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Kapitel 1
Breslau ist zur Festung erklärt worden. Gauleiter Karl Hanke wird,
wie alle Gauleiter im Osten, vom Führer zum Reichsverteidigungskommissar ernannt. Das bedeutet das Todesurteil für unsere wunderschöne Stadt. Am 19. Januar 1945 ergeht ein Erlass, dass alle
Zivilisten die Stadt zu verlassen haben. Die Bahnhöfe sind überfüllt. Es fahren nicht genügend Züge. Die Menschen warten in
eisiger Kälte zwei bis drei Tage, bis sie fortkommen. Es entsteht
ein fürchterliches Chaos. Mütter verlieren ihre Kinder, und Kinder
schreien nach ihren Müttern. Schwangere gebären in zugigen
Bahnhofshallen zu früh. Viele Menschen bleiben zurück oder
müssen zu Fuß flüchten.
Verteidigen bis zum letzten Mann heißt die Devise.
Bis jetzt haben wir nicht viele Bombennächte erlebt. Fliegeralarm hat es oft gegeben, und viele Flugzeuge haben die Stadt überflogen. Ihre Bomben haben sie - ich weiß nicht wo - abgeladen und
sind dann zurückgekehrt, was uns das zweite Mal in der Nacht in
den Luftschutzkeller getrieben hat. Manchmal haben sie auf dem
Rückweg eine vergessene Bombe abgeworfen; oft ist das aber nicht
geschehen. Somit ist die Stadt nahezu unversehrt geblieben.
Die Zerstörung der Stadt beginnt nun mit dem Bau einer Rollbahn mitten in Breslau. Rund um den Scheidniger Stern werden
zuerst die alten Bäume gefällt und dann Häuser gesprengt. Ganze
Straßenzüge sind dem Erdboden gleich gemacht worden. Alle
Frauen und Männer sowie Jungen ab zehn und Mädchen ab zwölf
werden zur Arbeit zwangsverpflichtet. Es sind immer noch viele
da, die dem Aufruf zur Flucht nicht gefolgt sind. Sie alle bekommen eine Arbeitskarte, die sie täglich abstempeln lassen müssen.
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Wenn sie sich nicht daran halten, bekommen sie keine Lebensmittelkarten.
Über den Rundfunk hört man immer wieder die Parolen:
„Unser Volk muss leben, wenn es auch unser kleines persönliches Leben kosten sollte! Es wird nicht kapituliert! Es wird
gekämpft bis zum letzten Mann und bis zur letzten Patrone! Es
lebe unser geliebter Führer!“
Täglich werden standrechtliche Erschießungen vorgenommen:
Am 28. Januar wird Dr. Wolfgang Spielhagen, Vizebürgermeister der Stadt, erschossen.
Am 1. Februar Regierungsdirektor Dr. Felix Sommer.
Am 4. Februar der Bürgermeister von Brockau, Bruno Kurzbach.
Am 6. Februar der Bürgermeister von Klettendorf, Eugen
Pfand.
Und das wegen angeblich defätistischer Äußerungen. Dieses
Schicksal ereilt noch viele Namenlose, dazu Deserteure, die sich
dem Flüchtlingsstrom anschließen wollen.
Beim Bau der Rollbahn kommen viele Menschen um, weil jetzt
russische Flugzeuge die Stadt täglich bombardieren. Trotzdem
wird sie fertiggestellt. Ursprünglich sollten von dort aus Verwundete und Flüchtlingen ausgeflogen werden.
Es ist nur ein einziges Flugzeug gestartet - mit Gauleiter Hanke!
Keiner glaubt mehr an den Endsieg. Der gut ausgerüsteten
Roten Armee stehen ausgemergelte, desillusionierte deutsche Soldaten gegenüber. Und der Volkssturm: Kinder und alte Männer.
Die sowjetische Sechste Armee ist den deutschen Truppen um
das Sechs- bis Achtfache überlegen. Die Menschen hoffen, dass
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die Russen die Stadt bald erobern, denn je länger es dauert, desto
größer ist die Zerstörung durch Bomben und eigene Streitkräfte.
Es ist bitter kalt in diesen Januartagen des Jahres 1945. Flüchtlinge, die schon tagelang aus dem Osten unterwegs sind, berichten
von schrecklichen Geschehnissen. Kinder, Kranke und Alte sind
auf der Flucht umgekommen. Da der Boden hart gefroren ist,
konnte man sie nicht beerdigen. Man hat sie unter Schneehügeln
bestattet. Manchmal waren es so viele, dass man sie zu Haufen
aufeinander legte und später in Massengräbern beisetzte. Die Menschen in Breslau fürchten, das gleiche Schicksal zu erleiden, und so
wollen viele bleiben.
Am 20. Januar werden sie aber unter Druck gesetzt mit der
Androhung, keine Lebensmittelkarten zu erhalten. Parteibonzen
und Blockleiter jagen die Menschen förmlich aus ihren Wohnungen.
Wir wohnen im Stadtteil Bischofswalde am Ostrand. Die
meisten Familien sind schon evakuiert. In den Häusern befinden
sich bereits deutsche Soldaten.
Wir haben das Glück, dass mein Vater als Soldat auf dem Fliegerhorst Gandau stationiert ist. Er hat als Fourier für die Verpflegung der Truppe zu sorgen. Ihm stehen ein leichter, gummibereifter kleiner Wagen und ein Schimmel namens Timoschenko zur
Verfügung. Damit wird er uns erst mal zu unseren Verwandten
nach Malkwitz bringen. Der Ort liegt im Kreis Kanth, fünfzehn
Kilometer westlich von Breslau.
Am Morgen des 21. Januar holt er uns ab. Wir laden so viel wie
nötig und so wenig wie möglich auf den Wagen, nur das, was wir
zur Not zur weiteren Flucht von Malkwitz mitnehmen können.
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Papa bringt mir noch ein Paar blaue Pumps und eine hellblaue
Bluse mit. Diese Sachen sind noch haufenweise als Kleidung für
Luftwaffenhelferinnen gelagert worden. Er packt uns noch einige
Köstlichkeiten ein, die wir unseren Verwandten mitnehmen sollen:
Bohnenkaffee, Schokolade und Schnaps. Auf Nebenstraßen erreichen wir verhältnismäßig schnell unser Ziel. Mein Vater kennt
sich gut aus. Er ist in Malkwitz geboren und aufgewachsen. Trotzdem sind auch hier Wagen und Flüchtlinge unterwegs. Wie gerne
wäre er bei uns geblieben und mit uns geflüchtet, samt Pferd und
Wagen. Aber es ist zu gefährlich. Er muss zurück zu seiner Einheit.
In der Stadt spitzt sich die Lage immer mehr zu. Die Rote
Armee kreist die Stadt ein. Am 15. Februar ist der Belagerungsring
geschlossen.
Aber immer noch lautet der Befehl aus Berlin: Breslau muss
um jeden Preis gehalten werden. Man will die russischen Truppen
möglichst lange beim Kampf um Breslau binden, um Berlin zu
entlasten, was auch insofern Erfolg hat, dass Breslau zwei Tage
später fällt als die deutsche Hauptstadt.
Jetzt kämpfen die deutschen Truppen an zwei Fronten. Während
die Front im Osten der Stadt zunächst gehalten wird, marschiert
der Feind von Westen her so schnell voran, dass er auf Flüchtlinge
trifft, die ihm aus Breslau entgegenkommen.
In Breslau werden jetzt Barrikaden gebaut. Mein Vater gehört
nun auch einem Spreng- und Brandkommando an. Es werden
systematisch Brandstätten errichtet. Möbel, Bettzeug, Bücher und
alles andere Brennbare werden auf die Straße geworfen und angezündet. Das Feuer darf nicht verlöschen. Auch wertvolle Möbel
werden nicht ausgenommen.
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Mein Vater aber wirft nicht alles ins Feuer. Heimlich belädt er
seinen Wagen mit Nützlichem, das verbrannt werden soll, und ab
geht‘s mit Timoschenko nach Bischofswalde. So bringt er Decken,
Wäsche, Kleidung und Stoffballen in unsere Wohnung. Er stapelt
die Sachen auf dem Boden, im Keller und im Gartenhäuschen,
zusammen mit Lebensmitteln: Dosen, Dauerwurst, ein Sack Mehl,
ein Sack Zucker und vieles mehr.
Als wir ein halbes Jahr später zurückkommen, wird eine Menge
geplündert sein, aber immer noch ist genug da, um mit dem
Verkauf von vielen nützlichen Sachen unseren Lebensunterhalt
teilweise bestreiten zu können.
Er darf sich dabei natürlich nicht erwischen lassen, denn das
wäre unerlaubte Entfernung von der Truppe und Plünderung
gewesen. Das hätte Standgericht bedeutet.
Für die Barrikaden werden Steine von Gräbern und Gruften
auf der Straße gestapelt.
Im Westen der Stadt fängt man an, schöne alte Villen mit allen
kostbaren Möbeln einfach zu sprengen. Systematisch wird nun
zerstört, um die Russen aufzuhalten.
Die Russen stellen ein Ultimatum:
„Deutsche Soldaten und Offiziere. Der Staatsmann Hitler hat
in der Heimat eine Willkürherrschaft errichtet. Die völlige Einkreisung der Stadt Breslau und der deutschen Truppen ist abgeschlossen. Stellen Sie die verbrecherische und sinnlose Ausrottung Ihrer
Truppen ein. Stellen Sie das Schießen ein.“
Keine Reaktion von deutscher Seite. So wird dann zu Ostern
die Zerstörung der Stadt vervollständigt. Bei einem Luftangriff
werden fünftausend Bomben, hauptsächlich Brandbomben, abgeworfen. Ein orkanartiger Sturm facht das Feuer zusätzlich an. Die
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vorher zerstörten Häuser brennen nun vollständig aus und dazu
noch viele, die verschont geblieben waren. Und viele Menschen
sterben sinnlos, obwohl der Krieg schon verloren ist. Breslau
brennt zwei Monate lang. Das Inferno ist kilometerweit zu sehen.
Es wird nicht dunkel in jenen Nächten.
In Malkwitz wohnen zwei Brüder von Papa mit ihren Familien.
Jeder besitzt einen Bauernhof. Onkel Paul und Tante Mariechen
haben eine Tochter Hertha, sechzehn, und einen Sohn Lothar,
fünfzehn Jahre alt. Ihnen gehört der größere Hof. Onkel Reinhold (ist beim Volkssturm) und Tante Hedel haben drei Kinder,
Manfred fünfzehn, Helga vierzehn und Ludwig neun Jahre alt.
Das Dorf rüstet ebenfalls zum Aufbruch. Papa rät uns, es mit
der Bahn zu versuchen. Er hat erfahren, dass immer noch ab und
zu Züge fahren. Auch meine Tante Else ist noch in Breslau und
wartet auf die Möglichkeit, die Stadt auf dem Schienenwege verlassen zu können. So beschließen wir, den Versuch zu unternehmen, mit der Bahn wegzukommen.
Ein Kilometer von Malkwitz entfernt liegt der Bahnhof Sadewitz. Wir erfahren, dass gestern noch Züge gefahren sind und
auch hier gehalten haben. Wir wissen, dass die Züge bombardiert
werden, aber das werden die Flüchtlingstrecks ebenfalls. Haben
wir überhaupt eine Wahl? Wir wollen weg. Das Risiko scheint uns
kleiner zu sein als hier zu bleiben. Aber ob und wann die Züge
fahren, kann man uns nur am Bahnhof sagen. Mein Bruder und
ich marschieren also an einem Vormittag los. Es ist ein strahlender
Wintertag. Der frisch gefallene Schnee glitzert in der Morgensonne. Wir möchten am liebsten über die weiten Felder laufen und
uns im Schnee wälzen. Aber mein Onkel hat uns eingeschärft:
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