Jeder tötet, was er liebt

Transcription

Jeder tötet, was er liebt
Gregor J. Weber
Jeder tötet,
was er liebt
Liebes- und Todesszenen in den Filmen
Alfred Hitchcocks
Inhalt
9
1
13
Kapitel 2
17
Kapitel 3
23
3.1.
3.2.
3.3.
3.4.
Der Kuss
Freudianische Symbolik
Die Verhandlung physischer Gewalt
Der Hitchcock-Film in der Post-Code-Ära
25
27
28
30
Kapitel 4
37
4.1. Eros und Thanatos im Film
4.2. Eros und Thanatos in der abendländischen Tradition
37
41
Kapitel 5
45
5.1. Narrative Kippmomente
5.1.1. Die Duschszene in PSYCHO
5.1.2. Die Hügelszene in VERDACHT
5.2. Die Korrelation zwischen Sexualität, Essen und Tod
5.2.1. Sexualität und Essen
5.2.2. Die Kussszene in DER UNSICHTBARE DRITTE
5.2.3. Die Vergewaltigungs- und Mordszene in FRENZY
5.3. Sexualisierte Gewalt und bedrohliche Küsse
5.3.1.
5.3.2.
5.3.3.
5.3.4.
Die visuelle Fragmentierung des Körpers
Gewaltszenen: Die Involvierung des Rezipienten
Die Gefahr der Verschmelzung
Kussszenen: Die Involvierung des Rezipienten
47
48
54
58
62
67
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76
76
80
83
88
6
Inhalt
Fazit
95
Anhang
101
102
109
111
Es ist, als ob ich einen
Mord an einem plätschernden Bach zeigen
und einen Tropfen Blut
ins klare Wasser fallen
lassen würde. Diese Gegensätze schaffen einen
Kontrapunkt; sie heben
das Alltägliche im Leben
auf eine höhere Stufe.
Alfred Hitchcock
Abb. 1 Die Lust an der eigenen Vernichtung. In der Partyszene aus Alfred Hitchcocks DER FREMDE IM
ZUG demonstriert der Mörder einem erfreuten «Opfer» seinen Modus Operandi.
Einleitung
Im April 1974 veranstaltet die Film Society
des Lincoln Center in New York Alfred
Hitchcock zu Ehren einen Galaabend.
Mehrere Stunden lang werden populäre
Szenen aus den Filmen des angloamerikanischen Regisseurs (1899–1980) vorgeführt. Unter den Zuschauern befindet sich
auch der französische Filmemacher François Truffaut, der seine Rezeptionseindrücke später folgendermaßen beschreibt:
Es war unmöglich, nicht zu sehen, daß
alle Liebesszenen wie Mordszenen gefilmt waren und alle Mordszenen wie
Liebesszenen. […] Auf der Leinwand
nichts als Spritzer, Knallkörper, Ejakulationen, Stöhnen, Keuchen, Schreie, Blutvergießen, Tränen, verdrehte Handgelenke, und mir ging auf, dass in Hitchcocks
– eher sexuellem als sensuellem – Kino
der Liebesakt und der Tod eins sind.
(2004, 337)
Truffaut konstatiert hier eine formale Analogie zwischen Liebes- und Todesszenen,
eine ästhetische Fusion von Sexualität
und Mord in Hitchcocks Filmen. Seine Beobachtungen verweisen auf eine Konver1
Dieses und alle folgenden Transkripte von
Gregor J. Weber. Da die deutschen Synchronfassungen die fremdsprachigen Originaldialoge nicht immer adäquat wiedergeben, orientiert sich meine Argumentation
aus Gründen der Werktreue an den Originalversionen der Filme.
2
Die Begriffe Eros und Thanatos sind der
griechischen Antike entlehnt und verkörpern in der Psychoanalyse die beiden antagonistischen Grundtriebe des Menschen.
Der Eros verweist auf die Lebenstriebe, die
den Sexual- und Selbsterhaltungstrieb umfassen. Demgegenüber stellt der Thanatos
den Todestrieb dar, dessen Ziel die Vernichtung des Lebens und die Rückführung in
den anorganischen Zustand ist (vgl. Freud
genz von zwei Lebensbereichen, die allgemein eigentlich als konträr, im Sinne der
Affirmation/Negation des Lebens gedacht
werden (z.B. Kriz 2001, 29).
Ein erster, kurzer Blick auf Hitchcocks
Oeuvre scheint zu bestätigen, dass das Motiv der Verschmelzung von Sexual- und
Todestrieb tatsächlich häufiger, zumindest
an der narrativen Oberfläche der Filme anzutreffen ist. In FRENZY (GB 1972) lässt
sich eine junge Frau von ihrem unter
Mordverdacht stehenden Freund umarmen. «I must be soft in the head lettin’ a
suspected strangler put his arms around
me» meint sie lächelnd, worauf er ihr
scherzhaft seine Hände um die Kehle legt.1
Die Dialogzeilen «Did you kill him because he liked you?» (DAS FENSTER ZUM
HOF; USA 1954) sowie «It would be so
much nicer to be killed by love» (ÜBER DEN
DÄCHERN VON NIZZA; USA 1955) erinnern
auf ähnliche Weise an Hitchcocks lakonische Interview-Antworten, mit denen er
die Figurenkonstellationen in einigen seiner Arbeiten zu kommentieren pflegt:
«Each man kills the thing he loves» – «Jeder tötet, was er liebt» (z.B. in Cameron/
Perkins 2003, 51; vgl. Wood 1989, 224).
Der Regisseur zitiert hier aus Oscar Wildes
Gedicht Die Ballade vom Zuchthaus zu Reading, das ebenfalls eine Verbindung zwischen physischer Liebe und Tötungsdrang
skizziert: «Doch jeder tötet, was er liebt.
[…] Der Feigling tötet mit einem Kuß, […]
Der eine würgt mit der Hand der Lust»
(1975 [1898], 228).
Neben Truffaut erwähnen nur relativ
wenige Interpreten die Assoziation von
Eros und Thanatos in Hitchcocks Kino
und selbst in diesen Ausnahmefällen inspiriert die Thematik keine umfassende,
wissenschaftliche Abhandlung bzw. eigenständige Publikation.2 Sie erfährt hier viel-
10
Einleitung
mehr eine generelle, flüchtige Betrachtung oder eine marginale Verhandlung im
Kontext einzelner Szenen und Filme (z.B.
Wood 1989, 224; Bellour 1995, 147; Leitch
2002, 74 u. 299f; Spoto 2005, 388f). Demgegenüber zählen Tod und Sexualität als
jeweils isoliert betrachtete Motive allgemein zu den thematischen Charakteristika
der Hitchcock-Filme (vgl. Truffaut 2004,
253f).
Soweit meine Literaturrecherchen ergeben haben, kann auch über dreißig Jahre später noch das behauptet werden, was
Albert J. LaValley schon 1972 vermerkt
hat:
Hitchcocks Auffassung von Liebesgeschichten schließt Fetischismus, Sex und
Mord ein. Diese Themen tauchen in Gesprächen mit Hitchcock häufig auf. Zumeist sind sie die spannendsten Aspekte
der Konversation, wenngleich sie bisher
kaum untersucht worden sind. (7, Übersetzung Jürgen Seibert)
Diese geringe wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Eros-Thanatos-Konfiguration, die offensichtlich eine nicht unbedeutende Stellung in Hitchcocks Oeuvre einnimmt, ist erstaunlich, haben doch
eine Vielzahl anderer in den Filmen vorgeführten Themen und Formen verschiedenste filmanalytische und -theoretische
Diskussionen angeregt. Hitchcock gilt als
einer der populärsten und am meisten besprochenen Regisseure der Filmgeschichte
(vgl. Truffaut 2004, 317; Deutelbaum/Poague 1994, 1f; Leitch 2002, viii).
Mit Hitchcocks Leben und künstlerischem Schaffen beschäftigen sich u.a. die
dem Autorenansatz verpflichteten Biografien (Taylor 1980; Spoto 2005; Chandler
2005). Seine Arbeiten sind außerdem Gegenstand autorentheoretisch motivierter
Filmanalysen (Chabrol/Rohmer 1957; Truffaut 2004; Wood 1989; Bogdanovich 2000),
strukturalistisch ausgerichteter Deutungsmuster (Wollen 1982; Rothmann 1982) so-
wie psychoanalytischer (Douchet 1985;
Bellour 1995; Zizek et al. 1998) und psychoanalytisch-feministischer Interpretationen (Mulvey 1975; Modleski 1988; Feldvoß 2000). Diese unterschiedlichen Forschungsrichtungen, die die Filme als Orte
der vielfältigsten symbolischen Einschreibungen begreifen (z.B. des Regisseurs, der
patriarchalen Blickstrukturen, der Proppschen oder Lacanschen Denkkategorien),
behandeln die ästhetische Paarung von Sexualität und Mord allenfalls en passant.
Meine Untersuchung möchte die ErosThanatos-Beziehung in Hitchcocks Oeuvre wissenschaftlich perspektivieren. Ich
vermute, dass der Topos eine hohe narrative und rezeptionsästhetische Relevanz für
die jeweiligen Filme besitzt.
Vor dem Hintergrund von Truffauts
These werde ich analysieren, inwieweit
Hitchcock die Liebesszenen mit dem Motiv des Todes und die Todesszenen mit
dem Motiv der Sexualität assoziiert. In Anlehnung an den französischen Regisseur
möchte ich Liebesszenen als solche Szenen definieren, in denen es denotativ zu
einer körperlich-intimen Annäherung
zwischen zwei Figuren kommt («Liebesszenen», «sexuellem […] Kino», «Liebesakt» [Truffaut 2004, 337]). Diese Begegnung artikuliert sich zumeist in der Form
eines leidenschaftlichen Kusses, wobei ich
den Kuss im Rahmen des klassischen Erzählkinos als legitimen Signifikanten für
explizitere sexuelle Aktivitäten werte (vgl.
Gottlieb 2002, 133). Unter einer Todesszene verstehe ich jene Momente, in denen
eine Figur von einer anderen umgebracht
oder zumindest mit dieser Intention phy1987a [1920]; Laplanche/Pontalis 1998,
280–282 u.494–503). Da sich Sexualität und
Eros genauso wie Tod und Thanatos in jeweils demselben Bedeutungsfeld bewegen
bzw. in semantischer Beziehung zueinander stehen (können), sollen die Termini im
Folgenden weitestgehend synonym gebraucht werden.
Einleitung
sisch attackiert wird («Mordszenen», «Blutvergießen», «Tod» [Truffaut 2004, 337]).
Es ist hierbei weniger der Tod, sondern
vielmehr das Töten, das Hitchcock zu interessieren scheint.
Ich möchte außerdem der Frage nachgehen, ob sich die symbolische Verschränkung von Eros und Thanatos – wie es Truffauts Kommentar zunächst suggeriert –
nur in den Szenen manifestiert, in denen
sexuelle oder gewaltsame Handlungen
präsentiert werden, oder ob sich das Motiv
nicht auch in anderen Momenten der filmischen Narration aufspüren lässt.
Meine Analyse wird nach einer interdisziplinären Methode verfahren, mit deren Hilfe ich der vermuteten Komplexität
meines Gegenstands gerecht zu werden
hoffe: Das Eros-Thanatos-Thema soll sowohl unter auteur- und zensurspezifischen
als auch kulturhistorischen, narrativen,
psychoanalytischen und formal-semiotischen Gesichtspunkten betrachtet werden.
Da ich verschiedene Szenen und Motive aus Hitchcocks Werk analysiere und zueinander in Beziehung setze, steht meine
Untersuchung in der Tradition des Autorenansatzes, der den Regisseur als kreatives Zentrum seiner Arbeiten betrachtet
und der den Filmen eine thematisch und
stilistisch ähnliche Ausrichtung unterstellt. Im ersten Kapitel möchte ich dieses
Verständnis vom künstlerischen Status des
Filmemachers filmhistorisch perspektivieren, indem ich die Entwicklung von
Hitchcocks öffentlichem Ruf eines Pulp Director hin zu dem eines seriösen Auteur
nachskizziere. Im Anschluss daran soll die
Bedeutung des Autorenansatzes im Hinblick auf meine weitere Analyse erörtert
werden, wobei ich über eine kritische Beleuchtung des klassischen Autorenbegriffs
zu einem revidierten Verständnis gelangen möchte.
11
Das folgende Kapitel setzt sich mit der
Relation zwischen dem Production Code
(1934–1956/1966) und Hitchcocks formaler Umsetzung der Motive Eros und Thanatos auseinander, die hier aus pragmatischen Gründen noch isoliert voneinander
untersucht werden. Die Zensurvorschriften, die besonders die filmische Darstellung von Sexualität und Verbrechen reglementieren, üben vermutlich einen nicht
unwesentlichen Einfluss auf den Inszenierungsstil und die Betrachtung meines Themas aus.
Der Abriss über die kulturhistorische
Herkunft des Fusions-Motivs zeigt an, dass
der Topos per se keine Erfindung Hitchcocks darstellt. Er und auch andere Regisseure rekurrieren vielmehr auf eine genuin
romantische Motivik, die in den Filmen in
je unterschiedlicher Ausprägung modifiziert oder weiterentwickelt wird.
Nach der Ausführung dieser verschiedenen Grundannahmen stelle ich im
Hauptkapitel drei Momente vor, anhand
derer Hitchcock die Verschmelzung von
Sexualität und Tod in seinen Filmen verhandelt: die narrativen Kippmomente, das
Motiv des Essens und schließlich die eigentlichen Liebes- und Todesszenen. Dieser letzte Punkt, die formale Analyse der
Kuss- und Mordszenen, stellt den eigentlichen Kern meiner Untersuchung dar. Ich
überprüfe hier nicht nur, ob sich Truffauts
These bzw. die daraus abgeleiteten Implikationen als stichhaltig erweisen, sondern
auch, welche konkrete narrative und wirkungsästhetische Funktion die vermutete
Paarung von Eros und Thanatos haben
könnte.
Auf der Grundlage der gewonnenen
Ergebnisse werde ich im Fazit die Todesund Liebesszenen in den Kontext des Autorenansatzes stellen und dabei ihre Relevanz für das Hitchcock-Oeuvre aufzeigen.
Abb. 2 Der publicitybewusste Hitchcock ist nie um einen makabren Scherz verlegen: Alma Hitchcock
und ein Teil ihres Mannes im heimischen Kühlschrank.