die erste reise zur ostfront

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die erste reise zur ostfront
DIE ERSTE REISE ZUR OSTFRONT
Am 21 September 1943
war ich in Bad-Aibling bei Rosenheim (Bayern) vom
Reichsarbeitsdienst entlassen worden, und nach Straßburg zurückgekehrt.
Wohl Anfang – Mitte Oktober erreichte mich der Gestellungsbefehl zur Wehrmacht nach
Chemnitz (Sachsen). Inzwischen hatte Henri Hofstätter der Gatte meiner Cousine Jeanne
Amrhein, der in einer der größten Metzgereien der Stadt (Meyer in der Spitzgasse)
angestellt
war,
durch
weiß
ich
welche
Vermittlung
vom
Staatsbürger
Oberkommandierenden General Vaterrodt meine Zurückstellung um einen Monat erreicht.
Ich besaß lange ein kleines Zettelchen im Format
auf dem mit Tintenbleistift vom General persönlich geschrieben und unterzeichnet der
Befehl aufgezeichnet war: „Um einen Monat zurückstellen. Vaterrodt“. Ich schickte also
meinen Gestellungsbefehl zurück und blieb weiterhin bei meiner Arbeit in der Alsatia–
Buchhandlung. Wohl um die Mitte November dann der neue Gestellungsbefehl, diesmal
nach Gumbinnen in Ostpreußen. Von H. Pfeiffer dem Buchhalter der Alsatia, erfuhr ich
gleich, das derselbe bereits im Ersten Weltkrieg 1914, dort eingezogen worden war wie
noch viele andere Elsässer. Am Ende vom Lied stellte sich heraus, das es gewissermaßen
für mich eine Glücksache war. Die nach Chemnitz eingezogenen kamen nämlich an den
Mittelabschnitt der Ostfront, wo es damals viel schlimmer zuging als am Nordabschnitt in
der Zeit, da ich dort lag.
Mit mir eingezogen wurden gleichzeitig meine Kameraden Paul Paulen, der Sohn unseres
Hausbesitzers, René Schmittbiehl von der Bürstenfabrik an der Polygonstrasse, Gilbert
Schmitt aus dem Neufeldweg, (Schmitt Gilbert war die erste Zeit nicht mit uns zusammen
wieder auf dem Transport noch in der Kaserne. Erst in Woilejka lagen wir auf derselben
Stube und standen Posten miteinander), mit diesen dreien hatte ich schon die Ste AnneSchule besucht) und Marcel Schwartz, der vis-à-vis von uns wohnte (zu Marcel Schwartz
hatten wir zuvor kaum Beziehung gehabt, weil seine Mutter ihm und seinen Zwillingsbruder
Charles nicht über die Polygonstrasse lies). Am 29 November mußten wir im Hof der
Manteuffel-Kaserne (Boulevard Clémenceau) antreten, wo uns zunächst ein höherer Offizier
eine Ansprache hielt, um uns zu erklären, weshalb wir zur Wehrmacht eingezogen wurden:
nicht weil man uns brauchte sondern damit wir nach dem Endsieg nicht als zweitrangige
Deutsche dastehen sollten, die nicht ihren Beitrag dazu geleistet hätten. In unserem eignen
Interesse also… Dann mußten wir uns in drei Gliedern aufstellen, links um Marsch, Gepäck
aufnehmen und ohne Tritt abmarschieren zum Kronenburger Güterbahnhof, wo wir in
Personenwagen verladen wurden, fünf in ein Abteil mit sechs Sitzplätzen, so das wir fünf
Obengenannten beisammen blieben. Und dann gings fast im wahrsten Sinne des Wortes ab
nach Kassel; nämlich auf der Lauterburger Strecke nach Roeschwoog über den Rhein, dann
über Darmstadt und Frankfurt bis gegen Kassel zu, wo dann ostwärts abgeschwenkt wurde.
Im Lauf der Nacht fuhren wir durch den Bahnhof von Mülhausen in Thüringen wobei
sarkastisch gewitzelt wurde über die Nähe der Heimat. Später während ich schlief,
umfuhren wir wohl Leipzig im Norden und bei Tage waren wir in Kottbus angelangt,
überfuhren die Spree und erreichten schließlich Guben an der Neisse, wo heute die
deutsch-polnische Grenze verläuft. Dann kam am Freitag 3.12.43 um 19 Uhr Bentschen
(polnisch Zbaszyn), Posen (Poznan), Gnesen (Gniezno), Hohensalsa (Inowroclaw), Thorn
(Torun) Osterode. Von da an wurden nach und nach Waggons abgehängt, die Rekruten auf
verschiedene Ortschaften verteilt, (Allenstein, Rastenburg, Angerburg, Insterburg, und
schließlich kamen wir als letzte in Gumbinnen an. Dort mußten wir mit Gepäck (mein alter
Koffer wurde erst vor wenigen Jahren weggeworfen) vom Bahnhof zu der am andern Ende
der Stadt an der Straße nach Insterburg und Königsberg gelegenen Füsilierkaserne
marschieren, waren wir doch der 1. Ausbildungskompanie des Füsilier Ersatzbataillons 22
zugeteilt.
Die Reise quer durch Deutschland und Polen hatte vom 29. November bis 5. Dezember
gedauert (Ankunft in Gumbinnen Sonntag 5. Dezember 12 Uhr 15 laut Brief vom selben
Abend 17 Uhr). Je weiter der Zug nach Osten voran kam, desto öfter wurde er über
Nebenbrücken umgeleitet oder auch auf Abstellgeleise stundenlang aufgehalten, um die
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Strecke frei zu lassen für Kurs- oder Güterzüge, besonders aber für Militärtransporte, die
strategisch wichtiger waren als unserer.
Die Füsilier-Kaserne zu beschreiben vermag ich nicht mehr , ist auch nicht nötig. Ein
riesiger Hof, umsäumt von finsteren Gebäuden, wie alle Kasernen. Den Hof haben wir dann
zeitweilig kreuz und quer in Bauchlängen abgemessen; gezählt hat sie wohl keiner von uns.
Am Tag nach der Ankunft (falsch, am Dienstag 7.12. laut Brief vom 9.12) wurden wir
eingekleidet. Das dazu nötige Gelumpe, Rock, Hose, Schirmmütze, Schuhe, Drillichanzug
unsw.! empfing man auf der Kleiderkammer. Der zuständige Unteroffizier Kammerbrelle
genannt und seine Gehilfen streiften den Rekruten mit einem abschätzenden Blick, zogen
die nach Augenmaß passenden Stücke aus den Regalen hervor : „Paßt! Raus!“ und schon
war man draußen. Gepaßt hat es nicht immer, und wenn man dann umtauschen mußte,
war das nicht immer ganz einfach. Mein Cousin Lucien Logel der schon im Vorjahr
eingezogen worden war, hat mir erzählt, das ihm der zugeteilte Rock zu weit war und er
sich folglich zur Kammer begab um ihm umzutauschen. In seinem etwas unbeholfenen,
dialektgefärbten Deutsch verlangte er dort einen andern Frack. Der Kammerbulle verblüfft
und beleidigt, schrie ihn an. „Was wollen Sie? Einen Frack? Mann, Sie bilden sich wohl ein
Sie seien hier im Theater! Des Führers Rock, ein Frack!!“ Schmiß ihm einen solchen vor die
Nase und den Schützen Logel zur Kammer hinaus.
Manchmal – Ende 1943 ging es mit der Wehrmacht schon deutlich bergab – manchmal
fanden sich auch nicht die richtig zusammenpassenden Stücke. So mußte z.B. mein
Kumpel Schwartz Marcel bis zur Neueinkleidung im Januar 44 mit zweierlei Stiefeln
herumlaufen, einem Infanterie- und einem Artilleriestiefel, was man ohne weiteres
feststellen konnte, da der Artilleriestiefel einen längeren, dem Reitstiefel ähnelnden Schaft
hatte. Irgendwo habe ich noch ein Photo liegen, wo das deutlich zu sehen ist. Als wir
eingekleidet waren, begann der Dienst, am 8.12 laut Brief vom 9.12. Durch jedes
Stockwerk der Kaserne führt ein langer Gang, auf dem sich eine Reihe von Stuben öffnen,
jede mit einer Gruppe von 15 Mann belegt.
Unser „Stubenältester“, der bei unserer Ankunft bereits am Platz war und hier drin das
Kommando führte, war ein Gefreiter aus Saarbrücken namens Seegmüller, ein Verwandter
der Strassburger gleichnamigen Reederfamilie. Er war ein freundlicher, gebildeter Mensch,
ein Musikliebhaber, der eben mit der Lektüre von Joseph Gregors Buch „Kulturgeschichte
der Oper“ beschäftigt war. Als ich es durchblättert hatte, schrieb ich flugs nach Hause und
bat um die Bestellung. Später habe ich es dann auch teilweise gelesen, jetzt steht es in
Brüssel in Philippes Bibliothek.
Gumbinnen war ein elendes, trauriges Nest, wo es von Landsern wimmelte; eben ein
Garnisonsort, Stadt wäre fast zuviel gesagt. Außer unserem Füsilierbataillon gab es da
mindestens noch ein Artilerieregiment, alles nur Ersatz- und Ausbildungseinheiten, die
aktiven Teilen davon waren ja im Einsatz an der Front. Am Sonntag, den 12. Dezember
schrieb ich einen Brief: „Am Freitag war Vereidigung, abends Lohnungsappell. Es gab 35,RM. Ich habe dann gestern beim Ausgang 50,- RM heimgeschickt, weil ich sonst zuviel
hätte, denn hier wird man sein Geld nicht los. Wir haben gestern abend acht Mann im
Restaurant gegessen und die ganze Zeche kam auf kaum fünf Mark. Hier in Gumbinnen ist
genau gar nichts los. Es gibt fast mehr Soldaten als Zivilisten und wenn es nicht zwei Kinos
gäbe, dann wüßte man gar nicht wohin. Kino, Restaurant und Café, daß ist alles was es
hier gibt“. Und in einem Brief vom 19.12: „Heute nachmittag werden wir wieder ausgehen.
Ein langweiliger Ausgang. Kino, Café, Konditorei, Restaurant. Das ist alles was es in
Gumbinnen gibt“. Und am Weihnachtstag: „…in der Stadt ist nichts los. Wir waren bereits
im Café und haben jeder etwa zehn Stück Kuchen gegessen und Kaffee getrunken. Dann
gingen wir um vier Uhr wieder heim“. Nachträglich, muß ich hinzufügen, daß es in
Gumbinnen auch eine Buchhandlung gab, und daß ich dort sogar Bücher gekauft habe.
Nämlich Platons Protagoras in der Übersetzung von Otto Apelt, bei F. Meiner 1922, sowie
ein im selben Jahr bei Kohlhammer in Stuttgart erschienenes Buch von Hans Spanke über
Deutsche und Französische Dichtung des Mittelalters. Dazu einen Deutsch-russischen
Sprachführer aus dem Langenscheidt-Verlag, den ich im Tornister hatte, und der mit dem
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Tornister irgendwo in die Irre ging als wir an die Narwa-Front verlegt wurden. Die andern
zwei hatte ich gleich nach Hause geschickt und sie stehen noch heute in meiner Bibliothek.
Überhaupt wurde ein guter Teil des Geldes, das ich heimschickte, bei der Alsatia, „im
Geschäft“, wie es in meinen Briefen hieß, in Bücher umgesetzt, die alle noch vorhanden
sind. Also war, mindestens in dieser Hinsicht, doch nicht alles für die Katz. Ich hätte
damals ohne Ironie sagen können: „do sollsch noch Geld haamschicke!“ Besonders gut ging
es mir wohl nicht, immerhin aber schickte ich Geld nach hause. Das ist mir seither nicht
mehr passiert.
Über den Dienst ist nicht viel zu sagen. Es war der übliche Schliff der sich doch irgendwie
noch in Grenzen hielt. Unser Kompaniechef Oberleutnant Wockenfuss war ein älterer, wohl
gut fünfzigjähriger Mann, der anscheinend gewissenhaft seinen Dienst tat, aber keineswegs
dazu geneigt schien, mit uns den Wilden zu machen. Manchmal kam er mir sogar irgendwie
väterlich vor. Ich glaube kaum, daß er noch ernsthaft an den Endsieg glaubte. Der Spieß
hingegen meinte es weniger gut mit uns. Der muß ein Überzeugter Anhänger des Führers
gewesen sein. Spieß nannte man den Hauptfeldwebel; er ließ morgens die Kompanie
antreten, gab die Befehle für den Tag aus und meldete dann die Kompanie dem Chef, der
die verschiedenen Züge zu ihren jeweils vorgesehenen Aktivitäten abtreten ließ. Der Spieß
hatte sich auch sonst um alles zu kümmern , nicht nur um den Dienst an sich, auch um’s
Essen, um die Angelegenheiten der Schreibstube usw. Nicht umsonst nannte man ihn zum
Spaß die Mutter der Kompanie. Manche von ihnen waren richtige Säue, wie sie Hans
Hellmut Kirst, selber ein Ostpreuße, in seiner 08/15-Trilogie beschrieben hat. Die ich
kennengelernt habe waren meist grob, auch blöde, aber kaum wirklich bösartig.
Unser Zugführer war der Oberfeldwebel mit dem litauischen Namen Drostatis.
Wahrscheinlich war er auch Litauer, denn er sprach uns oft an als „Frrreunde“, oder
stimmte einer richtigen Antwort zu mit „rrrichtig Frrreunde“, mit einem eigentümlich
schnarrenden Zungen-r. Diese Anrede „Freunde“ statt „Leute“ oder „Soldaten“ habe ich
überhaupt nur von ihm gehört, von anderen hingegen „Sie Halbsoldat“, „Sie in die Luft
geschissenes Fragezeichen“. „Ihr Arschlöscher“, „Ihr Jammerfiguren“ u.v.a.m. So bewahre
ich dem Oberfeldwebel Drostatis ein geradezu dankbares Andenken. Kein Wunder, daß er
der einzige ist, an dessen Namen ich mich erinnere. Mit Ausnahme zweier oder dreier
Unteroffiziere, von denen ich noch zu berichten habe.
Am 5. Dezember waren wir angekommen, am 10. wurden wir vereidigt und schon ging das
Gerücht, von dem ich im Brief vom 9.12 schrieb: „Wir sollen nämlich am 12. Von hier
fortkommen, und zwar nach Rußland, genauer gesagt nach Minsk, wo die weitere
Ausbildung erfolgen wird. Ich glaube auch, daß wir dort auf Partisanenjagd gehen. Aber es
scheint damit in dieser Gegend noch nicht so schlimm zu sein“. Diese paar Zeilen
enthielten zwei Irrtümer. Mit der Verlegung nach Rußland hat es noch bis zum 11. Januar
gedauert; daß es aber mit den Partisanen dort weiter schlimmer stand als wir meinten,
merkten wir dann bald.
Vorläufig vergingen die Tage in Gumbinnen mit theoretischer und praktischer Ausbildung.
Wir haben da u.a. gelernt, wie man einem Vorgesetzten die sogenannte Ehrenbezeigung
erweist, d.h. wie man grüßt. Das geschieht, indem man die rechte Hand an den Rand der
Kopfbedeckung führt, den Arm ausgewinkelt, das Gesicht zum Vorgesetzten gewendet. Ist
es der Fall, daß man einem Vorgetzten z. B. in der Stadt begegnet, so setzt die
Ehrenbezeigung fünf Schritte vor der Begegnung ein und wird drei Schritte darüber
durchgehalten. Wir haben auch gelernt, was beim Kommando „still gestanden!“ zu
geschehen hat: da werden die Hacken zusammengeschlagen, daß die Füße einen rechten
Winkel bilden, die Knie durchgedrückt, Brust heraus, Bauch hinein, Kopf aufrecht, Augen
geradeaus, und da „werden die Arschbacken zusammengekniffen, daß den Filzläusen die
Augen tränen“. Beim Kommando „Marsch! Marsch“ nimmt der Körper Stromlinienform an
und wird wie von einer Bogensehne geschnellt vorwärts bewegt. Wenn dann die Kompanie
– ich glaube so etwa 120 Mann – in drei Gliedern antrat und das Kommando „still
gestanden!“ kam, dann sollte das zusammenschlagen der Hacken einen einzigen Knall
ergeben. Regelmäßig aber – mindestens am Anfang – kam von dem, der gerade das
Kommando führte, der Ausruf: „Das hört sich ja an, wie wenn eine Ziege auf ein
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Trommelfell scheisst! Die ganze Bande weggetreten marsch marsch! Hinlegen! Auf! Marsch
Marsch!“ (das mehrmals hintereinander). Dann: „Auf dem alten Platz angehalten marsch
marsch!“. Und dann: „Daß doch immer einer der letzte sein muß! Die ganze Bande
weggetreten marsch marsch!“. Und so ging das Spiel weiter, bis der Herr Leutnant oder
Oberfeldwebel davon genug hatte.
Genau so interessant war die Ausbildung an den einzelnen Waffen, Gewehr, Pistole,
Maschinengewehr, usw. Jede Waffe wurde zunächst auseinander genommen und in ihre
Teile zerlegt. Von jedem teil mußte man sich den Namen merken und erklären können wie
die einzelnen Teilen zusammenspielten, um die angestrebte Wirkung zu erzielen. Anders
gesagt, was da alles im Mechanismus geschah um einen Schuß auszulösen. Bei diesem
Unterricht erfuhr man auch eine sehr wichtige Sache, daß nämlich der Innenraum des
Gewehrs die Seele hieß und daß die gedachte Linie die durch die Mitte dieser Seele ging,
als Seelenachse bezeichnet wurde. An dieser Stelle des Unterrichts pflegte dann ein
besonderes Ereignis einzutreten, daß auch bei uns vorkam. Irgendwo „dahinten“ schlief
gewöhnlich einer; der Unterricht fand ja morgens um sieben Uhr statt. Der Mann wurde
dann von dem betreffenden Ausbilder angerufen: „Heh! Sie dahinten, Sie Nachtjäger! Mal
herkommen!“ Der beeilte sich herzuflitzen. „Sagen sie mir doch mal was eine Seelenachse
ist“. Der Mann, verdattert, begann zu stottern. Alle schwiegen und waren gespannt, was
nun geschehen würde. "Natürlich wissen sie’s nicht, Sie Schlafmütze! Nun springen sie mal
rasch hinüber zur Schreibstube, bitten sie den Herrn Hauptfeldwebel um die Seelenachse
und bringen dieselbe hierher. Los! Marsch marsch“. Der arme Teufel lief im Laufschritt
über den Kasernenhof zur Schreibstube, wo man natürlich Bescheid wußte und dem Mann
nach vielem Hin-und-her eine angebliche Seelenachse, die zu dem Zweck bereitlag, auflud,
nämlich irgendeinen eisernen Gegenstand von zehn oder zwanzig Kilo Gewicht. Den
brachte er herbeigeschleppt und erstattete Meldung: „Befehl ausgeführt! Seelenachse
geholt!“ Da fiel natürlich der Ausbilder über ihn her, zum großen Gaudi der Mannschaft:
„Was bringen Sie den da für ein Ungetüm? Wer hat Ihnen das gegeben?“ – „Der Herr
Hauptfeldwebel, Herr Oberfeldwebel!“ – „So, Na! Wenn der Hauptfeldwebel auch nicht
weiß, wie eine Seelenachse aussieht, dann bringen Sie ihm das Ding zurück und richten
ihm aus was ich Ihnen jetzt vorsage. Es kam einmal mehr die Definition der Seelenachse,
der Mann mußte sie nachsagen bis es klappte, dann durfte er seine Last zurücktragen.
Inzwischen war der Unterricht beendet, und man traf sich wieder auf der Stube, bevor
erneut angetreten wurde zu irgend einer anderen Form der Ausbildung.
Dazu gehörte z. B. die Geländeausbildung. Am 15. Dezember schrieb ich nach Hause:
"Heute morgen hatten wir schon Geländeausbildung. Wir hatten aber kein Glück, denn seit
gestern ist Tauwetter und so konnten wir im Dreck herumkriechen. Die Übungen fanden
statt in einer öden Heide, wo der eisige Wind von Rußland her darüber hinpfiff. Kalte
Ohren, laufende Nasen, steife Finger, und die ganzen Kleider mitsamt Gewehr und
Patronentaschen ein Schmutz und Dreck, das war es, was wir davon trugen. Und das ist
nur ein Anfang, die Aufnahmeprüfung, sagte René. Da frage ich mich wie die
Entlassungsprüfung aussehen soll!!“ Dieses von mir als Heide bezeichnete Gelände wurde
toponymisch Luschen genannt und lag etwa zwei Kilometer von der Kaserne entfernt links
an der Straße nach Insterburg und Königsberg.
So ganz unnütz war die Geländeausbildung auch wieder nicht. Man lernte sich im Gelände
umschauen, Einzelheiten zu bemerken, ein Ziel auszusprechen, um die Augen eines andern
hinzuführen, wobei mit Massen wie Daumenbreite, Handbreite, Daumensprung
umgegangen wurde. Auch Entfernungsschätzen gehörte dazu, besonders Nachts, wo man
meist gewaltig getäuscht wird. Ging da vor uns ein kleines rotes Licht an. Sagte der
Oberfeld Drostatis: „Na Leute, da vorn raucht der Iwan eine Zigarette. Wie unvorsichtig von
ihm! Wie hoch würden Sie die Kimme ihres Gewehrs einstellen, um sie ihm auszublasen? „
Sagte einer fünfzig Meter, der andere zwanzig, noch einer zweihundert. Man ging auf das
Licht zu, das sich als Taschenlampe entpumpte, die ein Unteroffizier noch keine hundert
Schritte vor uns aufleuchten ließ. Oder, bei Tag erlebt: „Es ist jetzt elf Uhr. Wir liegen hier
im Gebüsch, dort auf der Anhöhe, südlich von uns, am Waldrand, liegt der Iwan. Wer ist
nun vorteilhafter dran, der Iwan oder wir?“ – „Der Iwan, Herr Oberfeld.“ – „Und warum?“ –
„Weil wir die Sonne im Gesicht haben, Herr Oberfeld.“ – „Richtig Freunde! Der Iwan ist im
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Vorteil weil er uns besser beobachten kann als wir ihn!“ Das war Drostatis, kein Schleifer,
einer der es gut mit uns meinte und den alle mochten.
So vergingen die Tage und mit jedem wuchs die Sehnsucht nach der Heimat. „Es wäre Zeit,
daß der Krieg zu ende ginge und wir wieder heimdürften“, schrieb ich am 15.12., denn alle
haben genug bis obenan.„ Wir waren seit zehn Tagen beim Barras und träumten vom
Urlaub, den wir nach abgeschlossener Ausbildung „zugut“ hätten. Gleichzeitig wußten wir
aber, daß dies nur der Anfang war: „Wenn wir mal in Minsk sind, wird es erst richtig
losgehen.“ Wahrscheinlich hatten wir inzwischen erfahren daß dort zwischen den Partisanen
das Leben alles andere als gemütlich war.
Weihnachten rückte heran, und schon am 19. Dezember konnte ich nach Hause berichten:
„Gestern Abend hatte unsere Kompanie die Weihnachtsfeier. Es gab eine Tüte mit Keks,
Bonbons und drei Äpfel. Dazu Streuselkuchen, den Paul und noch andere Bäcker gebacken
hatten. Dazu Milchkaffee und Bier. Nachher hatte jeder acht Schnäpse zugut; die haben wir
alle gleich getrunken. Er war aber nicht viel wert: Kümmelschnaps! Als ich auf die Stube
kam, wollte ich mir den Kümmelgeschmack abspülen und machte mich „haio“ hinter
meinen Quetsch her. Na ja, was das für eine Wirkung hat, das werde ich euch beim ersten
Urlaub erzählen, denn schreiben kann ich es nicht. Jedenfalls habe ich noch eine ganze
Stunde lang die Stube amüsiert obwohl es mir während der ganzen Feier gar nicht ums
Lachen war. Im Einschlafen war es mir genau so, wie wenn ich eingeschläfert würde, aber
dann habe ich durchgeschlafen bis morgens um fünf. Seither ist es mir wohl wie einem
Fisch im Wasser.“ Kümmel wie auch Anis war mir damals zuwider. Heute würde ich nicht
mehr so verächtlich vom Kümmelschnaps reden. Das mit dem „gleich getrunken“ ist falsch
ausgedrückt. Jeder hatte acht Gutscheine bekommen, und man mußte Schlange stehen,
um sich die Schnäpse aushändigen zu lassen. Da nun keiner achtmal anstehen wollte,
nahm man den Trinkbecher mit und ließ sich alles hineingießen. Da üblicherweise in den
Gaststätten aus einem Liter vierzig Schnäpse ausgeschenkt wurden, ist ein Schnaps = 2,5
cl, so daß acht Schnäpse = 20 cl oder 1/5 Liter sind. Der Trinkbecher faßte 25 cl – ¼ Liter.
Wir werden jedenfalls eine Weile daran gesogen haben. Von dem, was danach auf der
Stube los war, weiß ich nur noch, daß ich tatsächlich von meinem mitgebrachten und bis
dahin spärlich genossenen Quetsch getrunken habe, und davon in einen solchen Zustand
geriet, daß ich schließlich oben auf einem Spind saß, die Beine gekreuzt wie ein Buddha,
daß schließlich der U.v.D. (Unteroffizier vom Dienst) wie jeden abend vorbeikam, um, wie
man sagte, die Stube abzunehmen, daß derselbe auch besoffen war, mich auf meinem
Hochsitz betrachtete und die Frage stellte: „Wie kommt Kuhscheisse aufs Dach?“ Worauf er
wegging. Das war ein trauriges Weihnachtsfest mit viel Gelächter.
Am Silvesterabend, Freitag den 31. Dezember hatten wir Ausgang bis Mitternacht. Was wir
den Nachmittag hindurch trieben, weiß ich nicht mehr. Vielleicht war Kinobesuch dabei.
Jedenfalls gingen wir gegen Abend nacheinander in zwei oder drei Restaurants und aßen
das Stammgericht, wofür man keine Karten brauchte und das – wenn ich mich gut entsinne
– fünfzig Pfennige kostete. Zuletzt waren wir in unserem Stammlokal bei der Erika (so hieß
die Wirtin). Wir waren unserer fünf, nämlich wir vier Neudörfler und ein anderer von dem
ich nur noch den Vornamen kenne, weil er auch Paul hieß. Ich glaube er war es der beim
ersten Ausgang jenes Foto von uns Vieren machte. Also wir fünf saßen bei der Erika und
wußten nichts besseres zu tun, als Bier zu trinken. Das war billig und sehr wässerig.
Jedenfalls hat keiner ein Effekt davon gespürt außer dem urinalen. Schließlich ließen wir
noch eine Flasche sogenannten Likör kommen, was auch Zuckerwasser mit irgendeinem
Aroma war, und verlangten dann die Rechnung. Dabei stellte sich heraus, daß wir
zusammen fünfundsiebzig Seidel gelehrt hatten. Ich weiß nicht, warum es mich nun juckte
zu fragen: „Was ist Kameraden, machen wir die Hundert voll?“ – „Chiche“, war die Antwort,
„das machen wir!“ Nun war es aber schon spät, und wir mussten uns beeilen, um
rechtzeitig spätestens Mitternacht in der Kaserne zu sein. Also: „Erika, noch
fünfundzwanzig Seidel, aber zackzack!“ nun wurden uns die ersten fünf gebracht, die wir
im Nu gelehrt hatten, und schon kamen die nächsten fünf und so fünfmal hintereinander.
Hundert Seidel zu fünf ergibt zwanzig auf den Kopf. Wir zahlten, gingen und durchschritten
auf den Schlag Mitternacht das Tor. Alle waren fidel, nur einem ging es dreckig, das war
der Schwarz Marcel, der plötzlich von Durchfall ergriffen wurde. Er kam gerade noch die
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Treppen empor, ins Klo hinein und da geschah es. Als ich meine Blase entleert hatte und
mich umdrehte, um auf die Stube zu gehen, stand der Arme in seinem Klo, hielt die Hose
vor sich und sagte nur zu mir: „Bring mir ein Waschbecken mit Wasser.“ Was ich den auch
tat. Sonst ist weiter nichts passiert in jener Silvesternacht 1943/44.
Damit hatten wir die längste Zeit als Füsiliere in Gumbinnen verbracht. Das Gerücht von
der Verlegung ins Partisanengebiet verdichtete sich nach und nach zur Gewißheit. Schon
am 4. Januar meldete ich nach Hause: „Morgen werden wir neu eingekleidet, und in
einigen Tagen geht‘s los. Wohin wissen wir nicht. Jedenfalls nicht an die front – daß Ihr
Euch da keine Sorgen macht. Vielleicht nicht einmal in den Osten.“ Am 7. Schrieb ich auf
einer Feldpostkarte: „Seit vorgestern abend sind wir neu eingekleidet. Wir haben eine
tadellose neue Ausrüstung… Seit heute morgen stehen wir bereit und warten nur noch auf
den Marschbefehl… Wohin wir kommen wissen wir noch nicht, allen Anschein nach ins
Ausland, ich glaube aber kaum nach Rußland.“ Und dann, am 10. Januar: dies ist meine
letzte Karte aus Gumbinnen… morgen mittag geht der Transport ab. Wohin wissen wir
nicht. Ihr müßt also die neue Adresse abwarten, bevor Ihr wieder schreiben könnt.“
Am 11. Januar dampften wir also ab, natürlich nach Osten, trotz allem, was in der
Gerüchteküche zusammengebraut worden war, und daß wir mehr oder weniger geglaubt
hatten, weil ja der Wunsch der Vater des Gedankens ist. Selbstverständlich wurden wir im
Osten gebraucht, und nicht im Westen, wo es bis zur alliierten Landung noch ruhig herging.
Wir fuhren über Ebenrode, das jetzt russisch Nesterov genannt wird, zur Litauischen
Grenzstation Virbalis, das man damals deutsch Wirballen nannte. Dann gings weiter über
Korono (Kaunas) nach Wilna (Vilnius), wo der Zug ein paar Stunden Aufenthalt hatte und
wir sogar aussteigen und die Stadt besichtigen durften. Davon bleibt mir aber so viel wie
keine Erinnerung außer der, daß wir einige schöne Kirchen besuchten. Danach ging die
fahrt weiter über Smorgon über Molodetschno, ohne daß wir wußten, daß wir nun bereits in
Rußland, wenn auch nur Weißrußland, waren. In Molodetschno wurden einige Waggons
abgehängt, und wir übrigen bogen ab nach dem nördlich davon gelegenen Vilejka.
Da man uns nie eine Landkarte zeigte, wußten wir auch nie genau wo wir uns im
Augenblick befanden. Wir kannten nur die paar Ortsnamen und konnten uns vorstellen, daß
Vilejka irgendwo zwischen Wilna und Minsk lag. Narträglich fand ich heraus, daß es etwa
die Mitte zwischen beiden Städten einnahm, etwas näher bei Minsk. Immerhin gab man
uns in irgendeiner Weise zu wissen, daß wir hier nicht eigentlich in Rußland seien, sondern
in dem Teil des früheren Polen, das die Sowjetunion 1939 besetzt und annektiert hatte. Die
Leute hier sprächen nicht russisch sondern polnisch. Das scheint tatsächlich der Fall
gewesen zu sein, denn es war immer die Rede von den Pans, den Panjas und den
Panjenkas, also den Herren, Frauen und Fräuleins. Mit einer Panjenka hatte ich einmal ein
nächtliches Erlebnis das ich weiter unten erzählen werde.
Vilejka liegt also in Weißrußland, heute Bielarus, an der Vilija, die über Vilnius in Kaunas
als Neris zum Njemen fließt, der damals deutsch Memel hieß, in Litauen aber Nemuras
heißt. Etwa hundert Kilometer ostwärts verläuft die Beresina, die wir aber nie zu
überschreiten brauchten; die Wehrmacht wurde auch ohnedies so dezimiert wie die Grande
Armée 1812, uns zwar aus demselben Grund wie ihn Victor Hugo in einem berühmten Vers
treffend zum Ausdruck gebracht hat: „Il neigeait. On était vaincu par sa conquête.“ Am 3.
Dezember 1812 war Napoleon in Molodetschno eingetroffen, am 5. verließ er in Smorgon
die Armee, um in Eile nach Paris zurückzukehren, das er bereits am 18. erreichte. Daß wir
die Spur des „Napeles“ gekreuzt hatten, wußte natürlich keiner von uns, und hätten wir es
gewußt, wäre es uns deswegen kaum wärmer geworden. Das es verflucht kalt war in dieser
Gegend, das spürte man; ein Thermometer hatten wir nicht, und so konnte man nur nach
Schätzung urteilen; ich denke, so zwischen –25 und –30 Grad werden es durchweg
gewesen sein. Zitat aus meinem Brief vom 14. Januar 1944: „Nun sind wir, entgegen allen
Hoffnungen, doch im Osten. Den genauen Ort darf ich Euch nicht sagen. Es ist ein kleines
Russisches Städtchen, dessen Nahmen Ihr noch nie gehört habt. Ihr braucht Euch aber
keine Sorgen zu machen. Von der Front sind wir noch weit weg, nur Partisanen scheint es
hier viele zu geben. Wir vier Kameraden sind wieder beieinander auf der Stube, so daß es
wieder klappen kann. Die Ausbildung soll insgesamt sechzehn Wochen dauern. Nach etwa
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fünf Wochen sollen wir auf Stützpunkte, um die Bahnlinie zu bewachen. … So ein
russisches Städtchen ist doch etwas komisches. Nichts als kleine niedrige Holzhäuser, und
dazwischen fährt alles auf Schlitten. Denn hier liegt fest Schnee und es ist jämmerlich
kalt.“ Wir waren in einer Schule einquartiert, die zwei Höfe hatte, einen großen dahinter
und einen kleinen vorne, beide von einem kleinen Bach durchflossen, der dick zugefroren
war. Im Hinterhof hatte man ein Loch durch die Eisdecke gebrochen, das man ständig offen
hielt, damit wir uns in der Frühe dort waschen konnte. Das war zwar nicht befohlen, aber
doch wegen der angeblichen Abhärtung so „warm“ empfohlen, daß man sich nicht dauernd
davon drücken konnte. An jener Stelle erreichte das Eis über dem Wasser eine Dicke von
etwa 20 cm.
Unsere Ausbildung ging also weiter. Sofern es sich um Exerzieren oder Schießen mit
Übungsmunition handelte, geschah das im großen Schulhof. Zum Geländedienst
marschierten wir auf die Straße Richtung Molodetschno über die Vilija-Brücke und schlugen
uns dann „seitwärts ins Gebüsch“. Es waren Übungen wie zuvor in Luschen, hinzu kamen
nun aber regelrechte Gefechtsübungen, wobei die einen entweder die anderen angreifen
oder deren Angriff abwehren mußten. Es wurden Übungshandgranaten geworfen, es wurde
mit Platzpatronen geschossen, die Sache war nicht ganz ungefährlich, aber passiert ist nie
etwas. Auch Nahkampf wurde geübt, mit aufgepflanztem Seitengewehr. Ausbilder in diesen
Dingen war der Unteroffizier Krause, einer von den Wenigen, deren Name mir im
Gedächtnis geblieben ist. Ein richtiger Narr, der in seiner Narrheit eine Reihe von
sogenannten Heldentaten vollbracht hatte. Er trug nicht nur E.K.I und II (Eisernes Kreuz
erster und zweiter Klasse), er war auch ausgezeichnet mit dem Infanterie-Sturmabzeichen
und der Nahkampfspange, sowie dem Verwundeten-Abzeichen in Gold. Außerdem trug er
am linken Oberarm das Abzeichen eines Panzerknackers, ein Stoffband mit einem
stilisierten Bild eines Panzerwagens. Oder waren es sogar zwei oder drei? Ich entsinne mich
mehr so recht. Jedenfalls der Krause ein Panzerknacker, das heißt, er hatte als
Einzelkämpfer mindestens einmal, wahrscheinlich aber mehrmals das Kunststück
fertiggebracht, direkt an den feindlichen Panzer heranzukommen und an dessen
Außenwand eine Haftladung zu befestigen, die sich durch die Panzerplatte
hindurchschweißt und in Innern Tod und Verderben verbreitet, worauf er sich selbst hatte
in Sicherheit bringen müssen. Dazu gehört nicht nur kaltes Blut und Verwegenheit, sondern
Tollkühnheit, also eine Art Narrheit, und eine gewaltige Dosis Glück, um selber
davonzukommen. Er war natürlich bei all diesen Streichen nicht unverwundet geblieben.
Einmal hatte es ihn ein Auge gekostet, ich weiß nicht mehr welches, das durch ein
Glasauge ersetzt war, wodurch seinem Blick eine auffallende Starre anhaftete, das rechte
Auge aber doppelt geschärft erschien. Gilbert Schmitt, unser alter Schulkamerad aus der
St. Anne Schule, der jetzt mit uns auf derselben Stube lag, und der den Lederstrumpf
gelesen hatte, nahm das zum Anlaß den Unteroffizier Krause Oeil-de-Faucon, Falkenauge,
zu taufen. Wir haben ihn von da an stets so genannt. Der Held selber aber vollführte mit
uns ein regelrechtes Kriegsspiel, in welchem er uns als „Kampfgruppe Krause“ manövrieren
liess.
Einmal hatte ich mit „Falkenauge“ ein besonderes persönliches Erlebnis. Er machte mit uns
im Hof hinter der Schule Zielübungen, wobei mit Platzpatronen geschossen wurde. Am
anderen Ende des Hofes stand die Zielscheibe. Einer nach dem anderen mußte sich flach
hinlegen, den linken Ellbogen auf den Boden gestützt und in der Haltung „liegendfreihändig“ fünf Schuß auf die Scheibe abgeben; nach jedem Schuß war zu melden wie weit
man durch den Kolbenrückstoß beim Abschuß vom Ziel abgekommen war: z. B. „6 hoch
links, 9 tief rechts abgekommen“. Waren die fünf Schuß aus dem Magazin abgefeuert,
erhob man sich, baute sich vor dem Unteroffizier auf und meldete zackig: Grenadier
Wacker, mit Platzpatronen fünf Schuß abgegeben. Worauf man den Befehl zum wegtreten
erhielt. Als ich nun an der Reihe war und den Ritus pflichtgetreu vollzogen hatte, sprang ich
auf, erstattete meine Meldung und erhielt den Befehl: „Kehrt! Marsch marsch!
Weggetreten! Ich machte eine zackige Kehrtwendung, glitt auf dem gefrorenen Boden aus,
fiel der Länge nach auf den Bauch und schmetterte mein Gewehr mit lautem Knall hin. Ich
sprang sofort auf, aber schon schrie mich der Krause an: „Liegen Sie noch nicht daneben?
Liegen Sie noch nicht daneben?!“ Schon lag ich wieder. Krause: „Streicheln Sie Ihr Gewehr!
Sagen Sie: liebes Gewehrchen, wenn ich Knallkopf auch hinfalle, dich werde ich nie
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wegschmeißen!“ Ich streichelte, und sprach ihm die Worte mit tiefer Zerknirschung nach.
Darauf Krause: „Auf! Zu den andern weggetreten marsch marsch!“ Ich sprang auf und trat
unter allgemeinem Gelächter zu den Kameraden. Der ganze Auftritt war so spaßig
gewesen, daß nicht nur ich selbst sondern sogar Oeil-de-Faucon ins Gelächter einstimmte.
Es ist das einzige Mal, da ich den Panzerknacker habe lachen sehen. Wenn er Glück gehabt
hat, könnte er noch jetzt am Leben sein, denn er war nicht viel älter als wir jungen
Rekruten.
Sonderbarerweise gab es in Vilejka auch das genaue Gegenstück zum Unteroffizier Krause,
nämlich den Unteroffizier Kruse. Vom ersteren vermute ich, daß er ein Ostpreuße war, vom
zweiten weiß ich bestimmt, daß er ein Schwabe war, und zwar stammte er aus
Freudenstadt oder Umgegend, wie er selber uns erzählte. Krause war ein abgefeimter
Schleifer, Kruse der gemütliche Schwabe, wie er unter den gegebenen Umständen nicht
hätte gemütlicher sein können. Krause wollte ein Held sein und wurde auch als solcher
anerkannt; Kruse machte sich aus dem Heldentum so wenig wie irgendeiner von uns
Fünfen. Krause war ein eingefleischter Nazi und glaubte an den Endsieg, Kruse wußte so
gut wie wir und machte uns gegenüber kein Hehl daraus, daß aus dieser Scheisse nicht
herauszukommen war. Dabei trugen diese zwei sowohl charakterlich als auch der Herkunft
nach so grundverschiedenen Männer denselben Namen, aber auch da wieder in
umgekehrter Weise: der aus dem Süden stammende Kruse in der niederdeutschen Form,
der im Norden beheimatete die mitteldeutsche Form Krause, beide identisch mit
oberdeutsch Kraus, das auch als Krauskopf vorkommt. Wobei keiner von beiden
gekräuseltes Haar hatte…
Keinen deutschen Namen hingegen trug unser Kompaniechef, der Hauptmann Samusch;
das klingt irgendwie balto-slawisch und könnte auf Samland, den nördlichen Teil
Ostpreußens mit Königsberg, hindeuten. Ein Ostpreuße war er in der Tat, der Herr
Hauptmann. Er war von gedrungener, breiter Gestalt, der etwas Schwerfälliges anhaftete,
auch sein Gang war dem eines aufgerichteten Bären nicht unähnlich, und seine Augen
durchzuckte oftmals ein boshaftes Flackern. Er war kein ausgekochter Schinder, aber wir
fürchteten ihn ohne eigentlich zu wissen weshalb, und so war er eben allgemein verhaßt.
Daß man ihm den notorischen Säufer ansah, war nicht dazu angetan, ihn sympathischer zu
machen.
Daß wir in Feindesland standen, brauchte man uns nicht erst zu sagen , das war ohne
weiteres klar. Von Ausgang konnte natürlich keine Rede mehr sein. Bis vor kurzem, so
wurde erzählt, durfte man zeitweise ausgehen, aber nur mit Gewehr und scharf geladen,
und nicht zur Stadt hinaus. Trotzdem hätten einige es unternommen, über die Vilija-Brücke
hinüberzugehen, dort seien sie spurlos verschwunden und nie mehr aufgetaucht. Wir
hatten aber auch gar kein verlangen nach Ausgang. Erstens wegen der Gefahr, der wir uns
aussetzten in einem Kaff, in dem es höchstwahrscheinlich noch weit weniger
Vergnügungsmöglichkeiten gab als in dem vergleichsweise lustigen Gumbinnen. Und
zweitens, weil wir unser bißchen Freizeit sehr zum Ruhen benötigten, „denn“, so schrieb ich
schon am 19. Januar, „die Freizeit nutze ich meistens aus zum Schlafen, weil wir viel
Posten stehen müssen, so ungefähr jede zweite Nacht, manchmal auch mehrere Nächte
hintereinander. Das ist aber weiter nicht schlimm, es gehört eben dazu.“ Diese Bemerkung
sollte die Eltern beruhigen, wird wohl aber bei der Feldpostprüfstelle die den Brief am 26.
öffnete, einen günstigen Eindruck gemacht haben.
Ja, das Wachestehen in Vilejka! Das war wohl das Schlimmste während der ganzen
Ausbildungszeit. Ich glaube zwar nachträglich nicht, daß ich mich jemals in akuter Gefahr
befunden habe, aber ein mulmiges Gefühl empfand ich doch die ganze Zeit. Am
schlimmsten aber war die Kälte, trotz unserer wirklich vortrefflichen Ausrüstung. Die
gewöhnliche Bekleidung bestand aus warmer Unterwäsche und Socken, Tuchhose,
Tuchrocks, Tuchmantel, Lederschuhen mit Gamaschen aus Leinwand, Schirmmütze oder
Stahlhelm. Ging man auf Posten, kam über den Tuchmantel ein dicker stoffgefütterter
Wachmantel, über die Schuhe ein paar Wachstiefel mit drei Zentimeter dicken Sohlen aus
Buchenholz, über den Kopf ein wollener Schoner, der nur Augen und Nase freiließ,
obendrauf der Helm. Über die Schulter gehängt, die Knarre, scharf geladen, in den
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Patronentaschen sechzig Schuß Munition und, wenn Alarm angesagt war, im Koppel eine
Stielhandgranate. Dazu um den Hals gehängt eine Taschenlampe mit Klappe zum
Abblenden. Wieviel das ganze Gelumpe wog, wußten wir vielleicht damals, heute kann ich
nur noch sagen, daß es sehr schwer war. Damit nachts im Postenbereich zweimal zwei
Stunden hundert Meter hin und hergehen, dann stehen bleiben während der Kamerad
denselben Gang machte, und so abwechselnd bis die Ablösung kam, das war ein
himmlisches Vergnügen. Der einfache Posten bestand immer aus zwei Mann; war Alarm
gemeldet, weil die Partisanen angeblich etwas im Schilde führten, dann wurden die Posten
verdoppelt. Das war im Schnitt dreimal auf fünf der Fall. Nun lagen wir in unserer Schule
fünfzig Mann beisammen. Der Rest der Kompanie war auf die sogenannten Stützpunkte am
Bahndamm verteilt. Wir fünfzig hatten drei Postenbereiche zu bewachen: unsere
Unterkunft, nahe dabei die Schreibstube, weiter weg im Städtchen drin das Wohnhaus des
Hauptmanns. Dort bin ich nie Posten gestanden, meistens bei der Schreibstube, ein- oder
zweimal bei der Unterkunft. Abends um halb sechs wurde die Wache vergattert, das heißt
auf der Wachstube versammelt, die man nur verlassen durfte, um auf Posten zu gehen
oder zum Pinkeln. Man stand zwei Stunden Posten und hatte dann vier Stunden zum
Schlafen oder Ruhen auf der Wachstube; dann ging man zum zweitenmal für zwei Stunden
hinaus. Der ganze Spaß dauerte von abends sechs bis sechs Uhr morgens. Demnach
wurden für jeden Postenbereich normalerweise sechs Mann benötigt, die sich alle zwei
Stunden zwei und zwei ablösten. Das ergab für die drei Postenbereiche achtzehn Mann. Bei
Alarm wurde diese Zahl verdoppelt, so daß von fünfzig Mann sechsunddreißig Wache
schoben; so daß wir alle mehr auf Posten standen als wir in unseren Stuben in unseren
Betten lagen.
Einmal wurde ich mit einigen andern und einem Unteroffizier für 24 Stunden
abkommandiert zur Wache beim Elektrizitätswerk, das am Rand der Stadt lag. Das war ein
großes eingezäuntes Gelände, etwa ein Quadrat von vielleicht 200 M Seitenlänge. Der Zaun
mußte Tag und Nacht abgeschritten werden. Ein Posten stand an einer Ecke, der andere
ging zur nächsten Ecke, dann zog der erste zum zweiten der weiter ging zur nächsten Ecke,
usw. Ich glaube, es waren da ständig sechs Mann unterwegs. Die Zeit zwischen den
Runden verbrachte man auf einer eigenen Wachstube beim Werk. Jene Nacht in der
Einsamkeit dieses öden und trotzdem unübersichtlichen Geländes war die unheimlichste,
die ich auf wache verbracht habe.
Im Postenbereich bei der Schreibstube hatte ich zwei nächtliche Erlebnisse, die ich nie
vergessen werde. Welches von ihnen das erste war und welches das andere, weiss ich nicht
mehr, ist auch „scheiss egal“, wie man damals sagte. Es geschah jedesmal zwischen
Mitternacht und zwei Uhr; für diese Zeit meldete ich mich immer mit Vorliebe, die erste
Runde von 6 bis 8, dann von 12 bis 2, nachher hatte man noch vier Stunden Zeit zum
Schlafen. Die Schreibstube lag vielleicht 100 M von unserer Unterkunft an einer Ecke der
Straße, die in die Stadt hineinführte. Sie war in einem jener niedrigen, einstöckigen
Holzhäusern untergebracht, aus denen mit einigen Ausnahmen ganz Vilejka bestand. In
beiden Fällen war kein Alarm gegeben, so daß wir also nur zu Zweien Posten standen. Einer
blieb immer bei der Ecke stehen, von wo er in den vorderen Schulhof blicken konnte und
irgendwie auch mit dem dortigen Posten Sichtkontakt hatte, während der andere von
dieser Ecke aus so fünfzig bis hundert Meter vor der Schreibstube hin und her pendelte,
worauf dann abgewechselt wurde. Eines nachts nun, da alles ruhig verlaufen war und ich
mich schon auf die baldige Ablösung freute, im Augenblick da ich im Begriff stand, zu
meinem Kameraden an der Ecke zurückzukehren, sehe ich in etwa 100 Meter Entfernung
einen Schatten im Dämmerlicht von Mond oder Sternen (Straßenbeleuchtung gab es ja
nicht), die Straße in einem spitzen Winkel überqueren. Der Gestalt und der wackligen
Gangart nach war ich mir sofort im klaren: das ist der Alte. Er kam aus der Richtung, wo
das Offizierskasino lag, und daß er mit unsicheren Schritten daher wankte, hatte seine
Ursache nicht nur in der Glätte der festgefrorenen Schneedecke. Sofort stellte ich mich in
den Schatten des Zauns, der hier unseren hinteren Schulhof begrenzte, und nahm mein
Gewehr von der Schulter. Als die Gestalt nahe genug herbeigekommen war, rief ich sie
vorschriftsgemäß an: „Halt! Wer da?“ Keine Antwort, der Mann ging weiter auf mich zu. Ich
entsicherte mein Gewehr und rief zum zweitenmal: „Halt! Parole!“ Der schwieg und ging
unbeirrt weiter. Ich legte die Knarre an und rief zum dritten Mal, diesmal mit dem Finger
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am Abzug: „Halt! Parole!“ Die Parole kam als er kaum mehr als zehn Schritte vor mir
angekommen war. Das Wort habe ich vergessen, aber er sagte es im letzten Augenblick.
Wäre er noch drei Schritte weitergegangen, hätte ich mit Sicherheit gefeuert. Getroffen
hätte ich ihn vielleicht nicht, wegen der Aufregung; vielleicht aber doch, per Zufall. In
beiden Fällen hätte ich mir die größten Scherereien zugezogen. Ich atmete auf, als er das
Losungswort sagte, schulterte mein Gewehr und erstattete die vorgeschriebene Meldung:
„Grenadier Wacker, Wache bei Schreibstube. Auf Posten nichts Neues“. „Weitermachen!“
knurrte der Alte, und wankte in die Schreibstube hinein, wo noch ein fahles Licht durch ein
Fensterscheibe schien. Ob er dort übernachtete oder nachträglich in sein eigenes Logis
ging, weiß ich nicht. Kurz darauf kam die Ablösung. Ich ging mit meinem Kameraden ohne
viele Worte auf die Wachstube zurück, legte mich hin und war so abgespannt, daß ich
sofort einschlief. Anderntags, als ich die Geschichte den Andern erzählte, war die Reaktion
allgemein: „Mensch, hättsch ne doch umgelajt!“ Wir waren uns aber bald einig, daß es so
besser war.
Ein andermal, es mochte gegen ein Uhr in der Frühe sein, stand ich bei der Schreibstube an
der Ecke, während mein Kumpel auf- und abpatrouillierte. Als der sich eben bis zum
äußersten Punkt von mir entfernt hatte, tauchte in der entgegengesetzten Richtung aus
dem Schatten eines Straßenbaumes eine kleine dunkle Gestalt auf, keine hundert Schritte
von mir weg. Ich riß sofort meine Flinte an die Wange, und entsicherte: „Halt! Wer da?“
Keine Antwort und die Gestalt schritt weiter. „Halt! Parole!“ Sie schien es nicht zu hören
und gab auch auf den sofort erfolgten dritten Anruf keine Losung. Nun hätte ich schießen
sollen, brachte es aber nicht über mich. Die Gestalt war nämlich so nahe herangekommen,
dass ich sie als Frau erkannte. Sie trug einen schwarzgrauen Wollmantel, eine ebensolche
Wollmütze, und nur die Stiefel schienen pelzgefüttert. Sie kam ohne zögern auf mich zu
und blieb erst stehen, als mein Gewehrlauf ihre Brust berührte. Ich weiß nicht, und wußte
auch im Augenblick nicht, was ich hätte tun sollen. In meiner Hilflosigkeit fuhr ich sie nur
an: „Ausweis!“ Wir wußten, daß es Leute gab die bei der Wehrmacht angestellt waren und
mit ihren Ausweisen auch nachts unterwegs sein konnten, während für die übrige
Zivilbevölkerung nächtliche Ausgangssperre verfügt war. Ich ließ meine Taschenlampe
aufleuchten und sah, daß meine Panjenka ein blutjunges und sogar hübsches Geschöpf
war. Ich hatte mein Gewehr etwas zurückgezogen, hielt es aber doch schußbereit, denn es
war kein angenehmes Gefühl als sie einen Knopf ihres Mantels löste und mit der Hand
hineinfuhr. Es hätte ja eine Waffe sein können, die sie dort stecken hatte. Sie jedoch zog in
aller Seelenruhe ein zerknittertes Papier hervor, auf dem ich nur den „Spatz“ erkannte! So
nannten wir Elsässer den Adler auf dem amtlichen Stempel der Nazizeit. Ich schaute mir
das Papier, das sowieso schmutzig und abgegriffen war, nicht näher an und sagte zu dem
Mädchen nur: „Hau ab!“ Worauf sie die Straße überquerte und in einer Seitengasse
verschwand. Mein Kumpel hatte sich an den Zaun gestellt und mit entsichertem Gewehr
eingriffsbereit zugeschaut. Als er dann zu mir herkam meinte er: „Du hättest sie nicht
sollen laufen lassen!“ „Warum?“ erwiderte ich, „wolltest du sie mit dir auf die Stube
nehmen?“ Er schwieg und ich auch. Vorschriftsmäßig hätte ich sie vielleicht zur Kontrolle
auf die Wachstube führen müssen, dabei wäre aber nichts herausgekommen als
Mißhelligkeiten für alle. An sonstige Erlebnisse beim Wachestehen in Vilejka, falls es welche
gab, erinnere ich mich nicht.
Am 13. Januar waren wir in Vilejka eingetroffen. Wir waren nun keine Füsiliere mehr
sondern Grenadiere, die zur 1. Kompanie des Infanterie Reservebataillons 311 gehörten.
Bereits am 19. Schrieb ich nach Hause: „Es ist wieder ein Gerücht im Gang, daß wir weiter
kommen, wohin, weiß niemand. Warten wir es eben ab“.
Zunächst gab es bei der Kompanie noch ein Fest zu feiern, nämlich die Verabschiedung der
R.O.B. (Reserve-Offiziers-Bewerber). Es befanden sich nämlich mehrere von diesen bei der
Kompanie aber wir hatten sie noch nie zu Gesicht bekommen, denn sie lagen draußen an
den Stützpunkten auf der Bahnlinie, wo die Partisanen dauernd ihr Allotria trieben. Nun war
ihr Einsatz hier beendet und sie sollten zur Front abgestellt werden. Zuvor aber gewährte
man ihnen Heimaturlaub, den sie von hier aus antraten. Zum Abschied gab es ein Fest, das
nicht in unserer Schule, sondern irgendwo in der Stadt, ich weiß nicht mehr ob beim Haus
des Hauptmanns Samusch oder sonstwo. Ich erinnere auch, daß bei weitem nicht alle
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Kameraden dabei waren, und bin mir noch nicht einmal sicher, ob wir fünf Elsässer alle
daran teilnahmen. Ich weiß nur, daß ich spät, es war schon Nacht, mit Gilbert Schmitt in
die Unterkunft zurückging. Bei solcherlei Festen floß natürlich der Alkohol becherweise. In
diesem Fall war es der Polnische Samagonka, von uns kurz Samagon genannt. Ich finde
das Wort leider in keinem von meinen Wörterbüchern. Wenn ich mich gut erinnere, hat mir
mein ehemaliger angeheirateter polnischer Onkel Adam Wiszniewski in Dürrenbach einmal
erklärt, Samagonka sei Kartoffelschnaps, und zwar von der übelsten Sorte. Wir haben
immer gemeint, es sei Kornschnaps wie Vodka oder Aquavit; im übrigen war es uns auch
Scheiß egal: Dienst ist Dienst und Schnaps ist Schnaps. Es gab ein Lied, besser: einen
kurzen Vers, den wir damals öfters einstimmten:
Wir sind stur, wie seid ihr?
Seid ihr auch so stur, wie wir?
Wenn wir auf Wache ziehn?
Ab und zu gibt es Schnaps
Und dann haben wir einen Klaps
Wenn wir auf Wache ziehn.
Das war nicht Humor, das war von jenem Galgenhumor von dem die Gemüter der
Kämpfenden oder zum Kampf sich bereitenden Truppe sich nährten. Schon als wir von W….
gegen M… fuhren, ging die Parole durch den Zug (wo immer sie auch herkam): Kameraden,
jetzt kommt’s auf einen Meter nicht mehr an! Und später, wenn von einem Gefallenen die
Rede war, hieß es oft nur, der oder jener habe „einen kalten Arsch gekriegt“. Und als wir
uns einmal über die Kälte beklagten, fuhr uns Kampfgruppenführer Krause an: „Was, kalt!
Das ist ja noch gar nichts! So lange die Scheiße nicht im Arsch gefriert ist es doch nicht
kalt!“ Eines aber an dem zitierten Vers stimmt nicht. Bevor man auf Wache zog, gab es nie
Alkohol, denn da mußte man klar bei Sinnen sein. Zu saufen gab es nur dann, wenn man
keine Gefahr dabei lief, in rückwärtigen Stellungen, z. B. wenn man beim Troß in Ruhe lag,
oder bei einem bedeutenden Stellungswechsel, wie damals als wir von der Narvafront nach
Dünaburg verlegt wurden. Auf der nächtlichen Fahrt im Zug, bekam da jeder eine Flasche
Wein und auf drei oder vier Mann kam eine Flasche Sekt. Das war so bei allen Armeen, in
Frankreich hat der „gros rouge“ denselben Effekt.
Doch zurück zu unserer R.O.B. Abschiedsfeier. Wir Elsässer hatten uns schnell mit einem
von diesen „Offizierslehrlingen“ angefreundet. Es war ein Schwabe, auch nicht viel älter als
wir, mit dem uns der andere Schwabe von der Kompanie, der Unteroffizier Kruse bekannt
machte. Kruse gab uns auch gleich zu wissen mit wem wir es zu tun hatten, nämlich mit
einem Neffen des Generalfeldmarschalls Erwin Rommel, der damals bekannt war als Chef
des Afrikakorps, das nach glänzenden Erfolgen 1942/43 von Montgomery bei El Alamein in
Lybien, danach in Tunesien geschlagen worden war. Wenn mich mein Gedächtnis nicht
täuscht, hieß der R.O.B. Rommel mit Vorname Fritz. Dieser nun erbot sich im Laufe unseres
Gesprächs, Briefe mit nach Deutschland zu nehmen, um sie dort auf die Post zu geben, um
so die militärische Zensur zu umgehen. Natürlich nahmen wir das Angebot mit Freude an,
und übergaben ihm unsere Briefe samt Geld für das Porto. Er hat getreulich Wort gehalten:
der Brief an meine Eltern, datiert vom 26. Januar, ist am 30. in Leipzig abgestempelt und
noch heute vorhanden.
Die Unerhörtheit dieser Tat wurde mir erst später bewußt: ein Offiziersanwärter der so
einen „Beschiß “ nicht nur beging, sondern bei andern provozierte, verstieß doch eigen
gegen die H.D.V. (Heeresdienstvorschrift) oder geradezu gegen seinen Fahneneid! Rommel
mußte das wissen und tat es dennoch. War er auch, wie sein Onkel, am Widerstand
beteiligt? Ich hätte ihm gerne nachträglich noch einmal gedankt und trug mich lange mit
der Absicht, an den Oberbürgermeister von Stuttgart, Manfred Rommel zu schreiben, der ja
sein Vetter war. Leider habe ich mich nie dazu zu entschließen gewußt, so daß mir sein
Ferneres Schicksal unbekannt blieb. Wie gesagt, bei dieser Abschiedsfeier wurde am
Samagon nicht gespart: alle „fraternisierten“. Einer unsere Oberfeldwebel (dessen Name
mir entfallen ist), der auch im Dienst beim Schinder war, nahm mich und meinen Freund
Gilbert immer wieder um den Hals, klopfte uns auf die Schultern und rief begeistert: „Ha!
Meine Elsässer! Die besten Soldaten!“. Wie lange das Fest gedauert hat, weiß ich nicht
mehr. Ich erinnere mich nur, daß wir beide, Gilbert und ich, Arm in Arm bei Nacht zu
unserer Unterkunft wankten. Da fiel mir plötzlich ein daß ja jetzt schon der Posten vor der
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Tür stand. Also mußten wir, wenn er uns anrief, das Losungswort sagen. Ich blieb stehen,
Gilbert auch. „Schilles“, sagte ich. Er: „Üsches“. Ich: „Weisch dü noch d’Parole?“ Er:
„Weisch dü noch d’Parole?“ Ich: „Ää“. Er: „Ää“. Wir guckten uns gegenseitig verzweifelt an,
sagten kein Wort mehr und torkelten weiter. Schon waren wir in Sicht ser Schule, da ging
mir ein Licht auf. – „Schilles!“ – „Üsches!“ – „Ich hab’s!“ – „Was hesch?“ – „A d’Parole!“ –
„Sa m’r se!“ – „Orleangs!“ – „A nadierli! Orleangs“. Wie jeden Morgen, war auch heute die
Parole, die jeden Tag wechselte, ausgegeben worden: Orléans. Der Spieß, der sie bekannt
gab, hatte das französische Wort in gut deutscher Aussprache hervorgebracht, sehr zur
Belustigung der Elsässer. Wir beide fühlten uns „sauviert“, gingen nun stracks auf den
Posten zu und schrien, ohne den Anruf zu erwarten, schon von weitem: „Orleangs!
Orleangs!“ – „Arschlöscher! Haltet die Schnauze und macht, daß ihr reinkommt!“ Wir
beeilten uns an ihm vorbeizukommen, wäre es doch nicht zum Verwundern gewesen, wenn
er uns durch einen Kolbenstoß nachgeholfen hätte.
Wenig später bin ich knapp um die zweifelhafte Ehre gekommen, selber ein R.O.B. zu
werden. Am 31. Januar schrieb ich nach Hause: „Das Neueste ist daß ich Offiziersbewerber
werden sollte. Aber ich habe Schwein gehabt und wurde nicht dazu genommen,
wahrscheinlich wegen den Augen, Paul und René haben leider Pech gehabt und wurden
behalten. Die müssen jetzt noch mehr Ausbildung mitmachen als wir und kommen später
auf eine Schule“. Eines Tages mußten eine gewisse Anzahl von der Belegschaft unserer
Schule sich in einer Stube versammeln, wo man uns eröffnete, das wir dazu ausersehen
seien, einen R.O.B.-Lehrgang mitzumachen. Dafür sollten wir uns einer kleinen Prüfung
unterziehen. Dazu gehörte unter anderem, einen Aufsatz über das Leben des „Führers“ zu
schreiben. In der schule hatten wir davon so viel mitgekriegt, daß ich das hätte ohne
weiteres bewerkstelligen können. Ich stellte mich aber dumm und brachte nur einen kurzen
Text zu Papier, der dazu noch mit verschiedenen Fehlern und ….nigkeiten durchsetzt war.
Warum ich ausgeschieden wurde, weiß ich nicht. Vielleicht doch wegen den Augen, denn
Paul und René schrieben weniger gut deutsch als ich und hatten über den „Führer“ auch
allerhand Unsinn verzapft, wurden aber trotzdem angenommen, während Gilbert Schmitt,
der viel kurzsichtiger war als ich, bei diesem Rennen auch auf der Strecke blieb. Wir waren
beide nachher überzeugt, daß wir große Glück gehabt haben. Zwar wären wir später an die
Front gekommen, wären aber dafür, wie die beiden andern, in Ostpreußen in das große
De… hineingeraten, dem der René entkommen ist, der Paul aber nicht.
Auf der Postkarte, mit der ich diese Meldung nach Hause sandte, fuhr ich fort: „In den
nächsten tagen werden wir abreisen; es scheint mir sicher zu sein, daß wir nach
Ostpreußen zurückkehren, und zwar nach Mielan, an der Strecke zwischen Allenstein und
Warschau. Gott sei Dank daß wir aus dieser Elendsgegend herauskommen, denn hier
gefällt es mir ganz und gar nicht. Post habe ich noch immer keine, obwohl wir bald drei
Wochen hier sind. Es ist zum Verzweifeln. Hoffentlich bleiben wir am nächsten Standort bis
zum Ende der Ausbildung, denn so hat man nie festen Wohnsitz und reist in der Welt
herum wie Zigeuner. Und denen gleichen wir auch. Morgen sind es vier Wochen daß ich
mein Hemd anhabe. Aber Läuse habe ich doch noch keine, Gott sei Dank.“ Ich hatte keine
Läuse und habe auch später nie welche gehabt. Vielleicht mochten sie mich nicht! Von
andern indessen konnte man sagen, die Läuse hatten sie. So stand ich, noch in Vilejka,
eines Tages in der Schlange für den Essenempfang. Plötzlich stellte ich fest, daß bei
meinem Vordermann die Läuse bataillonsweise aus dem Kragen heraus marschierten. Mir
verging zwar nicht der Appetit, aber den Hunger konnte ich noch um zehn Minuten
zurückstellen: ich trat aus der reihe und schloß mich hinten an. Als wir dann später an der
Narvafront im Stellungskrieg eingesetzt waren, gab es jede Woche frische, imprägnierte
Wäsche, und ich habe von Läusen nie mehr etwas gesehen noch gehört. Was nicht hinderte
daß ich bei jeder Aufnahme in ein Lazarett, Riga, Wolmar (Valmiera), Bad Pyrmont, mich
entlausen lassen mußte.
Zwei Tage nach der oben erwähnten Postkarte, am 2. Februar 1944, konnte ich meinen
Eltern mitteilen, daß ich endlich, nach drei Wochen, die erste Post erhalten hatte. Weiterhin
hieß es: „… übermorgen soll es los gehen. Es steht nun fest daß wir nach Mielan kommen in
Südostpreußen, d. h. in jenem Gebiet, daß früher zu Polen gehörte. Wenn Papa gemeint
hat, daß wir hier bleiben werden, bis keine anderen mehr vor uns sind, dann hat er sich
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glücklicherweise geirrt. Allerdings glaubten wir das selbst erst auch. Aber nun werden wir
doch noch früh genug zurückkommen. Das ist auch nicht mehr als richtig, denn wir können
ja noch gar nichts und brauchen noch sechs bis acht Wochen Ausbildung“. Und da ich
nichts anderes wußte, habe ich noch einmal gemeldet: „Das Neueste ist, daß Paul und
René zu Offiziersbewerbern genommen wurden. Die haben eine Freude, das könnt Ihr Euch
denken! Ich war auch dazu vorgesehen, aber meine Augen haben mich gerettet.
Brillenträger wollen sie keine. Desto besser für mich! Stellt Ihr Euch vor was ich für einen
Offizier gegeben hätte? Dazu noch in einem preußischen Regiment. Wenn sich Gelegenheit
bietet werde ich mich zu den leichten Infanteriegeschützen versetzen lassen. Das ist doch
noch besser als Gewehrschütze und im Schießen bin ich ja sowieso keine große Kanone.
Heute morgen schoß ich auf 200m liegend, freihändig in fünf Schuß 30 … , eine 4, eine 6,
eine 11, einen daneben und eine 9. Es waren alles Zufallstreffer, denn das Ziel selbst sah
ich fast gar nicht.“ Dies ist, bis auf einen ganz kurzen von der Narvafront, der letzte von
meinen Briefen, die sich bis heute erhalten haben. In meinem dreieinhalbmonatigen
Aufenthalt in Estland habe ich doch wohl durchschnittlich zweimal in der Woche nach Hause
geschrieben, so daß immerhin etwa fünfzehn Briefe von dort abgingen. Vielleicht sind nicht
alle angekommen; daß aber nur ein einziger davon übriggeblieben ist, kann ich nicht
verstehen. In meiner weiteren Erzählung werde ich mich also nur noch auf mein Gedächtnis
stützen müssen, und das führt nicht sehr weit.
Anfang Februar 1944 wurde also unsere 1. Kompanie vom Reserve-Infanterie-Bataillon 311
in Vilejka in Güterwagen verladen, und los gings über Molodetschno nach Lida, Bialystock,
Warschau. Ob wir Bialystock über Grodno oder über Wolkowysk erreichten weiß ich nicht
mehr. Die Strecke von Lida nach Grodno war jedenfalls berüchtigt als diejenige, wo die
Partisanen die meisten Anschläge auf Militärtransporte verübten. Wir sahen in der Tat
hüben und drüben vom Bahnkörper zertrümmerte und ausgebrannte Waggons in großer
Zahl am Boden liegen. Unsere Lokomotive schob jedenfalls einen oder zwei flache Waggons
vor sich her, für den Fall, daß eine Miene hochgehen sollte. Wir hatten aber Glück: es
geschah nichts. Wegen der langsamen Fahrt brauchten wir immerhin zwei Tage bis wir
Praga, die Warschauer Vorstadt auf dem rechten Weichselufer erreichten. In unserem
Güterwagen reisten wir ziemlich bequem auf einer dicken Strohschicht liegend. Geheizt
wurde mit Holz in einem Gußofen, auf dem man auch Brot rösten oder im
Kochgeschirrdeckel seine Pellkartoffeln braten konnte. Im Bahnhof Praga blieben wir
längere Zeit halten, bevor es weiter ging nach Modlin, der alten russischen Festung an der
Einmündung des Bug in die Weichsel. Modlin steht auf neueren Karten unter dem Namen
Nowy Dwór. Dort erwartete uns eine bittere Überraschung: wir mußten Abschied nehmen
von unserem guten Freund Schwarz Marcel, mit dem wir seit dem 29. November ständig
beisammen gewesen waren. Er mußte mit Sack und Pack aussteigen und kam in Modlin zu
einer anderen Einheit, wenn ich nicht irre zur Festungsartillerie. Er hat den Krieg
überstanden und hat sein ganzes Berufsleben als Concierge (Hausmeister) in der großen
Schule bei der Rheinbrücke verbracht. Leider haben wir uns dann nur noch ein- oder
zweimal gesehen.
Wir Übrigen fuhren noch ein Stück weiter bis Mielau (Mtawa), wo wir ausgeladen wurden
und etwa 20-30 Kilometer in Richtung Praschnitz (Przanisz) marschierten, an der Spitze
der Kolonne Hauptmann Samusch hoch zu Roß. Danach habe ich ihn nie mehr gesehen. So
erreichten wir das Barackenlager, in dem das Regiment Mielau 2 (zwo auszusprechen!)
untergebracht war. Wir hatten zwar den Marsch in zwei Etappen durchgeführt, da wir ja für
längere Fußtouren mit Gepäck nicht trainiert waren, und hatten unterwegs in
irgendwelchen Baracken, Scheunen oder Ställen übernachtet. Trotzdem waren wir bei der
Ankunft im Lager sehr ermüdet, trotzdem wurde nachdem wir provisorisch in Baracken
untergebracht waren, sofort Stiefel-, Kleider- und Gewehrreinigen befohlen. In diesem
Zusammenhang traf ich ein letztes Mal mit Panzerknacker Krause zusammen. Ich ging mit
meinen Stiefeln in der Linken, Hauschuhen an den Füßen, ohne Waffenrock und
Kopfbedeckung, mit vorgebundener blauer Schürze, hinaus um hinter der Baracke die
Stiefel zu bürsten und einzuschmieren. Als ich eben um die Ecke ging, kam aus der
gegenüberliegenden Baracke die drei Stufen herunter unser alter Freund Oeil-de-Faucon
geschritten. Vor Überraschung und auch wegen mangelnder Gewohnheit vergaß ich, daß
man sofern man ohne Kopfbedeckung ist, einen Vorgesetzten lediglich mit Kopfwendung
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begrüßt. So fuhr denn meine rechte Hand automatisch…an die Stirn. Es muß ein
großartiges Bild gewesen sein, nur schade, daß kein Photograph dabei war, der mich in
dieser höchst soldatischen Haltung verewigt hätte. Krause fand es nicht einfach komisch,
mußte nicht lachen sondern feixte mich nur an und winkte mir, ihm auf die
Unteroffizierstube zu folgen. Dort meinte er: „Sie haben wohl noch nicht einmal gelernt wie
man ordentlich grüßt? Na ja, wenn Sie schon beim Stiefelreinigen sind, dann nehmen Sie
mal diese da auch gleich mit und bringen sie mir pico bello wider. Los, marsch, marsch!“
So nahm ich dann das dort stehende Stiefelpaar in die rechte Hand, ging hinaus und putzte
zwei Paar statt des einen. Als ich sie nachher ablieferte, war kein Mensch auf der Stube; ich
stellte die Knobelbecher hin und verschwand. Den Unteroffizier Krause habe ich dann nie
mehr wiedergesehen.
Überhaupt gab es jetzt eine große Umwälzung. In meiner Erinnerung freilich ist nichts
mehr so recht deutlich. So kann ich z. B. nicht mehr mit Sicherheit sagen, ob die beiden
frischgebackenen R.O.B.s Paul und René überhaupt mit uns nach Mielau kamen oder ob sie
nicht mit ihren neuen Genossen gleich von Vilejka anderswohin abkommandiert wurden.
Ich weiß auch nicht mehr, ob ich irgend etwas unternommen habe, um mich, wie ich in
meinem Brief an die Eltern geäußert hatte, „zu den leichten Infanterie-Geschützen
versetzen zu lassen“. Tatsache ist, daß ich genau dort gelandet bin, und zwar zugleich mit
Gilbert Schmitt. Ob wir das auch wieder unserer Eigenschaft als Brillenträger zu verdanken
hatten? Wir befanden uns also beim Regiment Mielau 2 (zwo, wie gesagt), dessen
Ersatztruppenteil, das Grenadier- Ersatz u. Ausbildungsbataillon 494 an einem Ort lag,
dessen Namen ich in meinem Soldbuch nicht entziffern kann. Wenn meine Lesart stimmen
sollte, dann wäre es Zagaré in Litauen, nördlich Siauliai (Schaulen) an der lettischen
Grenze. Wir wurden beide der 12. Kompanie zugeteilt und kamen so an die Granatwerfer.
Die jeweils 4. Kompanie jedes Bataillons eines Infanterieregiments war nämlich mit den
schweren Infanteriewaffen ausgerüstet, als da sind S.M.G. (schwere Maschinengewehre,
auf Lafette), MgraW (mittlere Granatwerfer, Kaliber 8 cm) und leichte InfanterieGeschütze, auch Feldgeschütze genannt, Kaliber 7,7 cm, wenn ich mich nicht irre).
Mit uns auf der Stube lag noch ein Elsässer, ein Ersteiner, dessen Namen ich vergessen
habe. Wir drei waren die einzigen Elsässer der Kompanie. Zu unserer Freude war auch der
Unteroffizier Kruse dabei. Kompanie-Chef war der Oberleutnant Gottfried Bürger. Jemand,
wohl ein Feldwebel oder so ähnlich, hat uns einmal darauf aufmerksam gemacht daß er
genau denselben Namen samt Vornamen trug wie der Dichter der „Lenore“ und des „Lied
vom braven Mann“, ein Zeitgenosse Goethes. Tatsächlich hatte der Oberleutnant mehr das
Aussehen eines stillen Gelehrten als eines soldatischen Draufgängers; im Umgang mit ihm
merkte man jedenfalls, daß er ein gebildeter Mensch war, und wohl sicher kein überzeugter
Nazi.
Nun begann der letzte Abschnitt unserer Ausbildung, der auch der längste sein sollte: fünf
Wochen in Gumbinnen, drei Wochen in Vilejka und, wie sich später herausstellte sechs
Wochen in Mielau-Praschnitz. Das waren insgesamt vierzehn Wochen, also keine sechzehn,
wie in Vilejka einmal, inoffiziell allerdings, verlautet. Die Verluste im Osten waren damals
so groß, daß der Ersatz auf dem schnellsten Weg ausgebildet werden und zum Einsatz
kommen mußte. Wenn ich es mir nachträglich überlege, war diese Periode auch die
eintönigste und folglich langweiligste von allen dreien. Ich stelle nämlich fest, daß ich
darüber nur wenig zu erzählen weiß, und daß ich mich nicht mehr auf meine Briefe stützen
kann, ist nicht der einzige Grund dafür. Von meinen Erlebnissen habe ich sehr wenig nach
Hause berichtet, um die Familie nicht zu beunruhigen. So wußten sie z. B. daß wir in
Vilejka viel Posten stehen mußten, was sich dort zutrug, habe ich nie in meinen Briefen
erzählt; dazu hatte ich sowieso keine Zeit. Es war da die rede von Qualität und Quantität
des Essens, daß man nur Päckchen oder Esswaren-Marken schicken sollte, womit man in
Gumbinnen etwas einkaufen konnte, usw. Auch von der Sehnsucht nach Urlaub war immer
wieder die rede, von Einzelheiten aus dem Dienst nur sehr wenig, dafür aber Klagen über
die ausbleibende Post.
Hier auf dem Truppenübungsplatz Mielau, dessen Lager bei Praschnitz nur aus Baracken
bestand, brauchen wir nicht mehr Posten stehen. Das besorgte wohl eine eigens dafür
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zuständige Wachkompanie, wenn nicht ein Wachbataillon. Denn irgendwie mußte ja das
Ganze, wie selbst in Friedenszeiten jede Kaserne, behütet werden. Die Partisanentätigkeit
scheint hier gering gewesen zu sein; jedenfalls habe ich nie etwas davon bemerkt. Und
eine Zivilbevölkerung, die man im Auge behalten mußte, gab es ja hier nicht. Somit
verbrachten wir unsere Karg bemessene Freizeit wohl zumeist auf den Betten liegend in
Ruhestellung, denn der Dienst war sehr ermüdend.
Die Ausbildung am Granatwerfer fand ich damals interessant. Mit den Kenntnissen, die ich
dabei erworben habe, konnte ich noch im Sommer 1950, als ich in St Avold zum Peloton
d’Elèves Gradés eingezogen war, Eindruck schinden. Es gibt noch Photos davon, wie ich im
Gebäude Hollerloch am kleinen 6cm-Werfer kniend mit Übungsgranaten drei Schuß abgab.
Die geflügelten Schwänze von zwei solchen Granaten, die nur mit Beton und wenig
Sprengstoff gefüllt waren, hatte ich jahrelang als Souvenirs auf einem Bücherregal stehen,
bis sie mir lästig wurden und ich sie fortwarf.
Es ist ohne Zeichnung nicht einfach, zu beschreiben, wie mit diesem Geschütz umgegangen
wurde. Es gab in unserer Kompanie eine Gruppe von vier MgraW, das heißt, mittlerer
Granatwerfer, Kaliber 8cm. Daneben kannte man auch den leichten 5cm LGraW und den
schweren 12cm SgraW. Ersterer kommt in vorderster Stellung, im Graben oder
Gefechtsstand, zur Verwendung, der Schwere erfordert Zugmaschinen für den Transport
und eine tief eingegrabene Gefechtsstellung. Unweit vom Bahnhof Vaivara lag eine Gruppe
12cm-Werfer in einer Art Höhle, die als Kiesgrube bezeichnet wurde. Ich bin nur bei Nacht
ein- oder zweimal daran vorbeigekommen und konnte bei unserem Besuch diese Stelle wie
noch viele andere nicht mehr ermitteln. Der 8cm-Werfer bestand aus drei Teilen: dem
Rohr, der Bodenplatte und dem Zweibein. Jedes dieser Teile wurde von einem Mann
getragen, das Rohr an einem Tragegurt über die Schulter, Zweibein und Bodenplatte mit
Riemen auf dem Rücken. Das Wichtigste wenn auch leichteste Stück das noch dazugehörte,
war das Zielgerät, der Richtaufsatz, vom Werferführer in der Art des Feldstechers an einem
Riemen um den Hals getragen. Am Ort angekommen wo der Werfer in Stellung gebracht
werden sollte, gab der Gruppenführer zunächst die grobe Richtung zum Ziel an. Dann
mußte die Bodenplatte so hingelegt werden, daß sie festen Halt hatte; hierzu mußte
oftmals der Boden mit dem Spaten eingeebnet werden. In der Bodenplatte befand sich eine
Kugelpfanne, in die nun das Rohr mit der an seinem unteren Ende angebrachten seitlich
abgeflachten Kugel seitlich hinein gesetzt und durch eine halbe Drehung damit verbunden
wurde. Inzwischen stand vor der Bodenplatte schon das Zweibein, das oben mit einer
Rohrschelle versehen war, mit der das Rohr festgemacht wurde. Am Zweibein befanden
sich außerdem zwei Handkurbeln für die Höhen- und Seiteneinstellung, sowie eine
Vorrichtung zur Aufnahme des Richtaufsatzes. Dieser besaß zwei Libellen, wie man sie von
der Wasserwaage kennt, eine für die Horizontale, eine für die Vertikale, die richtig
eingespielt werden mußten, damit die Ausgangsstellung zum weiteren Richten des Werfers
stimmte. Daraufhin konnte das Einschießen beginnen. Dazu gab der Zugführer die
Entfernung des Zieles an, sei es durch Schätzung mit dem bloßen Auge, sei es mit Hilfe
eines optischen Entfernungsmessers, was allerdings nur selten vorkam, da diese Geräte im
höchsten Grad Mangelware darstellten. Mit Hilfe des Fadenkreuzes im Feldstecher gab der
Zugführer auch die seitliche Lage des Zieles an, in dem er es auf einen gegebenen
Anhaltspunkt bezog. Alle diese Angaben wurden dem Werferführer übermittelt, der zugleich
Richtschütze war und sein Geschütz dementsprechend richtete. Dann begann das
Einschießen nach der klassischen Methode. Ein Werfer gab einen ersten Schuß ab, der
gewöhnlich zu kurz ging und auch in der Richtung abseits vom Ziel lag. Mit einem zweiten
Schuß kam man in die gute Richtung, aber gewöhnlich ging er zu weit. Wenn dann der
dritte nach angemessener Korrektur saß, dann war das eine hervorragende, ja eine
Glanzleistung. Dies brachten nur Leute mit viel Erfahrung zuwege. Die Korrektur in der
Entfernung wurde in Meterzahlen angegeben, die in der Seitenlage mit Hilfe des
Fadenkreuzes im Feldstecher. Sollte der Schuß zwei Striche links liegen, dann kam das
Kommando „zwei mehr“; wenn aber drei Striche weiter rechts, dann hieß es „drei weniger“.
Um sich zu merken das links = mehr und rechts = weniger bedeutete, verfügte man über
eine Eselsbrücke: links trägt der Infanterist Spaten und Seitengewehr, rechts nur den
Brotbeutel, also links mehr und rechts weniger.
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Granatwerfer werden eingesetzt, um Einzelziele in Deckung zu erreichen; das sind Ziele,
die man direkt nicht sehen und mit Gewehrfeuer nicht erreichen kann, weil ein Hindernis
davor liegt, z. B. eine Bodenwelle, ein kleiner Wald oder auch ein Gebäude. Der Werfer
schießt im Steilfeuer über das Hindernis hinweg. Es ist irgendwie interessant daß zu
beobachten. Die Wurfgranate, spindelförmig und am Ende in einen Hals auslaufend, der mit
Flügeln zur Stabilisierung versehen ist, wird von oben in die Mündung des Rohrs
eingelassen; unten im Rohr steckt ein stählerner Bolzen, im Hals der Granate eine Patrone
mit der Treibladung; die Granate gleitet zum Boden des glatten Rohres, trifft mit der
Patrone auf den Bolzen und der Schuß geht los. Das Interessante daran ist: die
Anfangsgeschwindigkeit des Geschosses ist ähnlich wie bei einer Rakete, so gering daß
man mit den Augen seiner Bahn folgen kann. Man sieht die Granate deutlich in einem
Bogen steigen, sieht sie auf dem Scheitelpunkt umkippen, und dann sieht man sie plötzlich
nicht mehr, wegen der immer zunehmenden Fallgeschwindigkeit. Geht man nachher an die
Stelle wo die Granate eingeschlagen hat, so findet man keinen Trichter, sondern lediglich
den Boden einige Zentimeter tief zerkratzt und aufgerissen, „als ob ein starker Hahn da
gescharrt hätte“, wie es immer einer unserer Ausbilder beschrieben hat. Die Wurfgranate
soll nicht durchschlagen, sondern durch eine Unzahl von kleinen Splittern, die ganz dicht
am Boden entlang fünfzig Meter weit fliegen, unter den Mannschaften aufräumen. Zu
diesem Zweck ist die Granate mit einem hochempfindlichen Aufschlagzünder versehen, der
schon bei leisester Berührung, z. B. an einem Baumast, die Sprengladung zum Detonieren
bringt. Ich habe diese Dinge deshalb so ausführlich beschrieben, weil mir der Iwan später
die Erfahrung damit buchstäblich unter die Nase gerieben hat.
Weiter will ich nun in die Einzelheiten des Umgangs mit einem Granatwerfer nicht eingehen
und kann es auch nicht mehr; ich müßte schon so ein Geschütz samt Zubehör zur
Verfügung haben, um wieder herauszufinden wie man’s macht. Im Hollerloch bei St Avold
konnte ich es 1950, sechs Jahre danach, noch spielend und wurde deshalb , wie noch jetzt
in meinem Militärpass nachzulesen, zum chef de pièce mortier ernannt. Diese Funktion in
der Armée Française auszuüben ist mir glücklicherweise erspart geblieben. In Mielau aber
war ich, wie alle andern, abwechselnd alles, habe die Bodenplatte, das Rohr und das
Zweibein kilometerweit herumgeschleppt und war froh, wenn ich den Werferführer spielen
durfte und nur den Richtaufsatz zu tragen hatte. Diese Stählernen Dinger waren keine
Spielzeuge und wogen schwer auf dem Rücken oder auf der Schulter, ebenso die Munition,
die allerdings nie weit zu tragen war, da sie bereits zur Stelle war, wenn wir dort ankamen.
Allerdings hatte ich mit dieser Waffe zwei Erlebnisse, von denen das eine doch ein wenig
aufregend war. Das andere bestand darin, daß wir einmal mit einer Schützenkompanie
zusammen eine Gefechtsübung machten, wobei scharf geschossen wurde. Dabei hat unser
Zugführer, der uns so sympathische Unteroffizier Kruse zu kurz geschossen, so daß einige
Granaten hinter den vorrückenden Schützen krepierten statt vor ihnen, jenseits des Hügels,
den sie „erobern“ sollten. Sofort erhob sich da vorn ein Geschrei: „Feuer einstellen!!“ Es
wurde aber zum Glück niemand verwundet, und Kruse, den der Chef der
Schützenkompanie schwer „anschiß“ verteidigte sich damit, daß er mangels E-Messer sich
auf sein Augenmaß verlassen mußte, das durch die tief stehende Sonne getäuscht worden
war.
Das andere Erlebnis mit dem Granatwerfer war, wie gesagt, aufregender. Ich habe ja
umständlich ausgeführt, daß der Abschuß einer Wurfgranate dadurch erfolgte, daß dieselbe
zum Boden des glatten Rohres glitt und ihr Stoß auf den dort befindlichen Bolzen die
Treibladung auslöste. Man hielt sich da ein wenig die Ohren zu und schaute der Granate
nach. Schön und gut. Interessant. Wie aber, wenn der Schuß nicht los ging? Wenn es ein
Versagen war? Wenn die Granate im Rohr stecken blieb und jeden Augenblick losgehen
konnte? Wie ging es da weiter? Dann kam eben der Befehl vom Zugführer: „Versager
entfernen!“ Und das war ganz vorschriftsmäßig Sache des Werferführers. Und den durfte
ausgerechnet ich an jenem Tag spielen. Als der Schuß nicht losging, tat ich meine
Meldung: „Versager!“ Und erhielt natürlich den erwarteten Befehl. Alle außer mir und dem
Ladeschützen (der das Rohr trug mußte auch laden) zogen sich zurück und gingen in
Deckung. Ich stellte mich, wie geübt, vor den Werfer, der andere lockerte die Rohrschelle
und drehte das Rohr aus der Kugelpfanne heraus. Dann hob er es langsam empor , bis es
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in eine Waagerechte Lage kam. Dann legte ich meine Hände hüben und drüben an die
Mündung und sagte: „Laß kommen“, oder so ähnlich. Nun hob der Ladeschütze das Rohr
sachte weiter in die Höhe und ließ es mit der Mündung nach unten über das Zweibein
kippen bis es steil genug aufgerichtet war um das Geschoß herausrutschen zu lassen. Als
es kam, faßte ich es mit beiden Händen, fest aber mit der nötigen Vorsicht , um nicht den
Zünder zu berühren, zog es vollends heraus und legte es, auch wieder ganz vorsichtig,
beiseite. Der andere nahm das Rohr zurück, so daß ich von oben hinein schauen konnte.
Da sah ich, daß beim vorangegangenen Abschuß die Patronenhülse die den Treibsatz
enthielt, sich aus der Granate gelöst hatte und auf dem Bolzen stecken geblieben war. Kein
Wunder daß der nächste Schuß nicht losgehen konnte! Ich nahm mein Seitengewehr, fuhr
damit ins Rohr und löste die Patrone vom Bolzen. Dann wurde das Rohr noch einmal
umgekippt und die Ursache des Versagers fiel zu Boden. Dann brachten wir den Werfer in
seine normale Lage, ich hob die Patronenhülse auf, trat zu Kruse und meldete: „Befehl
ausgeführt. Versager beseitigt.“, und „überreichte ihm das „corpus delicti“. „Danke, sagte
er, Werfer Schußbereit machen!“. Alle traten wieder herbei, und in Kürze flog die
Versagergranate ihren Vorgängerrinnen nach. Ich hatte mir zwar eingeredet, daß keine
große Gefahr bestand; dennoch war es ein höchst unangenehmes Gefühl, als ich die
Granate in meinen Händen hielt. Man konnte ja nicht wissen. Es hat auch schon
Rohrkrepierer gegeben. Und dann war nicht nur das Rohr krepiert…
Von dem was sich sonst noch auf dem Truppenübungsplatz Mielau zugetragen hat, kann
ich keine Einzelheiten mehr berichten; es wird wohl nichts erzählenswertes gewesen sein,
sonst wäre es nicht so völlig aus meinem Gedächtnis geschwunden. In reger Erinnerung
bleibt mir mein Geburtstag. Wie ich nachträglich feststellen konnte, fiel er auf einen
Sonntag, deswegen gab es auch so ein außergewöhnlich gutes Mittagessen: Rindsgulasch
in einer dünnen braunen Sauce, in der ein Stück saure Gurke schwamm. Dazu
wahrscheinlich Pellkartoffeln, oder vielleicht waren es auch Salzkartoffeln, ich weiß es nicht
mehr. Wie aus einem der Briefe von Grégoire, die noch vorhanden sind, hervorgeht, habe
ich ihm an jenem Tag von dem Fest berichtet. Er schrieb mir am 14. März: „Endlich habe
ich wieder Post von dir erhalten und zwar einen Brief vom 5.3., also von deinem
Geburtstag. Wie gesehen, hat dein 19jähriges nicht so fein begonnen. Hoffentlich setzt das
sich nicht so fort bis zum 20.“ Bereits am 5.3 hatte er mir einen Brief geschrieben, der
voller Humor, Ironie und auch Galgenhumor steckt , das ich ihn am liebsten hier in
Faksimile wiedergeben möchte. Daraus muß ich schließen, daß ich wahrscheinlich ein
Gesuch um Urlaub eingereicht, natürlich aber keinen bekommen hatte. In Meiner
Erinnerung ist das total ausgewischt. Von Vilejka aus hatte ich ja einmal nach Hause
geschrieben, daß von Urlaub keine Rede sein konnte, für Elsässer schon gar nicht, weil
einmal von zwanzig, die heimfuhren, dreizehn nicht zurückgekehrt waren. Hierüber hat
sich auch keiner von uns Elsässern gewundert, hegten doch die Meisten die stille Absicht,
es bei der ersten günstigen Gelegenheit genau so zu machen. Oder aber zum Iwan
überzulaufen. Ich hatte damals schon beide Lösungen vor Auge, sah aber noch nicht
deutlich, wie schwierig sowohl das Desertieren wie das überlaufen zu bewerkstelligen war.
Grégoire, „dr Greges“ war überhaupt wahrscheinlich derjenige, der mir am meisten
geschrieben hat. Allein aus meiner Wehrmachtzeit sind zwanzig Briefe vorhanden, und
auch im Arbeitsdienst hatte ich ein gutes Dutzend von ihm bekommen. Ob er meine
eigenen aufbewahrt hatte, hab ich ihn nie gefragt. In diesen wäre wohl das meiste zu lesen
über meine Erlebnisse beim Barras, sowohl in der Ausbildung wie nachher an der Front.
Andererseits muß ich auch einräumen, daß in unseren Briefen oft mehr die Rede von der
Zukunft als von der damaligen Gegenwart war. Auch in dieser Hinsicht, wäre es interessant
zu erfahren, mit welchen Plänen, und Träumen und Wünschen ich mich damals trug, denn
das alles habe ich fast restlos vergessen. Ihm habe ich wahrscheinlich verschiedenes
erzählt, von dem die Familie nichts zu wissen brauchte, um sie nicht zu beunruhigen. Über
unsere enge Freundschaft näher zu berichten würde hier zu weit führen; ich hoffe es ein
andermal ausführlicher zu tun. Sie war auf jeden Fall von großer Bedeutung in meinem
Leben.
In Mielau ging indessen die Ausbildung ihrem Ende entgegen. Es wurde viel im Gelände
hinundher marschiert, mit und ohne Granatwerferteilen auf dem Buckel. In Abständen
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ertönte dann der Ruf: „Feindliche Panzer von rechts!“, oder „“Feindliche Tiefflieger von
links!“ und schon lag
der ganze „ Haufen“ auf der entgegengesetzten Seite im
Straßengraben, die Gewehre auf den imaginären Feind gerichtet. Einen Ernstfall dieser Art
habe ich späterhin nicht erlebt. Nach einer Weile kam dann das Kommando: „Auf der
Straße angetreten marsch marsch!“ Und weiter ging die Promenade. Bald kam die
Aufforderung: „Ein Lied!“ Worauf irgend wer einen Titel ausrief: „Die blauen Dragoner“ oder
„Die Mühle im Schwarzwäldertal“ und wie sie noch alle hießen. Und: „Drei, vier!“ stieg das
Lied. Die meisten Texte dieser Marschlieder sind mir nur als Bruchstücke im Gedächtnis
geblieben. Manche kannten wir schon vom Arbeitsdienst her, wo ich selber zwar nicht viel
gelernt hatte, wie sich erweisen wird, wenn ich einmal von meiner R.A.D.-Zeit erzähle. Neu
hinzu kamen in Mielau hauptsächlich ein oder zwei Lieder, die uns ein Feldwebel
beibrachte, dessen Namen ich vergessen habe. Das war einer der sonderbarsten Menschen,
die mir begegnet sind. Es wurde von ihm erzählt, er sei Offizier gewesen (in welchem Rang
weiß ich nicht mehr), habe sich irgend etwas zuschulden kommen lassen, sei zum ……….
Mann degradiert und für eine bestimmte Zeit in ein Strafbataillon gesteckt worden.
Nachdem er sich dort im Fronteinsatz bewährt hatte, war er erneut im rang gestiegen und
hatte es bereits wieder zum Feldwebel gebracht. Ob er nochmals hätte Offizier werden
können weiß ich nicht. Er war jedenfalls ein alter, erfahrener Krieger, der schon 1939 den
Polenfeldzug mitgemacht hatte , ein hartgesottener, abgebrühter Kämpfer, dem nichts und
niemand imponieren konnte, ein ausgekochter Zyniker und dazu ein Liederjan, der am
liebsten liederliche Lieder sang und singen ließ. Von ihm lernten wir Texte, die ich hier
nicht wiedergeben kann, teils weil ich sie vergessen habe, teils weil sie in ihrer
Zweideutigkeit allzu eindeutig waren. Am harmlosesten war der Kehrreim:
Ich fahr mit meiner Klara
In die Sahara zu den wilden Tieren,
Denn ich möchte meine Klara
In der Sahara allzugern verführen.
Kommt ein wilder Löwe, o Schreck!
Nimmt mir meine Klara weg,
Ja und dann fahr ich ohne Klara
Aus der Sahara in die Heimat zurück.
Wenn unser alter Freund der Unteroffizier Kruse das Kommando führte, wurden diese
Lieder nie gesungen. Bei ihm lernten wir unter anderem:
Blutrot sank die Sonn‘ am Himmelszelt
Eine Amsel, die hört‘ ich singen (?),
Aus der Ferne hört’ ich’s klingen:
Schlafe wohl, du schöne Welt!
Kruse war wohl insgeheim ein Romantiker wie seine schwäbischen Landsleute Uhland u.
(?). Er konnte sich aber auch gewaltig aufregen, wenn die Ostpreußen, die ja bei weitem
die Mehrheit waren, den Schwarzwald zu einem bayerischen Gebirge machten, wenn sie
sangen:
Und in dieser Mühle im Schwarzwäldertal
Da wohnt ein Maderl darin.
„Aus!“ rief er dann. „Aus! Ihr Schlote! Im Schwarzwald gibt’s keine Maderln, sondern
Mädelé! Nochmal den Vers!“. Dann brüllten wir drei Elsässer natürlich am lautesten:
Und in dieser Mühle im Schwarzwäldertal,
Da wohnet ein Mädelé drin! (bis)
Und wo ich geh und steh, ja geh und steh,
Im Tal und auf der Höh, ja auf der Höh,
Ja da liegt mir das Mädelé, das Mädelé im Sinn,
Das Mädelé vom Schwarzwäldertal.
So vergingen die Tage und die Wochen, und schließlich kam der Augenblick da es hieß: wir
werden zur Front „abgestellt“. Normalerweise gab es da früher einen acht- oder
vierzehntägigen „Abstellungsurlaub“. Angesichts der militärischen Lage im Osten kam das
nun nicht mehr in Frage. Trotz wiederholter „Frontbegradigungen“ und „strategischer
Rückzüge“, waren die Mannschaften so zusammengeschmolzen, das der Kontakt zwischen
einzelnen Fronteinheiten, ob Regimenter oder ganze Armee-Korps, zeitweise völlig abriß.
Kurz, man brauchte uns so dringend, daß ein richtiger Urlaub nicht mehr gewährt werden
konnte. Lediglich ein dreitägiger Kurzurlaub kam noch in Frage. Der hätte für uns Elsässer
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gerade hingereicht, nach Strassburg zu fahren und mit dem nächsten Zug zurück. Hier
zeigte sich nun was für ein nobler Mensch der Oberleutnant Bürger war. Er gewährte uns
kurzerhand einen fünftägigen „Sonderurlaub“, wie in meinem Soldbuch noch heute zu lesen
steht. Auf dem Urlaubschein, den wir bei der Rückkehr abgeben mußten, hatte er als
Begründung angegeben “Außergewöhnliche Leistungen im Dienst“. Wie wenig das zutraf,
wußte er natürlich mindestens ebensogut wie wir selbst. Vom Hauptmann Samusch hätten
wir das auf keinen Fall erlebt. Auf die fünf Tage entfielen drei Tage Reise, anderthalb Tage
hin, anderthalb zurück, und zwar diesmal über Berlin. Der Urlaubschein galt vom 15. Bis
20. März. In Berlin hatten wir zweimal das Glück, daß wir nicht eines der vielen
Bombardements miterleben mußten. Bei der Rückfahrt gab es allerdings Fliegeralarm. Wir
hatten etwas Aufenthalt zwischen der Ankunft am Anhalter-Bahnhof und der Weiterfahrt
vom Bahnhof Friedrichstrasse. Wir verbrachten die paar Stunden (es war Nacht) in einem
Soldatenheim und mußten wie alle den Luftschutzraum aufsuchen. Der Alarm dauerte nicht
lange, und so waren wir glimpflich davongekommen.
Die zwei Tage daheim waren schnell vergangen. Meine Eltern wohnten jetzt in der
Lazarettstraße 57, die damals Rübsamenstraße hieß. Wie sie zu diesem Nahmen
gekommen war, weiß ich nicht. Irgendwer, der diesen Familiennamen trug, muß aus
welchem Grund auch immer, bei der damaligen Stadtverwaltung so gut angesehen
gewesen sein, daß man ihn unbedingt mit einer Straße auszeichnen wollte. Wie staunte ich
aber , als ich das Haus sah! Das war ja eine Villa! Für unsere Begriffe ein Palast! Kein
Vergleich mit dem alten Haus von der Polygonstrasse. Erdgeschoß, Etage, Dachgeschoß. In
der Etage wohnten wir jetzt; mein Zimmer lag an der linken Seite, zur Straße hin, mit
einem Erker an der Ecke. Es maß vier mal fünf Meter, gibt zwanzig Quadratmeter. Ein
Tanzsaal, wie man so sagt. Eingehender will ich die Wohnung nicht beschreiben.
In diesen zwei Tagen konnte natürlich keine Rede davon sein, der Wehrmacht den Rücken
zu kehren und unterzutauchen. Die Zeit reichte nicht aus, das zu organisieren. Es war
auch noch viel zu früh dazu und deshalb noch viel gefährlicher, als es später sowieso blieb.
Im Gespräch war die Sache jedenfalls. Für den Moment blieb nur die Hoffnung, mich
irgendwie zur Reserve in eine Garnison versetzen zu lassen. Hierzu mußte ein Gesuch
eingereicht werden, und tat mein Vater, indem er es damit begründete, daß seine drei
jüngsten Söhne bei dem Bombardement vom 6. September `43 „gefallen“ waren. So steht
es im Familienbuch meiner Eltern eingetragen. Die näheren Umstände, wie das Gesuch
zustande kam, sind mir völlig aus dem Gedächtnis geschwunden. Haben wir es miteinander
aufgesetzt, mein Vater und ich? Oder hatte jemand anderes ihm dabei geholfen? Habe ich
es mitgenommen oder hatte er es kurz zuvor an mich nach Mielau abgeschickt, so daß es
mich erst an der Front erreichte? Das scheint mir fast das wahrscheinlichste zu sein, denn
meine Einzige klare Erinnerung an die ganze Angelegenheit ist nur, daß ich in unserer
ersten Stellung bei Vaivara mich eines Tages zum Kompanie-Gefechtstand begab, und das
Gesuch dem Kompanieführer, mit der Bitte um Weiterleitung, übergab.
Es ging eben damals alles drunter und drüber. Vielleicht war der Befehl zum Fronteinsatz
des Regiments schon in Mielau vor dem erwarteten Zeitpunkt eingetroffen. Von da an ging
alles äußerst schnell. Wir erhielten die Mitteilung davon und fast zu gleicher Zeit den
Urlaubschein samt Fahrkarten, dampften mit dem nächsten Zug ab und kamen zur großen
Überraschung aller daheim an. Dort erwartete mich eine andere, ebenso angenehme
Überraschung. Ich erfuhr nämlich sofort, daß meine alten Freunde Paul une René auch auf
Urlaub weilten, da ihre Ausbildung als Kriegsoffiziere beendet war und sie nun zum Einsatz
kommen sollten. Ich suchte sie bei ihren Eltern auf und von der Mutter des Paul wurden wir
eingeladen, am Abend vor meiner Rückreise gemeinsam das Nachtessen bei Paulens
einzunehmen. Unser ehemaliger „Beck“, der beim Bombardement schwer verwundet
worden war und bis zu seinem Lebensende Invalide blieb, und die „Beckemamme“ wohnten
jetzt kaum 200 Meter von uns entfernt an der Ecke Joseph-Guerber-Strasse und
Marienstrasse (avenue Léon Dacheux). Die Eltern von Schmittbiel René, die auch total
ausgebombt waren, hatten eine Wohnung etwas weiter in der Kestenholzerstrasse (rue de
Châtenois) gefunden.
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So saßen wir drei, die wir in Gumbinnen und Vilejka dauernd auf derselben Stube gelegen
hatten, zum letzten Mal miteinander am Tisch und vertilgten eine Ente, die uns die
„Beckemamme“ gebraten hatte. Pauls Eltern stammten beide aus Furchhausener
Bauernfamilien und wurden von ihren Angehörigen so gut es ging verrproviantiert. (Wir
hatten übrigens auch unsere Adressen, wo wir „hamstern“ konnten, was allerdings nie ganz
ungefährlich war). Bei diesem Nachtessen ging es natürlich nicht sehr lustig her, gingen wir
doch alle drei einer sehr ungewissen Zukunft entgegen, und einer von uns, Paul, sollte
auch nie mehr zurückkehren. Die anderen zwei hatten noch ein paar Urlaubstage vor sich,
ich jedoch mußte Tags darauf, am 19. März, wieder abreisen. Mein Vater begleitete mich
zum Neudorfer Bahnhof, den es damals noch gab, und der nun vielleicht dreihundert
Schritte von unserer neuen Wohnung entfernt war. Dort traf ich, wie abgemacht, meinen
Kumpel Gilbert Schmitt, ebenfalls von seinem Vater begleitet, und wir stiegen ein. Schon
fuhr der Zug über die Eisenbahnbrücke, am Stellwerk vorbei, dann hinter unserem „neuen“
Haus vorüber, wo meine Mutter auf dem Balkon der Küche stand und winkte. Ich winkte
zurück; weg waren wir.
Von der Fahrt quer durch Deutschland ist mir überhaupt nichts in Erinnerung als daß wir,
wie schon gesagt, in Berlin einen nächtlichen Fliegeralarm erlebten und daß wir vom
Bahnhof Friedrichstrasse weiter fuhren. Über Frankfurt an der Oder, Posen und Thorn (?)
erreichten wir schließlich Mielau / Mlawa. Dort auf dem Bahnsteig empfing uns… unser alter
Freund der Unteroffizier Kruse. Nun wurde zur Gewißheit, was Gilbert und ich unterwegs
schon vermutet , spätestens in Berlin aber als fast sicher erkannt hatten: dre dritte Mann,
jener Ersteiner, dessen Namen ich vergessen habe, fehlte. Wie er es fertiggebracht hatte,
in so kurzer Zeit zu verschwinden, kann ich mir nicht vorstellen. Für uns jedenfalls ist er
auf immer verschollen geblieben. Kruse teilte uns mit, das Bataillon sei bereits Tags zuvor
verladen worden und abgereist, und zwar seien wir an die Narva-Front verlegt. Er selbst,
Kruse, sei beauftragt, die letzten Urlauber bei ihrer Ankunft in Mielau zu sammeln und sie
mit hierzu bereitstehenden Personenwagen nach Wesenberg in Estland zu bringen.
Anscheinend waren mit unserem Zug die letzten Urlauber angekommen, wir mußten
irgendwo zusteigen und schon bald ging es los. Wenn ich mir’s überlege war der Rest des
Regiments erst jetzt abgefahren und hatte die zurückkehrenden Urlauber mitgenommen.
Wir fuhren nun zunächst auf der strecke, wo wir hergekommen waren, zurück, was mich zu
der heiteren, sarkastischen Bemerkung veranlaßte: „Schilles, m’r fahre widder haam!“.
Dann bogen wir aber rechts ab und der Zug dampfte über Osterode, Allenstein, Insterburg
quer durch Ostpreußen. Im Laufe der Nacht passierten wir in Tilsit die Memel. Meine
damaligen Geschichtskenntnisse reichten gerade aus, mich zu erinnern, daß Napoleon hier
auf der Höhe seiner Macht, mit Rußland und Preußen den Frieden von Tilsit „geschlossen“,
besser „diktiert“ hatte. Viel später erst wurde mir bekannt, daß dieser Vertrag auf einem
Floß inmitten des Memel-Flusses unterzeichnet wurde, und daß Preußen, von Rußland in
Stich gelassen, damals aus dem Kreis der europäischen Großmächte ausschied, in den es
erst 1813/14 wieder eintreten konnte. Jenseits der Memel (russisch Niemen, litauisch
Neinunas?) waren wir in Litauen, dann gings weiter über Tauroggen (Tauragé) und
Schaulen (Siauliai) nach Lettland hinein. Über Milau (Jelgava) erreichten wir schließlich
Riga, wo wir längere zeit im Bahnhof hielten. Dann ging’s weiter über Wenden (Cesis),
Wolmar (Valmiera) nach den beiden walk, bzw. Walg, hüben und drüben von der lettischestnischen Grenze (Valka und Valga). Hier ging eine weile das Gerücht um, wir würden nun
umgeleitet nach Pleskau (Pskov) am Südende des Peipus-Sees, um in den heftigen
Kämpfen, die dort tobten, eingesetzt zu werden. Die Beklemmung, die uns befallen hatte,
legte sich aber bald, als wir merkten, daß der Zug weiterhin die grobe Richtung nach
Norden einhielt und nicht ostwärts abgebogen war. So fuhren wir denn über Dorpat (Tartu)
nach Taps (Tapa) und kamen schließlich nach Wesenberg (Rakvere). Von dieser langen
Reise sind mir nur die angeführten Ortsnamen in Erinnerung, von der Landschaft nichts als
daß die Bahn Linie von Riga hinaus über eine lange Strecke durch Wasser ging, und auch
das ist mir nur in Erinnerung geblieben weil ich nachträglich noch dreimal dort
vorbeigefahren bin.
In Rakvere blieben wir ein paar Tage einquartiert in einem dieser einstöckigen Holzhäuser,
das leer stand und in dessen Räume man Stroh aufgeschüttet hatte, auf dem wir uns
lagerten. Nun besaß ich damals einen Fingerring, denn ein französischer Kriegsgefangener
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aus einem Zweifrankenstück angefertigt hatte, mit eingraviertem Monogram und mit der
Umschrift „République Française“ auf der Innenseite des Rings lesbar. Verwandte von
Grégoire in Reichshofen, die mit solchen Gefangenen in Beziehung standen und
verschiedenen zur Flucht verhalfen, hatten ihn mir besorgt gegen etwas Tabak oder
Zigaretten. Diesen Ring verlor ich leider dort im Stroh, wo er mir über Nacht vom Finger
geglitten sein muß. Ich war über den Verlust sehr betrübt, weil mir der Ring als eine Art
französischer Talisman galt.
Allen Anschein nach haben wir nahezu eine Woche in Wesenberg verbracht, müssen am 23.
März dort angekommen und wahrscheinlich bis zum 30. geblieben sein. An irgendeinen
Dienst in diesen Tagen kann ich mich nicht erinnern. Wahrscheinlich sollten es Ruhetage
sein… die Ruhe vor dem Sturm. Ich weiß nur noch , daß ich am Fuß einer alten Windmühle
gestanden habe, und vermute, daß es diejenige war, von der ich nunmehr die Überreste
am Weg zur Ordensburg entdeckte. (Bädeker Baltikum S. 135: Südöstlich unterhalb der
Burg eine in 19. Jahrhundert aufgestellte Windmühle). Es kann sein, es ist sogar
wahrscheinlich, daß wir, Gilbert und ich, einmal dort hinauf spaziert sind. Die gewaltige
Ruine kam mir jedenfalls irgendwie bekannt vor, als ich sie jetzt sah.
Nun ja, die Schonzeit in Wesenberg nahm ihr Ende wie alles, und eines Tages wurden wir
wieder in Güterwaggons verladen und los gings, nach Osten, Richtung Narwa. In Jöhvi war
Endstation. Wir wurden umgeladen auf LKWs und weiter transportiert, zunächst nach Toila.
Vermutlich lag dort der Divisionsstab, und vermutlich wurden wir dort als Ersatz auf die
verschiedenen Regimenter verteilt. Von da fuhren die Lastkraftwagen weiter, an der Küster
entlang wo man ab und zu einen Ausblick aufs Meer hatte. Hier sah ich zum ersten- und
lange Jahrzehnte auch zum letzten Mal den Finnischen Meerbusen. Zu dieser Jahreszeit gab
es an der Küste noch einen beträchtlichen Streifen Eis. Dann wurde wieder angehalten und
wir mußten aussteigen. Ich vermute jetzt, daß es in oder bei Sillamäe war, und daß dort
der Regimentsstab lag. Spätestens hier verlor ich Gilbert Schmitt aus den Augen, und
ebenso den Unteroffizier Kruse. Gilbert sah ich erst nach dem Krieg wieder und erfuhr von
ihm, daß sie beide einer anderen Kompanie zugeteilt wurden, der ersten, wenn ich mich
gut entsinne, während ich zur dritten des Grenadierregiments 151 kam. Mit Granatwerfern
hatten wir nun alle drei nichts mehr zu tun, wir bekamen nur noch die russischen zu
verspüren. Wofür wir ausgebildet waren, um es die Gegner erleiden zu lassen, daß sollten
wir jetzt bald am eigenen Leib erfahren, und zwar ich selber aus allernächster Nähe.
Es ist bedauerlich, daß ich Gilbert nach dem Krieg nur noch zweimal getroffen habe, das
erstemal bald danach, das zweitemal, als er schon kurz vor der Pensionierung stand. Ich
wußte spätestens seit Vilejka, daß er bei der Strassburger Stadtverwaltung angestellt war
und zwar saß er auf einem Büro jener Zweigstelle beim Städtischen Schwimmbad. Genau
genommen kannten wir uns ja seit der Sainte-Anne-Schule, vielleicht saßen wir damals
schon in der „Maternelle“ beieinander. Aus jener Zeit bleibt mir nur eine einzige
Erinnerung. Mir war aufgefallen, daß er in den Pausen nie mit uns Fangen spielte, sondern
stets mit zwei oder drei Kameraden rund um den Schulhof spazierte und ihnen Geschichten
erzählte. Ich war ein oder das andermal auch neben ihnen hergelaufen, fand aber an
diesen Erzählungen, die er ausschließlich selber erfand, kein Gefallen und blieb weg. Am
Ende des dritten Schuljahrs, im Sommer 1934, trennten sich unsere Wege. Gilbert, als
einziger Sohn seiner Eltern, wurde auf eine „bessere“ Schule geschickt (ich glaube fast, er
ging dann ins Collège St Etienne, vielleicht aber auch in ein Lycée), während ich sowie
Paulen Paul die Aufnahmeprüfung in die Mittelschule bestand, wo wir die nächsten fünf
Jahre zubrachten. Im Sommer 1939 hatten wir die gesetzliche Schulpflicht hinter uns. Paul
ging sofort an die Bäckerlehre bei seinem Vater, und schon brach am 1. September der
Krieg aus. Ob Schmitt Gilbert schon gleich als Lehrling an die Stadtverwaltung kam oder
erst später, weiß ich nicht. Jedenfalls sah ich ihn erst wieder, als wir zur Wehrmacht
eingezogen wurden, und auch da kamen wir uns erst näher durch die Stubengemeinschaft
in Vilejka und ganz besonders im Lager von Praschnitz, wo wir zusammen mit jenem
Ersteiner die einzigen Elsässer der Kompanie waren. Als ich dann Gilbert (vielleicht doch
ein paar Jahre) nach dem Krieg in seinem Büro am Schwimmbad aufsuchte, wird er mir
wohl erzählt haben, wie er aus der Scheisse herausgekommen ist, doch das habe ich völlig
vergessen. Wenn mich die Erinnerung nicht täuscht, hat er auch nach dem Krieg noch
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Kontakt zu Kruse gehabt, mit dem er sich seit den Fronterlebnissen, natürlich duzte; etwas
bestimmtes kann ich darüber nicht mehr sagen. Ein zweites Mal (und auch das letztemal)
sah ich Gilbert, nachdem die gesamte Stadtverwaltung schon längere Zeit im neuen Bau
am ehemaligen Lokalbahnhof untergebracht war. Als ich mich an der Reception nach ihm
erkundigte, schickte man mich zum „Office des Sports“, mit dem Fahrstuhl soundso nach
Büro soundso. Das kam mir vor wie ein Ulk! Wie kommt jetzt dieser Kerl, der doch immer
so unsportlich war wie ich, ausgerechnet ans Sportamt? Aber wie staunte ich erst als ich
das Schild am Büro las: Gilbert Schmitt, Directeur. Da war ich baff! So baff, daß es mir
nachher gar nicht in den Sinn kam, irgendwie diesbezüglich Fragen zu stellen. Wir redeten
miteinander von dem und jenem, tauschten einige alte Erinnerungen aus, fanden wohl
auch, daß es gut wäre daß wenn man sich ab und zu mal träfe, und schieden dann bald
voneinander. Zu einem weiteren Treffen ist es nie gekommen. Vor einem oder zwei Jahren
las ich seine Todesanzeige in der Zeitung. Er war unverheiratet geblieben und seine Mutter
lebte noch.
Nun aber zurück zur Narwa-Front. Nachdem wir eingeteilt waren und ich mich allein unter
nichts als fremden Kameraden befand hieß es: „Umkleiden!“ Wir mußten unsere Mäntel
hergeben und erhielten an seiner Stelle walkierte Tarnanzüge, die über der Uniform
getragen wurden. Sie waren auf der einen Seite weiß, auf der anderen Seite hatten sie die
bekannte grün und braune Tarnfarbe. Da wir jetzt nicht in eine Schneelandschaft kamen,
wurde das Weiße nach innen gekehrt. An dem Anzug, den man mir zuwarf, war die weiße
Seite blutbefleckt. Einer der diese Kluft vor mir getragen hatte, darin verwundet, vielleicht
sogar getötet worden. Man ließ mir keine Zeit, hierüber philosophische Betrachtungen
anzustellen: „Los! Fertig machen! Mantel abgeben!“ Das ging alles so rasch, daß ich später,
aber zu spät, merkte, daß ich in der Manteltasche meinen Tabaksbeutel samt der kurzen
Pfeife, die ich damals zu rauchen pflegten, hatte stecken lassen. Wahrscheinlich mußten
wir dann wieder aufsteigen, aber weit kann die Fahrt nicht mehr gegangen sein.
Unterdessen war es nacht geworden. Ich wußte überhaupt nicht, an welchem Fleck der
Erde ich mich befand. Irgendwo tappten wir über Bahngleise, irgendwo saß ein Stapel
Eisenbahnschwellen, wie mir schien. Als wir später wieder vorbeikamen, wobei es etwas
heller war, sah ich, daß es russische Gefallene waren, starr und steif übereinander
geschichtet. „Von den Kämpfen im Januar“ sagte mir einer. Jetzt schrieben wir den 31.
März.
Vorläufig mußten wir, ein Paar Mann, vielleicht ein Dutzend, in eine leere Kartoffelmiete.
Kriechen. Von denen gab es dort viele, längliche, in den Boden eingegrabene Betonkeller,
mit Erde bedeckt, die man durch eine hölzerne Tür betrat. Da sollten wir uns auf das
bißchen Stroh legen, das dort hingeschüttet lag, und warten bis man uns abholte. Ich war
müde, zog die Schuhe aus, schob den Stahlhelm unters Genick und schlief ein. Plötzlich
stieß mich einer an: „Auf! `s geht los!“ Ich erhob mich eilig, schlüpfte in die Schuhe, setzte
den Helm auf, nahm meine Knarre auf und schon war ich draußen bei den anderen. Da
stellte ich erst fest, daß ich in der Eile meine Stoffgamaschen in der Kartoffelmiete hatte
liegen lassen. Seitdem wir in Gumbinnen Anfang Januar neu eingekleidet worden waren,
trugen wir nämlich keine Stiefel mehr, sondern Lederschuhe mit kurzen Stoffgamaschen
über den Hosen. Schon setzte sich die Gruppe in Bewegung; ich mußte mit ohne
Gamaschen.
Es war finstre Nacht; irgendein Unteroffizier führte uns nach vorn. Bald hörte man ab und
zu eine Kugel pfeifen, hüben und drüben zogen Leuchtspurgeschosse ihre rötlichen Bahnen.
Jedesmal, wenn es pfiff, zuckte ich zusammen und duckte mich. Der Gruppenführer merkte
es und sagte zu mir: „Nicht erschrecken! Das sind verlorene Kugeln, die weit über ihr Ziel
hinweggeflogen sind. Die man pfeifen hört, die treffen einen nicht. Und die einen treffen,
die hört man nicht kommen!“ Mir war das ein schwacher Trost. Unser weg hatte zunächst
über offenes Gelände geführt, Wiese, wie mir schien. Dann drangen wie in den Wald ein, in
einer Reihe, darauf bedacht, den Kontakt mit dem Vordermann zu behalten, denn es war
jetzt noch viel finsterer geworden. Kommandos wurden nur noch im Flüsterton
durchgesagt. Nach einer Weile wurde angehalten; der Trupp hielt vor einem noch nicht
mannshohen Holzhaufen, wie es in der Dunkelheit schien. Nachdem dann erklärt worden
war, daß dies der Kompanie-Gefechtsstand sei, und man näher hinschaute, erkannte man,
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daß der Holzhaufen die aus dünnen Kiefernstämmen gebildete decke eines in den Boden
gegrabenen kleinen Bunkers war. Die Stämme lagen in mehreren Schichten übereinander,
waren mit Erde angeworfen und mit Birken- und Kiefernästen getarnt. Hier nun erfuhren
wir, daß wir zur dritten Kompanie des Grenadierregiments 151 eingeteilt waren. Die
Kompanie zählte im Augenblick 14 (sage und schreibe vierzehn) Mann, wo die theoretische
Kriegsstärke noch in der zeit unserer Ausbildung mit 150 (hundertfünfzig) Mann angegeben
wurde. Kompaniechef war ein Unteroffizier, dessen Namen ich leider vergessen habe;
leider, denn er war mir sehr sympathisch, wie denn auch die meisten Vorgesetzten an der
Front viel sympathischer waren als in Garnison. An der Front und mit dem Tod auf Du und
Du verloren die Rangunterschiede erheblich an Bedeutung. Man hat gesagt bei den Preußen
fange der Mensch beim Unteroffizier an. Auf dem Kasernenhof war das weitgehend
Tatsache, vorn im Schützenloch und im leichten Feldbunker waren die Verhältnisse sehr
verschieden.
Dieser Unteroffizier nun führte uns einzeln oder zu Zweien in unsere Gefechtsstände. Ich
weiß nur, daß ich ihn dort ziemlich beklommen gefragt habe: „Sind wir hier ganz vorn?“ –
„Klar, ganz vorn“ war die Antwort. – „Und wo liegt der Iwan?“ – „Irgendwo noch weiter
vorn, vielleicht hundert, vielleicht nur fünfzig Meter, im Gebüsch, grad wie wir auch“. Dann
erklärte er mir noch, daß unser Frontabschnitt sehr dünn besetzt sei, meine nächsten
Nachbarn rechts und links befänden sich in einer Entfernung von etwa zwanzig,
fünfundzwanzig Metern. Ein Sichtkontakt miteinander war wegen des Unterholzes praktisch
unmöglich. Dabei hatte die Kompanie einen Abschnitt von zwei- bis dreihundert Meter
Länge zu bewachen (und gegebenenfalls zu verteidigen!).
Ich habe über all diese Dinge noch nie soviel nachgedacht (am allerwenigsten damals!) wie
jetzt, sechsundfünfzig Jahre hernach, da ich sie niederschreiben soll. Nun stelle ich fest,
daß ich heute ebenso wenig wie damals weiß wo genau die Front verlief. Nur soviel kann
ich feststellen: die Heeresgruppe Nord, deren Frontabschnitt sich etwa zwischen der Narwa
und der Düna erstreckte, war im Januar 1944 vom Wolchow, an den sie bereits vorher
hatte zurückweichen müssen, und von den Stellungen, die sie noch südlich von Leningrad
hielt, zurückgedrängt worden. An der Luga wollte man den Feind aufhalten, doch das
gelang nicht. Die Russen überschritten die Luga ohne nennenswerten Aufenthalt und
stießen bis zur Narwa vor. Die Stadt Narwa und den Fluß bis zu seiner Mündung konnte die
Wehrmacht in schweren, verlustreichen Kämpfen halten, doch südlich der Stadt gelang es
der Roten Armee schon bald, über den Fluß vorzustoßen und am Norden des Peipus Sees
bis etwa dorthin zu gelangen wo dieses nach Südwesten abbiegt. Nun galt es für die
Wehrmacht vor allem, die Bahnlinie und die Straße von Jöhvi nach Narwa zu sichern. So
war denn die Front ein paar Kilometer südlich von der Bahnstrecke und grob parallel zu ihr
zum Stehen gekommen. Ich nehme an, dass sie etwa dort wo wir zuerst eingesetzt
wurden, d.h. in der Nähe des Bahnhofs Vaivara, nach Südwesten abbog, hinter Viivikonna
vorbei gegen Lisaku und zum Peipussee hin verlief. Wir lagen demnach an diesem
Scharnier, das früher oder später am meisten gefährdet sein mußte, wie sich aus dem Blick
auf eine Landkarte ohne weiteres ergibt. Es ist nämlich hier die Stelle wo zwischen
Bahnlinie und Küste die Entfernung die kürzeste ist von der ganzen Strecke: drei Kilometer
Luftlinie, und die Straße verläuft in Küstennähe. Wollte das russische Oberkommando die
bei Narwa liegenden Einheiten in die Zange nehmen, dann bestand das Nächstliegende
Manöver darin, bei Vaivara nach Sillamäe hin durchzustoßen, und der Kessel war
geschlossen. So oder ähnlich scheint es im August auch passiert zu sein, nachdem die
Russen bereits am 26. Juli Narwa eingenommen hatten.
Eine erste Nachricht von äußerst schweren Kämpfen beim Friedhof Vaivara hatte ich im
Sommer 1949 in Tirol erhalten, während unseres Pfadfinder-Lagers in Ötz. Eines Tages
waren wir zum Piburgersee hinangestiegen. Dort führte mich der Zufall mit einem jungen
Mann zusammen, der etwa gleichaltrig mit mir war, ein Beinamputierter, der mit einer
Gefährtin dort zeltete. Irgendwie kamen wir ins Gespräch; er hatte festgestellt, daß wir
französische Pfadfinder waren und bemerkte er selber sei auch Ausländer hier. „Woher
denn?“ – „Von weit her: aus Estland, wenn ihr wißt wo das liegt.“ – „Und ob ich das weiß!“
gab ich zurück. „Ich war schon dort“. Nun mußte ich ihm erzählen, wie das gekommen war.
Als ich dann vom Bahnhof Vaivara sprach, betonte ich das Wort auf der zweiten Silbe, wie
wir es nach deutscher Gewohnheit immer getan hatten. Da unterbrach er mich und
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verbesserte: Vaívara, mit dem Ton auf der ersten Silbe, wie die meisten Wörter der
estnischen Sprache. Seither betone ich es richtig. Als ich dann erwähnte, daß wir im Juli
nach Lettland in die Gegend von Dünaburg verlegt worden waren, meinte er: „Da hast Du
wahrscheinlich Glück gehabt. Im August kam es beim Friedhof Vaivara zu furchtbaren
Kämpfen mit schweren Verlusten auf beiden Seiten“. Ob er selber aus jener Gegend
stammte weiß ich nicht; vielleicht habe ich gar nicht danach gefragt. Unser Aumonier, Abbé
Lorber hat von demjenigen Esten ein Photo gemacht, das möglicherweise noch irgendwo in
einer Schublade liegt.
Nun aber zurück an die Ostfront, in jene Stellung im Wald in der nacht zum 1. April 1944.
Da, wo mich der Unteroffizier-Kompanie-chef hingeführt hatte, verlief eine etwa
mannshohe Bodenwelle, an die sich die Frontlinie anlehnte. Mein Gefechtsstand war für
einen einzelnen Kämpfer vorgesehen. Zu diesem Zweck hatte man vom Fuß der Bodenwelle
bis zu deren Kammlinie einen etwa meterbreiten, zwei bis drei Meter langen Graben
ausgehoben, der in seinem vordersten, tiefsten Teil oben mit einer Schicht aus daumenbis handgelenkdicken Asten abgedeckt war. Eine Art Tisch von der Größe eines
Schreibtischs war so entstanden, auf der man eine Zeltbahn ausgebreitet hatte. Auf diesem
Tisch lagen die Schreib- will sagen: die Kampfutensilien, nämlich etliche Schuß
Gewehrmunition und einige Handgranaten. Hierzu kam jetzt mein Gewehr. Der Boden des
Grabens war mit einer Schicht von dünnen Birkenzweigen und Farn ziemlich gut gepolstert,
was ein den Umständen entsprechend einigermaßen bequemes Ruhelager ergab. Dort
durfte ich mich gleich „hinhauen“, und als bei Tagesanbruch die Reihe zum waschen an
mich kam, wurde ich vom Unteroffizier geweckt. Da – wie gesagt – keine Sichtverbindung
zwischen den einzelnen Gefechtsständen bestand, mußte fast dauernd hinter der Frontlinie
hin- und herpatrouilliert werden, um den Kontakt aufrecht zu erhalten. Es hat aber nicht
lange gedauert, so hatte ich mich an den Schlaf- und Wachrythmus gewöhnt und brauchte
keinen Wecker mehr. Das war am ende so eingefleischt, daß ich noch lange nachher als ich
schon zu Hause war, nachts regelmäßig alle zwei Stunden aufwachte.
Der 1. April war ein Samstag gewesen, auf den Sonntag 9. April fiel Ostern. Am
Gründonnerstag empfing ich meine Feuertaufe. Das kam wie das Gewitter vom blauen
Himmel. Plötzlich und unvermutet brach ein Artillerie-Sperrfeuer über uns herein, daß die
Luft nur so dröhnte und die Erde erzitterte. Ich lag in meinem Loch, die Nase im Dreck,
wenn auch zwischen den Farnwedeln hindurch, drückte mich fest an den Boden um so klein
wie möglich zu sein, jeden Augenblick in Furcht von einer der rundherum
niederprasselnden Granaten getroffen zu werden. Splitter stoben pfeifend ringsumher,
Baumstämme und äste krachten wie im Sturm – eine Ewigkeit lang, wie mir schien.
Nachträglich erfuhr ich, daß es zehn Minuten gedauert hatte. Aber ich hatte meine Uhr
beim Urlaub zu Hause gelassen, und solcherlei Angsterlebnisse scheinen immer länger zu
dauern, als es in Wirklichkeit der Fall ist. Der Feuerüberfall hörten so unvermittelt auf, wie
er eingesetzt hatte. Schon stand der Unteroffizier neben mir: „Sind sie unverletzt? Gut!
Nun aber aufpassen, der Iwan scheint angreifen zu wollen!“ Er war kaum weitergegangen,
als das Röhren und Dröhnen von neuem anfing. Ich merkte aber gleich, daß die Einschläge
nicht um mich herum lagen, sondern vor mir, wenn auch in kurzer Entfernung. Schon kam
der Unteroffizier zurück. „Das ist unsere Ari. Sie geben’s ihnen zurück“. Ari war die
Kurzform für Artillerie. Der Zauber dauerte wohl auch seine zehn Minuten, dann kehrte
Stille ein. Der befürchtete Infanterie-Angriff fand nicht statt. In unserem Abschnitt hatte es
weder Tote noch Verwundete gegeben.
Ostern verhielt sich der Iwan ruhig. Vielleicht weil Ostern das höchste Fest im orthodoxen
Kirchenjahr ist. Wer weiß? Das heilige Rußland war trotz eines halben Jahrhunderts unter
dem materialistischen Atheismus bei weitem nicht tot. Stalin wußte es, und es galt, für den
„Großen Vaterländischen Krieg“ alle Kräfte zu mobilisieren. In den nächsten anderthalb
Wochen, die wir in diesem Abschnitt blieben, ging es überhaupt im großen Ganzen ziemlich
ruhig her. Abgesehen davon, daß große Kälte herrschte und der Boden gefroren war,
konnte man sich über das leben in der freien Natur nicht beklagen. Am A…… war, daß man
nicht aus den Kleidern und auch nicht aus den Schuhen durfte. Da jeden Augenblick ein
feindlicher Angriff losgehen konnte, mußte man dauernd einsatzbereit sein. So ganz in
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Ruhe ließ uns der Iwan denn doch nicht. Es erfolgte zwar kein Ari-Überfall mehr, dafür aber
wurde täglich geklopst.
Klopse bekamen wir oft zu essen und hatten immer unsere Freude daran. Klops nannte
man in ostpreußischer Mundart einen Ballen von Gehacktem Rindfleisch, gekocht oder
gebraten. Am bekanntesten sind die Königsberger Klopse, die aber kleiner sind und feiner,
mit Zusatz von Schweinefleisch und gekocht in Kapernsauce auf den Tisch kommen. Klopse
nannten wir in unseren Front-Jargon auch die Wurfgranaten, die Geschosse die der
Granatwerfer befördert. Mit
dem Granatwerfer schießen, hiess dann „mit Klopsen
schmeißen“, oder mit einem eigens gebildeten Verb: „klopsen“. Der Iwan war Meister im
Klopsen. Hinter dem Frontabschnitt standen Werferabteilungen denen die Munition
anscheinend nie ausging. Beim damaligen Stand der Dinge verfügte die Wehrmacht nur
über sehr wenige Stücke und die mußten mit der Munition sehr sparsam umgehen. Drum
waren ja so viele Leute, die wie ich am Werfer ausgebildet worden waren, doch als Schütze
A in vorderster Stellung eingesetzt. Wo keine Werfer mehr waren, brauchte man auch keine
Werferleute mehr.
Der Iwan also lieferte uns täglich seine Sendung Klopse frei Haus, während in umgekehrter
Richtung nur dann eine Bedienung stattfand, wenn es galt, ein ausgemachtes Ziel zu
versorgen. Und das kam selten vor, denn die waren ja im Wald und im Gebüsch so gut
getarnt wie wir, und Aufklärungsflugzeuge existierten fast nur als Begriff. Ein einziges Mal
sah ich einen Frieseler (?)-Storch die Front entlang fliegen.
Eines Nachmittags, bald nach Ostern, wohl schon Montag oder Dienstag, saß ich an
meinem bereits gewohnten Platz, auf dem Abhang am Rande meines Grabens. Die Sonne
schien, es war zwar kalt, immerhin kaum Mitte April, aber ich dachte an nichts Schlimmes
und war – man könnte fast sagen – guter Dinge. Was nun kommt geschah im Bruchteil
einer Sekunde. Hörte ich wirklich pfeifen oder handelte ich in einem instinktiven Reflex? Ich
war jedenfalls nachher der Meinung, ich hätte ein Pfeifen gehört, mich blitzschnell auf die
Knie fallen lassen, den Kopf zum Boden an die gegenüberliegende Wand des Grabens.
Schon knallte es. Mir drang heißer Pulverdampf in die Nase, daß ich zu ersticken meinte.
Ich sprang empor um Luft zu schöpfen, sah mit einem Blick was geschehen war und sank
wieder in die Knie. Da kam auch schon mein Unteroffizier herbeigelaufen, hob mich auf,
sah mich an und rief im gewohnten Flüsterton: „Sie sind unverletzt! Mensch, wissen sie daß
sie einem Volltreffer entkommen sind?“ Ich wußte es, konnte aber nicht antworten; es
hatte mir die Sprache verschlagen und ich zitterte, mehr innerlich zwar als an Leib und
Gliedern. Der Unteroffizier nahm mich beim Arm und sagte nur: „Kommen sie mit mir“.
Noch einmal warf ich einen Blick auf meinen Stand, sah, daß die Decke fort war, die Äste
woraus sie bestanden hatte lagen größtenteils in Loch, die Zeltbahn war zerrissen und zur
Seite geschlendert worden, und als ich empor schaute, entdeckte ich mein Gewehr, daß mit
abgesplittertem Schaft fünf Meter hoch auf einem Baum hing. Der Unteroffizier ließ mir
aber keine Zeit zu Betrachtungen. Er zog mich fort und wiederholte: „Kommen Sie nur!“ Er
führte mich nach links zu meinem nächsten Nachbarn den ich noch nie gesehen hatte. Das
war ein großer, breitgewachsener Mann, schwarzhaarig, wie man unterm Stahlhelm, ahnen
konnte, mit dunklen Augen und offenem Blick der die totale Ruhe ausstrahlte. „So“, sagte
der Unteroffizier, „Sie sind zwar unverletzt, aber Sie brauchen etwas Erholung. Hier der
Obergefreite Friedrich wird sich Ihrer annehmen. Versuchen Sie zu ruhen und zu schlafen“.
Friedrich nickte nur mit dem Kopf, sagte: „Klar, leg‘ dich auf mein Bett und schlaf dir denn
Schreck aus den Gliedern“. Der Unteroffizier hatte, ohne daß es mir aufgefallen war, meine
zwei Wolldecken mitgebracht. Ich streckte mich aus und brauchte auch gar nicht lange auf
den Schlaf zu warten.
Als ich erwachte war es Nacht. Friedrich stand Posten zwei Schritte neben mir. Ich erhob
mich, trat zu ihm hin und fragte: „Wie lange stehst Du?“ – „Weiß nicht“ – „Dann leg Dich
hin, ich übernehme“. Das tat er auf der Stelle. Er war ein wortkarger Mensch. Ich traf ihn
später noch einige Male, auch in andern Frontabschnitten. Wir wechselten jedesmal nur ein
paar Worte, aber ein eigentliches Gespräch haben wir nie geführt. Ich erfuhr nur so
nebenbei, indem ich es mir aus Einzelbemerkungen zusammenreimte, daß er seit
Kriegsbeginn dabei war, beim Polenfeldzug zuerst, später bei den Besatzungstruppen, und
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dann seit dem Rußlandfeldzug hier oben am Nordabschnitt. Das Regiment hatte vor
Leningrad gelegen und er selber war beim Rückzug im Januar verwundet worden und erst
im März wieder zur Einheit zurückgekehrt. Ich schätzte ihn auf Anfang der Dreißiger. Er
trug das Verwundetenabzeichen in Silber und das Band des E.K.II am Knopfloch. Er hatte
eiserne Nerven, und wenn nicht gerade Rabatz war, ging er ohne Stahlhelm, was eigentlich
gegen die Vorschrift verstieß.
Die Nacht verlief ohne besondere Vorkommnisse. In den Abschnitt links von uns sandte der
Iwan eine Anzahl Klopse, worüber ich zunächst erschrak. Beim Granatwerfer hört man
nämlich den Abschuß und hat Zeit bis zum Einschlag in Deckung zu gehen. In diesem Fall
erfolgten die Abschüsse genau gegenüber von uns, und ich wollte mich niederducken.
Friedrich, der nur sehr oberflächlich schlief, sagte aber gleich: „Brauchst dich nicht zu
ducken. Die sind nicht für uns“. In der Tat lernte auch ich in der Folgezeit, daß die uns
gegenüberliegende Werferbatterie nie uns beschoß, sondern die Abschnitte links und rechts
von uns. Hörte man aber den Abschuß weiter rechts, dann galt es uns und man nahm
Deckung. Aus solchen und einer Reihe anderer Beobachtungen ergab sich mit der Zeit das,
was man Fronterfahrung nannte.
Als der Tag graute, stand Friedrich wieder auf und ich sollte sein Lager wieder einnehmen.
Dazu hatte ich aber keine Lust, ich war ausgeruht und wollte lieber aufbleiben. Er erinnerte
mich daran, daß laut Vorschrift nie zwei am selbem Platz stehen sollten, und während ich
noch überlegte, wie man diesem Dilemma entgehen könnte, kam unser Unteroffizier mich
abzuholen. Ich sollte in einen Zweimann-Bunker verlegt werden. Meinen kaputten Stand
hatten sie während der Nacht geräuschlos wieder hergerichtet und mit einem Mann
besetzt, der eben von dort kam, wo ich jetzt hin sollte. Wir schlichen aber in die
entgegengesetzte Richtung und als wir an meinem Glückimunglückstand vorbeikamen, saß
mein Ersatzmann an meinem Platz. „Dem wird das nicht passieren, was Sie gestern erlebt
haben“, meinte der Unteroffizier. „Zweimal an dieselbe Stelle fällt so leicht keine Granate“.
Das hatten wir auch schon in der Ausbildung gehört; eine Garantie dafür gab es aber doch
nicht. Im Vorübergehen schaute ich nach meinem Gewehr: es hing noch immer auf dem
Baum. Es herunterzuholen war gefährlich, und sowieso war die knarre unbrauchbar
geworden. An meinem neuen Gefechtstand fand ich bereits ein anderes vor.
Der Kamerad, dem ich dort begegnete, war auch ein alter Krieger, wohl schon gegen die
Vierzig, hatte auch den Krieg vom ersten Tag an mitgemacht und war bisher nie verwundet
worden. Wenn mich die Erinnerung nicht täuscht, war er ein Hamburger, seiner Aussprache
nach war er nämlich an den bekannten „sspitzen Sstein gesstoßen“. Er hatte ein etwas
mürrisches Gesicht, war aber kein übler Genosse, gut deutsch-national gesinnt, aber wer
hätte ihm das verdenken können – das war ja bei Freund und Feind überall so. Wie ein
überzeugter Nazi ist er mir nicht vorgekommen. Er hieß mich gleich seinen Posten
übernehmen, denn seit der andere weg war, hatte er allein wachen müssen. Indessen hatte
ich Zeit mich in meiner neuen Wohnung umzuschauen. Das war halt etwas ganz anderes
als mein primitiver Schützenstand von zuvor. Es war ein richtiger kleiner Bunker, in die
Erde eingelassen, aus dünnen Fichtenstämmen aufgeführt, mit einer dreifachen Decke aus
demselben Material, die obere immer kreuzweise zur unteren verlegt. Das ganze bildete ein
Vierreck von gut zwei mal zwei Metern, nach hinten blieb ein schmaler Eingang frei, durch
den man über zwei Stufen den Raum betrat. An der Vorderseite lief über die ganze Breite
ein aus dicken Ästen und jungen Stämmen gebildeter eher schmaler Tisch, auf dem die
Gewehre und die Munition lagen. Der Tisch war in einer Höhe angebracht, daß man die
Ellbogen darauf stützen konnte um mit dem Gewehr durch eine gut handbreite, über die
ganze Länge des Tisches verlaufende Schießscharte das Gelände in breitem Winkel
bestreichen zu können. Hier konnte man sich schon einigermaßen sicher fühlen. Ein Klops
auf Dach hätte höchstens die oberste Decke, die zusätzlich mit einer Erdschicht versehen
war, etwas zur Seite geschoben, mehr nicht. Einer Artillerie-Granate freilich hätte auch die
dreifache Decke nicht widerstehen können. In diesem Bunker verbrachte ich den Rest der
Zeit bis zu unserer Ablösung so um den 18. April, also etwa eine Woche.
Nun muß ich wohl damals einen Brief von meinem Vater bekommen haben, dem ein
Gesuch beigefügt war, das ich dem Kompanie-chef abgeben sollte. Daß ich dieses Gesuch
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bereits vom Urlaub mitgebracht hätte, bezweifle ich inzwischen, denn dann hätte ich ja
nicht so lange zu warten brauchen, um es abzugeben. Allerdings gab es auch sehr wenig
Gelegenheit dazu. Mit den paar Mann Verstärkung, zu denen ich gehörte, hatte die
Kompanie auch einen neuen Chef bekommen und zwar, zu meiner großen Freude, den
Oberleutnant Bürger. Sein Gefechtsstand lag nur gute zwanzig Schritte hinter unserem
Bunker; dort waren wir ja bei unserer Ankunft empfangen worden. Zu ihm begab ich mich
also mit dem handschriftlichen Gesuch in dem mein Vater bat, in Anbetracht der Tatsache,
daß er bereits seine drei jüngsten Söhne durch den Amerikanischen Bombenangriff vom 6.
September 1943 verloren hatte, mich den einzigen überlebenden, zu einem
Reservetruppenteil zu versetzen; anders gesagt: statt KV d.h. Kriegsverwendungsfähig,
sollte ich GVH = Garnisonsverwendungsfähig-Heimat geschrieben werden. An welche
Obrigkeit das Gesuch gerichtet war, weiß ich nicht mehr; es sollte aber auf dem Dienstweg
weitergeleitet werden. Von seiner Aussichtslosigkeit war ich selber absolut überzeugt.
Später erst, lange Jahre später, habe ich mir gesagt, daß vielleicht mehr dabei
herausgekommen wäre, wenn es direkt an den Straßburger Wehrbezirkskommandanten,
den General Vaterrodt geschickt worden wäre. Aber das alles ist ja reine Spekulation.
Oberleutnant Bürger empfing mich freundlich, wie es immer seine Art gewesen war; er
erkannte mich auch als einer von seinen Leuten von Mielau zwo her, nahm mein Papier
entgegen und versprach, es weiterzuleiten, was er ohne Zweifel auch getan hat. An einen
Erfolg hat er jedenfalls selbst nicht geglaubt, gab mir aber ein paar gute Worte, gratulierte
mir zu dem Glück, das ich mit dem Volltreffer gehabt hatte und entließ mich zu meiner
Kampfstellung. Eine Antwort auf das Gesuch ist nie erfolgt. Es wird wohl spätestens beim
Regiment hängen geblieben sein, denn welcher Regimentskommandeur hätte es vor seinen
Vorgesetzten verantworten wollen, daß unter den obwaltenden Verhältnissen den Abzug
auch nur eines einzigen Soldaten seiner Einheit zu befürworten? So kehrte ich eben in
meinen Bunker zurück und überließ mich meinem Schicksal.
An der Stelle, wo ich mich nun befand, war der Wald lichter und das Unterholz weniger
hoch, so daß ich von meiner Schießscharte aus ziemlich weit, bis in eine Entfernung von
vielleicht hundertfünfzig Metern das Gelände überblicken konnte. So stellte ich eines Tages
fest, daß sich genau uns gegenüber ein feindlicher Bunker befinden mußte. Es gab da
Bewegungen im Gezweig der Bäume und im Gebüsch, die nicht vom Wind herrühren
konnten, denn es herrschte Windstille. Bald sah ich denn auch den Oberleib eines Soldaten,
der im Gebüsch hin- und herging, verschwand, wieder zurückkehrte, nochmals
verschwand. Ich weiß nicht, was mich nun packte. Ich ergriff mein Gewehr, stellte das
Visier auf 150 Meter ein, nahm den Mann, sobald er wieder auftauchte, aufs Korn und
schoß. Er verschwand, und an dieser Stelle ließ sich nachher niemand wieder sehen. Da ich
ein schlechter Schütze war, bezweifle ich noch heute, mein Ziel getroffen zu haben. Aber,
auch heute noch regt sich mein Gewissen, wenn ich mich daran erinnere. Es war das erste
(und es blieb das einzige) mal, daß ich bewußt und absichtlich auf einen Menschen
geschossen habe. Und der hatte mir ja gar nichts getan, der konnte mir sogar auf diese
Entfernung gar nicht gefährlich werden, denn ich war gut getarnt. Ich hatte ihn auch nur
sehen können, weil er unvorsichtig war. Warum hatte ich auf ihn geschossen? Vielleicht ist
dies ein Beispiel für die Tatsache, daß im Krieg die Menschen verrohen. Ich habe insgesamt
nur vier Monate an der Front zugebracht; wie muß es aber andern ergangen sein, die
jahrelang fast täglich und weit schlimmer als ich, im Kampf stehen mußten.
Noch hatte ich mich mit diesem Gewissensproblem nicht abgefunden, als schon das
nächste an mich herantrat. Wieder einmal stand ich auf Posten und beobachtete das
Gelände vor mir. Plötzlich fiel mir im Gebüsch, kaum fünfzig Meter rechts vor mir, eine
Bewegung auf, die auf natürliche Weise nicht zu erklären war. „Donnerwetter!“ entfuhr es
mir; mein Kampfgenosse, der auf dem Lager hockte und vor sich hin döste, erhob sich mit
einem: „Was ist?“ und stellte sich neben mich. Ich wies auf die betreffende Stelle hin, und
da erlebten wir beide das selbe Schauspiel: eine junge Kiefer, oder auch nur ihr Wipfel,
oder ein größerer Kiefernast, genau war es nicht auszumachen, ein Stück von einem Baum
jedenfalls, das am Boden gelegen hatte, erhob sich langsam bis es senkrecht stand, rückte
etwas zur Seite und lehnte sich schief gegen anderes Geäst, das dort zwischen dem
Unterholz angehäuft war. „Verdammte Scheiße!“ sagte der Hamburger. „Ich gehe sofort
Meldung machen. Die Brüder bauen an einem Horchposten. Am hellen Tage! Hab‘ ich noch
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nie erlebt“. Schon war er weg und begab sich zum Kompanie-chef. Bald kam er zurück.
„Denen wollen wir die Suppe versalzen. Der Chef hat Ari angefordert. Ein VB von den
10,5er Haubitzen ist schon unterwegs“. Da seine Batterie etwa zwei Kilometer hinter uns
stand, dauerte es doch eine halbe Stunde bis der VB, das ist ein vorgeschobener
Beobachter, bei uns ankam und mit ihm zwei Telegrafisten, die ihre S… abrollten. Ich
mußte ihm erklären, was ich beobachtet hatte und das Ziel genau beschreiben. Er hatte
eine topographische Karte im großen Maßstab mitgebracht, wie sie überall bei der Artillerie
gebräuchlich sind, nahm rasch seine Messungen vor, ergriff den Telefonhörer und gab seine
Anweisungen. Ich wußte ja vom Granatwerfer her wie das vor sich ging. Nach seinen
Angaben wurde das erste Geschütz auf das Ziel gerichtet. Dann befahl er: „Ein Schuß,
Feuer frei!“. Gleich ertönte in der Ferne hinter uns der Abschuß. Die erste Granate kam
angesaust und krepierte ein gutes Stück hinterm Ziel. Der VB nahm die Korrektur vor und
gab die nötige Anweisung für den zweiten Schuß. Zu uns aber sagte er: Aufpassen!
Splittergefahr!“. Als wir den Abschuß hörten, nahmen wir die Nasen vom Fenster, während
er gelassen hinaus schaute. Die zweite Granate ging keine zwanzig Meter von uns nieder;
der Bunker erbebte und, wirklich, hörten wir Splitter umherschwirren. Neue Korrektur zum
ersten Geschütz, ein Schuß, Feuer frei. Nun schauten wir durch die Schießscharte wieder
zu: der dritte Schuß saß genau da, wo die junge Kiefer sich hingelehnt hatte. Der Mann
schoß wie ein Teufel, wobei seine Augen mit sichtlichem Vergnügen unter dem Helm
hervorzwinkerten. Ich habe nie zuvor und nie danach eine solche Augenfarbe gesehen. Sie
leuchteten tatsächlich schwärzlich-blau wie gehärteter Stahl, doch ohne eine Spur von
Härte oder Kälte im Ausdruck. Der VB gab nun die nötigen Kommandos zur Ausrichtung
seiner vier Geschütze auf das erste. Als das erfolgt war, kam der letzte Befehl: „drei
Gruppen, Feuer frei!“. Also drei Schüsse in jedes Geschütz, zwölf insgesamt. Mein Kumpel,
der das alles sicher mit größerer Ruhe hinnahm als ich, ging nun doch mit mir von der
Schießscharte zurück und hockte sich hin; ich tat desgleichen. Schon begann das Rauschen
und Sausen und Zischen und Prasseln, die Erde erdröhnte, unser Bunker erzitterte in all
seinen Hölzern. Dann tiefe Stille. Wir schauten hinaus. Wo die Granaten eingeschlagen
hatten, auf einen sehr engen Raum, war alles verwüstet. Ich dachte nur: „Hoffentlich war
kein Mensch auf dem Horchposten! Hoffentlich hatten sie frühzeitig Lunte gerochen, als das
Einschießen begann und hatten sich schleunigst durchs Gebüsch in Sicherheit gebracht. Wo
nicht, konnte nur Hackfleisch übrig sein. Und wieder mußte ich mir die Frage stellen: bin
ich dran schuld? Ich hatte es doch veranlaßt! Hätte ich es aber verschwiegen, was wäre mir
und meinen Kameraden vielleicht durch diesen Horchposten geschehen? Verdammter
Krieg!!“
Wenige Tage später (wohl am 15. April) wurden wir in diesem Abschnitt von einer anderen
Einheit abgelöst. Ein neuer Kompanie-chef führte uns aus der Stellung heraus, nach dem
Bahnhof Vaivara zunächst, wo wir verladen und nach Jöhvi zum Troß befördert wurden. Der
neue Chef war ein blutjunger Leutnant, der allen Eischein nach frisch von der Kriegsschule
kam, kaum älter als ich. Ich mußte an meine Kameraden Paul und René denken die jetzt
oder demnächst vielleicht auch eine Kompanie führen sollten. Leutnant Stahlberg gab uns
bekannt daß unser bisheriger Chef, Oberleutnant Bürger, zum Bataillonskommandeur
aufgestiegen war. Ich habe ihn seither nie mehr zu Gesicht bekommen und nie mehr etwas
von ihm gehört. Ein Oberleutnants statt eines Majors als Bataillonskommandeur, das war ja
sehr bezeichnend für die damalige Manschafftsschwäche der Wehrmacht. Ein InfanterieBataillon sollte kriegsmäßig mindestens 600 Mann zählen, im Augenblick war aber das 1.
Bataillon des Grenadier-Regiments 151 kaum mehr als 60 Mann stark, also 10 Prozent
dessen, womit der Führer und Oberkommandierende der Wehrmacht, der „größte Feldherr
aller Zeiten“, Adolf Hitler, auch damals noch rechnete, wenn er Einheiten auf der
Generalstabskarte hin- und herschob.
Also dann kam ich zum erstenmal zu diesem famosen Troß. So nennt man den
nichtkämpfenden Teil der Truppe, der von einem mehr oder weniger weit hinter der Front
liegenden Stützpunkt aus die Kämpfenden mit Nachschub an Essen, Munition und was
sonst noch benötigt wird versorgt. Zum Troß gehört natürlich auch die Verwaltung der
Einheit, die Schreibstube mit dem ganzen Kommunikationsapparat, Feldpost, Telefon, usw.
Wo das Troßlager bei Jöhvi sich genau befand, wußte ich schon damals nicht und kann
auch heute seine Lage auf der Landkarte nicht herausfinden. Ich weiß nur, das es hart an
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einem Bahngeleise lag, wohl eher an einer Nebenstrecke an einem Waldrand, und daß
unweit davon ein Bach durch den Wald floß. Es standen dort auch ein paar große
Manschaftszelte, in denen wir untergebracht wurden. Man lag da auf einer dünnen
Strohschicht, weit weniger bequem als auf unserem Reisig- und Farnlager in der Stellung,
dafür aber immerhin 20 Kilometer vom Schuß und umso sicherer. Ruhiger eigentlich nicht,
denn es war dauernd etwas los. Wir waren ja nicht in eine Ruhestellung gezogen, sondern
lediglich hierher gekommen, um Verstärkung aufzunehmen. Die Leute waren bereits da
und wurden in der Kompanie aufgeteilt. Ich erinnere mich an keinen von ihnen. Habe sie
alle auch nur flüchtig gesehen. Ich war nämlich mit einer für mich wichtigen Angelegenheit
beschäftigt.
Als ich nämlich bei der ersten Gelegenheit Schuhe und Strümpfe auszog, stellte ich fest,
daß meine beiden großen Zehen ganz rot waren, und nun begannen sie auch zu
schmerzen. Da es beim Troß auch eine Sanitätsabteilung gab, ging ich dorthin und zeigte
meine Füße dem Arzt. Der stellte eine Erfrierung ersten Grades fest und verschrieb mir
Wechselbäder vorzunehmen drei Tage lang beim Troß. Ich habe mich selten so glücklich
oder zumindest so erleichtert gefühlt wie in jenem Augenblick. Wußten wir doch bereits daß
das „verstärkte“ Bataillon dazu ausersehen war, zum 20. April, wohl im Rahmen des
Regiments oder eher noch der Division bei Narwa anläßlich von „Führers Geburtstag“ einen
Angriff zu starten, gewisse feindliche Stellungen zurückzuerobern, um dem Führer damit
ein Geburtstagsgeschenk zu machen! Da die ärztliche Verordnung vom 17. War, mußte ich
ja immerhin bis zum 20. beim Troß bleiben, und brauchte, mit etwas Glück, an diesem
Angriff nicht teilzunehmen. Ich war auch nicht der einzige, dem die Füße leicht erfroren
waren. Wir waren unserer fünf Mann im selben Fall, und sollten mehrmals am Tag
Wechselbäder vornehmen. Dazu brauchte man jeweils zwei Waschbecken, man konnte uns
aber nur zwei zur Verfügung stellen, weil alle übrigen, soweit überhaupt noch welche
vorhanden, sonst wie im Gebrauch waren. Außerdem war es ein Problem mit dem wärmen
des Wassers. Im Zelt stand ein kleiner runder Gußofen der mit Holz geheizt wurde. Das
Holz war zum Teil feucht, oder eigentlich war es gefroren, und brannte schlecht. Auch
konnte man lediglich zwei Kochgeschirre mit Wasser aufstellen, das waren noch keine drei
Liter! Unter diesen Umständen gelang es natürlich kaum, mehr als zweimal am Tag die
Prozedur durchzuführen, und das war natürlich für eine Rasche Gesundung zu wenig.
Resultat! Der Arzt verschrieb uns zwei tage Verlängerung.
Unterdessen war die Kompanie samt allen anderen Truppenteilen die da in Jöhvi zusammen
gezogen und aufgefüllt worden waren, mit Lastwagen in die Nähe von Narwa abgegangen,
und der Angriff hatte begonnen. Ich aber, immer noch der einzige Elsässer in der
Kompanie, konnte mich keinem Menschen anvertrauen, steckte daher beide Fäuste in die
Taschen, drückte die Daumen und wünschte Pech. Diese Mühe hätte ich mir zwar sparen
können, denn das Pech war von Anfang an dabei, und zwar in Gestalt der Witterung. Noch
als wir, wahrscheinlich am 15. April, mit Leutnant Stahlberger aus der Stellung bei Vaivara
herauszogen, herrschte klares, sonniges, aber bitter kaltes Wetter. Die erfrorenen Zehen
kamen ja nicht von ungefähr. Der Boden war so fest erfroren, daß ich auch da noch nicht
bemerkt hatte, daß wir uns im Sumpfgelände befanden, umso mehr als die vielen
kerzengeraden Entwässerungsgräben zugefroren und mit hartem Schnee bedeckt waren.
Kaum aber waren wir in Jöhvi angelangt , als ein Wetterumschlag einsetzte. In meinem
Brief vom 17. 4. schrieb ich: „Wir haben Regenwetter und alles schwimmt“. Ich wußte noch
nicht und sollte erst im Lauf der folgenden Woche erleben, was die sogenannte Rasputitsa
ist, wenn sich nämlich die gefrorene Erde auflöst und zu knietiefem Schlamm wird. Der
Wechsel der Jahreszeiten geht in diesen Breiten sehr schnell vor sich, und durch die elende
Schlammperiode ist zum Glück von kurzer Dauer. Doch genau da hinein fiel jener unsinnige
Angriff vom 20. April, der aber mit höchster Wahrscheinlichkeit auch dann erfolglos
geblieben wäre, wenn die Rasputitsa eine Woche später eingesetzt hätte.
Länger als die zwei vom Arzt verschriebenen Verlängerungstage konnten wir uns leider
nicht beim Troß herumdrücken. Eines Tages hieß es: dienstfähig zur Einheit an die Front.
Bald saßen die sämtlichen Drückeberger auf einem LKW, und los ging’s Richtung Narwa.
Wir fuhren auf der Straße die auch heute noch von Jöhvi nach Narwa führt. Auf ihr rollte
anscheinend der gesamte Nachschub samt den Truppenverschiebungen, denn vermutlich,
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war östlich von Vaivara schon keine Bahnverbindung mehr möglich. Man sprach denn auch
allgemein von der Rollbahn und meinte damit eben das, was einmal eine Straße gewesen
war, jetzt aber diesen Namen nicht mehr beanspruchen konnte. Einen Soliden Belag wird
sie wohl zuvor nie besessen haben, vielleicht noch nicht einmal ein ordentliches Packlager.
Jetzt aber spottete sie jeder Beschreibung. Nicht nur daß sie tiefer ausgefahren war als
Feldwege im Herbst, wenn sie von den Traktoren zerschunden werden; die Rollbahn lag
zudem immer wieder unter dem Feuer schwerer Geschütze; ja an einigen Stellen hatten
Fliegerbomben tiefe Krater aufgerissen, die nicht aufzufüllen waren und die man auf
Knüppeldämmen mühsam umfahren mußte. Das alles wurde umso schlimmer, je mehr
man sich Narwa näherte. Irgendwo konnte man die Stadt in der Ferne sehen, wie einige
behaupteten, die schon früher dagewesen waren. Dort fuhren wir auch an einigen ArtillerieStellungen vorbei. Dann sind wir irgendwo von der Rollbahn abgebogen, aber nicht weit;
wir mußten aussteigen, die Dämmerung war eingebrochen, und es begann ein Marsch in
die zunehmende Dunkelheit hinein. Wo wir uns befanden, weiß ich nicht. Als ich auf der
Landkarte den Ortsnamen Auvere entdeckte, war es mir als hätte ich dieses Wort damals
gehört. Der Lage auf der Karte nach, könnte der Erwähnte Angriff in jener Gegend
stattgefunden haben. Es kann aber auch Täuschung meinerseits vorliegen.
Irgendwo standen einige zerschossenen Häuser. Dort hieß man uns einzutreten um die
Nacht zu verbringen. Ich hatte den Eindruck, daß der, der uns führte, selber nicht recht
wußte wohin er sich wenden sollte. Nahe bei den Häusern, kamen wir an einem tiefen
Bombenkrater vorbei, in dem das Grundwasser einen See gebildet hatte, wie man im
Halbdunkel erkennen konnte. Durstig, wie wir alle waren, stiegen wir die paar Schritte
hinab und schöpften mit dem Trinkbecher das begehrte Labsal. Dann legten wir uns
irgendwo im Haus auf den Boden und jeder schlief so gut es ging. Als es Tag war, mußten
wir uns wieder aufmachen, denn nun war die Stellung der Kompanie oder des Bataillons
ausfindig geworden, und wir setzten uns in jener Richtung in Bewegung. Wieder kamen wir
an dem Bombentrichter vorbei und nun sahen wir bei Tag, daß unten halb im Wasser, die
Leiche eines russischen Soldaten lag… Ich schüttelte mich und schaute weg. Wir gingen
nun weiter, Richtung „nach vorn“. Nach einer Weile, kreuzten wir zwei oder drei
Panjewagen, die mit Gefallenen beladen waren. Auf jedem lagen wohl so ein halbes
Dutzend, neben und übereinander. Einer hing mit dem Oberkörper hinten über den Wagen
herunter. Ein Viertel des Schädels mit dem einen Auge war weg, Blut und Gehirn tropfte zu
Boden. Wir gingen weiter; einer meinte: „Der muß einen Splitter von einer Panzergranate
abbekommen haben. Die sind nicht zahlreich aber groß und scharfkantig und hauen hinein
wie Beile“.
Nach einer Weile - wir waren eben in ein Waldstück eingetreten – wurde von vorn der
Befehl durchgegeben anzuhalten und linksum zu machen. Da kamen sie uns entgegen die
Unsern, oder was davon übrig blieb, ein Dutzend Leute vielleicht, Leutnant Stahlberg an
der Spitze, alle mit geschwärzten Gesichtern wie man’s auf dem Ausbildungsgelände geübt
hatte, alle todmüde, schmutzig und mit teils zerrissenen Uniformen, mit einem Wort:
geschlagen. Stahlberg sagte nur: „Wir sind abgelöst und kehren zurück zum Troß. Hinten
anschließen!“ Wir machten ein zweites Linksum und folgten der Reihe. Nun mußten wir den
Weg zurück marschieren, auf dem wir hergekommen waren, oder war es nicht ganz
derselbe, denn heute gerieten wir auf einer Strecke von sicher hundert Schritten in einen
solchen Schlamm und Morast, daß ich zeitweise mit beiden Händen an den Stiefeln ziehen
mußte, damit sie nicht stecken blieben. Ich muß hier einfügen, daß wir kurz zuvor in Jöhvi
Schuhe und Strümpfe gegen Stiefel und Fußlappen getauscht hatten, was ich persönlich
immer viel angenehmer empfand. So erreichten wir endlich eine Stelle, wo auf einem etwas
breiteren und noch befahrbaren Weg einige LKWs warteten. Wir bestiegen sie und fuhren
nach Jöhvi zurück, wobei wir unterwegs an einer von unseren Artillerie Stellungen
vorbeifuhren, wo die Batterie gerade am feuern war. Sonst gab es kein anderes Erlebnis.
Abends lagen wir wieder in unserem Zelt.
Ich hatte wieder einmal Glück gehabt. Von dem malefitzten Angriff bei Narwa kehrte
weniger als die Hälfte der zuvor auf gut dreißig Mann aufgefüllten Kompanie zurück: etliche
Tote, der Rest verwundet im Lazarett. Mit uns fünf oder sechs, die nicht mehr zum Einsatz
gekommen waren, zählten wir, wenn ich mich gut entsinne, siebzehn Mann. Der Tag nach
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der Rückkehr war ein Ruhetag, an dem nur geputzt und ausgebessert wurde, und damit
hatten diejenigen, die drei Tage im Kampf, im Regen und im Dreck verbracht hatten,
reichlich genug zu tun. Es war schon eine Erleichterung, daß es mit Regnen aufgehört
hatte. Am nächsten Morgen, dem 26. April, ließ Leutnant Stahlberg die „Kompanie“
antreten. In wenigen Sätzen und ohne jegliches Pathos sprach er vom vergangenen
Einsatz, würdigte den Kampfgeist seiner Truppe, beklagte die Toten und Verwundeten, und
gab bekannt, daß noch für denselben Tag eine bedeutende Zahl Ersatzleute angekündigt
waren. „Und nun noch etwas“, fügte er hinzu, rief vier von uns namentlich auf, darunter
den Grenadier Wacker, und befahl uns drei Schritte vor die Front zu treten. Als das
geschehen war, schaute er uns sehr ernst, fast finster an und fragte: „Wißt ihr was ihr
ausgefressen habt?“ – „Nein, Herr Leutnant!“ war die einstimmige Antwort. Er nahm
Haltung an und kommandierte: „Die vier Mann: stillgestanden!“ Wir schlugen die Hacken
zusammen, daß es knallte. Darauf Stahlberg: „Diese vier Grenadiere sind rückwirkend mit
erstem April zu Gefreiten befördert. Rührt Euch!“ Er ging vergnügt lachend auf uns zu,
schüttelte jedem die Hand und gratulierte zur Beförderung, während wir vier aus dem
Erstaunen nicht herauskamen und irgendein Dankeschön Herr Leutnant herstotterten. Dann
mußten wir ihm unsere Soldbücher aushändigen, damit der vorschriftsmäßige Eintrag
erfolgen konnte. „So“, sagte er abschließend, „nun geht gleich zur Schreibstube und holt
eure Soldbücher ab. Alle wegtreten!“ Worauf wir denn taten wie uns befohlen, so daß ich
mein Mittagessen bereist als frischgebackener Schnäpser einnehmen konnte. Eine Flasche
Sekt zum Anstoßen auf das Ereignis hin hat uns leider niemand gestiftet.
Diese Beförderung mag auf den ersten Blick als etwas sehr sehr Unwesentliches
erscheinen, und in der Tat blieb sie rein äußerlich, abgesehen vom Winkel auf dem linken
Oberärmel des Waffenrocks, ohne Bedeutung. Und doch war es nicht uninteressant, ich
meine von wegen der Löhnung. Als Schütze A gehörte man zur Wehrsoldgruppe 16 und
bezog an der Front eine Löhnung von 1.50 RM pro Tag. Nun war ich in die Wehrsoldgruppe
15 aufgerückt, wie es im Soldbuch vom Rechnungs-Führer Unteroffizier Jaegers bestätigt
und besiegelt ist, und zwar seit dem 1. April. Damit war der Wehrsold auf 2.50 RM den Tag
erhöht, was auf den Monat 75 RM mehr ergab. Das war genau der Monatslohn, den ich
vorher bei der Alsatia bezogen hatte. Kein schlechtes Geschäft also, wenn man einmal
davon absieht daß es dort um Arbeit ging während hier Leben und gesunde Glieder auf
dem Spiel standen. Es ging immerhin soviel Geld ein, daß man es gar nicht alles ausgeben
konnte. Ein Teil davon diente zum Kauf von Marketenderware, hauptsächlich Tabak u.
Zigaretten, Briefpapier und sonstige Kleinigkeiten, den Rest schickte ich nach Hause und
ließ es in Bücher umsetzen. Bei der Alsatia, mit 20% Angestelltenrabatt…Diese Bücher sind
alle noch vorhanden…
Ich habe mir schon gleich damals und hernach immer wieder den Kopf darüber zerbrochen,
wer aus welchem Grund mir diese Beförderung verschafft hatte. Als ich mich bei Stahlberg
mit dem aufgenähten Gefreiten-Winkel meldete und mein Soldbuch zurück erhielt, wagte
ich die Anfrage: „Bitte Herrn Leutnant fragen zu dürfen, wie ich zu dieser Ehre komme.“
Halb Spaß, halb Frust antwortete er: „Stellen Sie keine albernen Fragen!“ und entließ mich
ohne nähere Auskunft. So ganz albern war ja die Frage nicht, sie zu beantworten aber
brachte ihn in Verlegenheit. Vielleicht hätte er sagen können, daß solche Beförderungen
schubweise fast automatisch vor sich gingen. Ob die Initiative von ihm ausging, weiß ich
nicht, wenngleich der Eintrag im Soldbuch von ihm unterschrieben ist. Hatte er überhaupt
Vollmacht dazu? Aber er kannte mich ja kaum; aus welchem Grund war ich dann befördert
worden? Ging es auf den jetzigen Bataillonskommandeur Bürger zurück, der mich gut
kannte, mir vielleicht die Aussichtslosigkeit des Gesuchs meines Vaters versüßen wollte;
oder aus Dankbarkeit, weil ich den von ihm gewährten Sonderurlaub nicht zur Desertion
genutzt hatte, wie jener Kamerad aus Erstein. Das sind alles keine albernen, wohl aber
recht unmäßige Fragen, die heute noch viel weniger als damals zu beantworten sind.
Wie angekündigt, traf am selben Nachmittag unsere „Verstärkung“ ein, größtenteils ältere
Jahrgänge, viele davon ohne Fronterfahrung, auch jüngere die von Heimaturlaub oder
Genesungsurlaub zurück kamen, und keiner von ihren früheren Kameraden mehr bei der
Kompanie vorfanden. Da war nun plötzlich betrieb im Laden; die Schreibstube, die
Bekleidunskammer, die Waffenmeisterei und nicht zuletzt die Küche hatten zusätzliche
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Arbeit bekommen. Alles lief zwischen den Zelten hin und her, jeder auf seine Art
beschäftigt. Ich schaute dem Treiben längere Zeit zu, bis da zwei an mir vorbeigingen, die
ich ja tatsächlich elsässisch reden hörte, und zwar kam mir die Mundart bekannt vor, fast
straßburgisch, aber doch auch wieder nicht. „He!“ rief ich sie an „wo sinn denn ihr zwei
här?“ – „A vun Bische. Un dü?“ – „Usm Nejderfel“. Wir stellten uns gegenseitig vor; der
eine war der Rossdeutsch Emil, der andere der Schaeffer Valentin, kurz Valles genannt, wie
mir sein Kumpel gleich erklärte. Nun war ich doch nicht mehr der einzige Elsässer bei der
Kompanie. „Jetz simmer drej“, meinte Valles, „jetz kann uns nix meh bassiere. Les Trois
Mousquetaires.“ Ja, erwiderte ich, die seien aber vier gewesen. „De Viert isch Sani bim
Badeljohn, de Stamm Robert von Schillige!“ Allgemeines Gelächter, so daß einige die unser
Gespräch gehört, aber nicht verstanden hatten, uns verwundert anschauten. Von da an
verband uns unverbrüchliche Freundschaft.
Unter den neu Angekommenen lernte ich bald auch noch einige andere kennen, alles
Ostpreußen. Da waren zwei, die ein ungleiches Paar bildeten, ein Großer Breitschultriger,
und ein Kleiner Schmalbrüstiger. Der Große war der Nadler, der Kleine der Kirsten, beide
über die dreißig hinaus, Kirsten wohl sogar bei vierzig alt. Sie hatten bisher in Garnisonen
gelebt und waren noch nie draußen gewesen. Beide waren ziemlich bedrückt, der kleine
und schmächtigere schien sein Los aber besser zu tragen als der äußerlich so kräftig
ausschauende Nadler. Und da war noch ein dritter, schon über die Vierzig, verheiratet und
Familienvater, ein ostpreußischer Pastor namens Albert Baron. Als wir später in
verschiedenen Abschnitten lagen, wo es ziemlich ruhig herging, führte ich mit ihm
mehrmals philosofisch-theologische Gespräche, gab ihm auch Josef Piepers „Kleines
Lesebuch von den Tugenden des menschlichen Herzens“ zu lesen, das damals im Alsatia
Verlag in Kolmar erschienen, und mir von meinem Straßburger Chef Jean Heinrich
zugeschickt worden war. Die kleine Broschur steht auch heute noch in meiner Bibliothek,
nachdem ich sie die ganze Zeit zusammen mit dem Soldbuch in der Brusttasche meines
Waffensrocks mit mir herumgetragen hatte.
Bald waren auch diese paar ruhigen Tage beim Troß zu Ende, und wir mußten wieder
abrücken, zunächst per Bahn bis nach Vaivara. In der nun folgenden Zeit – Mai, Juni und
bis knapp Mitte Juli – haben wir mehrmals die Stellung gewechselt, immer aber hielten wir
uns in der Nähe dieses Scharniers bei Vaivara auf, mal mehr, mal weniger nach Osten zu,
vielleicht auch einmal gegen Südwesten hin. Ich entsinne mich nicht mehr genau, an die
verschiedenen Vorkommnisse, und schon gar nicht in welchem Abschnitt dies oder jenes
passiert ist. Im großen ganzen ist es da, wo wir eingesetzt waren, verhältnismäßig ruhig
hergegangen. Natürlich gab es gelegentliche gegenseitige Beschießungen, wir hatten auch
einige Tote und Verwundete zu beklagen, aber in schwere Kämpfe sind wir nicht verwickelt
worden. Zunächst landeten wir in der Nähe von Vaivara wieder im Sumpf. Es waren die
letzten Apriltage, das Tauwetter war voll im Gang, und man war schon froh, wenn man in
einem einigermaßen trockenen Bunker liegen konnte. Es wurde schnell warmer tagsüber,
aber die Nächte blieben noch kalt. Doch auch sonst wurde der Wald lebendig, insbesondere
die Vogelwelt. Wenn nicht gerade eine Schießerei im Gang war, hätte man sich den ganzen
Tag über, ein allerlieblichstes Konzert anhören können. Leider wurde einem der Genuß
schon verdorben wenn man an sich herunter und um sich herum blickte und die Umstände
und Verhältnisse besah, in denen man lebte. Ergreifend war es ganz besonders, wenn in
den hellen Juni-Julinächten der Gesang der Nachtigallen im Maschinengewehrgeknatter
unterging. Von sonstigen Tieren habe ich im Wald nichts bemerkt, als höchstens einige
Haselmäuse. Einmal aber verlief sich ein Elch in den Abschnitt unseres Bataillons. Er wurde
erlegt und wir aßen nahezu eine Woche lang nur noch Elchfleisch, sei es als Braten, als
Gulasch oder als Klopse. Hierzu will ich nebenbei bemerken, daß wir öfters auch
Pferdefleisch aßen; es gab noch viele Pferde die als Zugtiere dienten, und von denen so
manches auf der Fahrt nach vorn den Heldentod starb oder verwundet wurde und
geschlachtet werden mußte. Und nicht immer kamen dabei Kutscher vom Bock und
Beifahrer mit dem Schrecken davon.
Mit dem Schrecken davon gekommen bin ich selber einmal beim Essenholen. Mittags und
abends kam die Feldküche (mit zwei Pferden bespannt) in die Nähe des BataillonsGefechsstands. Dort mußte das Essen mit Kochgeschirren und der Kaffee mit Feldflaschen
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abgeholt werden. Die Kochgeschirre waren so gebaut, daß man je drei zusammenhängen
konnte, die man dann am Henkel des mittleren trug. Auch die Feldflaschen konnten
miteinander verknüpft und um den Hals gehängt werden. So war es üblich, daß jeweils ein
Mann mit sechs Kochgeschirren und sechs Feldflaschen nach hinten ging. Das taten wir
abwechselnd in einer bestimmten Reihenfolge. Man gab sich Mühe, dabei geräuschlos zu
verfahren, aber das Klappern der Geschirre war nicht ganz zu vermeiden, und manchmal
wieherte auch ein Pferd. Der Iwan lag auf der Lauer, kannte die Essenszeiten und verfügte
über Horchgeräte. Da kam es denn öfters vor, daß er, uns einige Klopse zu der Suppe
herüberschickte. Bisher war ich da immer gut davongekommen. Eines Tages im Mai war ich
wieder an der Reihe, das Mittagessen vorzuschaffen. Es war ein schöner, sonniger
Frühlingstag. Wir gingen immer einzeln, in Abständen, damit nie mehrere gleichzeitig bei
der Feldküche standen, eben wegen der Gefahr eines Feuerüberfalls. Als ich meine sechs
Portionen gefaßt hatte, hängte ich mir die Feldflaschen um, nahm meine Kochgeschirre auf
und ging auf dem Weg zurück den ich hergekommen war. Schon sah ich die Stelle, wo ich
links über den Graben in den Wald hinein mußte, da ertönte, eben von links her, das
vertraute flop, flop, flop, flop. Der Iwan klopste also. Ich hatte keine Zeit zu überlegen,
wohin die Schüsse gehen könnten, denn schon hörte ich es über mir rauschen. Ich warf
mich samt meiner Traglast in den Graben und hörte ziemlich weit rechts den vierfachen
dumpfen Aufprall. Ich sah, und spürte nun erst, daß ich im Wasser lag, hüben und drüben
von mir die sechs Kochgeschirre mit dem Deckel nach unten. Ich erhob mich und nahm sie
wieder auf. Keines war ausgelaufen. Ich nahm mir keine Zeit darüber zu staunen, sondern
trachtete, so schnell wie möglich, vor in die Stellung zu kommen. Im Forteilen, wurde mir
dennoch klar, daß die Granaten im Sumpf niedergegangen waren, wodurch die
Splitterwirkung praktisch neutralisiert wurde. Ich war zwar an meiner Vorderfassade
ziemlich naß geworden, aber bis zum Abend war alles wieder trocken, und die Graupen mit
Schweinefleisch haben mir nie so gut geschmeckt wie an jenem Tag.
Eine Zeitlang zog sich unser Kampfabschnitt am Rande einer Waldschneise hin. Diese
Schneise war sehr breit, meiner Schätzung nach immerhin hundert Meter, durchweg mit
niedrigem Buschwerk bewachsen. Am jenseitigen Rand lag der Iwan. Unsere Stellung war
gut ausgebaut, mit lauter halbeingegrabenen Holzbunkern, wovon zwei oder drei als MGNestern dienten. Das Unterholz stand am Waldrand ziemlich locker, deshalb hatte man
freie Stellen künstlich mit einer sogenannten Blende aus miteinander verflochtenen
Fichten- und Kiefernästen abgedeckt. Solch eine Stelle befand sich gleich rechts von dem
kleinen Bunker, den ich allein bewohnte, während Emil und Valles zehn Meter links von mir
miteinander in einem größeren lagen. War man an reihe, Posten zu stehen, so geschah das
natürlich außerhalb des Bunkers hinter der Blende. Als ich nun einmal nachts dort stand
kam, wie gewohnt, der patrouillierende Unteroffizier vorbei, der zu kontrollieren hatte, ob
alle auf ihren Posten waren. Es war ein Feldwebel den ich erst ein- oder zweimal gesehen
hatte. Er stellte sich neben mich, machte ein erstauntes Gesicht: „Ist das Ihr Guckloch?“
und deutete auf eine immerhin dreißig- vierzig Zentimeter im Geviert große Öffnung in der
Blende, durch die ich das Gelände vor mir beobachten konnte. „Jawohl, Herr Feldwebel!“ –
„Das ist ja viel zu winzig, da sehen Sie doch so gut wie nüscht!“ protestierte er, und an
diesem nüscht erkannte ich den Ostpreußen. Dann riß er ein riesiges Loch in die Blende, so
daß man mit dem Oberkörper bis zum Gürtel schon aus der Ferne sichtbar werden mußte.
„So“, meinte er, „dann stellen Sie sich dicht an die Blende heran, so weit vor wie möglich.
Jetzt haben Sie freie Sicht und können das Gelände nach rechts und links mindestens
hundert Meter weit überschauen.“ Dabei redete er so laut, daß ich fürchtete, er könne vom
Iwan gehört werden, oder wenigstens von einem im Gebüsch liegenden vorgeschobenen
Horchposten. „Jawohl Herr Feldwebel!“ sagte ich, und wagte den Einwand: „Aber so kann
ich auch ersehen werden.“ – „Schußfeld geht vor Deckung!“ schnauzte er mich an und
setzte seinen Rundgang fort. Ich hätte auch noch bemerken können, daß ich zwar das
Gelände soweit überschauen, aber bei Nacht, im Gebüsch, auf große Entfernung wohl kaum
etwas sehen konnte, was andere, die näher dabei lagen, nicht auch schon gesehen hätten.
Aber mit einem Preußischen Feldwebel streiten zu wollen, hat keinen Sinn. Tags darauf
flickte ich das aufgerissenen Loch wenigstens so weit zu, daß nur mein Kopf oben
herüberschaute. Ich mußte an jenen Soldaten denken, den ich im April entdeckt und aufs
Korn genommen hatte. Bei dem mußte vielleicht auch Schußfeld vor Deckung gehen…
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In diesem Frontabschnitt und im gleichen Bunker hatte ich kurz darauf ein anderes
Erlebnis. Eines Tages, als ich in meinem Bunker lag und nichts zu tun hatte, gewahrte ich
in der Wand mir gegenüber zwischen zwei der Rundhölzer einen Gegenstand, den ich hier
nicht erwartet hätte, den ich aber gleich als ein Gewehrreinigungsgerät erkannte. Seit den
Zeiten der Ausbildung auf dem Truppenübungsplatz Mielan hatte ich nichts derartiges mehr
gesehen. Als ich den Deckel der flachen, an den Seiten abgerundeten Blechdose öffnete,
sah ich, daß fast alles drin war, was dazu gehörte, nämlich die Kette mit ihren zylindrischen
Weichmetallgliedern und einige Dochte aus zusammengepreßten Lumpenfasern oder wie
das Zeug auch immer hergestellt wurde, aber weder Fett noch Öl. Nun juckte mich der
Hals, weiß der Teufel weshalb. Ich ergriff mein Gewehr, zog das Schloß heraus und schaute
durch den Lauf: der saß voller Rost, und Pulverschleim. Kein Wunder auch. Die Stellung
war bisher so ruhig, daß ich seit unserer Ankunft hier noch keinen Schuß abgegeben hatte,
und das konnte schon eine, wenn nicht zwei Wochen her sein. Ich beschloß also, einen
Docht hindurchzuziehen. Gedacht, getan. Ein Docht war gleich an die Kette gehängt, die
Kette glitt durch den Lauf, beim Schloß hinein, bei der Mündung heraus. Nun die Kette bei
der Mündung fest angefaßt, ein zackiges Hauruck – und der Docht saß im Lauf fest
eingezwängt. Ein noch kräftigeres Hauruck – und die Kette zerriß wobei ein Stück im Lauf
hängen blieb! Du Esel! Du Idiot! Hast doch genau gewußt, daß ein Docht ohne Öl selbst
durch den picobello blanken Lauf nur mit Mühe hindurchgleitet! Und nun willst du ihn ohne
einen Tropfen Öl oder ein Krümel Fett durch dieses Scheißhausrohr ziehen?! Ich hätte mir
selber in den Allerwertesten treten können. Was nun tun? Da verfiel ich auf eine glanzvolle
Idee. Wozu hat man denn einen Gewehrstock? Natürlich zum Laufreinigen. Früher einmal
zum Laden, als es noch Vorderlader gab. Mit dem Gewehstock muß man doch den Pfropfen
hinausdrücken können. Also rasch das Ding aus dem Gewehrschaft herausgeschraubt und
vom Schloß er in den Lauf geschoben. Es ging ohne weiteres, nur saß der Docht so tief
drin, daß ich ihn zwar erreichen konnte, vom Gewehrstock aber nur noch sowiel hinten
herausschaute, daß ich ihn zwar mit Daumen und Zeigefinger fassen konnte, aber auf diese
Art keine Kraft hatte, um einen Druck auszuüben. Da war ich aber schlauer, als ich selber
bedacht hätte. Eben weil die Gewehrstöcke so kurz waren, hatte man sie so gebaut, daß
zwei oder drei zusammengeschraubt werden konnten. Ich sprang gleich die paar Schritte
hinüber zu meinen Bischheimer Freunden und erzählte ihnen, welch großartige Leistung im
Dienst ich vollbracht hatte. Sie fanden, daß ich dafür mindestens vierzehn Tage Urlaub
verdiente und einer – ich weiß nicht mehr wer – nahm seinen Ladestock und ging gleich
mit, um mir beim „Drücken“ zu helfen. Da schraubte ich den zweiten Ladestock auf den
meinen und drückte aus Leibeskräften. Da spürte ich, daß sich etwas bewegte, vielleicht
um einen halben, oder etwa gar um einen ganzen Zentimeter. Da machte mein Kumpel
einen Versuch: er war ja älter als ich, folglich stärker! „Ja mebbele!“ meinte er. „Do isch
méchante farine aux quenelles“. Ich mußte lachen. Diese französische Übersetzung von
„Bees Mähl an de Knepfle“ hatte ich noch nie gehört. Damit war aber nicht geholfen. Nun
hielt ich das Gewehr verkehrt, mit dem hinten herausstehenden Ladestock gegen einen der
Fichtenstämme des Bunkers und drückte aus Leibeskräften dagegen. Es gab ein Loch ins
Holz, und das war alles. Auf diese Art ging es also nicht. Heraus den mit den beiden
Gewehrstöcken! Ich zog: keine Bewegung. Der andere zog: mit demselben Erfolg. Nun
begriff ich warum es anfangs einen kleinen Ruck gegeben hatte: Mein Gewehrstock hatte
sich in den Docht hineingedrückt und saß nun dort fest. Verdammte Scheiße! Mir wurde
klar, daß ich den Vorfall würde melden müssen, und daß es dabei etwas absetzen würde.
„Aber heut Abend nicht mehr, morgen früh“, sagte ich zu meinem Freund, schraubte seinen
Gewehrstock heraus und gab ihn ihm zurück. Es war in der Tat Abend geworden und ich
war wieder an der Reihe, Posten zu stehen. Das Abendessen hatten wir bereits vorher
eingenommen, und die ganze Geschichte war sowieso schneller verlaufen, als ich sie
erzählen konnte. Ich bezog also meinen Posten neben dem Bunker an der Blende. Dabei
hielt ich mein Gewehr so in beiden Armen, daß auf den ersten Blick niemand merken
konnte, daß meinem Schießprügel das Schloß fehlte und ich hätte damit höchstens
dreinschlagen aber nicht schießen können. Zum Glück verging meine wache ohne daß ich
kontrolliert wurde. Dann ging ich in meinen Bunker, hing mein Gewehr an die Wand und
legte mich hin. Es dauerte nicht lange, da brach die Nacht herein. Bald gewahrte ich durch
die Schießscharte, daß da draußen irgendeine Unruhe herrschte. Dauernd gingen weiße
Leuchtkugeln hoch, die das Gebüsch vor mir in vollem Glanz erstrahlen ließen. Von rechts
her knatterte Infanteriefeuer. Dann, auch wieder rechts, wurde geklopst, ob von drüben
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herüber oder von hüben hinüber, konnte ich nicht unterscheiden. Da verdunkelte sich der
Eingang zu meinem Bunker, jemand sprach mich an und ich erkannte die Stimme meines
alten Bekannten, des Unteroffiziers der damals bei Vaivara die 14 köpfige Kompanie
geführt hatte. „Aufpassen! Alarmbereitschaft! Der Iwan scheint einen Angriff zu
beabsichtigen. Warum haben Sie denn Ihr Gewehr nicht in Händen?“ – „Weil ich damit
nicht schießen kann, Herr Unteroffizier.“ Und dann mußte ich halt beichten. Er griff sich an
die Stirne: „Sind Sie total verrückt geworden? Das könnte Ihnen ja als Sabotage, als
Schädigung der Wehrkraft ausgelegt werden! Wollen hoffen, daß die Nacht vorbeigeht ohne
Angriff. Rechts von uns ist etwas im Gange. Morgen früh aber, beim ersten Hahnenschrei,
begeben Sie sich mit dem Gewehr zum Bataillonsgefechtsstand, melden sich beim
Waffenmeister und erzählen ihm Ihre Geschichte. Der wird seine helle Freude daran haben.
Der Docht muß mit einem glühenden Eisenstab ausgebrannt werden. Das wird der
Oberfeldwebel mit dem größten Vergnügen tun, es kommt ihm ja selten genug vor!“ Ich
hatte mal wieder Glück gehabt, das es ausgerechnet dieser Unteroffizier war und nicht
jener Feldwebel der mich kurz zuvor wegen der Blende angeschissen hatte. Die Nacht
verging tatsächlich ohne besondere Vorkommnisse. Ich mußte nochmals Posten beziehen,
wurde aber diesmal vom selben Unteroffizier kontrolliert, der nur den Kopf schüttelte und
wohl am liebsten gelacht hätte, als er mich da stehen sah mit dem Gewehr ohne Schloß
unterm Arm. Wirklich gelacht hat am andern morgen der Waffenmeister, als ich mich bei
ihm meldete. Das sei ihm nur einmal in seiner Karriere vorgekommen, sagte er, und zwar
beim Ersatzhaufen, noch nie aber vorn in der Stellung. Er gab mir ein anderes Gewehr und
schickte mich fort: „Machen Sie, daß Sie loskommen, Sie Schlot!“ Es gab eben alte Krieger
die Verständnis aufbrachten für junge Rekruten. Gelacht haben auch meine Freunde Emil
und Valles, als ich ihnen den Schuß der Geschichte erzählte. Schade, daß sie nicht mehr da
sind; ich glaube wir würden auch heute noch in ein schallendes Gelächter ausbrechen,
wenn ich ihnen sagen könnte: „Weisch noch, zällemols?!“
Bevor wir in diesem an sich ruhigen Abschnitt abgelöst wurden, gab es nochmals eine
Nacht mit Aufregung. Diesmal probierte der Iwan bei uns, was ihm zuvor rechts von uns
nicht geglückt war. Diesmal hatte ich allerdings ein Gewehr und mußte es auch
gebrauchen. „Der Iwan is fickerig“, wurde durchgesagt; „aufpassen, er scheint etwas
vorzuhaben.“ Wirklich gingen diesmal die Leuchtkugeln in unserem Abschnitt hoch. Ich
selbst verfügte um eine Leuchtpistole und schoß zwei oder drei Patronen ab, um sehen zu
können, ob im Gebüsch sich etwas regte. Einmal schien es mir tatsächlich, als hätte ich
eine Bewegung bemerkt. Nun lag da auf meinem Waffentisch noch ein anderes Gerät, das
uns in der Ausbildung vorgeführt worden war, aber noch nicht allgemein zum Einsatz kam.
Das war der sogenannte Schießbecher, eine Art Mini-granatwerfer, den man über den Lauf
des Gewehrs stülpte, mit einer kleinen Granate von etwa 3,5 bis 4cm Kaliber lud, die dann
mittels einer Spezialpatrone und eines eigens ans Gewehr angebrachten Zielgeräts
abgefeuert wurde. So konnte man im Steilbeschuß Ziele erreichen, die durch
sichtbehindernde Elemente wie eben hier das Gebüsch gedeckt waren. Als ich vermutete,
daß da kaum fünfzig Meter vor mir etwas vor sich ging, was mir hätte gefährlich werden
können, lud ich meinen Schießbecher, steckte mir eine zweite Granate in die Tasche, trat
hinter den Bunker wo ich das Gewehr mit dem Kolben auf dessen Decke aufsetzen konnte
und schickte die zwei Granaten ins Gelände. Ein Resultat konnte ich nicht feststellen, aber
etwas muß doch an der Sache gewesen sein, denn im selben Augenblick gingen
Signalleuchtkugeln grün-gelb-rot bei uns hoch, und das bedeutete, daß Artillerie
Unterstützung verlangt war. Ich ging in meinen Bunker und, bald lag vor unserer Front ein
ordentliches Sperrfeuer, wie ich es damals in der ersten Stellung hatte selbst über mich
ergehen lassen müssen. Nachher herrschte wieder Ruhe.
Allmählich ging so der Monat Mai seinem Ende entgegen. Da lief eines Tages die frohe
Botschaft von Bunker zu Bunker: wie werden von der Front abgezogen und in Ruhestellung
zum Troß verlegt. In der Folgenden Nacht kam tatsächlich die Ablösung. An Einzelheiten
erinnere ich mich nicht. Jedenfalls machten wir den üblichen mehr oder weniger langen
Marsch bis zur Bahnstrecke, bestiegen die bereitstehenden Güterwagen und ließen uns
nach Jöhvi kutschieren. Dort, unweit vom Troßlager im Wald, mußten wir uns die
Ruhestellung erst mal bauen. Je vier Mann taten sich zusammen, das waren in meinem Fall
die zwei Bischheimer, ich selbst, und wer der vierte war ist mir total aus dem Gedächtnis
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geschwunden. Zunächst hatten wir Zimmermannsarbeit zu tun. Dazu lag bereits jede
Menge bereits entästeter Fichtenstämme bereit, von den Pionieren gefällt und in annähernd
2,5 bis 3 Meter lange stücke zersägt. Daraus errichteten wie in der Art des Blockhausbaues
ein gut kniehohes Viereck, darüber aus vier Zeltbahnen ein Dach. Jeder besaß ja eine
dreieckige Zeltbahn von 2 M Seitenlänge und das nötige Zubehör an Spannschnüren und
„Heringen“ (so nannte man ihrer irgendwie fischförmigen Form wegen die Zeltpflöcke an
denen die Schnüre zu befestigen waren. Die Zeltbahnen waren an einer Seite mit Knöpfen,
an der anderen mit Knopflöchern, an den Ecken mit jeweils einer metallenen Öse versehen.
Nun wurden vier Dreiecke so zusammengelegt und –geknüpft, daß ein Quadrat entstand,
das man in der Mitte mit einem zugespitzten, durch die vier übereinanderliegenden Ösen
gesteckten Pfahl emporschob und an den vier Ecken mit den Schnüren an den Heringen
befestigte. Genau gesagt sollte der Pfahl in der Mitte eine eiserne Stange sein, von der
jeder ein Stück besaß, wovon dann vier teleskopisch zusammengesteckt wurden. Meist
aber fehlte mindestens eine dieser Röhren, wie das auch bei uns der Fall war. Wir plagten
uns auch nicht lange mit der Herstellung eines hölzernen Pfahls, sondern banden die Spitze
der Zeltpyramide am Ast eines Baumes fest. Auch mit Spannschnüren und Heringen
brauchten wir uns nicht abzugeben. Man hatte uns starke Nägel gegeben, die nun am
oberen Rand der Blockhauswände durch die Ösen an den Zeltbahnen getrieben und zu
Haken umgeschlagen wurden. Man hatte uns auch mit genügend Stroh versehen, das wir
zwischen den vier Wänden aufhäuften, und darauf lagen wir nachher wie Paschas. Zwei
Wochen lang!!
Nun hatten wir zwar eine Ruhestellung bezogen, mußten aber sehr schnell merken, daß
dies nicht bedeutete, wir könnten jetzt Tag und Nacht auf dem Pelz liegen und
zwischendurch mal ein wenig spazieren gehen. An der Front hatten wir nämlich mehr oder
weniger vergessen, daß es in jeder Kompanie auch einen Spieß gibt. Der liegt allerdings
nicht vorn im Loch sondern hinten bei der Schreibstube. Kommt nun aber die Kompanie
mal eine Zeitlang nach hinten in Ruhestellung, dann ist der Spieß wieder der wichtigste
Mann, derjenige der den Dienst organisiert. Und mit Dienst wurden wir jetzt tatsächlich
wieder versorgt, zwar nicht geradezu wie auf dem Kasernenhof mit Exerzieren, aber doch
immerhin mit Antreten, Befehlsausgabe und ähnlichem Schnickschnack, und dann
hauptsächlich ausmarschieren zu Geländedienst und zur Ausbildung an neuartigen Waffen,
die dann nachher vorn nicht zum Einsatz kamen, weil nicht genügend davon vorhanden
waren. Dazu gehörte ein neuartiges Schnellgewehr mit Zielfernrohr, das einzige Exemplar,
daß ich je zu sehen bekam und zum Glück nie gebrauchen mußte. Dazu gehörte auch das
sogenannte Ofenrohr, eine neuartige Raketenwaffe, mit der man Panzer knacken konnte;
oder auch die vereinfachte Form davon, die sogenannte Panzerfaust, auch nach dem
Raketenprinzip gebaut, und deren Wirkung in der Tat verheerend war, wenn der Schuß
richtig saß. Ich selber mußte einmal solch eine Panzerfaust auf einen Holzstoß von
vielleicht zwei oder drei Festmetern aus einer Entfernung von dreißig Metern abfeuern.
Dieses Ziel nicht zu treffen wäre schon eine große Kunst gewesen, drum traf ich es und die
Scheiten flogen wie Streichhölzer nach allen Seiten weg.
Na ja, ich will nicht übertreiben. Wir waren nicht den ganzen Tag mit Dienst und
Ausbildung beschäftigt. Es gab auch einen guten Teil Freizeit, während der man, z. B. im
Wald umherstreifen konnte. So entdeckte ich eines Tages einen kleinen Bach, der sich
unfern von unserm Lager durch den Tannenwald schlängelte. Er war kaum drei Meter breit,
aber gut einen Meter tief, mit dem schönsten, klarsten Brunnenwasser und einer so
langsamen Strömung, daß man sie kaum wahrnahm. Es war heiß und mich überkam die
Lust nach einem kühlen Bad. Ich zog mich aus, hielt die Fußspitzen ins Wasser, und fand
es eher kalt als kühl. Trotzdem ließ ich mich langsam bis zur Taille hineingleiten, stieß
dann ab, machte sechs oder sieben rasche Schwimmzüge und kletterte schleunigst wieder
ans Ufer. Das muß in den ersten Junitagen passiert sein, aber das Wasser war noch eiskalt.
Da merkte ich erst, daß ich gar kein Handtuch dabei hatte, um mich abzutrocknen. So
schlüpfte ich denn naß in meine Hose, und wickelte meine Lappen um die Füße, schlüpfte
in die Stiefel und sprang auf dem schnellsten Weg in unser Zelt. Dort rieb ich mich mit
Stroh ab, wie ein Pferd und suchte mir einen sonnigen Platz, wo ich vollends trocknen
konnte. Als ich meine Freunde die Stelle meiner Heldentat besichtigen ließ, stellten wir
fest, daß in einer Biegung des Baches unterm überhängenden Ufer ein dünner Streifen Eis
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hing. So geschehen im Wald bei Jöhvi wahrscheinlich in den allerersten Tagen des Juni
1944.
Kurz danach erlebten wir nämlich die größte Freude, die wir Elsässer (abgesehen von einer
eventueller aber höchst unwahrscheinlicher Entlassung in die Heimat) an der Ostfront
überhaupt erleben konnten. Eines Nachmittags, als ich wieder einmal so umherschlenderte
(„Ich ging im Walde so für mich hin – Und nichts zu suchen, das war mein Sinn – Goethe)
traf ich an meine Bischheimer Freunde. Sie winkten mir schon von Weitem aufgeregt zu,
und als wir nahe beieinander hielten, sagte einer von ihnen, mit gedämpfter Stimme (ich
glaube es war der Valentin Schaefer): „Weisch `s Nejscht? „Sie“ sin gelandt!“ Die beiden
Bischheimer waren aus irgendeinem Grund auf der Schreibstube gewesen, wo es ein
Radiogerät gab, und hatten die Nachricht von der alliierten Landung in der Normandie in
der Frühe des 6. Juni am selben Nachmittag brühwarm mitbekommen. Ich hätte am
liebsten laut gejubelt, nahm mich aber zusammen, denn diese Freude durften wir uns nicht
anmerken lassen. Wenn wir aber einander anschauten, dann blitzte und funkelte es nur so
in allen Augen. Unsern ganzes Gespräch resümierte sich in dem Wunsch: „Jetzt aber so
schnell wie möglich nach Hause, damit „sie“ nicht noch vor uns dort ankommen“. Ich
konnte nicht ahnen, daß ich der einzige von uns Dreien sein sollte, dem dieser Wunsch in
Erfüllung gehen würde.
Was sich sonst noch während dieser zwei Wochen im Walde bei Jöhvi zutrug, war nicht
mehr besonders bemerkenswert. Über den weiteren Verlauf der Ereignisse in der
Normandie erfuhren wir verständlicher Weise nicht viel, es sei denn, daß die Amerikaner
zwar ein paar teuer bezahlte Anfangserfolge aufzuweisen hatten, aber wenn erst einmal
unser Gegenschlag erfolgte, dann würden sie bald wieder im Meer liegen und ersaufen. Mit
der Zeit wurde überhaupt nicht mehr davon geredet. Nun wußten wir schon, was wir dazu
zu denken hatten.
Kurz erwähnen will ich noch ein anderes, völlig nebensächliches Erlebnis. Eines Tages
wurde bei der Befehlsausgabe bekanntgegeben, daß die Kompanie heute zur Sauna gehen
würde. Ich hatte das Wort schon gehört und hatte eine vage Vorstellung von der Sache.
Andere hätten vielleicht gefragt, ob das etwas zu essen wäre. Kurz, wir wurden in Gruppen
von etwa einem Dutzend Leuten eingeteilt, erhielten jeder ein Handtuch und wurden an die
Stelle geführt, wo das Schauspiel stattfinden sollte. Auf einer Waldlichtung am Ufer des
Baches, in dem ich vor kurzem jenes kühle Bad genommen hatte, stand ein Blockhaus im
Ausmaß von vielleicht sechs mal vier Meter, oder eher noch größer. Daran befanden sich
keine Fenster, aber eine einzige schmale Tür, die jetzt geschlossen war. Hart dabei standen
fünf oder sechs Mann, nur mit der Hose bekleidet, und bei jedem zwei Tucheimer voll
Wasser. Der Unteroffizier, der mit uns gekommen war, führte uns aleseits an den
Waldrand. Dort sah ich eine Anzahl Kleidungsstücke auf kleinen Haufen liegen. „So, meine
Herren“, sagte er, „für diejenigen die es nicht wissen sollten, will ich kurz erklären, was
eine Sauna ist. Die Sauna ist das finnische Schwitzbad. Man tritt ein in die warme Stube,
nach einer Weile kommt der heiße Dampf, da geht man eine Viertelstunde drin spazieren,
und am Ende kommt die kalte Dusche. Das treibt den Dreck mitsamt dem Schweiß aus
allen Poren. Was ist also eine Sau…na? Man geht als Sau hinein, und kommt als Mensch
heraus. Und nun: alle Mann barfuß bis zum Scheitel!“ Man zog sich aus und legte die
Kleider am Waldessaum nieder. „Alles fertig?“, rief der Unteroffizier. „Dann kann’s
losgehen.“ Ein Pfiff aus seiner Trillerpfeife, die Tür am Blockhaus ging auf, einer nach dem
anderen kamen Männer im Adamskostüm heraus, jeder erhielt einen Eimer voll Wasser
über Kopf und Schultern. Zugleich mit ihnen quoll auch eine Dampfwolke aus der Tür. Mehr
konnten wir nicht sehen, denn nun mußten wir eintreten. Die Tür wurde wieder
geschlossen, der Dampf war so ziemlich abgezogen, aber da drin herrschte eine Hitze wie
ich sie noch nie gekannt hatte. In einer Ecke des Blockhauses lagen übereinandergetürmt
riesige Steinblöcke, ob Granit oder was sonst konnte ich nicht unterscheiden. Die waren
glühend heiß, das spürte man, wenn man näher trat. In der andern Ecke stand ein grover
aufgemauerter Behälter mit Wasser. Nachdem wir dreimal rundum gegangen waren,
gingen zwei von uns, die wohl vorher unterrichtet waren, daran, Wasser auf die heißen
Steine zu gießen, so daß eine Dampfwolke entstand in der ich zu ersticken meinte. Wir
gingen immer rundum, wieder und wieder. Ob es eine Viertelstunde gedauert hat, kann ich
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nicht sagen. Auf einmal ertönte draußen die Trillerpfeife, die Tür ging auf, wir drängten
hinaus und bekamen die kalte Dusche. Es war das Wasser aus dem Bach, in dem ich vor
einigen Tagen gebadet hatte. Jetzt aber kam es mir noch eisiger vor als damals. Der
Unteroffizier stand allein da; unsere Gruppe war die letzte gewesen. „Nun zieht euch an,
geht in eure Zelte und haut euch hin“, sagte er. „Für heute ist Dienstschluß“.
Ein letztes bleibt noch zu erwähnen, womit unser Aufenthalt in der Ruhestellung
gewissermaßen abgeschlossen wurde. Eines Tages wurde bekannt: Heut wird es einen
Unterhaltungsabend geben. Leider weiß ich nur noch, daß so etwas überhaupt
stattgefunden hat, worin es im Einzelnen bestand, habe ich völlig vergessen. Ich erinnere
mich, daß wir eines Abends mit Lastwagen nach dem 10 bis 12 KM entfernten Toila fuhren,
wo in einer großen Scheune (oder was das immer für ein hölzernes Gebäude war) ein
Podium aufgebaut war, auf dem etliche Unterhaltungskünstler und –künstlerinnen ein
Varieté-programm vorführten, mit den üblichen gefühlsduseligen Liedern, faulen Witzen
und dicken Propagandaschlagern. Es ist wahrscheinlich, daß auch Bier ausgeschenkt wurde
und vielleicht hatte man sogar eine Zuteilung von Aquavit ermöglicht. Ich glaube kaum,
daß die versammelte Truppe in Hochstimmung geriet. Wir paar Elsässer jedenfalls, die wir
uns kannten, saßen beisammen auf einer Bank und ließen den Spaß in derselben stoischen
Haltung über uns ergehen, wie wir auch die ernsthaften Dinge einkassieren mußten. Der
Abend verging und hinterließ, wie gesagt, bei mir kaum Spuren im Gedächtnis. Ob wir
dann gleich anderntags oder erst etwas später wieder zur front fuhren, weiß ich auch nicht
mehr. Lange gedauert hat es jedenfalls nicht und schon lagen wir wieder in unseren
Bunkern und sonstigen Gefechtsständen „vorn im Loch“, wie es so hieß.
Die Kompanie hatte nochmals Verstärkung erhalten, so daß wir jetzt wohl etwa fünfzig
Mann zählten. Nun waren auch wieder eine Reihe von Unterführern vorhanden,
Unteroffiziere, Feldwebel, usw., die den Haufen zusammenhalten mußten. Dafür hatten wir
jetzt auch einen größeren, wohl an die 400 Meter langen Abschnitt zu besetzen bekommen.
Er erstreckte sich auf zweierlei Gelände, der rechte Flügel und das Zentrum zog sich am
Waldrand auf verhältnismäßig trockenem Boden hin; ganz links aber war Sumpf, ein
flaches Torfmoor, auf dem das Wasser einen halben Meter hoch stand. Man gelangte in die
stellung von rechts her durch ein Stück Sumpfwald, das in einer Senke lag. Der Wald war
vermint, der Pfad von dem man nicht abweichen durfte, war an der Seite durch ein weißes
band bezeichnet, und führte stellenweise über Knüppeldämme. Wenn man aus der Senke
heraufkam, betrat man unseren Frontabschnitt. Dort wurde ich, zusammen mit einem
älteren, wohl 35 jährigen Kameraden in einen ziemlich geräumigen Bunker eingewiesen, an
dem es keine Schießscharte gab. Man betrat ihn von hinten durch eine schmale, niedrige
Öffnung, und benutzte ihn lediglich zur Ruhe oder zum Aufenthalt bei Regenwetter. Mein
Kamerad war (wieder einmal) ein Hamburger, und, wie man in diesem Fall fast erwarten
konnte, viel zur See gefahren; allerdings nicht als Matrose, sonst hätte man ihn in die
Kriegsmarine gesteckt. Ich kann mich jetzt nicht mehr mit Sicherheit erinnern, ob er Koch
oder Steward gewesen war, jedenfalls erzählte er mir, daß er mit verschiedenen kleineren
und größeren Passagierschiffen ein Stück durch die Welt gefahren war. Er wird mir wohl
auch Einzelheiten erzählt haben, aber die habe ich vergessen. Sowieso konnten wir nur
selten einmal ein längeres Gespräch führen, da ja immer einer von uns beiden draußen
neben dem Bunker Posten stehen mußte, während der andere schlief oder sich sonstwie
beschäftigte. Wir lagen am rechten Flügel mehr zur Mitte hin, und hatten, wie bereits
erwähnt, trockenen Boden unter den Füßen. Einige Schritte hinter unserem Bunker befand
sich so etwas wie ein Munitionslager, das aus lauter Minen bestand. Es lag da aufgestapelt
ein großer Haufen Tellerminen, die gegen Panzer eingesetzt werden konnten, und daneben
zahlreiche sogenannte Schützenminen, kleine Holzkästchen mit einer Sprengladung drin.
Zwar fehlte überall der Zünder, und im Augenblick waren die Dinge also harmlos. Aber ich
fragte mich dennoch, was passiert wäre, wenn da eine Artilleriegranate hineinfuhr? Wenn
die alle miteinander losgegangen wären, dann mußte ja, bei dieser Nähe, auch unser
Bunker in die Luft fliegen. Eines Tages aber fiel mir ein, daß diese hölzernen Kästchen der
Schü-Minen zu einem weit menschlicheren Zweck dienen konnten, als was damit
beabsichtigt war. In solch ein Kästchen paßte nämlich eine Packung Pfeifentabak genau
hinein. Und an Tabak hatte ich damals keinen Mangel, obwohl ich damals ein ziemlich
starker Raucher war; als Marketenderware gab es ja, wie schon gesagt, kaum etwas
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anderes zu kaufen und der Wehrsold war nicht auszugeben. So habe ich denn zweimal
Tabak in einer Minenschachtel nach Hause geschickt. Es war keine Kunst, die wasserdicht
eingehüllte Sprengladung ohne Zünder herauszunehmen und ins Gebüsch zu werfen, dann
die scharfen Kräuter mit etwas trockenen Riedgras umwickelt, das in Mengen dort wuchs,
und das ganze eingepackt in dem Papier vom letzten Päckchen aus der Heimat. Den Rest
besorgte die Feldpost. So kam es, daß ich Jahrzehnte lang die zwei Minenkästchen in
meiner Werkstat als Behälter für allerlei Kleinkram benutzen konnte. Die untere Hälfte des
einen habe ich vor nicht langer Zeit einmal in der Hand gehabt. Auf diese Art habe ich auch
meinem Onkel Emil eine Packung Tabak geschickt. Er war der jüngste Bruder meines
Vaters, geboren 1911, war Anfang 1944 eingezogen worden und ist im Januar 1945 bei
Tilsit gefallen.
In unserem Schlafbunker lag ein russischer Pelzmantel, allen Anschein nach aus Bärenfell;
darauf schlief ich meistens. Da auch zu dieser Jahreszeit die Nachttemperaturen noch
ziemlich tief sanken, zog ich mir diesen Pelz manchmal über, wenn ich Posten stand.
Einmal traf mich der Unteroffizier vom Streifendienst in dieser „Verkleidung“. Er war
ziemlich verblüfft und meinte: „Wissen Sie, wenn ich nicht zweimal hingeschaut hätte,
hätte ich Sie für einen Iwan gehalten und sofort geschossen. Lassen Sie diesen Karneval
lieber beiseite!“ Ich zog halt den Pelz aus, benutzte ihn weiterhin zum Schlafen und kam
mir deshalb keineswegs vor wie ein Bärenhäuter. Ein andermal als ich an derselben Stelle
auf Posten stand, sah ich zufällig im Gebüsch neben mir etwas liegen, das meine Neugier
weckte. Ich trat hinzu und hob es auf: es war ein russisches Gewehr, einer jener äußerst
primitiv und rudimentär gebauten Schießprügel, die einer, der an des Gewehr 98K gewöhnt
war, nur mit einem mitleidigen Kopfschütteln betrachten konnte. Es war das erstemal, daß
ich so eine vorsintflutliche Knarre sah und sogar in der Hand hielt. Ich wußte auch, daß an
der andern ecke des Bunkers eine Anzahl russischer Gewehrpatronen herumlagen. Der
Bärenpelz, die Flinte, die Munition: wie kam das ganze Zeug hierher? Der ganzen Bauart
nach war auch der Bunker russischer Herkunft. Ging das alles auf den Sommer 1941
zurück, als die Wehrmacht ins Baltikum und bis vor Leningrad vorstieß? Oder waren die
Russen im Januar 1944 bis hierher gedrungen und ein Stück zurückgeschlagen worden? Ich
konnte es nicht wissen und weiß es auch heute noch nicht. Jedenfalls war ich sofort
entschlossen, das Gewehr auszuprobieren. Dazu mußte ich allerdings warten, bis ich
abgelöst wurde, den Posten verlassen, um mir die russischen Patronen zu holen, durfte ich
nicht. Als ich dann das Gewehr meinem Bunkergenossen zeigte, meinte er, er habe es
schon dort liegen sehen, sich aber die Mühe nicht habe geben wollen, es aufzuheben. So
ging ich denn an die andere Ecke, wo die Munition lag. Zunächst aber zog ich das Schloß
aus dem Gewehr und guckte durch den Lauf zum klaren Himmel: na ja, ich konnte den
Himmel zwar noch sehen, aber im Lauf steckte so viel Dreck, daß ich mit einem Deutschen
Gewehr im selben Zustand nicht gewagt hätte, zu schießen, vor Angst, der Schuß wäre
nach hinten losgegangen oder aber es wäre zu einer Laufaufbauchung gekommen, dies
ganz bestimmt. Ich lud also mein Gewehr, zielte in einer Entfernung von höchstens zehn
Metern auf den daumendicken Ast eines Baumes und schoß: der Ast war weg, das Gewehr
war nicht kaputt und mir war nichts passiert. Ich gab gleich noch zwei Schüsse in größere
Entfernung ab, die allerdings nicht trafen, doch nicht wegen der Waffe, sondern wegen des
Schützen. Dann mußte ich allerdings aufhören, denn schon kam mein nächster Nachbar
herbei: „Was ist los? Ich hörte russische Gewehrschüsse so nahe!“ Als er sah, was ich in
Händen hielt, lachte er zuerst, sagte aber dann: „Mensch, hör auf! Sonst gibt’s noch
Alarm!“ Das sah ich ein und warf das Gewehr ins Gebüsch. Ich hatte aber die Erfahrung
gemacht, daß die perfektioniertesten Waffen, eben wegen ihrer Empfindlichkeit, nicht
immer die besten sind.
An diesem Frontabschnitt haben wir wohl drei Wochen verbracht, wobei es im großen
Ganzen ruhig herging. Der Iwan lag zwei- oder dreihundert Meter weg, zwischen uns freie
Ebene, weit drüben in kleiner Hügel mit einer Baumgruppe. Unsere Stellung verlief am
Waldessaum, etwas einwärts, so daß man zwar hinaussah und doch kaum gesehen werden
konnte, es sei denn mit Fernrohr. Kurz nach der eben erst erzählten Episode mit dem alten
russischen Gewehr wurde ich in einen anderen Gefechtsstand versetzt, in dem ich wieder
allein lag; es war ein kleiner Holzbunker mit Schießscharte, dahinter ein Gebüsch von
Haselbäumchen, wo ich eines Tages zwei Haselmäusen zusah, wie sie aus dem Nest
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zwischen den Wurzeln heraus und an den Zweigen hinaufkrochen. Ich wußte leider noch
nicht, daß unten das Winternest lag, und wenn ich aufgepaßt hätte, hätte ich vielleicht
oben im Geäst das Sommernest entdecken können. Die zierlichen, rötlich-braunen Tierchen
liefen am hellen Tag da hin und her in schienen gar keine Scheu vor mir zu empfinden.
Links hinter meinem Bunker gab es eine kleine Lichtung in Wald. Dort stand ein ziemlich
großes Blockhaus von vielleicht sechs zu acht Metern, nach vorn eine breite Türöffnung,
hüben und drüben davon je ein Stück von einem dicken Fichtenstamm. Eines Tages, als ich
weder Posten stehen noch schlafen mußte und hier vorbeischlenderte, setzte ich mich auf
einen dieser Stämme an der Vorderwand des Hauses, wo die Sonne schön anlag. Ich saß
da schon eine gute Weile, mehr oder weniger vor mich hinträumend, als es plötzlich zischte
und krachte, ich mich instinktiv zu Boden warf und allerlei Dreck und Steine um mich
herum niederprasselten. Als ich aufstand und hinter das Blockhaus ging, war dort die Erde
von einem riesigen Granattrichter aufgerissen, und die Rückwand des Hauses von Splittern
stark beschädigt. Schon kamen zwei, drei Unterführer vom nahegelegenen KompanieGefechtsstand herbei und wetterten: „Die Ari! Diese Idioten schießen ja viel zu kurz. „diese
Idioten“ mußten es wohl selbst gemerkt haben, denn der nächste Schuß kam nicht sofort
nach, und als er dann erfolgte, ging er tatsächlich mindestens zwei hundert Meter weiter.
Ich für mein Teil war wieder einmal mit dem Schrecken davongekommen. Ein paar Meter
nur hatten mich vom Einschlag der Granate getrennt. Wäre nicht das Blockhaus dazwischen
gewesen, hätte ich einen guten Teil der Splitter abbekommen. Aber ohne das Blockhaus
wäre ich auch nicht dort sitzengeblieben. Ob ich aber dann sonstwo in Deckung oder weit
genug weg gewesen wäre? Alles müßige Fragen.
Wieder kurz nach diesem Erlebnis wurde ich erneut verlegt, und zwar diesmal ziemlich weit
nach links, in den vollen Sumpf hinein, der dort sozusagen mit einem Keil in den Wald
hineinragte. Die Frontlinie zog sich über die breiteste Stelle des Keils vielleicht zwei
hundert Meter hinweg und erreichte wieder den Wald. Das Sumpfgebiet lag in einer Senke;
den Keil umgehen, hätte das Stück front um mehr als das doppelte verlängert. Im Sumpf
gab es natürlich keine Bäume und kein Gebüsch, sondern lediglich Schilf und Binsen, was
ja nicht sehr hoch wächst, so daß die Stellung vom Iwan ohne weiteres einzusehen war.
Der lag zwar auch hier weit weg, aber drüben standen hohe Bäume, von denen aus alles
beobachtet werden konnte. Es war eine der gefährlichsten und somit unbequemsten und
mühseligsten Stellungen, die ich gekannt habe. Die fünf oder sechs leicht gebauten
Bunker, die den Sumpf überbrückten, waren wohl im Januar eingerichtet worden, als, aus
welchem Grund auch immer, kein Wasser den Morast bedeckte. Miteinander verbunden
waren sie durch eine Art Laufsteg, der auf einer Unterlage aus Erde, Gestein und Geäst
verlief. Als dann das Tauwetter kam und mit ihm das Wasser, hatte man jeden Bunker mit
einem doppelten Boden aus Birken- und Fichtegeäst versehen, eine Lage Schilf und Binsen
drüber gelegt, so daß die Landser nun Tag und Nacht, wenn es gut ging handbreit über
dem Wasserspiegel ausgestreckt zubringen mußten. Dabei ist der Begriff „Nacht“ hier ganz
relativ zu nehmen. Es war ja die Zeit um die Sonnenwende, von der ich erst viel später
erfuhr, daß man sie dort und weiter nördlich die Zeit der weißen Nächte nannte. Zu
eigentlicher Finsternis kam es nicht, und wenn die Dämmerung am stärksten war, dann
war eben, nach dem Sonnenstand, Mitternacht. Ich erinnerte mich an das, was ich vor dem
Krieg in der Schule in jenem Kapitel der allgemeinen Geographie gelernt hatte, wo von der
Bewegung der Erde um die Sonne und von den Jahreszeiten die rede war: das Tagesgestirn
erreichte jetzt am Mittag den Höhepunkt seiner Bahn und ging am Polarkreis überhaupt
nicht unter. Da wir im Norden Estlands vom Polarkreis noch weit entfernt waren, gab es
zwar keine Mitternachtssonne, aber doch so etwas wie ein Mitternachtstagen.
Das war die ideale zeit zum Spähtruppgehen, und die wurde in unserem Abschnitt weidlich
ausgenützt. Mehrere Tage hintereinander erging die Aufforderung, Freiwillige sollten sich
dazu melden. Es fanden sich immer genügend Leute dazu, und die Pioniere des Bataillons
mußten sowieso befehlsmäßig vorangehen, um durch das verminte Gelände eine Gasse zu
bahnen. Nach drei, vier Nächten war es soweit: man hatte genug erspäht, um einen
Stoßtrupp zu dem ausgekundschafteten Ziel losschicken zu können. Dieses Ziel war ein
größerer Bunker, den man auf jenem fernen Hügel am Rande der Baumgruppe entdeckt
hatte, die ich bereits erwähnt habe. Wieder wurden Freiwillige gesucht, aber diesmal
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meldeten sich derer nur wenige, drei oder vier von zehn oder zwölf die gebraucht wurden.
Also wurden die fehlenden hinzu befohlen, herausgefischt aus denen die sich zuvor nie
freiwillig gemeldet hatten. Natürlich war ich auch einer von den Glücklichen. Hätte ich das
vorausgesehen, wäre ich wohl „freiwillig“ angetreten, denn ein Spähtrupp in den
gegebenen Verhältnissen war natürlich weit weniger gefährlich als ein Stoßtrupp, der
irgendwie offensiv tätig werden mußte. Die „Freiwilligen“ von zuvor waren alte Hasen, die
das Spiel kannten und sich danach verhalten hatten. Die zehn oder zwölf „Auserwählten“
wurden zunächst zum Kompanie-Gefechsstand befohlen, wo man uns den „Schlachtplan“
mitteilte. Dort drüben befand sich ein starker Bunker, der anscheinend unbesetzt war,
inzwischen vielleicht aber doch eine Besatzung erhalten hatte. Auftrag: den Bunker, falls
unbesetzt ausräuchern; falls besetzt, angreifen und Gefangene zurück bringen, und
natürlich auch in Brand setzen. Stoßtruppführer war ein Oberfeldwebel, der erst wenige
Tage zuvor zur Kompanie versetzt worden war. Er hatte wahrscheinlich einen guten Teil
des Krieges in der Etappe zugebracht, den er trug als einzige Auszeichnung das Band des
KVK am Knopfloch, während seine Kollegen mindestens das EKII, manch einer auch das
EKI, und praktisch alle das Verwundetenabzeichen in Schwarz oder gar in Silber vorweisen
konnten. EKI oder II bedeutet Eisernes Kreuz erster oder zweiter Klasse. Das
Verwundetenabzeichen in Silber wurde bei dreimaliger Verwundung verliehen, das KVK war
lediglich ein Kriegsverdienstkreuz das keine Teilnahme an einer Kampfhandlung
voraussetzte und auch im Heeresverwaltungsdienst erworben sein konnte. Ein
Oberfeldwebel der nichts anderes auf der Brust trug, lief an der front gewissermaßen nackt
herum und mußte sich bemühen, doch wenigstens das EKII zu erwerben. Ich habe schon
damals vermutet, wie einige Kameraden auch, daß dies der Eigentliche Zweck unseres
Stoßtrupp sei, denn welche strategische Bedeutung konnte schon darin liegen, daß man
einen Bunker ausräucherte und ein paar Gefangene einbrachte? Den Namen des
Oberfeldwebels habe ich wohl damals gekannt, aber schon lange vergessen. Sobald ich mir
über die Lage im Bilde war, stand auch schon mein Entschluß fest. Hier bot sich jedenfalls
eine Gelegenheit zum Überlaufen, die ich nützen wollte. Man schickte uns in unsere
jeweiligen Gefechtsstände zurück, mit dem Befehl um 10 Uhr abends kampfbereit
anzutreten, mit Gewehr und Munition wie immer, zusätzlich zwei Stielhandgranaten im
Koppel, aber ohne Spaten und Brotbeutel, die ja nur hinderlich sein konnten. Auch das
Soldbuch sollte zurückgelassen werden, damit „im Falle eines Falles“ der Feind nicht daraus
entnehmen konnte, welche Einheil ihm hier gegenüber lag. Natürlich kam das für mich
nicht in Frage: ich wollte mich ja gegebenenfalls ausweisen können, und im Soldbuch stand
immerhin mein Geburtsort Straßburg im Elsaß verzeichnet. Möglicherweise habe ich schnell
noch ein paar Zeilen nach Hause geschrieben, ohne, freilich meine Absicht, überzulaufen,
zu erwähnen. So traten wir denn, wie befohlen, an einer bestimmten Stelle ungefähr im
Zentrum unseres Frontabschnitts an. Der Stoßtruppführer begab nun seine Instruktionen
bekannt und teilte jedem eine bestimmte Rolle zu. Ich weiß nicht, ob er eine einigermaßen
klare Vorstellung von dem Theaterstück hatte, das er mit uns aufführen wollte. Ich weiß
nicht, wer was für Gerät oder Material zur Ausräucherung des Bunkers mit sich führte, auch
nicht, wer die eventuellen Gefangenen auf welche Art durch die Minengasse
zurückbefördern sollte. Ich weiß und wußte auch damals nur eines, was mich selber betraf,
daß ich nämlich als letzter gehen und die Sicherung nach hinten übernehmen sollte. Das
kam mir wie gewünscht, so konnte ich, dachte ich, auf dem Rückweg zurückbleiben und, je
nach den Umständen, im Gelände untertauchen und mich bei passender Gelegenheit
gefangen geben: die kindliche Vorstellung eines Ahnungslosen. Als die Blende geöffnet
wurde, um uns hinauszulassen, geschah dies in Gegenwart des Kompaniechefs. Wer das
damals war, weiß ich nicht mehr, in meinem Gedächtnis findet sich weder ein Bild von ihm,
noch Dienstgrad, noch Name. Vor der Front erstreckte sich bis fast an jenen Hügel hin ein
auch nach beiden Seiten ausgedehntes Kornfeld, dessen Halme schon in die Ähren
schossen. Da, wo wir am Kompaniechef vorbei aus der Stellung hinausschlüpften, begann
auch gleich die von den Pionieren angelegte, wohl zwei Meter breite Minengasse, an beiden
Seiten durch ein am Boden liegendes weißes Band bezeichnet; das Korn war hier
niedergedrückt und wir bewegten uns auf dem Bauch robbend darüber hinweg, voran der
Oberfeldwebel, dann einer hinter dem anderen mit mindestens zwei, drei Metern Abstand
voneinander. Gesprochen konnte nicht werden, Befehle von vorn wurden durch
Handzeichen weitergegeben. So schoben wir uns äußerst langsam voran, um so wenig wie
möglich Geräusch zu verursachen. Wir hatten unsere Gesichter mit schwarzem Morast
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verschmiert, ebenso die Helme, damit sie nicht glänzen sollten, ich weiß zwar nicht in
welchen Sonnen- Mond- oder Sternenstrahlen: die Sonne stand in unserm Rücken hinterm
Wald nahe am Horizont; wenn der Mond überhaupt aufgegangen war, konnte er nicht
strahlen, weil es noch zu hell war; und Sterne waren nicht zu sehen. Das Gewehr in beiden
Händen quer vor sich, schob man sich auf den Ellbogen vor, die Beine nachziehend, so
flach wie möglich an den Boden gedrückt. Die Patronentaschen am Koppel mit sechzig
Schuß Munition waren natürlich keine geringe Behinderung, und trotz aller Vorsicht stieß
auch hie und da mal einer mit dem Gewehr an den Helmrand. Einmal kam von vorn das
Zeichen anhalten und flach liegen bleiben. Dann deutete mein Vordermann mit der rechten
Hand über die Kornähren hin. Ich hob vorsichtig den Kopf und sah in vielleicht hundert
Meter Entfernung einen Bewegung im Korn, da verstand ich gleich weshalb wir innehielten:
dort robbte ein feindlicher Spähtrupp in die entgegengesetzte Richtung. Wir blieben eine
Zeitlang regungslos liegen, dann kam das Zeichen „vorwärts“. Nach einer Weile merkte ich,
daß das Kornfeld zu Ende ging, dann kam eine schmale Grasfläche, die in einen Graben
auslief. Jenseits des Grabens sah ich Gebüsch, das sich über den sanft ansteigenden Hügel
hinzog, bis dorthin wo die bekannte Baumgruppe emporragte. Dort lag eine dunkle,
würfelförmige Masse: der Bunker, unser Ziel. Der Oberfeldwebel hatte sich bis in den
genannten Graben vorgearbeitet, und bedeutete nun durch Zeichen, daß wir uns in einer
Linie zu seinen beiden Seiten ebenfalls dort hinein legen sollten. Die meisten hatten das
bereits getan, als ich aus dem Kornfeld herauszukriechen im Begriff war. Bis zum Graben
hätte ich vielleicht noch zwanzig Meter zu robben gehabt, aber da geschah etwas, das zu
erzählen ich mehr Zeilen brauchen werde als Sekunden darüber vergingen. Vom Bunker
herab erscholl ein Anruf, wahrscheinlich ein „Schtuj!“ und noch etwas hinterher, etwa wie
bei uns „halt! Wer da?“ gerufen wurde. Da sah ich meinen Oberfeldwebel sich erheben und
etwas gegen den Bunker schleudern – war es eine Handgranate oder ein Brandsatz? Ich
konnte es nicht mehr feststellen, denn der Stoßtruppführer machte kehrt und sprang fort,
alle anderen gleich ihm nach. Ich, blitzschnell reagierend, begriff, daß ich jetzt hier nicht
zurückbleiben durfte, sprang auf und setzte in großen Sprüngen über das Kornfeld hinweg
in direkter Linie auf den Ausgangspunkt zu, ohne auch nur einen Augenblick daran zu
denken, daß ich über ein Minenfeld lief. Schon knatterte ein Maschinengewehr oder eine
Maschinenpistole, auch Gewehrschüsse fielen, ich hörte Kugeln pfeifen, aber ich lief und
sprang, und es bewahrheitete sich das Wort: „die Letzten werden die Ersten sein“. Ich
hatte die kürzeste Strecke und kam als erster an. Der Kompaniechef stand an der
geöffneten Blende und wollte mich am Arm festhalten: „Was ist los?“ Ich aber lief weiter
und schrie: „Da kommen die andern!“ Die waren natürlich hart hinter mir. Ich eilte zu
meinem Bunker im Sumpf und legte mich erschöpft hin. Was jetzt kommen würde war
leicht abzusehen, und es dauerte auch gar nicht lange, da lag unser Abschnitt im
Sperrfeuer der russischen Ari; der Sumpf blieb verschont, vielleicht mit Absicht, vielleicht
auch nur zufällig. Anschließend feuerte dann unsere Ari dorthin, wo wir, vor dem
russischen Bunker gelegen hatten. Das hatte ich blitzschnell erfaßt und war deshalb nicht
zurückgeblieben. So war mein erster Versuch zum Iwan überzulaufen gescheitert. Es sollte
der letzte nicht sein.
Im Nachhinein habe ich mich oft gefragt, gefragt warum eigentlich die ganze Angelegenheit
innerhalb der Kompanie mit Schweigen übergangen wurde. Niemand, kein Chef oder
sonstiger Unterführer hat mir jemals darüber eine Frage gestellt. Der Oberfeldwebel mit
KVK verschwand von der Bildfläche, ich jedenfalls erinnere mich nicht, ihn nochmals
gesehen zu haben. Im Grunde tat er mir leid. Er war kein unsympathischer Mensch
gewesen, hatte sich vielleicht bis dahin weit vom Geschütz so gut wie möglich
durchzuschlagen vermocht, wie das jeder zu tun versuchte, der sich nicht zum Helden
geboren wähnte; als er dann, wie noch viele andere zu jenem Zeitpunkt, doch hinaus
mußte, war er der ihm zugemuteten Aufgabe nicht gewachsen und hatte versagt. Ob er
dafür bestraft wurde? Keiner von uns war verwundet worden, und auch das feindliche
Sperrfeuer hatte keinen größeren Schaden angerichtet. Aber blamiert war der arme Mann
sowohl vor Vorgesetzten wie vor Gleichrangigen und Untergeordneten, und mußte auf
jeden fall verschwinden. Ich denke, man wird ihn zu einer anderen Einheit versetzt haben…
Es herrschte jetzt durchweg eine ausgesprochene Sommerhitze, die in jenem Sumpfgebiet
verschiedene unangenehme Folgen mit sich brachte. Da aus der Zeit der Kämpfe im Januar
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überall noch Leichen oder auch nur Leichenteile von gefallenen russischen Kriegern
herumlagen, war jetzt stellenweise die Luft mit Aasgestank verpestet. Ich erinnere mich,
daß am Rande des ausgetretenen Pfades, der zum Kompanie-Gefechsstand führte, aus dem
Morast ein noch mit dem Ärmel des Waffenrocks bedeckter Arm hervorragte, dessen Hand
obenauf lag. Man ging täglich daran vorbei und schaute weg; erst als der Gestank
unerträglich wurde, deckte man diese halbverwesten menschlichen Überreste mit einem
Erdhügel zu. Es schien überhaupt nicht Sitte zu sein, daß mein feindliche Gefallene, die von
der eingenen Truppe nicht hatte mitgenommen werden, ordentlich beerdigte. Schon in der
ersten Stellung im April, nur wenige Schritte hinter dem Bunker, wo ich den feinlichen
Horchposten entdeckt hatte, lag die gefrorene Leiche eines Rotarmisten, an der ich immer
wieder beim Essenholen vorbei mußte. Ich blieb zum Glück nur etwa eine Woche dort, und
hatte keine Zeit gegen diesen Anblick abgehärtet zu werden, so daß es mir jedesmal
grauste, wenn ich diesen Weg gehen mußte. Immerhin blieb damals wenigstens die Nase
verschont… Jetzt, im Sommer, wimmelte der Sumpf auch von Schnacken. In diesem
Abschnitt war es, wo man uns mit Moskitonetzen ausstattete, die man aber nur zum
Schlafen über sich ziehen konnte, da sie sonst mehr eine Behinderung als einen Schutz mit
sich brachten. In jenem Bunker im Wasser, denn ich zuletzt bewohnte, war das Moskitonetz
allerdings unentbehrlich. Man durfte sich ja nur wenig bewegen, weil die stellung vom Iwan
eingesehen wurde; so lag man die meiste Zeit still, und selbst die Notdurft verrichten
konnte man am hellen Tage nur durch den Eingang seitwärts ins Wasser. Wenn dann der
Durst zu groß wurde und der Kaffee nicht ausreichte, hat man ab und zu mal auch mit dem
Trinkbecher einen Schluck Wasser geschöpft, mehr zum Mundauspülen als zum Trinken,
denn es schmeckte wirklich nicht wie Quellwasser.
Unter all diesen mißlichen Umständen bestand natürlich Seuchengefahr, der man dadurch
zu begegnen suchte, daß man uns Woche für Woche Spritzen verpaßte. Dazu mußte man
sich abwechselnd zum Kompanie-Gefechtsstand begeben, wo unser Sani vom Bataillon, der
Schiltigheimer Robert Stamm, seine Kunst an uns ausübte. Hierzu muß ich nun berichten,
daß wir drei Elsässer, der Emil, der Valentin und ich, ein neues Mittel ausgeheckt hatten,
um möglicherweise von der Front weg zu kommen. Das bestand ganz einfach darin, daß
man sich nicht impfen ließ, die Ruhr (?) oder auch den Typhus oder was sonst immer
erwischte und in ein Lazarett mußte, wenn es auch nur für kurze Zeit war. Unser Freund
und Leidensgenosse Robert war natürlich gleich hilfsbereit und ließ uns durchwitschen ohne
Spritze. Ein- oder das anderemal allerdings konnte er uns nicht entschlüpfen lassen, weil
irgendein Vorgesetzter zu nahe dabei stand. Die letzte im Soldbuch eingetragene Impfung
ist vom 5. Juli datiert, und kaum eine Woche später verließen wir nicht nur diesen
Abschnitt, sondern die Narwa-Front überhaupt. Zuvor hatten wir noch einen Gefallenen zu
beklagen, meinen alten Bekannten Friedrich, der mich damals nach dem Volltreffer in
seinem Stand aufgenommen und den ich fast liebgewonnen hatte. Er lag nicht weit von mir
ebenfalls in einem dieser Bunker im Wasser und wurde von einem Scharfschützen (der
wohl auf einem der weit entfernten hohen Bäumen saß) durch Kopfschuß niedergestreckt.
Es ging damals das Gerücht, im Abschnitt gegenüber usns lägen sogenannte
„Flintenweiber“, die als Scharfschützen berüchtigt waren. Wie weit das stimmte, weiß ich
nicht; vielleicht war es nur Gerede, inspiriert von der Tatsache, daß wir in diesen hellen
Nächten regelmäßig von Lautsprecherpropaganda bearbeitet wurden, wobei bezaubernd
wohlklingende weibliche Stimmen eine große Rolle spielten, die mit Gesang und allerlei
betörenden Worten potentielle Überläufer anlocken sollten. Einmal freilich, wie ich mich
erinnere, erscholl auch eine tiefe, echt russische Baßstimme: „Deutsche Kameraden,
kommt herüber! Heute gibt‘s Marmelade!“ und daß klang eher wie Hohn als wie
Verlockung.
Wie dem auch sei: als ich neulich im Juni, sechsundfünfzig Jahre danach, in Jöhvi zwischen
den Massengräbern des Deutschen Soldatenfriedhofs einherschritt, überkam mich tiefe
Rührung bei dem Gedanken an jenen Friedrich, dessen Vornamen ich nie kannte, und auch
an jene zwei, die ein so ungleiches Paar abgaben, Kirsten und Nadler, die ich Ende April
kennengelernt hatte, und die bald danach in einer Stellung, von der mir sonst keine
Erinnerung geblieben ist,in ihrem gemeinsamen Bunker durch Artillerie-Volltreffer ums
Leben gekommen waren.
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Ich kann mich auch nicht mehr entsinnen, wie wir aus dieser letzten Stellung an der
Narwa-Front abzogen. Jedenfalls hieß es wieder einmal: auf nach Jöhvi zum Troß. Dort
erhielten wir erneut Verstärkung. Unter den Neuangekommenen befand sich auch ein
Elsässer, der bald herausgefunden hatte, daß es hier ein paar Landsleute gab, denen er
sich sofort anschloß. Er war ein wenig älter als ich, hatte schon zuvor hier oben an der
Narwa-Front im Einsatz gestanden, war aber verwundet worden, hatte längere Zeit im
Lazarett, auf Heimaturlaub und beim Ersatz zugebracht und war nun wieder
herausgeschickt worden. Er hieß Fleckstein, mit Vornamen Paul, wenn ich mich nicht irre,
und kam aus Molsheim. Dann weiß ich nur noch, daß ein großer Transportzug aus
Güterwagen irgendwo stand, wohl in Jöhvi, und daß wir mit vielen anderen, vielleicht war
es die ganze, ja sehr zusammengeschmolzene Division, dort verladen wurden. Ich weiß
auch noch, daß ich den letzten, offenen Wagen dieses Transportes besteigen mußte, auf
dem ein leichtes Flack-Geschütz aufgestellt war. Ich befand mich also wieder einmal bei
den letzten, zur Sicherung, diesmal nicht nach hinten, sondern nach oben, gegen
Fliegerangriffe. Außerdem ist mir noch in Erinnerung, daß es Sekt gab, ich glaube für zwei
Mann eine Flasche, und für jeden eine Flasche Wein, wobei ich, Zufall oder Absicht, einen
oberländer Riesling bekam. Dann weiß ich noch, daß wir die ganze Nacht hindurch nach
Süden fuhren, es war höchstwahrscheinlich die Nacht vom 12. auf den 13. Juli; und diese
Nacht war schon nicht mehr so „weiß“ wie damals beim Stoßtrupp. Wenn mich nicht alles
täuscht, befanden sich auch die beiden Bischheimer und der Molsheimer bei mir auf
demselben Wagen, und dann war es wohl das letzte Mal, daß wir zusammen waren. Die
Fahrt ging wieder, zunächst nach Wesenberg (Rakvere), dann über Dorpat (Tartu), die
beiden Walk (Valga und Valka), über Wolmar (Valmiera), Wenden (Cesis) nach Riga, und
dann weiter, Richtung Südosten, über Jakobstadt (Jekabpils) nach Dünaburg (Daugawpils)
wo wir am 13. Juli gegen Abend ankamen.
Die Narwa-Front, Vaivara, Jöhvi, Toila, Wesenberg, das alles lag hinter uns! Für immer, wie
ich damals und noch ein halbes Jahrhundert lang überzeugt war. Wir kamen aus dem
Stellungskrieg und sollten jetzt den Bewegungskrieg kennen lernen. Um es gleich
vorauszuschicken: diejenigen, die nicht das Glück hatten, so schnell herauszukommen wie
ich, haben dabei weit mehr und schlimmeres erlebt, als mir zu erleben beschieden sein
sollte. Bezeichnend ist, daß mir von diesem Bewegungskrieg kaum eine präzise Erinnerung
bleibt, es sei denn von einigen Höhepunkten. In Estland lag man immerhin für Tage,
manchmal ganze Wochen in derselben Stellung und hatte Zeit, sich die Gestalt des
Geländes mehr oder weniger einzuprägen. Das war nun nicht mehr der Fall, da die Stellung
fast täglich wechselte.
Schon von der Ankunft in Dünaburg haftet keine genaue Erinnerung in meinem Gedächtnis.
Ich sehe noch verschwommen eine Kolonne über eine Brücke gehen; da haben wir wohl die
Düna überschritten. Dann sehe ich dieselbe Kolonne auf einem Bahndamm zwischen den
Geleise entlang gehen. Es wird wohl meine Kompanie gewesen sein, und ich ging, wie es
meine Gewohnheit war, am Schluß. Nun erinnere ich mich allerdings ziemlich präzise, daß
gleich hinter mir die Bahnschwellen eine nach der anderen mit einer leichten Sprengladung
zerstört wurden, wohl von einer Pioniergruppe, die hinter uns herkam. Wo wir uns
befanden, wußte ich damals nicht. Da es das linke Dünaufer war und wir grobe Richtung
West einhielten, konnte ich nachträglich, anhand von Landkarten zu der Annahme
gelangen, daß es sich um die Bahnlinie handelte, die von Dünaburg über Rokiskis,
Panevezys, Schaulen zur Ostsee hin führt. Wie weit wir auf diesem Bahnkörper marschiert
sind, weiß ich nicht mehr; irgendwo sind wir von dem jetzt allmählich höher werdenden
Bahndamm hinabgestiegen und an seinem Fuß weitergegangen, indem wir uns etwas von
ihm entfernten. Dann erreichten wir eine waldige Gegend, wo man uns anhalten ließ, mit
Front zu dem Bahndamm, der anscheinend über eine Anhöhe verlief, deren Haug wir
besetzten. Die Stellung war schon vorbereitet; man hatte fast mannstiefe Schützenlöcher
ausgehoben, in die wie einzeln verteilt wurden. Inzwischen brach die nacht herein, und
bald bekamen wir die Nähe des Feindes zu spüren. Ich lag unten in meinem Loch, ab und
zu hörte man Kugeln pfeifen, irgendwo, weiter weg, barsten auch ein paar Granaten. Ein
junger Feldwebel, der erst in Jöhvi zu uns gekommen war, kam bäuchlings bei mir vorbei
und rief von oben herunter: „Aufpassen, der Iwan scheint fickerig zu sein!“ Dann hörte ich
ihn weiterrobben, zum nächsten Schützenloch.
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Der Iwan lag jenseits des Bahndamms, wir in der typischen Stellung einer Truppe, die vom
Gegner mit Granatwerferfeuer bekämpft wird. Es dauerte auch gar nicht lange, bis unser
Abschnitt ebenfalls seinen Anteil an Klopsen erhielt. Sie fielen nicht sehr dicht und es
dauerte nicht besonders lange, Störfeuer, wie man so sagte. Eine gute Weile, nachdem es
aufgehört hatte, kam wieder jener Feldwebel bei mir vorbei, um nachzuschauen ob ich
etwas abgekriegt hatte. Dabei meldete er mir: „Fleckstein ist tot. Baumkrepieren. Ein
Splitter von oben herunter mitten ins Herz.“ Mir ging auch ein Stich durchs herz. Ich hatte
diesen Kameraden nur ein paar Tage lang gekannt, aber wir hatten gleich sympathisiert,
und ich bin fast sicher, hätte er den Krieg überlebt, wir wären gute Freunde geworden.
Ich weiß nicht mehr, ob wir nochmals eine Nacht in dieser Stellung verbrachten, oder ob
wir gleich am selben Tag weiterzogen. Dieser Tag war jedenfalls der 14. Juli, unser
Quatorze Juillet. Von ihm bleibt mir nur in Erinnerung, daß der genannte Feldwebel zum
drittenmal bei mir vorbeikam und mir die Nachricht brachte: „Rossdeutsch ist schwer
verwundet, Schulterdurchschuß, zu der einen hinein, zur andern heraus.“ Erneut war ich
zutiefst betroffen. Auch mit Emil hatte ich mich gut verstanden, und es schmerzte mich, als
ich hörte wie schwer verwundet er war. Überlebt wird er es wohl kaum haben; solch ein
Durchschuß ist ja keine einfache Fleischwunde, zwischen Ein- und Ausschuß kann ja sehr
leicht auch die Wirbelsäule verletzt oder eine Schlagader zerrissen werden. Ob ich mit
Valentin Schaefer darüber gesprochen habe, weiß ich nicht mehr. Dieser war zwar noch bei
der Kompanie, als ich zwei Wochen später wegkam, ich muß ihn aber nur noch selten
getroffen haben. Wir Elsässer waren ja nie zusammen bei der selben Gruppe, vielleicht
nicht einmal beim selben Zug. Die Infanterie-Kompanie umfaßte theoretisch 3-4 Züge,
jeder zu 3 Gruppen von 12 Mann plus Gruppenführer. Solange unsere Kompanie nur 20-30
Mann zählte, und dazu im Stellungskrieg, sahen sich alle öfters; jetzt aber waren wir doch
etwa 80 Mann stark und dauernd in Bewegung, da konnten gute Bekannte einander längere
Zeit nicht zu Gesicht bekommen.
Ich kann nur nachträglich bedauern, daß ich mich in der ersten Nachkriegszeit überhaupt
nicht bemüht habe, diesen Kriegskameraden nachzuspüren, um näheres über ihre
Schicksale zu erfahren. Es gab lange Jahre hindurch in Bischheim einen Maire Rossdeutsch,
der mit Sicherheit ein verwandter meines Kameraden Emile war. Ich habe mehrmals
hinundher überlegt, ob ich dem nicht einmal schreiben sollte, habe mich aber nie dazu
aufgerafft, genauso, wie ich es nie über mich gebracht habe an den Stuttgarter
Oberbürgermeister Manfred Rommel zu schreiben, um zu fragen, was aus seinem Vetter
geworden sei, den ich in Vilejka gekannt hatte. Über den Maire Rossdeutsch hätte ich
vielleicht auch Verbindung zur Familie von Valentin Schaefer gefunden, die ja auch in
Bischheim gewohnt hatte. Von ihm habe ich erst 1948, aus den damals veröffentlichten
Photos der vermißten Elsässer erfahren, daß auch er dazu gehörte, und daß seine letzte
Nachricht aus Schönberg stammte. Dieser Ortsname sagte mir überhaupt nichts, denn
Schönbergs gibt es eine ganze Menge. Erst jetzt ist mir eingefallen, darüber
nachzuforschen, und ich habe den Ort tatsächlich gefunden, in Band 11 von Herders
Konversationslexikon, 1922, Spalte 625, als lettischen Grenzort, heute Skaistkelne, auch
im Baltikum-Baedeker S. 202 aufgeführt wegen seiner katholischen Kirche. In jener
Gegend muß es im Sommer 1944 schwere Kämpfe gegeben haben, denn hier verlief
jedenfalls der „bei Riga ofengehaltene Schlauch“ durch den sich laut Ploetz, Auszug aus der
Geschichte, 26. Auflage 1960, S. 1170 die Heeresgruppe Nord nach Kurland zurückzog.
Nachdem Riga am 13. Oktober aufgegeben war, war der Kurlandkessel, diese riesige
Mausefalle geschlossen. Valentins letzte Nachricht mußte also spätestens aus der Zeit
stammen, da die Verbindung von Schönberg nach Riga noch nicht unterbrochen war. Wenn
aber Valentin Schaefer noch 1948 als vermißt galt, ist wohl bestenfalls mit der Möglichkeit
zu rechnen, daß er als Gefangener lebendig aus dem Kessel herausgekommen ist, wie viele
andere Elsässer, daraufhin nach Tambow geriet aber dort elend zugrunde gegangen ist.
Vielleicht aber liegt er irgendwo in Kurland in einem Massengrab.
Vorläufig indessen lagen wir noch bei Dünaburg, aber nicht mehr lange. Zwischen dem 14.
Und dem 20. Juli wurden wir weiter nach Westen verschoben. Ich sehe mich noch
undeutlich auf Lastwagen sitzen; einmal sprangen wir rasch ab und liefen in ein nahes
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Wäldchen, weil russische Flugzeuge in der Nähe zu sehen waren, aber es geschah nichts.
Später sehe ich uns in großer Zahl – wohl das Regiment – an den Ufern eines der vielen
Seen, von denen die Landschaft dort ihre Eigenart erhält. Es war ein heißer Sommertag,
und das Baden wurde uns nicht verboten. Badehosen hatte keiner, und so war es schon ein
einzigartiger Anblick, die vielen Soldaten die da ohne Orden und Rangabzeichen barfuß bis
zum Haupt schon von weit her, vom Waldesrand, ans Ufer liefen und sich im kühlen Wasser
tummelten. Einen oder zwei Tage später wiederholte ich das Spiel privat, für mich allein,
an einem Tümpel, in dessen Nähe ich mit einem Kameraden in einem Schützenloch lag.
Irgendwo in dieser Gegend, vielleicht beim See, wo wir gebadet hatten, vielleicht noch am
selben Tag oder tags darauf, ging die Meldung durch, der Divisionspfarrer sei da, und
werde eine Feldmesse halten. Ein Meßdiener wurde gesucht, ich stellte mich zur Verfügung
und kam auf diese Art mit dem Geistlichen ins Gespräch, das sich allerdings auf das
sachliche des Tages beschränkte. Der Tragaltar wurde aufgestellt, der Divisionspfarrer hielt
eine Predigtrede, erteilte Absolution sub conditione, las seine Messe, im alten römischen
Ritus, mit anschließender Kommunion. Dann geschah etwas worüber ich nur staunen
konnte. Der Divisionspfarrer fragte mich, ob ich zufällig einen evangelischen Pastor hier bei
der Truppe kenne. Ich bejahte und konnte gleich meinen Frontkameraden Albert Baron
herbeiwinken, der aus nächster Nähe der Meßfeier beigewohnt hatte. Und nun das
Erstaunliche: der katholische Priester fragte den evangelischen Pastor, ob er nicht für seine
Leute ein Gottesdienst halten möchte: „Mit Abendmahl, wenn Sie wollen. Ich stelle Ihnen
gern meinen Kelch zur Verfügung.“ So geschehen um den 18. Juli 1944, zwanzig Jahre vor
dem Vatikankonzil, als ein Hans Küng gerade sechzehn Jahre alt war. Was hätte man wohl
in Rom dazu gesagt? Baron legte den Vorschlag dankend ab, wohl kaum aus Scheu vor
dem katholischen Kelch, eher deswegen, weil er eben nicht vorbereitet war und seine
heilige Handlung nicht aus dem Stegreif improvisieren wollte, oder auch konnte. Außerdem
war mir klar, daß von den vielen „Umstehenden“ ein gut Teil evangelisch waren, denn in
dieser ostpreußischen Militäreinheit stellten die Katholiken nur eine kleine Minderheit dar.
Kurz nach diesen zwei Ereignissen – dem Bad im See und der Feldmesse – die sich ja
jedenfalls ein Stück hinter der Kampfstellung abgespielt hatten, kamen wir wieder in den
Einsatz. Etwas Zusammenhängendes kann ich darüber nicht sagen. Es sind nur ein paar
verschwommene Bilder in meinem Gedächtnis haften geblieben. Einmal lag ich in einem
Schützenloch auf freiem Feld, hüben und drüben von mir die andern ebenso in Löchern, die
wir vielleicht schon vorfanden. Wo ich mich befand, war das Loch gar nicht tief und ohne
jede Deckung, das heißt in diesem leicht gewellten Gelände konnte einer, der ein paar
Meter höher lag, mich ohne weiteres sehen und aufs Korn nehmen. Ich durfte mich nicht
regen und tagsüber eng an den Boden geschmiegt liegen bleiben. Einmal hatte ich das
Gefühl als hätten nacheinander zwei oder drei Geschosse meinen Helm gestreift, wobei
jedesmal ein Schuß und so etwas wie ein metallisches Klingeln ertönte. Ich dachte da zielte
ein Scharfschütze nach meinem Helm, der hier, wo es gut angebracht gewesen wäre, in
keiner Weise getarnt war und vielleicht in der Sonne glänzte. So lag ich stundenlang und
drückte mich vor Angst noch fester an den Boden des flachen Schützenloches. Als es dann
zu dunkeln begann und ich ein großes Bedürfnis verspürte, wagte ich nicht, mich zu
erheben, verrichtete meine Notdurft, liegend auf den Spaten und warf den Mist wie eine
Handgranate Richtung Iwan hin. Man war mit solchen Problemen manchmal mehr geplagt,
als mit dem eigentlichen Kriegsgeschehen. Als ich tags darauf meinen Helm untersuchte,
fand ich allerdings keinerlei Spur von Streifschüssen.
Und wieder wurden wir ein Stück weiter verschoben, immer nach Westen zu. Das Gelände
blieb sich selbst gleich, es waren kahle, niedrige Bodenwellen, hie und da von Waldstücken
gekrönt, und Häuser sah man nur selten, alleinstehend oder in lockeren Gruppen von
zweien oder dreien. Nach einer solchen Häusergruppe sollte ein Spähtrupp unternommen
werden, um auszukundschaften, ob sie besetzt waren, und ich war schon zur Teilnahme
befohlen. Eben waren wir bereit, uns nach vorn zu schleichen, als Gegenbefehl kam. Von
jenen Gebäuden her bewegte sich ein russischer Spähtrupp bereits auf den Abschnitt zu
unseren rechten zu, und dort kam es dann kurz darauf zu einer Schießerei. Das war am
späten Abend in der ersten Dämmerung. Bald darauf, die Nacht war hereingebrochen, kam
ein Leutnant oder was es sonst für ein Offizier war, und brachte die große Nachricht des
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Tages: Im Führerhauptquartier sei ein Sprengstoffattentat verübt worden, der Führer sei
aber auf wunderbare Weise mit einer leichten Verletzung davongekommen, die Schuldigen
bereits bekannt und zum teil gefaßt und bestraft. Dazu ein Führerbefehl: ab sofort grüßt
die Wehrmacht nicht mehr mit der Hand zum Rand der Kopfbedeckung, sondern mit
erhobenem Arm, dem deutschen Gruß. Dies erfuhren wir am Donnerstag, den 20. Juli, spät
am Abend. Am nächsten oder übernächsten Tag zogen wir wieder weiter nach Westen, ob
zu Fuß oder per LKW, weiß ich nicht mehr.
Am Abend des 22. Juli erreichten wir einen Ort, dessen Name mir schon damals nicht
bekannt wurde, sei es, weil er gar nicht angeschrieben stand, sei es weil ich die tafel nicht
gesehen hatte. Auf Grund von vielerlei Überlegungen, nach eingehendem Kartenstudium
und nach persönlichem Augenschein in Nereta kann ich noch zu keiner sicheren Erkenntnis
kommen; nur soviel steht fest: wenn es nicht Nereta selbst war, dann aber doch dessen
nähere Umgebung. Mit Sicherheit weiß ich nur, daß es der 22. Juli war, ein Samstag, weil
ich an jenem Tag an meine Großmutter (die Grand-mère) dachte, die am 23. Juli 1872
geboren war, ihren Geburtstag aber stets zusammen mit ihrer Schwägerin Magdalena (die
Tante Lehne) zu feiern pflegte, die am 22. ihren Namenstag beging, und im Bombardement
des 6. September 1943 ums Leben gekommen war. So hat sich mir das Datum des 22. Juli
eingeprägt, von dem ich noch nicht wissen und nicht einmal ahnen konnte, das mit ihm das
letzte Kapitel meiner Erlebnisse an der Ostfront begann; das letzte und, nach meinem
eigenen Urteil, das schlimmste.
Wir standen an einem Talhang, unten, südlich von uns, lief ein Wasser oder Wässerchen,
genau weiß ich es nicht mehr. An diesem Bach, oder unweit davon, lag ein Gehöft. Wir, das
war vielleicht unsere Gruppe, vielleicht auch der Zug, zehn, vielleicht auch 20-30 Mann. Ein
Anführer – Unteroffizier, Feldwebel oder was? – meinte: „Leute, wir müssen uns eine
Unterkunft für die Nacht suchen. Der Bauernhof da unten wäre nicht übel. Der muß aber
zuerst ausgekundschaftet sein. Wer geht mit mir auf Spähtrupp? Diesmal war ich sofort
dabei, denn mir war sofort klar, daß das Risiko, dort unten auf eine feindliche Besatzung zu
stoßen sehr gering war. Wenn der Iwan überhaupt in der Nähe war, dann hielt er sich
bestimmt nicht dort unten im Tal in einem Stall auf, wo man bei Entdeckung keine
Rückzugsmöglichkeit hatte, und von wo aus man sowieso nicht viel zu sehen bekam. Wir
gingen also mit dem Anführer ohne große Vorsichtsmaßnahmen auf das Anwesen zu,
fanden es tatsächlich unbewohnt und unbesetzt, und richteten uns gleich in einem der
Gebäude mit viel Stroh für die Nacht ein. Wir paar Schlaue, die freiwillig auf Spähtrupp
gegangen waren, brauchten dafür keine wache zu schieben und konnten die Nacht
durchschlafen. Ich ahnte auch nicht, daß dies mein letzter, genauer gesagt: mein einziger
Spähtrupp gewesen war.
An was für einem Spiel wir hier beteiligt waren, hat wohl kaum einer von uns einfachen
Soldaten damals begriffen. Die Offiziere werden gewußt haben, wozu die Bewegungen, die
wir ausführten, eigentlich dienen sollten; ich selbst konnte das was wir taten oder vielmehr
erlitten und mitmachen mußten, in keinen größeren Zusammenhang bringen. Zwar wußten
wir, weshalb wir von der Narwa-Front nach Dünaburg verlegt worden waren, denn man
hatte uns nicht verheimlicht, daß die Rote Armee aus dem Raum Polozk-Witerbsk eine
Sommeroffensive gestartet hatte, mit dem Ziel Ostseeküste. Daß aber bereits am 3. Juni
Minsk am 13. Wilna gefallen waren, somit auch das uns gut bekannte Vilejka, das kam uns
natürlich nicht zu Ohren, so wenig wie der Fall von Dünaburg am 27. Juli, genau zwei
Wochen nach dem wir dort ausgeladen worden waren. Noch viel weniger war uns bekannt,
daß der russische Angriff auf einer mehr als 300 KM breiten Front erfolgte und wegen der
geringen Kräfte, die der Wehrmacht in diesem Abschnitt verblieben, zügig voranging, so
daß es also nicht einfach Panzerspitzen waren, denen wir in die Flanke fallen sollten.
Von all dem wußte ich damals nichts, und auch späterhin habe ich mich begnügt zu wissen,
daß die Heeresgruppe Nord schließlich im Kurlandkessel kaputt ging. Erst seitdem ich Dank
Philippe das unglaubliche Glück erfahren habe, als Fünfundsiebzigjähriger noch einmal in
jene Länder und an jene Stätten zu reisen, die ich als Neunzehnjähriger, unter den
Umständen kennengelernt hatte, die ich hier zu beschreiben versuche, erst jetzt empfand
ich das Bedürfnis, mir größere Klarheit in diesen Dingen zu verschaffen. Leider steht mir
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kein Generalstabswerk zur Verfügung (falls ein solches überhaupt existiert), in dem ich den
Weg des Grenadierregiments 151 auf seinem langsamen aber unaufhaltsamen Rückzug seit
Januar 1944 bis zum bitteren Ende verfolgen könnte. Wegen des Regens und der äußerst
schlechten Verkehrswegen (Straßen kann man das nicht nennen, was wir dort hätten
benützen sollen und oft genug benützen mußten!) war es leider nicht möglich, die Orte
ausfindig zu machen, deren Anblick erheblich zur Erhellung der Geschehnisse dieses letzten
Kapitels hätte beitragen können. So kann ich eben nur, mit Hilfe einer Landkarte im
Maßstab 1:300 000 sowie meiner teils unsicheren, teils völlig versagenden Erinnerung eine
Schilderung der Dinge versuchen, die mir einigermaßen plausibel erscheint.
Je länger ich es mir durch den Kopf gehen lasse, um so wahrscheinlicher kommt es mir vor,
daß wir jene Nacht vom 22. zum 23. Juli nicht in Nereta, sondern 5 KM südlich davon
verbracht haben und zwar hart an der Grenze zu Litauen, aber noch auf lettischem Boden.
Dort gibt es, westlich der Straße nach dem Grenzübergang bei Suvainiskis eine Reihe von
Einzelhöfen, die auf der Karte des Baedeker anscheinend unter dem Namen Neretasbankis
(?) zusammengefaßt werden; während auf der großen Karte das Wort Avolini (?) daneben
steht. Kurz vor dem Grenzübergang zweigt eine Straße, die wir kaum als Feldweg erkennen
konnten, nach dem ostwärts gelegenen Senani (?) ab. Nun möchte ich mit fast absoluter
Sicherheit behaupten, daß dort der Punkt ist, wo wir uns damals aufstellten, als wir zum
Angriff ansetzten. Die lettisch-litauische Grenze verläuft dort entlang dem Flüßchen Nereta
(lettisch) oder Neretesle (?) (litauisch), das ein Dutzend Kilometer östlich zur Memele
fließt, die dann weiterhin Grenzfluß bleibt bis etwa 10 KM südlich von Skaistkalne (?)
deutsch Schönberg. Durch den Ort Nereta fließt die Suseja, die sich ebenfalls, etwa 40 KM
nordwestlich mit der Memele vereinigt. Nachdem ich nun auf Grund der letzten Nachricht
von Valentin Schaeffer weiß, daß unser Regiment späterhin bei Schönberg lag, liegt der
Schluß nahe, daß versucht worden ist, an Suseja und Memele den russischen Vorstoß zum
Stehen zu bringen. Von ihrem nördlichsten Punkt aus, dort wo die Memele sich jäh nach
Südwesten wendet, bis etwa nach Bauska mag die Front eine Zeitlang gehalten haben,
solange eben der Schlauch für die Durchschleusung der Armee-Gruppe Nord offen bleiben
mußte. Wenn ich bedenke, daß mir die harten Kämpfe erspart geblieben sind, dann wird
mir erst recht bewußt, was für ein riesiger Dusel es für mich war, daß ich zeitig genug aus
dem Dreck herauskam. Wie das ging, bleibt nun zu erzählen.
In der Frühe jenes Sonntags, des 23. Juli, als wir etwa an die Stelle kamen, wo heute die
Erbäulichkeiten der Grenzstation errichtet sind, stand dort ein Panzer, einer von den
berühmten „Tiger“. Es war der erste, den ich aus solcher Nähe sah. Wir mußten anhalten,
ich stand auf Griffweite neben dem Tiger, und es verging eine gewisse Zeit. Da gab der
Panzer plötzlich, und ohne daß man darauf vorbereitet war, einen Schuß aus seiner Kanone
ab, daß ich mich überrascht niederduckte, und das scharfe Bellen in solcher Nähe mich
halbwegs betäubte. Das war jedenfalls das Zeichen zum Abmarsch gewesen; denn sofort
setzte sich die Kolonne in Bewegung. Wir überschritten den Bach, und jenseits der Brücke
zog sich die Reihe zur Schützenkette auseinander, ich mit andern nach rechts hin. Dann
stand dort eine Kirche, ich nehme an, es war die Kirche von Suvainiskis, rechts von ihr war
freies Feld, das sich am Talhang hinaufzog. Dort hinauf mußten wir uns nun vorarbeiten.
Wir waren noch nicht weit vorgedrungen, da bekamen wir von oben Gewehrfeuer und von
unten den Befehl: „Einschanzen!“ Ich nahm auf dem Bauch liegend meinen Spaten von der
Seite und fing an, vor mir ein Loch auszuheben und die Erde vor meinem Kopf zu einem
kleinen Wall aufzuschichten. Währenddessen wurde auch von unserer Seite nach oben
geschossen, auch einige Klopse hörte man in unserm Rücken abschießen und dort oben
einschlagen. Dann kehrte Ruhe ein, und es kam der Befehl: „Vorwärts, marsch!“ Wir
standen auf und konnten nun unbehelligt weitergehen.
Von dem weiteren Vormarsch sind mir nur wenige Einzelheiten in Erinnerung. Jener erste
Schußwechsel geschah jedenfalls mit einem Vorposten, der sich dann zurückzog. Wie wir
die erste nacht verbracht haben, weiß ich nicht mehr. Am Montag ging’s wieder weiter,
immer schön langsam und vorsichtig, weil entweder Wald durchkämmt werden mußte oder
man über offene Felder hinweg nur kriechen konnte, manchmal auch ein Gehöft erst
besetzte, nachdem man es längere Zeit umschlichen und beobachtet hatte. Am Dienstag
abend lag meine Gruppe in einem stattlichen Bauernhof, denn die Bewohner sichtlich erst
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vor ganz kurzer Zeit verlassen hatten. Es liefen noch einige Hühner herum, die schleunigst
davon flatterten, als wir die Gebäude erreichten. Auch ein Spanferkel wollte sich
davontrollen, wurde aber von einem von uns eingefangen. Das sei unser Abendessen,
wurde sofort beschlossen. Irgendwo stand da ein Wassereimer, und im Haus fand sich eine
Holzkiste mit grobem Salz. Material für ein Feuer war auch bald aufgetrieben, das arme
Schweinchen wurde geschlachtet und in dem Eimer in Salzwasser gekocht. Da aus
irgendeinem Grunde die Feldküche nicht nachkam, und wir alle einen guten Hunger hatten,
hielten wir an jenem Abend einen wahren Festschmaus.
Während wir noch im Haus drin waren, schlug draußen, in kaum dreißig Meter Entfernung,
eine schwere Granate ein, die einen riesigen Krater aufriß. Einer, wohl unser
Gruppenführer, der Obergefreite Schimanski, behauptete, das sein eine russische Rakete
gewesen. Niemand widersprach, er war ein alter Soldat und mußte es ja wissen. Für die
nacht mußten wie wieder Schützenlöcher ausheben; es wäre zu schön gewesen drin zu
schlafen. Als ich das Haus durchstöberte, fand ich einen herrlichen, fast nagelneuen
schwarzen Tuchmantel, innen ganz mit weißem Lammfell gefüttert, ebenso am Kragen und
an den Aufschlägen. Den eignete ich mir gleich an, nahm ihn mit in mein Loch und zog ihn
als Schlafrock an. Obwohl ende Juli, war doch der Temperaturunterschied von tag und
Nacht groß, und die Kühle recht fühlbar. Ich hätte den Mantel am liebsten mitgenommen,
aber das ging halt ganz und gar nicht. Erst viel später ist mir bewußt geworden, daß ich
mich ja eigentlich wie ein Plünderer benommen hatte; woran man wieder sieht wie leicht
der Soldat im Krieg gar leicht verroht.
Am andern Morgen ging der Vormarsch weiter, über Wiesen, Felder und Wälder, ohne
Feindberührung. Es war wohl schon Nachmittag geworden, als wir ein nicht sehr großes
Waldstück durchzogen. Jenseits davon erstreckte sich ein ziemlich ausgedehntes Kornfeld.
Das Korn stand hoch in den Halmen und war so gut wie reif. Ich trat als letzter aus dem
Wald heraus, da ich ja, wie gewohnt, das Schlußlicht bildete. Da sah ich, vielleicht fünfzig
Meter von mir, einen Iwan aus dem Korn hervorspringen und die Flucht ergreifen.
Schimanski, der mit einer Maschinenpistole bewaffnet war, hob sie und schoß nach dem
Flüchtling, der sofort niederstürzte. Alle ihm nach, ich, wie immer mit Abstand, doch
immerhin nahe genug um zu sehen und zu hören, was geschah. Der Verwundete lag im
Korn und wimmerte, vielleicht war er nur in die Beine getroffen, vielleicht war er auch
schwer verwundet. Egal, er war verwundet und hielt um sein Leben an. Schimanski trat auf
ihn zu, hob seine MPi und jagte ihm einen halben Streifen durch den Kopf. Keiner sagte ein
Wort, der Vormarsch ging weiter. Ich hinterher, indem ich zur Seite bog und wegschaute.
Das war ein eindeutiges Kriegsverbrechen. Einen Augenblick zuckte es mir in der Hand. Ich
hätte am liebsten den Obergefreiten Schimanski mit einer Kugel von hinten umgelegt.
Hätte ich es tun sollen?
Der Vormarsch ging weiter. Gegen Abend zogen wir wieder durch einen Wald, einen
ziemlich ausgedehnten diesmal, wenn ich mich gut entsinne. Als wir da heraustraten, lag
vor uns, nur wenige Schritte entfernt, auch wieder ein Gehöft, wie es deren in jenen
Ländern ja viele gibt. Von dem nun folgenden habe ich nur ein paar blasse, verworrene
Bilder in Erinnerung. Ich kam wieder einmal als letzter aus dem Wald heraus, sah noch,
daß die andern eben das erste Gebäude des Gehöft, das Wohnhaus erreicht hatten. Da
geschah ein Feuerüberfall, wir bekamen Zunder, wie man spaßweise zu sagen pflegte. Ein
Maschinengewehr ratterte, Gewehrschüsse fielen, Klopse gingen nieder, zum Glück für
mich weiter vorn, dort wo die andern nun am Wohnhaus vorbei, ins Freie geschritten
waren. Ich sah keinen mehr von ihnen, hörte nur Kugeln pfeifen und lag flach am Boden.
Dann hörte das Infanterie-Feuer auf. Ich erhob mich und sprang auf das Gebäude zu, denn
ich mußte ja sehen, daß ich die andern wieder einholte. Da ging die Schießerei plötzlich
von neuem los. In größter Angst stürzte ich in das Wohnhaus hinein und suchte Deckung.
Das ganze Haus war aus Holz gebaut, nach Blockhausart. Lediglich der riesige Ofen in der
Mitte war gemauert und gekachelt. In seinem Fuß legte ich mich auf den Dielenboden, auf
der Seite die dem Feind abgewandt war. Draußen ging die Schießerei weiter, nahm sogar
an Heftigkeit zu. Da gewahrte ich, daß ich am Ofen gerade vor der Feuerung lag, mit dem
Kopf am Aschenloch. Das war so groß, daß ein Mensch hindurchkriechen konnte. Kurz
entschlossen, legte ich mein Koppel mit allem dran, was mir hinderlich war und schlüpfte in
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das finstere Loch hinein, während neben mir eine Maus heraussprang Da lag ich nun in der
Asche und fühlte mich einigermaßen in Sicherheit, obwohl ja die Beine jedenfalls hinten
hinausragten. Nach einer weile schien das Infanteriefeuer nachzulassen, dann aber erhob
sich das scharfe Bellen einer Panzerkanone, mehrmals nacheinander, und auf einmal
erzitterte das Haus in seinen sämtlichen Baumstämmen und Balken. Ich begriff, daß es
einen Volltreffer erhalten hatte, wohl vorn am Giebel, der dem Feind zugewandt war. Dann
hörte das Schießen auf.
Ich weiß nicht, wie ich auf den Gedanken kam, die deutschen hätten sich zurückgezogen
und die Russen würden jeden Augenblick ankommen und beschloß, in meinem „Versteck“
liegen zu bleiben, um mich „nachher“ gefangen zu geben. Eine hirnverbrannte Idee, an die
ich aber fest glaubte. Da hörte ich auf einmal ein merkwürdiges Knistern, dessen Ursache
ich mir gar nicht erklären konnte, bis mir da unten in meiner Finsternis plötzlich ein Licht
aufging, wohl weil ich etwas roch, nämlich Holzrauch. Das Haus brannte! In Sekunden war
ich aus dem Aschenloch heraus, ergriff mein Koppel, schnallte es um und stürzte hinaus ins
Freie, wobei ich in der Eile mein Gewehr liegen ließ. Das Haus stand vom Giebel her in
Flammen, die sich rasch zum andern Giebel hin durchfraßen. Es fielen immer noch
Schüsse, allerdings nicht in der Nähe. Quer zu dem brennenden Wohnhaus stand, nicht
weit entfernt, ein kleineres Gebäude. Mit einigen Sätzen sprang ich auf dieses zu. Als ich es
erreichte, stand da plötzlich ein deutscher Soldat ohne Gewehr der sich mit der rechten
Hand den linken Oberarm hielt, aus dem es blutete. Er rief mich und sagte: „Verbinde
mich!“ In meiner Angst und Aufregung verlor ich nun total die Nerven. „Wo ist dein
Verbandspäckchen?“ – „Ich habe keines mehr.“ – „Hier hast du meines“ sagte ich, zog es
heraus und gab es ihm. „Verbinden kann ich dich nicht!“ Das war Feigheit, aber zu dieser
Einsicht kam ich erst viel später. Ich weiß nicht was aus diesem Kameraden geworden ist.
Wenn er verblutet sein sollte, trage ich die Schuld daran.
Indem ich solchermaßen den verwundeten Kameraden im Stich ließ und mich abwendete,
sah ich an dem kleinen Gebäude eine Tür; die ließ sich ohne weiteres öffnen, ich trat ein
und zog sie hinter mir zu. Es war inzwischen später Abend geworden und ich stand im
Finstern. Als ich mit meinem Feuerzeug umherleuchtete, sah ich mich in einem engen
Raum, dessen Boden mit Stroh bedeckt war. Aber was mir in der Nase duftete, war kein
Geruch von Stroh; ich wendete mich zur Seite und entdeckte ein Holzgestell, das ich nicht
näher betrachtete, denn das, was daran hing, zog meine Aufmerksamkeit viel stärker an,
wie es mir auch gleichzeitig Auskunft gab über den besonderen Duft, der hier verbreitet
war: dort hing nämlich eine lebensgroße geräucherte Speckseite. Wenn ich weniger
aufgeregt und es mir ums Scherzen gewesen wäre, hätte ich gedacht: Mensch, da hast ja
mal wieder Schwein gehabt! Wie schon bemerkt: während des Vormarsches kam die
Verpflegung nur unregelmäßig nach, woraus man hätte schließen können, daß es mit der
Logistik insgesamt haperte. Weil wir immer wieder Kohldampf hatten, nahmen wir uns halt
alles, was wir so vorfanden, zumeist Karotten oder Rüben, die man hie und da in der Nähe
von Gehöften vorfinden konnte; auch Kornähren habe ich da etliche, halbzeitige,
ausgepflückt, womit aber kein großes Loch zu stopfen war. Und nun eine ganze Speckseite!
Für mich allein! Ich steckte mein Feuerzeug ein, zog mein Taschenmesser, schnitt mir in
der Finsternis tastend eine Dicke Scheibe herunter, setzte mich an die Wand aufs Stroh und
verzehrte den Leckerbissen mit höchstem Genuß. Bald aber bekam ich es mit dem Durst zu
tun. Meine Feldflasche jedoch war leer. Draußen, im Vorbeigehen, hatte ich einen Brunnen
gesehen, doch was konnte mich das nützen? So ohne weiteres dorthin gehen und Wasser
schöpfen, kam nicht in Frage. Ich lebte immer noch in dem Wahn, ich befände mich
entweder im Niemandsland zwischen den Fronten oder eher noch vielleicht hinter der
russischen Stellung. In beiden Fällen mußte ich sehr vorsichtig sein. Doch der Durst plagte
mich immer stärker. Am Ende öffnete ich meine Tür nur einen Spalt und spähte hinaus. Es
war inzwischen Nacht geworden, doch schien wohl der Mond, denn ich stellte fest, daß der
Hof vor der Tür im Schatten lag, während der Waldrand von wo wir hergekommen waren,
gut erkennbar war. Links lag ein drittes Gebäude, parallel zu dem abgebrannten
Wohnhaus, wohl die Stallungen. Zwischen den beiden, zehn, fünfzehn Schritte vor mir
erhob sich der Brunnenpfosten, darüber der lange Schwengel mit seinem Gegengewicht,
am Schwengel hing die Stange mit dem Schöpfeimer: ein Ziehbrunnen, wie er überall im
Baltikum und nicht nur dort gang und gäbe ist. Lange spähte ich hinaus, zum Brunnen und
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darüber hinaus zum Waldrand hin. Nichts regte sich. Da schlich ich mich in gebückter
Haltung zunächst an der Wand des mittleren Gebäudes im Schatten nach links hin, dann
von dort auf den Brunnen zu. Ich gelangte zunächst an den Trog uns stellte zu meiner
Freude fest, daß er Wasser enthielt. Ob es ganz sauber war, kann man bezweifeln, und als
ich mit dem Becher daraus trank, schmeckte es abgestanden und fade; ich leerte trotzdem
zwei Becher und füllte meine Feldflasche damit auf, alles in halb kniender, halb liegender
Haltung. Dann schlich ich auf dem selben Weg zurück in mein Gehäuse, zog die Tür zu,
tastete mich dorthin, wo die Speckseite hing, schnitt mir nochmals ein ordentliches Stück
herunter und verschlang es. Noch einen Trunk Wassers, und gesättigt legte ich mich auf
dem Stroh zur Seite und schlief ein.
Als ich erwachte, sah ich durch die Ritzen der Tür, daß draußen heller Tag war. Was nun
tun? Wieder stellte sich die Frage, wo ich mich eigentlich befand, und die mußte zuallererst
geklärt werden. Vorher aber, hielt ich noch Frühstück mit Speck und Wasser. Dann
entschloß ich mich, auf Erkundung zu gehen. Als ich in den Hof hinausschaute, strahlte die
Sonne über das abgebrannte Wohnhaus zu meiner Rechten herein. Und als ich zum Wald
hin blickte, schien mir dort etwas sich zu bewegen. Ich beschloß, was auch immer
passieren sollte, offen über den Hof zu gehen. Ich verließ also mit großen Bedauern meine
Speckkammer. Als ich am Brunnen vorbeiging, hörte ich zur linken hinter dem
Stallgebäude menschliche Stimmen. Verflucht! Das klang ja deutsch! Ich war also wieder
nicht in russische Gefangenschaft geraten! Diesmal aber konnte es mir gefährlich werden.
Was tun in solch einem Fall? Ich wußte es sofort und hatte auch gleich den Text zu der
Rolle bereit, die ich jetzt spielen mußte: die des Versprengten.
Wie sich das nun im einzelnen zutrug, davon habe ich nur eine ganz schwache Erinnerung.
Ich sehe mich noch an dem Stallgebäude entlang gehen, und an dessen Ende die
Entdeckung machen, daß ich mich in einer Artillerie-Stellung befand. Dort standen
Geschütze, was für welche konnte ich wohl schon damals nicht erkennen. Ich sehe mich
mit einigen Artilleristen im Gespräch, einer führt mich in den Wald hinein zum „Chef“. Von
diesem „Chef“ habe ich nicht mehr die geringste Vorstellung, erinnere mich auch nicht
mehr ausführlich an das Gespräch, das ich mit ihm führte. Eines nur ist mir bewußt
geblieben: daß ich die erbärmlichste Mine aufsetzte, die mir nur möglich war, und dem
Mann erklärte, ich habe am Vorabend bei dem Feuerüberfall den Kontakt zu meiner Einheit
verloren und habe die nacht dort in jenem Gebäude zugebracht, wobei ich so nebenbei
einfließen ließ daß es eine Speckkammer war, wo auch jetzt noch Speck zu finden sei.
Dann weiß ich noch, daß ich meine Einheit nennen mußte, die 3. Kompanie, Regiment 151,
worauf er mir mitteilte, daß ich gerade recht komme, weil jetzt gleich ein VB
(Vorgeschobener Beobachter der Artillerie) dorthin abgehe, dem ich mich nur
anzuschließen brauche. So geschah es in der Tat. Auch von dem VB habe ich keine
Erinnerung, weder an sein Gesicht noch an seinen Dienstgrad. Ich weiß auch nicht, wie
groß die Strecke war, die wir bis zur Stellung meiner Kompanie zurückzulegen hatten; da
wir von einer Artillerie-Stellung ausgingen, werden es um die zwei, drei Kilometer gewesen
sein. Wir gingen auf einer schmalen Straße, vielleicht war es auch nur ein Feldweg, an
dessen rechter Seite ein Graben lief. Irgendwo unterwegs lag am Grabenrand ein toter
deutscher Soldat, gleich neben ihm sein Gewehr, das ihm entfallen war. Mein Begleiter
meinte zu mir: „Heb das Gewehr auf, so hast du wieder eins“, wobei er mit den Augen
zwinkerte. Das weiß ich noch, wenn mir auch sein Gesicht aus dem Gedächtnis
entschwunden ist. Er wird wohl im stillen geahnt haben, was es mit meiner „Versprengung“
in Wirklichkeit auf sich hatte, nämlich das, was man im militärischen Jargon Feigheit vor
dem Feind genannt hätte. Und wahrscheinlich brachte er Verständnis dafür auf.
Nach geraumer Zeit erreichten wir den Rand einer Ortschaft, und tatsächlich stand dort ein
Schild mit ihrem Namen: Pandelys. Dies ist außer Jakobsstadt der einzige Ortsname
zwischen Riga und Dünaburg, der mir damals bekannt wurde und der sich unvergeßlich
meinem Gedächtnis eingeprägt hat. Nun sind mir wieder nur verwischte Bilder ohne
Zusammenhang gegenwärtig. Irgendwo mußte ich mich melden, wahrscheinlich beim
Bataillons-Gefechtsstand, und vielleicht war der derzeitige Bataillonschef de mir so
unsympathische Leutnant Pacholek, den ich etwa eine Woche zuvor als Kompaniechef
kennengelernt hatte. Ich wollte mich wieder einmal von der Front drücken, hatte
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absichtlich ein Glas von meiner Dienstbrille zerbrochen und meldete mich bei dem
besagten Pacholek mit dem Antrag einen Augenarzt aufsuchen zu können, denn so
wörtlich: „Ich kann auf fünfzig Meter den Feind nicht erkennen.“ Antwort: „Es genügt, wenn
Sie ihn auf zwanzig Meter erkennen. Gehen Sie nur wieder vor in Stellung.“ Wo das
geschah, weiß ich nicht mehr; vielleicht war es auch erst hier in Pandelys, und Pacholek
war noch Kompaniechef. Als ich mich also beim Bataillon meldete als Versprengter vom
Vorabend – ob nun bei Pacholek oder bei wem sonst – da kam ich jedenfalls weit schlechter
an als bei jenem Batteriechef der Ari. Ich wurde höchst grob abgekanzelt und drohend
darauf aufmerksam gemacht, daß es sich um Unerlaubte Entfernung von den Truppe
handle. In diesem Moment kamen drei Mann herbei, die auf einer ausgehängten hölzernen
Tür einen Schwerverwundeten wegschleppten. Der mich eben so gewaltig anschiß nahm
sogleich die Gelegenheit wahr, mir eine Mindeststrafe zu verpassen und schnauzte mich
an: „Da, packen Sie mal zu, und helfen Sie mit, den verwundeten Kameraden
zurückzuschaffen! Los!“
Einerseits war ich froh, so leicht weggekommen zu sein, aber es war eine schwere Last, die
ich nun zu tragen bekam. Da vorn war eine Schießerei im Gang, man hörte Kugeln pfeifen,
wir duckten uns alle vier und gingen halb auf den Knien; den Rest habe ich vergessen.
Irgendwo luden wir den Verwundeten ab, war es ein Truppenverbandsplatz oder ein Sanka
der ihn gleich weiterbeförderte? Ich weiß auch nicht mehr wie ich zu meinem Kompaniechef gelangte, wer es war und wie er mich empfing. Vielleicht war es noch der Leutnant
Pacholek, vielleicht auch der Feldwebel Müller, dem ich dann noch mehrmals begegnete.
Nur eines ist mir im Gedächtnis tief haften geblieben: das Schützenloch in dem ich Stellung
beziehen mußte. Es lag am Fuß einer riesigen Birke, deren Stamm so dick war, daß ich ihn
kaum weiter als etwas um die Hälfte umfassen konnte. Wegen des harten Bodens und der
Wurzeln des Baumes hatte man das Loch ziemlich flach ausgehoben, kaum mehr als
spatentief, so daß es praktisch gar keine Deckung bot. Vielleicht 200 M halb links vor mir
gab es eine Anhöhe mit einem Wäldchen auf der Kuppe. Dort lag der Iwan, dort sah man
nachts das Mündungsfeuer von Infanteriewaffen aufblitzen. Dann schoß man eben auch in
diese Richtung. In welcher Reihenfolge die nächsten Ereignisse abliefen, weiß ich nicht
mehr. Einmal sah ich, wohl einen halben Kilometer links von mir drei russische Panzer auf
unsere Front zufahren. Es entstand dort ein Gefecht. Anscheinend kam hinter den Panzern
auch Infanterie her; sehen konnte ich das nicht, die gingen ja nicht hoch aufgerichtet,
sondern gebückt, wenn nicht kriechend vor. Deutsche Panzer sah ich keine. Wo war jener
einzelne geblieben der an unserem Ausgangspunkt den Startschuß zum Angriff abgegeben
hatte? Immerhin muß ein Pakgeschütz vorhanden gewesen sein, den plötzlich ging einer
der russischen Panzer in Flammen auf, die anderen zwei machten kehrt und fuhren zurück.
Ob sie flohen oder Befehl zum Rückzug erhalten hatten, konnte man nicht wissen. Ein
andermal geschah Ähnliches rechts von mir, aber weiter weg. Ich sah nur einen russischen
Panzer, vielleicht waren es auch mehere. Wie es dort ausging, blieb mir verborgen. Nachts
beim Essenholen am Kompanie-Gefechtsstand wurde erzählt, es sei eine ganze Menge
russischer Panzer abgeschossen worden. Etwas Wahres schien an dem Gerúcht gewesen zu
sein, sonst hätten wir ja hier nicht ausharren können.
Diese Stellung am Südrand von Pandelys hatte ich – nach meiner Nacht in der
Speckkammer – höchstwahrscheinlich bezogen am Mittwoch den 26. Juli. Was ich jetzt
erzählen will geschah nicht am selben Tag, sondern entweder am Donnerstag oder am
Freitag, wohl eher am Donnerstag. Ich lag in meinem Loch und späte hinüber zu dem
niedrigen Hügel, wo der Iwan lag. Es herrschte außergewöhnliche Ruhe im Abschnitt. Da
plötzlich: rattschbumm! Der doppelte Knall von Abschuß und Einschlag einer
Panzerkanone, und zugleich ein fürchterlicher Schlag auf meinen Rücken, ich sprang auf,
lief in weiten Sätzen die zehn, zwanzig Meter zurück zum Kompanie-gefechtsstand und
rief: „Verwundet!“ Dieser Gefechtsstand war nichts anderes als ein großes viereckiges Loch
von vielleicht zwei bis drei Metern, oben mit dünnen Baumstämmen und einer Erdschicht
abgedeckt, im Innern mit Stroh ausgelegt. Das hatte ich schon zuvor festgestellt, denn
jetzt hätte ich es nicht gesehen! Ich war halb betäubt von dem Knall und mein Rücken
schmerzte. Der Feldwebel Müller hieß mich eintreten und fragte nur: „Wo verwundet?“ –
„Im Rücken“. Er hieß mich die Feldbluse ausziehen und war mir sogar behilflich dabei;
dann zog er mir das Hemd hinten hoch und untersuchte meinen Rücken. „Ach wo!“ sagte er
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dann, „ist weiter nicht schlimm, eine starke Prellung, sonst nichts!“ Sie waren, glaube ich
zu dritt in diesem Unterstand; welcher davon der Kompanie-chef war, weiß ich nicht. Der
Feldwebel Müller (oder vielleicht war er ein Oberfeldwebel) forderte mich auf mich wieder
anzuziehen; dann durfte ich eine Zeitlang verweilen um mich vom Schrecken zu erholen,
wobei er beruhigend auf mich einsprach. Dann aber mußte ich wieder hinaus in meinen
Gefechtsstand. Als ich dort ankam, sah ich erst, was geschehen war. Die mächtige Birke
lag hinter meinem Schützenloch am Boden, in Kopfhöhe wie abgerissen. Im Loch drin aber
sah ich ein Stück von Stamm liegen, einen Holzsplitter von etwa Armlänge, mehr als
handbreit und zwei bis drei Finger dick. Ich begriff, daß mir dieser Splitter flach auf den
Rücken geschleudert worden war. Hätte er mich mit der Kante getroffen, wäre es wohl um
mich geschehen gewesen. Und noch weit schlimmer hätte es mir ergehen können: wo
waren die Granatsplitter hingeflogen? Ich sah keinen; die nächsten hatten sich wohl tief in
den Boden gebohrt, die übrigen waren weit weggeflogen. Und ich hatte, wunderbarerweise,
bei diesem erneuten Volltreffer nicht abgekriegt als eine starke Prellung im Rücken. Diese
schmerzte freilich sehr, und ich habe sie noch ein paar Tage lang gespürt.
Wenn das vorhergehende am Donnerstag passiert ist, dann geschah einer von den beiden
Panzerangriffen, die ich vorhin erwähnt habe, am Freitag. Am Abend dieses Tages kam
plötzlich der von mir herbeigesehnte aber jetzt nicht erwartete Befehl zum Rückzug. Ich
war nämlich, wie von jeher, entschlossen zurückzubleiben um mich in Gefangenschaft zu
begeben. Wie es kam, daß keiner der Vorgesetzten da war, um seine Leute zu sammeln,
weiß ich nicht; vielleicht waren sie die ersten beim Rückzug. Sie sollten ja tatsächlich vorne
sein beim Angriff und die Truppe mit sich reißen, nicht vor sich hertreiben. Theoretisch
wenigstens. Wie dem auch sei, ich konnte unbemerkt zurückbleiben und sprang im
weglaufen in den Kompaniegefechtsstand. Nun wohnte mir aber die Angst nicht nur in den
Gliedern, sie fuhr mir sogleich in den Bauch und ins Gedärm, so daß ich nicht anders
konnte als mich dort, wo ich jetzt war, hinzusetzen um, wie es bei der Artillerie hieß,
abzuprotzen. Dort lag ja auch Stroh genug… Ich war damit kaum fertig, da erlebte ich
einen erneuten Schrecken: die Kompanieführung kam zurück, Feld- oder Oberfeldwebel
Müller sah mich zuerst und schrie mich an: „Was machen Sie da?“ – „Ich mußte scheißen
und ging hier in Deckung.“ Was dann noch für Fluch- oder Schimpfwörter fielen, weiß ich
nicht mehr. Jedenfalls mußte ich mit meinem Spaten den Unterstand so schnell vie möglich
reinigen und dann wieder vor ins Loch.
Am nächsten Tag war es im ganzen Abschnitt ziemlich unruhig, aber direkt auf Pandelys,
soweit ich mich erinnere, fand kein Angriff statt. Im Lauf des Nachmittags wurde ein Befehl
durchgegeben, ob vom Regiment oder von der Division, wußte ich schon damals nicht: „:
Die Stellung ist zu halten. Es wird gekämpft bis zum letzten.“ Das waren ja schöne
Aussichten! Ich sah jetzt ziemlich schwarz, denn wenn ich’s mir überlegte, dann bestand
wenig Aussicht, in einem solchen verbissenen Kampf, vielleicht sogar Nahkampf,
unverwundet in Gefangenschaft zu geraten. Ich lag in meinem Loch und grübelte; soviel
ich mich erinnere, fand an diesem Tag keine Schießerei mehr statt. Es wurde Abend, die
Dämmerung brach ein, und plötzlich lief irgendwer an der Stellung entlang und rief: „Los!
Wir müssen weg. Absetzbefehl!“ Diesmal, dachte ich, geht’s aufs Ganze! Ich mußte wieder
versuchen zurückzubleiben, fand aber dazu keinen gescheiteren Weg, als wieder in den
Unterstand der Kompanieführung zu schlüpfen, um mich dort zu verbergen. Wie gedacht,
so getan. Kaum aber saß ich da unten in der Ecke, da kam der Feld- oder Oberfeldwebel
Müller herbeigesprungen, schaute herein, sah mich da hocken und rief mir zu fast halblaut,
um nicht draußen gehört zu werden: „Mensch! Bist du verrückt. Da kannst du doch nicht
bleiben! Wenn der Panzer kommt, fährt er auf das Loch, dreht sich einmal um sich selbst
und fertig bist du. Raus! Komm mit mir!“ Er hatte mich geduzt und nicht in dem Ton
gesprochen, wie ein Vorgesetzter zu einem spricht, den er zum wiederholten Mal beim
Desertieren erwischt, sondern beinahe angstvoll und wie ein Vater, der seinen Sohn retten
will. Ich war seelisch fertig und ging willig mit ihm. Bald hatten wir die andern eingeholt.
Irgendwo am Straßenrand lag ein Gurt Maschinengewehrmunition, daneben ein ganzer
Kasten davon. Müller hieß mich den Kasten aufheben, hing mir den Gurt um den Hals und
sagte nur: „Es bleibt uns ein zwei Kilometer Streifen um herauszukommen.“ Damit verließ
er mich und lief an die spitze der Mannschaft. Wahrscheinlich war tatsächlich er der jetzige
Kompaniechef. Wir marschierten nun auf der Straße, die ostwärts ausholend von Pandelys
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nach Suvainiskis führt. Das wußte ich natürlich damals nicht, aber es kann keine andere
gewesen sein. Dieses schmale Sträßlein, das auch heute nicht mehr ist als ein besserer
Feldweg, verläuft auf weiten Strecken durch Waldungen. Der MG-Munitionskasten wog
schwer; bald wurde er mir so lästig, daß ich ihn bei der ersten günstigen Gelegenheit – es
war inzwischen Nacht – neben mir in den Graben setzte. Im nächsten Wald flog auch der
Gurt ins Gebüsch. So marschierten wir die nacht hindurch, und als der Morgen dämmerte,
waren wir beim Ausgangspunkt unseres Vormarsches angelangt. Leider fehlt mir jetzt
wieder eine präzise Vorstellung sowohl vom Gelände wie auch von dem weiteren
Geschehen. Aufgrund von strategischen Überlegungen, muß ich davon ausgehen, daß die
neue Stellung nicht bei Suvainiskis, sondern bei Nereta bezogen wurde, an der SusejaLinie. Das stimmt auch überein mit meiner wenn auch undeutlichen Erinnerung, daß wir auf
einer Anhöhe am Rande einer größeren Ortschaft lagen als Pandelys es gewesen war, und
daß sich das Gelände nach Süden zu senkte, um jenseits der Talsohle wieder aufzusteigen.
Daß ich mich bei unserem Besuch in Nereta nicht zurechtfinden konnte, wird wohl daran
liegen, daß sich in einem halben Jahrhundert, dort sehr vieles verändert hat, und nicht
zuletzt daran, daß eine nähere Betrachtung der Umgebung wegen des Regenwetters und
der erbärmlichen Straßenverhältnisse, auch wegen Zeitmangels nicht möglich war. So muß
ich wohl davon ausgehen, daß das was jetzt zu erzählen ist, sich in Nereta zugetragen hat.
Als wir die neue Stellung erreichten, erging sogleich der Befehl: „Einschanzen“. Jeder
bekam seinen Platz zugewiesen und grub sich sein Schützenloch. Da der Boden nicht sehr
hart war, ging diese Arbeit zügig voran. Aus einem nahegelegenen halbzerfallenen
Gebäude schleppte ich eine ziemlich schwere Blechtafel herbei, womit ich den hinteren teil
des Loches abdeckte. Als alles fertig war, mußten wir uns zur Feldküche begeben, die
unweit von dieser Stelle auf der Straße hielt. Auch Marketenderware gab es an diesem
frühen Morgen, und das heißt in der Hauptsache Zigaretten, die man billig kaufen konnte,
jeder eine bestimmte Anzahl, und zwar ein Teil Blonde einen kleinen Teil Schwarze. Dann
wurde getauscht. Die meisten deutschen mochten den schwarzen Tabak nicht und gaben
gerne zwei Schwarze für eine Blonde. Resultat: am Ende hatte ich zirka 350 Zigaretten in
meinem Brotbeutel stecken. Dann begab ich mich in mein Schützenloch, und vermeinte
eine Zeitlang schlafen zu können. Nach dem anstrengenden Nachtmarsch hatten es alle
nötig. Wir hatten in etwa fünf, sechs Stunden die 25 Kilometer zurückgelegt für die wir
beim Vormarsch drei Tage gebraucht hatten. Wer geglaubt hatte, jetzt schlafen zu können,
hatte aber die Rechnung ohne den Wirt, genau gesagt: ohne den Iwan gemacht. Kaum
hatte ich mich aufs Ohr gelegt, da gings los. Däk, däk, däk, klepperte das russische
Maschinengewehr dort drüben, am Waldesrand oben auf dem jenseitigen Talhang. Bald war
ein ganz alertes Schützenfeuer hüben und drüben im Gange. Denn, immer die gleiche
Taktik beim Gegner, rollten ziemlich weit links einige Panzer den Talhang herunter und
hüben hinauf. Rechts wird es wohl nicht anders gewesen sein, soweit konnte man wegen
den dort stehenden Gebäude jedoch nicht sehen. Dann kam die Infanterie den Hang
herunter, hoch aufgerichtet die Leute. Erst als von unserer Seite zwei oder drei MG42 sich
ins Konzert einmischten, nahmen sie die Nase in den Dreck. Dann aber setzten sie in
Einzelsprüngen ihren Vormarsch fort. Einige sah ich im Sprung hinstürzen.
Von meinen Kugeln kann kaum einer getroffen worden sein. Von den sechzig Schuß
Munition, mit denen ich acht Tage zuvor zum Angriff gegangen war, blieben mir wohl noch
etwa vierzig. Ich hatte die ganze Zeit, auch in Pandelys, so wenig wie möglich geschossen.
Nicht nur, weil wir, aus Munitionsmangel, Anweisung hatten, nur dann zu schießen, wenn
es wirklich notwendig war. Jetzt war es sicher notwendig und so schoß ich halt drauf los,
daß der Lauf meines Gewehrs heiß wurde. Ich schoß wie wild, immer gerade aus vor mich
hin, und hoch genug, damit es über die Köpfe hinwegging. Wie lange die Sache gedauert
hat, ist mir wohl schon damals nicht bewußt geworden. Meine Munition war verbraucht;
eben schob ich den letzten Ladestreifen in die Kammer, als der laute Befehl erscholl:
„Absetzen! Hinter die Ortschaft zurück!“ Alles sprang auf und lief weg. Mich behinderte das
Blech, mit dem ich mir hatte etwas Deckung verschaffen wollen, und so war ich diesmal
beim Türnen nicht wie damals bei Vaivara der erste, sondern der letzte. Es waren nur
wenig Sprünge bis zu den nächsten Häusern. Ich erreichte eine Gasse, lief nach links in
eine andere hinein, sah keinen Menschen, rannte an der Häuserfront entlang, sah irgendwo
eine offene Haustür und stürmte durch den kleinen Vorgarten dort hinein. In dem Raum,
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den ich betrat befanden sich mehrere Türen, ich lief zu der hintersten und fand genau die
richtige: als ich sie öffnete stand ich vor der Kellertreppe. Ich lief schnell hinunter und kam
in einen Raum, wo vielerlei Waren auf Regalen standen, auch viel bedrucktes lag da
herum: Papier, Zettel, Heftl, wohl auch Tüten und Packpapier. Ich hatte keine Zeit mir das
genau anzusehen. Ich suchte nur rasch ein Versteck. Der Raum erhielt etwas Licht durch
eine Kellerluke, ich zog mich in die finsterste Ecke zurück, schnallte ab, holte so viel wie
möglich von dem Papier herbei, legte mich zu Boden und deckte mich mit dem Papier zu.
Dann wartete ich auf die Russen.
Und sie kamen tatsächlich, aber nicht zu mir herein. Draußen hörte ich rufen, hörte die
lauten Schritte von vorbeieilenden Menschen, dann, gar nicht weit weg, das bekannte däk,
däk, däk eines russischen MGs. Dann nichts mehr, eine Stille, die mir unheimlich wurde.
Wie würde es jetzt weitergehen? Hoffentlich kam nicht ein Iwan oben an die Kellertür, und
warf eine Handgranate herunter. Ich zitterte bei dem Gedanken. Aber dann kam die
Entscheidung. Plötzlich hörte ich wieder laute Stimmen, diesmal klang es nicht russisch
sondern deutsch. Im Nu stand ich auf den Beinen, schnallte mein Koppel um, ergriff die
Büchse und stürmte nach oben, zum Haus hinaus. Als ich in den Vorgarten sprang kam mir
dort mein lieber alter Bekannter der Pastor Albert Baron entgegengesprungen. Ich erfaßte
blitzschnell die Lage und rief ihm zu: „Ist niemand drin! Ich war schon dort!“ Er machte
kehrt und wir liefen miteinander den Weg zurück, den ich hergekommen war. Als wir den
rand der Ortschaft erreichten und die vorherige Stellung schon sahen, die jetzt zurück
erobert wurde, mußte der andere sich mehr links halten, während ich geradeaus weiterlief.
Es war das letzte Mal, daß ich Albert Baron gesehen hatte.
Plötzlich krachte nicht weit hinter mir eine Granate nieder, und zugleich spürte ich einen
Einschlag unterhalb meiner linken Hüfte. „Verwundet!“ schrie ich. „Sani!!“ Ob überhaupt
Sanitäter bei uns waren, wußte ich nicht. Da sprang aber wirklich einer herbei, rief: „Komm
hier herein!“ und zog mich in jenes halbverfallene Gebäude, eine Art Schuppen, aus den ich
mir in der Frühe das Blech für mein Schützenloch geholt hatte. Ich mußte abschnallen. In
meiner linken Hinterbacke saß ein Granatsplitter, der mich genau in dem Winkel erreicht
hatte, den dieses Körperteil mit dem Spaten bildete. Eine Daumenbreite weiter links wäre
am Spaten abgeprallt, zwei Finger höher hätte er mir das Hüftbein zerschlagen. Da ich
mein großes Verbandspäckchen weggegeben hatte, legte mir der Sani aus seinem Vorrat
einen Notverband an und nahm mein kleines Päckchen an sich. „Stecksplitter“, sagte er
dann, „lediglich eine Fleischwunde. Geh dort zur Kartoffelmiete, da ist der
Kompaniegefechtstand drin. Dort meldest du dich als verwundet, die schicken dich dann
zum Truppenverbandsplatz.“ Sprach’s und eilte davon.
So begab ich mich denn zu jener Kartoffelmiete, von denen es im Baltikum eine große Zahl
gibt, während man sie hierzulande gar nicht kennt. Als ich vor der offenen Tür dieses
niedrigen Betonsilos stand, und hineinschaute, standen dort drei Männer, von denen einer,
ein Oberfeldwebel, den ich noch nie gesehen hatte, wohl der jetzige Kompanieführer war.
So kam es mir wenigstens vor, den die anderen trugen keine Offizierspiegel: ihre
Rangabzeichen konnte ich im Halbdunkel des Raumes nicht erkennen im Halbdunkel des
Raumes. Ich wandte mich also an den einzigen den ich als Oberfeldwebel erkannt hatte:
„Gefreiter Wacker meldet sich als verwundet. Stecksplitter im Gesäß“. Er schaute mir mit
einem ironisch-sarkastischen Lächeln ins Gesicht und meinte: „Vom Sturm geschützt. Die
Idioten haben zu kurz geschossen. Stellen Sie ihr Gewehr hier ab, Spaten, Seitengewehr
und Patronentaschen können sie auch hier lassen, dann gehen Sie in die Richtung da; etwa
einen Kilometer weit am Waldrand finden Sie den Verbandsplatz“. Ich legte alles ab, was
ich nicht mehr brauchte, grüßte mit erhobenem Arm, wie es jetzt vorgeschrieben war, aber
keiner von den Dreien grüßte zurück. Der Oberfeldwebel sagte nur: „Hauen Sie ab! Halsund Beinbruch!“ oder so ähnlich, und ich haute schleunigst ab. Ich mußte über ein leicht
welliges Gelände und hielt mich zunächst auf dem Rücken der Wellen, um die Richtung
einzuhalten die mir angegeben worden war. Da plötzlich: ratschbumm, Abschuß und
Einschlag, wie von einem leichten 5cm Pakgeschütz. Der Einschlag lag gar nicht weit rechts
von mir, ich hörte Splitter schwirren. Im selben Augenblick hatte ich mich auch schon
hingeworfen, dann sprang ich nach links hinunter ins Wellental und sofort über die nächste
Bodenwelle hinweg wieder nach unten. Schon landete der nächste Einschlag ein Stück
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hinter mir. Es blieb mir nichts übrig, als unten zu bleiben, und das war gar nicht so einfach,
da der Unterschied zwischen Talsohle und Fürst noch kaum eine doppelte Mannshöhe
betrug. Schließlich aber erreichte ich doch den Truppenverbandsplatz am Waldrand. Dort
hatte man tiefe Einmannlöcher ausgehoben, von denen einige bereits besetzt waren. In ein
solches hieß man mich, mich legen bis ich nach einiger Zeit zum Verbinden gerufen wurde.
Den Verbandsplatz zu beschreiben ist mir nicht möglich, obwohl ich mehrere Stunden dort
verbracht habe; davon ist mir aber nur in Erinnerung geblieben, daß man mir den
Notverband abnahm und ihn durch ein Pflaster ersetzte. Außerdem bekam ich ein Pflaster
um den kleinen Finger der rechten Hand, der von einem Streifsplitter getroffen war, wie ich
erst bei meiner Abmeldung von der Kompanie festgestellt hatte. Danach schickte man mich
wieder ins Loch, in Erwartung des Abtransports. Ich verspürte nun einen ordentlichen
Hunger und öffnete meinen Brotbeutel, um mir etwas zu essen zu suchen. Früh am Morgen
bei der Feldküche hatte es ja auch Brot und Margarine gegeben. Im Brotbeutel befand sich
ein Loch; als ich ihn öffnete war die Butterdose zertrümmert und in dem halben
Kommißbrot steckte ein Granatsplitter. Also hatte ich deren mindestens drei abgekriegt.
Jahrzehnte danach, bei einer „Röntgenaufnahme, fand man auch zwei kleine Flecken im
rechten Oberschenkel oder Gesäß, die auf etwas metallisches interpretiert werden konnten.
Vielleicht sind es zwei weitere Splitter, die ich nie gespürt habe. Die Margarine in meiner
Butterdose war mit Bakelitsplitterchen vermischt, die ich dann einzeln herauspicken oder –
spucken mußte. Aber das „Butterbrot“, das ich nun verzehrte und die abgestandene
Kaffeebrühe, die ich nun aus der Feldflasche trank, schmeckten mir wie noch selten.
Nach geraumer Zeit – einen klaren Begriff von ihrer Dauer habe ich nie bekommen – wurde
ich herausgerufen zum Abtransport. Zu diesem Zweck stand dort ein Bauer mit seinem
Panjewagen, bespannt mit einem jener winzigen aber recht zähen und ausdauernden
Panjepferden, von denen der Wagen selbst seinen Namen hatte. Selbstverständlich ging
das Pferd unter dem in jenen Ländern allgemein gebräuchlichen Krummholz. Auf dem
Wagen lag ein Schwerverwundeter, einer aus meiner Kompanie, dessen Namen ich damals
wußte, doch seither vergessen habe. Ich hatte selber zugesehen wie er einige Sekunden
vor mir verwundet wurde. Er stürmte vielleicht zehn Schritte von mir entfernt, zu meiner
Linken und etwas weiter vorn, auf die alte Stellung zu, als er plötzlich zusammenbrach mit
einem Schrei: „Bauchschuß“. Ich hatte mich nicht mehr weiter um ihn gekümmert, da ich
ja gleich darauf selber an die Reihe kam. Wie er zum Verbandsplatz geschafft wurde hatte
ich natürlich nicht sehen können. Nun lag er auf dem Panjewagen, war nur halb bei
Besinnung und stöhnte ab und zu. Vorn saßen zwei Leichtverwundete, einer auf dem
Wagen, der andere beim Fahrer auf dem Bock; ich durfte mich hinten hin setzen und ließ
die Füße herunterbaumeln. Wie lange das Rößlein vor dem Wägelchen hergetrottet ist,
weiß ich nicht. Mir kam es wohl länger und weiter vor als es in Wirklichkeit war. Schließlich
stand da an einer Kreuzung, wo wir einen breitere Straße erreichten ein Sanka, anders
gesagt eine Militärambulanz. Der Schwerverwundete wurde aufgeladen, wir drei anderen
stiegen zu und legten uns auf die Bahren; meinen Stahlhelm, den ich bisher trug, ließ ich
auf Anraten eines der Sanis auf dem Panjewagen zurück und setzte die Mütze auf, die ich
unterm Rock stecken hatte. Dann fuhren wir los, zum Hauptverbandsplatz, wie uns der
Chauffeur mitteilte. Vielleicht hat er auch gesagt wo der sich befand, die genaue Stelle
bleibt mir aber auch heute noch unbekannt. Wieder war es eine, wie mir schien, lange
Fahrt. Es war inzwischen Abend geworden; der Himmel hatte sich schon seit geraumer Zeit
bedeckt und es begann zu regnen. Als wir den Hauptverbandsplatz erreichten, herrschte
schon tiefe Dämmerung in dieser waldigen Gegend. Es standen da einige verstreute
hölzerne Gebäulichkeiten, aber auch ein ziemlich großes aufgemauertes Gebäude,
Sporthalle oder so ähnlich, und eben da wurden wir hingeführt. Von diesem
Hauptverbandsplatz haften wieder nur einige verworrene Bilder in meiner Erinnerung. Die
Zahl der Verwundeten war sehr groß, wie ich gleich beim Eintreten feststellte. An der einen
Seite dieses großen Raumes hatte man eine Reihe von behelfsmäßigen Operationstischen
aufgestellt wo die Leichtverwundeten behandelt wurden. Nach längerer Wartezeit mußte ich
mich auf einen dieser Tische legen. Ein Chirurg oder was er auch war nahm mir das Pflaster
weg, gab mir zwei, drei Einspritzungen zur lokal Anästhesie in die nähe der Wunde und
ging dann zum nächsten Tisch, wo er sich mit einem anderen beschäftigte, und so weiter.
Als er zurückkam, hatte die Spritze gewirkt; mit einer Pinzette zog er den Granatsplitter,
der aus der Wunde hervorschaute, heraus und gab ihn mir in die Hand. Der sah aus wie ein
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stählerner gebogener Hobelspan, vielleicht einen Zoll lang, nicht halb so breit, dick wie
etwa zwei Messerrücken. Dann schnitt der Operateur mit einer Schere die zerfetzten
Ränder der Wunde weg, so daß eine runde Vertiefung im Fleisch entstand, desinfizierte mit
was weiß ich für einer Flüssigkeit, streute dann was weiß ich für ein weißes Pulver in die
Wunde und verschloß sie mit einem Pflaster. Dann mußte ich den Operationstisch verlassen
und sollte mich nach einem Rastplatz umsehen. Während ich da hin und her ging, sah ich,
daß am anderen Ende der Halle anscheinend größere Operationen vorgenommen wurden.
Dort waren mehrere Männer in weißen Kitteln beschäftigt; einen Augenblick lang kam es
mir vor, als würde da etwas in die Höhe gezogen das wie eine dicke Schnur aussah. Ich
mußte an den Kameraden mit dem Bauchschuß denken und fragte mich ob das nicht seine
Gedärme waren, die man da herauszog. Dann habe ich mich wohl irgendwo hingelegt und
bin eingeschlafen. Müde genug war ich dazu jedenfalls.
Am anderen Morgen, dem 31. Juli, mußten alle Gehfähigen den Ort verlassen und sich an
eine nicht sehr weit entfernte Stelle begeben, wo ein Schmalspurgleis verlief, auf dem ein
aus niedrigen, offenen Güterwagen bestehender Zug stand. Eine solche Bahnlinie fand ich
tatsächlich auf der Euro-regionalkarte Litauen im Planquadrat Ae10. Dort ist, südlich vom
oberen Rand, ein einzelnstehendes Gehöft Alsani eingetragen. Westlich davon verláuft die
Straße von Jekabpils nach Nereta, und westlich dieser Straße ist eine Eisenbahnlinie „nur
Güterverkehr“ eingezeichnet. Meiner Ansicht nach ist es gut möglich, daß der
Hauptverbandsplatz sich dort befand, wenn nicht in Alsani selbst, so doch in der Nähe. Den
kurzen Weg von dort zur Bahnlinie, die in meiner Erinnerung durch den Wald zog, hätten
Leichtverwundete ohne weiteres zurücklegen können. Tatsächlich verbrachte uns jener
Güterzug nach Jakobstadt, wo eine große Verwundeten-Sammelstelle in einem
Barackenlager eingerichtet war. Von der Bahnfahrt, von jenem Lager, von der Zeit, die ich
dort verbrachte und von dem, was dort vorging weiß ich nicht mehr, es sei denn, daß ich
meine Stiefel abgeben mußte und ein Paar alte Schuhe dafür bekam. Dann sehe ich mich in
einem andern Eisenbahnzug, diesmal in einem geschlossenen Güterwaggon auf Stroh
liegend, inmitten vieler anderer Verwundeter, die mir natürlich absolut fremd waren, die
meisten in einem Zustand, daß sie sich, eventuell mit Hilfe Dritter, selber fortbewegen
konnten, manche aber auch zu Krüppeln geworden, die man auf Tragbaren befördern
mußte. Aus Eintragungen in mein Soldbuch, zusammen mit der bestimmten Erinnerung,
daß ich zunächst drei Tage in Riga verbracht habe, läßt sich schließen, daß wir Jakobstadt
am 1. August verließen und am 3. in Riga ankamen. Daß wir für die kurze Strecke von
kaum 150km zwei tage gebraucht haben, ist mir tatsächlich auch in Erinnerung. Das ist ja
auch kein Wunder, da auf dieser Strecke vor allem Verstärkungen und Nachschub nach der
front rollen mußten.
Was wir während dieser Tage, die ja in fast vollkommener Muße abliefen, so durch den
Kopf ging, weiß ich nicht mehr. Aber ich hatte Zeit zum Nachdenken wie zum Träumen, in
dem Umfang, wie es das Leben und die Stimmung in einem mit wenigstens zwei Dutzend
körperlich und seelisch mehr oder weniger lädierter Krieger besetzten Viehwagen zuließ.
Eines kann ich wohl mit Sicherheit behaupten, nämlich daß ich mich keinesfalls der Illusion
hingab, der Krieg sei nun für mich beendet und die Rückkehr in die Heimat lediglich eine
Frage der Zeit. Im Gegenteil, ich war überzeugt, das nun bestenfalls wieder eine Schonfrist
anlief, die vielleicht einige Wochen dauern konnte, eben die Zeit die zur Ausheilung meiner
Fleischwunde erforderlich war. Von anschließendem Heimaturlaub konnte keine Rede sein;
auf den hatte man Anspruch nach einem Jahr im Einsatz, ich aber hatte nur vier Monate an
der Front verbracht, genau genommen noch weniger, wenn man die verschiedenen
Aufenthalte beim Troß in Abzug bringt. Erst recht kein Anlaß zur Hoffnung bot die
Betrachtung der militärischen Lage, so weit sie von mir damals zu überblicken war. Daß
Narwa seit den 26. Juli in russischer Hand war, wußten weder ich noch wahrscheinlich einer
von den andern in diesem Wagen, noch weniger, daß eben jetzt oder vielleicht in den
nächsten Tagen die blutige Schlacht beim Friedhof von Vaiwara ausgetragen wurde. Aber
vielleicht war ich ja der einzige im Wagen, der den Namen Vaiwara überhaupt kannte. Daß
wir im Süden von den Russen bereits überholt waren, das wußten wir, ja es ging das
Gerücht, sie hätten in Libau schon die Ostsee erreicht, was allerdings nicht stimmte. Daß
alle die Nase voll hatten und kaum einer noch an die Möglichkeit des Endsieges glaubte,
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war allgemein spürbar, wenn auch keiner eine defätistische Äußerung wagte. Dafür wurde
um so mehr gezotet, Thema Eins füllte den größten teil der Zeit aus.
Endlich langten wir in Riga an. Wie das im Einzelnen vor sich ging, habe ich vergessen.
Wahrscheinlich wurden wir am Hauptbahnhof oder seitlich davon ausgeladen und per
Sanka weiterbefördert. Ich sehe mich erst wieder in einem Lazarett, weiß aber nicht, wo
sich das befand. Es standen da mehrere Gebäude in einem Park oder inmitten von
Grünanlagen. Vielleicht war es tatsächlich ein Spital, das nur teilweise als Lazarett dienen
mußte. Da in meinem Soldbuch nichts eingetragen wurde, kenne ich keine nähere
Bezeichnung für das, was wahrscheinlich Feldlazarett mit einer bestimmten Nummer hieß.
Das erste, was nun mit uns vorgenommen wurde, war die Entlausung. Die bestand in der
Hauptsache darin, daß man sich von allem zu entledigen hatte, was auch nur ein Faden
von einem Kleidungsstück war. Das war nicht zu umgehen, und im Grunde war es mir auch
gleichgültig. Was mir aber nicht Wurst und Schnuppe war, das war mein Brotbeutel den ich
ebenfalls abgeben sollte, obwohl doch das kein Kleidungsstück und für Filzläuse höchstens
eine Notunterkunft war. Wie es mir gelang, diesen Brotbeutel zu verstecken, weiß ich nicht
mehr. Hauptsache, es gelang: darin steckten nämlich die sämtlichen Zigaretten, die ich an
jenem Sonntagmorgen als Marketenderware erworben hatte, und die waren mir damals
mehr als wichtig, wenn auch nicht geradezu lebensnotwendig. Wie durch ein Wunder waren
sie bei meiner eigenen Verwundung unversehrt geblieben, da ja die Butterdose den
Granatsplitter im Brotbeutel aufgefangen und dabei ihr Leben gelassen hatte. Außerdem
befand sich darin mein Rasierzeug, auf das ich auch nicht gerne verzichten wollte.
Die eigentliche Entlausung umfaßte zwei Phasen. Zunächst kam eine ordentliche Dusche
mit gründlicher Abreibung von oben bis unten; das war, nach all den Wochen im Dreck,
eine wirkliche Wohltat. Danach mußte man allerdings noch die Bestäubung sämtlicher
behaarter Körperteile mit Läusepulver über sich ergehen lassen. Nachdem wir dann
solchermaßen keimfrei geworden waren, kam der Clou des Abenteuers. Da standen wir nun
alle wie die Adämer am sechsten Schöpfungstag. Alles hatten wir weggeben bis auf den
letzten Faden, und nun erwarteten wir natürlich, neu, von Grundauf neu eingekleidet zu
werden. Und das geschah auch, allerdings nicht nach deutscher sondern nach alt—
römischer Art, und auch das nur teilweise und oberflächlich. Jeder erhielt nämlich ein
frischgewaschenes, schneeweißes Bettlaken, das groß genug war, um es wie eine Toga um
sich zu legen, wobei man nur darauf achten brauchte, daß der Faltenwurf richtig lag. Und
nicht erst lange herumzumäkern, daß die Römer vielleicht noch sonst was unter der Toga
trugen (Ich zum Beispiel hatte mir den Brotbeutel darunter geschoben). Dann hieß es: „Ihr
geht herüber zu jenem Gebäude dort, im ersten Stock Zimmer Nummer soundso.“ Dort
hinüber hatte man über einen ziemlich großen Hof zu gehen, an einem anderen Gebäude
vorbei, dann noch ein Stück weiter, wo ich dann merkte, daß es da rasen und Bäume gab.
Als ich mit einigen andern das bekannte Zimmer erreichte, war dies ein großer, heller,
luftiger Raum mit vielleicht sechs Betten, so richtig wie in einem wohleingerichteten
modernen Spital. Die Betten waren frisch überzogen, und das zweite Lacken zum zudecken
brachte jeder mit. Was brauchte man mehr als leichtverwundeter Landser, um glücklich zu
sein? Das Essen wurde ins Zimmer gebracht, man konnte den ganzen Tag herumfaulenzen,
rauchen, die widersprüchlichsten Gerüchte vernehmen, und wie immer es gerade möglich
war, sich die Zeit vertreiben. Etwas umständlich wurde es halt, wenn man zum WC auf den
Flur hinaus mußte; anstandshalber kleidete man sich natürlich in die Toga.
So habe ich in diesem Rigaer Lazarett drei geruhsame Tage verbracht. Am dritten Tag kam
plötzlich die Aufforderung: „Fertig machen zum Abtransport! Ihr werdet verlegt, der Platz
hier wird für andere gebraucht.“ Was unter fertigmachen zu verstehen war, wurde nicht
weiter präzisiert. Deshalb mußte ich die naheliegende Frage stellen: „was ziehen wir an
zum verreisen? Unsere Bettlacke?“ – „Nein!“ war die Antwort, „die müßt ihr dalassen! Die
gehören zum Lazarettinventar!“ Sollten wir dann barfuß gehen? Aber nein! Jeder erhielt ein
Hemd. „Das genügt bis zum Bahnhof, dort besteigt ihr einen Lazarettzug und legt euch in
die Betten.“ Und so geschah es. Jeder bekam sein Hemd, und kurz danach mußten wir uns
in den Hof begeben, wo einige Busse standen. Man stieg ein und los ging die Fahrt
Richtung Hauptbahnhof Riga. Es war nun die Mittagszeit am Sonntag, den 5. August. So
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fuhren wir quer durch Riga, in diesem Bus gut dreißig Mann, alle im Hemd, ich mit dem
Brotbeutel auf den Knien. In Riga herrschte das schönste Sommerwetter. Der Lazarettzug
stand so, daß die Busse ziemlich nahe hinzu fahren konnten, so daß wir immerhin nicht im
Hemd durch die Bahnhofshalle zu marschieren brauchten. Wenn ich mir heute das Bild, daß
wir abgaben, vor Augen führe, dann muß ich an Rodins Bürger von Calais denken: barfuß
im Hemd.
Wohin wir verbracht werden sollten, hatte uns niemand gesagt. Im stillen erwartete ich,
gegen alle Wahrscheinlichkeit, daß es Richtung Süden gehen würde, nach Litauen zu oder
vielleicht sogar nach Ostpreußen. Als der Zug wegfuhr, war die Sache sofort klar: es ging
nach Norden, von wo wir vor etwa drei Wochen gekommen waren; es war jetzt das
drittemal, daß ich diese Landschaft sah, ich kannte sie schon. Der Lazarettzug hatte erst
gegen Abend, nachdem er voll beladen war, Riga verlassen. Wieder ging die fahrt sehr
lansam, mit vielen Unterbrechungen, voran. In der Frühe erreichten wir Wolmar, heute
Valmiera. Ich weiß nicht, ob dort der ganze Zug geleert wurde oder nur ein Teil davon. Wir,
die dabei waren, wurden mit Sanka eine gute Strecke weiter verbracht, wohin genau,
konnte ich nicht feststellen. Drum weiß ich bis heute noch nicht, in was für einem großen
Gebäude in oder bei Wolmar das Heeresfeldlazarett 636 untergebracht war. Dort lagen wir
wenigstens fünfzig Mann in einem großen Saal, den ich mir immer als Turnsaal einer
Schule oder als so etwas wie einen städtischen Festsaal gedacht habe. Nachdem ich nun im
vorbeifahren im vergangenen Juni, leider zu spät ein halbzerfallenes großes Gebäude
erblickt habe, und nachher auf der Karte an jener Stelle eine Valmieras Muiza (?)
eingetragen fand, frage ich mich, ob das nicht so ein baltendeutsches Gutshaus war, daß
damals zum Lazarett umfunktioniert wurde.
Wie dem auch sei, das erste was bei unserer Ankunft vorgenommen wurde, war wieder die
Entlausung. Vielleicht befanden sich in diesem Lazarettzug auch Leute, die direkt von einer
Verwundetensammelstelle kamen und noch nicht entlaust waren, ich kann es nicht wissen.
Jedenfalls mußten wir alle durch und gegen eine erneute Dusche innerhalb von vier Tagen
hatte ich nichts einzuwenden. Irgendwie erreichte ich, daß ich mein Hemd wieder anlegen
durfte, und außerdem bekam jetzt jeder einen Lazarettanzug, ähnlich den
Sträflingsanzügen, weiß und blau oder weiß und rot gestreift. Aus dem Haus heraus muß
ich an den folgenden Tagen kaum gekommen sein, denn von einer Umgebung ist mir nichts
in Erinnerung geblieben. Auch was ich die ganze Zeit hindurch getrieben habe, weiß ich
nicht mehr. Möglicherweise gab es dort eine Bibliothek aus der ich mir etwas Lektüre
besorgen konnte. Alles was sich in Wolmar zugetragen hat, habe ich vergessen, bis auf
eines, was unter meinen sämtlichen Kriegserlebnissen einen ganz bedeutenden Angelpunkt
darstellt, wenn nicht geradezu die Entscheidung zwischen Überleben und Zugrundegehen.
Am dritten Tag erging plötzlich der Befehl: „Alles in die Betten! Es kommt ein Stabsarzt,
um eine Anzahl von Verwundeten zu bestimmen, die per Lazarettschiff nach Deutschland
abtransportiert werden sollen.“ War das eine Aufregung in unserem Saal!
Verständlicherweise hoffte ja jeder, daß er zu dem Auserwählten gehören würde. Ich,
kaum. Es gab ja keinen Grund dazu. Und doch… im Stillen… Ich nahm mir jedenfalls vor,
soldatische Haltung zu zeigen. Für uns gespannt wartenden hat es dann noch lange
gedauert, bis der angesagte Stabsarzt kam, wenn es möglicherweise auch nur eine Stunde
gewesen ist. Endlich ging ein Flüstern von Bett zu Bett: „der Stabsarzt!“ Dort kam er
tatsächlich in den Saal herein, in Begleitung eines Sanitäts-Unteroffiziers. Er ging ohne
weitere Formalität zum ersten Bett an der mir gegenüber liegenden Seite, führte ein kurzes
Gespräch mit dem Verwundeten, ging dann zum nächsten und so fort. Es dauerte natürlich
eine geraume Zeit, bis er dort drüben fertig war, dann wendete er sich herüber und begann
auch hier wieder bei der Einganstür. Ich hatte Mühe, meiner Aufregung Herr zu werden. So
soldatisch wie möglich wollte ich aussehen, strich mehrmals mit der Hand das Bettlaken
glatt, vergewisserte mich das der Lazarettanzug ordentlich zusammengefaltet auf dem
Stuhl lag, suchte dann auch wieder mich zu entspannen und mein Herzklopfen
loszuwerden. Endlich standen die zwei Männer am Nachbarbett. Ich hörte nicht was
gesprochen wurde. Am Ende nahm der Unteroffizier das Fieberblatt meines Nachbarn weg
und steckte es in eine Mappe. Schon stand der Stabsarzt vor mir, nahm meine Fiebertafel
zur Hand und grüßte mit einem freundlichen „Guten Tag, wie geht’s?“ Darauf war ich nicht
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gefaßt. Ich hatte im Bett liegend Haltung angenommen, indem ich, wie man so sagte, die
flossen anlegte und die Hacken zusammennahm wie beim Stillgestanden. Überrascht
stotterte ich: „Guten Tag, Herr Stabsarzt“, und fügte im Ton der Meldung hinzu: „Gefreiter
Wacker, Stecksplitter, linkes Gesäß.“ Er: „Vorzeigen!“ Mit einer zackigen Handbewegung riß
ich mein Bettlacken weg, drehte mich auf die rechte Seite, zog das Hemd links hoch und…
zeigte vor. Der Arzt trat herbei, drückte an der Wunde herum, ich zuckte. „Schmerzt das?„
fragte er. – „Jawohl, Herr Stabsarzt!“ Der Verband war vor drei tagen nach der Entlausung
erneuert worden und seither nicht mehr. Er war mit Blut durchtränkt, das einen großen
schwarzen Klecks gebildet hatte, und sah alles andere als schön aus. Der Stabsarzt winkte,
daß ich mich zudecken solle und fragte dann: „Wo sind Sie eigentlich her?“ An meiner
Aussprache hatte er jedenfalls gemerkt, daß ich kein Ostpreuße war. „Aus Straßburg, Herr
Stabsarzt.“ – „So“, erwiderte er, „aus der wunderschönen Stadt. Ich bin einmal kurz in
Colmar gewesen, schöne Altstadt, Unterlinden-Museum besucht. Nach Straßburg bin ich
leider nicht gekommen.“ Dann sagte er zum Sani: „Der auch.“ Jener nahm mein Fieberblatt
von der Tafel und steckte es in die Mappe. Ich wollte sagen: „Danke, Herr Stabsarzt“,
brachte aber nichts heraus. Der winkte lächelnd und ging zum nächsten. Ich hätte laut
aufjauchzen mögen, mußte mich aber zusammennehmen und Haltung wahren. Nun
dauerte es noch eine gute Weile, bis der Stabsarzt den Saal verließ. Dann hielt ich es im
Bett nicht länger aus. Ich stand auf und lief im Saal herum, sprach mit einigen, die
dasselbe Glück erlebten, wußte nicht was sagen zu andern, die nicht dabei waren, und
ihren Unmut äußerten mit „Alles Scheiße, alles Mist!“ und so ähnlich, und legte mich
schließlich wieder hin. Dann kam das Abendessen, es wurde Nacht, aber der Schlaf stellte
sich erst gegen Morgen ein.
Welcherlei Ideen, Reflexionen, Vorstellungen damals in meinem Denkgehäuse
durcheinander wirbelten, vermag ich heute nicht mehr zu sagen. Im Augenblick empfand
ich natürlich eine unaussprechliche Freude und dem Stabsarzt gegenüber tiefe
Dankbarkeit. Alle Gedankengänge die nun einsetzten, liefen aber in die Zukunft. Fragen
nach dem Warum und Wieso erinnere ich mich nicht mir gestellt zu haben. Die sind erst
viel später aufgetaucht, als die Aktualität bereits zur Geschichte geworden war. An zwei
Worten hatte mein ganzes künftiges Schicksal gehangen: „Der auch.“ Die ganze Szene ist
mir noch deutlich in Erinnerung, als einzige aus den Paar Wochen in Wolmar. Merkwürdiger
Weise allerdings sehe ich noch die zwei Gestalten vor meinem Bett, den Stabsarzt und den
Sani. Das Gesicht aber des Mannes, der die zwei schwerwiegenden Worte aussprach, ist
aus meinem Gedächtnis für immer weggewischt. Und zwar allem Anschein nach sehr früh.
Woran ich erkennen muß, daß mir der volle Umfang der Wohltat, die mir dieser Mann
erwies, gar nicht sofort bewußt wurde. Das war auch kaum möglich, ich kannte ja das Ende
des Stückes noch nicht, in dem ich meine Rolle zu spielen hatte. So kam es, daß ich erst
spät über mein Glück nachdachte. „Der auch“: weshalb war dieser „Der“ gerade
ausgerechnet ich? Der Stabsarzt handelte ja gewiß nach Kriterien, die ihm, mindestens
teilweise, vorgegeben waren. Zum Beispiel die Anzahl der Leute die da nach Deutschland
befördert werden sollten, ganz sicher. Ich habe nie feststellen können, wie viele es waren.
Wer war dann prioritär? Soviel ich bei der Abreise feststellen konnte, waren
Schwerverwundete dabei, die getragen werden mußten, vielleicht sogar die Mehrheit. Aber
ich sah auch etliche andere, die so gut gehen konnten wie ich. Wollte man junge, sonst
gesunde Kerle aus dem Schlamassel herausnehmen, um sie als Reserven für späteren
Einsatz zu bewahren? Das ist zu bezweifeln; der Rückzug der Heeresgruppe Nord nach
Kurland hatte ja begonnen, wahrscheinlich schon mit unserer eigener Verlegung dorthin;
Verstärkung war gefragt, da hätte man doch nicht freiwillig Leute weggegeben, die in
wenigen Wochen wieder einsatzfähig waren. Vielleicht gab es nicht genug
Schwerverwundete, denen die lange Reise zugemutet werden konnte, so daß man, um die
vorgesehene Zahl zu erreichen, auch leichtere Fälle hinzunahm. Nach welchen Kriterien
mußte der Stabsarzt dann verfahren? Und warum hatte er, neben anderen, gerade mich da
herausgefischt? So stramm militärisch wie ich hatten sich andere auch benommen, und das
hatte ihm sowieso nicht imponiert, wie leicht zu erkennen war. Genau wissen werde ich es
nie, drum verbleibe ich bei der Meinung, daß er mir als Elsässer den Weg nach Hause
ebnen wollte. Seinem ganzen Wesen nach machte er nicht den Eindruck eines
eingefleischten Nazis. Wer weiß, ob er nicht tatsächlich oder auch nur der Gesinnung nach,
zu jenen Offizieren zählte, die den Sturz Hitlers und das Ende des Krieges betrieben, nicht
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unbedingt durch Verschwörung und Attentat, aber jeder mit den geringen Mitteln, die ihm
zur Verfügung standen. Eine Form von Widerstand, gewissermaßen, wie ich sie selber
schon angewendet hatte, als ich mich trotz wiederholter Aufforderung in der Schule, von
der Hitler-Jugend drückte, und wie ich sie auch beim Arbeitsdienst und beim Baraß immer
wieder, zuletzt unter Lebensgefahr, praktiziert hatte. Am Lauf des Krieges hat das natürlich
nichts verändert, auch nicht wenn jener Stabsarzt einige Dutzend junger Leute ohne
militärisch triftigen Grund in die Heimat gesandt hat, wo jeder schauen konnte, wie er sich
durchschlug. Vielleicht hat er aber wie ich die persönliche Genugtuung empfunden, sich
immerhin einen Raum der Freiheit bewahrt zu haben, indem er wie ich sich dem
auferlegten Zwang wo immer möglich entzog. Wobei ich gerne zugestehe, daß mein
Verhalten im Kriegseinsatz zunächst und stärker vom Selbsterhaltungstrieb als vom
Bedürfnis nach innerer Freiheit bestimmt worden ist.
Bis zum Abtransport brauchte es aber noch ein gutes Maß Geduld. Einerseits waren
natürlich Verwaltungsformalitäten zu erfüllen, Eintragungen in die einzelnen Soldbücher
und jedenfalls auch in die Register des Lazaretts vorzunehmen. Des weiteren lief ja die
ganze Angelegenheit zweifellos nach einem genauen Programm; das Lazarettschiff lag
nicht etwa in Riga vor Anker und wartete auf uns, sondern kam zu einer bestimmten Zeit
dort an, und die Lazarettzüge mit der zu verladenden Menschenfracht mußten folglich auch
zu bestimmten Zeitpunkten dort anlangen. Wie ich nachher feststellte hat das Verladen
mehr als einen vollen tag in Anspruch genommen. Das alles hatten wir, die wir davon
betroffen waren, natürlich nicht bedacht. Ich war ganz zappelig geworden, mußte ich doch
befürchten, daß ich wegen der Bedeutungslosigkeit meiner Verwundung schließlich doch
noch ausgeschieden wurde. Aber alles ging anscheinend planmäßig vonstatten. Als der
Augenblick gekommen war, erhielten wir unsere Soldbücher und wurden in den Hof
beordert, wo mehrere Sankas warteten und Trabbahren bereitstanden. Den Lazarettanzug
mußten wir allerdings zurücklassen, und so stand man wieder barfuß im Hemd da. Ich legte
mich auf eine Tragbahre, zog eine Decke über mich und ließ mich wegtragen. Aus der
Ambulanz heraus konnte ich natürlich wieder nicht sehen, wo der Weg vorbeiging.
In meinem Soldbuch steht als Entlassungsdatum der 9. August, es scheint mir jedoch, daß
wir erst am 10. Abgefahren sind. Ich erinnere mich nämlich ausnahmsweise genau, daß die
Einschiffung am Freitag den 11. August nachmittags erfolgte, und zwei Tage von Wolmar
bis Dünamünde wird die Bahnfahrt, trotz aller Verzögerungen, doch nicht gedauert haben.
Kurzum, ich fuhr nun zum vierten- und letztenmal auf dieser Bahnstrecke Wolmar-Riga. Als
der Zug im Rigaer Bahnhof längere Zeit anhielt, erwartete ich, daß wir nun wieder in
Sankas verladen würden, um zum Hafen verbracht zu werden. Als nicht geschah, befragte
ich den Wagenältesten, einen Sanitätsobergefreiten. Von dem wurde ich nun belehrt, daß
wir in Bälde weiterfahren würden nach Dünamünde, weil der Hafen so versandet sei, daß
große Schiffe wie die „Berlin“ gar nicht einfahren konnten, sondern weit draußen vor Anker
gingen. Und so geschah es auch; bald fuhr der Zug wieder ab, aufs linke Dünaufer hinüber
und dann am Fluß abwärts bis zu dessen Ende. Da wo das Bahngeleise wie abgeschnitten
aufhörte, hielt der Zug, kaum hundert Meter vom Ufer. Da sagte der Wagenälteste: „So,
wer gehen kann, kann aussteigen und sich zu den zwei Booten begeben, die da unten am
Ufer liegen. Die bringen euch dann hinaus zum Schiff.“ – „Schön und recht!“ erwiderte ich.
„Gehen kann ich schon, aber im Hemd möchte ich nun doch nicht da hinüber laufen.“ –
„Wart mal“, sprach der Obergefreite, Ich hab‘ da irgendwo, wenn ich mich nicht irre, eine
alte Uniform herumliegen. Die kannst du von mir aus haben.“ In der tat kam hinter der Tür
so ein Gelump zum Vorschein. Ich war im Nu hineingeschlüpft, bedankte mich bei dem
Sani, sagte: „Salü bisamme!“ und kletterte hurtig über das Trittbrett auf den Bahnkörper
hinunter. Leichtfertiger Weise hatte ich nicht lange hingeschaut wo ich auftrat und war
daher schmerzlich überrascht, als ich merkte, daß sowohl dar Bahndamm wie das ganze
anschließende Gelände bis zum Ufer hin mit grobgemahlenen Schlacken bedeckt war. Es
wurde nun keine gemütliche Promenade, als ich darüber barfuß hinwegschritt oder – besser
gesagt – eilte. Trotzdem bestieg ich als einer der ersten das nächstgelegene niedrige nur
mit einem Sonnendach versehenen Boot und nahm gleich einen der Liegeplätze ein, die
dort eingerichtet waren. Nach und nach füllte sich das Boot mit Leuten, die teils zu Fuß
kamen, zumeist aber herbeigetragen wurden. Als das Boot besetzt war, stieß es ab und
schwamm mit der Strömung der Düna fort, auf die offene See zu. Ich hatte mich auf
62
meiner Liege aufgerichtet und konnte nun sitzend Ausschau halten. Lange sah ich nichts
als das blaue Meer, dann erscholl aus vielen Kehlen zugleich der Ruf: „Dort! Das Schiff!“
Ich wußte natürlich nicht und erfuhr es erst später, daß zu gleicher Zeit, am Nachmittag
des 11. August, die Straßburger Altstadt rund ums Münster bombardiert wurde.
Weit vor uns sah man es tatsächlich liegen, in seiner ganzen weißen Herrlichkeit. Albern
geistreichelnd könnte man heutzutage sage: Dort lag der weiße Riese. Riesenhaft kam mir
das Schiff tatsächlich vor, als es immer näher heranwuchs, und erst recht, als unser Boot –
ein Paddelboot! – am herabgelassenen Fallreep anlegte und festmachte. Das war keine
Treppe, sondern ein breiter hölzerner Steg mit Querleisten, der aus einer Öffnung in der
Bordwand schief nach unten hing, wo er anscheinend auf einer Art Ponton aufruhte. Das
habe ich nicht so genau gesehen, denn ich eilte, wie alle die gehen konnten, gleich nach
oben. Dort, an der Luke, stand der Kapitän mit einigen anderen Offizieren, sein Stab,
jedenfalls. Ich machte die gewohnte Meldung: „Gefreiter Wacker, Stecksplitter, linkes
Gesäß“, und bekam zur Antwort: „Promenadendeck Steuerbord“. Einer schob mich hinein
und da stand ich wie der Ochs am Berg! Wo befand sich das Promenadendeck? Wo war
Steuerbord? Wie gelangte man dahin? Kam da ein Matrose vorbei; den angelte ich mir
gleich. „Du, ich soll aufs Promenadendeck Steuerbord; wo ist denn das?“ Er sagte: „Komm
mit, ich führe dich hin.“ Nun ging er mit mir durch das ganze Schiff nach oben, und zeigte
mir unterwegs die verschiedenen Räume, die früher, als die „Berlin“ noch die Linie BremenNew York befuhr, als Salons, Speisesaal, usw. gedient hatten. Von Luxus war jetzt nicht
mehr viel vorhanden, aber eine Vorstellung davon bekam man schon noch mit. Das
Promenadendeck war bald erreicht, ganz oben, nicht geradezu unter freiem Himmel, aber
nach der Seeseite zu offen, doch mit Gardinen aus grobem Segeltuch abdichtbar. Und
Steuerbord heißt die rechte Seite des Schiffes in Fahrtrichtung, belehrte mich mein Führer.
Auf dem Deck lagen Strohsäcke; ich legte mich in die Mitte des Schiffes und nahm einen
davon in Besitz; denn noch war kein Mensch außer mir und dem Matrosen hier
angekommen. In die Mitte des Schiffes begab ich mich, weil ich bereits wußte daß sich dort
das Schlingern und Stampfen am wenigsten auswirkte; und diesen rat gab mir auch mein
Begleiter. Der ging weg; schon kamen jetzt nacheinander die anderen Fahrgäste und bald
waren alle Strohsäcke belegt. „Na ja“, dachte ich in meiner kindlichen Einfalt, jetzt werden
wir bald abdampfen.“ Tollkühne Denkart! Als ob so ein schwimmendes Lazarett eigens für
die verhältnismäßig wenigen Leute, die mit dem einen Zug angeliefert worden waren, in
Fahrt gesetzt werden würde! Aller Wahrscheinlichkeit nach war ich bei den ersten gewesen,
die an jenem Freitag, den 11. August 1944, an Bord gingen. Was in der nacht und am
nächsten tag geschah, weiß ich nicht. Vielleicht habe ich sogar am Samstag zugeschaut,
wie noch viele andere eingeschifft wurden; aber davon bleibt mir keinerlei Erinnerung. Ich
weiß auch nicht mehr wie ich mir damals die Zeit vertrieb; habe wohl oft am Bordrand
gestanden, auf die offene See hinausgeschaut und in die Zukunft hineingeträumt, wobei ich
die Zigaretten aus meinem über alle Fährlichkeiten hinweg geretteten Brotbeutel
verrauchte und den blauen Dunst vor mich hinblies.
So verging auch dieser Samstag; es wurde Nacht und ich schlief auf meinem Strohsack ein.
Dann – irgendwann – weckte mich ein eigenartiges Gefühl, das mir durch den ganzen
Körper ging, eine Art Vibration, ein Zittern, begleitet von einem dumpf stampfenden
Geräusch. Es dauerte eine Weile, bis mir die Einsicht dämmerte: das Schiff ist abgefahren!
Ich erhob mich und warf einen Blick über die Bordwand: nichts als Finsternis, wohin ich
auch schaute. Ich legte mich hin und schlief wieder ein. Als ich erwachte, war es Tag. Ich
schaute wieder hinaus und sah nur Wasser, darüber einen bleichen Himmel. Andere
standen links und rechts von mir und starrten ebenfalls hinaus. Nach Steuerbord also.
Einer, der in Geographie so gut war wie ich, aber zur rechten Zeit an die rechte Sache
dachte, sagte: „Da drüben liegt die Insel Ösel.“ Zu sehen war sie natürlich nicht, aber mir
wurde klar, daß wir jetzt die Rigaer Bucht verließen. Ich mußte bei Erwähnung des Namens
Ösel auch an unsern lieben Pfarrer Acker denken, der ein- oder das andere mal davon
gesprochen hatte, daß er im Ersten Weltkrieg auf dieser Insel, wenn ich mich gut entsinne,
verwundet worden war. Daß ich sechsundfünfzig Jahre später, am 18. Juni 2000, die Insel
Ösel vom Flugzeug aus sehen würde, hätte ich mir auch in meinen gewagtesten Träumen
nicht ausmalen können.
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Wir verließen die Rigaer Bucht, und damit das Baltikum insgesamt. Ich weiß nicht, ob ich in
diesem Augenblick und in jenen Tagen wußte und bedachte, was ich hinter mir ließ, oder
ob mir das erst heute einleuchtet. Hinter mir ließ ich vor allem die eigenen, teils lustigen,
teils bitteren Erlebnisse. Hinter mir ließ ich nicht zuletzt auch die Kameraden: die, die
bereits gefallen waren, aber auch die, die einer schweren Zukunft entgegen gingen. Ich
glaube kaum, daß solche Gedanken mich damals so bedrückten wie heute, und es wird
auch wohl besser gewesen sein, daß dies nicht der Fall war. Ich war neunzehn Jahre alt
und schaute nach vorn. Heute, mit fünfundsiebzig, liegt mehr hinter mir, auf das ich
zurückschauen kann, als was noch vor mir liegen mag. Der Soldatenfriedhof in Jöhvi hat
mich tiefer beeindruckt als damals die Fahrt von Riga nach Swinemünde. Von dieser meiner
ersten Meeresreise bleibt mir, abgesehen von der Einschiffung, nur zweierlei in Erinnerung.
Das eine ist, daß ich mich mit spazierengehen auf dem Promenadendeck nicht begnügt
habe, sondern auf dem Schiff mehrmals unterwegs war. Ich ging nach vorn bis hin zu den
Außenwinden, nach oben, an den Rettungsbooten entlang, nach hinten auf Achterdeck, wo
auch an der Bordwand entlang Strohsäcke lagen und Leichtverwundete darauf, schließlich
auch ins Schiffsinnere hinein, wo die ehemaligen Gesellschaftsräume, Speisezimmer,
Salons ebenfalls mit Verwundeten belegt waren. Auf diesen Gängen durch das Schiff
kreuzte ich natürlich auch Matrosen. Daß einer von der Besatzung, namens Walther
Mazura, fast fünfzig Jahre später der Schwiegervater meines Sohnes werden sollte, das hat
weder er noch ich auch nur als Möglichkeit erwogen. Daß nicht er es war, der mich zum
Promenadendeck geleitete, ist sicher. Jener hatte keine wienerische Aussprache; die wäre
mir aufgefallen und ich hätte ihn nach seiner Herkunft befragt. Ich hatte ja im Vorjahr drei
Monate Arbeitsdienst bei den Bayern verbracht und hätte die sprachliche Verwandtschaft
sofort bemerkt. Daß wir dann ganz am Rande unseres ersten Bekanntwerdens auch unsere
gemeinsame Fahrt an Bord der „Berlin“ entdeckten, ist einer der vielen Zufälle, an denen
man erkennt, wie klein die Welt ist, aber auch daß, sub specie aeternitatis, der Zufall alles
möglich macht. Ein weiterer Zufall, der mich noch einmal mit der „Berlin“
zusammenbrachte war es, daß ich am 2. September 1986 in Kehl an einem Zeitungskiosk
sozusagen mit der Nase auf die ausgehängte „Bild“-Zeitung stieß, auf deren ersten Seite,
die Schlagzeile aufflammte: „Gesunken! 1000 Tote im Schwarzen Meer?“ Darunter ein Bild
von einem Schiff mit der Unterschrift: Passagierdampfer „Berlin“. Klar, daß ich mir diese
Nummer des sonst äußerst niedrig geschätzten „Bild“ sofort kaufte. Die Nachricht, wenn
schon für jemanden, war ja gerade für mich sensationell genug. Hier erfuhr ich jetzt
erstmals, daß die „Berlin“ genau so alt war wie ich selber, da sie 1925 in Bremen für den
Norddeutschen Lloyd gebaut worden war. Ich bekam da auch einen näheren Begriff von der
Größe des Schiffes, die im „Bild“- Artikel mit 17053 BRT angegeben wurde. Aus dem Text
ließ sich auch schließen, daß die „Berlin“ von den Russen als Beute mitgeführt und später
im Schwarzen Meer, wie es wörtlich hieß, als „Luxusdampfer“ eingesetzt worden war, „der
1000 Passagiere und 350 Mann Besatzung aufnehmen“ konnte. Die „Berlin“ trug nun den
Namen „Admiral Nachimow“. Was das für ein bedeutender Mann war, konnte ich nicht
herausfinden. Untergegangen war mein ehemaliges Lazarettschiff nach Kollision mit dem
Frachter „Piotr Wassjew“, der es gerammt und buchstäblich entzwei geschnitten hatte. Die
„Berlin“ hatte somit als etwas ähnliches geendet, wie die von den Nazis geplanten
Einheiten einer sogenannten KdF-Flotte für Erholungsfahrten. Geplante, organisierte,
verwaltete und „gleichgeschaltete“ Kultur gab es ja zu Goebbels‘ Zeiten bereits weitgehend
in Wirklichkeit und noch viel weitgehender als Zukunftsträume. Ebenfalls im Sowjetstaat,
wo diese Träume dann teilweise in Erfüllung gingen.
Meine damaligen Rundgänge durch das Schiff wären freilich noch viel interessanter
gewesen, wenn ich bereits über die Sachkenntnisse verfügt hätte, die mir ein halbes
Jahrhundert später durch Margaretha und Philippe über das Internet zugänglich geworden
sind. Es stellt sich dabei heraus, daß die „Berlin“ fast auf den Tag genau so alt war wie ich:
ihr Stapellauf geschah am 23. März 1925, der meine am 5. Desselben Monats. Ihre
Tonnage war allerdings bedeutend größer als die meine: 23 480 metrische Tonnen, bzw. 15
286 BRT. Gebaut worden war das Schiff von der in den letzten jahren vielgenannten, vom
Untergang bedrohten, oder gar schon versunkenen Bremer Vulkan-Werft in Vegesack (?).
Ich selber hatte damals die Schiffslänge auf 200 M, die Breite aud 25 M geschätzt. Dabei
hatte ich mich doch etwas übernommen; in Wirklichkeit war die „Berlin“ rund 175 M lang
und 21 M breit, bei einem Tiefgang von 9 M. Ihre Höchstgeschwindigkeit betrug 16,5
64
Knoten, was etwa 30 KM pro Stunde entspricht. Meiner Schätzung nach, im Verhältnis von
Dauer der Reise und Entfernung zwischen Riga und Swinemünde, sind wir höchstens stark
halb so schnell gefahren.
Als eines der Glanzstücke des Norddeutschen Lloyd hatte die „Berlin“ vor dem Krieg die
nordamerikanischen Linien befahren, wie ich an Bord schon zu wissen bekam. Nachträglich
weiß ich jetzt, daß am 16. Juli 1939 in Swinemünde einer von den sechs Dampfkesseln
explodierte. Anschließend begann der Umbau zum Lazarettschiff, der bereits am 23. August
beendet war. Dann wurde die „Berlin“ von der Kriegsmarine übernommen und als
Lazarettschiff A, Sanitätsamt Ost, in Dienst gestellt. Am 31. Januar 1945 lief das Schiff in
der Höhe von Swinemünde auf eine Mine und wurde ins Schlepptau genommen mit Kurs
auf Kiel. Am selben Tag lief es erneut auf eine Mine und sank in seichtem Gewässer. Es
kam dabei anscheinend niemand ums Leben. Bis zum 5. Februar war die ganze Ausrüstung
geborgen und das Schiff wurde verlassen. Erst 1948 machten es die Russen wieder flott;
zwischen dem 3. September 1951 und dem 2. Mai 1957 wurde es auf der Warnowwerft
(wo?) repariert, als „Admiral Nachimow“ in Dienst gestellt und ins Schwarze Meer verlegt.
Bei seinem Untergang am 1. September 1986 sollen 396 Tote gezählt worden sein. Laut
Internet soll die Besatzung des Lazarettschiffs 145 Mann und 20 Offiziere betragen haben.
Wieweit die Angaben von „Bild“ hinsichtlich 350 Mann Besatzung und 1000 Passagieren
stimmten mögen, lasse ich dahingestellt. Was nicht stimmt ist das, was im Internet über
die Bewaffnung ausgesagt ist, nämlich „keine“. Völkerrechtlich hat ein Lazarettschiff
selbstverständlich unbewaffnet zu sein. Da aber in den modernen Kriegen, spätestens seit
1914-18, das Völkerrecht oft mit Füßen getreten wird, und zwar von allen Seiten, ist es
nichts außergewöhnliches, wenn mir Walther Mazura bestätigt hat, daß in einem der
Schornsteine getarnt, ein leichtes Flakgeschütz stand. Außerdem fuhr das Schiff, wie ich
selber sehen konnte, im Geleit von zwei Torpedobooten.
Das zweite, was mir von dieser Seereise im Gedächtnis blieb ist, daß eine Zeitlang recht
grobe See herrschte, wenn vielleicht auch nicht geradezu von Sturm die rede sein konnte.
Immerhin gingen die Wogen schön hoch, und selbst auf dem Promenadendeck mittschiffs
schaukelte es ganz lustig. Seekrank wurde ich jedoch nicht, und raffte mich sogar zu einem
meiner Rundgänge auf. Ha! Welch einen Anblick boten da die beiden Torpedoboote
backbords und steuerbords! Einmal verschwanden sie im Wellental, daß man meinte sie
wären abgesoffen, dann wieder erschienen sie auf einem Wellenkamm, so daß zunächst am
Bug, dann am Heck, der Schiffskiel meterweit sichtbar wurde. Dort wäre ich von der
Seekrankheit wohl kaum verschont geblieben… Bei uns an Bord gab es genug Leute, die ihr
zum Opfer fielen, besonders diejenigen die auf dem Achterdeck lagen, wo das auf und ab
sich am stärksten auswirkte. Als ich dort hinkam, machte ich schleunigst kehrt:
Schlittschuh laufen mochte ich barfüßig nicht, auf dieser schiefen, glitschigen Ebene… Ich
machte mich schleunigst davon und legte mich wieder auf meinen Strohsack.
Im Laufe der folgenden Nacht, nachdem die See sich beruhigt hatte, erreichten wir unser
Ziel. Wann und wie wir in den Hafen von Swinemünde einliefen, ist mir nicht bewußt
geworden. Als ich erwachte, lagen wir am Kai, und bald graute der Tag. Es war der
Dienstag 15. August, kurz darauf, an Land ging. Ich wußte nicht, daß etwa um die gleiche
Zeit an der französischen Mittelmeerküste bei Fréjus die Amerikaner samt der 1ère Armée
Française auf eine weit ungemütlichere Art Fuß faßten. Nur wenige Schritte vom Schiff
stand ein Lazarettzug am Kai bereit, den wir Fußgänger ohne große Mühe bestiegen. Nun
kam wieder das lange Warten, bis der Zug beladen und der fahrplanmäßige Zeitpunkt der
Abfahrt gekommen war.
Wohin der Zug uns bringen sollte, wußte ich bis am Ende nicht, habe vielleicht auch nie
irgendwen vom Begleitpersonal danach gefragt, oder vielleicht wußten die selber es nicht.
Von der norddeutschen Geographie wußte ich damals so gut wie nichts, konnte mir eben
gerade vorstellen, daß Swinemünde etwa bei Stettin lag und Stettin am gleichnamigen
Haff, dort wo die Oder in die Ostsee mündet. Eine Landkarte, wenn auch in kleinstem
Maßstab, gab es nicht. So fuhr ich halt wieder mal ins Blaue. Es ging auch, wie gewohnt,
nicht so recht zügig voran. Immer wieder wurde angehalten, manchmal auf offener
Strecke, oder immerhin außerhalb eines Bahnhofs, wenn auch in der nähe einer Ortschaft!
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Das geschah, wenn ich mich gut entsinne, hauptsächlich nachts. Wir waren ja insgesamt
zwei Tage und zwei Nächte lang unterwegs. Ob ab und zu ein Teil der Verwundeten
ausgeladen wurden oder ob alle bis ans Ende der reise mitfuhren, weiß ich nicht.
Ich habe natürlich während der Fahrt an Bahnhofs- oder Stationsgebäuden Ausschau
gehalten nach den angeschriebenen Ortsnamen. Sie waren mir aber durchweg unbekannt
und aufgeschrieben habe ich nichts. Insgesamt erinnere ich mich an drei Namen. Erstens
an Pasewalk, das mir aus der Hitler-Biographie bekannt war, dort hatte der gasvergifftete,
nachmalige „Führer“ im Ersten Weltkrieg im Lazarett gelegen und den Zusammenbruch
1918 erlebt. (Vielleicht hat das bei der Vergasung der Juden auch eine Rolle gespielt).
Zweitens erinnere ich, in Neuruppin vorbeigefahren zu sein. Dieser Name war einmal in
einem elsässischen Lustspiel vorgekommen, das vor dem Krieg bei uns im Vereinshaus
aufgeführt worden war, und hatte sich wegen des Gelächters das damit verbunden war,
meinem Gedächtnis eingeprägt. Als ich den Namen am Bahnhof las, mußte ich tatsächlich
ein Lachen verbeißen. Man hatte ja schon immer über die „Schwowe“ gespottet, und in
jenem Schwank war es ein „Onkel aus Neuruppin“ gewesen, den man durch den Kakao zog.
Als dritten Ortsnamen blieb mir dann nur noch Hannover im Gedächtnis haften. Nicht
umsonst, die Stadt war längst bekannt als Ziel vieler Bombenangriffe, und im Vorbeifahren
bekamen wir einen Erschütternden Einblick in eine trostlose Ruinenlandschaft. Wo die fahrt
von Swinemünde bis Pasewalk vorbeiging, kann ich nicht mit Sicherheit herausfinden;
schon nach kurzer Zeit führte die Bahnlinie auf einer langen Strecke über Wasser; wo das
gewesen sein könnte ist aus den mir zur Verfügung stehenden Karten nicht klar zu
ersehen. Nach Pasewalk, nehme ich an, führte der Weg über Preuzlau nach Neuruppin,
dann wohl über Stendal nach Hannover, und schließlich über Hameln nach Bad Pyrmont.
Oft werden wie auch über Nebenstrecken auf Umwegen gefahren sein, sonst hätten wir
doch von Swinemünde bis Pyrmont keine zwei tage gebraucht. Wie dem auch sei: am
Donnerstag, den 17. August, verließ ich zum letzten mal einen Lazarettzug. Ich nahm mir
vor, nun auch zum letzten mal in ein Lazarett aufgenommen zu werden. Diese letzte
Aufnahmeprüfung war rasch bestanden: sie begann, wie gehabt, mit der Entlausung, der
dritten, seit Riga. Hier aber gab es einen großen Unterschied im Vergleich zu den beiden
ersten Durchgängen. Damals, in den Feldlazaretten, wurde man von den Sanis als Kamerad
behandelt, zwar keineswegs grob, sogar sehr anständig, aber eben wie man unter
Kameraden miteinander umgeht, ohne jeden Klimbim. Hier war man der Frontkämpfer,
noch dazu der Verwundete, dem Achtung und Ehre gebühren und dem man
ausgesprochenes Entgegenkommen zollte, ja, den man geradezu verwöhnte. Und da hier
kein Kriegsgebiet war, wo man sich unter lauter harter Männern befand, kam auch das
weibliche Element in seiner ganzen Zartheit wieder zur Geltung. So waren es lauter DRKSchwestern, die uns die Entlausungsdusche verpaßten. Um mich bekümmerte sich eine
rothaarige Katze mit grünen Augen und aufregendem Lächeln. Eine Minute lang, vielleicht
zwei, dann ein Wink: weg! Der Nächste! Diesmal bekam man wieder ein Hemd und einen
sauberen Lazarettanzug, so daß man sich schon halbwegs als Mensch fühlen konnte.
Anschließend daran ein frisch überzogenes Bett in einem hellen, luftigen Zimmer, wo wir
nur zu dreien lagen. Selbstverständlich auch ärztliche Untersuchung, Verbandwechsel, an
gelegentliche Erkundigung nach dem Woher, wie es passiert sei, ob die Wunde schmerze
und was noch so alles dazu gehörte. Kurz, der verwundete Frontkämpfer wurde wie ein
Held bewundert. Wenigstens tat man so als ob.
Für mich jedenfalls stand fest, daß ich nun meine letzte Station bei diesem „Barras“
genannten Verein angetreten hatte. Ich war nur von einem Bedanken besessen: so schnell
wie möglich nach Hause, bevor „sie“ vor mir dort waren. Daß dies noch gute drei Monate
dauern würde, hätte ich damals nicht geglaubt. Bis dahin war ich über die Ereignisse seit
der Landung in der Normandie völlig im Unklaren geblieben. Hier im Lazarett erfuhr man
wenigstens das, was der Wehrmachtsbericht nicht verschweigen konnte und das war schon
aufregend genug. Bald wußte ich, daß am Tag meiner Ankunft in Pyrmont Chartres und
Orléans gefallen waren. Da war ja der Weg nach Paris nicht mehr weit. Von Tag zu Tag
hatte ich es mit der Heimfahrt eiliger. Wer weiß? Wenn die Amerikaner gar bis zu den
Vogesen vorrückten, wurde vielleicht der Urlaub ins Elsaß gesperrt! Meine Wunde aber
eiterte und schien nicht so schnell verheilen zu wollen. Anfangs war ja der Verband
tagelang nicht gewechselt worden, vom ersten Abend am Hauptverbandsplatz bis zur
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Aufnahme ins Lazarett von Riga, dann wieder bei Ankunft und Abfahrt in Wolmar, und dann
nicht mehr bis zur Ankunft in Pyrmont. Kein Wunder, dav es da mit der Antisepsie gehapert
hatte.
Inzwischen verging die Zeit, die mir trotz allem noch nicht einmal Langeweile einbrachte.
Zunächst litt ich unter Zahnschmerzen; die hatte ich ja auch an der Front bei Dünaburg
zeitweise verspürt und als Druckmittel zu nutzen versucht, womit ich aber beim Leutnant
Pacholek an die falsche Adresse geraten war. Nun aber war täglich ärztliche Untersuchung,
ich meldete die Sache und wurde an einen Zahnarzt in der Stadt überwiesen. Zum
Ausgehen aber brauchte ich eine Uniform; im Lazarettanzug konnte ich ja nicht hinaus, und
die alte abgeschabte Uniform aus dem Lazarettzug in Dünamünde hatte ich natürlich bei
der Entlausung abgeben müssen. Na ja, man fand mir eine andere, die sogar sauber war,
dafür aber vorn auf dem Oberschenkel einen riesigen Flicken aufgesetzt bekommen hatte,
der noch dazu in der Farbe von der Unterlage abstach. Mir egal! Ich blamierte ja nicht mich
sondern die Wehrmacht. Auch Strümpfe waren bald zur Stelle, nur mit Schuhen hatte ich
Pech. Man öffnete einen Wandschrank, worin der ganze Vorrat an Fußbekleidung
aufbewahrt wurde. Ich suchte lange, bis ich einen fand, der mir paßte, der Zugehörige aber
war nicht aufzudreschen. Zum Glück hatte ich auf meiner Stube einen guten Kameraden,
den Willy Roessler. Er war älter als ich, vielleicht um die Dreißig herum, ein wirklich lieber
Mensch mit einem Freude und Humor ausstrahlenden Vollmondgesicht, mit ihm habe ich
die zwei Wochen in Pyrmont hindurch manche angenehme Stunde verbracht. Er war schon
vor mir dagewesen und mußte auch länger bleiben. Die Art seiner Verwundung und den Ort
wo er sie erlitten hatte, habe ich vergessen. Ich weiß nur noch, daß er aus dem Vogtland
stammte, von Plauen oder Umgegend, und daß ich später Jahrelang an ihn denken mußte,
jedesmal wenn ich mir in Kehl Rössli-Stumpen kaufte. Der Willy eilte mir nun sofort zu
Hilfe. „Was suchst du? Ein Paar Zweiundvierziger? Da zieh doch die meinen an, das ist ja
auch meine Größe!“ Also ging ich in Willys Schuhen in die Stadt zum Zahnarzt und zwar
nicht nur einmal. Es mußten mir nämlich nacheinander drei Zähne gezogen werden.
Vielleicht wären sie noch zu retten gewesen, aber zu einer langwierigen Wurzelbehandlung
stand ja keine Zeit zur Verfügung. Solcherart kam ich mehrmals in die Stadt Pyrmont, von
der mich erst viel später der große Herder aus den Dreißiger Jahren belehrt hat, daß sie ein
„altbekannter, vornehmer Kurbadeort in der Provinz Hannover“ sei, „in einem von
bewaldeten Höhen umgebenen Talkessel der Emmer zwischen Teutoburgerwald und
Weserbergland“. An derselben Stelle erfährt man auch, daß es dort, zu meiner Zeit, zwei
Badehäuser gab, sowie zahlreiche Kur- und Erholungsheime, ebenso daß der dortige große
Kurpark einer der schönsten Deutschlands sei. Schließlich sei Pyrmont , das ehemalige
„Fürstenbad“ unter andern von Friedrich dem Großen von Preußen, von Peter dem Großen
von Rußland, sowie von Goethe in Anspruch genommen worden. Goethe z. B., melden
seine Biographen, hat sich im Jahr 1801 vom 15. Juni bis 17. Juli mit seinem damals
elfjährigen Sohn August dort zur Kur aufgehalten.
In einem jener erwähnten Kur- und Erholungsheime war allen Anschein nach der Teil des
Reserve-Lazaretts II (zwo!) untergebracht, der sich Abteilung Hohe Stolle nannte, wo ich
jetzt meinen Wohnsitz hatte. Als ich im Oktober 1962 an der Jahrestagung der deutschen
Katholischen Kirchenpresse in Hildesheim teilgenommen hatte, machte ich auf dem
Rückweg einen Abstecher und fuhr mit meinem Döschwo über Hameln nach Bad Pyrmont.
Einen Stadtplan hatte ich nicht dabei und auch wenig Zeit zum Suchen, drum habe ich
leider die Hohe Stolle nicht gefunden. Vor einigen Tagen erst fand ich sie auf Blatt 42 des
Falk-Stravenatlas `98, wo sie als 356 M hoher „Berg“ verzeichnet ist. Am Kurpark bin ich
während meines Lazarettaufenthaltes mehrmals entlang gegangen, ihn zu betreten hatte
ich keine Zeit; ich mußte stets schnell wieder zurückkehren, Willy brauchte seine Schuhe.
Die Abteilung Hohe Stolle war wirklich schön gelegen, ein großes villenartiges Gebäude an
einem ziemlich steilen Abhang, mit einem Park an der Rückseite, in dem ein offener Kiosk
stand. Dort saß ich einige Male abends mit andern zusammen zum Plaudern. Einmal saß da
auch eine vielleicht vierzigjährige Frau, die im Haus beschäftigt war, ich weiß nicht mehr in
welcher Funktion, und die ich in ihrer Aussprache des Deutschen sogleich als Französin
erkannte. Ich sprach sie französisch an und es entspann sich ein Gespräch indessen Verlauf
sie mir erzählte woher sie stammte und wie sie hierher gekommen war, aber das habe ich
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alles vergessen. Nur eines weiß ich noch, daß sie auch vom Heimweh geplagt war wie ich,
denn in dieser Hinsicht schütteten wir uns gegenseitig die Herzen aus; das ging sogar
soweit, daß ich ihr einmal meine Absicht anvertraute, nach meinem Genesungsurlaub
unterzutauchen. „Ah! Vous avez bien raison“, erwiderte sie, „à votre place j’en ferais tout
autant!“ Mir ist erst lange danach bewußt worden, wie unvorsichtig ich da gewesen war.
Aber es ist nichts passiert, sie war jedenfalls ein ehrlicher Mensch und kein Spitzel. Das
mußte wohl um den 26. August geschehen sein, denn wir sprachen unter andrem auch vom
Fall von Paris, wo General de Gaulle am 25. eingezogen war.
Meine eigene Lage schien mir immer brenzliger zu werden. Die Franzosen in Paris, etwa in
gleicher Entfernung von Straßburg wie ich! Würde ich noch über den Rhein kommen, bevor
sie dort anlangten? Schon einige Tage zuvor war mir ein sonderbarer Einfall gekommen,
was ich tun müsse, damit meine Wunde schneller zuheile. Jeden Morgen war Antreten beim
Abteilungs-Arzt Unterarzt Dr. Hillemeyer. Dort nahm man sein Pflaster weg und warf es in
einen Abfallbehälter, ein Sani reinigte die Wunde, der Arzt sah sie sich an, verordnete
neues Pflaster, ein anderer Sani setzte es auf, dann ging man aufs Zimmer und war für den
Rest des Tages frei. Als ich nun wußte, daß die Franzosen in Paris waren, setzte ich
schleunigst meinen Einfall in die Tat um. Jeden Morgen ging ich mit dem neuen Verband
auf mein Zimmer und begab mich von dort anschließend in die Toilette, dort nahm ich den
Tupfer mit der Salbe unter dem Verbandsviereck weg, rieb mir die Salbe aus der Wunde
und spülte den Tupfer ins Klo hinunter. Dann ließ ich das leere Stück Mull locker über der
Wunde hängen, damit dieselbe, so rechnete ich, an der Luft trocknen und sich oberflächlich
schließen konnte, wenn auch der Eiter drin blieb. Die Rechnung war vielleicht etwas
tollkühn oder meinetwegen absurd, aber sie ging auf. Nach einigen Tagen merkte ich, daß
die wunde sich schloß.
Langeweile kam die ganze Zeit über nie auf. Außer meinen Gängen zum Zahnarzt, wovon
in meinem Soldbuch merkwürdiger Weise kein Eintrag Zeugnis gibt, passierten
verschiedene andere Dinge, die dort ganz vorschriftsmäßig festgehalten sind. Am 22.
August z.B. gab es eine kleine Feier bei der mir und einer ganzen Reihe Kameraden das
Verwundeten-Abzeichen überreicht wurde, daß ich von da an, wenn ich ausging, auf dem
Waffenrock links unter der Brusttasche tragen mußte. Um dieses Ereignis feiern zu können,
erhielten wir zwei Tage darauf als Kämpfer der Infanterie das sogenannte Führergeschenk.
Das war ein Karton mit Eßwaren, und einigen Süßigkeiten, an die ich mich im einzelnen
nicht mehr erinnere. Neuerdings waren auch noch zwei Flaschen Sekt hinzugekommen.
Wann ich das alles gegessen und getrunken habe, weiß ich nicht mehr. Mit nach Hause
brauchte ich nichts zu nehmen, es war vorher alle. Bemerkenswert ist die Bürokratische
Genauigkeit, mit der aller ins Soldbuch eingetragen wurde: zunächst am 23. 8. das das
vom Hilfsoffizier (weiß nicht, was das bedeutet) Rittmeister Tillmann unterschriebene
Berechtigungszeugnis; dann, am folgenden Tag, beider Aushändigung, deren Bestätigung
durch den Stabszahlmeister, der mir auch, wahrscheinlich am 3. September, dem Tag vor
meiner Abreise, die 12 Mark übergab, die er mir am 21. August als Nachzahlung an
Wehrsold vom 1. Bis 10. August zuerkannt hatte. Für die Zeit nach dem 10. August, auf
dem Schiff und im Lazarett, stand mir wohl kein Wehrsold zu.
Ich muß schon sagen: über die zweieinhalb Wochen in Bad Pyrmont kann ich mich nicht
beklagen. Die Verpflegung war den Umständen entsprechend gut; allerdings mußte ich
mich erst an die in süßer Milch gekochten Teigwaren und an den gezuckerten Endiviensalat
gewöhnen, aber schließlich brachte ich auch das noch fertig. Im Haus gab es auch eine
kleine Bibliothek, die ich ab und zu besuchte. Ich fand dort unter andrem einen Roman von
Gerhart Hauptmann, einen höchst zweitrangigen in dessen Werk, mit dem Titel „Phaon“.
Der hatte mich neugierig gemacht, weil mir die sage von der Griechischen Dichterin
Sappho bekannt war, die sich aus unglücklicher Liebe zu dem schönen Jüngling Phaon vom
Leukadischen Felsen ins Meer gestürzt habe soll. Der Roman hat mich aber gar nicht
begeistert, so daß ich die Lektüre bald abbrach, und zu Gerhart Hauptmann habe ich auch
später nie einen echten Zugang gefunden. Den Titel „Phaon“ habe ich übrigens bis heute in
keiner Literaturgeschichte und auch nicht in Gero von Wilperts vierbändigem Lexikon der
Weltliteratur auffinden können.
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Genug. Die Tage vergingen. Meine Wunde trocknete aus und schloß sich zusehends und am
Morgen des Freitag 1. September erklärte mich der Dr. Hillemeyer für geheilt. Am nächsten
Nachmittag erhielt ich meine Papiere, nämlich Soldbuch, Urlaubschein und
Eisenbahnfahrkarten. Es war mir ein Genesungsurlaub vom 4. Bis 19. September 1944
gewährt. Dienstfähig zur Ersatztruppe, bestätigte im Soldbuch der Sanitätsunteroffizier
Bumke. Auf dem Urlaubschein hatte ich Anweisung mich am 19. 9. Beim
Wehrbezirkskommando Stuttgart zu melden, zwecks Weiterleitung. Am Nachmittag des 2.
September hatte ich alle Papiere in Händen. Nichts fehlte zur abreise am Montag in der
Frühe. Nichts als ein Paar Schuhe. Mit Willys Schuhen konnte ich ja nicht in Urlaub fahren.
Noch einmal wurde gesucht, ich weiß nicht wie lange. Und diesmal mit Erfolg. Wo der Sani,
der sie mir brachte, sie gefunden hatte, war mir egal. Ich hatte Schuhe und konnte gehen!
Aber noch war es erst Samstag Abend. Wie der Sonntag verging, weiß ich nicht mehr;
wahrscheinlich habe ich mich, so gut es ging, hindurch gezappelt. Da plötzlich, am Sonntag
gegen Abend, spüre ich etwas feuchtes am linken Oberschenkel. Als ich nachschaute,
stellte ich fest, daß die oberflächlich geschlossene, aber keineswegs vernarbte Wunde
aufgeplatzt war und der Eiter auslief. Verdammte Scheiße! Ich suchte einen von unseren
Sanis auf, der Dienst hatte. „Du!“ sagte ich, „Mensch, morgen soll ich in Urlaub fahren,
jetzt ist mir die Wunde aufgeplatzt. Tu mir doch bitte ein Pflaster drauf. Morgen Abend bin
ich daheim und übermorgen gehe ich in ambulante Behandlung. Ich wohne ja nur
zweihundert Meter von einem Lazarett entfernt.“ Das stimmte sogar. Das Odilienstift war
teilweise Militärlazarett. Der Sani machte keine Umstände, verpaßte mir ein Pflaster und
gab mir sogar etwas Verbandszeug, um es notfalls am anderen Morgen erneuern zu
können. Ich atmete auf. Es mag sogar sein, daß ich jene letzte Nacht auf der Hohen Stolle
gar nicht so schlecht geschlafen habe.
Am Montag Morgen mußte ich schon sehr früh aufstehen. Der Abschied von dem braven
Willy Roessler fiel mir etwas schwer, und anscheinend war auch er gerührt, drum machten
wir es kurz! Merkwürdiger Weise war es keinem von uns eingefallen, Heimatadressen
auszutauschen, um uns eventuell nach dem Krieg nochmals begegnen zu können. So war
es halt ein Scheiden auf immer. Von dem Dritten, der mit uns auf dem Zimmer lag, bleibt
mir nicht die geringste Erinnerung. Noch nie hatte ich einen Deutschen Soldaten gesehen,
der öffentlich in einer so mieseren äußerlichen Aufmachung herumlief, wie ich es nun
mußte. Wäre mir etwas daran gelegen gewesen, ich hätte mich geschämt, mit dem breiten,
abgewaschenen Flicken auf dem rechten Hosenschenkel, einer zerknüllten Schirmmütze,
die mir zu weit war und auf den Ohren auflag, und dazu ohne Koppel! Man stelle sich vor:
ohne Koppel! Hätte ich in Gumbinnen auch nur versucht ohne Koppel durch das
Kasernentor zu schreiten, die wache hätte mich festgenommen, zum Spieß gebracht, und
der hätte mir acht Tage Käfig aufgebrummt. Nun ging ich ohne Koppel sogar auf eine lange
Bahnreise! So weit waren sie gekommen! So tief war die stolze Wehrmacht schon gefallen!
Kein Wunder, daß auf meinem Urlaubschein der ausdrückliche, vom Rittmeister Tillmann
unterschriebene Vermerk stand: Tragen bürgerlicher Kleidung gestattet. Schade, dav ich
nach meiner Ankunft daheim nicht daran gedacht habe, mich so aufgetakelt
photographieren zu lassen. Aber auch meinen Brotbeutel besaß ich nicht mehr, den ich
über alle Entlausungen hinweg und sogar über See gerettet hatte. Wo er hingekommen ist,
weiß ich nicht mehr; aber ich brauchte ihn auch gar nicht mehr, die Zigaretten waren
aufgebraucht bis auf einen geringen Rest, den ich in meinen Taschen verstaute. Auch das
Rasierzeug konnte ruhig in Pyrmont bleiben, daheim hatte ich ja was ich brauchte. Etwas
hatte ich aber fast vergessen, was ich doch zu tragen hatte: in einer Papiertüte meine
Marschverpflegung. Worin sie außer einem halben Kommißbrot bestand, ist mir heute völlig
wurscht. So ausgerüstet und ausgestattet trat ich also die Reise an, die wegen ihres Zieles
auf jeden Fall die angenehmste meines bisherigen Lebens wurde: haam, nix ass haam!
Mein ganze Sinnen und Trachten war nach der Heimat gerichtet; daran liegt es wohl, daß
mir von dieser Reise fast nichts in Erinnerung geblieben ist. Ich mußte zunächst mit einem
Bus nach Holzmünden fahren; wo ich den bestiegen habe weiß ich nicht mehr, vielleicht
mußte ich in die Stadt hinunter gehen, vielleicht hat mich auch irgendein Fahrzeug dorthin
verbracht. Alles liegt im Dunkeln. In Holzmünden bestieg ich einen Zug, der mich
irgendwohin verbrachte, wo ich Anschluß an die Linie Hamburg-Basel bekam. Wo das war,
hatte ich wahrscheinlich schon sehr bald vergessen, denn, wie gesagt, von Norddeutscher
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Geographie verstand ich so gut wie nichts. Ich erinnere mich nur, dav ich durch die
Bahnhöfe von Göttingen, später von Kassel fuhr. Dort erinnerte ich mich an die bekannte
Redensart „ab nach Kassel“ und lachte im stillen: „ab nach Straßburg.“ Ich wußte damals
noch nicht, daß der Spruch seiner Herkunft einer höchst unrühmlichen Episode der
französischen Geschichte verdankte, nämlich der Gefangennahme Napoleons III. in Sedan
1870, den Bismarck nach Schloß Wilhelmshöhe bei Kassel „abgehen“ ließ.
Ich saß in Kassel allein in meinem Abteil und hatte mir eben dieses „ab nach Straßburg“
durch den Kopf gehen lassen, als eine ältere Frau, so um die Mitte sechzig, in Begleitung
eines vielleicht siebzehnjährigen Mädchens zustieg. Ich saß am Fenster in Fahrtrichtung
und erhob mich, um ihnen zu helfen ihr Gepäck in die Netze zu verstauen. Dann setzte sich
die frau mir gegenüber und die junge Dame an meine Linke. Bald entspann sich ein
Gespräch. Mein nagelneues Verwundeten-Abzeichen wies mich ja als Frontkämpfer aus,
und voller Teilname erkundigte sich die Ältere gleich nach dem Woher und Wohin.
Nachdem ich in knappen Worten die Auskunft gegeben hatte, erfuhr ich, daß die beiden,
die mir als Großmutter und Enkelin vorgestellt wurden, in Kassel ausgebombt worden
waren und nun zu Verwandten in Hessen fahren wollten. Als ich daraufhin erzählte, daß
meine Eltern vor einem Jahr bei einem Bombenangriff ebenfalls Hab und Gut und dazu die
jüngsten drei Söhne verloren hatten, brachen wir alle in Tränen aus. Im weiteren Gespräch
erfuhr ich dann von der Großmutter, daß ihr Mann vor einigen Jahren verstorben war, und
daß ihr einziger Sohn, der Vater des Mädchens irgendwo im Osten als vermißt galt. Die
Mutter des Mädchens war in Kassel in einer Notunterkunft zurückgeblieben, weil sie dort
ihrer Arbeit nachgehen mußte. Es war unterdessen Mittag geworden; wir aßen unser
Mitgebrachtes, die Großmutter gab mir aus einer Thermosflasche einen Becher KaffeeErsatz zu trinken. Danach bot mir das Mädchen eine Zigarette an, mit dem geläufigen
Spruch: „Nach dem Essen, sollst du das Rauchen nicht vergessen“, wobei sie leicht
errötete. Das war nun wieder eine Rothaarige mit grünen Augen, diesmal aber mit einem
sehr zahmen, ich möchte fast sagen: verschämten Lächeln. Dann saßen wir eine Weile
stumm da, Schließlich nickte meine Nachbarin ein, und ließ ihren Kopf auf meine Schulter
sinken. Die Großmutter erschrak und machte zunächst Miene, sie daran zu hindern. Als ich
aber gleich abwinkte, flüsterte sie mir nur zu: “Sie ist übermüdet.“ Ich winkte mehrmals
beschwichtigend und ließ das arme Ding an meiner Schulter schlafen. Sie mußte wirklich
sehr müde sein, denn sie erwachte erst, als der Zug in Frankfurt hielt. Als sie merkte, was
geschehen war, errötete sie viel tiefer als zuvor und stammelte eine Entschuldigung. Nun
stiegen aber andere Fahrgäste zu. Das Abteil wurde von Leuten besetzt, die sich angeregt
miteinander unterhielten. Das Gespräch zwischen der Großmutter, ihrer Enkelin und mir
geriet nach und nach ins Stocken und verstummte. In Darmstadt stiegen sie aus. Wir
wünschten uns gegenseitig alles Gute, verloren uns aus dem Blick und sahen uns nie
wieder. Ab und zu habe ich dann aber doch an die kleine Füchsin gedacht deren Kopf auf
meiner Schulter geruht hatte.
Von Darmstadt nach Straßburg war es nicht mehr weit. Als wir Karlsruhe passiert hatten,
begann ich zu zappeln: mit jeder Minute war ich ja näher daheim! In Appenweier mußte ich
umsteigen, auf den Anschluß warten; viel zu lange, wie mir schien! Endlich Kehl, die
Rheinbrücke, dann die Fahrt im weiten Bogen um unser Neudorf herum, an den Gärten
vorbei, über die Brücke hinterm Waisenhaus; beim Stellwerk an der Colmarerstraße sah ich
bereits unser Haus; dann mit quietschenden Bremsen die Einfahrt in den Neudörfler
Bahnhof. Wie aufregend das war, kann ich mir jetzt nur noch vorstellen. Die Erinnerung
daran ist total verblaßt. Ich weiß auch nicht mehr, ob mich jemand am Bahnhof erwartete.
Es muß ziemlich spät am Abend gewesen sein, vielleicht war die Nacht schon
hereingebrochen. Die Paar Schritte vom Bahnhof bis zum Haus Lazarettstraße 57 waren
schnell zurückgelegt. Daß ich vom Lazarett kam und in der Lazarettstraße wohnte, fällt mir
eben jetzt erst auf. Und auch jetzt erst stelle ich fest, was mir damals wegen seiner
Selbstverständlichkeit wahrscheinlich entging: der Teufelskreis war geschlossen. Ich war
wieder daheim.
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