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Impressum
Semiotische Kommunikationstheorie – Karl Bühlers Werk und seine Implikationen für eine zeichentheoretisch fundierte Kommunikationsforschung. Teil 3:
Appelltheorie und ihre potentielle Bedeutung für die Kommunikationswissenschaft.
von Marius Wallat
© 2013 Marius Wallat.
Alle Rechte vorbehalten.
Autor:
Marius Wallat
An Sankt Marien 13
D–47906 Kempen
[email protected]
Buchcover, Illustration:
Henning Lindeke, Dipl.-Designer
Illustration und Konzeption
www.henninglindeke.de
ISBN: 978-3-00-042561-5
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Vom Autor bisher als E-Book erhältlich:
Semiotische Kommunikationstheorie, Teil 1: Allgemeines.
ISBN: 978-3-00-042559-2
Semiotische Kommunikationstheorie, Teil 2: Die sprachwissenschaftliche Axiomatik, ihre Grundgedanken und ihre Entwicklung.
ISBN: 978-3-00-042560-8
Semiotische Kommunikationstheorie, Teil 3: Appelltheorie und ihre potentielle
Bedeutung für die Kommunikationswissenschaft.
ISBN: 978-3-00-042561-5
Semiotische Kommunikationstheorie, Teil 4: Grundrisse einer semiotischen
Kommunikationstheorie.
ISBN: 978-3-00-042562-2
Semiotische Kommunikationstheorie, Teile 1-4.
ISBN: 978-3-00-042558-5
II
Vorwort.
1981 schrieb Thomas A. Sebeok über das wissenschaftliche Werk Karl Bühlers
und seine Rezeption: „Die Bühlersche Semiotik mit all ihren Implikationen und
vor allen Dingen im Kontext seines Gesamtwerkes wartet noch auf eine ausführliche Behandlung.“ Obwohl dieser Satz vor mehr als 30 Jahren niedergeschrieben worden ist, hat sich an der Richtigkeit dieser Feststellung nichts geändert. Denn obwohl sich vor allem in den 1980er Jahren und auch zur Zeit
recht viel in der Bühler-Forschung getan hat bzw. tut, fehlt es nach wie vor an
einer zusammenhängenden und systematischen zeichentheoretischen Interpretation des Bühlerschen Werks, die dazu dienen könnte, selbiges im aktuellen wissenschaftlichen Diskurs geltend zu machen und damit die auffälligen
Mängel in seiner Rezeption, die seit Ende der 1930er Jahre bis heute bestehen,
auszumerzen. Über dieses Anliegen hinaus soll die vorliegende Dissertation
weitere Dinge anregen und auf mehrfachem Wege dazu beitragen, dem von
Sebeok bezeichneten Problem Abhilfe zu verschaffen und die theoretische
Tragweite der darin enthaltenden Forderung zu untermauern. Karl Bühlers Zeichentheorie ist nämlich gerade deswegen von so bedeutendem Interesse, da
sie nicht nur als großes Endziel fast sein gesamtes theoretisches Arbeiten in
den Bereichen der Psychologie und der Sprachforschung bestimmt, sondern
durch ihren übergeordneten und dadurch zur selben Zeit grundlegenden Charakter all jene Disziplinen berührt, die etwas über intersubjektive Prozesse des
Zeichengebrauchs sagen wollen und sich mit den entsprechenden Phänomenen
beschäftigen. Karl Bühler hat der Forschergemeinschaft durch seinen pragmatischen Zeichenbegriff, der sich in seinen konstitutiven Facetten erst erschließt,
wenn man seine nicht als Monographie oder anderweitig geschlossen ausformulierte Zeichentheorie einer konsequenten Analyse unterzieht, die inhaltlichen Anhaltspunkte hinterlassen, die den Vorgängen des zwischenmenschlichen Zeichenverkehrs und den sozialen Bedingungen der Zeichenkonstitution
ein Profil geben. Eine solche Analyse kann nichts anderes sein, als eine umfassende, historiographische Werkanalyse, da nur das Gesamtwerk Bühlers in seiner Totalität ausreichend erkennen lässt, welchen Beweggründen und vielgestaltigen Erkenntnisinteressen es unterworfen ist, wie es sich von ihnen
ausgehend entwickelt hat und in welcher Art und Weise es dazu in der Lage
V
ist, die heutige Wissenschaftslandschaft in den von ihm berührten Aspekten
nachhaltig voranzubringen und an fundamentale Grundsätze in der Ausrichtung und der angemessenen Bearbeitung der jeweiligen Forschungsgegenstände zu erinnern.
In dem damit programmatisch Dargelegten ist also mehr inbegriffen, als der
Wunsch nach einer noch größeren Anerkennung der Bühlerschen Ideen und
Theorien im heutigen akademischen Kontext. Man könnte in Bezug auf Karl
Bühler von einem aus der Psychologie kommenden, zeichentheoretisch ausgerichteten Kommunikationstheoretiker sprechen, da seine gebietsbestimmende
Sprach- und Zeichentheorie als frühes Fundament dessen zu betrachten ist,
was ich als semiotische Kommunikationstheorie bezeichnen möchte. Der Fokus
auf die sprach-, zeichen- und letztlich kommunikationstheoretische Perspektive
des Bühlerschen Werks rechtfertigt sich dadurch von innen heraus, da sich
daran aufzeigen lässt, wie in der Kommunikationsforschung und den wissenschaftlichen Teildisziplinen, die sich eines Kommunikationsbegriffs bedienen,
zu verfahren ist, will man sich schwerer theoretischer Entgleisungen erwehren,
die flächendeckend das Bild der kommunikationswissenschaftlichen Aufgaben
und Ziele verzerren und den eigentlichen Gegenstand nur ungenügend abbilden. In Bühlers sprach- und zeichentheoretischem Entwurf sind die bereichskonstitutiven Implikationen aufzufinden, deren Bearbeitung erstens die Wertschätzung der inneren Geschlossenheit seiner Forschungsziele fördert und
zweitens eine Einschätzung dessen zulässt, inwiefern Karl Bühlers Werk von
immensem theoretischen Gewicht für die sprachwissenschaftlichen, kommunikationswissenschaftlichen und zeichentheoretischen Bereichstheorien ist. Als
Drittes kann diesen beiden Aufgaben an die Seite gestellt werden, dass jene
Implikationen, wenn sie auf allgemeine sprach- und zeichentheoretische Prämissen verdichtet werden, einen zeichentheoretischen Blickwinkel auf die intersubjektiven Kommunikationsprozesse unbedingt herausfordern, da nur dort
Zeichen zu Verständigungszwecken zur Anwendung gelangen. Die semiotische
Behandlung des Gesamtwerks Karl Bühlers erweist sich als ein möglicher Ausgangspunkt, die Kommunikationsforschung dahingehend in ihren Inhalten und
Vorgehensweisen zu steuern, als sich an seinem Beispiel die Bedeutung einer
zeichentheoretischen Arbeitsweise eindrucksvoll offenlegen lässt. Nur dadurch
kann die Kommunikationsforschung der semiotischen Fundierung eines jeden
kommunikativen Ereignisses Rechnung tragen.
VI
Teil 3:
Appelltheorie und ihre potentielle Bedeutung für die
Kommunikationswissenschaft.
Kapitel
7:
Die
sprachtheoretische
Dreiheit
von
Ausdruck,
Darstellung und Appell.
7.1 Charakteristik der Ausdruckstheorie.
Das Organon-Modell der Sprache mit den drei in ihm enthaltenen Sinnfunktionen des Sprachzeichens verdankt seine Fertigstellung der Betrachtung der
Sprache im Rahmen einer allgemeinen Zeichentheorie und durch die Einbettung der sprachlichen Funktionen in das konkrete Sprechereignis. Dazu gehört
auf Seiten des Sprechers die Ausdrucksseite der sprachlichen Äußerung und
auf Seiten des Hörers die Appellseite. Als Drittes werden die Gegenstände und
Sachverhalte durch die sprachliche Darstellung in die Sprechhandlung integriert. Zu zwei Aspekten hat Bühler jeweils ein großes Buch vorgelegt – eine
Theorie der Darstellung und ein Buch zur Theorie der Ausdrucksbewegungen.
Anschließend wurden andere Dinge im Leben Karl Bühlers dominant, so dass
es zu keiner ausgewiesenen Appelltheorie der Sprache gekommen ist, zumindest nicht vordergründig. Schließlich hat Bühler erst Jahre nachdem er Wien
verlassen und in den USA allmählich Fuß gefasst hatte, wieder damit begonnen zu publizieren, wobei die aus dieser Periode stammenden Texte oberflächlich betrachtet erst einmal andere Ziele verfolgen. Die Appelltheorie ist also
das unvollständige Segment in Bühlers sprachtheoretischem und sematologischem Werk. Nun ist zur Konstitution des konkreten Sprechereignis, des
Sprechverkehrs, in dem ein Gegenstand oder Sachverhalt dargestellt werden
und eine sinnvolle gegenseitige Steuerung der Kommunikationspartner erfolgen soll, der Appell ebenso wichtig wie der Ausdruck und die Darstellungsfunktion. Dies ist die These von den drei Sprachfunktionen. In Ermangelung eines
separaten Appellbuches werde ich auf Bühlers publizierte Texte zurückgreifen
246
müssen und zusammentragen, was sich dort zum Appell finden lässt. Wenn
dies getan ist, ist auch der Schritt zur Grundlegung einer echten zeichentheoretisch fundierten Kommunikationstheorie nicht mehr weit. Zunächst aber will
ich die beiden anderen Bereichstheorien aufarbeiten, um ihnen im Anschluss
eine auf Bühlers Schriften basierende Appelltheorie der Sprache an die Seite
zu stellen. Erst ganz zum Schluss sind die kommunikationstheoretischen Konsequenzen zu ziehen. Beginnen werde ich mit der Ausdruckstheorie (1933),
Bühlers Buch zum gleichnamigen Teilgegenstand der Sprachforschung, das im
selben Jahr wie die Axiomatik der Sprachwissenschaften (1933) publiziert worden ist, also noch vor der Sprachtheorie (1934), dem Buch über die Darstellungsfunktion der Sprache.
Karl Bühlers Beitrag zur Ausdruckstheorie ist nach eigenen Angaben eine Chronik, eine neu gefasste Dogmengeschichte der Ausdruckstheorie. Er trägt zusammen, was bereits zum Thema gesagt worden ist, schildert unterschiedliche
theoretische Ansätze und systematisiert sie prognostisch zu einem geschlossenen Forschungsprogramm. Wenig bekannt ist, dass eine sehr viel kürzere
Version des Buches im selben Jahr in der damals von Friedrich Schumann und
David Katz herausgegebenen Zeitschrift für Psychologie als Abhandlung erschienen war. In der ersten Anmerkung des Textes, der unter dem Titel Zur
Geschichte der Ausdruckstheorie (Fragment einer größeren Studie) abgedruckt
wurde, ist die Rede davon, dass er ursprünglich als Einleitung zu dem Kapitel
„Der sprachliche Ausdruck“ im Buch Sprachtheorie erscheinen sollte (vgl. Bühler 1933c, 246), nur sucht man dort ein solches Kapitel vergebens. Ebenfalls
ist die Sprachtheorie nicht, wie hier angegeben, 1933 erschienen, sondern erst
1934. Es hatte sich bis dahin etwas Signifikantes an der Konzeption geändert,
was Karl Bühler dazu bewogen hat, seine Sprachtheorie etwas nach hinten zu
verschieben und das Programm seiner Abhandlung über den Ausdruck weiter
auszubauen und um einige inhaltliche Punkte zu erweitern. Schon im einleitenden Kapitel zur Ausdruckstheorie sagt Bühler, Wilhelm Wundt sei bei seinem
Versuch, eine Ausdruckslehre noch vor einer allgemeinen Sprachtheorie zu
entwerfen bzw. beim Versuch, beide Aufgaben zu vereinen, gescheitert, weshalb Bühler – um nicht in die selbe Falle zu geraten – sein Buch über die Ausdruckstheorie von der Sprachtheorie getrennt habe (vgl. Bühler 1933a2, 9f.).
In der Abhandlung setzt er sich u. a. kritisch mit einem historischen Rückblick
auf die Entwicklung der Ausdrucksforschung auseinander (vgl. Pollnow 1928,
247
7.3 Appelltheorie als unvollständiges Element neben Darstellungs- und
Ausdruckstheorie.
Die für die Sprachwissenschaften bedeutsamsten zeichentheoretischen Momente des sprachtheoretischen Konzepts von Karl Bühler sind am OrganonModell der Sprache abzulesen, erschöpfen sich aber nicht in ihm, wie u. a. seine Ausführungen zur Darstellungsfunktion der Sprache, die sich des Zeigfeldes
und des Symbolfeldes der Sprache bedient und dort in sematologischen Umfeldern des Sprachzeichens zur Geltung kommt, belegen. Die Theorie des Ausdrucks ergänzt den Ansatz auf der Seite des sprechenden und sich ausdrückenden Individuums, besonders in Bezug auf die nichtsprachlichen
Ausdruckssymptome. Nun ist es aber in einer jeden Kommunikationssituation,
die diesen Namen auch verdient, so, dass sich nicht nur ausdrückend und darstellend über etwas verständigt wird, sondern der Hörer muss in einer situativen, kognitiven Individualleistung sein Übriges dazu tun, damit der Darstellungswert des vom Sprecher Ausgedrückten überhaupt kommunikativ wirksam
werden kann. Mit der Einsicht in die Darstellungspotenz der Menschensprache
und der Zuordnung der sprachlichen Symbole zu dieser Zeichenfunktion des
Kommunikationsmittels und der daran gekoppelten Notwendigkeit eines sich
ausdrückenden Individuums, das einen Gegenstand oder Sachverhalt darstellen will und dabei etwas von seiner inneren Befindlichkeit preis gibt, ist die
Beschreibung der Vorgänge noch lange nicht zu Ende. Das Sprachzeichen wirkt
in Bühlers Konzeption nämlich nicht nur ausdrückend und darstellend, also als
Symptom und als Symbol, sondern appelliert darüber hinaus an den Hörer, der
aus keiner echten sprachlichen Handlung getilgt werden kann, die angesprochenen Leistungen zu erbringen; es wirkt als Signal im zwischenmenschlichen
Interaktionsprozess. Dies ist der sematologische Verbund der drei Sprachfunktionen, wie Bühler sie in seiner Sprachaxiomatik beschreibt.
Einer der schärfsten Kritiker von Karl Bühlers sprachtheoretischem Ansatz ist
Hellmuth Dempe gewesen (vgl. Kamp 1977, 255ff.), dessen Überlegungen zur
(Transzendental-)Phänomenologie der Sprache ihn dazu geführt haben, lediglich die Darstellungsfunktion der Sprache als konstitutiv für das Sprachwesen
anzuerkennen. Das Eine, das im Satz zum Ausdruck kommen muss, um Dempes Kriterien vom Wesen der Sprache zu erfüllen, kann ihm zufolge nicht dreigeteilt sein, so dass er als Fazit das Urteil fällt, die Sprache könne phänome-
277
nologisch betrachtet nicht als Einheit verschiedener Funktionen definiert werden, sondern als etwas, das eine einzige Funktion besitzt, nämlich darzustellen. Die anderen Funktionen sind demnach, „soweit sie überhaupt zur Sprache
gehören, nur Momente an der Darstellung und ihr untergeordnet“ (Dempe
1930, 41). Dabei verwirft er den überaus wichtigen Punkt, dass die drei von
Bühler angeführten Sprachfunktionen im Sprechverkehr als ein Ganzes und
nur gemeinsam in ihrem wesenhaften Zusammenspiel wirken und keineswegs
getrennt voneinander. Diese Zusammengehörigkeit der Sprachfunktionen, in
der die eine die anderen nicht ausschließt, sondern vielmehr bedingt, akzeptiert Dempe zugunsten (oder besser: zulasten) einer äußerst einseitig ausgerichteten Darstellungstheorie der Sprache nicht, welche zwar nicht vollständig
vom sprachlichen Ausdruck und dem sprachlichen Appell absieht, sie jedoch
als sekundäre Funktionen der Sprache der Darstellung subsumiert und in ihr
auflöst (vgl. Dempe 1930, 109ff.). Auch wenn Dempe ein Kenner der BühlerMaterie gewesen sein mag, so sind die Grundannahmen und die Methoden seiner eigenen Forschung durchaus verschieden von denen Bühlers, so dass er zu
einem anderen Ergebnis bezüglich des Wesens der Sprache gekommen ist.
Daran konnte weder Bühlers Schilderung der sich bei Edmund Husserl abzeichnenden Abkehr vom Individualismus und Subjektivismus und seiner Zulassung
einer Art der Intersubjektivität im Monadenraum etwas ändern (vgl. Bühler
19343, 9ff. und 67ff./vgl. auch Dempe 1935, 250ff.), noch seine kurze, dafür
aber umso eleganter formulierte Polemik im Vorwort der Sprachtheorie
(1934), dass er die Titelfrage von Dempes Buch Was ist Sprache? (1930) nur
durch die Aussage „Sprache ist, was die vier Leitsätze erfüllt“ (Bühler 19343,
XXVIII) hinreichend beantwortet sieht. So sah sich Karl Bühler danach noch
einmal veranlasst, auf die Problematik einzugehen, obwohl er die Husserlsche
Monadenbeschränkung durch die Darlegung des Organon-Modells schon längst
überwunden hatte (vgl. Eschbach 1987b, 309f.). In Das Strukturmodell der
Sprache hält Bühler fest: „Es gilt [gegenüber Dempe; M. W.] den 'Ausdruck'
und 'Appell' zu retten im Organon-Modell der Sprache“ (Bühler 1936a, 4), da
es mehr gibt, als das eine die Sprache konstituierende Element der Darstellungsfunktion, das Dempe ausschließlich als Sprachfunktion akzeptiert (vgl.
Bühler 1936a, 11).
Ich kann bis zu einem gewissen Grad nachvollziehen, dass man im Sinne einer
Verteidigung und Erhaltung der von Hellmuth Dempe und Alfons Nehring (vgl.
278
Nehring 1955, 168ff.), in deren Folge auch von Braunroth, Seyfert, Siegel und
Vahle (vgl. Braunroth et al. 1975, 39ff.) sowie von Winfried Busse (vgl. Busse
1975, 207ff.) nicht gesehenen Zusammengehörigkeit der drei von Bühler beschriebenen Sprachfunktionen (vgl. Beck 1980, 187ff.) zu dem voreiligen
Schluss kommen kann, Bühlers Krise der Psychologie von 1927 sei das Buch
zur Appellfunktion der Sprache. Diesem Trugschluss ist z. B. Jens Loenhoff anheim gefallen, der geradezu leichtfertig davon ausgeht, die Ausdruckstheorie
(1933), die Sprachtheorie und die angesprochene Krise repräsentierten die
dreistellige Relation in Bühlers Organon-Modell (vgl. Loenhoff 2006, 109). Darauf muss ich erwidern, dass die Krise der Psychologie eindeutig nicht das Appellbuch ist, das Bühler ja selbst forderte, aber nie verfasst hat (vgl. Bühler
19343, 33). Ich gebe zu – es ist verlockend, jenen Schluss zu ziehen und damit der sprachtheoretischen Forschung Karl Bühlers eine Abgeschlossenheit zu
unterstellen, die bedauerlicherweise nicht gegeben ist. Grund für die Verwechslung ist wohl, dass die Krise durchaus das axiomatische Rüstzeug bietet,
den zwischenmenschlichen Kommunikationsprozess mit all seinen vielfältigen
Relationen zeichentheoretisch zu fundieren. Sie ist im Prinzip eine eigene, in
ihrer Übersichtlichkeit fast schon verblüffend geniale, sematologische Kommunikationstheorie „in nuce“ (Eschbach/N. Eschbach 2011b, 13), die all jene Elemente zumindest anreißt und impliziert, die für die Ausgestaltung einer solchen benötigt werden. In diesem Sinne muss man auch unbedingt davon
sprechen, dass die Axiome der Sprachforschung den drei Axiomen aus der Krise unterstellt sind. Ohne Gemeinschaft und die wechselseitige Steuerung der
Individuen in dieser Gemeinschaft durch die semantische Einrichtung der
Sprache, durch die sie kundgeben und kundnehmen, kann es kein Modell der
Sprachfunktionen geben, kein Organon-Modell, das auf dem Zeichencharakter
der Sprache beruht, der ebenfalls aus diesen Prämissen hervor geht. Zur selben Zeit kann ohne das Axiom der Zuordnung der Ausdruckszeichen zu den
Gegenständen und Sachverhalten keine Darstellung erfolgen, wodurch eigentlich alle sprachtheoretischen Axiome unbrauchbar würden, so auch die Unterteilung von Wort und Satz, aber auch die Differenzierung in Sprechhandlung
und Sprachgebilde bzw. Sprechakt und Sprachwerk. Will heißen, jedes der drei
Krisen-Axiome und nur alle drei im Verbund machen die sprachtheoretische
Axiomatik Karl Bühlers in ihrem Zusammenspiel möglich. Trotzdem gerade der
Hörer einer sprachlichen Äußerung, d. h. das kundnehmende Individuum in ei-
279
ner Kommunikationssituation, das Modell erst sinnvoll werden lässt, sowohl
das in der Krise der Psychologie aufgezeigte Interaktionsmodell am Beispiel
der menschlichen Sprache als auch das sprachtheoretische Modell der Sprachfunktionen in der Sprachtheorie, ist die Krise keine Appelltheorie und sie enthält auch keine, obgleich sie sehr viele wichtige Anhaltspunkte bietet, wie eine
Appelltheorie in Bühlers Sinne möglicherweise ausgesehen hätte. Denn mit
dem gleichen Recht dürfte man dann verkünden, dass die Krise der Psychologie in Wirklichkeit dreierlei gleichzeitig sei, Ausdruckstheorie, Darstellungstheorie und Appelltheorie, weil sie die Induktionsideen liefert, die für eine
gleichmäßige Erarbeitung der drei zu einer einheitlichen sprachtheoretischen
Konzeption zugehörigen Elemente in einem Funktionsmodell der Sprache notwendig sind. Auf den Punkt gebracht muss man also sagen, dass die Krise der
Psychologie nicht nachträglich zu einem separaten Appellbuch gemacht werden kann, nur weil es zu den anderen beiden Bereichen, die das Organon-Modell vorsieht, eigene Bücher gibt. Grundlegung des Ganzen ist sie und nicht
nur dieses einen Teils der Sprachforschung, nach dem ich hier suche.
Was es nicht gibt, kann man nicht analysieren, was es nie gegeben hat, kann
man nicht wiedergeben. Somit bleibt nur übrig, zu synthetisieren, wie dieses
mögliche Etwas ausgesehen haben könnte, was natürlich eine nicht zu verachtende hypothetische Komponente einschließt, oder aber dasjenige zusammenzutragen, was tatsächlich vorliegt, und in Erwägung dieser Vorarbeiten etwas
auszuarbeiten, das für sich beanspruchen kann, eine legitime Ausgestaltung
und Erweiterung dessen zu sein, was angelegt gewesen und im authentischen
Sinne möglich ist, d. h. ohne die Gedanken, auf denen das Neue basiert, zu
verfälschen. In diesem, zweiten Sinne, der sich durchaus mit Jürgen Habermas' Begriff der Rekonstruktion einer Theorie parallelisieren lässt (vgl. Habermas 1976, 9ff.), ist zu verstehen, was ich im Folgenden versuche. Ich möchte
durch kritische Arbeit mit der entsprechenden Primär- und Sekundärliteratur
und durch eine bestmögliche Einordnung dieser in den komplexen, übergeordneten Forschungszusammenhang einen „explizierten und begründeten und damit Rechtfertigungsansprüchen zugänglichen Deutungsrahmen“ (Jäger 1984,
19) schaffen, innerhalb dessen und von dem ausgehend eine Rekonstruktion
der Appelltheorie Karl Bühlers samt Darlegung des theoretischen Potentials für
die neuere wissenschaftliche Forschung erfolgen kann. Keinesfalls will ich im
Namen Bühlers die Inhalte eines Appellbuches vorgeben, wie es nie geschrie-
280
ben worden ist. Wohl aber möchte ich aus dem, was Bühler sehr wohl geschrieben hat, herausfiltern, was seine Ideen im Hinblick auf eine kritische,
zeichentheoretische Kommunikationstheorie nahelegen. Drei Dinge darf man
sich davon versprechen. Erstens würde endlich der in der Literatur am wenigsten beachtete Aspekt der Bühlerschen Sprachtheorie und Sematologie einer
genauen Betrachtung unterzogen und in Relation zum Aufbau und Anliegen
seines Gesamtwerks für ein daran anschließendes Projekt fruchtbar gemacht.
Zweitens würde das Werk Karl Bühlers dadurch eine längst überfällige ganzheitliche Betrachtung erfahren, die erahnen lässt, welches kommunikationsund zeichentheoretische Potential in ihm angelegt ist. Drittens könnte der
neue Fokus auf einen bisher stiefmütterlich behandelten Teil des Gesamtwerks
Karl Bühlers dazu beitragen, die oben angesprochenen Defizite in der aktuellen
Forschung zu bereinigen, zumindest aber sie bereinigen helfen. Wenn die allgemeine Zeichenlehre das eigentliche Ziel Karl Bühlers gewesen ist, ist der
sprachliche Appell das Element im theoretischen Aufbau, welches die Möglichkeiten bietet, zu einer solchen überzuleiten. Nicht zuletzt deshalb möchte ich
die Bühlerschen Schriften im Folgenden noch einmal durchgehen und zusammentragen, was an ihnen zu einer möglichen Appelltheorie der Sprache gehört. Unter Beachtung der axiomatischen Leitsätze und der Inhalte der von
Bühler eigens charakterisierten Ausdrucks- und Darstellungstheorie wird sich
ein Bild von einem zeichentheoretischen Ansatz zur Erklärung zwischenmenschlicher Kommunikationsprozesse zeichnen lassen. Dies ist in knappe
Worte gefasst, auf was die Bemühungen hinaus laufen sollen. Wenigstens aber
wird sich erweisen, dass die drei Hoffnungen begründet sind.
Eine der Leitfragen ist: Wie kann ein Sprachzeichen innerhalb der Interaktionsprozesse zwischen Menschen als Signal wirken und wie ist die Signalwirkung
am Hörer zu verstehen und einzuschätzen? Um das zu beantworten muss man
etwas genauer hinschauen. Bühler hat betont, dass die drei Bücher über die
Sprache geschrieben sein müssten, die das Organon-Modell der Sprache fordert, erst dann wäre sein theoretischer Aufbau belegt. Zum Abschluss gebracht wäre er damit sicher noch nicht, denn als noch höheres Ziel stufte es
Bühler ein, eine allgemeine Zeichenlehre zu kreieren, im Rahmen derer die sematologisch fundierte Sprachtheorie ihren Platz finden würde. Zu beidem ist es
nicht gekommen, aber zu beidem hatte er zuvor einiges gesagt, das nur durch
die Arbeit an und mit den betreffenden Texten in seinen Zusammenhängen
281
verstanden werden kann. Wenn man sich die Inhalte der Texte, die in seinem
amerikanischen Exil oder auch posthum publiziert worden sind, unter dem Appellaspekt, man könnte auch sagen unter dem Steuerungsaspekt anschaut, so
kann man durchaus zu dem Ergebnis gelangen, dass das Appellproblem für
Bühler keineswegs abgehakt gewesen, sondern eher immer wichtiger geworden ist. Wie ich finde, lässt sich dazu weit mehr sagen als zur allgemeinen Sematologie, die Bühler in Aussicht gestellt hatte. Vielleicht würde der Nachlass,
wenn er einmal gründlich ausgewertet würde, etwas zur Aufklärung beitragen.
Das folgende Kapitel wird nun noch einmal die Schriften Bühlers thematisieren
und sie im Hinblick auf die spezifische Zeichenfunktion des sprachlichen Appells auf Anhaltspunkte zur Rekonstruktion der sich immer weiter profilierenden Appellfunktion der Sprache überprüfen. In Anlehnung an die Darstellungstheorie und die Ausdruckstheorie möchte ich den Terminus Appelltheorie
vorschlagen, wie er bisher schon öfter angeklungen ist. Um es noch einmal zu
wiederholen: Es geht nicht darum, Bühler ein Buch nach der Feder zu schreiben, das es nicht gibt. Vielmehr geht es darum, einen Beitrag zum besseren
und umfassenderen Verständnis des Bühlerschen Werks zu leisten, um es für
die Sprach- und Kommunikationsforschung erneut aktuell zu machen. Die
Schriften, die vor Bühlers Flucht in die USA geschrieben und veröffentlicht
wurden, sind von denen, die danach publiziert worden sind, gesondert zu betrachten, nicht zuletzt, weil von der ersten Gruppe so vieles auf die Axiome
der Sprachforschung hin arbeitet. Dort hat der Appell seinen funktionalen
Platz. Alles, was danach kam, steht unter anderen Vorzeichen. Man wird sehen, ob und wie sich beides zu einem mehr oder minder homogenen Bild zusammenfügen wird.
282
Bühler legt schon in Vom Wesen der Syntax (1922), also einem Text, der zeitlich zwischen den entwicklungspsychologischen Beiträgen Bühlers und der Krise der Psychologie liegt, dar, wie die sprachliche Auslösung als 'soziales Moment' das Feld des sozialen Zeichenverkehrs bereitet: „Zur Kundgabe wird ein
derartiger Zusammenhang erst dadurch, daß er in die biologische ältere Einrichtung der Auslösung eingebaut ist oder menschlich gesprochen durch das
Korrelat des Notiznehmens anderer Individuen.“ (Bühler 1922b, 59) Gleichzeitig verdeutlicht das soziale Moment, dass jede psychologische, philosophische, zeichentheoretische oder sprachtheoretische Betrachtung der Sprache
den Hörer im konkreten Sprechereignis als zentralen Fixpunkt in die jeweilige
Theorie aufnehmen muss. Erst durch die Existenz eines 'Empfängers' von
Sprachzeichen, der potentiell steuerbar ist, ist Kundgabe bzw. Ausdruck möglich, worin man auf eine der Grundvoraussetzungen der Kommunikation stößt,
die es meines Erachtens zeichentheoretisch zu klären gilt. Ich spreche von den
semiotischen Prozessen, die sich im Hörer ereignen, damit so etwas wie Sinnhaftigkeit einer kommunikativen Handlung, Sprachverständnis und letztlich
eine sinnvolle Steuerung des gegenseitigen Verhaltens in einer Kommunikationssituation erreicht werden kann. Jedenfalls zeigt sich an der wechselseitigen
Steuerung im sozialen Kontakt, dass es der gegenseitigen Zuwendung der Individuen untereinander bedarf. Erst dadurch wird Kommunikation prinzipiell
möglich. Es ergibt sich für den Sprach- Kommunikationswissenschaftler, dass
die semantischen Einrichtungen der Lebewesen dazu dienen, einen solchen
Kontakt zwischen Kundgebendem und Kundnehmendem herzustellen, da sie
nur so zur Wirkung gelangen können. Für den zwischenmenschlichen Zeichenverkehr bedeutet dies die Anerkennung des Hörers – Jürgen Habermas würde
wahrscheinlich von der Einbeziehung des Anderen (1996) sprechen – und seiner Leistungen im Kommunikationsprozess und des Elementes, welches diese
Leistungen auslöst: Der Fokus verschiebt sich auf die sprachliche Appellwirkung im sozialen Kontakt der Menschen.
9.3 Der Appell im Kommunikationsprozess: Wechselseitige Steuerung im
sozialen Kontakt.
Die wechselseitige Steuerung des Benehmens der Mitglieder einer Gemeinschaft im Reich der Lebewesen hat Karl Bühler in seinem Buch zur Krise der
322
Psychologie (1927) axiomatisch niedergelegt. In gewissem Sinne laufen dort
die wichtigsten theoretischen Fäden der Bühlerschen Forschungstätigkeiten zusammen, da deutlich wird, wie beinahe alle der von Bühler bearbeiteten Probleme miteinander zusammenhängen. Das Phänomen der Sprache kann nämlich nur deswegen als Beispiel für die notwendige Integration der drei
psychologischen Aspekte (Erlebnis, Benehmen und Werk) herangezogen werden, weil es nur unter diesen drei Aspekten vollständig wissenschaftlich zu erfassen ist. Psychologische Fragestellungen hatten sprachtheoretische und sematologische Probleme aufgeworfen, die in der Folge immer weiter in den
Vordergrund drängten und eine psychologische Aufklärung forderten. Hier endlich werden zeichentheoretische Annahmen und sprachtheoretische Erkenntnisse genutzt, um rückwirkend eine Einheit der Psychologie zu erreichen durch
die Integration der drei psychologischen Aspekte am Beispiel der Sprache.
Nicht umsonst betont Bühler dabei die philosophische Besinnung auf das eigene Programm, denn die Philosophie hält die entsprechende Methodik bereit,
dieses Vorhaben umzusetzen und sich über die Möglichkeit und die Notwendigkeit des eigenen Gegenstandes klar zu werden. In der Mitte der philosophischen Besinnung steht bei Bühler ein System von Axiomen, das gleichzeitig
den Weg vorgibt und vor einer Fehlleitung und -interpretation der Ergebnisse
schützt.
Die erlebnispsychologische Sprachbetrachtung geht davon aus, dass der
sprachliche Satz aus einem synthetischen oder analytischen Prozess des Sprechers hervor geht. Dies sagt aber nichts über das Wesen des Satzes an sich
aus, womit sich Bühler schon in Kritische Musterung der neuern Theorien des
Satzes (1920) auseinandergesetzt hatte. Zudem proklamiert sie, u. a. in Person von Wilhelm Wundt, eine durchgehende Bindung wahrnehmbarer Körperregungen an seelische Regungen (vgl. Wundt 1900b3, 650ff.), wodurch eine
Abgrenzung der menschlichen Sprache von den tierischen Ausdrucksbewegungen und Lautäußerungen unmöglich wird. Bühler antwortet darauf:
„Zu einer Kundgabe im spezifischen und einzig brauchbaren Sinn des Wortes wird irgendeine Körperbewegung erst in Relation zu einem wirklich vorhandenen oder mindestens fingierten 'Kundnehmer'; Kundgabe und Kundnahme sind nur als 'korrelative
Begriffe definierbar'.“ (Bühler 19272/2000, 53)
Dies bedeutet, dass keineswegs jede wahrnehmbare Körperregung eine Ausdrucksbewegung mit Kundgabepotential ist. Erst die für eine Kommunikations-
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situation konstitutive Zweiheit von Kundgebendem und Kundnehmendem
macht Ausdrucksbewegungen möglich, da ihnen nur in diesem Rahmen ein
mehr oder minder definierter und differenzierter Sinn zugerechnet werden
kann. Wundt wollte die Ausdrucksbewegungen ausschließlich aus der Perspektive des Individuums beschreiben. Dies konnte nur zu der angesprochenen
einseitigen Verkürzung führen, da Ausdrucksbewegungen immer in ein System
aus Kundgabe und Kundnahme sinnvoll eingebettet sind. Charles Darwin hingegen fasst die Ausdrucksbewegungen als Rudimente ehemaliger Zwecktätigkeiten auf und möchte sie aus ihnen heraus erklären (vgl. Darwin 1874/2000,
51ff.). Er sieht keine direkte Bedürfniserfüllung in den Ausdrucksbewegungen,
was Bühler als das große Problem des Darwinschen Standpunkts ansieht. Auch
diese zunächst viel versprechende theoretische Konzeption sei im Sande stecken geblieben, „weil auch sie an entscheidender Stelle den notwendigen
Schritt vom Individuum zur Gemeinschaft nicht vollzogen“ habe. Bühler stellt
dem Darwinschen Konzept einen möglichen Funktionswechsel ehemals vermeintlich zu anderen Zwecken eingesetzter Ausdrucksbewegungen gegenüber:
„Diese naheliegende und doch so weittragende Ergänzung oder Modifikation der Darwinschen Idee setzt eben voraus, dass man den anderen, den spezifischen Empfänger, den Adressaten sozusagen der Ausdrucksbewegungen, regelrecht erst in die
Theorie aufnimmt (...). Mit ihm erst kann der Grundbegriff der semantischen Körperbewegung definiert und so das Gebiet der Semantik abgesteckt werden.“ (Zitate:
Bühler 19272/2000, 54ff.)
Der Sinn und Zweck der Ausdrucksbewegungen erschöpft sich demnach nicht
in der bloßen Hervorbringung entsprechender Regungen oder ergibt sich aus
sich selbst heraus. Sie sind für sich genommen noch ohne Sinn, solange kein
weiteres Individuum anwesend ist, das die Äußerung als solche auch auffasst.
Das Assoziationsprinzip greift dort, wo eine angeborene Reiz-Reaktionskoordination vorliegt, die lediglich auf dem Einsatz der instinktmäßigen Anlagen zum
Erreichen vordefinierter biologischer Endzustände beruht. Wenn nun der Erfolg
erst erreicht werden kann, wenn zumindest ein Artgenosse seinen Teil dazu
beiträgt und von dem vorgetragenen Verhalten zu einer Anschlusshandlung
bewegt wird, liegt kein Einersystem aus einem sich irgendwie verhaltenden Individuum mehr vor, sondern ein Zweiersystem aus Kundgebendem und Kundnehmendem, und die sinnvolle Interaktion zwischen den beiden beschreibt
Karl Bühler als gesteuert durch Signale (vgl. Bühler 19272/2000, 56f.). Hiermit
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befinden wir uns am Quellpunkt der zeichenvermittelten bzw. signalvermittelten Interaktion und gleichzeitig inmitten der zeichentheoretischen Überlegungen des Wissenschaftlers; der erste Kontakt zweier Individuen in einer gemeinschaftlichen Situation ist der Ausgangspunkt eines jeden semantischen
Einsatzes von Zeichen, der auf ein gewisses Ziel hin ausgerichtet ist.
Hanspeter Ortner schreibt in Anlehnung an diese Gedankengänge bei Karl
Bühler, „den Sinn als sprach- (oder im Bühlerschen Sinne besser) als zeichenunabhängiges Phänomen gibt es nicht.“ (Ortner 1983b, 41) Dies heißt nicht
weniger, als dass das sinnvolle und zweckmäßige Handeln von biologischen
Systemen auf dem intentionalen Einsatz der semantischen Einrichtungen der
Lebewesen beruht, im Falle des Menschen auf dem Einsatz von Sprachzeichen.
Nur wo und wie – diese Frage schließt sich für Karl Bühler an – setzt das spezifisch Menschliche in diesem System aus Hervorbringung und Verarbeitung von
Signalen ein? Dies zu ergründen ist eines der Ziele der Krise der Psychologie.
Es geht um die grundlagenkritische Erklärung der zeichenvermittelten Interaktionsprozesse der Lebewesen, auf denen die symbolvermittelte menschliche
Sprache fußt, von den niedrigsten Ausgangsbedingungen her. Es handelt sich
also um einen Aufbau von unten nach oben, an dessen Ende die Erklärung der
menschlichen Sprache anhand der drei psychologischen Aspekte erfolgen
muss. Möglich macht dies die Erforschung der von den Lebewesen angewendeten Zeichen und der spezifischen Umstände und Arten ihrer Realisierung.
Die semantischen Einrichtungen der Lebewesen stehen ganz im Dienste der
Gemeinschaft, wobei sie nicht aus ihr entspringen, sondern die notwendige
Voraussetzung sind für die Entstehung einer Gemeinschaft, ob bei Mensch
oder Tier. Mit diesem Grundsatz ist das erste psychologische Axiom vorbereitet, das den anderen beiden vorangestellt und logisch übergeordnet ist. Innerhalb einer Gemeinschaft unterliegt das sinnvolle Benehmen der Gemeinschaftsmitglieder einer gegenseitigen Steuerung zur Erreichung gewisser
Gemeinschaftsziele bzw. Bewältigung von Gemeinschaftsaufgaben:
„Unser Interesse richtet sich auf die gegenseitige Steuerung des sinnvollen Benehmens der Gemeinschaftsglieder. Faktische Konkordanz ihres Benehmens wäre zu wenig, es muss ein Kontakt und kraft seiner eine dynamische Konkordanz, eine hic et
nunc nachweisbare Regulierung vorliegen. Das Faktum solcher Regulierungen fassen
wir ins Auge und behaupten, daß sie ohne Semantik, d.h. Verständigungsmittel, nicht
möglich wären.“ (Bühler 19272/2000, 60)
325
Mit anderen Worten muss ein Kontakt vorliegen, durch den die Handlungen der
sich in gemeinsamer Wahrnehmungssituation befindenden Individuen wechselseitig sinnvoll werden und die Steuerungsmaßnahmen an „Sinnhaftigkeit und
Sinnfähigkeit“ (Bühler 19272/2000, 90) gewinnen. In der jeweiligen Wahrnehmungssituation muss es einen Richtpunkt geben, der die wechselseitige Steuerung der Gemeinschaftsglieder bestimmt und ihr einen Sinn verleiht. Wenn der
Richtpunkt den gemeinsamen Wahrnehmungsraum transzendiert, dann müssen die Individuen auf die ihnen verfügbaren semantischen Einrichtungen zurückgreifen, um das Handlungsziel zu erreichen.
Ich hatte weiter oben Aufbau und Inhalt der Axiomatik in der Krise der Psychologie dargestellt und muss jetzt nicht ausführlich wiederholen, was dort bereits gesagt worden ist. Es reicht, daran zu erinnern, dass das Steuerungsparadigma erst sinnvoll wird in einem Zweiersystem von Zeichengeber und
Zeichenempfänger, die wechselseitig kundgeben und kundnehmen. Beim Menschen funktioniert das mittels der Zuordnung der sprachlichen Symbole zu den
Gegenständen und Sachverhalten. Das ist die spezifische Semantik der Menschensprache. Es spiegeln sich in den drei psychologischen Axiomen die drei
Sinnfunktionen des Sprachzeichens wider, die für Bühler konstitutiv für die
menschliche Sprache sind. Die ersten beiden, Kundgabe und Auslösung finden
sich auch im Tierreich. Erst mit der Wendung zur echten symbolischen Darstellung ist die qualitativ höhere Stufe erreicht. Das erste Axiom beschreibt die
Voraussetzungen, die den Prozess in Gang bringen und für den notwendigen
Kontakt zwischen den Interaktionspartnern sorgen. Bei der Menschensprache
kann man dabei durchaus vom „rhetorischen Moment der Sprache“ sprechen,
wie Bühler es tut, welches „eine theoretische Einsicht in das [verlangt], was
man seelischen Kontakt und im weitesten Sinne des Wortes Suggestibilität,
unmittelbare Beeinflussbarkeit, unmittelbare Steuerbarkeit nennen sollte.“
(Bühler 19272/2000, 77) Es zeigt sich darin die Bühlersche Einsicht in die Auslösungspotenz bzw. den Appellcharakter der Sprache.
Am Beispiel des seelischen Kontakts zwischen den Lebewesen veranschaulicht
Karl Bühler die Einheit des Erlebnis- und des Benehmensaspektes in der Psychologie. Simultan eröffnet sich eine kommunikationstheoretisch höchst interessante Perspektive, denn es wird die Frage nach der Rolle des Hörers in der
Kommunikationssituation aufgeworfen, samt den erkenntnistheoretischen Problemen, die sich aus dem geforderten 'Kontaktverstehen' ergeben. Bühler hält
326
es für ein „Faktum (…), daß im seelischen Kontakte eine gegenseitige Steuerung
des
Benehmens
und
Erlebens
des
Partners
stattfindet.“
(Bühler
2
1927 /2000, 106) „Bei voller Ausbildung des zweipoligen Geschehens vermag
jeder Partner in wechselndem Ausmaß das Erleben und Benehmen des anderen in einer spezifischen Weise zu steuern.“ (Bühler 19272/2000, 110). Beim
Menschen geschehe dies multimodal auf allen Ebenen des Verhaltens, von der
ersten Gebärdenresonanz zur extremen Verbalsuggestion, und gipfele in der
Ausbildung der menschlichen Lautsprache. Bühler ist der Ansicht, „die Lautsprache dürfte wohl (…) den Anspruch haben, als das biegsamste und leistungsfähigste unter den menschlichen Kontaktmedien betrachtet zu werden“,
und „jeder von uns wachenden und kritikgewohnten Menschen, der als Hörer
den Worten eines Sprechers Einlaß gewährt, hängt zunächst einmal in irgendeinem Grade am Leitseil des Sprechers.“ (Bühler 19272/2000, 113ff.) Dieses
Leitseil ist der sprachliche Appell, dem damit eine konkrete Funktion im Kommunikationsprozess zugewiesen ist.
Der dritte Hauptsatz der Sprachtheorie (1938) beinhaltet nicht nur eine Umstellung der Axiome der Sprachforschung, sondern integriert den Steuerungsgedanken doppelt in die Bühlersche Sprachtheorie. Im Sprechverkehr wird gezeigt und symbolisiert, womit zwei eng miteinander verwobene Prozesse
gekennzeichnet sind, die in jeder sprachlichen Äußerung enthalten sind und
kooperativ verwendet werden (vgl. Bühler 1938, 197f.). Beides gehört zusammen, erfordert aber eine analytische Trennung, da beim sprachlichen Zeigen
die Sinne des Hörers im Wahrnehmungsfeld gesteuert werden und beim
sprachlichen Symbolisieren das Denken geführt und gesteuert wird. Der Sprecher agiert als steuernde Instanz, der Hörer ist der Gesteuerte. Die zweifache
„gegenseitige Steuerung des sinnvollen Benehmens“ ist für Bühler „die Grundwelle der seelischen Kommunikation“ (Bühler 1938, 203), denn „ohne das systemfremde Steuern wäre der Organismus trotz seiner Strukturen letzten Endes
doch nicht mehr als eine tote Maschine.“ (Bühler 19272/2000, 147) Unmittelbar damit verknüpft ist die Frage nach dem Sprach- und Zeichenverstehen, da
ohne entsprechende Deutungsvorgänge seitens des Hörers keine für den Kommunikationsprozess konstitutive wechselseitige Steuerung der Individuen
stattfinden könnte. Dementsprechend resümiert Hans Hörmann, dass „das
Handlungsziel im Sprachgebrauch des Erwachsenen (…) immer die Steuerung
des Bewußtseins des Hörers“ (Hörmann 19761, 504) ist. Sprachverstehen ist
eine Hörerleistung im Kommunikationsprozess, die durch die kommunikativen
Bemühungen und den Einsatz von Zeichen seitens des Sprechers ausgelöst
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