Parteien im Wahlkampf Europa - Hans-Böckler

Transcription

Parteien im Wahlkampf Europa - Hans-Böckler
Mitbestimmung
Mitbestimmung 9/2013
september 9/2013
Postvertriebsstück
D 8507
Entgelt bezahlt
DAS MAGAZIN DER HANS - BÖCKLER-STIFTUNG · WWW.MAGAZIN - MITBESTIMMUNG.DE
· VW will mit Werkswohnungen Fachkräfte gewinnen
europa · Gesine Schwan fordert Kooperation statt Standortkonkurrenz
Gerechtigkeit · Wie die INSM ein Wort marktradikal umdeutet
Arbeitsmarkt, Sozialpolitik
und die Rolle der Gewerkschaften
WSI-HERBSTFORUM
AM 27. Und 28.
NOVEMBER
IN BERLIN
Mit Colin Crouch, Claudia Weinkopf, Jill Rubery, Herbert Brücker,
Erika Mezger, Alfred Kleinknecht, Brigitte Unger, Reinhard Bispinck,
Thorsten Schulten, Martin Behrens u.v.a.
Europa steckt in der Eurokrise fest: Der Sozialstaat
wird abgebaut, der Arbeitsmarkt dereguliert und
viele Lebensbereiche werden dem Markt
unterworfen. Wie können Alter­nativen entwickelt
werden? Die Gewerkschaften haben die Chance,
zum Motor eines neuen Europa zu werden.
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Aufbau statt Abbruch in Europa
Parteien im Wahlkampf · Welche Farbe tut der Arbeit gut?
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EDITORIAL
„Wir wollen eine neue
Ordnung der Arbeit,“
sagt Michael Sommer und
begründet diese umfassende Forde­
rung der Gewerkschaften mit der tiefen
Spaltung am Arbeitsmarkt, die es zu beseitigen
Foto: Karsten Schöne
gelte. Für den DGB-Vorsitzenden gehört die Stärkung von
Tarifverträgen genauso dazu, wie die Bekämpfung des Niedrig­
lohnsektors sowie ein allgemeiner gesetzlicher Mindestlohn von
8,50 Euro (Seite 30). In die Richtung zielen auch die Ergebnisse
der Beschäftigtenbefragung der IG Metall (Seite 34) oder die Pläne
von Klaus Wiesehügel, dem designierten Arbeitsminister in Stein­
brücks Schattenkabinett,
die Rente mit 67 auszu­
setzen und die Arbeits­
losenversicherung zu einer
„Arbeitsversicherung“
auszubauen (Seite 20).
Es ist kein Geheimnis,
dass die Vorschläge der
Oppositionsparteien mehr
mit den Forderungen der
Gewerkschaften gemein
haben als die Politik der
Bundesregierung. Doch das Wahlverhalten wird von vielen Fakto­
ren beeinflusst, nicht nur von den arbeitsmarkt- und betriebspoli­
tischen Themen. Parteienforscher Peter Lösche vertritt die These,
dass diese Wahl nicht durch Sachthemen, sondern durch
die Spitzenkandidaten entschieden wird (Seite 18). Zu­
dem bleiben immer mehr Menschen den Wahlen fern –
ein Trend, der sich vor allem in Teilen der Unterschicht
verfestigt (Seite 10). Nur die Kampagnenmacher erhalten
sich noch ihren unverbrüchlichen Optimismus (Seite 40).
Wechselstimmung sieht anders aus.
Respekt verdienen die Männer und Frauen, die sich
jetzt als Kandidaten für den Bundestag bewerben. Wer
es nicht selbst erlebt hat, kann sich kein Bild machen
von ihrer Ochsentour, die auf Campingplätze, zu Denk­
malseinweihungen und Weinköniginnen führt. Einige
dieser Kandidaten, die alle auch gewerkschaftlich enga­
giert sind, stellen wir vor (Seite 24). Ihre Sichtweisen
sind so unterschiedlich wie die Meinungen der Wähler.
Selbst wenn dies ein Personenwahlkampf ist, am Ende,
das illustriert unser Titelbild, wird es auf die Koalition
ankommen. Und die wird mit Sicherheit auch auf den
Spitzenkandidaten abfärben.
k ay meiners
[email protected]
Mitbestimmung 9/2013
3
Foto: Florian Bachmeier
10
42
T ITEL Bundestagswahl 2013
A RBEIT
10 Die gespaltene Demokratie
4
2 VW baut nicht nur Autos
Unterwegs zum Nichtwähler. Von Andreas Molitor
15 Niemand plant, die Mitbestimmung einzuschränken
Analyse der Parteiprogramme. Von Marie Seyboth und Rainald Thannisch
18 Das Thema ist zweitrangig
Werkswohnungen sind wieder ein
Asset. VW setzt darauf, die IG BCE
steht zu ihrem Wohnungsbestand.
Von Stefan Scheytt
Warum diese Wahl eine Personenwahl ist. Von Peter Lösche
46 Kostendruck auf Callcenter
2
0 „Die SPD ist heute eine andere Partei“
Die Insolvenz der Walter Services
GmbH wirft ein Schlaglicht auf den
ruinösen Wettbewerb der Branche.
Von Carmen Molitor
IG-BAU-Chef Wiesehügel über seine Chancen als Schatten-Arbeitsminister
24 Diese Leute wollen in den Bundestag
Kurz vorgestellt: Sechs Kandidaten aus vier Parteien
30 Pfeiler einer neuen Ordnung der Arbeit
DGB-Positionen nach Zitaten von Michael Sommer
3
2 „Betriebsräte brauchen zwingende Rechte“
Yasmin Fahimi, IG BCE, zu Reformen der Mitbestimmung
34 Stimmen der Arbeitnehmer
„Arbeit: sicher und fair!“ – zur Beschäftigtenumfrage der IG Metall
3
6 „Der Gesetzgeber muss nur wollen“
Wolfgang Uellenberg, ver.di, über entsicherte Dienstleistungsarbeit
38 Wie die Parteien Arbeit neu ordnen wollen
Analyse der Parteiprogramme. Von Barbara Adamowsky
40 Die Kampagnenmacher
Wie die Profis Wähler aktivieren wollen. Von Kay Meiners
4
Mitbestimmung 9/2013
RUBRIKEN
3Editorial
6Nachrichten
9 PRO & CONTRA
72rätselhaftes fundstück
73vorschau, impressum
74 MEIN ARBEITSPLATZ
Matthias Helmer, Journalist
INHALT
48
54
66
P OLITIK
W ISSEN
AUS DER STIFTUNG
48
Gerechtigkeit à la INSM
5
4 „Da wird eine rote Linie
überschritten“
58 Zur Sache
Ein Begriff wird marktradikal
umgedeutet. Von Rudolf Speth
50Europa braucht Weitblick
Didaktik-Professor Tim Engartner
kritisiert den Einfluss der Wirtschaft
auf Schule und Lernmaterialien.
Karin Schulze-Buschoff über
Auswege aus der Altersarmut
60Böckler-Tagungen
Debatte: Gesine Schwan will den
Standortwettbewerb überwinden
AVE von Tarifverträgen
Bilanz der Energiewende
53Es liegt nicht nur
an den Löhnen
63 Tipps & Termine
64Böckler-Nachrichten
Debatte: Michael Wendl zu den
Ungleichgewichten in der Eurozone
66 Die Wegbereiterin
interview
Ministeranwärter
Klaus Wiesehügel kann nichts so leicht umwerfen. Die Agenda
2010 konnte seine Treue zur SPD nicht brechen; ebensowenig
dämpfen Umfragewerte seinen Siegeswillen. Beim Mindestlohn
aber wäre er zu keinem Kompromiss bereit.
Seite 20
Foto: Stephan Pramme
Altstipendiatin Kathrin Mahler
Walther kämpft für Chancengleichheit. Von Susanne Kailitz
MEDIEN
68 Buch & mehr
70Website-Check
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Foto: Arnulf Stoffel/dpa
BILD DES MONATS
Torschlusspanik …
… befällt in diesem Sommer deutsche Schiffer häufig. Denn wie hier
bei Wesel am Niederrhein oder am Nord-Ostsee-Kanal bleiben die
Schleusen zu. Weil die Wärter streiken. Verkehrsminister Peter
Ramsauer will die Behörde für Wasser- und Schifffahrtsverwaltung
komplett umkrempeln. ver.di fürchtet den Abbau von 3000 der
12 000 Arbeitsplätze und fordert einen Tarifvertrag zum Schutz vor
betriebsbedingten Kündigungen und Versetzungen. Jetzt scheint
der Verkehrsminister einzulenken. „Es finden Gespräche auf höchster Ebene statt“, bestätigt Onno Dannenberg, ver.di-Tarifsekretär
für den Öffentlichen Dienst. An der Kampfbereitschaft der Schleusenwärter ändert das nichts. „Wenn es sein muss, streiken wir zeitgleich und deutschlandweit“, sagt ver.di-Mann Jochen Penke. ■
Salzgit ter
IG Metall pocht auf Zukunftsvertrag
Die IG Metall stemmt sich gegen die geplanten Stellenstreichungen
bei der Salzgitter AG. Deutschlands zweitgrößter Stahlkonzern hat
nach Bekanntgabe eines Halbjahresverlusts von mehr als 300 Millionen Euro angekündigt, 1500 der 23 000 Stellen zu streichen. Das
will die IG Metall nicht ohne Weiteres hinnehmen. Sie verweist auf
den sogenannten Zukunftsvertrag zwischen der Gewerkschaft und
der Unternehmensleitung. Darin sind wichtige Arbeitnehmerinteressen festgehalten. Er hat eine Laufzeit bis zum Jahr 2018. „Demnach
6
Mitbestimmung 9/2013
sind betriebsbedingte Kündigungen ausgeschlossen“, sagt HansJürgen Urban, geschäftsführendes Vorstandsmitglied der IG Metall
und stellvertretender Aufsichtsratsvorsitzender bei Salzgitter. Unter
anderem regelt der Zukunftsvertrag auch, wie mögliche Alternativarbeitsplätze beschaffen sein müssten. Zudem legt er die Höhe von
etwaigen Abfindungen fest. „Wir haben bei Salzgitter einen hohen
Grad an Mitbestimmung. Den gilt es jetzt zu nutzen“, bekräftigt
Salzgitter-Aufsichtsratsmitglied und IG-Metaller Urban.
■
NACHRICHTEN
drei z ahlen , drei meldu ngen
US-Fast-Food-Br anche
864
Spartipps vom Arbeitgeber
für die Burger-Flipper
Euro monatlich hatte der Durchschnitts-Student
im vergangenen Jahr zur Verfügung. Allerdings
hat ein Drittel der Studierenden höchstens 700
Euro, während gut jeder Vierte auf 1000 Euro und mehr kommt.
Tausende von Beschäftigten in US-amerikanischen FastFood-Restaurants haben Ende Juli für höhere Löhne gestreikt. Von New York bis Detroit und von Chicago bis St.
Louis traten die „Burger-Flipper“ in den Ausstand, um für
ihre Arbeit bei McDonald’s, Taco Bell, Subway und anderen Imbissketten einen Stundenlohn von 15 Dollar (etwa
11,30 Euro) einzufordern – rund das Doppelte des Mindestlohns von 7,25 Dollar. Die landesweite Kampagne
wird von der Dienstleistungsgewerkschaft SEIU und vielen lokalen Gruppen getragen und richtet sich gegen eine
notorisch arbeitnehmerfeindliche Branche, die durchschnittlich nur 9,05 Dollar pro Stunde bezahlt, weshalb
U n g le i c h e S t u de n t e n - B u dg e t s
Einnahmen pro Monat, Anteil Studierende 2012
Durchschnitt: 864 Euro
31 %
44 %
■ 1001 Euro und mehr: 26 %
■ unter 700 Euro:
■ 701 bis 1000 Euro:
Quelle: DSW Sozialerhebung, 2013
53%
Foto: John Minchillo/AP Photo
der Arbeitnehmer in Westdeutschland
arbeiten in Betrieben, für die ein Branchentarif gilt. Weitere 20 Prozent sind bei
Unternehmen beschäftigt, die sich zumindest am Branchentarif orientieren, für sieben Prozent gilt ein Haustarifvertrag (Stand 2012).
McDonald’s-Beschäftigte begehren auf gegen die Armutslöhne.
Zehntausende einem zweiten Job nachgehen und dennoch Essensmarken beziehen müssen. Nur wenige Wochen vor dem Streik hatte McDonald’s seine schlecht
bezahlten Angestellten mit einer Spartipp-Broschüre verhöhnt: Um über die Runden zu kommen, sollten sie zu
Fuß gehen, mit dem Fahrrad fahren oder nicht mehr die
gebührenpflichtigen Geldautomaten fremder Banken benutzen. Zwar bezweifeln selbst gewerkschaftsnahe Beobachter, dass die Arbeitgeber unmittelbar auf die Forderungen eingehen werden – bislang ist keines der rund
200 000 Imbissrestaurants gewerkschaftlich organisiert –,
sie hoffen jedoch, dass der mediale Druck Politiker in
Stadt- und Bundesstaatsparlamenten sowie im Kongress
empfänglicher für eine Erhöhung des Mindestlohns macht.
Unterdessen empfahl der chinesischstämmige US-Amerikaner, Wissenschaftler und frühere Redenschreiber Bill
Clintons, Eric Liu, den Arbeitgebern eine „patriotische“
Sichtweise: „Heute ist ein Viertel aller US-Angestellten
Geringverdiener. Wenn der Profit nicht fairer verteilt wird,
werden es in elf Jahren 50 Prozent sein“, warnte er. ■
B r a n c h e n ta r i f b le i b t pr äg e n d
Arbeitnehmer in Westdeutschland in Betrieben ...
■ mit Branchentarif
■ mit Orientierung am Branchentarif
20 %
53 %
■ mit Haustarif
7 %
■ ohne Tarif
20 %
Quelle: IAB, Juni 2013
22 900
Männer arbeiteten 2011 als
Kindergärtner bzw. Erzieher.
Das waren zwar fast doppelt
so viele wie zehn Jahre zuvor, gemessen an den 460 100 Erzieherinnen in Deutschland ist der Männeranteil noch immer sehr niedrig.
K i n de rg ä r t n e r i n n e n
b le i b e n u n t e r s i c h
Beschäftigte in Kinderbetreuung und
-erziehung, 2011 (2001 in Klammern)
Frauen:
460 100
(356 500)
Männer:
22 900
(11 900)
Quelle: Bundesagentur für Arbeit, Juli 2013
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7
BAG-Urteil
Rheinbahn
Punktesystem
für weniger Stress
Betriebsrat darf unbefristeter
Leih­arbeit widersprechen
Foto: Rheinbahn AG
Reisestrapazen – wer kennt das nicht? Sechseinhalb
bis neun Stunden auf Achse zu sein, für die gut 1200
Bus- und Bahnfahrer der Düsseldorfer Verkehrsbetriebe, der Rheinbahn, ist das tägliche Routine. Die Folge:
Stress. Darum wird ab November schrittweise die
Betriebsvereinbarung „Rote Karte für rote Dienste“
eingeführt. Gemeinsam mit dem Vorstand hat der
Betriebsrat ein Punktesystem entwickelt, das die Belastungen gleichmäßiger verteilen soll. Jeder Dienst
erhält Punkte nach Kriterien wie etwa Schichtlänge
oder der Anzahl der Fahrzeugwechsel. Dienste bis 51
Punkte gelten als grün, ab 68 Punkten ist ein Dienst
Rheinbahn-Arbeitsdirektor Klar (l.) und BR-Vorsitzender David
zeigen stressigen Arbeitsbedingungen die rote Karte.
rot. So sind die Dienste besser vergleichbar und können unter den Fahrern gerechter verteilt werden. Die
170 „roten Dienste“ sollen bis zum Sommer 2014 abgebaut sein. „Wir kommen damit nicht nur den gesundheitlichen Ansprüchen unserer Fahrer nach, sondern werden auch den Anforderungen einer längeren
Lebensarbeitszeit gerecht“, sagt Betriebsratsvorsitzender Uwe David, der auch berichtet, dass „andere
Verkehrsbetriebe großes Interesse an unserer Lösung
zeigen“. Diese steht am Ende eines längeren Prozesses. In einer Umfrage unter Rheinbahnfahrern wurden
die Stressfaktoren ermittelt. Das Ergebnis: Vor allem
die Schichtlänge und die Einhaltung der Fahrplanzeiten belasten die Fahrer. „Die Kollegen haben vormals
oft ihre Pausen verkürzen müssen, oder sie waren unpünktlich“, sagt David. „Das wirkte sich auch auf die
Kundenzufriedenheit aus.“ Dieses Argument überzeugte schließlich auch den Vorstand von der neuen
Betriebsvereinbarung.
■
8
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Leiharbeit darf nicht dazu missbraucht werden, eine Belegschaft dauerhaft
in Stammbeschäftigte und entliehene Arbeitnehmer aufzuspalten. Das
stellte das Bundesarbeitsgericht (BAG) in einer viel beachteten Entscheidung klar und sprach Betriebsräten daher das Recht zu, bei unbefristeter
Einstellung von Zeitarbeitskräften die Zustimmung zu verweigern. Die
2011 in Kraft getretene Gesetzesänderung, die Arbeitnehmerüberlassung
ausdrücklich nur „vorübergehend“ erlaubt, sei nicht lediglich als „unverbindlicher Programmsatz“ zu verstehen, betonten die Erfurter Richter. Eine
konkrete Höchstdauer legten sie allerdings nicht fest (Beschluss 7 ABR
91/11 vom 10. Juli 2013). Im verhandelten Fall ging es um die „Braunschweiger Zeitung“, die freie Stellen im Verlag seit einigen Jahren fast
ausschließlich mit Leiharbeitskräften besetzt – zu schlechteren Konditionen
als das Stammpersonal. An der genutzten Zeitarbeitsfirma sei die mittlerweile zum WAZ-Konzern gehörende Zeitung zudem selbst beteiligt,
berichtet Volker Stehr, langjähriger Betriebsratsvorsitzender der BZV Medienhaus GmbH. „Das war die absolute Sauerei.“ Dennoch habe der Betriebsrat vor Gericht reihenweise Niederlagen erlitten, wenn er der Besetzung von Stammarbeitsplätzen durch Leiharbeiter widersprochen hatte.
„Ich bin sehr froh, dass das BAG so entschieden hat“, sagt der 65-Jährige,
der im Frühjahr in den Ruhestand gewechselt war. ■
Betriebsr atswahl
H&M ruft die Polizei
Eine Provinzposse hat sich bei der Betriebsratswahl in einer Filiale von
H&M in Heilbronn abgespielt: Der Filialleiter des schwedischen Bekleidungshauses störte sich am Besuch eines ver.di-Wahlbeobachters. Dabei
hatte ver.di-Sekretär Thomas Müssig den weiteren Gewerkschafter tags
zuvor sogar angekündigt – ohne dabei auf Widerstand zu stoßen. Dennoch rief der Marktleiter während der laufenden Wahl die Polizei, um den
unliebsamen Besucher rausschmeißen zu lassen. Doch die rückte vergeblich an. Denn rechtzeitig vor ihrer Ankunft hatte Müssig den Gesamtbetriebsrat von H&M eingeschaltet. Und der wiederum alarmierte die deutsche Geschäftsleitung des Konzerns. Ihr gelang es, den zornigen Filialleiter
zur Räson zu bringen. „Ab einer bestimmten Ebene setzt dann eben doch
die Vernunft ein“, sagt Müssig. Die sechs Polizisten trollten sich schließlich
und hätten ohnehin unrecht daran getan, den ver.di-Mann vor die Tür zu
setzen. Denn auf Einladung des Wahlvorstands genoss er Zutritts- und
Aufenthaltsrecht. Mittlerweile hat der neue Betriebsrat seine Arbeit aufgenommen. Bei einer Wahlbeteiligung von 70 Prozent haben die 56 Beschäftigten vier Frauen und einen Mann bestimmt. „Hauptziel ist es zunächst,
Arbeitszeiten normenkonform und arbeitnehmerfreundlich zu gestalten“,
sagt Müssig. Immer wieder käme es vor, dass Beschäftigte an eigentlich
freien Samstagen doch arbeiten müssen.
■
PRO & CONTR A
Fotos: WEG e.V.; Jörn Boewe
Sollen wir in Deutschland „Fracking“
zur Erdgasförderung nutzen?
Josef Schmid ist Hauptgeschäftsführer des Wirtschaftsverbandes
Erdöl- und Erdgasgewinnung e.V.
Inga Römer ist Fracking-Expertin beim Bund für Umwelt und
Naturschutz Deutschland (BUND).
„Ja, denn Erdgas ist die Basis für ein verlässliches
„Nein, denn die Gefährlichkeit die-
und bezahlbares Energiesystem. Derzeit deckt die Erdgasproduktion­
im Land etwa zwölf Prozent des deutschen Bedarfs – das schafft ein
Stück Unabhängigkeit von Lieferquellen im Ausland. Das
­Frac-Verfahren, mit dem Erdgas aus sehr dichten Gesteinsformationen gewonnen wird, ist in Deutschland hochentwickelt und längst
bewährt. Schon seit den 1960er Jahren wird die Frac-Technologie
erfolgreich und umweltverträglich zur Erschließung konventioneller
Lagerstätten angewandt – etwa in der Produktion von Tight Gas.
Das sind tief gelegene, in Sandsstein eingeschlossene Vorkommen.
Die Frac-Technologie hat spürbaren Einfluss auf unsere Versorgungs­
sicherheit. Schon heute kommt jeder dritte im Land produzierte
Kubikmeter Erdgas aus Bohrungen, die mit dem Frac-Verfahren
erschlossen wurden. Damit werden heute rund zwei Millionen Haushalte in Deutschland mit Erdgas versorgt. Künftig wird dieses Verfahren an Relevanz gewinnen, denn mit der etablierten Technologie
kann auch der Zugang zu unkonventionellen Ressourcen in Kohleflözen und Schiefergesteinen gelingen. Deren Erkundung steht noch
am Anfang, hier liegt aber ein enormes Potenzial, für die kommenden Jahrzehnte zu einer stabilen Energieversorgung beizutragen.“
ser Hochrisikotechnologie ist mittlerweile erwiesen. In den USA, wo
das Verfahren seit einiger Zeit angewandt wird, führte Fracking in
ländlichen Regionen Pennsylvanias zu ständiger Lärmbelästigung
und erheblicher Luftverschmutzung. In Oklahoma gab es zwischen
1977 und 2008 insgesamt 28 Erdbeben, nachdem Fracking großflächig angewendet wurde, waren es 2009 und 2010 bereits 134. Durch
die verwendeten Chemikalien, die mit hohem Druck in den Boden
gepresst werden, um Gesteinsschichten aufzubrechen, können Böden
und Trinkwasserquellen vergiftet werden. Trinkwasservergiftungen,
erhöhte Erdbebengefahr, Lärmbelastung und Luftverschmutzung in
einem dicht besiedelten Land wie Deutschland? Nein danke! Außerdem würden die Schiefergasvorkommen hierzulande für gerade mal
zehn Jahre reichen. Langfristige Preisstabilität und Unabhängigkeit
durch die Nutzung eigener Gasressourcen sind Utopie. In Zeiten des
Klimawandels und der Energiewende brauchen wir in Deutschland
keine risikoreiche Gasfördermethode, sondern den weiteren Ausbau
der erneuerbaren Energien sowie mehr Energieeffizienz und -einsparungen. Das risikoreiche und unwirtschaftliche Fracking-Verfahren
sollte deshalb bei uns verboten werden.“
■
Mitbestimmung 9/2013
9
Fotos: Michael Hughes
TITEL
Die gespaltene
Demokratie
Forscher erwarten, dass bei den Bundestagswahlen 2013 weniger
Menschen mitmachen als jemals zuvor. Nichtwählen wird bei einem Teil der
sozial Schwachen die neue Norm. Gegensteuern fällt den Parteien schwer.
MILIEUS
Von ANDREAS MOLITOR , Journalist in Berlin. Der Autor wohnt mit seiner Familie im Falkenhagener Feld.
E
„NEIN, DANKE!“: Eine
Passantin lehnt ein FlyerAngebot des SPD-Abgeordneten Swen Schulz ab.
igentlich bräuchte Swen Schulz bei seinem Spaziergang durch das Falkenhagener Feld nur den
Leuten in den Mund zu schauen, die ihm entgegenkommen. Auffallend viele Menschen in
dieser Wohnsiedlung ganz am Rand des Berliner Bezirks
Spandau haben kaum noch Zähne im Mund, nur kümmerliche Fragmente sind geblieben. Selbst bei Kindern
ragen mitunter schwarze Stümpfe aus dem Kiefer. Fehlt
den Menschen hier tatsächlich das Geld für den Zahnarzt,
fragt man sich unwillkürlich. Oder ist es ihnen einfach
egal, wie es in ihrem Mund aussieht? Swen Schulz, SPDBundestagsabgeordneter für Berlin-Spandau und den
Charlottenburger Norden, hat keine Zeit für Gedankenspiele über Zahnhygiene. Der schlaksige, jungenhaft wirkende Politiker hat seine Umhängetasche voll mit SPDFlyern, die er unters Volk bringen will. Bleierne Schwüle
liegt über der Stadt, die Luft steht wie eine Mauer zwischen
den Häusern. In einer kleinen Einkaufspassage im Schatten eines Elfgeschossers, wo das Schmatzen von Bade-
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11
die mit Anfang zwanzig schon so aussehen, als halte das Leben für sie nicht
mehr allzu viel bereit. In den Einkaufswagen liegt viel billiger Schnaps. „Hier
leben Menschen, die sich daran gewöhnt haben, weniger zu besitzen, weniger
zu tun und weniger zu erwarten, als bisher für die Existenz als notwendig
angesehen worden ist.“ So steht es in der berühmten sozialwissenschaftlichen
Studie „Die Arbeitslosen von Marienthal“ aus den 30er Jahren, einer Chronik
des wirtschaftlichen, sozialen und moralischen Verfalls eines niederösterreichischen Dorfes nach der Schließung der ortsansässigen
In manchen Stimmbezirken in Berlin machten
Textilfabrik. Es gibt Orte, da trifft der Satz auch 80 Jahre später
noch zu. Schulz’ letzter Bundestagswahlkampf – der 45-Jährige tritt
bei der letzten Bundestagswahl nicht mal
in diesem Jahr zum vierten Mal an – verlief wenig erfolgreich. Er
40 Prozent der Wahlberechtigten ihr Kreuz.
verlor den Wahlkreis an den Konkurrenten von der CDU. Nur ein
guter Platz auf der Landesliste rettete sein Mandat. Was ihn fast
spräch verwickeln. Doch leider ist die über ihren Rollator noch mehr ärgert: Sein Wahlkreis zählt mittlerweile zu den Niststätten der
gekrümmte Frau nachmittags um drei schon so betrunken, Wahlmüdigkeit. Im Falkenhagener Feld machten in manchen Stimmbezirken
dass der Kandidat nicht mal in Ansätzen versteht, was sie nicht mal 40 Prozent der Wahlberechtigten ihr Kreuz. In den 70er Jahren, als
ihm sagen will. Schulz bleibt höflich. Er ist froh, als er Brandt gegen Barzel antrat und Schmidt gegen Kohl, waren es noch weit über
weitergehen kann. Das Falkenhagener Feld, wo alt gewor- 80 Prozent.
dener Beton das Bild dominiert, zählt zu jenen Berliner
Vierteln, die auf dem abschüssigen Weg von der Muster- rückgang der wahlbeteiligung als STARKer trend_ Die 72er-„WillySozialsiedlung zum Wohnquartier der Entbehrlichen weit Wahl“ markiert eine Zäsur in der Geschichte der deutschen Wahlstatistik –
vorangekommen sind. Die Arbeitslosenrate schätzt Schulz nicht nur im Falkenhagener Feld. Damals schnellte die Wahlbeteiligung
auf 30 Prozent, den Anteil der Hartz-IV-Empfänger noch bundesweit auf den Rekordwert von 91,1 Prozent. Danach sank die Beteiligung
höher. Hier wohnen Alte mit kleiner Rente, Russland- peu à peu auf knapp unter 80 Prozent, erreichte bei der Kohl-Abwahl 1998
Aussiedler, junge türkische Männer, die viel Zeit im Fit- mit 82,2 Prozent ein kleines Zwischenhoch und sackte dann bis 2009 auf 70,8
nessstudio verbringen, und abgehängte Ur-Berliner, die Prozent – den niedrigsten Wert seit 1949.
Jahrzehntelang interpretierten Wahlforscher den Rückgang der Wahlbeteivon der Wucht der Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt
aus der Bahn geworfen wurden. An den Rand der Stadt, ligung als eine unbedenkliche Annäherung an „normale“ Verhältnisse in anan den Rand der Gesellschaft. Man sieht junge Mütter, deren Ländern. Erst jüngste Analysen legen nahe, dass die Erosion der Wahllatschen durch die Häuserschlucht hallt, nähert Schulz
sich dem Wahlvolk. „Schönen guten Tag, Schulz mein
Name, eine kleine Info von mir?“ Die meisten nehmen
das Faltblatt mit Schulz’ Konterfei kommentarlos, manche
winken auch ab. Nur eine alte Frau, schwer gezeichnet
von jahrzehntelanger Trunksucht, will Schulz in ein Ge-
12
Mitbestimmung 9/2013
TITEL
SPAZIERGängerin mit
hunden; WOHNSILO;
JUNGE FAMILIE: Wohnquartier der Entbehrlichen
bereitschaft eine bedenkliche soziale Schieflage aufweist. Denn sie geht vor
allem auf das Konto der sozial schwachen Bevölkerungsschichten, in denen
der Urnengang oft die einzige Form der politischen Partizipation war. So
fanden die Allensbach-Demoskopen im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung heraus, dass der Abstand in der Wahlbeteiligung zwischen dem bestverdienenden
Fünftel der Bevölkerung und dem Fünftel mit den niedrigsten Einkommen
zwischen 1972 und 2009 dramatisch zugenommen hat – von fünf auf 19
Prozent. Nach ihrer Wahlabsicht für die kommende Bundestagswahl gefragt,
gaben nur noch 31 Prozent der Wahlberechtigten aus der Unterschicht an,
dass sie „bestimmt zur Wahl gehen“ – gegenüber 68 Prozent bei der oberen
Mittelschicht und der Oberschicht. Fazit der Studie: „Menschen mit einem
geringeren Bildungshintergrund, weniger Einkommen und insgesamt geringerem Sozialstatus gehen weitaus weniger zur Wahl, als dies Menschen mit
höherer Bildung und besserem Einkommen tun.“
Der Befund lässt sich übertragen auf Wohngebiete wie das Falkenhagener
Feld. Thorsten Faas, Professor für Methoden der empirischen Politikforschung
an der Uni Mainz, hat Daten der amtlichen Statistik ausgewertet. Er sagt: „Je
höher die Sozialhilfequote und Arbeitslosenquote in einer Gemeinde ist, desto niedriger liegt dort die Wahlbeteiligung.“ Zu fast gleichlautenden Resultaten kam Faas’ Kollege Armin Schäfer vom Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in Köln nach einer Analyse der Wahldaten in 15 deutschen
Städten. Schon ein Schnell-Check der Wahlkreise mit der niedrigsten Beteiligung an der Bundestagswahl 2009 zeigt deutliche Korrelationen: Die fünf
Wahlreviere – Anhalt, Mansfeld, Burgenland-Saalekreis, Stralsund-Nordvorpommern-Rügen und Duisburg II – weisen allesamt eine weit über dem Schnitt
ihres Bundeslandes liegende Arbeitslosen- und Hartz-IV-Quote sowie eine
stark unterdurchschnittliche Kaufkraft auf.
Der Rückzug von der Politik birgt ein hohes Ansteckungspotenzial. „Wenn
man in einer höchstens durchschnittlichen Wohngegend oder in einem Viertel
mit hohem Nichtwähleranteil wohnt“, schreibt Armin
Schäfer, „dann verringert sich – unabhängig von anderen
individuellen Merkmalen – die Bereitschaft, wählen zu
gehen.“ Damit verabschieden sich ganze Wohnquartiere
mehrheitlich aus der Teilhabe am politischen Leben; ihre
Bewohner werden mit ihren Interessen nach und nach
unsichtbar. Wie hieß es in der Marienthal-Studie über die
„müde Gemeinschaft“: „Der Eindruck, den wir gewinnen,
ist der einer abgestumpften Gleichmäßigkeit.“
NICHTWÄHLEN ALS NEUE SOZIALE NORM_ Doch damals
blieb die Wahlbeteiligung stabil bei über 90 Prozent. In
den 30er Jahren galt der Urnengang noch als staatsbürgerliche Pflicht. Diese „Wahlnorm“, nach der es in einer
Demokratie zu den Bürgerpflichten gehört, regelmäßig
zur Wahl zu gehen, hat vor allem am unteren Rand der
Gesellschaft deutlich an Bindungskraft verloren. Nach der
aktuellen Bertelsmann-Studie sehen nur noch 55 Prozent
der Angehörigen der Unterschicht im Wählen eine Bürgerpflicht; in der Mittel- und Oberschicht sind es 82 Prozent. „Wahlen spielen für diese Menschen keine Rolle
mehr, sie sind ihnen egal“, urteilt Johanna Klatt, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Göttinger Institut für Demokratieforschung, die gemeinsam mit Institutschef Franz
Walter das Engagement sozial Benachteiligter erforscht.
„Warum sollte jemand wählen, wenn er weiß, dass er auf
dem ersten Arbeitsmarkt keine Chance hat oder dass er
ohne Schulabschluss niemals einen Ausbildungsplatz bekommt?“ In der Nichtwahl sieht Franz Walter eine
Mitbestimmung 9/2013
13
der neuen Normen, „die sich auf diese Weise quartiersbezogen entwickelt haben. Man fühlt sich vom dominanten
Teil der Gesellschaft verlassen und sieht infolgedessen
auch keinen Grund, an deren Vereinbarungen und Verständigungsmustern mitzuwirken.“ Wenn ein Mensch aus
freiem Willen entscheidet, der Wahl fernzubleiben, ist das
demokratietheoretisch maximal ein Schönheitsfehler, aber
kein ernstes Problem. Aber geht es hier noch ums Wollen?
Oder geht es vielmehr ums Können?
Politikforscher Thorsten Faas hegt erhebliche Zweifel,
ob in der zunehmend wahlabstinenten Unterschicht „individuelle Eigenschaften, die als notwendige Bedingung
für politische Partizipation gegeben sein müssen“, noch
ausreichend vorhanden sind. Mit dem Räsonieren der
bildungsbürgerlichen Wahlverweigerer, die dem Wahllokal
fernbleiben, weil das politische Angebot ihnen intellektuell zu armselig erscheint, hat das nichts gemein. „Wenn
schen Entscheidungen betroffen ist? Faas hält die Diskussion über die Einführung einer Wahlpflicht für überfällig. „Das würde zumindest die Rationalität
des Kalküls der Parteien durchbrechen, dass es sich nicht lohnt, sich um die
Interessen von Menschen zu kümmern, die ohnehin nicht wählen“, hofft er,
wohl wissend, dass eine Wahlpflicht in Deutschland kaum mehrheitsfähig ist.
Doch es
muss auch andere Wege geben. Nach einer Forsa-Umfrage im Auftrag der
Friedrich-Ebert-Stiftung glauben 87 Prozent der Nichtwähler, ihre Wahlbereitschaft könne dadurch erhöht werden, „dass die Politiker wieder ein Ohr
für die wirklichen Sorgen und Nöte der Menschen haben“. Gesucht werden
nicht Lautsprecher, sondern Kümmerer. Das ist das Stichwort für Swen Schulz.
Der SPD-Mann sagt bewusst nicht „Wahlkampf“, sondern geht schon seit
Jahren „auf Kümmertour“. Der Schulz, der kümmert sich, soll bei den Leuten
haften bleiben, den Schulz kannste wählen. Hin und wieder kann er tatsächlich etwas bewegen: dafür sorgen, dass eine Sozialarbeiterin an einer Schule
bleiben kann oder dass ein Mann, der nicht mal mehr genug Geld für eine
Büchse Ravioli hat, weil ihm die Stütze gestrichen wurde, beim
Jobcenter zum richtigen Sachbearbeiter vorgelassen wird. GeholWer sich vom dominanten Teil der Gesellschaft
fen hat es dem SPD-Mann bei der letzten Wahl aber nicht.
Es gibt noch etwas anderes im Kiez. Eine Ebene des bürgerverlassen fühlt, sieht keinen Grund mehr, an
schaftlichen Engagements, die sich zwischen Politik und Kiezbederen Vereinbarungen mitzuwirken.
wohnern, zwischenLeuten wie Schulz und den Menschen in
Jogginghosen und Badeschlappen formiert hat. „Viertelgestalter“
die Wahlen so erhebend sind wie ein Sonntag bei der nennen Franz Walter und Johanna Klatt jene, die im Viertel leben, sich für
Schwiegermutter mit zu viel Bienenstich, dann stimmt das Viertel engagieren und dadurch den einen oder anderen aus der Apathie
etwas nicht“, begründet etwa der philosophisch vorgebil- reißen. Auch im Falkenhagener Feld gibt es sie. Die „Nachbarn im Kiez“
dete „Spiegel“-Autor Georg Diez seine Wahlabstinenz. Im organisieren kostenlose Nachhilfe für Grundschüler; die Eltern aus der Initiative „Stark für die Zukunft“ geben Kindern Unterricht in Gitarre, trommeln
Falkenhagener Feld gibt es sonntags keinen Bienenstich.
Mit Blick auf solche Wohnquartiere sieht die Bertels- und Keyboard; es gibt eine Stadtteilzeitung, Stadtteilfeste und eine Ehrenamtsmann-Stiftung die Gefahr einer „gespaltenen Demokratie“ börse. Schulz könnte auch mit den Viertelgestaltern durch die sommerliche
heraufziehen. Wenn die Entbehrlichen als Wähler immer Gluthitze ziehen statt mit seinen beiden Praktikanten, die eifrig Flyer unters
weniger in Betracht kommen, warum sollten die Parteien Volk bringen.
Doch wie unendlich lang sind die Aktivierungsketten, die sich – vielleicht –
dann auf sie noch besondere Rücksicht nehmen? Warum
sollten Politiker, wie SPD-Chef Sigmar Gabriel es vor ei- irgendwann einmal in zählbaren Wählerstimmen niederschlagen? Schulz will
nigen Jahren gefordert hat, „raus ins Leben; da, wo es Kümmerer sein; er sagt aber auch: „Ich renne hier nicht als Aktivator für den
laut ist; da, wo es brodelt; da wo es manchmal riecht, Kiez rum.“ Stattdessen muss er sich in den Haustürwahlkampf stürzen, obwohl
gelegentlich auch stinkt“? Wenn es doch ertragreicher er das Hausieren an Wohnungstüren „tendenziell übergriffig“ findet. SPDerscheint, sich an den Präferenzen derer zu orientieren, Generalsekretärin Andrea Nahles hat vorgegeben, dass die Partei-Companedie mit einiger Wahrscheinlichkeit zur Wahl gehen. Die ros in diesen Wochen an fünf Millionen Wohnungstüren klingeln sollen. „Ich
Interessen derjenigen, die zur Unterschicht gehören, fallen weiß nicht, ob das in einem Viertel wie dem Falkenhagener Feld der Knaller
dann schnell unter den Tisch.
ist“, sagt Schulz und denkt wohl schon an die vielen Türen, die sich nicht
Wie kann man gestrauchelte Menschen, gestrauchelte öffnen. Länger als zwei, drei Minuten sollten die Gespräche ohnehin nicht
Wohnquartiere wieder zurückholen ins Gemeinwesen? dauern, heißt es in einer Handreichung aus dem Willy-Brandt-Haus. Wörtlich
Wie könnte die demokratische Re-Integration derer funk- steht in dem Papier: „Ausführliche Diskussionen sollten an der Tür vermieden
tionieren, deren Leben letztlich am stärksten von politi- werden.“
■
14
Mitbestimmung 9/2013
SCHULZ SAGT NICHT „WAHLKAMPF“, SONDERN „KÜMMERTOUR“_
TITEL
Niemand
plant, die
Mitbestimmung
einzuschränken
Anders als in früheren Jahren profiliert
sich keine Partei mit mitbestimmungsfeindlichen
Plänen. Selbst die FDP blendet das Thema aus. Ein
Blick auf die Wahl- und Regierungsprogramme
ANALYSE
Von MARIE SEYBOTH , Leiterin der Abteilung Mitbestimmungspolitik und
Justiziarin beim DGB-Bundesvorstand, und RAINALD THANNISCH , in der
gleichen Abteilung tätig als politischer Referent
ALLGEMEINPLÄTZE VON DER UNION_ CDU und CSU
verweisen in ihrem Regierungsprogramm darauf, dass das
Zusammenspiel von Gewerkschaften, Betriebs- und Personalräten sowie Arbeitgebern sich ebenso wie die Tarifautonomie gerade in der Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise bewährt habe. Wörtlich heißt es: „Für uns bleiben
Sozialpartnerschaft, Tarifautonomie und Mitbestimmung
wesentliche Grundlagen unserer sozialen Marktwirtschaft.“ Diese Äußerung stellt – so allgemein sie auch sein
mag – einen wesentlichen Unterschied zu dem Regierungsprogramm von 2009 dar, in dem keinerlei Aussagen zur
Mitbestimmung oder zu Betriebsräten zu finden waren.
Dennoch bleibt Raum für Spekulationen, ob und wie
eine unionsgeführte Regierung wichtige Zukunftsfragen
der Mitbestimmungspolitik angehen wird. Zum Thema
Werkverträge wird – auch hier wieder in sehr allgemeinen
Worten – darauf hingewiesen, dass diese ein „wichtiges
Instrument am Arbeitsmarkt“ seien. Gerade deshalb sei
mit den Sozialpartnern sicherzustellen, dass diese nicht
missbraucht werden, „um bestehende Arbeitsregeln und
Lohnuntergrenzen zu unterlaufen“. Auf die großen Herausforderungen der Unternehmensmitbestimmung, die in
der Harmonisierung des Gesellschaftsrechts in Europa
und in der grenzüberschreitenden Mobilität der Unternehmen liegen, geben CDU und CSU keine Antworten.
Die Unverbindlichkeit im
Wahlprogramm von CDU und CSU wird vom „Bürgerprogramm“ der FDP noch getoppt. Die Partei verzichtet
konsequent darauf, Aussagen zur Mitbestimmung zu treffen. Stattdessen spricht sie sich für eine Stärkung der Aktionärsrechte aus: „Deshalb wollen wir beispielsweise den
Einfluss der Hauptversammlung auf die Vergütung
KEIN THEMA FÜR DIE FDP_
Mitbestimmung 9/2013
15
des Managements stärken, indem wir Vergütungen der Vorstände oberhalb bestimmter Rahmenvorgaben und Beträge an die Zustimmung
durch die Gesellschafter knüpfen.“ Doch wer
sind die Gesellschafter? Die meisten Aktien gehören nationalen und internationalen institutionellen Anlegern. Im DAX 30 werden 62 Prozent der Aktien von institutionellen Investoren
wie Banken, Versicherungen, Pensions- oder
Hedgefonds sowie Private-Equity-Gesellschaften gehalten. Wer die Rechte der Gesellschafter
stärken will, sollte zugeben, dass er die Rechte
der Finanzinvestoren stärken und die der demokratisch gewählten Arbeitnehmervertreter im
Aufsichtsrat schwächen will.
Die
SPD bekennt sich in ihrem „Regierungsprogramm“ ausdrücklich zur Mitbestimmung.
Dort heißt es: „Wir wollen mehr Demokratie
im Betrieb. Mitbestimmte Unternehmen sind
auch wirtschaftlich erfolgreicher. Mitbestimmung ist ein wesentliches Element unserer Vorstellung von Wirtschaftsdemokratie und hat
sich bewährt. Wirtschaftsdemokratie durch
Mitbestimmung erfüllt die Forderung des
Grundgesetzes: ‚Eigentum verpflichtet.‘ Wir
wollen die Mitbestimmung – auch auf europäischer Ebene – stärken und eine Flucht aus der
Mitbestimmung wirkungsvoll verhindern.“
Konkret spricht sich die SPD bei der Unternehmensmitbestimmung für einen gesetzlichen
Mindestkatalog zustimmungspflichtiger Geschäfte und für die Absenkung der Schwellenwerte der paritätischen Mitbestimmung auf
1000 Beschäftigte aus. Damit werden zentrale
mitbestimmungspolitische Forderungen des
DGB aufgenommen. Positiv ist hervorzuheben,
dass die SPD eine „Flucht vor der Mitbestimmung“ durch ausländische Unternehmen mit
Sitz in Deutschland verhindern will, indem die
Unternehmensmitbestimmung auch für diese
Unternehmen gelten soll. Diese Forderung unterstützt die Gewerkschaften und ist ein wichtiger Schritt in Richtung „soziales Europa“.
Denn die Unternehmensmitbestimmung ist Ausdruck der Gleichberechtigung von Kapital und
SPD: KLARES JA ZUR MITBESTIMMUNG_
16
Mitbestimmung 9/2013
Arbeit, sie steht für eine an sozialen, nachhaltigen und ökologischen Belangen ausgerichtete
Unternehmenspolitik. Diese Prämissen müssen
für alle Kapitalgesellschaften, die in Deutschland tätig sind, gelten, unabhängig von ihrer
Rechtsform.
Schade ist, dass die SPD in ihrem Regierungsprogramm darauf verzichtet, wie vom DGB
gefordert, weitere Elemente der erfolgreichen
Montanmitbestimmung in das Mitbestimmungsgesetz von 1976 aufzunehmen. Im Regierungsprogramm findet sich kein Hinweis auf
die Einführung einer neutralen Person in den
Aufsichtsrat und auch keine Forderung nach
einem Vetorecht der Arbeitnehmerbank bei der
Bestellung des Arbeitsdirektors im Mitbestimmungsgesetz. Damit fällt es hinter einen Antrag
der SPD-Bundestagsfraktion vom 16. Juni 2010
zurück, in dem beide Forderungen bereits erhoben wurden.
Die SPD will durch eine stärkere Beteiligung
der Betriebsräte prekäre Beschäftigung zurückdrängen. Dies gilt insbesondere für Umfang und
Dauer von Leiharbeit, befristeter Beschäftigung
und Werkverträgen im Betrieb. Beim Einsatz
von Fremdbeschäftigten fordert die SPD, die
frühzeitigen Beratungs- und Verhandlungsrechte des Betriebsrats auszuweiten und das Zustimmungsverweigerungsrecht bei dem Einsatz von
Fremdpersonal zu verbessern. Außerdem sollen
die Mitbestimmungsrechte bei der Weiterbildung und beim Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz ausgeweitet werden. Im Bereich der Vorstandsvergütung fordert die SPD die Begrenzung
der steuerlichen Absetzbarkeit von Vorstandsund sonstigen Managergehältern auf 500.000
Euro und eine Festschreibung im Aktiengesetz,
dass Unternehmen nicht nur den Aktionären,
sondern auch den Arbeitnehmern sowie dem
Wohl der Allgemeinheit verpflichtet sind. Damit
greift die Partei eine zentrale gewerkschaftliche
Forderung auf.
UNTERSTÜTZUNG AUCH BEI DEN GRÜNEN_ Die
Partei Bündnis90/Die Grünen fordert, das bewährte Recht von Beschäftigten und Gewerkschaften, sich an betrieblichen und unternehmerischen Entscheidungen zu beteiligen, zu
bewahren und auszubauen. Positiv ist auch ein
Passus, wonach die Mitbestimmungsrechte „der
sich verändernden Arbeitswelt gerecht werden“
TITEL
müssen. Das gelte für den Einsatz von Leiharbeit
und Werkverträgen im Betrieb. Konkret fordern
die Grünen, dass Leiharbeitnehmer die gleichen
Rechte ­haben sollen wie Festangestellte und
dass die Betriebsräte in den Entleihbetrieben
eine „verbesserte Mitbestimmung“ erhalten
sollen. Weiterhin wird die Ausweitung der Mitbestimmungsrechte der Betriebsräte bei Umstrukturierungen gefordert, ohne jedoch genauer auf die Forderungen einzugehen.
Bei der Unternehmensmitbestimmung fordert die Partei genau wie die SPD, die Reichweite der paritätischen Mitbestimmung auf Unternehmen ab 1000 Beschäftigten auszuweiten,
ebenso die Geltung der Unternehmensmitbestimmung auch für ausländische Rechtsformen.
Die Europäischen Betriebsräte sollen gestärkt
und die grenzüberschreitende Mitbestimmung
zum Kernstück des Europäischen Sozialmodells
gemacht werden. Bedauerlicherweise spricht
sich die Partei jedoch auch – genauso wie die
FDP – dafür aus, dass die Vergütung von Vorständen börsennotierter Unternehmen zukünftig der verbindlichen Zustimmung der Hauptversammlung unterliegen soll. Die Grünen
sollten berücksichtigen, dass sich die Aktionärsdemokratie schnell als Mythos entpuppt, da
viele Hauptversammlungen von institutionellen
Investoren dominiert werden, die üblicherweise
nicht im Verdacht stehen, sich für eine Begrenzung der Vorstandsvergütung auszusprechen.
DIE LINKE: VON DER MIT- ZUR SELBSTBESTIM-
Die Linke fordert in ihrem Wahlprogramm eine „Demokratisierung der Wirtschaft“
u. a. durch eine Ausweitung der Mitbestimmungsrechte auf betrieblicher und Unternehmensebene sowie die Beteiligung der Beschäftigten am Produktivkapital. Die Partei fordert, dass
ohne Zustimmung des Betriebsrates künftig
keine Leiharbeit nachgefragt werden darf und
keine Werkverträge vergeben werden dürfen.
Zudem erklärt die Linke, Initiativen unterstützen zu wollen, die die „weißen Flecken der Mitbestimmung, wie Betriebe ohne jegliche Mitwirkung der Beschäftigten“, beseitigen sollen.
Diese Forderung erscheint auch aus gewerkschaftlicher Sicht als sinnvoll, weil nach aktuellen Daten des IAB nur 43 Prozent der Beschäftigten in West- und 36 Prozent der Beschäftigten
in Ostdeutschland (in privatwirtschaftlichen
MUNG_
Betrieben ab fünf Beschäftigten) in einem Betrieb
mit Betriebsrat arbeiten.
Unter der Überschrift „Wirtschaft demokratisieren: von der Mitbestimmung zur Selbstbestimmung“ fordert die Partei über die Erweiterung der Mitbestimmungsrechte (u. a. durch die
Ausdehnung der Mitbestimmungsgesetze auf
Scheinauslandsgesellschaften und die Absenkung der Schwellenwerte) hinaus die Schaffung
überbetrieblicher Branchenbeiräte, in die Unternehmen, die Wissenschaft, Umwelt- und
Konsumentenverbände sowie Gewerkschaften
einbezogen werden sollen. Managergehälter
sollen auf das 20-Fache der untersten Lohngruppe des jeweiligen Unternehmens beschränkt
werden. Die Linke legt im Gegensatz zu den
anderen Oppositionsparteien einen stärkeren
Schwerpunkt auf die Umsetzung wirtschaftsdemokratischer Konzepte. Diese gehen deutlich
über die gesetzliche Mitbestimmung hinaus.
Man kann also
festhalten, dass keine der derzeit im Bundestag
vertretenen Parteien offen Pläne verfolgt, die
einen Abbau der Mitbestimmung vorsehen.
Während die FDP das Thema schlichtweg ignoriert, bekennen sich CDU/CSU, SPD, Bündnis90/Die Grünen sowie die Linke ausdrücklich
zur Mitbestimmung, wobei sich die derzeitigen
Oppositionsparteien klar für eine Anpassung
der Mitbestimmung an aktuelle Herausforderungen wie die Zunahme von Werkverträgen
und die „Flucht vor der Mitbestimmung“ einsetzen. Eine Umsetzung dieser Forderungen
bietet einiges Potenzial, um die stets, wenn auch
langsam wachsende mitbestimmungsfreie Zone
in der Wirtschaft zu verkleinern. Die vorliegenden Wahlprogramme bieten daher eine gute
Grundlage für die längst überfällige Diskussion
zur Weiterentwicklung der gesetzlichen Mitbestimmung.
■
EIN BLICK IN DIE ZUKUNFT_
Mitbestimmung 9/2013
17
Das Thema
ist zweitrangig
Es gäbe für die Politik viel zu
tun in Deutschland – und dennoch dominiert
kein Thema den Wahlkampf­. Deswegen kommt
alles auf die Spitzenkandidaten an.
WAHLFAKTOREN
Von PETER LÖSCHE , Parteienforscher und emeritierter Professor
an der Universität Göttingen
D
er Bundestagswahlkampf hat bisher kein Thema an
die Oberfläche gespült, das zum Streit, zum Konflikt
oder zur Auseinandersetzung zwischen den Parteien
geführt hätte. Und das dürfte auch für die restlichen
Tage bis zum 22. September, dem Wahltag, gelten. Was für ein Wahlkampf – der eigentlich gar kein richtiger ist. Die Republik liegt
gleichsam unter einer bleiernen Decke, unter der kaum ein Mucks
hervordringt. Woran liegt das? Natürlich, dahinter steckt die „Sozialdemokratisierung“ der Politik durch die Vorsitzende der CDU.
Es gibt genug Themen für den Wahlkampf – aber genau das ist
das Problem: Es sind zu viele. Es sind Themen, die zweit- oder
drittklassig erscheinen, und keines ragt heraus. Weder die Energiewende noch die Eurokrise noch die Einführung des zweigliedrigen
Schulsystems noch der Abhörskandal, der Mindestlohn, die Mietbremse oder die Familienpolitik. Die meisten Themen hat die CDUVorsitzende von der SPD übernommen. Da bleibt für die Sozialdemokratie kaum mehr als der Vorschlag, die Vermögenssteuer wieder
einzuführen sowie die Erbschafts- und die Einkommenssteuer zu
erhöhen. Aber diese Forderungen reißen bekanntlich niemanden
vom Hocker. Im Hintergrund wabert das Megathema „soziale Gerechtigkeit“ – doch es ist ein Thema, das alle Parteien rhetorisch für
sich reklamieren, selbst die FDP mit ihrem „mitfühlenden Liberalismus“. Die Verhältnisse drängen kein dominantes Thema auf –
etwa eine so starke Zuspitzung der Eurokrise, dass jeder Bürger dies
bereits in seiner Geldbörse fühlt. Warum dieser lautlose, ja stumme
Wahlkampf? Warum die „schweigsamen“ Wähler?
18
Mitbestimmung 9/2013
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Politikwissenschaftler heben – nach dem in den 1950er Jahren in
den USA entwickelten Michigan-Modell – drei Faktoren hervor, die
das Wahlverhalten wesentlich bestimmen. Der erste Faktor ist die
traditionelle Parteiidentifikation: der berühmte rote Großvater, der
immer SPD wählt, oder sein Enkel, der bei jeder Wahl eine andere
Partei kürt, also Stammwähler im Unterschied zum Wechselwähler.
Der zweite Faktor ist ein großes Konfliktthema, das die Wähler
aufregt, emotionalisiert, mobilisiert, sodass sie an die Wahlurne gehen. Der dritte Faktor schließlich sind die Spitzenkandidaten selbst,
die danach streben, als Charismatiker zu erscheinen und durch ihre
Persönlichkeit und ihr Image die Wähler anzuziehen.
Die Stammwähler sind zu einer seltenen Spezies geworden. Nur
etwa zwölf Prozent der Wahlberechtigten wählen stets und ständig
jeweils CDU oder SPD. Die anderen Wähler wandern zwischen den
Parteien oder wählen überhaupt nicht, sie werden zu Nichtwählern.
TITEL
Im sozialwissenschaftlichen Jargon: Die Volatiliät steigt. Die Ursache
für diese Entwicklung: Die alten sozialmoralischen Milieus, das katholische und das gewerkschaftlich-facharbeiterliche, sind erodiert.
Entscheidend für das tatsächliche Wahlverhalten sind mithin die Spitzenkandidaten oder das den Wahlkampf dominierende­inhaltliche
Thema. Da es dieses Thema nicht gibt und sich nicht einmal zwei
oder drei Kontroversen herausgebildet haben, die im Vordergrund
stünden, kommt alles auf die beiden Spitzenkandidaten an.
Angela Merkel führt einen geschickt-schlitzohrigen Wahlkampf
angesichts einer Situation, die sie wesentlich selbst geschaffen hat. Sie
schwebt gleichsam über den rauen Wassern der Parteipolitik und der
internationalen Politik, sie wirkt präsidial, lässt sich auf allen Gipfeln
inszenieren, achtet darauf, in keinen Konflikt hineingelockt zu werden,
und meidet kontroverse Inhalte. Eine inhaltlich-thematische Auseinandersetzung würde die Bürger polarisieren, sie würde viele potenziell sozialdemokratische und grüne Wähler an die Wahlurne treiben.
Gleichwohl vermag Merkel Führungskraft zu dokumentieren, hat
sozialdemokratische und grüne Positionen gegen ihre eigene Partei
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28 %
Quelle: ARD-Deutschlandtrend
15.8.2013/Infratest dimap,
35. Kalenderwoche/Ende August
durchgesetzt, so die Energiewende, den (modifizierten) Mindestlohn,
die Familienpolitik, die Mietbremse. Ironisch zugespitzt: Merkels
Verhalten erinnert an Reichskanzler Otto von Bismarck. Der nämlich
hatte seine Sozialpolitik konzipiert, um den bei Wahlen erfolgreichen
Sozialdemokraten den Wind aus den Segeln zu nehmen.
Merkel wiederum kapert alle für den Wahlkampf der Sozialdemokratie relevanten politischen Themen, um den oppositionellen
Merkels Verhalten erinnert an Reichs­
kanzler Otto von Bismarck. Da kann
Steinbrück sich noch so abstrampeln.
Gegner dann in der Flaute stehen zu lassen. Da kann Peer Steinbrück
sich noch so abstrampeln – und neuerdings auch die einschlägigen
Fettnäpfchen umschiffen. Er mag in der Finanz- und Wirtschaftspolitik kompetenter sein als das schwarz-gelbe Kabinett zusammengenommen: Gegen die allgegenwärtige Übermutter vermag er nicht
viel auszurichten. Und er wird in der Öffentlichkeit auch nicht mit
einem knalligen Thema identifiziert, mit dem er der Kanzlerin Schach
bieten und die eigenen Parteigenossen mobilisieren könnte.
Die Wahlkämpfe der Jahre 1969 und 1972 waren für das Michigan-Modell wie aus dem Bilderbuch geschnitten. Ein Thema beherrschte damals die Auseinandersetzung zwischen CDU und SPD,
die beide gerade noch in einer großen Koalition miteinander verbunden waren: die Ostpolitik. Zwei prominente, bundesweit bekannte und bewunderte Spitzenkandidaten standen sich jeweils
gegenüber: im Jahr 1969 der amtierende Kanzler Kurt Georg Kiesinger und Willy Brandt, danach dann Rainer Barzel und noch einmal Brandt. Das katholische und das sozialdemokratische Milieu
waren damals relativ intakt, Parteiidentifikation funktionierte noch,
von der Erosion der Stammwählerschaft und von Volatilität war
noch nicht die Rede.
So unterschiedlich damals die drei Faktoren des Michigan-Modells von den verschiedenen Demoskopie-Instituten und von Wahlforschern auch gewichtet wurden, klar war, dass das die deutsche
Politik beherrschende Konfliktthema die Wahl entschied. Eben die
Ostpolitik. Die Wahlen kamen damals einer Volksabstimmung über
die zentrale politische Frage ziemlich nahe. Die Wahlbeteiligung
betrug mehr als 90 Prozent. Fast jeder fühlte sich angesprochen,
hatte seine eigene Meinung, erregte sich. Die Gefühle schlugen hoch.
Nichts davon ist heute zu spüren, kein Thema ist in Sicht, das die
Wähler elektrisieren, mobilisieren würde.
Wir dürfen uns nicht wundern, wenn wir am Abend des 22.
Septembers 2013 wieder einmal feststellen: Die Wahlbeteiligung ist
gesunken, dieses Mal liegt sie gar deutlich unter 70 Prozent. Und es
dürften nicht die Themen sein, die die Bundestagswahl entscheiden,
sondern das Vermeiden inhaltlicher Auseinandersetzung. Und ganz
wichtig: Die Spitzenkandidaten – mit dem Amtsbonus für Angela
Merkel und dem Oppositionsmalus gegen Peer Steinbrück.
■
Mitbestimmung 9/2013
19
T4 – Wiesehügel
„Die SPD ist heute
eine andere Partei“
Klaus Wiesehügel, der scheidende Vorsitzende der IG BAU, über seine Berufung
als Arbeitsminister ins Schattenkabinett Steinbrück und sein Verhältnis zur SPD.
INTERVIEW
Das Gespräch führten GUNTRAM DOELFS und k ay MEINERS.
20
Im Internet gibt es einen privaten Blog von
Ihnen. Der letzte Eintrag stammt von Ende
April. Kommen Sie zeitlich nicht mehr dazu,
oder müssen Sie stärker aufpassen, was Sie schreiben?
Vor allem komme ich nicht mehr dazu. Hinzu kommt:
Den Blog habe ich als Vorsitzender der IG BAU begonnen.
Als Mitglied des Kompetenzteams nutze ich andere Medien, das will ich nicht vermischen.
Die Agenda hat viele treue SPD-Anhänger, aber auch Gewerkschafter verbittert. Manche sind enttäuscht zur Linkspartei abgewandert. Hatten Sie nie
das Gefühl, dass die SPD nicht mehr Ihre politische Heimat ist?
Im Gegenteil: Ich habe versucht, andere vom Austritt abzuhalten, denn innerparteiliche Diskussionen müssen geführt werden. Die kann ich nicht
führen, wenn ich austrete. Es hat mich geärgert, als Leute die Partei verließen
und eine überflüssige neue Partei gründeten, mit der sie nichts bewegen
können.
Sie waren früher ein scharfer Kritiker der Agenda-Reformen. Ist die SPD heute eine andere Partei als unter Bundeskanzler Schröder?
Ja, mit Sicherheit. Das Regierungsprogramm unterscheidet sich ganz deutlich von dem Schröder-Blair-Papier, was
1999 diskutiert worden ist. Die Agenda 2010 ist zehn
Jahre her. Wir haben heute eine andere Situation. Die
SPD beschäftigt sich mit den aktuellen Problemen. Etwa,
dass sieben Millionen Menschen einen Stundenlohn unter
8,50 Euro bekommen und dass wir jedes Jahr Niedriglöhne, das heißt Lohnkosten der Unternehmen, mit mehr
als elf Milliarden Euro aufstocken.
Ist es Ihr Job als Vertreter des linken Flügels in der SPD, diese Leute wieder
zur SPD zurückzuholen?
Die SPD hat die große Chance, die zehn Millionen Menschen, die die SPD
mal gewählt haben und dies nicht mehr tun, wiederzugewinnen. Und genau
an der Stelle will ich mithelfen. Mir geht es vor allem um die Nichtwähler.
Wir wissen, dass viele Leute wegen Entscheidungen der vergangenen Jahre
noch immer stinkig auf die SPD sind. Deswegen kamen meine Parteifreunde
und sagten: Klaus, geh raus ins Land und sag den Leuten, was wir vorhaben.
Mitbestimmung 9/2013
Im Falle eines Wahlsieges wollen Sie umgehend einen gesetzlichen Mindestlohn von 8,50 Euro auf den Weg bringen. Die Wirtschaft warnt, so würden
Arbeitsplätze vernichtet.
Fotos: Stephan Pramme
TITEL
Die Warnung der Wirtschaft ist falsch. Es gibt Branchen, wo wir tarifvertragliche Mindestlöhne haben. Da hat der Mindestlohn keine Arbeitsplätze gekostet, obwohl er oft höher liegt als 8,50 Euro. Zudem gibt es Erfahrungen
mit Mindestlöhnen in vielen europäischen Ländern. Frankreich hat ihn traditionell. Großbritannien hat ihn 1999 eingeführt.
Mit umgerechnet rund 4,30 Euro pro Stunde. Heute liegt der britische Mindestlohn bei sechs Pfund, also rund 7,20 Euro.
Wichtig ist, dass der Mindestlohn dort seit der Einführung stark gestiegen ist.
Es gibt eigentlich nur positive Erfahrungen. Selbst die Amerikaner haben ihn.
Ich bin fest davon überzeugt, dass der Mindestlohn keine Arbeitsplätze kosten
wird. Vielleicht wird nicht mehr jeder Marktteilnehmer da sein, aber die Summe der Arbeitsplätze wird sich nicht reduzieren. Es gibt keinen empirischen
Beleg, dass der Mindestlohn in unseren Nachbarländern zum Abbau von
Beschäftigung geführt hat. Wir wollen allerdings, dass sich der Wettbewerb
über die Qualität der Produkte und der Leistung entscheidet, nicht über Billiglohn als Geschäftsmodell.
Sind nach dieser Logik die zehn Euro Mindestlohn, die die Linkspartei fordert, nicht noch besser?
Der DGB fordert 8,50 Euro, und wir orientieren uns am Vorschlag des DGB
und seiner Mitgliedsgewerkschaften. Es geht darum, den
Mindestlohn endlich gesetzlich durchzusetzen. Danach
werden wir eine Kommission einsetzen, die jährlich einen
Vorschlag für die Dynamisierung machen wird.
Welche Erfahrungen hat die IG BAU selbst mit dem Branchenmindestlohn auf dem Bau gemacht? Die Mitgliederzahlen der IG BAU haben sich in den letzten 15 Jahren
nahezu halbiert.
Wir wollten dem Lohnwettbewerb Grenzen setzen. Das
hat auch funktioniert, übrigens im Einklang mit den Arbeitgebern, die auf dem Bau den Mindestlohn unterstützen. Worüber wir uns streiten, ist die Höhe. Aber das ist
normales Tarifgeschäft. Was die Mitgliederzahlen der IG
BAU betrifft: 1995 begann die Krise am Bau, damals waren rund 1,4 Millionen Menschen beschäftigt. Heute haben wir rund 700 000 Beschäftigte am Bau. Dass sich so
etwas dramatisch auf die Mitgliederzahlen auswirkt, haben auch andere Gewerkschaften erlebt. Unser Organisationsgrad ist kaum verändert.
Mitbestimmung 9/2013
21
Arbeitsministerin von der Leyen spricht von einem stabilen Arbeitsmarkt und niedrigen Arbeitslosenzahlen. Trotz
Wirtschaftsboom haben wir seit vielen Jahren eine Sockelarbeitslosigkeit mit mehr als einer Million Langzeitarbeitslosen. Was wollen Sie als Minister dagegen tun?
Derzeit gibt es kaum noch aktive Arbeitsmarktpolitik.
Frau von der Leyen hat zugelassen, dass die Bundesagentur für Arbeit Zielvereinbarungen abschließt, um Arbeitslose so schnell wie möglich zu vermitteln. Ein größerer
Teil der Vermittlungen erfolgt in Zeitarbeitsfirmen, diese
Menschen stehen dann nach drei Monaten wieder bei der
Agentur auf der Matte. Dieser Drehtüreffekt geht zulasten
der Arbeitslosen und nimmt die Mitarbeiter der Agenturen
menbringen müssen. Ich möchte nicht, dass die Bundesagentur für Arbeit
weiterhin nur eine Vermittlungsorganisation ist. Wir brauchen so etwas wie
eine Arbeitsversicherung. Das heißt, es wird ein Beitrag gezahlt, der mich mit
neuer Arbeit versorgt, aber der mich auch qualifiziert für eine sich verändernde Arbeitswelt. Dafür braucht man natürlich Geld. Darüber möchte ich mit
den Arbeitgebern diskutieren. Eine Reihe von Demografie-Tarifverträgen zeigt,
dass das Problembewusstsein da ist.
Kommen wir zur Rente: Die SPD will 2014 prüfen, ob die Rente mit 67
ausgesetzt werden kann. Wenn Sie die Rente mit 67 für falsch halten, wäre
es nicht besser, sie ganz zu begraben?
2014 steht die Überprüfung an. Die Arbeitgeber haben versprochen, altersgerechte Arbeitsplätze zu schaffen. Die Zusage ist nicht erfüllt worden. Wenn
im nächsten Jahr nicht mindestens die Hälfte aller
Leute zwischen 60 und 64 Jahren auch arbeitet,
werden wir die Rente mit 67 aussetzen.
„Wenn nicht die Hälfte aller Leute zwischen
60 und 64 auch Arbeit hat, setzen wir die
Rente mit 67 aus.“
stark in Beschlag. Sie sind kaum in der Lage, ein klares
Profiling für jeden Arbeitslosen zu machen, um ihn gezielter vermitteln zu können.
Was würden Sie anders machen?
Aktive Arbeitsmarktpolitik heißt für mich vor allem Qualifizierung. Hier hat Frau von der Leyen den Rotstift angesetzt. Diese Kürzungen müssen wir zurücknehmen. Es
ist dringend notwendig, den 1,5 Millionen Arbeitslosen,
die keine Berufsausbildung haben, eine zweite Chance zu
geben. Wir brauchen ein Programm, damit diese Gruppe
eine Berufsausbildung nachholen kann. Gegebenenfalls in
einer Ausbildungssituation, in der sie beim Einkommen
so gestellt werden wie bei einer Berufstätigkeit.
Wie wollen Sie ein solches Programm finanzieren?
Sie können sicher sein, dass hierfür das Geld da sein wird.
Wir brauchen ein hohes Niveau der Mittel für aktive Arbeitsförderung, das im Interesse der Planungssicherheit
der Träger auch verstetigt werden muss.
Müssten dazu die Beiträge für die Arbeitslosenversicherung steigen?
Der steigende Bedarf an Fachkräften, die hohe Sockelarbeitslosigkeit oder die vielen Menschen, die keine Berufsausbildung haben – das sind die Dinge, die wir zusam-
22
Mitbestimmung 9/2013
Die Erwerbsquote Älterer, also ab 60, hat sich in
den letzten 20 Jahren verdoppelt. Wie lange soll die
Rente mit 67 ausgesetzt werden?
So lange, bis die Hälfte der Menschen zwischen 60
und 64 in sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung sind. Aber wir brauchen
auch bei den Rentenübergängen neue Regelungen.
Wie könnten die aussehen?
Die Vorschläge der SPD wie die abschlagsfreie Rente mit 63, wenn jemand 45
Versicherungsjahre erreicht hat, liegen vor. Wir müssen Lösungen finden, die
sich nach den Bedürfnissen der Arbeitnehmer richten. Es gibt welche, die können und wollen bis 67 arbeiten. Andere hingegen sind angesichts der aktuellen
Arbeitsbedingungen in vielen Jobs mit 58 oder 59 gesundheitlich am Ende.
Wie realistisch sind Überlegungen, die Rentenreform auszusetzen, wenn der
erklärte Koalitionspartner diese Positionen gar nicht teilt?
Ich bin überzeugt, dass in einer rot-grünen Koalition diese Position zum Tragen
kommt. Wir werden den Grünen in den Koalitionsverhandlungen klar sagen,
dass nicht nur eine reine Rentenkürzung übrig bleiben darf. Genau das ist
derzeit bei der Rente mit 67 der Fall, weil viele Arbeitnehmer mit 61 oder 62
aus dem Job gehen müssen. Das dürfen wir Sozialdemokraten nicht zulassen.
Woher soll das Geld kommen?
Eine weitere Senkung der Rentenversicherungsbeiträge kommt natürlich nicht
infrage. Wir brauchen nach dem Modell des DGB höhere Beiträge, um die
Leistungen der Rente stabil zu halten.
Ist nicht eher eine grundsätzliche Reform des Rentensystems erforderlich?
Wie Sie wissen, habe ich selbst vor vielen Jahren gemeinsam mit Experten ein
solches Modell entwickelt.
TITEL
z u r PERSO N
nach einigen Jahren Tätigkeit in der Branche fast zehn
Prozent plus auf die Rente. Die Rendite beträgt aktuell
vier Prozent, doch es wird angesichts der niedrigen Zinsen
immer schwieriger, sie zu halten. Dabei müssen wir weder
Aktionäre noch einen Vorstand befriedigen, der von der
Suche nach abenteuerlichen Renditen getrieben ist. Es
wird immer dann schwierig, wenn an der Altersversorgung
noch jemand anders verdienen will. Von daher sage ich,
dass die individuelle kapitalgedeckte Rentenvorsorge über
private Anbieter ein Weg ist, der nicht zum Erfolg führt.
Falls es für Rot-Grün nicht reicht: Wird es auch einen
Arbeitsminister Wiesehügel in einer großen oder in einer
rot-rot-grünen Koalition geben?
Wir sind für Rot-Grün angetreten. Solange der Wähler
nicht entschieden hat, brauchen wir über andere Optionen
nicht diskutieren.
ist ein Mensch, der sich ein Leben
in einer Großstadt nicht wirklich vorstellen kann – trotz
Zweitwohnung in Berlin. Freie Zeit verbringt er am liebsten
beim Alpinwandern. Geboren wurde der gelernte Beton­
bauer in Mülheim an der Ruhr. Er trat 1973 in die SPD ein,
der er auch als Gegner der Agenda 2010 treu blieb. Wiese­
hügel ist seit 1976 Gewerkschaftssekretär und seit 1995
Bundesvorsitzender der IG BAU. Ab 1998 gehörte er für eine
Wahlperiode als SPD-Abgeordneter dem Bundestag an.
Klaus Wiesehügel, 60,
Das Konzept der IG BAU forderte eine Einbeziehung aller Erwerbstätigen
sowie aller Einkommensarten in die gesetzliche Rentenversicherung.
Ja. Unser Modell war gut, …
… und stieß in der SPD auf Widerstand.
Die Erwerbstätigenversicherung ist Ziel der SPD. Ich glaube aber, dass wir
diesen Diskussionsprozess intensiver angehen müssen.
Wo ist Ihre persönliche rote Linie? Welchen faulen Kompromiss werden Sie als alter Gewerkschafter nicht mittragen?
Wenn es keinen gesetzlichen Mindestlohn gibt, gibt es
auch keinen Arbeitsminister Wiesehügel. Das ist ein Punkt,
wo ich keinen Kompromiss machen werde. Wir machen
ein Gesetz über einen gesetzlichen Mindestlohn über alle
Branchen und Regionen hinweg.
Die Zeitungen berichteten jüngst über innergewerkschaftliche Auseinandersetzungen in der IG BAU. Es gibt offenbar Kritik am Führungsstil des Klaus Wiesehügel. Die
Rede ist von einem Mangel an innerer Demokratie. Wie
sehr hat Ihnen das im Wahlkampf geschadet?
Wenn man aufs Trapez steigt, muss man wissen, dass es
schaukelt. Wenn der Chef einer großen Organisation geht,
gibt es immer Diskussionen. Die Lager positionieren sich,
das ist doch normal. Hätten wir keinen Wahlkampf, wäre
darüber kaum berichtet worden. Es geht doch eigentlich
darum, das Kompetenzteam der SPD zu treffen.
Was macht Klaus Wiesehügel nach einer verlorenen
Wahl?
Wir verlieren nicht.
■
Welche Zukunft hat die kapitalgedeckte private Rentenvorsorge?
Ich bin Aufsichtsratsvorsitzender der Sozialkasse Bau, eines der größten Pensionsfonds in Deutschland. Dieser garantiert Arbeitnehmern der Bauwirtschaft
Mitbestimmung 9/2013
23
Diese Leute wollen
in den Bundestag
Die Zahl der Gewerkschaftsmitglieder im Bundestag ist nach wie
vor hoch. Wir stellen sechs Männer und Frauen mit gewerkschaftlichem Stallgeruch
vor, die jetzt um ein Mandat kämpfen.
KANDIDATEN
Die Frau, die Ströbele schlagen will
Cansel Kiziltepe arbeitet im Stab des Arbeitsdirektors von VW. Jetzt kandidiert sie im Berliner Bezirk FriedrichshainKreuzberg für die SPD – und setzt sich für gleiche Bildungschancen ein.Text: KARIN FLOTHMANN
„Oh Herr, lass mich da stehen, wo die Stürme wehen, und verschone mich nicht.“ Cansel Kiziltepe zitiert diesen Vers langsam. Sie
spricht zu ihren SPD-Genossen in Berlin. Das Zitat aus einer mittelalterlichen Volksweise hat sie von dem kürzlich verstorbenen SPDPolitiker Ottmar Schreiner. Von ihm hat sie es oft gehört, als sie noch
seine Referentin im Bundestag war. „Dieser Satz zeigt Geradlinigkeit, Standhaftigkeit und vor allen Dingen Mut“, sagt Kiziltepe.
„Auch dann, wenn die neoliberale Hegemonie erdrückend erscheint.“ Deshalb ist der Satz ihr Lieblingsspruch geworden.
Cansel Kiziltepe zitierte diesen Vers auch, als sie sich beim SPDKreisverband Friedrichshain-Kreuzberg bewarb. Weil Ottmar Schreiner ihr „politischer Ziehvater“ war, wie sie sagt. Im September wird
sie auf Listenplatz fünf der Berliner SPD stehen. Und versuchen, als
Direktkandidatin den Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg zu gewinnen.
Ihr Konkurrent ist Hans-Christian Ströbele. Die 37-Jährige nimmt’s
gelassen. Anders als der Grüne, der aus gutbürgerlicher Familie
stammt und nicht in Berlin groß wurde, kommt Cansel Kiziltepe aus
Berlin-Kreuzberg. Hier „im Wrangelkiez“ ist sie geboren und auf­
gewachsen. Hier ging sie zur Schule. Ihr Vater kam 1960 aus der
Türkei. Erst arbeitete er in Remscheid und Hagen, 1972 zog er mit
der Familie nach Berlin. Er war Schlosser bei Mercedes, Cansels
24
Mitbestimmung 9/2013
Mutter war Hausfrau. „Mein Vater war immer Gewerkschaftsmitglied“, sagt Kiziltepe, „IG Metall, klar.“ Sie selbst ist inzwischen
auch bei der IG Metall und zwar seit sie im Stab von Horst Neumann, dem Arbeitsdirektor von VW, arbeitet. Zuvor war sie ver.diMitglied. „Zuerst war ich bei den Gewerkschaften“, betont Kiziltepe, „erst sehr viel später bin ich in die SPD eingetreten.“ Das war
im Jahr 2005. Da hatte sie schon an der TU-Berlin VWL studiert. Bei
Professor Jürgen Kromphardt, ihrem zweiten Ziehvater. Und hatte
schon eine Zeit lang beim DGB gearbeitet und beim Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW). Es war die Zeit, als die Regierung Schröder gerade die Agenda 2010 umgesetzt hatte. „Ich war
immer agendakritisch“, sagt Kiziltepe. „Und heute bestätigen alle
Zahlen, dass das keine sozialdemokratische Politik war.“ Gerade
deshalb sei sie damals in die SPD eingetreten und begann, für Ottmar Schreiner zu arbeiten. „Ich will die SPD wieder sozialdemokratisch machen“, sagt die kleine, zierliche Frau.
Zu festlicheren Anlässen versucht sie, ihre schwarzen, lockigen
Haare zu einem Zopf zu bändigen. An einem Haus in Friedrichshain
soll eine Plakette enthüllt werden, die daran erinnert, dass Friedrich
Ebert hier mit seiner Familie von 1905 bis 1911 gelebt hat, der erste Reichspräsident der Weimarer Republik. Berliner SPD-Prominenz
versammelt sich. Cansel Kiziltepe schüttelt Hände, umarmt einige
herzlich. Sie gehört inzwischen zu dieser Prominenz dazu. Auch sie
soll eine Rede zu Ehren Eberts halten. Sie spricht von den Arbeitsverhältnissen der Kaiserzeit – und von denen heute, von gerechterer
Bezahlung und besseren Arbeitsbedingungen, die auch heute vonnöten sind. Kiziltepe streift sich eine widerspenstige Haarsträhne
aus dem Gesicht. „Lasst euch nicht entmutigen!“, ruft sie ihren
Genossen in Berlin zu.
Wieder muss sie an Ottmar Schreiner denken. „Ich bin stolz auf
ihn“, sagt sie, „weil er ein aufrechter Sozialdemokrat war, der seinen Kompass nie aus den Augen verlor.“ Ottmar trat für Ziele ein,
denen auch sie sich verschrieben hat. Zum Beispiel dem Aufstiegsversprechen: Kein Mensch solle bei der Bildung aufgrund seiner
sozialen Herkunft benachteiligt werden. „Ich habe von den Bildungsreformen Willy Brandts profitiert“, sagt Kiziltepe. „Mein Vater hat sehr viel Wert auf gute Bildung gelegt“, erzählt sie. „Er hat
mich und meinen Bruder jeden Morgen zur Schule gefahren, zur
ersten Ganztagsschule Berlins.“ Auch Cansels Tochter geht heute
auf eine Ganztagsschule. Die 12-Jährige ist gerade Klassensprecherin geworden. „Sie macht mir jetzt schon Konkurrenz“, meint Cansel Kiziltepe und lacht.
■
Foto: Michael Hughes
TITEL
Foto: Die Linke
Politik-Rebell
Für Jochen Nagel war 2013 ein besonders heißer Sommer: Der begann bereits Anfang Juni bei der kapitalismuskritischen Blockupy-Demonstration in Frankfurt,
bei der er sich von Polizisten mit Pfefferspray besprühen lassen musste – und war Ende Juli noch lange nicht
vorbei, als der 63-Jährige lautstark mit Flughafen-Anwohnern gegen eine neue Landebahn protestierte.
Der hessische GEW-Vorsitzende ist ein Gewerkschafter, der sich gern auch jenseits der Gremien einmischt.
Aber Proteste gegen die Frankfurter Flughafenerweiterung? Klingt schwer nach Startbahn West. Führt er
da nicht Kämpfe aus dem vergangenen Jahrhundert?
Nagel lacht. „Manchmal fühle ich mich schon wie im
Hamsterrad“, räumt der hessische GEW-Vorsitzende
ein, der als unabhängiger Kandidat der Linken für den
Bundestag kandidiert. Dass die Bildungsausgaben unter den OECD-Empfehlungen liegen, Lehrer in Hessen
die höchsten Arbeitszeiten bundesweit aufweisen, das
mögen keine neuen Themen sein, aber Themen, „gegen die wir trotzdem die Stimme erheben müssen“.
Warum strebt Nagel als Abgeordneten-Neuling nach
der harten Berliner Oppositionsbank, wo er doch in
seinen zwölf Jahren als GEW-Chef Gestaltungsmacht
hatte? Den Lehrer für Gesellschaftskunde und Mathematik treibt das große Ganze um: „ein handlungsfähiger Sozialstaat“. Er will „seine Erfahrungen dahin tragen, wo ständig darüber hinwegregiert wird“. Dass
die Kandidatur gewerkschaftsintern zum Konflikt wegen Zweifeln an seiner Unabhängigkeit geführt hat,
ficht den zweifachen Familienvater nicht an. Auch
dass er nach etwas Gerangel nur auf dem wenig aussichtsreichen Platz vier der Landesliste landete, demotiviert ihn nicht; „Diskutieren und Themen voranbringen macht mir einfach Spaß – egal, ob das Podium in
Hessen oder in Berlin steht.“
■
26
Mitbestimmung 9/2013
Foto: K-F Schneider
Jochen Nagel ist Landesvorsitzender der Gewerkschaft
GEW in Hessen. Er will für die Linkspartei in den Bundestag
einziehen, denn er macht sich Sorgen um den Sozialstaat.
Text: LUKAS GRASBERGER
TITEL
Versierter Grenzgänger
Hans-Joachim Schabedoth , Politikberater beim IG Metall- und zuvor DGB-Bundesvorstand,
kandidiert für die SPD im Wahlkreis Hochtaunus (im Bild 3.v.l.).Text: CORNELIA GIRNDT
Foto: privat
Er weiss, wie SPD-Entscheider ticken und warum Einheitsgewerkschafter sich auch gar nicht einig sein
können. Hans-Joachim Schabedoth ist ein Erklärer zwischen Partei und den Gewerkschaften. Wenn
man, wie er, die klassische Arbeits- und Sozialpolitik drauf hat und dazu noch den Berliner Politikbetrieb
kennt, ist das eine wertvolle Ressource. Mehr noch – Schabedoth ist bekannt als unermüdlicher Buchschreiber und Chronist der Regierungsjahre seit Helmut Kohl. Jetzt will er selbst Politik machen, dafür
klopft er an Haustüren und redet mit Wählern über „die Versagensfälle der Regierung Merkel“ die
soziale Spaltung, die zerstörte Arbeitsmarktordnung. Etwa bei der politischen Sommertour, die auf dem
Campingplatz in Odersbach beginnt und in Tomys Sportsbar endet. Wahlkämpfend absolviert der
Politikwissenschaftler Schabedoth, der lange in Berlin erst beim DGB-Bundesvorstand und jetzt bei der
IG Metall für Politische Planung zuständig ist, gefühlte 110 Termine – darunter Apfelwein- und Hölderlintage und der Besuch bei Mittelstandsfirmen. Das alles seien wertvolle Erfahrungen, verlautet der
61-Jährige und man ist fast geneigt, ihm zu glauben, dass er sich erneut von seiner Partei habe in die
Pflicht nehmen lassen. Die hessischen Genossen nominierten ihn mit stolzen 98 Prozent, in diesem
selbst für einen promovierten Sozialdemokraten schwierigen Hochtaunus-Wahlkreis, wo nördlich von
Frankfurt eine Menge Besserverdienende wohnen. Umso mehr kämpft er sich durch auf Feuerwehrund Brunnenfesten und um seine Chance. Die hat er, tja, sofern seine Partei zulegt.
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Auf Gerechtigkeit gepolt
Gabriele K atzmarek leitet den Bezirk Rhein-Main der IG BCE. Sie ist die Direktkandidatin der SPD für Baden-Baden/
Rastatt und engagiert sich gegen psychische Belastungen am Arbeitsplatz.Text: LUKAS GRASBERGER
„Nicht zu fassen“, sagt Gabriele Katzmarek, wenn die Rede auf
Werkverträge kommt. In ihrem Wahlkreis hat die Bezirksleiterin
der IG BCE oft mit angeblich selbstständig Beschäftigten zu tun,
die nur für eine Firma arbeiten und dennoch nicht davon leben
können. „Dagegen muss eine rechtliche Regelung her“, sagt
Katzmarek, die für die SPD in den Bundestag strebt. „Die Arbeitnehmerüberlassung wird zu locker gehandhabt.“ Die Chancen,
dass sie das Thema bald als Politikerin vorantreiben kann, stehen
gut: Sie ist Direktkandidatin für Baden-Baden/Rastatt und hat zudem einen aussichtsreichen Platz auf der Landesliste ergattert. Als
Abgeordnete will sie sich gegen psychische Belastungen am Arbeitsplatz engagieren sowie für die Förderung von Jugendlichen,
die schwer in Ausbildung zu vermitteln sind. Als Bergarbeiterkind
aus dem Ruhrgebiet ist sie von klein auf „auf Gerechtigkeit gepolt“ worden, als sie ihre Mutter, die als Krankenschwester arbeitete, zur Arbeit in Heime und Krankenhäuser begleitete. Bald nach
ihrer Ausbildung zur Chemielaborantin begann Katzmarek, sich in
der Gewerkschaft zu engagieren. Der Liebe wegen zog sie nach
Mannheim, stieg auf zur Leiterin im Gewerkschaftsbezirk Karlsruhe. 2012 wechselte sie zum Bezirk Rhein-Main, wo sie seither die
Großen der Branche wie Infraserv und Hoechst betreut. Ihr Engagement blieb der Gewerkschaftsspitze nicht verborgen: IG-BCEChef Michael Vassiliadis förderte und ermunterte Katzmarek auch
zur Bundestagskandidatur.
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Mitbestimmung 9/2013
27
Engagiert gegen Atommüll
Uwe Lagosk y ist Betriebsrat bei den Braunschweiger Stadtwerken. Er kandidiert im Wahlkreis Salzgitter-Wolfenbüttel für die CDU und will,
dass der Atommüll aus der Asse verschwindet.Text: KARIN FLOTHMANN
Eine gutbürgerliche Gaststätte am Stadtrand von Wolfenbüttel.
Das Durchschnittsalter ist 60 plus, an langen, mit Kerzen geschmückten Tischen sitzen die Zuhörer. Karl Josef Laumann, der
Vorsitzende der Christlich Demokratischen Arbeitnehmerschaft
(CDA), ist angereist, um den örtlichen CDU-Kandidaten zu unterstützen. Er sagt: „Wir haben hier einen Kandidaten, der mit
beiden Beinen auf der Erde steht.“ Und: „Der Uwe ist einer, der
den Leuten nicht nach dem Mund redet.“ Der Uwe, das ist Uwe
Lagoksy, Betriebsratsvorsitzender der Braunschweiger Stadtwerke und Konzernbetriebsratsvorsitzender der dazugehörigen
Konzerngruppe BS Energy. Der 51-Jährige kandidiert im Wahlkreis Salzgitter-Wolfenbüttel zum ersten Mal für den Bundestag.
Sein Kontrahent ist Sigmar Gabriel. Seit 1957 hat die CDU den
Wahlkreis nicht mehr direkt gewonnen.
Lagosky kommt auf die kleine, improvisierte Bühne und greift
das Mikrofon: „Ich gebe die Themen, die mich beschäftigen,
nicht an der Garderobe des Bundestages ab, das verspreche ich
euch!“, sagt er. Den wachsenden Niedriglohnsektor etwa. Einige klatschen, andere prosten dem Kandidaten zu. Mitglied bei
ver.di und in der CDU, passt das eigentlich zusammen? Für Lagosky ist das keine Frage. Er kommt aus einem konservativen
Elternhaus, „Freiheit und Selbstbestimmung in einer solidarischen Gesellschaft“ sind seine Werte. Als er noch Techniker im
Heizkraftwerk Mitte in Braunschweig war, unkten Kollegen:
„Mensch, Uwe, du bist so schwarz, du wirfst selbst im Kohlenkeller noch ’nen Schatten.“ Zugleich ist er höchster Arbeitneh-
28
Mitbestimmung 9/2013
mervertreter und kümmert sich um rund 1000 Kollegen. „Wir
haben einen Organisationsgrad von 65 bis 70 Prozent“, sagt er
und strahlt. Im Landestarifausschuss und als Mitglied im Bundesfachausschuss/Verhandlungskommission hat der ver.diMann den Tarifvertrag für die Versorgungsbetriebe mitgestaltet.
Für die CDU hat er Kommunalpolitik gemacht. „Wenn ich etwas
anfasse, knie ich mich da auch rein“, sagt er, und man nimmt es
dem stämmigen Mann mit dem Mecki-Haarschnitt sofort ab. In
Abbenrode, wo Lagosky mit seiner Familie lebt, hat er bis vor
drei Jahren im Fußballverein gekickt, hier hat er mit seiner Frau
gebaut – vor 23 Jahren wurde die Tochter geboren. An Elternzeit
war da nicht zu denken. Aber es gab eine gute Krippe. Inzwischen sind zwei Söhne hinzugekommen.
Am Nachmittag trifft sich Lagosky mit Betriebsräten der Asse.
Das ehemalige Salzbergwerk, in dem radioaktiver Müll lagert,
muss geschlossen werden, weil 2008 radioaktiv kontaminierte
Salzlauge gefunden wurde. „Vor vier Jahren hieß es noch, 2020
ist der Müll raus“, erklärt Lagosky. „Jetzt heißt es, 2035 fangen
wir überhaupt erst an mit der Entsorgung.“ Der CDU-Mann ist
empört: „Vermutlich ist dann erst in 100 Jahren aller Atommüll
draußen.“ Jürgen Lühr, Betriebsratsvorsitzender der Asse, pflichtet ihm bei: „Wir brauchen politische Entscheidungsträger, die
’nen Arsch in der Hose haben, um das Problem zu lösen“, sagt
er. Lagosky möchte so ein Politiker sein. Er sichert den Betriebsräten seine volle Unterstützung zu. Er will in den Bundestag.
„Aber mein Seelenheil hängt nicht davon ab“, meint er.
■
Foto: Peter Heller
TITEL
Parlaments­erfahren
Simone Ma aSS war Böckler-Stipendiatin und ist die rechte Hand von
Katrin Göring-Eckart. Jetzt kandidiert sie selbst im Wahlkreis um SuhlSchmalkalden für die Grünen.Text: susanne k ailitz
Foto: David Ausserhofer
Sollte es mit dem Bundestagsmandat klappen, ist eines schon
mal sicher: Einarbeiten muss Simone Maaß sich nicht. Die 46Jährige kennt das Parlament in- und auswendig. Seit acht Jahren
leitet sie das Büro von Katrin Göring-Eckart, Spitzenkandidatin
der Grünen und Bundestagsvizepräsidentin, ist also mitten im
politischen Geschehen. Nun würde sie gern selbst Mitglied im
Bundestag sein, was im ersten Anlauf vor vier Jahren nicht geklappt hat. Als Direktkandidatin für den Wahlkreis Suhl-Schmalkalden-Meiningen-Hildburghausen tourt sie momentan durch
ihre thüringische Heimat und macht Wahlkampf.
Was reizt sie an dem Job als Abgeordnete? „Das ist eine andere Art des Arbeitens – mit mehr Verantwortung und der Chance, direkter mitzugestalten.“ Auf das, was ihre Partei in dieser
Legislatur vorzuweisen hat, ist sie stolz: „In der Zeit der Opposition hatten wir Zeit, grüne Konzepte zu entwickeln. Und da waren wir wirklich fleißig. Unsere Pläne für eine Kindergrundsicherung, den Mindestlohn oder eine Garantierente haben Hand und
Fuß, die sind durchgerechnet und überzeugend.“
Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik sind Simone Maaß’ große
Themen. Das bringt sie immer wieder in den Kontakt zu den
Gewerkschaften. „Für mich sind diese Treffen wichtig. Ich erfahre dabei die Sicht der Arbeitnehmer aus den Betrieben – das ist
der Praxischeck für unsere politischen Konzepte. Man wird immer wieder auf einiges aufmerksam, das man vorher so nicht
bedacht hat.“ Ohnehin hat Maaß auch eine persönliche Bindung
an die Gewerkschaften. Als ihr DDR-Abschluss als Lebensmitteltechnologin nach der Wende nicht anerkannt wurde, nutzte sie
ein Stipendium der Hans-Böckler-Stiftung, um Sozialarbeit zu
studieren, und schlug anschließend den Weg in die Politik ein.
Seit 1995 arbeitet sie für Göring-Eckardt. Von ihr hat sie sich für
die angestrebte eigene politische Karriere mindestens eine Sache
abgeschaut: „Immer die Ruhe bewahren! Ich hoffe, dass mir das
dann auch gelingt.“
■
Mitbestimmung 9/2013
29
Pfeiler einer neuen Wir wollen gute Arbeit schützen und prekäre
bekämpfen. Deutschland hat den zweitgrößten
Niedriglohnsektor in Europa. Aus Arbeitsarmut
droht Altersarmut zu werden – für viele Minijobber,
Befristete und Aufstocker.
30
Wir wollen eine neue Ordnung der Arbeit. Sie ist
nichts Statisches, es wird immer darum gehen, Rege­
lungen neu zu justieren, sie anzupassen – zumal im
digitalen Zeitalter.
Der deutsche Arbeitsmarkt ist tief gespalten nach
drei Jahrzehnten neoliberaler Deregulierung. Unsere
Sorge ist, dass durch die europäische Krise, die in
vielen Ländern den Arbeitnehmerschutz aushöhlt,
diese Spaltung weiter vertieft werden könnte.
Wert und Würde des arbeitenden Menschen in einer
freiheitlichen Gesellschaft zu sichern ist unser Auf­
trag – Tag für Tag. Wir brauchen starke Tarifpartner
und Betriebsräte, die die Dinge neu ordnen. Wir
brauchen mehr Mitbestimmung. Doch können die
Sozialparteien allein nicht reparieren, was die Politik
zerstört hat.
Wir stärken die Arbeitnehmerrechte aus Tarifverträgen und
Mitbestimmung
Wir bekämpfen den
Niedriglohnsektor und prekäre
Beschäftigung
Unsere Hauptsorge gilt der Erosion der Tariflandschaft. Deshalb muss der Gesetzgeber
Möglichkeiten zur Allgemeinverbindlich­
erklärung von Tarifverträgen schaffen, damit
deren Standards auf bisher tariflose Unter­
nehmen übertragen werden können. Auch im
öffent­lichen Interesse könnte dem Dumpingwettlauf so ein Riegel vorgeschoben werden.
Deutschland braucht den einheitlichen gesetzlichen
Mindestlohn von 8,50 Euro. Er ist das Herzstück
einer neuen Ordnung der Arbeit. Wir wollen
den Missbrauch von Leiharbeit und Werkverträgen
stoppen und die Mitbestimmung bei diesen
atypischen Beschäftigungsformen stärken. Wir
wollen sozialversicherte Minijobs und Schluss
machen mit der sachgrund­losen Befristung.
Mitbestimmung 9/2013
TITEL
Ordnung der Arbeit
Zitate aus Reden von
Michael Sommer
Ohne Gesetzgeber wird es nicht gehen. Die Politik
ist maßgeblich verantwortlich für den verwahrlosten
Zustand am Arbeitsmarkt. Sie hat die schützenden
Deiche eingerissen und den Arbeitsmarkt mit Mini­
jobbern, Solo-Selbstständigen und Hartz-IV-Auf­
stockern geflutet; sie hat den Missbrauch bei Leih­
arbeit und Werkverträgen ermöglicht.
und Wählerinnen. Die Stärkung ihrer Position am
Arbeitsmarkt stärkt auch die Demokratie. Es sind
vielfach die Niedriglöhner und Erwerbslosen,
die nicht mehr zur Wahlurne gehen.
Nachdem man sich jahrzehntelang an den Bedürf­
nissen des Marktes orientiert hat, ist es an der Zeit,
sich den Bedürfnissen der Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer zuzuwenden. Sie sind genauso Wähler
Beiträge des DGB-Vorsitzenden Michael Sommer:
m e h r I n f o r m at i o n e n
Konturen einer neuen Ordnung der Arbeit,
www.dgb.de > Themen > Arbeit
Für eine neue Ordnung der Arbeit, www.gegenblende.de
Wir wollen reguläre Arbeit
absichern und mehr gute und fair
bezahlte Arbeit schaffen
Wir ermöglichen selbst­
bestimmte Arbeitszeiten, Vereinbarkeit und Entgeltgleichheit
Der Wunsch nach Sicherheit und Planbarkeit, nach
einem festen, unbefristeten Arbeitsverhältnis
rangiert bei den Arbeitnehmer/innen in Deutschland
ganz oben. Dazu trägt mehr, nicht weniger Kün­
digungsschutz bei. Die Menschen brauchen einen
besseren Gesundheitssschutz am Arbeitsplatz,
von daher befördern wir Initiativen gegen Stress,
Burn-out und Mobbing.
Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen sollen
Familie und Beruf besser vereinbaren können.
Wir fordern, dass der Wechsel von Teil- wieder
zurück auf Vollzeit garantiert ist. Wir unterstützen die Beschäftigten in ihrem Wunsch
nach Weiterbildung und Qualifi­zierung. Wir
wollen Regelungen, die ihnen Kinder­
erziehungs- und Pflegephasen ermöglichen.
Mitbestimmung 9/2013
31
„Betriebsräte brauchen
zwingende Rechte“
IG-BCE-Gewerkschafterin Yasmin Fahimi erklärt, warum es bei der
Bundestagswahl auch um eine Reform der betrieblichen Mitbestimmung geht.
INTERVIEW
Das Gespräch führte Joachim F. Tornau , Journalist in Kassel.
32
Frau Fahimi, vor zwölf Jahren wurde das Betriebsverfassungsgesetz durch die rot-grüne Koalition zuletzt
modernisiert. Anlässlich der bevorstehenden Bundestagswahl hat die IG BCE nun die Debatte um eine neuerliche Reform der betrieblichen Mitbestimmung angestoßen. Warum?
Die Arbeitswelt hat sich massiv verändert. Fremdbeschäftigung –
zunächst per Leiharbeit, jetzt immer häufiger auch über Werkverträge – hat in den Betrieben enorm zugenommen und die Stammbelegschaften unter Druck gesetzt. Auch die Befristung von
Arbeitsverhältnissen ist ausgeufert. Das ist das eine. Das andere ist
die steigende Zahl psychischer Erkrankungen, weil viele Beschäftigte durch die extreme Zunahme von Leistungsverdichtungsprozessen
überfordert sind. Wegen des demografischen Wandels, der zu einer
längeren Lebensarbeitszeit führen wird, droht sich dieses Problem
künftig noch weiter zu verschärfen. All das hat es vor zwölf Jahren
in dieser Dimension noch nicht gegeben.
wir uns nicht. Es geht darum, Missbrauch und das Unterlaufen von
Tarifverträgen zu verhindern.
Was müsste sich Ihrer Ansicht nach ändern, damit Betriebsräte auf
diese neuen Herausforderungen reagieren können?
Betriebsräte brauchen ein zwingendes Mitbestimmungsrecht bei
jeglicher Form von Fremdbeschäftigung. Nur mit einer solchen allgemeinen Regelung können wir vom ständigen Hinterherlaufen
wegkommen: Wenn wir die Leiharbeit regulieren, dann kommen
die Werkverträge. Und danach kommt vielleicht irgendein neues
vertragliches Konstrukt. Wir wollen, dass sich die Betriebsparteien
darüber verständigen müssen, wie viel Fremdbeschäftigung wirklich
notwendig und sinnvoll ist im Verhältnis zur Stammbelegschaft. Es
geht uns nicht darum, Fremdbeschäftigung ganz zu verbieten: Den
flexiblen Anforderungen einer globalisierten Industrie verweigern
Wie könnte das konkret aussehen?
Bei der Um- oder Restrukturierung eines Unternehmens beispielsweise könnte der Betriebsrat prüfen, inwieweit ein Anstieg der Arbeitsverdichtung zu befürchten ist, und dann Maßnahmen zu Abwendung, Milderung oder Ausgleich der Belastung verlangen. Eine
Vereinbarung mit dem Arbeitgeber über die nötigen Schritte muss
erzwingbar sein, notfalls durch Anrufung der Einigungsstelle – weil
wir leider die Erfahrung gemacht haben, dass die Arbeitgeber die
Bedeutung dieses Themas noch nicht ausreichend erkannt haben.
Mitbestimmung 9/2013
Und wie könnte der Schutz vor Leistungsdruck und Überlastung
Eingang ins Betriebsverfassungsgesetz finden?
Das Thema ist uns fast noch wichtiger als die Fremdbeschäftigung –
weil es die Belegschaften in der ganzen Breite betrifft. Heute müssen
wir uns nicht mehr nur darum sorgen, dass Beschäftigte, die am
Ende ihrer Erwerbsbiografie stehen, gesund in Rente gehen können.
Sondern es klappen uns auch die Jüngeren zusammen, weil sie dem
Leistungsdruck nicht mehr standhalten. Das Prinzip der Gesundheitsprävention muss darum künftig stärker die Betriebsratsarbeit
prägen. Wir fordern, dass der langfristige Erhalt der Arbeitsfähigkeit
in den Aufgabenkatalog des Betriebsrats aufgenommen wird. Außerdem brauchen Betriebsräte ein Initiativrecht, um frühzeitig Gefahren von Leistungsverdichtung abwehren zu können.
Bei all diesen Herausforderungen der modernen Arbeitswelt könnte man – und viele in den Gewerkschaften tun das ja auch – nach
TITEL
z u r pe r so n
Foto: IG BCE
Yasmin Fahimi, 45, leitet das Ressort
„Politische Planung“ beim Hauptvorstand der IG BCE und ist unter anderem
verantwortlich für die Kampagne „Gute
Arbeit“. Außerdem sitzt die Diplom­
chemikerin im Vorstand des „Denkwerks
Demokratie“, eines 2011 gegründeten
Thinktanks, dem Vertreter von SPD,
Grünen, Gewerkschaften, Umweltverbänden sowie der Hans-Böckler-Stiftung
angehören.
stärkerer gesetzlicher Regulierung rufen. Warum setzen Sie stattdessen zuallererst auf mehr Einfluss für Betriebsräte?
Eine Anti-Stress-Verordnung, wie sie die IG Metall ausgearbeitet
hat, finden wir sehr gut. Wir glauben nur nicht, dass das das allein
helfende Mittel ist. Das wäre ja nur so etwas wie eine Prüfliste, die
man durchgehen kann. Wir wollen aber den Dialog über konkrete
betriebliche Maßnahmen. Das Betriebsverfassungsgesetz ist für uns
nach wie vor das Zentrum der demokratischen Gestaltung von Arbeitsbedingungen und Arbeitsverhältnissen. Das muss man erst
einmal stabilisieren. Eine Anti-Stress-Verordnung zu erlassen widerspricht dem dann nicht. Sie ist eine sinnvolle Ergänzung. So wie
andere Anpassungen auch.
An welche gesetzlichen Anpassungen denken Sie?
Drei Dinge: Im Arbeitsschutzgesetz sollte das Thema der psychischen
Belastungen stärker ausgebaut werden. Im Teilzeit- und Befristungsgesetz sollten Befristungen wieder auf maximal 24 Monate begrenzt
und ohne Sachgrund gänzlich verboten werden. Und wir fordern
eine Änderung des Handelsbilanzgesetzes, damit Fremdbeschäftigte endlich genauso in den Bilanzen auftauchen wie Festangestellte.
Dass Unternehmen ihren Personalaufwand schönrechnen können,
weil die Ausgaben für Fremdbeschäftigte bislang nur versteckt als
Sachkosten auftauchen, halten wir für völlig abstrus.
Das Bundesarbeitsgericht hat in diesem Jahr zwei viel beachtete
Entscheidungen zur Leiharbeit gefällt: Leiharbeitnehmer zählen
mit, wenn die Größe der Belegschaft und damit die des Betriebsrats
bestimmt wird. Und: Wenn Leiharbeiter unbefristet eingestellt werden sollen, hat der Betriebsrat ein Vetorecht. Haben die Richter
Ihnen damit nicht ein wenig die Luft aus den Forderungen gelassen?
Der Gesetzgeber muss sich langsam schämen, dass er sich von den
Gerichten immer wieder erklären lassen muss, was notwendige und
sinnvolle Maßnahmen sind. Unsere Forderungen erübrigen sich dadurch nicht, sondern werden eher noch beflügelt – und könnten
eigentlich auch umso unverkrampfter von den Parteien aufgenommen werden.
Werden sie das denn?
Wir hatten unsere Forderungen an alle Parteien geschickt mit der
Bitte, sie ins Wahlprogramm aufzunehmen. Und das haben zumindest SPD und Grüne getan – weitestgehend. Bei der Linkspartei
stehen dagegen nur sehr allgemeine Sätze im Programm. Und von
CDU und FDP haben wir zu dem Thema nichts gehört oder gelesen.
Für wie groß halten Sie die Chance, dass Ihre Forderungen nach
der Bundestagswahl Realität werden?
Ich gebe keine Wahlprognosen ab. Ganz allgemein versprechen wir
uns natürlich nicht, dass die FDP durch ein Bad der Erkenntnis geht.
Damit gibt es erst einmal zwei relevante Parteien, die unsere Forderungen unterstützen und die entweder miteinander oder auch mit
der CDU koalieren könnten. Und Bundeskanzlerin Angela Merkel
wiederum hat sich – Stichwort Mietpreisbremse und Mindestlohn –
zuletzt ja durchaus offen für Ideen aus anderen politischen Lagern
gezeigt. Auch da könnte man also noch einmal anklopfen. Was
spräche dagegen, sich als große bürgerliche Volkspartei einem Begehren der Gewerkschaften anzunähern? Trotzdem: Ich würde eine
der Parteien wählen, die unser Anliegen offensiv vertritt und nicht
nur nicht Nein dazu sagt. Das ist für mich glaubwürdiger.
■
Mitbestimmung 9/2013
33
Stimmen der Arbeitnehmer
Wie wollen die Menschen arbeiten? Was halten sie vom Mindestlohn, was von der
Rente mit 67? Die IG Metall hat danach gefragt und mehr als 500 000 Menschen antworteten.
Dieses Meinungsbild der Beschäftigten gibt wertvolle Hinweise – über den Wahltag hinaus.
UMFRAGE
Von KAY MEINERS , Redakteur des Magazins Mitbestimmung
B
etriebsräte, Vertrauensleute und Jugendvertretungen verteilten die Fragebögen unter dem
Titel „Arbeit: sicher und fair!“. Auch über das
Internet, per Brief oder durch das Mitgliedermagazin konnten viele Beschäftigte angesprochen werden.
Am Ende beteiligten sich mehr als eine halbe Million Menschen an dieser Beschäftigtenbefragung der IG Metall.
„Ein Rücklauf, der über den Erwartungen lag“, sagt Sabine Blum-Geenen, die beim Vorstand der IG Metall für
die Umfrage zuständig ist. Die Beschäftigtenumfrage mit
20 Fragen hat die Gewerkschaft zusammen mit dem
Fraunhofer Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation (IAO) sowie dem Soziologischen Forschungsinstitut
(SOFI) in Göttingen entwickelt. Die Haltung zu politi-
schen Themen wird ebenso erkundet wie die Lage im Betrieb. Besonders erfreulich: Es gelang, viele Nichtmitglieder anzusprechen. Von ihnen stammt
etwa ein Drittel der Antworten.
BREITE ZUSTIMMUNG ZU KERNFORDERUNGEN_ Die Antworten dokumentie-
ren breite Unterstützung für die IG-Metall-Forderungen zur Arbeitsmarkt- und
Rentenpolitik. So sieht eine große Mehrheit der Befragten unbefristete und
fair bezahlte Arbeit als elementar an. 88 Prozent der Befragten bezeichnen
einen unbefristeten Arbeitsvertrag als sehr wichtig, 83 Prozent ein verlässliches
Einkommen. Gleichzeitig geben ähnlich viele Befragte an, selbst einen unbefristeten Job sowie ein gutes und verlässliches Einkommen zu haben. Dennoch
machen sich viele Menschen Sorgen um die Auswüchse am Arbeitsmarkt. Der
Aussage, Deutschland brauche einen gesetzlichen Mindestlohn von anfänglich
mindestens 8,50 Euro, stimmen 67 Prozent der Befragten voll und ganz zu.
ig-metall-fragebogen: Es gelang,
auch viele Nichtmitglieder anzusprechen
Gleiches gilt für die Aussage, Leiharbeit und Werkverträge müssten gesetzlich
neu geregelt werden, dabei müsse gründsätzlich gelten: „Gleiche Arbeit –
gleiches Geld“.
Ähnlich ist das Meinungsbild bei der Rente. Lediglich 4 Prozent der Befragten gehen davon aus, dass sie später von der gesetzlichen Rente gut leben
können. Eine zusätzliche arbeitgeberfinanzierte Altersvorsorge finden daher
60 Prozent sehr wichtig und 32 Prozent wichtig. Mehr als drei Viertel der
Befragten, genau 77 Prozent, stimmen der Aussage voll zu, die „Rente mit
67“ müsse zurückgenommen werden. Genausoviele stimmen der Aussage voll
und ganz zu, der Arbeitgeber müsse auch in Zukunft Möglichkeiten eines
flexiblen Einstiegs in die Rente fördern. In den Betrieben hapert es noch, was
den demografischen Wandel angeht. Gerade einmal 33 Prozent der Befragten
geben an, ihr Betrieb sei gut oder sehr gut auf älter werdende Belegschaften
vorbereitet.
Foto: IG Metall
TITEL
gewerkschafterin Blum-Geenen:
Vom enormen Rücklauf positiv überrascht
fAIRER AUSGLEICH GEFORDERT_ Auch zu den Arbeitsbedingungen liefert die
Umfrage interessante Befunde. So geben 13 Prozent der von der IG Metall
Befragten an, sich ständig gehetzt oder unter Zeitdruck zu fühlen. 40 Prozent
stimmen der Aussage, sie müssten immer mehr Arbeit in der gleichen Zeit
bewältigen, voll und ganz zu. Rund 40 Prozent sorgen sich, den wachsenden
Anforderungen möglicherweise nicht mehr gewachsen zu sein. „Ziemlich
spannend sind auch die Ergebnisse zur Flexibilisierung der Arbeitszeit“, sagt
Blum-Geenen. „Die Menschen sind bereit, flexibel zu sein, wollen aber für
Zugeständnisse einen fairen Ausgleich, der ihnen bei ihrer Zeitsouveränität
hilft. Nine to five – das ist für viele Geschichte.“ Drei Viertel der Arbeitnehmer
plädieren zwar für geregelte Arbeitszeiten – ebenso viele wünschen sich aber,
die tägliche Arbeitszeit kurzfristig an private Bedürfnisse anpassen und Beruf
und Familie vereinbaren zu können.
Die Arbeitsatmosphäre in deutschen Unternehmen scheint derweil verbesserungswürdig zu sein. Von den Befragten antworten 27 Prozent auf die Frage nach einem guten Betriebsklima mit „Nein“, und eine gute Hälfte, 53
Prozent, wünscht sich mehr Mitsprache- und Mitgestaltungsmöglichkeiten.
Dass beim Thema Weiterbildung im Betrieb keine Spitzenwerte erreicht werden, war zu erwarten und signalisiert Handlungsbedarf. Nur 43 Prozent der
Befragten stimmen voll und ganz oder tendenziell der Aussage zu, dass der
Betrieb ihnen ausreichend Möglichkeiten zur Weiterbildung anbietet. 57 Prozent verneinen dies. Es sind solche Zahlen aus den Betrieben, die man als
besonders authentisch ansehen kann.
Sehr hohe Zustimmungswerte gab es zu den sozialen Sicherungssystemen,
deren Erhalt und Stärkung für 97 Prozent der befragten Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer ein „sehr wichtiges“ oder „wichtiges“ Handlungsfeld der
Politik ist. Ebenso beachtlich: 80 Prozent fordern eine „solidarische Krisenbewältigung“ in Europa – was auch der Tatsache geschuldet sein mag, dass
die Fragen sehr allgemein gestellt waren, was gemeinhin für hohe Zustimmungswerte sorgt.
Auch GUT für die ORGANISATION_ Kein Zufall, dass die große Beschäftigten-
Befragung im Wahljahr 2013 stattfindet. Die Ergebnisse veranschaulichen, dass
die IG Metall mit ihren Forderungen nach sicheren und fair bezahlten Arbeitsverhältnissen einen zentralen Punkt anspricht. „Die Beschäftigtenbefragung
bestätigt unsere Forderungen. Sie zeigt, dass an den Menschen vorbeiregiert
wird“, sagt Blum-Geenen. Zudem liefert die Befragung
auch reichlich Aussagen und Daten für die Pressearbeit.
„IG-Metall-Studie: Mehr Druck am Arbeitsplatz“, titelte
die „Südwest-Presse“; und die „Neue Rheinische Presse“
schrieb – nur halb richtig: „Forderungen von 514 134 IGMetallern“. Daneben nutzt die Gewerkschaft eigene Kanäle, um vor der Bundestagswahl ihre Forderungen lautstark publik zu machen – wie etwa die Kampagnenseite
www.arbeitsicherundfair.de.
Doch die IG Metall will mehr als ihrem politischen
Forderungskatalog durch ein breites Basisvotum mehr
Drive zu geben. Die Umfrageergebnisse sollen „ein wichtiger Baustein für die Weiterentwicklung der gewerkschaftlichen Ziele“ sein, erklären die beiden Vorsitzenden der IG
Metall, Berthold Huber und Detlef Wetzel, im Vorwort
einer Broschüre, die die Ergebnisse zusammenfasst. „Für
alle Betriebe mit mehr als zehn Rückmeldungen gibt es
außerdem über die Verwaltungsstellen automatisierte Auswertungen“, erklärt Gewerkschafterin Blum-Geenen. Die
Ergebnisse der Umfrage sollen genutzt werden, um die
Betriebs- und die qualitative Tarifpolitik weiterzuentwickeln. Die Vorsitzenden versprechen: „Beteiligungsorientiert werden wir unsere weitere Programmatik gestalten.“
Ein Prozess, der gerade erst begonnen hat.
■
m e h r i n f o r m at i o n e n
Die Kampagnenseite der IG Metall:
www.arbeitsicherundfair.de
Die zentralen Ergebnisse der Umfrage mit vielen
Grafiken (Broschüre):
http://bit.ly/126OFQG
Die Vorsitzenden der IG Metall zur Umfrage (Video):
http://bit.ly/13CfqKq
Mitbestimmung 9/2013
35
„Der Gesetzgeber
muss nur wollen“
Wolfgang Uellenberg-van Dawen über entsicherte
Arbeitsverhältnisse im Dienstleistungsbereich und die Chancen,
mit dieser Bundestagswahl umzusteuern – hin zu guter Arbeit
und guten Dienstleistungen.
INTERVIEW
Das Gespräch führte Cornelia Girndt in Berlin.
Wolfgang Uellenberg, warum haben sich Formen von
ungesicherter, schlecht entlohnter Beschäftigung gerade im Dienstleistungsbereich so ausgebreitet?
Viele Dienstleistungsunternehmen bevorzugen das Geschäftsmodell
„Niedriglohn und Entsicherung von Arbeitsverhältnissen“ anstelle
des Geschäftsmodells „Innovationen, gute Arbeit und gute Dienstleistungen“. Das ist unser Hauptproblem. Ein Grund dafür ist, dass
die Devise „Jede Arbeit ist besser als keine“ insgesamt das gesellschaftliche Klima verändert und Arbeit systematisch entwertet hat.
Darum ist es notwendig, wie in der Industrie, durch Druck von
Gewerkschaft und betrieblicher Interessenvertretung eine Strategie
von „Besser statt billiger“ durchzusetzen, konkret von guter Arbeit
für die Beschäftigten und guten Dienstleistungen für die Nutzerinnen
und Nutzer.
Der große Lohnabstand zwischen Industrie- und Servicebeschäftigten ist ein spezifisch deutsches Phänomen. Warum ist das so?
Weil es politisch gewollt ist! Uns allen war klar: Der Beschäftigungsaufbau muss vor allem im Dienstleistungssektor passieren. Der
richtigen Erkenntnis folgte die falsche Niedriglohnstrategie. Man
hätte die Beschäftigungslücke bei den Dienstleistungen schließen
müssen durch mehr Geld und gute Löhne, etwa wie in der Schweiz.
Sowie durch einen Ausbau der Kinderbetreuung, Investitionen ins
Gesundheitswesen oder in die Pflege, wie beispielsweise in den skandinavischen Ländern
Hätte man Alternativen gehabt? Es hieß doch immer, bei Dienstleistungen funktioniert die Produktivitätspeitsche nicht.
36
Mitbestimmung 9/2013
Man hat den Dienstleistungen in Deutschland einen falschen Produktivitätsbegriff übergestülpt, der für die Industrie stimmen mag,
nicht aber für den Dienstleistungssektor. Das war der Grundfehler.
Wenn eine Erzieherin in einer Kita-Gruppe statt zehn Kinder 20
erziehen soll, dann wird das Arbeitsergebnis betriebswirtschaftlich
gerechnet „produktiver“, aber die Qualität nimmt ab. Wir benötigen
einen dem besonderen Charakter der Dienstleistungsarbeit angemessenen Begriff von Produktivität. Stattdessen schaut man nicht
auf Qualität, sondern auf Zahlen, senkt die Kosten und entwickelt
damit eine Strategie der Entsicherung von Arbeitsverhältnissen und
Lohndrückerei.
Wo ist das besonders eklatant?
Wir reden von Hunger- und Niedriglöhnen gerade im Bereich der
Minijobs, aber auch bei vielen Teilzeit- und Vollzeitbeschäftigten.
Im Handel beispielsweise finden Frauen vielfach schlicht keine andere Beschäftigung mehr als in Minijobs. Wir reden auch von der
kurzfristigen Leiharbeit, wo wir dringend Equal Pay brauchen. Wir
reden vom Missbrauch von Werkverträgen, wo es durch Scheinselbstständigkeit zum Beispiel bei Kurierfahrern zum Sozialversicherungsbetrug kommt, weil sich Arbeitgeber durch Werkverträge
der Pflicht von Sozialabgaben entziehen, obwohl sie die Hauptauftraggeber sind.
Kann die Politik nachhaltig dagegen vorgehen?
Auf jeden Fall. Der Gesetzgeber muss es nur wollen. Das sieht man
bei der Leiharbeit, wo es nach Jahren der weitgehenden Deregulierung jetzt einen verbindlichen Mindestlohn gibt. Solange die Politik
Foto: Deutsche Welle
TITEL
z u r pe r so n
Wolfgang Uellenberg-van Dawen ,
62, leitet den Bereich „Politik und
Planung“ in der ver.di-Bundesverwaltung in Berlin. Der promovierte Historiker pendelt zwischen Hauptstadt
und Heimatstadt Köln. Dort war er
bis 2008 DGB-Vorsitzender, davor in
Berlin Bundesvorstandssekretär des
DGB und zuvor Büroleiter des damaligen DGB-Vorsitzenden Dieter Schulte.
Wolfgang Uellenberg-van Dawen ist
im Vorstand der Hans-Böckler-Stiftung.
die Arbeitsverhältnisse weiter entsichert, nutzen Arbeitgeber, was
ihnen die Politik anbietet. Der Staat muss daher wieder knallhart
re-regulieren. Denn die Hartz-Reformen waren die Initialzündung
für die Spaltung des Arbeitsmarktes – und eben kein Sprungbrett in
dauerhafte und reguläre Beschäftigung, wie es versprochen worden
war. Wenn alle Arbeitsverhältnisse wieder gleichermaßen arbeitsund sozialrechtlich gesichert sind, dann sind auch für alle Arbeitgeber die Bedingungen gleich. Der gesamte Niedriglohnsektor ist eine
gigantische Subventionierung jener Arbeitgeber, die ihr Billig-Geschäftsmodell durchziehen.
Im Handel, im Gesundheitswesen, der Gastronomie, im Erziehungsbereich, selbst bei öffentlichen Dienstleistungen sind mittlerweile die Hälfte der Beschäftigungsverhältnisse atypisch.
Das sind vor allem Dienstleistungsbranchen mit einer hohen Beschäftigung von Frauen. Der Dienstleistungssektor ist auch deshalb
besonders betroffen, weil die Arbeit von Frauen geringer bewertet
wird als die von Männern, ebenso wie die Dienstleistungsarbeit
gegenüber der Industriearbeit geringer bewertet wird. Zudem sind
es die Frauen, die Beruf und Familie vereinbaren müssen, was dann
im Dienstleistungsbereich zu ausufernden Teilzeitbeschäftigungen
führt. Deshalb fordert der DGB schon seit vielen Jahren ein Rückkehrrecht von der Teilzeit in die Vollzeit oder Arbeitszeiten, die eine
bessere Vereinbarkeit für Männer wie Frauen ermöglichen.
Sind die Parteien generell bereit, mehr zu tun?
Was die Wahlprogramme von SPD, Grünen und Linken betrifft, sind
wir mit unseren Forderungen relativ weit vorgedrungen. So bein-
haltet das Wahlprogramm der Sozialdemokraten und das der Grünen in weiten Teilen die Abkehr von Hartz IV. Und es gibt in allen
Lagern eine große Bereitschaft, die Entsicherung der Arbeitsverhältnisse zurückzunehmen, nachzulesen etwa in den Programmen aller
Oppositionsparteien. Denn es ist etwas Vorhersehbares passiert:
Viele Menschen können von ihrer Arbeit, häufig sogar in Vollzeitbeschäftigung, nicht mehr menschenwürdig leben. Sie sind auf staatliche Unterstützung angewiesen, können keinen Beitrag zu den
Sozialsystemen leisten und fallen auch als Steuerzahler aus.
Hätte ver.di mehr tun müssen gegen die Deregulierung der Dienstleistungen? Wo bleibt das genuine Geschäft der Gewerkschaften?
Wir als ver.di müssen nicht nach dem Gesetzgeber als Retter in der
Not rufen. Unsere tariflichen Erfolge können sich sehen lassen. Dennoch können wir im ständig wachsenden Dienstleistungssektor nicht
die zunehmende Arbeitgeberwillkür und Entrechtung verhindern,
wenn diese gesetzlich möglich sind. Denn die Entsicherung der Beschäftigungsverhältnisse hat unzuträgliche Machtverhältnisse in den
Betrieben geschaffen und Menschen verängstigt. Wir wollen, dass
die Menschen in ihrer Arbeit wieder frei und selbstbestimmt sind.
Darum geht es und nicht um Flexibilität zulasten von Menschenwürde und Sicherheit.
Gilt das auch für die europäischen Länder, die derzeit harten Struktur- sprich Arbeitsmarktreformen unterzogen werden?
Deutschland ist ein Referenzmodell für Europa. Umso wichtiger ist
es, dass bei uns die Entsicherung der Arbeitsverhältnisse zurückgenommen wird. Genau das Gegenteil will aber der Sachverständigenrat, wenn er der „Neuen Ordnung der Arbeit“ eine Absage erteilt,
weil diese die Wettbewerbsfähigkeit in Deutschland schwächen,
während die Wettbewerbsfähigkeit in Südeuropa durch Strukturreformen verbessert würde. Die deutsche Lektion ist aber: Nur durch
Innovation und Wachstum werden wir in Europa aus der Krise
kommen, nicht durch weitere Deregulierung der Arbeitsmärkte. Wir
sind durch alle Höhen und Tiefen dieser Entsicherung der Arbeitsverhältnisse gegangen. Und merken jetzt, wohin das führt.
Verwundert nicht umso mehr die allgemeine Apathie bei dieser
Bundestagswahl 2013?
Das Drama dieser Wahl ist die öffentliche Inszenierung eines Kampfes
zweier Personen, wovon die eine hoch- und die andere heruntergeschrieben wird. Verdeckt wird dadurch ein knallharter Machtkampf
um Verteilungsgerechtigkeit und um eine Neuordnung des Arbeitsmarktes in einem handlungsfähigen Sozialstaat. Meine Meinung ist:
Wer eine andere Politik will, darf auch Optionen wie Rot-Rot-Grün
nicht ausschließen. Ein Politikwechsel, wie er für unsere Gesellschaft
und für ein soziales Europa dringend erforderlich ist, erfordert auch
einen Machtwechsel. Darum darf es kein „Weiter so“ geben. ■
Mitbestimmung 9/2013
37
Wie die Parteien Arbeit
neu ordnen wollen
Wer macht sich besonders stark für die Tarifautonomie,
die Bekämpfung des Niedriglohnsektors und gegen den Missbrauch von Werkverträgen und Minijobs? Die Rezepte unterscheiden sich erheblich.
WAHLPROGRAMME
Von BARBARA ADAMOWSKY, Leiterin der Parlamentarischen Verbindungsstelle im DGB
Die SPD verspricht, den Wert der Arbeit wieder herzustellen – gemeinsam mit starken Gewerkschaften und einer
gestärkten Tarifautonomie. Dabei setzt sie stärker auf gesetzliche Lösungen. Sie will den Niedriglohnsektor mit
einem gesetzlichen, flächendeckenden, in Ost und West
einheitlichen Mindestlohn in der Höhe von mindestens
8,50 Euro zurückdrängen. Der Geltungsbereich des Arbeitnehmerentsendegesetzes soll auf alle Branchen ausgeweitet werden, um tarifliche Branchenmindestlöhne möglich zu machen. Tariftreue soll zu einem verbindlichen
Kriterium bei der Vergabe öffentlicher Aufträge gemacht
werden. Bei der Leiharbeit sollen gleiche Bezahlung und
gleiche Behandlung gegenüber anderen Beschäftigten gesetzlich durchgesetzt, der Missbrauch von Werkverträgen
durch eine klarere Definition von Scheinselbstständigkeit
bekämpft werden. Die SPD will Minijobs in einem ersten
Schritt sicherer machen (schriftlicher Arbeitsvertrag und
Kontrolle, tariflicher Stundenlohn von mindestens 8,50
Euro) und in einem zweiten Schritt grundsätzlich reformieren. Die sachgrundlose Befristung soll abgeschafft und
der Katalog möglicher Befristungsgründe überprüft werden. Die SPD will eine Anti-Stress-Verordnung ins Arbeitsschutzgesetz integrieren und den Arbeitnehmerdatenschutz
verbessern. Mit einem Entgeltgleichheitsgesetz will sie die
strukturelle Lohnbenachteiligung von Frauen beenden.
SPD-PROGRAMM http://bit.ly/spdreg13
Die Partei Die Linke will „die Arbeit, ihre Verteilung, ihre Bezahlung,
ihre Organisation neu und besser regeln“. Die Partei fordert ein Verbot
der Leiharbeit und bis dahin gleiche Bezahlung und gleiche Behandlung
und mehr Mitbestimmungsrechte für Betriebsräte bei Werkverträgen.
Minijobs sollen von der ersten Stunde an sozialversicherungspflichtig
sein. Kettenbefristungen und die sachgrundlose Befristung sollen untersagt, Praktika mit einer Mindestvergütung bzw. tarifvertraglich vergütet
werden. Die Rechte der Beschäftigten und Gewerkschaften sollen gestärkt werden, gerade was ihre Rolle bei der Aushandlung von Löhnen
betrifft. Deswegen plädiert die Partei für einen flächendeckenden Mindestlohn von zehn Euro. Dieser soll bis zum Ende der Wahlperiode auf
„60 Prozent des nationalen Durchschnittslohnes“ steigen, derzeit etwa
zwölf Euro. Tarifverträge sollen auf Antrag einer Tarifvertragspartei
allgemeinverbindlich erklärt werden können. Die öffentliche Auftragsvergabe soll an Mindestlöhne und ortsübliche Tarifverträge geknüpft
werden. Die Linke will eine Anti-Stress-Verordnung und ein individuelles Vetorecht bei der Umgestaltung der Arbeitsorganisation im Betrieb.
PROGRAMM DER LINKSPARTEI http://bit.ly/dielinke2013
38
Mitbestimmung 9/2013
TITEL
Die Partei Bündnis 90/Die Grünen verspricht,
das Tarifvertragssystem zu stärken und Tarifflucht zu bekämpfen. Sie hat sich in ihrem Wahlprogramm auf einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn von mindestens 8,50 Euro
festgelegt und will die Allgemeinverbindlicherklärung von Branchenmindestlöhnen und -tarifverträgen erleichtern. Leiharbeiter sollen
nicht nur gleich entlohnt und behandelt werden,
sondern auch einen Flexibilitätsbonus erhalten.
Zur Bekämpfung von Missbrauch bei Werkverträgen will die Partei eine rechtliche Abgrenzung
zur Leiharbeit. Sie will Kontrollen und Mitbestimmung stärken. Befristungsgründe sollen
reduziert, Befristungen ohne Sachgrund abgeschafft werden und Bagatellkündigungen nicht
mehr möglich sein. Die Minijobs sollen reformiert werden: Zuerst sollen sie eingedämmt und
arbeits- und sozialrechtlich bessergestellt und
später durch sozialversicherungspflichtige Beschäftigung ersetzt werden. Ein Entgeltgleichheitsgesetz soll mit verbindlichen Regelungen,
wirksamen Sanktionen und einem Verbandsklage­
recht ausgestattet werden. Die Grünen wollen
einen modernen Beschäftigtendatenschutz und
eine Anti-Stress-Verordnung.
PROGRAMM VON BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
http://bit.ly/gruene2013
Die beiden christlichen Parteien bekennen sich in ihrem Wahlprogramm zum Wert der Arbeit, zur Tarifautonomie und Tarifeinheit. Insgesamt sind sie davon „überzeugt, dass die Verantwortung für ein gutes Miteinander zwischen Arbeitnehmern und
Arbeitgebern in erster Linie bei den Tarifpartnern und in den
Betrieben liegt“. So werden zwar Empfehlungen für die Sozialpartner ausgesprochen, aber gesetzliche Regelungen sehr
zurückhaltend angekündigt. Eine Lohnfestsetzung durch die
Politik wird abgelehnt: Für die Bereiche, in denen es keine Tarifverträge gibt, sollen die Tarifpartner gesetzlich in die Pflicht
genommen werden. Sie sollen eine tarifliche Lohnuntergrenze
festlegen – allerdings mit Unterschieden je nach Region oder
Branche. Auch bei der Leiharbeit setzen die CDU und die CSU
auf tarifliche anstatt auf gesetzliche Regelungen. Werkverträgen
und Befristungen stehen sie positiv gegenüber, wenn auch Missbrauch verhindert werden soll. Zu Minijobs gibt es keine Vorschläge, etwas zu ändern; offensichtlich erkennen die Parteien
hier keinen Handlungsbedarf. Bei der Bekämpfung von Arbeitsstress sollen Lösungen „partnerschaftlich von Arbeitnehmern
und Arbeitgebern“ gefunden werden. Für den Anspruch von
Frauen und Männern auf gleiche Bezahlung sollen gesetzliche
Transparenzpflichten geprüft werden.
CDU/CSU-PROGRAMM http://bit.ly/cdu2013
FDP
Die Liberalen
Die FDP bekennt sich zur Tarifautonomie, was nicht verwundert, will sie doch
möglichst jeden staatlichen Eingriff verhindern. Sie lehnt einen allgemeinen, flächendeckenden Mindestlohn strikt ab, will aber Lohnuntergrenzen zulassen, die
branchenspezifisch, dezentral und differenziert in Tarifverträgen ausgehandelt
werden. Bei der Leiharbeit sieht die FDP der Gerechtigkeit durch Branchenzuschläge Genüge getan. Die gesetzlichen Kündigungsfristen, die derzeit Beschäftigungszeiten vor dem 25. Lebensjahr nicht mit einbeziehen, sollen unter Berufung
auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) verändert werden, sodass Jüngere nicht mehr diskriminiert werden. Ebenfalls soll das Vorbeschäftigungsverbot bei der befristeten Beschäftigung gelockert werden. Kettenbefristungen sollen durch einjährige Karenzfristen verhindert werden. Bei
Werkverträgen sieht die Partei keinen Handlungsbedarf. Die Verdienstgrenze für
Minijobs soll weiter erhöht werden – die FDP sieht darin ein flexibles Arbeits­
marktinstrument und einen sinnvollen Einstieg in Arbeit. Unternehmen sollen
sich zur Geschlechtergerechtigkeit selbst verpflichten.
FDP-PROGRAMM http://bit.ly/fdp20131
Mitbestimmung 9/2013
39
Die Kampagnenmacher
Die Grenzen zwischen Politik und Werbung verwischen. Klassische
Kanäle verlieren an Bedeutung, ohne dass die neuen, digitalen den Verlust wettmachen. Damit
am Ende nicht der schlechte Geschmack siegt, hilft ein Knigge.
ParteienWERBUNG
Von KAY MEINERS , Redakteur des Magazins Mitbestimmung
B
erufsmäßigen Optimismus bis zur Selbstsuggestion zeigen
in diesem Jahr in erster Linie nicht die Politiker, sondern
die Werbeagenturen, die mit Millionenbudjets hinter den
Kulissen Erfolg versprechen. Rund drei Monate vor der
Wahl trafen sie sich in Berlin: die Bundesgeschäftsführer und Wahlkampfkoordinatoren, die Agenturen, Demoskopen und Politikwissenschaftler. Auf der Konferenz „Wahlkampf-Strategien 2013“ am
11. und 12. Juni, einer gemeinsame Verstaltung der Heinrich-BöllStiftung, der Hans-Böckler-Stiftung und der Otto Brenner Stiftung
haben sie das kulturelle Unterfutter der kommenden Wahlen verhandelt – die gesellschaftlichen Milieus, die digitalen Medien.
Nicht dass es nichts zu tun gäbe in Deutschland. Aber gleich ob
Eurokrise, NSA-Enthüllungen oder andere diffuse Bedrohungslagen – immer weniger Probleme scheinen national lösbar. Trotzdem
streiten überwiegend die gleichen Parteien um Wählerstimmen wie
schon vor Jahrzehnten. Der Politologe Werner Weidenfeld, einer der
Gäste in Berlin, nennt das eine „Diskrepanz zwischen Problemstruktur, Entscheidungsstruktur und Legitimationstruktur“. Tatsächlich:
Die Wahlbeteiligung bei der letzten Bundestagswahl lag bei 70,8
Prozent, der niedrigste Wert in der Geschichte der Bundesrepublik,
folglich reichen immer weniger Stimmen zur Regierungsübernahme.
Man könne daher mit klassischen Lagerwahlkämpfen – SchwarzGelb gegen Rot-Grün – noch immer Wahlen gewinnen, sagt der
Konservative Weidenfeld, der gleichzeitig prophezeit, dass man „die
Lager bald im Museum bewundern kann“. Manch einer fragte sich,
ob diese Prognose vom Ende der politischen Lager aus Merkels
Portfolio der „asymmetrischen Demobilisierung“ stammt, die den
Gegner einschläfern soll, indem man ihm keine Angriffsfläche bietet?
Womit mir mitten im Wahlkampf sind. Lutz Meyer von der Agentur Blumberry, die für die CDU arbeitet, wirft ein Bild an die Wand,
das im Publikum sogleich für Gelächter sorgt: Ein großes Oval zeigt
die Union. Darum gruppiert, wie Satellitenorganisationen, die anderen Parteien. Das soll sagen: Die CDU ist die letzte Volkspartei.
Meyer führt einen Imagefilm vor und die CDU-Website,­sehr aufgeräumt, weg vom Klein-Klein. Ein Klick links: die sozialen Medien.
40
Mitbestimmung 9/2013
Ein Klick rechts: das Multimedia-Angebot. Dahinter, erzählt Meyer
nicht ohne Übertreibung, stehe die „modernste Digitalarchitektur
einer Partei, mindestens in Europa.“
Karsten Göbel von der Agentur Super an der Spree, die für die
SPD arbeitet, mag nicht hinter Meyer zurückstehen. Er zeigt eine
Grafik, auf der die SPD und die Grünen als gemeinsamer Balken zu
sehen sind. Dieser rot-grüne Balken ist länger als der Balken, der
die Konkurrenz, also die CDU, die FDP und die Linkspartei symbolisiert. Das Geheimnis: Göbels Balken zeigen keine neuen
Umfrage­ergebnisse, sondern Potenziale. Das soll sagen: Wir, die
SPD, werden gewinnen, wenn wir nur alle Menschen erreichen, die
uns wählen könnten. Potenzialausschöpfung heißt das in der Sprache der Agenturen. Je schlechter die Nachrichten der Demoskopen,
desto größer erscheint im Verhältnis das Potenzial.
„SHARE“ UND „LIKE“ HEISSEN DIE NEUEN WÄHRUNGEN_ Eine schi-
cke Website hat die SPD natürlich auch. Wer bei Google „mitmachen
SPD“ eintippt, stößt schnell auf die zentrale Netzplattform für freiwillige Helfer. Der Obama-Wahlkampf sei das Vorbild, sagt Göbel
stolz. Wer anklickt „Ich habe 1 Minute Zeit“, soll eine EuropaRede von Peer Steinbrück auf YouTube teilen. Später führt der Link
zu den neuen SPD-Wahlplakaten oder zu einer Kampagne gegen
Steuerflucht. „Like“(mögen) und „Share“ (teilen) heißen die Währungen im digitalen Wahlkampf. Doch die neuen Kanäle sind nicht
die wichtigsten. „Wir gewinnen die Wahl in Wohnblocks, nicht in
Blogs“, sagt SPD-Werber Göbel. Die konventionellen Medien bleiben ein bedeutender Faktor. Plakate müssen entworfen, Wahlprogramme auf einen Satz eingedampft werden. „Eine Stadt für Soja
und Soljanka“, damit haben die Grünen in Berlin geworben. „Zu
100 Prozent sozial“, dieser Slogan soll das Programm der Linkspartei zusammenfassen. „Das WIR entscheidet“, heißt die Kernbotschaft der SPD. Bei der FDP, so berichtet Armin Reins von der
Agentur Reinsclassen, gibt es ein Problem besonderer Art: „Viele
Menschen, die uns nahestehen, scheuen sich aktuell, sich auch zur
FDP zu bekennen.“
Foto: Ulli Winkler/www.talk-republik.de
TITEL
WERBEr KARSTEN göbel (l .), LUTZ MEYER (R.), ORGANISATOR THOMAS LEIF: Glaubwürdigkeit ist wichtiger als der Kanal, der bespielt wird.
JEDER PROBIERT JETZT DIE NEUEN MEDIEN AUS_ „Social Media im
Wahlkampf – Do’s and Don’ts“ heißt ein Vortrag, den Benjamin
Minack von der Agentur Ressourcenmangel hält. Minack ist eine Art
moderner Knigge, der Tipps für den Umgang mit den jüngsten Medien im Kampagnenkonzert gibt. Vieles klingt überraschend altmodisch. Er rät dazu, einen ehrlichen Dialog mit dem Gegenüber zu
pflegen – oder wenigstens einen solchen Eindruck zu erwecken. Außerdem soll man sich fragen, ob alles, was man postet, auch in der
Zeitung stehen kann. Ein echtes „Don’t“ ist eine Geschichte vom Juni:
da hatte Rolf Kleine, Bild-Journalist und Peer Steinbrücks neuer Pressesprecher, ein Foto von Võ Nguyên Giáp gepostet, dem kommunistischen Guerilla-­General aus dem Vietnamkrieg. Dazu die Bildunterschrift: „Die FDP ist wieder da“. Ein böser Seitenhieb gegen FDP-Chef
Philipp Rösler. Trotz solcher Idiotien ruft Minack allen ein fröhliches
„Just do it!“ zu. Jeder muss seine eigenen Erfahrungen machen.
Die Digitalisierung führt dazu, dass ehemals getrennte Kommunikationswege miteinander verschmelzen. Begriffe wie Internet oder
Social Media seien deswegen „als analytische Kategorien nutzlos“,
erklärt Thorsten Faas, Professor für Methoden der empirischen Politikforschung an der Universität Mainz. Denn ein Medium wie
Facebook lässt sich ganz unterschiedlich nutzen: für einen Chat
unter Freunden ebenso wie für die Hochglanzpräsenz eines Spitzenpolitikers oder als Verteilnetz für traditionell produzierte Medien-
inhalte. Viele Diskutanten in Berlin sind der Meinung, dass die
Glaubwürdigkeit und die Relevanz der Botschaften am Ende wichtiger ist als der Kanal, der bespielt wird. Zwar haben 50 Prozent
aller Internetnutzer in Deutschland heute ein Facebook-Profil. Doch
die Mehrheit nutzt Facebook eher unpolititsch.
In den USA entdecken die Kampagnenmacher zugleich Hoffnungszeichen und neue Anwendungen wie den Facebook-Button „I
voted“ (Ich habe gewählt), der den Gruppendruck im sozialen Netzwerk nutzt, um die Wahlbeteiligung zu erhöhen. Sie werden aufmerksam beobachtet. Politische „Likes“ mögen in Deutschland
heute noch ein Randphänomen sein, die Erwartungen an die neuen
Medien sind dennoch groß. Wegen der potenziell großen Reichweiten. Und wegen der Struktur, die vom Mitmachen und vom Verändern der Inhalte lebt. Auf diese Weise könnte doch noch gelingen,
was die Amerikaner „motivate­to action“ nennen: die Verführung
des Staatsbürgers zum politischen Handeln. ■
m e h r i n f o r m at i o n e n
Online-Dokumentation der Tagung „Wahlkampf-Strategien
2013“: www.talk-republik.de
Mitbestimmung 9/2013
41
Volkswagen-Immobilien-Chef
Sörgel , V WI-Neubau in Wolfsburg; Werkswohnungen in den
6oer Jahren (u.) fotogr afiert
von einem da m aligen V W-beschäf tigten: Vergabe der Wohnungen
Fotos: VWI; Hager/VWI
durch eine mitbestimmte Kommission
arbeit
VW baut nicht nur Autos
Konzerne haben ihren Besitz an Werkswohnungen heruntergefahren
oder ganz abgestoßen – VW dagegen baut den Bestand weiter aus, auch die IG BCE als großer
Immobilienbesitzer will mit ihren Partnern den „dritten Weg“ gehen.
WERKSWOHNUNGEN
Von STEFAN SCHEYTT, Journalist in Rottenburg am Neckar
D
er Blick aus dem Bürofenster hatte für Ulrich Sörgel in den vergangenen Monaten etwas Erhebendes: Täglich konnte Sörgel
verfolgen, wie der viergeschossige Anbau am Stammsitz der
Volkswagen Immobilien GmbH (VWI) vorankam. „Trotz des
harten und langen Winters sind Ende August 100 Kollegen in den Neubau
eingezogen“, freut sich der Leiter für Wohnimmobilien, Marketing und Kommunikation bei VWI. Wie die Mutter VW ist auch die Immobilien-Tochter in
den vergangenen Jahren stark gewachsen, inzwischen beschäftigt VWI rund
300 Mitarbeiter und setzt knapp 140 Millionen Euro um.
Zwar beruht ein wachsender Teil des Erfolgs auf Spezialimmobilien wie
der Volkswagen Arena in Wolfsburg oder dem Technologiezentrum Isenbüttel,
auf Logistik- und Gewerbeimmobilien sowie auf Autohäusern verschiedener
Konzernmarken auf der ganzen Welt, die VWI entwickelt und realisiert. Doch
bis heute, 60 Jahre nach seiner Gründung als VW Wohnungsbau und später
als VW Siedlungsgesellschaft, vermietet das Unternehmen Wohnungen in
Wolfsburg. Die 9500 ehemaligen Werkswohnungen, die meisten in den 1950er
und 1960er Jahren erbaut, werden noch zu jeweils einem Drittel von Konzernmitarbeitern und -rentnern bewohnt. „Bis Mitte der 1990er Jahre erfolgte die Wohnungsvergabe nur an Werksangehörige über eine innerbetriebliche,
mitbestimmt zusammengesetzte Kommission. Inzwischen vermieten wir unsere Bestände als privatwirtschaftliches Wohnungsunternehmen frei am
Markt“, erklärt Ulrich Sörgel.
AUFSICHTSRAT BESCHLIESST NEUBAUPROGRAMM_ Ein ganz normales Woh-
nungsunternehmen ist VWI dennoch nicht. Mitte der 1990er Jahre gab es
Stimmen im Konzern, man solle sich von VWI trennen und aufs Kerngeschäft
konzentrieren. VW hat diesem Ansinnen widerstanden –
auch mit den Stimmen der Arbeitnehmervertreter. Nach
wie vor wirft der Konzernbetriebsrat im Aufsichtsrat der
Volkswagen AG sein Gewicht beim Thema Wohnraum
für Arbeitnehmer in die Waagschale – weshalb das Unternehmen heute über ein interessantes betriebspolitisches
Instrument verfügt: „VWI hat die klare Aufgabe, Volkswagen dabei zu unterstützen, Top-Arbeitgeber zu sein –
und dazu gehört auch die Versorgung mit Wohnraum in
einer Stadt mit viel zu knappem Angebot“, befindet Bernd
Osterloh, Vorsitzender des Konzernbetriebsrats. „Wer
täglich zwei, drei Stunden Fahrtzeit zur Arbeit hat, weil
es in der Stadt zu wenig vernünftige Wohnungen gibt,
findet nicht mehr ausreichend Erholung.“
Im Aufsichtsrat herrsche deshalb hohes Einvernehmen
darüber, die rasante Entwicklung von VW mit einem
„schnellstmöglichen Ausbau des Wohnungsangebots“ zu
unterstützen. „Und das gelingt VWI sehr gut“, meint Osterloh. Jüngstes Beispiel: 200 portugiesische Kollegen, die
wegen mangelnder Auslastung im VW-Werk in Palmela
für ein Jahr nach Wolfsburg kamen, leben derzeit in VWIWohnungen. In der Autostadt, deren Einwohnerzahl vor
allem dank Volkswagen seit zwei Jahren wieder wächst
(aktuell hat die Stadt 125 000 Einwohner und 100 000
Arbeitsplätze), „wäre dies ohne eigenen Wohnungsbestand praktisch unmöglich gewesen“, sagt Osterloh.
Mitbestimmung 9/2013
43
Allein in den vergangenen fünf Jahren hat die VW-Immobilien-Tochter VWI 110 Millionen Euro in die Modernisierung und Instandhaltung ihrer Wohnungen investiert
und will dies auch in Zukunft mit jährlich 25 Millionen
Euro tun. Zum Teil bekommen die engen Altbauten komplett neue Zuschnitte – aus zwei Wohnungen wird eine,
aus kleinen Dreizimmerwohnungen werden großzügige
Zweizimmerwohnungen – und werden auf heutigen Neubaustandard modernisiert. Mehr noch: Weil sich die Leerstände früherer Jahre komplett auflösten (die Quote liegt
derzeit bei 0,2 Prozent), beauftragte der Aufsichtsrat 2011
die Immobilien-Tochter mit einem Neubauprogramm –
nach 30 Jahren Neubaupause: In den nächsten fünf Jahren
will VWI rund 500 Wohnungen errichten. So war erst im
Juni Spatenstich für einen Wohnpark, dem ein altes Hochhaus weichen musste. Bis zum Sommer 2014 enstehen
dort für 15 Millionen Euro sieben „Stadtvillen“ mit 73
Ein- bis Vierzimmerwohnungen. Ihre hochwertige Ausstattung – die durchschnittliche Nettokaltmiete soll bei
zirka zehn Euro pro Quadratmeter liegen – „dürfte auch
potenzielle Fach- und Führungskräfte ansprechen“, hofft
VWI-Manager Ulrich Sörgel. Er betont aber, dass die
Mehrheit der VWI-Wohnungen mit Kaltmieten zwischen
4,30 und sieben Euro pro Quadratmeter deutlich günstiger sind, worauf auch Konzernbetriebsratschef Osterloh
Wert legt: „Wir dürfen nicht nur an hochwertige Wohnungen für Fach- und Führungskräfte denken, sondern
und ÖPNV) bis 2021 für rund 80 Millionen Euro etwa 500 neue Werkswohnungen bauen zusätzlich zu den bestehenden 550 SWM-Wohnungen. Gebaut
werden vor allem Zwei- bis Dreizimmerwohnungen, aber auch Einzimmerappartements und Wohnungen mit vier bis fünf Zimmern für Familien, außerdem Wohnheime für Wochenendheimfahrer, Diplomanden oder Praktikanten. „Es wird für uns immer schwieriger, Mitarbeiter außerhalb von
München zu gewinnen. Wohnungsknappheit und hohe Mieten halten Bewerber von einem Wohnortwechsel ab“, begründet Reinhard Büttner, SWMGeschäftsführer für Personal und Soziales.
In den vergangenen Jahren seien die Mieten regelrecht „explodiert“, beklagt
Konzernbetriebsratsvorsitzender Reinhard Egger: „Ein Busfahrer mit einem
normalen Gehalt kann in München seine Miete fast nicht mehr bezahlen. Ich
kenne Mitarbeiter, die staatliches Wohngeld bekommen oder bis zu 100 Kilometer weit aus der Stadt ziehen. Für Kollegen im Schichtdienst und ältere
Mitarbeiter ist das nicht zumutbar“, findet Egger. Mit Blick auf Wohnungen
als wichtigen Faktor im Wettbewerb um Fachkräfte hatte Oberbürgermeister
Christian Ude (SPD) bereits vor anderthalb Jahren an große Münchner Unternehmen appelliert, künftig wieder Wohnungen für die eigenen Mitarbeiter
zu bauen. Wie die „Süddeutsche Zeitung“ schrieb, „verpuffte der Appell allerdings weitgehend“.
AUSVERKAUF VON WERKSWOHNUNGEN_ Den Zugriff auf eigene Wohnungen –
ein Hebel, der für den VW-Konzern im Interesse der Mitarbeiter und der
städtebaulichen Entwicklung wichtig ist – haben andere namhafte deutsche
Unternehmen jedoch freiwillig aus der Hand gegeben. Dies teilweise mit den
in den Medien vielfach beschriebenen negativen Folgen für die Mieter, wenn
die Wohnungen an ausländische Finanzinvestoren oder Verwerter veräußert
wurden. Schon 2006 prognostizierte eine Studie der HSH
Nordbank bis zum Jahr 2015 die Veräußerung von 1,5
Millionen Wohnungen – vor allem von Kommunen – an
Investoren, darunter auch nahezu alle bis dahin verbliebenen 340 000 Werkswohnungen.
So ist zum Beispiel Deutschlands größter privater Wohnungskonzern mit heute 180 000 Wohnungen, die DeutHülsmeier
sche Annington, die gerade an die Börse gegangen ist,
durch die Übernahme von Wohnungen des Energie- und Wasserversorgers
E.ON (138 000), der damaligen Reichsbahn (65 000) und von RWE (4500)
entstanden. Bereits 2009 verkaufte Siemens die letzten 1100 seiner einst 4000
Werkswohnungen und begründete dies wie üblich: „Gehört nicht zu unserem
Kerngeschäft.“ Gleichwohl zeigt der Konzern, dass er die Knappheit bezahlbaren Wohnraums im eigenen Interesse nicht ignorieren kann: In München
verfügt das Unternehmen über Belegrechte für rund 1500 Wohnungen,
deutschlandweit für rund 6500 Wohnungen; übers Intranet erfahren Siemensianer von frei werdenden Wohnungen und erhalten sie bevorzugt.
Auch der Chemiekonzern Evonik, der aus dem weißen Bereich der Ruhrkohle AG, der RAG, hervorging, hat sich von Teilen seiner Immobilien-Tochter Vivawest getrennt. Schon Anfang 2012 hatte das Essener Unternehmen
die 60 000 Wohnungen seiner Tochter Evonik Wohnen mit den 70 000 Woh-
„Die Wohnungen von Vivawest sind
eine vernünftige Anlage gewerkschaft­
lichen Vermögens.“
IG -BCE-Sprecher Christian
auch an Wohnraum, den sich Beschäftigte aus der Produktion oder Alleinerziehende leisten können.“ Im Aufsichtsrat sei vereinbart worden, dass neue oder sanierte
Wohnungen vorrangig VW-Mitarbeitern angeboten werden. „Wichtig ist, dass zuerst unsere Beschäftigten profitieren“, sagt Osterloh.
AUCH STADTWERKE MÜNCHEN BAUEN_ Zu den wenigen
Unternehmen, die im großen Stil in neue Wohnungen für
ihre Mitarbeiter investieren, gehören auch die Stadtwerke
München (SWM), die zu 100 Prozent der Landeshauptstadt gehören. Zumeist auf früheren Betriebsflächen will
das kommunale Unternehmen (u.a. Energieversorgung
44
Mitbestimmung 9/2013
Fotos: Hans Blossey/Vivawest; Arndt Sauerbrunn/Vivawest
arbeit
VIVAWEST-Wohnungen schüngelbergsiedlung, Gelsenkirchen-Buer: Aus dem Bestand der ehemaligen Ruhrkohle AG
nungen der bergbauverbundenen THS Wohnen, die je zur Hälfte der IG BCE
und Evonik gehörte, zum drittgrößten Wohnungsunternehmen Deutschlands
unter dem Namen Vivawest zusammengeführt. In diesem Frühjahr nun bekam
das Gelsenkirchener Unternehmen eine neue Eigentümerstruktur: Neuer
Haupteigentümer von Vivawest ist mit 30 Prozent die RAG-Stiftung, die die
Ewigkeitskosten aus dem Bergbau aufbringen muss; zweitgrößter Anteilseigner ist die IG BCE mit knapp 27 Prozent, 25 Prozent hält der Evonik-Pensionsfonds zur Absicherung von Firmenrenten; die verbleibenden Anteile sollen
an Investoren veräußert werden. Gemeinsam verfügen die Eigentümer über
rund 500 ehemalige Bergmannssiedlungen in 76 Kommunen von Aachen bis
Ahlen mit Schwerpunkt Ruhrgebiet, darunter auch die berühmte, denkmalgeschützte, zur Internationalen Bauausstellung modernisierte Zechensiedlung
auf dem Schüngelberg.
Im Vorfeld der Gründung von
Vivawest hatten Mieterverbände im Westen Schlimmes für die 300 000 Mieter befürchtet. Wegen des geplanten Börsengangs von Evonik hatten sie Sorge,
dass auch der Wohnungsbestand an die Börse gehen oder an einen Finanzinvestor verkauft werden könnte. „Das erschien uns wie die Wahl zwischen Pest
und Cholera“, sagt Tobias Scholz vom Mieterverein Dortmund. Alarmiert
waren die Mietervereine auch durch den Verkauf einiger Hundert THS-Wohnungen an einen „Häuserverwerter“, der die Wohnungen anschließend privatisierte und „dafür bekannt war, dass er dabei keine Samthandschuhe trug“,
wie Scholz sagt. „Da hat uns die Politik der THS als gewerkschaftsverbundenes Unternehmen enttäuscht.“
Durch die neue Eigentümerstruktur von Vivawest sei nun aber das
Schlimmste abgewendet, meint Mietervertreter Scholz, die neuen VivawestBesitzer verdienten Vertrauen: „Sowohl die RAG-Stiftung als auch der EvonikPensionsfonds und die IG BCE haben – im Gegensatz zu Finanzinvestoren –
langfristige Interessen.“ Auch die Investitionen von Vivawest in Instandhaltung
und Modernisierung im vergangenen und in diesem Jahr seien zu begrüßen,
auch wenn ihre Höhe in Relation zu den Quadratmetern an Wohnfläche „nicht
WELCHE RENDITE ERWARTET VIVAWEST?_
überragend, sondern nur ordentlich“ seien. „Vivawest
steht unter dem Druck, eine gewisse Rendite erbringen zu
müssen. Das Unternehmen wird sich sicher nicht wie ein
kommunales Wohnungsunternehmen verhalten und mit
einem oder zwei Prozent zufriedengeben können.“ Auch
die 650 Millionen Euro, die Vivawest an die Ex-Mutter
Evonik bezahlen muss, seien nicht zu unterschätzen: „Das
ist eine Menge Geld, das hoffentlich nicht die Investitionsfähigkeit in den Bestand schmälert“, meint Scholz.
Für eine mieterfreundliche Politik von Vivawest sprechen indes die Aussagen vieler prominenter Verantwortlicher. So gab Evonik-Chef Klaus Engel das „konkrete Versprechen“ ab, dass „der nachhaltige Ansatz von Vivawest
nicht vereinbar ist mit den überzogenen kurzfristigen Renditeanforderungen rein finanzgetriebener Investoren“. Und
IG-BCE-Chef Michael Vassiliadis sagt: „Vivawest steht
ohne Wenn und Aber zu seiner sozialen Verantwortung.
Dies unterscheidet uns von den durch Finanzinvestoren
geführten Unternehmen.“ IG-BCE-Sprecher Christian
Hülsmeier ergänzt: „Die Wohnungen von Vivawest sind
eine vernünftige Anlage gewerkschaftlichen Vermögens.
Aber wir sind nicht darauf angewiesen, eine maximale
Rendite zu erwirtschaften. Wir haben ein langfristiges Interesse an den Wohnungen und können nur erfolgreich
sein, wenn wir auch zufriedene Mieter haben – und darunter sind auch viele Gewerkschaftsmitglieder.“ Es ist dies
der „dritte Weg“ zwischen „den berechtigten Interessen
von Mietern und solidem Wirtschaften“, den Vivawest mit
seinen 130 000 Wohnungen antritt. „Es wird sich zeigen,
wie dieser ‚dritte Weg‘ ausgestaltet wird“, sagt Mietervereins-Sprecher Tobias Scholz. „Wir werden das Unternehmen auch in Zukunft sehr aufmerksam begleiten.“
■
Mitbestimmung 9/2013
45
Kostendruck auf Callcenter
Die drohende Insolvenz der Walter Services GmbH, Deutschlands zweitgrößten
Anbieters von Callcenter-Dienstleistungen mit über 6000 Beschäftigten, wirft ein Schlaglicht auf
den ruinösen Wettbewerb und die Schnelllebigkeit der Branche.
CALLCENTER
Von Carmen Molitor , Journalistin aus Köln
I
2009 als Erster in der Branche mit ver.di einen Entgelttarifvertrag
ausgehandelt hatte. Doch seit Juli steht Walter Services vor der Zahlungsunfähigkeit. Weil es laut Firmenleitung „massive Volumenrückgänge im Kernsegment Telekommunikation“ gegeben habe,
beantragte der Konzern beim Amtsgericht Karlsruhe Gläubigerschutz durch ein Schutzschirmverfahren. Es bietet eine Art Notbremse vor der Regelinsolvenz, schützt Unternehmen drei Monate
vor Vollstreckung und ermöglicht eine Sanierung, über die kein
externer Insolvenzverwalter, sondern die Geschäftsleitung selbst
Fotos: Walter Services GmbH; Lutz Flegel
m Juni gab es gute Nachrichten für die Beschäftigten der Walter Services GmbH: Nach Warnstreiks und einer Schlichtung,
die Ex-Bundesfinanzminister Hans Eichel leitete, hatte die
Geschäftsführung einem neuen Tarifvertrag zugestimmt. Für
die 18 tarifgebundenen deutschen Standorte des internationalen
Konzerns war damit eine stufenweise Erhöhung des Grundlohns
von 7,60 Euro auf 8,50 Euro pro Stunde bis 2014 unter Dach und
Fach. Betriebsräte und ver.di-Vertreter hofften auf ruhigeres Fahrwasser beim zweitgrößten deutschen Callcenter-Dienstleister, der
demo der c allcenter-mitarbeiter in Dresden; Walter services-Firmensitz , Et tlingen: Überraschend unter den Schutzschirm
46
Mitbestimmung 9/2013
arbeit
entscheidet. Außerdem erspart der Schutzschirm der Firma die Auszahlung von Löhnen und Gehältern; die Arbeitsagentur streckt das
Geld vor und bezahlt die Beschäftigten.
Dass Walter Services in die Pleite rutschen könnte, erfuhren am
24. Juli zuerst die Betriebsräte und einen Tag später die Beschäftigten.
„Wir waren komplett überrascht davon“, berichtet der Vorsitzende
des Betriebsrats am Firmenhauptsitz Ettlingen und stellvertretende
Konzernbetriebsratsvorsitzende, Marc Bachmann. „Bei uns in Ettlingen sind die Beschäftigten in einer Art Schockstarre.
Wobei der Schock nicht allzu tief sitzt, denn Walter Services war in den vergangenen Jahren immer mal wieder in
bewegtem Fahrwasser und vor zwei Jahren schon mal quasi insolvent. Wir sind also ein bisschen daran gewöhnt.“
Die letzten ernsten wirtschaftlichen Turbulenzen endeten 2011 damit, dass die Hedgefonds H.I.G. Capital und
Anchorage Capital den Callcenter-Dienstleister übernahmen und seine angehäuften Schulden auf null brachten.
2012 verbuchte die Walter Services GmbH laut „CallCenterProfi-Ranking 2013“ ein Nettoroheinkommen (Umsatzerlöse
ohne Mehrwertsteuer) von 184 Millionen und behauptete damit
den zweiten Platz unter den großen Spielern in der Branche.
tarifgebundene Dienstleister dieser Branche ins Trudeln geraten, bei
dem dieser Mindestlohn greifbar nah ist.
Erste Schwierigkeiten bei Walter Services deuteten sich 2012 an,
als der Dienstleister einen Hamburger Standort mit fast 300 Beschäftigten schloss. Bei den Tarifverhandlungen sei ver.di auf die
wirtschaftliche Situation eingegangen, betont Beiderwieden. „Wir
haben eine Laufzeit von drei Jahren vereinbart, um dem Arbeitgeber
zu signalisieren: Wenn wir diese Schritte gemeinsam in Richtung
„Generell besteht die Tendenz, dass die
Verträge zwischen Auftraggebern und
Callcentern wesentlich kürzer laufen
als früher.“
RUINÖSER WETTBEWERB_ Wie kann es sein, dass das Unternehmen,
das sich im Juni noch wirtschaftlich in der Lage sah, einen Stufentarifvertrag mit höheren Stundenlöhnen zu unterschreiben, quasi über
Nacht einen Schutzschirm braucht? Wachsende Planungsunsicherheit
und der ruinöse Wettbewerb in der Branche könnten die Hintergründe sein, vermutet Ulrich Beiderwieden, Bundesfachgruppenleiter im
Fachbereich „Besondere Dienstleistungen“ bei ver.di. „Generell gibt
es die Tendenz, dass die Verträge zwischen Auftraggebern und Callcenter-Dienstleistungsunternehmen wesentlich kürzer laufen als früher“, sagt der Gewerkschafter. „Statt drei Jahren Laufzeit sind heute Jahresverträge üblich. Zudem gibt es immer wieder Klauseln, dass
eine fristlose Kündigung möglich ist, wenn bestimmte Anforderungen
nicht erfüllt werden.“ Die Auftraggeber können die Preise immer
mehr drücken, beobachtet Ulrich Beiderwieden. Das ruinöse Rennen
um die Aufträge gewinnt, wer möglichst billig ist.
„Die Dienstleister müssen dann sehen, wie sie mit ihrer Belegschaft die Arbeit zu diesen Preisen überhaupt umsetzen können.“
Der Kostendruck wird an die Beschäftigten weitergereicht, die oft
mit Grundlöhnen zwischen sechs und sieben Euro die Stunde, Teilzeit- und Jahresverträgen abgespeist werden. Davon lässt sich kaum
leben: 33 Millionen Euro habe der Staat laut ver.di allein 2011 an
Aufstocker aus der Callcenter-Branche gezahlt. Ein Mindestlohn
von 8,50 Euro sei überfällig, fanden jüngst 6700 Unterzeichner einer
ver.di-Unterschriftenaktion an 52 Callcenter-Standorten. Doch die
Gründung eines Arbeitgeberverbandes als Verhandlungspartner für
ver.di lässt auf sich warten. Und jetzt ist ausgerechnet der einzige
Ulrich Beiderwieden, ver .di
8,50 Euro gehen können, dann geben wir ihm durch einen längerfristigen Abschluss auch Planungssicherheit bei der Steigerung der
Personalkosten. Der Arbeitgeber war damals davon ausgegangen,
dass die Gespräche mit Kunden über neue Aufträge auf einem sehr
guten Weg sind und er teilweise sogar Preiserhöhungen durchsetzen
kann.“ Es kam anders: Kurz nach Abschluss des Tarifvertrages erklärte die Geschäftsführung, dass Kunden angekündigt haben, Aufträge zurückzufahren. Die Krise war da.
Wie es mit der Umsetzung des Tarifvertrages weitergeht, müssen
die Betriebsräte und ver.di mit neuen Verhandlungspartnern klären.
CEO Klaus Gumpp und sein Finanzchef Sascha Zaps verließen im
Juni das Unternehmen, die Geschäftsleitung wurde komplett umstrukturiert. Joachim Hofsähs, seit Januar für das operative Deutschlandgeschäft zuständig, übernahm das Ruder. Es gebe aber positive
Signale des neuen Managements, sagt Beiderwieden: „Die Neuen
haben gesagt, dass sie zu dem Tarifvertrag stehen.“ Er geht deshalb
davon aus, dass „alles so umgesetzt wird, wie es im Tarifvertrag
steht. Auch das Zukunftskonzept, an dem die Geschäftsführung und
die Sanierungsgesellschaft arbeiten, wollen sie mit uns und den Betriebsräten intensiv beraten.“
Während des Schutzschirmverfahrens geht der Betrieb an allen
Standorten wie gewohnt weiter. Ob der Sanierungsplan in erster Linie
auf die Verbesserung der Einnahmen oder auf den Abbau von Kosten
setzen wird, ist Ende August unklar. Betriebsrat Marc Bachmann hat
angesichts der Tatsache, dass in Callcentern über 70 Prozent der Kosten Personalkosten sind, eine Theorie: „Die größte Musik wird auf
der Kostenseite spielen“, vermutet er. „Es wird eine Kombination aus
dem Versuch sein, den Lohn zu drücken und Arbeitsplätze abzubauen.“ Ob das bedeute, dass Standorte mit weniger Personal auskommen
müssten oder ganz geschlossen würden, werde sich zeigen.
■
Mitbestimmung 9/2013
47
Gerechtig­keit à la INSM
Mit Plakaten im Retro-Look versucht die Initiative Neue Soziale Markt­
wirtschaft, die Bundestagswahlen zu beeinflussen. Und operiert dabei nicht ungeschickt
mit einem Begriff, den bisher die politische Linke besetzt hat.
KAMPAGNEN
Von RUDOLF SPETH , Publizist und Lobbyismus-Forscher
I
st es gerecht, dass die Verkäuferin das Studium ihres
zukünftigen Chefs bezahlt?“ Diese und weitere sieben Fragen zur Gerechtigkeit werden uns auf einer
Plakatserie der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM) gestellt. Die Antwort kommt sogleich:
„Nein. Es ist ungerecht, wenn die Verkäuferin, die weniger als ihr künftiger Chef verdient, diesem auch noch das
Studium bezahlt.“ Doch dann kommt das Kleingedruckte: Der künftige Chef müsste sein Studium eigentlich selbst
bezahlen – mit Studiengebühren, die in allen Bundesländern wieder abgeschafft wurden. Die Anzeige fordert dazu
auf, diese wieder einzuführen – aus Gründen der Gerechtigkeit. Im Kleingedruckten wird erklärt, warum das so
sein soll: „Es ist nicht gerecht, dass die Allgemeinheit für
die Bildung Einzelner zahlt.“ Das Plakat geht an den Diskussionen der letzten Jahre vorbei. Stipendien und Bildungskredite durch den Staat sollen helfen, damit sich alle
ein Studium leisten können – und dann so etwas?
Das Plakat ist schlicht und bewusst unaufwendig gestaltet. Der Text in einer Schreibmaschinenschrift, die
beiden Figuren, eine Verkäuferin und ihr künftiger Chef,
sind im Reklamestil vergangener Jahrzehnte gezeichnet.
Beide blicken uns freundlich als Figuren aus einer heilen
Welt an. So geht es auch mit den anderen Fragen. Gerechtigkeit ist das zentrale Thema des Bundestagswahlkampfes 2013. SPD und Grüne versuchen damit zu punkten,
das Thema Gerechtigkeit ist in der gesellschaftlichen Debatte gegenwärtig, doch wird das weit verbreitete Unbehagen, dass es nicht gerecht zugeht in Deutschland vor
allem von linken, kirchlichen und gewerkschaftlichen
Gruppen aufgegriffen. Umso bemerkenswerter, dass diese
Anzeigenkampagne der INSM den Begriff Gerechtigkeit
48
Mitbestimmung 9/2013
für sich nutzt. Konservative, Liberale und rechte Gruppen haben
sich dieses Themas kaum angenommen, weil es nicht in ihr Weltbild passt. Denn wer Gerechtigkeit erstrebt, will oft Ungleichheit
reduzieren. Für Liberale hingegen ist Ungleichheit ein wichtiges
Moment der Gesellschaft. Wer mehr leistet, soll mehr verdienen,
so das Credo.
Nur gut Informierten erschließt sich, wer hinter der INSM
steckt: Sie wurde 1999 von den Arbeitgeberverbänden der Metall- und Elektroindustrie gegründet und für die nächsten zehn Jahre mit je zehn Millionen
Euro ausgestattet. Gesamtmetall ist der Dachverband dieser Verbände. Beraten wird die Initiative vom Institut der deutschen Wirtschaft (IW), das von
Verbänden und Unternehmen der privaten Wirtschaft finanziert wird. Das
INSM-Konzept wurde als neuartige Form der politischen Werbung von der
Werbeagentur Scholz+Friends entwickelt. Sie schlug auch deren Schlüsselbegriff der „Neuen Soziale Marktwirtschaft“ vor.
Mit dieser Formel versuchte das Arbeitgeberlager, sich von dem Klassenkompromiss der alten Bundesrepublik in Gestalt der Sozialen Marktwirtschaft
zu distanzieren. Was inhaltlich und politisch damit gemeint war, kam in den
folgenden Jahren zu Ausdruck: Die INSM war eine Gründung, die das wirtschaftsliberale politische Klima beförderte. Ziel des Unternehmenslagers war
es, die Stimmung in der Bevölkerung, die (aus dessen Sicht) allzu pessimistisch
und sozialstaatsorientiert war, zu verändern. Deshalb sollten die marktwirtschaftlichen Elemente gestärkt und die sozialen Elemente zurückgedrängt
werden. Mehr Eigenverantwortung, weniger Kündigungsschutz, niedrigere
Steuern, flexiblere Arbeitsmärkte und insgesamt mehr Marktmechanismen als
Steuerungsinstrumente und weniger Dirigismus waren die Slogans, mit denen
die INSM versuchte, die politische und soziale Ordnung neu zu interpretieren.
Neu und provozierend waren die kommunikativen Methoden der INSM.
Diese nutzte die Instrumente der Werbung und die Möglichkeiten der Mediengesellschaft für politische Ziele. Prominente Personen wie der damalige Präsident der Deutschen Bundesbank, Hans Tietmeyer, traten als Multiplikatoren
auf. Die Inhalte der INSM wurden für Journalisten bedarfsgerecht aufbereitet,
politik
INSM-PLAKATMOTIVE: Ein Begriff
wird marktradikal umgedeutet.
sodass die Grenzen zwischen PR und Journalismus zu verschwimmen drohten. als noch 2005. Die größere Ungleichheit wird von den
Dringende Reformen der politischen und sozialen Ordnung wurden reklamiert Bürgerinnen und Bürgern als drängendes Problem wahrund kampagnenmäßig aufbereitet. Die INSM betrat mit dieser Kampagneno- genommen, weil sie unmittelbar die Lebenschancen und
rientierung Neuland und fand zahlreiche Nachahmer. Im Kern wurde dieser die Möglichkeiten der sozialen Teilhabe betrifft. GerechKommunikationsstil beibehalten, wenn auch die Themen heute etwas mode- tigkeit ist der Gegenbegriff zu Ungleichheit, und eine Porater angepackt werden und die INSM nicht mehr zu provozieren vermag.
litik, die eine gerechtere Gesellschaft erstrebt, versucht,
Und nun Gerechtigkeit? Warum entdeckt gerade jetzt eine Initiative aus die Ungleichheit zu bekämpfen. Hier setzt nun die INSM
dem Lager der Arbeitgeberverbände ein Thema, das sonst eher im Lager der mit ihrer Gegeninterpretation an, indem sie die DifferenLinken, der Kritiker der Marktwirtschaft und des Kapitalismus zu Hause ist? Offensichtlich versucht die INSM, den
Die INSM versucht den Oppositionsparteien das
großen Oppositionsparteien, der SPD und den Grünen, das
Thema Gerechtigkeit streitig zu machen und deren InterpreThema Gerechtigkeit streitig zu machen und
tationshoheit in­frage zu stellen. Die INSM greift damit massiv
greift damit massiv in den Wahlkampf ein.
in den Wahlkampf zur Bundestagswahl ein – zugunsten der
Regierung. Von der Seite der Unternehmen ist dies ein gelungener kommunikativer Schachzug, weil sie auf den ersten Blick nicht als Auf- zierungen im Gerechtigkeitsbegriff benutzt. Es gibt nicht
traggeber zu erkennen sind. Zum Zweiten wird das Hauptthema der die eine Gerechtigkeit, sondern Chancengerechtigkeit,
Oppositionsparteien aufgenommen und mit anderen Akzenten versehen.
Generationengerechtigkeit, Bedarfsgerechtigkeit und LeisDie Wahl des Themas Gerechtigkeit als Kampagneninhalt durch die INSM tungsgerechtigkeit. Gerade mit den Begriffen Chancenkann gut begründet werden. Verschiedene empirische Erhebungen belegen, und Leistungsgerechtigkeit lässt sich eine Ungleichverteidass sich die Verteilung von Einkommen und Vermögen weiter auseinander- lung begründen. Die Bildungschancen müssen zwar gleich
entwickelt hat. Ein gängiges Maß für Ungleichheit in einer Gesellschaft ist der verteilt sein, doch was der Einzelne daraus macht, bleibt
Gini-Koeffizient, der die Einkommensverteilung in einer Gesellschaft misst. ihm überlassen. Studiengebühren können in dieser Logik
Dieser hat sich in Deutschland laut EU-Statistik von 0,26 (2005) auf 0,29 durchaus mit Argumenten der Gerechtigkeit begründet
(2011) verändert, was indiziert, dass die Einkommen ungleicher verteilt sind werden.
■
Mitbestimmung 9/2013
49
Debatte
Foto: Sarah Haupt
Gesine Schwan gibt eine politikwissenschaftliche und politische Antwort auf
Martin Höpners Forderung „Alle Optionen (zum Euro) müssen auf den Tisch“.
Der Wissenschaftler vom MPI in Köln hatte in unserer Juliausgabe argumentiert, der Euro passe nicht zur Heterogenität der europäischen Lohnregime,
und plädiert daher für einen Übergang zu einem flexibleren europäischen
Wechselkurssystem. Schwan kommt zu einem anderen Schluss: Sie wirbt für
mehr Beharrlichkeit und Solidarität – auf dem Weg hin zu einem demokratisch
legitimierten, vereinten Europa.
Europa braucht Weitblick
Mehr Kooperation will Gesine Schwan für Europa. Man müsse „so
viele Kräfte wie möglich mobilisieren, um Europa politisch und sozial besser zu einigen“
und gemeinsam lernen – auf Augenhöhe und nicht so, dass Deutschland das Sagen hat.
EURO-DEBATTE
Von Gesine Schwan. Die Politikwissenschaftlerin und Präsidentin der HUMBOLDT-VIADRINA School of Governance in Berlin und
vielfach aktiv in grenzüberschreitenden Wissenschaftsinitiativen kandidierte für das Amt der Bundespräsidentin.
a klar, alle Optionen müssen auf den Tisch! Eine
Wissenschaft, die etwas auf sich hält, muss das
fordern. Sie muss übrigens dabei auch alle denkbaren Implikationen der jeweiligen Optionen –
zum Beispiel mögliche „Kollateralschäden“ – in
den Blick nehmen. Mit seinem Plädoyer, den Euro wieder
aufzugeben und zurückzukehren zu einem „System fester,
aber koordinierter Währungskurse“, hat sich Martin Höpner zunächst einmal sehr verdient gemacht. Denn er legt
den Finger auf zwei Probleme, die in der öffentlichen Diskussion nicht zureichend beachtet werden: zum einen auf
die Unterschiedlichkeit der Gewerkschafts- und Lohnfin-
50
Mitbestimmung 9/2013
dungstraditionen in der Europäischen Union und deren
erheblichen Einfluss auf die Wirtschaftsentwicklungen in
den jeweiligen Ländern. Dabei kommt auch heraus, dass
viel zu kurz greift, wer die Produktivitäts- und Wachstumsunterschiede immer nur auf „angebotstheoretisch“
begründete Reformen wie Lohn- und Sozialleistungskürzungen, Verlängerung der Lebensarbeitszeit, Verschlankung des „Staatsapparats“, Flexibilisierung des Kündigungsschutzes zurückführt.
Zu dieser kurzschlüssigen Erklärung gehört auch die
häufig geäußerte Annahme, die Agenda 2010 sollte für
die europäischen Nachbarn ein Modell sein und von ihnen
politik
nachgeahmt werden. Nach dem Motto: „Sie haben noch
vor sich, was wir schon geschafft haben.“ Es ist wirklich
sehr verdienstvoll, dass Martin Höpner dagegen auf die
Bedeutung der Gewerkschaftssysteme und überhaupt der
Arbeits- und Sozialbeziehungen hinweist. Dabei erkennt
man schnell, dass der Kern der deutschen (auch der österreichischen und der skandinavischen) Wirtschaftskraft
zu einem großen Teil bei den Arbeitnehmern, den Gewerkschaften (die vor der Krise in Deutschland noch als störender Sand im Getriebe kleingemacht werden sollten)
und der Tradition der Sozialpartnerschaft liegt, einer
Konstellation, die nun nicht einfach mal schnell woanders
nachgeahmt werden kann.
Zum Zweiten weist Martin Höpner zu Recht auf die
oft leere Rhetorik hin, mit der die Ergänzung der Währungsunion durch eine politische Union gefordert wird,
wobei völlig offenbleibt, wie diese aussehen sollte. Dabei
ist die zentrale Frage: Kann Europa aus der unfruchtbaren
Gegenüberstellung zwischen Rückkehr zum Staatenverbund einerseits und einem starken
und notwendig zentralistischen
Bundesstaat andererseits einen
fruchtbaren und demokratisch legitimen Ausweg finden?
Martin Höpner hat auch recht,
wenn er auf die Schwierigkeiten
hinweist, die die europäischen Gewerkschaften mit langem Atem
überwinden müssen, wenn sie ihre historisch gewachsenen
und kulturell tief verwurzelten ganz unterschiedlichen
Politiken zugunsten einer mehr koordinierten und stabileren Lohnfindung und Tarifpartnerschaft in der gesamten
Europäischen Union weiterentwickeln wollen. Und nicht
nur die Gewerkschaften: Auch die Arbeitgeber und ihre
Verbände müssten ihrerseits zu einer neuen Einstellung
gegenüber Arbeitnehmern sowie Gewerkschaften und ihrem unverzichtbaren Beitrag für eine produktive Wirtschaft finden. Sie müssten bereit sein, Vertrauensverhältnisse zwischen den „Sozialpartnern“ aufzubauen, die
letztlich der Grund für die Produktivität der deutschen,
österreichischen und skandinavischen Wirtschaft sind,
nicht niedrige Löhne, die in Deutschland, wie wir sehen,
für 20 Prozent der Vollzeit Arbeitenden zum Leben nicht
ausreichen. Das über lange Zeit aufgebaute Vertrauen,
das gemäß vielen politik- aber auch wirtschaftswissen-
schaftlichen Untersuchungen „Transaktionskosten reduziert“, ist es vor allem, was wir sowohl für einen Aufschwung der europäischen Wirtschaft als auch für eine
gelungene, Legitimation schaffende politische Union brauchen. Freilich: Wenn Höpner wegen der Schwierigkeit,
solche sozialpartnerschaftlichen Beziehungen auch im
übrigen Europa aufzubauen, dafür plädiert, derartige politische Koordinationsbemühungen von vornherein als
aussichtslos aufzugeben, dann liegt die Logik seines Arguments darin, überhaupt zum System der großen innereuropäischen Unterschiede und der Nationalstaaten zurückzukehren, sie vielleicht sogar zu verstärken.
Die Produktivitätsunterschiede, die immer wieder
durch Wechselkursänderungen ausgeglichen werden können, würden durch Renationalisierung von Währungen,
Gewerkschaftssystemen, Sozialbeziehungen, in denen sie
begründet sind, ja nur fortgesetzt. Dabei scheint Höpner
auch den „Standortwettbewerb“ (um die Produktionsfaktoren Kapital und Arbeit) innerhalb Europas zu akzeptie-
„Wenn wir nicht zu Nationalstaaten zurück­
wollen noch hin zu einem zentralistischen
europäischen Bundesstaat, dann müssen wir
die Standortkonkurrenz überwinden.“
ren und festschreiben zu wollen. Seit Maastricht war der
ja gerade ein wesentlicher Faktor dafür, warum es nicht
zu einer engeren wirtschafts-, steuer- und finanzpolitischen
Zusammenarbeit kam. Denn Staaten und deren Gewerkschaften, die im Wettbewerb zueinander stehen, werden
sich ihrer Hebel, mit denen sie sich gegen die anderen
durchsetzen können, nicht begeben. Zugleich hat der
Standortwettbewerb die Diskrepanzen zwischen Arm und
Reich innerhalb und zwischen den nationalen Gesellschaften verschärft.
Wenn Höpner die koordinierten Lohnfindungssysteme
als eine ausschlaggebende Ursache für die Verringerung
der Lohnstückkosten in den prosperierenden europäischen
Ländern ansieht; wenn er zugleich einem großen Teil der
Länder in der Europäischen Union eine Reform ihrer Gewerkschaftssysteme zugunsten der Senkung der Lohnstückkosten nicht zutraut, will er es bei der Fortset-
Mitbestimmung 9/2013
51
zung der inneren Teilungen und der zunehmenden
Diskrepanzen zwischen Arm und Reich in Europa belassen.
Im Klartext heißt dies: im globalen Wettbewerb Europa
nicht gemeinsam zu stärken, sondern die Zukunft in nationalen Alleingängen zu suchen. Was übrigens rund 80
Prozent der Europäer, auch der Deutschen, nicht wollen.
Wenn man sich dann noch die völlig unberechenbaren
politischen und psychologischen Folgen eines Aufbrechens
der gemeinsamen Währung (nachdem sie einmal eingeführt worden ist) vorzustellen versucht und dazu die Währungsspekulationen der Finanzmärkte, für die es ein Leichtes ist, die Nationalstaaten gegeneinander auszuspielen,
dann sieht die Bilanz zwischen Renationalisierung einerseits und in der Tat mühsamer Arbeit an freiwilliger Koordination in Europa schon anders aus.
Denn darauf läuft die Alternative hinaus: Wenn wir
weder zurückkehren wollen zu untereinander vertraglich
verbundenen Nationalstaaten noch einen zentralistischen
europäischen Bundestaat anstreben – und hier bin ich ganz
nahmen des Europäischen Parlaments zusammen mit
nationalen Parlamentariern in allen Ländern gleichzeitig
debattiert und damit in dieser Entscheidungsphase den
Europäischen Rat und die Kommission konfrontiert.
Auf diese Weise kann es gelingen, durch eine synchrone Diskussion gemeinsamer Themen jene europäische
Öffentlichkeit herzustellen, die es den Bürgern Europas
ermöglichen würde, durch gegenseitig interessierende
Kommunikation ein Zusammengehörigkeitsgefühl zu
schaffen und sich mit dem gesamten europäischen Gemeinwesen so zu identifizieren, wie das im 19. Jahrhundert
in den Nationalstaaten gelungen ist.
Ein solches Europa wäre auch in der Lage, eine gewichtige Rolle nach innen und nach außen zugunsten von
gleicher Freiheit und Solidarität in einer globalisierten
Wirtschaft zu spielen. Damit könnte man die „Spirale
nach unten“, die das Zeitalter der Deregulierung ausgelöst
hat und die überall auf der Welt die Arbeitnehmer zu
Verlierern macht, zugunsten einer weltweiten „Spirale
nach oben“ umkehren. Das ist anstrengend, das verlangt Beharrlichkeit und das
berühmte Max Weber’sche Bohren harter
Bretter. Aber damit setzen wir uns doch
ein stimulierendes, kein resignativ rückwärtsgewandtes Ziel!
Man kann den immer wieder beschworenen Mangel, dass die Währungsunion
ohne den Unterbau einer politischen Union in Europa eingeführt worden ist, dadurch zu beheben
versuchen, dass man die Geschichte wieder zurückdreht.
Man kann in der damaligen Entscheidung für den Euro
aber auch einen klugen Schritt oder zumindest die Chance sehen, im weiteren Horizont der weltpolitischen Entwicklung so viele Kräfte wie möglich zu mobilisieren, um
Europa politisch und sozial besser zu einigen.
Schon jetzt haben erhebliche Teile der Wirtschaft ein
großes Interesse an der Erhaltung des Euro, weil er ihnen
hinderliche Unsicherheiten und Transaktionskosten unterschiedlicher Wechselkurse erspart. Weitsichtige politische Führung läge darin, diese Kräfte über ihre engeren
betriebswirtschaftlichen Interessen hinaus auf eine europäische Einigung zu lenken, die allen, gerade auch den
Arbeitnehmern, überhaupt den europäischen Bürgern
zugutekommt. Niemand kann erwarten, dass uns das in
den Schoß fällt!
■
„Mit einem demokratisch legitimierten
Europa könnte man die ‚Spirale nach un­
ten‘, die das Zeitalter der Deregulierung
ausgelöst hat, umkehren.“
bei Martin Höpner –, dann müssen wir auf allen Ebenen
zu mehr geduldiger, respektvoller und solidarischer Kooperation statt Konkurrenz gelangen. Dazu gehört vor
allem, den „Standortwettbewerb“ zwischen den europäischen Staaten entschieden zu verabschieden und stattdessen systematisch gemeinsam zu lernen – auf Augenhöhe
und nicht so, dass Deutschland ausdrücklich oder unter
der Hand das Sagen hat.
Man könnte auch als Strategie einer demokratisch legitimen politischen Union das „Europäische Semester für
die Koordinierung der Wirtschaftspolitik“, das die frühzeitige Überprüfung der nationalen Haushalts- und
Reform­entwürfe erlaubt, parlamentarisieren und damit
demokratisieren. Indem man bei der europäischen Vorbereitung der nationalen Budgetrichtlinien – was faktisch
auf eine gemeinsame europäische Wirtschafts-, Finanzund Haushaltspolitik hinausläuft – öffentliche Stellung-
52
Mitbestimmung 9/2013
politik
Debatte
Es liegt nicht nur an den Löhnen
Foto: David Ebener
Für Michael Wendl, Soziologe und ehemaliges Mitglied der
ver.di-Landes­leitung Bayern, ist Martin Höpners Blick auf die Lohnregime
als Ursache für die Ungleichgewichte der Eurozone zu eindimensional.
Eurokrise
M
artin Höpner macht unterschiedliche Lohnregime und Lohnentwicklungen in den Ländern der Eurozone für die Krise der europäischen Währungsunion verantwortlich. Ohne
eine Preisgabe der Tarifautonomie könnten diese nicht angeglichen werden. Eine europäische Koordinierung nationaler
Lohnregime sei mit der Tarifautonomie nicht möglich.
An dieser Sicht irritiert, dass sie in der Entwicklung der Löhne in der Währungsunion das zentrale Scharnier im Wettbewerb
der Unternehmen sieht. Diese Sichtweise ist zu einfach, findet
doch der Wettbewerb nicht nur in der Eurozone, sondern in der
gesamten Weltwirtschaft statt. Rund 60 Prozent der deutschen
Exporte gehen in die Weltwirtschaft außerhalb der Eurozone
und sorgen dafür, dass die Eurozone insgesamt als Wirtschaftsraum international wettbewerbsfähig geblieben ist. Es ist auch
nicht so, dass die deutsche Industrie die Produkte griechischer,
irischer oder portugiesischer Unternehmen vom Markt gedrängt
hat. Auch bestehen die Leistungsbilanzdefizite der Krisenländer
in erster Linie nicht aus den überhöhten Importen deutscher,
niederländischer, österreichischer oder finnischer Produkte. Eine
große Rolle bei den Leistungsbilanzdefiziten spielt die Energieund Rohstoffeinfuhr dieser Länder, deren Wirtschaft und Lebensweise nach wie vor energieintensiv geblieben ist.
Anders als Höpner schreibt, ist das deutsche Problem von
zu niedrigen gesamtwirtschaftlichen Lohnstückkosten nicht die
Folge eines „hochkoordinierten Lohnregimes“ in Deutschland,
sondern das Ergebnis einer massiven Erosion der Wirkung der
Flächentarifverträge, die zu einem deutlich wachsenden Sektor
von nicht tariflich fixierten Niedriglöhnen geführt haben. Wir
haben den Zerfall eines vormals koordinierten Lohnregimes,
der schon in den 1990er Jahren eingesetzt hat. Außerdem entscheiden über die wirtschaftliche Entwicklung in den Mitglieds-
ländern nicht nur die gesamtwirtschaftlichen Lohnstückkosten
und die nationalen Lohnregime, sondern auch die Geldpolitik
der EZB, die mit dem Niveau der realen Zinsen Investitionen
fördert oder blockiert. Wir haben insgesamt einen Mangel an
verbindlicher Koordination der wirtschaftlichen Entscheidungen im Euroraum – nicht nur bei den Löhnen, sondern ebenso
bei der Finanzierung der Investitionen, bei der völlig unzureichenden Kontrolle der Kreditschöpfung der Banken und bei
der Steuerpolitik der Nationalstaaten, die einen Steuersenkungswettbewerb zugelassen hat.
Bei der politischen Konstruktion der Währungsunion ist
nicht beachtet worden, dass wir es hier mit unterschiedlichen
nationalen Systemen von Kapitalismus zu tun haben, die sich
allein mit der Klammer einer gemeinsamen Währung nicht angleichen lassen. Es hat in den 1990er Jahren eine neue europäische Arbeitsteilung mit Deutschland als dem industriellen
Zentrum begonnen. Deutschland hat den Schock der Finanzmarktkrise trotz des ökonomischen Desasters seiner Banken
besser überstanden, weil die Kooperation zwischen Kapital und
Arbeit im industriellen Kern trotz der Erosion der Tarifbindung
außerhalb dieses Kerns stabil und der Rheinische Kapitalismus
in diesem Sektor funktionsfähig geblieben ist.
Der Weg eines Ausstiegs aus dem Euro, den Höpner, Lafontaine und andere vorziehen, ginge einher mit noch höheren
wirtschaftlichen und sozialen Risiken als der Weg zu einer europäischen Wirtschaftsregierung. Das Instrument des Wechselkurses würde nicht ausreichen, um den Mangel an einer international wettbewerbsfähigen industriellen Wertschöpfung
ausgleichen zu können. Letztlich würde durch die Rückkehr
zu nationalen Währungen die bereits bestehende ökonomische
Hierarchie zwischen den Gesellschaften der europäischen Union vergrößert.
■
Mitbestimmung 9/2013
53
„Da wird eine rote Linie
überschritten“
In deutschen Schulbüchern werden Themen wie Reichtumsverteilung
oder Marktversagen ignoriert, während die Unternehmen in Schulmaterialien munter
ihr Weltbild ausbreiten, kritisiert Didaktik-Professor Tim Engartner.
INTERVIEW
Die Fragen stellte die Journalistin Jeannet te Goddar .
wissen
Herr Engartner, an Schulen in Deutschland spielt sich ein didaktisches Desaster ab, sagen Sie. Ein großes Wort! Was meinen Sie
damit?
Wenn Sie sich Schulmaterialien aus dem im Grunde weiten Feld der ökonomischen Bildung anschauen, stellen Sie schnell fest: Es werden ausschließlich
zwei Themenfelder bestellt: „Entrepreneurship Education“ und finanzielle
Allgemeinbildung. Es geht also nicht darum, Schüler umfassend in ökonomischen Fragen zu bilden, sondern darum, Unternehmergeist zu wecken. Das
verträgt sich nicht mit dem Allgemeinbildungsauftrag der Schulen und geht
an der Lebenswirklichkeit vorbei: Neun von zehn Schülern werden später als
abhängig Beschäftigte arbeiten – und nicht als Selbstständige.
Foto: Frank Preuss
Und das zweite Thema? Finanzielle Grundbildung braucht doch jeder.
Tatsächlich geht es dort in der Regel um Marketing für Produkte der Finanz­
industrie. Die Initiative MyFinanceCoach zum Beispiel, zu deren Förderern
die Allianz ebenso gehört wie McKinsey und die Vereinigung der Bayerischen
Wirtschaft, verfügt über ein Jahresbudget von 2,3 Millionen Euro. In ihren
Gesprächsleitfäden für Lehrer wirbt sie offensiv für das Kapitaldeckungsprin-
Tim Engartner ist Professor für Didaktik der
Sozialwissenschaften an der Universität Frankfurt/
Main. Er berät die Hans-Böckler-Stiftung bei der
Erstellung von Unterrichtsmaterialien und ist Autor
des Böckler-Schule-Themenhefts zur Finanzkrise.
zip in den Sozialversicherungen, um zugleich die unser
System dominierende Umlagefinanzierung zu diskreditieren. Deswegen sei im Unterricht der Nutzen privater Absicherung zu vermitteln, heißt es dort. Das ist Produktwerbung für private Altersvorsorge – im Übrigen reichlich
verfrüht und völlig an den Interessen der Schüler vorbei.
Grundsätzlich gilt: Es ist Aufgabe staatlich geprüfter Lehrer und Schulmaterialien, Schüler auszubilden, nicht die
von Unternehmensmitarbeitern und Unternehmensbroschüren. Damit wird eine rote Linie überschritten.
Die Institute und Initiativen, die sich in der ökonomischen Schulbildung betätigen, beklagen ganz andere
Dinge: Der Staat kümmere sich zu wenig um wirtschaftliche Bildung; wenn er es doch tue, dann unter Zuhilfenahme tendenziöser, industriefeindlicher Materialien.
Diesen Mythos hat eine Studie des Georg-Eckert-Instituts
für internationale Schulbuchforschung in Braunschweig
im Frühjahr eindrücklich widerlegt: „Die deutschen Schulbücher zeichnen ein erstaunlich
differenziertes Bild der Wirtschaft und unternehmerischer
Tätigkeit. Eine grundsätzlich
ablehnende Haltung gegenüber
Unternehmertum und Marktwirtschaft kann ihnen nicht
attestiert werden“, heißt es darin. Der Vorwurf, deutsche
Schulbücher blendeten unternehmerische Perspektiven aus,
ist aus der Luft gegriffen. Ignoriert werden stattdessen andere
Themenfelder: die Kluft zwischen Arm und Reich zum Beispiel, aber auch die Themen
Arbeitsrecht, Funktionen von Geld und Marktversagen
kommen kaum vor.
„Der Vorwurf, Schul­
bücher blendeten unter­
nehmerische Perspek­
tiven aus, ist aus der
Luft gegriffen. Ignoriert
werden Themen wie
Arm und Reich.“
Was sollen die Schulen denn nun tun? Jede Kooperation,
auch mit dem lokalen Mittelstand, meiden? Viele betrachten das als weltfremd.
Mitbestimmung 9/2013
55
B ö c k le r S c h u le
Neues Themenheft zu
Trends der Arbeitswelt
Wohin gehen die Trends der
Arbeitswelt? Hin zu Flexibilisierung und prekären Beschäftigungsverhältnissen?
Oder weg von Fremdbestimmung und hin zu mehr
Selbstbestimmung? Und – was ist eigentlich das Charakteristische an der Erwerbsarbeit? Über diese und
noch weit mehr Fragen können sich Schülerinnen und
Schüler ab der 9. Klasse nun mit einem neuen Themenheft („Atypisch, flexibel, gut? – Neue Trends in der Arbeitswelt“) von Böckler Schule Gedanken machen. Auf
50 Seiten werden ökonomische, politische und soziale
Aspekte der Arbeitswelt beleuchtet – in Texten, Karikaturen, Schaubildern, Arbeitsaufträgen und ergänzt
durch einen didaktisch-methodischen Kommentar.
Das Heft ist das zweite des 2012 geschaffenen Lehrerportals der Hans-Böckler-Stiftung zur sozioökonomischen Bildung. Der Anspruch ist, seriöse Unterrichtsmaterialien zu erstellen, die auch kontroverse Positionen
zulassen und didaktisch solide sind. Das erste Themenheft zur Wirtschafts- und Finanzmarktkrise – Autor Tim
Engartner – wertete der Bundesverband der Verbraucherzentralen als empfehlenswert: „abwechslungsreich, kreativ, gut strukturiert und verschiedene Lernformen ansprechend“. Daneben bietet Böckler Schule
mehrseitige Unterrichtseinheiten für den Einsatz ab der
9. Klasse an: zu den Themen Niedriglohn, Mitbestimmung und Europas Sparpolitik zum Beispiel.
■
Alle Schulmaterialien stehen zum Download bereit. Die Themenhefte zur Finanzkrise (2012) und zu den Trends in der Arbeitswelt (ab 16. September 2013) können über die Website auch
als gedruckte Exemplare bei der Hans-Böckler-Stiftung bestellt
werden. Die Unterlagen sind kostenlos.
Telefon: 02 11/77 78-151
www.boeckler-schule.de
56
Mitbestimmung 9/2013
Im Bereich der Arbeitsweltorientierung sind Kontakte zu
und Besuche von Unternehmen natürlich nicht grundsätzlich schlecht. Aus pädagogischer wie aus didaktischer Sicht
entscheidend bleibt: Wer hat das Heft in der Hand, wer
kontrolliert die Inhalte? Und werden die Grundsätze politischer Bildung beachtet? Wenn eine Interessengruppe zu
Wort kommt, muss auch die andere gehört werden, also:
Wer die Bundeswehr einlädt, muss auch die Bufdis, die
Bundesfreiwilligendienstler, in den Unterricht holen, auf
den Besuch der Versicherer müsste einer der Verbraucherzentralen folgen. Und so weiter.
Das sollten Lehrer, die Fächer wie Politik und Wirtschaft
unterrichten, auch wissen.
Leider wird das Fach zu häufig nach dem Prinzip „Avanti dilettanti“ unterrichtet. So wird in Nordrhein-Westfalen
nahezu jede zweite Unterrichtsstunde in den sozialwissenschaftlichen Fächern von Fachfremden erteilt, also von
Lehrern, die für andere Fächer ausgebildet sind. Das
Grundproblem ist: Der Staat kommt seinen Verpflichtun-
„Der Staat kommt seinen
Verpflichtungen nicht nach –
weder beim Lehrernach­
wuchs noch bei der Ver­
sorgung der Schulen mit
Lehr- und Lernmitteln.“
gen nicht nach, und zwar weder bei der Sicherung des
Lehrernachwuchses noch bei der Ausstattung der Schulen
oder der Versorgung mit Lehr- und Lernmitteln. Durch
diese Defizite an den Schulen wird dem Kampf um die
Köpfe der Schüler Tür und Tor geöffnet. Schließlich – das
weiß jedes Unternehmen – braucht es im Vergleich zu
Erwachsenen als Zielgruppe nur ein Viertel des Werbeetats, um ein Kind zu beeinflussen.
Der DGB und die GEW erhoben jüngst die Forderung,
externe Unterrichtsmaterialien vor ihrem Einsatz von
einer Prüfstelle der Kultusministerien prüfen zu lassen.
Die Ministerien lehnen das ab.
Dabei wäre das in der Tat überfällig. Schulbücher durchlaufen in 13 von 16 Bundesländern ein differenziertes
Zulassungsverfahren; Materialien privater Anbieter hin-
wissen
Lobbyco n t ro l
Wirtschaft geht an die
Schulen professionell heran
Website von Myfinancecoach: Zu den Förderern
gehören die Allianz, McKinsey und die bayerische Wirtschaft.
gegen kommen völlig ungefiltert in den Unterricht. Das
ist überhaupt nicht einzusehen. Um noch einmal deutlich
zu machen, wie wenig wir es mit einem Nischenphänomen
zu tun haben: 15 der 20 der umsatzstärksten Unternehmen
in Deutschland produzieren Unterrichtsmaterialien. Und
auch die Schulleistungsstudie Pisa hat bereits 2006 – weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit – ergeben, dass
neun von zehn Schulleitern an Sekundarschulen in
Deutschland sagen: Wirtschaft und Industrie üben Einfluss
auf die Schüler aus. OECD-weit ist das ein Negativrekord.
Nun warnen Sie einerseits vor Verfechtern von Partikularinteressen in der Schule – und machen doch selbst mit:
Sie beraten die Hans-Böckler-Stiftung bei der Erstellung
ihrer Unterrichtsmaterialien und haben selbst ein Themenheft zur Wirtschafts- und Finanzmarktkrise verfasst.
Ertappt – eine gewisse Doppelmoral können Sie da nicht
in Abrede stellen. Aber: Der Hans-Böckler-Stiftung mag
es um Fragen gehen, die für Arbeitnehmer relevant sind,
eingebettet in eine auch kontroverse Darstellung von Aspekten der Arbeitswelt; nicht aber um auf der Hand liegende Gewinnerzielungsabsichten. Das ist ein fundamentaler
Unterschied. Vor allem aber bin ich angesichts dessen, dass
die Lage nun einmal so ist, wie sie ist, der Überzeugung:
Man kann sich um ökonomische Bildung auch verdient
machen – statt mit ihr zu verdienen. Und das bedeutet, in
einem Angebot sehr zweifelhafter Vielfalt einige Leerstellen zu füllen und kritisch eine Entwicklung auf den Finanzmärkten samt ihrer Hintergründe zu beleuchten,
deren Folgen im Übrigen auch alle Schüler betreffen. ■
Nach Erkenntnissen der
Organisation Lobbycontrol
nimmt die Einflussnahme
auf Schülerköpfe in den
vergangenen zehn Jahren stetig zu. Mit der stärkeren Öffnung
der Schulen, schreibt Lobbycontrol in einem aktuellen Diskussionspapier, habe sich die Einflussnahme auf den Unterricht
stark professionalisiert. Gespeist würde die Motivation von
Unternehmen, an Schulen aktiv zu werden, aus vier Quellen:
Durch die Einflussnahme auf den Unterricht würden erstens
Stimmungen in der Gesellschaft langfristig beeinflusst, im
Englischen ist dieses Vorgehen unter Deep Lobbying bekannt.
Als Beispiel dient die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft
mit ihren von einer marktliberalen Agenda deutlich gesteuerten Unterrichtsmaterialien, die etwa von „Focus Money“ erstellt und von der INSM gesponsort werden und in denen
Subventionen pauschal als „süßes Gift“ bezeichnet und niedrige Stundenlöhne von sieben Euro verteidigt werden.
Zweitens sind Schulen ein geeigneter Ort, um das Image
aufzupolieren; unter anderem die Energiebranche macht sich
das zu eigen. Drittens werden bereits Kinder als Käufer angesprochen. Ein besonders dreistes Beispiel ist der SüßgetränkHersteller Capri Sonne, der von der Verbraucherschutzorganisation foodwatch jüngst mit dem Goldenen Windbeutel für die
dreisteste Werbemasche 2013 ausgezeichnet wurde, weil er –
nicht zuletzt mit Unterrichtsmaterialien – Kinder anrege, ein
völlig überzuckertes Getränk zu konsumieren. Viertens beobachtet Lobbycontrol immer mehr Engagement von ortsansässigen Unternehmen, die an Schulen um potenzielle Fachkräfte
werben. Der Gesamteindruck der Initiative für Transparenz ist
vernichtend: Es gehe nicht um „Bildung und Erkenntnis. Sondern um Meinungsmache und Manipulation“.
■
Das Lobbycontrol-Papier zum Download:
www.lobbycontrol.de/schwerpunkt/lobbyismus-an-schulen/
Mitbestimmung 9/2013
57
Foto: Sören Zieher/HBS
Karin Schulze-Buschoff ist
Arbeitsmarktexpertin am WSI
der Hans-Böckler-Stiftung.
zur Sache
Karin Schulze-Buschoff
über Auswege
aus der Altersarmut
„Das am Leistungsprinzip orientierte
Alterssicherungssystem wird
flexiblen und prekären Erwerbs­
verläufen immer weniger gerecht.“
War lange Zeit die Beitragshöhe DAS Thema der Rentendebatte,
lautet heute die drängendste Frage: Wird meine Rente zum Leben
reichen? Befürchtungen werden laut, das absehbar sinkende Leistungsniveau könnte künftig zu einem deutlichen Anstieg der Altersarmut führen. Bereits heute bekommen ostdeutsche Männer, die
derzeit in Ruhestand gehen, im Schnitt 867 Euro monatlich – das
sind fast 200 Euro weniger, als der männliche Durchschnittsrenter
in den neuen Bundesländern erhält. Altersarmut und Alterssicherung
sind daher auch ein Thema im Bundestagswahlkampf.
Zwei Entwicklungen verstärken diese Besorgnis: zum einen die
jüngsten Rentenreformen und zum anderen die Dynamik am Arbeitsmarkt. So zeichnet sich im Rentensystem eine verstärkte Erwerbszentrierung ab. Als Leistung, die einen Rentenanspruch begründet, zählt immer stärker die individuell erbrachte Arbeit.
Phasen, in denen keine Beiträge gezahlt werden, etwa während
Ausbildung oder Arbeitslosigkeit, wurden dagegen abgewertet. Der
Erwerb von Ansprüchen wird damit auf die immer kürzer werdende­
Phase des Erwerbslebens reduziert.
Auf dem Arbeitsmarkt wiederum haben sich sowohl atypische
Beschäftigung als auch der Niedriglohnsektor ausgeweitet. Zuletzt
wurde vor allem mit den Hartz-Reformen das Ziel verfolgt, eine
stärkere Aktivierung von Arbeitssuchenden umzusetzen, indem einzelne atypische Beschäftigungsformen weiter dereguliert wurden.
Entsprechend ist der Gesamtumfang von Leiharbeit, Teilzeit, geringfügiger Beschäftigung und befristeter Beschäftigung gestiegen. Die
Arbeitsmarktentwicklung spiegelt sich dementsprechend in zunehmend flexiblen Erwerbsverläufen wider. Daher erscheint es paradox,
58
Mitbestimmung 9/2013
dass sich die gesamte Logik des Alterssicherungssystems nach wie
vor an der Vorstellung eines Arbeitnehmers mit ungebrochener und
in Vollzeit ausgeübter Erwerbstätigkeit von der Ausbildung bis zum
Altersrenteneintritt orientiert.
Die für das Rentensystem erforderlichen Vorleistungen können
infolge von Arbeitslosigkeit, prekärer Beschäftigung und längeren
Ausbildungszeiten nur noch unter erschwerten Bedingungen erbracht werden. Vor dem Hintergrund des Aktivierungsparadigmas
wird in Bezug auf die Höhe der späteren Rente jedoch verstärkt auf
Leistungserbringung gepocht. Zwischen Anspruch und Wirklichkeit
klafft so eine Lücke. Was kann getan werden, wenn das entlang dem
Leistungsprinzip organisierte deutsche Alterssicherungssystem dem
Wandel der Erwerbsarbeit nicht mehr gerecht wird?
Notwendig sind erstens Reformen des Arbeitsmarkts, etwa durch
die Regulierung von Arbeits- und Einkommensbedingungen, beispielsweise die Einführung eines flächendeckenden gesetzlichen
Mindestlohnes, die Stärkung der Tarifbindung und angemessene
Löhne sowie die Eindämmung von geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen. Letztlich würde das auch zu höheren Renten führen.
Zweitens könnte die Rentenversicherung die veränderten Rahmenbedingungen besser berücksichtigen. Zur adäquaten Einbeziehung atypischer Beschäftigungsformen in die sozialen Sicherungssysteme wäre eine Erwerbsverlaufsperspektive nötig unter Berücksichtigung von Zeiten unsteten Einkommens und Brüchen in der
Erwerbsbiografie. Möglich wäre eine Wiederbelebung der „Rente
nach Mindesteinkommen“. Dabei wurden bei der Berechnung der
Rentenhöhe niedrige Einkommen höher angesetzt, als sie tatsächlich
aus der stiftung
waren, damit die Rente auch zum Leben reichte. Zudem könnten Ausbildung und längere
Arbeitslosigkeit besser bewertet werden. Helfen
könnte auch die Idee sogenannter „flexibler
Rentenanwartschaften“. Sie zielt darauf ab,
dass Phasen, in denen der oder die Versicherte
in Teilzeit gearbeitet hat, im Alter besser von
den Lebensabschnitten „aufgefangen“ werden,
in denen der Arbeitnehmer eine volle Stelle hatte. Denkbar ist drittens ein Systemwechsel hin
zu einem Rentensystem, das statt auf der Leistungsgerechtigkeit auf der Idee der Bedarfsgerechtigkeit basiert und eine stärkere soziale
Umverteilung vorsieht, etwa in Form einer steuerfinanzierten und armutsvermeidenden Grundrente. Solche Grundrentensysteme, wie sie etwa
in Dänemark oder den Niederlanden etabliert
sind, erweisen sich hinsichtlich der Bewältigung
der Herausforderungen durch zunehmend flexible Arbeitsmärkte als überzeugender als die
traditionelle deutsche Rentenversicherung.
Trotz erwartbarer Hürden sollten einzelne
Reformoptionen gründlich und umfassend geprüft werden – damit die Lücke, die zwischen
der Funktionslogik des Sicherungssystems und
der gesellschaftlichen Realität klafft, nicht noch
größer wird.
■
Foto: Ulrich Baatz
WIR – DIE HANS-BÖCKLER-STIFTUNG
Die Stress-Expertin
Psychische Arbeitsbelastungen, wie sie entstehen und was man dagegen tun
kann, das sind die Kernthemen von Elke Ahlers am WSI. „Das Thema wird
für Arbeitnehmer und Gewerkschaften immer wichtiger“, sagt die Sozialwissenschaftlerin. „Hauptursachen für den zunehmenden Stress sind höhere
Verantwortung am Arbeitsplatz, wenig Personal, berufliche Unsicherheit
und Selbstausbeutung.“ Durch ständige Umstrukturierungen und den damit
verbundenen Personalabbau habe nicht nur die Arbeitsdichte zugenommen,
auch der eigene Arbeitsplatz sei immer in Gefahr. Hinzu komme, dass sich
Beschäftigte zunehmend selbst unter Druck setzten, weil sie gesetzte Ziele –
etwa den Umsatz zu steigern – nicht nur erreichen müssen, sondern auch
wollen. Ahlers liefert mit ihren Analysen auch Lösungsansätze. Derzeit untersucht sie, wie Betriebsräte dem Stress den Nährboden nehmen können. ■
Referat Qualität der Arbeit
Elke Ahlers, Telefon: 02 11/77 78-344, [email protected]
Mitbestimmung 9/2013
59
Fotos: Simone M. Neumann
Tariferosion kann gestoppt werden
WSI-Wissenschaftler plädieren seit Jahren für die Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen. Was das der Baubranche und dem Handel bringen würde,
diskutierten Politik-, Gewerkschafts- und Wissenschaftsvertreter.
ALLGEMEINVERBINDLICHERKLÄRUNG
Die Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen ist eine der Säulen
einer neuen Ordnung des Arbeitsmarktes, machte DGB-Vorstandsmitglied Claus Matecki auf einer Tagung deutlich, die das WSI zusammen mit dem DGB bzw. deren Tarifkoordinatorin Ghazaleh
Nassibi Ende Juni in Berlin ausgerichtet hatte. Roter Faden war die
Frage: Wie kann das Tarifsystem durch eine Reform der Allgemeinverbindlicherklärung (AVE) wieder stabilisiert werden?
Die WSI-Wissenschaftler Thorsten Schulten und Reinhard
Bispinck verweisen in ihren Studien zur Entwicklung der Tarifvertragssysteme in Deutschland und Europa seit Längerem darauf, dass
zur Stärkung der Tarifbindung in Deutschland das tarifpolitische
Instrument der AVE revitalisiert werden sollte. Zumal die Zahl der
allgemeinverbindlich erklärten Tarifverträge hierzulande rückläufig
ist, wie Bispinck, der Leiter des Tarifarchivs, nachgerechnet hat.
Während Anfang 1991 noch 621 allgemeinverbindlich erklärte Tarifverträge in Deutschland existierten und im Verlauf jenes Jahres
199 Mal die AVE beantragt wurde, gab es 2012 noch 489 AVETarifverträge, beantragt wurde die Allgemeinverbindlichkeit nur
noch in 19 Fällen.
Bei der CDU ist offenbar jenseits des Arbeitnehmerflügels die
Einsicht gewachsen, dass hier Handlungsbedarf besteht. Auf dem
linken Flügel ist das Thema sowieso gesetzt. Bündnisgrüne, SPD
und Linke haben Vorschläge zur Reform der Allgemeinverbindlicherklärungen vorgelegt, wobei Konsens darüber besteht, dass die
60
Mitbestimmung 9/2013
Anwendung von Tarifverträgen auf ganze Branchen leichter werden
muss, um permanente Unterbietungswettbewerbe zu verhindern.
Vor allem zwei Hebel sind dafür umzulegen: Zum einen muss
das 50-Prozent-Quorum gekippt werden; die Regelung verlangt
den – oft schwer zu erbringenden – Nachweis, dass die tarifgebundenen Arbeitgeber mindestens die Hälfte der Arbeitnehmer im Geltungsbereich des Tarifvertrags beschäftigen. Zum Zweiten sollten
im entscheidenden Tarifausschuss beim Bundesarbeitsministerium
auch Delegierte der entsprechenden Branche mitreden dürfen; bisher
sitzen dort nur Vertreter von BDA und DGB, und bei Stimmengleichheit ist der Antrag gescheitert.
Gerade einmal 1,5 Prozent der Tarifverträge gelten heute flächendeckend; Anfang der 1990er Jahre waren es immerhin noch 5,4
Prozent gewesen. Auch wenn es in letzter Zeit bei der Allgemeinverbindlicherkläung fast ausschließlich um die Absicherung von
Mindestlöhnen ging, warnte IG-BAU-Vorstandsfrau Bärbel Feltrini,
die AVE darauf zu reduzieren. „Mit Tarifverträgen lassen sich auch
die Arbeitsbedingungen oder sozialpolitische Ziele wie Ausbildung
gestalten.“ Genau das belegte Harald Schröer, Geschäftsführer beim
Zentralverband des Deutschen Baugewerbes. So hat sich beispielsweise die Winterarbeitslosigkeit auf dem Bau halbiert, seit Arbeitszeitkonten flächendeckend eingeführt wurden. Die Beschäftigten
bummeln ihre im Sommer angesammelten Überstunden in der kalten Jahreszeit ab und bekommen so lange einen festen Monatslohn,
aus der stiftung
BISPINCK, WSI;
Nassibi, DGB;
Feltrini, IG
BAU; Wiedemuth, Ver.di;
Baugewerbevertreter
Schröer ( v.L .)
Katzenjammer im
Arbeitgeberlager
bis ihr Arbeitszeitkonto ins Minus rutscht. Erst dann muss der Staat
mit Saisonkurzarbeitergeld einspringen. Im Vergleich zu früher erspart das den Sozialversicherungen jährlich 300 Millionen Euro.
„Beschäftigte, Betriebe und der Staat profitieren“, so Schröer.
Viele Fragen lassen sich im Baubereich nur betriebsübergreifend
befriedigend regeln. Zum einen sind die Firmen durchschnittlich
sehr klein: 90 Prozent beschäftigen weniger als 20 Mitarbeiter. Zum
anderen ist eine hohe Fluktuation typisch für die Branche. Deshalb
gibt es inzwischen für vieles eine gemeinsame Buchhaltung – was
dazu führt, dass Bauarbeiter oft schon nach wenigen Wochen in
einem neuen Job Ferien machen können, sofern sie entsprechende
Ansprüche bei der vorherigen Stelle erworben haben. Dafür existiert
in der Baubranche eine Urlaubsausgleichskasse, die jährlich etwa
1,9 Milliarden Euro umverteilt. Auch die Kosten für die Berufsausbildung von jährlich 37 000 Azubis werden über eine Umlage finanziert. Außerdem erreichen mehr als zwei Drittel der Beschäftigten
aufgrund der starken körperlichen Belastung das gesetzliche Rentenalter nicht und benötigen Ausgleichszahlungen, was ebenfalls
über einen allgemeinverbindlichen Tarifvertrag geregelt ist.
In diese Umlagesysteme einbezogen sind nicht nur die 69 000
deutschen Betriebe mit ihren 610 000 Arbeitnehmern einschließlich
Teilzeitkräften sowie geringfügig und befristet Beschäftigte. Auch
die 2900 ausländischen Unternehmen mit ihren 75 000 Arbeitnehmern, die hierzulande auf Baustellen arbeiten, sind verpflichtet, sich
zu beteiligen.
Völlig anders sieht die Lage im Handel aus, wie der Leiter der
tarifpolitischen Grundsatzabteilung bei ver.di, Jörg Wiedemuth,
ausführte. Dort galten bis 1999 so gut wie alle Tarifverträge branchenweit. Sie regelten nicht nur die Lohnhöhen, sondern auch Arbeitszeitfragen oder vermögenswirksame Leistungen. „Es gab damals einen Konsens zwischen den beiden Arbeitgeberverbänden
sowie HBV und DAG, dass alle Tarifverträge für allgemeinverbindlich erklärt werden“, berichtet Wiedemuth. Dann aber scherte die
Bundesarbeitsgemeinschaft der Mittel- und Großbetriebe aus und
bot Mitgliedschaften ohne Tarifbindung an. Peek & Cloppenburg
griff als Erstes zu und befeuerte damit einen brutalen Verdrängungswettbewerb auf Kosten der Beschäftigten mit sinkenden Löhnen
und immer weniger Personal auf immer mehr Quadratmetern Verkaufsfläche. Die wurde in den vergangenen 20 Jahren um 58 Prozent
ausgedehnt, während der Gesamtumsatz im Einzelhandel gerade
einmal um zwei Prozent wuchs.
„Heute herrscht im Arbeitgeberlager Katzenjammer“, beschreibt
Wiedemuth die Lage. Nur für 42 Prozent der Beschäftigten im westdeutschen Einzelhandel gilt noch ein Branchentarifvertrag, für vier
Prozent gibt es Haustarifverträge; im Osten der Republik sieht es
noch weit düsterer aus. Sogar nicht gerade als arbeitnehmerfreundlich geltende Konzerne wie Lidl oder Aldi Nord fordern inzwischen
die Einführung eines Mindestlohns. Ironie der Geschichte: Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Mittel- und Großbetriebe wurde aufgelöst, nachdem Karstadt ausgetreten war. Der übrig gebliebene Handelsverband Deutschland (HDE) setzt sich jetzt zumindest verbal
dafür ein, die Bedingungen für eine Allgemeinverbindlich­erklärung
zu vereinfachen und das 50-Prozent-Quorum zu senken. Die Gespräche zwischen ver.di und HDE sind aber erst einmal gescheitert.
Wie absurd die aktuelle Gesetzeslage ist, brachte der Arbeitsrechtler Ulrich Preis von der Universität Köln auf den Punkt: „Je niedriger
der Organisationsgrad der Arbeitgeber ist, desto höher ist der Schutzbedarf durch eine Allgemeinverbindlicherklärung. Mit dem 50-Prozent-Quorum verhindert der Staat aber gerade dort die Handlungsmöglichkeiten, wo der Schutzbedarf besonders hoch ist.“
■
Von Annet te Jensen, Journalistin in Berlin
Tagu n gs d o k um e n tat i o n e n
www.boeckler.de/28733_42839.htm
www.dgb.de, Themenbox anklicken, http://bit.ly/14xFjkP
Mitbestimmung 9/2013
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Akzeptanz wird verspielt
Ist Kohle als kostengünstiger
Energielieferant und Brückentechnologie für den
Industriestandort unverzichtbar? Das diskutierten
Gewerkschafts-, Wissenschafts- und Arbeitgebervertreter auf einer Böckler-Tagung
ENERGIEWENDE
Fotos: Stephan Pramme
„Die Akzeptanz für die Energiewende schwindet in der Bevölkerung
und in den Betrieben“, warnte DGB-Vorstandsmitglied Dietmar
Hexel. Die anfängliche Euphorie sei inzwischen großer Unsicherheit
gewichen, schuld daran sei fehlende politische Steuerung. So lautete­
das einhellige Fazit einer Veranstaltung der Hans-Böckler-Stiftung
in Kooperation mit dem DGB Ende Juni in Berlin, auf der eine
„Bilanz der Energiewende“ gezogen wurde – und zwar „dezidiert
aus Sicht der Arbeitnehmer“, wie Hexel betonte.
Dabei sei die Energiewende machbar: Im Juni stammten erstmals
an zwei Tagen rund 60 Prozent der in Deutschland eingespeisten
und verbrauchten Energie aus Sonne und Wind. Im Schnitt stellen
die erneuerbaren Energien ein Viertel der Kraftwerksleistung. Bis
2050 sollen es 80 Prozent sein. Doch wie das erreicht werden soll,
DGB-vorstand Hexel , DIW-Forscherin Kemfert,
Diskutanten,Ver.Di-Experte Klopffleisch, ( V.L .o.):
Arbeitnehmersicht
62
Mitbestimmung 9/2013
ist – wie sich auch auf dieser Tagung zeigte – heftig umstritten. „Es
muss darum gehen, dass wir immer weniger auf Kohle und stattdessen immer stärker auf die Erneuerbaren setzen“, forderte Claudia Kemfert vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung
(DIW). Immerhin zähle die Kohle aufgrund ihres erheblichen CO²Ausstoßes zu den klimaschädlichsten Energietechnologien. Laut
Kemfert würde ein Abschied von der Kohle auch den Energiemarkt
in Deutschland verändern: weg von der Konzentration auf wenige
Großunternehmen hin zu vielen kleinen, auch kommunalen Energieunternehmen. „Die Erneuerbaren sind in Bürgerhand“, referierte Kempfert neueste DIW-Zahlen, „denn über 40 Prozent der Investitionen in Wind, Sonne oder Biogas kommen von Privatpersonen
oder Kommunen. Der geringere Teil stammt von den vier großen
Energiekonzernen in Deutschland.“
IG-Metall-Vorstandsmitglied Jürgen Kerner sieht das ähnlich:
„Unsere Perspektive ist es, unsere Beschäftigten von Gas und Kohle
zu Wind und Sonne zu transferieren“, sagt er. Dass es dazu einer
breiten Qualifizierung bedarf, betont auch Reinhard Klopffleisch:
„Wir bei ver.di setzen auf die Qualifizierung unserer Beschäftigten
in der Energiewirtschaft, also bei den Stadtwerken und den Konzernen.“ Klopffleisch sagt auch: „Wir brauchen die Kohle noch –
allein aus Kostengründen.“ Mit diesem Argument steht der ver.diMann nicht alleine. „Wir brauchen eine lange Brücke aus
Kohlekraftwerken, bis wir bei 80 Prozent der Erneuerbaren angekommen sind“, sagte Ralf Bartels, Ressortleiter bei der IG BCE.
Denn Kohle rechnet sich, die Emissionszertifikate sind derzeit billig
zu haben. „Ohne Strom­preise auf der Grundlage von Braunkohle
treiben wir die energieintensive Industrie ins Ausland“, ist Bartels
überzeugt. Eine Einsicht, die der Gewerkschafter mit Carsten Rolle
vom Bundesverband der deutschen Industrie, dem BDI, teilt. Dessen
Argument: Schon heute fände eine schleichende Abwanderung der
Industrie statt. Deutschland habe jedenfalls die zweithöchsten
Stromkosten in der EU.
Der Industrie geht es auch um eine stabile Stromversorgung. Dass
die in Deutschland nicht gefährdet sei, demonstrierte Rainer Baake,
Direktor der Initiative Agora Energiewende, entlang der Statistik.
Bei uns sei der Strom im Jahr für durchschnittlich 14 Minuten unterbrochen, „wovon andere Industrienationen nur träumen. In den
USA und anderen westeuropäischen Ländern sind 100 bis 200 Minuten an der Tagesordnung“, sagt Baake. Außerdem werde der
Strom aus Erneuerbaren mit der Zeit kostengünstiger. Denn immerhin braucht er keinen Brennstoff wie der Strom aus Braunkohle, für
den jährlich in Deutschland rund 90 Milliarden Euro ausgegeben
werden. Nicht zuletzt hätten die Erneuerbaren keine Folgekosten –
weder für Renaturierung noch für Endlager. Folgekosten, die heute
Staat und Steuerzahler aufgebürdet werden. ■
Von K arin Flothmann, Journalistin in Berlin
aus der stiftung
TIPPS & TERMINE
i n ves tore n au s de n b r i c-s ta ate n
Welche Risiken, welche Chancen zeichnen sich für eine Belegschaft
ab, wenn Investoren aus Brasilien, Russland, Indien oder China den
Betrieb übernehmen? Ein Böckler-Projekt präsentiert Ergebnisse.
wsi - gle i c hs te llu n gs tagu n g
Thematisiert wird der Zusammenhang von gesellschaftlich anerkannter Erwerbsarbeit und eher wenig anerkannter Fürsorgearbeit,
die aber beide – möglichst geschlechtergerecht – im Lebensverlauf
ermöglicht und abgesichert werden müssen.
Absolve n te n f e i e r
Die Hans-Böckler-Stiftung feiert gemeinsam mit ihren Stipendiatinnen und Stipendiaten, die in den vergangenen zwei Jahren ihr Studium erfolgreich abgeschlossen haben.
ve r . di -a rb e i t sdi re k tore n - ko n f e re n z
Die Hans-Böckler-Stiftung lädt in Kooperation mit der Gewerkschaft ver.di Arbeitsdirektoren ein, um über Themen wie Konfliktmanagement und gewerkschaftliche Europapolitik zu diskutieren.
Da s Rec h t de r ILO
Die Veranstaltung, die das WSI mit der Universität Hamburg organisiert, widmet sich den Übereinkommen der Internationalen Arbeitsorganisation und ihrer Umsetzung in diversen Ländern.
öko n om isc h e b i ldu n g
Die Hans-Böckler-Stiftung und die IG Metall wollen zusammen mit
Pädagogen aus Schulen und aus der politischen Jugend- und Erwachsenenbildung über einen durch soziale Aspekte erweiterten
Begriff der „ökonomischen Bildung“ reflektieren.
workshop
am 26. september
in düsseldorf
tagung vom
26. bis 27. September
in Berlin
veranstaltung
am 5. Oktober
in Berlin
konferenz vom
10. bis 11. Oktober
in Berlin
veranstaltung
am 11. Oktober
in Hamburg
Tagung
am 24. Oktober
in Frankfurt
Hans-Böckler-Stiftung
Steffi Nohl
Telefon: 02 11/77 78-123
[email protected]
Hans-Böckler-Stiftung
Katharina Jakoby
Telefon: 02 11/77 78-124
[email protected]
Hans-Böckler-Stiftung
Maria Jackschitz
Telefon: 02 11/77 78-105
[email protected]
Hans-Böckler-Stiftung
Beatrice Menz
Telefon: 02 11/77 78-111
[email protected]
Hans-Böckler-Stiftung
Steffi Nohl
Telefon: 02 11/77 78-123
[email protected]
Hans-Böckler-Stiftung
Steffi Nohl
Telefon: 02 11/77 78-123
[email protected]
* Weitere Veranstaltungstipps unter www.boeckler.de und Fachtagungen für Aufsichtsräte unter www.boeckler.de/29843.htm
Mitbestimmung 9/2013
63
STUDIENFÖRDERUNG
Foto: Rolf Schulten
Ambitionierte Veranstaltungsmacher
Die Promotionsstipendiaten Sebastian Bischoff, Lena Kahle, Dagmar Lieske und Torben Villwock (v.l.) aus dem Vorbereitungsteam der Böckler-Tagung
„Gewerkschaften und Migration“
Wie wirken sich Migrationsprozesse auf die Arbeitsbeziehungen
aus? Prägen fundamentale Werte wie Solidarität, Mitbestimmung
und Gleichberechtigung auch die gewerkschaftliche Migrationspolitik? Es waren politisch brisante Fragen, die in Göttingen auf der
zweiten wissenschaftlichen Tagung der Promovierenden der HansBöckler-Stiftung in Kooperation mit der Göttinger Graduiertenschule Gesellschaftswissenschaften zum Thema „Gewerkschaften und
Migration“ diskutiert wurden. „Im Fokus der Veranstaltung stand
die Idee, Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftler aus verschiedenen Fachbereichen miteinander ins Gespräch zu bringen“, erklärt Torben Villwock die Intention der Veranstalter, „und darüber auch gesellschaftlich relevante Themen in
der akademischen Debatte zu verankern.“ Die Resonanz auf den
deutsch-englischen Call for Papers war groß: „Wir bekamen Bewer-
64
Mitbestimmung 9/2013
bungen aus ganz Europa und konnten im Programm ein breites
Spektrum abdecken“, berichtet Promotionsstipendiatin Dagmar
Lieske von der Arbeit des Vorbereitungsteams.
Besonders stolz sind die Organisatoren, dass es ihnen gelungen
ist, den renommierten indischen Migrationsforscher Ranabir Samaddar sowie seinen deutschen Kollegen Ludger Pries von der Universität Bochum als Key-Note-Speaker zu gewinnen. Zum Vorbereitungsteam gehörten außerdem die Promotionsstipendiaten Florian
Hohenstatt und Thorsten Mense sowie Susanne Schedel, die in der
Hans-Böckler-Stiftung ein Promotionsförderungsreferat leitet (nicht
im Bild).
Eine Dokumentation der Tagung „Subjekte in Bewegung, Organisationen in Bewegung? Gewerkschaften und Migration“ wird
vorbereitet.
■
aus der stiftung
GA ST VORTR AG
wsi
Marc Amlinger unterstützt Tarifforscher
Marc Amlinger ist seit Juni wissenschaftlicher Mitarbeiter im
WSI-Projekt „Tarif- und Einkommensentwicklung“, das über
drei Jahre läuft. Der 31-Jährige kümmert sich um die Erweiterung der Datenbasis für das
Tarifarchiv, analysiert die gewonnenen Daten – mit Blick
auf die Tarif- und Einkommensentwicklung und die verteilungspolitischen Wirkungen.
Dabei arbeitet er auch mit den
Tarifexperten Reinhard Bispinck
und Thorsten Schulten. Die
Hans-Böckler-Stiftung ist für
Amlinger kein Neuland. Zuvor
hat er an der Universität Trier
Marc Amlinger
im Projekt „Postdemokratie
und industrielle Beziehungen“ mit Ulrich Brinkmann und Oliver Nachtwey gearbeitet, das von der Hans-Böckler-Stiftung
gefördert wurde und bei dem Daten aus der WSI-Betriebsrätebefragung Verwendung fanden. Amlinger, der bei Trier
aufwuchs und dort auch Soziologie, Philosophie und Anglistik studierte, pendelt jetzt zwischen Mosel und Rhein.
■
schung der Ruhr-Universität Bochum innehatte, ihr Projekt vor. Pugh
interessiert, wie Menschen kulturelle Muster und Narrative einsetzen, um in der Arbeitswelt und in der Gesellschaft zu funktionieren.
Prekarität und Vermarktlichung gilt ihr besonderes Interesse. So berichtet sie, dass Gekündigte die Schuld oft auch bei sich suchen und
zugleich die Kündigung als Chance ansehen – eine Art „Neoliberalismus im Kopf“, der sie, wie sie sagt, zugleich erschreckt und wegen
seines Pragmatismus im Umgang mit Emotionen fasziniert. Die Frage, ob Frauen, wie Pugh sie beschreibt, in ihren Rollen verharren
oder ein emanzipatorisches Potenzial bergen, beantwortete die Autorin nur indirekt: „Früher sollten Frauen mit ihrer emotionalen Wärme die kalte Arbeitswelt der Männer heilen. Heute gilt das Bild als
überholt – aber man erwartet zugleich, dass Frauen die alte Rolle der
Fürsorgenden noch mit ausfüllen. Das ist nicht nachhaltig.“
■
www.allisonpugh.com
Publikationen
Zeugnis des Terrors
In den Jahren 1941 und 1942 wurde ein Teil der jüdischen Einwohner Berlins ins deutsch besetzte Minsk im heutigen Weißrussland
deportiert und fast ausnahmlos ermordet. Ein Buch, an dem die
Böckler-Stipendiatin Anja Reuss maßgeblich mitgearbeitet hat, rekonstruiert 59 Einzel- und Familienbiografien Deportierter. Das
Buch, an dessen Finanzierung sich die Hans-Böckler-Stiftung beteiligt hat, präsentiert eine beeindruckende Rechercheleistung. Dies
gilt für die Texte ebenso wie für die Fotodokumente. „Die meisten
Bilder erhielten wir von überlebenden Verwandten“, berichtet
Reuss. Hinweise auf deren Existenz fanden sich in Entschädigungsakten oder im
Internet. Man ahnt, dass diese Arbeit oft
eine emotionale Belastung war. Wer den
einleitenden Text von Thomas Baruch
liest, der zwei Tanten durch den organisierten Mord verloren und das Buchprojekt mit einer großzügigen Spende unterstützt hat, der versteht, wie groß die
Trauer über jene „Leben, die nicht gelebt
werden durften“, bis heute ist. Ein Muster, nach welchen Kriterien die Transporte
nach Minsk erfolgten, haben die Forschungen nicht ergeben. „Es war letzlich
Willkür“, sagt Reuss.
■
Anja Reuss
Mitbestimmung 9/2013
Foto: Stephan Pramme
„Tumbleweed“, Steppenroller, nennt man
in den USA eine Gruppe von Pflanzen, die
sich zu ihrer Verbreitung vom Boden lösen, zusammenrollen und vom Wind
durch die Landschaft treiben lassen. Analog zu diesem Bild beschreibt die US-Soziologin Allison Pugh in ihrem aktuellen
Buchprojekt die US-Gesellschaft als
„Tumbleweed Society“, als eine Gesellschaft Entwurzelter. Ihr Material sind Interviews, die sie mit 80 Personen, meist
Allison Pugh
Frauen, im Ostküsten-Bundesstaat Virginia geführt hat. Während eines Besuches in der Stiftung auf Einladung von WSI-Direktorin Brigitte Unger stellte Pugh, die bis Mitte
Juli die Marie-Jahoda-Gastprofessur für Internationale Frauenfor-
Foto: privat
Foto: Kay Meiners
Verinnerlichung des amerikanischen Kapitalismus
65
aus der stiftung
O
ft braucht Kathrin Mahler Walther viel Fantasie,
manchmal aber auch nur eine ganz pragmatische
Lösung: Mit Partnern aus Politik und Wirtschaft
sucht sie neue Wege, alte Strukturen aufzubrechen – damit Frauen ihre Fähigkeiten endlich überall einbringen
können und im Berufsleben nicht mehr von alten Mauern eingeschränkt werden. Die Überzeugung, dass die richtigen Einsichten sich irgendwann durchsetzen, wenn man nur dafür
kämpft, speist sich auch aus Mahler Walthers Biografie.
Selbst ein Vierteljahrhundert nach der „Friedlichen Revolution“ in der DDR gelingt es ihr schnell, sich in eine Zeit zurückzuversetzen, die wohl die aufregendste ihres Lebens bleiben wird.
18 Jahre war sie damals alt, lebte in Leipzig und machte eine
Ausbildung zur Facharbeiterin für Schreibtechnik. Sie hatte sich
der Arbeitsgruppe Menschenrechte um Pfarrer Christoph Won-
Die Wegbereiterin
In der Revolution von 1989 lernte Kathrin
Mahler Walther, dass sich alles verändern lässt. Heute
kämpft sie für mehr Frauen in Führungspositionen.
PORTRÄT
Von sUSANNE k AILITZ, Journalistin in Dresden
neberger angeschlossen, später wurde sie Sprecherin des Arbeitskreises Gerechtigkeit. „Und dann kam die Revolution“, sagt sie,
„da fanden die Demonstrationen statt, es gab einen runden Tisch
nach dem anderen, und es ging pausenlos darum, wie wir dieses
System verändern können. Zeit zum Schlafen gab es eigentlich
nicht.“ Noch heute, in ihrem Berliner Büro der Europäischen
Akademie für Frauen in Politik und Wirtschaft (EAF), ist zu
spüren, mit welcher Begeisterung sie sich dafür einsetzte, ein
ganzes Land zu verändern. Die Dinge anpacken, für das kämpfen, was wichtig ist – damit hat sie nie mehr aufgehört. Die
42-Jährige ist überzeugt, dass sich die Verhältnisse verändern
lassen. „Zu sehen, wie ein ganzes Volk aufsteht, trotz der Gefahren, das hat mich sehr berührt und geprägt.“
Heute engagiert sich Mahler Walther für die Gleichberechtigung. Zur EAF kam sie vor 14 Jahren – als Praktikantin. Die
Professorin Barbara Schaeffer-Hegel und die Journalistin Helga
Lukoschat hatten die Organisation 1996 ins Leben gerufen,
überzeugt davon, dass Frauen und Männer überall gebraucht
werden: als Eltern genauso wie als Fach- und Führungskräfte.
66
Mitbestimmung 9/2013
Die EAF berät und begleitet an der Schnittstelle von Wirtschaft,
Wissenschaft und Politik Organisationen in Veränderungsprozessen. Mit Mentoringprogrammen fördert sie weibliche Nachwuchskräfte und unterstützt Frauen und Männer bei der Vereinbarung persönlicher, familiärer und beruflicher Anforderungen.
Gemeinsam mit Helga Lukoschat trägt Mahler Walther seit
2008 als Geschäftsführendes Vorstandsmitglied die Verantwortung für das knapp 20-köpfige Team. Mit dem Bundesministerium für Familie, Frauen, Senioren und Jugend initiierte die EAF
2011 die „Regionalen Bündnisse für Chancengleichheit“,
Deutschlands größtes Unternehmensbündnis für mehr Frauen in
Führungspositionen. Mahler Walther leitet das Programm. Sie
berät Unternehmen vom Mittelständler bis zum Großkonzern und ist zudem auch in der Forschung aktiv. Viel Aufmerksamkeit bekam 2008 ihre Studie „Kinder und Karrieren: Die
neuen Paare“. Dafür befragte sie mit ihrem Team rund 1200
Doppelkarriere-Paare mit Kindern, wie sie Partnerschaft, Familie und Erfolg im Job unter einen Hut bekommen, und plädiert
in ihrem Fazit für deutlich mehr Flexibilität in der Arbeitswelt.
Wer mit Mahler Walther spricht, erlebt eine Frau, die von der
Sinnhaftigkeit ihres Tuns überzeugt ist. Dabei hätte sie auch leicht
an anderer Stelle landen können: Während der Friedlichen Revolution diskutierte die Geschäftsführerin der Initiative Frieden
und Menschenrechte (IFM) Leipzig am runden Tisch der Stadt
und des Bezirks darüber, wie es weitergehen sollte. Später verhandelte sie als Mitglied im Bundesvorstand der IFM die Fusion
zum Bündnis 90 mit. Im Sächsischen Landtag baute sie die erste
bündnisgrüne Fraktion mit auf. Spannend und aufregend sei das
gewesen, „aber auch ernüchternd“: „Wir mussten lernen, uns in
die mühsamen Wege parlamentarischer Demokratie einzufinden.
Viele unserer hochfliegenden Ideen ließen sich so nicht umsetzen.“
1992, nach sechs intensiven Jahren, gönnte sich Mahler Walther eine Pause. Sie wollte lernen, um anzukommen im neuen
politischen System. Sie machte in Berlin auf dem zweiten Bildungsweg Abitur. Dass darauf ein Studium folgte, verdankt Mahler Walther auch der Unterstützung anderer. „Ich hatte das große Glück, dass ich von der Hans-Böckler-Stiftung schon während
des Abiturs für ein Stipendium ausgewählt wurde und im Anschluss Sozialwissenschaften studieren konnte. Die Seminare und
Kontakte im Rahmen der ideellen Förderung, die Zusammenarbeit mit den Gewerkschaftsvertretern, all das hat mir sehr geholfen, in diesem Land anzukommen.“
Heute will sie dafür etwas zurückgeben und hat mit der HansBöckler-Stiftung ein Mentoringprogramm entwickelt, das Stipendiaten und Altstipendiaten zusammenbringt und Absolventen
hilft, den Weg zu Führungspositionen einzuschlagen. Ihre Botschaft an den Nachwuchs ist klar: „Man darf nicht abwarten, bis
die Dinge von selbst passieren. Wenn sich etwas ändern soll, muss
man selbst vorangehen.“ Und auch mal eine Mauer einreißen.■
ALTSTIPENDIATEN
STIFTUNG
aus derDER
stiftung
Frauenrechtlerin Kathrin
Mahler Walther auf dem
Foto: Rolf Schulten
balkon Ihres Berliner
Büros: Wer wirklich kämpft,
kann die Verhältnisse umkrempeln.
Mitbestimmung 9/2013
67
Rot-grünes Politikprojekt
Zukunftsdebat te „ Roadmaps
2020“, der neue Sammelband von „Denkwerk Demokratie“,
lässt viele Wege zu – auf einer Plattform gegen die Hegemonie des Neoliberalismus.
Von Hans Joachim Sperling, Sozialwissenschaftler, war als Industriesoziologe am Göttinger SOFI tätig, lebt jetzt in Berlin.
Denkwerk Demokratie (Hrsg.):
Roadmaps 2020. Wege zu mehr
Gerechtigkeit, Nachhaltigkeit und
Demokratie. Frankfurt, Campus
Verlag 2013. 273 Seiten, 19,90
Euro, auch als E-Book
68
Mitbestimmung 9/2013
Auch wenn der derzeitige Wahlkampf nicht gerade
den Eindruck vermittelt, dass es angesichts vielfältiger kumulierter Krisenprobleme um politische
Weichenstellungen oder einen Kurswechsel geht,
wächst doch bei politisch interessierten Beobachtern und Akteuren das Bedürfnis nach Krisenerklärungen und tauglichen Zukunftskonzepten. Im
Spektrum der Berliner Thinktanks hat sich der
2011 gegründete Verein „Denkwerk Demokratie“
etabliert, der 2012 mit einer ersten Denkschrift,
„Neues Denken. Strategien und Denkaufgaben für
einen sozialen und ökologischen Entwicklungspfad“, an die Öffentlichkeit getreten ist und im
Sommer 2013 einen Band unter dem Titel „Roadmaps 2020. Wege zu mehr Gerechtigkeit, Nachhaltigkeit und Demokratie“ vorgestellt hat.
„Denkwerk Demokratie“ (nicht zu verwechseln
mit dem 2007 von Meinhard Miegel gegründeten
„Denkwerk Zukunft“) versteht sich als linkes Reformvorhaben, das ein rot-grünes Politikprojekt
argumentativ befördern und begleiten will und dabei ausdrücklich die Gewerkschaften mit ins Boot
nimmt ebenso wie zivilgesellschaftliche Initiativen.
Personell bildet sich das im Vorstand ab, der
von einer Vierergruppe aus drei Frauen und einem
Mann geleitet wird. Dies sind die beiden PolitManagerinnen Andrea Nahles, SPD-Generalsekretärin, und Steffi Lemke, Bundesgeschäftsführerin
der Grünen, und die gewerkschaftlichen Vordenker
Yasmin Fahimi, Leiterin des Ressorts Politische
Planung der IG BCE, und Michael Guggemos, der
die Vorstandsaufgaben der IG Metall koordiniert.
Das Anfang Juli in Berlin öffentlich vorgestellte
Buch „Roadmaps 2020“ versammelt in vier thematischen Blöcken insgesamt 25 Artikel sowohl von
„etablierten Persönlichkeiten aus Politik und Gesellschaft“, darunter die grün-roten Parteivorsitzenden
Claudia Roth und Sigmar Gabriel sowie die Gewerkschaftsvorsitzenden Michael Sommer, Berthold Huber, Michael Vassiliadis und Frank Bsirske, als auch
Beiträge von wissenschaftlich und politisch Engagierten meist aus der Generation der 40-Jährigen.
Wohin sollen die Wege nun führen, wenn man
sich den angebotenen Roadmaps (bewusst in den
Plural gesetzt) anvertraut? „Roadmap“ verstehen
die Initiatoren als „einen politischen Strategieansatz, der langfristige Ziele formuliert und zugleich
Wege aufzeigt, wie diese Ziele im Zusammenwirken
politischer Akteure zu erreichen sind“. Als Zieleingabe programmieren die Initiatoren das Navi mit
Gerechtigkeit, Nachhaltigkeit und Demokratie. Da
wollen viele hin.
Auch wenn das Bekenntnis zu Nachhaltigkeit
„längst in den parteiübergreifenden Kanon politischer Rhetorik aufgenommen wurde“, wie die
Ökonomen Sebastian Dullien und Till van Treeck
betonen, halten sie in ihrem Vorschlag eines neuen
Stabilitäts- und Wohlstandsgesetzes am Zielbegriff
Nachhaltigkeit fest. Was auch plausibel wird, weil
die einzelnen Dimensionen von Nachhaltigkeit in
diesem Band von verschiedenen Autoren ausdifferenziert und als kohärentes Gesamtkonzept begründet werden. Freilich wird der Ansatz dann
trivial und kaum politiktauglich, wenn Zielkonflikte zwischen den Dimensionen und die Interessen
und Strategien der vielfältigen Akteure nicht thematisiert werden.
Aber hier bietet der Band dem Leser Raum für
Anregungen zum Weiterdenken. Gerade im Hinblick auf das mehr als komplexe politische Großprojekt der Energiewende, das in dem Buch den
breitesten Raum einnimmt und von unterschiedlichen Positionen aus erörtert wird: vom Plädoyer
für einen „energiepolitischen Innovationspakt für
Deutschland“ bei Michael Vassiliadis bis hin zum
Plädoyer für eine bürgereigene dezentrale Energieversorgung bei der Initiatorin einer lokalen Energiegenossenschaft, Luise Neumann-Cosel.
Auch hinsichtlich der Positionen zum Wachstum
dokumentiert der Band nicht einen einzigen Weg.
medien
Foto: privat
DREI FRAGEN AN …
Während der IG-Metall-Vorsitzende Huber überzeugend für ein anderes qualitatives, auch industrielles Wachstum plädiert, hält der BUND-Vorsitzende Hubert Weiger die „Fokusssierung auf
‚grünes‘ oder ‚nachhaltiges‘ Wachstum für trügerisch“ und plädiert für Strategien, die die Ziele
nachhaltiger Entwicklung „ohne den Umweg über
Wachstum“ erreichen können.
Zwar betonen die Protagonisten von „Denkwerk Demokratie“ die Bedeutung von Betrieb und
Unternehmen als zentraler Handlungsebene, doch
bleibt dieses Politikfeld noch wenig konturiert, und
eine postulierte „neue Kultur der Wirtschaftsdemokratie“ wird kaum expliziert. Der Beitrag des
BMW-Betriebsrats Alexander Farrenkopf bleibt
hier noch eine einsame Stimme. In diesem Politikfeld ließen sich in Verbindung mit den anregenden
Thesen zu einer „Politik für einen mitbestimmten
Erwerbslebensverlauf“, der von den Autorinnen
Bogedan, Kohlrausch und Smolenski beigesteuert
wird, arbeits- und sozialpolitische Konzepte verknüpfen, bei denen Tarifparteien und Betriebsräte
gesellschaftliche Absicherungen und Rahmensetzungen kollektiv vereinbaren könnten.
In der Summe bieten der Band und die Aktivitäten des „Denkwerks Demokratie“ als eines
sozial-­ökologischen „Think-Nets“ eine Plattform
der Verständigung und der Diskursorganisierung,
die die Konturen eines „neuen Denkens“ gegen die
Hegemonie des Neoliberalismus schärfen und politische Handlungsoptionen über den nationalen
Rahmen hinaus in die politische Auseinandersetzung einbringen kann – auch mit Blick auf eine
Neubegründung von Europa als demokratischem
und sozialem Projekt. Denken hat selten geschadet.
Und einen langen Atem dafür braucht es sowieso,
auch über den Horizont von Legislaturperioden
hinaus. Aber so viel Zeit bleibt bis zum Jahre 2020
wiederum auch nicht mehr, die drängenden Probleme lassen sich immer weniger aussitzen. ■
… Uwe Ritzer , „Süddeutsche“-Korrespondent, ausgezeichnet
für seine investigativen Recherchen (auch über Siemens)
Ja. Nicht im
Sinne einer Verschwörungstheorie. Es gab nicht das eine
„Mastermind“, den Strippenzieher. Aber fest steht: Gustl
Mollaths Wissen war eine Bedrohung. Zum Beispiel für seine
Frau, die in Schwarzgeldgeschäfte verstrickt war, für die
Hypo­Vereinsbank (HVB).
Wusste Gustl Mollath wirklich zu viel?
Ein interner Bericht
warnte bereits 2003 vor Mollaths „Insiderwissen“. Also hat
die Führung tatenlos zugesehen, wie ein Mensch sieben Jahre in der Psychiatrie verwahrt wurde – vor allem wegen der
Behauptung, er sei wahnkrank, weil er Schwarzgeldskandale
wittere. Er war der Bank schlicht im Weg – wie auch dem
Richter. Es muss einen Grund gegeben haben, dass der so mit
ihm umgegangen ist; welchen, kann man nur spekulieren.
Welche Rolle spielte die HVB?
Wird sich nach dem Fall Mollath etwas ändern?
Ich bin sicher, dass das neue Verfahren fair wird. Ich habe
aber auch die vage Hoffnung, dass Strukturen geändert werden. Hinter dem Fall steht auch ein Korpsgeist in der Justiz,
der in Bayern stärker als in anderen Ländern befördert wird:
dadurch, dass ranghohe Richter und Staatsanwälte nicht gewählt, sondern in einsamer Entscheidung eines Ministers
ernannt werden. Allerdings ist bereits etwas passiert. Würde
die Justiz noch ticken wie unter Franz Josef Strauß, gäbe es
weder Ermittlungen gegen Uli Hoeneß noch wäre der Siemens-Korruptionsskandal derart akribisch aufgearbeitet
worden.
■
Die Fragen stellte Jeannet te Goddar.
Mitbestimmung 9/2013
69
Interne t
Omas eigene Bank
Günther Schmid und Barbara Schmid-Heidenhain: Mikrofinanzierung
als Entwicklungshilfe. Sparen und Leihen als Alternative zu Mikro-
krediten, Berlin, Edition Pamoja 2013. 84 Seiten, 9,90 Euro
wir testen …
www.chinalaborwatch.org
Zwar hat sich das Tempo verlangsamt, aber Chinas Wirtschaft boomt nach wie vor. Viele ausländische Firmen lassen
im Reich der Mitte produzieren – unter zum Teil himmelschreienden Arbeitsbedingungen. Die in New York ansässige
Organisation China Labor Watch (CLW) hat bereits zahlreiche Missstände aufgedeckt, etwa bei den Apple-Zulieferern
Foxconn und Pegatron. Die englischsprachige Website zeigt,
in welchem Ausmaß dort und in anderen Fabriken Arbeitnehmer- und Menschenrechte verletzt werden. Ein aktueller
Beitrag berichtet über Kinderarbeit bei Lianchuang, wo
Flachbildschirme für Sharp und HTC hergestellt werden. Elf
Stunden am Tag müssen die Kinder hier schuften. Auch beim
Samsung-Zulieferer HEG montieren Kinderhände Handys
und anderes, wie CLW enthüllte.
Auf der Internetseite finden sich zahlreiche Reports und
Meldungen vornehmlich aus der Elektronik- und Spielwarenindustrie. Foxconn war 2010 in den Schlagzeilen nach einer
Serie von Selbstmorden unter den Beschäftigten. Der eindrucksvolle Kurzfilm „Deconstructing Foxconn“ widmet sich
diesem Thema. Das Portal bietet noch mehr Videoclips, zum
Teil allerdings älteren Datums. Außerdem viel lesenswertes
Hintergrundmaterial.
Fazit: Erschreckende Einblicke in die Fabrikhallen Chinas!
Die Großmütter treffen sich jede
Woche im Schatten der Bäume, um
über Geldgeschäfte zu sprechen.
Ihr Dorf liegt in der ärmsten Provinz Kenias, und doch legen die
Frauen bei jeder Versammlung
umgerechnet mindestens 20 Cent
in einen gemeinsamen Darlehens­
topf und fünf Cent in einen Sozial­
fonds. Jede von ihnen kann aus der
Kasse Geld leihen, etwa um Sisal
zu kaufen, aus dem sie Seile herstellen. Die monatlich zehn Prozent Zinsen erhöhen den Kapitalstock und ermöglichen vielen Kindern den Schulbesuch – denn
ein Großteil der Frauen hat mehrere Enkel zu versorgen, deren
Eltern an Aids gestorben sind.
Barbara Schmid-Heidenhain und Günther Schmid haben gemeinsam ein Buch über dieses hierzulande kaum wahrgenommene Finanzierungssystem geschrieben. Während die Mikrokredite des Nobelpreisträgers Muhammad Yunus allgemein bekannt
sind, kennt fast niemand „Sparen und Leihen“. Dabei hat das
System deutliche Vorteile, weil die Beteiligten sich nicht hoch
verschulden können und trotzdem Zugang zu Darlehen bekommen, um ihre wirtschaftliche Situation zu verbessern. Nur knapp
zehn Prozent der erwachsenen Bevölkerung Kenias haben Zugang
zu Bankkrediten. Die beiden Autoren, die frühere Leiterin einer
Schulbuchredaktion und ein emeritierter Arbeitsmarktprofessor,
engagieren sich seit über einem Vierteljahrhundert ehrenamtlich
für Kinder in Kenia. Dabei haben sie das Mikrofinanzsystem
kennengelernt. Genau das macht das Buch wertvoll: Die Informationen stammen aus erster Hand. Beispielhaft beschreiben sie
verschiedene Spar- und Leihgruppen.
Das Autorenduo zeigt auch die Grenzen des Systems auf: Weil
es sich um sehr kleine Geldsummen handelt, können strukturelle Verbesserungen wie beispielsweise ein Bewässerungssystem
damit nicht finanziert werden. Außerdem ist das System am Anfang sehr schulungsintensiv; an dieser Stelle gibt es Unterstützungsbedarf durch internationale Organisationen. Auch bezüglich der Bildung der Kinder kann es nur eine Ergänzung sein. Die
Autoren plädieren hier für mehr Stipendien und Patenschaften,
so wie sie sie selbst seit vielen Jahren insbesondere für Mädchen
übernommen haben.
■
Von Annet te Jensen , Journalistin in Berlin
Von mat thias helmer , Journalist in Göttingen
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Mitbestimmung 9/2013
medien
bu chtipps
Hauptschule und dann?
Nora Gaupp: Wege in Ausbildung und Ausbildungslosigkeit.
Edition der Hans-Böckler-Stiftung, Band 277, Düsseldorf 2013. 120 Seiten, 18 Euro
Für Jugendliche mit Hauptschulabschluss gestaltet sich der Übergang von der Schule in Ausbildung
und Arbeit besonders schwierig.
Lediglich 27 Prozent dieser Gruppe schaffen unmittelbar nach
Schulabschluss den Einstieg in die
Berufsausbildung, viele treten erst
nach Jahren der Berufsvorbereitung oder des weiteren Schulbesuchs in ein Ausbildungsverhältnis
ein, und rund ein Fünftel der
Hauptschüler und -schülerinnen befindet sich nach mehreren
„Übergangsjahren“ gar auf dem „Weg in die Ausbildungslosigkeit“. Nora Gaupp vom Deutschen Jugendinstitut in München
fragt in ihrer Studie nach den Faktoren, die dafür ausschlaggebend sind, dass Jugendliche mit vergleichbaren Voraussetzungen
so unterschiedliche Lern- und Arbeitsbiografien ausprägen.
Im Zentrum stehen dabei nicht die „harten“ Einflussfaktoren
wie die strukturelle Benachteiligung von Hauptschülern und
-schülerinnen im Bildungssystem oder der generelle Mangel an
Ausbildungsplätzen. Gaupp fragt vielmehr nach den von ihr so
genannten „weichen Faktoren“, etwa der Bedeutung von „dritten Personen“ – etwa Gleichaltrigen, pädagogischen Fachkräften
oder Eltern – für das Gelingen bzw. Misslingen von Übergängen
in Ausbildung und Arbeit. Die Autorin illustriert die Bedeutung
dieser Faktoren in eindrucksvoller Weise durch die ausführliche
Darstellung von fünf typischen „Übergangsbiografien“. So lernen
die Leser etwa den 23-jährigen Omar kennen, der nach seiner
Ausbildung zum Kfz–Mechatroniker einen Anstoß durch den
verbindlich-konsequenten Betreuer der Arbeitsagentur brauchte,
um sich nach längerer Arbeitslosigkeit erfolgreich um einen Arbeitsplatz zu bewerben. Oder den gleichfalls 23-jährigen Felix,
der durch einen Todesfall im familiären Nahbereich mitten in
seiner beruflichen Orientierungsphase in eine Krisensituation
gerät und immer noch keine Ausbildung begonnen hat. Auch die
Berichte von Susi, Hatice und Sascha lassen erkennen, dass die
sozialen Bezugspersonen im Lebenslauf junger Erwachsener von
zentraler Bedeutung sein können. Sie müssen bei pädagogischen
Fördermaßnahmen zur erfolgreichen Gestaltung von Übergangssituationen genauso berücksichtigt werden wie die „harten“
sozialen, institutionellen und strukturellen Bedingungen des Ausbildungs- und Arbeitsmarkts.
■
Von Dirk Manten , ver.di-Bildungsreferent in Bielefeld
Gleichberechtigung
Der Band
gibt einen Überblick über Geschichte
und Gegenwart der Frauenbewegung.
Zudem liefert er neue Impulse im Kampf
für Gleichberechtigung und gibt praktische Tipps, wie frau beim Karriere machen die Mädchenfallen umgeht.
Die bewegte Frau. Von Katrin Pittius, Kathleen Kollewe, Eva Fuchslocher, Anja Bargfrede
(Hrsg.). Münster, Westfälisches Dampfboot.
19,90 Euro
Innovation Anhand von Fallstudien
zeigt sich, wie die Mitbestimmung zu
Spielregeln beitragen kann, die Innovation fördern. Neues können im Unternehmen schließlich nur die Beschäftigten hervorbringen. Letztlich kommt es
aber darauf an, dass sie in einem sicheren Rahmen ihre Kompetenzen auch
einbringen können.
Mitbestimmte Innovationsarbeit. Von
Jürgen Kädtler, Hans Joachim Sperling, Volker
Wittke, Harald Wolf. Reihe Forschung aus der
Hans-Böckler-Stiftung. Berlin, edition sigma.
19,90 Euro
Mobilität
Die Entgrenzung der Arbeit nimmt immer mehr zu. Nicht nur
durch Smartphone und Laptop, sondern
auch durch häufigere Dienstreisen. Die
Auswertung von Betriebs- und Dienstvereinbarungen bietet einen Überblick,
wie Betriebsräte das Thema angehen
können.
Mobile Arbeit. Von Gerlinde Vogl und Gerd
Nies. Reihe Betriebs- und Dienstvereinbarungen.
Frankfurt am Main, Bund-Verlag. 12,90 Euro
Veröffentlichungen mit Bestellnummer sind nicht im Buchhandel
­erhältlich, sondern ausschließlich über SETZKASTEN GMBH ,
Düsseldorf, Telefon: 02 11/408 00 90-0, Fax: 02 11/408 00 90-40,
[email protected] oder über www.boeckler.de. Hier sind auch
alle Arbeitspapiere der Hans-Böckler-Stiftung kostenlos herunterzuladen.
Mitbestimmung 9/2013
71
Foto: The U.S. National Archives/Gary Miller
R ÄTSELHAFTES FUNDSTÜCK
Am New Jersey Turnpike, einer gebührenpflichtigen Auto­
straße am Hudson River im Bundesstaat New York, stößt der Fotograf Gary
Miller auf eine gewaltige illegale Mülldeponie. Im Hintergrund, auf der anderen Seite des Flusses, ist die Skyline von Manhattan mit dem eben fertiggestellten World Trade Center zu erkennen. Miller ist einer der Fotografen, die
zwischen 1972 und 1977 im Auftrag der US-Umweltbehörde Environmental
Protection Agency, kurz EPA, durch das Land reisen. Sie sollen dokumentieren, in welchem Zustand sich die Ökologie der Supermacht USA in diesem
Jahrzehnt befindet.
Der Mann, der dazu den Auftrag erteilt hat, ist selbst Fotojournalist. Er
heißt Gifford Hampshire und leitet die Öffentlichkeitsarbeit der EPA. Seine
Fotografen zeigen den gefährlich sorglosen Umgang einer modernen Konsumgesellschaft mit ihrem Müll: Familien fahren am Wochenende mit Pick-ups
aus der Stadt heraus, um ihren Hausmüll zu verbrennen. Dunkle Abgaswolken
hüllen die Standorte der Schwerindustrie ein. Bei der Landgewinnung am Meer
wird Müll als Füllmaterial verwendet. Entlang von Flüssen werden Autowracks
abgeladen, um damit die Ufererosion zu stoppen.
Die Gründung der EPA im Jahr 1970 und der Aufbau einer riesigen Fotodatenbank sind Reaktionen auf die rasant fortschreitende Umweltzerstörung,
die in diesen Jahren als globales Problem erkannt wird. Die Fotos sollen das
öffentliche Bewusstsein für die schleichende Katastrophe erhöhen. Längst
haben sich in den USA die ersten Umweltgruppen gegründet. Ebenfalls im
Jahr 1970 ruft Gaylord Nelson, der Senator von Wisconsin, erstmals zu einem
nationalen Umweltaktionstag auf, dem „Environmental Teach-in“ oder „Earth
Day“. Schon im ersten Jahr nehmen daran 20 Millionen Menschen teil. ■
KAY MEINERS
72
Mitbestimmung 9/2013
RÄTSELFRAGEN
■
Welchen Namen hatte das Fotoprojekt der EPA?
■
An welchem Tag findet in den USA bis heute der Earth
Day statt?
■
Wie heißt der japanisch-amerikanische Architekt, der das
World Trade Center entwarf?
Alle richtigen Einsendungen, die bis zum 25. September
2013 bei uns eingehen, nehmen an einer Auslosung teil.
PREISE
1. Preis: Gutschein der Büchergilde Gutenberg, Wert
50 Euro, 2.– 4. Preis: Gutschein der Büchergilde Gutenberg,
Wert 30 Euro
SCHICKEN SIE UNS DIE LÖSUNG
Redaktion Mitbestimmung, Hans-Böckler-Straße 39,
40476 Düsseldorf, E-Mail: [email protected]
Fax: 02 11/ 77 78-225
AUFLÖSUNG DER RÄTSELFRAGEN 7+8/2013
Karl (Freiherr von) Drais – Evangelium des Lukas –
Bertha Benz
Den 1. Preis hat Silvana Wagner aus Schwerin gewonnen.
Je einen Gutschein im Wert von 30 Euro erhalten Hans Pehl
aus Frankfurt/Main, Juli Günther aus Berlin und Mar­gret
Schiller aus Schwerin.
VORSCHAU
IMPRESSUM
Herausgeber: Hans-Böckler-Stiftung, Mitbestimmungs-,
Forschungs- und Studienförderungswerk des DGB,
Hans-Böckler-Straße 39, 40476 Düsseldorf
Verantwortlicher Geschäftsführer: Wolfgang Jäger
Redak tion:
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Konzeption des titelthemas: Kay Meiners
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titelthema 10/2013
Arbeitsbeziehungen
Arbeitgeberverbände
und Lohnpolitik
Zwar sind die Arbeitgeberverbände seit sie bestehen per
se Gegenspieler der Gewerkschaften bei der Aushandlung
von Löhnen, Arbeitszeiten und Arbeitsbedingungen.
Zugleich aber profitieren die Gewerkschaften auch von
starken Verbandsstrukturen auf Arbeitgeberseite. Denn
ohne handlungsfähige Verbände ist es kaum möglich,
flächendeckend Mindeststandards für Einkommen und
Arbeitsbedingungen zu etablieren, geschweige denn
„gute Arbeit“ durchzusetzen.
Erosionsprozesse, wie sie im Einzelhandel, in der
Holzindustrie, auch in Teilen der Metallindustrie zu beobachten sind, oder Entwicklungen wie in der IT- oder
der Windkraftbranche, wo sich bis heute keine Arbeitgeberverbände herausgebildet haben, müssen deshalb
auch Gewerkschaften beunruhigen.
Wie ist es unter diesen Umständen um die Sozial­
partnerschaft bestellt? Dazu befragen wir den Korporatismusforscher Wolfgang Schroeder. Wir thematisieren,
wie Gewerkschaften strategisch mit der wachsenden
Bindungsunfähigkeit im Arbeitgeberlager umgehen. Wir
fragen, ob der Generationswechsel, der jüngst an der
Spitze der bedeutendsten Verbände – DIHT, BDI, Gesamtmetall und BAVC – vollzogen wurde, einen Politikwechsel erwarten lässt. Und geben einen Überblick, wie die
Arbeitgeber in Europa aufgestellt sind.
Preise: Jahresabonnement 50 Euro inkl. Porto, Einzelpreis 5 Euro.
Der Bezugspreis ist durch den Fördererbeitrag abgegolten.
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Für Spenden und sonstige Förderbeiträge an die Stiftung:
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berichten sollten? Etwas, das richtig gut läuft, oder etwas, über
das Sie sich ärgern? Vermissen Sie ein Thema im Magazin? Dann
schreiben Sie uns oder rufen Sie uns an.
Mitbestimmung 9/2013
73
MEIN ARBEITSPL ATZ
Göttingen, Windausweg 28 „Früher war mein Arbeitsplatz die Welt, ich war viel
M at thias Helmer , 47, Jour­
nalist und Sozialwissenschaftler,
schreibt seit zwölf Jahren für das
Magazin Mitbestimmung, wo er
2008 ein Jahr vertretungsweise
als Redakteur tätig war. Zuvor
war Helmer wissenschaftlicher
Mitarbeiter am SOFI in Göttingen.
Text: Mat thias Helmer
Foto: K arsten Knigge
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Mitbestimmung 9/2013
unterwegs. Heute reise ich nur noch virtuell. Vor vier Jahren ging es los mit meiner Erkrankung, mit
Zittern in den Armen und Humpeln. Seither verlieren immer mehr Muskeln ihre Funktion, sie bekommen
vom Gehirn die falschen Signale. Arme und Hände kann ich mittlerweile gar nicht mehr bewegen, die
Beine kaum noch. Seit drei Jahren sitze ich nunmehr im Rollstuhl. Am schlimmsten ist jedoch, dass ich
nicht mehr sprechen kann. Ohne die Technik wäre ich aufgeschmissen, ich mag mir gar nicht ausmalen,
was noch vor 15 Jahren gewesen wäre. Den Computer bediene ich mit einer Kopfmaus. Auf dem Bildschirm
ist eine Tastatur, die über die Kamera oben am Monitor und einen Reflektor am Stirnband gesteuert wird,
per Kopfbewegung. So kann ich kommunizieren. Und alle normalen Programme nutzen. Es gibt auch eine
Augensteuerung. Beides ist sehr lichtempfindlich, dadurch kann ich nicht draußen arbeiten. Von meinem
Schreibtisch blicke ich auf eine Kleingartenanlage. Nebenan sind außerdem ein Freibad und ein griechisches
Restaurant. Das sorgt im Sommer für eine Geräusch- und Geruchskulisse wie am Mittelmeer, irgendwo
zwischen Athen und Zypern. Auch die Sonnenuntergänge sind spektakulär.
Mein Tagesablauf ist straff organisiert durch Termine mit Pflegekräften oder Therapeuten. Vormittags
bin ich für gewöhnlich produktiver, dann schreibe ich. Am Nachmittag ist eher Lesen und Recherchieren
dran, wenn meine Kräfte es zulassen. Ich darf mich nicht überanstrengen – und will natürlich auch Zeit
mit meiner Familie oder Freunden verbringen. Sie geben mir Halt. Und auch die Arbeit, obwohl ich nur
noch einen Bruchteil von dem schaffe wie früher. Ich kann ja noch froh sein, auch wenn sich das komisch
anhört. Aber jeder andere Job wäre in meiner Situation nicht leistbar. Ich kann noch schreiben, immerhin. Mein letztes Interview vor Ort habe ich im Frühjahr 2010 geführt. Ein anderes Thema ist die materielle Absicherung: Zum Glück hatte ich eine Berufsunfähigkeitsversicherung abgeschlossen. Mit meinen bis dato erworbenen Rentenansprüchen kämen wir nicht weit – die Kehrseite der Selbstständigkeit.
Und barrierefreie Wohnungen sind rar und teuer. Hier hat die Politik noch viel zu tun.“
■
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Mitbestimmung 9/2013
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