3 Verfolgung und Vernichtung der Roma und Sinti

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3 Verfolgung und Vernichtung der Roma und Sinti
Die Verfolgung und Vernichtung
der
Roma und Sinti
im Nationalsozialismus
Silvan Schuler
KZO Wetzikon
C5b 08.04.2010
1
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung .............................................................................................................. 3
2. Herkunft ................................................................................................................... 4
2.1 Flucht, Auswanderung, Aufsplitterung ............................................................... 4
2.2 Duldung und Vertreibung und Integration ......................................................... 5
2.3 Im Deutschen Reich........................................................................................... 6
2.4 Weimarer Republik............................................................................................. 7
3
Verfolgung und Vernichtung der Roma und Sinti.................................................. 7
3.1 Rassenideologie................................................................................................. 7
3.2 „Erbbiologische Forschung“ an „Zigeunerbastarden“......................................... 8
4. Fazit ....................................................................................................................... 11
5. Literaturverzeichnis................................................................................................ 14
5.1 Bücher:............................................................................................................. 14
5.2 Aufsätze: .......................................................................................................... 14
5.3 Internetseiten: .................................................................................................. 14
5.4
Bildquellen:.................................................................................................. 14
2
1. Einleitung
„Zigeuner“, „Zigeunerwesen“, „Zigeunerplage“ – arme Leute die in Wohnwagen
umherziehen, die gerne Musik machen, artistisch begabt sind, ein wildes Leben
führen, manchmal stehlen, die an den Wald- und Dorfrändern sich zeitweilig
niederlassen, die manchmal Abfall hinterlassen, Leute, die viel tanzen, trinken und
faulenzen. Hübsche, unbeschwerte Leute, jedoch unhygienisch, unzivilisiert,
irgendwie wild. Fröhliche, liebenswerte Menschen, die ihre Kinder nicht zur Schule
schicken. Lumpenpack mit Ungeziefer.
Dies sind einige Bilder, Vorurteile oder romantische Vorstellungen, die einem beim
Wort Zigeuner in den Sinn kommen können.
Unter dem Sammelbegriff „Zigeuner“ wurden Roma und Sinti unter der
Naziherrschaft aufs gründlichste verfolgt und vernichtet. Insgesamt schätzt man die
Zahl der im 2. Weltkrieg in Konzentrationslagern und durch SS-Einsatztruppen
ermordeten Roma und Sinti auf eine halbe Million. „Von den durch die Nazis
erfassten 40‘000 deutschen und österreichischen Sinti und Roma wurden über
25‘000 ermordet“. 1
Die Phänomene Rassenhass und Völkermord gibt es schon seit jeher und auch
heute noch. Der Genozid an den Juden, Roma und Sinti unter den deutschen
Nationalsozialisten hat jedoch Vergangenes in Bezug auf Ausmass, Kaltblütigkeit,
Systematik und Effizienz weit übertroffen: Die deutsche Wirtschaft, die Deutsche
Bahn, die Polizei, die Industrie, Ärzte und Privatpersonen und sogar die Kirche
haben in diesem System fast reibungslos zusammengearbeitet. Wie wurde es
möglich, dass so viele Roma und Sinti fast schlagartig in die Konzentrationslager
deportiert wurden?
In diesem Zusammenhang soll vor allem das Thema „Rassenideologie“,
„Rassenhygiene“, „Rassenforschung“ in Bezug auf Roma und Sinti genauer
betrachtet werden. Zur Frage des Vorgehens der Nazis, scheint mir vor allem die
Anfangsphase wichtig zu sein, also die Erfassung der Roma und Sinti, welche
schliesslich die plötzlichen Massendeportationen in die KZ ermöglichte.
1
Krausnick, S. 239
3
In ihrem „Rassenwahn“ behaupteten die Nazis unter anderem, die „Zigeuner“ seien
„arbeitsscheu“ und „parasitisch“ – diese sogenannten „Asozialen“ seien schädlich für
das deutsche Volk.
Zum besseren Verständnis der Sachlage soll als erstes die Frage behandelt werden,
wer genau die „Zigeuner“ sind: Was ist ihre Herkunft? Wie lebten sie vor dem
zweiten Weltkrieg? Wie war ihre soziale Verankerung in der Gesellschaft als
„Ausländer“? Wurden sie auch schon vorher ausgegrenzt oder sogar verfolgt und
vernichtet? Inwieweit erklärt ihre Vergangenheit ihre Vernichtung durch die Nazis?
2. Herkunft
Wie viel Wahrheit steckt in den in der Einleitung erwähnten Vorstellungen von
„Zigeunern“? Wer sind die Roma und Sinti, woher kommen sie?
Die als Roma bezeichneten Menschen sprechen einen Dialekt welcher Romanes
heisst. In Deutschland wird von Roma und Sinti gesprochen, wobei die Sinti eine
Untergruppe der Roma sind. Die Jenischen sind eine Gruppe von „Zigeunern“,
welche vor allem in der Schweiz leben. Obwohl sie von sich selbst behaupten, von
den Roma abzustammen, ist man der Meinung, sie seien aus einer Gruppe von
sozial tiefer gestellten Menschen entstanden, welche aus ökonomischen Gründen zu
Fahrenden wurden. Weil die Nazis sie „rassisch“ nicht als „Zigeuner“ betrachteten,
wurden sie teilweise wieder entlassen. Sie sollen in dieser Arbeit nicht behandelt
werden.1
2.1 Flucht, Auswanderung, Aufsplitterung
Die Roma und Sinti sind christlichen Glaubens und kommen ursprünglich aus dem
Panjab, einem Gebiet im nordwestlichen Indien, was von Sprachforschern
herausgefunden wurde.2 Im 9. und 10. Jahrhundert wurden sie von dort in der Folge
der Islamisierung durch arabische Eroberer verjagt. Die Flüchtlinge gelangten über
Griechenland in den Balkan3. Unter dem Druck des grösser werdenden osmanischen
1
http://de.wikipedia.org/wiki/Jenische
Krausnick, S. 127-136
3
Bastian, S. 11
2
4
Reiches wanderten sie auf verschiedenen Routen weiter nach Mitteleuropa, wo sie
vor etwa 600 Jahren im deutschen Sprachraum ankamen.1 In Zürich z.B. tauchten
sie das erste Mal im Jahr 1417 auf. 2
2.2 Duldung und Vertreibung und Integration
Am Anfang wurde ihnen meistens Wohlwollen entgegengebracht, bald jedoch folgten
Vorurteile und Verleumdungen. „ Wie die Juden wurden die Sinti zum Sündenbock
für alle möglichen Missstände, Krankheiten und eigene Schwierigkeiten gemacht und
auf dem Reichstag von 1498 in Freiburg als Zauberer, Hexen und Pestbringer
angeklagt und für vogelfrei erklärt. Sie zu jagen und zu töten galt damit als legal.“ 3
Vielfach wurden unter dem Begriff „Zigeuner“ die Gesamtheit des Fahrenden Volkes
zusammengefasst. Um 1500- 1800 waren etwa 10-15% der Bevölkerung Obdachlos,
es war ein Millionenheer von „Fremden“ welches über die Landstrassen zog. Es
waren Roma, Sinti, Juden, und Jenische. Darunter fanden sich Vaganten, Krüppel,
Arbeitslose, Kranke und Bettler aber auch Händler, Hausierer, Wanderhandwerker,
Musikanten, Schauspieler und Erntehelfer. „Das Vorurteil, das Heimatlose zu UnHeimlichen macht, traf freilich die Sinti immer schon härter als jede andere dieser
Gruppierungen“.2 Dies könnte daher rühren, dass die Roma und Sinti ein anderes
Aussehen haben als Europäer.
Folgendes Zitat sagt einiges über den Status der Zigeuner aus: „Wie die Juden
standen die Sinti seit dem Mittelalter unter Ausnahmegesetzen. Sogenannte
„Zigeunertafeln“ vor den Orten drohten härteste Bestrafung an: (…), Landesverweis,
Handabschlagen, Ohrabschneiden und Todesstrafe.“4
Manchmal wurden die Zigeuner geduldet, manchmal vertrieben. Dabei war die
wirtschaftliche Gesamtsituation der entscheidende Faktor: „Der Zusammenhang
zwischen Konjunkturkrisen und fremdenfeindlichen Ausschreitungen lässt sich nicht
nur für die Neuzeit, sondern auch für die Pogrome gegen Juden, Sinti und Roma seit
dem Mittelalter nachweisen.“3
Ähnlich den Juden, konnten die Sinti und Roma in der ständisch geordneten
Gesellschaft nur wenige Berufe ergreifen. Aus dieser Situation entwickelten sich die
nun als traditionell betrachteten Berufe, wie Geigenbauer, Holzschnitzer,
1
Bastian, S. 11
Krausnick, S. 128
3
Ebd. S. 129
4
Ebd. S. 130
2
5
Korbflechter, Pferdehändler oder Schuhmacher. Es gab aber auch berühmte
Musiker, Artisten, Sänger und Schauspieler. Seit Beginn des 19.Jahrhunderts gab es
allmählich auch Bauern, selbständige Kaufleute, Handwerker, Angestellte und
Arbeiter. (z.B. bei der Post und der Reichsbahn). Auch in der Kaiserlichen Armee und
– bis zu ihrem Ausschluss 1941/42 – in der Wehrmacht, waren viele Sinti. 1
2.3 Im Deutschen Reich
Als 1871 das Deutsche Reich gegründet wurde, konnten sich viele Sinti in grossen
Städten niederlassen und eine bescheidene bürgerliche Existenz gründen. Doch der
fortschreitenden Eingliederung der deutschen Sinti und Roma standen immer wieder
fremdenfeindlich begründete „Zigeuner-Razzien“ entgegen, bei welchen ganze
Familien festgenommen wurden. Als Begründung dienten meist Bagatelldelikte und
Ordnungswidrigkeiten, wie Feuermachen, Fischfang, Wahrsagerei, und unbewiesene
Verdächtigungen. Unwichtige Gendarmen und Feldhüter konnten damit ihren
Vorgesetzen Diensteifer und „Säuberungs“-Erfolge vortäuschen. In den Amtsblättern
hiess es dann, dass eine „gefährliche Bande“ gefangen genommen wurde. Ein
anderes Phänomen war, dass die Polizei von den Politikern und Bürgern dazu
missbraucht wurde, die Zigeuner aus der eigenen Gemeinde zu verjagen. So konnte
es sein, dass gewisse Familien von einem Ort zum nächsten in immer tieferes Elend
vertrieben wurden. 2
Abgesehen von diesen eher willkürlichen Ausschreitungen war der Staat sehr daran
interessiert, das fahrende Volk einzuschränken und wenn möglich sesshaft zu
machen. Die „Bekämpfung des Zigeunerwesens“ war also schon zu dieser Zeit hoch
aktuell.
Die vermeintliche Lebensfreude und Sorglosigkeit der „Zigeuner“ sowie ihre Erotik
und Musik weckten Wünsche und Sehnsüchte in den Bürgern. Diese Romantisierung
des Zigeunerlebens änderte am Elend dieser Minderheit jedoch nichts.3
Zur „Bekämpfung des Zigeunerwesens wurde 1905 die sogenannte
„Zigeunerzentrale“ in München eingerichtet. Dieser Nachrichtendienst beinhaltete,
die „Zigeuner und nach Zigeunerart umherziehenden Personen“4 steckbriefmässig
und später mit Fingerabdruck zu erfassen und zu kontrollieren. Die Daten wurden in
1
Krausnick, S. 129-132
Ebd., S. 132-133
3
Bastian S. 17-20
4
Bastian S.22
2
6
einem Buch veröffentlicht, was „ein gesetzeswidriger Eingriff in die
Persönlichkeitsrechte der Betroffenen (…)“ darstellte. Aber, „Für die politischen
Rechte der Zigeuner einzutreten hielt kein Liberaler und kein Sozialdemokrat, kein
Priester und kein Jurist für opportun.“1
2.4 Weimarer Republik
Die erste deutsche Demokratie, die Weimarer Republik, stellte für die Sinti
keineswegs ein Rechtsstaat dar, sondern ein totalitärer Bürokraten- und Polizeistaat:
Die Sinti wurden mit zahllosen Verordnungen und Erlassen schikaniert, bespitzelt,
registriert, sesshaft gemacht oder vertrieben. Die Münchener „Zigeunerzentrale“
wurde weitergeführt.2
In der Weimarer Zeit waren die wegen Beruf reisenden Sinti und Roma eine
Minderheit in der Minderheit. Trotz Verfolgung und Anfeindung schritten
Emanzipation und Integration deutlich voran. Sehr viele Familien lebten in grossen
Städten und übten immer häufiger bürgerliche Berufe aus. Auch in ländlichen
Regionen waren Sinti und Roma vor der Machtergreifung der Nazis weitgehend
akzeptiert.3
3 Verfolgung und Vernichtung der Roma und Sinti
3.1 Rassenideologie
Die „Rassenideologie“ besagt grundsätzlich, dass es vom Blut her wertvollere
Herren- und wertlose Untermenschen gibt. Sie wurde zu einem wesentlichen
Fundament der Naziherrschaft. Die Nationalsozialisten wollten die Untermenschen
„ausrotten“, dies war für sie die „Endlösung“.4 Die Herrenmenschen, die Arier, waren
dazu bestimmt, die Welt zu beherrschen und sich in einem rücksichtslosen Kampf
gegen eine Welt von Feinden durchzusetzen. Neben dem Weltjudentum als
Hauptgegner der Arier wurden auch andere „Fremdvölker“ wie z.B. die slawischen
Völker, Russen und Polen, angefeindet und nicht weniger brutal behandelt. Trotz
1
Ebd., S. 23
Ebd., S. 25
3
Krausnick, S. 133-135
4
Ebd., S 137-138
2
7
ihres arischen Ursprungs standen die „Zigeuner“ der Reinrassigkeit des deutschen
„Volkskörpers“ im Wege. Schon 1937 hatte der Anthropologe Heinrich Wilhelm
Kranz, Professor an der Universität Giessen und Direktor des dortigen Instituts für
Erb- und Rassenpflege1 die mehrheitlich anerkannte Meinung über die „Zigeuner“ im
deutschen Ärzteblatt veröffentlicht. Dort hat er die „Zigeuner“ mit „Parasiten“
verglichen, die „ähnlich wie die Juden, nur dort ernten, wo andere säen, d.h., dass
sie unerwünschte Gäste sind, die niemand gerufen hat, die sich nicht in die staatliche
Ordnung einfügen wollen und auf Grund ihrer rassischen Anlagen nicht eingewöhnen
können.“2
In diesem Zitat werden die vermeintlichen Eigenschaften eines „Zigeuners“, eines
sozial tief stehenden Fahrenden als „volksschädlich“ bezeichnet. Es geht aber in der
Folge nicht mehr darum, ob jemand „volksschädigende“ Eigenschaften aufweist,
sondern es geht um die „Rasse“, denn die vermeintlichen Eigenschaften eines
„Zigeuners“ werden als Eigenschaft einer „Rasse“ und nicht eines bestimmten
sozialen Standes deklariert.
3.2 „Erbbiologische Forschung“ an „Zigeunerbastarden“
In Hinblick auf die „Endlösung“ musste es eine solide Basis geben, nach welcher
man entscheiden konnte, wer Zigeuner sei und wer nicht. Die „Zigeuner“ konnte man
nicht wie die Juden anhand von Religionszugehörigkeit der Vorfahren bestimmen.
Weil in der Vergangenheit so mancher als „Zigeuner“ bezeichnet wurde sowie die
Behörden aus polizeitechnischen Gründen die Fahrenden als sogenannte
Wandergewerbe betreibende Menschen kontrollierten3, viele Sinti und Roma aber
inzwischen in grossen Städten lebten und eine festen Wohnsitz und Beruf hatten,
stand man bei den Roma und Sinti vor dem Problem der „Rassendiagnose“.4
Auch die sogenannten Fahndungstage5, welche zur reichsweiten Erfassung
sämtlicher Sinti und Roma dienen sollten, zeigten deutlich, dass mehr für die
systematische Aufspürung der Sinti und Roma nötig war: „Die örtlichen
Polizeistationen waren überfordert und konnten bestenfalls Zufallsergebnisse liefern.
Für die kollektive Verfolgung wurde ein genaueres, ein möglichst totales Raster
1
Bastien, S37-38
Ebd. S. 38
3
Siehe Kapitel 2.? („Zigeunerzentrale“ in München)
4
Krausnick S. 143
5
(befohlen vom Reichsinnenminister Frick im Juni 1936, der treibenden Kraft in der Anfangsphase)
2
8
benötigt“1 Dafür wurde noch im gleichen Jahr die „Rassenhygienische und
Erbbiologische Forschungsstelle“ des Reichsgesundheitsamtes in Berlin –Dahlem
gegründet.2
Die Hauptfigur in der Nationalsozialistischen „Zigeunerforschung“ war der ehrgeizige
Arzt Robert Ritter: 1935 beantragte er ein Stipendium zur „erbbiologischen
Forschung an „Zigeunerbastarden“, welches ihm sofort bewilligt wurde. Unterstützt
wurde Ritter unter anderen von der Deutschen Forschungsgemeinschaft – Ritter
wurde zum Direktor der oben erwähnten „Rassehygienischen Forschungsstelle“
ernannt. Ritter und seinen Mitarbeitern war klar, was von ihnen verlangt wurde: „Die
Aufdeckung und Erfassung der Zigeunerstämme und der Mischlingsgruppen zu
beschleunigen, um für die in Kürze zu erwartenden einschneidenden Massnahmen
die Unterlagen bereitstellen zu können.“3
Das nächste Zitat zeigt, das Ritter sehr wohl wusste, was die Konsequenzen seiner
Forschung war, und stand scheinbar auch voll und ganz dahinter:
„ Die Zigeunerfrage kann nur dann als gelöst angesehen werden, wenn das Gros der
asozialen und nichtsnutzen Zigeuner-Mischlinge in grossen Wanderarbeitslagern
gesammelt und zu Arbeit angehalten und wenn die weitere Fortpflanzung dieser
Mischlingspopulation endgültig unterbunden wird. Nur dann werden die kommenden
Geschlechter des deutschen Volkes wirklich befreit sein. Die Rassenhygienische
Forschungsstelle ist schon heute in der Lage, sich über den Mischlingsgrad und den
Erbwert jedes einzelnen Zigeuners
sachverständig zu äussern, so dass der Inangriffnahme rassenhygienischer
Massnahmen nichts mehr im Wege steht.“4( Ausschnitt aus einem Arbeitsbericht
Ritters von 1940 an die Deutsche Forschungsgemeinschaft)
Laut Ritter und seiner Arbeitsgruppe war derjenige ein „Zigeuner“ der unter seinen
acht Urgrosseltern einen einzigen „Zigeuner“ aufwies. Dies bedeutete, dass ein
„Achtelzigeuner“ bereits als ein zu vernichtender „Zigeuner“ galt5 und somit der
„Rassennachweis“ bei den „Zigeunern“ viel strenger gehandhabt wurde als bei den
Juden; hätten sie es bei den Juden gleich gemacht, wären vermutlich zu viele
Deutsche „verjudet“ gewesen. Nach Ritters offizieller „Zigeuner“-Zählung lebten auf
1
Krausnick, S. 140
Krausnick. S. 140
3
Ebd. S. 140 (Ritter an die DFG)
4
Bastian, S. 38,39
5
Krausnick, S. 150
2
9
dem Gebiet des „Altreichs“ schlussendlich 23‘933 „Zigeuner“, was deutlich über der
anfänglich angenommenen Zahl von 15000 lag.
Wie sah nun aber die Forschung der „Rassenbiologen“ im konkreten aus? Worauf
beruhten ihre so exakten Aussagen?
Für die bürokratische Organisation ihrer „Endlösung“ war eine lückenlose Erfassung
aller Sinti und Roma für die Nazis unerlässlich. Und so gingen Ritter und co. vor:
„Fliegende Arbeitsgruppen reisten mit Eisenbahn und PKW durch das Reich, um alle
Sinti und Roma genealogisch zu erfassen und anthropologisch zu vermessen.“1
Und so forschten sie: (Zitat eines Sinti)
„ Erst hat man uns Blut genommen, auf dem Polizeipräsidium. Und dann hat man die
Haarfarbe, die Augen, alles notiert. Den Kindern brachten sie Bonbons mit oder
Schokolade und haben immer ganz freundlich getan. Aber wir konnten uns ja auch
nicht wehren. Wenn die uns bestellt haben, dann mussten wir einfach hin. Sonst
wäre man verhaftet worden. Es war ja das Polizeipräsidium!“2
Neben den im Zitat erwähnten Dingen wurde auch die Hand und Fingerabdrücke, die
„Nasenwurzel im Profil im Vergleich zum Augapfel“, die „ Wangenbeinbetonung, die
“Stirnhaarbegrenzung“, der „Verlauf des Mundwinkels“, die „Grösse des
Ohrläppchens“ und vieles andere mehr untersucht, mit anthropologischem Besteck
genauestens vermessen und minutiös auf Untersuchungskarten registriert.3
Da stellt sich die Frage, warum so viel Aufwand, denn: „Wissenschaftlich waren sie
(die eben erwähnten Daten) ohne Belang. Und auch für die Verfolgung spielten sie
keine Rolle. Den Ausschlag gaben die „Stammbäume“, die genealogischen
Befragungen, die Daten der Meldeämter und Kirchenbücher.“4
Die Antwort dazu könnte sein, dass dieses scheinwissenschaftliche Vorgehen
schlichtweg die Grundsätze der Nazipraktiken wiederspiegelt, so könnte man es z.B.
vergleichen mit der Diktatur Hitlers die zumindest anfangs einen legalen und
demokratischen Anstrich hatte.
Da aber die „Wissenschaftler“ um Ritter die Sache so ernst nahmen, sich damit so
stark identifizierten, stellt sich die Frage, ob da nicht mehr dahinter steckt. Es scheint,
dass Ritter und seine Mitarbeiter die Ideologie Hitlers selbst vertraten und an die
1
Krausnick, S. 144
Ebd. S. 149
3
Ebd. S. 149
4
Ebd. S. 149
2
10
Minderwertigkeit der Roma und Sinti glaubten. Ein weiterer Punkt ist sicherlich das
Karrieremachen. Bei Eva Justin z.B. ist dies besonders deutlich, denn sie hat mit
„Rassenforschung“ offensichtlich ihren Doktortitel erschlichen:
Eva Justin hat im Jahre 1943, in der „Heiligen St. Josefspflege“ an den 39 Mulfinger
„Zigeunerkinder“ ihre Recherchen an „lebenden Objekten“ durchführen können. Sie
bildeten die Grundlage ihrer Doktorarbeit, welche die Notwendigkeit der
Zwangssterilisation der angeblich
unerziehbaren „Zigeuner“ untermauern
sollte. Ausgewertet wurden
„Leistungskartoffellesen“, das
„Igelfangspiel“, „Reigentänze“ und
ähnliches. Waren die Kinder besonders gut
(der eifrigste Obst –und Beerensammler),
bestätigten sie das rassistische Klischee
des exotisch „Artfremden“. Waren sie
schlecht, wurde ihnen das Vorurteil des
unmündigen Primitiven unterschoben.1 „Je
höher ihre soziale Anpassungsleistung war,
als desto verschlagener und unzuverlässiger wurden sie bewertet.“1
Amelie Schaich, eines der Mulfinger „Zigeunerkinder“
Ihre Forschungsmethoden sowie der Umstand, dass die Verfolgung und Vernichtung
der Roma und Sinti zur Zeit ihrer Forschung schon voll im Gang war und ihre
„Versuchsobjekte“, die Kinder von bereits deportierten Sinti-Familien, mit etwas
Verspätung ebenfalls ins KZ eingeliefert und vernichtet wurden1, beweisen, wie
pseudowissenschaftlich ihre „Forschung“ war.
4. Fazit
1
Jutta von Freyberg in Jekh Chib
11
Der Einblick in die Vergangenheit zeigt, dass der „Zigeunerhass“ eine lange Tradition
hat. Dies macht das ungeheure Ausmass der Verfolgung und Vernichtung unter den
Nazis verständlicher, irgendwie fassbarer. Hitler war nicht der erste, der sich
„Säuberung“ oder sogar eine „Endlösung“ wünschte. Viele Vorurteile,
Verleumdungsstrukturen und allgemeine Ablehnung waren in der Bevölkerung
schon vorhanden.
Trotzdem können diese Umstände für den Vernichtungswahn der Nazis und die
reibungslos effiziente Ausführung der Verfolgung und Vernichtung in der deutschen
Nation nicht die alleinige Erklärung sein. Dass mir dies ein gewisses Rätsel bleibt,
muss ich vorerst akzeptieren.
Auf folgende Frage aber kann im Zusammenhang mit dieser Arbeit eine Antwort
gegeben werden: „Was liegt denn den oben erwähnten Vorurteilen und der
Abneigung zu Grunde?“
Ganz am Anfang steht vermutlich Angst, die sich dann z.B. in unbewusstem
Konkurrenzdenken zu Tage treten kann, vor allem wenn es einem selbst nicht gut
geht. Ein weiterer Grund für Abneigung ist wohl Neid. Ich meine damit die heimliche
Sehnsucht nach der Freiheit der „Zigeuner“. Soviel ich aus den Texten herauslesen
konnte, sind die Roma und Sinti, abgesehen von ihrem Aussehen, auch in ihrer
Mentalität und Lebensweise tatsächlich anders als z.B. ein disziplinierter, sturer
Deutscher, um es überspitzt zu formulieren. Ich meine damit z.B. die immer wieder
erwähnte Unbeschwertheit, Zutraulichkeit und Offenheit.1 Der Umstand, dass Roma
und Sinti einen starken Familienzusammenhalt haben, und manchmal auch in
grösseren Sippen zusammenleben, mag dazu beitragen, dass man sie als Horde
empfindet, sich vielleicht sogar bedroht fühlt und als fremd und nicht Teil des
deutschen Volkes betrachtet.
Der Rassenwahn der Nazis ist mir zwar immer noch rätselhaft, aber nachdem ich
mich mit dem Thema der Wissenschaft im Zusammenhang mit der Verfolgung der
Roma und Sinti befasst habe, kann ich eine Aussage dazu machen, wie und warum
die Verfolgung so effizient funktioniert hat, wieso hunderthausende Roma und Sinti
fast auf einen Schlag in die Konzentrationslager deportiert werden konnten.
Dass die „Zigeuner“ minderwertig und zu vernichten seien, stand fest. Dies musste
die Wissenschaftler nicht beweisen. Ihre Aufgabe bestand darin, zu bestimmen, wer
1
Z.B.: Bastian, S. 7-8
12
ein „Zigeuner“ sei - und dies taten sie äusserst gründlich und pflichtbewusst. Dabei
war das pseudowissenschaftliche, peinlich genaue Erfassen und Auswerten von
verschiedensten Körpermassen und -eigenschaften belanglos: Was zählte waren
Stammbäume, genealogische Befragungen und die Daten der Meldeämter und
Kirchenbücher.
Warum leisteten die Wissenschaftler um Robert Ritter aktiv und aus eigenem Willen
einen so grossen Beitrag zur Verfolgung und Vernichtung? Glaubten sie an die
„Rassenideologie“? Handelten sie aus Gründen der Karriere? Oder glaubten sie gar,
sie leisteten ehrliche, wissenschaftliche Arbeit?
Nach dem was ich gelesen habe, glaube ich sagen zu können, dass diese
Wissenschaftler tatsächlich an die „Rassenideologie“ und daran, etwas Gutes für das
„Volk“ zu leisten, glaubten, dass aber die Karriere nicht minder bedeutend war.
Die Masse von passiven Tätern, vom hohen Beamten über den Dorfpolizisten bis
zum Pfarrer und dem einfachen Lokomotivführer, waren für das Funktionieren der
Vernichtung nicht weniger wichtig. „Befehl ist Befehl“ und die eigene Existenzangst
ist das eine, doch war das Handeln in vielen Fällen sicher von einem Grundgefühl
der Abneigung gegen „Zigeuner“ begünstigt worden.
Deshalb wage ich zu sagen, dass „Rassenhass“ davon bestimmt wird, wie jeder
einzelne Mensch denkt, fühlt und handelt. Wach sein und seine Gedanken und Taten
immer wieder schonungslos hinterfragen, scheint mir das Wichtigste zu sein.
Obwohl in meiner Arbeit nicht behandelt, möchte ich hier noch kurz den Bezug zur
Gegenwart herstellen. Dass Wissenschaftler wie Robert Ritter und Eva Justin ihre
Kariere nach dem Geschehenen fortführen konnten, ist erschreckend.1 „Rassenhass“
ist nicht ausgestorben, sondern unvermindert stark vorhanden ist. Betroffen sind
nicht einfach nur andere Minderheiten, sondern wieder dieselben Gruppen: Juden,
Roma und Sinti.
1
Bastian, S. 41
13
5. Literaturverzeichnis
5.1 Bücher:
1. Michail, Krausnick: Wo sind sie Hingekommen? : Der unterschlagene
Völkermord an den Sinti und Roma. 1. Auflage. Gerlingen 1995
2. Till, Bastian: Sinti und Roma im Dritten Reich: Geschichte einer Verfolgung.
Orig. Ausgabe. München 2001
5.2 Aufsätze:
1. Jutta von Freyberg: „Auf Wiedersehen im Himmel“: Bericht über ein
Dokumentarfilm von Anita Awosusi und Michail Krausnick. In: JEKH CHIB. Nr.
4 Mai 1995
5.3 Internetseiten:
1. http://de.wikipedia.org/wiki/Jenische am 08.04.2010
5.4 Bildquellen:
1. http://images.google.ch/images?um=1&hl=de&rlz=1T4GGLZ_deCH356CH356
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