeszweck basiert sozusagen auf selbstloser Nächstenliebe, denn die angestrebte Erziehungsmaßnahme erwachsener, mündiger Bürger soll schließlich deren seelisch-geistige Gesundheit bewahren."969 960 961 962 963 964 965 966 967 968 969 Vgl. SCHULZ 2002, S.58. Vgl. BT-Drs. VI/3521, S.6 und 10/2546, S.16f.. Vgl. BT-Drs. VI/3521, S.2. LIESCHING 2002, S.92f.; vgl. ERDEMIR 2000, S.70 und KRAUSE 2006, S.16. Vgl. KRAUSE 2006, S.15f.. Vgl. LIESCHING 2002, S.92f.. Vgl. ERDEMIR 2000, S.113f. und KRAUSE 2006, S.15f.. Vgl. BEISEL 1998, S.297. Vgl. BGH, Urt. v. 12.07.2007, Az.: I ZR 18/04 und Urt. v. 15.12.1999, Az.: 2 StR 365/99; BT-Drs. VI/3521, S.6 und BT-Drs. 10/2546, S.21. Vgl. DEBUSMANN 2008. 174 Der pädagogische Gedanke des Schutzzwecks kann aber für ein Erwachsenenstrafrecht nicht tragend sein:970 Der legitime Zweck der Norm kann nicht sein, die Entwicklung Erwachsener zu selbstbestimmten und eigenverantwortlichen Personen, resp. Erwachsene vor sich und um ihrer selbst Willen zu schützen,971 will man nicht eine der fundamentalen Prämissen der Demokratie, d.h. die Annahme von mündigen, selbstbestimmten und eigenverantwortlichen Bürgern, komplett zur Disposition stellen und die Bürger zu Medienmündeln degradieren. Nach BIRKE 2007 muss das Selbstbestimmungsrecht auch die Legitimation eines gewissen Risikoverhaltens garantieren; "den Bürger vor sich selbst zu schützen, sollte keine staatliche Aufgabe sein. Lungenkrebs durch Rauchen ist keine Legitimation für dessen Verbot im Privatbereich. Selbst, wenn einst der Nachweis gelingen sollte, dass Gewaltmedien die echte Gewaltbereitschaft geringfügig steigern [...], ist eine minimale Risikosteigerung noch keine Legitimation, mit einem Totalverbot die individuelle Freiheit so weit zu beschneiden!"972 Der Schutz des Einzelnen kann i.d.S. nur eine Rechtswirkung, aber nicht ein Schutzgut des § 131 StGB sein. 14.1.3 Schutz der Menschenwürde Im Lichte der Tatbestandsalternative der Verletzung der Menschenwürde wird z.T. auch argumentiert, dass der Schutz der Menschenwürde selbst das Rechtsgut der Norm sei.973 Dann wäre aber die Frage vordringlich, wessen Würde die Norm schützen soll?974 Die Verletzung der Menschenwürde fiktiver Menschen ist nicht möglich, denn sie (und insb. auch nur menschenähnliche Wesen; s.u.) können nicht Träger realer Grundrechte sein.975 Auch eine Verletzung der Menschenwürde realer (freiwillig partizipierender) Darsteller, die die fiktiven Gewaltopfer personifizieren, ist nicht plausibel: Nach KRAUSE 2006 ist zu beachten, "dass diese Verletzungen in einer Scheinwirklichkeit stattfinden. Diese Verletzung des Darstellers durch die […] Simulation soll gerade nicht die Würde des Menschen verletzen können. Vielmehr ist auch denkbar, dass sich der Schauspieler gerade durch die Wahl der Rolle und seine schauspielerische Leistung zu verwirklichen sucht. So wird auch betont, dass gerade die Freiwilligkeit eine Verletzung der Menschenwürde ausschließt. Der Schauspieler wird hier gerade nicht wie ein Objekt angeboten sondern stellt sich vielmehr selber zur Schau. So kann kein verletzender Angriff auf die Würde des Darstellers vorliegen, wenn dieser sich in keiner Weise angegriffen fühlt."976 Die Norm soll der Vollständigkeit halber auch nach ganz h.M. nicht die Würde konkreter (realer), dargestellter Personen schützen; die Wahrung des Ehrenschutzes ist bereits anderweitig hinreichend strafrechtlich reglementiert.977 Auch ein evtl. Schutz der Würde der Rezipienten ist nicht plausibel, Gewaltdarstellungen können (in einer demokratischen Gesellschaft als solche prämissiv als Standard anzunehmende) selbstbestimmte und eigenverantwortliche Rezipienten nämlich nicht zum Objekt degradieren.978 Die Orientierung an einer nur subjektiv empfundenen Verletzung der Würde einzelner Rezipienten wäre ohnedies offensichtlich willkürlich.979 970 971 972 973 974 975 976 977 978 979 Vgl. KRAUSE 2006, S.14f./18. Vgl. MEIROWITZ 1993, S.385; ERDEMIR 2000, S.121; LIESCHING 2002, S.92f.; SCHULZ 2002, S.63 und KRAUSE 2006, S.14f./18. Vgl. BVerfGE 45 187 (227); 57, 275 (278) und BVerwGE 82, 45 (49). Vgl. OEHLER 1988, S.189. Vgl. KRAUSE 2006, S.15. Bzgl. der philosophischen Problematik eines potenziellen Personenstatus von Computerfiguren, wie auch der Implikationen einer evtl. "Dignitas virtualis", s. DEBUSMANN 2008. KRAUSE 2006, S.17; vgl. MEIROWITZ 1993, S.384 und BEISEL 1998, S.298-301. Gem. SCHULZ/BRUNN/DREYER et al. 2007 hat aber die Rechtsprechung z.B. nach BVerwGE 64, 274 und 84, 317 die Menschenwürde objektiviert und bspw. das Verbot bestimmter Selbstdarstellungen als zulässig angesehen, "auch wenn die Darstellung dem subjektiven Willen und dem Selbstverständnis der agierenden Darsteller entsprach." (S.76) Im Rahmen beider Gerichtsentscheide wurde aber nur argumentiert, dass durch die Umstände ihres Ablaufs sog. Peepshows die Menschenwürde der Darsteller verletzten und infolge dessen sittenwidrig seien. Diesbzgl. kommentierte aber bereits SCHULZ 1995: "Die 'Achtung der Menschenwürde', gemeint als 'Wahrung der guten Sitten', hat nicht nur keine verfassungsrechtliche Basis, sondern erweist sich […] auch rechtspolitisch als inadäquat." (S.357) Vgl. ERDEMIR 2000, S.124. Vgl. OEHLER 1988, S.189; BROCKHORST-REETZ 1989, S.42; MEIROWITZ 1993, S.152ff.; ERDEMIR 2000, S.125 und KRAUSE 2006, S.18. Vgl. ERDEMIR 2000, S.93 und KRAUSE 2006, S.18f.. 175 Letztlich ist auch nicht plausibel, dass die Menschenwürde als nur abstrakter Rechtswert geschützt sein soll, ungeachtet dessen, dass spätestens seit der tatbestandlichen Erweiterung des § 131 StGB durch das JÖSchNG und auch im Rahmen aktuellerer Debatten die Norm insb. auch mit dem Schutz der Menschenwürde legitimiert werden soll: Nach STOFFERS 1989 ist eine "imperative Qualität des Konsenses über den Schutz der Menschenwürde" mitverantwortlich dafür, "daß bei einer nach wie vor widersprüchlichen Forschungslage hinsichtlich gefährdender Medienwirkungen mit allgemeiner Zustimmung massiv prohibitive Maßnahmen gegenüber Medien mit angenommenem Gefährdungspotential gefordert und durchgesetzt werden."980 Wie ERDEMIR 2000 aber bereits plausibel argumentierte, kann der Schutz einer abstrakten Menschenwürde nicht mit den Kommunikationsfreiheiten des Art. 5 GG und insb. nicht mit der Kunstfreiheit kollidieren, ergo nicht die Rechtsfolgen des § 131 StGB legitimieren, denn die Freiheit des Einzelnen breche erst da, "wo Gefahren für Rechtsgüter anderer erwachsen, nicht aber am Dogma der Prinzipien bzw. dort, wo Würde und Anstand als Selbstzweck in Rede stehen."981 14.1.4 Schutz des öffentlichen Friedens Letztlich ist gem. ganz h.M. in der rechtswissenschaftlichen Literatur, wie auch größtenteils der Rechtsprechung, der öffentliche Friede das Rechtsgut der Norm,982 mithin ist § 131 StGB ja auch Teil des siebten Abschnitts des besonderen Teils des StGB (Straftaten gegen die öffentliche Ordnung).983 Bereits der damalige, für die Reform der Norm im Rahmen des JÖSchNG maßgeblich mitverantwortliche Bundesfamilienminister Heiner GEIßLER (CDU) fantasierte in der dritten Lesung des JÖSchNG am 06.12.1984 von einer "Brutalographie" der Medien und argumentierte, fiktionale Gewaltdarstellungen sollten verboten werden, damit sich reale Gräueltaten wie z.B. der "Holocaust, die Verbrechen der Nationalsozialisten in den Konzentrationslagern oder die Verbrechen von Kommunisten in Laos, Kambodscha, Vietnam oder in der Sowjetunion selber im Archipel Gulag"984 nicht wiederholten, warnte i.d.S. gleichermaßen vor einer medieninduzierten (anomischen) Dystopie infolge der Verbreitung der inkriminierten Gewaltdarstellungen, wie er auch eine Teilschuld fiktionaler Medieninhalte an den referrierten realen Gräueln implizierte! Ungeachtet dessen wird der öffentliche Friede aber regelmäßig als undefinierbare, unkonkrete und extrem weit auslegbare Leerformel moniert, die u.a. die Eigentumsgarantie (Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG), die allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG), das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 GG) und i.w.S. den Staatsschutz subsumiert.985 Für den § 131 StGB soll im Lichte der kolportierten Mediengewaltwirkungen aber konkret das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit einschlägig sein:986 I.d.S. wäre § 131 StGB ein abstraktes Gefährdungsdelikt, dass die Allgemeinheit vor sozialschädlicher Aggression, resp. Gewalttätigkeiten, d.h. einer medieninduzierten Tätergenerierung schützen soll.987 Aber KRAUSE 2006 monierte bspw. bereits, dass die Norm die Strafbarkeit weit vor eine den öffentlichen Frieden tatsächlich störende Tat vorverlegt, "in ein Feld, wo ein konkretes Risiko für eine Verletzung des Rechtsgutes durch eine Tathandlung [...] kaum nachweisbar ist."988 Der öffentliche Friede ist als schützenswertes Rechtsgut der Norm im Lichte der je nach Leseart des Forschungsstands nur kaum bis gar nicht existenten Aggressionssteigerung infolge einer Mediengewaltexposition aber insg. nicht tragfähig, so dass der Gesetzgeber wohl seine Einschätzungsprärogative definitiv massiv überstrapaziert hat: Selbst insofern die Prämisse zutref980 981 982 983 984 985 986 987 988 STOFFERS 1989, S.201. ERDEMIR 2000, S.124 und vgl. MEIROWITZ 1993, S.397. Vgl. BGH, Urt. v. 16.11.1993, Az.: 1 StR 193/93; Urt. v. 12.07.2007, Az.: I ZR 18/04; MEIROWITZ 1993, S.152f./350f. und ERDEMIR 2000, S.69. Vgl. STATH 2006, S.39. BT-PlPr 10/108, S.8008. Vgl. MEIROWITZ 1993, S.351. Vgl. BEISEL 1998, S.306; ERDEMIR 2000, S.126 und KRAUSE 2006, S.14/28. Vgl. BT-Drs. VI/3521, 6; 10/2546; MONSSEN-ENGBERDING 1998, S.130; ERDEMIR 2000, S.70 und SCHULZ/BRUNN/ DREYER et al. 2007, S.97. Vgl. KRAUSE 2006, S.13f.. 176 fend sein sollte, dass eine Mediengewaltexposition das Aggressionsniveau der Rezipienten geringfügig steigern kann, soll das Strafrecht nicht bereits jede noch so geringfügige (potenzielle) Verletzung eines Rechtsguts pönalisieren, sondern das (antizipierte) sozial-schädliche Verhalten muss gem. dem sog. fragmentarischen Charakter des Strafrechts vielmehr die soziale Ordnung und den Rechtsfrieden besonders gravierend stören, um strafwürdig zu sein.989 Die für eine Strafwürdigkeit medialer Gewaltdarstellungen prinzipiell notwendige Bedingung einer auch bei erwachsenen Rezipienten diesbzl. qualifiziertes aggressives Verhalten, ja Gewalttätigkeiten (resp. Gewaltdelinquenz) generierenden, anomischen Wirkung der Darstellungen ist weder belegt, noch von der seriösen Forschung indiziert;990 im Gegenteil: Die anomische Wirkung fiktionaler Mediengewalt bleibt so eine Fiktion, wie der Rückenmarksschwund durch Onanie. Die Annahme, dass eine Verbotsnorm wie der § 131 StGB der Prävention mediengewaltinduzierter anomischer Wirkungen dienen könnte, straft letztlich auch Lügen, dass in Deutschland infolge der Norm verbotene Medien bspw. in den deutschen Nachbarländern (selbst ohne z.B. dem § 15 Abs. 1 JuSchG ähnliche Abgabe-, Präsentations-, Verbreitungs- und Werbeverbote) legal sind, ohne dass der öffentliche Frieden infolge dessen destabilisiert wäre. Zusammengefasst ist die Strafwürdigkeit medialer Gewaltdarstellungen nicht indiziert und die Norm i.S.d. Verhältnismäßgkeitsprinzips dank des fehlenden Gefährdungsmoments der Darstellungen offensichtlich nicht hinreichend geeignet: Eine Eignung absoluter Herstellungs- und Verbreitungsverbote für nach § 131 inkriminierte Medien ist einerseits auch im Lichte dessen fragwürdig, dass für Alkohol bspw. nur relative Abgabgeverbote gelten, ungeachtet dessen, dass bspw. die polizeiliche Kriminalstatistik des Bundesministeriums des Innern für das Jahr 2011 (und dgl. bereits für die Vorjahre) konstatierte, dass (ungeachtet einer leichten Rückgängigkeit) 31,8 %, resp. 47.165 der aufgeklärten Fällen im Bereich der Gewaltkriminalität (insb. der schweren und gefährlichen Körperverletzungsdelikten) unter Alkoholeinfluss verübt wurden,991 also Alkohol ein offensichtlich gravierenderer Gefährder des öffentlichen Friedens ist, als (es) Mediengewaltdarstellungen (sein können). Andererseits könnten (wie es bereits bei der Maßnahme der Indizierung der Fall ist) die relativ einfachen Umgehungsmöglichkeiten absolute Verbote nicht nur unterminieren, sondern i.V.m. Anlockeffekten gar kontraproduktiv werden lassen (s. auch die diesbzgl. Kommentierungen der Eignung der Maßnahmen der Indizierung und der verbindlichen Alterskennzeichen). Der § 131 StGB ist aber ohne einen hinreichend tragfähigen Schutzzweck verfassungswidrig. 14.2 Die Tatbestandsmerkmale der Norm Ein gravierendes Problem der Norm selbst ist eine eklatante Übersummation unbestimmter, normativer Rechtsbegriffe und infolge dessen ein Verstoß gegen das Bestimmtheitsgebot.992 Das BVerfG urteilte aber noch, dass die Norm hinreichend bestimmt sei: "§ 131 StGB ist nicht schon wegen einer übermäßigen Häufung auslegungsbedürftiger Tatbestandsmerkmale zu unbestimmt, wie in der Literatur vielfach angenommen wird [...]. Für die Frage nach der Bestimmtheit der Strafnorm im Hinblick auf Art. 103 Abs. 2 GG sind hier interpretationsbedürftig die Begriffe 'Mensch', 'grausam', 'unmenschlich', 'Gewalttätigkeit', 'schildern' und 'in einer die Menschenwürde verletzenden Weise'. Es handelt sich um eine überschaubare Zahl normativer Begriffe […]."993 Tatsächlich sind aber auch die Begriffe "Verherrlichung" und "Verharmlosung" interpretationsbedürftig, wie auch der Begriff "menschenähnliche Wesen" seit Inkrafttreten des SexÄndG vom 27.11.2003. Die Norm definieren letztlich kaum noch deskriptive Merkmale, so dass sie zum Gummiparagraphen degeneriert und die Betroffenen bzgl. der evtl. Strafbarkeit einer Darstellung massiv irritiert sein können. Die im Folgenden z.T. auch diskutierte Spruchpraxis der Amts- und Landesgerichte potenziert dieses Problem. 989 990 991 992 993 Vgl. BGHSt 24, 318 (319); GÜNTHER 1978, S.12 und KRAUSE 2006, S.23. Vgl. SEIM 1998, S.45f.; SCHULZ 2002, S.58; KRAUSE 2006, S.24-28 und LAI 2006, S.58. Vgl. BMI 2012, S8. Vgl. GERHARDT 1974 und LAI 2006, S.58. Bzgl. eines exemplarischen Überblicks über die in der Literatur formulierten verfassungsrechtlichen Bedenken ggü. § 131 StGB s. ERDEMIR 2000, S.2f.. BVerfGE, 87, 209 (255). 177 14.2.1 Schriften & Gewalttätigkeiten Unproblematisch ist z.B. noch der Schriftenbegriff: Nach dem sehr weiten Schriftenbegriff des § 11 StGB stehen Schriften Ton- und Bildträger, Datenspeicher, Abbildungen und andere Darstellungen gleich, so dass zweifellos bspw. auch Filme und Computerspiele erfasst sind.994 Prinzipiell ist auch der Begriff der Gewalttätigkeiten unproblematisch: Nach Auffassung des BVerfG sei Gewalt i.S.d. Norm ein (nicht konsensuales) aggressives und aktives Verhalten, "durch das unter Einsatz oder Ingangsetzen physischer Kraft unmittelbar oder mittelbar auf den Körper eines Menschen in einer dessen leibliche oder seelische Unversehrtheit beeinträchtigenden oder konkret gefährdenden Weise eingewirkt wird."995 Problematisch ist aber die Erfassung auch nur mittelbarer Einwirkungen, die in einer uferlosen Ausdehnung des Gewaltbegriffs resultieren kann.996 Ungeachtet dessen urteilte der BGH für die evtl. Fiktionalität einer Gewaltdarstellung, dass aus den tatbestandlichen Voraussetzungen der Norm nicht folge, "daß lediglich solche Schilderungen in Betracht kommen, die tatsächlich oder zumindest denkbar in der Realität vorkommende Vorgänge zum Gegenstand haben. Vielmehr können auch Darstellungen, welche das Grausame und Unmenschliche rein fiktiver, erkennbar frei erfundener Gewalttätigkeiten in ihren Einzelheiten ausbreiten, eine gewaltverherrlichende oder -verharmlosende Tendenz ausdrücken oder das Gebot zur Achtung der Würde des Menschen verletzen und damit dem Verbot des § 131 Abs. 1 StGB unterfallen [...]. Für den Schutzzweck des § 131 Abs. 1 StGB, einer möglichen Förderung der Aggressions- und Gewaltbereitschaft durch exzessive Gewaltdarstellungen entgegenzuwirken, ist es unerheblich, ob eine Schilderung tatsächlich mögliche Vorgänge oder reine Phantasieprodukte zum Gegenstand hat."997 Die Darstellung kann auch eine nur virtuelle sein, so dass z.B. auch Comics, Animationsfilme und Computerspiele erfasst sind. Aber bspw. im Lichte dessen, dass der Gesetzgeber im Rahmen der Schaffung der Norm expl. auf die Lerntheorie rekurrierte und für Lerneffekte i.S.d. Theorie auch der Realismus einer Darstellung relevant ist, kann (ungeachtet insg. fehlender medienwirkungstheoretischer Fundierungen) nicht bzgl. jeder noch so absurden, ggf. gar phantastischen Gewaltdarstellung das Potenzial einer Förderung der Aggressions- und Gewaltbereitschaft vermutet werden. Bereits sieben Jahre vor der zitierten Entscheidung des BGH formulierte i.d.S. das BVerfG einen diesbzgl. Strafausschließungsgrund für bspw. bizarre Übersteigerungen der Gewaltdarstellungen, resp. des Geschehens insg., dank der die Rezipienten nach dem Gesamteindruck eines Mediums die Darstellung auch als lächerlich und grotesk erleben können;998 tatsächlich kann der phantastische Charakter einer Darstellung ja auch bereits ein Grund einer Nichtindizierung sein. Ungeachtet der evtl. Probleme einer praktikablen Differenzierbarkeit ernsthafter und übersteigerter Darstellungen haben infolge des Urteils deutsche Amts- und Landesgerichte regelmässig aber nicht im Zweifelsfall die Tatbestandlichkeit phantastischer Darstellungen negiert, sondern unzulässigerweise (ungeachtet des tatsächlichen Realismus der Darstellungen) nur stereotyp insb. den vermeintlichen besonderen Realismus der inkriminierten Darstellungen exponiert. Die Gerichte demonstrieren mithin auch dieselbe Ironie-, Sarkasmus-, Satire- und Humorresistenz, wie sie bereits die Entscheide der BPjM demonstrieren. Kurios ist bspw. die Argumentation des AG Tiergarten bzgl. der Tatbestandlichkeit des Kampfsportspiels MORTAL KOMBAT 3, in dem die Gewinner eines Duells die Kontrahenten mittels sog. "Fatalities" und "Animalities" exekutieren können: Sonya haucht ihren Gegner an, der in Flammen aufgeht (Fatality 1) oder hüllt ihren Gegner in einen Plasma-Ball, der explodiert, Knochen und Blut fliegen herum (Fatality 2). Kano schaut u.a. seinen Gegner mit Laserblick an, so daß er explodiert: Knochen und Blut fliegen durch die Luft (Fatality 2). 994 995 996 997 998 Vgl. OEHLER 1988, S.193; LIESCHING 2002, S.64ff. und SCHULZ/BRUNN/DREYER et al. 2007, S.98f.. BVerfGE, 87, 209 (227); vgl. BENZ 1998, S.51; MAST 1999, S.140 und KRAUSE 2006, S.10. I.d.S. ist bspw. die Darstellung autoaggressiven Verhaltens nicht tatbestandlich erfasst (vgl. ERDEMIR 2000, S.72). Vgl. BGHSt 23, 46 (51); MAST 1999, S.140 und ERDEMIR 2000, S.72. BGH, Urt. v. 15.12.1999, Az.: 2 StR 365/99 und vgl. MEIROWITZ 1993, S.339. Vgl. BVerfGE 87, 209 (229f.). 178 Kung Lao setzt seinen Hut als Kreissäge ein und "püriert" seinen Gegner, das Blut spritzt dabei in alle Richtungen (Fatality 1) oder er köpft damit seinen Gegner (Fatality 2). Liu Kang zündet seinen Gegner an, so daß dieser bis auf das Skelett verbrennt (Fatality 1) oder er läßt eine riesige Musikbox auf den Gegner fallen (Fatality 2). Jax' Arme verwandeln sich in Klingen und zerschneiden Gegner (Fatality 1) oder er wächst sehr schnell und wird immer größer, der Bildschirm blendet dann das Opfer ein, welches durch einen großen Stiefel zermatscht wird (Fatality 2). Sub-Zero friert seinen Gegner ein, hebt ihn über den Kopf und zerbricht ihn in zwei Teile (Fatality 1) oder er bläst seinen Gegner an, der zur Eissäule erstarrt, die umfällt und in unzählige Teile zerbricht (Fatality 2). Shang Tsung schlüpft in seinen Gegner und sprengt ihn auseinander, so daß die Knochen fliegen (Fatality 1) oder er schleudert seinen Gegner auf ein Nagelbrett (Fatality 2). Kabal erschreckt den Gegner zu Tode (Fatality 1) oder pumpt ihn voll Luft, bis er explodiert (Fatality 2). Sektor röstet den Gegner mit einem Flammenwerfer (Fatality 1) oder zerquetscht ihn mit einer Gerätschaft (Fatality 2). Sheeva rammt den Gegner mit wuchtigen Schlägen der bloßen Faust in den Boden (Fatality 1) oder reißt dem Gegner Haut und Fleisch bis auf die Knochen in Fetzen vom Körper (Fatality 2). Stryker bindet Sprengstoff an seinen Gegner, dieser explodiert, so daß Knochen herumfliegen und Blut spritzt (Fatality 1) oder er schießt mit einem Taser auf seinen Gegner und frittiert ihn (Fatality 2). Cyrax fliegt u.a. über seinen Gegner und stößt blitzartig auf den Gegner herunter, der durch Rotorblätter zerstückelt wird. In Ergänzung zu den oben genannten "Fatalities" werden "Animalities" zur Verfügung gestellt. Der siegreiche Kämpfer verwandelt sich in ein Tier (Hai, Löwe, Eisbär, Dinosaurier, etc.) und reißt den Körper des unterlegenen Gegners in blutige Fetzen, beißt ihm z.B. "lediglich" den Kopf ab oder frißt ihn gänzlich. [...] Weder akustische noch graphische Animationen sind geeignet, das Geschehen als ein realitätsfernes auszuweisen, wenn auch einige Spielfiguren eher im Bereich der Fabel- oder Comicwesen als im richtigen Leben anzusiedeln sind. Dem Gros der Charaktere ist ein menschliches Äußeres gegeben, deren Kampfrepertoire real existierenden Kampftechniken entstammt. Der Einsatz voluminöser Waffen, über den Bildschirm schwappendes Blut in Verbindung mit markerschütternden Schreien, die Aufforderung "finish him" führen dazu, daß, dem Titel [...] entsprechend, der Tod des Gegners zumindest billigend in Kauf genommen werden muß.999 Offensichtlich stellt das Spiel (in ihrer konkreten Darstellung durchaus humorvolle) Gewaltgrotesken, ja -persiflagen dar. Das Gericht ignorierte aber nicht nur den phantastischen Hintergrund des Spiels (s.u.) und negierte gar die Realitätsferne der skizzierten Gewaltdarstellungen, – ungeachtet dessen, dass die Spielfiguren auch nicht nur unzählige Liter Blut verlieren, sondern die (größtenteils anthropomorphen) Körper derselben auch anatomisch falsch z.B. in mehrere(!) Schädel, Brustkörbe u.ä. zerbersten können –, sondern zog zu diesem Argument u.a. auch den Umstand heran, dass bereits die Verpackungen der verfahrensgegenständlichen Versionen der Spiele mit dem Realismus der Gewaltdarstellungen ("Realistic violence"; "Realistic blood and gore"; "A fully digitized bloodbath of magical realism") werben. Der Vollständigkeit halber soll auch erwähnt werden, dass das Gericht darüber hinaus argumentierte, dass der ohnehin fragwürdige gewaltverherrlichende Charakter des Spiels selbst dann nicht entfalle, wenn in einer geänderten Version bspw. die Blutvisualisierungen und insb. die Exekutionen deaktiviert wären: In dem Fall wäre das Spiel aber tatsächlich nur noch ein mehr oder weniger ordinäres Kampfsportspiel, in dem diverse phantastische Charaktere während einer postapokalyptischen Paralleluniversenkonjunktion gegeneinander kämpfen, das sich bzgl. seines Gewaltdarstellungsniveaus nicht mehr von anderen Genrespielen mit einer Jugendfreigabe unterscheidet. Bezeichnenderweise konstatierte selbst das 12er-Gremium der BPjM bzgl. des siebten Teils der Serie – MORTAL KOMBAT: ARMAGEDDON –, dass das Spiel u.a. dank seines offensichtlich fehlenden Realismus nicht tatbestandlich i.S.d. § 131 StGB sei: "Sog. Blutspritzer und -lachen werden in nicht-realer Form […] dargestellt und haben untergeordnete Bedeutung. Außer in Form von irrealen Fontänen oder Spritzern zeigen sie bei dem Aussehen der betroffenen Spielfigur keine Folgen […]. […] Die Spielfiguren bewegen sich eindeutig in einer Phantasiewelt. Es fehlt insoweit an einem menschlichen Bezug wie auch an einer Werthaftigkeit von Gewalt. Die Kampfmethoden (z.B. Blitze, Feuer), sind größtenteils ebenfalls irreal. Solche Darstellungen müssen daher mit lediglich beschreibenden Gewaltdarstellung gleichgesetzt werden […]."1000 Ähnliches gilt wohl auch für jeden anderen Teil der Spieleserie (wie auch alle beschlagnahmten Computerspiele und das Gros der auf Liste B indizierten Spiele), wie z.B. den neunten Serienteil MORTAL KOMBAT (ungeachtet dessen, dass die Gewalttätigkeiten bei diesem Spiel auch Folgen für das Aussehen der betroffenen Spielfiguren zeitigen), den die BPjM aber ohne jede Diskussion des Realismus der Darstellungen auf Liste B des Index indizierte;1001 andere (die seitens des AG Tiergarten monierten Merkmale gleichermaßen erfüllende) Teile der Serie, wie MORTAL KOMBAT: DEADLY ALLIANCE oder MORTAL KOMBAT: DECEPTION, sind gar als nur 999 1000 1001 AG Tiergarten, Beschl. v. 12.06.1997, Az.: 351 Gs 2856/97 (MORTAL KOMBAT 3). IE Nr. 5478 v. 12.04.2007 (MORTAL KOMBAT: ARMAGEDDON). Vgl. IE Nr. I 68/11 v. 07.10.2011; Nr. VA 1f./11 v. 2.5.2011 und Nr. 5830f. v. 09.06.2011 (MORTAL KOMBAT). 179 jugendbeeinträchtigend ohne Jugendfreigabe nach § 14 Abs. 1 Nr. 5 JuSchG gekennzeichnet worden. Die demonstrierte Willkür kann die Betroffenen nur irritieren, denn jugendbeeinträchtigende, -gefährdende und sozialschädliche Darstellungen sind offenbar auch für die zuständigen Institutionen nicht mehr voneinander differenzierbar. 14.2.2 Schilderung von Gewalttätigkeiten Problematisch könnte aber der Begriff der Schilderung von Gewalttätigkeiten sein: Schildern ist prinzipiell eng auszulegen und verlangt bei audiovisuellen Medien die lückenlose,1002 unmittelbare, optische u./o. akkustische Wiedergabe einer Gewalttätigkeit. Auslegungsschwierigkeiten könnte der Begriff der Schilderung aber gem. HÖYNCK 2008 bzgl. Computerspielen evozieren, denn die Besonderheiten des interaktiven Mediums ließen es zumindest diskussionswürdig erscheinen, "ob die dort auslösbaren Darstellungen von Gewalttätigkeiten eine Schilderung gemäß § 131 StGB sind. [...] Problematisch könnte in Bezug auf Computerspiele das Erfordernis der Unmittelbarkeit sein, wenn die Darstellungen nicht in Zwischensequenzen gezeigt werden, sondern ihre Erzeugung durch den Spieler notwendig ist. Soweit dieser Aspekt angesprochen wird, wird [...] davon ausgegangen, dass es ausreicht, wenn in dem Spiel Gewalttätigkeiten auf vorprogrammierte Art gezeigt werden, sei es auch nur als Abfolge nach Tätigwerden des Spielers. [...] Nicht mehr unter den Begriff des Schilderns würde die Darstellung von Gewalttätigkeiten nur dann fallen, wenn nur ein Programm angeboten würde, das vom Spieler oder mehreren Spielern erst ausgefüllt werden muss."1003 Kritisch dürfte i.d.S. das Vorliegen einer Schilderung bei nur optionalen, aber nicht zwingend notwendigen Gewalthandlungen infolge willentlicher Entscheidungen des Spielers sein; u.U. muss wie beim evtl. Vorliegen einer Gewaltbeherrschtheit i.S.d. § 15 Abs. 3a JuSchG gem. SPÜRCK 2011 darauf abzustellen sein, "ob der Spieler an (im tatbestandlichen Sinne qualifizierten) Gewaltdarstellungen im Spiel nicht vorbei kommt, weil etwa standardmäßig derartige gewalthaltige Szenen in bestimmten Spielsituationen als Videosequenz abgespielt werden bzw. weil (tatbestandlich qualifizierte) Gewalt erforderlich ist, um im Spiel weiterzu1002 1003 Die Staatsanwaltschaft beim LG München I argumentierte im Rahmen des Einstellungsbeschlusses v. 12.05.1995 bzgl. des Films NATURAL BORN KILLERS (Az.: 465 b Js 95), dass der Begriff der Schilderung eng auszulegen sei, so dass gem. Bestimmtheitsgebot tatbestandsmäßige und nicht tatbestandsmäßige Darstellungen praktikabel differenzierbar sind; i.d.S. sei insb. eine lückenlose Wiedergabe der Gewalttätigkeit notwendig: "Eine Schilderung in diesem Sinne liegt deshalb nur dann vor, wenn die Gewalteinwirkung auf das Opfer gezeigt wird. Das ist beispielsweise nicht der Fall, wenn der Gewalttäter mit der Tatwaffe gezeigt wird [...] und im nächsten Bild das Opfer gezeigt wird, bei welchem die Gewalteinwirkung jedoch bereits abgeschlossen ist [...]." ERDEMIR 2000 ist aber ggü. dem zitierten Einstellungsbeschluss der a.A., dass die Wiedergabe prinzipiell auch lückenhaft sein dürfe (S.75-83). Das ist natürlich insofern korrekt, dass auch Darstellungen z.B. ungeachtet filmtechnischer Mittel wie Zwischenschnitten u.ä. erfasst sein dürften, die Darstellung der Gewalteinwirkung ist aber eine notwendige Bedingung der der Tatbestandlichkeit. Dgl. auch MAST 1999, gem. der "verfremdete Beschreibungen eines an sich grausamen Vorgangs sowie zurückhaltende und gemäßigte Darstellungen nur andeutender Natur" nicht tatbestandlich erfasst seien: "Die phantasieanregende Wirkung, auf die solche Schilderungen angelegt sein können, hat der Gesetzgeber bewusst außer betracht gelassen." (S.141) Nach NIKLES/ROLL/SPÜRCK et al. 2005 sind natürlich auch Darstellungen, die nicht die Gewalteinwirkung selbst, sondern nur die Folgen schildern, nicht tatbeständsmäßig (S.64). Oftmals attestieren Gerichte aber Darstellungen eine Tatbestandlichkeit, die i.d.S. gar keine Gewalttätigkeiten schildern; HARTLIEB 2004 moniert z.B., dass das AG Karlsruhe mit Beschl. v. 20.01.2004 insg. acht Einzelszenen des Films BLOOD FEAST als Gewaltdarstellungen inkriminierte (Az.: 31 Gs 134/04), ohne dass die vier Szenen der 14., 23., 27. und 40. Minute überhaupt tatbestandlich waren: Die Gewalteinwirkungen verdeckt im ersten Fall der Täter und in den anderen Fällen finden sie im Off statt, so dass das Merkmal der Schilderung einer Gewaltdarstellung nicht erfüllt ist (S.2); mithin sind die Szenen der 47., 51. und 53. Minute (ungeachtet eklatanter Beobachtungsfehler des Gerichts bzgl. aller drei Szenen, wie auch der konstant falschen Verwendung filmtechnischer Terminologie) auch nur potenzielle Ekelszenen, Gewalttätigkeiten werden de facto gar nicht dargestellt (S.3f.). Einzig die monierte 48. Minute des Films schildert tatsächlich Gewalteinwirkungen, das Auspeitschen einer Frau, das aber so dilitantisch wirkt, dass die Gewaltdarstellung problemlos auch als lächerlich und grotesk erlebt werden kann: "Es handelt sich insgesamt um einen Thriller-Film mit sogenannten 'Splatter'-Anteilen. Das 'hohe Alter' des Filmes (über 40 Jahre) merkt man ihm an. Handwerklich und technisch ist er lange nicht (mehr) auf dem neuesten Stand. Dies hat auf den Filmzuschauer von der Grundstimmung und der Rezeption her bereits eine distanzierende Wirkung bezüglich der einzelnen (Gewalt-)Darstellungen. Insgesamt macht der Film eher einen – gewollt oder ungewollt – unbeholfenen Eindruck. Dies ist gerade bei den 'Splatter'-Szenen deutlich: Hier ist immer wieder klar zu erkennen, mit welch simplen Tricks ('Filmblut', nachgebaute 'Körperteile' etc.) gearbeitet wurde." (S.2f.) Dgl. auch HÖLTGEN 2004a: "Auffällig ist hier der besonders schlechte Spezialeffekt: Es wird schon nach dem ersten Schlag mit der Peitsche deutlich, dass diese mit rotem Farbstoff getränkt ist, der sich sofort auf der Wand neben der Frau befindet, als die Peitsche diese berührt. Diese Beobachtung schwächt den Eindruck der Folterung, den der Beschlusstext vermittelt, doch erheblich und macht überdeutlich, dass man es mit einer recht kruden Inszenierung zu tun hat." (S.20) Bereits infolge der skizzierten Defizite des Beschlusses war die Beschlagnahme des Films prinzipiell rechtswidrig. HÖYNCK 2008, S.207f. und vgl. SCHULZ/BRUNN/DREYER et al. 2007, S.98f.. 180 kommen."1004 In letzterem Fall wäre bereits i.d.S. das Gros der bis dato nach § 131 StGB inkriminierten Spiele rechtswidrig beschlagnahmt. 14.2.3 Grausame Gewalttätigkeiten Die Darstellung von Gewalttätigkeiten ist für eine Strafbarkeit nach § 131 StGB nicht hinreichend, sondern die geschilderte Gewalt muss auch grausam u./o. unmenschlich sein: Gem. ganz h.M. ist das Tatbestandsmerkmal der Grausamkeit analog zu den Merkmalen von Mord gem. § 211 Abs. 2 StGB zu auszulegen.1005 Grausam ist eine Gewalthandlung i.d.S. gem. BVerfG, "wenn sie unter Zufügung besonderer Schmerzen oder Qualen körperlicher oder seelischer Art ausgeführt wird und außerdem eine brutale, unbarmherzige Haltung desjenigen erkennen läßt, der sie begeht [...]."1006 Ungeachtet dessen, dass bereits GUTKNECHT 2007a diesbzgl. monierte, dass eine genauere Bestimmung des Merkmals insg. und ungeachtet vermeintlich evidenter Fälle ("z.B. detaillierter Hinrichtungsszenen") problematisch, wie auch eine Anknüpfung an § 211 Abs. 2 StGB dank der fehlenden Bezugspunkte zwischen beiden Delikten nur bedingt zulässig sei,1007 sollen regelmäßig bereits Gewalttätigkeiten grausam sein, die über das für die Erreichung des erstrebten Zweckes der Gewalttätigkeit (z.B. die Tötung des Opfers) oder gar nach dem Sinn der Darstellung vermeintlich notwendige Maß an Gewalt hinausgehen.1008 Letzteres ist aber nur eine Geschmacksfrage und kann (wie bereits bzgl. § 18 Abs. 1 Satz 1 JuSchG demonstriert wurde) kein probater und insb. kein hinreichender Bezugspunkt sein. Anders als aber z.B. auch TRÖNDLE/FISCHER 2006 i.d.S. argumentieren, dass diverse Gewalttätigkeiten, wie z.B. das Verbrennen, Verbrühen u./o. Verstümmeln der Opfer per se grausame Gewalttätigkeiten seien,1009 können sie ungeachtet ihres Kontextes für sich genommen nicht zwingend eine brutale, unbarmherzige Haltung des Täters erkennen lassen, insb. nicht im Lichte der Problematik, dass die Opfer ggf. ja nicht Menschen, sondern nur menschenähnliche Wesen sind, die u.U. keine besonderen Schmerzen oder Qualen körperlicher oder seelischer Art empfinden können und denen ggü. eine brutale, unbarmherzige Haltung infolge dessen auch prinzipiell gar nicht möglich ist (s.u.). Ungeachtet dessen kann aber konstatiert werden, dass die Gerichte regelmäßig von einem unzulässig weiten Verständnis der Strafvorschrift ausgehen: Dem AG München war z.B. im Fall des Spiels CONDEMNED bereits das gem. Beschlagnahmebeschluss durch die optische und akkustische Darstellung erreichte sehr hohe Ausmaß an Brutalität der dargestellten Gewalttätigkeiten hinreichendes Synonym der Darstellung grausamer Gewalttätigkeiten. Kurioserweise führte das Gericht aber als einziges konkretes Beispiel einer vermeintlich grausamen Gewalttätigkeit nur das optionale (aber nicht notwendige) "Töten des Gegners durch Brechen des Genicks"1010 an: Einerseits ist das aber eine Gewalttätigkeit, die in ihrer konkreten Ausführung nicht in besonderen Schmerzen oder Qualen körperlicher oder seelischer Art für das Opfer resultiert. Andererseits konnte das Gericht auch ohne die diesbzgl. notwendige, aber unterlassene Kontextualisierung der Tat (s.u.) nicht darstellen, dass sie eine brutale, unbarmherzige Haltung des Täters erkennen ließe. Insofern aber interaktive Medien wie Computerspiele dem Spieler Gewalthandlungen unter Zufügung besonderer Schmerzen oder Qualen körperlicher oder seelischer Art für das Opfer nur als eine nicht notwendige Verhaltensoption infolge einer willlentlichen Entscheidung des Spielers selbst ermöglichen, ist eine tatbestandlich qualifizierte Haltung des Spielersubstituts selbst regelmäßig nicht mehr attestierbar; d.h. dass die brutale, unbarmherzige Haltung des (prinzipiell gesinnungslosen) Spielersubstitus prinzipiell nicht mehr geschildert wird, sondern nur noch die Konsequenz des idiosynkratischen Spielstils des Spielers sein kann. Auch dass 1004 1005 1006 1007 1008 1009 1010 SPÜRCK 2011, S.25. Vgl. BT-Drs. 10/2546, S.22; MAST 1999, S.140f.; ERDEMIR 2000, S.74; LIESCHING 2002, S.96; NIKLES/ROLL/ SPÜRCK et al. 2005, S.64; KRAUSE 2006, S.12; STATH 2006, S.211 und HÖYNCK 2008, S.212. BVerfGE 87, 209 (226). GUTKNECHT 2007a, S.51. Vgl. KRAUSE 2006, S.12 und TRÖNDLE/FISCHER 2006, S.883. Vgl. TRÖNDLE/FISCHER 2006, S.883. AG München, Beschl. v. 15.01.2008, Az.: 855 Gs 10/08 (CONDEMNED). 181 Gewalttätigkeiten, wie z.B. die sog. "Fatalities" (die hyperviolente Exekution unterlegener Gegner) der insb. deswegen beschlagnahmten Kampfsportspiele MORTAL KOMBAT,1011 MORTAL KOMBAT II1012 und MORTAL KOMBAT 31013 eine Schilderung grausamer Gewalttätigkeiten darstellen sollen, ist i.d.S. nicht mehr plausibel. Selbst die BPjM konstatierte ggü. dem siebten Serienteil MORTAL KOMBAT: ARMAGEDDON: "Es liegt keine grausame Gewaltanwendung vor. Die Anwendung von Gewalt ist reine Spielverabredung. Die Fatalities spielen innerhalb des Spielverlaufs lediglich eine untergeordnete Rolle."1014 Der Vollständigkeit halber konstatierte die BPjM auch dass die Darstellungen i.d.S. auch nicht mehr gewaltverherrlichend seien. Bei Computerspielen (wie bspw. allen bis dato beschlagnahmten Spielen) wird letztlich regelmäßig das Vorliegen grausamer Gewalttätigkeiten negiert werden müssen. 14.2.4 Unmenschliche Gewaltdarstellungen Dgl. gilt prinzipiell auch für das nicht minder problematische Merkmal der Unmenschlichkeit der dargestellten Gewalttätigkeiten: Eine Gewalthandlung soll nach dem Willen des Gesetzgebers nach Auffassung des BVerfG zum Ausdruck bringen, "dass mit menschenverachtender, rücksichtsloser, roher oder unbarmherziger Gesinnung gehandelt wird […],1015 so etwa, weil es dem Täter Vergnügen bereitet, völlig bedenkenlos und kaltblütig Menschen zu mißhandeln oder zu töten."1016 Ein populäres Beispiel in der Literatur ist z.B. das Erschießen von Menschen nur zum Spaß.1017 Bei unmenschlichen Gewalttätigkeiten sind an den Grad der Gewalthandlungen geringere Anforderungen zu stellen als bei grausamen Gewalthandlungen, d.h. dass die Zufügung von Schmerzen oder Qualen keine notwendige Bedingung der Merkmalserfüllung mehr ist, so dass das Merkmal der Grausamkeit prinzipiell nicht nur redundant wird (eine grausame Gewalttätigkeit wird i.d.R. immer auch unmenschlich sein), sondern auch der Rahmen einer noch klaren, handhabbaren Bestimmtheit des Merkmals erodiert: Kann bspw. noch zwischen einer unmenschlichen und einer evtl. menschlichen Gewalttätigkeit praktikabel differenziert werden?1018 Ungeachtet dessen kann aber abermals konstatiert werden, dass die Gerichte regelmäßig von einem unzulässig weiten Verständnis der Strafvorschrift ausgehen. Dem AG Tiergarten waren im Fall des Spiels LEFT 4 DEAD 2 bspw. bereits "zahlreiche drastische Gewaltdarstellungen" eine hinreichende Bedingung der Darstellung unmenschlicher Gewalt: So rufen Treffen [sic] mit Nahkampfaufnahmen und Schusswaffen Blutspritzer, -flecken und -lachen auf Boden und Wänden hervor. Besonders das Zersägen von Gegnern mit der Kettensäge resultierte in einer blutbesudelten Spielumgebung. Durch Kopfschüsse zerplatzen den Opfern die Schädel, Nahkampfangriffe, etwa mit einer Axt, trennen den Schädel ab, zurück bleibt jeweils der blutige Halsstumpf. Einige Opponenten schleppen sich mit abgetrenntem Kopf noch einige Schritte weit, bevor sie dann tot zusammenbrechen. Angriffe mit schweren Waffen oder der Motorsäge reißen Gliedmaßen ab, zertrennen den Körper des Gegners auf Höhe der Gürtellinie oder reißen Fleischstücke aus dem Körper, so dass beispielsweise darunter liegende Rippen zum Vorschein kommen. Diese Angriffe resultieren zudem darin, dass die abgetrennten Körperteile durch die Luft fliegen. Der Einsatz von Brandmunition, Molotow-Cocktails oder Gas- bzw. Benzintanks setzt Gegner in Brand, in der Folge sind verkohlte Leichen zu sehen. Die Darstellungen werden zusätzlich durch Stöhnen und Schreie der Opfer akustisch untermalt. [...] Das Spiel enthält mit seinen Tötungsszenarien, dem Abtrennen von Armen und Beinen sowie unter Beschuss zerfetzenden Köpfen omnipräsente und brutalste Gewaltdarstellungen. [...] Die im Spiel präsentierten Gewaltszenen lassen sowohl im Hinblick auf ihre Intensität als auch ihren Umfang ein extrem hohes Maß an menschenverachtender Geisteshaltung erkennen.1019 Wie auch beim Merkmal grausamer Gewalttätigkeiten lassen Darstellung von Gewalttätigkeiten ungeachtet der Intensität der dargestellten Gewalthandlungen (i.S.d. audiovisuellen Darstellung der spezifischen Trefferwirkungen der schweren Waffen, der Motorsäge, der Brandmunition, der Molotow-Cocktails oder der Gas- bzw. Benzintanks) nicht per se ein extrem hohes Maß an 1011 1012 1013 1014 1015 1016 1017 1018 1019 Vgl. AG München, Beschl. v. 11.11.1994, Az.: ER Gs 465b Js 172960/94 (MORTAL KOMBAT). Vgl. AG München, Beschl. v. 08.02.1995, Az.: 8340 Gs 9/95 (MORTAL KOMBAT II) Vgl. AG Tiergarten, Beschl. v. 12.06.1997, Az.: 351 Gs 2856/97 (MORTAL KOMBAT 3) IE Nr. 5478 v. 12.04.2007 (MORTAL KOMBAT: ARMAGEDDON). Vgl. BT-Drs. VI/3521, S.7. BVerfGE 87, 209 (226f.). Vgl. LIESCHING 2002, S.96; NIKLES/ROLL/SPÜRCK et al. 2005, S.64 und KRAUSE 2006, S.12. Vgl. OEHLER 1988, S.185f.. AG Tiergarten, Beschl. v. 15.02.2010, Az.: (353 Gs) 75 Js 1079/09 (694/10) (LEFT 4 DEAD 2). 182 menschenverachtender Geisteshaltung hinreichend erkennen, auch nicht Splatter- u./o. Goreeffekte. Die für den strapazierbaren Vorwurf einer qualifizerten Geisteshaltung der in den Medien agierenden Täter notwendige ganzheitlichen Betrachtung des (phantastischen) Kontextes unterlässt das Gericht, das nur die Gewaltdarstellungen enumerierte, natürlich auch: Die Spielersubstitute kämpfen aber nur um das eigene Überleben und ausschließl. (und prinzipiell in Notwehr, wie auch ggf. in Nothilfe) gegen zombieähnliche (z.T. massiv mutierte) sog. Infizierte, denen ggü. die Spielesubstitute generell kaum oder gar nicht menschenverachtend, rücksichtslos, roh u./o. unbarmherzig agieren können. Insb. ersteres gilt auch für das Gros der bis dato beschlagnahmten Spiele. Die dekontextualisierende Aufzählung der Gewalttätigkeiten ist aber – ungeachtet des Mediums – generell ein endemisches Problem aller Beschlagnahmebeschlüsse nach § 131 StGB. Das AG München argumentierte z.B. im Fall des Spiels CONDEMNED, dass die dargestellten Gewalttätigkeiten per se nicht nur "kaltblütig", sondern gar "sinnlos" seien, ohne aber die Frage des Sinns im Rahmen der Narration des Spiels zu thematisieren (s.u.), gem. der die Gewalthandlungen des Spielersubstituts tatsächlich insg. nur Notwehrhandlungen in einem phantastischen Szenario der existenzbedrohenden Notwehrlage für das Substitut selbst sind. Stattdessen rekurriert der Beschluss des Gerichts ausschließl. auf die Spielmechanik: Die Tötung der Gegner durch sog. "finishing moves" diene keinem Zweck, gleiches gälte für das Nachschlagen auf einen bereits toten Gegner, "um sicherzustellen, dass dieser auch wirklich tot ist. Beides sei reiner Selbstzweck und somit Ausdruck einer rücksichtslosen Gesinnung." Beides ist aber falsch: Einerseits dienen die "finishing moves" dem Zweck der Beendigung der Notwehrsituation, denn nicht eliminierte Gegner attackieren das Spielersubstitut ohne Ende, so dass die Tötung i.w.S. von § 32 Abs. 2 StGB, § 227 Abs. 2 BGB und § 15 Abs. 2 OWiG erforderlich sein könnte. Andererseits ist für das "Nachschlagen auf bereits tote Gegner" eine willentliche Interaktion des Spielers notwendig, so dass erstens eine Schilderung u.U. gar nicht mehr vorliegt und dass zweitens nur ein Interaktionspotenzial markiert wird, das auch unzähligen nicht inkriminierten (und auch nich indizierten) Spielen (quasi allen Spielen, in denen getötete Gegner nicht instantan desintegrieren) zu eigen ist und infolge dessen natürlich auch nicht mehr hinreichend tatbestandlich qualifizierend sein kann. Auch der diesbzgl. Kommentar des damals zuständigen Richters Robert GRAIN demonstriert, dass das Gericht von einem unzulässig weiten Verständnis der Strafvorschrift und insb. auch der Voraussetzung für das Vorliegen von Gewalt ausgegangen ist: "Die Finishing Moves sind völlig sinnlos. Es wäre ebenso gewaltverherrlichend, wenn ich in einem Spiel auf eine Leiche eintreten könnte – auch wenn das Opfer in diesem Fall ja keine Schmerzen mehr empfindet."1020 Die skizzierte Störung der Totenruhe wäre aber bereits ungeachtet der Meinung des Amtsrichters nicht einmal mehr eine Gewalttätigkeit i.S.d. Norm. Die diskutierten, wie auch ähnliche Beschlüsse korrespondieren mit der besonders fragwürdigen Problematisierung des Spielprinzips des Schutzes von Leib und Leben des Spielersubstituts im Rahmen diesbzgl. gegenwärtiger Gefahren für dasselbe: Ggü. dem Spiel SOLDIER OF FORTUNE: PAYBACK hatte bspw. das AG Amberg eine "äußerst menschenverachtende Grundhaltung" moniert, "die jedes Element des Spiels durchzieht. Das eigene Überleben steht im Vordergrund, nichts anderes ist von Wert; somit gilt es jeden, der sich in den Weg stellt, zu töten."1021 Das Gericht ignorierte aber das Szenario einer fiktionalen Extremsituationen, der konstanten, gegenwärtigen Bedrohung von Leib und Leben des Spielersubstituts durch die weder verhandlungsbereiten, noch -fähigen Antagonisten; tötet das Spielersubsitut die Antagonisten nicht, wird es selbst getötet. Selbstschutz dürfte aber eine tatbestandlich notwendige menschenverachtende, rücksichtslose, rohe oder unbarmherzige Gesinnung, wie auch eine brutale, unbarmherzige Haltung effektiv konterkarieren. Mithin ist auch das ein Spielprinzip, das auch unzähligen nicht inkriminierten (und auch nich indizierten) Spielen zu eigen ist und infolge dessen natürlich abermals auch nicht mehr hinreichend tatbestandlich qualifizierend sein kann. Das die Gerichte 1020 1021 Zitiert in: SIEGISMUND 2008, S.3. AG Amberg, Beschl. v. 17.6.2008, Az.: 102 UJs 1987/08 (SOLDIER OF FORTUNE: PAYBACK). 183 aber Spielprinzipien u.ä. inkriminieren, die gar für komplette Genres u.ä. konstituierend sind, ist keine Ausnahme, wie noch im Folgenden noch demonstriert wird. 14.2.5 14.2.5.1 Verherrlichung u./o. Verharmlosung von Gewalttätigkeiten Verherrlichung von Gewalttätigkeiten Die dargestellten Gewalttätigkeiten müssen nicht nur grausam u./o. unmenschlich sein, sondern i.S.v. zweien der drei Tatbestandsalternativen der Norm ggf. in einer Art geschildert werden, die eine Verherrlichung u./o. eine Verharmlosung solcher Gewalttätigkeiten per se (und nicht nur der konkret dargestellten Handlungen) ausdrückt; beide Kriterien basieren expl. auf dem Indizierungskriterium der Kriegsverherrlichung des § 15 Abs. 2 Nr. 2 JuSchG.1022 Zu der Frage der Auslegung der Merkmale ist bislang aber noch keine höchstrichterliche Rechtsprechung ergangen, gem. der Kommentarliteratur soll aber z.B. der Begriff der Verherrlichung weit auszulegen sein, so dass nicht nur direkte Glorifizierungen und Lobpreisungen solcher Gewalttätigkeiten (die aber außerhalb bspw. dezidiert misanthroper u.ä. Medieninhalte nicht vorliegen werden), sondern auch Darstellungen erfasst sein sollen, durch die solche Gewalttätigkeiten affirmiert oder positiv bewertet werden,1023 bspw. dadurch, daß sie als anziehend, reizvoll, wertvoll oder als Kennzeichen für männliche Tugenden und Möglichkeit dargestellt werden, Anerkennung, Ruhm oder Auszeichnungen zu gewinnen. Nach ERDEMIR 2000 sind diese Kriterien natürlich ggf. geeignet, "beim Betrachter einen positiven Eindruck über Gewalttätigkeiten und damit eine werbende Wirkung zu erreichen. Will man jedoch der uferlosen Ausdehnung des Tatbestands entgegenwirken, […] ist mehr zu verlangen. Die heldenhafte Zeichnung der Protagonisten und die damit einhergehende Besetzung sämtlicher Gegner mit negativen Emotionen […], mag vielleicht ein Indiz für das Vorliegen einer Gewaltverherrlichung sein, ist letztlich jedoch ein unverzichtbares Stilmittel bestimmter Genres wie beispielsweise des Abenteuer- und des Action-Films. Sie erfüllen […] eine unverzichtbare dramaturgische Funktion. So enthalten die meisten dieser Filme grausame oder sonst unmenschliche Gewalttätigkeiten, die zum Teil durchaus auch von sympathischen und heldenhaft gezeichneten Figuren – man denke nur an James Bond oder Indiana Jones – ausgehen. Unstreitig will § 131 StGB jedoch nicht bestimmte Filmgenres per se verbieten.1024 […] Eine tatbestandliche Gewaltverherrlichung im Sinne des § 131 StGB liegt hiernach dann vor, wenn die betreffende Darstellung auf Grund ihres grausamen oder unmenschlichen Inhalts und des Kontextes, in dem sie erfolgt, eindeutig und für jedermann1025 erkennbar für die konkret ausge1022 1023 1024 1025 Vgl. BT-Drs. VI/3521 S.7. Vgl. LIESCHING 2002, S.98. Im Lichte einer drohenden uferlosen Ausdehnung des Tatbestands sollen gem. ganz h.M. diverse genreimmanente Gewaltdarstellungen bspw. des Western-, Abenteuer-, Agenten-, Kriminal- oder Comicgenres ungeachtet evtl. Tatbestandserfüllungen nicht von § 131 StGB erfasst sein (vgl. KRAUSE 2006, S.20); z.T. wird expl. für die Formulierung eines Ausnahmetatbestands der Sozialadäquanz im Rahmen des § 131 StGB plädiert (vgl. HEINRICH 2008, S.1). Eine Klausel, die aber bspw. arbiträrerweise nur bestimmten Darstellungen auch noch nur im Rahmen bestimmter Genres eine Sozialadäquanz attestiert, ginge an der Realität der Medien vorbei. Auch SCHULZ/BRUNN/DREYER et al. 2007 argumentieren: "dass sich rechtliche Anforderungen, die an Genres anknüpfen, in der Praxis als schwierig erweisen." (S.25) Ungeachtet dessen muß die Annahme einer Sozialadäquanz für nicht expl. propagandistische und insb. nur fiktionale (und ggf. gar auch nur phantastische) Darstellungen per se(!) an dieser Stelle natürlich ausdrücklich begrüßt werden. Dem Schutz der Darstellungen wäre aber u.U. auch bereits mit einer betont engen Auslegung der Verherrlichung Genüge getan. Der Vollständigkeit halber sei auch noch HÖYNCK 2008 kommentiert, die bzgl. der Annahme einer Sozialadäquanz im Einzelfall prüfen lassen will, "ob die zu bewertenden Inhalte in einer Weise gängig sind, dass davon auszugehen ist, dass sie von nahezu jedem Betrachter in einer Weise wahrgenommen und eingeordnet werden können, die einen verherrlichenden Charakter ausschließt […]." (S.209) Nicht nur kann ein Tatrichter im Lichte der Heterogenität menschlicher Rezeption auf dem Feststellungsweg gar nicht konstatieren, wie nahezu jeder Betrachter eine Darstellung wahrnehmen und einordnen wird, auch würde dank der Erforderlichkeit der Konkordanz nahezu aller Betrachter (die wohl nie erzielt werden kann) die Sozialadäquanz einer Darsellung nie verfangen! Vgl. BGH, Urt. v. 15.12.1999, Az.: 2 StR 365/99; LIESCHING 2002, S.97 und STATH 2006, S.212. Gem. der h.M. wird – wie z.B. auch bei der Bewertung der Offensichtlichkeit einer schweren Jugendgefährdung gem. § 15 Abs. 2 Nr. 5 JuSchG – auf die diesbzgl. Bewertung eines durchschnittlichen Betrachters abzustellen sein (vgl. STATH 2006, S.212), so dass sich die Verherrlichung (ohne besondere Mühe) erkennbar aus dem Gesamteindruck oder u.U. gar aus besonders ins Auge springenden Einzelheiten ergeben und bereits i.d.S. im Lichte der Diversität der Medienrezeption für eine enge Auslegung des Merkmals plädiert werden mus: Eine weite Auslegung, die auch bereits nur implizite Verherrlichungen (auch noch i.w.S.) erfassen und infolge dessen auf den nur noch subjektiven Eindruck des Betrachter rekurrieren soll, verstößt gegen das Bestimmtheitsgebot. Die Problematik demonstrierte auch das AG Tiergarten aktuell mit Beschl. v. 28.02.2012 [Az.: (353 Gs) 284 Js 1762/11 (1013/12)] bzgl. des Films SAW VII – VOLLENDUNG, das argumentierte, dass der "geneigte Rezipient" ggü. diversen (im 184 übte Gewalttätigkeit – gerade auch in ihrer Grausamkeit oder sonstigen Unmenschlichkeit – wirbt. Insoweit ist das Vorliegen einer unverhohlenen, direkten Glorifizierung der gezeigten Gewalttätigkeiten erforderlich, die erkennbar über den Grad hinausgeht, der bestimmten Filmtypen allein schon genrebedingt immanent ist."1026 Ähnliches gilt u.a. auch für Computerspiele. Notwendig wird eine eng(st)e Auslegung der Verherrlichung auch dadurch, dass z.B. nach MAST 1999 die praktikable "Abgrenzung zwischen Verherrlichen, bloßem Beschreiben und der Anregen zum kritischen Nachdenken"1027 im Lichte einer weiten Auslegung des Merkmals i.d.R. objektiv kaum oder gar möglich sein wird.1028 Zusammengefasst wäre insg. eine enge Auslegung des Merkmals notwendig, die ausschließl. unverhohlene, direkte Glorifizierung der gezeigten Gewalttätigkeiten erfasst. Letztlich hat auch das BVerfG bereits der Tatbestandsalternative der Verletzung der Menschenwürde nur im Rahmen einer engen Auslegung eine hinreichende Bestimmtheit attestiert (s.u.).1029 Infolge einer engen Auslegung der Verherrlichung dürfte die Tatbestandsalternative aber auch keine Praxisrelevanz mehr haben, denn kaum einer oder gar keiner der aktuell diesbzgl. inkriminierten Filme und keines der Computerspiele wäre noch erfasst. Amts- und Landesgerichte legen das Merkmal aber ungeachtet dessen i.d.R. extrem, ja unzulässig weit aus: Das Gros oder gar alle der nach § 131 StGB beschlagnahmten, vermeintlich gewaltverherrlichenden Filme, wie auch alle diesbzgl. Computerspiele dürften aber kaum für jedermann plausibel gewaltverherrlichend sein;1030 z.T. fehlen den Gerichtsbeschlüssen rechtswidrigerweise argumentativ fundierte(!) Feststellungen, daß die Rezipienten tatsächlich zu einer bejahenden Anteilnahme an den Gewalttätigkeiten angeregt werden könnten (s.u.), so dass nach der Logik der diesbzgl. Beschlüsse bereits Darstellungen solcher Gewalttätigkeiten per se hinreichend tatbestandserfüllend sein sollen (s.u.) – Darstellungen grausamer u./o. unmenschlicher Gewalt verherrlichen aber für sich genommen solche Gewalthandlungen nicht, die Schilderung in einer Art, die eine Verherrlichung solcher Gewalttätigkeiten ausdrückt, ist ja als besonderes Merkmal genannt ist, das zusätzlich zur Schilderung einer Gewalttätigkeit erfüllt sein muß –, so dass selbst Medien inkriminiert werden können, die (je nach Interpretation des Rezipienten) Gewalt prinzipiell missbilligen. Ein aktuelleres, prägnantes Beispiel für einen solchen Beschlag- 1026 1027 1028 1029 1030 Rahmen des Beschlusses ohne Kontextualisierung enumerierter, aber ungeachtet der Positionierung des Gerichts insg. nicht tatbestandserfüllender) Gewaltdarstellungen die Gelegenheit erhalte, sich an den Leiden der Gewaltopfer "weiden" oder "delektieren" zu können und dass auch die vermeintlich "verworrene Story" einzig dazu diene, "dem geneigten Betrachter ein sadistisches Vergnügen an dem Geschehen zu vermitteln." Ungeachtet dessen, dass bereits die Medienkompetenzdefizite des Tatrichters nicht Basis eines Gerichtsbeschlusses sein können, werden sich ungeachtet der (unerheblichen Intention der Urheber, wie auch der) äußeren Form und des Gesamtkontexts der Darstellung immer(!) Geneigte finden lassen, die sich an Gewaltdarstellungen "weiden" oder "delektieren" können, selbst an unpathetisch-nüchternen Darstellungen (wie bspw. auch Dokumentationen, Nachrichten etc.) oder auch z.B. dezidierten Antikriegs- u./o. -gewaltfilmen (die die qualifizierten Gewalttätigkeiten schildern): Entsprechend Geneigte können auch einen Film wie AMERICAN HISTORY X als Plädoyer für Rassismus oder DIE BLECHTROMMEL als Propagierung der Kinderpornographie interpretieren. ERDEMIR 2000, S.84-108 und vgl. HEINRICH 2008, S.2. Vgl. MAST 1999, S.140f.. Vgl. HÖYNCK 2008, S.206. Vgl. BVerfGE 87, 209 (228f.). Vgl. BIRKE 2007. Bspw. sind in einem Gros der inkriminierten Filme (bspw. FREITAG DER 13. – DAS LETZTE KAPITEL; HOSTEL 2; TANZ DER TEUFEL etc.) regelmäßig vielmehr die Opfer der Gewalthandlungen prägnantere Identifikationsmodelle als die Täter; HARTLIEB 2004 konstatiert i.d.S. für den Film BLOOD FEAST mehrmals, dass der Film nicht nur anregt, Mitleid mit den Opfern zu evozieren und die Menschenwürde tendenziell betont und nicht negiert: "Entscheidend ist darüber hinaus, dass der Film insgesamt […] die gezeigte Gewalt weder verherrlicht, noch verharmlost. Im Gegenteil: Die Morde werden als abstoßend und von einem Psychopaten durchgeführt geschildert. Es entsteht keinerlei Animationseffekt. Ebenso wenig kann von einer Verharmlosung die Rede sein, da das Grausame und Grässliche des Geschehens deutlich vor Augen geführt wird. Ebenso wenig entsteht beim Betrachter eine Einstellung, dass derartige Taten etwa zu billigen sind oder gar Freude hieran aufkommt. Das Gegenteil ist der Fall. Das Verhalten des Täters wirkt auf den Betrachter abstoßend, es wird intensives Mitleid mit den (unschuldigen) Opfern erzeugt." (S.1f.) Dgl. HÖLTGEN 2004a, S.21f.. Ähnliches konstatiert für das Gros der Genrefilme per se auch STIGLEGGER 2010. Ungeachtet dessen implizieren aber diverse Beschlüsse, die Gewalttäter seien die primären, mithin einzig möglichen Identifikationsmodelle der Rezipienten, selbst ggü. vermeintlichen Modellen, die sowohl individualbiographisch, als auch situational nicht mit den durchschnittlichen Rezipienten vergleichbar und z.T. phantastische Kreaturen sind. Die oftmals salopp implizierte, affirmative Adaption der textuellen Täterperspektive (die die Richter selbst wohl kaum in Anspruch nehmen) seitens der Rezipienten ist mithin nur die Manifestation des Ressentiments, das Klientel der inkriminierten Medien rekrutiere sich aus gewaltaffinen, sadistischen Voyeuren. In Computerpielen ist das Spielersubstitut selbst zwar regelmäßig der potenzielle Gewalttäter, aber auch in den Fällen dürfte eine Verherrlichung infolge der bereits skizzierten und noch zu skizzerenden Gründe i.d.R. praktisch ausgeschlossen sein. 185 nahmebeschluss ist der des AG Detmold ggü. dem Spiel WOLFENSTEIN; einzig der Leitsatz der Redaktion kolportierte: "Der Inhalt des PC-Spiels […] ist als Gewalt verherrlichend anzusehen und verwirklicht damit den Tatbestand des § 131 StGB."1031 Darüber hinaus wird im kompletten Beschluss nur noch im Rahmen zweier Sätze die Beschlagnahme und Einziehung des Spiels angeordnet und bzgl. der Gründe formuliert: Die PC-Spiel-DVD […] enthält sowohl Gewaltdarstellungen nach § 131 StGB, als auch die Darstellung nationalsozialistischer Symbole. Schon auf dem Cover des Spiels finden sich der Totenkopf als Zeichen der SS-Totenkopfverbände und als Kragenspiegel getragene SS-Runen. In den Spielabschnitten befinden sich zahlreiche Abbildungen von Hakenkreuzen und SS-Runen, etwa auf Fahnen, Propagandaplakaten und Uniformen, sowie Hitler-Bilder. Unter andererm werden folgende Gewalttätigkeiten gezeigt: […] Zwei Krankenschwestern werden von unsichtbaren Kämpfern der Nazis getötet. […] Ein Mann wird durch einen Kopfschuss eliminiert. […] Der Spieler bekämpft zahlreiche Gegner, die er mit einer Axt tötet und verstümmelt, mittels Kopfschuss tötet oder mit einem Flammenwerfer in Brand setzt, worauf das in Flammen stehende Opfer schreiend umherläuft und dann tot zusammenbricht. […] Anderen Gegnern wird mit einem Bajonett die Kehle durchtrennt, das Opfer greift sich röchelnd an den Hals, aus dem Blut sprudelt, und fällt nach einigen Sekunden tot um. […] Gezielte Schüsse und Explosionen lassen die Köpfe der Gegner explodieren oder reißen ihm Gliedmaßen ab. […] Der Spieler tötet unbewaffnete Wissenschaftler, von denen eine Gefahr nicht ausgeht und die zudem um Gnade betteln und sich auf den Boden kauern. Ungeachtet dessen, dass dem Gericht fälschlicherweise offensichtlich auch bereits das offensichtlich nicht affirmative Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Symbole nach § 86a StGB die Anordnung der Beschlagnahme legitimieren konnte (es also i.d.S. die Tendenzschutzklausel des Abs. 3 der entsprechenden Norm ignorierte), ist der Beschluss extrem opak: Tatsächlich werden nicht nur einzig und allein die ersten beiden der monierten Gewalttätigkeiten (als Zwischensequenzen) geschildert, auch wirbt keine der beiden Schilderungen für die dargestellten Gewalttätigkeiten. Ohne im Folgenden die Handlung des Spiels en détail skizzieren zu wollen, will in ersterem Fall eine Krankenschwester, eine Kontaktperson des Spielersubstituts, eines Geheimagenten des US-amerikanischen Office of Secret Actions, denselben über geheime Menschenversuche der Nazis in einem Hospital informieren. Dem kommt aber ein Attentäter der Nazis zuvor, der die Informantin und eine andere anwesende Krankenschwester vor den Augen des Protagonisten in einem mittels einer Schutzscheibe isolierten Rezeptionsareal des Hospitals exekutiert. Dem Fluchtversuch der zweiten Krankenschwester assistiert der Protagonist gar noch hilflos alarmierend ("Get out! Get out of there!") und die Scheibe manuell und per Stuhl traktierend. Im zweiten Fall exekutiert einer der Hauptantagonisten des Spiels, SS-Hauptsturmführer Hans GROSSE, den verräterischen Doppelagenten Dr. Leonid ALEXANDROV, nachdem dieser für die Nazis nutzlos geworden ist. Ähnliches sind bspw. auch klassische Sujets unzähliger Spionagefilme und können als Handlungen der Antagonisten, die ja auch i.d.S. diabolisiert werden sollen, kaum oder besser gar nicht als affirmativ intendierte Darstellungen interpretiert werden; der Effekt dürfte vielmehr ein repulsiver und kein affirmativer sein. Bei den anderen Fällen skizzierter Gewalttätigkeiten handelt es sich auch nur noch um Interaktionspotenziale infolge willentlicher Entscheidungen des Spielers, nicht um Spielszenen, die – wie der Beschluss aber suggeriert – so zwingend im Spiel vorkommen. Mithin kann die bloße Aufzählung (tendenziell unrealistischer) immersiver Splatter- u./o. Goreeffekte für sich genommen auch keine Tatbestandsmäßigkeit indizieren, insb. sind ähnliche Darstellungen regelmäßig nach der Spruchpraxis der BPjM nur jugendgefährdend oder nach der der USK gar nur jugendbeeinträchtigend. Bezeichnenderweise waren die ersten beiden der sechs Gewaltdarstellungen auch Inhalt der von den OLJB mit "Keine Jugendfreigabe" gekennzeichneten deutschen Versionen des Spiels, in der nur die entsprechenden Bluteffekte entfernt wurden. Auch war es in dieser Version nach wie vor möglich, Gegner mit einem Flammenwerfer in Brand zu setzen, inkl. der monierten Animationen (aber ohne dass dies akkustisch durch Schreie untermalt wurde). Den Unterschied zwischen einem nur jugendbeeinträchtigenden und einem sozialschädlichen Medieninhalt sollen also nach Auffassung des Gerichts nur noch Splatter- u./o. Goreeffekte und nicht mehr (wie eigentlich vorgesehen) eine gewisse (tenenzielle) Gewalt1031 AG Detmold, Beschl. v. 19.01.2010, Az.: 3 Gs 99/10 (WOLFENSTEIN). 186 affirmation u./o. -bagatellisierung markieren, womit auch dieser Beschlagnahmebeschluss prinzipiell rechtswidrig sein dürfte. 14.2.5.2 Verharmlosung von Gewalttätigkeiten Der Bundestagsausschuss für Jugend, Familie und Gesundheit wollte im Rahmen des JÖSchNG die zweite Tatbestandsalternative, d.h. die der Gewaltverharmlosung weit auslegen und bereits "Fälle der 'beiläufigen', 'emotionsneutralen' Schilderung von grausamen oder sonst unmenschlichen Gewalttätigkeiten ohne ein 'Herunterspielen'" erfasst wissen, "sofern derartige Schilderungen als 'selbstzweckhaft' einzuordnen sind."1032 Ungeachtet des einer weiten Auslegung inhärenten, aber für ein Erwachsenenstrafrecht nicht tragfähigen pädagogischen Gedankens (der auch nicht die Aufgabe jeder Gewaltdarstellung sein kann),1033 hat nicht nur das BVerfG acht Jahre später die Tatbestandsmäßigkeit (vermeintlich) selbstzweckhafter Darstellungen grausamer u./o. unmenschlicher Gewalt im Rahmen der Tatbestandsalternative der Verletzung der Menschenwürde als unzulässig weite Aulegung der Strafvorschrift kritisiert (s.u.),1034 die Folgen der Auslegung des Ausschusses wäre auch insg. eine uferlose Ausdehnung der Strafvorschrift,1035 die an die Strafbarkeit einer Gewaltdarstellung geringere Anforderungen als an eine Eignung zur Jugendgefährdung oder gar -beeinträchtigung stellen würde. Gewaltverharmlosend können i.d.S. nicht gleich neutrale oder nicht (hinreichend) mahnende Schilderung grausamer u./o. unmenschlicher Gewalttätigkeiten sein. Nicht hinreichend ist aber auch die nur marginal engere Auslegung, dass bereits eine nicht oder nicht (hinreichend) realistische Schilderung der Konsequenzen der Gewalttätigkeiten erfasst sein soll.1036 Die Folge wäre gleichermaßen eine Uferlosigkeit der Vorschrift, die das Gros aller (grausame u./o. unmenschliche) Gewalt darstellenden Medien verbieten würde.1037 Die weite Auslegung des Merkmals würde gem. BITKOM 2002c insg. auch Darstellungen wie "James-Bond-Filme" erfassen, "bei denen man mit gutem Grund sagen könnte, dass dort eine verharmlosende Darstellung von Tötungen erfolgt, die angesichts einer allgemeinen gesellschaftlichen Akzeptanz aber sicher nicht in den Bereich der Strafbarkeit fallen sollten. Ähnliches gilt für jeden satirischen oder komödiantischen Umgang mit dem Thema Tod und Gewalt […]."1038 Auch die im Lichte dessen in der Literatur regelmäßig vorgeschlagene Auslegung, dass nur Darstellungen erfasst sein sollen, die für jedermann erkennbar für grausame u./o. unmenschliche Gewalttätigkeiten werben, indem sie die Gewalt auch bereits nur implizit herunterspielen u./o. als alltägliches, probates und ggf. legitimes Konfliktlösungsmittel darstellen,1039 ist nicht hinreichend; diesbzgl. gilt dieselbe Kritik, wie ggü. der analogen Auslegung der Tatbestandsalternative der Gewaltverherrlichung (s.o.). Tatsächlich demonstrieren die entsprechenden, d.h. auf eine bereits nur implizite (vermeintlich jedermann erkennbare) und nicht etwa explizite Gewaltverharmlosung abstellenden Gerichtsbeschlüsse auch eine extreme, ja unzulässig weite Auslegung des Tatbestandsmerkmals. Dem AG München war bspw. im Fall des Kampfsportspiels MORTAL KOMBAT (im Beschl. selbst konstant falsch "Mortal Combat" genannt) bereits das reziproke, vermeintlich "pausenlose Zufügen schwerster Körperverletzungen" der "Kampffiguren" diesbzgl. hinreichend, ohne dass dieselben Schlagkraft verlieren, "selbst wenn sie bereits mehrfach und schwer vom Gegner getroffen wurden. Auch sind die Spielfiguren in jeder neuen Spielrunde erneut einsatzfähig, ohne daß die Folgen bereits erlittener Verletzungen sichtbar würden. Das Computerprogramm läßt keine Möglichkeit, den offensichtlich zwischen den Kampffiguren konstruierten Konflikt anders als durch brutale Gewalt zu lösen. Hierin liegt eine Bagatellisierung der Gewalt als eine 1032 1033 1034 1035 1036 1037 1038 1039 BT-Drs. 10/2546, S.22. Vgl. ERDEMIR 2000, S.88. Vgl. BVerfG 87, 209 (229f.). Vgl. LIESCHING 2002, S.98f.. Vgl. ERDEMIR 2000, S.88 und HEINRICH 2008, S.2. STATH 2006, S.214. Vgl. BITKOM 2002c, S.6. Vgl. MAST 1999, S.141; ERDEMIR 2000, S.88; KRAUSE 2006, S.12; STATH 2006, S.213f. und HÖYNCK 2008, S.212. 187 im menschlichen Leben übliche Form des Verhaltens und als nachahmenswerte Methode zur Lösung von Konflikten."1040 Ungeachtet dessen, dass ein phantastisches Kampfsportturnier, in dem gleichermaßen phantastische Figuren (s.u.) gegeneinander kämpfen, offenbar keine im menschlichen Leben übliche Situation ist und infolge dessen dort dargestellte Gewalttätigkeiten kaum oder gar nicht als nachahmenswerte Methode zur Lösung von realen Konflikten bagatellisieren kann, wie auch, dass fragwürdig ist, wie im Rahmen eines derartigen Turniers ein "Konflikt" zwischen den Kampffiguren anders als durch Kampfsport zu lösen sein soll, konstatierte auch bereits LANGNER 1996 ggü. dem ersten Spiel einen "Comic-Charakter der Kampffiguren" und monierte: "Ob den Computerspielfiguren ständig schwerste Körperverletzungen zugefügt werden, lässt sich keinesfalls feststellen, allerhöchstens vermuten. Treffer des Gegners lassen zumindest optisch keine Verletzungen erkennen. Unabhängig davon sind in einem Kampfsportspiel entsprechenden Hiebe, Schläge und Tritte unverzichtbar. Ein KarateSpiel ohne Karate-Techniken ist sinnlos."1041 Nach der Argumentation des Gerichts wären tatsächlich Kampfsportspiele per se, selbst solche, die normalerweise eine Jugendfreigabe erhalten (z.B. SOUL CALIBUR 4, STREET FIGHTER IV), regelmäßig tatbbestandlich gewaltverharmlosend. Mithin sind die hyperviolenten Gewaltdarstellung der Spiele aber auch Paradebeispiele nicht tatbestandlicher gewaltsatirischer (ggf. lächerlicher und grotesker), bizarrer Übersteigerungen (s.o. die Kommentierung zum dritten Teil der Spieleserie). Bezeichnenderweise konstatierte selbst die BPjM bzgl. des siebten Teils der Serie – MORTAL KOMBAT: ARMAGEDDON –, dass eine Verharmlosung von Gewalt tatsächlich nicht stattfindet: "Die Spielfiguren bewegen sich eindeutig in einer Phantasiewelt. Es fehlt insoweit an einem menschlichen Bezug wie auch an einer Werthaftigkeit von Gewalt. Die Kampfmethoden (z.B. Blitze, Feuer), sind größtenteils ebenfalls irreal. Solche Darstellungen müssen daher mit lediglich beschreibenden Gewaltdarstellung gleichgesetzt werden, die das Tatbestandsmerkmal der Verharmlosung generell nicht erfüllen [...]."1042 Dies stellt die eindeutig überzeugendere Argumentation dar. Ein anderes Beispiel einer unzulässig weiten Auslegung des Tatbestandsmerkmals ist die Beschlagnahme des Spiels SCARFACE – THE WORLD IS YOURS nach Beschluss desselben Amtsgerichts dar: Nicht nur sei die dargestellte Gewalt grausam und unmenschlich, auch müsse ein Spieler dadurch, "dass ein Zwischenspeichern nicht möglich ist, […] so oft die Eliminierung wiederholen, bis er die Mission beendet hat. Auch das führt zur Bagatellisierung der Tötungshandlungen."1043 I.d.S. wird bereits mit der Spielekompetenz eines fiktionalen Spielers für die Tatbestandlichkeit des Spiels argumentiert (je erfolgreicher der Spieler ist, desto geringer sei die Gewaltverharmlosung und umgekehrt): Nach der Logik des Beschlusses wäre jede Darstellung grausamer u./o. unmenschlicher Gewalt, insofern sie nur (und sei es auch nur infolge des aktiven Tätigwerdens des Spielers selbst) hinreichend oft wiederholt wird, eine Verharmlosung. Letztlich argumentierte auch das AG Tiergarten mit Beschl. v. 15.02.2010 im Rahmen der Beschlagnahme des Spiels LEFT 4 DEAD 2: "Alleiniger Spielinhalt […] ist das Töten von zahlreichen Opponenten, deren Anzahl von der Spieldauer abhängt und bei einer Spieldauer von mehr als einer Stunde den vierstelligen Bereich erreichen kann. [...] Die menschlichen Opponenten treten in sehr hoher Anzahl auf, so dass es zu einer entsprechend hohen Anzahl an Tötungen kommt. [...] Jede Einzeltat wird bereits durch die Quantität der Darstellungen bagatellisiert und damit verharmlost."1044 Einerseits, ignoriert das Gericht aber den Kontext der Darstellungen (d.h. den tatsächlichen Spielinhalt). Andererseits ist die Feststellung, dass die "Anzahl an Tötungen" und die Spielzeit positiv korrelieren, nicht nur trivial, sondern suggeriert kurioserweise auch, dass das Spiel bei kürzeren Spielzeiten nicht mehr gewaltverhamlosend sei. Auch im Lichte solch inflationärer Auslegungen wäre abermals eine enge Auslegung des Tatmerkmals dringend angeraten, die ausschließl. unverhohlene, direkte Bagatellisierungen der 1040 1041 1042 1043 1044 AG München, Beschl. v. 11.11.1994, Az.: ER Gs 465b Js 172960/94 (MORTAL KOMBAT). Dgl. behauptete dasselbe Gericht mit Beschl. v. 08.02.1995 auch ggü. dem Spiels MORTAL KOMBAT II (Az.: 8340 Gs 9/95), wie auch das AG Tiergarten mit Beschl. v. 12.06. 1997 ggü. MORTAL KOMBAT 3 (Az.: 351 Gs 2856/97). LANGNER 1996, S.9f.. IE Nr. 5478 v. 12.04.2007 (MORTAL KOMBAT: ARMAGEDDON). AG München, Beschl. v. 20.11.2007, Az.: 855 Gs 426/07 (SCARFACE – THE WORLD IS YOURS). AG Tiergarten, Beschl. v. 15.02.2010, Az.: (353 Gs) 75 Js 1079/09 (694/10) (LEFT 4 DEAD 2). 188 gezeigten Gewalttätigkeiten erfasst, so dass aber infolge dessen auch die zweite Tatbestandsalternative keine Praxisrelevanz mehr hätte; bspw. wäre kaum einer oder gar keiner der aktuell diesbzgl. inkriminierten Filme und keines der Computerspiele noch erfasst. Die letzten beiden Auslegungen wären aber auch nicht mehr hinreichend von der Tatbestandsalternative der Gewaltverherrlichung unterscheidbar: Bereits ERDEMIR 2000 argumentierte plausibel, insofern der Tatbestand der Gewaltverharmlosung verlange, "daß die Gewalttätigkeiten als in besonderem Maße nachahmenswert geschildert werden, so beinhaltet eine entsprechende Berühmung der Gewalttätigkeit letztlich auch ein Verharmlosen dergestalt, daß die Wertwidrigkeit der Gewalttätigkeit der wirklichen Bedeutung widersprechend bagatellisiert wird."1045 Die Tatbestandsalternative erfasst keine Darstellungen, die nicht bereits der Tatbestand der Gewaltverherrlichung erfasst, so dass der Tatbestand der Gewaltverharmlosung nicht nur redundant ist, sondern auch gegen das Bestimmtheitsgebot verstößt.1046 14.2.6 Die Menschenwürde verletzende Gewaltdarstellungen Seit Inkrafttreten des JÖSchNG sind nach § 131 StGB auch Schriften strafbar, "die grausame oder sonst unmenschliche Gewalttätigkeiten gegen Menschen oder menschenähnliche Wesen in einer Art schildern, die […] die das Grausame oder Unmenschliche des Vorgangs in einer die Menschenwürde verletzenden Weise darstellt […]." Nach STATH 2006 wurde im Rahmen des Gesetzgebungsprozesses kolportiert, dass die von der geplanten Norm (de lege ferenda) Betroffenen die Anwendbarkeit des § 131 StGB unterminierten, "indem sie sich stereotyp auf die verfassungsmäßig garantierte Kunstfreiheit des Art. 5 Abs. 3 GG beriefen."1047 Zwischen 1974 und 1983 wurden nur 22 Verurteilungen nach § 131 StGB dokumentiert, so dass die Gesetzesproponenten im Lichte der allg. moralpanischen Medienhysterie ggü. Mediengewaltdarstellungen seit 1982 angesichts einer vermeintlichen Brutalisierung der Medien ein diesbzgl. Vollzugsdefizit konstruierten, das korrigiert werden müsse;1048 die Novellierung der Norm sei rechtspolitisch notwendig gewesen. Aber bereits RIEPE 2003 monierte, dass die Novellierung eine "Rechtsbeugung" normieren sollte, die insb. den "strategischen Zweck" habe, "die Reichweite der Vorschrift so weit auszudehnen, daß die in Artikel 5 garantierte Kunst- und Pressefreiheit grundsätzlich nachrangig ist."1049 I.d.S. konnte bspw. das LG München I ggü. dem Film TANZ DER TEUFEL nach der Darstellung des BVerfG argumentieren,1050 es könne offen bleiben, ob der Film als Kunstwerk einzustufen sei: "Die Kunstfreiheit sei jedenfalls nicht schrankenlos gewährt, sondern durch das Grundgesetz selbst begrenzt. Die gebotene Abwägung mit anderen Grundrechtsgarantien führe dazu, daß die Kunstfreiheit hier auch dann hinter der Menschenwürde anderer zurücktreten müsse, wenn man dem Film überwiegend künstlerische Darstellung zubilligen würde."1051 Das war ein Standardargument für das Gros der entsprechenden Beschlagnahmen seit Inkrafttreten des JÖSchNG.1052 BIRKE 2007 kommentierte i.d.S., dass mit der Novellierung eine Umwandlung der Norm erfolgte, "vom realitätsbezogenen Gewaltdarstellungs-Verbot in ein Zensurgesetz gegen Fantasiemedien. […] Sogar das Gebot der Menschenwürde in Artikel 1 GG kann zum Un-Wert mutieren, wenn es nicht mehr echte Menschen schützt, sondern zur Reglementierung reiner Fantasiewelten zweckentfremdet wird." Die fundamentale Prämisse der Gerichte, dass der Schutz einer auch nur abstrakten Menschenwürde grundsätzlich ggü. der Kunstfreiheit vorrangig sei, dürfte aber falsch sein (s.o.). Mithin ist nicht die Menschenwürde das Schutzgut des § 131 StGB, sondern der öffentliche Friede: Die durch das Grundrecht der Kunstfreiheit geschützten Interessen kollidieren mit dem Rechtsgut des öffentlichen Friedens, nicht mit dem 1045 1046 1047 1048 1049 1050 1051 1052 ERDEMIR 2000, S.89 und vgl. BITKOM 2002c, S.6. Vgl. ERDEMIR 2000, S.109f. STATH 2006, S.39f.. Vgl. BT-Drs. 10/2546, S.21. RIEPE 2003, S.7. Vgl. LG München I, Beschl. v. 11.05.1989, Az.: 15 Qs 18/89 (TANZ DER TEUFEL). BVerfGE 87, 209 (218). Vgl. RIEPE 2003, S.23. 189 der Menschenwürde, so dass in jedem Fall eine (ergebnisoffene) Güterabwägung geboten war. Beschlüsse, die im Rekurs auf die vermeintlich grundsätzliche Vorrangigkeit der Menschenwürde Medien ohne die skizzierte Güterabwägung beschlangahmten oder gar auch einzogen, dürften i.d.S. rechtswidrig sein. Ungeachtet dessen wurde aber auch bereits die Bestimmtheit dieser Tatbestandsalternative intensiv diskutiert: Unproblematisch sei die Bestimmtheit des Merkmals nach Auffassung des BVerfG, "soweit es Fälle erfaßt, in denen durch die filmische Darstellung konkrete Personen in ihrer Würde verletzt werden. Darin erschöpft sich jedoch der erkennbare Sinn der Vorschrift nicht. Vielmehr ergibt sich aus deren Wortlaut und systematischem Zusammenhang, daß sie vor allem auch Fälle erfassen soll, in denen die Schilderung […] darauf angelegt ist, beim Betrachter eine Einstellung zu erzeugen oder zu verstärken, die den fundamentalen Wert- und Achtungsanspruch leugnet, der jedem Menschen zukommt. Das geschieht insbesondere dann, wenn grausame oder sonstwie unmenschliche Vorgänge gezeigt werden, um beim Betrachter ein sadistisches Vergnügen an dem Geschehen zu vermitteln, oder um Personen oder Gruppen als menschenunwert erscheinen zu lassen. Eine solche Tendenz schließt die Vorstellung von der Verfügbarkeit des Menschen als bloßes Objekt ein, mit dem nach Belieben verfahren werden kann. Deshalb kann auch eine menschenverachtende Darstellung rein fiktiver Vorgänge das Gebot zur Achtung der Würde des Menschen verletzen. Sie ist zudem geeignet, einer allgemeinen Verrohung Vorschub zu leisten, den Respekt vor der Würde des Mitmenschen beim Betrachter zu mindern und so auch die Gefahr konkreter Verletzungen dieses Rechtsguts zu erhöhen."1053 Nicht der Wortlaut der Norm selbst, sondern die Rechtsprechung will i.d.S. kurioserweise auf eine diesbzgl. intentionale Menschenwürdeverletzung seitens der Medienmacher abstellen (die Schilderung soll "darauf angelegt" sein). Eine solche Intention kann aber insb. nicht mittels einer simplen Textanalyse ermittelt werden und dürfte ohne Ressentiments ggü. den Medienmachern (wie auch z.T. ggü. dem Publikum) oder außerhalb realpropagandistischer (und ggf. volksverhetzender) Medien normalerweise auch nicht besonders plausibel sein. Nach dem Willen des Gesetzgebers sollen aber ungeachtet dessen sogar bereits "exzessive Schilderungen von Gewalttätigkeiten" erfasst sein, "die u.a. gekennzeichnet sind durch das Darstellen von Gewalttätigkeiten in allen Einzelheiten, z.B. das (nicht nur) genüssliche Verharren auf einem leidverzerrten Gesicht oder den aus einem aufgeschlitzten Bauch herausquellenden Gedärmen."1054 Will man der uferlosen Ausdehnung des Tatbestands entgegenwirken, ist aber mehr zu verlangen als nur eine detaillierte Gewaltdarstellung zu Unterhaltungszwecken:1055 Einerseits können Schilderungen der Art (insb. auch im Rahmen der entsprechenden Kontexte derselben) nämlich auch Sympathien mit dem Opfer erzeugen oder verstärken; ob und wie die Rezipienten die Täter- oder Opferperspektive im Rahmen solcher Schilderungen einnehmen, kann nicht alleine anhand der Medieninhalte selbst ermittelt werden, auch sind in einem Gros der beschlagnahmten Filme auch tendenziell die Opfer und nicht die Täter die plausibleren Identifikationsmodelle. Andererseits könnte der Tatbestand andernfalls u.U. sogar bereits geringere Anforderungen an eine Beschlagnahme als an eine Indizierung nach § 18 Abs. 1 Nr. 1 und nach § 15 Abs. 2 Nr. 3a JuSchG stellen. Tatsächlich rezitierte das AG München u.a. im Fall der Beschlagnahme des Films HOSTEL 2 (trotz juristischer Unbedenklichkeitserklärung der SPIO/JK) auch nur die entsprechende Argumentation der BPjM,1056 die bereits im Rahmen der antezedierenden Indizierung nicht hinreichend zwischen einer schweren Jugendgefährdung i.S.d. letzteren Norm und einer Verletzung der Menschenwürde nach § 131 StGB differenzierte: "Gewalt- und Tötungshandlungen prägen das mediale Geschehen. Gewalt wird selbstzweckhaft und detailliert dargestellt, ihre Anwendung legitimiert und gerechtfertigt. Eine solche Botschaft 1053 1054 1055 1056 BVerfGE 87, 209 (228f.); vgl. OEHLER 1988, S.189f.; MEIROWITZ 1993, S.152ff.; ERDEMIR 2000, S.92-96; GOTTBERG 2000a, S.129; LIESCHING 2002, S.102; KRAUSE 2006, S.12/16ff.; STATH 2006, S.214-217; SCHULZ/ BRUNN/DREYER et al. 2007, S.99 und SCHULZ/DREYER 2007b, S.1. BT-Drs. 10/2546, S.23; vgl. NIKLES/ROLL/SPÜRCK et al. 2005, S.541f. und STATH 2006, S.154. Vgl. ERDEMIR 2000, S.95. Vgl. IE Nr. 8049 (V) v. 06.02.2008 (HOSTEL 2). 190 widerspricht dem Gebot, die Menschenwürde zu achten."1057 Nach Auffassung desselben Gerichts,1058 wie nach der des AG Tiergarten, verletzten aber auch bereits vermeintlich selbstzweckhafte Darstellungen grausamer u./o. sonst unmenschlicher Gewalttätigkeiten ungeachtet des Detailgrads derselben die Menschenwürde;1059 das Standardargument der Gerichte seit Inkrafttreten des JÖSchNG. Eine Ausnahme ggü. dieser Argumentation markiert im Bereich der Computerspiele nur die Beschlagnahme des Spiels SCARFACE – THE WORLD IS YOURS durch das AG München: "Die Missionen können nur durch Tötungen erfüllt werden. Sie sind notwendiges Zwischenstadium des Spiels. Es müssen insgesamt 83 Gangs mit jeweils einem Dutzend Mitgliedern eliminiert werden, sodass im Endeffekt ein blindes 'Niedermetzeln' von allem, was sich dem Spieler in den Weg stellt das Ergebnis ist und der Gegner wie Schlachtvieh seinem Ende entgegen sieht. Der Gegner verliert dadurch jegliche menschliche Qualität und wird zum Tötungsobjekt degradiert. Die Tötungen selbst werden […] so selbstverständlich wie Autofahren oder Laufen."1060 Kurioserweise sollte aber einerseits nach demselben Beschluss dgl. (d.h. die Quantität der Gewaltdarstellungen) auch bereits hinreichend eine Gewaltverharmlosung indizieren (s.o.), andererseits wurde bereits moniert, dass die Statistenfunktion expersonalisierter Opponenten für Genrespiele wie das gegenständliche oftmals konstitutiv ist und nichtmal eine einfache Jugendgefährdung begründen kann, will man einer Uferlosigkeit derselben entgegenwirken. Tatsächlich hatte das BVerfG aber bereits 1992 konstatiert, dass es nicht hinreichend tatbestandserfüllend sein kann, "dass rohe Gewalttaten in aufdringlicher Weise anreißerisch und ohne jegliche sozial sinnhafte Motivation um ihrer selbst Willen gezeigt würden. Damit wird das Tatbestandsmerkmal einer die Menschenwürde verletzenden Darstellung in einer Weise ausgelegt, die keine hinreichend bestimmten Konturen mehr erkennen lässt. Gewalttätigkeit […] verletzt für sich genommen die Menschenwürde nicht. Das ergibt sich schon daraus, dass die Darstellung in einer die Menschenwürde verletzenden Weise im Tatbestand als besonderes Merkmal genannt ist, das zusätzlich zur Schilderung der Gewalttätigkeit erfüllt sein muss. Deswegen kann auch weder die Häufung noch die aufdringliche und anreißerische Darstellung von Gewalttätigkeiten für sich allein den Tatbestand erfüllen. Jedenfalls ließen sich, wenn es auf diese Kriterien ankäme, die […] verbotenen Handlungen nicht deutlich genug von als zulässig anzusehenden Darstellungen etwa in Abenteuer- oder Kriminalfilmen abgrenzen."1061 Insofern dürfte das Gros der entsprechenden Beschlagnahmen, wie die konkreten Beispiele bereits demonstrieren, insg. rechtswidrig sein.1062 Die Frage stellt sich, welche Darstellungen der Tatbestand außerhalb (bereits von § 130 StGB erfasster) realpropagandistischer oder solcher (wahrscheinlich gar nicht existenter) intentionale Menschenwürdeverletzungen expl. artikulierender Medien überhaupt noch erfassen könnte. Ungeachtet dessen argumentiert aber letztlich auch ERDEMIR 2000, dass die Tatbestandsalternative der Menschenwürdeverletzung redundanterweise insg. keine neuen Darstellungen erfasst, die nicht bereits auch gewaltverherrlichend, d.h. darauf angelegt sind, beim Betrachter eine Einstellung zu erzeugen oder zu verstärken, die den fundamentalen Wert- und Achtungsanspruch leugnet, der jedem Menschen zukommt. Damit bleibe festzustellen, "daß zur Einführung des hochgradig wertausfüllungsbedürftigen Begriffes der 'Menschenwürde' in den § 131 StGB [...] keine gesetzliche Notwendigkeit bestand. Folglich ist auch diese Tatbestandsalternative mit Art. 103 Abs. 2 GG nicht vereinbar und somit verfassungswidrig."1063 1057 1058 1059 1060 1061 1062 1063 AG München, Beschl. v. 10.6.2008, Az.: 465 Js 306253/08 (HOSTEL 2). Vgl. AG München, Beschl. v. 10.12.2008, Az.: 855 Gs 596/08 (STORM WARNING). Vgl. AG Tiergarten, Beschl. v. 28.02.2012, Az.: (353 Gs) 284 Js 1762/11 (1013/12), aufgeh. durch Beschl. v. 12.12.2012, Az.: 528 Qs 126/12 (SAW VII – VOLLENDUNG). AG München, Beschl. v. 20.11.2007, Az.: 855 Gs 426/07 (SCARFACE – THE WORLD IS YOURS). BVerfGE 87, 209 (229) und vgl. RIEPE 2003, S.25. Vgl. RIEPE 2003, S.25. ERDEMIR 2000, S.97 und vgl. HÖYNCK 2008, S.212. 191 14.2.7 Menschenähnliche Wesen Letztlich ist notwendig, dass die Medien grausame oder sonst unmenschliche Gewalttätigkeiten gegen Menschen oder sog. menschenähnliche Wesen schildern. Der originäre Wortlaut der Norm erfasste nur Menschen,1064 der Gesetzgeber, resp. der im Rahmen der Beratungen für das JÖSchNG zuständige Ausschuss für Jugend, Familie und Gesundheit, argumentierte aber bereits 1984, "dass unter dem Merkmal 'Menschen' auch menschenähnliche Wesen verstanden werden, wie […] z.B. […] 'Zombies' oder ähnliche Wesen."1065 Im Lichte dessen beschlagnahmten deutsche Gerichte in den folgenden Jahren hunderte von Filmen, die Gewalttätigkeiten auch bereits nur gegen menschenähnliche Wesen schilderten. Das BVerfG widersprach der Auffassung des Gesetzgebers aber 1992 als Verstoß gegen das Analogieverbot des Art. 103 Abs. 2 GG: "Wenn der Gesetzgeber die filmische Darstellung von Gewalt gegen menschenähnliche Wesen [vor allem sogenannte Zombies] hätte unter Strafe stellen wollen, hätte er dies im Wortlaut der Vorschrift zum Ausdruck bringen müssen."1066 Aber weder wurden infolge dessen die bereits beschlossenen, rechtswidrigen Gerichtsbeschlüsse revidiert, noch konnte das Gerichtsurteil innerhalb der nächsten elf Jahre weitere unrechtmässige Beschlagnahmen solcher Medien, die (fast) ausschl. Gewalttätigkeiten gegen menschenähnliche Wesen schildern, verhindern.1067 Erst infolge des sog. Amoklaufs von Erfurt am 26.04. 2002 wurde die Norm im Rahmen des SexÄndG novelliert, so dass seitdem auch Gewalttätigkeiten gegen menschenähnliche Wesen erfasst werden. Der Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages hatte einerseit kolportiert, dass sich in der Vorgeschichte des Täters, wie auch der Täter ähnlicher Verbrechen, ein "übermäßiger Konsum gewaltverherrlichender Videofilme und Computerspiele" finde und dass das ein "gewisses Gefährdungspotenzial medialer Gewaltdarstellungen" indiziere; das sei auch "überwiegend" in der Wissenschaft die Auffassung.1068 Tatsächlich konnte dgl. aber nie demonstriert werden.1069 Andererseits habe sich auch in der Praxis gezeigt, "dass ein gewisses Missverhältnis zwischen der öffentlich wahrzunehmenden Fülle von medialen Gewaltdarstellungen und der […] Aburteilungen und Verurteilungen wegen einer Straftat nach § 131 besteht. Diese Beobachtung legt es nahe, gesetzgeberische Maßnahmen zu ergreifen, die geeignet und bestimmt sind, die 1064 1065 1066 1067 1068 1069 Vgl. KORTLÄNDER 1998, S.143f.. Vgl. BT-Drs. 10/2546, S.22. Vgl. BVerfGE 87, 209 (225f.). Ein diesbzgl. interessanter Fall ist der der Beschlagnahme des Films DAS GEISTERSCHIFF DER SCHWIMMENDEN LEICHEN; bereits das AG München hatte den Film mit Beschl. v. 26.01.1987 beschlagnahmt (Az.: 443 Gs 8/87 465 b Js 173061/86) und mit Beschl. v. 24.03.1988 gar eingezogen (Az.: 443 Cs 465 b Js 173061/86). Das AG Tiergarten beschlagnahmte im Rekurs auf die vorangegangene Beschlagnahme eine Neuauflage des Films mit Beschl. v. 01.03.2000 und zählte auch diverse, vermeintlich tatbestandsmäßige Schilderungen von Gewalttätigkeiten auf, wie bspw. die der 157. Minute: "Ein Skelett verbrennt […]." (Az.: 351 Gs 763/00) Ungeachtet dessen, dass das Prozedere der Enumeration von Gewaltdarstellungen bereits in sachlich-rechtlich Hinsicht für die Feststellung einer solche Tatbestandserfüllung unzureichend ist (s.u.), konnte (und kann) ein (untotes) Skelett als nur menschenähnliches Wesen offensichtlich nicht von § 131 StGB als Opfer von Gewalttätigkeiten erfasst werden; mithin können einem solchen weder besondere Schmerzen oder Qualen körperlicher oder seelischer Art zugefügt und konnte einem solchen ggü. auch keine menschenverachtende Gesinnung demonstriert werden (s.u.). Der Fall ist umso kurioser, dass der Film in der verfahensgegenständlichen (zensierten) Fassung nur ca. 86:01 Minuten dauert, die monierte Szene also Film gar nicht vorkommen kann. Das Gericht hatte die 1997 von Astro Records & Filmwork publizierte Videokassette DIE GESCHICHTE DER REITENDEN LEICHEN 2 beschlagnahmt, ein Doppelprogramm, dass unmittelbar nach dem inkriminierten Film auf demselben Band auch noch den damals bereits indizierten Film DAS BLUTGERICHT DER REITENDEN LEICHEN präsentierte, hatte aber nicht realisiert, dass das Videoband zwei Filme beinhaltete. Ungeachtet dessen verjährte die Indizierung nach 25 Jahren (vgl. BAnz. Nr. 166 v. 31.10.2008) und tatsächlich beinhaltet auch die infolge dessen publizierte und von den OLJB ab 16 Jahren freigegebene Fassung des Films die inkriminierte Szene. BT-Drs. 15/1311, S.22. Zwar konstatierten auch GASSER/CREUTZFELDT/NÄHER et al. 2004, die den Bericht der Kommission Gutenberg Gymnasium formulierten, ein Jahr später, der Täter habe seit seinem 14. Lebenjahr in einem "überdurchschnittlichem Ausmaß Computerspiele und Videofilme mit zum großen Teil gewaltverherrlichenden Inhalten" (S.297) rezipiert, konnten das aber nicht belegen: Vielmehr differenzierte die Kommission offenbar nicht zwischen jugendbeeinträchtigen, jugendgefährdenden und sozialschädlichen Medien, sondern attribuierte bereits solche Medien als gewaltverherrlichend, die das nur nach der subjektiven Einschätzung der Autoren waren, auch ohne dass eine (rechtskräftige) gerichtliche Entscheidung dgl. konstatiert hätte. Tatsächlich ist keiner der von der Kommission expl. benannten Filme und keines der Spiele (S.335f.) nach § 131 StGB beschlagnahmt (ein paar waren aber auf Liste A des Index indiziert); mithin waren zur Tatzeit insg. auch überhaupt erst drei Spiele nach § 131 StGB beschlagnahmt, ungeachtet dessen, dass eine Referenz für das durchschnittliche Ausmaß einer solchen Rezeption fehlte, anhand derer man dem Täter eine überdurchnittliche Rezeption hätte attestieren können. 192 Wirksamkeit der Strafvorschrift zu verbessern."1070 Mittels mehr oder weniger derselben Argumente wurde die Norm bereits 1985 novelliert, allerdings sind Gewaltdarstellungen nicht nur nicht generell strafbar, so dass die vermeintliche (auch kaum oder gar nicht objektivierbare) "Fülle" von dgl. kein Vollzugsdefizit indizieren kann, sondern wurden seitdem auch bereits hunderte Medien nach § 131 StGB beschlagnahmt (ungeachtet der Dunkelziffer nur zensiert oder gar nicht veröffentlichter Medien), so dass das konstatierte "Missverhältnis" nicht verfängt. Insofern war die Novellierung offensichtlich ein Paradebeispiel symbolischer Politik, der transparente Versuch, sich mittels künstlich gesteigerter Aburteilungen und Verurteilungen nach § 131 StGB zu profilieren. Das Mittel zum Zweck war die Erweiterung des § 131 Abs. 1 StGB um Darstellungen von Gewalttätigkeiten auch bereits gegen menschenähnliche Wesen, "weil es nicht darauf ankommen kann, ob die Opfer der wiedergegebenen Gewalttätigkeiten als 'Androide', 'künstliche Menschen', 'Außerirdische', 'Untote', als Verkörperung übersinnlicher Wesen oder ähnliche Wesen dargestellt werden. Entscheidend ist vielmehr, ob sie nach objektiven Maßstäben ihrer äußeren Gestalt nach Ähnlichkeit mit dem Menschen aufweisen. Die Ergänzung stellt zudem klar, dass auch gezeichnete […] oder in Form elektronischer Spezialeffekte dargestellte Menschen […] erfasst werden."1071 Das ist aber kein Argument, sondern nur ein Zirkelschluss de lege ferenda. Die Frage ist nämlich nach wie vor, warum es nicht darauf ankommen kann, dass die Opfer der wiedergegebenen Gewalttätigkeiten nur Phantasiewesen sind. Mithin waren auch "gezeichnete [...] oder in Form elektronischer Spezialeffekte dargestellte Menschen" bereits zweifelsfrei von der Strafvorschrift erfasst. Tatsächlich haben die ergriffenen Maßnahmen die Norm aber "verschlimmbessert"1072 und nicht verbessert, wie auch bereits der Bundesrat in einer Stellungnahme im Rahmen der Anrufung des Vermittlungsausschusses konstatierte: a) Der Begriff [...] ist von erheblicher Unbestimmtheit geprägt. Ein Teil der Praxis sieht das verfassungsrechtlich verankerte und für Straftatbestände in besonderem Maße geltende Bestimmtheitsgebot als verletzt an. Jedenfalls ist der Begriff geeignet, der Praxis unüberwindliche Interpretationsprobleme zu bereiten. Der Bericht des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages [...] bleibt [...] eine Erläuterung dazu schuldig, welche Merkmale mindestens erfüllt sein müssen, damit ein Wesen als dem Menschen ähnlich eingestuft werden kann. Gewiss erfasst wären Kunstgestalten wie Dracula oder Frankenstein. Einbezogen wäre jedoch auch ein breites Spektrum von Computerspielen, Zeichentrickfilmen und Comic Strips. Da "menschenähnliche" Tierwesen wie z. B. Fix und Foxi, Micky Maus, Goofy etc. mit der Sprechfähigkeit, dem Denkvermögen und der Fähigkeit, Gefühle zu empfinden und auszudrücken, wesentliche Eigenschaften des Menschen aufweisen, wären wohl auch sie einbezogen [...]. Es existiert dabei eine Vielzahl von Comics und Zeichentrickfilmen, in denen Gewalttätigkeiten "genüsslich" geschildert werden (etwa "Roadrunner", "Tom und Jerry"). Auch beim "Pfählen" eines Vampirs ("Dracula") kann die Auffassung vertreten werden, es solle dem Betrachter ein sadistisches Vergnügen an dem Geschehen vermittelt bzw. das "menschenähnliche Wesen" solle als "menschen-"‚ bzw. "lebensunwert" hingestellt werden. Im Hinblick auf das Legalitätsprinzip wäre die Strafjustiz u.U. gehalten, gegen solche, durch die Rechtsgemeinschaft weithin akzeptierte Produkte einzuschreiten und ggf. die allgemeine Beschlagnahme zu veranlassen. b) Der Begriff des 'menschenähnlichen Wesens' fügt sich nicht in § 131 Abs. 1 StGB ein. Nahezu alle anderen Merkmale des Tatbestandes sind auf den ('echten') Menschen zugeschnitten. Zum Beispiel zeichnet sich das Merkmal "unmenschlich" durch eine menschenverachtende Gesinnung aus und wird der Begriff der Gewalttätigkeit in dem Sinne ausgelegt, dass unmittelbar oder mittelbar auf den Körper eines Menschen eingewirkt wird [...]. Am deutlichsten wird die Problematik aber an dem Erfordernis einer die Menschenwürde verletzenden Darstellung. Der Fundamentalsatz der Menschenwürde soll den sozialen Wert- und Achtungsanspruch schützen [...], der in dieser Weise nur dem ('echten') Menschen und eben nicht einem "menschenähnlichen" Kunstprodukt zukommt. […] Entweder läuft diese Alternative für "menschenähnliche Wesen" leer, weil ihnen Menschenwürde nicht zukommt, oder es wird auch in der Weise ein Analogieschluss gezogen, dass eine Verletzung der Menschenwürde durch die Schilderung dann angenommen wird, wenn die Schilderung der Gewalttätigkeit, wäre sie gegenüber einem "echten" Menschen verübt worden, dessen Achtungsanspruch verletzen würde. Dann aber würde […] eine Palette von bislang als relativ harmlos empfundenen Produkten in das Verbot und die Strafbarkeit einbezogen [...]. c) Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass das Bundesverfassungsgericht für das geltende Recht Raum gelassen hat, fiktiv verfremdete menschliche Wesen ('Zombies') als Menschen i.S. der Vorschrift anzusehen [...]. Der Tatbestand ist danach nicht schon dann zwingend zu verneinen, wenn der menschliche Schauspieler im Film als "Untoter", Zombie etc. bezeichnet wird [...]. Einzuräumen ist, dass eine solche Auslegung in Grenzfällen Schwierigkeiten bereitet (z.B. "Frankenstein", "Dracula" [...]). Die Auslegungsprobleme potenzieren sich aber, wenn bereits der Gesetzgeber "menschenähnliche Wesen" einbezieht. Ein zumindest einigermaßen über- 1070 1071 1072 BT-Drs. 15/1311, S.22. BT-Drs. 15/1311, S.22. BIRKE 2007. 193 zeugender Gradmesser ist nicht erkennbar (siehe oben Buchstaben a und b).1073 Auch insofern die Norm in Orientierung an der Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages auf eine morphologische Menschenähnlichkeit abstellen würde, wäre nach KRAUSE 2006 nicht einfach zu bestimmen, "ab wann Wesen so phantasievoll sind, dass sie nicht mehr menschenähnlich, sondern nur noch Kreatur sind."1074 Die Norm verbietet aber die Schilderung von Gewalttätigkeiten gegen menschenähnliche und nicht nur gegen mehr oder weniger humanoide Wesen, insofern ist mehr als nur eine solche Ähnlichkeit zu verlangen, wie z.B. die Erfüllung verstandgeleiteter, verhaltensbezogener Kriterien.1075 Im Lichte dessen, dass grausame Gewalttätigkeiten die Zufügung besonderer Schmerzen oder Qualen körperlicher oder seelischer Art verlangen, wäre insg. auch notwendig, dass die Wesen solche (menschliche) Schmerzen oder Qualen überhaupt empfinden können, so dass insb. solche Wesen, wie sie der Rechtsausschuss erfasst wissen wollte, oftmals nicht mehr erfasst sein dürften. Zusammengefasst ist das Merkmal so fragwürdig, wie vage und generiert nur zusätzliche Rechtsunsicherheit insb. für die Medienmacher,1076 resp. verstößt insg. gegen das Bestimmtheitsgebot. Der Vollständigkeit halber muss aber noch erwähnt werden, dass der BGH bereits 1999 konstatierte, dass es irrelevant sei, ob der Gewalttäter ein Mensch oder ein menschenähnliches Wesen (oder gar nur eine Kreatur u.ä.) sei; eine diesbzgl. Einschränkung lasse sich weder dem Wortlaut des § 131 Abs. 1 StGB, insb. "dem Begriff der Gewalttätigkeit, noch dem Schutzgedanken der Vorschrift entnehmen."1077 Dem ist aber zu entgegnen, dass insofern der Begriff der Gewalttätigkeit nur ein willensgesteuertes Verhalten erfassen kann, nicht willens-, sondern nur triebgesteuerte (z.B. Tiere) oder programmierte (z.B. Roboter) Wesen denklogisch keine Gewalttäter i.S.d. Norm sein können:1078 Die Wesen müssen eine brutale, unbarmherzige Haltung u./o. eine menschenverachtende, rücksichtslose, rohe oder unbarmherzigen Gesinnung überhaupt erst haben können; dass dürfte aber regelmäßig nicht der Fall sein. I.d.S. argumentiert auch DEBUSMANN 2008, dass insofern die dargestellte Gewalt bspw. unmenschlich sein muß, "so fällt die Möglichkeit unmenschlich zu handeln auch nicht Fabelwesen oder Zombies zu, da sie grundsätzlich der Eigenschaft 'menschlich' entbehren."1079 Das ignorieren die Gerichte aber i.d.R., bspw. ist der Gewalttäter des beschlagnahmten Films MEXICAN WEREWOLF1080 ein sog. Chupacabra, ein Fabeltier lateinamerikanischer Folklore, das der skizzierten Haltung, resp. Gesinnung grundsätzlich entbehrt. Ungeachtet dessen negiert es bspw. normalerweise auch nicht die Subjektqualität des Opfers, dass es Beute eines Raubtiers wird, andernfalls wäre ein Gros ähnlicher Filme des sog. Tierhorrorgenres tatbestandsmäßig. Letztlich dürften i.d.R. nur Menschen als Gewalttäter erfasst sein, solange nicht die entsprechenden Haltungen, resp. Gesinnungen menschenähnlicher Täter plausibel angenommen werden können. 14.2.8 Die Rechtspraxis deutscher Gerichte Zusammenfassend ist einerseits das Gros der Tatbestandsmerkmale so unbestimmt, dass die Strafbarkeit einer Darstellung fast ausschl. eine Frage der subjektiven Bewertung der Umstände durch den zuständigen Richter ist und die Norm i.d.S. zum Gummiparagraphen degeneriert;1081 dgl. ist prinzipiell auch die Auffassung von SCHMIDT 2008, der diplomatischer formuliert, dass § 131 StGB "sehr flexibel für individuelle Auslegungen"1082 sei. Andererseits hatte das BVerfG im Lichte dessen zwar konstatiert, dass die Tatbestandsmerkmale realtiv eng auszu- 1073 1074 1075 1076 1077 1078 1079 1080 1081 1082 BT-Drs. 15/1642, S.1f.. KRAUSE 2006, S.11. Vgl. BITKOM 2002a, S.5 und BITKOM 2002c, S.4. Vgl. BITKOM 2002c, S.4. BGH, Urt. v. 15.12.1999, Az.: 2 StR 365/99; vgl. STATH 2006, S.210 und SCHULZ/BRUNN/DREYER et al. 2007, S.98. Vgl. KRAUSE 2006, S.10. Vgl. DEBUSMANN 2008. Vgl. AG Neubau/Donau, Beschl. v. 25.05.2007, Az.: 1 Gs 170/07 (MEXICAN WEREWOLF). Vgl. OEHLER 1988, S.187 und SCHULZ 2002, S.54. SCHMIDT 2008, S.99. 194 legen sind,1083 tatsächlich legt aber das Gros der oder legen gar alle Beschlagnahmebeschlüsse nach § 131 StGB die Merkmale unzulässig weit aus und ignorieren insb., dass die Merkmale eine ganzheitliche Betrachtung der Medieninhalte verlangen: Der objektive Erklärungswert einer Darstellung ergibt sich erst aus Inhalt, äußerer Form und Gesamtkontext derselben, so dass dargestellte Gewalttätigkeiten ungeachtet der Intensität, wie auch Extensität der dargestellten Gewalt für sich genommen natürlich nicht bereits immer auch grausame u./o. unmenschliche Gewalt schildern und auch keine Verherrlichung oder Verharmlosung solcher Gewalttätigkeiten ausdrücken oder das Grausame oder das Unmenschliche des Vorgangs in einer die Menschenwürde verletzenden Weise darstellen. Die Frage der Tatbestandsmäßigkeit einer Darstellung ist infolge dessen eine Frage des Gesamtkontextes, so dass die Gerichte diesbzgl. auf eine (u.a. dramaturgische) Einbettung der Gewalt in die Handlung abzustellen haben und Darstellungen nicht dekontextualisierend inkriminieren können.1084 Letztlich konstatierte auch das BVerfG im Rekurs auf den zeichentheoretischen Kunstbegriff, dass ein unverzichtbares Element der Interpretation eines Kunstwerks die Gesamtschau des Werks ist, so dass es sich verbietet, "einzelne Teile eines Kunstwerks aus dessen Zusammenhang zu lösen und gesondert darauf zu untersuchen, ob sie als Straftat zu würdigen sind."1085 Wie bereits die typischen Indizierungsentscheide der BPjM sind aber auch die typischen Beschlagnahmebeschlüsse nach § 131 StGB i.d.R. nur Lückentexte, Sammelsurien immer identischer (gerichtspezfischer) Textbausteine, die regelmäßig nur (oftmals mehr oder weniger subtil moralisierend, pejorativ-prosaisch formulierte)1086 Aufzählungen diverser, kaum oder gar nicht kontextualisierter Gewaltdarstellungen dokumentieren und auch nur die Ergebnisse der Bewertungen der inkriminierten Darstellungen mitteilen, ohne näher erkenntlich zu machen, auf welche in den (sich aus Inhalten, äußeren Formen und Gesamtkontexten ergebenden) Erklärungswerten der Darstellungen zu findenden Umstände sich die Wertungen der Tatrichter gründen. Sie würdigen so wesentliche Aspekte, wie eine Rückbeziehung auf die narrativen Kontexte,1087 auf künstlerische und ästhetische Konzepte und auch auf genretypische, dramaturgische Darstellungskonventionen u.ä. entweder nur unzureichend oder lassen sie völlig unberücksichtigt, so dass sie revisionsrechtliche Nachprüfungen der tatrichterlichen Rechtsanwendungen kaum oder gar nicht zulassen und infolge dessen rechtswidrigerweise auch nicht den 1083 1084 1085 1086 1087 Vgl. BVerfGE 87, 209 (223-230) und SCHULZ/BRUNN/DREYER et al. 2007, S.81. Vgl. OLG Köln, Urt. v. 24.06.1980, ERDEMIR 2000, S.90f.; GOTTBERG 2000a, S.129 und LIESCHING 2002, S.94. BVerfGE 67, 213 (228f.). Bzgl. eines prägnanten Bsp. s. den Beschl. des AG Karlsruhe v. 20.01.2004 zur Beschlagnahme des Films BLOOD FEAST (Az.: 31 Gs 134/04), resp. die diesbzgl. Kommentierung in HÖLTGEN 2004a, S.16f.. Das AG München thematisiert mit Beschl. v. 27.08.2008 (Az.: 855 Gs 384/08) die Handlung des Spiels CONDEMNED 2 bspw. mit nur zwei Sätzen: "Der Spieler steuert, wie bereits im Vorgängerspiel [...] den FBl-Agenten Ethan Thomas. Dieser geht gegen Obdachlose, eine Sekte namens 'Oro' und den bereits im Vorgängerspiel aktiven Serienkiller 'X' vor." Bereits die präkursorische Zusammenfassung der Handlung, die suggeriert, das Spiel hätte kaum eine Handlung, ist fehlerhaft; bspw. ist der Protagonist kein "FBI-Agent" (mehr), ein für die Handlung extrem relevanter Umstand. Nicht überraschend will das Gericht die nicht hinreichende Würdigung der Handlung im nächsten Absatz gar indirekt legitimieren und konstatiert bzgl. des Spiels: "Es fordert den Spieler zur Vernichtung menschlicher Wesen auf und stellt diese Vorgänge detailfreudig und sehr realitätsnah dar. 'Condemned 2' wird von brutalen Gewaltdarstellungen und Tötungsvorgänge [sic] beherrscht. Andere Spielinhalte aber auch die Rahmenhandlung treten demgegenüber völlig in den Hintergrund." Die Gewaltdarstellungen sind offenbar ein so starkes Stimulanz für das Gericht, dass der Beschluss vier Absätze später den zitierten Absatz wortwörtlich (in vertauschter Satzreihenfolge und inkl. Orthographiefehler) abermals rezitiert; der pornographische Blick par excellence. Im Übrigen rezitiert der Beschluss auch wortwörtlich den der Beschlagnahme des Vorgängerspiels. Die vermeintliche Gewaltbeherrschtheit ist aber letztlich auch nur ein (für sich genommen noch nicht hinreichendes) Merkmal einer schweren Jugendgefährdung nach § 15 Abs. 2 Nr. 3a JuSchG. Dasselbe Gericht rezitierte bereits mit Beschl. v. 19.07.2004 (Az.: 853 Gs 261/04) bzgl. des Spiels MANHUNT als Beschlussgründe prinzipiell nur Exzerpte des IE Nr. 6600 (V) der BPjM v. 11.03.2004, die das Spiel bereits auf Liste B des Index indiziert hatte aber bereits ihrerseits nicht plausibel konkretisieren konnte, dass das Spiel nicht nur (schwer) jugendgefährdend, sondern gar strafrechtlich relevant sei. Teilweise negieren die Gerichte gar expl. die Kontexte einer Darstellung; keine Ausnahme ist diesbzgl. z.B der Beschl. des AG München v. 10.06.2008 (465 Js 306253/ 08) zur Beschlagnahme des Films HOSTEL 2, in dem das Gericht nicht mehr nur durch das puristische Arrangement des Beschlusses, resp. die dekontextualisierende Enumeration vermeintlich tatbestandsmäßiger Gewaltdarstellungen impliziert, der Film selbst sei nur noch eine Aneinanderreihung sinnloser Gewaltdarstellungen, sondern dem Film dgl. gar expl. Vorgeworfen wird: "Eine Handlung besitzt der Film nicht. Er besteht aus einer Aneinanderreihung von Gewaltexzessen. Sozialkritische Ansätze, wie sie die Bundesprüfstelle erwähnt, sind nicht gegeben." Ohne dass das Gericht die Geschichte des Films überhaupt thematisierte, sondern nur lapidar auf den nicht Mal zitierten, aber diesbzgl. konträren (und natürlich auch kaum analytischen), den Beschluss konterkarierenden IE Nr. 8049 (V) v. 06.02.2008 der BPjM rekurrierte, wurde statt eines objektiven Erklärungswertes der Darstellungen der offensichtlich fehlsame, pornographische Blick des Tatrichters zur Basis einer Beschlagnahme; bzgl. einer gesellschaftskritischen Leseart u.a. des Films u.ä. Genrefilme s. aber STIGLEGGER 2010, bzgl. des Genres insg. auch UHLEMANN 2004 und KÖHNE/KUSCHKE/METELING 2005. 195 in sachlich-rechtlicher Hinsicht zu stellenden Anforderungen an derartige Beschlüsse genügen. Teilweise spezifizieren die Gerichte nicht einmal die Tatbestandsmerkmale, die im Falle einer konkreten Darstellung vermeintlich einschlägig sein sollen, sondern rezitieren z.B. im Rahmen der Darstellungen der Sachverhalte einzig die Tatbestandsmerkmale des § 131 StGB insg. und konstatieren indifferent (und oftmals – ungeachtet der kursorischen Formulierungen – auch nicht ohne eklatante Beobachtungsfehler, wie auch Interpretationen, statt Beobachtungen),1088 die inkriminierten Medien schilderten Gewalttätigkeiten, ohne zu verdeutlichen, inwiefern diese tatbestandlich qualifiziert sein sollen. Im Fall der Beschlagnahme des Spiels DEAD RISING behauptete das AG Hamburg bspw. nur, dass Gründe für die Annahme vorlägen, "dass das vorbezeichnete Computerspiel eingezogen wird, da es einen solchen Inhalt hat, dass jede vorsätzliche Verbreitung zur Kenntnis seines Inhalts den Tatbestand der Gewaltdarstellung […] verwirklichen würde."1089 I.d.S. war dem Gericht auch bereits die dekontextualisierende Aufzählung diverser möglicher Gewalttätigkeiten infolge willentlicher Entscheidungen des Spielers hinreichend für den Beschluss, die aber prinzipiell keine tatbestandlichen Schilderungen mehr darstellen: Das Spiel zeigt die Tötung der Zombies grafisch sehr deutlich. Diese erfolgt u.a. mit einer Kettensäge, einer überdimensionalen Axt sowie einem motorisierten Rasenmäher. Die Zombies geben dabei Schmerzenslaute von sich; die Zerteilung der Körper ist realistisch dargestellt, wobei [...] auch einzelne Körperteile umherfliegen. Die Gewaltanwendung auf gegnerische Spielfiguren ruft Blutspritzer und flecken hervor. Blut findet sich auf Boden und Wänden; manche Areale sind sowohl am Boden als auch an Wänden und Gegenständen so stark mit Blut befleckt, dass die eigentliche Grundfarbe des Untergrundes fast nicht mehr zu erkennen ist. Verletzt oder tötet "Frank" einen Gegner im "Nahkampf", ist seine Kleidung blutbefleckt. Teilweise lassen sich dort sogar Knochensplitter oder Gehirnmasse erkennen. Verletzte Zombies, denen nach einer Attacke etwa der Unterschenkel öder der Unterleib fehlt, kriechen umher und ziehen dabei eine Blutspur hinter sich her. Die einsetzbaren Waffen zeigen in drastischer Weise unterschiedliche Folgen beim Gegner. Eine Sichel erlaubt wahlweise das Abschlagen der Beine eines Zombies oder alternativ, je nach vom Spieler gewählter Attacke, das Enthaupten des Gegners. Dabei wird letztgenannter Angriff mit 100 Erfahrungspunkten vergütet, ähnlich wie das Überfahren des Zombies mit einem Rasenmäher oder das gewaltsame Niederschlagen mit einem Baseballschläger, was in beiden Fällen allerdings nur mit zehn Erfahrungspunkten je getötetem Gegner belohnt wird. Ein überdimensionaler Bohrer erlaubt das Aufspießen eines Zombies auf Bauchhöhe. Wenn der Bohrer dann eingeschaltet wird, beginnt sich der Körper des durchbohrten Zombies unter Austritt von Blutspritzern und -fontänen zu drehen und ist nun seinerseits als Waffe einsetzbar. Vom sich auf dem Bohrer drehenden Zombie getroffene Gegner werden zu Boden geschleudert, der rotierende Zombie verliert nach und nach alle Gliedmaßen, bis sich nur noch ein blutiger Rumpf auf dem Bohrer dreht, der aus allen Wunden stark blutet.1090 Ungeachtet dessen, dass die aufgezählten Gewalthandlungen gegen die Zombies prinzipiell zwar tatsächlich "grafisch sehr deutlich" (aber die Zerteilungen der Körper nicht besonders 1088 1089 1090 Bspw. monierte das AG Karlsruhe mit Beschl. v. 20.01.2004 (Az.: 31 Gs 134/04) bzgl. der 27. Minute des Films BLOOD FEAST: "Der Mörder steckt ein Messer in den Brustkorb einer Frau. Das im Körper der Frau steckende Messer wird in Nahaufnahme gezeigt. Anschließend wird der Brustkorb mittels des Messers geöffnet und das Herz entnommen, welches in Nahaufnahme gezeigt wird. Ebenfalls wird der geöffnete blutende Brustkorb in Nahaufnahme gezeigt." HÖLTGEN 2004a kritisiert aber ungeachtet der den Beschl. insg. prägenden filmtechnisch falschen Terminologie (S.19) insb., dass das Gericht nicht nur den "extrem bedeutsamen Kontext der Szene" nicht thematisiert hat, sondern auch die monierten Beobachtungsfehlern auffällig sind: "Der vierte Mord wird vom Text besonders ausführlich beschrieben. Nicht erwähnt wird dabei aber der extrem bedeutsame Kontext der Szene: Es handelt sich um die Illustration des Vortrages, den sich Suzette Freemont und ihr Freund Pete Thornton an der Universität anhören. Die gesamte Szene ist mit dem Vortragstext des Dozenten unterlegt, der den Hergang des kultischen Rituals aus dem alten Ägypten referiert. Da der Film [...] keinen Anlass zum Verdacht gibt, hier würde plötzlich eine 'Rückblende ins alte Ägypten' stattfinden oder es handele sich um eine Parallelmontage, in der Fuad Ramses ein weiteres Opfer ermordet (diesen Verdacht würde die Szene durch ihre Ausstattung und Darsteller leugnen), muss davon ausgegangen werden, dass es die Projektion eines universitären Lehrfilms ist, den sich die Studenten ansehen, während der Professor einen erläuternden Kommentar dazu spricht. Dies ist vor allem relevant, weil es diese Szene in die Handlungslogik des Films zurückbindet und damit keinen vom § 131 StGB inkriminierenden Selbstzweck darstellt. Darüber hinaus beschreibt der Beschlusstext in dieser Szenen wiederum Details, die eher der Interpretation als der Beobachtung des Autors entstammen: Zwar sieht man wirklich das in der Brust des Opfers steckende Messer, aber man sieht keineswegs wie 'der Brustkorb mittels des Messers geöffnet' wird und schon gar nicht, wie 'das Herz entnommen' wird. Kameramann Lewis erweckt diesen Eindruck durch gezielte Montage vom Körper auf das Messer, zurück auf den Körper, in dem das Messer steckt, wiederum auf das Messer, das nun blutig außerhalb des Körpers zu sehen ist und schließlich auf eine Hand, die schon etwas in sich hält, was dadurch, dass es ebenfalls blutig ist, aus dem Körper zu stammen scheint. Ob es das Herz ist bleibt dabei genauso unklar, ebenso wie, auf welche Weise es aus dem Brustkorb entnommen worden sein soll." (S.18) Die Gewaltdarstellung dürfte letztlich auch gar keine Schilderung i.S.d. Norm mehr sein. AG Hamburg, Beschl. v. 11.06.2007, Az.: 167 Gs 551/07 (DEAD RISING). AG Hamburg, Beschl. v. 11.06.2007, Az.: 167 Gs 551/07 (DEAD RISING). 196 realistisch) realisiert worden sind, wie auch der diesbzgl. quasi obligatorischen Beobachtungsfehler des Gerichts ("Knochensplitter"; "Gehirnmasse"), thematisiert dasselbe für eine evtl. Strafwürdigkeit des Spiels (ohne hinreichende Rückbeziehungen und diesbzgl. Relationswerte) relativ irrelevante Details, wie bspw. dass Enthauptungen mit 100 Erfahrungspunkten "vergütet" werden, statt z.B. auf die dramaturgische Einbettung der Gewalt in die Handlung (Gewalt ist dort tatsächlich nur i.S.v. Notwehr- und Nothilfehandlungen notwendig) abzustellen. Das oftmals unzulässig weite Verständnis der Strafvorschrift seitens der Gerichte demonstriert auch in diesem Fall, dass statt der einer spezifischen Ausrichtung z.B. der Handlung vielmehr Spielmechaniken als tatbestandserfüllend inkriminiert wurden, die konstitutiv für ein Gros diverser Spielegenres (z.B. Rollenspiele) und i.d.S. für sich genommen nicht sozialschädlich und bereits auch nicht jugendgefährdend sein können.: "Auf dem Weg zur Erfüllung des Spielziels rückt das Leid eines Gegners völlig in den Hintergrund. Die feindlichen Figuren stehen zwischen dem Spieler und dem Erfüllen der jeweiligen Mission oder fungieren nur als Punktlieferanten, die den Status der Spielerfigur verbessern. Sie müssen zum Teil auch zwangsläufig getötet werden, wenn sie etwa Wege blockieren oder für die Entwicklung der Rahmenhandlung eliminiert werden müssen. [...] Zudem hinterlassen viele Gegner nach ihrem Tod Waffen, sodass ein weiterer besonderer Anreiz besteht, diese zu töten."1091 Insbesondere die 'Psychopathen' hinterlassen besonders starke und durchschlagskräftige Waffen. Abstrus ist einerseits im Lichte des Umstands der Statistenfunktion des Gros der Gegner, die auch noch – ungeachtetet der "Psychopathen" (die selbst auch eine gegenwärtige Gefahr für Leib und Leben des Spielersubstituts darstellen und denen ggü. die skizzierten, grafisch deutlichen Gewalttätigkeiten nicht möglich sind) – Zombies sind, nicht nur die obligatorische Floskel, dass das Leid der Gegner völlig in den Hintergrund rücke. Andererseits ist auch der Umstand, dass viele Gegner nach ihrem Tod Waffen hinterlassen, ein Merkmal unzähliger auch nur jugendbeeinträchtigender Spiele und kann i.d.S. kaum als Beispiel einer sozialschädlichen Spielmechanik herhalten. Letztlich markieren oftmals auch bereits nur vermeintliche Gewaltspitzen den vermeintlichen Unterschied zwischen einer nur jugendbeeinträchtigenden, einer jugendgefährdenden und einer sozialschädlichen Darstellung: Der zensierten, ab 16 Jahren gekennzeichneten Fassung des Films MEXICAN WEREWOLF fehlen bspw. nur ca. 18,92 Sekunden an Gewaltdarstellungen in in insg. fünf Einzelszenen ggü. der unzensierten, beschlagnahmten Fassung! Beschlüsse dieser Art erscheinen skurril, sind aber nicht nur die Regel, sondern dekuvrieren die Norm auch als ein kunst- und kulturhygienisches Instrument. 14.3 Schutz der Kunst und der Vorgänge des Zeitgeschehens oder der Geschichte Ggf. ist § 131 StGB auch im Lichte der Kunstfreiheit im engeren Sinne insg. nicht verhältnismäßig: Einerseits ist nämlich der Werkbereich eines Kunstwerks prinzipiell quasi absolut geschützt, Abs. 4 der Norm verbietet aber bereits (ohne detailliertere Definition derselben) die Herstellung der inkriminierten Schriften, ungeachtet dessen, dass auch bereits die Strafbarkeit des Künstlers im Wirkbereich faktisch die Kunstfreiheit im Werkbereich tangiert. Andererseits unterminiert auch die Einziehung und Unbrauchmachung von Kunstwerken nach § 74d StGB infolge einer Beschlagnahme nach § 131 StGB den Wesensgehalt der Kunst.1092 Die Norm tangiert infolge Wirk- und Werkbereich der Kunst gleichermaßen und greift i.d.S. unverhältnismäßig in die Grundrechte nach Art. 5 GG ein.1093 Ungeachtet dessen müssen die Gerichte im Rahmen der Beschlagnahmeverfahren natürlich immer eine Güterabwägung zwischen den durch das Grundrecht der Kunstfreiheit geschützten Interessen und dem durch die Strafvorschrift geschützten Rechtsgut des öffentlichen Friedens vornehmen.1094 Prinzipiell werden aber besonders hohe Anforderungen an das Vorliegen einer 1091 1092 1093 1094 AG Hamburg, Beschl. v. 11.06.2007, Az.: 167 Gs 551/07 (DEAD RISING). Vgl. BEISEL 1997, S.378. Vgl. SEIM 1998, S.45f. und LAI 2006, S.58. Der Vollständigkeit halber sei auch Abs. 3 der Norm nicht unerwähnt, der eine Tendenzschutzklausel formuliert, gem. der ein Verstoß gegen die Verbote der Abs. 1 und 2 auch nicht pönalisiert wird, "wenn die Handlung der Berichterstattung über 197 Eignung zur Gefährdung des öffentlichen Friedens zu stellen sein müssen, die Kunstfreiheit der inkriminierten Medien dürfte ggü. dem nur abstrakt (und insb. auch nicht plausibel) gefährdeten Rechtsgut des öffentlichen Friedens aber i.d.R. eigentlich vorrangig sein.1095 Diversen der Beschlagnahmebeschlüsse ist aber irrigerweise der Schutz der Menschenwürde das Rechtsgut des § 131 StGB, das pauschal ggü. der Kunstfreiheit vorrangig sei (s.o.); eine offensichtlich fehlsame Rechtsauslegung.1096 Ungeachtet dessen glaubte der Gesetzgeber im Rahmen der ersten Novellierung der Norm kurioserweise, dass nur im Einzelfall künstlerische Schriften Gegenstand eines Verfahrens nach § 131 StGB sein könnten (und ggf. die Kunstfreiheit generell vorrangig sein müßte) und die Formulierung eines expl. Kunstvorbehalts "Anknüpfungspunkte für nicht erwünschte Rückschlüsse" hätte evozieren können, "daß der Gesetzgeber den Kunstcharakter einer Schrift [...] i.S.d. Absatzes 1 grundsätzlich für möglich hält."1097 I.d.S. argumentierte auch Gesetzesinitiator Heiner GEIßLER (CDU): "Was der neue § 131 des Strafgesetzbuches verbietet, hat mit Kunst nichts zu tun."1098 De facto sind aber beschlagnahmte Filme, wie z.B. DAS BÖSE,1099 TANZ DER TEUFEL,1100 ZOMBIE,1101 oder ZOMBIE 2 – DAS LETZTE KAPITEL1102 oftmals nicht nur (international) künstlerisch renommierte, sondern auch filmwissenschaftlich und -historisch relevante Werke.1103 Solches unreflektiertes, das Faktische negierende Überlegenheitsdünkeln ist aber evtl. der Ausgangspunkt der Problematik, dass die Beschlagnahmebeschlüsse ungeachtet der Mediengattung ausnahmslos keine hinreichende und die absolute Mehrheit der Beschlüsse sogar gar keine Güterabwägung der Gerichte zwischen dem Rechtsgut des Schutzes des öffentlichen Friedens einerseits und des Rechtsguts der Kunstfreiheit andererseits dokumentieren und i.d.S. bereits a priori rechtswidrig sind: Bzgl. Computerspielen thematisiert bspw. ein einziger Beschluss die evidente Rechtsgutkollision, kolportiert aber nur salopp (und revisionsrechtlich nicht überprüfbar), die Beschlagnahme sei unter Abwägung des Menschenwürde-, wie auch des Jugendschutzes(!) einerseits und der Kunstfreiheit andererseits verhältnismäßig (q.e.d.).1104 Insofern wird eine Thematisierung der Rechtspraxis bei Filmen notwendig, bei denen der Kunstcharakter derselben (ungeachtet der Kunstdefinitionen des BVerfG) z.T. konkret negiert wird. Das LG München I argumentierte bspw. im Fall des Films KETTEN-SÄGEN-MASSAKER: "Dieser triviale Film ist sicher kein Werk der Kunst, so daß bereits aus diesem Grunde auf die Bedeutung des Kunstvorbehaltes des Art. 5 Abs. 3 GG für § 131 StGB nicht eingegangen werden braucht."1105 Die (vermeintliche) Trivialität eines Mediums ist aber verfassungsrechtlich kein Ausschlusskriterium für die Aktivierung des Kunstvorbehaltes. Die 20. Strafkammer des Gerichts argumentierte im Fall des Nachfolgefilms TEXAS CHAINSAW MASSACRE PART 2 gar selbst noch 1994, dass der Film keine Kunst, sondern ein "Unterhaltungsfilm" sei: Das "Wesen eines Kunstwerkes" war gem. Gericht, "daß es auf Dauer geschaffen wurde. Wenn diese Absicht hinter dem Werk steht, muß regelmäßig von einem Kunstwerk gesprochen werden. 1095 1096 1097 1098 1099 1100 1101 1102 1103 1104 1105 Vorgänge des Zeitgeschehens oder der Geschichte dient." HÖLTGEN 2004a argumentiert i.d.S. plausibel bzgl. des beschlagnahmten Films BLOOD FEAST, "dass in den Bildern eine Kodierung vom Zeitgeschehen der frühen 1960er Jahre zum Tragen kommt, bei der die Affekt-Produktion durch Gewaltdarstellung zu einem wichtigen Kriterium des Verständnisses wird. Der Film stellt – im historischen Kontext seiner Entstehung gesehen – ein sehr subtiles Werk zeitgeschichtlicher Kodierung von Wirklichkeit in der Kunst dar. [....] Davon abgesehen, dass Filmtheoretiker seit den ersten Tagen des Dokumentarfilms sehr kontrovers über eine Definition von 'dokumentarisch' als 'wirklichkeitsnah' streiten, lässt sich […] fragen, ob ein Film wie BLOOD FEAST nicht auch auf Grund der in ihm verhandelten Diskurse – als Spiegelung zeitgeschichtlicher Phänomene – der Zuschreibung 'Dokument des Zeitgeschehens' gerecht wird. Der Erkenntnisgewinn reflektierender Rezeption, der sich aus dem Film ableiten lässt, steht jedenfalls dem eines Dokumentarfilms in nichts nach." (S.21) Das gilt gem. Autor auch für unzählige andere Filme; dgl. auch STIGLEGGER 2010. Ähnliches ist natürlich ggf. auch bei Computerspielen konstatierbar. Aber weder die Organisationen der sog. freiwilligen Selbstkontrolle, noch die BPjM und letztlich die Gerichte haben je dgl. erwogen. Vgl. FISCHER 1988; MEIROWITZ 1993, S.394 und BUCHLOH 2002, S.284. ERDEMIR 2000, S.124 und vgl. MEIROWITZ 1993, S.397. BT-Drs. 10/2546, S.23. Zitiert in: BT-PlPr 10/108, S.8008. Vgl. AG München, Beschl. v. 08.05.1991, Az.: 451 Gs 54/91 (DAS BÖSE). Vgl. AG München, Beschl. v. 17.02.1985, Az.: 451 Ds 465 b Js 166153/84 (TANZ DER TEUFEL). Vgl. AG Bochum, Beschl. v. 25.07.1991, Az.: 32 Ds 39 Js 275/91 (ZOMBIE). Vgl. AG München, Beschl. v. 22.11.1990, Az.: 443 Gs 185/90 (ZOMBIE 2 – DAS LETZTE KAPITEL). Vgl. HABEL 2003, S.109 und SEIM 2003, S.525. Vgl. AG Tiergarten, Beschl. v. 15.02.2010, Az.: (353 Gs) 75 Js 1079/09 (694/10) (LEFT 4 DEAD 2). LG München I, Beschl. v. 23.12.1985, Az.: 15 Qs 34/ 85 (KETTEN-SÄGEN-MASSAKER). 198 Kunst hat einen sehr strengen jedoch gerechten Richter, nämlich die Zeit. Werke, die Jahrzehnte, Jahrhunderte oder gar Jahrtausende überleben, sind und bleiben Kunstwerke. Ist die Absicht des Autors jedoch nur kurze Unterhaltung zu bieten und ist das Werk dann anschließend in Vergessenheit geraten, so kann es sich nicht um ein Kunstwerk handeln. So sind z.B. ComicHefte für Kinder mit Sicherheit keine Kunst. Der Autor legt es nur darauf an, den Kindern für kurze Zeit Unterhaltung zu verschaffen, die Hefte geraten dann schnellstens in Vergessenheit. Anders verhält es sich mit weltberühmten Märchen, wie 1001 Nacht, Grimms oder Andersons Märchen. Diese Werke leben heute noch, werden auch von Erwachsenen gelesen und stellen Kunst in höchster Vollendung dar."1106 Selbst auf die Plattitüde eines gesunden Menschenverstands rekurrierend schwadronierte das Gericht, dass diverse Darstellungen im Rahmen traditioneller Kunst legitim seien, nicht aber im Film. Das stellt aber insg. nicht nur eine atavistische Dichotomisierung in Hoch- und Populärkultur dar, sondern auch die Negierung kontemporärer Kunst. Auch wurden die Gutachten der Rechteinhaber, die dem Film Kunstcharakter attestierten, negiert: Das Gericht argumentierte nämlich (ad verecundiam), dass der Vorsitzende der Strafkammer Opern und Theater frequentiere, wie auch klassische Filme rezipiere und i.d.S. qualifiziert sei, dem Film den Kunstcharakter abzujudizieren.1107 In einer solchen Argumentation wird nicht nur eine (altbekannte) unangemessene, d.h. normative Dichotomisierung in Hoch- und Popkultur, sondern mit ihr auch klassisches Überlegenheitsdünkeln deutlich. Der Kunstcharakter eines Spielfilms wird zwar z.T. nicht konkret negiert, aber ohne (plausible) Begründung so relativiert, dass die Aktivierung des Kunstvorbehalts (unzulässigerweise) nicht mehr einschlägig sei: Das AG München z.B. argumentierte ggü. Filmen in den 1980ern oftmals, dass keine Anhaltspunkte für überwiegend schutzwürdige künstlerische Darstellungen vorlägen, so dass auf den Kunstvorbehalt nicht eingegangen werden müsse.1108 Dasselbe Gericht argumentierte auch im Rahmen zweier aktuellerer Beschlüsse des Jahres 2008: "Der Film kann auch nicht die Grundrechte der Kunstfreiheit nach Art. 5 Abs. 3 und der Meinungsfreiheit nach Art. 5 Abs. 1 Grundgesetz in Anspruch nehmen. Die Intensität und die Häufung der Gewaltdarstellung sprechen dagegen. [...] Da überdies eine offensichtliche Jugendgefährdung gegeben ist, haben die Grundrechte aus Art. 5 GG zurückzutreten."1109 Auch das sind Pseudoargumente: Eine Nichtaktivierung des Kunstvorbehalts infolge der Attestierung einer generell unplausiblen Antonymie einer nur subjektiven Intensität und Quantität der Gewaltdarstellungen einerseits und des Kunstscharakters andererseits ist verfassungsrechtlich nicht zulässig; die Aktivierung des Kunstvorbehalts ist keine Frage des Gewaltdarstellungsniveaus. Insb. haben aber auch die Grundrechte aus Art. 5 GG nicht bereits im Lichte einer Jugendgefährdungseignung kategorisch zurückzutreten (das war eine Rechtsauffassung, die damals bereits seit 18 Jahren falsch war).1110 14.4 Schlussbemerkungen zum Gewaltdarstellungsverbot Das die prinzipiell rechtswidrigen, i.w.S. nur den Gusto, wie auch die Medienkompetenzdefizite der Richter dokumentierenden Beschlüsse nicht regelmäßig auch Gegenstand rechtlicher Beschwerden werden, ist insg. eine Folge dessen, dass – wie bereits im Fall von Klagen gegen Indizierungen – auch Klagen gegen solche Beschlagnahmen (ggf. auch noch über mehre Instanzen hinweg) i.d.R. unwirtschaftlich sind; die Gründe sind mehr oder weniger identisch. Mithin statuierte der Staat bereits mit dem berüchtigten "Zensurtanz"1111 um den Film TANZ 1112 DER TEUFEL zwischen 1984 und 1993 ein diesbzgl. Exempel, dem nach MANIAC1113 und 1106 1107 1108 1109 1110 1111 1112 LG München I, Beschl. v. 27.04.1994, Az.: 20 Ns 465 Js 170434/90 (TEXAS CHAINSAW MASSACRE PART 2). Bzgl. einer detailierten Transkription und Kommentierung der Entscheidung s. SEIM/SPIEGEL 1998, S.269-275. Vgl. AG München, Beschl. v. 03.03.1986, Az.: 443 Gs 20/86 (MAN-EATER) und v. 19.09.1986, Az.: 443 Gs 181/86 (LEBENDIG GEFRESSEN). AG München, Beschl. v. 10.6.2008, Az. 465 Js 306253/08 (HOSTEL 2) und v. 10.12.2008, Az.: 855 Gs 596/08 (STORM WARNING). Vgl. BVerfGE 83, 130. BETHMANN 2002, S.360. Im Februar 1984 startete der Film in den westdeutschen Kinos und wurde zeitgleich als Videofilm für die Videotheken publiziert, aber bereits am 02.07.1984 beschlagnahmte das AG München die beiden identischen Fassungen des Films – die BPjS hatte die Videofassung der VCL Communications GmbH bereits am 27.04.1984 indiziert (vgl. BAnz. Nr. 81 v. 199 NIGHTMARE1114 insg. dritten Film, der je nach § 131 StGB beschlagnahmt wurde. Die Gefahr eines u.U. jahrelangen (evtl. gar ruinösen) Rechtsstreits infolge einer evtl. Beschreitung des Rechtswegs ist für die Betroffenen unkalkulierbar. Der für 19 Jahre einzige erfolgreiche Fall der Aufhebung eines diesbzgl. Beschlagnahme- und gar Einziehungsbeschlusses war nämlich der des deutschen Films NEKROMANTIK 2; der Film ist nicht nur nicht mehr beschlagnahmt, sondern wurde trotz fehlender Alterskennzeichnung nichtmal indiziert.1115 Die Betroffenen der Norm sind seit den Indizierungs-, Beschlagnahmeund Einziehungsexzessen der 1980er und auch bereits dank der skizzierten Jugendmedienschutzsystematik i.d.R. Medien, die gar nicht erst in Deutschland publiziert werden: Wie im Fall einer Indizierung haben die ausländischen Rechteurheber und -inhaber der verfahrensgegenständlichen Medien aber aus offensichtlichen Gründen i.d.R. kaum oder gar kein Interesse an einem Rechtsstreit (oder werden erst gar nicht hinreichend über das Verfahren informiert). Erst 2011 klagte wieder ein Rechteinhaber gegen einen Beschlagnahmebeschluss: Die Turbine Medien GmbH konnte nach 26 Jahren im August 2011 die Aufhebung der Beschlagnahme des Films KETTEN-SÄGEN-MASSAKER erwirken,1116 so dass der Film im Dezember desselben Jahres auch von der Liste jugendgefährdender Medien gestrichen1117 und infolge dessen ohne Jugendfreigabe gekennzeichnet werden konnte. Seitdem konnte nicht nur die STUDIOCANAL GmbH im Dezember 2012 erfolgreich gegen die Beschlagnahme des Films SAW VII – VOLLENDUNG klagen – der Film ist aber nach wie vor (auf Liste A des Index) indiziert –,1118 auch konnte die capelight pictures Gerlach Selms GbR bereits im Oktober desselben Jahres eine Revidierung 1113 1114 1115 1116 1117 1118 27.04.1984) –, ungeachtet dessen, dass die SPIO/JK dem Videofilm eine strafrechtliche Unbedenklichkeit attestiert hatte. Die Betroffenen legten Juli 1984 im Lichte des Gutachtens der SPIO/JK, wie auch des (internationalen) künstlerischen Renommees des Films Widerspruch ein, aber erst mit Beschl. v. 17.02.1985 bestätigte das AG München die Beschlagnahme und beschloss gar die bundesweite Einziehung des Films (Az.: 451 Ds 465 b Js 166153/84); dgl. mit Beschl. v. 07.10. auch das LG München I (Az.: 12 Ns 465 Js 166153/84). Die Betroffenen legten infolge dessen am 27.11.1985 Verfassungsbeschwerde beim BVerfG ein, aber erst nach 23 Monaten(!) proklamierte das Gericht am 20.10.1987, dass die Beschwerde (formaljuristisch) unzulässig sei. Die Prokino Filmverleih GmbH hatte aber ggü. der FSK inzwischen bereits im Juni 1987 die Prüfung einer ersten, zensierten Schnittfassung des Films (ohne die Szenen, die das AG München monierte) beantrag, aber die FSK lehnte eine Kennzeichnung ab. Auch die noch im selben Monat beantragte Kennzeichnung einer zweiten Schnittfassung lehnte der Arbeitsausschuss im September ab. Erst infolge der noch im selben Monat beantragten Prüfung einer dritten Schnittfassung empfahl der Arbeitsausschuss im Oktober eine Kennzeichnung ohne eine Jugendfreigabe, aber der Ständige Vertreter der OLJB bei der FSK wollte den Film nur kennzeichnen, insofern die bayerische Zentralstelle zur Bekämpfung gewaltverherrlichender, pornographischer und sonstiger jugendgefährdender Schriften keine strafrechtlichen Bedenken diesbzgl. hattee. Nach BVerfGE 87, 209 lehnte die Staatsanwaltschaft eine Stellungnahme auf ein Ersuchen der Rechteinhaberin ab, "weil eine präventive Begutachtung als Vorzensur ausgelegt werden könne; die Videokassette sei nicht vervielfältigungsfähig, werde also offenbar nicht zur Verbreitung bereitgehalten. Der Ständige Vertreter gab die Videokassette daraufhin zur Kennzeichnung an die zuständige Oberste Landesbehörde weiter, die ihrerseits die Staatsanwaltschaft einschaltete. Diese vertrat nunmehr die Auffassung, aus dem von der Beschwerdeführerin gestellten Kennzeichnungsantrag folge die Bestimmung der Kassette zur Verbreitung. An der Strafverfolgung bestehe jedoch kein öffentliches Interesse. Deshalb stellte sie das von ihr eingeleitete Ermittlungsverfahren mit gerichtlicher Zustimmung wegen geringer Schuld ein. Sie beantragte jedoch die Einziehung der Kassette." (215f.) Infolge der bis dato noch aktiven staatsanwaltlichen Beschlagnahme im März 1988 entsprach das AG München erst mit Beschl. v. 04.04.1989 dem Antrag (Az.: 443 Ds 465 b Js 163696/88). Das LG München I verwarf die diesbzgl. sofortige Beschwerde der Betroffenen mit Beschl. v. 11.05.1989 als unbegründet (Az.: 15 Qs 18/89). Die Betroffene legte i.d.S. am 09.06.1989 eine Verfassungsbeschwerde ein. Nach über drei Jahren wurde gem. BVerfGE 87, 209 am 20.10.1992 entschieden, dass Beschlagnahme und Einziehung unzulässig waren, konstatierte u.a., dass die bayerischen Gerichte die Tatbestandsmerkmale des § 131 StGB falsch ausgelegt und auch gegen das Vorzensurverbot verstoßen hatten: Das Kennzeichnungsverfahren dürfe nicht so gehandhabt werden, "daß ein Antragsteller nicht mehr frei darüber entscheiden kann, ob er den zur Kennzeichnung vorgelegten Film verbreiten will oder nicht. Begehrt ein Antragsteller die Kennzeichnung eines Films mit 'Nicht freigegeben unter achtzehn Jahren', weil er nur einen gekennzeichneten Film vertreiben möchte, so hat er über die Verbreitung des Films noch nicht entschieden. Wird in einem solchen Fall durch die Beschlagnahme des Films dessen Verbreitung verhindert, ohne daß dem Antragsteller zuvor Gelegenheit gegeben worden ist, wegen der im Kennzeichnungsverfahren deutlich gewordenen strafrechtlichen Bedenken von dessen Verbreitung Abstand zu nehmen, so kommt diese Maßnahme einer Zensur gleich und verstößt gegen Art. 5 Abs. 1 Satz 3 GG." (232) Die dritte Schnittfassung konnte im Januar 1993 in den deutschen Kinos starten, der Prokino Filmverleih GmbH war aber bereits ein Schaden in Millionenhöhe entstanden; ein Pyrrussieg. Auch die im März desselben Jahres publizierte Videofassung der VCL Communications GmbH wurde bereits im Dezember indiziert (vgl. BAnz. Nr. 243 v. 28.12.1993). Der Fall ist i.d.S. ein mahnendes Bsp., das für die Betroffenen Rechteurheber und -inhaber Signalwirkung hatte und hat und den Rechtsweg zur Farce degenerieren lässt. Bzgl. einer Darstellung der Zensurgeschichte des Films en détail s. auch MEIERDING 1993, S.82; SEIM 1998, S.75; ERDEMIR 2000, S.1f.; SEIM/SPIEGEL 2001, S.283; BETHMANN 2002, S.360-392 und NESSEL 2004, S.42f.. Vgl. AG München, Beschl. v. 08.08.1983, Az.: 127 b Js 4038/83 (Maniac). Vgl. AG Bielefeld, Beschl. v. 23.05.1984, Az.: 9 Gs 982/84 (NIGHTMARE). Vgl. KEREKES 1998, S.76-89 und HÖLTGEN 2004b. Vgl. AG Frankfurt am Main, Beschl. v. 29.08.2011, Az.: 5/31 Qs 13/11 (KETTEN-SÄGEN-MASSAKER). Vgl. BAnz. Nr. 197 v. 30.12.2011. Vgl. AG Tiergarten, Beschl. v. 12.12.2012, Az.: 528 Qs 126/12 (SAW VII – VOLLENDUNG). 200 der Beschlagnahme des (ebenfalls nach wie vor indizierten) Films BATTLE ROYAL erreichen.1119 Ungeachtet dessen könnte der falsche Eindruck entstehen, dass die Norm infolge der geringen Falldichte für die Betroffenen relativ irrelevant sein könnte; bspw. wurden bis heute zwar ein paar hundert Filme nach § 131 StGB beschlagnahmt,1120 aber nur 15 Computerspiele in diversen Portierungen (s. Tab. 2). Tab. 2: Nach § 131 StGB bis Oktober 2013 beschlagnahmte Computerspiele System Amtsgericht Datum Aktenzeichen Xbox 360 München 15.01.2008 855 Gs 10/08 PC DVD-ROM München 08.02.2008 855 Gs 53/08 Xbox 360 München 27.08.2008 855 Gs 384/08 Xbox 360 Hamburg 11.06.2007 167 Gs 551/07 Xbox 360 Bautzen 18.11.2011 43 Gs 837/11 PlayStation 3 Bautzen 02.08.2012 43 Gs 649/12 PlayStation 3 Duisburg 21.09.2012 11 Gs 2236/12 PlayStation 3 Duisburg 18.08.2013 11 Gs 370/13 PC DVD-ROM Tiergarten 15.02.2010 (353 Gs) 75 Js 1079/09 (694/10) PlayStation 2 München 19.07.2004 853 Gs 261/04 PlayStation 2 München 10.03.2010 853 Gs 79/10 Wii München 10.03.2010 853 Gs 80/10 PlayStation Portable München 10.03.2010 853 Gs 81/10 Game Gear München I 11.11.1994 ER Gs 465b Js 172960/94 Master System Mega CD Mega Drive MORTAL KOMBAT: KOMPLETE EDITION PlayStation 3 Duisburg 21.09.2012 11 Gs 2237/12 MORTAL KOMBAT II Amiga München 08.02.1995 8340 Gs 9/95 Game Gear Master System MegaDrive PC 3.5''-Diskette PC CD-ROM Super NES1121 MORTAL KOMBAT 3 Genesis Tiergarten 12.06.1997 351 Gs 2856/97 PlayStation SCARFACE – THE WORLD IS YOURS PC DVD-ROM München 20.11.2007 855 Gs 426/07 PlayStation 2 SILENT HILL – HOMECOMING PlayStation 3 Frankfurt a. M. 20.06.2011 391 Gs 914/11 SILENT HILL – HOMECOMING Xbox 360 Frankfurt a. M. 19.11.2010 4843 Js 238595/10 – 931 Gs SOLDIER OF FORTUNE: PAYBACK PC DVD-ROM Amberg 17.06.2008 102 UJs 1987/08 WOLFENSTEIN PC DVD-ROM Detmold 19.01.2010 Gs 99/10 Titel CONDEMNED CONDEMNED CONDEMNED 2 DEAD RISING DEAD RISING 2 DEAD RISING 2 DEAD RISING 2 DEAD RISING 2 LEFT 4 DEAD 2 MANHUNT MANHUNT 2 MANHUNT 2 MANHUNT 2 MORTAL KOMBAT Zehn der bis heute insg. 22 Beschlagnahmebeschlüsse sind das Resultat der Rechtsprechung des AG München, das bereits bei Filmbeschlagnahmen (nach dem AG Tiergarten) auf dem zweiten Platz der diesbzgl. aktivesten Gerichte rangiert. Ungeachtet dessen wurden zwischen 1994 (dem Jahr der ersten Spielbeschlagnahme) und dem Inkrafttreten der Novellierung des § 131 StGB am 01.04.2003 insg. nur drei Spiele beschlagnahmt, seitdem hat sich die Anzahl der Beschlagnahmen aber mehr als versiebenfacht. Das ist aber tendenziell nicht das Resultat der Novellierung der Norm, sondern u.U. der (im Folgenden noch thematisierten) Moralpanik infolge des sog. Amoklaufs von Emsdetten am 20.11.2006; zwischen 2007 und Juni 2013 wurden 16 der Spiele beschlagnahmt. Die geringe Falldichte sollte aber generell nicht über die restriktive Signalwirkung selbst einzelner Beschlagnahmen für die Betroffenen hinwegtäuschen; die gravierende Strafandrohung des § 131 StGB führt in der Praxis dazu, dass bereits die Vertriebe u.U. kontroverse, aber prinzipiell legale Medien nur massiv zensiert oder gar nicht veröffentlichen, so dass die Grundrechte des Art. 5 GG ggf. mittelbar unterminiert werden.1122 Bereits eine Indizierung in Liste B 1119 1120 1121 1122 Vgl. AG Fulda, Beschl. v. 20.02.2013, Az.: 27 Gs – 51 UJs 58348/12, aufgeh. durch Beschl. V. 19.09.2013, Az.: 2 Qs 127/13 (BATTTLE ROYAL). Vgl. SEIM/SPIEGEL 2001, S.187. Der Beschlagnahmebeschluss listet irritierenderweise "alle Versionen" des Spieles als beschlagnahmt, die einzige Ausnahme ist nach Beschl. desselben AG v. 24.04.1995 (Az. 8340Gs9/95) die Version für den Game Boy. Beschlagnahmt können aber nur solche Fassungen sein, die dem Gericht auch tatsächlich vorlagen. Vgl. MÜHLBAUER 2007 und HEINRICH 2008, S.1f.. 201 des Index wirkt auch ohne eine antezedierende Beschlagnahme i.d.R. faktisch wie ein Verbot.1123 Letztlich war das Gros der auf Liste B indizierten Spiele aber bis heute noch nicht Gegenstand eines entsprechenden Gerichtsverfahrens.1124 Die Listenteinträge überragen die tatsächlichen Beschlagnahmen aber um mehr als das Eineinhalbfache, so dass in Zukunft die Anzahl der Beschlagnahmen steigen könnte. Tatsächlich attestiert die BPjM Computerspielen auch relativ leichtfertig eine strafrechtliche Relevanz, mithin fehlt es i.d.R. an einer dezidierten Prüfung der Tatbestandsvoraussetzungen von § 131 StGB. Die Behörde kontextualisiert u.a. die inkriminierten Gewaltdarstellungen nicht (hinreichend) u./o. attestiert den Spielen bereits eine qualifizierte Gewaltverharmlosung infolge der Quantität vermeintlich grausamer, unmenschlicher u./o. die Menschenwürde verletzender Gewaltdarstellungen. Das 3er-Gremium argumentierte bspw. im Fall der indizierung des Spiels ALIENS VS. PREDATOR, dass eine strafrechtlich relevante Gewaltverharmlosung vorliege, "wenn Gewalttätigkeiten bagatellisiert und als akzeptables Mittel zur Lösung von Konflikten präsentiert werden oder wenn der Eindruck vermittelt wird, es handele sich im Kern um fast alltägliche Verhaltensformen im menschlichen Zusammenleben. Die Tötungsszenen des Spiels zeigen ausschließlich massivste Gewaltanwendungen. Durch die ständige Aneinanderreihung dieser Sequenzen entsteht der Eindruck, es gebe kein anderes Konfliktlösungsmittel. Die Einzeltat wird bereits durch die Quantität der Darstellungen bagatellisiert und damit verharmlost. [...] Insbesondere bei den verdeckten Tötungen, die an menschlichen Gegnern mit äußerst drastischer Gewaltanwendung ausgeübt werden (Abtrennen von Köpfen und anderen Gliedmassen, Zerbeißen des Gesichts, jeweils untermalt von den Schmerzensschreien der Opfer), finden sich […] Darstellungen menschenunwürdiger, grausamer und brutaler Art, die auch nicht durch das Umfeld einer Science-Fiction-Geschichte so weit relativiert werden, dass eine Strafbarkeit der genannten Darstellungen nicht mehr zu vermuten wäre."1125 Ein typischer Textbaustein der BPjM, deren Vorwürfe aber natürlich ggü. einem Spiel, das den Kampf von Menschen und den eponymen Filmmonstern widereinander auf einem extrasolaren Planent thematisiert, offensichtlich nicht besonders plausibel ist. Ähnlich problematisch sind auch die entsprechenden Argumente für die Indizierung des Gros der anderen auf Liste B indizierten Spiele, die (i.d.R. unrealistische) Ausnahmesituationen (und nicht alltägliche Verhaltensformen) i.V.m. größtenteils gar phantastischen Szenarien präsentieren. Gleichermaßen kurios ist auch die Indizierung des Spiels CALL OF DUTY: MODERN WARFARE 2 auf Liste B, das die BPjM insb. aufgrund des vierten Kapitels desselben indizierte: In der […] Mission 'No Russian' verkörpert der Spieler einen US-amerikanischen Agenten, der verdeckt bei russischen Terroristen ermittelt. Diese begleitet er bei einem Massaker an einem fiktiven russischen Flughafen, bei dem Dutzende unbewaffneter Zivilisten sowie einige russische Polizisten erschossen werden. Dabei kann der Spieler passiv in der Rolle des Beobachters bleiben oder aktiv auf Sicherheitspersonal und Zivilisten feuern. Unabhängig von seiner Verhaltensweise werden alle Zivilisten getötet, denn wenn sie nicht vom Spieler selber erschossen werden, töten die Terroristen sie. Die Russen wollen erreichen, dass das Massaker den US-Amerikanern in die Schuhe geschoben wird, weshalb ihr Chef Makarov auch zu Beginn des Spielabschnitts noch mal die der Mission namensgebende Devise "No Russian" […] ausgibt. Nach dem Massaker im ersten Teil des Spielabschnittes und nachdem die Terroristen im zweiten Teil des Spielabschnittes zahlreiche russische Sicherheitskräfte getötet haben, wird der vom Spieler gesteuerte US-Agent am Ende der Mission von Makarov erschossen, ohne dass der Spieler etwas dagegen machen kann. Makarov deckt so die Nationalität des Agenten auf und lastet dadurch den Anschlag den US-Amerikanern an, sodass kurz darauf die Russen als Racheakt eine Invasion in Amerika starten. […] Dem Gremium erschließt sich grundsätzlich nicht die Notwendigkeit, eine derart gestaltete 1123 1124 1125 Vgl. SCHMID 2009b. Wären die Staatsanwaltschaften nicht chronisch überlastet (vgl. SCHULZ/BRUNN/DREYER et al. 2007, S.150-161), könnten u.U. gar mehr als nur die auf Liste B indizierten Spiele gefährdet sein, Gegenstand eines Beschlagnahmeverfahrens nach § 131 StGB zu werden; im Fall der Beschlagnahme des Spiels CONDEMNED durch Beschl. des AG München v. 15.01.2008 (Az.: 855 Gs 10/08) hatte die zuständige Staatsanwaltschaft gem. SIEGISMUND 2008 die Liste A des Index(!) als Leseliste missbraucht: Das Verfahen wurde nur eröffnet, weil das Spiel auf Liste A des Index indiziert war! Tatsächlich wurde auch nur basierend auf der Argumentation des Indizierungsentscheids die Beschlagnahme entschieden, die aber (ungeachtet aller anderen Defizite desselben) natürgemäß keine Argumente für eine strafrechtliche Relevanz der Inhalte präsentierte! Offensichtlich konnten die Staatsanwaltschaft und das Gericht nicht zwischen der Liste A und der Liste B des Index differenzieren. Inoffiziell monierte auch die BPjM den Fall; eine Beschlagnahme eines auf Liste A indizierten Spiels unterminiert nämlich auf den Kompetenznimbus der BPjM selbst. IE Nr. 9256 (V) v. 07.05.2010 (ALIENS VS. PREDATOR). 202 Szene vor dem Hintergrund der Rahmenhandlung und deren Verständnis zwingend im Spiel zu integrieren. Sie liefert einen Grund für die Invasion der Russen in Amerika, allerdings ist die Rahmenhandlung insgesamt schwer verständlich und weist verschiedene Logikfehler auf. So bleibt zum Beispiel die Frage, warum der US-Agent nicht in einem passenden Moment die vier Terroristen tötet, neben vielen anderen Fragen ungeklärt. […] Das Gremium sieht diese Mission dementsprechend als rein selbstzweckhafte Effekthascherei auf Kosten der […] kaltblütig erschossenen Zivilisten und Polizisten an, die zu keinem Zeitpunkt zum Nachdenken oder zur Reflektion [sic] anregen soll und dies aufgrund ihrer Gestaltung auch nicht bewirken könnte. Auch eine Darstellung dieser Szene als vollständig nichtinteraktive Zwischensequenz in Form eines Videos würde […] keine in Bezug auf den Jugendschutz entlastende Alternative darstellen, da die Visualisierung der Gewalt und die damit verbundenen Wirkungen die gleichen wären. […] Das Dreier-Gremium geht über die Jugendgefährdung hinaus davon aus, dass der Inhalt […] als Gewalt verherrlichend […] anzusehen ist. […] Das Spiel enthält […] eine Sequenz (die beschriebene Flughafenszene), in welcher der Spieler Dutzende unbewaffneter und teilweise verletzter Menschen erschießen kann. Dies wird mit blutigen Details und Schmerzensschreien der Opfer untermalt. Angeschossene Personen, die verzweifelt versuchen, sich in Sicherheit zu bringen oder solche, die anderen hierbei helfen wollen, werden erbarmungslos hingerichtet. Der Spieler wird unmittelbar daran beteiligt, wie die sadistische und kaltblütige Auslöschung von Menschenleben allein aus strategischem Kalkül erfolgt. Nach Auffassung des Gremiums lassen diese […] Gewaltszenen im Hinblick auf ihre Intensität ein bislang aus Spielen so nicht bekanntes, extremst hohes Maß an menschenverachtender Geisteshaltung erkennen.1126 Tatsächlich wird die Szene aber eindeutig als verbrecherische Tat dargestellt und in keiner Weise verherrlicht oder verharmlost. Auch wird das Verbrechen insg. auch nicht in einer die Menschenwürde verletzenden Weise dargestellt, sondern vielmehr ist das Gegenteil der Fall. Ungeachtet dessen offenbart der Kommentar der Behörde, dass sich ihr weder die Dramaturgie, noch die Geschichte des Spiels erschließen, dass sie sich essentiell als Kunstrichterin geriert; mangelndes Textverständnis kann letztendlich kein Grund für eine indizierung sein. Ungeachtet dieser Ausführungen zur Spruchpraxis der BPjM wurde aber insg. für den Fall des § 131 StGB demonstriert, dass die Norm auch von deutschen Gerichten nicht nur rechtswidrig ausgelegt wird, sondern insg. wohl verfassungswidrig sein dürfte. Insofern wird wohl nur die Derogation derselben eine praktikable Lösung beider Probleme sein. Eine der letzten prominenten Aktionen zur Abschaffung der Norm war eine Bundestagspetition des Medialog e.V. – Verein zur Förderung von Medienkompetenz im September 2004. Ausgangspunkt derselben war die bundesweite Beschlagnahme des 41-jährigen, im Jahr 2002 erstmalig (ohne Alterskennzeichen oder z.B. Gutachten der SPIO/JK) in Deutschland publizierten Films BLOOD FEAST am 20.01.2004: Der Verein monierte, dass das verantwortliche AG Karlsruhe einen kulturell und filmhistorisch relevanten Film im Eilverfahren, d.h. einerseits ohne Miteinbeziehung des Nutzungsrechteinhabers cmv-Laservision oder des Rechteurhebers Herschell G. LEWIS und andererseits auch ohne filmwissenschaftliches Gutachten verboten hatte, so dass der Beschluss infolge dessen nur ein Sammelsurium inhaltlicher und fachlicher Fehler warm.1127 Die Petition forderte, "dass 1. eine bundesweit wirksam werdende Entscheidung, wie die Filmverbote nach dem § 131 StGB, nicht den einzelnen Amtsgerichten überlassen wird, 2. Standards gefunden werden, die ein Verfahren unter Ausschluss des Beklagten weitestgehend verunmöglichen und sicherstellen, dass unabhängige und filmwissenschaftlich fundierte Gutachter auf das Verfahren Einfluss nehmen können, 3. keine Verurteilung erfolgen kann, solang sich Aussagen von Gutachten widersprechen und somit der Kunstwert dem verhandelten Objekt nicht pauschal abgesprochen werden kann, 4. der Beklagte das Recht erhält, eigene Gutachter zu stellen, sofern ihre Kompetenz nach klaren Vorgaben anerkannt wurde, 5. grundsätzlich fiktionale Spielfilme ausdrücklich von der Strafverfolgung nach § 131 StGB ausgenommen."1128 Der Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages widersprach der Eingabe aber in allen Punkten und empfahl erfolgreich, die Petition abzuschließen, hatte aber der inhaltlichen Argumentation der Petition keine hinreichende Beachtung geschenkt. 1129 Der Vollständigkeit halber sei auch erwähnt, dass die Europäische Kommission solche Verbote von Computerspielen, wie sie die Folge des § 131 StGB sind, bereits missbilligte: "Wie bei al1126 1127 1128 1129 IE Nr. VA 3/09 v. 25.11.2009 (CALL OF DUTY: MODERN WARFARE 2). Entsprechendes demonstrieren ausführlich (im Auftrag des Vereins) nicht nur die beiden Gutachten von HARTLIEB 2004 und HÖLTGEN 2004a, sondern auch die diesbzgl. Stellungnahme von WULFF 2004. MEDIALOG 2004, S.5. Vgl. MEDIALOG 2005. 203 len anderen Medien muss es ein Hauptanliegen der Politik sein, die Meinungsfreiheit sowohl der Schöpfer als auch der Spieler zu wahren. […] Die Kommission ist der Ansicht, dass solche Verbote die Ausnahme bleiben sollten. Sie sollten angemessen sein und daher auf schwere Verletzungen der Menschenwürde beschränkt werden."1130 Nicht nur wurde die Verletzung der Menschenwürde bislang nicht in allen, sondern nur ein paar Fällen behauptet, auch waren solche Behauptungen seitens der Gerichte bislang noch nie strapazierbar. Ungeachtet dessen straft die insg. laxere Jugendmedienschutzpraxis der europäischen Nachbarstaaten (s.o.) das Szenario einer Gefährdung der öffentlichen Ordnung durch bestimmte gewaltdarstellende Spiele, Lügen:1131 Deutschland hat trotz der rigiden Kontrolle medialer Gewaltdarstellungen kein unterdurchschnittliches Niveau der Gewaltdelinquenz, sondern etwa dasselbe wie die liberaleren Niederlande.1132 1130 1131 1132 KOM 2008/0207, S.2-7. Im Rahmen der allg. Moralpanik infolge des sog. Amoklaufs von Emsdetten verkündete Bundesjustizministerin Brigitte ZYPRIES (SPD) nach dem informellen Treffen der Justiz- und Innenminister der EU-Mitgliedstaaten in Dresden im Januar 2007, man werde die dt. EU-Ratspräsidentschaft u.a. für die Erstellung einer schwarzen Liste der in den Staaten verbotenen Spiele nutzen; nicht überraschend musste die Bundesministerin nach der Tagung der Justiz- und Innenminister in Luxemburg am 13.06. desselben Jahres verkünden, dass letztlich nur die BRD selbst eine derartige Liste präsentierte (vgl. ERMERT/ KURI 2007). Erst nach der Befragung verboten das Irish Film Classification Office, wie auch und das britische BBFC im Juli 2007 faktisch erstmalig (und seitdem nicht wieder) ein Computerspiel: MANHUNT 2 (vgl. KOM 2008/0207, S.7); am 10.03.2010 beschlagnahmte das AG München drei bereits indizierte, zensierte Versionen des Spiels in Deutschland (Az.: 853 Gs 79ff./10). Vgl. STATH 2006, S.278 und HEINRICH 2008, S.2. 204 3. Teil: Die moralpanische "Killerspiel"-Debatte 205 206 15. Ein aktuelles Modell der Moralpanik Ungeachtet fehlender, resp. nicht hinreichender Gefährdungsmomente durch fiktionale Mediengewaltdarstellungen und verfassungsrechtlicher, wie auch rechtspraktischer Probleme des deutschen Jugendmedienschutzes und des strafrechtlichen Gewaltdarstellungsverbots, stellt sich die Rechtsgeschichte derselben ggü. Gewaltdarstellungen als eine der quasi ausschl. Verschärfungen dar. Ausgangspunkte der Verschärfungen waren aber in den letzten Jahrzehnten nicht neue wissenschaftliche Erkenntnisse über die Wirkung solcher Darstellungen (vielmehr prägt die öffentlichen Debatten über die vermeintlichen Mediengewaltwirkungen und diesbzgl. vermeintlich notwendige Konsequenzen eine konsequente Missachtung des Forschungsstandes),1133 sondern (zyklischer) Moralpaniken1134 ggü. den Inhalten der jeweils (mehr oder weniger) neue(re)n Medien (Comics, Videofilme, Privatfernsehen, Computerspiele etc.), die als Sündenböcke (sog. folk devils) für einen vermeintlichen Anstieg gesellschaftlicher Gewalt u./o. für spektakuläre Gewaltverbrechen (z.B. Schulamokläufe) missbraucht werden.1135 Ein aktuelleres Modell der Moralpanik speziell am Beispiel von Computerspielen formulierte bereits FERGUSON 2008b: Several authors […] have discussed mechanisms by which politicians, news media, and social scientists interact to cause a moral panic in the general populace. A moral panic occurs when a segment of society believes that the behaviour or moral choices of others within that society poses a significant risk to the society as a whole […]. Moral panics may emerge from "culture wars" occurring in a society, although moral beliefs often become disguised as scientific "research", oftentimes of poor quality […]. Each of these groups, politicians, news media and social scientists, arguably has motives for promoting hysterical beliefs about media violence, and video games specifically. Actual causes of violent crime, such as family environment, genetics, poverty, and inequality, are oftentimes difficult, controversial, and intractable problems. By contrast, video games present something of a "straw man" by which politicians can create an appearance of taking action against crime […]. As for the news media, […] negative news […] "sell" better than do positive news […]. [...] news media and politicians may both pay greater attention to "negative" news about video games than 'positive' news as it better suits their agendas. As for social scientists, it has been observed that a small group of researchers have been most vocal in promoting the anti-game message […], oftentimes ignoring research from other researchers, or failing to disclose problems with their own research. As some researchers have staked their professional reputation on antigame activism, it may be difficult for these researchers to maintain scientific objectivity regarding the subject of their study. [...] it may be argued that granting agencies are more likely to provide grant money when a potential problem is identified, rather than for studying a topic with the possibility that the outcome may reveal that there is nothing to worry about […]. […] "societal beliefs", which may include "commonsense notions", moral beliefs, religious beliefs, scientific dogma, and other beliefs, essentially 'spin the wheel' of moral panic. The populace begins to become concerned about something, in this case the media […], particularly something that is new, foreign, or alien. It may be more likely that societal "elders" who are particularly unfamiliar with a new media technology, and perhaps wary of youth rebelliousness against the social order, are often the progenitors of a panic. […] the majority of individuals critical of video games are above the age of 35 (many are elderly) and oftentimes admit to not having directly experienced the games.1136 Some commentators make claims betraying their unfamiliarity, such as that games like Grant Theft Auto "award points" for antisocial behaviour […] despite that few games award points for anything anymore, instead focusing on stories. Even Grand Theft Auto includes negative ramifications for antisocial behaviour, such as police attention, and it would be more accurate to state that Grand Theft Auto does not prohibit antisocial behaviour, more so than awarding points for it. The player is left to make many decisions in this regard for themselves. […] These societal beliefs become the basis for early news stories and calls for "research" of the potential problem. As the moral panic develops, research is "cherry-picked" that supports the panic. Research supportive of the moral panic is accepted without question (or thorough examination), whereas research suggestive that little problem exists is typically ignored (or at best, criticised and discarded). […] The media […] reports on the most negative results, as these results "sell" to an already anxious public. Politicians seize upon the panic, eager to be seen as doing something particular as it gives them an opportunity to appear to be "concerned for children". Media violence […] is an odd social issue with the ability to appeal both to voters on the far right […] and on the far left […]. The unfortunate result of this moral panic wheel is that mistaken beliefs are promulgated in the general public and the hysteria sown for the gain of the news media, politicians, and some activist scholars. The cost comes in reference to personal freedoms, the threat of increased government intrusion in parenting […], and loss of credibility for social science […] once the most dire of predictions to not come true (as is already the case in regard to video games).1137 1133 1134 1135 1136 1137 Vgl. MERTEN 1999, S.171 und EISERMANN 2001, S.23. Bzgl. des Phänomens der Moralpanik s. HALL/CRITCHER/JEFFERSON et al. 1978; COHEN 1980; JENKINS 1992; GAUNTLETT 1995; JENKINS 1998; THOMPSON 1998; CRITCHER 2003 und GOODE/BEN-YEHUDA 2009. Vgl. WEBER 2003, S.37. Vgl. SCHINDLER 2001, S.33. FERGUSON 2008b, S.30-34; vgl. MERTEN 1999, S.221-228; FERGUSON 2010, S.70f.. 207 Das Ziel einer Moralpanik ist i.d.R. die soziale Kontrolle der sog. folk devils,1138 insb. auch über imperative, materielle Maßnahmen. Das bereits geltende Recht (z.B. Beschränkungen, Verbote) wird dabei aber oftmals ignoriert. I.d.S. können politische Moralunternehmer bspw. nach BUCHLOH 2002 über ein Engagement gegen die entsprechenden Medieninhalte (z.B. Verbotsforderungen) nicht nur i.S.v. symbolischer Politik die eigene politische Tatkraft und moralische Rechtschaffenheit ggü. den potenziellen Wählern demonstrieren, sondern natürlich auch versuchen, "die Aufmerksamkeit auf angebliche Fehlentwicklungen in den Medien […] zu lenken, denen man […] Herr werden müsse. Missstände in der Gesellschaft oder unzureichende Leistungen in der eigenen Politik sollen dadurch in der öffentlichen Diskussion weniger deutlich zutage treten."1139 Insofern ist die Mediengewaltdebatte nach LUDWIG/PRUYS 1998 ein "Ersatzforum"1140 für die Debatte über die gesellschaftlichen Ursachen realer Gewalt (z.B. Desintegration,1141 Armut, Arbeitslosigkeit); indem man Mediengewalt als Ursache realer Gewalt darstellt, kann suggeriert werden, dass Maßnahmen gegen Mediengewalt auch reale Gewalt reduzierten.1142 Ein Beispiel des Ablenkungsmotivs i.V.m. symbolischer Politik sind die relativ transparenten, klientelpolitischen Ambitionen einiger solcher Politiker, die den Status quo beim Waffenrecht konservieren wollen, während sie gleichzeitig Medienverbote u.ä. popagieren: Die Tatwaffen der sog. Amokläufe von Erfurt und Emsdetten wurden nämlich nicht nur legal erworben, auch waren die Täter Schützenvereinsmitglieder, so dass diverse Politiker und auch Teile der Medien Verschärfungen des Waffengesetzes propagierten und massiv die deutsche Schützenvereinen kritisierten. Sportschützen u.ä. sind aber nicht nur ein (aus der Sicht entsprechender Politiker) traditionelles Klientel konservativer Parteien, sondern auch insg. eine zahlenmäßig relevante Wählerschaft, insb. in Bayern und Niedersachsen;1143 generell sind Schützenvereine insb. im ländlichen Raum regelmäßig eine (wahltechnisch relevante) gesellschaftliche Institution. Gleichzeitig sind die zentralen politischen Verbotsproponenten z.T. selbst entsprechende Vereinsmitglieder, z.B. ist Edmund STOIBER (CSU) Ehrenvorsitzender der Königlich privilegierten Feuerschützengesellschaft Wolfratshausen, Günther BECKSTEIN (CSU) Mitglied des Polizei-Sportschützen München e.V. und Uwe SCHÜNEMANN (CDU) Mitglied des Sportschützenclub v. 1955 e.V. Holzminden. I.d.S. sollen die Medienverbote wohl auch (indirekt) den eigenen Lebensstil konservieren, indem sie den Fokus von einem Sündenbock auf den nächsten transferieren. Politiker, die (im Rahmen der skizzierten Situation) den Status quo des Waffenrechts konservieren und Schützenvereine protegieren, können so ggü. Schützenvereinen, aber auch Jägern und Co., reüssieren.1144 1138 1139 1140 1141 1142 1143 1144 Vgl. O’SULLIVAN/FISKE/HARTLEY/SAUNDERS 1983, S.141f.. BUCHLOH 2002, S.319; vgl. RÖSER 2003, S.215 und KUNCZIK 2007, S.2. LUDWIG/PRUYS 1998, S.588. Vgl. HEITMEYER 1994 und ANHUT/HEITMEYER 2000. Vgl. GRIMM 1999, S.729. Der Bayerische Sportschützenbund ist gem. Mitgliederstatistik des Deutschen Schützenbund e.V. bspw. der größte dt. Landesverband und zählt 470.998 Mitglieder (Stand: 31.12.2011), während der niedersächsische Verband der zweitgrößte Verband Deutschlands ist und 174.556 Mitglieder zählt (vgl. DSB 2012). Auch organisiert z.B. die niedersächsische Landeshauptstadt jährlich das Schützenfest Hannover, das größte Schützenfest der Welt. Vgl. RÖTZER 2002 und WEBER 2003, S.38. Erhellend ist i.d.S. bspw. ein Kommentar des bayerischen Staatsministers und Leiters der Bayerischen Staatskanzlei Erwin HUBER (CSU) am 31.03.2001 bzgl. des 50. Jubiläums des Schützenbezirks Niederbayern: "Die schrecklichen Ereignisse von Bad Reichenhall, Metten und Brannenburg haben uns aufgerüttelt. Wir müssen alles tun, um Gewalt bei Jugendlichen zu unterbinden bzw. zu verhindern. Gewalt bei Jugendlichen hat immer ein ganzes Bündel von Ursachen, die vielfach auch im unkontrollierten Konsum von Gewalt verherrlichenden und schwer jugendgefährdeten Videofilmen und von sogenannten Killerspielen liegen. Der Einfluss der Medien auf unsere Kinder und Jugendliche ist oftmals kontraproduktiv zu unseren Wertvorstellungen, die wir unseren Kindern vermitteln wollen, die gerade auch in den Schützenvereinen vermittelt werden." (zitiert in: BOTT 2002) I.d.S. proklamierte auch das BStMI per Pressemitteilung Nr. 105/02 v. 04.03.02 bzgl. des Entwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung des Waffenrechts (WaffRNeuRegG) der Bundesregierung eine Stellungnahme des LIM Günther BECKSTEIN: "Vor allem für den Missbrauch von Schusswaffen insbesondere durch Jugendliche gibt es ein ganzes Bündel anderer Ursachen als den legalen Waffenbesitz. Dazu zählt etwa der unkontrollierten [sic] Konsum von gewaltverherrlichenden und schwer jugendgefährdenden Videofilmen und die Beschäftigung mit sogenannten Killerspielen, die in menschenverachtender Weise Todeshandlungen am Mitspieler simulieren." Dgl. artikulierte der dato ehem. LIM (und Ministerpräsident) auch infolge des sog. Amoklaufs von Winnenden (vgl. FISCHER 2009), wie auch der niedersächsische LIM Uwe SCHÜNEMANN (vgl. SCHÖNEBERG 2009). 208 Natürlich können sich Moralunternehmer aller Art auch nur aus Gründen schlichter Intoleranz ggü. anderen Meinungen, Kunstauffassungen, Lebensstilen u.ä. gegen die inkriminierten Inhalte in den Medien engagieren.1145 Ungeachtet dessen soll im Folgenden die (politische) moralpanische Debatte über die vermeintlichen Gefahren gewaltdarstellender Computerspiele in Deutschland dargestellt werden. Die "Lex Steinhäuser"1146 16. Gewaltdarstellende Computerspiele wurden erstmals 1999 ein Politikum: Infolge des sog. Amoklaufs von Bad Reichenhall vom 01.11.1999 beschloss die Bayerische Staatsregierung acht Tage später, der bayerische Landesinnenminister (LIM) Günther BECKSTEIN (CSU) solle noch im selben Jahr dem Bundesrat einen Entschliessungsantrag für u.a. rechtsverbindliche Alterskennzeichnungen von Computerspielen, ein absolutes Vermietverbot (schwer) jugendgefährdender Medien (ceterum censeo der Unionsparteien seit 1982)1147 und eines Verbots sportiver Spiele wie z.B. Paintball und Lasertag formulieren, den der unionsdominierte Rat auch am 25.02.2000 beschloss;1148 die Bundesregierung ignorierte den Antrag. Erst im Bundestagswahlkampfjahr 2002 konnte der sog. Amoklauf von Erfurt am 26.04.2002 die Moralpanik der letzten beiden Jahrzehnte ggü. gewaltdarstellenden Medieninhalten reanimieren. Die Medien diabolisierten z.T. bereits selbst am Tattag gewaltdarstellende Computerspiele,1149 insb. den populären Egoshooter COUNTER-STRIKE. Die FRANKFURTER ALLGEMEINE SONNTAGSZEITUNG (F.A.S.) titelte z.B. am 28.04.2002 im Rahmen des Feuilletons "Die Software fürs Massaker" und fabulierte ein die Debatte prägendes Sammelsurium an eklatanten Falschinformationen das in Punkto Gewaltdarstellung relativ unspektakulären Spiel betrefffend, das den Täter trainiert habe: Was ging in dem Kopf des Amokläufers von Erfurt vor? Die Antwort darauf steht auf diesen Seiten. Das populäre und indizierte Computeronlinespiel "Counterstrike" [sic] simuliert Terror- und Antiterrorkriegsführung in Echtzeit. Über das Internet spielen überwiegend jugendliche Spieler in Terror- oder Antiterrorgruppen – nach Angaben des Herstellers sind zu jeder beliebigen Zeit 500 000 Spieler eingeloggt. Es geht um die Besetzung von Gebäuden, die Sprengung von Fahrzeugen, um die Befreiung von Geiseln – oder, wemn man die Gegenseite spielt – um deren Gefangennahme. Das Waffenarsenal ist gewaltig, der Munitionsvorrat, eine prekäre Ressource, muß während des Spiels immer wieder aufgestockt werden. 1145 1146 1147 1148 1149 Vgl. BUCHLOH 2002, S.320f.. Das dürfte auch ein zentrales Motiv insb. der extremsten der Medienkritiker, wie auch der zentralen politischen Verbotsproponenten der im Folgenden dargestellten Debatten sein. Bspw. desavouierte sich der niedersäschsische LIM Uwe SCHÜNEMANN (CDU) diesbzgl. infolge des sog. Amoklaufs von Emsdetten selbst: "Aber über die brutalen Varianten darf es überhaupt keine Diskussion geben. Da braucht man auch kein Gutachten. Das ist so pervers, dass es keine Alternative zum Verbot gibt. [...] Wenn Sie verstehen, wie brutal die Szenen sind, die dort gespielt werden müssen, dann ist völlig klar, dass dieses für niemanden förderlich sein kann. Solche Spiele brauchen wir nicht! Deshalb gehören sie verboten! [...] Wenn man sich diese Spiele selbst ansieht, kann man auch keine andere Position vertreten." (zitiert in: GÜßGEN 2006) Dgl. auch am 27.03.2009 infolge des sog. Amoklaufs von Winnenden bzgl. des Themas "Waffenrecht – wie machen's andere Länder?" in der politischen ZDF-Talkshow MAYBRIT ILLNER: "Und ich glaube, die Erwachsenen brauchen solche Spiel auf gar keinen Fall, deshalb muss so etwas auch verboten werden." Dgl. auch der hessische LIM Volker BOUFFIER (CDU): "Ich bin der Auffassung, so etwas braucht niemand." (zitiert in: KANNING 2009) Dgl. auch der bayerische LIM Joachim HERRMANN (CSU), der auf der Website abgeordnetenwatch.de in einer Antwort v. 22.06.2010 formulierte: "In der Tat kann ich auch bei Erwachsenen kein schützenswertes Recht erkennen, sich mit derartigen Machwerken zu beschäftigen […]. Mir fehlt jedes Verständnis dafür, Killerspiele als harmlose Freizeitbeschäftigung oder gar als Inbegriff der eigenen Selbstverwirklichung anzusehen. Mit Kunst oder freier Meinungsäußerung hat dies rein gar nichts zu tun. Eine zivilisierte Gesellschaft darf und muss hier Grenzen setzen." Werden aber Grundrechte wie die freie Entfaltung der Persönlichkeit und die Rezipientenfreiheit ignoriert oder gar als schützensunwerte Rechte relativiert, ist die Debatte letztlich nur noch eine paternalistische, ja antiliberale Notwendigkeitsdebatte. I.d.S. argumentiert z.B. BIRKE 2007, dass das Recht auf individuelle Selbstbestimmung hier das zentrale, schützenswerte Recht ist, "die Schaffung eines Bereichs in Privatleben und Fantasie, in dem Staat und Gesellschaft mit Normvorgaben nichts verloren haben. Neben der Sexualität als traditionell am meisten von Repressionen bedrohtem Privatvergnügen sind Medien wie Film, Musik, Literatur und Computerspiele ein entscheidender Teil von Privatleben und einvernehmlichen Versammlungen, wo die Fantasie ohne Grenzen bedient und gleichzeitig niemand dadurch geschädigt werden kann. Folglich muss spätestens mit dem vollendeten 18. Lebensjahr ohne Grenzen alles erlaubt sein. Das gilt für alle 'Killerspiele', ob einfache Räuber- und Gendarm-Ballerei wie 'Counterstrike' [sic], Horrorshooter wie die 'Doom'-Titel, Extremwerke wie 'Manhunt' oder auch reine Perversionsdarstellungen. Es ist ein zu schützender Wert, wenn der erwachsene Bürger das Recht hat, sich durch extreme Darstellungen, auch selbstzweckhafte und exzessive Gewalt-Fiktionen, Nervenkitzel nach seinem eigenen Anliegen zu schaffen." GRIMM 2002, S.56. Vgl. BR-Drs. 921/90 und -PlPr 643, S.278. Bzgl. eines Resümees diesbzgl. Ambitionen bis einschl. 1992 s. MEIROWITZ 1993, 293f.. Vgl. BR-Drs. 764/99. Vgl. MERTEN 1999, S.228 und WEBER 2003, S.36. Bzgl. einer detaillierten, exemplarischen Diskursanalyse (am Bsp. der Berichterstattung der Tageszeitung F.A.Z. und des Nachrichtenmagazins DER SPIEGEL) s. BEYER 2004. 209 Robert Steinhäuser war, wie seine Mitschüler berichten, ein begeisterter 'Counterstrike'-Spieler [sic]. Und das Spiel, in dem man vom Polizisten […] über den Passanten bis hin zum Schulmädchen jeden erschiessen soll, ehe man selber erschossen wird, liefert einen Handlungscode für den Amoklauf von Erfurt [...]. Wie im Spiel, wo der Spieler mit einer Primär- und einer Sekundärwaffe, nämlich Gewehr und Pistole ausgestattet ist, versah sich der 19jährige mit Pumpgun und Revolver und einer riesigen Menge Munition. Seine Maskenverkleidung schaute er sich den Spielfiguren ab. Und die Empfehlung, die auf der Seite von amazon.com gegeben wird, man solle, wenn man in dem Spiel VIPs erschieße, an Leute denken, die man nicht mag, hat Robert Steinhäuser ebenfalls ganz wörtlich genommen. Ob der Massenmord für ihn Spiel oder das Spiel schon Mord war, werden Psychologen erkunden. Doch das Inventar der Haßindustrie wird täglich wirklichkeitsnäher. "Erschieß mich doch", hat der Lehrer zu Steinhäuser gesagt, der ihm die Kapuze und damit die Rolle vom Leib riß. Und der Mann, der soeben siebzehn Menschen ermordet hatte, antwortete wie Kinder, die den Computer abschalten: "Ich habe jetzt keine Lust mehr." Ungeachtet der (bis heute regelmäßig) konsequent falschen Schreibweise des Spielnamens (und dass das Durchschnittsalter der Spieler salopp behauptet, aber natürlich nicht erhoben wurde) war (und ist) das Spiel nicht indiziert:1150 Das Spiel ist prinzipiell eine moderne, computerisierte Variante des populären Geländespiels "Räuber und Gendarm" und es geht weder um die Besetzung von Gebäuden, noch die Sprengung von Fahrzeugen. Man soll auch weder jeden erschießen (insb. nicht die Geiseln), noch existieren Passanten, Schulmädchen o.ä. in diesem Spiel. Auch einen "Handlungscode für den Amoklauf von Erfurt" liefert das Spiel i.d.S. nicht: Die Analogien zwischen dem Spiel und der Tat sind nicht einmal rudimentärer Natur, ja der "Handlungscode" des Spiels steht dem der Tat quasi diametral ggü. und selbst die Behauptung, dass das Spiel den Modus Operandi der Tat modelliert hätte, wäre eine nur indizienlose Spekulation; dass der Täter mit einer Primär- und einer Sekundärwaffe und einer "Maskenverkleidung" ausgestattet war, ist diesbzgl. insg. nicht hinreichend. Der Artikel provozierte u.a. über 2.500 kritische E-Mails der (implizit) selbst auch diffamierten Spieler, die z.B. die evidenten Fehler des Artikels, wie auch die Diffamation der Industrie ("Hassindustrie") monierten. Ungeachtet dessen war der Artikel Ausgangspunkt unzähliger Presseartikel, die das Spiel gleichermaßen diabolisierten, die Falschdarstellungen der Zeitung kritiklos kopierten und i.S.d. Flüsterpostprinzips gar immer neue, immer skandalösere Spielinhalte fingierten. Am 29.04.2002 fabulierte z.B. das HAMBURGER ABENDBLATT: "Alles, was sich bewegt, wird erschossen. Nur wer schneller schießt, kommt weiter. Die Opfer schlagen blutberströmt einen Salto rückwärts. Wer sich den Weg freiballert, bekommt einen Bonus. Kinderwagen mit Großmüttern bringen Extra-Punkte. Der Blutfluss kann programmiert werden – für Anfänger normal, für Fortgeschrittene schnell und heftig. [...] Am begehrtesten sind Pumpguns, denn die bringen die meisten Punkte – Steinhäuser hatte bei seinem Amoklauf auch eine solche Waffe dabei."1151 Auch die Tageszeitung DIE WELT fabulierte am selben Tag: "Er soll ein begeisterter 'Counterstrike'Spieler [sic] gewesen sein, ein indiziertes Spiel, das Terrorangriffe und -bekämpfung simuliert. Tatsächlich kommt die subjektive Sicht der Computerspiele dem Amoklauf bedenklich nahe: Der Schütze läuft durch Gänge und schießt auf eklige Tiere oder eben Terroristen. Man nennt die Gattung Ego-Shooter: Ich-Findung mit Hilfe von Gewaltfantasien im virtuellen Raum. Der Spieler wird durch immer bessere Waffen belohnt, und oben auf der Skala steht die Pumpgun. Diese Waffe bedient die Fantasien von pubertierenden Jugendlichen besonders, das Nachladen imitiert die Masturbationshandlung. Das klackende Geräusch der Waffe, die offene, Furchtlosigkeit signalisierende Haltung vor dem Bauch ist im Kino tradiert worden; ebenso die erschreckende Wirkung der Schrotgeschosse."1152 Offensichtlich hatte Keiner der Jorunalisten das Spiel je selbst gesehen. 1150 1151 1152 De facto war aber vor der Tat ein Indizierungsverfahren anhängig: Bereits im Vorfeld der Entscheidung plädierte Maria BÖHMER (CDU), Bundesvorsitzende der Frauen Union der CDU Deutschlands, für ein generelles Vermietverbot (schwer) jugendgefährdender Medien und artikulierte laudiert von Maria EICHHORN (CSU), Vorsitzende der Frauen-Union der CSU, den Wunsch, "dass das Lieblingsspiel von Robert Steinhäuser, […] endlich verboten wird." (zitiert in: BT-PPr 14/236, S.23535) Letztlich entschied das 12er-Gremium der BPjM aber am selben Tag gem. IE Nr. 5116 v. 16.05.2002 gegen die Indizierung und statuierte i.d.S. nicht das Exempel, für das bpsw. auch Bundeskanzler Gerhard SCHRÖDER (SPD) plädiert hatte, der infolge dessen monierte, die Nichtindizierung sei ein "absolut verkehrtes Signal" (zitiert in: DECKER 2005, S.60); dgl. Bundesfamilienministerin Christine BERGMANN (SPD) im Rahmen der Jahrestagung der BPjM am 28./29.05.2002 (vgl. GRIMM 2002, S.5). SÖRING 2002. KREITLING 2002. 210 Die bis dato offensichtlich nicht konsultierte Polizeidirektion Erfurt proklamierte aber bereits am 30.04.2002, dass sie insg. keine Parallelen zwischen den Inhalten der im Rahmen der Ermittlung beschlagnahmten Computerspiele des Täters und der Tat identifizieren konnte.1153 Zwei Jahre später konstatierte letztlich auch der abschließende Bericht der speziell dafür eingesetzten Kommission Gutenberg-Gymnasium, "dass Robert Steinhäuser nicht […] die Nächte durch Counterstrike [sic] gespielt hat und Counterstrike [sic] auch kein Dauerbrenner von Robert Steinhäuser gewesen ist."1154 Aber selbst bis heute ist der diesbzgl. Mythos virulent und das Spiel war und ist insb. solchen Medienkritikern ein populäres Beispiel eines "Killerspiels" (s.u.), die bzgl. Computerspielen offensichtlich kaum oder gar nicht fachkompetent sind. Hardliner rezitierten reflexartig die Falschinformationen der Medien, argumentierten insb. mit simplen Alltagstheorien und propagierten salopp absolute Verbote (fiktiver) medialer Gewaltdarstellungen. JÖRNS 2003 resümierte später, "dass kaum ein Politiker das in den Reden immer erwähnte Spiel Counterstrike [sic] tatsächlich je gesehen, geschweige denn gespielt hatte."1155 Besonders aktiv waren insb. Spitzenpolitiker der CSU: Am 27.04.2002 forderte z.B. der damalige Kanzlerkandidat und bayerische Ministerpräsident Edmund STOIBER (CSU) im Rahmen einer Landesdelegiertenversammlung der CSU in München ein generelles Verbot von Gewaltdarstellungen in Computerspielen;1156 u.a. sekundierten ihm die bayerische Familienministerin Christa STEWENS (CSU), wie auch LIM Günther BECKSTEIN (CSU).1157 Letzterer propagierte bspw. am 29.04.2002 die unionsintern populären (absoluten) Vermietverbote für indizierte Medien, behauptete eine (medieninduzierte) der tatsächlichen Sachlage nicht entsprechende "Explosion von Gewalt bei Jugendlichen"1158 und kritisierte die Bundesregierung, sie sei seit dem Entschließungsantrag des Bundesates im Jahr 2000 in skandalöser Weise untätig 1153 1154 1155 1156 1157 1158 Vgl. MANZ 2002. SCHIRRMACHER 2002, Chefredakteur des Feuilletons des F.A.S., veröffentlichte erst am 01.05.2002 den rabulistischen Kommentar, dass die Redaktion insg. nicht der Meinung sei, dass der Artikel Recherchefehler enthalte(!) und konstatierte: "Dass der Ablauf des Spiels in Details anders sein mag (Besetzung von Gebäuden/Fahrzeuge), ändert ja nichts daran, worum es in diesem Spiel geht. Der Originalartikel in der Sonntagszeitung war mit unzähligen Screenshots aus dem Spiel versehen, die keinen Zweifel daran lassen können, dass CS ein Spiel ist, in dem es darum geht, realistisch auf Menschen zu schießen. […] Und die Tatsache, dass Skins von Schulmädchen, Prominenten, Terrorgruppen (Hisbollah) und Polizeigruppen (GSG 9) im Internet herunterzuladen sind, zeigt, welche Bedürfnisse durch Counterstrike [sic] auch angesprochen werden können. Damit ist nicht gesagt und sollte nicht gesagt werden, dass Counterstrike-Spieler [sic] massenhaft Schulmädchenskins herunterladen oder Geiseln erschießen. Aber erschiessen sie Polizisten? [...] Es wird damit auch nicht gesagt, dass jeder Spieler ein Amokläufer ist. Gesagt wird nur, dass das Spiel etwas simuliert, was Robert Steinhäuser in die Tat umsetzte. […] Ich glaube, wir müssen aufhören – und auch der Artikel hat dies so sagen wollen – einfache Ursachen für solche Erscheinungen zu suchen. Counterstrike [sic] ist n i c h t [sic] schuld am Massaker. Und wenn der Attentäter ein anderes Spiel gespielt hat, ist dies auch nicht schuld im klassischen Sinne von Ursache und Wirkung. Aber es gibt doch so etwas wie einen 'Symptompool'. Wenn sich, wie dies in den vergangenen Jahren mehrfach der Fall gewesen ist, herausstellt, dass Highschool-Attentäter a u c h [sic] über Killer-Computerspiele verfügten, muss man darüber nachdenken, warum das so ist." Ungeachtet der Phrase "Killer-Computerspiele" (s.u.) ist das Spielen auch gewaltdarstellender Computerspiele aber insg. ein ubiquitäres Phänomen Jugendlicher, kein besonderes Verhalten o.ä., wie z.B. auch die sog. JIM-Studien bis dato demonstriert hatten – der Ausgangsartikel selbst konstatierte ja z.B.bereits nur für das Spiel COUNTER-STRIKE mind. 500.000 (internationale) "überwiegend jugendliche" Spieler –, so dass man prinzipiell eben nicht darüber nachdenken muss, warum jugendliche Gewalttäter ggf. auch gewaltdarstellende Spiele spielen. GASSER/CREUTZFELD/NÄHER et al. 2004, S.337f.. Der Täter hatte nicht einmal einen (für das prinzipielle Onlinespiel) notwendigen Internetzugang (S.298). Natürlich konnte aber nicht überraschend die Rezeption auch Gewalt darstellender Filme und Computerspiele rekonstruiert werden, ohne dass die Kommission (ungeachtet des pejorativen Duktus des Berichts) diesbzgl. Expertise demonstrieren konnte; bspw. klassifizierte sie das Computerspiel TOM CLANCY’S SPLINTER CELL: PANDORA TOMORROW als Egoshooter (S.341)! Auch attestierte die Kommission der Mediengewaltrezeption des Täters salopp, d.h. ohne diesbzgl. Indizien oder hinreichende Medienwirkungsexpertise, eine tatstimulierende Wirkung (S.335-346). D.h. "dass ein exzessiver Konsum von sogenannten Egoshootern jedenfalls unter der Bedingung von Persönlichkeitskrisen und fehlenden Kompensationsmechnanismen von einem zwar oberflächlich harmlosen, der Struktur nach aber unterschwellig das Prinzip der Achtung der menschlichen Unversehrtheit in Frage stellenden Reaktionsspiel zu einem regelrechten Gewaltanwendungstraining entarten kann. Tritt ein latentes Vorhandensein weiterer Faktoren hinzu, wie z.B. narzisstische Persönlichkeitsstruktur, geringes Selbstwertgefühl, leichte Kränkbarkeit, Hunger nach Anerkennung, hochstrebende Vorstellungen und trifft eine solche Disposition dann noch auf die leichte Verfügbarkeit von (Schuss-)Waffen, kann dies zu einer tödlichen, auf einen Anlass zur Entladung ausgerichtete Mixtur führen." (S.344) Dies stellt nicht nur einen Rückgriff auf simple Alltagstheorien dar, auch konnte die Kommission (insb. ohne Relationswerte) bereits die Exzessivität des Medienkonsums, resp. eine Anormalität des Medienhabitus des Täters nicht demonstrieren. BÖSCHE/GESERICH 2007 konnten aber im Lichte der subjektiven Täterlogik plausibel argumentieren, dass die Mediengewaltrezeption weder eine hinreichende, noch eine notwendige Bedingung der Tat war (S.59-62). Vgl. JÖRNS 2003, S.123. Vgl. OPITZ 2002. Vgl. BOTT 2002. Zitiert in: RAMELSBERGER 2002. 211 gewesen; der Schulamoklauf war zum Wahlkampfthema degeneriert. Tatsächlich hatte aber bereits die Enquete-Kommission des Deutschen Bundestags "Zukunft der Medien in Wirtschaft und Gesellschaft – Deutschlands Weg in die Informationsgesellschaft" seit 1996 u.a. eine Neuregelung des Jugendmedienschutzrechts diskutiert. Eine entsprechende Novelle war auch bereits Gegenstand einer von der Jugendministerkonferenz am 17./18.06.1999 eingesetzte Bund-Länder-Arbeitsgruppe, die im Februar 2000 erste Eckpunkte für eine Neuregelung des Jugendschutzes präsentiert hatte, so dass die Jugendministerkonferenz bereits am 18./19.05. desselben Jahres beschlossen hatte, die Bundesregierung solle einen Entwurf zur Neuregelung des Jugendschutzes formulieren.1159 Erst auf der Ministerpräsidentenkonferenz am 08.03.2002 hatten sich Bund und Länder aber auf die Eckwerte einer Neuregelung einigen können. Infolge dessen hatten die Bundestagsfraktionen der SPD und von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN bereits am 13.04.2002 einen Entwurf eines Jugendschutzgesetzes präsentiert,1160 der erst nach der Bundestagswahl im September 2002 hätte beschlossen werden sollen, der den Gesetzgebungsprozess aber im Lichte des Schulamoklaufs und einer Atmosphäre allg. politischen Aktionismus in Rekordzeit passierte: Das Bundeskabinett verabschiedete den Entwurf am 08. 05.2002, der Bundestag am 14.06.2002 und der Bundesrat letztlich am 21.06. 2002;1161 das neue JuSchG trat am 01.04.2003 in Kraft. Das Fundament der späteren "Killerspiel"-Verbotsdebatten wurde bereits im Gesetzgebungsprozess gesetzt: Diverse Unionspolitiker, insb. solche der Frauen Union, formulierten am 14.05. 2002 den Antrag "Jugendschutz stärken", nach dem der Bundestag die Bundesregierung auffordern sollte, "entsprechende Maßnahmen zu ergreifen, dass 1. ein klares und übersichtliches Jugendschutzgesetz mit eindeutigen Zuständigkeitsregelungen für Jugendämter, Ordnungsämter, Gewerbeaufsichtsämter und Polizei vorgelegt wird; 2. Regelungen zum Jugendmedienschutz auf internationaler Ebene getroffen werden; 3. ein generelles Verbot schwer jugendgefährdender Videofilme, Computer- und Videospiele erfolgt; 4. gesetzlich bindende Alterskennzeichnungen von Computer- und Videospielen eingeführt werden sowie eine Freiwillige Selbstkontrolle wie beim Film installiert wird; 5. ein striktes Verbot von Videoautomaten gewährleistet wird; 6. ein generelles Verbot von Killerspielen erfolgt; 7. die Lockerung der Schutzbestimmungen bei Spielautomaten zurückgenommen wird [...]."1162 Der Bundestag beschloss am 14.06.2002 den Antrag gegen die Stimmen der Fraktionen der Unionsparteien und der FDP abzulehnen.1163 Dieselben Novellierungen proponierte auch der am 20.06.2002 im Bundesrat eingebrachte Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Jugendschutzgesetzes (JuSchGÄndG) der bayerischen Staatskanzlei,1164 den der unionsdominierte Rat mit Beschluss vom 27.09.20021165 am 14.11. 2002 als Gesetzesinitiative beim Bundestag einbrachte.1166 Der Bundestag votierte aber am 04. 04.2003 mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und denen der FDP-Fraktion gegen die der Unionsfraktion gegen den Entwurf. Den allg. Tenor ggü. dem Entwurf demonstriert ein prägnanter Kommentar der Abgeordneten Jutta DÜMPE-KRÜGER (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): "Er ist längst überholt, enthält vor allem eine Unmenge an Verboten, stellt das Verhältnismäßigkeitsgebot durch unterschiedliche Bußgeldrahmen auf den Kopf und widerspricht dem Gleichbehandlungsgrundsatz. Er trägt auch nicht zur Verbesserung des Jugendschutzes bei. [...] Kurzum, [...] aus meiner grünen Sicht wäre dieses Papier am besten als Baum im Wald stehen geblieben."1167 Die Debatte war beendet und spätestens seit der Ausfertigung 1159 1160 1161 1162 1163 1164 1165 1166 1167 Vgl. HEYL 2001. Vgl. BT-Drs. 14/9013. Bzgl. einer detaillierteren Darstellung der gesetzgeberischen Geschichte des JuSchG s. NIKLES/ROLL/SPÜRCK et al. 2005, S.24-28 und RETZKE 2006, S.2-9. Vgl. BT-Drs. 14/9027, S.2. Vgl. BT-PlPr 14/243, S.24494. Vgl. BR-Drs. 585/02. Vgl. BR-PlPr 780, S.454. Vgl. BT-Drs. 15/88. Zitiert in: BT-PlPr 15/38, S.3169. 212 des parallel diskutierten SexÄndG am 27.12.2003, resp. dem Inkrafttreten der Norm am 01.04. 2004, kein Politikum mehr. Ungeachtet dessen wurde der Entwurf vier Jahre später reanimiert (s.u.). 17. Medienhysterie: FRONTAL21 als Ausgangspunkt der Debatte Das ZDF-Politmagazin FRONTAL21 reanimierte die Debatte am 09.11.2004 im Rahmen eines ersten Berichts des Autors Rainer FROMM: "Video-Gemetzel im Kinderzimmer: Killerspiele und Behördenversagen."1168 Der Bericht war ein Sammelsurium eklatanter Falsch- und Fehlinformationen. Nicht nur der provokante Titel, auch die Anmoderation des stellvertretenden Redaktionsleiters Theo KOLL ("Massenmord als Kindersport"), der pejorative Duktus ("Killerspiel", "Metzelspiele"; "Gewaltspiel"), wie auch die Skandalisierung der (dekontextualisierten) Gewaltdarstellungen demonstrieren das boulevardeske Niveau des Berichts, der u.a. eine Brutalisierung der Computerspiele diagnostizierte und die Wirkungslosigkeit der Altersbeschränkungen kolportierte: Der Bericht präsentierte i.d.S. Jugendliche, die (das suggeriert der Schnitt) das (ohne Jugendfreigabe gekennzeichnete) Spiel DOOM 3 spielten, das einer der Jugendlichen (ein 14-Jähriger und somit kein Kind mehr) im Rahmen eines einzigen (mittels versteckter Kamera) dokumentierten Testkaufs kaufen konnte. Der Bericht, der die Rechtsverbindlichkeit der Altersbeschränkung nicht thematisierte, dokumentierte i.d.S. nur ein nach § 28 Abs. 1 Nr. 15 JuSchG bereits ordnungswidriges Verhalten der Verkäuferin (und nach Abs. 4 u.U. ein solches des Autors des Berichts), resp. ein Vollzugsdefizit, wäre ein einziger Testkauf (im Bericht euphemistisch als "Stichprobe" bezeichnet) denn diesbzgl. auch repräsentativ. Ein Vollzugsdefizit wurde aber nicht thematisiert, das Problem sei das eponyme "Behördenversagen" der OLJB. Der Autor kolportierte im Rahmen eines Interviews mit Jürgen HILSE, dem (im Lichte der Falsch- und Fehlinformationen des Autors konsterniert reagierenden) Ständigen Vertreter der OLJB bei der USK, man könne den Verkäuferinnen(!) nicht zumuten, "dass sie die Arbeit leisten, die eigentlich der Jugendschutz leisten müsste." Dass das simple Prozedere der Alterskontrolle, das im Rahmen öffentlicher Filmveranstaltungen seit 1956 und im Einzelhandel für Filmprogramme seit 1985, wie auch seit Jahrzehnten z.B. für Alkoholika u.ä. Rechtspflicht ist, ggü. Computerspielen nicht zumutbar sei, ist aber nicht plausibel. Der Bericht kolportierte auch, dass die USK die Nachfolger indizierter Spiele systematisch(!) kennzeichne und suggerierte, dass das Gros der Spiele per se jugendgefährdend sei und die Arbeit, die die USK eigentlich leisten müsste, eine Nichtkennzeichnungsquote sei, der ggü. sich die Organisation nicht bewährt habe: "3.500 Spiele sind hier geprüft worden, fast alle sind im Handel. Nur 23 Spiele haben keine Freigabe bekommen: Selbstzufriedenheit im Amt." Die Daten sind falsch: Die USK prüfte bis zum Inkrafttreten des JuSchG ca. 8.800 und seitdem etwas weniger als 3.958 Spiele; 2003 prüfte sie insg. 1.806 und 2004 insg. 2.152 Spiele. Auch kennzeichnete die USK seit 2003 insg. 51 Spiele nicht; 2003 insg. 32 und 2004 insg. 19 Spiele. Der Bericht ignoriert auch die Dunkelziffer nicht geprüfter (und infolge dessen i.d.R. in der BRD nicht veröffentlichter) Spiele. Die Argumentation des Berichts ist aber auch ungeachtet dessen unplausibel, wie bereits WINKLER 2007 konstatierte: "Das entwertet allerdings nur ein von vorneherein wertloses Argument. Wievielen Spielen eine Kennzeichnung verweigert wird, kann kein Kriterium für die Qualität der Arbeit der USK sein. Aufgabe der USK ist es, jedes Spiel für sich genommen fair zu bewerten. Es ist nicht ihre Aufgabe, Vergabequoten zu erfüllen."1169 Auch monierte der Bericht nebulös: "Die USK sollte den Jugendschutz verbessern, das Gegenteil ist der Fall. Mehr brutale Gewaltspiele statt weniger."1170 Einen (prozentualen) An1168 1169 1170 Bzgl. einer Transkription s. SOMMERAUER 2009, S.101ff.. Vgl. WINKLER 2007, S.3. Auch die Diskreditierung der Organisationen der freiwilligen Selbstkontrolle ist ein eingeübtes Ritual der Medienkritik: Der ehem. Vorsitzende der BPjS, Rudolf STEFEN, kritisierte bspw. 1984 die Pläne der OLJB, die FSK im Rahmen des JÖSchNG als Gutachter bzgl. Videofilmen zu mandatieren und monierte kurioserweise, die Organisation habe in den letzten 35 Jahren "manch fragwürdige Entscheidung" (zitiert in: DER SPIEGEL 1984, S.52) getroffen, z.B. (seit 1983) die Jugendfreigabe von ca. 30 Videofilmen, die die BPjS ex post facto indizierte (vgl. GOTTBERG 1999, S.42). Im Lichte der unzähligen fragwürdigen Entscheidungen der BPjS ist der Vorwurf nicht nur unreflektiert, sondern indiziert auch ein gewisses Überlegenheits- und Unfehlbarkeitsdünkel. War die BPjS in den 1980ern aber selbst noch ein Kritiker der FSK, laudiert die aktuelle 213 stieg der "Gewaltspiele" demonstriert der Bericht aber (auch ohne eine Definition solcher Spiele) erst gar nicht. Im Gegenteil ignoriert der Autor, dass die Systematik des JuSchG Selbstzensuren und ggf. gar die Nichtveröffentlichung (potenziell) nicht kennzeichnungsfähiger Spiele bewirkt. Den Bericht garnierten Kommentare dreier LIM; Brandenburgs LIM Jörg SCHÖNBOHM (CDU) demonstrierte z.B. die eklatanten Defizite seiner Jugendmedienschutzexpertise und proklamierte ad hoc: "Das nunmehr durch die USK Filme und solche Spiele nicht indiziert und damit verboten werden, ist nicht akzeptabel. Was umso schwieriger ist, wenn man sich überlegt, dass die Vorgängerspiele, von einer ähnlichen Brutalität und Grausamkeit, schon von der Bundesprüfstelle verboten wurden und jetzt nicht. Also hier muss eingegriffen und muss was geändert werden." Der bayerische LIM Günther BECKSTEIN (CSU) rezitierte die obligatorischen Verbotspostulate der CSU: "Ich sage wir brauchen Herstellungsverbote. Denn die Technik hat sich ja so entwickelt, dass der einzelne Träger solcher Spiele nicht mehr viel kostet, so dass der Preis für Verleihen und für Kauf nicht mehr sehr unterschiedlich ist. Und ich sage, wenn etwas auf dem Markt ist, dann wird es von Jugendlichen erworben und auch schwarz kopiert und weiter vertrieben." Der Bericht resümierte: "Herstellungsverbote, das klingt gut. Bis jetzt schafft es die Politik aber noch nicht einmal bestehende Gesetze anzuwenden. Ein Armutszeugnis."1171 Am 26.04.2005 prolongierte FRONTAL21 das Kritikpodium und sendete einen zweiten Bericht desselben Autors und seines Koautors Thomas REICHART: "Gewalt ohne Grenzen: Brutale Spiele im Kinderzimmer."1172 Der Tenor des Berichts war prinzipiell derselbe, so dass Sprecher Rainer FROMM monierte: "Die meisten Brutalspiele sind nicht indiziert und dürfen frei verkauft werden." Die nur moralische Indignation des ersten Beitrags garnierte aber das alltagstheoretische Ressentiment, "Gewaltspiele" machten gewaltbereit und aggressiv. Dem Wirkungsmythos sekundierten (ad verecundiam) berüchtigte Koryphäen der deutschen Medienkritik; Helmut LUKESCH und Manfred SPITZER. Letzterer rezitierte bspw. sein im Januar desselben Jahres publiziertes Pamphlet SPITZER 2005b und behauptete: "Also da muss man sehr klar sagen, dass es diese Zusammenhänge gibt und dass die auch erforscht sind und was wir heute wissen, dass virtuelle Gewalt entweder passiv rezipiert übers Fernsehen oder noch schlimmer, aktiv eingeübt am Computerspiel, macht tatsächlich gewalttätig. Also ein friedfertiger Mensch der viele Videospiele spielt ist am Ende gewaltbereiter als ein eher gewaltbereiter Mensch der gar nicht spielt. Das ist nachgewiesen." Indiz der (medieninduzierten) Gewaltbereitschaft der Spieler waren den Autoren nur drei polemische(re) von insg. ein paar tausend kritischen EMails an die Redaktion infolge des ersten Berichts; Manfred SPITZER alarmierte: "Leider bahnen diese Spiele eben Gewaltbereitschaft, gewalttätige Gedanken, entsprechende Emotionen und Handlungen. Wenn wir das alles zusammen nehmen, dann wundert mich überhaupt nicht, dass sich Menschen die sich jetzt da angegriffen oder angesprochen fühlen, entsprechend heftig, 1171 1172 Vorsitzende der BPjM heute bspw. der (Zusammenarbeit mit der) USK (s.u.). Ein im Internet-Videoportal youtube.com am 15.11.2007 veröffentlichtes Video des Studenten DITTMAYER 2007, das die suggestiven Falsch- und Fehlinformationen des Berichts dekonstruierte und eine respektable Medienresonanz evozierte, provozierte am 30.11.2007 eine rabulistische Reaktion des Redaktionsleiters RICHTER 2007, der kurioserweise nicht nur die Fehler des Berichts selbst reproduzierte, sondern die Dekonstruktion indigniert auch noch als "gänzlich unbelegt, nicht stichhaltig oder irreführend" (S.5) kritisierte. Der Autor selbst behauptete aber bspw. im Rekurs auf DOOM 3 (ohne dass die fehlende Jugendfreigabe des Spiels thematisiert wurde), "dass zahlreiche extrem brutale Spiele auf dem Markt sind, deren Vorgängerversionen noch indiziert waren. Das steht im Widerspruch zum Jugendschutzgesetz." (S.3) Eine offensichtlich fehlsame Auslegung der (wesentlichen) Inhaltsgleichheit gem. § 14 Abs. 4 JuSchG; jugendmedienschutzrechtliches Falschund Fehlinformationen waren also ein grundlegender Ausgangspunkt der Kritik an der USK. Argumentationsresistent reagierte der Redaktionsleiter u.a. auch bzgl. der Kritik, dass der im Bericht den Kontext eines finalen Rettungsschuss im Rahmen des Spiels SILENT SCOPE 3 ignorierte und als "gezielten Mord" diabolisierte: "Im Zusammenhang mit dem Spiel [...] die Frage nach der Rechtfertigung von 'finalen Rettungsschüssen' bei Geiselnahmen zu diskutieren, ist abwegig. [...] Und auch [...] geht es keinesfalls allein um finale Rettungsschüsse bei Geiselnahmen. Alleiniger Spielinhalt ist wieder das reaktionsschnelle Erschießen menschlicher Gegenüber." (S.4) Dgl. auch der Rainer FROMM ggü. GEHLEN 2007. Bzgl. detaillierter Kritik an der Sendung, wie auch der Reaktion des Redaktionsleiters, s. z.B. WINKLER 2007, der resümierte: "Ein Kuriosum, dass wir heute hier sitzen und über einen Fernsehbericht debattieren, der bereits drei Jahre alt ist. Aber noch immer fehlt der zuständigen Redaktion die Einsicht, was damals schief gelaufen ist und womit sie die wütenden Reaktionen eigentlich provoziert hat. […] Was gerade die jetzige Stellungnahme beweist, die erschreckend viel Unkenntnis gepaart mit unerschütterlichem Glauben an die eigene Unfehlbarkeit offenbart." (S.3) Bzgl. einer Transkription s. SOMMERAUER 2009, S.109ff.. 214 mit heftiger Gewalt auch realer Gewalt reagieren." Weder die qualifizierte(re) Kritik, noch die eklatanten Defizite des ersten Beitrags wurden thematisiert, Spieler wurden vielmehr überlegenheits- und unfehlbarkeitsdünkelnd generell als Diskussionspartner disqualifiziert.1173 Zusammengefasst konnten die Berichte aber keine Defizite der Kennzeichnungspraxis der USK (resp. der OLJB) demonstrieren, sondern waren nur Podien für die private Meinungsäußerung, d.h. den pornographischen Blick, die Falsch- und Fehlinformationen und die Nichtkennzeichnungs-, Indizierungs- und Verbotsfantasien der Autoren.1174 Die Berichte initiierten aber trotzdem einen insb. im Rahmen öffentlich-rechtlicher Fernsehberichte in den folgenden Jahren prolongierten Kampagnenjournalismus gegen Computerspiele und die USK, wie auch eine entsprechende Debatte in den Printmedien, resp. den digitalen Pendants derselben, die z.T. unkritisch-affirmativ die Kritik an der USK rezitierten.1175 Rainer FROMM selbst resümierte: "Ich fand meine Filme nicht schlecht recherchiert."1176 18. Der Koalitionsvertrag vom 11.11.2005: "Verbot von 'Killerspielen'"? Im Rahmen der Medienkampagne wurden gewaltdarstellende Computerspiele abermals ein Politikum, so dass letztlich nach Punkt 6.3 ("Aufwachsen ohne Gewalt") des Koalitionsvertrags zwischen CDU, CSU und SPD vom 11.11.2005 u.a. die Eckpunkte "Wirksamkeit des Konstrukts 'Regulierte Selbstkontrolle'", "Altersgrenzen für die Freigabe von Filmen und 1173 1174 1175 1176 Dgl. HUBER 2008, der im Rahmen einer Analyse der diesbzgl. Beiträge im Forum des Politmagazins während der ersten sieben Tage nach der ersten (im Rahmen der Analyse laudierten) Sendung "players of killer games, religious extremists, or fundamentalists of any kind" (S.29) gleichermaßen als irrationale Dialogpartner diffamierte und konstatierte: "Experiences and world views acquired and/or reinforced in long-term practice with violent computer games are internalized and applied to interactions with the real world. […] the author of the irritating report is seen as a […] dangerous opponent, maybe even an enemy. Now how do you cope with opponents in violent games? You 'take care of them,' that is, you eliminate them – and that is exactly what many of the participants in the forum express explicitly or implicitly, when they wish the author of the report to be dismissed or at least to be prosecuted. Even worse in this process of internalizing the standards of killer games are the consequences for the democratic functions of a free media system." (S.44) Das die nicht thematisierten, aber evidenten Falschund Fehlinformationen der Sendung, die Diabolisierung der Spiele(r) und der provokante Tenor natürlich nicht nur sachlichnüchterne Reaktionen evozieren, ist nicht überraschend, aber dass das (im Rahmen der Meinungsäußerungen prinzipiell artikulierte) berechtigte Interesse an einer nach § 6 Abs. 1 ZDF-StV umfassenden, wahrheitsgetreuen und sachlichen Berichterstattung gar als Gefährdung des freien Mediensystems kritisiert wird, ist absurd. Werner H. HOPF will die Opposition gar generell als unmündige Disskusionspartner disqualifizieren: "Ein mündiger Bürger ist sich der Gefahren und Wirkungen von Mediengewalt bewusst und handelt gesellschaftlich verantungsvoll [sic], indem er die Verbreitung derartiger menschenverachtender und unethischer Medieninhalte verurteilt und verhindert, soweit er kann." (zitiert in: WEIß 2010b) Dgl. auch WEIß 2008b. Bereits SCHULZ 1989 konstatierte im Rahmen einer Kritik des generellen Objektivitätsmangels der Massenmedien, dass Agitatoren ein Podium für die Artikulation ihrer eigenen tendenziösen, ideologischen Weltsicht, ihrer Ressentiments und ihrer politischen Einstellung geboten wird (S.139); auch KUNCZIK 1994c monierte, dass Journalisten dazu neigen, "nur solche Befunde zu verbreiten, die den eigenen Vorurteilen entsprechen." (S.118) Kourioserweise monierte FROMM 2002 selbst u.a. im Lichte der polemischen, populistischen Jugendmedienschutzdebatte infolge des sog. Amoklaufs von Erfurt u.a. die "unreflektierte Berichterstattung im Zusammenhang mit Ego-Shootern" (S.83), ungeachtet der Detailfehler auch noch in der zweiten, erheblich korrigierten Auflage der Publikation, wie z.B. die Kategorisierung der Spiele AMERICAN MCGEES’S ALICE und HITMAN: CODENAME 47 als Egoshooter (S.62); der Autor realisierte aber selbst: "So sehen auch Eltern, Pädagogen und Jugendschützer beim Gaming oft etwas anderes als der Spieler selbst. Achtet der Beobachter meist auf die blutige Handlung, das heißt Grafik, befindet sich der Jugendliche häufig in einer Turniersituation." (S.18) Im Rahmen der beiden Berichte, die selbst Paradebeispiele unreflektierter Berichterstattung waren, missbrauchte der Autor nicht nur das Phänomen, sondern wurde gar selbst stilprägender Initiator und Spiritus Rector der Diffamation der USK, wie auch der Spiele(r). Im Rahmen des Münchener Kongresses "Computerspiele und Gewalt" am 20.11.2008 sprach der Autor nicht nur von psychologischem Faschismus, mentaler Lethargisierung und einer ubiquitären Kriegs- und Gewaltverherrlichung in und durch Computerspiele, sondern konstatierte ironischerweise auch: "Computerspiele sind heutzutage virtuelle Tarnkappenbomber, die eine junge Generation auch geistig militarisieren. Diese Spiele haben zum Teil einen Inhalt, der unserem Grundgesetz diametral gegenüber steht. Mit der berechtigten Kritik an Computerspielen macht man sich als Redaktion aber unglaubwürdig, wenn man in den Grundlagen sachliche Fehler macht." (zitiert in: GEHLEN 2007) Aber weder war die Kritik, vulgo waren die Diffamationen berechtigt, noch waren die Grundlagen der Berichte (sachlich) ohne Fehler. Im Rahmen eines Interviews suggerierte der Autor gar, die USK sei mehr oder weniger korrupt und formuliere nur Gefälligkeitsgutachten für die Industrie: "Ein entscheidender Punkt ist doch, dass die USK von ihrer Genese her eine Organisation ist, die gegründet wurde, weil man den Markt unkonventionell, also ohne staatlichen Eingriff regulieren wollte. Ihr Entstehung ist also eng an die Industrie gekopppelt. Dazu kommt, dass ich mir viele USK-Wertungen auch einfach nicht anders erklären kann. Wenn es keine Affinität zur Industrie ist, dann ist es eine gewisse Ferne von den Jugendschutzkriterien. […] Einzige […] Möglichkeit ist die erwähnte Affinität. Für mich gibt es da keinen anderen Erklärungsansatz." (zitiert in: PESCHKE 2006b, S.1) Unterschiede in der Beurteilung der Spiele durch die USK und Rainer FROMM sollen i.d.S. ein Beleg einer "Ferne von den Jugendschutzkriterien" sein; der Ausgangspunkt der Kritik an der USK ist letztlich nur der Glaube an die absolute Richtigkeit der eigenen Gesetzesauslegung und die eigene Unfehlbarkeit des Autors bei der Bewertung von Computerspielen. Bzgl. einer detaillierte Diskursanalyse der aktuellen Debatte s. SCHUMACHER 2010. Zitiert in: BALAZIK 2005. 215 Spielen/Alterskennzeichnung von Computerspielen" und ein "Verbot von 'Killerspielen'" vorranging erörtert werden sollten. Der Passus, der insb. auch das Resultat des Engagements diverser Spitzenpolitikerinnen der Frauen Union war,1177 definierte "Killerspiele" aber nicht: Unionspolitiker hatten seit 1999 insb. sportive Spiele wie z.B. Paintball und Lasertag als "Killerspiele" tituliert;1178 am 17.11.2005 konstatierte i.d.S. Maria EICHHORN (CSU), Landesvorsitzende der Frauen-Union der CSU: "Unter Killerspielen verstehen wir Spiele wie Gotcha, Paintball oder Laserdrome."1179 Gleichzeitig thematisierte aber einerseits Maria BÖHMER (CDU), Bundesvorsitzende der Frauen Union der CDU,1180 nur ein evtl. Verbot gewaltdarstellender Computerspiele,1181 andererseits differenzierte die bayerische Familienministerin Christa STEWENS (CSU) ohne weitere Ausführungen die besagten "Killerspiele" (ohne Anführungszeichen) in reale, wie auch in virtuelle, "die Gewalt geradezu abfeiern […]."1182 Dgl. am 09.12. 2005 auch Bundesfamilienministerin Ursula G. von der LEYEN (CDU).1183 Ungeachtet dessen interpretierten auch die Oppositionsparteien den Eckpunkt i.S.e. geplanten Verbots gewaltdarstellender Computerspiele, das sie kategorisch ablehnten.1184 Sollen "Killerspiele" aber ein Synonym spezifischer gewaltdarstellender Computerspiele sein, ist der Begriff nicht hinreichend bestimmt. Nach SACHER 2000 kursierten zwar bereits seit 1983 Pejorative wie "Killer- oder Kriegsspielautomaten"1185 als Synonym gewaltdarstellender Computerspiele,1186 den Begriff "Killerspiel" verwendeten aber erst die beiden Computerspiel1177 1178 1179 1180 1181 1182 1183 1184 1185 1186 Vgl. MÜHLBAUER 2007. Vgl. BR-Drs. 764/99, S.6; BT-Drs. 15/88, S.1 und GROTE/SINNOKROT 2006, S.5f.. Zitiert in: NEUBER 2005 und vgl. HARTMANN 2006, S.81. Gem. Thomas JARZOMBEK (CDU), Beauftragter für Neue Medien der CDU-Landtagsfraktion NRW, ist der Passus insg. und insb. der Eckpunkt u.U. nur ein Vehikel der politischen Ambitionen der Initiatoren: "[…] Und ich glaube das ist deshalb in den Koalitionsvertrag – auch wegen Frau Böhmer als Person – hereingekommen, denn das ist ein Zeitpunkt gewesen, wo zwar die Ministerstellen schon bestellt waren, aber noch nicht die […] parlamentarischen Staatssekretäre. Und das ist alles genau gelaufen in der Phase wo das Geschacher um diese Positionen war. Und um da irgendwie in den Fokus der Macher, der Kanzlerin und der Parteivorsitzenden zu kommen, […] muss halt irgendwie demonstrieren, dass man selbst vielleicht besser ist als andere. […] und mit so einer Aussage bundesweit durch die Medien zu laufen ist natürlich nicht verkehrt, das hilft einem in so einer Phase. Und das, glaube ich, ist auch der ausschlaggebende Grund dafür gewesen, warum das gerade dann gelaufen ist. Und in dem Moment, wo die Posten verteilt waren, Frau Böhmer auch Staatsministerin wurde, hat man ja auch nicht mehr viel davon gehört." (Zitiert in: PÖHLMANN 2006, S.74) I.d.S. auch BIRKE 2006; "mehrfach wurde bestätigt, dass sie maßgeblich die Absicht eines 'Killerspiel'-Verbots in den Koalitionsvertrag der Bundesregierung von 2005 brachte. Offensichtlich wollte sie sich damit für ihre politischen Ambitionen profilieren. Gleichzeitig ist Böhmer stellvertretende Vorsitzende im ZDF-Fernsehrat, der über die Programminhalte des Senders wacht. In dieser Situation liegt ein starker Interessenkonflikt vor: Einerseits können im Fernsehrat bestimmte Inhalte forciert werden, andererseits dadurch eigene politische Ambitionen gefördert werden. Und der Sender könnte so formal eine Lobbyistin in höchste politische Ämter pushen. Es ist deshalb sehr bemerkenswert, dass die intensive Hetze gegen Computerspiele hauptsächlich in ZDF-Sendungen ('Frontal 21', 'aspekte', 'Mona Lisa') läuft [...]." Natürlich dementierte die Politikerin solche Vorwürfe (vgl. BIRKE 2007), sie hatte aber z.B. bereits 1994 die Aktion "Rote Karte für TV" gegen u.a. Gewaltdarstellungen im Fernsehen und 2003 die Aktion "Rote Karte gegen Gewalt" initiiert: In der im Rahmen der zweiten Aktion publizierten Broschüre BÖHMER 2003 propagierte sie u.a. ein expl. "Killerspiel"-Verbot, inkl. eines Besitzverbots, behauptete, das Genre der Egoshooter sei per se gewaltverherrlichendend und Bildschirmmedien "Tatorte" (S.5), rezitierte alltagstheoretische Imitations- und Desensibilisierungshypothesen und rekurrierte auf die Pseudoexpertise extremster Medienkritiker, wie z.B. Helmut LUKESCH, Rudolf H. WEIß und Werner GLOGAUER. Bereits bzgl. der ersten Aktion resümierte HAUSMANNINGER 2000: "Deshalb sind auch die organisierten Boykottaktionen mehr als ärgerlich: Widerstand aller Art sollte es in einer demokratischen Gesellschaft nur bei Bedrohung ihrer grundsätzlichen Wertentscheidungen geben, nicht aber zum Zweck der Begrenzung ihrer Verwirklichung. Doppelt ärgerlich zudem, weil die Aktion von oben kommt und kein Komplement besitzt. Die berühmte 'Rote Karte' für das Fernsehen, deren Nutzung übrigens wenig Überlegung voraussetzt, weil die Gründe für die Beschwerde (Gewalt und/oder Sex) schon zum Ankreuzen vorgedruckt sind, wird von einer Ministerin bereitgestellt." Bereits 1965 hatte der Bundestagsabgeordnete Adolf SÜSTERHENN (CDU) die "Aktion Saubere Leinwand" initiiert (die bereits nur eine Kopie analoger Aktionen der 1950er war), gem. KIENZLE 1980 eine "manipulierte Volksbewegung" (S.26), die u.a. für eine rigidere Spruchpraxis der FSK plädierte; s. auch FERCHL 1980: "140 Bundestagsabgeordnete der CDU/CSU, angefeuert von Prof. Adolf Süsterhenn […], […] forderten einen Zusatz zu Art. 5 GG, der die Freiheit von Kunst, Wissenschaft, Forschung und Lehre an die 'Treue zur Verfassung' und die 'Wahrung der sittlichen Ordnung' binden sollte. Zwar wurde dieser Grundgesetzänderungsantrag zeitweise von der Hälfte der CDU/CSU-Fraktion unterstützt, hatte jedoch keinen Erfolg." (S.216) Vgl. DEGENHARDT 2005. Vgl. BStMAS, Pressemitteilung 635.05 v. 17.11.2005. Vgl. GRAFF 2005a. Am 24.01.2006 votierte z.B. die Bundestagsfraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN per Fraktionsbeschluss gegen Verbotsambitionen sog. "Killerspiele" betreffend und auch die FDP-Kommission für Internet und Medien plädierte im Namen der Partei am 23.03.2006 gegen solche Verbote (vgl. KREMPL 2006a). Selbst die nordrhein-westfälische CDU kritisierte den Eckpunkt, der z.B. gem. Familienminister Armin LASCHET (CDU) "reißerisch" (zitiert in: LUIBL 2006) sei. Thomas JARZOMBEK (CDU), Beauftragter für Neue Medien der CDU-Landtagsfraktion NRW, propagierte i.d.S. zynisch ein "Elternverbot statt Computerspieleverbot" (zitiert in: WILKENS 2005). KOLFHAUS 1988b, S.168. Vgl. SACHER 2000, S.175. 216 journalisten FORSTER/WEITZ 1991. Die erste Verwendung des Begriffes im politischen Tagesgeschäft als Synonym gewaltdarstellender Spiele wurde bereits im Rahmen der Bundestagsdebatte "Gewalt und Gesellschaft – Ursachen erkennen, Werte vermitteln, friedliches Zusammenleben stärken" vom 03.07.2002 dokumentiert, als Angela MERKEL (CDU), Parteivorsitzende der CDU, proklamierte: "Es ist Zeit gegen Gewalt und insbesondere gegen Darstellung von Gewalt in den Medien konsequenter vorzugehen. In diesem Punkt können wir alle noch mehr tun. Wir können erstens schwer jugendgefährdendes Material schlicht und ergreifend verbieten. Nur so können wir verhindern, dass brutalste Videos und Computerspiele von älteren Freunden gekauft oder ausgeliehen und dann an die Jüngeren weitergegeben werden. Es ist richtig, den Zugang zu gewaltverherrlichenden Videos und Computerspielen zu erschweren; denn Killerspiele sind keine Spiele."1187 Ungeachtet dessen existiert aber z.B. kein Genre der "Killerspiele". HÖLTGEN 2006 argumentiert i.d.S., dass der englisch-deutsche Neologismus insb. einen Diskurs transportiert: "Wer heute das Wort 'Killerspiele' benutzt, der tut dies nicht innerhalb einer zur Neutralität verpflichteten Unterhaltung […]. […] Vielmehr wird das Wort genau dann benutzt, wenn man möchte, dass sich beim Zuhörer oder Leser bestimmte Evokationen einstellen. Wenn jemand 'Killerspiele' sagt, schwingen sofort Diskurse über 'Gewalt und Medien' und nicht zuletzt eben auch über 'Amoklauf und Schule' mit. Aufgrund der Tatsache, dass 'Killerspiele' immer dann auftauchen, wenn etwas Schreckliches passiert ist, was angeblich mit ihnen zu tun haben soll, kann man das Wort gar nicht benutzen, ohne das mit ihm in Verbindung gebrachte schreckliche Geschehen mitzumeinen."1188 I.d.S. warnen auch HEITMEYER/HAGAN 2002: Ein mit pejorativ besetzten Begriffen und Formulierungen vorgehender Diskurs, der den […] Gegenstand immer schon be- bzw. entwertet und quasi mit gerümpfter Nase und angewidert mit den Fingerspitzen hin und herwendet, ist in der "Skandalisierungsfalle". Zudem befindet er sich immer schon in der "Moralisierungsfalle", bei der es nicht um Analyse geht, sondern darum, unter Bezug auf axiomatisch angesetzte Vorstellungen von "Gut" und "Böse", Betroffenheit zu erzeugen. Die Frage an den Leser, Zuhörer lautet immer: gehörst Du auch zu diesem Schund? Bist Du nicht auch Teil der anständigen Bevölkerung? Dass die hierbei vorgetragenen Argumente und Beweise auch in der "Reduktionsfalle" sind, bei der einfachste Erklärungen für komplexe Phänomene vorgenommen werden, liegt auf der Hand. […] Brisant wird es […], wenn mit Meinungen, die sich als Wissen(schaft) ausgeben und solchermaßen interpretiert werden, Politik betrieben wird. Indem einfachste Erklärungen und Reduktionen vorgenommen werden, Moralisierung betrieben und Betroffenheit erzeugt werden soll, wird in Absehung von komplexen sozialen und politischen Ursachenzusammenhängen "eine moralische Selbstentlastung wie politische Erleichterung von Herrschenden betrieben (...), die repressiven administrativen Maßnahmen Vorschub" leisten. Gerade da solche Erklärungsansätze einfach und eingängig sind, finden sie weite Verbreitung und finden solche politischen Forderungen, die die entsprechend administrativen Maßnahmen fordern, ihre Mehrheit.1189 Ein (insg. skandalisierende Darstellungen der gewaltdarstellenden Spiele akzentuierendes) Pejorativum wie "Killerspiel" hat i.d.S. auch die konkrete politische Funktion, den Diskurs gleichermaßen zu emotionalisieren und zu hermetisieren, so dass nur noch die opportunen Meinungen der Verbotsproponenten öffentlich artikuliert werden und das (niedrige) Prestige gewaltdarstellender Spiele noch mehr reduziert wird. Je niedriger aber gem. BUCHLOH 2002 das Prestige eines Mediums ist, "das Gegenstand von Zensurmaßnahmen wird, desto weniger werden gesellschaftliche Gruppen und andere Medien bereit sein, sich für die Freiheit des zensierten Medium einzusetzen."1190 Diesbzgl. interessant sind auch die Resultate der Studie IVORY/KALYANARAMAN 2009: "We found that consideration of a specific violent video game, as opposed to violent video games in general, leads to lower perceived media effects on others and diminished support for censorship. […] our findings indicate that considering a specific violent video game can reduce perceptions of negative media effects and support for censorship compared to considering violent video games in general."1191 D.h. dass den Verbotsproponenten eine Skandalisierung nicht näher spezifizierter "Killerspiele" tatsächlich (intuitiv) 1187 1188 1189 1190 1191 Zitiert in: BT-PlPr 14/247, S.24983. Dgl. SLOTOSCH 2006. Vgl. HEITMEYER/HAGAN 2002, S.21. BUCHLOH 2002, S.131. IVORY/KALYANARAMAN 2009, S.9. 217 sachdienlicher sein könnte, als die konkreter gewaltdarstellender Spieletitel. Letztlich müssen die Medienkritiker sich auch nicht die Blöße geben, über Spiele zu referieren, die sie gar nicht oder nur vom Hörensagen kennen. I.d.S. ist der Begriff "Killerspiel" (insb. ohne Anführungszeichen) aber auch ein Indiz für eine fehlende Expertise. Dgl. gilt für analoge Pejorative. Ungeachtet dessen konstatierte die Bundesregierung letztlich am 07.08.2006, dass ihr eine rechtliche Definition des Begriffs nicht bekannt ist,1192 so dass der Eckpunkt nur eine Leerformel war. Ungeachtet dessen propagierten die LIM am 03.03.2006 im Rahmen der Tagung der Unionsinnenminister im sachsen-anhaltischen Wanzleben im Rekurs auf den Koalitionsvertrag ein "Killerspiel"-Verbot und kritisierten gem. Pressemitteilung, "dass die im JugendmedienschutzStaatsvertrag [sic] vereinbarte Prüfung der Spiele durch die 'Unterhaltungssoftware Selbstkontrolle' nur sehr mangelhaft funktioniert und nicht mit dem Jugendschutzrecht in Einklang stehe."1193 Die Minister verwechselten also offenbar bereits das JuSchG mit dem JMStV. Der hessische LIM Volker BOUFFIER (CDU) resümierte: "Wir beobachten die zunehmende Gewaltbereitschaft gerade von Kindern und Jugendlichen mit großer Sorge. Deshalb muss konsequent gegen Spiele, die Gewalt in jeder Form verherrlichen, vorgegangen werden. Dazu sollte das Jugendschutzgesetz insofern geändert werden, dass eine niedrigere Eingriffsschwelle, durch das Streichen des Wortes 'offensichtlich' jugendgefährdend, erreicht wird."1194 Aber die LIM konnten weder eine nur sehr mangelhaft funktionierende und nicht mit dem Jugendschutzrecht in Einklang stehende Spruchpraxis der USK, noch eine medieninduziert(!) zunehmende Gewaltbereitschaft insb. von Kindern und Jugendlichen demonstrieren. Auch ignorierte der hessische LIM nicht nur, dass u.a. gewaltverherrlichende Medien bereits seit ca. 33 Jahren nach § 131 StGB verboten waren, sondern dass infolge des Streichens des Adjektivs "offensichtlich" z.B. im Rahmen des § 15 Abs. 5 JuSchG, gem. dem offensichtlich schwer jugendgefährdende Medien den Rechtsfolgen der Indizierung unterliegen, ohne dass es einer Aufnahme in die Liste und einer Bekanntmachung bedarf, die Norm so unbestimmt wäre, daß sie keine verläßliche Beurteilung des Einzelfalls mehr erlauben würde und deswegen Vertrieb und Handel im Interesse der Strafvermeidung zwänge, mehr Publikationen als erforderlich zurückzuhalten. Nach höchstrichterlicher Rechtsprechung ist das Merkmal der Offensichtlichkeit aber notwendig für die Bestimmtheit der Norm! Die Tagung initiierte ungeachtet dessen eine Verbotsdebatte, die insb. diverse Unionspolitiker prolongierten. Die FDP-Bundestagsfraktion stellte aber am 20.07.2006 eine diesbzgl. Kleine Anfrage ("Jugendmedienschutz und das Verbot von Computerspielen"), die u.a. interessierte, wie die Bundesregierung die USK beurteilte und ob die Regierung der Auffassung war, "dass das deutsche Strafrecht im Hinblick auf Unterhaltungssoftware verschärft werden muss?"1195 Die Antwort der Regierung vom 07.08.2006 attestierte der USK einerseits eine "hohe Qualität bei der Altersfreigabe von Computerspielen"1196 und konstatierte andererseits, dass derzeit insg. kein gesetzgeberischer Handlungsbedarf im StGB im Hinblick auf Unterhaltungssoftware gesehen wurde.1197 19. Das "Forschungsprojekt zu gewaltverherrlichenden Computerspielen" Das Niedersächsische Ministerium für Inneres und Sport verkündete aber am 18.09.2006 ein "Forschungsprojekt zu gewaltverherrlichenden Computerspielen" des KFN im Auftrag des Ministeriums (das selbst im Auftrag der Konferenz der Unionsinnenminister handelte), das den "Jugendschutz bei Killerspielen" untersuchen sollte. Ungeachtet der irreführenden Überschrift präzisierte die Pressemitteilung: "In einem ersten Schritt werden […] die Inhalte von rund 90 Computerspielen ermittelt, die unterschiedliche Alterseinstufungen erhalten haben. Danach 1192 1193 1194 1195 1196 1197 Vgl. BT-Drs. 16/2361, S.4 und BT-Drs. 16/4818, S.148. Vgl. Ministerium für Inneres und Sport des Landes Sachsen-Anhalt, Pressemitteilung Nr. 049/06 v. 03.03.2006. Zitiert in: Ministerium für Inneres und Sport des Landes Sachsen-Anhalt, Pressemitteilung Nr. 049/06 v. 03.03.2006. Vgl. BT-Drs. 16/2287, S.2. BT-Drs. 16/2361, S.2. BT-Drs. 16/2361. 218 werden die entsprechenden Gutachten der USK überprüft, in wie weit die Einstufungen nachvollziehbar sind oder es nach den Regeln des Jugendmedienschutzes zu anderen Bewertungen hätte kommen müssen. Auf der Basis der gewonnenen Erkenntnisse sollen anschließend in einer Arbeitsgruppe unter Einbindung des Jugend- und Kultusministeriums Konsequenzen ermittelt und ein Konzept mit dem Ziel einer gemeinsamen Initiative von Bund und Ländern erarbeitet werden. Schünemann und Pfeiffer waren sich darin einig, dass der Jugendschutz bei Gewalt verherrlichenden Computerspielen deutlich verbessert werden muss."1198 Der Endbericht sollte am 31.05.2007 der Jugendministerkonferenz präsentiert werden.1199 Der niedersächsische LIM Uwe SCHÜNEMANN (CDU) war seit der Innenministerkonferenz (IMK) im März desselben Jahres der insg. aktivste politische Proponent eines "Killerspiel"Verbots geworden,1200 der im Lichte (staatsautoritärer) Ressentiments ggü. der Computerspielindustrie u.a. auch eine Verstaatlichung der USK, resp. der Alterskennzeichnung von Computerspielen propagierte und insistierte: "Gewaltverherrlichende Spiele, bei denen es ums Töten geht, 1198 1199 1200 Niedersächsisches Ministerium für Inneres und Sport, Pressemitteilung v. 18.09.2006. Vgl. SEEL 2006. Konnte Uwe SCHÜNEMANN (CDU) noch im Juni 2006 auch auf Nachfrage kein konkretes "Killerspiel" nennen, dass eine neue Verbotsnorm erfassen könnte (vgl. STÖCKER 2006d), definierte der LIM am 01.12.2006 i.S.d. soufflierenden KFN "Killerspiele" wie folgt: "Das sind Gewalt verherrlichende Computerspiele, in denen menschenverachtende Szenen gezeigt werden. Das Töten von Menschen ist Sinn und Inhalt dieser Spiele. Ich meine Computerspiele, in denen zum Beispiel Passantinnen hinterrücks mit einem Messer die Kehle durchgeschnitten wird, in denen Gliedmaßen mit einer Kettensäge abgetrennt werden, in denen Blut spritzt oder man Blutlachen sieht. Als Beispiele möchte ich die Spiele GTA San Andreas und Der Pate anführen." (zitiert in: SCHMIDT 2006, S.175) Ungeachtet dessen, dass eine Strafbarkeit der skizzierten Bluteffekte absurd wäre und keines der Bsp. ohne Kontext der skizzierten Gewaltdarstellungen eine (pauschal Gewaltdarstellungen per se attestierte) Gewaltverherrlichung o.ä. indizieren kann, ist nicht überraschend, dass die beiden Spiele die Paradebeispiele seines Souffleurs Christian PFEIFFER für eine Dysfunktionalität des Jugendmedienschutzes waren: Das ignoriert aber, dass beide Spiele in Punkto Gewaltdarstellung relativ unspektakulär sind und dass z.B. GRAND THEFT AUTO: SAN ANDREAS nur zensiert in Deutschland publiziert wurde; die unzensierte Version indizierte die BPjM im Januar 2009. Der LIM fantasierte am 08.12.2006 in der 108. Sitzung des niedersächsichen Landtags im Rekurs auf einen Vorabbericht des KFN-Forschungsberichts Nr. 101 (s.u.): "Die USK hat in ihrem Gutachten dargestellt, dass ihr von dem Spiel nur eine englischsprachige Betaversion vorgeführt worden ist und das Handbuch überhaupt nicht vorgelegen hat. In diesem Handbuch aber wird genau dargestellt, wie man dieses Spiel umsetzen sollte. Danach soll man zunächst einmal mit einer Kettensäge die Arme absägen, es soll gequält werden, und erst in letzter Instanz soll man dann den Tötungsvorgang vornehmen. Das gibt die meisten Punkte. Dies steht in dem Handbuch, das der USK noch nicht einmal vorgelegen hat. Dieses Spiel ist dann ab einem Alter von 16 Jahren freigegeben worden. Ich muss mich fragen, ob diese Klassifizierung richtig ist." (Niedersächsischer Landtag, Stenografischer Bericht der 108. Sitzung v. 08.12.2006, S.24) Einerseits konstatiert das der Endbericht des KFN aber gar nicht (mehr), andererseits wird auch im Handbuch des Spiels nichts dgl. dargestellt; letztlich kann man nämlich z.B. die Arme (o.a. Gliedmaßen) im Rahmen des Spiels gar nicht absägen o.ä.. Am selben Tag konstatierte der LIM (der selbst nicht spielt): "Bei den 'Killerspielen' geht es darum, dass die Spieler selbst zum Töten animiert werden. Sie müssen auf einen Knopf drücken. Dadurch wird etwa ein Arm mit einer Kettensäge abgetrennt. Diese Handlung wird zudem positiv bewertet, wenn man sein Opfer zuvor quält. Fürs Arm-Abtrennen gibt es 100 Punkte, fürs Kopf-Abtrennen 1000 Punkte." (zitiert in: GÜßGEN 2006) Einerseits demonstriert die semantische Nichtdifferenzierung zwischen Realität und Fiktion gem. HÖLTGEN 2006 den pornographischen Blick des LIM: "Werden die Spieler zum Töten in der virtuellen oder in der 'realen' Realität animiert? […] Die konsequente Vermischung bzw. Verwechslung von Realität und Virtualität, sonst selbst als pathologisch eingestuft, wird vom Redner hier rhetorisch vollzogen, um einen nach seiner Meinung im Spielen verborgenen krankhaften Zug zu offenbaren." Eine Argumentationspraxis, die nicht nur im Rahmen unzähliger Indizierungsentscheidungen, sondern auch bei diversen Medienkritiker, wie auch dem Gros der Verbotsproponenten populär war; so definierte bspw. Edmund STOIBER (CSU) "Killerspiele" als Spiele, "in denen Mord und Totschlag propagiert und dazu angeleitet wird." (zitiert in: WEILAND 2006) Andererseits proklamierte Klaus ENGEMANN, Pressesprecher des niedersächsischen Ministerium für Inneres und Sport, auch noch im April 2007, dass der LIM das Spiel GRAND THEFT AUTO: SAN ANDREAS referiert habe: "Kettensägen, brutalste Tötungsszenen – aber freigegeben ab 16." (zitiert in: LISCHKA 2007) Superlative Gewaltdarstellungen präsentiert das Spiel aber gar nicht; i.d.S. korrigierte Jochen FÄRBER, Pressesprecher der Take 2 Interactive GmbH: "Es gibt in dem Spiel eine Kettensäge und wenn man mit ihr Menschen berührt, fallen sie um. Brutalste Tötungsszenen sind nicht möglich, man kann keine Gliedmaßen absägen oder so etwas." (zitiert in: LISCHKA 2007) Das einzige spielmechanisch analoge Spiel, das zumindest das (i.w.S. punktbewehrte) Abtrennen der Gliedmaßen per Kettensäge ermöglicht (aber ohne dass das Handbuch das seitens des LIM skizzierte darstellt), ist die nicht gekennzeichnete (und infolge dessen nie in der BRD veröffentlichte), unzensierte und seit Mai 2007 indizierte, resp. seit November 2007 gem. § 131 StGB beschlagnahmte (und inhaltsgleiche) Version(en) des Spiels SCARFACE – THE WORLD IS YOURS. Das Bsp. führt u.a. den Vorwurf, dass § 131 StGB bzgl. (vermeintlich) gewaltverherrlichenden Spielen nicht anwendbar sei, ad absurdum. Der LIM fantasierte aber selbst noch am 27.03.2009 im Rahmen der politischen ZDF-Talkshow MAYBRIT ILLNER (infolge des sog. Amoklaufs von Winnenden): "Es ist so, dass es tatsächlich zunächst einmal eine Version gibt, wo es noch nicht so weit geht, dass man mit Kettensägen zunächst einmal Arme usw. dann abtrennt und man kriegt mehr Punkte, wenn man dann erst zum Schluss diese Tötung vornimmt. Aber man kann über das Internet einen Patch drauf bringen, wo wir dann anschließend genau diese Brutalität haben." Als Beleg präsentierte der LIM der Kamera eine CD; nur das Trägermedium, nicht den Inhalt! Kilian RICKEN, Manager des E-Sport-Clans N!FACULTY, dem der LIM die CD anvertraute, proklamierte im Rahmen des Chats nach der Sendung, dass sie nur Ausschnitte der spiele GRAND THEFT AUTO: SAN ANDREAS und DER PATE demonstriere (höchstwahrscheinlich eine Präsentation des KFN); ungeachtet dessen, dass nur für die zensierte Version des ersten Spiels ein sog. (inoffizieller) Bloodpatch existiert, der auch nur die Zensuren revidiert, kann das auch kein Agrument gegen die Spiele selbst sein. Der LIM hatte (und hat) offensichtlich keine Fachkompetenz bei Computerspielen, wie auch beim Thema des Jugendmedienschutzrechts. 219 haben nichts in den Händen von Kindern und Jugendlichen zu suchen."1201 Tatsächlich war die Alterskennzeichnung von Spielen aber einerseits bereits seit Inkrafttreten des JuSchG die Aufgabe der OLJB, andererseits waren auch gewaltverherrlichende Spiele seit Jahrzehnten verboten (s.o.). Die Mangelexpertise ist aber nicht überraschend, denn bereits im Juni hatte der LIM kommentiert, FRONTAL21 hätte ihn zu seinem Engagement inspiriert.1202 Christian PFEIFFER, Direktor des KFN, der spätestens bereits seit 1999 mediale Gewaltdarstellungen monierte,1203 war im Laufe des Jahres der berüchtigste Kritiker gewaltdarstellender Computerspiele geworden und kolportierte bereits am 19.09.2006, dass die Tester der USK die Jugendschutzsachverständigen der Organisation systematisch manipulierten und indignierte: "Ich kann nicht begreifen, dass solche Spiele auf dem Markt sind."1204 Beides suggerierte i.V.m. bspw. dem letzten Satz des zitierten Exzerpts der insg. dekuvrierenden Pressemitteilung, dass die Resultate des Projekts u.U. bereits im Vorfeld feststanden, wie auch u.a. auch einen Monat später demonstriert wurde (s.u.). I.d.S. monierte die USK am 22.09.2006: "Wir sehen in den Äußerungen [...] mehr als nur eine Herabwürdigung dieses zu großen Teilen ehrenamtlichen Engagements. Die Wirkung solcher auf öffentliche Aufmerksamkeit statt Sachlichkeit zielenden Politik geht aber noch weiter: Sie bewirkt die Schwächung dessen, wofür sie vorgibt einzutreten: den Jugendschutz. Denn wieso sollten Handel, Eltern und Pädagogen einem System vertrauen und es unterstützen, das in der Öffentlichkeit als ungenügend gebrandmarkt wird? Wir hoffen, noch immer, dass die Diskussion wieder auf eine sachliche Grundlage zurück findet und sich auf die klaren rechtlichen Regelungen bezieht, anstatt vermeintliche Erkenntnisse aus Forschungsvorhaben zu ziehen, die noch nicht einmal richtig begonnen wurden."1205 Ungeachtet dessen war das Projekt insg. auch a priori redundant: Einerseits hatten der Bund und die Länder bereits am 08.03.2002 eine Evaluierung der Neuregelung und Neustrukturierung des Jugenschutzes innerhalb eines Zeitraums von fünf Jahren nach Inkrafttreten des JuSchG beschlossen.1206 Andererseits diktierte auch der Koalitionsvertrag die schnellstmögliche Evaluierung des JuSchG noch vor März 2008; i.d.S. hatten Bund und Länder im Rahmen der Jugend- und Familienministerkonferenz der Länder bereits am 18./19.05.2006 den Beginn der offiziellen Evaluation noch im selben Jahr beschlossen, der Endbericht sollte spätestens Ende 2007 präsentiert werden. Beauftragt wurde infolge dessen das HBI, das die Evaluierung im Oktober 2006 startete und den Endbericht ein Jahr später präsentieren sollte.1207 Das Forschungsprojekt flankierte am 20.10.2006 ein neuer Bericht des Autors Rainer FROMM im Rahmen des ZDF-Kulturmagazins ASPEKTE: "Wie Kinder Spaß am Morden finden."1208 Der Titel des Berichts demonstrierte abermals das typische Niveau der Sendebeiträge des Autors: Bereits die Moderatorin Luzia BRAUN kolportierte, dass "jeder" Computerspiele ungeachtet der (erst gar nicht thematisierten) Rechtsverbindlichkeit der Alterskennzeichen "überall" kaufen könne. Der Autor selbst warf der USK (und insb. dem Beirat derselben) eine jugendmedienschutzrechtliche Orientierungslosigkeit, resp. eine generelle Inkompetenz vor, kritisierte, dass die Alterskennzeichen nur "Gütesiegel" seien und propagierte eine restriktivere Spruchpraxis der USK, wie auch die Steigerung einer Indizierungsquote. Der Bericht nahm i.d.S. bereits ein 1201 1202 1203 1204 1205 1206 1207 1208 Zitiert in: ZIEGLER 2006. Vgl. STÖCKER 2006d: Der LIM übernahm u.a. die quantitative Argumentation des ZDF-Politmagazins v. November 2004, dass die USK insg. 3.500 Spiele geprüft habe und nur 23 Spiele nicht gekennzeichnet worden seien; Zahlen, die bereits über 1 ½ Jahre vorher falsch waren, auch stagnierte die Prüfpraxis der USK seitdem nicht! De facto hatte die Organisation seit 1994 ca. 15.444 Spiele geprüft, zwischen 2003 und (einschl.) 2005 insg. 6.644 Spiele. Die USK kennzeichnete seit 2003 insg. 91 Spiele nicht; nur 2005 z.B. bereits 40 Spiele. LANGER 2006 kommentierte: "Wer sich nicht auskennt, der argumentiert wie Uwe Schünemann, dass von der USK einfach nicht genügend Spiele aus dem Verkehr gezogen würden. Das hat die bestechende Logik einer sozialistischen Polizeistaat-Planwirtschaft: die Festnahmen-Quote muss erfüllt werden, auch wenn es nicht genug Verbrecher gibt." Vgl. EISERMANN 2001, S.39f.. Zitiert in: Klaß 2006. USK, Pressemitteilung v. 22.09.2006. Vgl. BT-Drs. 14/9013, S.34. USK, Pressemitteilung v. 22.09.2006. Bzgl. einer Transkription s. SOMMERAUER 2009, S.107f.. 220 Gros der Resultate des KFN-Forschungsberichts Nr. 101 vorweg (s.u.). Abermals sekundierten drei LIM der Kritik an der USK: Der sachsen-anhaltinische LIM Holger HÖVELMANN (SPD) behauptete, die USK diene nicht dem Jugendschutz, sondern primär den monetären Interessen der Industrie. Der Kommentar des sächsischen LIM Albrecht BUTTOLO (CDU) ist nicht nur für die Mangelexpertise der Verbotsproponenten, sondern auch für das Argumentationsniveau und die fragwürdige Logik der Kritik an der USK exemplarisch: "Für mich sind einige Spiele völlig unakzeptabel, ob nun ab 16 oder ab 18. Eine unabhängige Stelle müsste dies natürlich dann auch so sehen und das Töten von Menschen unabhängig von der Altersgrenze als nicht marktfähig wegnehmen." Nicht überraschend forderte letztlich auch Niedersachsens LIM Uwe SCHÜNEMANN (CDU) Herstellungs- und Verbreitungsverbote und für das Altersfeigabeverfahren bei Computerspielen: "Das gehört auf jeden Fall in staatliche Hände, das muss von den Jugendministern in Zukunft anders organisiert werden, die USK kann das in Zukunft sicherlich nicht machen." Christian PFEIFFER präsentierte letztlich einen Monat nach Beginn die ersten Resultate des (noch acht Monate laufenden) Forschungsprojekts: "Bereits das Spielen der ersten zwanzig Spiele [...] weckt bei uns massive Zweifel daran, dass das System funktioniert. Bei einigen Spielen würden wir sagen 'überhaupt nicht für den Markt geeignet', bei anderen eine höhere Alterseinstufungen empfehlen. Also müssen wir in den Dialog treten, mit der USK, um zu prüfen, woran liegt’s, dass das so, aus unserer Sicht, falsch läuft?" Der Dialog kam aber nie zustande. 20. Der sog. Amoklauf von Emsdetten vom 20. November 2006 Inmitten dieser Situation radikalisierte der sog. Amoklauf von Emsdetten vom 20.11.2006 die Kritik an gewaltdarstellenden Computerspielen: Hardliner wie Jörg SCHÖNBOHM (CDU), Günther BECKSTEIN (CSU), Uwe SCHÜNEMANN (CDU) und Edmund STOIBER (CSU) kritisierten bereits am Tattag reflexhaftig die USK und propagierten "Killerspiel"-Verbote; Dieter WIEFELSPÜTZ (SPD), der innenpolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, kritisierte z.B. "blitzschnelle Erklärungsmuster" und konstatierte gleichzeitig: "Ich bin sehr dafür, ein Verbot von Killerspielen in Betracht zu ziehen."1209 Auch Wolfgang BOSBACH (CDU), stellvertretender Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, argumentierte am 21. 11.2006: "Sollte sich tatsächlich herausstellen, dass der […] Täter sich über einen längeren Zeitraum und intensiv mit so genannten Killerspielen beschäftigt hat, müsste der Gesetzgeber nun endlich handeln."1210 Einerseits ist die Meinungsäußerung im Lichte der Problematik, dass der Begriff "Killerspiel" ein Blankettbegriff ist i.V.m. der Universalität des Phänomens Computerspiele(n) eine Farce, andererseits propagierte der stellvertretende Vorsitzende noch am selben Tag in der PHOENIX-Sendung DER TAG ein "Killerspiel"-Verbot und negierte entsprechende verfassungsrechtliche Bedenken. Sowohl Edmund STOIBER (CSU),1211 als auch Uwe SCHÜNEMANN (CDU) kündigten zeitgleich Bundesratsinitiativen für ein "Killerspiel"-Verbot an.1212 Am 23.11. proklamierte selbst Ulrich WILHELM (CDU), Sprecher der Bundesregierung und Chef des Bundespresseamts, ungeachtet der Positionierung der Regierung von vor ca. drei Monaten: "Die Regierung will hart durchgreifen."1213 Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) warnte aber vor einer parteipolitischen Instrumentalisierung der Tat.1214 Die Massenmedien sekundierten aber bereits der Kritik an der USK, wie auch an gewaltdarstellenden Computerspielen.1215 1209 1210 1211 1212 1213 1214 1215 Zitiert in: NEUERER 2006. Zitiert in: NEUERER 2006. Vgl. FISCHER 2006a und STÖCKER 2006c. Vgl. KURI 2006. Zitiert in: LUTZ 2006. Vgl. LUTZ 2006. Vgl. LANGER 2006, S.14 und STÖCKER 2006e. Den Zenit der falsch- und fehlinformativen Diffamationen markierte drei Tage nach der Tat ein Bericht des ZDF-Politmagazins KONTRASTE der Autoren Steffen MAYER und Ursel SIEBER: "Killerspiele als Gebrauchsanweisung zum Morden." Der Bericht präsentierte die obligatorischen Skandalisierungen der Spielinhalte, suggerierte, die USK sei korrupt (formuliere bspw. nur Gefälligkeitsgutachten für die Industrie) und kolprotierte, die Kriminalitätsstatistik demonstriere die Steigerung einer (medieninduzierten) Gewaltkriminalität insb. der Kinder und Jugendlichen: "Für Wissenschaftler messbar werden im Gehirn gewalttätige Verhaltensmuster festgeschrieben. […] Gewalttätigkeit 221 Die Verbotsproponenten konnten eine am 30.11.2006 veröffentlichte Ausarbeitung der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages bzgl. des Themas "Rechtmäßigkeit einer bundesgesetzlichen Verbotsregelung für die Einfuhr, den Verkauf und die Vermietung von gewaltverherrlichenden Computerspielen ('Killerspiele')" referieren, die bereits am 15.08.2006 publikationsreif war, aber (u.U. im Lichte der Antwort der Bundesregierung vom 07.08.2006; s.o.) nicht publiziert wurde. Die Autoren GROTE/SINNOKROT 2006 resümierten, dass der Gesetzgeber generell nicht gehindert sei, "ein Einfuhr-, Verkaufs-, Vermiet und Verleihverbot für 'Killerspiele' zu erlassen. Eine solche Regelung würde nicht per se gegen das Grundgesetz verstoßen. Jedoch ist im Hinblick auf die Berufsfreiheit der Hersteller und Händler dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit besondere Beachtung zu schenken. Darüber hinaus bedarf eine solche Regelung zur Wahrung der Bestimmtheit einer genauen Definition dessen, was als 'Killerspiel' unter den Tatbestand fallen soll."1216 Nach Auffassung der Autoren seien "Killerspiele" solche Computerspiele, "in denen das realitätsnah simulierte Töten von Menschen in der fiktiven Spielwelt wesentlicher Bestandteil der Spielhandlung ist und der Erfolg des Spielers im Wesentlichen davon abhängt. Dabei sind insbesondere die graphische Darstellung der Tötungshandlungen und die spielimmanenten Tötungsmotive zu berücksichtigen."1217 Der Titel der Ausarbeitung demonstriert aber ihre Redundanz, denn gewaltverherrlichende Spiele waren ja bereits nach § 131 StGB verboten. Auch sollte der Jugendmedienschutz, ungeachtet z.B. der diesbzgl. konträren (und nicht thematisierten) höchstrichterlichen Rechtsprechung, umfassende Verbotsnormen legitimieren können. Die Autoren formulierten bzgl. des elterlichen Erziehungsrechts i.d.S. eine (verfassungswidrige) Verletzung des Subsidiaritätsprinzips, die sie gar als Realisierung desselben darstellten: Der Staat müsse dort eingreifen, "wo Eltern aus welchen Gründen auch immer versagen oder nicht in der Lage sind, den ausreichenden Schutz der Kinder zu gewährleisten. Angesichts des zunehmenden Einflusses und der immer leichteren Verfügbarkeit von medialen Informationen und Inhalten scheint eine Stärkung der Schutzaufgabe des Staates erforderlich. Ein staatlicher Eingriff in das Elternrecht, der bestimmte mediale Inhalte verbietet und damit ein Stück der medialen Erziehungskompetenz der Eltern beschneidet, dürfte daher nach Abwägung mit dem staatlichen Schutzauftrag im Bereich des Jugendschutzes im Ergebnis als zulässig zu bewerten sein."1218 Auch thematisiert die Ausarbeitung weder einen evtl. Verstoß gegen das Zensurverbot, noch gegen die Wesensgehaltsgarantie ggü. den Kommunikationsfreiheiten oder evtl. Verstöße gegen die Berufsfreiheit.1219 Die Rechtmäßigkeit einer bundesgesetzlichen Verbotsregelung konnte sie insg. nicht demonstrieren, insb. auch nicht im Lichte des etablierten Jugendmedienschutzes, der bereits einen ausreichenden Schutz der Jugend gewährleisten soll. Ungeachtet dessen rezitierte auch der parlamentarische Staatssekretär Hermann KUES (CDU) im Auftrag des BMFSFJ infolge einer entsprechenden Anfrage der Bundestagsfraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN am 1216 1217 1218 1219 wird tief verinnerlicht und verfestigt." Die Agitation kulminierte gar in der alarmistischen Warnung: "Gewalttätige [sic] Computerspiele sind eine wichtige Ursache für Amokläufe." I.d.S. propagierte der Bericht die Notwendigkeit eines "Killerspiel"-Verbots; die Autoren demonstrierten aber nur Gewaltdarstellungen aus ohne Jugendfreigabe gekennzeichneten oder (im Fall der unzensierten Version des Spiels GRAND THEFT AUTO: SAN ANDREAS) nicht in Deutschland publizierten Spielen, die Kindern und Jugendlichen (ungeachtet des sog. Erzieherprivilegs) generell nicht zugänglich gemacht werden dürfen. Kurios war auch die markttechnische Naivität der Autoren, die konstatierten: "Bei einem Verbot müsste die Industrie sich umstellen, sie würde nicht riskieren, Millionen Euro in die Entwicklung eines Killerspiels zu stecken, wenn es dann nicht massenhaft verkauft werden kann." Tatsächlich wird das Gros (insb. evtl. indizierungsrelevanter) Spiele aber gar nicht in Deutschland entwickelt; MÜLLER-LIETZKOW 2007a: "[...] Produktionen mit Budgets jenseits der Ein-Millionen-Euro-Grenze werden grundsätzlich für internationale Märkte entwickelt. Wie bedeutsam ist da überhaupt die nationale deutsche Gesetzgebung für Entscheidungen? Mit 1,3 Milliarden Euro Software-Umsatz 2006 ist Deutschland ein durchaus ernst zu nehmender Markt innerhalb Europas. Daraus folgt allerdings keinesfalls, dass Produzenten bei strengeren deutschen Gesetzen auf gewalthaltige Spiele verzichten würden, da sowohl der US-amerikanische als auch der asiatische Markt diese Spiele fordern und in ihrer Größe den deutschen weit übertreffen. Anders formuliert: Die Situation eines einzelnen Teilmarktes beeinflusst die Entscheidungen der internationalen Publisher grundsätzlich wenig." (S.2) Die Moderatorin Silke BÖSCHEN behauptete gar moralpanisch, dass nicht nur Einzeltäter, sondern "ganz viele Kinder" dank der Spiele "verdummen und verrohen" würden. GROTE/SINNOKROT 2006, S.3. GROTE/SINNOKROT 2006, S.5. GROTE/SINNOKROT 2006, S.3. Vgl. SCHULZ/BRUNN/DREYER et al. 2007, S.77-86. 222 01.12.2006 nicht nur das generelle Lob der Bundesregierung vom August 2006 ggü. der USK, sondern konstatierte auch (abermals), dass gewaltverherrlichende Computerspiele bereits nach § 131 StGB verboten seien und generell die erfolgreiche Beendigung der offiziellen Evaluierung des Jugendmedienschutzsystems durch das HBI vor evtl. legislatorischen Maßnahmen vorrangig sei.1220 Trotzdem präsentierte der bayerische LIM Günther BECKSTEIN (CSU) bereits am 05.12.2006, ca. zwei Wochen nach dem Schulamoklauf, in Rekordzeit seine ersten "Arbeitshypothesen" eines "Killerspiel"-Verbots; eine Novellierung des § 131 StGB, die im Wesentlichen an der Ausarbeitung der wissenschaftlichen Dienste orientiert war: "Wer Computerspiele, die es den Spielern als Haupt- oder Nebenzweck ermöglichen, eine grausame oder die Menschenwürde verletzende Gewalttätigkeit gegen Menschen oder menschenähnliche Wesen auszuüben, verbreitet, [...] herstellt, bezieht, liefert [...], wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder Geldstrafe bestraft."1221 Der Entwurf, resp. die Verbotspostulate insg., provozierten massive Kritik diverser Bundes- und Landespolitiker von FDP, SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN.1222 Auch waren kaum einer Landesregierung solche Verbotsambitionen unterstützenswert.1223 Am 12.12.2006 präsentierte aber auch der LIM Uwe SCHÜNEMANN (CDU) ein prinzipiell äquivalentes niedersächsisches Pendant eines solchen Verbots, das aber Freiheitsstrafen bis zu zwei Jahren oder Geldstrafen intendierte und Computerspiele kriminalisieren sollte, "bei denen ein wesentlicher Bestandteil der Spielhandlung die Ausübung von wirklichkeitsnah dargestellten Tötungshandlungen oder anderen Gewalttätigkeiten gegen Menschen oder menschenähnliche Wesen ist."1224 Der Entwurf plante gar die Kriminalisierung der Spieler selbst: Erwerb und Besitz der Spiele sollten in ausdrücklicher Orientierung am Besitzverbot für kinderpornograpische Schriften nach § 184b Abs. 4 Satz 2 StGB mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe pönalisiert werden. Zynischerweise dementierte der LIM den Vorwurf der Kriminalisierung der Spieler in einem Interview, antwortete aber im Rahmen desselben Interviews auf die Frage, ob auch Spieler selbst mit Razzien zu Hause rechnen müßten: "Natürlich. Diejenigen, die die brutalen, verbotenen Spiele spielen, müssen damit rechnen, dass sie dingfest gemacht werden. Das halte ich auch für richtig."1225 Zuletzt plante der LIM auch die Verstaatlichung der USK!1226 Aber eine bereits für Februar 2007 geplante Bundesratsinitiative Niedersachsens war nie realistisch: Im Landtag boykottierten sowohl die Fraktionen der Oppositionsparteien (77 Sitze), als auch die des Koalitionspartners FDP (15 Sitze) die diesbzgl. Ambitionen der CDU (91 Sitze) kategorisch.1227 Letztlich kritisierte auch Bundesjustizministerin Brigitte ZYPRIES (SPD) beide Entwürfe: Eine Strafbarkeitslücke des § 131 StGB existiere nicht, die Entwürfe seien ohne strafrechtlichen 1220 1221 1222 1223 1224 1225 1226 1227 Vgl. KREMPL/KURI 2006a. Zitiert in: FISCHER 2006a. Vgl. KREMPL/KURI 2006b. Vgl. KRUSE 2006 und s. die diesbzgl. Befragung der Website stern.de: <http://www.stern.de/politik/deutschland/killerspieleso-stehen-die-laender-zum-verbot-578072.html>, Stand: 04.10.2012. Zitiert in: FISCHER 2006b. Zitiert in: GÜßGEN 2006a. Vgl. FISCHER 2006b. Der LIM plädierte bereits im März desselben Jahres und gar selbst einen Tag nach dem sog. Amoklauf für eine diesbzgl. Verstaatlichung (vgl. KREITLING 2006, S.1), resp. bis März 2007 für die Fusion der USK mit der BPjM (vgl. LISCHKA 2007). Eine "Bundesanstalt für Jugendmedienschutz" propagierte der LIM zwar auch noch im Mai 2007, relativierte aber: "Aus verfassungsrechtlichen Gründen wird es nicht möglich sein, dass nur staatliche Stellen über eine Indizierung entscheiden. Das würde bedeuten, dass Spiele einer Zensur unterliegen, bevor sie auf dem Markt kommen. Wir sind also auf die Mitarbeit der Unterhaltungssoftware-Industrie angewiesen." (zitiert in: AVERESCH/VATES 2007). Interessanterweise waren HÖYNCK/MÖßLE/KLEIMANN et al. 2007b, die Autoren des einen Monat später publizierten Forschungsberichts im Auftrag des niedersächsischen Ministeriums für Inneres und Sport (s.u.), gegen eine Überführung der USK in eine behördliche Struktur (S.65); dgl. PFEIFFER 2008, Spiritus Rector des LIM. Ungeachtet dessen artikulierte Fritz R. KÖRPER (SPD), stellvertretender Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion, bzgl. der USK und der BPjM selbst noch im Juli 2007, dass darüber nachgedacht werden müsse, "ob sich die beiden Stellen zu einer staatlichen Prüfstelle zusammenführen lassen." (zitiert in: PÄTZOLD/ANKER 2007) Vgl. KREMPL 2006c. 223 Mehrwert und die "Phantomdebatte"1228 gefährde die Glaubwürdigkeit der Politik.1229 Verbotsprononenten wie der niedersäschsiche LIM1230 und die bayerische Familienministerin Christa STEWENS (CSU)1231 negierten aber nicht nur die evidente Nichtigkeit des strafrechtlichen Mehrwerts der Entwürfe, sondern rekurrierten gar auf Punkt 6.3 des Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD vom 11.11.2005 und behaupteten fälschlich, der Vertrag diktiere der großen Koalition die Ausarbeitung eines diesbzgl. Verbots. 21. Der Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung des Jugendschutzes (JuSchVerbG) Am 09.01.2007 präsentierte die bayerische Staatsregierung ungeachtet dessen einen Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung des Jugendschutzes (JuSchVerbG) und initiierte am 02.02. 2007 eine diesbzgl. Bundesratsinitiative. Der Entwurf kolportierte insg. die Medieninduziertheit der sog. Amokläufe von Bad Reichenhall, Erfurt und Emsdetten und behauptete gleichermaßen alltagstheoretisch, "dass insbesondere sog. Killerspiele, die menschenverachtende Gewalttätigkeiten zum Gegenstand haben, eine gewaltabstumpfende und für bestimmte labile Charaktere auch eine stimulierende Wirkung haben können. […] Zahlreiche wissenschaftliche Erkenntnisse legen […] eine nachteilige Wirkung gerade auf Jugendliche nahe. Nach dem heutigen Forschungsstand bestehen insbesondere keine begründeten Zweifel daran, dass der Kontakt mit derartigen Medien vor allem bei Kindern, Jugendlichen und Heranwachsenden, aber auch bei Erwachsenen, die Gefahr einer Nachahmung und einer Abstumpfung in sich birgt, die sich schädlich auf die Gemeinschaft auswirken kann. Die schrecklichen Vorfälle zeigen, dass Maßnahmen notwendig sind, um insbesondere Kinder und Jugendliche vor Gewaltexzessen in Form menschenverachtender Gewaltspiele zu schützen. In den vergangenen Jahren wurden zwar im Bereich des Jugendmedienschutzes Verbesserungen erzielt, um den wachsenden Gefährdungen auf dem Mediensektor zu begegnen. Dies ist jedoch nicht ausreichend, wie die jüngste schreckliche Gewalttat in Emsdetten zeigt."1232 Der Entwurf plante ein strafrechtliches Verbot von sog. "Killerspielen" und auch eine generelle Verschärfungen des JuSchG, insb. ggü. audiovisuellen Trägermedien. Das JuSchVerbG intendierte i.d.S. einen neuen, wie auch (ungeachtet angedachter Regelungen für Bildschirmspielgeräte)1233 die Verschärfung von sechs aktuellen Paragraphen des geltenden JuSchG (exkl. der daraus resultierenden Folgeänderungen). Die geplanten Änderungen kopierten dabei inhaltlich größteneils das bereits fünf Jahre ältere bayerische JuSchGÄndG. 1228 1229 1230 1231 1232 1233 Zitiert in: JUNGHOLT 2006. Vgl. FISCHER 2006b und GÜßGEN 2006. Vgl. GÜßGEN 2006 und KREMPL/KURI 2006b. Vgl. KREMPL 2006b. Vgl. BR-Drs. 76/07, S.1. Der Vollständigkeit halber sollen die Pläne des JuSchVerbG bzgl. Bildschirmspielgeräten gem. § 13 JuSchG nicht unerwähnt bleiben: Der Entwurf plante, dass die infolge des JÖSchNG in Kraft getretenen Aufstellungsverbote des § 8 Abs. 3 und 4 JÖSchG für entgeltliche Bildschirmspielgeräte ohne Gewinnmöglichkeiten reaktiviert werden, die das (intendierte) vorzeitige Ende der Arcadeautomaten in Deutschland verursacht hatten. Die Verbotsproponenten hatten u.a. (erfolgreich) von einer Suchtgefahr für (Taschengeld verspielende) Kinder und Jugendliche fantasiert (vgl. STATH 2006, S.134-140). Dem Abgeordneten Roland SAUER (CDU) war am 06.12.1984 im Rahmen einer Lesung des JÖSchNG eine kolportierte, nein fantasierte Beschaffungskriminalität der Kinder und Jugendlichen gar ein "schrilles Signal" (zitiert in: BT-PlPr 10/108, S.8002) der diesbzgl. Gefahr! Im Lichte Verbreitungen des PC und insb. der Spielkonsolen seit Ende der 1980er hatte das JuSchG die Aufstellungsverbote aber liberalisiert, u.a. ist auch die Entgeltlichkeit der Spiele nicht mehr relevant (vgl. BT-Drs. 14/9013, S.49f.). Mithin sind Automatenspiele auch international Im Lichte der Verbreitung des PC und der Spielkonsolen, steigender Automatenpreise und fehlender Innovationen (vgl. SCHULZ/ BRUNN/DREYER et al. 2007, S.131) seit Ende der 1980er ein kaum noch existentes Phänomen. I.d.S. war auch die Arbeit der erst 1982 gegründeten Automaten Selbstkontrolle redundant (vgl. DECKER 2005, S.70), die aber noch zwischen 1982 und dem 31.03.2003 ca. 1.200 Spiele prüfte. Seit Inkrafttreten des JuSchG ist sie – wie die die USK – ein mandatierter Gutachter der OLJB, aber quasi aufgabenlos, da sie seitdem insg. nur noch 189 Bildschirmspielgeräte prüfte (Stand: Januar 2011). Die bayerische Landesregierung wollte aber ungeachtet dessen bereits im Rahmen des JuSchGÄndG die Liberalisierungen des JuSchG revidieren, ignorierte die diesbzgl. Entwicklungen der letzten ca. 17 Jahre und formulierte i.d.S. nur noch Ressentiments: "Häufig handelt es sich bei diesen Spielen um niveaulose 'Baller-Spiele'. Die von Bildschirmgeräten ausgehende Sogwirkung gilt es zu vermeiden und nicht dadurch zu erhöhen, dass ein öffentliches Spielen Kindern ab 6 Jahren erlaubt wird." (BR-Drs. 585/05, S.12) Diesbzgl. identisch ist auch der Entwurf des JuSchVerbG (vgl. BR-Drs 76/07, S.17). 224 21.1 21.1.1 Änderungen des JuSchG Akkreditierung der Organisationen der freiwilligen Selbstkontrolle Der Entwurf plante in Orientierung an den FSK-Grs und insb. auch an § 19 JMStV erstens einen (auch ggü. dem JuSchGÄndG) neuen § 14a JuSchG, gem. dem eine befristete Akkreditierung der Organisationen der Freiwilligen Selbstkontrolle eine notwendige Bedingung der Mandatierung, wie auch der Beleihung derselben im Rahmen des Verfahrens nach § 14 Abs. 6 JuSchG werden sollte. Der Entwurf kolportierte salopp, dass bei den Organisationen der Freiwilligen