Retrospektive Kelly Reichardt

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Retrospektive Kelly Reichardt
Kelly Reichardt
RIVER OF GRASS
Retrospektive Kelly Reichardt
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Unterwegssein war einmal ein euphorisch besungener
Bestandteil der amerikanischen Mythologie. Immer wieder konnte man aufbrechen, immer wieder das Land
durchqueren und, wenn man Glück hatte, immer wieder einen neuen Horizont erreichen. In Kelly Reichardts
Filmen hat sich diese Perspektive jedoch eingeengt.
Wenn zu Beginn von WENDY AND LUCY Güterzüge
durchs Bild fahren, löst das zwar Erinnerungen an
Hobos aus, an jene Streuner und Tagelöhner, die einmal vogelfrei durchs Land zogen. Doch die jungen Obdachlosen, die wenig später am Lagerfeuer sitzen,
leben nicht aus Freiheitsliebe so – sie sind Arbeitsmigranten, die stets dem nächsten Job hinterherreisen.
Eine von ihnen ist Wendy, eine junge Frau, die mit ihrer
Hündin Lucy auf dem Weg nach Alaska ist, um dort in
einer Fischkonservenfabrik zu arbeiten. Sie hat eine
lange Reise vor sich, und das knappe Budget gestattet
ihr kaum Flexibilität. Deshalb kann die geringste Behinderung rasch zur großen Bedrohung anwachsen, und
genau das geschieht, als sich eines Morgens auf dem
Parkplatz einer Mall Wendys Wagen nicht mehr starten
lässt. Da ein Problem stets weitere nach sich zieht,
wird sie auch noch beim Diebstahl in einem Supermarkt ertappt und verhaftet. Lucy findet sie hernach
nicht mehr dort vor, wo sie sie zurückgelassen hat.
WENDY AND LUCY hatte 2009 in Cannes in der Sektion
»Un certain regard« Premiere und war der Film, mit
dem die US-Amerikanerin Kelly Reichardt international
ihren Durchbruch feierte. Ihr Kino ist eines der Genauigkeit und Zurückhaltung, es ist zugleich regional und
universell, politisch aufmerksam und von einer rauen visuellen Schönheit. Die ökonomischen Unwägbarkeiten
der Bush-Ära und die innenpolitischen Verhärtungen in
Folge der Terroranschläge von 2001 sind in Reichardts
auf unscheinbare Weise hellhörigen Filmen präsent –
sie müssen nicht ostentativ politisch werden. Ihre Figuren müssen sich stets zu ihrem Umfeld verhalten, sich
gegenüber einer fehlenden oder zumindest mangelhaften Solidarität bewähren. Reichardt, schrieb der USFilmkritiker Dennis Lim treffend, »zeigt das Leben in
einer Gesellschaft ohne Sicherheitsnetze, dessen Härte
nur von Hoffnung und Menschlichkeit gemildert wird.«
Bereits das Frühwerk der 1964 in Miami geborenen Filmemacherin ist von dieser Sensibilität für die politische
In RIVER OF GRASS geht nur noch der erste Schuss,
der sich versehentlich aus einer gefundenen Pistole
löst und das Pärchen zu vermeintlichen Mördern
macht, aus einer zärtlichen Bewegung hervor. Die
Hände der beiden vereinen sich zu einer gemeinsamen,
scheinbar fatalen Geste. Cozys und Lee Rays weitere
Aktionen sind jedoch keineswegs heroisch, ihre Flucht
gleicht einer Kreis- und Umkehrbewegung, die sie nirgendwohin führt, außer vielleicht in die Erkenntnis,
dass sie für dieses Außenseitertum nicht gemacht sind.
Aus der zunehmend kapitalistisch geprägten Landschaft Floridas führen keine Straßen heraus: Wie in
Don DeLillos Roman »Americana« ist das Road Movie
nur noch ein nostalgisch besetztes Zitat aus der Vergangenheit. Die Freeways, deren Cozy eines Tages
plötzlich gewahr wird, sind kostenpflichtig – ein freundlich-bestimmter Polizist verordnet die Rückkehr.
Das Thema der Utopie, sei es als Fluchtpunkt wie in
MEEK’S CUTOFF oder als politische Tat wie in NIGHT
MOVES, bleibt bei Kelly Reichardt bestimmend. OLD
JOY, den sie erst zwölf Jahre nach ihrem ersten Langfilm realisieren kann und der zugleich Reichardts erste
Zusammenarbeit mit dem Autor Jon Raymond markiert,
verhandelt die Frage nach dem Status quo im Leben,
den aufgegriffenen und ausgelassenen Möglichkeiten
anhand zweier Freunde, die sich auseinandergelebt
haben und nun eine gemeinsame Waldwanderung zu
einer heißen Quelle unternehmen. OLD JOY ist, trotz
seines minimalistisches Settings, ein Film, der sich
auch konkret zu einem zeithistorischen Moment verhält, indem er die Frage, nach welchen Maßgaben man
sein Leben entwirft, verallgemeinert. Das unbestimmbare Gefühl des Verlusts mag im Fall von Kurt (Will Oldham) mit seinem Marihuana-Konsum zusammenhängen; es ist aber auch Ausdruck einer Entfremdung zu
Mark (Daniel London), der bald Vater werden wird und
an der Weiche zu einem bürgerlicheren Dasein steht.
Kelly Reichardt
Kelly Reichardt
Gegenwart definiert sowie von einer wiederkehrenden
Bezugnahme auf klassische »Americana«. ODE, eine
mittellange Arbeit, erzählt eine »Geschichte, so amerikanisch wie apple pie«, so der Off-Erzähler. Der Film,
der ursprünglich auf einem Folk-Song basiert (die
Musik steuert bereits der Alternative-Country-Musiker
Will Oldham bei) folgt der tragisch endenden Schwärmerei des Mädchens Billie Joe für den Außenseiter
Bobby Lee. Die impressionistischen Bilder betten das
zentrale Paar, zwei Menschen, die von sich und der
Welt noch keine rechte Vorstellung haben, in eine lichte
Naturkulisse ein. Doch die repressiven familiären Verhältnisse, Billie Joes gläubige Eltern, tragen die Mitschuld daran, dass sich die unschuldige Beziehung des
Mädchens zu dem Jungen nicht entwickeln kann. Experimenteller geht Reichardt in zwei zehnminütigen
Super8-Miniaturen vor, die sie heute für Aufführungen
nicht mehr freigibt: In TRAVIS tastet die Kamera die
Großaufnahme eines Bildes ab, das nur in Farbintensitäten changiert, während auf der Tonebene eine Mutter
karmahaft Fragmente der Sorge über ihren Sohn im
Irak wiederholt; THEN A YEAR kombiniert zu disparaten
(Natur-)Schauplätzen akustische Schnipsel über Gewalttaten mit Liebesbriefen einer Lehrerin, die in den
1990er-Jahren durch ihre Affäre mit einem minderjährigen Schüler Schlagzeilen machte.
Reichardts Spielfilmdebüt RIVER OF GRASS erweitert
das Bezugsfeld, es ist die Variation eines Film-noirSubgenres, des »romantic couple on the run«. Deutlichstes Vorbild ist Terrence Malicks BADLANDS, mit
dem der Film nicht nur die teilnahmslose Erzählstimme
der weiblichen Heldin teilt, sondern auch eine offene
Montage, die wiederholt auch Bildartefakte aus dem erweiterten Umfeld des Paares einbezieht – Plattencover
und Fotografien beispielsweise, in denen die Erzählung
wie ein kulturelles Echo widerhallt. Anders als bei Malick und anderen Genrevorläufern wie Barbara Lodens
WANDA wird das Pärchen in RIVER OF GRASS jedoch
keineswegs mehr genuin »romantisch« besetzt. Cozy
(Lisa Bowman) ist eine verheiratete Frau mit Kindern,
die sich mit der Werteskala ihrer kleinbürgerlichen Lebenswelt nie angefreundet hat, während der von Larry
Fessenden (später auch einer der Produzenten Reichardts) verkörperte, noch jüngere Lee Ray bei seiner
Mutter lebt und ziellos durchs Dasein driftet. Als dieser
bei seiner ersten Begegnung mit Cozy in einer Bar von
Schicksal spricht, reagiert sie nicht einmal darauf: Dies
zeigt bereits Reichardts ironische Perspektive auf die
Versprechungen einer Erzählform, in der sich das Paar
im Outlaw-Modus des Mythos von Freiheit und Liebe
versichert.
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MEEK’S CUTOFF
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Am Lagerfeuer in der Nacht – die Flammen züngeln
aus dem unteren Bildrand hervor – gesteht Kurt seinem Freund, wie sehr er ihn vermisst. Seine Theorie,
dass das Universum einem fallenden Tropfen gleicht,
ist ein hübsch eingekifftes Bild für die Vergänglichkeit
aller Dinge. Trotz dieses kleinen Geständnisses bleiben
in OLD JOY die wesentlichen Gefühle, der Hintergrund
des Unbehagens, unausgesprochen. Die Krise der Protagonisten findet ein indirektes Echo über eine Radiosendung, in der über den Stand des Liberalismus in
den USA diskutiert wird. Aber auch Reichardts anti-idyllischer Blick auf die Natur (Jon Raymonds Drehbuch
wurde von Fotografien Justine Kurlands inspiriert, auf
denen nackte Menschen in Wäldern zu sehen sind) erzählt von der Unmöglichkeit, sich in der Zeit zurückzubewegen. Der wilde Campingplatz, auf dem sich die
Freunde nach einigem Herumirren niederlassen, sieht
in der Frühe wie eine Müllhalde aus. Das Bad in den
Quellen gerät demgegenüber zu einem Augenblick des
Innehaltens, bei dem die Körper in einen Zustand der
Entspannung verfallen. Ein kleiner Trost, eine Geste
freundschaftlicher Intimität – OLD JOY gelangt jedoch
nicht in einen Zustand von Harmonie zurück, die
Freunde finden nur kurz zu sich selbst.
In Reichardts nächsten beiden Filmen, in WENDY AND
LUCY und dem Western MEEK’S CUTOFF, jeweils mit
Michelle Williams in der Hauptrolle besetzt, wird die
Krise des Individuums innerhalb einer sozialen Ordnung
noch umfassender zum Thema. Sie wollte Wendy ursprünglich in der Wildnis stranden lassen, erzählte
Reichardt einmal, nur dass die Wildnis in diesem Fall
eine dieser uniformen amerikanischen Kleinstädte Oregons ist, mit ihren Parkplätzen, Tankstellen und Einfamilienhäusern, die fast überall stehen könnten. Was
passiert, wenn eine Einzelne auf eine Gesellschaft
stößt, die an ihrem Schicksal keinen Anteil nimmt?
Dies ist die zentrale Frage des Films: Ohne Adresse bekommt man keinen Job, und ohne Job keinen anderen
Job, sagt der Parkwächter einmal, einer der wenigen,
der sich der Gestrandeten als Helfer anbietet. Wie
Wendy auf die ökonomische Not reagiert, ihre Beherrschtheit in der Krise, ihre Pragmatik in Handlungen,
dann, phasenweise, auch ihre Selbstversunkenheit,
wenn sie nur ein Lied vor sich her summt – allein dieses Gebaren bestimmt den losen Fortgang des Films.
Wird sie Lucy wiederfinden? Und wie viel kostet eine
Autoreparatur? In der Beharrlichkeit dieser Figur schimmern auch vergangene neorealistische Heldinnen des
Kinos durch, mit noch weniger Rückhalt in der Welt,
von Robert Bressons MOUCHETTE bis zur ROSETTA
der Brüder Dardenne.
MEEK’S CUTOFF zeigt die Auseinandersetzungen in
einer Truppe Siedler, die sich mit ihrem Treck während
des Oregon-Trails 1845 in einer ausgedörrten Steppenlandschaft verirrt hat. Die Siedler misstrauen ihrem
Führer Stephen Meek, sie nehmen an, er habe sie mit
Absicht in ein Niemandsland geführt. Unter dem Sternenhimmel flüstert man sich zu, ihn eventuell hängen
zu wollen. Ob Meek tatsächlich so durchtrieben ist,
lässt der Film offen. Er wirkt wie die Verkörperung
eines Westernklischees, ein wuschelbärtiger Dampfplauderer, der gerne die Heldentaten von früher auspackt. Reichardt richtet ihren Blick auf den im Westerngenre oft übersehenen Alltag der Pionierinnen, sie protokolliert alltägliche Handgriffe, die Mühsal, die zu diesem Leben in der Wildnis gehört. In ihrem offensichtlichsten Genrefilm lässt sich besonders gut studieren,
wie sie anhand von Bildern, die zur amerikanischen Ikonografie gehören, eine neue Empfindsamkeit herausarbeitet. MEEK’S CUTOFF weist diese Rolle vor allem
den Frauen zu, tatkräftigen, duldsamen, aber auch resoluten Persönlichkeiten, die sich ihr eigenes Urteil
bilden.
Dies ist nicht die einzige Korrektur, die Reichardt vornimmt. Die Bildgröße, im traditionellen 4:3-Format, verweist auf eine Ära des klassischen Hollywood-Kinos,
was den Landschaftsaufnahmen von Chris Blauvelt
wENDy AND LUCy
River of Grass | USA 1994 | R: Kelly Reichardt |
B: Kelly Reichardt, Jesse Hartman | K: Jim Denault |
M: John Hill | D: Lisa Bowman, Larry Fessenden, Dick
Russell, Stan Kaplan, Michael Buscemi | 73 min | OF –
Ode | USA 1999 | R+B+K: Kelly Reichardt, nach dem
Roman »Ode to Billy Joe« von Herman Raucher | M:
Will Oldham, Yo La Tengo | D: Heather Gottlieb, Kevin
Poole, Jon Wurster | 46 min | OF
▶ Freitag, 20. Juni 2014, 21.00 Uhr
27. Juni 2014, 18.30 Uhr
▶▶ Freitag,
Old Joy | USA 2006 | R: Kelly Reichardt | B: Kelly Reichardt, Jon Raymond, nach der Erzählung von Jon
Raymond | K: Peter Sillen | M: Yo La Tengo | D: Daniel
London, Will Oldham, Tanya Smith, Robin Rosenberg |
76 min | OmU
▶ Dienstag, 17. Juni 2014, 18.30 Uhr ▶▶ Samstag,
21. Juni 2014, 21.00 Uhr
Wendy and Lucy | USA 2008 | R: Kelly Reichardt | B:
Kelly Reichardt, Jon Raymond, nach der Erzählung
»Train Choir« von Jon Raymond | K: Sam Levy | M: Will
Oldham | D: Michelle Williams, Walter Dalton, Will Oldham, John Robinson, Will Patton | 80 min | OmU
▶ Mittwoch, 18. Juni 2014, 18.30 Uhr ▶▶ Sonntag,
22. Juni 2014, 21.00 Uhr
Meek’s Cutoff | USA 2010 | R: Kelly Reichardt | B: Jon
Raymond | K: Christopher Blauvelt | M: Jeff Grace |
D: Michelle Williams, Bruce Greenwood, Will Patton,
Zoe Kazan, Paul Dano, Shirley Henderson, Neil Huff |
104 min, OmU
▶ Dienstag, 24. Juni 2014, 18.30 Uhr ▶▶ Mittwoch,
25. Juni 2014, 18.30 Uhr
Kelly Reichardt
eine malerische Qualität verleiht. Eine Figur verdeutlicht Reichardts Abkehr vom romantisierenden Westernbild jedoch am trefflichsten: der Indianer vom
Stamm der Cayuse, der die Siedler verfolgt, der gefangengenommen, dann aber verschont wird und sie
schließlich als Lotse aus der Verirrung führen soll. Er
verkörpert das Gegenteil des edlen Wilden, eine zutiefst ambivalente Figur. Der Konflikt, der den Anspruch
des Films so schön zum Ausdruck bringt, führt durch
diesen Fremden unter Fremden hindurch: Reichardt
geht es um den Versuch, hinter Archetypen eine Realität aufzudecken, in der sich das Konzept Zivilisation
erst erproben muss.
NIGHT MOVES, Kelly Reichardts neuester Film, der voraussichtlich im Sommer 2014 in den deutschen Kinos
anlaufen wird, fügt dieser Auseinandersetzung von Individuum und Gesellschaft eine in ihrem Œuvre neue
Facette hinzu. Indem sich die Regisseurin dem Umweltaktivismus einer jüngeren Generation zuwendet, findet
sie einerseits zu einer ungewöhnlichen Konkretisierung
von politischem Handeln. Doch Kelly Reichardts Relativismus bleibt auch in diesem Film eine ihrer großen
Stärken: Sie beschreibt ein postutopisches Amerika, in
dem das Individuum auf sich selbst zurückgeworfen ist
und das Fundament des gesellschaftlichen Miteinanders neu verhandelt werden muss.
Dominik Kamalzadeh
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