EXETER, 9.-11.08.2016
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EXETER, 9.-11.08.2016
EXETER, 9.-11.08.2016 ETHNICITY / RACE / RELIGION. IDENTITIES, IDEOLOGIES, AND INTERSECTIONS IN BIBLICAL TEXTS AND INTERPRETATION 9. August: Shake Hands Im englischen Exeter findet die Konferenz der Society of Biblical Literature (SBL) statt zum Thema: Ethnicity / Race / Religion: Identities, Ideologies, and Intersections in Biblical Texts and Interpretation. Dem Campusplan zufolge, der den Teilnehmenden vorab geschickt worden war, liegt die University of Exeter in unmittelbarer Nachbarschaft von St. David’s Station und kann leicht zu Fuß erreicht werden. Das stimmt zwar, aber der Plan verrät nicht, daß die Universität auf einem ziemlich steilen Hügel liegt. Zum ersten Mal seit meiner Ankunft auf der eher kühlen Insel wird mir richtig warm. Exeter Campus Map Von der Campuseinfahrt bis zur Rezeption in der Holland Hall sind es immer noch mehrere hundert Meter, und es geht stetig bergauf, doch die Anstrengung lohnt sich. Zur Begrüßung gibt es Devon Cream Tea, eine besondere Art des afternoon tea, für die vor allem die Grafschaft Devon bekannt ist. Zum Tee werden Scones gereicht, krustenlose Brötchen, die aus sehr feinem Mehl, Milch und vor allem viel Butter hergestellt werden, und die hier mit Erdbeermarmelade und clotted cream bestrichen sind. Letztere, ein dicker Rahm und im Geschmack dem italienischen Mascarpone nicht unähnlich, weist einen Fettgehalt von bis zu 94 Prozent auf und schmeckt vermutlich gerade deswegen so gut. Laut Karte: Links abbiegen Die Plenary Session Nr. 1 beginnt um 17.00 Uhr mit einem Vortrag von Musa W. Dube, Professorin an der University of Botswana, die über die Hermeneutik spricht, mit der die Menschen ihres Landes die Bibel zu verstehen suchten und sie in ihre Kultur hinein übersetzten. Dabei wurde deutlich, daß kein Schriftdokument die Erzähltraditionen ersetzen kann, die im Leben dieser Menschen eine zentrale Rolle spielen. Beim anschließenden Dinner beschnuppern die ca. dreißig Teilnehmenden sich gegenseitig, die Schildchen an Blusen und Jacketts ersparen einem das unangenehme Nachfragen, wenn man den Namen des Gegenübers nach dem ersten Shakehands schon wieder vergessen hat, weil gleich die nächste Begegnung folgte. Man könnte das Kennenlernen natürlich auch in der Bar vertiefen, aber die meisten ziehen es vor, sich auf ihr Zimmer 2 zurückzuziehen. Viele haben eine lange Reise hinter sich, und am nächsten Tag erwartet uns ein dichtes Programm. 10. August: From Ideology to Identity Von der Terrasse der Holland Hall aus hat man einen weiten Blick über die Hügel von Devon. Als ich aus dem Haus trete, umfängt mich die kühle Morgenluft mit einem Geruch unbestimmter Erinnerungen, die ich nicht genau identifizieren kann, die sich aber mit Bildern aus jenen Städten im Ausland verbindet, in denen ich längere Zeit gelebt habe: Dublin, Oxford, Jerusalem. Es ist eine Luft, die nach Aufbruch und Neubeginn riecht. Ein weiter Horizont Zum Bateman LT („Lecture Theatre“) sind es etwa zehn Minuten Fußweg, vorbei am Institute of Arab and Islamic Studies, dem Northcott Theatre Kino und dem Forum mit Bibliotheken, Banken und Geschäften. Unsere Konferenzräume liegen im Building One der Business School. 3 Das Tagungsgebäude Die beiden Hauptreferate am Beginn und am Ende des Tages finden im Plenum statt, dazwischen kann man auswählen. Das Sichtbare und das Unsichtbare Ma. Marilou S. Ibita eröffnet den Tag mit einem Vortrag über the (In)Visibility of the Intersections of Ethnic Identities, Religion and Hermeneutics in Biblical Texts from a Lowland Filipina Perspective. Marilou stammt selbst aus den Philippinen und forscht derzeit am Centre for Academic Teacher’s Training in Religion der Katholischen Universität Leuven. In ihren Ausführungen versucht sie, die unsichtbar, aber umso hartnäckiger in das Denken westlicher Bibelwissenschaftler, in ihre Methoden, aber auch bereits in den biblischen Text selbst hinein verwobenen ethnischen Berührungspunkte und Verwerfungen sichtbar zu machen. Drei Bilder dienen ihr dabei als Verstehensmodelle: Das Fenster öffnet den Blick auf die Welt „hinter dem Text“. Es ist der Blick, den die meisten Forscher, mich eingeschlossen, wohl am besten internalisiert haben. Er führt hinein in eine ferne, fremde Welt und lädt ein, sie zu erkunden. Das Bild zeigt ebenfalls eine andere Wirklichkeit, aber es hat sie bereits festgeschrieben, der Betrachter bleibt stehen in der Welt „vor dem Text“. Der Spiegel wiederum zeigt den Betrachter selbst, der in der Logik dieses Modells zu einem Teil der Welt „im Text“ wird. Keine der drei Zugangsweisen wird für sich allein genügen, eine allein jedoch kann ebenfalls nur verkürzte Ergebnisse liefern. Die mangelnde Sensibilität für ethnische und kulturelle Differenz war es, die bereits innerbiblisch, vor allem aber in der biblischen Rezeptionsgeschichte jenen religiösen Antijudaismus hervorbrachte, der sich in der Neuzeit in verhängnisvoller Weise 4 mit rassistischem Gedankengut auflud und so zu einem tödlichen Antisemitismus werden konnte. Die unreflektierte Annahme, der christliche Glaube stünde über jeglichen ethnischen Unterschieden, und sein Grundtext, die Bibel, kenne solche Fragen ebensowenig, hat vielfach dazu beigetragen, daß im Zuge der Missionierung nichteuropäischer Völker die biblischen Texte wie Meteoriten in neue Kontexte einbrachen und daran gehindert wurden, sich mit dem Leben und Glauben der Menschen zu verbinden. Marilou veranschaulicht ihre These an einem biographischen Beispiel. Ihr belgischer Professor habe seine asiatischen Doktoranden einmal gebeten, ein Jesusbild mitzubringen, zu dem sie eine besondere Beziehung hätten. Sie brachten: Herz-Jesu-Darstellungen, Christkönigsbilder und manch andere Jesusmotive vor allem im Nazarenerstil des 19. Jahrhunderts. „Habt ihr denn keine Jesusbilder in eurer eigenen Kultur“, soll der Professor gefragt haben, sehr zum Unverständnis von Marilou und ihrer Kollegen. Was ist falsch mit unserem Jesus, fragten sie sich. Die ethnische Bruchlinie war ihnen zu jener Zeit noch unsichtbar gewesen. Heute weiß Marilou sich der Pädagogik der sogenannten Dialogschule verpflichtet, die eine Balance herzustellen versucht zwischen einer maximalen christlichen Identität und maximaler Solidarität zwischen Menschen verschiedener Herkunft und zwischen Menschen und biblischem Text. Transgression Gregory Cuéllar, Assistant Professor für Alttestamentliche Wissenschaften am Austin Presbyterian Theological Seminary in Texas, nimmt in seinem Vortrag Mapping the Differences of Race in Genesis das unreflektiert rassistische Denken des englischen Wissenschaftler Samuel Rolles Driver in den Blick, dessen 1906 erschienenes Hebrew and English Lexicon of the Old Testament (15. Auflage 2014) heute noch als Standardwerk für das Studium des biblischen Hebräisch gilt. Der Prophet spricht immer in erster Linie zu seinen Zeitgenossen, sagt Gregory. Und Driver war vielleicht kein Prophet, aber ein Kind seiner Zeit, des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts mit seinen militanten Nationalismen und deren ideologischer Legitimierung. Er benutzte die Völkertafel in Genesis 10, um aus einer altorientalischen Ätiologie Kriterien für eine neuzeitliche Völkerkunde und Sprachwissenschaft abzuleiten und diese seinem Wörterbuch zugrundezulegen. 5 Nach biblischer Vorstellung sollen aus den drei Sohnen Noahs – Sem, Ham und Jafet – jene Völker hervorgegangen sein, die nach der Sintflut die Erde bewohnten. Diese Vorstellung entsprach dem altorientalischen Denken, wonach Völker genealogisch auf einen Stammvater zurückzuführen sind. In der mittelalterlichen Kartographie findet man entsprechend dreiteilige Weltkarten, auf denen Sem für Asien, Ham für Afrika und Jafet für Europa steht. Daraus wiederum wurde in der Sprachwissenschaft und Völkerkunde des 18. und 19. Jahrhunderts eine Klassifikation in semitische, hamitische und jafetitische Sprachen und Rassen abgeleitet. Die Völkertafel in Genesis 10 ist jedoch ein fiktionaler Text, der die Kategorien von Abstammung und Verwandtschaft verwendet, um erzählerisch eine räumliche Ordnung der damaligen Welt vorzunehmen. Er will eine Ätiologie schaffen, eine Ursprungserzählung zur Ausbreitung der Menschheit in der damals bekannten Welt, und dies ganz im Vorstellungshorizont der altorientalischen Weltdeutung und der geopolitischen Sicht der Verfasser in ihrer Zeit. Bei Driver wurde daraus unter der Hand eine Unterscheidung höherer und niederer Rassen – wobei der (europäische) Forscher selbstverständlich einer höheren Rasse angehörte und es ihm aufgrund seiner Herkunft und Aufgabe zustand, die Definition des „Anderen“ vorzunehmen. Es sei die ethische Pflicht des Wissenschaftlers, so Gregory, solche Denkmuster zu erkennen und sie zu überwinden. Die Sensibilität dafür, das hatte bereits Marilous Vortrag gezeigt, ist vor allem in den Kreisen jener Forscher entstanden, die außerhalb des europäischen Wissenschaftsbetriebs sozialisiert wurden. Und an dieser Stelle erzählt auch Gregory ein sehr persönliches Beispiel. Beim Betreten jeder Bibliothek, jeder altehrwürdigen akademischen Institution, beim Aufschlagen jedes gelehrten Buches habe er das Gefühl gehabt, eine Grenze zu überschreiten. Und du tust es bewußt, habe er sich gesagt, es ist eine Grenzüberschreitung, transgression, aber sie steht dir zu. Es ist dein Recht und deine Aufgabe, und du wirst hier Spuren hinterlassen, damit andere sehen können, daß Wissenschaft nicht abstrakt ist, sondern das Gesicht eines jeden einzelnen Forschers trägt. An diesem Abend herrscht reges Treiben in der Bar, denn im Zimmertrakt wurde, vermutlich versehentlich, ein Feueralarm ausgelöst, der nicht so rasch wieder abgestellt werden kann und die Bewohner Zuflucht bei einem Gin&Tonic oder anderem suchen läßt. Anthony, pensionierter Geschäftsmann aus Cornwall, der lange Jahre in Dublin gelebt hat, fragt, ob er mich einladen dürfe. Da Dublin Teil auch meiner Biographie ist, 6 haben wir uns viel zu erzählen. Anthony hat ein international und vor allem in der arabischen Welt tätiges Unternehmen geleitet und erzählt von seinen interkulturellen Erfahrungen beim Führen von Verhandlungen. Nun hat er sich in die Welt der Theologie und Bibelwissenschaften begeben, auch dies eine Transgression, die nicht nur ihn bereichern dürfte. 11. August: On Being Gatekeepers „Mohammed-so-and-so from Such-and-such“ verkauft sich nicht, oder: Warum die Darsteller in Bibelfilmen made in Hollywood immer die gehobene amerikanische Mittelschicht und deren Way of Life repräsentieren (und aus Gründen der „inneren Sicherheit“ besser keine Muslime sein sollten). Die letzte thematische Einheit der Tagung beschäftigt sich mit der Verarbeitung biblischer Stoffe in Kino- und Fernsehproduktionen und mit deren Funktion, eine erwünschte kollektive Identität zu perpetuieren. Abgesehen davon, daß die Filmproduzenten der biblischen Botschaft damit nicht gerecht werden können, verfehlen sie auch den Lebenshorizont einer Mehrheit der Menschen, die nur empfinden – oder es auch benennen können: Das ist nicht meine Geschichte. Bibelwissenschaftlern und -wissenschaftlerinnen kommt auch hier die Aufgabe zu, eine Sensibilität zu wecken für die hidden racial and ethnic agendas des Filmgeschäfts (wobei der Film eine großartige Möglichkeit zur Rezeption biblischer Stoffe und Motive bleibt) und Anwälte zu sein für Text und Menschen zugleich. In der Concluding Panel Session, der Schlußsitzung, blicken Referenten und Teilnehmende noch einmal auf die wesentliche Aspekte und Einsichten der Tagung zurück, wobei im Blick auf das gestellte Thema vor allem eine Funktion von Bibelwissenschaftlern und Bibelwissenschaftlerinnen hervortritt (die freilich auch für andere Bereiche gelten mag): Sie haben gatekeepers zu sein, nicht Türhüter, sondern Türöffner für die Menschen, denen der Zugang zu den biblischen Texten schwer gemacht wird, denen sie aber umso mehr gelten. Wem sind wir Rechenschaft schuldig, fragt Marilou. Welches ist unser Forschungsinteresse, welches unsere Methoden und hermeneutischen Schlüssel? Woher stammen sie? Was können sie sichtbar machen, was aber liegt möglicherweise außerhalb ihrer Reichweite? Verkörpern wir jemandes Stimme in unseren 7 Fragen an den Text, und wenn ja: Könnten diese Menschen nicht selbst reden, und wo? Gregory ermutigt noch einmal alle Teilnehmenden, Spuren ihrer Arbeit zu hinterlassen, nicht nur in Gestalt brillianter Bücher und Artikel, sondern auch als Menschen in Raum und Zeit. So könne man seine Anwesenheit beispielsweise dokumentieren, indem man sich in ein Gästebuch einträgt und damit zum Ausdruck bringt: In diesen Ort bin ich „eingedrungen“, ich war hier, ich gehöre dazu. Concluding Panel Speakers Andrea Pichlmeier www.andreapichlmeier.wordpress.com 8